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German Pages 370 [372] Year 2002
Harald Bluhm Die Ordnung der Ordnung
POLITISCHE IDEEN
Band 13
Herausgegeben von Herfried Münkler
Die politische Ideengeschichte hat seit dem Ende der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West, der Transformation der Gesellschaften Mittel- und Osteuropas, aber auch mit den seit dem Wegfall des klassischen Gegenbildes dringender gewordenen Fragen nach Werten und Zielen der westlichen Demokratien, nach der Möglichkeit von Gemeinwohlorientierungen usw. neue Bedeutung gewonnen. Gibt es in dem zunehmend differenzierten und segmentierten Fach Politikwissenschaft einen Bereich, in dem die verschiedenen Fragestellungen und Ansätze zusammengeführt werden, so ist dies die Geschichte der politischen Ideen sowie die politische Theorie. Insbesondere die politische Ideengeschichte erweist sich dabei als das Laboratorium, in dem gegenwärtige politische Konstellationen gleichsam experimentell an den Theoriegebäuden vergangener Zeiten überprüft, durchdacht und intellektuell bearbeitet werden können. Eine so verstandene politische Ideengeschichte ist gegenwartsbezogen, auch wenn sie sich den aktuellen politischen Problemen nur mittelbar zuzuwenden scheint. Diese Reihe ist ein Ort für die Publikation solcher Studien. Sie veröffentlicht herausragende Texte zur politischen Ideengeschichte und zur politischen Theorie.
Harald Bluhm
Die Ordnung der Ordnung Das politische Philosophieren von Leo Strauss
^ ^
Akademie Verlag
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft D 11
Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich ISBN 3-05-003573-0
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2002 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Satz: Veit Friemert, Berlin Druck: GAM MEDIA, Berlin Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Einbandgestaltung: Petra Florath, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort
9
1.
Denkweg und Wirkungsgeschichte
1.1 1.2
Ausgangspunkte Biographische Skizze
11 14
1.3
Interpretationskonzept und kontroverse Forschungsfragen
17
1.3.1 1.3.2 1.3.3
1.3.4
Das umstrittene Zentrum von Strauss'Denken Exposition der These Schaffensperioden - Kontexte: politische und akademisch disziplinare - Werkgeschichtliche Phasen Wirksamkeit und Wirkungsgeschichte
17 22 28 29 31 33
2.
Weimarer Prägungen
2.1
Renaissance jüdischer Kultur und Liberalismus-Kritik - Rückkehrbewegungen und jüdische Identität - Zionismus und Politikverständnis Strauss und der philosophische Radikalismus - „The Tyranny of Greece over Germany" - Vertiefung der Problemstellungen mit Heidegger - Ein philosophischer Gesprächs- und Bekanntenkreis
43 44 47 49 50 52 55
Das Spinoza-Buch - Strauss' und Cohens Spinoza - Die Deutungsstrategie der Spinoza-Kritik - Der Charakter von Spinozas politischer Theorie
59 61 63 66
2.2
2.3
6
INHALTSVERZEICHNIS
3.
Ausformung großer theoretischer Alternativen
3.1
Politisches Philosophieren versus politische Theologie - Der Begriff politischer Theologie Das politisch-theologische Problem nach Strauss Moderne-Kritik und Antike-Rekurs in „Philosophie und Gesetz" Kritik an der modernen Aufklärung - Grundzüge der Moderne-Kritik bei Strauss Philosophen, Propheten und Gesetzgeber - Kritik der Vermittlungen Die Kritik an Schmitts Begriff des Politischen -Radikalisierungen - Divergenzen Auseinandersetzung mit Hobbes - The Hobbesian Moment - Kritik der neuen politischen Wissenschaft
3.1.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.3
3.4
4.
Die Kunst des doppeldeutigen Schreibens
4.1 4.2 4.3
4.4
Eine tiefenhermeneutische Methodik Die Wiederentdeckung des Exoterischen Ausbau des hermeneutischen Konzeptes -Maimonides - Exkurs zu al-Farabi und zur Bestimmung politischer Philosophie - Die Dekodierung von Rousseau und Spinoza Debatten um Strauss'Methodik
5.
Tyrannis oder Totalitarismus
5.1
Sinn und Bedeutung des Tyrannisbegriffs - Zeitgenössischer Kontext der Debatte Strauss'Tyrannisbegriff und seine Deutung des „Hieron" Genre-und Strukturanalyse des „Hieron" Debatten um Strauss'Interpretation Machiavelli und der Verfall klassischen Denkens Machiavelli - „A Fallen Angel" Wie Machiavelli zu lesen ist Ordnung und Tyrannei Wirkungsgeschichte des Machiavelli-Buches
5.2 5.2.1 5.2.2 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4
. . .
72 73 75 78 79 80 83 88 90 91 93 100 101 104
110 117 125 126 130 134 142
150 152 156 157 162 166 170 174 180 190
INHALTSVERZEICHNIS
6.
„Naturrecht und Geschichte"
6.1 6.2 6.3 6.3.1 6.3.2 6.4 6.4.1 6.4.2
Ziel und Struktur des Buches Kontexte von „Naturrecht und Geschichte" Kritik am Historismus und Relativismus Auseinandersetzung mit Max Weber Das Weber-Bild von Strauss Die Rekonstruktion des Naturrechts Genesis der Philosophie und des Naturrechts Das klassische Naturrecht - Das sokratisch-platonische Naturrecht - Aristotelisches Naturrecht Modernes Naturrecht Krise des modernen Naturrechtes - Rousseau - Burke
6.4.3 6.4.4
7.
Drei Varianten von Moderne-Kritik (Arendt, Voegelin, Strauss)
7.1 7.2 7.3 7.3.1 7.3.2 7.4 7.5
Die Walgreen Foundation Form der Theorie Moderne- und Liberalismus-Kritik Modernebegriff Liberalismus-Kritik und Demokratieauffassung Metapolitische Moderne-Kritik und Antike-Rekurs Dekadenztheoretische Argumentationsmuster
8.
Konturen des Spätwerks
8.1 8.2 8.2.1 8.2.2 8.3
„The City and Man" Sokratisches Philosophieren Variationen im Sokrates-Bild Der Kommentar zu den „Nomoi" Athen oder Jerusalem
7
196 200 202 208 211 220 221 224 226 227 229 233 235 238
245 246 252 253 257 261 269
279 288 288 291 296
8
INHALTSVERZEICHNIS
9.
Die Strauss-Schule in den USA
9.1 9.2 9.2.1 9.2.2
Schulgründung und Etablierung im Fach Ausbau der Schule und Kontroversen um sie Streit um Domänen Kanonisierung der Theoriegeschichte -Kontexte - D e r Kanon - Arbeit am Kanon Ausdehnung und Tradierung der Schule Strauss'Zeitdiagnosen Tradierung der Schule Politische Philosophie, politisches Philosophieren, politische Theorie
9.3 9.3.1 9.3.2 9.4
302 307 308 311 311 314 318 320 321 326 334
Literaturverzeichnis
339
- Siglen und Kurztitel - Schriften von Leo Strauss - Schriften anderer Autoren
339 340 342
Personenverzeichnis
363
VORWORT
Leo Strauss' Schriften zu verstehen erfordert Zeit, ist er doch ein ungewöhnlicher Theoretiker, der seine Problemstellungen in der Regel in interpretativen Arbeiten zu Klassikern der politischen Philosophie entwickelt hat. Eine rekonstruktive und kritische Darstellung ist aufwendig, weil es meist um Interpretationen von Interpretationen und den in ihnen steckenden Auffassungen von Strauss geht. Wenn meine Darstellung von Strauss' Denken diese Komplexität verringert und zugleich wahrt und wenn sie den Weg zu einer vertieften Auseinandersetzung mit Strauss ebnet, dann hat sie sich gelohnt. Die Monographie zur Genese des Werkes von Strauss ist keine intellektuelle Biographie, vielmehr handelt es sich um Studien zu zentralen Themen von Strauss' Denken. Ich gehe dabei kontextualistisch vor, und bette den frühen Strauss in Weimarer Zusammenhänge und den mittleren wesentlich in den Rahmen seines Wirkens in den USA - nämlich die amerikanische Politikwissenschaft ein. Vollständigkeit ist bei den werkgeschichtlichen Interpretationen nicht angezielt, sondern es geht um Grundprobleme, und zwar jene die Strauss selbst benennt und solche, die mit seiner Konzeptualisierung von Problemen bzw. seiner Art von Theorie verbunden sind. Die Kapitel sind als selbständige konzipiert, sie setzen neu jeweils an und bringen aber auch bereits behandelte Themen wiederholt in veränderter Perspektive zur Sprache. In einer Arbeit, die genetisch-kontextualistisch vorgeht, hängt viel von der Datierung von Schriften ab. Den Band 3 dieser Ausgabe, der erst nach Fertigstellung des Buchesmanuskriptes zugänglich wurde, konnte ich nur in eingeschränkter Weise nutzen. Wo es unumgänglich war, auf diesen Band einzugehen, habe ich dies punktuell nachträglich eingearbeitet. In vielen Fällen, wie etwa dem Hobbes-Buch von Strauss beziehungsweise seinen Anmerkungen zu Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen möchte ich den Leser auf die parallele Seitenzählung in der neuen Ausgabe, mit der die Seiten der deutschen Originalausgabe wiedergegeben werden, verweisen. Generell werden für die Schriften von Strauss Siglen verwandt. Der vorliegende Band ist die überarbeitete und gekürzte Fassung meiner Habilitationsschrift. Die Anregung zur Auseinandersetzung mit Strauss kam von Professor Herfried Münkler, der die Entstehung der Arbeit substantiell forderte und nachsichtig be-
10
VORWORT
gleitete. Von den kollegialen Diskussionen an und im Umfeld seines Berliner Lehrstuhles für Politische Theorie und Ideengeschichte habe ich stark profitiert. Darüber hinaus verdanke ich seinem Gutachten wie dem von Professor Alfons Söllner viele Anregungen für die Überarbeitung. Karsten Fischer hat die ganze Arbeit und Hans Grünberger Teile gelesen und kritisch kommentiert, was wesentlich zur Klarheit beitrug. Katharina Bluhm war von Beginn des Projektes an dialogische Partnerin, ohne die viele Ideen in unvollkommener Gestalt geblieben wären. Dem Strauss Archiv der University of Chicago und dem Voegelin-Archiv am Geschwister Scholl Institut in München bin ich für die Bereitstellung und Überlassung von Materialien verpflichtet. Dankenswerter Weise hat Veit Friemert die ganze Arbeit Korrektur gelesen und die Druckformatvorlage erstellt.
Berlin, August/November 2001 Harald Bluhm
1.
Denkweg und Wirkungsgeschichte
1.1
Ausgangspunkte
Für den Westen komme es nach 1989 nicht mehr darauf an, besser, sondern - wie Claus Offe (1989: 64) angesichts des historischen Umbruchs behauptet - gut zu sein. An diesem Bonmot kann man schlaglichtartig einige Veränderungen erhellen. Zum einen markiert es eine Wandlung der allgemeinen Bewußtseinslage, denn der Westen ist nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes in eine Phase eingetreten, die zur Selbstverständigung über die normativ-politischen Orientierungen liberal verfaßter kapitalistischer Gesellschaften zwingt. In größeren Zeitdiagnosen etwa vom „Ende der Geschichte" oder dem „Kampf der Zivilisationen" oder der „postnationalen Konstellation", um nur einige Stichworte zu nennen, werden Vergewisserungen und Revisionen normativpolitischer Orientierungen vollzogen. Zum anderen hatte die veränderte Weltlage auch Auswirkungen auf Entwicklungen in wissenschaftlichen Disziplinen, wie der politischen Philosophie und der politischen Theorie. In beiden Bereichen gibt es eine umfassende Erneuerung normativer Problemstellungen, die von Fragen der Gerechtigkeit, des guten Lebens bis hin zur guten politischen Ordnung reichen. Diese Entwicklung begann allerdings in der politischen Philosophie längst vor 1989, insbesondere als anhaltende Diskussionen um die Theory of Justice (1971) von John Rawls und in der Auseinandersetzung zwischen den Liberalen und den Kommunitaristen (vgl. Walzer 1993, Bellah et al. 1992). Dennoch haben Ausmaß und Resonanz der Debatten nach 1989 erheblich zugenommen. Auch im Rahmen politischer Theorie im engeren Sinn sind normative Fragestellungen angesichts vielfaltiger neuer Probleme vor allem in der Demokratietheorie wieder aufgekommen. So werden seit dem Umbruch in Ost- und Mitteleuropa und infolge von Globalisierungsprozessen die vielfachen Voraussetzungen von Demokratie und Demokratisierung bis hin zu ihren sozio-moralischen Grundlagen verstärkt diskutiert. Angesichts dieser veränderten Situation, nämlich der andauernden Selbstvergewisserung des Westens über seine politischen Orientierungen und eines Aufschwungs norma-
12
DENKWEG UND WIRKUNGSGESCHICHTE
tiven theoretischen Denkens, ist es durchaus sinnvoll, ältere Konzepte dezidiert normativer politischer Philosophie wie jenes von Leo Strauss neu zu lesen. Hat er sich doch wesentlich mit der Krise der Moderne als einem Problem ihres politisch-moralischen Selbstverständnisses auseinandergesetzt; deshalb wird ihm nach wie vor Aktualität attestiert. „Neu lesen" bedeutet aus meiner Sicht vor allem dreierlei: Zum einen das theoretische Anliegen zu rekonstruieren und die selbst formulierten Ansprüche ernst zu nehmen. Zweitens erfordert es eine starke Kontextualisierung, durch die das Zeitgebundene und die spezifischen Fragestellungen deutlich werden. Im Falle von Strauss heißt das, ihn vor dem Hintergrund der Weimarer Erfahrung, des Kalten Krieges und des sich in den 1950er Jahren entwickelnden amerikanischen Konservatismus zu deuten. Drittens schließlich gilt es insbesondere, im engen Zusammenhang mit der Kontextualisierung die weiterreichenden Problemstellungen und Fragen zu eruieren. Erst im Zusammenhang dieser drei Vorgehensweisen läßt sich Strauss' theoretisches Denken angemessen begreifen. Zur näheren Beschreibung des Theorietyps, den Strauss vertritt, unterscheide ich zwischen politischem Philosophieren, politischer Philosophie und politische Theorie, was zunächst nur grob skizziert werden kann. Politische Philosophie verstehe ich im Sinne einer systematischen Theorie, die Grundfragen der Politik und politischer Ordnung thematisiert und dabei neben zeitdiagnostischen und therapeutischen Momenten insbesondere die Begründung, Geltung und Anwendung normativer Vorstellungen (z.B. einer friedlichen oder guten Ordnung) thematisiert. Im Unterschied dazu steht politische Theorie im engeren Sinne (primär empirisch-deskriptive Varianten bleiben hier ausgeklammert), die als systematisiertes Wissen politischer Prozesse immer eine Verbindung zur Empirie, zu Implementationsfragen hat und in ihrer Zeitdiagnostik sich nicht auf allgemeine Vorschläge zurückziehen kann, sondern institutionelle Analysen und Therapievorschläge erarbeiten muß. Neben diesen Formen normativen politischen Denkens gibt es eine weniger systematische, besonders flüssige Form, die ich als politisches Philosophieren bezeichne. Diese Denkform, die sich oft an Sokrates und Piaton orientiert, setzt eher auf das Fragen als auf eine systematische Theorie. Sie enthält in der Regel eine Zeit- und Krisendiagnostik und meistens eine deutliche Kritik der Moderne. Protagonisten eines solchen Denkens sind Leo Strauss und Hannah Arendt. Philosophie wird als Prozeß begriffen, als Denken in einem emphatischen Sinne, das im Gegensatz zu den empirischen, bloß „positivistischen" Sozialwissenschaften steht. Ein wesentlicher Gegenstand dieses Denkens ist die Geschichte der Theorien und Ideen selbst, die neu interpretiert werden. Oft wird dieser Ansatz als normativ-ontologisch etikettiert und damit vermittels des Metaphysikverdachtes von vornherein disqualifiziert, wodurch mögliche Stärken dieses Denkens erst gar nicht in den Blick kommen. Um sie zu ermitteln, ist zu klären, was das zetetische Philosophieren, d.h. das unentwegte Fragen und in der Frage bleiben, für die interpretativen Arbeiten von Strauss erbringt. Zudem interessiert, inwieweit diese Art von Theorie ein Korrektiv zu einseitigen Formen modernen politischen Denkens bildet. Leo Strauss (1899-1973) wird hierzulande erst in den letzten Jahren, und zwar vor allem im Zusammenhang mit den von Heinrich Meier herausgegebenen Gesammelten Schriften, in größerem Zusammenhang wahrgenommen. Die verspätete Rezeption ver-
AUSGANGSPUNKTE
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wundert, denn Strauss, ein Gelehrter jüdischer Herkunft, begann seinen Denkweg im Weimarer Deutschland, das er 1932 mit einem Rockefeller-Stipendium verließ. Mehr noch, eine Reihe seiner Themen entstammt unmittelbar diesem Kontext. Nach einem Aufenthalt in England, währenddessen sein bekanntes Buch über Hobbes entstand, ging er 1938 in die USA. Dort hat er eine einflußreiche Schule auf dem Gebiet politischer Philosophie begründet, aus der inzwischen schon drei Generationen, die sich als Schüler, als „Straussians" verstehen, sowie eine umfangreiche Sekundär- und auch Kommentarliteratur hervorgegangen sind. Strauss und seine in den USA erfolgreiche Schule, die häufig im Zentrum auch politischer Auseinandersetzungen stand, sind - verglichen mit Theoretikern wie Hannah Arendt und Eric Voegelin - in Deutschland nach wie vor nahezu unbekannt. Die bisher nur partielle Rezeption 1 macht jedoch nur einen Teil des Phänomens Strauss aus. Besonderes Interesse verdient er, weil er eine Außenseiterposition innerhalb der politischen Theorie und Philosophie entwickelt, ausgebaut und etabliert hat. Strauss ist ein radikaler Kritiker der Moderne. Begreift man die im Anschluß an Rawls und seine Theory of Justice erneuerte politische Philosophie als Mainstream, so vertrat Strauss lange vor Rawls einen gegensätzlichen Ansatz zur Erneuerung politischer Philosophie. Auf das Nachkriegsjahrzehnt und einen manifest werdenden Traditionsbruch bezogen, prägte Peter Laslett die berühmte Einschätzung: „for the moment, anyway, political philosophy is dead" (1956: VII). Das war allerdings auf bestimmte Weise ein Fehlurteil, was jedoch erst in der Retrospektive richtig deutlich wird, da man nun leichter erkennen kann, daß zu jener Zeit nicht nur die deutschen Emigranten ihre Konzepte formten, sondern daß auch ein Paradigmenwechsel bei den amerikanischen Autoren einsetzte, den ein solch pointiertes Urteil eher verdeckt. 2 Strauss ist, knapp gesagt, nicht an einer modernen oder erneuerten Vertragstheorie, wie sie Rawls seit den späten 1950er Jahren vorbereitet, interessiert, sondern für ihn gilt es, zur klassischen antiken Philosophie zurückzukehren. Wie diese Idee entstand, wie der Rückweg gedacht und realisiert wird, was sich Strauss von ihm verspricht, sind Fragen der folgenden werkgeschichtlichen Studien. In diesem Zusammenhang rekonstruiere ich die sachlichen Gehalte von Strauss' Konzepten. Dabei geht es insbesondere um die Problematik, ob und inwiefern es ein einheitliches Zentrum seines Denkens gibt,
1
2
Strauss war lange nur in seinem Freundeskreis (Hans Georg Gadamer, Gerhard Krüger, Karl Löwith, Alexandre Kojeve) bekannt. Rezipiert wurde er durch Wilhelm Hennis (1963), der später folgendes festhielt: „Shils führte mich 1952 im Abstand weniger Wochen bei Talcott Parsons in Havard sowie bei Leo Strauss in Chicago ein. Wenn man so etwas aus Weber machen konnte, wie es Parsons gelang, so mußte Strauss recht haben. Wie aber, wenn beide unrecht hatten." (1987: 56, FN 85) Hennis hat 1963 auch Strauss' Buch über Tyrannis in der Reihe Politico mit herausgegeben. Ein anderes Beispiel der Strauss-Rezeption ist Manfred Riedel (1976: 8). Daneben gab es eine departementalisierte Aufnahme von Strauss im Rahmen ideengeschichtlicher Untersuchungen zu Hobbes, Locke, Spinoza und Machiavelli. Laslett setzt den Gedankengang fort: „But in recent years there have been signs that our philosophers were preparing to take up their responsibilities toward political discussions once more. It is on these small signs that some might to wish to base an expectation of a rebirth of traditional political philosophy" (Laslett 1956: X).
14
DENKWEG UND WIRKUNGSGESCHICHTE
das seine provokativen und dichten Interpretationen von berühmten Philosophen der politischen Ideengeschichte trägt. Die Studien zum politischen Philosophieren des Leo Strauss deuten ihn vor dem knapp skizzierten Hintergrund wesentlich im Kontext der Politikwissenschaft. In genetisch-kontextualistischer Lesart analysieren die Kapitel 2 und 3 Weimarer Kontexte von Strauss und die Genese seiner theoretischen Motive. Kapitel 4 bis 6 enthalten Deutungen der ersten wichtigen Arbeiten des reifen Strauss, und zwar vornehmlich seiner Hermeneutik und seiner Auseinandersetzungen mit dem Naturrecht. Nach einem Vergleich der Konzepte und der Moderne-Kritik von Arendt, Strauss und Voegelin wird in Kapitel 8 das Spätwerk von Strauss skizziert. Kapitel 9 sucht mit wissenssoziologischen Mitteln die Gründung der akademischen Schule von Leo Strauss darzustellen. Die leitende Frage ist dabei, wieso ein radikaler Kritiker der Moderne und bekennender Platoniker wie Strauss ein einflußreicher Theoretiker in der amerikanischen Politikwissenschaft werden konnte.
1.2
Biographische Skizze
Eine erste Vorstellung von Strauss kann man anhand seiner Denkungsart gewinnen. Er war stets an radikalen, zugespitzten philosophisch-politischen Thesen und Konzepten interessiert. Die frühe bis Ende der 1920er Jahre währende Begeisterung für Nietzsche ist ein Beleg dafür. Aber ein Theoretiker muß für Strauss nicht nur kühn sein, sondern auch vorsichtig, die Wirkung der Radikalität bedenkend. Was er an zwei modernen Autoren schätzt, gilt auch für ihn selbst auf spezifische Weise - man müsse „kühn" sein wie Hobbes und zugleich dem Motto „caute" folgen, das Spinoza auf seinem Siegelring trug (LAM: 8). Hans-Georg Gadamer, seit der späten Studienzeit mit Strauss befreundet, hebt in einem Interview auf ähnliche Charakterzüge von Strauss ab, wenn er dessen enorme Wirkung in den USA erklärt: „I think one of the main points was this absolute courage in his personality, which was so closely connected with modesty and even childishness - he had the courage and he liked to say and to stand for what he found evident and correct. And I think that the first attitude of his on the new continent which struck everyone, was that he opposed the general optimism and belief in progress." (Gadamer 1978a: 5)
Der von Alfons Söllner geradezu als Vertreter teutonischer Gelehrsamkeit apostrophierte Strauss beherrschte zudem viele Sprachen, verfugte über enorme detaillierte Kenntnis der großen politischen Philosophen und galt als intensiver Lehrer, der den Problemen ohne Zeitlimit folgte. Hinzu kommt eine oft hervorgehobene Schlichtheit, die sich z.B. in der bevorzugten Anrede als „Mister Strauss" äußert, und große pädagogische Begabung, die ihn als akademischen Lehrer und Schulgründer auszeichnet. Einen besonderen Reiz haben auch seine verschlungenen Interpretationen, die Strauss in einem Brief an Alexandre Kojeve einmal wie folgt etwas selbstironisch faßte: „I am one those who
BIOGRAPHISCHE SKIZZE
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refuse to go through open doors when one can enter just as well through a keyhole" (OT: 236). 1899 in Kirchhain als Kind einer jüdischen Kaufmannsfamilie geboren, besuchte Strauss im nahegelegenen Marburg das Gymnasium Philippinum. Das Abiturzeugnis zeigt einen eher durchschnittlichen Schüler.3 1970 beschreibt er in einem Gespräch mit Jacob Klein seine frühe Entwicklung wie folgt: „I was brought up in a conservative, even orthodox Jewish home somewhere in a rural district of Germany. The .ceremonial' laws were rather strictly observed but there was little Jewish Kowledge. In the Gymnasium I became exposed to the message of German Humanism. Furtively I read Schopenhauer and Nietzsche. When I was 16 and we read Laches in school, I formed the plan, or the wish, to spend my life reading Plato and breeding rabbits while earning my livelihood as a rural postmaster. Without being aware of it, I had moved rather far away from my Jewish home, without any rebellion. When I was 17,1 was converted to Zionism - to simple, straightforward political Zionism." (Strauss/Klein 1970: 2)
Wieviel an dem Plan lebenslangen Studiums von Piatons Werken spätere Selbststilisierung ist, kann nicht ausgemacht werden. Wichtiger ist in diesem Zusammenhang der Hinweis auf den Übergang zum politischen Zionismus. Man geht nicht fehl in der Annahme, daß dabei der anderthalbjährige Dienst im deutschen Heer, den Strauss am Ende des Ersten Weltkrieges absolvierte (Juli 1917 bis Dezember 1918), eine Rolle spielte (GS 2: 298). Über die Erfahrungen aus dieser Zeit, die bei vielen ein Einschnitt war, ist nichts Näheres bekannt.4 1917 nur für kurze Zeit und dauerhaft ab 1919 nimmt er sein Studium vornehmlich der Philosophie, aber auch der Mathematik und Naturwissenschaften, in Marburg auf. Später setzt er das Studium in Frankfurt am Main, Berlin und Hamburg fort (GS 2: 298). Der junge Strauss engagiert sich in der zionistischen Bewegung und ist selbst Teil einer Renaissance jüdischer Kultur (Michael Brenner), über die noch zu sprechen sein wird. 1921 wird er mit einer Arbeit zum Erkenntnisproblem bei Jacobi von Ernst Cassirer, dem er distanziert gegenübersteht, promoviert. Ein Jahr später gibt es eine bemerkenswerte Veränderung der geistigen Interessen, die mit einem ersten, nahezu bekehrungshaften Heidegger-Erlebnis zu tun hat. Im Rückblick schildert Strauss die Situation wie folgt: „One of the unknown young men in Husserl's entourage was Heidegger. I attended his lecture course from time to time without understanding a word, but sensed that he delt with something of the utmost importance to man as man. I understood something at one occasion: when he interpreted the beginning of the Metaphysics. I had never heard nor seen such a thing - such a thorough and intensive interpretation of a philosophic text. On my way home I visited Rosenzweig and said to him that compared to Heidegger, Max Weber, till then regarded by me
3 4
Die Einsicht in das Abiturzeugnis verdanke ich Herrn Studienrat Tobias Meinel. Strauss hat sich wohl als Student der Medizin gemeldet, wurde wegen Französischkenntnissen in Belgien eingesetzt; dreimal verwundet (vgl. Lüders/Wehner 1989: 14). Es gibt auch die Darstellung, daß Strauss eine Appendicitis vortäuschte, um nicht in den Krieg zu müssen, aber der Arzt habe die Täuschung durchschaut (vgl. Shils 1991: 493). Er scheint jedenfalls nicht vom Krieg begeistert gewesen zu sein.
16
DENKWEG UND WIRKUNGSGESCHICHTE as the incarnation of the spirit of science and scholarship, was an orphan child." (Strauss/Klein 1970: 3)
1921 bis 1925 setzt Strauss sein Studium bei Edmund Husserl und Martin Heidegger in Freiburg und Marburg fort. Während dieser Zeit entwickelt sich ein Gesprächskreis von Philosophen, zu dem Gerhard Krüger, Hans Georg Gadamer, Karl Löwith und Jacob Klein gehören. Sie alle sind auf der Suche nach einem neuen Ansatz in der Philosophie und setzen sich dabei primär mit Heidegger auseinander.5 Die damals geknüpften Kontakte bleiben lange erhalten. Für Strauss spielt dabei Jacob Klein, den er als seinen ältesten Freund bezeichnet, eine besondere Rolle: „Klein alone saw why Heidegger is truly important: by uprooting and not simply rejecting the tradition of philosophy [...] Klein was the first to understand the possibility which Heidegger had opened without intending it: the possibility of a genuine return to classical philosophy, to the philosophy of Aristotle and of Plato, a return with open eyes and in full clarity about the infinite difficulties which it entails." (Strauss 1978: 2)
Von Klein ging, wie Strauss retrospektiv urteilt, der entscheidende Impuls aus, durch den er dann anfangs der 1930er Jahre seinen Rekurs auf die antike politische Philosophie beginnen konnte. Mitte der 1920er Jahre nimmt Strauss seine Arbeit an der seit kurzer Zeit in Berlin bestehenden Akademie für die Wissenschaft des Judentums auf. An dieser Akademie, die im Unterschied zur Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, die Rabbiner ausbildete, akademischen Nachwuchs heranbilden und fordern sollte, gehört er zur philosophischen Sektion, die von Julius Guttmann geleitet wird. Hier arbeitet er an seinem Buch über Spinoza und an einer Ausgabe der Werke von Moses Mendelssohn. Nebenbei ist er in einigen Zeitschriften der zionistischen Bewegung als Autor anzutreffen. Strauss wendet sich 1929/30 nach seinem Spinoza-Buch den dabei aufgetauchten Problemen nun direkter zu. In diesem Zusammenhang stößt er auf einen Satz von Avicenna, den er intensiv und mehrfach auslegt: nämlich die Behauptung, daß das Standardwerk über die Philosophie und die Prophetie Piatons Nomoi seien.6 Damit wird Piaton zur zentralen Figur für Strauss, er soll die theoretischen Mittel zur Reflexion der Offenbarungsreligion vor deren Auftreten bereitgestellt haben. Strauss forciert nun die Moderne-Kritik und beginnt die Möglichkeit einer Rückkehr zur klassischen politischen Philosophie zu eruieren. In diesem Kontext entwickelt er erste Überlegungen seiner Tiefenhermeneutik und wendet sich (als Verbindungsstück zur Antike) jüdischen und arabischen Autoren des Mittelalters wie Maimonides, Avicenna, al-Farabi und Averroes zu - eine Auseinandersetzung, die er 1936/37, am Beginn der Ausarbeitung seiner spezifischen hermeneutischen Methodik, noch einmal verstärkt. 5
6
Wichtig für Strauss ist von hier an ein emphatischer Begriff von Philosophie bzw. des Denkens, der dem von Heidegger sehr nahe steht, vgl. Heidegger 1971. Philosophie ist keine Wissenschaft, denn unter Wissenschaft wird „positivistische Fachwissenschaft" verstanden. Aber Strauss konzentriert sich im Unterschied zu Heidegger auf politische Philosophie, auf die selbstreflexive Bestimmung von Philosophie. Zum Orientierungswandel vgl. Strauss' autobiographische Einleitung zum Spinoza-Buch (GS 1: 54), Meier (GS 2: XVf.) sowie Kauffinann (1997: 29).
INTERPRETATIONSKONZEPT UND KONTROVERSE FORSCHUNGSFRAGEN
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Die weiteren Stationen von Strauss' Weg sind rasch benannt: Er verweilt mit einem Rockefeller-Stipendium von 1932 bis 1934 in Paris und von 1934 bis 1938 in Cambridge, wo er sein Hobbes-Buch verfaßt. Von dort geht er in die USA, und zwar zunächst nach New York, dort wirkt er erst an der Columbia University und dann an der New School for Social Research. Von 1949 bis 1969 ist Strauss in Chicago im Department of Political Science Professor für politische Theorie; hier gründet er seine Schule und wird zu einer einflußreichen Bezugsfigur des amerikanischen Nachkriegskonservatismus. Nach seiner Emeritierung wirkt er von 1969 bis zu seinem Tod im Jahre 1973 als Distinguished Scholar-in-Residence am St. John's College in Annapolis (Maryland).
1.3
Interpretationskonzept und kontroverse Forschungsfragen
Strauss wird auf divergierende Weise gedeutet. Die einen, vor allem seine Schüler, sehen in ihm einen der wenigen großen politischen Philosophen im 20. Jahrhundert, andere, wie Kenneth H. Green, erklären ihn zu einem jüdischen Denker, und eine weitere Strömung liest ihn nur als Historiker der politischen Philosophie. In der amerikanischen Literatur gibt es weitere Deutungsrichtungen, inklusive einer Unmenge von detaillierten Untersuchungen. 7 Die Skizze des Forschungsstandes und einiger Desiderata ist auf drei größere Problemkreise konzentriert, und zwar auf die Debatte um das Zentrum von Strauss' Denken sowie auf Fragen der Werkgeschichte und der enormen Wirkung von Strauss. In diesem Kontext entwickle ich mein These und Grundzüge einer kontextualistisch-interpretativen Herangehensweise.
1.3.1 Das umstrittene Zentrum von Strauss' Denken Eine erste Richtung von Strauss-Deutungen, die für die „Straussians" insgesamt typisch ist, hat Allan Bloom entwickelt, und zwar in einer kurz nach seinem Tode verfaßten ersten Würdigung des Gesamtwerkes seines Lehrers. 8 Bloom hebt darauf ab, daß Strauss in erster Linie ein Philosoph ist: „At most he [Strauss] hoped there might be a third humanism", der nicht von der Ästhetik der Antike, sondern von der Wahrheit ihrer 7
8
Ein Beispiel für diese Literatur sind Lamperts Buch (1996) über Strauss und Nietzsche, ein Kommentar zu Strauss' Aufsatz: „A Note on the Plan of Nietzsche's Beyond Good and Evil", der wie folgt eingeschätzt wird: „I believe that it is not too much to say that Strauss's essay is the most comprehensive and profound study ever published on Nietzsche" (ebd.: If.). Ein anderes Beispiel ist Orr (1995). Werner Dannhauser hat die Beziehung von Strauss und Bloom, der ein Jahr persönlicher Assistent von Strauss war und dann mit ihm brach und nach Europa ging, so metaphorisiert, daß er der Sonne zu nahe kam. Ende der 1960er Jahre nähere Bloom sich wieder Strauss an, und in seinen letzten Lebensjahren stünde er ihm wieder sehr nahe (Dannhauser 1995: 5).
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Philosophie her inspiriert wird (1974: 389). Folgerichtig liegt der Schwerpunkt bei der Wiederherstellung der klassischen politischen Philosophie, bei den Interpretationen klassischer Autoren, die Strauss in seinem Spätwerk gab. Die Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Fragestellungen und der Rückweg zur Antike sind demnach nur die „Prolegomena". Damit wird Strauss der zeitgenössischen Bezüge entkleidet und auf eine spezielle Weise auf die Rückkehr zur antiken Philosophie reduziert. Strauss zeichnet sich in dieser Perspektive durch die Wiederaufnahme der Debatte zwischen den Antiken und den Modernen zugunsten ersterer, durch das politisch-theologische Problem und seine Methodik aus. Was die umstrittene Methodik von Strauss - die Unterscheidung einer äußeren, exoterischen Präsentationsform und einer inneren, esoterischen Wahrheit von Texten - angeht, so ist sie für Bloom durchaus zentral. Er vertritt jedoch die Auffassung, daß die beiden Grundprobleme nichts mit der Methodik zu tun hätten (Bloom 1974: 381). Damit sollen Strauss' zentrale Fragen vom Streit um seine Methode ausgenommen werden. Einer solchen Trennung von Problem und Methodik widerspricht eine repräsentative Interpretation, wie sie Heinrich Meier entwickelt hat. Für ihn ist Strauss der einzige namhafte Protagonist politischer Philosophie im 20. Jahrhundert (Meier 1996: 9, 19). Auch hier ist Strauss primär Philosoph, aber er hat mehr zu bieten als die Rückkehr zur Antike. Seine Stärken liegen in der Kritik, denn die Aufgabe bestand zunächst in der Wiedergewinnung des klassischen Denkhorizontes gegen den Historismus und Positivismus; es galt, von versteinerten Systemen und Lehren zu den ursprünglichen Fragen und zur Intention des Philosophen zurückzukehren (ebd.: 41). Strauss' Verständnis der Intention, der Absicht des Theoretikers und des mehr oder weniger offenen Planes philosophischer Werke bedeutet, sich ganz auf die Denkbewegung des Autors einzulassen und dabei dessen Ziel zu rekonstruieren. Dieser Ansatz ist nicht nur gegen eine relativistische Theoriegeschichte gerichtet, sondern ebensosehr gegen die Hybris moderner Autoren, die einen Denker besser zu verstehen glauben, als er sich selbst verstand. Für Strauss kommt es darauf an, die Denker so zu verstehen, wie sie sich selbst verstanden, sie sorgfaltig zu lesen und zu interpretieren. Dabei, so Meier, „muß der Interpret die Sache, auf die die Denkbewegung gerichtet ist, selbst denken. Die hermeneutische Anstrengung geht fugenlos in die im eigentlichen Sinne philosophische Aktivität über" (ebd.: 33). Hier ist ein generelles Motiv von Strauss angesprochen, das er gleichermaßen auf namhafte moderne wie antike Autoren bezieht. Zugleich ist für Meier klar, daß es nicht einfach um eine Rückkehr zur antiken Philosophie geht, denn wiewohl Strauss für die Wiederaufnahme der ewigen Alternativen und Probleme eintritt, realisiert er diese Position im 20. Jahrhundert und reagiert damit auf die Krisen der Moderne. Strauss hat dafür eine Leitmetapher entwickelt, die sich durch all seine Schriften zieht. Er spricht etwa seit 1930 davon, daß die Modernen in einer Höhle unter der von Piaton beschriebenen steckten; für sie käme es darauf an, sich in die Höhle, in der die normalen von Piaton beschriebenen Schwierigkeiten gelten, hinaufzuarbeiten (ebd.: 21). In dieser Metapher ist die Präferenz für die platonische Philosophie, die dadurch ausgezeichnet wird, daß Piaton die normalen Schwierigkeiten des Philosophierens gültig beschrieben habe, ebenso sichtbar wie die starke Kritik: Statt auf den gewünschten Weg ans Licht habe sich die Moderne in eine Unterhöhle, einen noch tieferen Stollen eingegraben. Für
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die komplizierte Rückkehrbewegung zur antiken Philosophie ist die Unterscheidung von esoterischer und exoterischer Lehre von Philosophen ebenso zentral wie das theologisch-politische Problem, das nach Strauss zwei divergierende Antworten auf die Frage „Wie soll ich leben?" enthält. Die Antworten der politischen Philosophie und der Theologie auf diese Frage sind gegensätzlich und nicht vermittelbar (Meier 1996: I I IS; vgl. Kauffmann 1997: 99f.). Während Bloom und Meier Strauss primär als politischen Philosophen deuten und seinen Rekurs auf die Antike und insbesondere die platonische Philosophie akzentuieren, repräsentieren Autoren wie Ted McAllister (1996), Catherine Zuckert (1996) und Stanley Rosen (1987) eine zweite Linie von Deutungen. Sie heben Strauss' Methodik und die Tendenz, über die Moderne hinaus zu denken hervor. Der Untertitel von McAllisters Studie über Strauss und Voegelin, „the search for a postliberal order", ist für diese Richtung typisch. Hier werden die Krise der Moderne und die Fragilität des Liberalismus nicht nur als Ausgangspunkt fur eine Rückkehr zum klassischen Denken begriffen, sondern diese Rückkehr soll auch die Mittel bereitstellen, um in der Moderne auf die antiken Einsichten rekurrieren zu können. In dieser Perspektive bilden die Krise der Moderne und ihre Überwindung das Zentrum von Strauss' Arbeiten. Damit bekommen die zeitgeschichtlichen Problemstellungen einen wesentlich größeren Stellenwert als in der ersten Interpretationsrichtung. Auch hier gilt das Œuvre von Strauss als „ciyptic", aber nur an der Oberfläche, denn sein Werk sei „internally coherent" (McAllister 1996: 25). Ähnlich wie McAllister setzt auch Zuckert ihren Akzent. Sie bezeichnet Nietzsche, Heidegger, Gadamer, Strauss und Derrida als postmoderne Platon-Lesarten: „They are all seeking a way of making a new beginnning, of moving beyond ,modernity' to something better, by articulating a new and différent understanding of the distinctive characteristic of the ,West"' (Zuckert 1996: lf.). All diese Autoren kennzeichne zudem, daß sie im Unterschied zu früheren Theorien, etwa des 19. Jahrhunderts, Philosophie wieder als Lebensform begriffen. Folgerichtig wird mit Bezug auf Strauss betont, daß eine Rückkehr zur klassischen politischen Philosophie für ihn nur tentativ, experimentell sein könne. Es könne sich nur um eine Rückkehr zum Denken, nicht aber zur antiken Praxis handeln. Zuckert demonstriert, daß Strauss der unaufhebbaren Spannung zwischen der klassischen griechischen Philosophie und der Offenbarungsreligion entscheidende Bedeutung beimaß. Auch deshalb setzt sie sich von einer Interpretation ab, die Strauss eine einfache Rückkehr zur Antike unterstellt. Die Platon-Deutung von Strauss - wie all seine theoretischen Probleme - werden als wesentlich durch seine Methodik geprägt interpretiert. Stanley Rosen, ein „abtrünniger" Strauss-Schüler, erkennt in ihm einen Postmodernen, wofür er gerade die Methode der doppelt kodierten Texte, das Ineinander von Exoterischem und Esoterischem verantwortlich macht. Er liest Strauss als Propagandisten der klassischen politischen Philosophie, der ihre aktuelle Bedeutung und die Notwendigkeit einer Rückkehr zu ihr thematisiere (Rosen 1987: 121, 111), und setzt den Akzent auf die politische Bedeutung der hermeneutischen Prinzipien von Strauss. In ihnen erkennt er ein kryptisches politisches Programm, dessen Elemente Aufklärungs- und Liberalismuskritik sind. Die esoterische, verborgene Wahrheit für die Wenigen, die Philosophen, und die exoterische Präsentationsform für die Menge seien zwar ein elitä-
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res Programm, aber die Methodik werde nicht instrumentell begriffen, denn sie reflektiere die generelle Problematik der Mehrfachkodierung und der Dekodierungsprobleme von Texten. Rosen erkennt zudem spielerische Motive im Werk von Strauss und behauptet, er habe in diesem Sinne die Maske eines mittelalterlichen Rabbi benutzt (ebd.: 107). Material konzentriert sich Rosen auf die Debatte zwischen Strauss und Kojeve, einen Streit um die Interpretation des Xenophontischen Hieron, bei dem es letztlich um das Verständnis des Totalitarismus geht. Eine dritte Linie der Strauss-Deutungen repräsentieren Kritiker wie Shadia Drury, John G. Gunnell und Stephen Holmes, die Strauss generell stärker auf sein reales Wirkungsfeld, nämlich die Politikwissenschaft in Amerika, beziehen. Diese Kritiker setzen beim Zusammenhang von Methodik und Form der Theorie an und betrachten ihn als für das (Eeuvre zentral. Dabei treten recht unterschiedliche Aspekte hervor. Gunnell hat sich seit Ende der 1970er Jahre mit Strauss auseinandergesetzt (z.B. 1978: 122ff.; 1979). Seine in unterschiedlichen Fassungen entwickelte zentrale These lautet: Strauss habe eine „falsche" philosophische, metatheoretische Orientierung in die amerikanische Political Science eingebracht und so die vorhandene pragmatische Beziehung von Theorie und Praxis empfindlich gestört. Er deutet Strauss als einen deutschen Philosophen, der im Exil im Umfeld von Political Science agiert und an seiner herkömmlichen Orientierung an metatheoretisch-normativen Fragen festhält. Strauss betreibe „Political Theory" im Unterschied zu amerikanischer „political theory", die immer den Kontakt zur Empirie und zur Praxis sucht. Zentraler Stellenwert komme dabei der Etablierung einer neuen Tradition zu. Auf die Spezifikationen von Gunnells Thesen wird noch zurückzukommen sein, wenn es um die akademisch-disziplinären Wirkungskontexte von Strauss geht. Festzuhalten ist: Strauss wird hier weder als Philosoph noch als Politikwissenschaftler gefaßt, sondern als jemand, der eine neue Form von politischer Theorie etabliert. Für Gunnell ist das, was Strauss, aber auch Hannah Arendt und Eric Voegelin entwickelt haben, epische Theorie, denn sie erzählen Verfallsgeschichten. Die intendierte Rückkehrbewegung zur antiken Philosophie erscheint hier als die problematische Leistung, und den Interpretationen der antiken Autoren selbst wird keine besondere Bedeutung zugemessen. Für die Verfallsgeschichten und die Erfindung einer neuen Tradition werde bei Strauss die Methodik entwickelt. Will man die Kritik bündeln, so resümiert sie sich im Vorwurf mangelnder Klarheit und Systematik, die selbst die Grundbegriffe wie „politische Philosophie" betreffe (Gunnell 1978: 130). Die Rückkehr zu somatischem Philosophieren, zu zetetischen Erörterungen von ewigen Problemen gelten als Verfall systematischer und empirisch informierter politischer Theorie. Shadia Drury ist eine scharfe Strauss-Kritikerin und hat mit ihrer Monographie The Political Ideas of Leo Strauss (1988) neue Fragen provoziert. Sie wendet sich gegen die Deutung, Strauss sei primär ein Ideenhistoriker, und sucht seine „hidden philosophy"; für sie schrieb Strauss selbst esoterisch. Was sie in dieser Perspektive bei der Analyse der Arbeiten des mittleren und späten Strauss herausfindet, ist eine verdeckte nietzscheanische Philosophie, die der Moderne kritisch gegenübersteht und elitär ist. Damit hat sie den Einfluß von Nietzsche auf Strauss herausgestellt, der zuvor viel zu gering eingeschätzt wurde. Aber Form und Grundprobleme von Strauss' Theorie bleiben un-
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klar, da diese selten auf sachliche Probleme bezogen werden und die Polemik überwiegt. Drury kämpft gegen einen schädlichen Einfluß an, den Strauss als Begründer einer Schule, einer Bewegung im akademischen Leben habe. Das ist, da der Einfluß massiv war, an sich legitim; allerdings muß die Frage nach den Stärken von Strauss, nach den Gründen und Leistungen seiner Moderne-Kritik zugelassen werden. Diese Fragen sind auch in Drurys jüngerem Buch (1997), nicht aufgenommen worden, dort geht es primär um den Zusammenhang von Strauss mit dem amerikanischen Konservatismus. Das Zentrum von Strauss bestimmt Drury als nietzscheanische Philosophie, die nicht zufällig eine politische Wirkungsgeschichte gefunden habe und nicht nur einfach konservativ, sondern im Kern reaktionär sei und sich gegen die amerikanische liberale Tradition richte. Ein dezidiert liberaler Kritiker wie Stephen Holmes bestimmt Strauss als Phänomen „sui generis", d.h. weder eindeutig als Philosophen noch als Politologen (1993: 78). Er liest ihn politisch, aber nicht so polemisch wie Drury. Auch für Holmes ist Strauss durch Nietzsche beeinflußt, dadurch wird er hier aber zu einem „kosmopolitischen Ungläubigen", dessen Frage laute: „Wie ist es den großen Philosophen der Vergangenheit gelungen, die Wohltaten der Aufklärung zu genießen und gleichzeitig der Dialektik der Aufklärung zu entrinnen?" (Holmes 1990: 555). Die Antwort auf diese Frage ist die Methodik des sorgfaltigen Schreibens, der Andeutungen zwischen den Zeilen, welche den Philosophen die Wahrheit weise, der Menge hingegen das Exoterische lasse. Politisch läuft dieser Ansatz auf eine scharfe Attacke gegen die Gleichheitsvorstellungen in der Moderne und eine Verteidigung von Ungleichheit mittels antiker Autoren hinaus. Holmes rückt die Moderne-Kritik ins Zentrum und attackiert die maßlose Überschätzung der Rolle der Philosophie bei Strauss, die nicht nur Ursache der Krise der Moderne sei, sondern auch als ihr Heilmittel ausgegeben werde. Eine vierte Grundrichtung der Strauss-Deutungen hebt auf den jüdischen Denker ab. Diese jüngere Linie vertritt insbesondere Kenneth Hart Green; er hat nicht nur die andauernde Auseinandersetzung von Strauss mit Maimonides, dem jüdischen Religionsphilosophen par excellence (1993: 135ff.) verfolgt, sondern gibt inzwischen eine auf fünf Bände angelegte Reihe von Strauss-Schriften (1997aa) heraus, wo dessen Arbeiten zu Fragen der jüdischen Religion gesammelt sind. Für Green ist Strauss „one of the most important jewish thinkers of the present Century" (1993: XI), der vor allem aufgrund seiner andauernden Auseinandersetzung mit Maimonides als jüdischer Denker zu begreifen sei. Das Verständnis des jüdischen Gesetzes, der Propheten, einer sinnvollen politischen Ordnung, das Problem der sittlichen Lebensführung für verschiedene Gruppen und vieles andere mehr seien genuin jüdische Themen, die Strauss im Zusammenhang mit Maimonides bearbeite.9 Erst im Verlauf einer länger währenden Auseinandersetzung stoße Strauss in diesem Kontext auf das Problem der exoterisch-esoterischen Schreibweise. Die genannten jüdischen Themen gelten als Zentrum von Strauss' Denken, das durch die esoterisch-exoterische Methodik abgerundet und ausgebaut würde. 9
Eine besondere Rolle spielt der Plan eines Buches zum Thema Philosophie und Gesetz, etwa von 1948 (vgl. Green: 1997a: 467f.); der Plan muß aber nicht als Beleg für ein starkes und andauerndes Interesse an jüdischen Themen gelesen werden, sondern sein Fallenlassen kann umgekehrt auch ein Einlassen auf zeitgeschichtliche und amerikanische Probleme anzeigen.
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In Deutschland hat Alfons Söllner eine andere Variante einer solchen Deutung von Strauss entwickelt, er liest ihn als einen „ultra-konservativen" jüdischen Denker, der letztlich ein politischer Theologe sei (1990a: 119; 1996a). Seinen Denkweg deutet er als einen von Jerusalem nach Athen, als werkgeschichtlichen Pfad, der von den jüdischen Göttern und Propheten zu den griechischen Göttern führe. Strauss wende sich am Anfang des 20. Jahrhunderts der jüdischen Tradition zu und entwickele von dort seine Aufklärungs- und Moderne-Kritik, welche die ursprünglichen theologischen Anstöße dann säkularisiere. Deshalb könne man „den spätplatonischen Idealismus im Spätwerk von Leo Strauss als einen Indikator dafür nehmen, daß der Theologe endgültig über den Philosophen die Oberhand gewonnen hat" (Söllner 1990a: 118). Hier erscheint das frühe und auch das mittlere Schaffen nicht als Prolegomenon, in ihm sind vielmehr die eigentlichen Motive eingekapselt, und zwar in einem solchen Maße, daß sie Kohärenz für das Ganze stiften. Vorerst läßt sich resümieren: Das Selbstverständnis und die Zuordnung von Strauss zu akademischen Disziplinen sind in den verschiedenen Deutungslinien umstritten. Mir scheint, daß diese beiden Aspekte stärker miteinander verbunden werden müssen, um die Leistungen von Strauss angemessen beurteilen zu können. Strauss' Selbstbeschreibung und ihre Rekonstruktion ist für die Klärung von Streitfragen der StraussInterpretation ein wichtiger Zugang. Sah Strauss sich als großen politischen Philosophen (Meier 1996) oder deutete er sich mehr als Gelehrten (Gebhardt 1995) bzw. als einen „einfachen Denker" (Bluhm 1996a)? Welche Selbstdeutung man vorzieht, hat erhebliche Folgen. Thematisiert man Strauss primär als einen großen Philosophen, der sich den ewigen Fragen der politischen Philosophie widmet, wie Meier es vorschlägt, so rücken bei einer solchen „straussianischen" Interpretation die historisch-politischen Kontexte weitgehend in den Hintergrund. Es gibt aber auch die Deutungen, welche Strauss ausdrücklich nicht als politischen Philosophen begreifen. Ich werde das Rätsel dahingehend auflösen, daß Strauss sich als einen Gelehrten sah, der politische Philosophie wieder ermöglichen wollte; an den Klassikern und den großen Philosophen gemessen, bezeichnete er sich dabei selbst bloß als Gelehrten, als einfachen Denker (vgl. Bluhm 1996a, 1999). Folgt man dieser Deutung, der zufolge das Ziel in einer Wiederermöglichung antiker Philosophie in einem strikten Sinne besteht, dann muß, statt der vergeblichen Suche nach einer mehr oder weniger konsistenten Theorie bei Strauss, untersucht werden, aufgrund welcher Problemlagen und in welchen Kontexten er zu der Auffassung kam, daß es für das politische Denken entscheidend sei, die klassische politische Philosophie wieder zu beleben, auf sie zurückzugreifen.
1.3.2 Exposition der These Strauss entwickelt, so meine leitende These, eine paradoxe Form von politischem Philosophieren, nämlich ein politisches Denken, das im Kern unpolitisch ist. Er ist kein politischer Philosoph im engeren Sinn, denn er hat keine systematische philosophische Theorie der Politik geschaffen, und zwar weder einen Vorschlag zur Lösung des Problems politischer Ordnung, noch eine politische Ethik, obwohl beides für ihn zentrale
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Fragen politischer Philosophie sind. Er ist aber auch kein politischer Theoretiker, denn er bietet keine politische Theorie des politischen Prozesses, seiner Strukturen, Institutionen und Akteure sowie seiner Konsequenzen, ganz zu schweigen von damit zu verbindenden Fragen der Anwendung und Implementation. Strauss kennzeichnet vielmehr, daß er auf einer metatheoretischen Ebene durch zetetische Erörterungen einen normativen Horizont eröffnen will. Dazu tritt er primär als Kommentator auf, beziehungsweise arrangiert mit der Maske des Kommentators das Gespräch mit den großen Philosophen. Sein Denken kreist um die Aufgabe, die politische Philosophie wieder zu ermöglichen und zu bewahren und hat insofern einen unpolitischen Kern, denn es ist wesentlich auf die Sache der Philosophie im Sinne der Vita contemplativa bezogen. Das der Philosophie gewidmete Leben ist aber nur möglich, wenn der Philosoph sich auch auf das praktische Leben bezieht, wenn er seine Tätigkeit vor dem Gemeinwesen rechtfertigen kann, wenn er zeigen kann, daß die Philosophie nicht destruktiv für die politische Ordnung sein muß und damit mittelbar-konsekutiv die Bedingungen philosophischen Denkens bewahrt werden. Insofern Philosophie zur Selbstreflexion ihrer Bedingungen gezwungen ist, läßt sich Strauss am selbst gestellten Anspruch messen. Er ist dann auch ein politischer Denker, und zwar vor allem, weil der Mehrzahl seiner Interpretationen politische Motive wie die Liberalismus- und Aufklärungskritik, das Totalitarismusproblem u.a.m. zugrunde liegen, weil seine Schriften als theoretische Interventionen gedacht sind, die sich auf die Veränderung einer geistig-politischen Situation beziehen. Das kennzeichnet sie, trotz aller von Strauss oft selbst vollzogenen Dekontextualisierungen, wie die folgenden Studien durch eine Rekontextualisierung in politische, akademischdisziplinäre und theoretische Kontexte zeigen werden. Meine These hat verschiedene Aspekte: werkgeschichtliche, auf die ich anhand der Schaffensperioden eingehe, und systematische. Systematisch problematisiere ich die ausstehende theoretische Verbindung zwischen dem Begriff des Politischen, in Strauss' Verständnis der guten politischen Ordnung schlechthin und dem Verständnis von Politik im Sinne von Policy und Politics, die im Rahmen konkreter Typen politischer Ordnung realisiert werden. Diese Lücke ist auch für das problematische Verhältnis von Krisendiagnostik und Therapievorschlägen verantwortlich. Die Diagnostik wird nur anhand der politischen Philosophie entfaltet, ohne das die Kriterien geklärt oder historische Argumentationen einbezogen werden. Hinzu kommt, die Diagnostik überwiegt bei weitem gegenüber dem generellen Therapievorschlag einer Rückkehr zur antiken politischen Philosophie, bei dem unklar bleibt, wie er vollzogen werden soll und inwiefern es sich dabei für die Moderne um einen sinnvoll realisierbaren Weg und nicht nur um einen kritischen Horizont handelt. Für die Rekonstruktion von Strauss' Verständnis politischer Philosophie werden unterschiedliche Dimensionen politischer Philosophie, die mit ihrem verschiedenen Adressatenbezug (Philosophen, Herrscher, Volk) zu tun haben, differenziert. Diese Dimensionen hat Strauss nie klar und systematisch auseinandergelegt. Vielmehr wechselt er zwischen verschiedenen Dimensionen und vermag es so, eine Vielzahl von Fragestellungen zu verbinden und gleichzeitig systematische Lücken zu überblenden. Bei der vielfach diskutierten Kohärenzproblematik der theoretischen Auffassungen kann man von einigen durchgehenden Fragestellungen bei Strauss ausgehen:
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die Debatte zwischen den „Alten", der klassischen antiken politischen Philosophie, und den „Modernen", der Aufklärung; diese Debatte hat mindestens drei Ebenen: die Auffassung von Wissenschaft, die Bestimmung von Politik und die Rolle, die dem Individuum zugemessen wird;
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das theologisch-politische Problem bzw. der Gegensatz von Jerusalem (Offenbarungsreligion) und Athen (politische Philosophie); ersteres bedeutet ein Leben nach der Bibel und damit nach einer absoluten Autorität, letzteres ein philosophisches Leben. Dieser Gegensatz, der schon in der Antike wirksam gewesen sei, reiche in die Moderne hinein und mache in verschiedenen Formen als Gegensatz unterschiedlicher moralisch-politischer Orientierungen, wie Strauss meint, letztlich deren „Dynamik" aus; • schließlich die ideen- und geistesgeschichtliche Problematik des Verfalls der politischen Philosophie sowie dessen Ursachen. Ich behaupte, daß es zwischen diesen verschiedenen Fragen einen Zusammenhang gibt, der wesentlich über das philosophisch-politische Problem der Ordnung zu begreifen ist, das demnach das Zentrum von Strauss' Philosophieren bildet. Wenn man die spezifische Art, wie er das Ordnungsproblem stellt, verstehen will, so sind drei generelle Dimensionen politischer Ordnung zu unterscheiden: 1. Die strukturelle Dimension: Ordnung wird hier weit gefaßt, sie bezieht sich auf alle Bereiche der Gesellschaft - Politik, soziale Gliederung, Ökonomie und Moral. All diese Aspekte erscheinen als wichtig, wenn die Frage der guten Ordnung wieder aufgeworfen werden soll. 2. Die existentielle Dimension des Problems der guten Ordnung ist essentiell mit dem Wissen und der Entscheidung für eine Art der Lebensführung verbunden. Hier geht es um anthropologische Grundlagen von politischer Ordnung und um die subjektiven Bedingungen ihrer Ermöglichung, um die Frage der Tugenden. 3. Die Thematisierung von Ordnung hat nach Strauss eine voraussetzungsvolle methodische Dimension. Man muß nämlich auf einer Art Metaebene die Frage nach einem allgemeinen Maßstab für die gute Ordnung aufwerfen, um damit einen gehaltvollen Denkhorizont zurückzugewinnen. Den Zusammenhang, den Strauss zwischen den Dimensionen herstellt, kann man als Frage nach der Ordnung der Ordnung bezeichnen, weil Strauss nach den Bedingungen, Möglichkeiten und Voraussetzungen nicht einer konkreten politischen Ordnung, sondern der guten politischen Ordnung schlechthin und ihrem Zusammenhang mit der Lebensführung fragt. Er kreiert dabei einen spezifischen Denkhorizont, in dem das Problem zetetisch und interpretativ erwogen, aber nicht konkretisiert und in bezug auf bestimmte Gesellschaften angewandt wird. Gerade weil die Konkretisierung absichtsvoll verweigert wird, handelt es sich um politisches Philosophieren, das statt einer philosophischen oder politikwissenschaftlichen Theorie die verdeckten „Lehren" von Philosophen tiefenhermeneutisch eruiert. Zwischen den verschiedenen begrifflichen Fassungen, die Strauss dem Ordnungsproblem gibt, besteht ein Zusammenhang, der etwas näher umrissen werden soll. Als grundlegende Frage kann die Problematik „Antike - Moderne" angesehen werden, darin
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eingelassen, aber doch abgeleitet, ist dann die große Alternative „Athen oder Jerusalem". Beide Fragen werden in der Moderne- und Liberalismuskritik zusammengefaßt und politisch zugespitzt. In der Debatte um den Rückweg zu den „Alten" geht es um die Art von politischer Philosophie, um die Rolle von Wissenschaft und wissenschaftlichem Wissen in bezug auf die Politik. Strauss schwankt, pointiert gesagt, zwischen zwei Positionen: Zum einen will er zu den Antiken als Antiken zurück; zum anderen aber will er - wie auch Nietzsche und Löwith - die „Alten" in einem postaufklärerischen Horizont restituieren. Bei der Problematik Athen oder Jerusalem geht es auch um die Rückkehr zur klassischen politischen Philosophie, aber unter besonderen Bedingungen. Strauss muß zeigen, daß Plato schon den Horizont der Offenbarung mit bedacht hat. Das gelingt ihm nur über eine spezifische Deutung mittelalterliche Denker wie al-Farabi, Avicenna und Maimonides. Doch erst wenn er belegen kann, daß die klassische Philosophie sich des doppelten Anspruchs, d.h. des Anspruchs der Politik und der Theologie, erwehren konnte und mußte, erst dann kann sie für ihn zum Garanten werden, dem die Lösungskompetenz für alle grundlegenden Problemstellungen zugeschrieben werden kann. Umgekehrt hält Strauss daran fest, daß die Leidenschaft der Griechen für das richtige Sehen und Denken sowie die der Juden für das richtige Handeln gegensätzliche, aber einander ergänzende Perspektiven sind. Mehr noch: Er hält diesen Gegensatz für die Grundlage der Differenzierung von Kirche und Staat und der Dynamik der Moderne (SPPP: 232). Diesen zweiten Gegensatz einmal gesetzt und entwickelt, kann dieser ganze Komplex zur Moderne-Kritik genutzt werden, und zwar gegen die rationalistische Aufklärung. Motiv der Kritik ist Strauss' Ablehnung des grenzenlosen modernen Machbarkeitswahns. Wenn in diesem Zusammenhang Amerika ausgezeichnet wird, dann als ein Land, in dem die alte Tradition neben dem Modernen noch lebendig ist. Die Behauptung, daß das Problem der Ordnung in diesem ganzen Komplex entscheidend ist, impliziert nicht, daß Strauss sich als Ordnungsstifter sieht oder gar, daß er eine andere Ordnung im Gegensatz zu derjenigen der Moderne entwerfen will. Kennzeichnend ist für ihn ein anderer Ansatz, der im Anschluß an eine zentrale Überlegung aufgezeigt werden kann: „The political question par exellence [is, H. B.] [...] how to reconcile order which is not oppression with freedom which is not license" (PAW: 37). Strauss erörtert diese Problemstellung so, daß er gegen alle mehr oder weniger individualistischen, modernen Fassungen von Freiheit zeigt, daß Freiheit immer an eine Ordnung gebunden ist, daß sie nicht nur durch eine Ordnung ermöglicht und begrenzt wird, sondern selbst als eine Qualität politischer Ordnung erscheint. Wenn Strauss von Ordnung, politischer Ordnung spricht, dann ist in der Regel ein normativer Ordnungsbegriff gemeint, ein Begriff, der wenn nicht auf die beste, so doch zumindest auf die gute Ordnung zielt. Damit setzt sich Strauss deutlich gegen eine Reihe anderer politisch-philosophischer Konzepte von Ordnung ab. Er steht damit in Differenz zu einem modernen und gleichsam schwach normativen Ansatz, man denke z.B. an Rawls und seine Idee der wohlgeordneten Gesellschaft, und erst recht zu jenen Denkern, die mit Rekurs auf totalitäre Inanspruchnahmen der Ordnungsidee diese generell verabschiedeten. Ausgeblendet bleibt auch eine dritte Position, die die generelle Ambivalenz von Ordnung betont (wie Michel Foucault, Bernhard Waidenfels). In dieser Perspektive wird Ordnung sowohl als Ermöglichung von Strukturen und Handlungschancen, aber eben auch
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gleichzeitig als Verunmöglichung anderer Strukturen und Handlungsmöglichkeiten thematisiert. Was Strauss mit seinem Fragen nach politischer Ordnung erörtert, hängt wesentlich mit der methodischen Dimension des Problems zusammen, die sich um die Frage dreht, mit welchem Maß bei dieser Problematik überhaupt geurteilt werden kann. Er fragt nicht danach, wie aus dem qualitativen Maß für Ordnung schlechthin Maßstäbe für politische Philosophie gebildet werden können, wobei mit Maß hier die normative Grundidee gemeint ist, d.h. auf Habermas bezogen, der herrschaftsfreie Diskurs, oder bei Rawls die Situation des Vertragsschlusses einer kooperativen politischen Gemeinschaft. Solche Grundideen sind im Rahmen einer systematischen Theorie zu entfalten, und erst in diesem Rahmen können sie zu Maßstäben fortentwickelt werden. Die Weigerung von Strauss, über die Frage nach dem Maß konkreter zu werden, d.h. das Maß genauer zu fassen und im Rahmen einer politischen Theorie zu einer konkreten Idee zu entwickeln, zeigt sich bis in die begriffliche Fassung, nämlich insofern, als Strauss den Akzent auf die Frage nach der Ordnung setzt und das Problem von moralisch-ethischen Maßstäben für Ordnung nur aufwirft. Das ist eine eigenwillige Fehlkonzeptualisierung des Problems. Strauss geht es um metatheoretische Problematisierung, die Ordnung der Ordnung oder die Möglichkeit eines allgemeinen normativen Maßes, aber eben nicht um Maßstäbe für politische Ordnungen. Schärfer gefaßt: Strauss weigert sich geradezu, aus der Frage nach dem qualitativem Maß für Ordnung eine Frage des Maßstabes, mit dem Ordnungen beurteilt werden können, zu machen. Genau an diesem Punkt müßte er nämlich erörtern, in welchem Verhältnis universale Vorstellungen guter politischer Ordnung zu konkreteren Formen politischer Ordnungen stehen. Strauss schneidet diese Frage ab, indem er das Geschäft der politischen Philosophie zu einem zetetischen macht, das zudem zwei verschiedene Adressaten berücksichtigen muß und deshalb Esoterisches unter exoterischer Präsentationsform zu verstecken hat. Damit lassen sich allerdings die komplexen Ordnungsideen von Piaton und erst recht von Aristoteles, der systematisiert den Bezug zur politischen Praxis realisiert, nur partiell bergen. Vielmehr handelt es sich um eine Hermetisierungs- und Abschottungsstrategie, mit der die politische Philosophie einen besonderen Rang zugewiesen bekommt, der sie der Kritik enthebt, und von dem aus zugleich aller Positivismus und Historismus abgewehrt werden können. Strauss arbeitet, wie der knappe Überblick über seine Problemstellungen zeigt, mit großen Alternativen und typologischen Zuspitzungen; Antike oder Moderne, Athen oder Jerusalem, politische Philosophie oder Positivismus heißen seine großen, antithetischen Gegensatzpaare. In der Vereinfachung, Zuspitzung und Radikalisierung liegt eine beträchtliche Stärke und eine Kritik an allen Gegensätze vertuschenden Synthesen. Man darf jedoch nicht übersehen, daß damit einige Differenzierungsmöglichkeiten per se ausgeblendet sind. Auf Fragen, was genau mit Positivismus gemeint ist, von welcher Antike die Rede ist, was Moderne meint (eine geistesgeschichtliche oder eine historische Epoche, einen Typus von Wissenschaft, eine Gesellschaftsstruktur) gibt Strauss häufig keine präzisen Antworten. Die oft bemerkten Unscharfen (Drury 1988, McAllister 1996, Holmes 1993 u.a.) fallen um so mehr ins Gewicht, als Strauss in seinen Interpretationen großer Philosophen einzelne Begriffe bis in ihre letzten Verästelungen verfolgt. Man kann und muß von Strauss mit seinem geistigen Vermögen, was die Grundbegriffe an-
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geht, mehr Klarheit und Präzision verlangen; auch und gerade, wenn er Philosophie als ein sokratisch-platonisches Gespräch, als ein dramaturgisches Fragespiel begreift. Eine Stärke von Strauss' Denken besteht in seiner radikalen Moderne-Kritik, die den Versuch unternimmt, einen Horizont zu gewinnen, der außerhalb der Moderne liegt. Die Liberalismuskritik von Carl Schmitt, die dieser im Begriff des Politischen (1932) entwickelte, geht Strauss nicht weit genug. Man müsse, so Strauss in seinen berühmten Anmerkungen zu Schmitt (1932), einen Begriff des Politischen entwickeln, der nicht mehr an den Liberalismus, den Gegenstand der Kritik gebunden ist. Das ist, was eingangs als Kühnheit bezeichnet wurde. Im gleichen Sinne setzt sich Strauss auch mit Heidegger auseinander. Er nutzt ihn, um seinen eigenen Ansatz zu entwickeln, und kehrt nach der mit ihm vollzogenen Destruktion der modernen Philosophie zu klassischen Fragen antiker politischer Philosophie zurück, wobei es darum geht, die Moderne anhand der Antike, also in einem Rahmen zu beurteilen, der nicht der moderne ist. Die diagnostische Überlegung, wonach sich die Moderne in selbstreferentiellen Bezügen verfangen hat und nicht in der Lage ist, ernsthafte normative Orientierungen aus sich heraus zu erzeugen, leitet diesen starken Rekurs auf die Antike. Allerdings bestimmen antike Ideen von Anfang an die Kritik der Moderne. Gleich ob man das als einen fundamentalistischen Rekurs auf die Antike auffaßt oder als eine Suche nach einer postliberalen Ordnung - es ist der Versuch, der Moderne zu entkommen und sie gleichsam von außen zu kritisieren. Wenngleich diese Absicht nicht gelingen kann, da Rückkehrbewegungen an den modernen Ausgangspunkt gebunden bleiben, gleichgültig wie tief sie sich auch in die Antike versenken (vgl. Foucault 1988)10, wird die geistesgeschichtliche Rückbesinnung, welche die Selbstmißverständnisse der Moderne aufklären soll, durchaus methodisch reflektiert und mit unglaublicher Konsequenz vorgenommen. Im Mittelpunkt steht dabei die Idee von Grenzen, welche die Willkür politischen Handelns und von Wissenschaft, Technik und Ökonomie einschränken können. Strauss fragt auf dem Hintergrund der totalitären Erfahrung nach Unverfügbarem beziehungsweise nach Grenzen für politisches Handeln und argumentiert dabei anthropologisch. Folgt man seinen Auffassungen, muß es zwei Arten von Grenzen geben: Jene für die Menge, die „objektiv" sind, und jene für die wenigen, die Philosophen, nämlich als Maßgaben, denen diese sich selbst unterwerfen. Die Idee der Selbstbegrenzung, demokratischer Selbstbindung erörtert Strauss nicht. Er plädiert für eine Bildungselite, um die Grundlagen einer liberalen Ordnung zu stärken, um sie durch ein meritokratisches Element zu festigen. Es geht hier also generell um Fragen, wie politische Ordnung gedacht und auf Dauer gestellt werden kann, und deshalb hat die Auseinandersetzung mit den Auffassungen von Strauss durchaus prinzipielle Bedeutung. Zu fragen ist, was sein Denken, das keinen systematischen Zugang zum Ordnungsproblem entfaltet, an theoretischen und politischen Einsichten enthält, und worin die Limitationen dieses politischen Philosophierens bestehen. 10
Michel Foucault hat Rückkehrbewegungen als Diskursivitätsbegründungen gefaßt: „Die Diskursivitätsbegründung, die in Vergessenheit geriet, ist zugleich die Begründung für den Riegel und den Schlüssel, mit dem man ihn öffnen kann, so daß das Vergessen und sogar die verhinderte Rückkehr nur durch diese Rückkehr aufgehoben werden können" (1988: 28). - Das ist eine treffliche Beschreibung der Strategie von Strauss.
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Neben den inhaltlichen Fragen sind für eine Strauss-Deutung methodische Probleme wesentlich. Die meisten Interpreten sind sich über die zentrale Rolle der Strausschen Methodik einig, aber deren Wert und systematischer Gehalt werden oft sehr polemisch diskutiert. Man kann in genereller Weise ohne sich auf ihre Spezifik einzulassen Leistungen seiner Hermeneutik bei der Interpretation von politischen Philosophen und deren Thematisierung von politischer Ordnung festhalten. An erster Stelle ist die Aufmerksamkeit zu nennen, mit der Strauss Form und Genre von Texten untersucht. Hier liegt der Angelpunkt seiner Tiefenhermeneutik, die bei der Wiederentdeckung des exoterischen Schreibens als einer rhetorischen Strategie zum Verbergen gefährlicher Gedanken ansetzt. Strauss arbeitet mit einem sehr starken Autorenbegriff, bei dem der Philosoph als perfekter Schriftsteller auftritt, der bewußt das Genre des Werkes wählt und verschiedene subtile literarische Techniken nutzt. Insgesamt hängt für Strauss neben der Formbestimmung die Interpretation philosophischer Texte wesentlich von der Erkenntnis der Intention des Autors ab. Struktur und Argumentanalysen, intensive immanente Rekonstruktion und Kritik sowie Konfrontationen mit dem Denken anderer großer Theoretiker sind weitere Kennzeichen seiner Interpretationen. Man muß konzedieren, daß er das Augenmerk auf die Formanalyse von Texten gelenkt hat, die in der politischen Ideengeschichte oft zu wenig beachtet wird. Eine überzeugende Unterscheidung von Textsgenres ist bis heute ein Desiderat. Kontextualistische Erklärungen und erst recht nur argumentanalytische Deutungen lassen diese Problematik oft so weit in den Hintergrund treten, daß in einer Reihe von Ausgaben wichtiger Texte Widmungen, Anschreiben an Adressaten u.a.m. gleich weggelassen werden. Damit werden die Texte per se um relevante Dimensionen amputiert. Nun kann und soll gar nicht abgestritten werden, daß eine Bestimmung von Textsorten häufig problematisch ist und sehr stark an erklärte Intentionen des Autors anknüpft, also mit Zuschreibungen arbeiten muß. Doch sollte man diese Dimension nicht vorschnell ausblenden, da Strauss im Rahmen seiner Analysen von Texten zwischen ihrer exoterischen Präsentation und ihrer esoterischen Lehre unterscheidet, und dabei in erheblichem Maße auf die lange vernachlässigte Rhetorik zurückgreift. Er wirft, wenngleich in eingeschränkter Form, das Problem verschiedener Adressaten von politischphilosophischen Texten auf, womit nicht nur die Frage der Wirksamkeit, sondern auch die nach der Verantwortung für diese Textgattung angesprochen ist. Für die Politik ist das ein fundamentales Problem, wenn man ein dramaturgisch-rhetorisches Handlungsmodell zugrunde legt (vgl. dazu Abschnitt 4.1.).
1.3.3 Schaffensperioden Auch im Falle von Forschungen zu Strauss gibt es die übliche Klassifikation von Früh-, Mittel- und Spätwerk, wobei die bekannteste von Allan Bloom stammt (1974: 383f.). Er unterscheidet erstens die von ca. 1920 bis 1937 währende Zeit, in der Strauss gleichsam noch nicht Strauss ist, sondern seinen Weg sucht; zweitens die 1938 einsetzende Phase, in der Strauss seine Moderne-Kritik, seine Methodik von esoterischem und exoterischem Schreiben entwickelt und in den 1950er Jahren exemplarisch darlegt, und drit-
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tens das Spätwerk, das etwa 1959 beginnt und primär durch die Auseinandersetzung mit den antiken Autoren gekennzeichnet ist (Bloom 1974). Diese Periodisierung hat die Rezeption maßgeblich strukturiert, wobei der Akzent bei Bloom auf der dritten Periode liegt. Die Unterscheidung von drei Phasen ist wie meist etwas schematisch. Zudem steht die Untersuchung der Genese eines Werkes, die Analyse der Entwicklung theoretischer Motive, immer in der Gefahr teleologischer Konstruktionen, und im Falle von Strauss gibt es dabei zwei starke, bereits erwähnte Varianten. Bloom liest alle Texte als Vorstufen zum Spätwerk. Söllner hat diesen Ansatz gleichsam umgekehrt, er liest Strauss nur vom Frühwerk her. Beide Varianten sind gegenüber den Brüchen, den institutionellen und akademisch-disziplinären Kontexten wenig sensibel. Im folgenden skizziere ich meine hermeneutisch-kontextualistische Herangehensweise, die wissenssoziologische, akademisch-disziplinäre und institutionelle Aspekte zur Ausleuchtung von Strauss' Interpretationsrahmen nutzt und zwischen fünf Phasen in Strauss' Schaffen unterscheidet. Zur Entfaltung der These vom politischen Philosophieren mit unpolitischem Kern werde ich dabei grob umreißen, wie Strauss politische Probleme sukzessive in ein prinzipielles Fragen nach der politischen Ordnung schlechthin verwandelt und sein politisches Philosophieren dabei in eine allgemeine Krisendiagnostik der Moderne transformiert, bei der politische Fragestellungen immer mehr in den Hintergrund rücken. In seinem Schaffen wird demnach das Paradox eines politischen Philosophierens forciert, das sich nicht auf Politik im engeren Sinne einläßt. Kontexte: politische und akademisch
disziplinare
Grob gefaßt bilden die jüdische Frage, Liberalismus- und Moderne-Kritik sowie die Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus die entscheidenden Problemstellungen, die im Kontext der Weimarer Zeit und im amerikanischen Exil während sowie nach dem Zweiten Weltkrieg von Strauss thematisiert werden. Die Weimarer Zeit und die Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus im heißen und kalten Krieg bilden den prägenden historisch-politischen Kontext. In gewisser Hinsicht können mehrere Bücher von Strauss, nämlich On Tyranny, Persecution and the Art of Writing, Natural Right and History und auch Thoughts on Machiavelli als Texte gelesen werden, die sich auf die Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus beziehen. Das ist bei den Arbeiten zum xenophontischen Verständnis der Tyrannei und Machiavelli bzw. dem Machiavellismus noch offensichtlich, aber auch der Methodenband untersucht mit den Konsequenzen des Schreibens von Texten unter Bedingungen der Verfolgung ein Problem, das im Totalitarismus seine zugespitzteste Form hat. Der Band über das Naturrecht schließlich thematisiert positiv, wie Grenzen politischen Machtstrebens gedacht werden können. Strauss in solchen hier nur angedeuteten Kontexten zu lesen, heißt, ihn zu einem erheblichen Teil im Gegensatz zu den Lesarten der „Straussians" zu deuten. Dabei wird allerdings keine historistische Auflösung von Konzepten in geschichtliche Umstände betrieben, vielmehr interessieren durchgehende theoretische Motive und ihre Entstehung ebenso wie Wendungen, die Strauss Grundproblemen des politischen Denkens gibt - wie etwa dem der politischen Ordnung und deren Voraussetzungen. Wenn man das politische Denken von Strauss in diesem Sinne erörtert, dann sind die Kontexte und Grundprobleme zu eruieren, statt nach einer versteckten systematischen
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Philosophie zu suchen. Dies gilt um so mehr, als Strauss das Philosophieren selbst als Prozeß aufgefaßt hat. Die für ihn vorbildliche klassische politische Philosophie zielt auf andauernde sokratische Erörterungen, also ein Denken, in dem - mit Heidegger gesprochen - die Frage die Priorität hat. Mit diesen Prämissen verbietet es sich, wie bereits angedeutet, bei Strauss von einer politischen Theorie in einem strikten Sinne zu reden. Ihn kennzeichnet vielmehr, gerade gegen solche Theorien einen divergierenden, weiteren Horizont einzuklagen, der es erst ermöglichen soll, die entscheidenden normativen Fragen aufzuwerfen. Dennoch enthält sein Philosophieren Gegenwartsdiagnosen zur Krise der Moderne und auch implizite Therapievorschläge, die als Bestandteile seines politischen Denkens zu rekonstruieren sind. Darüber hinaus hat sein hermeneutisches Programm politische Implikationen, die nur zum Teil in der Methodik offenbar werden; stärker sind sie in den Interpretationen mit ihren knappen und oft versteckten politischen Konklusionen sichtbar. Strauss' Denkweg erfolgt, wenn man die Disziplinen der Wissenschaftslandschaft betrachtet, unter besonderen Bedingungen und ist durch die Suche nach originärer politischer Philosophie gekennzeichnet, wobei die Suche selbst eine besondere, noch näher zu kennzeichnende Form von Theorie repräsentiert. In der Weimarer Zeit, in einem Diskussionskontext, der zu Recht als „philosophischer Radikalismus der Zwischenkriegszeit" (Norbert Bolz) bezeichnet wurde, schlägt er den Weg zur politischen Philosophie ein. Damit begibt er sich auf ein Terrain, in dem es in Deutschland auf doppelte Weise keine Tradition gab. Wie Hermann Lübbe gezeigt hat, gilt mindestens für die zweite Hälfte des 19. und den Beginn des 20. Jahrhunderts, daß es in der akademischen Philosophie keinen Raum für politische Philosophie als Disziplin gab (Lübbe 1963). Es gibt Ethik, Kultur- und Geschichtsphilosophie, aber keine explizite Politikwissenschaft; das ist ein Mangel, den auch John Dewey (1915; dt. 1954) konstatierte. Die plötzliche Politisierung des Faches und die Entwicklung der spekulativ-nationalistischen „Ideen von 1914" ist nur vor diesem Hintergrund zu begreifen und war für die folgenden Jahre eine schwere Hypothek. Zugleich existierte in Deutschland Politikwissenschaft nicht als eigene Disziplin, sie wurde nur partiell im Rahmen von Staatswissenschaften, Historiographie und Soziologie betrieben. In den USA dagegen fand sich Strauss in einer anderen Wissenschaftslandschaft wieder. Die politische Wissenschaft wird nicht selten als amerikanische Erfindung betrachtet, und in ihr nahm die politische Theorie einen erheblichen Raum ein. In den 1940er und 50er Jahren, also dem Zeitraum, in dem Strauss seine Wirksamkeit entfaltet, kommt es nun zu einer spezifischen Ausdifferenzierung von politischer Theorie und Ideengeschichte als Subdisziplin - ein Vorgang, an dem Strauss einen ganz eigenen Anteil hat. Gunnell hat diesen Prozeß beschrieben und aufgezeigt, daß es dabei zu einer doppelten Entfremdung kommt: Zum einen werde die enge Beziehung von Theorie und Praxis, welche die Political Science bis dahin auszeichnete, aufgelöst, und zum anderen gerate die amerikanische Politikwissenschaft unter den Einfluß deutscher Emigranten, die ganz eigene, oft genuin philosophische Problematiken mitbrachten. Zugleich bringen die Emigranten Eigenes ein, nämlich ein hohes Bewußtsein von Fragilitäten der liberalen Demokratie und Fortschrittskritik. Bei Strauss wird die radikale, im Weimarer Deutschland entwickelte Kritik zu einer Moderne-Kritik gesteigert, die auf ihre Art und
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Weise in den USA bis dahin kaum gehört wurde. Die geisteswissenschaftliche Moderne-Kritik richtet sich gegen die amerikanische Politikwissenschaft, der nicht nur Positivismus und Historismus attestiert wird, sondern die auch einem radikalen Verdikt verfallt, das allerdings nicht lange unwidersprochen blieb." In den verschiedenen Schaffensperioden wandelt sich auch der Stellenwert politischer Motive. Insbesondere der junge Strauss ist dezidiert an politischen Fragen interessiert und reagiert auf sie. Für die Weimarer Zeit ist die Verbindung von Aufklärungsund Liberalismuskritik mit der „Jewish question" besonders wichtig; dadurch unterscheidet sich Strauss von den ehrenwerten, aber politisch eher schwachen, nämlich nur geistesgeschichtlichen Ideen eines dritten Humanismus, wie sie etwa Werner Jaeger vertrat. Auch der junge jüdische Gelehrte hängt der von John Gunnell für den Weimarer Diskurs aufgezeigten Idee einer theoretischen Intervention an, d.h. einer Idee, die sich von einer primär theoretischen und auf Geistiges bezogenen radikalen Intervention politisch-praktische Veränderungen versprach - eine Idee, die für manch einen amerikanischen pragmatistischen Politologen geradezu absurd erscheint. In den 1960er Jahren treten die politischen Motive etwas zurück. Strauss bezieht zwar Motive seiner Neuinterpretation des politischen Denkens aus politischen Kontexten, seine Präferenz für Metaebenen des Denkens und bloß zetetische Erörterungen, die seinen Rekurs auf die Problemgehalte der antiken politischen Philosophie kennzeichnen, führen aber dazu, daß der Kern seines Denkens eigentümlich konturlos und unpolitisch bleibt. Die Bewahrung von politischer Philosophie, die Entwicklung einer neuen Generation von Philosophen und die Erzeugung einer wahrhaft gebildeten Elite als Garanten einer liberalen Ordnung und bestimmte Bildungsideen sind die einzigen politischen Ziele, die Strauss direkt verfolgt hat. In der mittleren Zeit von Strauss' Denkweg werden die einstigen politischen Motive zurückgedrängt, aber sie bilden, wie nachfolgend gezeigt wird, einen leitenden Hintergrund für Stoffwahl und Thematisierungen. In den 1950er Jahren, als Strauss ein in Chicago etablierter Professor für politische Theorie und ihre Geschichte ist, äußert er sich außerhalb von Fragen der Bildung nur indirekt zu politischen Entwicklungen. Es ist diese Zeit, in der Konservative anfangen, sich auf Strauss' radikale Kritik an der Moderne und am modernen politischen Denken zu beziehen, und Anknüpfungspunkte bei ihm finden. In seinem Spätwerk, d.h. etwa seit 1964, vergräbt sich Strauss allerdings völlig in interpretatorische Fragen der antiken politischen Philosophie, und zwar ohne besondere politische Implikationen und sichtbar werdende Modifikationen der einstigen politischen Motive. Werkgeschichtliche
Phasen
Für die genetischen Analysen von Strauss' Œuvre unterscheide ich fünf Phasen seiner theoretischen Arbeit, denen im großen und ganzen die Teile der folgenden Arbeit ent-
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Strauss urteilt: „[...] one may say of it that it fiddles while Rome burns. It is excused by two facts: it does not know that it fiddles, and it does not know that Rome burns." (LAM: 223) - das ist ein Beispiel fur die Unerschrockenheit, von der Gadamer spricht, denn Strauss polemisiert hier gegen die Mehrheit der amerikanischen Politikwissenschaftler.
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sprechen. Als Kriterien der Unterscheidung dienen neben der Entwicklung theoretischer Problemstellungen politische, theoretische und akademisch-disziplinäre Gesichtspunkte. Die erste Phase von 1920 bis ca. 1928/29 reicht von der Dissertation über politische Gelegenheitstexte bis zum Buch über Spinoza und seine Religionskritik. Es ist die Periode, in der Strauss als junger Philosoph im Kontext sich radikalisierender philosophischpolitischer Debatten der Weimarer Republik agiert. Als wissenschaftliche Disziplinen spielen hier Philosophie, Theologie, Soziologie und Geschichts- bzw. Staatswissenschaft eine große Rolle. In dieser ersten Periode findet Strauss seine Themen im Rahmen der Philosophie sowie von Debatten um Politik und um jüdische Kultur bzw. Identität. Hier formuliert er als engagierter Zionist und Philosoph, wie in Kapitel 2 entwickelt wird, erste Problemstellungen wie die Liberalismus- und Aufklärungskritik, die nach dem Spinoza-Buch radikalisiert werden. Strauss setzt allerdings noch nicht auf die Rückkehr zur platonischen Philosophie und hat noch keine eigene Methodik entwickelt. Seine zweite Schaffensphase dauert von 1929/30 bis 1935/36 und reicht, wenn man sie an Texten festmacht, von den Anmerkungen zu Carl Schmitts Begriff des Politischen (1932) bis zum Buch über Hobbes (1936). Strauss setzt sich, wie in Kapitel 3 gezeigt wird, kritisch mit wichtigen Zeitdiagnosen (Schmitt, Weber, Mannheim, Jaspers) auseinander und findet sein Thema: das politisch-theologische Problem. Die zentrale Schrift dieser Periode ist Philosophie und Gesetz (1935; PG), eine Aufsatzsammlung, in der Strauss seine Moderne-Kritik entfaltet und religionsphilosophisch im Kontext von mittelalterlich-islamischen und jüdischen Theoretikern wie al-Farabi und Maimonides entwickelt. In dieser Arbeit vollzieht Strauss eine Transformation seiner politischen Fragestellungen in fundamental-philosophische, und zwar in Form großer Alternativen wie Philosophie oder Theologie und Antike oder Moderne. Mit den Forschungen zum Hobbes-Buch in England kommt er in den Kontext einer anderen Wissenschaftskultur, in der politische Wissenschaft eine andere, größere Bedeutung hat und zugleich der Tradition der deutschen Staatswissenschaft fern steht. Von 1937 bis ca. 1958 währt die dritte Phase. In dieser Zeit setzt sich Strauss erneut mit den jüdischen und arabischen Autoren des Mittelalters auseinander und entwickelt dabei seine hermeneutische Methodik wesentlich weiter. Er siedelt zu Beginn dieser Periode in die USA über und kommt damit in völlig neue institutionelle Kontexte (Columbia University, New School, University of Chicago), vor allem aber kommt er in eine neue Wissenschaftslandschaft, denn in den USA gibt es eine große und entwickelte Politikwissenschaft. Im institutionellen Kontext dieser Disziplin und nicht der Philosophie steht sein ganzes folgendes Wirken. Die Political Science ist qualitativ anders strukturiert als deutsche Philosophie; sie ist pragmatisch und empirisch ausgerichtet und steht dem Etatismus und der Allgemeinen Staatslehre fern. Zudem kennzeichnen sie von den 1940er Jahren an etliche Kontroversen und eine subdiszplinare Ausdifferenzierung, an der auch Strauss beteiligt ist, und in der politische Theorie als Teildisziplin etabliert wird. Strauss formt seine Themen und seine Methodik aus und wird zum Begründer einer Schule politischer Theorie in Chicago. Insgesamt bearbeitet er einige ins Exil mitgebrachte Themen (Totalitarismusproblem, Relativismusfrage u.a.m.), aber im Zuge seiner Akkulturation formuliert er einige Problemstellungen um und stellt sich neuen Fragen. So setzt er sich mit der amerikanischen Verfassung und der Tradition amerikanischen
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politischen Denkens auseinander. Hauptwerke dieser Periode sind On Tyranny, Persecution and the Art ofWriting, Natural Right and History und Thoughts on Machiavelli, die wegen ihrer eminenten Bedeutung jeweils in einem Kapitel (4-6) breit in ihrem Kontext diskutiert werden. Seit Mitte der 1950er Jahre ist Strauss in der Politiwissenschaft ein anerkannter Autor, was ein von der American Political Science Association durchgeführtes Ranking von politischen Theoretikern zeigt, das ihn Ende der 1950er Jahre auf dem 9. Platz der bedeutendsten Politikwissenschaftler nach 1945 fuhrt. 12 Im Rahmen einer rekonstruktiven und kontextualisierenden Arbeit lohnt es sich, die Gründung der akademischen Schule näher zu betrachten, die in eine vierte Phase, nämlich die späten 1950er und die frühen 60er Jahre, fallt. In dieser Zeit kommt es, wie im Kapitel 9 gezeigt wird, nach innen und nach außen zur offensiven Schulbildung. Dieser Prozeß ist zum einen durch den programmatischen Sammelband What is Political Philosophy (1959; WPP) und die von Strauss und Cropsey edierte History of Political Philosophy (1963) charakterisiert, die zusammen eine Kanonisierung der als wesentlich betrachteten Themen und Traditionen enthalten und namhafte amerikanische Lehrbücher ersetzen sollen. Zum anderen gibt es einen Sammelband, in dem der Streit der „Straussians" mit den Behavioristen, dem neuen Mainstream, gebündelt ist (vgl Storing 1962). In Rahmen dieses Streites werden nicht nur die Ansprüche und Zielsetzungen von Strauss und seiner Schule deutlich, sondern auch, welcher Spielraum im Rahmen der amerikanischen Political Science und des Neokonservatismus für dieses Konzept besteht und hier liegt der Angelpunkt für die enorme Wirkungsgeschichte von Strauss. Das Spätwerk, die fünfte Phase von Strauss' Schaffen (1962-1973), wird durch die Arbeit The City and Man (1964) eingeleitet und umfaßt die Studien zu Sokrates, Aristophanes, Xenophon, Piaton und einen letzten, von Strauss fast noch abgeschlossenen Sammelband, nämlich Studies in Piatonic Political Philosophy (1983a). Strauss versenkt sich nun in die kommentierende Arbeit zu antiken Klassikern. Diese Phase wird im Rahmen von Ausblicken, die nur die theoretische Akzentverschiebungen markieren, im Kapitel 8 thematisiert (vgl. dazu auch Bluhm 2001).
1.3.4 Wirksamkeit und Wirkungsgeschichte Leo Strauss' Werk enthält viel weniger ein zeitenthobenes Denken, als man auf den ersten Blick annimmt. Es steht in bestimmten wissenschaftlichen und politischen Kontexten; er hat auch - auf spezifische Weise - politisch Partei ergriffen, und zwar in allen Schaffensphasen. Wieso ein esoterischer Hermeneutiker der Ideengeschichte für den Konservatismus so attraktiv werden konnte, und was das spezifisch Konservative an seinem Konzept ist, bleibt zu klären. Antworten lassen sich hier am ehesten finden, wenn man den Stellenwert von Bildung in Strauss' Denken untersucht. Das Verständnis von Bildung ist gleichermaßen für die Schaffung einer wissenschaftlichen Schule wie auch für die Ausprägung und Wirksamkeit bestimmter konservativer Denkmuster wichtig. Bildung in einem besonderen Sinne ist nach Strauss schon die Voraussetzung für das Aufwerfen des Ordnungsproblems, das die Modernen vermeintlich verstellt haben, und 12
Vgl. dazu Somit/Tanenhaus (1964: 66); die Befragung endete 1963.
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mit dem Aufwerfen des Problems ist die Frage nach den Realisierungschancen der guten politischen Ordnung verknüpft. Darüber hinaus ist Bildung oder, stärker noch, „Paideia" (Bildung und Erziehung zu einem bestimmten Menschentum) die Voraussetzung für die Etablierung und Bewahrung von politischer Ordnung. Der emphatische Bildungsgedanke und auch der Rekurs auf die Antike sind Orientierungen, die Strauss neben der immensen philosophischen Orientierung aus Deutschland mitbrachte. Insbesondere in der Weimarer Zeit gab es eine starke Erneuerung jüdischer Kultur und Bildung (Brenner 1996), in deren Rahmen Strauss seine Auffassung von Bildung entwikkelt hat. Er trifft damit in den USA erst in Chicago auf echte Resonanz, und zwar vor allem bei Robert Maynard Hutchins, dem bekannten konservativen Bildungspolitiker, der erst Präsident und später Kanzler der University of Chicago ist. Hutchins' schon in den 1930er Jahren entwickeltes Reformprogramm zielt auf eine Universität, die auch einen emphatischen Bildungsgedanken realisieren soll. Sein Ideal ist eine DreiFakultäten-Universität (Metaphysics, Social Sciences, Natural Sciences) an der in den ersten beiden Fakultäten die großen Bücher zu lesen sind. Dieses Konzept richtet sich gegen Überspezialisierung und die Verwandlung der Universität in einen Ort von Berufsausbildung; es stellt zugleich einen Bruch mit dem reformerisch-progressistischen Erbe der Universität dar, für das John Deweys Name als Programm steht. John Nef hat mit Bezug auf Hutchins 1939 die Rolle von Bildung pointiert: „At a time when the civilisation of Europe seems to be crumbling before our eyes, Americans are confronted with an intellectual task for which they have had less training than their European ancestors. It is frequently said that the future of Western civilisation depends on America. We may go further and say that it depends on the American Universities." (Nef 1939: 260)
In diesen weiten Rahmen gehört Strauss' Konzept von Bildung und seine Überzeugung, daß eine liberale Ordnung für ihren dauerhaften Bestand auf die Bildung angewiesen ist. Mehr noch, in seinem Buch Liberalism, Ancient and Modem (LAM, 1968) unternimmt Strauss einen semantischen Trick: Er versucht den Begriff des Liberalismus für seine Zwecke zu nutzen und dehnt ihn dafür rückwärts bis zur Antike aus. Dabei unterscheidet er zunächst innerhalb des Gegensatzes von Konservatismus und Liberalismus die „klassischen" Formen, um aufzuzeigen, daß der gegenwärtige Konservatismus wesentliche Elemente des Liberalismus in sich birgt. Als hauptsächliche Differenz bleibt, daß die Liberalen eine homogene Weltordnung anstreben, während Konservative dies weder für sinnvoll noch fur möglich halten. Es gebe allerdings keine konservative und liberale Bildung, so Strauss, sondern der Gegensatz von liberaler Bildung sei illiberale Bildung. Vor diesem Hintergrund eruiert Strauss dann, was Bildung im klassischen Liberalismus heißt, inwieweit es einen antiken Liberalismus gab und welche Rolle Bildung dort spielt. Er folgert: „Liberal education will then consist in studying with the proper care the greatest books which the greatest minds have left behind" (LAM: 3). Das politische Projekt von Strauss wird deutlicher, wenn er mit einer Anspielung auf Max Weber formuliert: „Liberal education is the counterpoison to mass culture, to the corroding effects of mass culture, to its inherent tendency to produce nothing but specialists without spirit or vision voluptaries without heart.' Liberal education is the ladder by which we try to ascend from mass de-
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mocracy to democracy as originally meant. Liberal education is the necessary endeavor to found an aristocracy within democratic mass society." (LAM: 5, vgl. lOf.)
Eine Bildungsaristokratie sei auch nötig, weil die Crux des modernen Republikanismus darin bestehe, daß die Verantwortung des Volkes, des Wählers, der Bürger nicht rechtlich faßlich ist. Dagegen half früher die religiöse Erziehung. In den modernen Massengesellschaften ist die religiöse Tradition verlorengegangen und es gibt nur liberale Erziehung für „governors" (LAM: 19). Strauss stellt sich bei dieser Krisendiagnose als Freund der Demokratie dar, der als solcher aber ihre Schwächen zeigen müsse. Seine Konklusion lautet: Echte liberale Bildung wird immer eine Sache der Wenigen sein (LAM: 24). Die elitäre Pointe wird aber nicht heroisch-aktivistisch ausgeformt, sondern im Unterschied zu Theoretikern wie Marx und Nietzsche gilt gerade: „Modesty is inseparable from wisdom". Strauss verfallt aber nicht einer romantischen Antikensehnsucht, denn er betont, daß es nach dem Verlust autoritativer Tradition höchst schwierig sei, sokratisch den Dialog der „greatest minds" zu organisieren (LAM: 8). Im Unterschied zu einfacher konservativer Kulturkritik wird hier weit ausgeholt und auf die Wiederermöglichung klassischer Bildung, klassischer politischer Philosophie gesetzt. Das aber ist in der Moderne voraussetzungsvoll, da die erforderlichen Denkmittel erst wieder angeeignet werden müssen und eine neue Generation herangebildet werden muß, die dieser Aufgabe - dem eigentlichen Philosophieren - gewachsen ist. Aus dieser grundsätzlichen Überlegung heraus ist es nicht verwunderlich, daß Strauss als Gelehrter und Universitätsprofessor eine wissenschaftliche Schule gegründet und durch seine Schüler anhaltende Wirkung entfaltet hat. Wenn man die Wirkungen von Strauss verstehen will, ist es notwendig zu untersuchen, mit welchen Strategien und in welcher Situation er eine wissenschaftliche Schule gründete. Ein für die Schulgründung, welche im Kapitel 9 breiter untersucht wird, wichtiges Moment ist die Verselbständigung politischer Theorie zu einer Teildisziplin in der amerikanischen Politikwissenschaft, an der Strauss durch die Etablierung seines Paradigmas mitwirkt. Zu diesem Paradigma gehört ein spezielles Verständnis der Teildisziplin, wie es insbesondere im Sammelband What is Political Philosophy (1959; WPP) entfaltet wird, eine besondere Methodik der Interpretation - die entsprechenden Aufsätze sind in Persecution and the Art ofWriting (1952; PAW) zusammengefaßt - und die Kanonisierung einer Denktradition, die in History of Political Philosophy (Strauss/Cropsey 1963) vorgenommen wurde. Neben diesen Gründungsdokumenten der wissenschaftlichen Schule sind zwei weitere Prozesse wichtig, nämlich die starke Außenabgrenzung gegenüber den etablierten politikwissenschaftlichen Strömungen, besonders gegenüber dem aktuellen, als szientifisch und positivistisch gedeuteten Behaviorismus. Diese Abgrenzung hat die Schule ebenso integriert wie ein oft bemerktes elitäres Selbstverständnis, das sich aus dem Bewußtsein speist, zu denen wenigen zu gehören, die im Dialog mit den großen Denkern stehen. Eine solche Schule, in der Strauss selbst zwei Generationen ausgebildet hat, ist der Multiplikator seiner Wirksamkeit. Will man auf dem schwierigen Gebiet der Beziehung von Strauss zum Konservatismus etwas Klarheit erreichen, dann sind zumindest einige zeitliche Differenzierungen vorzunehmen. Strauss kommt aus dem Kontext Weimarer Debatten, in denen er eine
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dezidiert konservative, aber aktivistische Position bezogen hatte. Besonders deutlich tritt dies in seinen Texten zum Problem des Zionismus zutage, die eine nationalistische Note haben, sowie in seiner scharfen Liberalismuskritik. Politisch wirksam wird Strauss in den USA in den 1950er und 60er Jahren, der Formierungphase des Neokonservatismus. Danach weitet sich sein Einfluß sukzessive durch im Fach erfolgreiche Schüler aus, die selbst Professoren werden. Größere Bedeutung gewinnen die „Straussians" Mitte der 1980er Jahre mit der Wahl von Ronald Reagan zum Präsidenten der USA. Dessen konservative Wende führt dazu, daß die intellektuelle und die politische Wirkung der Strauss-Schüler zunimmt. Die Bedeutung von Strauss für den Konservatismus und den Neokonservatismus wird in der Literatur kontrovers diskutiert. Die Pole bilden eine stark politische Lesart, und eine eher unpolitische Lesart, wie sie ein großer Teil der „Straussians" vertritt, die in ihrem Lehrer nur den Philosophen sehen. Eine prononciert politische Lesart des Zusammenhanges von Strauss und dem amerikanischen Konservatismus hat Shadia Drury entwickelt (1997). Sie deutet Strauss als den intellektuellen Vater der neokonservativen Bewegung, sein Denken enthalt alle dominanten Merkmale dieser politischen Strömung: „[...] the political importance of religión, the necessity of nationalism, the language of nihilism, the sense of crisis, the friend/foe mentality, the hostility toward women, the rejection of modernity, the nostalgia for the past, and the abhorrence of liberalism" (ebd.: 178). Drury markiert in einem weiteren Sinne relevante politische Bezugspunkte, aber sie überschätzt den Einfluß von straussianischem Denken auf die Politik der Republikaner ganz erheblich. Besonders verblüffend ist, daß die Autorin die institutionellen und politischen Kontexte, wie z.B. die Bedingungen an der University of Chicago, wo Strauss unmittelbar tätig war, gar nicht berücksichtigt. Statt dessen überwiegt in diesem politischen Buch die Tendenz, Strauss in bestimmte Wirkungskontexte aufzulösen. Die entscheidende Quelle für Drurys wirkungsgeschichtliche Thesen sind Kristols autobiographische Reflexionen über den Neokonservatismus (1995). Kristol, der „god-father des amerikanischen Neokonservatismus", zeigt sich stark beeinflußt von Strauss; dafür sprechen nicht nur die vielfachen Erwähnungen, er betont auch ausdrücklich: „the writings of Leo Strauss have been extraordinarily influential" (1995: 380). Damit meint er vor allem die Radikalität der Liberalismuskritik. Für Kristol entsteht die neokonservative Bewegung in den USA erst nach dem Krieg, und neben Strauss nennt er insbesondere Friedrich von Hayek als geistige Orientierungsfigur. Kristol und Daniel Bell geben der Bewegung 1965 mit dem Public Interest ein eigenes Medium. Der volle Durchbruch und die Stabilisierung der Bewegung erfolgt mit dem Beginn von Ronald Reagans Präsidentschaft. Strauss ist jedoch nicht nur eine Bezugsfigur des Neokonservatismus, der im Kampf gegen den Totalitarismus und seine geistigen Grundlagen aufgeht. Das Paradox eines politischen Philosophierens mit unpolitischem Kern zeigt sich auch hier, nämlich in der Einbindung in Kontexte des Kalten Krieges und des damaligen Neokonservatismus und im Überschreiten dieses Rahmens. Durch die fundamentale Moderne-Kritik wird Strauss zwar zu einer allgemeinen Bezugsfigur des Neokonservatismus, aber er transzendiert die damaligen Kontexte zugleich, er ist, wie Kristol einmal formuliert, „from a different planet" (Kristol 1995: 7). Seine generelle Diagnose lautet: „The crisis of the
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West consists in the West having become uncertain of its purpose" (Crisis: 219). Mit dieser Moderne-Kritik steht er innerhalb und jenseits des Ost-West Gegensatzes und will die alten moralphilosophischen Fragen nach der guten Ordnung und dem guten Leben rehabilitieren. Damit wirft er, was Drury nicht zu sehen vermag, Fragen auf, die seit Mitte der 1970er Jahre in der politischen Philosophie und politischen Theorie erheblich an Bedeutung gewonnen haben und auf die ich noch zu sprechen komme. Will man Strauss' Position und seine Wirkungen begreifen, muß man nicht nur theoretische Positionen und politische Konsequenzen differenzierter aufeinander beziehen, als Drury dies tut; man muß auch den Konservatismus, seine Institutionen und Wandlungen genauer erfassen. Hier weist Ted McAllister (1996) einen Weg. Für ihn wird der frühe Neokonservatismus in den 1950er Jahren durch ein neues Netzwerk formiert, in dem Universitäten, Stiftungen, Zeitschriften und politische Gruppierungen verknüpft werden. McAllister hält fest, daß bei dieser Vernetzung Strauss und Voegelin eine wichtige Rolle gespielt haben, aber nur als allgemeine intellektuelle Anreger und Bezugsfiguren. Dies bedeutet auch, daß nun Leute, die in der RooseveltÄra ihre Ansätze entwickelten, ohne zum Zuge gekommen zu sein, mit ihren konservativen Themen in den Vordergrund treten. Schon 1950 prognostizierte Gertrude Himmelfarb in einer Sammelrezension, daß der Konservatismus nun einen Aufschwung erleben werde, da er einige respektable neue Propheten aufzuweisen habe, zu denen sie neben Bertrand de Jouvenel und James Burnham auch Leo Strauss zählte. Sie alle würden sich mit der Frage auseinandersetzen, wie man den anmaßenden („presumptuous") demokratischen Menschen, der keine Grenzen kennt, zügeln könne (Himmelfarb 1950). Für George Nash, der eine Geschichte des amerikanischen Konservatismus nach 1945 verfaßt hat, spielt Strauss für die Entwicklung der konservativen Bewegung auf zwei Wegen eine wichtige Rolle (vgl. Nash 1974). Er sei sehr wirksam und vermittle zwei Botschaften, nämlich, daß es eine Verbindung zwischen dem Common sense und dem Naturrecht gebe, und daß jede Form von Szientismus in der Politik und in der Politikwissenschaft gefahrlich sei (ebd.: 62). Zugleich ist die Vielzahl der „Straussians" zu bemerken, die, mehr als Strauss selbst, schon früh in der Interpretation der amerikanischen Verfassung engagiert sind. So plädiert Walter Berns, von vielen zu Recht als Strauss-Schüler betrachtet, in den 1950er Jahren für einen aktiven Supreme Court, der orientierend wirken solle. Bei seiner Kritik liberaler Praktiken setzt er als Standards auf Tugenden und auf die Idee der guten Gesellschaft. Der damals angelegte Konflikt mit dem Liberalismus wird dann in einer Debatte zwischen Harry Jaffa, ebenfalls ein Schüler von Strauss, und Frank Meyer in den 1960er Jahren fortgesetzt. Für Jaffa ist die Unabhängigkeitserklärung mit ihrer Verbindung von politischen Maximen, Naturrecht und religiösen Bezügen das entscheidende Gründungsdokument, die Verfassung dagegen stellt nur einen Kompromiß dar. Lincoln hätte mit Rekurs auf die Unabhängigkeitserklärung die eigentliche Intention der Gründung aktualisiert. Meyer lehnte eine solche Argumentation als Konstruktion ab, da sie die liberalen Prinzipien der Verfassung zu gering schätze und sich nur auf Texte und nicht auf die praktischen Probleme beziehe. Diese beiden Beispiele, zu denen man
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leicht noch den Band Confronting the Constitution (Bloom 1990a) 13 hinzunehmen könnte, belegen, daß das Wirkungsfeld der „Straussians", durch das sie Einfluß auf die Politik ausüben, auch die Historiographie und nicht nur die Politikwissenschaft bzw. die politische Philosophie ist (vgl. Deutsch/Murley 1999). Für das Verständnis der späteren Wirkungsgeschichte hat auch Robert Devigne (1994), der Oakeshott und Strauss als Konservative vergleicht, einige plausible Ansatzpunkte geliefert. Er unterscheidet zwei Linien des Konservatismus, die erst in den 1970er Jahren durch ihre Verbindung wirksam werden. Auf der einen Seite sind dies Strauss und seine Schüler, die sich in großen Dekadenzdiagnosen mit dem Liberalismus auseinandersetzen. Laut Devigne amerikanisieren die „Straussians" ihren Meister dadurch, daß sie sich statt mit der großen antiken Tradition vielfach mit den amerikanischen Gründungsvätern auseinandersetzen. Nach ihren Interpretationen ist in den politischen Gründungsdokumenten (Unabhängigkeitserklärung, Verfassung, Federalist Papers) ein liberales und starkes traditionelles republikanisches Element enthalten. Die andere Linie der Konservativen repräsentieren Autoren wie Daniel Bell, Peter Berger und weitere konservative Intellektuelle, die sich als Sozialwissenschaftler mit Problemen des Liberalismus in der postindustriellen Massengesellschaft auseinandersetzen, aber über keine philosophische Gesamtdiagnose verfugen. Ihre Themen sind enger, ihnen geht es um den aktuellen Werteverfall und die Erosion von Gemeinschaften, die mit dem Strukturwandel der Gesellschaft zusammenhängen. Das Zusammentreffen dieser beiden Linien in der 1970er Jahren ist für Devigne die Grundlage für die breite Wirkung der „Straussians". Erst nach der Vermischung dieser Strömungen spielen Fragen einer weit greifenden Liberalismuskritik und deren Fundierung in Interpretationen der Verfassung bei den Neokonservativen eine Rolle. Die „Straussians" und die zweite Linie des amerikanischen Nachkriegskonservatismus wenden bestimmte Konzepte von Strauss, über Fragen der Bildung und der Universitäten hinausgehend, ins Politisch-Praktische. Es ist aus dieser Perspektive nicht verwunderlich, daß mit dem Amtsantritt von Ronald Reagan dann eine ganze Reihe der „Straussians" in die Politik gingen (vgl. Devigne 1994: 221, FN 76; Drury 1997: lff.). 14 Strauss erweist sich insgesamt als ein wirksamer und starker Protagonist konservativer Kulturkritik, die bei ihm selbst allerdings, außer im Bildungsbereich, kaum ohne Transformationen für konservative Politik im breiten Sinne nutzbar ist. Die Beziehungen zwischen dem Konservatismus und akademischen Positionen von Strauss und den „Straussians" sind viel verwickelter, als Drury mit ihrer engen Verknüpfung zwischen beiden unterstellt. Der Streit um Strauss ist, auch das zeigt Drurys jüngstes Buch an, jedenfalls nicht zu Ende. Die Masse der Publikationen deutet eher auf eine neue Welle von Kontroversen hin. Fred Dallmayrs 1994 erhoffte Wendung der Debatte in primär akademische Bahnen erwies sich als Fehlschluß, dennoch gilt seine Losung: „I think Strauss's work is too important to be left to the ,Straussians'" (1994: 879). Wenn man solch eine Position einnimmt, dann läßt sich das Philosophieren von Strauss auch auf 13 14
Von den 16 Autoren des Sammelbandes sind fast alle Strauss-Schüler (vgl. Bloom 1990a). Neu an diesem Konservatismus sei, daß er nicht mehr einfach auf die Geschichte setzt, sondern auch eine veränderte Haltung zum Staat hat.
INTERPRETATIONSKONZEPT UND KONTROVERSE FORSCHUNGSFRAGEN
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aktuelle theoretische Strömungen beziehen, die in der politischen Philosophie und Ethik mit und nach Rawls eine Wiederaufnahme von Fragen der guten Ordnung betreiben, oder auch auf jene wieder aufgekommene Auseinandersetzung mit Fragen der Lebensführung, wie sie im Neoaristotelismus bei Alasdair Maclntyre (1995), Martha Nussbaum (1986, 1999), Charles Taylor (1989) oder bei Bernard Williams (1985) vollzogen wurde. Strauss behauptet vor dem Hintergrund seiner Dekadenz-Diagnose und seines emphatischen Konzeptes von Bildung generell, daß ohne das Denken eines ethischmoralischen Maßes über politische Ordnungsformen kein adäquates Urteil gefallt werden kann. Mehr noch, er versteht sich als derjenige, der die substantielle Frage nach der Ordnung aufwirft, d.h. als jemand, der einen Denkhorizont eröffnet und bewahren will, ohne den Ordnung im einzelnen nicht sinnvoll gedacht werden kann. In diese übergreifende Perspektive gehören alle seine Anstrengungen; deshalb muß nach seiner Meinung die klassische Philosophie zu einer Art ewigem Maß gemacht werden, und deshalb ist das theologisch-politische Problem so zentral: Es zielt nämlich metatheoretisch auf die Ordnungsproblematik, in der die Ordnung und die Frage der Lebensführung verquickt sind. Allerdings muß man hier gleich die sehr spezifische Thematisierungsform festhalten: Strauss fragt nach dem universellen Maß in einer zetetischen Perspektive, d.h. entscheidend ist es, die Frage als Frage aufzuwerfen. Seine Moderne-Kritik wird besonders in einer Reihe zeitdiagnostischer Texte entwikkelt, welche die Krise der Moderne als einen in Wellen ablaufenden Prozeß deuten. Wenn man Strauss kontextualisiert, dann kommt solchen Texte hohe Bedeutung zu, und zwar mehr als ihnen bisher in der Forschung zugemessen wurde. Worin das Konservative im Denken von Strauss besteht und wie es mit seiner Moderne-Kritik verknüpft ist, beantwortet nicht gleichzeitig die Frage, wie Strauss eine so große politische Wirkung hervorrufen konnte. Wenn man fragt, ob diese Wirkung etwas mit der Art und Form der Theorie zu tun hat, kann man zu der Einsicht kommen, daß es möglicherweise gerade die verschlungenen philosophischen Interpretationen, die tiefenhermeneutisehen Auslegungen kanonischer Texte sind, die die Basis dafür bildeten, ihn zu einer intellektuellen Vaterfigur des Neokonservativismus zu erheben. Gerade die Politikferne und die fundamentale Moderne-Kritik von Strauss eröffnen vielfaltige fortschrittskritische Bezüge sowie allgemeine Möglichkeiten der kulturkritischen Aktualisierung. Wegen der großen Distanz, die Strauss zur Gegenwart aufbaut, bleiben aber alle diese Aktualisierungen als bloße Anwendungen erkennbar. Fehlgeschlagene Aktualisierungen fallen daher nicht auf die Quelle zurück, sondern sind allein demjenigen zuzuschreiben, der sie unternommen hat. Die Politikferne und der enigmatische Charakter von Strauss' Interpretationen können also, was die politische Wirkung angeht, zum Ausgangspunkt der Erklärung gemacht werden. Damit ist allerdings wiederum die enorme Wirkung von Strauss im akademischen Bereich noch nicht erklärt, die Gordon S. Wood einmal als das erstaunlichste Phänomen des amerikanischen akademischen Lebens im 20. Jahrhundert bezeichnet hat (1988: 33). Diese Wirkungsgeschichte ist durch eine Reihe von Gründen zu erklären, bei denen die Schulbildung (vgl. Kapitel 9) besonders prominent ist und eine starke Verbindung zum Neokonservatismus darstellt.
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DENKWEG UND WIRKUNGSGESCHICHTE
Strauss zu verstehen erfordert, die Art seiner Theorie genau zu bestimmen und seine zentrale Problemstellung aufzugreifen. In diesem Sinne soll in den folgenden Kapiteln gezeigt werden, wie sein politisches Philosophieren um das Problem politischer Ordnung, die Ordnung der Ordnung, kreist. Über das Aufwerfen des Problems und theoriegeschichtliche Diskussionen einiger seiner Facetten hinaus bietet dieses politische Philosophieren für die seit 1989 für den Westen wieder aktuell gewordene Frage nach der „guten Ordnung" jedoch nur insuffiziente Antworten. Obwohl Strauss meistens als Philosoph gedeutet wird, lese ich ihn hingegen in seinem zentralen Wirkungskontext, nämlich innerhalb der amerikanischen Politikwissenschaft. In diesem Rahmen untersuche ich die Stärken und Schwächen seines politischen Philosophierens mit unpolitischem Kern.
2.
Weimarer Prägungen
Bis heute ziehen die Debatten der Weimarer Zeit als brisantes Experimentierfeld theoretischer Entwürfe die Aufmerksamkeit der politikwissenschaftlichen und philosophischen Forschung auf sich. Der junge Leo Strauss beteiligt sich an einer Reihe dieser Debatten; an manche knüpft er direkt an, andere haben sein Denken eher im Verborgenen beeinflußt. Der Gestus seines Denkens, das sich ausdrücklich männlich-heroisch und realistisch zugleich gibt (GS 2: 306) und das von einem Willen zu theoretischer Radikalität getragen wird, ist durch Diskurse der Weimarer Zeit geprägt. Der Einfluß der Weimarer Debatten ist aber nicht nur auf den jungen Strauss beschränkt; vielmehr formen sich in dieser Zeit seine Frageweise und Präferenz für bestimmte Problemstellungen, die für sein gesamtes Werk relevant sind. Die Entwicklung der Themen und Ideen zwischen 1920 und 1929, also in der Zeit von seiner Dissertation zum Erkenntnisproblem in der philosophischen Lehre Fr. H. Jacobis (1921) bis zum Abschluß des Buches Die Religionskritik Spinozas (1930), ist vergleichsweise wenig erforscht, obwohl einige jüngere Arbeiten ihr bereits mehr Beachtung schenken (Gunnell 1991; Söllner 1996a; Green 1993). Ziel dieses Kapitels ist es zu zeigen, daß Strauss bereits in den 1920er Jahren seinen Weg zur politischen Philosophie material und methodisch vorbereitet. In dieser Hinsicht werden im folgenden seine frühen Texte und Arbeiten in den Kontext jener Debatten gestellt, die Strauss explizit oder implizit beeinflußt haben. Als prägend erscheint zum einen der „philosophische Extremismus" der Weimarer Zeit (Norbert Bolz), also jene sich zuspitzende Denkbewegung, die nach dem Ersten Weltkrieg immer tiefer lotend nach den Ursachen für diese Krise der westlichen Zivilisation fragt. Zum anderen ist die ebenfalls nach dem Weltkrieg erfolgende breite Besinnung auf die Wurzeln und die Eigenständigkeit der jüdischen Kultur, die „jüdische Renaissance" zu nennen, die Michael Brenner unlängst rekonstruiert hat (1996). Diese Bewegung hat zusammen mit der Verbreitung des Antisemitismus die Auseinandersetzung von Strauss mit dem Judentum und dessen geistigen Grundlagen forciert. Strauss befand sich nach seiner Dissertation in einer Phase der Neuorientierung und auf dem Weg zu eigenen Konzepten. Beiden Strömungen, dem philosophisch-politischen Denken der Weimarer Zeit wie der jüdischen Renaissance, hat er wesentliche Anstöße ent-
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WEIMARER PRÄGUNGEN
nommen. In seiner Monographie über Spinozas Religionskritik werden diese Gedanken das erste Mal in einer Kritik an der modernen Aufklärung und ihrem Rationalismus zusammenhängend sichtbar, aber noch nicht systematisiert präsentiert. Strauss formt dabei eigene theoretische Motive aus und nähert sich der Idee eines fundamentalen geistesgeschichtlichen Rekurses auf die Antike. Die Sicht auf die Weimarer Debatten war lange dadurch beeinträchtigt, daß sie primär auf das Ende der Weimarer Republik bezogen wurden. So wichtig diese Perspektive ist, so verstellt sie doch, daß die Situation offen war. Dies muß man bei aller Radikalität der theoretischen Debatten im Auge behalten, da es sonst zu Fehlschlüssen und Zuschreibungen politischer Verantwortlichkeiten kommt, die eine zu enge Verkopplung von theoretischen Ansichten und politischen Stellungnahmen unterstellen. Auch einige sachliche Problemstellungen der Weimarer Zeit waren längere Zeit schwer zugänglich, das gilt insbesondere für die Vielzahl von Anstrengungen für eine Erneuerung der jüdischen Kultur in der Weimarer Republik und auch für ein Phänomen wie den „j üdischen Nietzscheanismus". In den beiden zuletzt genannten Fällen hat sich allerdings inzwischen die Forschungssituation gewandelt (vgl. Brenner 1996; Golomb 1996; Stegmaier/Krochmalnik 1997). Auf dieser Grundlage läßt sich auch die frühe Entwicklung einer durchaus ungewöhnlichen Figur wie Leo Strauss, der sich in dieser historischen Konstellation seinen Weg zu einer fundamentalen und konservativen Moderne-Kritik bahnt, rekonstruktiv begreifen. Wenn im folgenden verschiedenen Kontexte auseinandergelegt werden, so ist zugleich ihr Zusammenhang zu betonen. Das gilt insbesondere für den Einfluß von Hermann Cohen und Franz Rosenzweig. Für die Studien und Artikel von Strauss bis Mitte der 1920er Jahre ist insbesondere die Auseinandersetzung mit der „jüdischen Frage" leitend, deshalb gehe ich auf sie zuerst ein. Da diese Problematik von Strauss durch die philosophische „Brille" wahrgenommen wurde, sind die später behandelten philosophischen Einflüsse hier allerdings meist schon präsent. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre schärft Strauss im Rahmen seiner Heidegger-Rezeption seine philosophische Problemsicht. Die Genese von Strauss' Denken in die genannten Kontexte zu stellen, zielt nicht nur darauf ab zu zeigen, wie stark er in Weimarer Debatten eingebunden war, sondern auch darauf, seine Prägung durch „deutsche Geisteskultur" zu demonstrieren. Dabei hebe ich besonders auf die Philosophiezentriertheit, die starke Bindung an die griechische Antike und den Bildungsgedanken ab. Alle drei Themen sind in der Weimarer Zeit umstritten und werden neu gefaßt. Strauss diskutiert diese Fragen vor dem Hintergrund des Scheiterns der Verbindung von deutscher und jüdischer Kultur. Die Themen sind allerdings auch für sein späteres Wirken in den USA wichtig, sie werden dort im Rahmen von Moderne-Kritik als Problem von altgriechischer Philosophie (Athen) und Offenbarungsreligion (Jerusalem) sowie von Bildung in anderen Kontexten, nämlich theoretisch in der Politikwissenschaft und praktisch im Zusammenhang mit dem Neokonservatismus wirksam gemacht.
RENAISSANCE JÜDISCHER KULTUR UND LIBERALISMUS-KRITIK
2.1
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Renaissance jüdischer Kultur und Liberalismus-Kritik
Den von Martin Buber 1901 geprägten Ausdruck „jüdische Renaissance" hat Brenner bei seiner zusammenfassenden Darstellung kultureller Erneuerungen in der Weimarer Zeit wie folgt bestimmt: ,„Post-assimilated' Jews could neither restore the Jewish traditions of the past under changed historical conditions nor reverse the profound socio-economic and intellectual transformation that the previous generations had experienced. [...] The Jews of modern Germany serve as an example par excellence of a minority population inventing or reinterpreting its tradition." (Brenner 1996: 4)
Damit ist die Situation beschrieben, in welcher der junge Strauss seine Entwicklung begann. Die von Brenner herausgestellten drei großen Themenbereiche, nämlich die Frage nach der Gemeinschaft, die Veränderung in der Auffassung des Wissens und die Suche nach Authentizität, sind auch für ihn zentral. Seit seiner Promotion, die zwar Jacobi im Titel fuhrt, aber sachlich zugleich auf Mendelssohn und Lessing bezogen ist, agierte Strauss in diesem Problemfeld. Auch institutionell und personell war er auf mehrfache Weise in Debatten um ein nicht-rationalistisch verkürztes Wissensverständnis eingebunden. So arbeitete er an der Akademie für die Wissenschaft des Judentums eine Einrichtung, die auf Initiative von Franz Rosenzweig und Hermann Cohen 1919 gegründet wurde (vgl. Hoffmann 1993). Strauss stand in Kontakt mit Rosenzweig, der ein neues Konzept von Wissen und Bildung vertrat, das Einseitigkeiten des modernen Rationalismus überwinden sollte. Schließlich publizierte Strauss eine Serie von Artikeln in neueren Publikationsorganen wie der Jüdischen Rundschau und Der Jude (Vgl. GS 2). In allen Texten wird das zionistische Engagement von Strauss deutlich, der die Situation nach der gescheiterten jüdischen Assimilation durchdenkt. Dabei spielen Fragen der politischen Gemeinschaft, von Identität und Authentizität ein zentrale Rolle. Für den jungen Akademiker Strauss hatten die von Brenner benannten Probleme in der Regel eine spezifische und modifizierte Gestalt. Er greift Cohens Frage nach den geistigen Grundlagen der modernen Kultur und der Rolle des Judentums in ihr auf und verbindet sie mit der Problematik des Zusammenhanges von Philosophie und Theologie. Letzteren diskutiert Strauss auch mit Bezug auf Rosenzweig und auf Erneuerungen der Theologie im Rahmen des Christentums zum Beispiel bei Karl Barth. Barth wendet sich zur Theologie zurück und sucht ein feststehendes Absolutes, das aus der Bibel und hier vor allem Paulus spreche. Seine rigorose Kritik an der Moderne und dem Fortschritt und das berühmte Wort von „Gottes Nein" zu dieser Welt haben beim Erscheinen der ersten Auflage des Römerbriefes zum Teil heftige Reaktionen ausgelöst. So erinnert sich Karl Löwith: „Außer Spenglers Buch hatte nur noch eins eine ähnliche Bedeutung, obschon eine beschränktere Wirkung: der gleichzeitig erschienene Römerbrief Karl Barths. Auch dieses Werk lebte von der Verneinung des Fortschritts, indem es aus dem Verfall der Kultur theologischen Nutzen zog." (1986: 25)
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WEIMARER PRÄGUNGEN
Vor diesem Hintergrund konzipiert Strauss das Problem jüdischer Identität als Frage nach dem Zusammenhang von jüdischer Theologie und Philosophie sowie nach dem ursprünglichen Gehalt beider Disziplinen und ihrer spannungsvollen Beziehung.
Rückkehrbewegungen undjüdische Identität Die „jüdische Renaissance" in Weimar vollzieht sich auf kulturellem Gebiet in erheblichem Maße durch geistesgeschichtliche, philosophische Rekurse, bei denen jüdische Identität und Bildung ein wesentliches Thema sind und Philosophie mit Religion verquickt wird. In diesem Zusammenhang ist die von dem Marburger Neukantianer Cohen in den 1880er Jahren begonnene Wendung zu jüdischen Fragen wesentlich. Cohen ist vom Typus her ein vermittelnder Theoretiker (vgl. Lübbe 1963: 111), dessen ethischer Neukantianismus auch Motive von Marx aufnahm. Die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus in Deutschland (Cohens Streit mit Lagarde und Treitschke) führte nach dem Bekanntwerden der russischen Pogrome von 1906 bei ihm zu einer Hinwendung zu jüdischen Themen sowie zu einer Politisierung und Zuspitzung von Positionen (Holzhey 1993: 33f.). 1916 formuliert er dann exemplarisch: ..Piaton und die Propheten sind die beiden wichtigsten Quellen der modernen Kultur überhaupt. [...] Im sozialen Ideal sind als die beiden Grundbedingungen vereinigt: die wissenschaftliche Erkenntnis und die als Religion stabilisierte Sittenlehre. Piaton ist und bleibt das Symbol der ersten, die Propheten das der zweiten Bedingung." (Cohen 1924a: 3 0 6 )
Vor allem sieht Cohen das Fragwürdig-Werden der Assimilation durch den wachsenden Antisemitismus und fördert nach dem Ersten Weltkrieg die Bestrebungen, die verdeckte jüdische Gemeinschaft sichtbar zu machen, sie als eine selbständige Kultur zu etablieren. Cohen kann auf die beginnende Erneuerungsbewegung aber nur noch partiell reagieren, da er 1918 verstirbt. Dennoch hat Cohen, den in seinem letzten Werk Religion
der Vernunft aus den Quellen des Judentums vor allem die Gerechtigkeit und der jüdische Messianismus interessierten, den Diskurs um post-assimilatorische Identität mit eröffnet und bestimmte Themen vorgegeben. Das gilt auf besondere Weise für Strauss, der Cohen nach seiner Emeritierung in Berlin näher kennenlernte und von dessen starker ethischen Orientierung und Besinnung auf jüdische Probleme beeindruckt war. Thematisch nimmt Strauss drei Anregungen von ihm auf, nämlich den Rekurs auf Piaton und die Propheten sowie die Notwendigkeit, sich erneut und intensiv mit Spinoza auseinanderzusetzen. Cohens Ablehnung Nietzsches, der für ihn die Kündigung der Verbindung von Philosophie mit den anderen Wissenschaften repräsentiert, teilt Strauss ebensowenig wie Cohens sozial-ethische Orientierung. Steht Cohen als namhafter Philosoph für die am Anfang des 20. Jahrhunderts exemplarische Rückwendung zum Judentum, so repräsentiert Franz Rosenzweig, der durch eine Arbeit über Hegel bekannt wurde, eine jüngere Generation von Intellektuellen. Auch Rosenzweigs Wendung zum Judentum erfolgt im Zusammenhang mit Anregungen von Cohen, wie sich an der beeindruckenden Einleitung ablesen läßt, die Rosenzweig 1924 zur Ausgabe von Cohens Jüdischen Schriften schrieb (vgl. Rosenzweig 1984a). Rosenzweig war allerdings selbst ein bedeutender Impulsgeber. Seine Erneuerung der Philosophie hat 1921 in seinem Hauptwerk, dem Stern der Erlösung, eine ein-
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drucksvolle Gestalt gewonnen. Rosenzweig war eine der herausragenden Figuren der jüngeren Generation und verfolgte die Erneuerung jüdischer Kultur und Identität in Philosophie und Theologie engagiert; er war dabei nachdrücklich von Nietzsches Lebens- und Existenzphilosophie inspiriert (vgl. Aschheim 1996: 102f.). Aus diesen verschiedenen Quellen speist sich, wie Gershom Scholem betont, seine scharfe Kritik am Idealismus (vgl. Scholem 1996b: 529). 15 Anders als Cohen wurde Rosenzweig durch Weltkriegserlebnisse und durch die Bekanntschaft mit dem osteuropäischen Judentum zu einem Neuansatz veranlaßt; er wurde zum Religionsphilosophen. Schon 1917, noch im Felde, entwarf er eine Erneuerung der Philosophie und des Judentums (1984f. und verfaßte den wirksamen Aufruf zur Gründung einer Akademie für die Wissenschaft des Judentums (1984b). Rosenzweig schlägt mit seinem existentialistischen Denken die Brücke zwischen Philosophie und Theologie. Entscheidend ist dabei seine strikte Aktualisierung des Bundes Gottes mit den Israeliten. Für ihn sind die Juden ein „ungeschichtliches Volk", das nur in seiner Heilsgeschichte wurzelt. Vor diesem Hintergrund spricht er von der Gegenwart der Schöpfung sowie der andauernden Möglichkeit von Propheten. Das ganze Konzept ist gegen historisierende Ansätze der Religionsdeutung gerichtet. Sein „neues Denken" ist vielmehr auf existentielle Fragen zentriert und strebt eine Verbindung von Philosophie und Leben an, wozu die verselbständigte Fachwissenschaft an die konkreten Fragen des Lebens zurückgebunden werden soll. Die Kritik am Rationalismus wird bei Rosenzweig konkreter als bei Cohen und kristallisiert sich an einer neuen Vorstellung von Bildung aus, welche Rosenzweig zunächst mit der Gründung der Akademie für die Wissenschaft des Judentums in Berlin anstrebte. Die zentrale Idee dabei war, Theorie und Praxis enger zusammenzubringen. Als die Berliner Akademie - an der Rosenzweig, neben Hermann Cohen, Julius Guttmann und anderen, auch selbst wirkte - immer stärker akademische Wissenschaft betrieb, verließ Rosenzweig sie und gründete 1920 das Lehrhaus in Frankfurt am Main (vgl. Hoffmann 1993). In dieser Institution konnte er sein an Gespräch und Dialog orientiertes Denken, das auf eine Verbindung von Philosophie und Leben zielte, dauerhafter und enger gestalten (vgl. Glatzer 1988). Auch wenn Rosenzweig den Bezug nicht explizit herstellt, so sind seine Anstrengungen im Prinzip darauf gerichtet, sokratische Methoden wiederzubeleben, die auf reflektierte Lebensführung abzielen. Strauss hat dies gewiß mit Sympathie beobachtet, auch wenn er eher eine Distanz zwischen Philosophie und praktischem Bewußtsein annahm. Dennoch verdeutlichte ihm Rosenzweigs Projekt nachdrücklich die Differenz von theoretischem und praktischem Bewußtsein und die Notwendigkeit, diese Differenz systematisch zu reflektieren. Zudem war er sich in der Kritik an der Assimilation mit Rosenzweig einig, wenngleich dieser kein Zionist war, sondern eher dem liberalen Judaismus verpflichtet blieb. Was beide einte, war die zentrale Rolle von Bildung und Sprache als Generator von Identität (vgl. 1937d; 1937e) sowie das Engagement im Rahmen der jüdischen Erneuerungsbewegung. In diesem Sinn hat Strauss 1929 in einem Zeitungsartikel über die Akademie der Wissenschaft des Judentums hervorgehoben, daß die Idee der Akademie politisch 15
Zum Verhältnis von Strauss und Scholem vgl. Smith, der festhält: „they were both radicals" (1993: 210).
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gemeint war. Rosenzweig habe „die Verantwortung für unser Sein als Juden [...] als die Norm aller Wissenschaft des Judentums mit einer Eindringlichkeit, die wir nicht vergessen können, behauptet" (GS 2: 363). Strauss fühlte sich diesem Projekt und dem Denken von Rosenzweig eng verbunden, er hat ihm nicht nur seine Arbeit über Spinoza gewidmet, sondern Rosenzweigs Einfluß auf sein Denken später in einigen autobiographischen Reflexionen hervorgehoben. Strauss' große Wertschätzung kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, daß er Rosenzweig - trotz deutlicher Unterschiede in der philosophischen Tiefe - in eine Reihe mit Heidegger stellt. Beide würden von Gott, Mensch und Welt, so wie sie erfahren werden, sprechen und den Reduktionismus von Teilen dieser Relation vermeiden (vgl. GS 1: 19). 6 Wie wichtig für Strauss die philosophisch-theologische Besinnung war, verdeutlicht eine Rezension von 1923, in der er Rudolf Ottos Buch Das Heilige besprach (GS 2: 307-310). Strauss kannte Otto, der seit 1917 in Marburg einen Lehrstuhl hatte, gewiß aus seiner dortigen Studienzeit. Das viel diskutierte Buch über Das Heilige (1997), zuerst 1917 und 1929 bereits in 22. Auflage erschienen, zielt auf ein Verständnis der Religion als Erleben des Nouminösen und verankert Religion wesentlich im Bereich des Gefühls. Es richtet sich mithin gegen den Rationalismus in der Religionsauffassung und auf die Rehabilitierung des Religiösen als eigenständiger Erfahrung. In diesem Zusammenhang hat Strauss skizziert, wie er den Zusammenhang von deutschem und jüdischem Denken sah. Danach gebe es zwei Varianten, wie das deutsche und jüdische Denken in jüngerer Zeit durch Wissenschaftler verbunden wurden: Den ersten Fall repräsentieren jüdische Denker wie Hermann Cohen, die schöpferisch an der Bildung des deutschen Geistes teilnahmen. Für die zweite Variante stehen protestantische Forschungen zum Alten Testament, die sich mit der vorchristlichen Theologie auseinandersetzen. Als Repräsentant dafür dient der Theologe Rudolf Otto. Für diese zweite Variante steht auch Nietzsche, was zunächst überraschen mag. Strauss begründet diese Zuordnung zu den Rückkehrbewegungen wie folgt. Er hält fest, Nietzsches Kulturkritik strebe „in vor-,christliche' Tiefen des jüdischen sowohl wie des hellenisch-europäischen Geistes hinab" (GS 2: 307f.). Angesichts der Tatsache, daß Nietzsche in der Weimarer Zeit antisemitisch gelesen wurde, kann man sich fragen, was Strauss angezogen hat. Es ist in erster Linie wohl Nietzsches Radikalität und sein Denken in Jahrtausenden, das bis hinter das Christentum zurückgreift. 17 Darüber hinaus ist für Strauss der emphatische Begriff von Philosophie und auch der prophetische Gestus
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Strauss hat mehrfach auf die „freundschaftliche Art" der Beziehung zu Rosenzweig abgehoben. Rosenzweig wird in einem Brief an Ernst Simon in anderer Form deutlich. Er schreibt: „Leo Strauß spricht im Januar im Lehrhaus über ,Theorie des politischen Zionismus'. Ich lasse ihn ganz gerne es machen, denn der richtig dumme Zionismus ist im Lehrhaus so lange nicht zu Worte gekommen, immer nur der ketzerische; und er vertritt ihn immerhin mit den dehors des Geistes." (Rosenzweig 1979 Bd. 1: 1007) Strauss war gleichsam als Emissär der Akademie für sieben Monate, von der Rosenzweig-Stiftung finanziert, zu Vortrags- und Lehrkursen in Kassel (vgl. Hoffmann 1993: 27). Nietzsche hat mit Topoi wie der „blonden Bestie" Anknüpfungspunkte für antisemitische Deutungen geboten. Dem steht freilich seine Verachtung des primitiven Antisemitismus ebenso entgegen wie die in der Genealogie der Moral dokumentierte Wertschätzung des Judentums (vgl. Nietzsche 1988e: 393).
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im Denken von Nietzsche attraktiv. Auch hier steht Strauss nicht allein, denn Prophezeiungen von Zeitenwenden waren seit dem Fin de Siècle verbreitet und hatten nach dem Weltkrieg Konjunktur. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an Martin Buber, einen Protagonisten der jüdischen Erneuerungsbewegung, dessen Idee „jüdischer Renaissance" wesentlich von Nietzsche beeinflußt war. Buber verstand sich um die Jahr18 hundertwende, wie Paul Mendes-Flohr (1997) pointiert, als „Zarathustra's Apostle". In der Debatte um die gescheiterte Assimilation, die für die jüdische Renaissance in Weimar wesentlich war, wird das Problem von Identität und Bildung in großen geschichtsphilosophischen Zusammenhängen erörtert und gleichzeitig in konkreten Institutionen, wie der Akademie der Wissenschaft des Judentums oder dem Frankfurter Lehrhaus, praktisch gemacht. Strauss hat an beiden Institutionen gewirkt. An der Akademie schrieb er sein Spinoza-Buch; am Lehrhaus hat er einige Vorträge gehalten und stand in Kontakt zu Rosenzweig. In gewisser Hinsicht gilt diese für Rosenzweig und Buber typische Verbindung von philosophischer Spekulation und konkretem Engagement auch für Strauss, und erst in diesem Zusammenhang erschließt sich sein affirmativer Bezug auf Nietzsche, den er gleichermaßen als Philosophen wie als Machtrealisten versteht und der deshalb auch für sein Politikverständnis Relevanz hat. Zionismus und
Politikverständnis
Der frühe Strauss ist bis Mitte der 1920er Jahre politischer Zionist. Damit geht ein nietzscheanisches Politikverständnis einher, das kreativistisch ist, und zwar in dem Sinne, daß die Erzeugung einer neuen Ordnung als die eigentliche, „große" Politik erscheint (vgl. GS 2: 31). Strauss denkt die Besonderheit des jüdischen Volkes und wendet sich gegen das, was er einmal den „Normalitätsrausch" nennt, der dieses Volk in ein Volk wie jedes andere verwandeln will. Die Besonderheit des Judentums wird mit Bezug auf die religiöse Tradition gedacht, die in Konkurrenz zur Orthodoxie allerdings erneuert und politisch verstanden werden müsse (vgl. GS 2: 354). Strauss' entwickelte Sicht auf den Zionismus ist von folgender Grundüberlegung getragen: Der politische Zionismus will eine rein politische Lösung des jüdischen Problems, d.h. einen Staat für die Juden. Das sei nötig, aber problematisch, da die Identität des Judentums an die Religion gekoppelt ist. Der kulturelle Zionismus weise zwar über den politischen hinaus, da er die Eigenart des Judentums als Kultur deutet. Indem er aber moderne Begriffen wählt, entschärfe er das Identitätsproblem. Was letztlich nötig sei, so Strauss, ist ein religiöser Zionismus, der den universellen Anspruch des jüdischen Denkens berücksichtigt und die Identität des Judentums an die jüdische Religion knüpft. Diese Lösung hat zwei Aspekte: Zum einen hat Strauss die Frage damit so weit zugespitzt, daß er sagen kann, das jüdische Problem sei unlösbar. Wie er später herausstellt, ist der Staat Israel für ihn ein enormer, aber letztlich defizienter Versuch, das jüdische Problem zu lösen. Zum anderen setzt Strauss sich damit von der Orthodoxie deutlich ab, die einfach auf eine Art „Gottesstaat" zielt. Er will im Prinzip eine jüdische
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Nietzscheanismus meint generell die positive Beziehung auf bestimmte Themen von Nietzsche; einen authentischen Nietzsche gegen Rezeptionen auszuspielen macht wenig Sinn.
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Erneuerung nach dem Geiste und nicht nach dem Buchstaben und ist gleichzeitig für instrumenteile, a-religiöse Machtpolitik offen. In welchen Zusammenhang hat der junge Strauss den Zionismus verstanden? In dem Zeitungsartikel „Der Zionismus bei Nordau" erläutert Strauss 1923 seinen Politikbegriff näher und formuliert: „Die Politik hat Wirklichkeiten zu schaffen, und unter Umständen ist es das wirksamste, Wirklichkeiten am ehesten schaffende Mittel, die Voraussetzungen, vor allem diejenigen moralischer Natur, die sich erst durch große, von dem trägen Haufen ungern geleistete Anstrengungen herzustellen, als bereits erfüllt auszugeben, und so die Anstrengung hervorzurufen. Was heute Unwahrheit ist, wird vielleicht gerade dadurch, daß man es als Wahrheit ausgibt, morgen tatsächlich zur Wahrheit." (GS 2: 315f.)
Hier wird ein emphatischer, kreativistischer Zug deutlich, der in wiederholten Polemiken gegen Max Nordau noch gestärkt wird und seine machtrealistisch-nationalistische Pointe zeigt. 1925 im Artikel „Ecclesia Militans" heißt es über Herzl, den Vordenker und Protagonisten der zionistischen Bewegung: „Es handelt sich also nicht um einen ,Sprung', sondern um das Ausspielen von Macht gegen Macht, wie in aller Politik [...] Die Genialität Herzls besteht nicht in einem ,Sprung' und nicht in einem ,Schrei', sondern in der Politisierung des jüdischen Volkes. [...] Nicht ,ein Volk wie alle anderen Völker' ist das Programm des selbstkritischen Zionismus, sondern nur dies, daß Auserwähltes-Volk-Sein nicht heißen müsse, ein Volk von Händlern und Advokaten." (GS 2: 355)
Der Gegensatz zwischen Herzl und Nordau, den Strauss nur benennt, läßt sich wie folgt illustrieren: Herzl wollte Tatsachen schaffen, und zwar unter Einsatz legaler und weniger legaler Mittel, wie etwas Geheimdiplomatie, und meinte, innerhalb von „dreißig Jahren" könne man die Staatsgründung vollbringen. Das ist für Strauss die richtige Mischung aus großer Politik und Machtpolitik. Nordau hingegen setzte auf langsames Überzeugen und nahm an, daß man 300 Jahre brauche, um dieses Ziel zu erreichen (vgl. Schulte 1997: 277). Das ist Strauss zu aufklärerisch, zuwenig realistisch und im Kern zu wenig politisch gedacht. Beide Zitate zum Politikverständnis verdeutlichen nicht nur das Engagement von Strauss, sondern auch, für wie wichtig er Politik hält. Dabei wird in der Anlehnung an Nietzsche eine Liberalismus- und Moderne-Kritik deutlich, die im nächsten Kapitel näher betrachtet wird (GS 2: 303). Hier sei nur die Polemik gegen die liberale Trennung des Religiösen vom Profanen hervorgehoben. Diese auf Assimilation zielende Trennung, hat, so Strauss, das Volk entwirklicht und nur die Individuen assimiliert. Die frühe politische Position von Strauss stellt sich bis Mitte der 1920er Jahre wie folgt dar: Was ihn kennzeichnet, ist ein spezifischer, zionistischer Nationalismus. Dabei ist er auf besondere Weise konservativ, nämlich nicht nur, insofern er liberale Vorstellungen und Defizite liberaler Auffassungen kritisiert, sondern auch, soweit er auf Religion und Tradition als vorpolitische Grundlage von Politik rekurriert. Implizit hat Strauss eine elitäre Bildungsidee, die sich von Rosenzweigs und Cohens Vorstellungen unterscheidet, aber die Rationalismus-Kritik mit ihnen teilt. Politik versteht er vor diesem Hintergrund zum einen emphatisch als Ordnungserzeugung und zum anderen als „normale" Machtpolitik. Aber Strauss ist zu dieser Zeit der Moderne gegenüber bei aller
STRAUSS UND DER PHILOSOPHISCHE RADIKALISMUS
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Kritik aufgeschlossener als später, denn einen ernsthaften geistigen Rekurs auf antike Muster hält er damals noch nicht für möglich. Erst im Gefolge der vertieften Auseinandersetzung mit Heidegger und eines zunehmenden Rekurses auf mittelalterliche Autoren wie al-Farabi und Maimonides sowie antike Klassiker setzt sich Strauss zunehmend von politischen Fragen ab und transformiert sie in fundamentalphilosophische. Dennoch bleibt die Attitüde eines prinzipiell nötigen Neuansatzes, der aus der geistigen Krisensituation herausführen soll, erhalten und ist bis einschließlich zu dem Buch Philosophie und Gesetz über das Aufwerfen des Problems der Erzeugung einer guten und richtigen Ordnung letztlich mit der Gründung eines jüdischen Staates verknüpft. Der radikale Denkgestus des jungen Strauss wird ab Mitte der 1920er Jahre schrittweise immer mehr auf die Philosophie eingeschränkt (vgl. GS 2: 359). 19
2.2
Strauss und der philosophische Radikalismus
Zu den grundlegenden Topoi der Weimarer Debatten gehört die Kritik an der Moderne und am Liberalismus; sie sind essentieller Bestandteil des „philosophischen Extremismus", für den ein Autor wie Martin Heidegger steht (Bolz 1989). Nach Bolz teilt Heidegger mit Walter Benjamin und Carl Schmitt die Webersche Diagnose vom Gehäuse der Hörigkeit nur partiell; anders als Weber halten sie dieses nicht für unentrinnbar und wollen ihm entkommen. Das ist durchaus zutreffend; die weitergehende Behauptung jedoch, sie alle würden in einem „theologischen Kraftfeld" argumentieren, scheint mir die theologischen Bezüge und Motive zu übertreiben und zu wenig auf die genuin philosophische Argumentationsweise einzugehen, in der solche Motive zweifellos präsent sind. Die partielle Verknüpfung von Philosophie und theologischen Motiven macht wohl auch ihre Attraktivität für Strauss aus, er kennt jedenfalls die Schriften dieser Autoren. Es gibt aber noch weitere Gemeinsamkeiten der von Bolz unter einem Label zusammengefaßten Autoren: Für sie ist zumeist auch ein Bezug auf Friedrich Nietzsche wesentlich. Denkmotive von Nietzsche in der Zeitkritik und bei der Krisendiagnostik anzuwenden und fruchtbar zu machen, haben seinerzeit viele Theoretiker versucht. Sie werden dabei wie Strauss angezogen von der Idee radikaler Kritik, dem starken Begriff von Philosophie und dem existentiellen Denken, das auf Alternativen und Entscheidungen fokussiert ist. Eine besonders wichtige Gemeinsamkeit der erhitzten Debatten der Weimarer Zeit, die für alle politisch relevanten Theorien und Philosophien gilt, ist die Idee einer theoretischen Intervention in die Praxis, die diese umwälzen soll (vgl. Gunnell 1993, Kap. 7). Aus dieser Annahme erwächst eine enorme Überschätzung der Theorie und speziell der Philosophie; zugleich speist sich aus ihr im Zusammenhang mit den anderen genannten Faktoren die besondere Vehemenz der Debatten. Statt einer pragmatischen Theorie19
Dort heißt es: „Als Juden sind wir radikal, lieben wir keine Kompromisse". Radikal ist bis Mitte der 1930er Jahre eine der meistverwendeten Vokabeln von Strauss.
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Praxis-Relation werden große und prinzipielle Alternativen und Entwürfe erörtert, und an die Stelle sachlicher Detailforschung treten Grundsatzfragen und die Suche nach letzten Ursachen. Ein Grund liegt darin, daß nach Hegel, wie Hermann Lübbe hervorhob, die Tradition einer realitätshaltigen politischen Philosophie in Deutschland unterbrochen wurde, mehr noch: bis einschließlich zum Ersten Weltkrieg läßt diese Teildisziplin eine zunehmende „Isolierung gegen die Realität erkennen" (1963: 24). Die Politisierung der politischen Philosophie in der Weimarer Zeit konnte dieses Defizit weder wettmachen noch einen raschen Wechsel in der Grundorientierung realisieren; statt dessen gab es vielfach zu kurz greifende Politisierungen der Philosophie. Dieser Kontext und die Vehemenz, mit der in ihm theoretische Debatten ausgefochten werden, sind für Strauss von erheblicher Relevanz. In diesem Rahmen soll Strauss' Weg zu seinem politischen Philosophieren in einigen Punkten nachgezeichnet werden. Dabei hebe ich auf Kontexte des Antike-Rekurses ab und zeige die Vertiefung von Strauss' Problemsicht im Zuge der Heidegger-Rezeption auf. Die Kritik am Rationalismus, die Idee eines fundamentalen geistigen Rekurses und eine emphatische Idee von Philosophie und Bildung schließlich werden als Klammern ausgewiesen, mit denen Strauss die unterschiedlichen Einflüsse und Motive verbindet.
„ The Tyranny of Greece over Germany" Die Vorliebe für die griechische Antike hat in Deutschland nicht nur Tradition, sondern ist auch mit dem Gegensatz von Kultur und Zivilisation, einem genuin deutschen Deutungsmuster (Georg Bollenbeck), verquickt. Diese Verbindung läßt aus allgemeiner Kulturkritik leicht Zivilisationskritik im Sinne einer Kontrastierung vermeintlich höherer deutscher Kultur und bloßer westlicher Zivilisation werden, und in diesem Sinne machte das im 19. Jahrhundert ausgeformte Schema nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland Karriere. Zur Selbstattribution als Kulturvolk, die sich schwerlich rechtmäßig auf Nietzsche berufen konnte, aber es dennoch erfolgreich tat, gehört, daß sie auf Philosophie und eine bestimmte Sicht von geistigem Schöpfertum zentriert ist. Es wäre verkürzt, die Rückkehrbewegung zur Antike nur mit Nietzsche, Cohen und Rosenzweig zu verbinden. Der Philhellenismus ist tief in der deutschen Kultur seit dem 18. Jahrhundert verankert, in Kunst und Literatur, in der Philosophie und insbesondere in der Philologie, die im 19. Jahrhundert zum institutionellen Träger des Philhellenismus avancierte. Dieser Umstand veranlaßte Elisabeth Butler einmal dazu, von einer Tyrannei der Griechen über das Denken der Deutschen zu sprechen. Allerdings hat sie diesen Gedanken in ihrer Studie von 1935 nur bis zu Nietzsche verfolgt und den Akzent dabei mehr auf dessen Bindung an die Antike als auf dessen kritische Sicht dieser Epoche gelenkt. Die Destruktion des dominierenden idealistischen Bildes der griechischen Antike, die Nietzsche geleistet hat, kann man kaum überschätzen. Sie kulminiert in folgender Überlegung: „In den Griechen ,schöne Seelen', ,goldene Mitten' und andere Vollkommenheiten auszuwittern, etwa an ihnen die Ruhe in der Grösse, die ideale Gesinnung, die hohe Einfalt bewundern - vor dieser niaiserie allemande zuguterletzt, war ich durch den Psychologen behütet, den ich in mir trug. Ich sah ihren stärksten Instinkt, den Willen zur Macht, ich sah sie zittern vor der unbändigen
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Gewalt dieses Triebs, - ich sah alle ihre Institutionen wachsen aus Schutzmassregeln, um sich voreinander gegen ihren inwendigen Explosivstoff sicher zu stellen." (Nietzsche 1988f: 157)
Nietzsches Akzentuierung des agonal-heroischen Charakters der altgriechischen Kultur und der Aufweis des dionysischen Zuges dieser Kultur waren schwere Geschütze gegen ihre bildungsbürgerliche Idyllisierung. Man darf jedoch nicht übersehen, daß Nietzsche bei aller Kritik an Sokrates und Piaton letztlich die antike Kultur als ein Paradigma ansah. Er hat dabei stets auf den Zusammenhang von Philosophie und Lebensform abgehoben und sich mit existentieller Attitüde gegen alle philosophischen Systembauten gewandt. Insofern Nietzsche selbst auf die recht verstandene griechische Antike rekurriert, bleibt er diesem Muster seinerseits verhaftet. Er hat es dabei auf eine unglaubliche Weise vergegenwärtigt und zugleich als scheinheilige Projektionsfläche zerstört. Das Virulent-Halten dieser sehr deutschen Vorliebe ist ein Effekt, der in der großen Rezeptionswelle von Nietzsche nach dem Ersten Weltkrieg bewahrt wird. Es ist daher eine Frage, wie es mit der Orientierung an der griechischen Antike nach dem Ersten Weltkrieg aussah. Durch diesen Krieg und seine Folgen kam es, wie Suzanne Marchand detailliert darstellt, in Deutschland zu Reformen des Gymnasiums, die die Verbindlichkeit des altgriechischen Unterrichtes in Frage stellten, hinzu trat eine erhebliche Kürzung für die klassische Archäologie und Philologie - die deutschen Paradedisziplinen (vgl. Marchand 1996, Kap. 8). Diese hier nur knapp anzudeutenden Veränderungen leiteten zwar einen Bedeutungsverlust des antiken Kanons, seiner schulischakademischen Tradierung und der den Kanon sowie die Tradierung tragenden Disziplinen ein, riefen aber zugleich geradezu trotzig erneute Anstrengungen zu verstärkter Auseinandersetzung mit der Antike hervor. In der Weimarer Zeit wurden diese Debatten allerdings von kleineren Gruppen getragen, die neue Zeitschriften gründeten, und zwar durchaus mit elitärer Intention, denn Orientierung wurde in Absetzung von der Massendemokratie und dem Liberalismus gesucht. Bei den forcierten Antike-Studien braucht man nur an den George-Kreis zu denken oder an den in der Weimarer Zeit von Werner Jaeger begründeten sog. dritten Humanismus, der in Differenz zum Historismus auf eine Orientierung an den zeitlosen altgriechischen Bildungsidealen setzte. Gemeint waren damit vor allem Piaton und Sophokles. Der Altphilologe Jaeger war durch seine Schriften und die 1924 von ihm gegründete Zeitschrift Die Antike sehr wirksam und spielte die Hauptrolle in der „classicist counterreformation" (Marchand 1996: 318). Entscheidend ist, daß er dem Humanismus über die Akzentuierung von Charakterformung, Gesittung und Bildung eine politische Wendung gab. Dieser Humanismus blieb umstritten, da er sich politisch in verschiedener Richtung ausmünzen ließ, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil er inhaltlich, wie Bruno Snell schon früh pointierte, leer, unterbestimmt blieb (Snell 1935: 332f.). Jaeger hat sein Konzept in den drei Bänden seines Hauptwerkes Paideia (der erste Band erschien 1934) breit ausgeführt. Auch außerhalb der Altphilologie in philosophisch-politischen Debatten im engeren Sinn war der Rekurs auf altgriechische Kultur belangvoll und man fragte in diesem Kontext nach den letzten Ursachen für die Katastrophe, die sich im Ersten Weltkrieg ereignete. In den Debatten ist dabei ein zunehmendes Interesse an Piaton als politischem Denker zu verzeichnen (vgl. dazu Gadamer 1985: 212-229, 331-338). Man sollte diesen allgemeinen Kontext nicht gering veranschlagen, er ist durchaus für die Ausprägung
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einer Präferenz für Piaton bei Strauss wesentlich, die sich hernach durch sein ganzes Werk zieht. Strauss hat Jaeger übrigens Anfang der 1920er Jahre in Berlin gehört und geschätzt, jedoch seit seinem Heidegger-Erlebnis stets betont, daß letzterer als Philosoph weit über ersterem stehe. Ins Zentrum der Platon-Rezeption in den Weimarer Debatten rückt der Bildungsgedanke, aber auf andere Weise als bei Rosenzweig, der auf die praktische Verbindung von Leben und Philosophie zielt. Vielmehr werden, in einer eher nietzscheanischen Version, Zeit-Kritik und heroische Steigerung des Menschentums akzentuiert. Die skizzierte Situation in den Antike-Studien Mitte der 1920er Jahre ist für das Verständnis von Strauss' Denkweg insofern relevant, als sie eine geistige Atmosphäre verdeutlicht und gleichermaßen Anknüpfungs- und Abstoßungspunkte für seine Zuwendung zur Antike markiert. Vertiefung der Problemstellungen
mit Heidegger
In der interpretativen Literatur zu Strauss ist die Rolle, die Heidegger für sein Denken einnahm, bisher kaum untersucht worden. Sie scheint mir für die erhebliche Zuspitzung seiner Fragestellungen wesentlich zu sein. Durch das existentielle Denken von Rosenzweig und Nietzsche, die Philosophie als Lebensform begriffen, war Strauss für die Aufnahme von Heidegger vorbereitet. Gewiß ist, daß Strauss seit seinem Studium und erst recht bei der Wiederaufnahme der Studien nach seiner Promotion bei Husserl und Heidegger einem emphatischen Begriff von Philosophie als Königsdisziplin anhing. Dabei spielte die Abwendung von der wissenschaftsbezogenen Erkenntnismethodologie eine zentrale Rolle. In diesem Sinne hat Strauss später häufiger zustimmend berichtet, wie sich Husserl vom Neukantianismus absetzte. Husserl habe ihm als Studenten erklärt: Er beginne philosophisch mit dem Fundament, während die Neukantianer beim Dach ansetzten. Den wirklichen Anfang für das Erkenntnisproblem bilde die natürliche Einstellung, das Common-Sense-Verständnis der Welt, das vor allen theoretischen Einstellungen und Perspektivierungen der Welt wesentlich sei (vgl. Strauss in SPPP: 31). Strauss wird diesen Gedanken bis hin zu seiner Rekonstruktion des ursprünglichen Naturrechtes verfolgen. Darüber hinaus ist für ihn an Husserl in Differenz zu Heideggers Transformation der Phänomenologie wesentlich, daß es bei Husserl nicht nur um Existenz und sich wandelnde Formen, sondern um das Wesen selbst, um „eidetische Erkenntnis" geht. Das ist für Strauss, der von Heideggers Existentialismus angezogen ist und zugleich ein Bollwerk gegen den Relativismus sucht, ein Anknüpfungspunkt, den er später ausbaut (SPPP: 33f.). Was die Rezeption von Heidegger für Strauss genauer bedeutet und wie er sich nach der ersten Aneignung weiter mit ihm auseinandersetzte, ist wegen der wenigen Zeugnisse und Indizien nicht leicht zu fassen; es lohnt sich aber, diese einmal im Zusammenhang zu betrachten. Vieles spricht dafür, daß es zu einer andauernden Auseinandersetzung mit Heideggers Philosophie kam, die vor allem in die zweite Hälfte der 1920er Jahre fiel. 1927 erscheint Heideggers frühes Hauptwerk Sein und Zeit, über dessen Aufnahme durch Strauss keine expliziten Stellungnahmen vorliegen. Immerhin ist bekannt, daß Strauss im März 1929 nach Davos zum berühmten Disput zwischen Heidegger und
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Cassirer fuhr (Grondin 1999: 170).20 Es ist davon auszugehen, daß Strauss angesichts seiner mehrfach geäußerten Bewunderung für Heidegger dieses Buch intensiv rezipiert hat und dabei eine Zuspitzung seiner eigenen Positionen vornahm. Um dies aufzuzeigen, verdeutliche ich nachfolgend zum einen sachlich-systematische Bezugspunkte von Strauss. Zum anderen belege ich die andauernde Auseinandersetzung mit Heidegger indirekt, nämlich über einen Diskussionszusammenhang, in dem Strauss stand. Für die sachlich-systematischen Bezüge von Strauss, die eine Aneignung von Heideggers Gedankengut zeigen, sind zwei Ideen wesentlich: der hermeneutische Ansatz von Heidegger ermöglicht die Kritik an Weber und damit an aller positivistischen Philosophie. Die zweite Idee ist die der Destruktion von in Systemen und der Tradition stillgestelltem Denken als Voraussetzung, um die Grundfragen der Gegenwart wieder aufwerfen zu können. Das ist auch ein Programm für Strauss, der bei seinem Versuch der Wiedergewinnung von politischer Philosophie in den späten 1920er Jahren beginnt, die moderne Tradition zu destruieren, und so erste Voraussetzungen schafft, um sich später schrittweise rückwärts zu den antiken Klassikern durchzuarbeiten. Der erste Autor, der in dieser Form thematisiert wird, ist Spinoza. Strauss hatte nicht nur sein erstes Heidegger-Erlebnis im Zusammenhang mit einer Aristoteles-Interpretation von Heidegger in den Freiburger Vorlesungen von 1922/23. Möglicherweise kannte Strauss über Gadamer und andere Bekannte auch den in diesem Kontext entstandenen Text Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Orig. 1922; 1989), der die Grundlage für Heideggers Berufung nach Marburg (1923) bildete. Natorp hatte ihn Gadamer in der Annahme seiner baldigen Publikation überlassen. Durch diesen Text beeinflußt, „konvertiert" Gadamer zu Heidegger (vgl. Tietz 1999: 15), und er hat die Bedeutung dieser Arbeit gewiß im Bekanntenkreis kundgetan. Was Strauss beeindruckt hat, ist zum einen das existentialistische Denken Heideggers, das ihm eine Vergegenwärtigung des antiken Philosophen erlaubt. Eindrucksvoll war gewiß die große Geste, mit der Heidegger die ganze erkenntnistheoretisch-methodologische Problematik beiseiteschiebt, statt dessen mit der praktischen Philosophie beginnt und sie ins Zentrum der Philosophie rückt; wie er das Philosophieren als eine Lebensform begreift und Systeme als szientifisch ablehnt. Zum anderen ist es der hermeneutische Ansatz, der zwischen Vorverständnis (Blickstand) und Horizont (Blickrichtung) unterscheidet. Einen weiteren Punkt hat Gadamer 1989 bei der Erstveröffentlichung von Heideggers Aristoteles-Interpretation von 1922 berührt, als er darauf hinwies, daß Heidegger in diesem die Sophia, die Tugend des theoretischen Lebens, und die ihn interessierende Phronesis, die praktische Klugheit, gleichermaßen wichtig sind. Das ist ein wesentlicher Hinweis für die Aufnahme der Überlegungen Heideggers durch Strauss, denn im Verhältnis beider Orientierungen, von theoretischem und praktischem Wissen wird er seine Rationalismus-Kritik entwickeln. Bei seiner Suche nach der politischen Philosophie interessiert Strauss die Philosophie als der Theorie gewidmete Lebensform, die sich des Unterschiedes zum praktischen Bewußtsein, zur Klugheit bewußt sein soll. Beide Dimensionen sind für die Destruktion der Traditionen wichtig. 20
Daß er die Reise unternahm, ist ein Indikator für die Bedeutsamkeit, die Strauss der zu erwartenden Kontroverse zwischen Heidegger und Cassirer zumaß; Karl Löwith und Gerhard Krüger dagegen scheuten die Reise aus Kostengründen, wie Grondin ebenda bemerkt.
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Die Destruktion der Tradition dient Heidegger nicht einer Erneuerung antiker Theorien, sondern dem genuinen Philosophieren, wie schon am Beispiel von Heideggers Auslegung des Aristoteles verdeutlicht wurde. Heidegger hat in diesem Sinn die Begegnung der „Gegenwart in ihren eigenen Grundbewegtheiten" als Ziel benannt (Heidegger 1989: 249), und er hält damit, „kein Plädoyer für einen wie frei auch immer durchgeführten Aristotelismus" (Figal 1992: 35). Diese Orientierung mit ihrem starken Gegenwartsbezug wird für Strauss nur partiell leitend, denn für ihn hat Piatons Philosophie schon früh einen für alle Philosophie maßgeblichen Charakter. Seine Studien, vor allem die zu Spinoza, unternimmt Strauss zunächst als historische Arbeiten, die Traditionen destruieren. 21 Bis Ende der 1920er Jahre bezeichnet er seine Methode als „historischkritische" Studien beziehungsweise Auslegungsart. Eine Erneuerung des antiken Denkens und die darauf gegründete Kritik am Historismus stehen hier noch nicht auf der Agenda. Dennoch ist die Kritik am Historismus schon angelegt, denn man darf bei aller Sympathie von Strauss für Heideggers existentielle Philosophie nicht übersehen, daß er ihm kritisch gegenübersteht. Er hält, was die allgemeine Wirkung betrifft, seine Lehre wie die von Nietzsche für relativistisch und hochgefährlich, weil sie in ihrer öffentlichen Wirkung über den Kreis der Philosophie hinaus geistig-sittliche Traditionen destruieren würde. Strauss will - wie Rosenzweig im Falle von Nietzsche - diese Herausforderung annehmen, aber durch eine Restitution der Metaphysik und theologischer Fragen von überzeitlicher Geltung die gefahrlichen Konsequenzen vermeiden. Heideggers Destruktion der philosophischen Tradition impliziert auch eine spezielle Art von Antike-Rekurs, denn er sieht hier schon falsche Weichenstellungen, wie das berühmte Verstellen der Seinsfrage durch Piaton. So anregend dies für Strauss ist, so folgt er ihm vor dem Hintergrund der jüdischen Erneuerungsbewegung, die maßgebliche und feststehende Orientierungen in der Antike suchte, nicht in der Konsequenz. Heideggers Auffassung jedoch, daß das philosophische Leben eine prinzipielle Alternative sei zur Ernsthaftigkeit und Einheitlichkeit eines im Glauben geführten Lebens (vgl. Figal 1992: 48; Zuckert 1996: 7), schließt er sich an. Den an Rückkehrbewegungen innerhalb des jüdischen Denkens und der Philosophie besonders interessierten Strauss wird Sein und Zeit und die Diskussion um dieses Buch schon deshalb beeindruckt haben, weil die Heideggersche Destruktion von Tradition ein Weg war, um die eigentlichen, substantiell-philosophischen Fragen wieder aufgreifen zu können (1986: 34ff.). Dabei wächst der Hermeneutik eine zentrale Bedeutung zu; auch dies ist für Strauss wesentlich. Daneben ist für Strauss an Heideggers Konzept auch der anti-relativistische Gestus der Fundamentalontologie wesentlich. All dies sind Ansätze, die es Strauss erlauben, sich von Nietzsche und der modernen relativistischen Philosophie und Sozialwissenschaft zu lösen. Sie bilden Anstöße, um die bei Cohen, Nietzsche und auch Rosenzweig angelegte Rückkehrbewegung in Richtung einer Wiederaufnahme der großen, fundamentalen philosophischen Fragen zu versuchen.
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Noch 1931/32 weist Strauss ausdrücklich daraufhin, daß auch seine Hobbes-Arbeit durch die Idee der „Destruktion der Tradition" erst ermöglicht wurde (vgl. Meier 2001 : XIX).
RENAISSANCE JÜDISCHER KULTUR UND LIBERALISMUS-KRITIK
Ein philosophischer
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Gesprächs- und Bekanntenkreis
Mit dem Erscheinen von Sein und Zeit im Jahre 1927 erfährt die Rezeption von Heideggers Denken einen Schub. Das Buch ist seinerzeit als Ereignis aufgenommen worden. Es enthält einen emphatischen Philosophiebegriff, der auf striktes und unentwegtes Fragen abstellt (vgl. Heidegger 1986: 22f.), und die Methode der Destruktion wird bei der Gewinnung neuer Problemstellungen vorgeführt. Auf besondere Weise wird das Buch in einem Gesprächskreis rezipiert, zu dessen Teilnehmern Gerhard Krüger, Karl Löwith, Hans-Georg Gadamer gehören, die alle drei Heidegger-Schüler sind und sich bei ihm habilitieren. An diesem Gesprächskreis nimmt Strauss, wenn er in Marburg weilt, wohl auch teil. Wann Strauss diese jungen Philosophen im einzelnen kennengelernt hat, ist zum Teil unklar. Einige Bekanntschaften rühren aus der frühen Studienzeit her, ein Teil aus der Zeit nach der Promotion. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre werden einige Kontakte sichtbar. Man kann also zumindest hypothetisch die Existenz eines losen Gesprächskreises unterstellen. Der gemeinsame Nenner der verschiedenen Autoren ist die Aufnahme des existentialistischen philosophischen Denkens, die Orientierung an der antiken Philosophie und jeweils eine unterschiedlich starke Schülerschaft von und Kritik an Heidegger. Sie alle nehmen von Heidegger auf, daß der antike Mensch schon mit den „modernen Problemen" wie Kontingenz, Sinnlosigkeit von Geschichte und anderem mehr klarkommen mußte und dies ohne moderne szientifische Selbstgewißheiten vermochte. In diesem Zusammenhang stehen der Rekurs auf die Antike, die Erneuerung eines emphatischen Philosophieverständnisses, die Kritik an positivistischer Wissenschaft sowie die Aufwertung und Ausweitung der Hermeneutik wie des praktischen Wissens (Phronesis). Strauss partizipiert zwar eher am Rande an diesem Kreis, zum Teil über seinen Studienfreund Jacob Klein vermittelt, aber er ist ihm über mehrere Personen verbunden, und aus den damaligen Bekanntschaften erwachsen zum Teil lebenslange freundschaftliche Beziehungen. Ich skizziere diese Einflüsse knapp, weil man so indirekt und deutlicher erschließen kann, welche Veränderungen Strauss in den späten 1920er Jahren beginnt. Auch Krüger und Löwith setzen, wie Strauss, viel stärker als Heidegger mit unterschiedlichen Akzenten auf die vorbildhafte Antike. Gerhard Krüger (1901-1972), den Strauss aus seiner Marburger Studienzeit kennt, war für die Abwendung vom Methodologismus der Neukantianer wichtig. Seine Habilitationsschrift zu Kant, die 1931 erschien, endet mit folgenden Worten: „Die Bedingtheit des Menschen und vor allem die Geschichte, die der Herd alles transzendentalen Irrens ist, muß der Anlaß eines philosophischen, unbedingten Fragens sein. Wirklich unbedingt aber wird die Frage nur sein, wenn sie, im Wissen um die geschichtliche Leidenschaft, das Gute erfragt. Die Antwort auf diese Frage - und so auch die christliche Antwort Augustins - sei dahingestellt. Daß die entschiedene Frage wahr bleibt, auch wenn sie keine Antwort findet, kann den, der so fragt, das Beispiel des Sokrates lehren." (Krüger 1931a: 236)
Die genaueren Beziehungen von Krüger zu Strauss sind nach den bislang bekannten Quellen nicht näher faßlich. Krüger steht jedenfalls für den Rekurs auf die Antike und die christliche Tradition (vgl. Löwith 1959: 1-9). Seine Kritik am Historismus vermittelt einen Eindruck von der Aufnahme, die Heidegger bei jüngeren Philosophen in seinem Umkreis fand.
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Enger als die Beziehung zu Krüger ist die von Strauss und Karl Löwith, den er ebenfalls aus dem Studium kennt (vgl. Löwith 1986: 99) und mit dem ihn ein lebenslanger Kontakt und verschiedene Briefwechsel verbinden. Löwith, ebenfalls von Husserl und Heidegger beeindruckt, hatte sich 1928 mit der Arbeit Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen (1981) bei Heidegger habilitiert. Auch er setzt auf die Auseinandersetzung mit der überlieferten philosophischen Tradition und rekurriert auf die Antike, aber ihn kennzeichnet, daß er sich bereits früh von Heidegger zu lösen beginnt und weniger auf Sokrates und mehr auf die Stoa und die Figur des Skeptikers rekurriert. An die Wirkung von Sein und Zeit erinnert Löwith später prägnant wie folgt: „Daß Heideggers außerordentlicher Lehrerfolg und die ungewöhnliche Wirkung seines schwer verständlichen Buches ihn selbst über die zuerst gewollte Beschränkung hinaustrieben und aus ihm eine Mode machten, das war zwar gegen seine eigene Absicht, aber zugleich eine natürliche Folge seines versetzten Predigertums. Wodurch er zunächst auf uns wirkte, war nicht die Erwartung eines neuen Systems, sondern gerade das inhaltlich Unbestimmte und bloß Appellierende seines philosophischen Wollens, seine geistige Konzentration auf ,das Eine was not tut'. Erst später wurde uns klar, daß dieses Eine eigentlich nichts war, eine pure Entschlossenheit, von der nicht feststand, wozu?" (Löwith 1986: 29)
Strauss ist in seinen Ambitionen, bei seiner Suche nach dem Einen, das not tut, in diesem Sinne durch Heidegger und Löwith gewiß bestätigt worden. Er schreibt, seine frühe Wertschätzung für und seine Differenz zu Löwith resümierend, 1932 an ihn: „Ich finde bei Ihnen alle Elemente eines Humanismus, einer menschlichen Philosophie vom Menschen; aber diese Elemente schiessen nicht zusammen - und zwar darum nicht, weil Sie sich allzu sehr an den Erben unserer anti-humanistischen Tradition orientieren und folglich nicht aus dem Banne dieser Tradition herauskommen." (Zit. nach Donaggio 2000: 48) 22
Strauss meint anfangs der 1930er Jahre allerdings, aus dieser Tradition herausspringen zu können. Er teilt demnach Löwiths Intention eines Rekurses auf die Antike und das Aufgreifen von und auch die Kritik an Heidegger, aber verfolgt sie selbst in größerem Ausmaß als dieser. Besonders stimmt er mit Löwiths in den 1920er Jahren angelegter und in den 30ern ausgebauten scharfen Kritik am Historismus und der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie überein, die hinter die antiken zyklischen Konzepte zurückfalle. Doch Löwiths positiver Bezug auf Jakob Burckhardt ist für ihn keine Lösung. 23 Für Fragen der interpretativen Methodik könnte man leicht vermuten, daß der spätere Hermeneutiker Hans-Georg Gadamer aus dem Gesprächs- und Bekanntenkreis, der sich auf Heideggers Philosophie bezog, für Strauss wichtig war. Beide werden zwar durch 22
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Bei Donaggio findet sich auch der Verweis auf eine Aussage von Löwith, daß sein Werk im Dialog mit und Gegensatz zu Strauss gelesen werden müsse. Strauss schreibt 1935 an Löwith: „Warum ich auf,Mitte und Mass' nicht eingegangen bin? Weil ich weiss, was Sie damit meinen, nämlich z.B. Burckhardt. Ich glaube Ihnen gern, dass B[urckhardt] der ideale Repräsentant antiker Massigkeit im 19. Jhdt. war - aber die Themen seines Philosophierens sind nur auf Grund der modernen ,Unmässigkeit' möglich. Kein antiker Philosoph war Historiker. Und das beruht nicht auf Mangel an einem sechsten Sinn, sondern eben auf dem Sinn für das, was dem Menschen zu wissen gemäss, was sein ,Mitte und Mass' ist." (Strauss/Löwith 1988: 190).
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Vermittlung von Jacob Klein Anfang der 1920er Jahre miteinander bekannt gemacht (Gadamer 1978a: 4), aber eine größere Bedeutung und Dynamik erfahrt diese Beziehung erst in den frühen 1930er Jahren (vgl. Gadamer 1984: 4-7). Der Bezug auf Gadamer kann jedoch nochmals verdeutlichen, wie wichtig die antike Philosophie in diesem Kreis genommen wurde, und darüber hinaus läßt sich zeigen, wie verbreitet in diesem Kontext die Rationalismuskritik und die Erneuerung der Bildungsidee waren. Man kann das zum einen aus einer Vielzahl von Rezensionen der späten 1920er Jahre erschließen, in denen Gadamer wichtige Deutungen der griechischen Philosophie besprach (vgl. Gadamer 1985: 283-340). Bildung im Sinne von Charakterbildung und Piaton sind dabei zentrale Themen. Gadamer steht aber zu dieser Zeit noch nicht für eine eigene philosophische Methodik und Richtung, sondern er agiert als skeptischer Sokratiker, der zeigt, wie wenig man weiß, was richtig ist (vgl. Grondin 1999: 157). Strauss teilt die seinerzeit verbreitete Präferenz von Philosophen für Bildung im altgriechischen Verständnis. Bei ihm wird diese Idee im Anschluß an die Antike ja über die Achse Wissen und Lebensformen bis hin zur Massendemokratie genutzt, wobei letztere zu ihrem Schutz eine Bildungselite nötig habe. Auch Gadamer setzt von Beginn seiner philosophischen Entwicklung an auf Bildung in einem emphatischen Sinne und betont dabei die Rolle der Geisteswissenschaften. Er hat viel später in seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode nicht nur seine Hermeneutik entfaltet, sondern sie mit der Idee von Bildung systematisch verbunden. Man kann eine Differenz zwischen Gadamer und Strauss mit Blick auf Heideggers Aristoteles-Interpretation verdeutlichen. Ersterer wundert sich bei der Neulektüre der Aristoteles-Interpretation, wie stark Heidegger nicht nur die Phronesis, die praktische Klugheit, macht, sondern auch die Tugend der Sophia. Gadamer macht keinen scharfen Unterschied zwischen diesen Orientierungen, für Strauss dagegen ist anzunehmen, daß er beide Orientierungen als voneinander zu unterscheidende aufnahm. Er setzt nämlich auf die Restitution von Gewißheiten in Metaphysik, d.h. philosophische Weisheit, und praktische Klugheit, die nicht auf die Philosophen beschränkt ist, gleichermaßen. Strauss lehnt in seiner Rezeption von Heidegger jedoch generell dessen Relativismus ab, denn wie Cohen und Rosenzweig sucht er nach überzeitlichen Garanten. Diese Einstellung teilt er mit Krüger, in bestimmtem Maße auch mit Löwith. Als einziger aus dem Gesprächskreis bezieht sich Strauss primär auf politische Philosophie, die es als einen besonderen Teil der Philosophie bei Heidegger gar nicht gibt. Das Motiv für diese Orientierung erwuchs aus dem zionistischen Engagement, das auch Strauss' früh ausgeprägtes Interesse an Piaton immer auf dessen politische Philosophie lenkte. Die anhand des Gesprächskreises verdeutlichte Auseinandersetzung mit Heidegger ist es, die bei Strauss zu einer Zuspitzung seiner Fragestellungen führt. Die Radikalisierung und Hinwendung zu einem emphatischen Philosophiebegriff läßt sich auch an der gewandelten Einstellung zu Max Weber aufzeigen. In den Texten der 1920 Jahre verweist Strauss gelegentlich auf Weber (GS 2: 247, 374, 447f.). Den Hintergrund bilden die Auffassungen von Philosophie, die Strauss in Anlehnung an Husserl, mehr aber noch an Heidegger entwickelt. Ihm scheint Wertfreiheit nun unmöglich, da jede Deutung von Vorverständnissen und Einstellungen getragen wird. Dies ist seine Grundüberzeugung, die die Forderung nach einer generellen Kritik an Weber trägt, die schon in
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den 1920er Jahren reifte.24 Zentral ist hier der Artikel Konspektivismus von 1929 (ein erst durch die Werkausgabe zugänglich gemachtes Typoskript), das im Kern eine Auseinandersetzung mit Mannheims Ideologie und Utopie, also eine Kritik an der Wissenssoziologie enthält. In dem Text schlägt die Heideggersche Verachtung der Soziologie deutlich durch. So lasse Mannheim Weber zu leicht hinter sich, der noch ernsthaft vor der Frage Gesinnungs- oder Verantwortungsethik gestanden habe. Wenn historisiert werde, dann müsse grundsätzlich gefragt werden, „[...] wie die Welt, in der die Wissenschaft entstand, vor dem Einbruch des biblischen Bewußtseins aussah. Nur in Orientierung an dieser Welt ist der Horizont zu gewinnen, in dem nurmehr allein radikal gefragt und geantwortet werden kann." (GS 2: 375)
An diesem Zitat kann man unmittelbar ablesen, wie Strauss mit Impulsen von Heidegger seine Idee eines strikten Rekurses auf die Antike formt und von daher die Relationsbestimmung von Philosophie zum Offenbarungsglauben anstrebt. Bemerkenswert ist auch, wie Strauss die sozialwissenschaftliche Sicht denunziert, weil sie nicht auf Wahrheit im emphatischen Sinne zielt, obwohl in ihr doch die gleiche Problematik der Vielfalt von Erkenntnis- und Wahrnehmungsperspektiven wie in der philosophischen Hermeneutik eine Rolle spielt. Mannheim wird jedoch nicht rundum abgelehnt, da Strauss positiv aufnimmt, daß er nicht wertfrei sein will. Die Werte, an denen er sich orientiert, sind für Strauss indes nicht der Rede wert. Daß die Auseinandersetzung mit Weber für den Gesprächs- und Bekanntenkreis von Strauss wesentlich war, zeigt auch der 1932 erschienene bekannte Aufsatz Max Weber und Karl Marx von Karl Löwith, den Strauss schätzt (er erwähnt ihn in seinen Arbeiten sogar mehrfach). Löwith fragt nach dem „anthropologischen Grundmotiv" beider (1988: 326). Für die Problematik der Wertfreiheit ist vor allem der Schluß wichtig. Dort zeigt Löwith mit Weber, zum Teil aber auch gegen diesen, daß um regulative Wertmaßstäbe gestritten werden muß und daß sie aller Wissenschaft, auch der Weberschen, zugrunde liegen (ebd.: 406). 1932, zur Zeit der Auseinandersetzung mit Carl Schmitt, formuliert Strauss dann, eine generelle Weber-Kritik sei nötig, und in diesem Zusammenhang wird deutlich, daß es dabei per se um eine Kritik am Liberalismus geht. Die These von Bolz, daß über Weber hinauszukommen ein wesentliches Thema des Weimarer Diskurses seit Mitte der 1920er Jahre war, läßt sich hier bestätigen. Bemerkenswert ist, daß dies im Zusammenhang mit methodischen Fragen, emphatischen Konzepten von Philosophie und erneuerten theologischen Motiven erfolgt und daß in diesem Kontext neue grundsätzliche Orientierungen gewonnen werden sollen. Resümiert man Kontexte und die frühe Phase von Strauss' Denkentwicklung, soweit sie an Texten der 1920er Jahre greifbar ist, so lassen sich verschiedene Momente herausheben: Entscheidend ist zunächst die Kombination der jüdischen, philosophisch-theologischen Besinnungsbewegung mit den zugespitzten und vehementen philosophischen Debatten der Weimarer Zeit. In der Kombination der Motive einer deutlich politischen und einer eher philosophischen Bewegung werden Motive nicht nur verstärkt, sondern Strauss' Augenmerk wird auch auf die politische Dimension von Philosophie gelenkt. 24
Zur späteren Ausformung der Weber-Kritik vgl. Kap. 6.3.1.
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Die schrittweise erfolgende Vertiefung der Problemstellungen vermittels Heideggers Philosophieren leitet eine Transformation von politischen in fundamental philosophische Fragestellungen ein, die parallel zu der nicht genau datierbaren, aber offensichtlichen Distanzierung vom Zionismus etwa ab 1926/27 verläuft. Als charakteristisch erscheint, daß die verschiedenen Einflüsse in einem radikalen Denkgestus verschmolzen werden, wobei der tragende emphatische Philosophiebegriff in Distanz zu den Wissenschaften steht und statt dessen auf enge Beziehung zur Religion und erneuerter Theologie als Garanten gegen den Relativismus setzt. Eine Kehrseite dieses Konzeptes bilden die Intellektuellenkritik und Restitution des Philosophen als besonderer Figur, der nichts mit dem weitabgewandten Weisen zu tun hat. Philosophie als Lebensform erfordert bei ihrer Realisierung ein reflektiertes Verhalten zum Gemeinwesen und ist insofern im eigenen Interesse politisch. Strauss' aktivischer Ansatz, der Nietzsche und den Zionismus durch das Problem der politischen Ordnung, deren Kriterien und Gründungsbedingungen verband, wird nun philosophisch sublimiert. Die Diskussion von Heideggers Philosophie im Gesprächskreis von Personen, die mit dieser besonders vertraut waren, führte gewiß zu einer Verstärkung des fundamentalphilosophischen Einflusses, durch den Strauss seine theoretische Sichtweise radikalisierte und sich zugleich von der Politik und politischem Engagement abwandte. Strauss läßt erst in seinen späteren Publikationen die Wirkung von Heidegger, die er zunächst im Hintergrund hielt, deutlich werden. Er kritisiert ihn als den Philosophen im 20. Jahrhundert jedoch scharf wegen seines Relativismus und Historismus (vgl. NRG) sowie wegen der darin angelegten fatalen politischen Konsequenzen. Strauss leitet aus diesen methodischen Orientierungen Heideggers Engagement für den Nationalsozialismus ab und erklärt ihn damit aus dem Kern seiner Philosophie. In den wiederholten Auseinandersetzungen mit dem Existentialismus, die zum großen Teil in Vorlesungen vorliegen, hat Strauss gerade solche Schwächen deutlich gemacht. Aber er hat auch einige Stärken nachdrücklich benannt, etwa die Auffassung der Geschichte als irrationaler Prozeß, die Kritik des Fortschrittsglaubens, die Rückbindung der Philosophie an Fragen des Lebens, der Lebensweise, und die hermeneutische Sozialontologie. Was Strauss als einen Gelehrten, der große Philosophen interpretiert, an Heidegger zudem abstößt, ist die eschatologische Struktur seiner Deutung der Philosophiegeschichte, die mit ihm den Gipfel erreiche. Trotz zunehmender Kritik an Heidegger hält Strauss aber zeit seines Lebens an seinem positiven Urteil über ihn fest und bezeichnet ihn wiederholt als „the only great thinker in our time" (RCPR: 29).
2.3
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Spinoza war für die „Renaissance" jüdischer Kultur in Weimar eine Herausforderung, da er sich als moderner Philosoph der Immanenz für eine strikte Trennung von Philosophie und Theologie eingesetzt und in diesem Sinne die Bibel-Kritik begründet hatte.
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Seine generelle Kritik an theologischen und teleologischen Erklärungen nahm den Juden im Prinzip die Stellung eines besonderen, auserwählten Volkes, was für die Zionisten ein Stein des Anstoßes war. Cohen sprach 1910 in Reaktion auf eine neue Berliner Loge, die sich „Spinoza" nannte, sogar davon, daß Spinoza zu Recht aus der Gemeinde Israels ausgestoßen worden sei, als er den berühmten Philosophen jüdischer Herkunft vehement kritisierte. Gleichzeitig wurden in der Weimarer Zeit Versuche unternommen, den seit 1656 bestehenden Bann der Amsterdamer Gemeinde aufzuheben; Joseph Klausner, der sich dafür besonders einsetzte, nannte 1925 Spinoza einen „Bruder" (vgl. Yovel 1996: 253f.). Die Debatte um Spinoza berührte dessen Grundlegung moderner Philosophie und des Liberalismus, ja eines spezifischen Demokratismus. Diese Auseinandersetzung philosophischer und politischer Art kulminierte um 1927 zu den Spinoza-Feiern anläßlich seines 250. Todestages. Der politische Charakter der Debatte wurde nicht zuletzt durch die kühne Denkart von Spinoza verstärkt. So hatte er die Auseinandersetzung mit der jüdischen Gemeinde in Amsterdam absichtsvoll zu einem generellen Bruch gefuhrt und danach zwar mit größter Vorsicht gelebt und publiziert, aber ohne Kompromisse gedacht. Es verwundert daher nicht, wenn Strauss 1932 erklärt: „Die Erschütterung des modernen Europa hatte zur Folge eine Besinnung des Judentums auf sich selbst. Diese Besinnung führte [...] eine Veränderung in der Beurteilung Spinozas herbei" (GS 1:417). In diesem Kontext steht Strauss' neue Lektüre und Deutung seit Mitte der 1920er Jahre, wobei für ihn mit dem Theologisch-Politische Traktat der politische Denker und nicht die Ethik in den Mittelpunkt rückt.25 Er wirft die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Religion prinzipiell auf und entwickelt seine Kritik an der Aufklärung und dem Rationalismus. Meine These lautet, daß Strauss, geleitet von Cohen und Rosenzweig auf der einen Seite und vor allem von Nietzsche und Heidegger auf der anderen, im Rahmen dieser Auseinandersetzung mit der Aufklärung sukzessive politische Problemstellungen in allgemeine philosophische Fragen transformiert. Hier beginnt seine Suche nach einer politischen Philosophie, und sie ist von Anfang an durch ein prinzipielles Fragen nach der guten politischen Ordnung geleitet. Die Auseinandersetzung mit Spinoza erfolgt in mehreren Etappen: Die Anfange liegen in der Dissertation von Strauss (1921; in GS 2), die das Erkenntnisproblem bei Friedrich H. Jacobi untersucht. Zu den Vorläufern des von der Akademie für die Wissenschaft des Judentums in Auftrag gegebenen Buches über die Religionskritik Spinozas gehören zwei kleinere Texte, nämlich der Aufsatz Cohens Analyse der BibelWissenschaft Spinozas (1924) und Die Bibelwissenschaft Spinozas und seiner Vorläufer (1926). 1930 erscheint das Buch, und in seinen Umkreis gehören auch der Text Das Testament Spinozas (1932) und das spätere Vorwort zum Spinoza-Buch (1965/68; alle in GS 1); letzteres zeichnet autobiographisch einige Punkte von Strauss' Entwicklung
„Die kritische Konsequenz des Spinozaschen Prinzips wurde den Zeitgenossen zum ersten Mal bei der Veröffentlichung des ,Theologisch-politischen Traktates' (1670) deutlich. Die von kanonischer Autorität völlig emanzipierte ratio wurde hier gerade auf die Gebiete angewandt, von denen der bisherige Rationalismus sie fernhielt" (Irrlitz 1982: 233).
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nach. Erst im Buch von 1930 wird, der Einfluß von Heidegger und seines Programms der Destruktion philosophischer Tradition sichtbar.26 Was hier interessiert, ist nicht Strauss' Interpretation im einzelnen, sondern seine Strategie, da sie seine eigenen Ambitionen am besten erkennen läßt. Die tragende Idee des Spinoza-Buches ist folgende: Man müsse die Voraussetzung der Bibelkritik erfragen, und diese läge in der Religionskritik von Spinoza. Wenn man so vorgeht, dann liest sich auch die Bibelkritik anders, sie erscheint dann als Exempel von Spinozas Philosophie und weniger als spezifische Begründung einer Zweigdisziplin. Überhaupt behandelt Strauss Spinoza als Theoretiker, den stets primär die Sache der Philosophie interessiert und für den Religion und auch Politik gleichsam nur Anwendungsfalle seiner rationalistischen Prinzipien sind. Es verwundert daher nicht, daß Spinoza für Strauss in der Bibel-Kritik keine neuen interpretativen Methoden entwickelt und insofern keinen Schritt über Erasmus hinauskam. Im gleichen Sinne behauptet er, daß Spinozas Untersuchung der Politik auf paradoxe Weise unpolitisch bleibe, weil ihn trotz der Hinwendung zur Politik als Politik nur die Philosophie interessiere. Auf die nur partielle Ähnlichkeit dieser Behauptung zu meiner Lesart von Strauss' Theorie als einem politischen Philosophieren mit unpolitischem Kern werde ich nachfolgend noch eingehen. Wesentlich ist zunächst, allgemein zu fixieren, was Strauss in seiner Auseinandersetzung von Spinoza lernt. Er lernt von ihm, daß das politisch-theologische Problem verschiedene Aspekte hat: Es stellt erstens eine politische Frage dar, denn die Religion hat für ihn mit der politischen Ordnung zu tun. Es ist zugleich ein theologisches Problem, denn die Theologie muß sich ins Verhältnis zur Freiheit des Philosophierens überhaupt und zu seinen Ergebnissen setzen. Aber die Relation ist auch von der Seite der Philosophie her zu bedenken. Drittens ist es ein philosophisch-theoretisches und praktisches Problem. Theoretisch muß die Philosophie ihr Verhältnis zur Religion klären, d.h. die Religion begreifen sowie in ihrer Funktion verstehen. Ein solches philosophisches Verständnis der Religion unterstellt, ist es eine Frage, wie sich die Philosophie öffentlich zur Religion verhält. Strauss gibt hier seine Antwort mit Spinoza, da auch er die Philosophie und das philosophische Leben als nur für Wenige möglich ansieht, während die Menge gemäß der Religion und den Vorurteilen lebt. Strauss' und Cohens Spinoza Cohens Arbeiten zu Spinoza enthalten für Strauss neben der generellen Aufforderung, sich mit ihm auseinanderzusetzen, mehrere wichtige Punkte. 27 Zuerst ist es Cohens
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Dies betont Löwith, wenn er Strauss' Denkart 1935 wie folgt schildert: „So fremd mir das ist, bewundere ich doch die geradlinige Energie und Zähigkeit mit der Sie in allem was Sie denken und arbeiten durch ein virtuoses Verwenden von polemischen Alternativen Ihren Grundgedanken mit einer dichten und strengen Folgerichtigkeit bis an den Punkt vorantreiben, wo sich das Problem als unlösbar herausstellt und als lösbar nur durch Verwandlung der systematischen Frage in die geschichtliche Analyse, wobei Sie (wie Krüger) voraussetzen, dass man die modernen - aufklärerischen - Voraussetzungen durch historische Destruktion unwirksam machen kann - was ich nicht glaube" (Strauss/Löwith 1988: 180).
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Auffassung, für die Kritik seien das Religionsverständnis und die Rolle der Propheten zentral. In diesem Punkt folgt Strauss Cohen zunächst. Er stimmt mit ihm auch darin überein, daß es politisch im Tractatus um die liberale Trennung von Kirche, Religion und Staat geht. Beide argumentieren auf verschiedene Weise gegen diese Trennung und für eine Vermittlung. Das zeigt sich in der Verhältnisbestimmung von Theologie und Philosophie. Cohen zielt auf eine Synthese, während Strauss gegen die Trennung polemisiert und die Verschiedenheit der Disziplinen betont, die sich inhaltlich allerdings auf gemeinsame Fragen bezögen. Ein weiterer Punkt berührt den Zusammenhang von Religion und Sittengesetz, den Spinoza - so Cohen - auflöst. Dagegen habe „die jüdische Religion [...] das Gesetz Gottes immer in Identität gedacht mit dem Sittengesetz, mit dem Gesetz der menschlichen, dem göttlichen Ideal nacheifernden Heiligkeit" (Cohen 1929: 63). Hier kann Strauss Cohen weitgehend folgen. Außerdem richtet Cohen das Augenmerk auf Maimonides, gegen den Spinoza einen „blinden Haß" hege, obwohl er ihm doch das „Größte und Tiefste", nämlich Grundgedanken für seinen Pantheismus verdanke (ebd.: 51). Auch diese Anregung nahm Strauss auf, allerdings führte sie ihn zu mehrfachen Auseinandersetzungen mit Maimonides, in denen er nicht nur dessen Überlegenheit über Spinoza thematisiert, sondern sukzessive seine eigene interpretative Methodik entfaltet. Was Strauss zunächst an Cohen beeindruckt, am Text von 1924 direkt ablesbar, ist die deutliche Kritik an Spinoza, die sich gegen den Zeitgeist wendet. Aber es werden auch einige wesentliche Kritikpunkte abgelehnt, da Cohen extern und zum Teil politisch argumentiere. Strauss wendet sich in diesem Sinne gegen die biographische Erklärung, und zwar vor allem gegen die zu enge Verknüpfung Spinozas mit dem Politiker de Witt. Auch Cohens Vorwurf, daß schon im Titel des Theologisch-Politischen Traktates aus sachlichen Gründen die Philosophie vorkommen müsse, entkräftet Strauss, indem er auf die zeitgeschichtlichen Umstände und Debatten verweist, in denen politisierende Bibelkritik ebenso üblich gewesen sei wie die Problematisierung des Zusammenhanges von Politik und Theologie, bei der stets die Philosophie als dritte Größe mitgedacht worden sei. Strauss bevorzugt im Unterschied zu Cohen als ersten Schritt immer eine immanente Auslegung und bezeichnet seine Methode in dieser Schrift als historisch-kritisch, was für den späteren harschen Kritiker des Historismus durchaus bemerkenswert ist und einen beträchtlichen Wandel anzeigt. Zugleich macht er gegen Cohen ein strengeres Verständnis interpretativer Methoden geltend. Dem demokratisch gesinnten Cohen, der an Spinoza kritisierte, daß er die Philosophie zu exklusiv faßt, daß es von ihr keinen Weg zur Volksbildung gebe und Spinoza trotz seiner liberalen und prodemokratischen Einstellung letztlich für eine Aristokratie optiere, folgt Strauss in dieser Frage nicht (Cohen 1924d: 309). Er schließt positiv an die deutliche Unterscheidung von Philosophie und Theologie bei Spinoza an. Schon der junge Strauss hat einen hohen Begriff von Philosophie, aber er verlangt von dieser schon jetzt mit Spinoza, aber auch mit Maimonides, Rücksichtnahme auf den Verstand der Menge. Der emphatische Begriff der Philosophie leitet Strauss bei seiner Verwand„Spinoza über Staat und Religion, Judentum und Christentum" (zuerst 1915; Cohen 1924d) und der Vortrag „Spinozas Verhältnis zum Judentum" (Cohen 1929) sind die relevanten Texte in diesem Zusammenhang.
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lung von politischen in abstrakt-theoretische Fragen, für die kein erkennbarer Rückweg zu den politischen Fragen eingeplant ist. Insofern ist der junge Strauss, der sich auf die Suche nach der politischen Philosophie begibt, zwar politisch interessiert, aber sein theoretisches Denken fuhrt nicht zu vergleichbaren politischen Stellungnahmen, wie sie bei Cohen von dessen theoretischem Konzept her erfolgen. Als offene Aufgabe formuliert der erste Aufsatz zu Spinoza, die Notwendigkeit einer immanenten Lesart und die Kritik an Spinoza im Zusammenhang seiner Ethik und des Theologisch-Politischen Traktates zu begreifen. Es gelte zudem, das von Cohen zu Recht in den Vordergrund gestellte jüdische Interesse an der Auseinandersetzung mit Spinoza anders zu fassen. Entscheidend sei, „welche Motive des Judentums zu Spinozas Denken und Verhalten hinsichtlich des Judentums führen, seine Auseinandersetzung mit dem Judentum als eine jüdische Angelegenheit zu begreifen" (GS 1: 386). Das jüdische Interesse wird also von Strauss forciert; man hört hier die Stimme des engagierten Zionisten, der diese Frageperspektive bald erneut variieren wird. Die erste positive Spinoza-Darstellung von Strauss (1926) setzt methodisch und sachlich anders an. Gleich in der Einleitung zum Artikel heißt es nun in neuer Schärfe, Cohen habe das eigentliche Angriffsziel von Spinoza verkannt: „Nicht gegen den ,Monotheismus des Judentums', nicht gegen die .soziale Ethik der Propheten' wendet sich Spinoza, sondern gegen die Offenbarungsreligion in allen Formen. [...] So muß denn im Sinne der durch Cohen vollzogenen Radikalisierung des Fragens, die Analyse des theologisch-politischen Traktats, als einer radikalen Kritik der Offenbarungs-Religion nochmals unternommen werden." (GS 1: 390)
Auch hier bleibt die historische Argumentation erhalten: Strauss bettet Spinoza in die Tradition der Marranen ein, also jener zunächst aus Spanien und dann aus Portugal vertriebenen Juden, die sich äußerlich zum Christentum bekennen mußten, aber am jüdischen Glauben festhielten. Theoretiker, die in dieser Tradition standen, wie etwa Uriel da Costa und später auch Spinoza, seien immer häretisch gegenüber dem jüdischen Glauben eingestellt gewesen. Neu sind nun die starke Unterscheidung von Theorie und Motiv der Religionskritik und eine Typisierung von Religionskritik, die in Strauss' Buch von 1930 ausgebaut wird. Im großen und ganzen sind die Grundthesen seines späteren Buches aber hier schon vorhanden.
Die Deutungsstrategie der Spinoza-Kritik Die Rückführung der Bibel-Kritik in vorausgesetzte Religionskritik ist, wie gesagt, der Anfang der Kritik an Spinoza. Dann kann, so Strauss, das zugrundeliegende Verständnis von Religion kritisiert werden. Aber Strauss geht in seinem Buch von 1930 viel weiter als vorher, er fragt nun mit Nachdruck: „[...] ist nicht schon die Idee einer wissenschaftlichen Religions-Kritik absurd? Sind nicht Wissenschaft und Religion ihrer Intention nach so verschieden, daß sie eben deshalb einander nicht widerstreiten können?" (RS: 65) Hier spürt man den behaupteten Einfluß von Heidegger und seines existentialistischen Denkens, seiner Kritik der verselbständigten theoretischen Vernunft. Diese von einem postmetaphysischen Standpunkt formulierte Frage wendet Strauss historisch dann dahingehend, daß er behauptet, in der alten Metaphysik sehe dieses
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Verhältnis anders aus. In ihr wäre Religionskritik: möglich, da die Metaphysik selbst auf einem ihr vorausgesetzten Zweck aufruhte. Wenn dies gilt, dann kann für die Religionskritik in diesem Rahmen auch angenommen werden, daß sie einen Grund hat, der außerhalb der Theorie liegt. In diesem Sinne diskutiert Strauss die Religionskritik Epikurs als ein Grundmuster und zeigt deren Wandlung auf. Bei Epikur sei das entscheidende Motiv die Seelenruhe, die „Windstille der Seele" (vgl. RS: 126), und von hier aus werde die Furcht vor der Ungewißheit, vor dem Tod, die die Religion kompensieren will, als überwindbar und unnötig aufgefaßt. In der frühen Neuzeit erfolge eine Transformation des Motivs, denn die Religion werde nicht mehr als beunruhigend betrachtet, sondern als illusionär, und an die Stelle des Seelenfriedens trete der äußere Frieden. Schließlich verdränge der Glaube an die eigene Leistung den Glauben an die ursprüngliche Vollkommenheit. In diesem Kontext werde die Religionskritik bei Hobbes konzipiert sowie Religion und Philosophie als Gegensatz begriffen (RS: 145). Von seinem Agnostizismus zum Atheismus sei es nur ein kleiner Schritt, den Hobbes allerdings nicht gegangen sei. Die konkrete Kritik an Spinoza geht von dem paradoxen Ergebnis aus, daß die Religionskritik und die Religion von demselben Motiv getragen sein können (RS: 151). Es sind zwei Überlegungen, die Strauss nun bei der Kritik von Spinoza leiten. Zum einen fordert er, die angegriffenen Positionen stets mitzudenken, zum anderen werden die angegriffenen Positionen historisch identifiziert. In diesem Kontext nimmt Strauss die Forderung Cohens auf, Maimonides gegen Spinozas Angriffe zu verteidigen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang Spinozas prinzipielle Aussage, die Heilige Schrift lehre nichts über die Punkte, wo sie widersprüchlich sei (RS: 164). Widersprüche erklärten sich daraus, daß jeweils die Fassungskraft der Angeredeten berücksichtigt werde. Dadurch gewinne Spinoza Raum für die Philosophie. Folgt man dieser Sicht von Strauss, so setzt sich Spinoza nur auf den ersten Blick von Maimonides ab. Schon Maimonides hatte die Widersprüche in der Schrift vermittels rhetorischer Überlegungen gedeutet. Für ihn sind sie Anzeichen für eine tiefere Wahrheit, die in der Schrift stecke, aber als solche nicht ausgesprochen werden dürfe und nicht für jedermann geeignet sei. Obwohl Spinoza diesen Gedanken geradezu umkehrt und abstreitet, daß hier Hinweise auf tiefere Wahrheiten zu finden seien, eint ihn mit Maimonides die Idee, daß sich die Schrift an Adressaten unterschiedlicher Art wende und deren geistige Möglichkeiten berücksichtige. Indem Strauss den Gedanken verschiedener Adressaten mit positivem Bezug auf Maimonides aufnimmt, kann er nicht nur Spinoza kritisieren, sondern erst dadurch kommt für ihn auch das Problem der divergierenden Thematisierung und Darstellung von Ordnung für verschiedene Adressaten in den Blick. Methodisch impliziert dies eine Hinwendung zur Rhetorik, die Strauss allerdings erst später vollziehen wird (vgl. dazu Kap. 4.4.2.). Was die Kritik an der Widersprüchlichkeit der Bibel betrifft, so hält sie Strauss für „vor-philosophisch", sie ziele nur auf Ermunterung und Erweckung der Vernunft. Spinozas Verwandlung der Religion in eine innere Angelegenheit der Menschen, die denjenigen, die nicht über wahrhafte Erkenntnisse verfügen, ein Mittel für ein gelingendes Leben sein könne, gehe davon aus, daß in der Religion nicht die Vernunft walte, sondern praktische Maximen und Regeln. Für Strauss nimmt Spinoza der Religion so jeden
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transzendenten Bezug, jede höhere Bedeutung, und durch seine individualistische Lösung der Problematik auch ihre ordnungsstifitende Funktion. Dagegen wendet Strauss zwar nicht mit Cohen ein, daß die jüdische Religion eine der Vernunft sei; er behauptet jedoch, daß die vernünftige Ordnung in der jüdischen Religion, in der Auffassung des Gesetzes in einer für die Menge verständlichen Form enthalten sei. Fortgesetzt wird diese Auseinandersetzung mit dieser Religionskritik in Strauss' Verteidigung des Wunders als etwas, das praktisch geglaubt werden kann. Hier zeige sich der rationalistische Charakter der naturwissenschaftlichen und funktionalen Argumentationen von Spinoza, die nicht den Kern träfen. Wie in der Bibel-Kritik überhaupt, so historisiert Spinoza auch die Propheten als Figuren. Sie werden zu Personen, die durch ihre Vorstellungskraft „höhere" Einsichten gewinnen und verkünden können, es seien aber bloß moralische Botschaften (Spinoza 1984: 32). Im Theologisch-Politischen Traktat heißt es unter Verweis auf Moses, daß von den Propheten generell ein Zeichen als Nachweis ihrer besonderen Stellung zu fordern sei. In diesem Punkte rangiert für Spinoza die Prophetie hinter der natürlichen Erkenntnis, die kein Zeichen nötig hat, sondern ihrer Natur nach die Gewißheit in sich einschließt. Gegen diese Deutung der Propheten und der Prophetie wendet sich Strauss in zwei Hinsichten: Zum einen ist die Prophetie für ihn nicht durch mathematische und naturwissenschaftliche Gewißheiten erledigt worden, sondern er hält sie immer für möglich, da die Offenbarung für ihn nur dann sinnvoll ist, wenn man sie nicht als einen einmaligen abgeschlossenen Vorgang begreift. Daher ist zum anderen die Prophetie systematisch als Vermittlung der Wahrnehmung von Göttlichem über die Einbildungskraft zu begreifen. Die Einbildungskraft und die Nutzung von Metaphern erscheint hier nicht wie bei Spinoza als eine Schwäche und Vieldeutigkeit, sondern als komplexe Vermittlung zwischen Göttlichem, dem Bewußtsein des Propheten und den Adressaten. Strauss bringt hier gegen Spinoza die Ansichten von Maimonides ins Spiel, um mit ihm Philosophie und Offenbarungsreligion in ihrer Gegensätzlichkeit und dem gemeinsamen Bezug auf die Fragen, wie man leben soll und was die gute Ordnung ist, zu diskutieren. Ein anderer Pfad der Aufklärungs- und Rationalismuskritik von Strauss ist seine Rehabilitierung des Vorurteils, bei der man auch Einflüsse von Heidegger erkennen kann. 28 Von hermeneutischen Positionen aus begreift Strauss den Kampf der Aufklärung gegen das Vorurteil und geht von folgender Überlegung aus: „.Vorurteil' ist das eindeutige polemische Korrelat des allzu vieldeutigen Worts .Freiheit'" (RS: 229). Damit ist nicht nur die hohe Bedeutung des Vorurteils ausgewiesen, sondern der Begriff wird auch als Kampfbegriff verstanden. Von hier aus wendet sich Strauss gegen die Auffassung, daß man die Aufklärung nur weitertreiben müsse, um die Vorurteile, die sie erzeugt hat, zu überwinden. Das ist für Strauss ein zu kurz greifender Einwand, da diese Kritik im Horizont der Aufklärung bleibe. Dagegen setzt Strauss zwei Argumente. Das eine ist philosophischer Natur, er hält nämlich die generelle Perspektivität der Erkenntnis gegen den Szientismus der Aufklärung im allgemeinen und denjenigen Spinozas im besonderen fest. Man könne nicht alles Wissen am Maßstab mathematischer Erkenntnis messen, es gebe eben auch praktisches Wissen und Erfahrungen, die immer mit Vorur28
Krüger hat die Rehabilitierung des Vorurteils durch Strauss akzentuiert (vgl. 193 lb sowie 1958: 22).
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teilen verquickt seien. Zudem argumentiere die Wissenschaft selbst nicht voraussetzungslos, sondern die Voraussetzungslosigkeit - wie sie Descartes und Spinoza propagieren - wird als ein aufklärerisches Ideal, als Kehrseite des Kampfes gegen das Vorurteil begriffen. Das zweite Argument ist ähnlich gelagert und verbindet philosophische und theologische Motive. Strauss schreibt: „Weil die Aufklärung ihren Kampf gegen das Vorurteil als Kampf gegen die Bequemlichkeit und Trägheit verstand und führte, verkannte sie die Unselbstverständlichkeit ihres Kampfes. Das Recht und die Fragwürdigkeit der Kategorie ,Vorurteil' wird erst und nur dann einsichtig, wenn die Offenbarungs-Religion mitgesehen wird. Niemand leugnet, daß die offenbarungsreligiösen Traditionen manche Vorurteile im vulgären Sinne des Worts mitgeschleppt haben; aber diese unbestreitbare Tatsache ist äußerlich oder allenfalls symptomatisch. Wesentlich ist, daß die Offenbarungs-Religion sich radikalerweise auf eine Tatsache beruft, die vor allem menschlichen Urteil liegt: auf die Offenbarung Gottes, des Königs der Welt." (GS 1: 230)
Die Rehabilitation des Vorurteils erfolgt bei Strauss also mit Blick auf die Offenbarung, aber sie zielt nicht nur auf die Offenbarung, sondern Strauss will damit vielmehr die eigentliche Grundlage des Kampfes der Aufklärung mit der Religion verdeutlichen. Zugleich kritisiert er damit die in der Aufklärung angelegte fortschrittsoptimistische Geschichtsphilosophie, die auf das Zeitalter des Vorurteils jenes der Freiheit folgen läßt. Er beendet diesen Gedankengang wie folgt: „,Vorurteil' ist eine historische Kategorie." Erst wenn man dies begreife, könne man die Kluft zwischen der antiken und der modernen Philosophie verstehen. Und Strauss setzt den Gedanken fort: „Eben hierdurch unterscheidet sich der Kampf der Aufklärung gegen das Vorurteil von dem Kampf gegen den Schein und die Meinung, mit dem die Philosophie ihren weltgeschichtlichen Weg begonnen hat" (GS 1: 233). Die Kategorie Vorurteil ist für Strauss demnach nicht nur ein Produkt der szientifischen Aufklärungsphilosophie, sondern geradezu die Kehrseite der Orientierung am mathematisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnismodell. Beide Seiten spielen zusammen bei der Ablehnung der Offenbarungsreligion, die als ein vor dem „menschlichen Urteil" liegendes Faktum gefaßt wird. Es ist diese Kritik an der Aufklärung, in der die Sympathie für die antiken Philosophen und ihre Motive, die Strauss später entfaltet, schon deutlich werden. In der generellen Auseinandersetzung mit Spinoza sind beim jungen Strauss philosophische und politische Fragen verknüpft, wobei er, wie anhand der verschiedenen Texte aufgewiesen wurde, das zionistische Engagement zunehmend in fundamentalphilosophische Fragen der Aufklärungs- und Modernekritik übersetzte. Welche Art politischer Theorie er seinerzeit anstrebte und ob ihm eine systematische Vermittlung von philosophischen und politischen Fragestellungen seinerzeit gelang, läßt sich am besten anhand seiner Charakteristik der politischen Theorie von Spinoza erkennen. Der Charakter von Spinozas politischer
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Bei seiner Diskussion von Spinozas politischen Auffassungen bezieht Strauss die Ethik und den Politischen Traktat mit ein und liest von diesen beiden Schriften her den Theologisch-Politischen Traktat. Auf diese Weise versucht er, seine Behauptung vom unpolitischen Charakter der politischen Theorie Spinozas zu untermauern. In der Ethik sei die Politik nur skizzenhaft vorhanden und gehöre offenbar nicht zum Kern der Phi-
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losophie, der das Interesse von Spinoza gelte. Im Politischen Traktat, in dem die Enttäuschung Spinozas nach dem politischen Scheitern der Partei von de Witt deutlich werde, wende sich Spinoza von den Philosophen ab und wolle die Theorie der Politik aus der Praxis der Politik und dem Wissen der Staatsmänner entwickeln. Wie er der Politik in der Philosophie also einerseits nur ein marginales Dasein zugestehe, so reduziere er die politische Theorie auf das rechte Verständnis der politischen Praxis, und insofern sei seine Theorie unpolitisch. Fragt man nach Motiv und Begründung für diese Einschätzung, so wird deutlich, daß das Motiv die Notwendigkeit normativer Theorie ist, die Strauss gegen die absichtsvoll wenig normativen Annahmen von Spinoza ins Spiel bringt. Faßlich wird diese Seite in der Diskussion von Spinozas politischem Realismus. Realismus heißt für Spinoza, die Menschen so aufzufassen, wie sie sind, als von Leidenschaften und Affekten bestimmte Wesen, wobei diese Leidenschaften nur zum Teil gelenkt werden können; vielmehr werden sie häufig von ganz eigenen vorurteilsgeprägten Vorstellungswelten begleitet, die eine Selbstbestimmung nur in eingeschränkter Weise zulassen. In diesem Ausgangspunkt liegt nicht nur der Realismus begründet, sondern auch der Widerwille von Spinoza gegen Utopien und auch gegen Religion, und das ist es, was Strauss' Kritik antreibt. Zudem unterstellt Spinoza, daß Philosophen die Politik richtig auffassen können, vorausgesetzt, sie begreifen realistisch aus ihrer Praxis. Sein Eintreten für eine realistische Staats-Lehre fuhrt für Strauss zu einer „Deduktion dessen, was der menschenkundige Scharfsinn der Staatsmänner ausgedacht hat, aus den letzten Tatsachen der menschlichen Natur" (GS 1: 286), und wenig später heißt es: ,,[D]ie Staats-Lehre rechtfertigt die ihren eigenen Gesetzen folgende, von der Theorie unabhängige Politik" (ebd.). Strauss lehnt den Realismus von Spinoza aus mehreren Gründen ab. Zum einen teilt er nicht die Idee einer „nicht normativen" politischen Philosophie; solch ein Gebilde verfehlt für ihn den eigentlichen Zweck. Zum anderen argumentiert er stets gegen den Rationalismus und die geometrische Methode von Spinoza. Dessen Diktum, die Menschen und die Politik nicht anders zu analysieren als Linien, Flächen und Körper (Ethik III, Vorwort), ist für ihn ein universalisierter Szientismus, der die je konkrete Sachlogik verfehlt. Strauss unterscheidet hier nicht zwischen der Methodik und der ihr zugrundeliegenden kühl-sachlichen Einstellung, sondern er identifiziert das Interesse Spinozas an der universellen Methode mit dem an der Philosophie schlechthin. Er kann deshalb behaupten, Spinoza bekämpfe die Utopie im Interesse der Philosophie, die Philosophie habe sich durch ihre utopischen Auffassungen lächerlich gemacht (RS: 287). Das heißt für Strauss nicht nur, daß Spinoza in Fragen der Politik gegen die Philosophen, die (bisher) alle normativ argumentieren, Stellung nimmt, sondern auch, daß ihn die Philosophie mehr als die Politik interessiere. Nach Strauss vertritt Spinoza einen „unpolitischen Realismus" (RS: 287). Das gelte, obwohl er an Machiavelli anknüpft, denn „für Spinoza [...] steht fest, daß der übersteile Weg der virtus der Menge und den Politikern verschlossen ist; vor dem beim Wort genommenen ,Principe' schreckt er zurück" (RS: 2888). Strauss' Kritik an Spinozas Art von politischer Theorie wird nicht nur durch das Interesse an normativer Theorie getragen, sondern Realismus
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heißt für ihn anzuerkennen, daß normative Überzeugungen, Religion und Transzendenzerfahrungen zum Wesen des Menschen gehören. In einem Vergleich zwischen dem Naturrecht von Spinoza und Hobbes wird die These vom unpolitischen Charakter der politischen Theorie Spinozas näher begründet.29 Strauss hat eine Präferenz für Hobbes und stellt heraus, daß Spinoza weder so radikal noch so politisch wie dieser sei. Er setzt dafür bei den gegensätzlichen Ausgangspunkten an. Hobbes gehe vom Naturzustand aus und habe kein positives Interesse an ihm; seine Überwindung, der rechtlich geordnete Zustand sei das Ziel (RS: 289). Spinoza dagegen gehe vom Naturrecht aus, definiere durch das Naturrecht den Naturzustand und habe ein metaphysisches Naturrecht, während Hobbes ein positives Naturrecht vertrete. Deshalb sei Spinoza nur scheinbar realistischer als der nüchterne Hobbes (RS: 297). Diese Einschätzung trifft durchaus einen Gegensatz, aber sie verfehlt, darauf hinzuweisen, daß die andere Konstruktion des Naturrechtes bei Spinoza dazu führt, daß der Naturzustand als ein weniger geordneter Zustand der Gesellschaft immer präsent bleibt; er ist letztlich in der Affektstruktur und den auf ihr aufruhenden inneren Widersprüchen des Menschen gegeben. Indem Spinoza derart anhaltend mögliche Regressionen annimmt, kommt ein Realismus ins Spiel, den Hobbes in seiner Lehre von der via Gewaltmonopol pazifizierten Gesellschaft nur an sich unterstellt, aber nicht systematisch im einzelnen verfolgt. Spinoza gründet den Übergang in den Rechtszustand nicht auf vernünftige Einsicht, sondern auf Affekte. Er ist mit seiner Auffassung niemals ganz abtretbarer Rechte des Individuums an Institutionen und Herrscher individualistischer als Hobbes, und seine Lösung ist weniger etatistisch. Strauss verstellt sich diese Einsicht, da er auf die Religion als Ordnungsfaktor setzt und die Religionskritik akzentuiert. Spinoza kann nach Strauss aber trotz seines unpolitischen Ansatzes dennoch mit Hobbes als politischer Theoretiker konkurrieren, da er eine andere, positive Auffassung vom Volk habe. Erst durch diese Sicht, in der das Volk nach Freiheit dürstend als Akteur handelt und man es begreifen kann, als ob es einen gemeinsamen Geist hätte, bekomme sein Naturrecht einen politischen Sinn (vgl. RS: 305). Er hole so den Vorsprung, den Hobbes hatte, ein und setze darauf, daß das Volk den Frieden für sich lebt und nicht für andere. Für Spinoza ist dabei allerdings die Differenz zwischen Volk und Pöbel wesentlich. Man kann die Präferenz von Strauss für Hobbes nur dann verstehen, wenn man noch einmal auf die Rolle der Religion zurückkommt. Für Hobbes ist die Unterscheidung von Glaube und Bekenntnis wesentlich, der Staat wird bei ihm bekanntlich als eine spezifische Vereinigung weltlicher und religiöser Macht gedacht. Das einheitliche Minimalbekenntnis der Bürger („That Jesus is the Christ") soll gleichzeitig pazifizierend und integrierend wirken. Spinoza verzichte, so Strauss, in seinem Konzept auf die Religion bei der Regulierung des äußeren Zusammenhanges der Bürger und verlagere sie ganz in das Innere. Die Religion gibt für Spinoza den Unwissenden die Chance, ein gelingendes Leben zu führen - das ist für Strauss nicht nur eine Preisgabe der Transzendenz, sondern zugleich eine individualistische Lösung, die das Problem der Dauerhaftigkeit von
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In diesem Zusammenhang ist ein noch nicht ediertes Manuskript von Strauss über die Religionskritik von Hobbes zu erwähnen (vgl. Meier in GS 1: IX).
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politischer Ordnung, die nicht mit politischen Mitteln allein möglich sei, gar nicht prinzipiell stellt. Für meine Lesart von Strauss ist dessen Behauptung interessant, Spinoza sei eigentlich unpolitisch, da ich Strauss' Art der Theorie ab Mitte der 1930er Jahre als ein politisches Philosophieren mit unpolitischem Kern deute, welches sich nicht auf die Politik als Politik einläßt. Es scheint so zu sein, als wenn hier ein Vorwurf des frühen Strauss gegenüber Spinoza einfach gegen ihn selbst gerichtet wird. Nun interessiert sich der junge Strauss im Unterschied zum späteren tatsächlich für Politik als Politik, wie im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit dem Zionismus gezeigt werden konnte. Doch schon zu dieser Zeit sucht er in Auseinandersetzung mit verschiedenen Autoren eine deutlich normative theoretische Auffassung von Politik, die dann in Distanz zur Politikauffassung im engeren Sinne steht; insofern ist der junge Strauss in der Selbstperspektivierung politischer. Betrachtet man die Dinge von außen, dann ist aber zunächst nicht einzusehen, warum eine politische Theorie zwangsläufig normativ sein muß. Schon insofern muß man Strauss' Urteil über das unpolitische Konzept von Spinoza relativieren. Schwerwiegend ist auch die Vermittlungsfrage von normativer Theorie und tatsächlicher Politik, sie ist beim jungen Strauss völlig offen, während man bei Spinoza zumindest das gleiche kühle methodische Herangehen an die Philosophie und die Politik konstatieren kann. Der normativistische Bias von Strauss hat zwei Aspekte; er bedeutet zum einen, daß das eigentlich Politische jenseits der politischen Praxis zu finden sei und daß eine wahrhaft politische Theorie normativ sein müsse. Man kann den von Strauss kritisierten Realismus bei Spinoza aber auch positiv und nicht nur negativ als Preisgabe von normativen Ideen begreifen. Dann erscheint die Theorie von Spinoza als politisch und die von Strauss als weniger politisch, obwohl er das eigentlich Politische sucht und sich im Zusammenhang mit dem Zionismus in der Weimarer Zeit ausdrücklich auf Politik bezieht. Das Spinoza-Buch wendet sich generell gegen die Einebnung der Differenz von Religion und Philosophie sowie die Vereinseitigung der Philosophie auf theoretische Vernunft. Strauss kritisiert Spinozas Orientierung an absoluter, mathematischer Gewißheit (vgl. Spinoza 1984: 32). Gewißheit ist für Strauss als von existentialistischem Denken geprägtem Hermeneutiker etwas für die Religion, Philosophie dagegen sei entschiedenes Fragen; sie biete keine absoluten Gewißheiten, zumal die menschliche Vernunft nur nach dem Verständnis des Ganzen streben, es wegen ihrer beschränkten Mittel aber nicht erreichen kann. Im Zusammenhang mit der Rehabilitierung des Vorurteils wird das praktische Wissen aufgewertet, und die Diskussion des Wunders und der Propheten zielt auf die Anerkennung der Eigenständigkeit von Religion und Transzendenzerfahrungen. Strauss ist in seinem Denken nachdrücklich durch die Fragestellungen und die Radikalität der philosophisch-politischen Debatten der 1920er Jahre der Weimarer geprägt und hat diese Prägungen trotz aller inhaltlichen und methodischen Veränderungen in seinem Schaffen bewahrt. Mit seiner ersten Monographie bahnte er sich den Weg zu eigenen Problemstellungen und beginnt, politische Fragen zugunsten fundamentaler Fragen politischer Philosophie in den Hintergrund zu drängen. In diesem Zusammenhang hat er mehrfach darauf hingewiesen, daß er von einer Rezension seines Spinoza-
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WEIMARER PRÄGUNGEN
Buches durch Gerhard Krüger Anstöße für seinen weiteren Weg erhalten hat. Die entscheidende Stellen lauten: „In einer gelehrten Spezialuntersuchung verbirgt sich hier eine prinzipielle philosophische Erörterung des Problems der Aufklärung." (Krüger 1931b, Sp. 2407) [...] [...] „Seine sehr feinen und verwickelten Interpretationen verstecken das prinzipielle Problem an vielen verstreuten Stellen, anstatt es in seiner Tragweite zusammenhängend zu exponieren." (Ebd.: Sp. 2412)
Strauss nimmt diese Kritik zum Teil auf und exponiert seine Problemstellungen schon wenig später in Aufsätzen und dem Sammelband Philosophie und Gesetz viel deutlicher. Die Zurückhaltung im Spinoza-Buch schreibt er zum Teil den Produktionsbedingungen an der Akademie der Wissenschaft des Judentums zu, die bestimmte Erwartungen mit der Publikation verbunden hatte. Was Krüger die „sehr feinen und verwickelten Interpretationen" nennt, wird für alle Auslegungen und Kommentare philosophischer Texte sein Markenzeichen werden. Eine Rückkehr zum vormodernen Rationalismus, der nicht einseitig und autodestruktiv wie der moderne Rationalismus sei, hielt Strauss nach eigenem Urteil vor dem Abschluß des Spinoza-Buches noch nicht für möglich (vgl. GS 1: 54). Danach wird er sukzessive zum Ausweg aus einer universellen Krisensituation, deren Kern Strauss in der einseitig rationalistischen Aufklärung diagnostiziert.
3.
Ausformung großer theoretischer Alternativen
Die Zeit von 1930 bis 1935/36 ist die Periode im Werk von Strauss, in der er seine Problemstellungen sowie die Frage- und Interpretationsweise ausformt. Er macht sich dabei von anderen Einflüssen frei und schärft seine Überlegungen in kritischen Interpretationen und Polemiken, für die er vornehmlich große Autoren auswählt. Seine berühmte Kritik an Carl Schmitt, die am Anfang dieses Zeitraumes steht, nimmt dabei eine Sonderrolle ein, da sie eine der wenigen Arbeiten ist, in denen sich Strauss mit einem zeitgenössischen Theoretiker ausfuhrlich auseinandersetzt. Die wichtigste Arbeit dieses Zeitraumes bildet die Schrift Philosophie und Gesetz. In diesem Fall sind sich die Interpreten (vgl. Gunnell 1985, Green 1993, Meier 1997) einig, daß Strauss in diesen zwischen 1931 und 1935 verfaßten Aufsätzen eine Wendung hin zur eigenen Problemstellung vollzieht. Im Rahmen seiner intensiven Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen jüdischen (Maimonides) und der mittelalterlichen arabisch-islamischen Philosophie (den Falasifa, zu denen in der Regel al-Farabi, Avicenna, Averroes gezählt werden)30 radikalisiert er seine Aufklärungs- und Moderne-Kritik, die ihn zu der Überzeugung führt, daß man zur vorbildhaften platonischen Philosophie zurückkehren könne und müsse. Getragen wird die ganze Schrift von einem breiten und mehrdimensionalen theoretischen Rekurs auf die Idee des Gesetzes. Sie spielt bekanntlich in der jüdischen Religion, aber auch bei arabisch-islamischen Philosophen wie insbesondere bei alFarabi, eine zentrale Rolle. Abgeschlossen wird diese Schaffensperiode von Strauss durch seine Monographie zu Thomas Hobbes (PPH; 1936). Ich behandle einige Themen aus Philosophie und Gesetz vor der selbständig erschienenen Schmitt-Kritik von 1932, da sie systematisch hierher gehören und für die Darstellung einer Verbindung der Schmitt-Kritik mit den folgenden Hobbes-Studien sinnvoll ist. Der Grundtrend der Veränderung von Strauss' Denken besteht in einer Zuspitzung der Moderne-Kritik und einem neuen Verhältnis zur Antike. Diese Aspekte sind näher 30
Einen Überblick zu al-Farabi bietet Tibi (1993: 9 8 - 1 0 5 ) und zu Avicenna und Averroes Butterworth (1993: 141-173). Strauss verwendet die Bezeichnung Falasifa für diese Philosophen, Tibi nutzt den Ausdruck Falsafa. Ich nutze Strauss' Schreibweise bei Ausschluß der Betonungszeichen.
AUSFORMUNG GROBER THEORETISCHER ALTERNATIVEN
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zu betrachten, da sie grundlegend für sein gesamtes Denken sind. Drei Gestalten rücken dabei in den Vordergrund - der Philosoph, der Prophet und der Gesetzgeber - , anhand deren Strauss gleichzeitig das Problem politischer Ordnung und das Verhältnis von Philosophie und Politik diskutiert. Zudem zeigt gerade seine Diskussion des Verhältnisses dieser drei Gestalten und ihrer Rollen, wie er Motive, die er aus der Renaissance der jüdischen Kultur und dem philosophischen Radikalismus der Weimarer Zeit gewonnen hat, miteinander verschmilzt. Im Mittelpunkt des folgenden Kapitels stehen das Verständnis von Moderne und Politik sowie die in diesem Zusammenhang erfolgende Bestimmung von Philosophie und politischer Theologie. Die These lautet: Strauss setzt sich in der Zeit von 1930 bis 1935/36 auf verschiedenen Wegen mit politischer Theologie auseinander, bestimmt damit seinen Weg zur politischen Philosophie und wirft dabei das für ihn zentrale politisch-theologische Problem explizit auf.
3.1
Politisches Philosophieren versus politische Theologie
Das Denken von Strauss, insbesondere seine frühen Schriften, sind mehrfach als politische Theologie gefaßt worden (vgl. Söllner 1996a, Green 1993). Gegen diese Klassifikation hätte sich Strauss seinem Selbstverständnis gemäß gewiß gewehrt, da er sich stets gegen Vermittlungen von Philosophie und Theologie wandte und sich als Gelehrter ganz der politischen Philosophie widmete. Gemeint sind mit dieser Fremdbeschreibung in der Regel religiös-theologische Motive, die sich bei Strauss finden lassen - man denke nur an seine ausfuhrliche Diskussion der Gesetzesidee oder der Propheten. Hinzu kommen die religiösen Anstöße, die Strauss aus der „Renaissance jüdischer Kultur" aufgenommen hat. Aber schon hier gilt es zu differenzieren, denn der junge Strauss macht einen erheblichen Wandel in der religiösen Orientierung durch, in der aus dem eher orthodox orientierten Juden fiir kurze Zeit ein politischer und auch religiöser Zionist wird. Nach der Ablösung vom Zionismus im zweiten Drittel der 1920er Jahre nimmt Strauss dann zunehmend eine atheistische Position ein, die anfangs der 30er Jahre zum Vorschein kommt. 1935 entgegnet Strauss in diesem Sinne auf eine Vermutung von Löwith über seine religiöse Orientierung mit der deutlichen Aussage: „Ich bin nicht orthodoxer Jude" (Strauss/Löwith 1988: 185). Indes kann die individuelle Einstellung zur jüdischen Religion nicht als Schlüssel zur Enträtselung des Verhältnisses zur politischen Theologie genutzt werden, da die Konzeptualisierung des Verhältnisse von Philosophie und Religion auf einer theoretischen Ebene und nicht auf der Ebene individueller Einstellungen erfolgt. Zudem können zwischen beiden Ebenen Spannungen und auch Divergenzen bestehen. Wenngleich für Strauss religiöse Anstöße und Motive wichtig sind, diskutiert er sie erst seit der Neuorientierung nach dem Spinoza-Buch in der Perspektive sokratischer Philosophie. Neben vielen anderen Belegen tritt dies besonders gut in einer längeren Passage zu Cohen hervor. Über den Sokratiker heißt es: „Er will in der Frage bleiben, und zwar darum, weil es auf das Fragen ankommt', weil ein Leben, das nicht Fragen ist, kein menschenwürdiges Leben ist. [...] Das Fragen nach dem rechten
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Leben, d.h. Rechenschaftsuchen und Rechenschaftgeben jedes Einzelnen über sein Leben, ob er recht gelebt hat, d.h. sich verantworten über sein Leben. Die Frage des Sokrates zwingt zur Verantwortung; und wer sie begreift, begreift, dass ein Leben, das nicht in der Verantwortung geschieht, das nicht in beständiger Prüfung geschieht, dem Menschen nicht lebenswert ist. Sokrates gibt also eine Antwort auf die Frage nach dem rechten Leben: das Fragen nach dem rechten Leben - das allein ist das rechte Leben. [...] Das sokratische Fragen nach dem rechten Leben ist ein Zusammenfragen nach dem rechten Zusammenleben um des rechten Zusammenlebens, um des wahren Staates willen. Das Fragen des Sokrates ist wesentlich politisch." (GS 2: 41 l f „ Herv. im Original, H. B.)
Philosophie wird hier als die entscheidende und höchste Denkform begriffen, die zugleich Lebensform ist, wobei in diesem Text von 1931 Strauss Cohen offensichtlich durch die Brille von Heidegger liest, der die Priorität der Frage und die existentielle Dimension des Philosophierens stets betont hat. Die Konklusion, daß dieses Fragen politisch ist, ja mehr noch, im Kern nicht nur politisch ist, sondern erst den Weg zum Verständnis des Politischen eröffnet, da es auf das schlechthin Wesentliche gerichtet ist, bringt die Sichtweise von Strauss treffend zum Ausdruck. Sie muß freilich nicht geteilt werden, da hier auf problematische Weise die Frage individueller Lebensformen und der politischen Ordnung in existentiellem Denken, das den Strukturen wenig selbständige Bedeutung zumißt, kurzgeschlossen werden. Hinzu kommt, Strauss differenziert nicht zwischen dem Denken des Sokrates und seinen Wirkungen, sondern er begreift beide als einen Zusammenhang, als zwei Seiten politischen Philosophierens. Vor dem Hintergrund dieser offensichtlichen Präferenz für ein sokratisches politisches Philosophieren ist zu klären, wie von hier eine Verbindung zur Theologie hergestellt wird, was das theologisch-politische Problem beinhaltet, das Strauss als sein zentrales Problem bezeichnet hat. Die Lösung lautet: Die Theologie und die Philosophie bieten zwei verschiedene, prinzipielle und gegensätzliche Lösungen für die gleiche Problemstellung an, nämlich für die Frage: wie soll ich leben, die nach Strauss nur im Kontext mit dem Problem politischer Ordnung geklärt werden kann. Die Theologie bietet die autoritative Lösung, nämlich im Sinne der Offenbarungsreligion zu leben, die Philosophie hingegen präferiert das Leben in der Frage. Unter diesen Prämissen ist zu prüfen, ob und inwiefern es gerechtfertigt ist, Strauss' Denkens als politische Theologie zu deuten und in welchem Verhältnis dies zu seiner Selbstbeschreibung als politischer Philosoph steht. Der Begriff politischer
Theologie
Das Diktum von Jacob Taubes „politische Theologie ist ein umstrittenes Terrain" (1983a: 5) gilt - angesichts einer seit Mitte der 1980er Jahre üppig anschwellenden Literatur zu dieser Problematik - nach wie vor. Trotz der ausgeweiteten Kontroversen läßt sich indes ein Kern festhalten, der mit diesem Begriff gemeint ist. Historisch kann man unter politischer Theologie jene Theorien verstehen, in denen Herrschaft und Seelenheil systematisch verknüpft sind. Im Sinne eines allgemeinen Begriffes gibt es hinsichtlich der Art und Weise der Verknüpfungen jedoch erhebliche Unterschiede, die man in Anlehnung an Böckenförde (vgl. 1983: 19f.) wie folgt differenzieren kann: Erstens kann die Übertragung theologischer Begriffe in den staatlich-juristischen Bereich gemeint sein.
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AUSFORMUNG GROßER THEORETISCHER ALTERNATIVEN
Zweitens können mit politischer Theologie die aus einem Gottesglauben resultierenden Aussagen über Status, Legitimation, Aufgabe und auch Struktur der politischen Ordnung gemeint sein. Drittens läßt sich politische Theologie als jene Interpretation der (christlichen) Offenbarungsreligion verstehen, die auf das Engagement bei der Verwirklichung einer christlichen Existenz abzielt. Die juristische, institutionelle und appellative politische Theologie, wie Böckenförde die von ihm unterschiedenen Formen klassifiziert, können auch als Mischformen auftreten. 31 Folgt man dieser Sicht, dann ist politische Theologie oft ein Moment politischer Theorie, und zwar in dem Sinne, daß theologische Begriffe und Motive in ihr säkularisiert werden und daß relationale Bestimmungen zwischen den verschiedenen Ordnungsvorstellungen hergestellt werden. Mit solch einer weiten Fassung des Begriffes verliert das Konzept allerdings an Trennschärfe, denn es lassen sich auf diese Weise sehr mannigfache Säkularisate und Einflüsse ausmachen. Deshalb verwende ich nicht den weiten Begriff, der alle Varianten einschließt und Unscharfen hat. Um die Auffassung von Strauss zu charakterisieren und auch, um seinem Verständnis von politischer Theologie nahe zu kommen, beziehe ich mich vor allem auf die besonders relevante zweite Variante, d.h. auf die institutionelle politische Theologie. Man kann in eher deskriptiver Absicht mit Jan Assmann (1992: 33f.) Varianten unterscheiden, in denen der institutionelle Zusammenhang gedacht wird. So kann der Akzent auf politische Repräsentation gelegt werden, und die politische Repräsentation wird dann oft analog zur religiösen gedacht, d.h. der Herrscher wird zum irdischen Repräsentanten göttlicher Macht. Davon zu unterscheiden sind gnostische Deutungen des Verhältnisses von weltlicher und religiöser Macht, die dieses als einen strikten Dualismus begreifen. Schließlich sind Theokratien zu nennen, die eine Verquickung von weltlicher und religiöser Macht kennzeichnen. Mit diesen Differenzierungen lassen sich die verschiedenen Theorien, die Strauss diskutiert, näher fassen, und es läßt sich verdeutlichen, von welcher Art politischer Theologie Strauss sich absetzt und was er unter diesen Begriff subsumiert. Die Unterscheidungen sind zudem wichtig, da die jüdischen und arabischen Autoren, mit denen sich Strauss auseinandersetzt, nicht einfach unter das Rubrum von Theokratie passen, und zwar weder sachlich, insofern nicht durchgehend identitäre Beziehungen zwischen politischer und religiöser Herrschaft hergestellt werden, noch weil sie die Erzeugung einer politischen Ordnung als extraordinären Prozeß denken und davon die Aufwendungen für den Erhalt dieser Ordnung absetzen. In beiden Fällen wird weltliche und religiöse Macht als Ressource von Ordnung gedacht, deren Bezugspunkt eine gehaltvolle und stabile politische Ordnung ist. Der Kern bei all den erwähnten Unterscheidungen für die Bestimmung von Politik besteht darin, daß sie stets durch Rekurs auf Außerpolitisches, d.h. vorpolitische Voraussetzungen (anthropologische, moralische etc.) und überpolitische Gesichtspunkte (religiöse Ordnungs- und Transzendenzvorstellungen), entwickelt werden. Gerade letztere Beziehung hat der französische Philosoph Claude Lefort zum Ausgangspunkt einer generellen Fassung des Verhältnisses von Politik und Religion gemacht (vgl. 1999). Für ihn läßt sich das Politische (le politique) nur dann begrifflich angemessen bestimmen, wenn mit der Eingrenzung der Politik (la politique) zugleich ihre Formgebung gedacht 31
Diese Differenzierungen erlauben auch, die Fehlidentifikation von politischer Theologie und ihrer Fassung durch Carl Schmitt (der den Begriff in seiner bekannten Schrift 1922 prägte) zu umgehen.
POLITISCHES PHILOSOPHIEREN VERSUS POLITISCHE THEOLOGIE
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wird. Diese Formgebung erfolge, wenn Politik auf etwas die Politik Transzendierendes Überpolitisches bezogen wird (vgl. 1999: 35-53). Die Formgebung nennt Lefort das Politische, und in diesem Sinne spricht er von einer Permanenz des politischtheologischen Problems; auch moderne Politik könne nur mit Bezug auf etwas, das über sie hinausweise, gedacht werden. An die Stelle von Theologie und sakralisierter Macht trete dann das inhaltlich nicht fixierte Transpolitische und die Form des Politischen in der Moderne kennzeichne, daß der Ort der Macht gerade durch seinen transpolitischen Bezug leer bleibt.
3.1.1 Das politisch-theologische Problem nach Strauss Strauss ist nicht an Feindifferenzierungen von Arten politischer Theologie interessiert, was auch ein Grund für Mißverständnisse seiner Auffassungen ist. Er setzt statt dessen auf eine große und strikte Alternative, nämlich den Gegensatz von politischer Theologie und politischer Philosophie, wobei der politischen Philosophie zugeschrieben wird, beide grundsätzlichen Positionen zu den Fragen: wie soll ich leben und: was ist die richtige, die gute Ordnung zu begreifen. Gerade in diesem Sinne ist ein Satz von Avicenna für Strauss zum Schlüssel seiner Position geworden. Nach Strauss hat Avicenna einmal behauptet, daß bei Piaton die Prophetie und das göttliche Gesetz in den Nomoi enthalten seien, daß dieser das Verhältnis der Philosophie zur Offenbarungsreligion vor deren Auftreten theoretisch reflektiert habe (vgl. GS 2: 112). Diese an Avicenna anknüpfende Behauptung ist ein Leitmotiv im ganzen Werk von Strauss (vgl. AAPL: 1; Strauss/Klein 1970: 3) und eine sehr weitgehende Behauptung, die anzeigt, daß er die gesamte Problematik des Verhältnisses von Philosophie und Religion mit einer Platon-Lesart verbindet. Bei seinem Rekurs auf die Antike steht Strauss problemgeschichtlich in der Kontinuität von modernen Debatten um politische Theologie, insofern er anhand von Spinoza, Hobbes und Autoren des Mittelalters das Verhältnis von politischer Philosophie und Theologie diskutiert und deren Konzeptualisierungen dieses Verhältnis als ein mehrdimensionales politisches Problem begreift. In seiner Kritik an Carl Schmitt, in der Neuinterpretation der Gesetzesidee und in der kritischen Darstellung von Hobbes setzt sich Strauss ausdrücklich für die Sache der politischen Philosophie ein und betrachtet jede Art politischer Theologie als Gegensatz zu ihr. Er sieht in politischer Theologie vor allem ein falsches und entschärfendes Vermittlungsdenken am Wirken. Freilich wird erst ab den 1950er Jahren dieser Gegensatz explizit und in generalisierter Form als Gegensatz von „Athen" und „Jerusalem" (so ein Aufsatztitel von 1967; vgl. SPPP) gefaßt. Gemeint ist mit diesen Chiffren die für Strauss grundsätzliche Alternative zwischen einem selbstbestimmten philosophischen Leben ohne jede Autorität und einem Leben im Sinne des Offenbarungsglaubens. Diese zugespitzte antithetische Lösung enthält eine Ablehnung aller unverbindlichen ethischen Orientierungen: Entweder gelten das strenge jüdische Gesetz bzw. mit ihm vergleichbare religiöse Orientierungen, oder es wird eine philosophische Skepsis als Lebensform gewählt. Dazwischen liegen für Strauss nur Vermittlungspositionen, die nicht in der Lage sind, die letzten Konsequenzen zu denken. Daß Strauss dieses Denken von
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A U S F O R M U N G GROBER THEORETISCHER ALTERNATIVEN
Alternativen und Problemen schon in der Schmitt-Kritik und später immer deutlicher von einem Denken der Extreme abzuheben versucht, ist ein auffälliger Distanzierungsprozeß, der mit einer Unterstellung von Normalität arbeitet, die erst in den Büchern über das Naturrecht und Machiavelli klar wird. Neben den sachlichen Gründen für den Distanzierungsprozeß wird mit ihm zugleich angezeigt, wie eng seine Position dennoch mit Schmitts und Heideggers existentiellem Denken verknüpft ist. Philosophie als Lebensform ist Strauss' Formel für die Sublimierung und Transformation dieser Einflüsse. Lebensform meint hier in einem strengen Sinne Lebensführung, also die Unterwerfung des gesamten Lebens unter bestimmte Maximen. Strauss wendet sich also sowohl gegen Vermittlungskonzepte von Religion und Politik als auch gegen vereinfachte Säkularisationskonzepte (vgl. 6.3.1.). Insofern steht er in Distanz zu politischer Theologie. Komplizierter sieht es bei der Frage aus, inwieweit theologische Motive in seine Theorie eingeflossen sind, wieweit sein Denken auf theologische Fragestellungen reagiert. In beiden Fällen bleibt zu fragen, was das konkret heißt. Es ist eine eigenwillige Mischung aus instrumenteller und substantieller Fassung von Religion in ihrer Bedeutung für politische Ordnung, die Strauss zum Tragen bringt. So betont er häufig ihre Bedeutung für die Menge, und zwar als Orientierung und als Integrationsmedium, aber er setzt sich zugleich von Autoren ab, die dies offen akzentuieren. Das geschieht dadurch, daß Strauss Religion nicht nur funktional betrachtet, sondern ihr auch substantielle und eigenständige Bedeutung einräumt, die nicht durch funktionale, philosophische Betrachtung zerstört werden dürfe. Philosophie wird hier als politische Philosophie gefaßt, weil sie zum einen immer politische Wirkungen hat, die reflexiv einzuholen sind. In diesem Sinne müsse sie vor dem Forum der Offenbarung gerechtfertigt werden, d.h. die Philosophie habe sich im Interesse ihres Erhaltes auf sich zu beschränken und müsse ihre potentiell subversiven Wirkungen bedenken, z.B. die Zersetzung von religiösen Orientierungen. Erst wenn sie beides realisiert, könne sie sich behaupten. Zum anderen ist das Problem des richtigen Lebens an sich von politischer Bedeutung und eine substantielle Problematik der Philosophie, die sie in unbedingtem Fragen erörtert, und durch die philosophische Radikalität, mit der sie gedacht werden muß, ist Philosophie gegenüber allen konkreten und vorfindlichen Lebensformen und politischen Ordnungen politisch subversiv. Beide Bestimmungen werden bei Strauss eng miteinander verquickt. Wichtig ist dabei, daß Strauss in Philosophie und Gesetz die definitive Hinwendung zu politischer Philosophie vollzieht, wobei er tendenziell eine atheistische Position bezieht, und zwar in seiner Auseinandersetzung mit jüdischen und arabischen Autoren des Mittelalters. Ich kennzeichne Strauss' Position als im Prinzip atheistisch, weil er sich für die Philosophie engagiert, die im engeren Sinn keinen Platz für die Gottesfrage hat. Hier zeigt sich der Einfluß von Nietzsche, und es ist nicht verwunderlich, daß Strauss mit Blick auf Max Weber und andere Autoren zutreffend von einem Atheismus aus Redlichkeit spricht (vgl. PG: 25). Damit ist aber nicht gesagt, daß Strauss sich nicht für das Fragen nach Gott und andere religiöse Themen interessiert, wogegen schon die Bezugnahmen auf Rudolf Otto und Karl Barths Römerbrief in den späten 1920er Jahren sprechen. Die säkulare Bewegung des Zionismus hat nach Strauss folgende Problematik für die Juden aufgeworfen:
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„Die gegenwärtige Lage, scheint ausweglos zu sein für den Juden, der nicht orthodox sein kann und der die auf dem Boden des Atheismus allein mögliche Lösung des ,Judenproblems', den vorbehaltlos politischen Zionismus, für eine höchst ehrenhafte, aber auf die Dauer und im Ernste nicht genügende Auskunft halten muß. Diese Lage scheint nicht bloß ausweglos zu sein, sondern sie ist es wirklich, solange an den modernen Voraussetzungen festgehalten wird. [...] so sieht man sich zu der Frage genötigt, ob denn die Aufklärung notwendig moderne Aufklärung sein muß." (PG: 26)
Auf die dilemmatische Situation, daß weder die Orthodoxie noch eine atheistische Position für eine Lösung des „Judenproblems" ausreichen, antwortet die Schrift Philosophie und Gesetz, in der Strauss zeigt, daß mit Rekurs auf die mittelalterliche Aufklärung das Problem der Aufklärung neu gestellt werden kann. Er ist deshalb dafür, in diesem Zusammenhang die theologische Position erneut und ernsthaft zu prüfen, aber als Philosoph spricht er vor allem über die Funktion, die die Religion für die Menge und die Bewahrung der Ordnung hat. Damit markiert er, wie fern ihm genuin theologische Fragen liegen. Diese Roilenzuschreibung schließt für Strauss ein, daß man die Religion als Rationalitätsform eigener Art ernst nehmen müsse, und zwar bis zur Anerkennung von Wundern und Prophetie. Das ist eine Argumentation, die im Prinzip ohne theologische Prämissen auskommt; Gershom Scholem, hat nachdrücklich auf den atheistischen An32
satz, den Strauss 1935 vertritt, hingewiesen. Im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit Maimonides und den arabischen Autoren stößt Strauss auf das Mehrfachkodierungsproblem von Texten, ohne zur späteren Unterscheidung einer esoterischen Tiefenbedeutung und exoterischer Präsentation von Texten vorzudringen. Wenngleich die entsprechenden Termini schon gelegentlich verwendet werden, so haben sie noch nicht ihre spätere weitreichende Bedeutung, die erst 1937 ausgeprägt wird. Dennoch sind sie für Strauss schon relevant, um die beiden Dimensionen politischen Philosophierens, die an sich philosophische, zugleich politische Frage nach dem richtigen Leben und die Rechtfertigung der Philosophie vor dem Forum der Offenbarung oder weiter gefaßt vor der Öffentlichkeit, im Sinne des „mittelalterlichen Rationalismus" miteinander zu verbinden.
32
Scholem schreibt 1935 an Benjamin über Strauss' Philosophie und Gesetz: „In diesen Tagen erscheint bei Schocken zum Maimonidesjubiläum ein Buch von Leo Strauß [...], das - [...] - mit einem ausführlich (wenn auch völlig irrsinnnig) begründeten unverstellten Bekenntnis zum Atheismus als der wichtigsten jüdischen Leistung beginnt! Das läßt sogar jene ersten 40 Seiten Deiner Habilitationsschrift hinter sich! Ich bewundere diese Moral und bedauere den offenbar bewußt und gewollt provozierten Selbstmord eines so guten Kopfes." (Scholem 1980: 192f.).
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3.2
AUSFORMUNG GROßER THEORETISCHER ALTERNATIVEN
Moderne-Kritik und Antike-Rekurs in „Philosophie und Gesetz"
Der 1935 in Deutschland erschienene Aufsatzband Philosophie und Gesetz gilt zu Recht als die wichtigste Arbeit des jungen Strauss. Hier radikalisiert er seine Aufklärungs- und Moderne-Kritik im Rahmen einer Auseinandersetzung mit der mittelalterlich-arabischen Philosophie und nimmt nun an, daß man den Autoren den Rückweg zur vorbildhaften platonischen Philosophie bahnen könne. Mit dem erneuten Aufrollen der Debatte der Antiken und Modernen wendet sich Strauss einer prinzipiellen Fragestellung zu, die nicht nur die „tiefsten Schichten" der Philosophie berührt, sondern auch als Gegensatz „alle Debatten um das philosophische Selbstverständnis durchzieht, seit es überhaupt das Epochenbewußtsein der Moderne gibt" (Bubner 1992: 14). Wie schon der Titel anzeigt, unternimmt Strauss einen Rekurs auf die Idee des Gesetzes, da gerade sie für das Judentum zentral sei. Er geht dabei in zwei Schritten vor: Zuerst wird die gesetzliche Begründung der Philosophie diskutiert, also das Gebot zu philosophieren und die Freiheit der Philosophie. In der Argumentation spielen anthropologische Gründe und Annahmen über die Bedeutung und Wirkung von Philosophie eine zentrale Rolle. Aus diesen Überlegungen erwächst der Gedanke der Verantwortung des Philosophen, die politischen Wirkungen seines Tuns zu bedenken. Sodann wird die philosophische Begründung des Gesetzes als der genuine Beitrag des Philosophen zum Denken des politischen Gemeinwesens als ganzem erörtert. Den Ausgangspunkt bildet dabei die Annahme, daß die Religion eine unverzichtbare Stabilitätsressource ist. Zudem thematisiere sie wie die Philosophie das Ganze und berühre auf qualitativ andere Art und Weise die Frage der Lebensführung. Gerade deshalb ist die Religion für Strauss der Philosophie nahe, wenn sie auch eine andere Perspektive einnimmt. Im Zusammenspiel der beiden Fragestellungen werden Perspektiven verschränkt und zugleich wird jeweils auf zwei Ebenen argumentiert, nämlich zum einen auf der theoretischen Ebene und zum anderen auf der praktisch-politischer Wirkung. Ohne diese Unterscheidung wäre die Trennung der beiden Frageperspektiven gar nicht sinnvoll. Dem Ganzen werden zwei Kapitel vorgeordnet, in denen Strauss zum ersten Mal seine Aufklärungs- und Moderne-Kritik allgemeiner entfaltet. Ein besonders interessanter Umstand ist dabei, daß die älteren jüdischen und arabischen Konzepte und ihre Verbindung mit der jeweiligen Religion die Philosophie ausschließen, d.h. hier gibt es eigentlich keine Konkurrenz zwischen der Philosophie und der Religion in Fragen der Lebensführung und ihrer Propagierung. Beide Religionen gestatten aber, so Strauss, das eigentliche Philosophieren doch als ein privates Geschäft. Die Bedingung dafür ist allerdings, daß die Philosophie ihr eigenes Anliegen öffentlich behutsam vorbringt und sich um ihren Erhalt und weniger um die Ausnahmesituation politischer Gestaltung kümmert, zu der Philosophen durchaus geeignet seien. Die in Philosophie und Gesetz neue, generelle Moderne-Kritik entfaltet Strauss letztlich im Lichte des Satzes von Avicenna, wonach Piaton in den Nomoi die Politik in
M O D E R N E - K R I T I K UND A N T I K E - R E K U R S IN „PHILOSOPHIE UND G E S E T Z "
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bezug auf Prophetie und Gesetz entwickelt hätte (PG: 112ff..) 33 . Dabei wird die Rückkehr zur klassischen antiken Philosophie als möglich angesehen, und die leitende Perspektive des Rekurses ist die Wiederaufnahme der Frage: Wie soll ich leben? (GS 2: 379), die direkt mit Fragen der Struktur der politischen Ordnung verknüpft wird.
3.2.1 Kritik an der modernen Aufklärung Das Ziel von Strauss besteht in den ersten beiden Kapiteln von Philosophie und Gesetz zunächst darin, die Aufklärung an dem zu messen, was sie gewollt, und nicht an dem, was sie vollstreckt hat. Zwischen beidem kann es erhebliche Differenzen geben, welche nicht per se dem Ziel der Aufklärung anzulasten seien (GS 2: 395). Strauss' Aufgabenstellung eines immanenten Verständnisses der Aufklärung erwächst aus dem hermeneutischen Programm, einen Autor generell so zu verstehen, wie er sich selbst verstand. Diese Maxime leitete schon die Studie zu Spinoza, und sie ist kritisch gegen die Hermeneutik des Historismus im Sinne von Dilthey gerichtet, die darauf abzielt, einen Autor besser zu verstehen, als er sich selbst verstand. Strauss geht schon früh tiefenhermeneutisch vor und nutzt die aus der Bibel-Auslegung stammende Allegorese (ebd.: 400), d.h. die Differenzierung eines äußeren und eines inneren Sinnes von Texten. Sie wird bei der Deutung der Aufklärer und bei den von ihm kritisierten Autoren der Tradition eingesetzt. Hier radikalisiert Strauss schon diese Unterscheidung zwischen dem, was exoterisch für die Menge gedacht ist, und dem, was esoterisch ist, also dem verborgenen und verdeckten philosophischen Sinn (vgl. PG: 89f.). Es handelt sich aber noch nicht um die später ausgefeilte hermeneutische Methodik, vielmehr diskutiert Strauss anhand von mittelalterlichen Aufklärungsphilosophen das Verhältnis von Philosophie und Religion, wobei erstere nicht für die Menge gedacht ist, sondern nur letztere. Die Unterscheidung von Philosophie als esoterischem Wissen darüber, wie man leben soll, und Religion als einem exoterischen Wissen richtet sich gegen den Egalitarismus und die generelle Exoterik der modernen Aufklärung (vgl. GS 2: 246). Entscheidend ist, daß mit dieser groben Unterscheidung eine Verbindung von Philosophie und Religion möglich ist, und zwar ohne Synthetisierung der Gegensätze. Der dominierende Gesichtspunkt von Strauss' Aufklärungskritik ist, daß der moderne Rationalismus die Religion nicht verstanden, sondern mißverstanden habe und im Sinne eines szientifischen Wissenschaftsideals die höchsten Ziele, nämlich empirische Realitäten transzendierende Ordnungsvorstellungen, preisgegeben habe. Dagegen will er zeigen, daß der ältere Rationalismus ein viel tieferes Verständnis der Religion und ihrer Bedeutung für die politische Ordnung hatte, und zwar gerade deshalb, weil er Ordnung nicht rationalistisch bzw. legalistisch verkürzt begriff, sondern den Glauben als eine nichtrationale Wissensform, Leidenschaften und auch das Irrationale berück33
Zur Problematik, ob diese Aussage sich auf Piatons Nomoi oder einen pseudo-platonischen Text bezieht vgl. Tamer 2001: 5 8 - 8 6 . Wenn es, wie Tamer mit guten Gründen zeigt, ein pseudoplatonischer Text ist, dann kann Strauss seinen Anspruch, einen Theoretiker so zu verstehen, wie er sich selbst verstand, was dieses Schlüsselzitat betrifft, nicht einlösen. Ich klammere diese Frage aus und deute die Passage nur im Hinblick auf Strauss' eigene Position und Entwicklung.
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AUSFORMUNG GROBER THEORETISCHER ALTERNATIVEN
sichtigt habe. Gerade wegen dieser Einsicht beharre die ältere Theorie auf der starken Unterscheidung zwischen den wenigen, die zur Philosophie geeignet sind, und den vielen, der Menge, die keine exzeptionellen Begabungen hat. Zu den Ausnahmefiguren gehören außer dem Philosophen auch der Gesetzgeber und vor allem Propheten. Maimonides ist für Strauss nur auf bestimmte Weise Aufklärer, nämlich insofern er religiöse Aufklärung im Mittelalter betreibt, der es um die Freiheit des Philosophierens geht. Im Unterschied zu den modernen Aufklärern kam es ihren mittelalterlichen Vorläufern aber „nicht darauf an, Licht zu verbreiten, die Menge zu vernünftiger Einsicht zu erziehen, aufzuklären; im Gegenteil, sie schärfen immer wieder den Philosophen die Pflicht ein, die vernünftig erkannte Wahrheit vor der unberufenen Menge geheimzuhalten; der esoterische Charakter der Philosophie stand für sie - im Gegensatz zur eigentlichen, d.h. zur modernen Aufklärung - unbedingt fest" (PG: 88f.). Die ältere Aufklärung unterscheidet demnach deutlich zwei Adressatenkreise, während die moderne Aufklärung dies wegen ihrer Gleichheitsideen nicht mehr tut und daher „grundsätzlich exoterisch" (PG: 89) sei. Damit verfehle sie aber die eigene Verantwortung und täusche sich über ihre Wirkungsbedingungen. In seiner Aufklärungskritik diskutiert Strauss dann grundsätzlich das Verhältnis von Offenbarung, Offenbarungsreligion und Philosophie. Die Offenbarung richte sich an alle, die Philosophie sei nur wenigen möglich beziehungsweise nur für wenige geeignet. Von dieser im Rekurs auf die mittelalterlichen Denker gewonnen Einsicht, die den Adressatenbezug verstärkt und über ihn die philosophische und die theologische Thematisierungsweise der Frage nach dem richtigen Leben unterscheidet, werden letztlich alle Folgerungen abgeleitet. Die Relationierung von Philosophie und Theologie arbeitet offen mit anthropologischen Annahmen, die bei der Bestimmung des Prophetentums von Strauss zum Teil expliziert werden und bei der Diskussion dieser Problematik näher beleuchtet werden sollen. Grundzüge der Moderne-Kritik
bei Strauss
Die fulminante These im Einleitungskapitel von Philosophie und Gesetz lautet: Die Modernen wähnen sich der Antike überlegen, aber ihr faktischer Sieg über die Alten bedeutet nicht, daß sie überlegen sind, sondern nur, daß sie siegreich waren. Mit welchen Mitteln und auf welche Weise der Sieg errungen wurde, ist für den Denker, der diese Debatte erneut aufrollen will, ebenso eine Fragerichtung wie jene, welches die Themen dieser Debatte waren. Dabei geht es nicht nur darum, den mittelalterlichen Rationalismus von Maimonides mit dem modernen zu vergleichen, um zu zeigen, „welcher der beiden gegensätzlichen Rationalismen der wahre ist", und um einen Vergleichsmaßstab zu haben (PG: 9), sondern dies ist zugleich eine Form genereller Moderne-Kritik. Nach dem Spinoza-Buch und dem Bewußtwerden, daß es um eine prinzipielle Aufklärungs-Kritik geht, fordert Strauss, bevor man sich auf Modernes und Ultra-Modernes einlasse (HPW: 8), sei erst einmal die Stärke der Position der Alten zu prüfen, und wirft die Frage auf, ob die Modernen zu Recht in der Debatte gewonnen haben, schärfer formuliert: ob sie überhaupt gewannen oder ob sie sich nicht vielmehr einfach durchgesetzt haben. Im Horizont dieser Fragen sind verschiedene Momente zu unterscheiden; zu-
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nächst einmal die klassischen Fragen, an denen sich die Debatte entzündete, nämlich die Frage der Vorbildhaftigkeit der antiken Kunst und Wissenschaft. Dahinter verbergen sich für Strauss aber viel weitergehende Probleme - es geht in seinen Augen um die Frage, welche Rolle das Problem politischer Ordnung spielt, das sich alternativ denken läßt, nämlich ganzheitlich als eine alle gesellschaftlichen Bereiche umfassende Fragestellung, oder als ein modernes, individualistisches Konzept, das eben vom Individuum und seinen subjektiven Rechten her denkt und Politik nur als eine Sphäre von Gesellschaft behandelt. Wenn man sich für die erste Seite der Alternative entscheidet, dann spielen Religion, Sozialstruktur, Lebensführung und vieles andere mehr eine Rolle, wenn man sich für die zweite Seite der Alternative entscheidet, dann wird ein erheblicher Teil von Fragen ausgeklammert und es wird weniger normativ gefragt. Hinzu kommt, daß in dem einen Ansatz die Ordnung selbst Ausgangs- und Endpunkt der Überlegungen ist, während im anderen Falle individualistisch vorgegangen und Politik als eine besondere, primär rechtlich verfaßte Sphäre begriffen und damit im Strausschen Sinne verfehlt wird. Auch methodologisch kommen hier Gegensätze zum Tragen: Die moderne Philosophie orientiert sich nach Strauss am Ideal der mathematischen Naturwissenschaften und gibt den Anspruch, eine Wissenschaft und Rationalitätsform eigener Art zu sein, mindestens teilweise preis. Sie kann deshalb nicht mehr wie die klassische, antike Philosophie nach der besten Ordnung und dem besten Leben im qualitativen Sinne fragen. Genau hier wird Strauss' negative, dekadenztheoretische Diagnose der Moderne sichtbar, deren Schlagworte Maßstabsverlust und falscher, einseitiger Rationalismus in genereller Hinsicht und Relativismus, liberales Laisser-faire und Subjektivismus in eher politischer Hinsicht sind. Bevor ich nun einzelne Punkte dieser Diagnose vertiefe, seien zum Verständnis von Strauss' radikaler Moderne-Kritik noch einmal geistesgeschichtliche Voraussetzungen knapp erinnert. Entscheidend sind in diesem Zusammenhang Nietzsche und die Nietzsche-Rezeption seit den 1920er Jahren. Nietzsche hatte allerdings, was betont werden muß, keinen Begriff von Moderne, sondern arbeitete mannigfach mit dem Attribut modern. Dabei ist einesteils wichtig, daß es sich hier um eine Vokabel handelt, die nicht nur zur kritischen Bezeichnung der Kultur verwandt wird; vielmehr wird genereller auf den modernen Menschen als Typus abgehoben - er sei ein unentschiedenes, zerrissenes, ratloses und unruhiges Wesen. Von diesem Ansatz her kritisiert Nietzsche dann auch den modernen Geist, den modernen Sozialismus und generell die Modernität. Damit ist jedoch kein klarer Epochenbegriff gemeint, da Nietzsche als Kontrastfolie zum verzärtelten und verzwergten modernen Menschen ein heroischer Menschentypus dient, den er sowohl in der römischen Antike als auch der vorsokratisehen griechischen Antike und eben auch der Renaissance verortet. Modernität und modern bezeichnen keine Strukturen, sondern sie sind normative Vokabeln, die dem selbstgewissen Zeitgenossen, der sich am Fortschritt erfreut und sich allen anderen Zeiten überlegen wähnt, seine Dekadenz vorrechnet. Nietzsche ist aber kein fundamentalistischer Moderne-Kritiker, der einfach zu den von ihm ausgezeichneten Vorbildern zurück will. Sein Ziel führt über die alten Vorbilder hinaus; auch die Griechen, Römer und Renaissance-Menschen seien zu überwinden und erst Selbstzucht, Selbstbildung könnten zu einem neuen Menschentyp führen; einem Menschentyp, der jenseits des theoretischen Menschen, den Sokrates und
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Piaton verkörpern, und jenseits des fatalen Einflusses des Christentums liegt. Es ist diese fundamentale und generelle Moderne-Kritik, in die seine Abrechnung mit dem Liberalismus und Parlamentarismus eingelassen ist. Der prinzipielle Zugriff verhindert dabei einiges an Konkretheit, er schließt treffende Kritiken aber nicht aus. Wichtiger in diesem Zusammenhang ist, daß Nietzsche trotz aller Distanz an der Idee großer Politik festhält. Auch wenn er sie zum Teil nur mit seinem Namen verbindet, ist die Umwertung der Werte als kreativistischer Akt gedacht. Mehr noch, die Annahme solcher kreativen Umwälzungen konfundiert die harte kulturkritische Zeitdiagnostik, und gerade diese Verbindung war es, die in der Weimarer Zeit auf fruchtbaren Boden fiel. Für Strauss ist Nietzsche die Vollendung der Aufklärung, er hat die Pfeiler eingerissen, auf denen die „europäische Welt" gebaut ist, nämlich die Tradition und die Nächstenliebe. Damit hat Nietzsche die Aufklärung im Sinne eines dialektischen Umschlages vollendet, nämlich ihre letzten Konsequenzen gedacht, ihre Mittel gegen sie selbst gekehrt und so ein anderes Denken ermöglicht. Strauss akzentuiert diesen Gedanken von seinem Anfang der 1930er Jahre neugewonnenem Standpunkt wie folgt: „Unsere Freiheit ist die Freiheit der radikalen Unwissenheit. Die geistige Lage der Gegenwart ist dadurch charakterisiert, dass wir nicht mehr wissen, das wir nichts wissen" (GS 2: 447). Aus dieser Überlegung folgt dann positiv die Notwendigkeit der Erneuerung somatischen Philosophierens ab, nämlich radikales Fragen, das in ein Wissen des NichtWissens mündet. In diesem größeren Kontext entfaltet Strauss seine Moderne-Kritik und fragt nach der Ordnung der Ordnung, sucht nach einem letzten qualitativen Maß. In seinem allgemeinen Zugang werden dabei Fragen nach dem Maß und anthropologische Annahmen verquickt. Zur Moderne-Kritik werden also ältere Denkmuster genutzt und es wird an klassische Fragestellungen angeknüpft, wie der nach dem guten Leben und der besten politischen Ordnung. Der Rekurs erfolgt allerdings auf eine noch zu beschreibende dekontextualisierende Weise, aus der sich auch sein kritisches Potential speist. Betrachtet man die Thematisierung des Problems politischer Ordnung in Philosophie und Gesetz näher, so ist es sinnvoll, analytisch zwischen der Struktur und Gründung sowie dem Erhalt der besten Ordnung zu unterscheiden. Die Struktur der Ordnung selbst wird durch Strauss nicht näher thematisiert, sondern eher mit Verweisen auf al-Farabi und Piaton bedacht. Größere Aufmerksamkeit erfährt, wie die Gründung und der Erhalt der besten Ordnung gedacht werden können. Für Strauss ist es klar, daß dies außerordentlicher Leistungen bedarf und daß eine einmal geschaffene Ordnung nur dann von Bestand sein kann, wenn sie auf bestimmte Weise unantastbar ist. In diesem Zusammenhang diskutiert er die Leistungen und Bedeutung der Sozialfiguren des Philosophen, Propheten und Gesetzgebers. Der Rekurs auf Figuren mit außeralltäglicher Wirkkraft dient dazu, Quellen politischer Ordnung zu identifizieren, die eine bestimmte Qualität und Stabilität sichern können. Zugleich läßt sich an der Diskussion des Verhältnisses der genannten Sozialfiguren Strauss' Position zur Frage politische Theologie oder politische Philosophie genauer ablesen; wenn es bei Strauss eine politische Theologie mit institutionellen Komponenten geben sollte, dann kann sie nur hier zu finden sein.
MODERNE-KRITIK UND ANTIKE-REKURS IN „PHILOSOPHIE UND G E S E T Z "
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3.2.2 Philosophen, Propheten und Gesetzgeber Gegen die sich selbst überhebende moderne Aufklärung, die ihre Grenzen nicht kenne, fuhrt Strauss zweierlei ältere Debatten ins Feld, nämlich zum einen jene um Suffizienz bzw. Insuffizienz der Vernunft und zum anderen die Debatte um die Bindung der Philosophie durch Offenbarung, um die Rechtfertigung der Philosophie vor ihr. Wird die Vernunft als suffizient begriffen, dann bezieht man ein erkenntnisoptimistische Position, in der Wissenschaft und Philosophie eine privilegierte Rolle haben. Hält man sie erkenntnisskeptisch für insuffizient, dann kann die Philosophie der Religion gleichgestellt oder untergeordnet werden. Beide Fragestellungen sind eng verbunden. Zuerst werden Auffassungen von Averroes präsentiert, der sich für die Bindung der Philosophie an die Idee des Gesetzes, die Sharia ausspricht. Nach Strauss ist an der ausfuhrlichen Diskussion des Problems durch Averroes das in diesem Rahmen erfolgende klare Eintreten für die Freiheit der Philosophie wichtig. Zudem zeigt Strauss, wie hier innerhalb der Verhältnisbestimmung von Philosophie und Religion hermeneutische Fragen aufgeworfen werden, die mit der Thematisierung der Differenz zwischen den Adressaten der Religion und der Philosophie durch Averroes verbunden sind. Die Philosophie müsse die überragende Bedeutung der Religion respektieren und gleichzeitig vorsichtig vorgehen, damit das theoretische Denken keine Desorientierung bei der nicht für die Philosophie geeigneten Menge auslöse. Von Maimonides stellt Strauss die verstreuten Äußerungen zusammen und zeigt, daß auch dieser gemäßigte Aufklärer für die Bindung der Philosophie eintritt, und zwar, damit sie ihre eigenen potentiellen Wirkungen auf die Menge reflektiert. 34 Überhaupt würden sich alle Arbeiten von Maimonides jeweils an bestimmte Adressatenkreise richten. Schon dadurch sei er Averroes überlegen. Zudem halte Maimondes daran fest, daß die Metaphysik eine besondere Wissenschaft sei, die nicht nach den Standards der anderen Wissenschaften betrieben werden kann. Sie sei wegen der Bedeutung ihres Gegenstandes und der Unmöglichkeit, das Weltganze konsistent zu erfassen, nicht im strikt systematischen Sinne möglich. Möglich seien in der Metaphysik nur gelegentliche Blikke und Ausblicke auf das Ganze, aber nicht seine umfassende theoretisch-systematische Darstellung. Strauss hat schon in seiner ersten Deutung von Maimonides, einem für ihn zentralen Autor, aus diesen Überlegungen Konsequenzen für seine Art des Schreibens philosophischer Texte gezogen. Die philosophische Wahrheit scheint in den Texten nur gelegentlich auf und kann nicht unmittelbar dargestellt werden. Auch Maimonides hält die Notwendigkeit der Rechtfertigung der Philosophie vor der Offenbarung fest und teilt die scharfe Differenzierung der Adressatenkreise. Für ihn gibt es jedoch weit mehr Gründe als bei Averroes, weshalb die Philosophie verdeckt in schriftlichen Arbeiten zu präsentieren ist; innertheoretisch hat er ja eine systematische Darstellung des Ganzen ausgeschlossen, und was die Wirkungsdimension angeht, ist die Philosophie durch mögliche subversive Auswirkungen ihres Denkens auf die Menge gezwungen, die Ergebnisse ihrer Wahrheitssuche zusätzlich zu verdecken. Die Philosophie muß demnach, 34
Einen von Strauss' Lesarten geprägten Überblick zu den Schriften von Maimonides bietet Lerner 2000.
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allgemein formuliert, ihre potentiellen Auswirkungen bedenken und sich in decouvrierter Form in der Öffentlichkeit vor dem Forum der Offenbarung als nicht subversiv und legitim darstellen (PG: 68). Genau dann kann sie in doppeltem Sinne als politisch bezeichnet werden: Sie ist politisch, insofern sie die beste Ordnung eruiert, und sie ist politisch, da sie sich selbst politisch verhält. Levi ben Gerson geht, wie Strauss zu diesem mittelalterlichen jüdischen Philosophen festhält, im Vergleich zu Maimonides radikal vor und scheint die Philosophie an Naturwissenschaften orientiert zu fassen. So hält er den menschlichen Verstand allgemein für suffizient zur Erkenntnis. Bei der Darstellung seiner Positionen sieht es zunächst so aus, als ob er ein moderner Aufklärer avant la lettre sei, aber Strauss hält nach der Exposition der Prämissen fest: Ihn trennt von den modernen sein Festhalten an der Metaphysik und der qualitative Naturbegriff. Nachdem er diese Traditionslinie aufgemacht hat, votiert Strauss ohne Angabe näherer Gründe für Maimonides. Er sei ein gemäßigter, aber kein vermittelnder Aufklärer, da er radikal denke, jedoch aus systematischen Gründen die Ergebnisse vorsichtig und politisch verantwortlich präsentiere. Die offene Radikalität von Levi sieht Strauss letztlich als problematisch an, da er wie die späteren Aufklärer der Menge zu viel zumute. Der entscheidende Grund, der nach Strauss für Maimonides spricht, ist jedoch nicht dessen Komplexität und Vorsicht, sondern die Fixierung von Philosophie und Metaphysik als Denken, das an eigenen und nicht an den Standards der Naturwissenschaft gemessen wird. Daraus wird die weitgehende Folgerung gezogen: „In der Insuffizienz des Menschen zur Erkenntnis Gottes ist die der Metaphysik eigentümliche Weise der Mitteilung, die esoterische Mitteilung begründet" (PG: 82). Die Freiheit der Philosophie ist für Strauss also keine negative und absolute, sondern sie entsteht durch Bindung und ist etwas Positives. Freiheit und Bindung werden hier gleichsam in einer Variante von positivem Freiheitsbegriff, indem Freiheit immer als Ermöglichung bestimmten Tuns gefaßt ist, zusammen gedacht. Die polemische Spitze ist gegen eine absolute Souveränität der Philosophie und deren in der Moderne von Strauss diagnostizierte schrankenlose Selbstermächtigung gerichtet. In diesem Sinne formuliert er: „Ihre Freiheit beruht auf ihrer Bindung. Die Philosophie ist nicht souverän. Der Anfang der Philosophie ist nicht der Anfang schlechthin; den Primat hat das Gesetz" (PG: 74). Die entscheidende Gemeinsamkeit und Differenz zwischen Philosophie und Gesetz besteht nach Strauss darin, daß ihr Zweck identisch ist (PG: 76). Die Rationalitätsform und die Adressaten sind verschieden. Strauss subsumiert die Philosophie unter das Gesetz, den Philosophen unter den Propheten, um viel Spielraum für sie zu gewinnen und zu wahren. Erst aufgrund dieser Prämissen hält er radikales Fragen für möglich. Die Identität von Prophet und Philosoph ist ein Sonder- und Ausnahmefall und wird von Strauss auch so gefaßt. Interessant ist dabei der jeweils vorherrschende kreativistische Zug, der den Propheten, den Philosophen, vor allem aber den Gesetzgeber betrifft. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, daß der Zionismus, d.h. die Idee und die Schaffung eines eigenen jüdischen Staates, letztlich den politischen Hintergrund für diesen Kreativismus abgibt. Für das zentrale Problem politischer Ordnung ist relevant, daß aus der Diskussion des Verhältnisses von Philosophen und Propheten der Gesetzgeber als dritte Figur entwik-
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kelt wird, dem gegenüber der Staatsmann, der regiert, nur eine abgeleitete Figur ist. Die Suprematie des Propheten wird wie folgt gedacht: Der Prophet sieht, wie Strauss betont, mehr als der Philosoph, dessen Bezugsfeld auf die sublunare Welt beschränkt sei. Wegen der Wahrnehmung des Außerordentlichen kommt es bei den Propheten aber auch zu einer bestimmten Verwirrung, die sich zum einen auf die Wahrnehmung bezieht. Zum anderen ist sie für die Mitteilung des Wahrgenommen bedeutsam, denn für die wirksame Mitteilung spielt die Einbildungskraft eine zentrale Rolle. Sie ist für die Anschaulichkeit wesentlich, für die häufig bildliche Darstellungen gewählt werden. Hinzu kommt, daß die Vorhersagen über die Zukunft, und darum geht es in Prophetien vor allem, per se schwierig sind. Für die Glaubwürdigkeit von Propheten, aber auch der Religion sind gerade deshalb Wunder wichtig. Strauss weist hier gleichzeitig auf die funktionale Bedeutung hin und auf die prinzipielle Möglichkeit von Wundern. Freilich beschränkt er sie auf das Wirken von Propheten, man kann hier wiederum erkennen, wie ernst Strauss die Offenbarungsreligion als Religion faßt, er hält nichts von einer kulturalistischen Deutung der Wunder, die diesen nur veranschaulichende Bedeutung zuweist. Man könnte mit Rekurs auf seine Spinoza-Deutung sagen, wenn Wunder nicht mehr als Wunder geglaubt werden, dann ist die Offenbarungsreligion also solche schon ausgehöhlt worden. So wichtig die Einbildungskraft auch ist, Strauss sieht mit Maimonides ihren Spielraum als begrenzt an. Dafür wird Moses als der Prophet schlechthin ins Feld geführt. Er habe nicht nur einen viel häufigeren, sondern auch einen direkteren Zugang zur göttlichen Wahrheit gehabt, man denke nur an die Auditionen, die die Basis für die Gesetzestafeln bildeten. Mit der Betonung dieser Sonderrolle gelingt auch die Verknüpfung von Prophet und Gesetzgebung, die ja bei weitem nicht für alle Propheten des Alten Testamentes typisch ist. Strauss entwickelt sie in zwei Schritten, indem er die praktische und theoretische Seite des Propheten, seine Rollen als Lehrer und Leiter diskutiert. Erst danach wird dann das im engeren Sinne politisch-praktische Vermögen differenziert, nämlich als Vermögen zur Gesetzgebung und dasjenige, Lehrer in politischen Angelegenheiten zu sein. Hier kommt mit Averroes ein Theoretiker ins Blickfeld, der seinerzeit die Identitäts-Behauptung von Philosoph und Prophet vertrat und dabei übrigens betonte, daß religiöse Führung nicht mit der Gabe der Prophetie identisch sei. Als genuin politische Fragen sieht Strauss die der Erzeugung und Bewahrung einer politischen Ordnung an, die er für bedeutsamer hält als eine Untersuchung der politischen Prozesse. Seine philosophische Perspektive ist dabei durch zwei Koordinaten gekennzeichnet, nämlich durch die Bewahrung der klassisch-antiken Frageweise nach der besten politischen Ordnung und ihrer Möglichkeit und zum anderen durch das Problem, wie diese Ordnung, die wie alle politischen Ordnungen etwas Gemachtes ist, bewahrt werden kann, wodurch zumindest Teile von ihr unverfügbar werden. Daher interessiert ihn die Gründung und Bewahrung der Ordnung, die Rolle von Propheten und Gesetzgebern viel mehr als die des regierenden Staatsmannes. Alle drei Figuren werden jedoch auch als Lehrer und Erzieher einer politischen Gemeinschaft, eines Volkes gedacht, und es ist gerade die Idee der Paideia, die bei Strauss weit mehr Raum einnimmt als institutionelle Arrangements und religiöse Ideen.
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Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang, wie Strauss am Ende des Kapitels zur philosophischen Begründung des Gesetzes die Bedeutung von Piaton nachweist. Er wendet sich damit gegen die verbreitete und auch von Cohen vertretene Auffassung, Maimonides sei Aristoteliker. Da Strauss Maimonides zu einer Art Leitfigur seines Philosophierens macht, z.B. in methodischen Fragen, ist es interessant zu sehen, wie er die Umdeutung bewerkstelligt. Entscheidend ist hier die Behauptung, Maimonides folge einer alten Tradition, die er als solche nicht thematisiere (vgl. PG: 88). Aus dieser Prämisse leitet Strauss die Notwendigkeit ab, die Prophetologie von Avicenna und alFarabi zu rekonstruieren. Insbesondere für al-Farabi kann er inhaltlich zeigen, daß dieser sich deutlich an Piatons Nomoi orientiert hat, zumal seinerzeit keine arabische Übersetzung der aristotelischen Politik vorlag. Diese Einsichten nutzt Strauss anschließend, um Maimonides ein platonisches Erbe zu zuschreiben. Er behauptet nämlich, der mittelalterliche Aufklärer stünde mit gewissen Modifikationen in dieser Tradition. Zum einen gelte: „Der Piatonismus dieser Philosophen ist mit ihrer Situation gegeben: mit ihrem faktischen stehen unter dem Gesetz" (ebd.: 123). Diese Behauptung wird dann wie folgt ergänzt: „Weil für Maimuni und die Faläsifa das Gesetz gegeben ist, darum ist es nicht das führende und erste Thema ihres Philosophierens. Daher nehmen die metaphysischen Themen in ihren Schriften einen so sehr viel breiteren Raum ein als die moralisch-politischen." (Ebd.)
Das ist ein problematisches Argument, denn es hebt auf die Bedeutung von Nichtthematisiertem ab. Die geringen Ausfuhrungen zu moralisch-politischen Fragen könnten auch andere Gründe haben, wie etwa eine Abwendung von bestimmten moralphilosophischen Fragen, da man sie nicht für besonders relevant hält. Der Bezug auf Piaton und Aristoteles könnte ja auch den Charakter von Autoritätsverweisen haben, durch den man sich von bestimmten Fragen entlasten und den eigentlich für wichtig gehaltenen Fragen zuwenden kann. Diese Erwägung soll nur verdeutlichen, wie spekulativ Argumente über Auslassungen oder gar ein vermutetes Beschweigen von Themen sind. Wenngleich Strauss hier noch nicht explizit einen esoterischen Gehalt des Philosophierens dieser Autoren annimmt, wie er es später macht und in seiner speziellen Hermeneutik entfaltet, so ist hier erkennbar, daß er tiefenhermeneutisch argumentiert. Die enorme Bedeutung Piatons, auf die die ganze Argumentation hinausläuft, kann nur in Form eine indirekten Beweises erbracht werden. Gerade dies läßt deutlich hervortreten, daß der junge Strauss seine Platon-Lesart durch die Brille der Falasifa und von Maimonides entfaltet. Im Blick ist dabei stets die Philosophie; die Religion wird primär funktional gedacht, als Mittel bei der Gründung und Stabilisierung politischer Ordnung. Strauss orientiert sich in Philosophie und Gesetz definitiv in Richtung politischer Philosophie, wobei er im Rekurs auf mittelalterliche Autoren wie Maimonides, aber auch al-Farabi und Avicenna einen Schlüssel findet, um Platon/Sokrates als Klassiker schlechthin wieder zu erschließen. Den Rahmen für dieses Unternehmen bildet das politisch-theologische Problem, dabei bleiben jedoch die genaueren Konturen dessen unklar, was Strauss unter Politik beziehungsweise dem Politischen versteht. Deshalb diskutiere ich im folgenden die Debatte zwischen Strauss und Schmitt, da in ihr die theoretischen Konsequenzen für das Verständnis von Politik gezogen werden und auch der Bezug auf die Moderne Thema ist.
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Es lohnt sich, Strauss' Deutung der Propheten abschließend mit der von Michael Walzer zu kontrastieren, der den Propheten als Gesellschaftskritiker liest, der im Namen einer Gemeinschaft agiert (vgl. Walzer 1988). Strauss setzt demgegenüber auf eine strikte Trennung zwischen Philosophen und Intellektuellen, er wendet sich mit seiner Liberalismus-Kritik sowohl von der Menge ab, die nur ein eingeschränktes intellektuelles Vermögen hat, als auch von den Intellektuellen, die für Strauss nichts weiter als moderne Sophisten sind. Er rekurriert auf den Philosophen und die Propheten als Figuren, deren Wirken starke, autoritative Geltung in Anspruch nimmt. Walzer dagegen macht aus dem Philosophen und dem Propheten einen Intellektuellen, der auf dem Pfad der Interpretation wandelt und Kritik im Namen einer Gemeinschaft übt und nicht einer un- und außerpersönlichen, anonymen Wahrheit, wie es Strauss nennt. Walzer setzt in seiner kommunitaristischen Kritik am Liberalismus auf einen Ausbau der Demokratie und mißt dabei der Öffentlichkeit eine positive Rolle zu, das heißt, er kennt keinen Bruch zwischen dem Philosophen und dem Common Man; nur in der Öffentlichkeit könne sich Philosophie als kritische Theorie behaupten (vgl. Bluhm 1993). Was bedeutet nun die von Strauss mit Rekurs auf mittelalterliche Autoren entwickelte Unterordnung des Philosophen unter den Propheten politisch und für die Philosophie? Sie impliziert zuerst einmal eine starke Anerkennung der Offenbarungsreligion, und zwar mit der Konsequenz einer andauernden Möglichkeit der Prophetie und von Wundern. Alles andere ist für Strauss eine Verwässerung und läuft letztlich auf ungenügendes Ernstnehmen der Religion hinaus. Die Religion soll für sich anerkannt, begriffen und verstanden werden. Trotz dieser Emphase bei der Rehabilitierung der Bedeutung der Offenbarungsreligion liegt nicht die Religion im primären Interesse von Strauss, auch nicht die Politik, sondern die Philosophie. Ihre Sicherung und Bewahrung setzt voraus, daß sie sich auf kluge Weise mit der Religion, den Propheten und deren außerordentlichen Möglichkeiten ins Benehmen setzt, und die Relationierung ist ein politischer Akt. Es verwundert daher auch nicht, wenn Strauss in Anspielung auf Piatons Höhlengleichnis deutlich macht, daß die Philosophen in die Höhle zurück müssen. Als Grund gibt er zwar an, daß dies wegen der Realisierung der Idee des Guten erforderlich sei; viel mehr bestehe diese Notwendigkeit aber noch, weil die Philosophie als Philosophie erhalten werden soll. Dazu muß ihr Verhältnis zur Menge und zur Religion „entspannt" werden und dazu muß die Möglichkeit der Rekrutierung von Nachwuchs gegeben sein. Strauss diskutiert die Konzepte von al-Farabi und Maimonides im Hinblick auf ewige Probleme, d.h. er bezieht sie kaum auf historisch-politische Kontexte; so werden, was z.B. al-Farabi betrifft, kaum die Formen islamischer Herrschaft reflektiert, denen er reell gegenüberstand. Es verwundert auch nicht, daß die besondere Rolle von Mohammed als Prophet nicht einmal erwähnt wird. Was Strauss interessiert, ist eine typologische Beziehung, die er durch Textinterpretation und das Herausstellen bestimmter geistesgeschichtlicher Beziehungen vollzieht. Historische Umstände werden dabei vernachlässigt und die dargestellten Positionen als Antworten auf dekontextualisierte Problemstellungen präsentiert. Es wäre übertrieben und hieße den jungen Strauss vom späten her zu lesen, würde man die zuletzt genannten, die antihistoristischen und auf die Sache der Philosophie
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fokussierten Motive zu den entscheidenden Motiven machen; dazu ist der politische Anspruch, den man vor dem Hintergrund des Zionismus verstehen muß, beim jungen Strauss noch viel zu groß. Der junge Strauss ist im Unterschied zum späteren politisch viel direkter engagiert und denkt seine philosophischen Problemstellungen mit deutlichem Rekurs auf die zionistische Bewegung. Nicht zuletzt deshalb kehrt er ja auch die Verbindung des Philosophen zum Gesetzgeber heraus. Man verbleibt jedoch an der Oberfläche seiner Argumentation, wenn man nicht sieht, mit welcher Schärfe und Konsequenz Philosophie und Religion unterschieden werden und damit früh eine deutliche Distanz zum Zionismus aufgemacht wird. Deshalb sei Strauss' Kritik an den Vermittlungsversuchen von Philosophie und Religion gesondert und resümierend skizziert, weil hier die Sonderstellung der Philosophie erst richtig hervortritt. Kritik der
Vermittlungen
Zu den Besonderheiten von Strauss' Philosophieren gehört das Setzen auf strikte Alternativen. In dieser Antithetik schlägt sich nicht nur eine bestimmte Radikalität des theoretischen Fragens nieder, sondern es handelt sich - wie bereits gezeigt - um einen im Deutschland der Zwischenkriegszeit verbreiteten Denkgestus, der auch seine politischen Konsequenzen hat. Akademisch richtet sich dieses Denken gegen die Tradition des in Deutschland seit Kant und Hegel verbreiteten Vermittlungsdenkens, das den mannigfachen Systembauten letztlich zugrunde liegt. In diesem Sinne macht Strauss in seiner Kritik der Systemphilosophie eine große Diskrepanz zwischen der Religion und der Philosophie auf und hält deren Antworten für miteinander nicht vermittelbar. Damit steht er schon dem Ansatz nach politischer Theologie im engeren Verständnis fern. Philosophie und Theologie sind für Strauss Gegensätze und eine ewige Alternative. Um diesen Gegensatz herauszustellen, rekurriert er auf das ursprüngliche Verständnis von Philosophie und Religion/Theologie, die beide ihr volles Recht als eigenständige Bewußtseinsformen haben sollen. Die Offenbarungsreligion - gemeint sind damit in erster Linie immer die mosaische Religion und auch der Islam, die durch den Primat des Gesetzes (jüdisches Gesetz, Sharia) verbunden sind - wird dabei als ganze mit dem Wunderglauben und allen anderen Phänomenen ernst genommen. Indem Strauss den Gegensatz zwischen Philosophie und Theologie derart exponiert und dekontextualisierend in eine ewige und andauernde Problemstellung verwandelt, kann und muß er gegen Säkularisierungstheoreme polemisieren, wie sie Weber, Löwith und viele andere vertraten. Sie alle würden Religion nur verwässert auffassen und damit auch Ausgangspunkte für eine falsche Amalgamierung beziehungsweise Vermittlung von Philosophie und Theologie zu politischer Theologie setzen. Demgegenüber bezeichnet Strauss die ihn interessierende Frage treffend als das theologisch-politische Problem. Die Ablehnung politischer Theologie geht mit einer spezifischen Affirmierung der Offenbarungsreligion einher, auf deren Antwort die Frage nach dem richtigen Leben betreffend Strauss sein politisches Philosophieren bezieht. Er bringt konträre Ansätze auf kontraintuitive Weise zusammen, wobei er den Gegensatz zwischen Philosophie und Religion festhält und beide nur durch eine bestimmte Radikalität des Fragens bzw., was die Religion betrifft, durch eine radikale Antwort miteinander verbinden kann. Als Verbindung fungiert die
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Frage nach dem einen, das nottut, und es ist diese Art des Fragens, die diesem Philosophieren seinen fundamentalistischen Gestus verleiht. Aus diesen Überlegungen heraus, und wenn man sich zudem an den engeren, auf die institutionellen Verbindungen von religiöser und politischer Ordnung zielenden Begriff politischer Theologie hält, läßt sich das Denken von Strauss nicht als politische Theologie begreifen. Dennoch gibt es zweifellos theologisch-religiöse Motive bei ihm. Für Strauss erwächst das theologisch-politische Problem aus Fragen der jüdischen Identität. Früh war ihm klar, daß die Assimilation ein verfehlter Weg war, da die Identität verbürgende Religion verwässert bzw. preisgegeben wurde. Aber auch der politische Zionismus, der primär machtpolitisch denkt, ist für ihn keine Lösung, denn auch hier werden die hohen Forderungen der jüdischen Religion aufgegeben. Strauss transformiert die politische Frage in eine allgemein philosophische, nämlich jene nach einem prinzipiellen normativen Horizont politischen Denkens, einem universellen Maßstab, er fragt nach dem Rahmen, in dem politische Ordnung als solche gedacht werden kann. Politisch zu fragen hieße dagegen, mindestens die konkrete politische Ordnung zu analysieren und den universellen Maßstab auf konkrete Situationen zurückzubeziehen und nicht auf der Metaebene zu verweilen. Strauss' Denken ist durch den Gestus eines Stellens letzter Fragen und der Suche nach letzten Ursachen gekennzeichnet, die allerdings auf der Ebene ewiger Fragen verharrt. Der Nachdruck, mit dem er nach dem einen, das not tut, fragt, ist in erster Linie radikalem Fragen verpflichtet und nicht autoritativen theologischen Überzeugungen, und es macht wenig Sinn, die von Heinrich Meier immer wieder zu Recht akzentuierte Orientierung auf politische Philosophie in eine an politischer Theologie zu verwandeln. Was also ist in diesem Zusammenhang unter dem politisch-theologischen Problem zu verstehen? Ich greife noch einmal auf Lefort (1999) zurück, um die Gemeinsamkeit und Differenz zu Strauss zu verdeutlichen. Für beide Autoren geht es um die Formgebung des Politischen und damit zugleich um seine Eingrenzung gegenüber möglicher Maßlosigkeit, wobei die Eingrenzung prinzipiell gemeint ist und nicht nur auf eine ethische Einhegung von Politik abzielt. Wiewohl für Strauss, was besonders in seiner SchmittKritik deutlich wird, das Politische auch umfassend gedacht wird, nämlich als politische Ordnung, die soziale, kulturelle und moralische Seiten hat, ist die Einhegung des Politischen das Ziel. Strauss wendet sich gegen eine Totalisierung der Politik, deren Ursprünge er in der sich grenzenlos selbst ermächtigenden Aufklärung sieht. Die für Lefort mit Bezug auf die Permanenz des politisch-theologischen Problems, so der Titel eines Aufsatzes, grundlegende Unterscheidung zwischen dem Politischen, das in der Moderne den Platz des Theologischen, als einer quasi-transzendenten Bezugsgröße einnimmt, und der Politik (vgl. 1999: 35-53) kennt Strauss nicht. Er verbaut sich durch diese defizitäre Sicht, wie im Abschnitt zu seiner Auseinandersetzung mit Schmitts Begriff des Politischen gezeigt wird, den Zugang zu einer Verbindung zwischen der philosophischen und einer sozialwissenschaftlich informierten Auffassung von Politik. Dennoch gibt es in dieser Frage, was Strauss und Lefort betrifft, ein verdecktes gemeinsames Problembewußtsein. Lefort begreift im Unterschied zu Strauss den theologisch-religiösen Raum als symbolischen Raum, der durch Säkularisierung in der Moderne entleert wurde und in
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dem sich die Demokratie auf sich selbst bezieht und so einen leeren Raum der Macht schafft (1999: 49-53). Für Strauss bleibt der theologische Raum als Bezugsraum inhaltlich gefüllt, und er ist nicht an der Analyse der modernen Demokratie und ihrer politischen Formgebung interessiert, sondern aus der Perspektive der klassischen politischen Philosophie primär an der Kritik des liberalen Modells. Diese markanten Unterschiede haben zwei Aspekte: Zum einen hat es von der Philosophie aus den Anschein, als wenn Strauss nur auf das Problem der Ordnung als eine offene, somatische Frage zielt und sie zur Antwort der Theologie in Bezug setzt. Er zeichnet ja die antiken Philosophen und den Typus ihres Konzeptualisierens der besten Ordnung nicht nur methodisch, sondern auch inhaltlich aus. Hinzu kommt auf der anderen Seite, daß er die Religion substantiell begreift, nämlich allgemein als ein Leben nach der Offenbarung oder enger im Sinne des jüdischen Gesetzes. Stellt man dies in Rechnung, so kann man - allerdings nur der Anlage nach - das von Lefort exponierte Problem bei Strauss in eingegrenzter und nur auf das Ordnungsdenken der antike und mittelalterliche Philosophie bezogenen Form erkennen. Religion wird als Medium zur Begrenzung von Politik, gegen die in ihr inhärente Maßlosigkeit behauptet, ohne auf die moderne Problematik säkular-liberaler Ordnungen einzugehen.
3.3
Die Kritik an Schmitts Begriff des Politischen
Wenn es einen Aufsatz von Leo Strauss gibt, der auch in Debatten der deutschen Politikwissenschaft Aufmerksamkeit gefunden hat, dann ist es seine Auseinandersetzung mit Carl Schmitt. 35 Die Anmerkungen zu Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen (Strauss 1932a), im gleichen Jahr wie die zweite Fassung der rezensierten Schrift erschienen, sind ein eindrucksvoller Text. Strauss geht dem inneren Gedankengang von Schmitts konzeptuellen Text nach, bettet ihn in das Werk des Autors ein und weist auf Widersprüche hin. Am wichtigsten sind jene Passagen der Anmerkungen, in denen Strauss Schmitt in seiner Liberalismus- und Moderne-Kritik überbieten will, und es ist dieser politisch und theoretisch gleichermaßen relevante Gesichtspunkt, der mich vor allem interessiert, und weniger der nach der Rezension einsetzende „Dialog unter Abwesenden", den Meier instruktiv untersucht hat (1988). Die Anmerkungen sind in mehrfacher Hinsicht ein Schlüsseltext. Strauss geht - nicht zuletzt durch Schmitt herausgefordert - über die im Spinoza-Buch entwickelte Moderne-Kritik hinaus, er öffnet vorsichtig den Horizont einer möglichen Rückkehr zur klassischen politischen Philosophie und, was besonders wichtig ist, er setzt sich in später nie wieder realisierter Offenheit damit auseinander, was unter Politik zu verstehen ist. Wenn man Strauss' Position verstehen will, muß man sein Verhältnis zu Schmitt bestimmen. Im großen und ganzen gibt es drei Deutungen des Verhältnisses:
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Die Anmerkungen wurden vor allem durch ihre Veröffentlichung als Anhang zu seinem HobbesBuch bekannt (HPW: 161-181).
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Strauss radikalisiert das Konzept Schmitts und dessen Liberalismus-Kritik, aber er wendet sie nicht politisch, sondern dreht nach der Zuspitzung der politischen Problematik ins Feld der Ideen- und Theoriegeschichte ab (McCormick 1994, Söllner 1996a).
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Strauss radikalisiert das Konzept von Schmitt und übernimmt dessen Freund-FeindUnterscheidung (Drury 1988). In dieser Sicht wird nur ein schwacher Unterschied zwischen beiden Theoretikern zugestanden.
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Schließlich gibt es die Deutung großer Nähe beider Autoren in der Moderne-Kritik, aber grundsätzlicher Distanz in der Lösungsrichtung. In diesem Sinne hat Meier den Gegensatz zwischen dem politischen Theologen Schmitt und dem politischen Philosophen Strauss herausgestellt (1988).
Vor dem Hintergrund der angedeuteten divergierenden Lesarten des Verhältnisses von Strauss und Schmitt diskutiere ich folgende Fragen: Was ist mit Radikalisierung gemeint? Wie groß ist der Unterschied in der akademisch-disziplinären Orientierung bei Schmitt und Strauss, und welche Konsequenzen hat er für ihr jeweiliges Verständnis des Politischen bzw. von Politik? Schließlich interessiert, inwieweit es bei Strauss ein Schmittsches Freund-Feind-Denken gibt. Radikalisierungen Die Grundzüge der Schmittschen Liberalismuskritik sind bekannt: Er argumentiert gegen das Differenzierungstheorem, nach dem Politik bloß ein ausdifferenzierter Bereich wie etwa die Wirtschaft sei, oder, modern gesprochen, ein Teilsystem neben anderen, das nur ein „eigenes Sachgebiet" bildet. Schmitt stellt dem einen ganzheitlichen Begriff des Politischen entgegen. Dieser Begriff hat unterschiedliche Seiten, er hat eine formale Seite, die darauf hinausläuft, daß alle Fragen, wenn sie in intensive Konfliktbeziehungen gebracht werden, politisch werden können. Den Kern des Konzepts des Politischen bildet die Behauptung, daß intensive politische Konflikte unausweichlich an öffentliche Freund-Feind-Beziehungen geknüpft sind. Schmitts Begriff ist offen, weil er Politik nicht auf bestimmte Bereiche einschränkt, und er geht über die Fixierung auf den Staat hinaus. Sein Begriff ist aber auch auf eine spezifische Weise ganzheitlich und emphatisch. Mit ganzheitlich ist gemeint, daß Politik nicht nur alle Bereiche betrifft bzw. betreffen kann, sondern auch den Menschen als ganzes, seine existentielle Verfaßtheit tangiert. Hinzu kommt der beträchtliche dezisionistische Zug: Schmitt setzt auf die Entscheidung und sieht hinter einer ernsthaften politischen Entscheidung immer eine moralische Entscheidung. So wie alle politischen Fragen mit Freund-Feind-Beziehungen verknüpft werden, seien alle politischen Begriffe im Kern polemisch. Den Sinn jedes politischen Begriffs kann man demnach nur erschließen, wenn man die Negation, die in der positiven Behauptung steckt, mitdenkt. Mit seinem Verständnis von Politik wendet sich Schmitt scharf gegen den schwachen „liberalen Nachtwächterstaat", gegen das Bürgertum als bloß „diskutierende Klasse" und das Parlament als zur Dezision unfähigen „Disputierclub" - um einige der von ihm genutzten pejorativen Vokabeln aufzunehmen. Getragen ist die Kritik an der Moderne
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von der Diagnose eines Zeitalters der Neutralisierung, das durch die antipolitische Politik des Liberalismus eingeleitet wurde. In dieser Ära wird Politik, so Schmitt, durch Technik, Ökonomie und einen scheinbar neutralen Staat ersetzt. Aber nicht das Politische ist verschwunden, sondern das Verständnis von Politik ist substantiell reduziert. Deutliche Anzeichen dafür seien, daß Politik im Rahmen von wirtschaftlichen und technischen Rationalitätsvorstellungen betrieben wird, daß sie als eine Art Großbetrieb erscheint, in dem technische Sachzwänge dominieren. Die ganze Diagnose ruht zudem auf einem „anthropologischen Glaubensbekenntnis" von der Gefährlichkeit des Menschen, ohne die Politik nicht zu denken sei. Mit katholischem Hintergrund erklärt Schmitt die Preisgabe des Gedankens der Erbsünde zum Verfallsdatum des eigentlichen politischen Denkens. Strauss radikalisiert die Argumentation von Schmitt schon in seiner immanenten Kritik, denn er spitzt dessen Gedankengänge zu und verdeutlicht deren Voraussetzungen. Er akzeptiert von vornherein das von Schmitt zum Faktum erklärte Scheitern des Liberalismus. Insgesamt konzentriert er sich in der Kritik vor allem auf methodischbegriffliche Probleme und spart sachliche, politische Fragen, wie etwa Schmitts Kritik am Parlamentarismus oder seine Bestimmung des Verhältnisses von Deliberation und Dezision, weitgehend aus. Konturen gewinnt seine immanente Kritik besonders in drei Fällen, nämlich zunächst gegenüber Schmitts holistischem Herangehen. Hier deutet Strauss bereits an, daß man den Ordnungsbegriff positiv füllen müßte, wenn man einen weiten Begriff des Politischen fruchtbar machen will. In der kritischen Darstellung von anthropologischen Prämissen macht Strauss dann verschiedene Fassungen bei Schmitt aus und fordert mehr Eindeutigkeit und Klarheit. Schließlich besteht er auf einer strikten Realisierung der Konsequenzen der polemischen Situation, aus der Schmitt eingestandenermaßen argumentiert. Im zuletzt genannten Sinne werden in den Anmerkungen Konsequenzen aus dem Begriff des Politischen gezogen und gezeigt, daß Schmitt, seiner eigenen Methodik zufolge, nach der alle politischen Begriffe polemischer Natur sind, polemisch an den Horizont des Liberalismus gebunden bleibt. Wenn Schmitt also der Negation des Politischen, wie sie der Liberalismus vornahm, die Position des Politischen entgegenstelle, dann ist er noch im Gegensatz gefangen. Strauss versucht dagegen den anderen Pfad, den „Rückgang auf den Ursprung" (1932a: 749), einzuschlagen, aber dieser Weg wird erst später als Rückgang auf die klassische politische Philosophie deutlich. Der noch verdeckte und vorsichtige Rekurs hat zwei Aspekte, nämlich zum einen den Versuch, auf normatives Ordnungsdenken ä la Piaton zurückzugehen, und zum anderen den Normalfall statt die Ausnahme zu denken. Radikalisierung von Schmitts Konzept heißt zunächst, so kann man die bisherigen Überlegungen knapp zusammenfassen, die Prämissen und die Methode schärfer zu fassen und in diesem Sinne die Liberalismus-Kritik zuzuspitzen; ihre „Vollendung" setzt ein Hinausgehen über Schmitt voraus. Strauss' Radikalisierung von Schmitt ist vor allem theoretischer Art, er vollzieht in ihr eine Distanzierung von jeglicher konkreten Politik und er steht der Idee unmittelbarer theoretischer Intervention in die Praxis fern, die viele Theoretiker der Weimarer Zeit verfolgten.
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Divergenzen Der Kern der Divergenzen zwischen Schmitt und Strauss besteht nach Meier nicht darin, daß ersterer, trotz seiner Kritik an ihm, in erheblichen Ausmaß Hobbesianer und letzterer ein „Anti-Hobbes" ist, sondern Meier erschließt ihn über die Art der Konzeptualisierung. Schmitt behandele das Politische politisch, d.h. ihn in interessiere nur das Kriterium der Differenz. Im Sinne der klassischen Definitionslehre konzentriere er sich auf das artspezifische Merkmal unter Vernachlässigung der Gattungsbestimmung. Er kennzeichne mit der Freund-Feind-Beziehung die Differenz zu anderen Bereichen doppelt. So werde in der Moral nach Gut und Böse oder in der Ästhetik nach Schön und Häßlich auch nach Gegensätzen bewertet, aber es handele sich jeweils um einen abgrenzbaren Bereich. Das Kriterium des Politischen, die FreundFeind-Beziehung dagegen, sei allgemein und inhaltlich nicht näher bestimmt. Strauss hingegen nehme diese Überlegungen zwar auf, aber er interessiere sich für die Gattungscharakteristik, d.h. er ziele philosophisch auf das Wesen des Politischen, seinen „Genus" (Meier 1988: 12). Wenn man diese Sichtweise überprüfen will, ist es sinnvoll, zunächst die Differenz zwischen dem Begriff von Politik und dem metatheoretischen Begriff des Politischen festzuhalten. Der Begriff des Politischen, den man durch Substantivierung von politisch als Eigenschaft gewinnen kann, hat einen anderen Status als der Begriff Politik. Politik kann als eine deskriptive Kategorie begriffen werden, die in der Moderne auf die Erfassung dessen zielt, was Weber den Machtkampf in bezug auf den Staat, den legitimen Inhaber des Gewaltmonopols, beschrieben hat. Der Begriff des Politischen, wie Schmitt ihn bildet, intendiert etwas anderes, er will ihn nicht nur vom Staat ablösen, wie der berühmte erste Satz der Fassung von 1932 zeigt („Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus." - 1963: 20), er will ihm auch eine ausgreifendere historische Dimension geben, die letztlich auf eine Einbeziehung der Vormoderne abzielt und auf moderne Zeiten, in der der Staat nicht mehr die einstige Zentralität hat. Die Ausweitung erfolgt durch eine existentiell-anthropologische Bestimmung, nämlich die Freund-Feind-Beziehung. Nur so könne man das Politische als ernsthafte Auseinandersetzung denken. Der größte Vorzug dieses Herangehens ist, daß es im Prinzip nicht auf einen substantiellen Politikbegriff zurückgreift, sondern die Politisierung aller möglichen Probleme denken läßt. Alles kann politisch werden, ist es aber nicht per se, sondern nur, wenn es in eine bestimmte intensive antagonistische Beziehung gebracht wird, wenn es sich um eine öffentliche bzw. öffentlich gemachte Freund-Feind-Beziehung handelt. Schmitt denkt das Politische vom griechischen Polemos her, und insofern hat die äußere Freund-Feind-Beziehung zwischen Staaten und Nationen bei ihm systematisch den Primat, so daß innere Freund-Feind-Beziehungen dem nachgeordnet sind. Faktisch stehen diese für Schmitt aber ebenso im Mittelpunkt seines politischen Denkens, das nationalistisch ist, auf innere Homogenisierung setzt und daher für nationalsozialistische Ausformungen substantiell offen war. Von einem pluralistischen Politikverständnis her besteht ein hier nur andeutbares Problem schon darin, daß Schmitt zwar die Öffentlichkeit als relevanten Faktor benennt, aber nicht wirklich in den Begriff des Politischen mit einbezieht. Das hat unter anderem mit seiner Ablehnung des Liberalismus und mit seiner Präferenz für antithetisches Den-
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ken zu tun, die seinen Dezisionismus begleitet. Sachlich kann man meines Erachtens im Gegensatz zu Schmitt einen für die Moderne angemessenen metatheoretischen Begriff des Politischen sinnvoll nur in einer dreifachen Relation denken. Politisch sind nicht nur und nicht in erster Linie Freund-Feind-Beziehungen, sondern alle jene Kämpfe um Macht zwischen mindestens zwei Akteuren, die vor Publikum, vor Dritten, d.h. in verschiedenen Öffentlichkeiten stattfinden. Solche Auseinandersetzungen sind nicht nur auf spezifische Weise stets Inszenierungen, sondern stehen auch, da sie vor Publikum stattfinden, unter Legitimationszwängen. Erst wenn man den Begriff des Politischen so bildet, ist gesichert, daß man ihn weder auf Freund-Feind-Beziehungen verkürzt, noch daß man die Politisierung von Problemen nur benennt, aber nicht systematisch in den Begriff mit einbezieht. Ein solcher Begriff des Politischen akzentuiert das Handeln und die Akteure in einem dramaturgisch-rhetorischen Modell, das auf die Voraussetzungen des Handelns und die Generierung von Konflikten, aber auch von Möglichkeiten ihrer Lösung abhebt (vgl. Nullmeier 1993, Hitzler 1997). Als komplementäre Kategorie kann ein auf den Machtkampf selbst, seine Strukturen und Bedingungen bezogener Begriff von Politik gelten. Schmitt ebnet den Unterschied zwischen dem eher handlungstheoretischen, auf die Voraussetzungen und den Rahmen von Politik bezogenen Begriff des Politischen und dem strukturellen Begriff von Politik nicht nur im Prinzip ein, sondern er verfehlt den Unterschied ganz, was sich explizit darin zeigt, daß er Webers Politikbegriff (Schmitt 1932/63: 21, Note 2) unter sein Verständnis des Politischen rubriziert. 36 Doch zurück zu Schmitt und Strauss. Schmitt bildet einen verkürzten Begriff des Politischen, der stark an das Handeln antagonistischer Akteure gekoppelt ist und dessen Ernst durch den Kampf auf Leben und Tod als ultima ratio gesichert wird. Dabei betont er mehrfach, daß es aber nicht um den Kampf als Kampf gehe, der je nach dem Gebiet eigenen Regeln folge (1963: 37f.), sondern um die Bestimmung des Freund-FeindGegensatzes und die entsprechende Bildung politischer Gruppierungen. Demnach müßte für Schmitt die Erkenntnis solcher Gegensätze, ihrer Propagierung, die Mobilisierung von Kräften und die Bildung der gegensätzlichen Gruppierungen durchaus wesentlich sein, indes man erfahrt darüber nicht viel. Schmitt argumentiert hier - sowohl wenn es um Zeitdiagnose als auch wenn es um konkrete politische Einschätzungen geht - vor dem Hintergrund seiner Geschichtsphilosophie und dem, was dezisionistisch als Logik der Situation ausgegeben wird. Es ist dennoch ein Versuch, eine starke und ganzheitlich Auffassung von Politik wiederzugewinnen, die den Menschen und die Gesellschaft in all ihren Bereichen berührt. Strauss hält das Ziel der Wiedergewinnung eines starken Konzeptes von Politik beziehungsweise des Politischen für wesentlich, aber er läßt sich auf die problematischen politischen Seiten nicht ein. Wie auch Schmitt, ist ihm der Versuch der Wiedergewinnung des Politischen gegen seinen Verlust in neutralisierenden Formen wie Technik, Wirtschaft und Unterhaltung zentral. Trotzdem - und hier erfolgt die eigentliche Radikalisierung von Schmitt - behauptet Strauss, Schmitts Begriff des Politischen sei polemisch und an den Gegenstand der Polemik gekettet, nämlich das liberale Verständnis. Diese Kritik hat als Hobbes-Deutung eine ideengeschichtliche Dimension, die ich an dieser Stelle noch ausklammern möchte, und systematische 36
Schmitt qualifiziert seinen Begriff des Politischen als handlungstheoretisch und existentiell (1963: 26, 28).
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Aspekte: zunächst die Kritik am Kulturbegriff, dann die Frage, von wo aus das Politische zu denken sei, und schließlich die des angemessenen Verständnisses von Politik im Sinne anthropologischer Grundlagen. Strauss steht hinsichtlich der akademischen Disziplin in einer anderen polemischen Konstellation als der Staatsrechtler Schmitt. Dies zeigt sich schon daran, daß der Kulturbegriff, den Schmitt nur streift, bei Strauss als eine Prämisse des reduzierten liberalen Politikverständnisses ins Zentrum der Kritik rückt; ein Problem, das übrigens später auch etwa in Philosophie und Gesetz weiter verfolgt wird (GS 2: 30). Strauss attackiert vor allem die Philosophie des Neukantianismus, wobei Paul Natorp mit dem Ausdruck der „Kulturprovinzen des Geistes" ausdrücklich erwähnt wird, aber bestimmt auch Heinrich Rickert gemeint ist, dessen Buch Kant als Philosoph der modernen Kultur (1924) sehr einflußreich war. Beide Neukantianer sehen in Moral, Religion und Politik einfach besondere Sphären, Provinzen einer nicht näher bestimmten Kultur. Strauss behauptet, Schmitt hätte Kultur als Gattungsbestimmung von Politik abgelehnt und damit die gängigste Voraussetzung des liberalen Politikverständnisses ohne weitere Argumentation ad acta gelegt. Aber was sind die Gründe, die Strauss für diese Kritik entwickelt? Aus den Anmerkungen zu Schmitt lassen sich nur zwei wenig explizierte Einwendungen entnehmen. Die allgemeine ist, Kultur könne nicht generell als Gesamtheit spontaner Erzeugungen des Geistes begriffen werden, da Kultur stets etwas voraussetze, was kultiviert, bearbeitet wird. Strauss denkt hier zum einen an die äußere Natur und auch an den Naturzustand, zum anderen verwahrt er sich dagegen, Religion nur als ein Erzeugnis von Kultur zu denken. Der zweite Einwand richtet sich mithin gegen die Aufteilung von „Kulturprovinzen", gegen ihre Differenzierung. Wie Schmitt zielt Strauss darauf ab, das Ganze zu denken, und sieht in der Politik eine einheitsstiftende Größe, die gerade nicht in ein autonomes Gebiet neben anderen zu verwandeln sei. 37 Wenn Strauss betont, Schmitt denke das Politische mit Blick auf die Religion, so ist er mit ihm darin einig, daß Politik und Religion nicht in Bestandteile eines schwachen Kulturbegriffes verwandelt werden dürfen. Schmitt gewinnt seinen Begriff des Politischen von der Ausnahme, vom Extremfall her, und das ist für Strauss eine enorme Provokation. Auch Strauss denkt radikal, aber ihn interessieren vor allem die ewigen philosophischen Probleme, die in Form von Alternativen faßlich seien. Im Falle des Politischen heißt dies, nicht den Gegensatz von Freund und Feind zu akzentuieren, sondern zu fragen, wie das Politische alternativ gedacht werden kann, wenn man einen Horizont gewinnen will, der wirklich jenseits des Liberalismus liegt. Strauss' Lösung, die sich in den Anmerkungen erst andeutet, ist nicht der zugespitzte Konflikt, sondern der Normalfall einer politischen Ordnung. Damit ist bei Strauss das Denken im Horizont der klassischen politischen Philosophie gemeint. Dies bedeutet, die Frage nach der Ordnung, genauer nach der besten Ordnung aufzuwerfen. Während bei Schmitt der Konflikt, die Freund-Feind-Unterscheidung der Normalfall ist, stellt dies für Strauss die Ausnahme dar, der man mit der Frage nach der guten Ordnung entgegentreten müsse. Die Suche nach der besten Ordnung anstelle kon37
Zum Problem des Denkens politischer Einheit vgl. Llanque (1995: 1 5 7 - 1 7 6 ) sowie Göbel (1995: 2 6 7 - 2 8 6 ) , der zeigt, daß Schmitt nicht zu einem neuen Paradigma jenseits der Staatlichkeit vordringt.
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kreter politischer Fragen und Entscheidungen gilt Schmitt wiederum als gefahrlich, da sie in den Bürgerkrieg münden könne. Strauss hält sie für notwendig, aber er weiß um ihren gefährlichen Charakter und reserviert dieses Fragen den Philosophen, die verantwortungsbewußt mit ihm umgehen sollen. Meier hält Strauss' zweite Frageperspektive für genuin philosophisch; anders als Schmitt, der das Politische politisch behandele, ziele Strauss damit nicht auf das Kriterium der Unterscheidung der differenten Gegensätze in Politik, Moral etc., sondern - wie gesagt - auf die Gattungsbestimmung von Politik. Er frage nach dem Wesen des Politischen, das sich im Denken der guten Ordnung erschließt, einem Denken, in das soziale, moralische und im engeren Sinne politische Aspekte einbezogen sind. Es ist von hier aus nur konsequent, wenn Meier dann einen Einfluß von Strauss auf Schmitt annimmt, der in der dritten Fassung vom Begriff des Politischen (1933) und im Text Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens (0:1934/1977) als Ordnungsdenken sichtbar wird (vgl. Meier 1988: 21 f., 138). Gegen diese Deutung kann man jedoch Einwände erheben. Zunächst ist zu fragen, mit welchen Gründen man behaupten kann, Schmitt bestimme das Politische nur politisch. Warum nicht juristisch oder politikwissenschaftlich? Es steckt mehr hinter dieser rhetorischen Problematisierung als ein Infragestellen der klassifikatorischen Bestimmung. Gesetzt, es gibt kein substantielles Wesen des Politischen, dann läßt sich die Wesensbestimmung nur über die Fixierung des Differenzkriteriums denken. Das Politische kann dann Schmittianisch als Freund-Feind-Beziehung oder im Rahmen eines rhetorisch-dramaturgischen Handlungsmodells formell gedacht werden. Trifft diese Überlegung zu, dann ist Meiers Deutung problematisch und es gibt einen Rückschritt, den Strauss gegenüber Schmitt vollzieht, wenn man einmal dessen politisch-theologische Überzeugungen etwas in den Hintergrund stellt. Das Denken der Ordnung, das Strauss favorisiert, zielt der Grundtendenz nach auf eine Resubstantialisierung des Verständnisses des Politischen. Die Gattungsbestimmung von Strauss und das Differenzkriterium von Schmitt lassen sich nicht einfach zusammenfugen. Höchstens können sie als verschiedene Bestimmungen des Politischen komplementär gedacht werden, wo die eine nach innen und die andere auf Beziehungen zwischen politischen Gebilden bezogen ist. Aber das implizit von Strauss geforderte Denken der besten Ordnung und das, was bei Schmitt ab 1934 das „konkretes Ordnungsdenken" heißt, trennen zudem Welten, denn das eine ist ein geistesgeschichtlich-philosophisches Projekt und das andere, das „konkrete Ordnungsdenken", verband Schmitt nicht zufallig mit nationalsozialistischem Gedankengut. Schmitt hat zudem im Begriff des Politischen selbst die Frage der Ordnung thematisiert. Ich meine damit all jene Passagen, wo er davon spricht, was maßgeblich ist. Dabei handelt es sich keineswegs bloß um umgangssprachliche Verwendungen des Ausdrucks, sondern Schmitt meint mit „maßgeblich" entscheidend und „maßgebend" im Sinne von Ordnung gebend. Es ist nicht übertrieben, hier Anklänge an Hegeische Verwendungsweisen anzunehmen, und das heißt, es geht um qualitative Ordnungsbeziehungen. So gesehen, braucht man keine starken Reaktionen von Schmitt auf Strauss anzunehmen, denn der Weg zum Ordnungsdenken ist im Begriff des Politischen schon angelegt.
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Strauss entwickelt keinen eigentlichen Begriff des Politischen, obwohl er dies als Aufgabe von Schmitt aufzunehmen scheint; was er in den Anmerkungen begann und später fortsetzte, ist, das Problem der Ordnung in einem Horizont jenseits des Liberalismus zu exponieren. Diese Erörterung ruhen wie bei Schmitt auf anthropologischen Prämissen. Für einen handlungstheoretisch-existentiellen Begriff des Politischen, wie den von Schmitt, ist eine anthropologische Ebene unerläßlich. Er hat sie mit Bezug auf Hobbes diskutiert, und Strauss folgt ihm dabei. Die wichtigste Voraussetzung ist, daß Schmitt und auch Strauss sich wohl am Ende der Weimarer Republik in einer ähnlichen Situation wie Hobbes sehen, nämlich in einer Art Bürgerkrieg, in der das Politische neu zu denken ist. Aber die Lösung von Hobbes ist keine mehr, da sie - so beide Interpreten - der Grundlegung liberalen Denkens diente, in dem das Politische verlorenging. Es bedarf also eines neuen Zugriffs auf Hobbes, und Schmitt leistet ihn primär dadurch, daß er den Naturzustand nicht als eine Konstruktion auffaßt, sondern als eine immerwährende Möglichkeit, mehr noch als den eigentlichen Zustand des Politischen, und er beklagt den bei Hobbes fehlenden Zugriff auf die innere Willensfreiheit des Menschen. In diesem Kontext steht die Diskussion der anthropologischen Grundlegung des Politischen bei Schmitt, die Strauss im Teil III der Anmerkungen vornimmt. Sie trete als unpolemische Beschreibung des Politischen und als Aufnahme von polemischen Beschreibungen des Naturzustandes bei Hobbes auf (Strauss 1932a: 16). Man kann Strauss' Rekonstruktion von Schmitts Argumentation bei seinem Wiedergewinnungsversuch von Voraussetzungen des Politischen anhand von Hobbes' Naturzustand in drei Punkten resümieren: Erstens erfolgt eine Verwandlung des Hobbesschen Naturzustandes in einen möglichen und allzeit wirklichen Zustand. Das Politische wird so als ein Grundcharakter des menschlichen Lebens bestimmt. In diesem Sinne sei die Bejahung des Politischen mit einer Anerkennung der Gefährlichkeit des Menschen verbunden, während seine Negation von der guten Natur ausgehe. Zweitens fragt Strauss aber, ob sich Schmitt bei diesem „anthropologischen Glaubensbekenntnis" beruhigen kann, ob die Gefährlichkeit des Menschen wirklich anthropologisch und unerschütterlich verankert sei. Die weiterführende Überlegung schließt direkt an den Ausdruck „Glaubensbekenntnis" an. Wenn die Gefährlichkeit nur geglaubt ist, dann kann sie und mit ihr das Politische bedroht sein. Strauss verweist darauf, daß Schmitt selbst eine Bedrohung des Politischen, die Gefahr eines apolitischen Zustandes auf der Erde nicht ausschließen kann. Das Politische muß daher nicht nur gesetzt, sondern es muß bejaht werden. Drittens zeigt Strauss auf, wie die Gefährlichkeit des Menschen und seine moralische Schlechtigkeit in die Annahme der Herrschaftsbedürftigkeit transformiert werden. Schmitt bejahe das Politische, weil er gegen die Neutralisierung sei, weil er gegen eine Reduktion der Welt auf das Interessante, auf bloße Unterhaltung 38 ist. Schärfer noch „er bejaht das Politische, weil er in seiner Bedrohtheit den Ernst des menschlichen Lebens bedroht sieht (Strauss 1932a: 27). 38
Strauss hebt diese Seite stark hervor, und Schmitt hat später diesen Hinweis verstärkt.
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Damit ist Strauss' Argumentationsgang zur Nutzung Hobbesianischer Annahmen durch Schmitt abgeschlossen und die existentielle Deutung des Naturzustandes fixiert als Grundlage von dessen Verständnis des Politischen, das polemisch bleibt. Strauss hält allerdings seine eigenen anthropologischen Überlegungen im Hintergrund. Anzunehmen ist, daß er die Prämisse einer Moralität, die dem Politischen zugrunde liegt und im Zusammenhang mit diesem erst ihren Ernst bekommt, wie auch Schmitts Hypothese der Herrschaftsbedürftigkeit teilt. Strauss treibt dessen Überlegungen ins Philosophische und nennt die für Schmitt wichtige Idee der Erbsünde nicht einmal (Meier 1988: 62). Er geht auch kaum auf die Umdeutung ein, die Schmitt im Zuge seiner existentiellen Deutung des Hobbesschen Naturzustandes vornimmt, nämlich sein Ersetzen des Kampfes eines jeden gegen jeden durch Gruppen, eher noch durch den Kampf der Völker (vgl. ebd.: 39). Auffallig ist allerdings, daß Strauss nicht nur beim Kulturbegriff, sondern auch beim Naturzustand mit einiger Emphase von Natur spricht und hier generelle zivilisationskritische Töne anschlägt. Vom Naturrecht als substantiellem Problem und transhistorischem Maß ist jedoch vor dem Hobbes-Buch keine Spur zu finden. Schmitts Schlußsatz im Anhangstext zum Begriff des Politischen, nämlich die Rede über das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen, enthält eine enigmatische Berufung auf ein „integres Wissen" (1932/63: 95). Strauss hat diese Andeutung aufgegriffen und behauptet, ein solches Wissen könne nicht bzw. nur zufallig polemisch sein. Was damit genau gemeint ist, bleibt allerdings unklar. Die Rede ist vom „Rückgang auf den Ursprung", oder mit Schmitt gesprochen, auf eine „unversehrte, nichtkorrupte Natur" (1932a: 749). Für Meier ist dies ein deutlicher Hinweis auf das sokratisch-philosophische Wissen, das sich unbedingtem Fragen verdankt (Meier 1988: 13). Möglicherweise wollte Strauss darauf anspielen, aber es gab keinen Grund, die Dinge nicht beim Namen zu nennen, so daß diese Deutung vielleicht nur eine Rückprojektion von späteren Positionen darstellt. Die Frage, inwieweit es bei Strauss eine Auf- bzw. Übernahme von Freund-FeindDenken gibt, kann anhand der Anmerkungen zu Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen nicht entschieden werden. Aus späteren Schriften ist bekannt, daß Strauss FreundFeind-Beziehungen und den Machtkampf auf dem Feld von Außenpolitik ansiedelt. Das heißt aber nicht, daß er der Orientierung von Schmitt, den Begriff des Politischen am altgriechischen Term Polemos zu bilden, gefolgt wäre; vielmehr zeichnet Strauss die Stadt und ihre politische Integration als Grundmodell aus. Dieser Ansatz hat bei ihm systematisch Priorität, und insofern ist es problematisch, Strauss punktuell mit Schmitt zu identifizieren. Was sie eint, sind Radikalität und scharfe Moderne-Kritik, aber ihre Wege unterscheiden sie deutlich. Strauss greift die Liberalismus-Kritik von Schmitt auf, radikalisiert sie, aber er überfuhrt sie in sein Problem der Ordnung und deutet auch Schmitt in diesem Sinne, wenn er ausdrücklich festhält: „Sein letztes Wort ist ,die Ordnung der menschlichen Dinge'" (Strauss 1932a: 749). Wenn die Bejahung des Politischen nur der erste Schritt sein kann, was ist dann die eigentliche theoretische, aber im Kern eminent politische Aufgabe? Strauss benennt sie wie folgt:
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„Die Polemik gegen den Liberalismus kann daher nur den Sinn einer Begleit- oder Vorbereitungsaktion haben: sie soll das Feld freimachen für den Entscheidungskampf zwischen dem ,Geist der Technizität', dem Massenglauben eines .antireligiösen Diesseits-Aktivismus' und dem entgegengesetzten Geist und Glauben, der, wie es scheint, noch keinen Namen hat." (Ebd.)
Zwar referiert Strauss hier zum Teil Schmitt, aber er macht dies in hohem Maße zustimmend, d.h. er folgt den beiden Motiven, die offensichtlich sind, nämlich dem Dezisionismus, dem Setzen auf die Entscheidung, aber es geht nicht um irgendeine Entscheidung im Sinne eines endzeitlichen Kampfes zwischen „antireligiösem DiesseitsAktivismus" und seinem Gegenstück, das noch keinen Namen hat. Für Strauss geht es dabei um das „politisch-theologische" Problem, das aber einen scharfen aktuellpolitischen Akzent hat. Carl Schmitt argumentiert häufig als politischer Theologe, die katholischen Motive, die dabei eine Rolle spielen, seine Selbstperspektivierung als „Aufhalter" sind in jüngerer Zeit detailliert untersucht worden. 39 Hier ist nur die Frage interessant, ob man, wie Meier dies nahelegt, anhand der Anmerkungen davon sprechen kann, daß beim jüdischen Gelehrten Strauss zwar auch religiöse Motive im Spiel sind, er aber eine andere akademisch-disziplinäre Orientierung, nämlich politische Philosophie, verfolgt und daß deshalb das Verhältnis von Philosophie und Religion einen ganz anderen Akzent hat. Strauss ist zweifellos Philosoph und argumentiert als solcher, aber der Ausdruck „politische Philosophie" fallt in den Anmerkungen nicht ein einziges Mal. Strauss sucht noch den Weg zu jener Auffassung, die jenseits des Liberalismus und der Kritik an ihm liegt. Er erwägt die Rückkehr zur antiken Philosophie, aber sie ist noch nicht explizites Thema, und insofern wäre es eine Überinterpretation, ihn hier bereits als politischen Philosophen in dem Sinne, den er dem Begriff später gibt, zu deuten. Dennoch setzt Strauss im Unterschied zu Schmitt und dessen politischer Theologie, die letztlich einem Primat der Handlung gegenüber der Erkenntnis folgt, den Akzent auf die Erkenntnis und deutet am Schluß der Anmerkungen an, welchen Weg er gehen wird: „Eine radikale Kritik am Liberalismus ist also nur möglich auf Grund eines angemessenen Hobbes-Verständnisses. Zu zeigen, was für die Bewältigung dieser dringlichen Aufgabe von Schmitt zu lernen ist, war daher das hauptsächliche Anliegen unserer Anmerkungen." (Strauss 1932a: 749)
Vergleicht man die beiden resümierenden Strauss-Zitate, so verwundert es nicht, daß Söllner den Schlußsatz aus politikwissenschaftlicher Perspektive kritisch als „Abbiegen in ein ideengeschichtliches Projekt" bewertet hat (Söllner 1996a: 192). Die Radikalität auf das theoretische Denken zu beschränken und nicht bruchlos in die Politik zu überfuhren, ist jedoch ein sich im Laufe der Zeit immer deutlicher zeigender Grundzug von Strauss' Konzept. Die Spannung zwischen theoretischem Denken und Politik wird von ihm dauerhaft reflektiert, und Besonnenheit sowie Mäßigung in politisch-praktischen Angelegenheiten stellen in seinen Augen eine Grundforderung politischer Philosophie dar. In diesem Kontext ist neben Carl Schmitt Martin Heidegger eine der selten genannten, aber dauerhaft präsenten Bezugsfiguren, wenn Strauss das Verhältnis von Philosoph
39
Vgl. Meier 1988 ,1994; Meuter 1994, Berthold 1993.
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A U S F O R M U N G GROBER THEORETISCHER ALTERNATIVEN
und Tyrann oder die Notwendigkeit der Kodierung philosophisch-theoretischen Denkens diskutiert.40 Die Anmerkungen sind ein Schlüsseltext, über den Strauss später einmal äußerte, in ihm werde der Orientierungswandel deutlich, nämlich die Abkehr vom Vorurteil, „daß eine Rückkehr zur vormodernen Philosophie unmöglich sei" (GS 1: 54). Die scharfe Auseinandersetzung mit Carl Schmitt war also auch dem Selbstzeugnis nach für die Entwicklung von Strauss' Philosophieren von nicht zu unterschätzender Bedeutung; sie enthält auch eine Distanzierung von politischer Theologie, ohne explizite Diskussion der entprechenden Schrift von Schmitt.
3.4
Auseinandersetzung mit Hobbes
Namhafte britische Historiker politischer Theorie stimmen in ihrer Einschätzung überein: The Political Philosophy of Hobbes (1936) ist, wie Ernest Barker im Vorwort des Buches von Strauss formulierte, „a new and original contribution to the interpretation of Hobbes" (1936: VII). Nicht weniger lobend äußerte sich Michael Oakeshott in seiner Rezension von 1937, dort heißt es: „I regard this as the most original book on Hobbes which has been appeared for many years" (Oakeshott 1975: 133). Vom ersten Erscheinen an bis heute erfreut sich die Studie allgemeiner Resonanz und fand immer wieder Eingang in die Sekundärliteratur (vgl. jüngst Münkler 1993, Bohlender 1995, Skinner 1996). Das Hobbes-Buch, das erst 1965 auf Deutsch erschien, ist also für eine Arbeit von Strauss außergewöhnlich bekannt. - Aber ist das bekannte Buch auch typisch für Strauss? Im Gegensatz zu anderen Lesarten, welche die Frage bejahen (z.B. Bohlender 1995), deute ich das Buch als ein Werk, das wie die vorausgegangene Schrift Philosophie und Gesetz ans Ende der formativen Periode gehört, aber noch deutliche Züge des Überganges zum eigenen Ansatz aufweist. Strauss hat noch nicht seine eigene hermeneutische Methodik des esoterisch-exoterischen Schreibens und der Interpretation solcherart kodierter Texte entwickelt; vielmehr nutzt er genetische und kontextualistische Argumente, um dem von ihm bekämpften Historismus zu entkommen. Zugleich arbeitet er an einer Reihe von Fragestellungen, die für ihn charakteristisch sind. Er will den Bruch begreifen, den Hobbes mit der klassischen philosophischen Tradition vollzog, er will - wie die SchmittKritik zeigt - das Politische (im Gegensatz zur liberal-individualistischen Tradition, die Hobbes begründete) wieder denken, und es geht ihm um den Zusammenhang von Politik und Theologie. Die Themen und auch der direkte und radikale Zugriff sind durchaus schon charakteristisch straussianisch, aber die Methode noch nicht. Strauss hat sich häufig mit Hobbes auseinandergesetzt. Die Anfange sind im Spinoza-Buch sichtbar, die Fortsetzung in der Schmitt-Kritik und dem kleinen Aufsatz Quelques Remarques sur la Science Politique de Hobbes (Strauss 1933). 1934/35 schreibt er das bereits erwähnte Buch, danach widmet Strauss Hobbes noch ein Kapitel in seinem 40
Zu den Bezügen auf Heidegger Vgl. z.B. OT: 250 und die Einleitung von Gourevitch/Roth zu OT: XXII; Strauss 1989a: 2 7 ^ 6 .
AUSEINANDERSETZUNG MIT HOBBES
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Naturrechts-Buch (1956) und äußert sich zu ihm im Aufsatz Ort the Basis of Hobbes' Political Philosophy (Orig. frz., engl, in WPP 1959: 170ff.). Was macht die anhaltende Attraktivität von Hobbes aus, und gab es bemerkenswerte Veränderungen bei der Interpretation seiner Theorie? In der Einleitung zur deutschen Ausgabe hat Strauss darauf hingewiesen, daß er sich seit dem Hobbes-Buch mit dem politisch-theologischen Problem auseinandersetzt, also mit den Antworten, die Politik und Religion auf die Frage geben, wie man leben soll. Insofern gibt es ein Grundproblem, das ihn immer wieder zur Auseinandersetzung mit Hobbes veranlaßt hat. Darüber hinaus spielt Hobbes im Denken von Strauss eine prominente Rolle als Weichensteller, als Theoretiker, der den Bruch mit dem klassischen Denken eingeleitet wie auch die liberal-individualistische Denkweise, die das Problem der guten Ordnung zu dem der Möglichkeit von Ordnung verkleinert hat. Gerade diese Rolle als Weichensteller, als Begründer einer neuen Linie ist es auch, die immer wieder die Auseinandersetzung mit ihm provozierte, denn Strauss hat sich mehrfach in seiner Lesart korrigiert. Zum einen schreibt er die Rolle des Weichenstellers zur liberalen Theorie, zum Verfall politischer Philosophie, später sehr deutlich Machiavelli zu; so heißt es in Naturrecht und Geschichte: „Machiavelli, dieser größere Kolumbus, hatte den Kontinent entdeckt, auf dem Hobbes seinen Bau errichten konnte" (NG: 184). Zum anderen verändert er mehrfach den Akzent, der 1936 wie 1954 auf der Widersprüchlichkeit des Denkens von Hobbes liegt. Aber in den frühen Texten überwog das Ziel, Hobbes als Vater des Liberalismus zu deuten und zu zeigen, wie sehr sich sein Bruch mit dem klassischen Denken vor der szientifischen Wendung zum more geometrico vollzog. Nun weist Strauss darauf hin, daß Hobbes gleichermaßen zum Vater des monistischen Positivismus und der Philosophie der Freiheit im 19. und 20. Jahrhundert wurde, und daß man seinem Denken nur gerecht wird, wenn man das Zentrum findet, aus dem diese beiden Linien erklärt werden können (WPP: 182, 196), denn - und davon ist Strauss überzeugt - es muß ein kohärentes Zentrum bei einem starken Theoretiker wie Hobbes geben, das erlaubt, seine widersprüchlichen Aussagen zu enträtseln. In diesem Sinne meint Strauss auch erst später den eigentlichen Grundgedanken von Hobbes formuliert zu haben (vgl. WPP: 172). Im folgenden Abschnitt interessieren allerdings nicht die vielfaltigen Facetten von Strauss' Hobbes-Auslegungen und ihre Variationen, sondern ich frage, was an der Lesart von Hobbes neu und was dabei für Strauss charakteristisch ist. Den Ausgangspunkt bilden die Schlußsätze der Schmitt-Kritik, in denen Strauss fordert, einen Horizont jenseits des Liberalismus zu finden. Meist und zu Recht wird dieses „jenseits" betont, aber selten findet der Folgesatz genaue Beachtung. Er lautet: „In einem solchen Horizont hat Hobbes die Grundlegung des Liberalismus vollzogen" (1932a: 749). Was impliziert diese Behauptung? Inwiefern konnte die Grundlegung des Liberalismus in einem Horizont erfolgen, der zugleich jenseits von ihm liegt? The Hobbesian
Moment
Strauss zufolge philosophiert Hobbes in einem ganz besonderen Moment, indem die alte klassische Tradition nicht mehr gilt, es gleichzeitig aber auch noch keine moderne
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AUSFORMUNG G R O ß E R THEORETISCHER ALTERNATIVEN
Philosophie gibt.41 Hobbes bricht also mit einer Tradition, die er kennt, und schafft gleichzeitig etwas Neues. Denn in dieser Situation habe er nach der Ordnung menschlichen Zusammenlebens gefragt, genauer die Frage gestellt: Wie ist politische Ordnung möglich? Für Strauss hat er damit ein Fundament gelegt, von dem alle späteren modernen politischen Philosophen zehren und „von dem aus das moderne Denken allein radikal verstanden werden kann" (HPW: 15). Nicht genug damit. In diesem Denken finde sich die „unterste und tiefste Schicht des modernen Bewußtseins", hier habe sie ihren „aufrichtigsten Ausdruck" (HPW: 14). So gesehen stellt eine angemessene Interpretation von Hobbes zweierlei bereit: Sie dient der Enträtselung des modernen Bewußtseins, das sich im allgemeinen aber gar nicht auf dem Niveau von Hobbes bewegt, und sie klärt über den Bruch mit der klassischen Tradition auf. Der Horizont ist also weiter als der des Liberalismus, denn die alte Tradition ist noch bekannt und das Neue wird im Unterschied zum späteren Liberalismus so radikal gedacht, daß es über ihn hinausweist. Die Hobbes-Kritik hat eine Schlüsselfunktion in der Hinsicht, daß man auf den radikalen Anfang liberalen Denkens zurückgeht und dabei über die negierte Tradition den Pfad finden kann, der den Rückweg zum wahrhaft politischen Denken eröffnet. Wie setzt Strauss seine Hobbes-Interpretation an? Er eröffnet sie mit einer scharfen Kritik der üblichen Interpretationen, denn die prinzipielle Bedeutung von Hobbes könne man erst begreifen, wenn man seine Leistung nicht mehr primär auf seine neue Methode zurückführe. Um seine neue Interpretation zu etablieren und zu validieren, entwickelt Strauss eine werkgeschichtliche Deutungsthese. Er behauptet nämlich, die grundlegenden Fragen von Hobbes' Denken seien schon vor seiner szientifischen Wende angelegt, d.h. auch der Bruch mit der klassischen Philosophie sei vor dieser Wende erfolgt. Strauss entdeckt den humanistischen Hobbes und untersucht seinen Aristotelismus, die Bedeutung seiner Auseinandersetzung mit Thukydides und seiner Hinwendung zur Geschichte. Strategisch hat er damit die Weichen so gestellt, daß im Frühwerk die eigentlichen Motive gefunden werden können, die im Hauptwerk szientifisch verstellt und versteckt sind. Mehr noch, Strauss blendet Teile des Spätwerkes ganz aus, etwa die Rückwendung zur Geschichte im Behemoth. Ihn interessiert der Bruch und die Art und Weise, wie Hobbes diesen in seinem Werk vollzieht und zum Teil selbst thematisiert. In diesem Zusammenhang steht die Behauptung, Hobbes' politische Wissenschaft sei Zeugnis des bedeutendsten Kampfes, der im Namen der bürgerlichen Tugend gegen die Adelstugend gefuhrt wurde, und zwar finde der Kampf - wie Strauss betont - innerhalb dieser Wissenschaft selbst statt, nämlich als eine Verdrängung der Adelstugend durch die bürgerliche Tugend (HPW: 123). Die Auseinandersetzung zwischen der alten und der neuen Wissenschaft der Politik ist somit der verdeckte Kern des Werkes von Hobbes. Zur Perspektive von Strauss gehört dann konsequenterweise auch, daß ihn die eigentliche Theorie von Hobbes, deren innere Systematik und architektonische Probleme kaum interessieren, denn das szientifische Gerüst verdeckt seiner Überzeugung nach gerade die interessanten Problemstellungen. Es verwundert in diesem Zusammenhang nicht, daß Strauss zentrale Konzepte von Hobbes - seine Souveränitätsauffassung, den Staats- und Bürgerbegriff und anderes - nur knapp zum Gegenstand macht, handelt es 41
Bohlender spricht treffend von einer „kairotischen Leerstelle" und der kairotischen Situation, in der sich Strauss als Interpret selbst ansiedelt (Bohlender 1995: 209).
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sich doch um eine selektive tiefenhermeneutische Interpretation, die nur partiell textund argumentanalytisch vorgeht. Welche ursprünglichen Motive und Themen sind es, die vor der methodischszientifischen Wende erkannt werden? Es sind einzelne Themen und Variationen, aber sie alle bedeuten nur etwas, weil dem Ganzen eine neue moralische Haltung zugrunde liegt. Strauss meint mit dieser besonderen moralischen Haltung zuerst ein erschüttertes Vertrauen in die Vernunft und die Idee, eine Politik als strenge, quasi-naturwissenschaftliche Theorie zu entwerfen und praktisch werden zu lassen. In zweiter Linie sind es die sukzessive Orientierung an bürgerlichen Werten und eine Abwendung von der Adelstugend. Aufgrund dieser neuen moralischen Haltung komme Hobbes zu seinen Fragestellungen, und diese Fragestellungen würden in den zwei großen Perioden seines Schaffens wesentlich variiert. In der humanistischen Periode (1608-1630) dominiere am Anfang noch die Option für die Ehre, die Adelstugend per se, aber der Wandel beginne in dieser Periode und die Schlüsseltexte dafür seien Hobbes' Einleitung in seine ThukydidesÜbersetzung und ein Exzerpt von Aristoteles' Rhetorik. Beide würden zeigen, wie das Motiv praktischer Umsetzung theoretischer Konstruktionen Raum gewinne und wie anstelle der Tugend die Leidenschaften zum Ausgangspunkt der Theorie gemacht würden. Die spätere Philosophie, die mit der Aufnahme der euklidisch-naturwissenschaftlichen Methode und der „neuen Wissenschaft der Politik" einsetze, vollziehe nur die vorher angelegte Wendung. Insofern birgt die zweite Periode von Hobbes' Schaffen nach Strauss substantielle Rückschritte, in dem die ursprünglichen Motive radikalisiert und auch verdeckt werden. In diesem Sinne könnte man sagen, der Systembau verdeckt die eigentlichen Grundgedanken. Dennoch ist es nicht sinnvoll, Strauss hier schon seine spätere Methodik zu unterstellen, denn er setzt sich zwar mit dem Problem der Rhetorik auseinander, hat sie aber noch nicht als literarische Kodierungsstrategie begriffen, vermittels deren der Philosoph für die Allgemeinheit gefahrliche Wahrheiten versteckt. Vielmehr spielt er hier noch das lebendige Philosophieren und die theoretische Motive gegen die Systembauten aus, in denen die interessanten Gedanken und Probleme erstarrt sind. Entscheidend für die „neue Gesinnung" von Hobbes sei, daß die diagnostizierte Ohnmacht der Vernunft dazu führt, neue theoretische Ansatzpunkte für das Ordnungsproblem zu suchen. Es wird nicht mehr wie in der klassischen Tradition vom Menschen als sozialen und sprachbegabten Wesen ausgegangen. Zum anthropologischen Ausgangspunkt wird nun das Individuum mit seinen Leidenschaften, hinzu kommt dabei eine systematische Verschiebung von den Normen hin zu ihrer Verwirklichung. Das Denken an die Realisierungsmöglichkeiten verengt den Horizont dessen, was überhaupt normativ erörtert werden kann, und mit diesen beiden Orientierungen setzt sich Hobbes nach Strauss definitiv von der klassischen Wissenschaft ab. Komplettiert wird der neue subjektiv-individualistische Ausgangspunkt, der Ansatz bei individuellen Rechten und Ansprüchen nach Strauss durch die Ablehnung nicht von Menschen geschaffener überindividueller Autorität (Natur, Religion). Damit aber werde der Maßlosigkeit Tür und Tor geöffnet, da beide grundlegenden Triebfedern menschlicher Selbsterhaltung, die Eitelkeit und die Furcht, letztlich auf Machtstreben und Anerkennung zielen, die in sich maßlos sind. Dennoch gebe es einen beachtenswerten Unter-
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schied, denn die Eitelkeit ist per se eine grundlegende, aber problematische Leidenschaft, weil sie zu Verblendungen und Selbstüberschätzungen führt. Die Furcht dagegen ist eine aufklärerische Leidenschaft, die Einsichten ermöglicht. Aber eine Ordnung auf der Grundlage dieser Leidenschaften zu stiften, erscheint Strauss zwar kühn, insofern es tiefe Einsichten in das Funktionieren der bürgerlichen Ordnung voraussetzt, aber eine stabile Ordnung lasse sich auf diesen diffusen Affekt kaum gründen. Mit Blick auf die existentielle Dimension des Naturzustandes formuliert Strauss daher: „Mit anderen Worten: nicht Armut oder Bedrückung oder Kränkung der Ehre ist das größte und höchste Übel, sondern der gewaltsame Tod, bzw. die Gefahr des gewaltsamen Todes. [...] Hobbes ,schätzt' die Schrecken des Naturzustandes nur darum, weil allein auf dem Bewußtsein dieser Schrecken eine wahre und dauernde Gesellschaft beruhen kann. Die bürgerliche Existenz, die diese Schrecken nicht mehr erfährt,
hat Bestand nur solange sie sich ihrer erin-
nert. Durch diese Einsicht unterscheidet sich Hobbes von denjenigen seiner Gegner, die grundsätzlich seine bürgerlichen Wertschätzungen teilen, aber seine Auffassung des Naturzustands verwerfen." (HPW: 120)
Hobbes sei zudem genuin bürgerlich in seiner Orientierung, denn die wichtigsten Werte seien für ihn innerer und äußerer Friede sowie Arbeit und Sparsamkeit. Die bei Hobbes innerhalb seines frühen Werkes stattfindende Auseinandersetzung zwischen Adels- und Bürgertugend wird von Strauss als eine Ablösung der Ehre als dem entscheidenden Prinzip und ihre Ersetzung durch Leidenschaften wie Stolz und Furcht verstanden. Die Abkehr vom Aristotelismus werde bei Hobbes insbesondere in der Einleitung zu seiner Thukydides-Übersetzung (HPW: 109)42 und in seiner Auseinandersetzung mit Aristoteles' Rhetorik sichtbar, hier beginne die Umstellung auf einen neuen anthropologischen Ansatz. Von den Leidenschaften der Individuen her lasse sich aber eine gehaltvolle und moralisch ernsthafte Ordnung nicht denken. Die Triebhaftigkeit des Menschen ist bei Strauss wie in der antiken Philosophie ein bekannter Topos. Politik und die Moralphilosophie werden in der Rolle gesehen, ihre Zügelung zu denken. Triebhaftigkeit mache gerade nicht das Wesen, die Natur des Menschen aus, sondern wenn es ein natürliches Prinzip gibt, so ist es die Ehre, wie Strauss mit Aristoteles nahelegt, und nicht die hobbesianische Furcht vor dem gewaltsamen Tod (vgl. HPW: 126). Kritik der neuen politischen
Wissenschaft
Die hobbesianische Wende in der politischen Philosophie wird meistens als Übergang von der Thematisierung der Politik im Rahmen praktischer Philosophie, in dem jeweils konkrete Bedingungen zu berücksichtigen sind, zur theoretischen Philosophie aufgefaßt. Dieser Übergang bedeutet, daß Politik nun dekontextualisiert betrachtet wird und daß sich der Wahrscheinlichkeitsgrad der möglichen Aussagen grundlegend verändert, da die theoretische Philosophie prinzipielle, wissenschaftliche Lösungen anbietet. Strauss macht diese Klassifikation so nicht mit, und dafür gibt es im wesentlichen zwei Gründe: Zum einen ist er stärker an der platonischen Philosophie als an der aristotelischen orien42
Strauss hat Thukydides später (in City and Man) zum Vertreter eines aus der Antike stammenden machtanalytischen Ansatzes gemacht, der allerdings im Rahmen normativer Geschichtsschreibung realisiert werde.
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tiert und bevorzugt immer das Konzept politischer Philosophie in einem weiten Sinne, und zwar als Teil der Philosophie, nicht aber als verselbständigte Subdisziplin. Zum anderen erfordert das Denken des für Strauss zentralen Problems, der politischen Ordnung, ein ganzheitliches Herangehen, in dem metaphysische sowie ethische und erkenntnistheoretische Aspekte unauflöslich miteinander verbunden werden. Die szientifische Grundlegung einer neuen politischen Wissenschaft, die Hobbes vornimmt, ist damit für Strauss per se eine falsche Orientierung, die eine Reihe paradoxer Effekte hat. Entscheidend ist zunächst, daß die anthropologische Wendung der Philosophie zwangsläufig zur Abwendung von der transzendenten Ordnung führt. Das Ausgehen vom Individuum und seinen Ansprüchen verbaue den Zugang nicht nur zu höherer Autorität, sondern auch zur Frage absoluter normativer Maßstäbe. Für Piaton sei die beste Ordnung die generelle Norm und der universelle Maßstab, allerdings könne sie nicht einfach ins Werk gesetzt werden, denn dazu wäre eine enorme Anzahl von Bedingungen zu beachten. Hobbes dagegen ziele auf einen dekontextualisierten Maßstab, der universell in dem Sinne anwendbar sei, daß er in die Praxis umgesetzt werden kann. Für Strauss heißt das: es findet eine substantielle Veränderung des normativen Niveaus statt. Piaton hielt das Niveau hoch, indem er nach der besten Ordnung fragte, die Tugenden und die Gerechtigkeit thematisierte und die beste Ordnung deutlich von allen empirischen Formen abhob. Hobbes senkt das Niveau, indem er gar nicht mehr nach der besten Ordnung fragt, sondern nur danach, wie sie überhaupt unter Egoisten möglich sei. An die Stelle der Tugenden rücken die Leidenschaften, und die Gerechtigkeit wird durch Stolz und Furcht ersetzt. Gleichzeitig aber würde die neue Wissenschaft mit dem hybrishaften Anspruch überlastet, als Wissenschaft erst die richtigen moralischen und ethischen Ziele erkennen zu können. Sie werde somit zur Basis „utopischer Politik" (HPW: 134). Die Überlastung der neuen Wissenschaft tritt in einer Zusammenfassung der Wandlung des Denkens von Hobbes hervor, die Strauss entlang der Unterscheidung von natürlich und künstlich gibt (ebd.: 126). Die politische Präferenz von Hobbes hätte sich von der Monarchie als der natürlichen Regierungsform zu ihr als künstlicher, konstruierter Staatsform, zu dem im Leviathan versinnbildlichten künstlichen Übermenschen verschoben. Statt der natürlichen Verpflichtungen, die der Moral und dem Recht zugrunde liegen, gehe der „reife" Hobbes von „natürlichen" Ansprüchen aus. Statt durch übermenschliche Autorität soll Ordnung durch den Leviathan, durch eine künstlich geschaffene Autorität gesichert werden. Schließlich wende sich Hobbes vom Studium bisheriger Staaten und politischer Formen ab und ziele auf die Konstruktion künftiger Staaten. Die Akzentverschiebung vom Natürlichen zum Künstlichen, die Strauss aufweist, ist zutreffend, aber seine Wertung ist problematisch. Ohne jede Begründung favorisiert Strauss das nicht näher erklärte Natürliche. Damit unterschreitet er die Begründungsansprüche, denen sich Hobbes selbst stellt. Dennoch kann er aber einen grundlegenden Wandel beschreiben, nämlich den von stark normativer politischer Theorie im Sinne der Suche nach der besten Ordnung zu jener schwächer normativen Form, die danach nicht mehr fragt, sondern bloß die Möglichkeit von Ordnung unter der anthropologischen Bedingung rationaler Egoisten erörtert. Für Strauss ist das
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nur ein Verlust, nämlich die Verwandlung von politischer Wissenschaft in Positivismus und Soziologie. In der jüngeren Hobbes-Literatur ist vielfach die Rolle der Rhetorik bei Hobbes untersucht worden, und man kann auf dieser Grundlage eine ursprüngliche Wertschätzung der Rhetorik, eine anschließende Abwendung von ihr und eine im Leviathan erfolgende Rückwendung zu ihr, um die politische Wirkung der Theorie zu erhöhen, als unumstritten annehmen. Von all diesen Gesichtspunkten nimmt Strauss nur auf den ersten und den zweiten Bezug. Er weist auf die enorme Rolle der Rhetorik beim jungen Hobbes hin, aber sie interessiert ihn nicht als ein persuasives Element politischer Theorie, sondern ihn interessiert, wieweit die aristotelische Rhetorik eine Quelle für Hobbes und seine Auffassung der Leidenschaften war. Er rekonstruiert dann auch die anschließende Opposition zur Rhetorik, aber die Praxis politischer Rhetorik und die Frage, inwiefern sie selbst ein Teil politischer Theorie ist, interessieren ihn nicht. Zudem lassen sich im Hobbes-Buch keine Überlegungen zur Rhetorik als literarischer Kodierungstechnik finden. Nun könnte man einwenden, eine Hobbes-Interpretation wäre auch nicht der geeignete Ort dafür. Aber das Argument trifft nicht recht, denn man kann von Strauss verlangen, daß er seine alternativen Lösungsmöglichkeiten wenigstens andeutet. In diesem Falle würde das auf eine Erklärung hinauslaufen, wie man als Philosoph radikal denken kann und auf welches Auditorium die Radikalität zu beschränken ist, aber in dieser Richtung gibt es bei Strauss nicht eine einzige Andeutung. Insofern lassen sich in der Hobbes-Interpretation keine expliziten Überlegungen aufweisen, an denen Strauss bei der Entwicklung seiner spezifischen Methodik anknüpft. Die von Hobbes angestrebte Klarheit, kühne Offenheit und Wertfreiheit ist für Strauss, der prinzipiell an alternativen Konzepten interessiert ist, eine Herausforderung. Ein Hauptproblem der Hobbes-Deutungen, dem sich Strauss offensiv stellt, ist ihre Konzentration auf die Methode. Unter dieser Voraussetzung könne man weder Hobbes begreifen, denn die Motive seines Denkens sind ja - wie gesagt - vor der Wendung zur resolutiv-kompositiven Methode ausgeprägt. Vielmehr könne man ihn auch nicht richtig kritisieren, da Hobbes eben nicht die Idee der politischen Wissenschaft zum Problem wurde, sondern nur ihre Methode., d.h. er frage gar nicht radikal nach dem Sinn der politischen Wissenschaft (HPW: 132). Strauss erkennt insgesamt eine paradoxe Theorieform bei Hobbes, nämlich eine politische Theorie, die starke politische Motive hat, aber in der Substanz jedenfalls beim „reifen" Hobbes szientifisch und unpolitisch ist. Sie erbringe nicht nur eine Begründung des Liberalismus, der, wenn überhaupt, nur eine schwaches Verständnis des Politischen habe, sondern durch Reduktion und Übersteigerung der normativen Ansprüche werde die politische Theorie in der Substanz depotenziert. Sie ziele gleichermaßen auf die pure Möglichkeit politischer Ordnung wie auf die Ermöglichung utopischer Politik und sei in ihrem Kern instrumentell angelegt. Bei Hobbes erkennt Strauss die noch bestehende Verbindung von Politik und Moral, Spinoza dagegen sei der konsequentere Naturalist, denn er gebe diese Unterscheidung preis und lehre das Naturrecht aller Leidenschaften (HPW: 159). Strauss erkennt eine Spannung zwischen dem inkonsequenten Naturalismus bei Hobbes und dem in den naturwissenschaftlichen Darlegungen dominierenden konsequenten Naturalismus. Anders gefaßt: Der Theorie von Hobbes liegt eine nicht eindeutige Naturauffassung zugrunde. Für
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Strauss ist das aber keine Inkonsequenz, sondern eher ein Indikator dafür, daß ein qualitativer Naturbegriff unumgänglich ist. Die Abwendung vom Naturgesetz und die Thematisierung des Naturzustandes, der als Konstruktionsmittel für die Ordnung auf individualistischen Prämissen fungiert, sind also das Problem. Es sind diese im Hobbes-Buch erst angedeuteten Überlegungen, die Strauss in Naturrecht und Geschichte später ausführen wird. Hobbes ficht nach Strauss also den Kampf zwischen bürgerlichen und adligen Tugenden in seinem frühen Werk aus, und er entscheidet ihn zugunsten einer das klassische Ordnungs- und Maßstabsproblem verbauenden Wendung, nämlich hin zu szientifischer Wissenschaft, bei der Politik im Rahmen theoretischer Philosophie betrieben wird. Das führt zu der erwähnten paradoxen Struktur dieser Wissenschaft, die politisch motiviert ist, aber selbst unpolitisch sein soll. Für diese Wendung gibt es einen gesellschaftlichen Hintergrund, den Strauss zwar deutlich markiert, aber nie näher expliziert, es ist die bürgerliche Gesellschaft, und in dieser neuen Gesellschaftsform versucht Hobbes das Ordnungsproblem zu fassen. Es ist schon verwunderlich, daß Strauss nicht genauer auf die dramatische Situation des Bürgerkrieges eingeht, die das Realproblem ist, das Hobbes vor Augen hat und dessen Relevanz wenigstens anzudeuten wäre. Die Situation des Bürgerkrieges ist es nämlich, die Hobbes diagnostisch auf einen rhetorisch-ideologischen Krieg zurückgeführt hat, auf einen Krieg, in dem alles in politische Stellungnahmen verwandelt werden kann. Hobbes denkt Pazifizierung prinzipiell, nämlich alle Parteien betreffend; mit seiner szientifischen Wende versucht er gerade, eine neutrale theoretische Sprache zu erfinden, in der die politischen Probleme formuliert und gelöst werden können. Aus starken politischen Interessen also kommt er zu einer seltsamen Entpolitisierung der eigenen Theorie. Wenn man auf diese paradoxe Theorieform blickt, so gibt es eine eigenwillige Parallele zu Strauss selbst. Er verhält sich, was die Art der Theorie betrifft, strukturell ähnlich und invers zugleich. Denn er wendet sich - anders als Hobbes - von der Gegenwart, den zugespitzten Kämpfen am Ende der Weimarer Republik ab und will gerade wegen der Politisierung und Instrumentalisierung philosophischen und politischen Denkens zur antiken politischen Philosophie zurück. Auch seine Theorie ist also politisch motiviert, aber die Rückwendung zur Antike impliziert nicht nur den Verzicht einer Suche nach neuen Antworten, sondern die Kritik des Praktischwerdens der Philosophie, ihre Verwandlung in ein Mittel der Realitätsgestaltung, führt zur Rückwendung zur Philosophie als primär privater Lebensform, als Vita contemplativa. Die Motive, die dieser Rückwendung zugrunde liegen, und die Notwendigkeit der politischen Rechtfertigung der Philosophie, die Strauss später ausführlich entwickelt hat, machen aus diesem Denken ein politisches Philosophieren, dessen Substanz die an sich unpolitische Suche nach der Wahrheit und der besten Ordnung in einem transhistorischen und normativen Sinne unter Absehung von historisch-politischen Voraussetzungen dieser Ordnung ist. Das Ordnungsproblem hat für Strauss immer eine theologische Seite, denn es ist substantiell mit der Religion verbunden, die eine wichtige Ressource für die Stiftung und Bewahrung einer politischen Ordnung bildet. Es ist deshalb interessant, wie er Hobbes und seine moderne Deutung der Religion kritisiert. Sein Argument lautet: Religion ist bei Hobbes nur Beiwerk und nur funktional gedacht, damit kann sie aber die ihr zuge-
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schriebene Rolle nicht erfüllen, denn ein Glaube, der nicht geglaubt, sondern nur als soziales Band gedacht wird, kann letztlich nur als Herrschaftsmittel und nicht als wirkliches ordnungstiftendes Band dienen. Strauss hat die neue Position von Hobbes später durchaus treffend „politischen Atheismus" genannt und damit den Versuch der politischen Nutzung der Religion akzentuiert. Politisch werde der Atheismus hier, weil er sich von der verbreiteten Ansicht unterscheide, Religion sei als gemeinsames Medium notwendig, die viele Philosophen vor Hobbes vertraten. Religion sei lange als solche akzeptiert worden, ohne sie instrumentell nutzen zu wollen, hier leite Hobbes den Umschwung ein, den Spinoza vollende. Der spinozistische Pantheismus lasse keinen wirklichen Raum für die Religion, zugleich eröffne er aber beliebige Spielräume für ihre instrumentelle Nutzung (vgl. HPW: 75, 159). Nun kann man allerdings, insbesondere dann, wenn man sich detailliert auf Leviathan und Behemoth bezieht, eine Akzentverschiebung erkennen, die Strauss unbeachtet läßt. Der späte Hobbes nutzt nicht nur die Rhetorik wieder stärker, sondern geht auch extensiv auf die Religion ein. Folgt man der Deutung von Herfried Münkler, so kann man hier außer dem Reagieren auf zeitgeschichtliche Gründe auch systematische Gesichtspunkte geltend machen. Es kann behauptet werden, die immer klarere Herausarbeitung des kontraktualistischen Argumentes führe Hobbes zu der Erkenntnis, daß die sozio-moralischen Voraussetzungen für eine stabile Ordnung so allein nicht zu gewinnen sind, weshalb er immer stärker auf die Religion zurückgreift.43 Parallel mit der Rückwendung zur Rhetorik würde dies für eine partielle Rücknahme der Idee wertfreier, rein theoretischer politischer Wissenschaft sprechen. Ein solcher Befund liegt jedoch außerhalb Strauss' Deutung von Hobbes und stellt dessen werkgeschichtliche These, die den frühen Hobbes gegen den späten ausspielt, in Frage. Strauss mißt die moderne Philosophie am Maßstab der Antike und macht eine rigorose Gegenrechnung zu den oft geschilderten Fortschritten modernen Denkens auf. Im Werk von Hobbes sei der Bruch nicht nur unmittelbar zu greifen, sondern er werde auch besonders radikal vollzogen. In diesem Kontext ist es interessant zu sehen, wie Strauss die im Spätwerk von Hobbes zunehmende positive Deutung von Piaton bewertet. Hobbes wende sich Piaton wegen dessen Ideenlehre und seinem anti-empiristischen Zug zu und kritisiere Aristoteles, weil der zu sehr am Sprachgebrauch hängen bleibe. Auch wenn Hobbes Piaton in diesem Sinne bei seiner Umorientierung in Richtung resolutivkompositorischer Methode nutzt, so mißversteht er ihn nach Strauss dabei aber gründlich, denn Piaton habe sich gerade dem normalen Sprachgebrauch als Ausgangspunkt des Philosophierens zugewandt, er sei ja gerade stets von den Meinungen zum Wissen aufgestiegen. Mit der Abwendung von der Sprache habe Hobbes auch den einzigen natürlichen Zugang zu Fragen der Gerechtigkeit und der natürlichen Ordnung verbaut. Dennoch habe er von Piaton einen zentralen Gedanken aufgenommen, nämlich die Antithetik von Wahrheit und Schein (HPW: 144). Blickt man von dieser Überlegung auf das Hobbes-Buch, das Hobbes - wie gesagt - im Horizont einer über den Liberalismus hinausweisenden Perspektive deutet, so könnte man die daraus folgende Aufgabe für Strauss mit einem der letzten Sätze aus dessen Schmitt-Kritik wie folgt paraphrasieren: 43
Vgl. dazu Münkler (1993: 144-153), der betont daß der Rückgriff auf Elemente der politischen Theologie im Gegensatz zum kontraktualistischen Argument steht.
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„Eine radikale Kritik an Hobbes und seiner Grundlegung des Liberalismus ist nur möglich auf Grund eines angemessenen Piaton-Verständnisses." Doch obgleich Strauss diesen Satz wohl akzeptiert hätte, wendet er sich in der Folgezeit Piaton nicht direkt zu, da er noch den richtigen Zugang zu ihm sucht. Auf diesem Weg setzt er sich zunächst mehrfach mit al-Farabi und Maimonides auseinander. Mehr noch, als Gegner des Historismus formuliert Strauss, daß weitere historische Studien notwendig sind, um überhaupt zu Piaton zurückkehren zu können, denn „[...] nur die Geschichte der Philosophie ermöglicht den Aufstieg aus der zweiten, unnatürlichen' Höhle, in die wir weniger durch die Tradition selbst als durch die Tradition der Polemik gegen die Tradition geraten sind, in jene erste, natürliche' Höhle, die Piatons Gleichnis schildert, und aus der ans Licht zu gelangen der ursprüngliche Sinn des Philosophierens ist." (GS 2: 14, FN)
Die Moderne-Kritik, die Debatte zwischen den Alten und den Modernen sowie der mögliche Rückweg zur antiken Philosophie, nicht diese selbst, bleiben im Zentrum von Strauss' Denken. Zugleich drängen auch zeitgeschichtliche Fragen - wie die Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus - in den Vordergrund. In diesem Kontext prägt Strauss in den Jahren nach dem Hobbes-Buch, die dort angelegten Problemstellungen parallel zur Entwicklung seiner eigenen hermeneutischen Methoden erst richtig aus. Kommt man auf die Ausgangsfrage dieses Kapitels zurück, nämlich die Frage, ob Strauss ein politischer Theologe oder Philosoph ist, so läßt sich resümieren, daß er zwar häufig den Zusammenhang von Philosophie und Theologie mit Bezug auf das Problem politischer Ordnung erörtert, aber er reflektiert ihn als einen Gegensatz, und insofern grenzt er sich von Schmitt deutlich ab. Es sind aber durchaus theologisch-religiöse Motive gewesen, die Strauss zu seiner Auffassung einer radikalen Gegenüberstellung von Philosophie und Religion brachten, die letztlich einen Versuch darstellt, den Anspruch der Philosophie und den der Religion, der Frage nach Gott jeweils als Frage nach dem richtigen Leben ernst zunehmen. Alle Säkularisierungskonzepte sind aus dieser Perspektive schon Verwässerungen des eigentlichen Problems, und insofern begreift Strauss das Konzept von Hobbes auch nicht als politische Theologie, sondern sein zentraler Vorwurf lautet: Er habe politische (praktische) Philosophie in theoretische Philosophie verwandelt, die zugleich praktisch instrumentell eingesetzt wurde. Gerade dieses Argument zeigt, wie fern Strauss der Sache der politischen Theologie steht und seine Theorie als zetetisches Philosophieren vor politischen Instrumentalisierungen bewahren will.
4.
Die Kunst des doppeldeutigen Schreibens
4.1
Eine tiefenhermeneutische Methodik
Was Strauss als seine „Wiederentdeckung des Exoterischen" bezeichnet, ist eine tiefenhermeneutische Herangehensweise in der Textinterpretation, die zugleich der „Oberfläche" von Texten viel Aufmerksamkeit widmet (Strauss/Klein 1970: 3f.). Wie er in Persecution and the Art ofWriting, einem Aufsatz von 1941 und zugleich Beitrag sowie Titel des Sammelbandes methodischer Texte von 1952, exemplarisch entwickelt, ist mit dem Exoterischen jene Form der Textpräsentation gemeint, die sich rhetorischer Mittel bedient, um die Wahrheit zu verbergen. Für die Notwendigkeit des Verbergens werden zwei verschiedene Gründe namhaft gemacht. Sie kann erstens tatsächlicher Verfolgung geschuldet sein, d.h. bei illiberalen Verhältnissen und unter der Bedingung von Zensur käme es für Philosophen darauf an, so zu schreiben, daß die Wahrheit trotz schlechter Bedingungen ohne negative Folgen für den Autor zum Ausdruck gebracht wird. Allerdings ist dann auch ein kompetenter Leser gefordert, ein Leser, der genau und sorgfaltig liest und auf Dinge achtet, die zwischen den Zeilen angesprochen werden. Der zweite Grund für die Decouvrierung der Wahrheit ist systematischer Natur. Strauss ist der Überzeugung, daß jeder richtige Philosoph für das Gemeinwesen, in dem er agiert, gefahrlich ist. Er nimmt nämlich eine generelle Spannung zwischen der unbedingten Suche nach der Wahrheit, die den Philosophen kennzeichnet, und dem je konkreten Gemeinwesen an, in welchem immer nur bestimmte Meinungen und Auffassungen dominieren. Strauss folgert, jedes Werk politischer Philosophie müsse kodiert sein und es sei zum Transport der gefahrlichen Wahrheiten eine Tiefendimension nötig, die sich nur dem kongenialen Leser, den wenigen Philosophen bzw. den werdenden Philosophen erschließe. Was auf dieser Ebene implizit ausgedrückt wird, ist das Esoterische, die Lehre des Philosophen. Gleichzeitig muß, da schriftliche Texte bzw. Bücher allgemein zugänglich sind, eine Oberflächenstruktur existieren, die nicht nur die Tiefenschichten verschlüsselt, sondern sich auch bewußt auf andere Adressaten einläßt. Rhetorik wird hier als Ver-
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schlüsselungsstrategie verstanden. Der Verschlüsselungsbedarf für das esoterische Wissen habe seinen Grund darin, daß es der Menge und dem groben Mißbrauch gegenüber verschlossen bleiben müsse, und zwar selbst in der „besten Stadt", wie Strauss einmal pointiert (Strauss/Klein 1970: 4). Dieser Ansatz wirft eine Vielzahl von Problemen auf und war von Beginn an umstritten. Vielen Kritikern (z.B. Holmes 1993, Sabine 1953) gilt er als interpretatorischer Freibrief, der darauf abzielt, unter der Oberfläche von Texten Substrukturen zu enträtseln, für deren Aufdeckung es wenige Kriterien gibt. Das ist allerdings ein Einwand gegen alle Analysen, die auf Subtexte abzielen, denn solche Interpretationen haben stets tiefenhermeneutische Dimensionen. Die Kritik arbeitet mit der impliziten Unterstellung, weniger starke Interpretationen würden dem hermeneutischen Zirkel entkommen. Das ist aber ein Trugschluß, denn dieser Zirkel läßt sich generell nur prozessual auflösen. Es ist deshalb zu fragen, wieweit Strauss seine Methodik reflektiert und begründet einsetzt. Zudem sind seine Interpretationen selbstverständlich danach zu beurteilen, was mit ihnen im Unterschied zu anderen Auffassungen insgesamt gezeigt werden kann. Darüber hinaus kann hier die Debatte um die Frage, ob Strauss vornehmlich politischer Philosoph oder ein jüdischer Denker ist, genauer diskutiert werden, denn es ist eine Debatte, die wesentlich um die Methodik von Strauss kreist. Kenneth Hart Green hat jüdische Einflüsse in dieser Frage betont und hebt darauf ab, daß für die hermeneutische Methode von Strauss, für die Unterscheidung von Exoterischem und Esoterischem, jüdisches Denken und insbesondere Maimonides entscheidend waren. 44 Um den Einfluß jüdischer Denktraditionen auf die Herausbildung von Strauss' Methodik beurteilen zu können, müssen nämlich noch einige weitere Arbeiten und Autoren einbezogen werden und es ist anhand der Themen, systematischen Fragen und Quellen zu klären, ob und inwieweit es solche Einflüsse bei der Ausbildung von Strauss' Methodik gibt. Für die Skizze der problematischen Beziehung von „Esoterischem" und „Exoterischem" sei zunächst festgehalten: Strauss geht es nicht um den Zusammenhang von Philosophie und einem arkanartigen Machtwissen und auch nicht um eine Geheimlehre, die nicht fixiert wurde. Esoterisches und Exoterisches sind für ihn in den Texten der großen Philosophen selbst zu finden: das Esoterische ist eine Lehre, ein Wissen über substantielle Probleme, das Exoterische hingegen eine äußere, verdeckende Präsentationsform der esoterischen Lehre. Eine Besonderheit besteht also darin, daß das esoterische Wissen keine definitiven Erkenntnisse enthält, sondern ein sokratisches Philosophieren, ein „erotischer Skeptizismus" ist. Gerade diese Skepsis ist für Strauss das Subversive, da der Philosoph sich durch sie ein Wissen über die grundlegenden Probleme politischer Ordnung sowie über Grundzüge der besten Ordnung erarbeitet und jeder konkreten Ordnung damit kritisch gegenübersteht. Doch Strauss ist kein Sokratiker in dem Sinne, daß er sich mit den Meinungen von Bürgern auseinandersetzt; er will sokratisches Philosophieren wieder ermöglichen, und dazu müsse man die Denkmittel der „Alten" wiedererwerben, was nur in der Aneignung der klassi-
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Green formuliert: Strauss ist „a major Jewish thinker in his own right" und meint damit vor allem methodische Einflüsse von Maimonides (vgl. Green 1997b: 1; Green 1993).
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D I E K U N S T DES DOPPELDEUTIGEN SCHREIBENS
sehen großen Texte möglich sei. Der Weg ist also nicht eine Hinwendung zu Problemen, sondern das Studieren, Interpretieren und vor allem Kommentieren. Was Strauss primär interessiert, ist die Bewahrung und Kontinuierung der Philosophie auch in Zeiten großer Schwierigkeiten und Verfolgung. Daher verwundern seine Bezugnahmen auf den Totalitarismus in diesem Zusammenhang nicht. Seine starke Konzentration auf die Philosophie und ihren Erhalt fuhrt zu einer Abwertung der Politik als einem genuinen Gegenstand der Philosophie, was der folgende Gedanke exemplarisch zeigt. Strauss nutzt gelegentlich, um seine Auffassung zu verdeutlichen, einige wissenssoziologische Begriffe. Wenn er davon spricht, daß es gelte, alle Philosophen als eine Klasse zu begreifen, die ein einheitliches Interesse - nämlich die Erhaltung der Philosophie - hätten, dann tritt die enorme Distanz zur Wissenssoziologie hervor, die reelle Gruppen bzw. Klassen, deren Interessen sowie dadurch vorstrukturierte Erkenntnisperspektiven thematisiert. Statt einer Philosophie, die das Verständnis des Politischen - der Grundprobleme von Politik - intendiert, haben wir es hier mit „philosophischer Politik" zum Erhalt der Philosophie zu tun. Das Paradox eines politischen Denkens mit unpolitischem Kern zeigt sich bei Strauss auch in zentralen methodischen Fragen. Denn alle jene Probleme öffentlicher Kommunikation zwischen verschiedenen Auditorien und Expertenkulturen, die für ein Verständnis der Politik zentral wären, das Problem von Überzeugung und Überredung, das Rhetorik von Wissenschaft unterscheidet, klammert er aus. Das Verhältnis von Esoterischem und Exoterischem in Texten politischer Philosophie ist nach Strauss im Kern ein Problem der Mehrfachkodierung, bei dem es um die Verschlüsselung und Enträtselung von Texten geht, die sich an qualitativ verschiedene Adressaten wenden. Für ihn ist die politische Philosophie gerade jener Teil der Philosophie, in dem ihre Aufgaben, ihre Verantwortung und ihre Stellung im Gemeinwesen reflektiert und ihre Existenz gerechtfertigt werden. Ich behaupte darüber hinaus, und auch dafür finden sich Ansätze bei Strauss, daß die Mehrfachkodierung von Texten ein generelles Problem für die Geschichte der politischen Ideen ist. Solche Texte wenden sich nicht nur allgemein an die Öffentlichkeit des politischen Lebens, sondern sie sind zugleich auf wissenschaftliche wie auf politische Diskurse von Expertenkulturen bezogen, deren Standards divergieren. Die Unterscheidung von Esoterischem und Exoterischem ist eine Variante, dieser Problematik reflektiert zu begegnen. Insofern sind der Ansatz von Strauss, sein Rahmen und seine Voraussetzungen und auch die Anwendungsmöglichkeiten für moderne Probleme interessant, und zwar unabhängig davon, wieweit seine Lösung überzeugt und ob sie nur auf die Auslegung klassischer Texte bezogen ist. Das Begriffspaar esoterisch - exoterisch ist außer von Strauss und seinen Schülern in der philosophischen Literatur kaum reflektiert worden. 45 Aber was ist das Besondere von Strauss' Methodik? Als erstes ist festzuhalten, daß Strauss tatsächlich das Phänomen exoterischer Textpräsentation wieder ins Bewußtsein der Philosophie gehoben hat. Er kehrt dabei zu Recht die rhetorische Dimension von politischer Philosophie in diesem Kontext hervor. Sie wird als Verschlüsselungsstrategie begriffen und als Form, in 45
Nur mit Bezug auf Strauss wurde das Problem von einigen Autoren in der Unabhängigen schrift für Philosophie
(Bd.. II, 1978) diskutiert. Allgemeiner vgl. Holzhey/Zimmerli 1977.
Zeit-
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der sich politische Philosophie als ungefährliches Unternehmen rechtfertigend darstellen kann. Einseitigkeiten dieser Auffassung von Rhetorik treten hervor, wenn man Strauss' Sicht mit der Anfang der 1950er Jahre von Chaim Perelman unternommenen breiten Rehabilitierung der Rhetorik als Lehre praktischer Argumentation, d.h. politischer, öffentlicher und juristischer Argumentation vergleicht, denn dann fällt die Fixierung auf philosophische Texte und das Ausklammern der Formen politischer Überredung und Überzeugung auf (vgl. dazu Perelman/Olbrechts-Tyteca 1952; 1958; Perelman 1980). Ansonsten sind die Stärken des Konzeptes nicht leicht zu fassen, da Strauss seine Auffassung systematisch nur unzureichend durchgebildet hat und sie nicht in einer wissenschaftstheoretisch klaren Sprache formuliert. Um die Ansichten von Strauss zu plausiblisieren, skizziere ich sie zunächst, und zwar nahe an seinem Verständnis und seiner Sprache. Dabei nutze ich im folgenden ein einfaches Modell von Sprecher Sprache - Auditorium. Sprecher in den großen Texten ist der Philosoph, der allerdings, wenn er seine Auffassungen öffentlich macht, wegen ihrer allgemeinen Zugänglichkeit zugleich seine zweite Sprecherrolle, nämlich als Bürger eines Gemeinwesens, reflektieren muß. Das Medium ist in beiden Fällen die Normalsprache, da Strauss Philosophie sokratisch als das Aufsteigen von Meinungen zum Wissen begreift. Vermittels derselben Sprache wendet sich der Philosoph einesteils auf der Oberfläche an die Menge und andernteils an andere Philosophen, kongeniale Geister oder auch Staatsmänner. Die Rolle, die der Sprecher einnimmt, und der Adressatenbezug konstituieren den Kode - er ist nicht vorab festgelegt. Mehr noch: nur jene Leser, die davon ausgehen, daß der Text eine tiefere Wahrheit beinhalten könnte, die also dem Text einen großen Kohärenzkredit (Quentin Skinner) geben, sind in der Lage, ihn zu dekodieren. Aber dafür gibt es keinen allgemeinen Schlüssel, sondern nur folgende Reihe von Hinweisen, wie man von der ersten zur zweiten, tieferen Ebene kommt: •
Wenn Texte politischer Philosophie stets verschlüsselt sind, dann ist die wichtigste Direktive für ihr Verständnis, daß die äußere Form ernst genommen wird, daß man einen Autor zunächst und in erster Linie an den von ihm aufgestellten Standards mißt. D.h. zunächst ist die Textsorte zu klären: handelt es sich um ein Traktat, ein systematisches Werk etc.; sodann muß das Genre genauer bestimmt werden. Dabei legt Strauss besonders viel Wert auf die Frage, ob und inwieweit man einen Text als Satire bzw. Textpassagen als ironisch bestimmen kann.
•
Im Prinzip unterscheidet Strauss zwei Schritte: Zuerst muß die Interpretation erfolgen, d.h. man muß den Versuch unternehmen „zu ermitteln, was der Sprecher sagte, und wie er selbst tatsächlich verstand, was er sagte, ohne Rücksicht darauf, ob er dieses Verständnis eigens zum Ausdruck brachte oder nicht". In diesem Zusammenhang wird die Intention des Autors rekonstruiert. Im zweiten Schritt kann die Auslegung beginnen, nämlich der „Versuch, jene Implikationen zu ermitteln, die dem Sprecher entgangen sind" (Strauss 1971b: 301; PAW: 143). Die Interpretation setzt bei der Oberfläche von Texten an und muß die verschlüsselte Lehre aufdecken. Aber auch die Auslegung hat es mit exoterischen und esoterischen Textschichten zu tun, denn das Aufdecken unbeachteter Implikationen ist ein Deutungsvorgang.
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•
Wenn ein Klassiker, ein großer Philosoph konfus, widersprüchlich erscheint und noch dazu der Widerspruch auffällig ist, dann ist das ein Zeichen für Hintergedanken, ein bewußt gesetzter Hinweis auf tiefere Probleme.
•
Es gilt, rhetorische Elemente und Strategien aufzudecken und ernst zu nehmen. Gerade an ihnen, an Anredeformen, Widmungen u.ä.m. könne man Intentionen, divergente Adressatenkreise, die erreicht werden sollen, gut feststellen.
•
Zwischen Oberfläche und Tiefe, Hülle und ewigen Problemen zu unterscheiden, ist für Strauss zentral, und es setzt zugleich eine Art Ehrfurcht gegenüber den Texten voraus. Diese zeigt sich am stärksten in der Aufforderung herauszufinden, was der Autor beschweigt und was er wegläßt.
Die entscheidende Prämisse von Strauss' hermeneutischen Direktiven ist ein sehr hoher Begriff vom Autor, dem Philosophen; er sei in der Lage, sein Werk zu verschlüsseln und unterschiedliche Lektürepfade in ihm anzulegen. Das ist eine starke These, die als eine Möglichkeit nicht per se auszuschließen ist; freilich gibt es viele Texte, die nicht auf verschiedenen Ebenen durchkonstruiert sind und in denen nicht intendierte Untertexte mitlaufen. Ein populäres Beispiel für das, was Strauss meint, sind Romane von Umberto Eco, die häufig zwei verschiedene generelle Ebenen haben, etwa im Falle von Der Name der Rose die Ebene eines Kriminalromans und die eines philosophischen Disputes. Strauss präferiert zudem in der Folge von Piaton und Sokrates aus theoretischen Gründen indirekte, gesprächshafte Darstellungen, bei denen die „richtigen" Auffassungen nicht leicht zu fassen sind. Das hat mit seiner Auffassung der anhaltenden und ewigen Grundprobleme, mit seinem „Problemplatonismus" zu tun. Philosophie ist eigentlich, d.h. im esoterischen Sinne, Philosophieren, das kultivierte Gespräch mit den Klassikern, mit den großen Philosophen, und für die Modernen steht die Aufgabe, dieses Gespräch mit den Klassikern und vor allem jenen der Antike wieder aufzunehmen. Politische Philosophie in diesem Sinne ist eine besonders fluide Wissensform. Das Konzept von Esoterischem und Exoterischem ist für Strauss' ideengeschichtliche Interpretationen und wohl auch für seine eigene Philosophie leitend. Man kann es als ungenügend elaborierten hermeneutischen Ansatz kritisieren und kommt dann in die Lage, erklären zu müssen, wieso mit solch einer Methodik derart provokative und eindringliche Lesarten möglich wurden. Man kann auch das willkürliche Moment in diesem interpretativen Konzept stark machen und es deshalb kritisieren, wie auch wegen des offensichtlichen Elitismus. Mir scheint jedoch, daß beide Wege nicht hinreichend sind. Strauss behandelt das Problem von theoretischen Texten mit politischer Wirkungsabsicht kontextualisierend als eines zweier verschiedener Adressaten: der Philosophen und der Menge. Auch wenn Strauss elitistisch argumentiert, setzt er auf die Normalsprache als Medium. Seine Rückkehr zum antiken Rationalismus und zur praktischen Vernunft nimmt dabei auf eigenwillige Weise die Differenzierung von Fach- und Normalsprache zurück. 46 Mehr noch, Strauss ist ein ausgesprochener Gegner szientifi46
Die szientifische Fachsprache ist für Strauss nicht nur meistens positivistisch, sondern bringt zudem eine Entschärfung der moralisch-politischen Probleme mit sich.
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scher Politikwissenschaft und der „Versozialwissenschaftlichung" öffentlicher und politischer Fragen. Er erblickt darin eine politisch-moralische Neutralisierung der Probleme und eine rationalistische Abwertung politischer Klugheit und praktischen Wissens. Erst durch die Rücknahme der Differenzierung von Experten- und Alltagssprache entsteht bei ihm die Schärfe des Kodierungsproblems und der Bruch zwischen den Philosophen und den Vielen. Strauss hat damit das in modernen und postmodernen Texttheorien viel komplizierter gefaßte Problem der Mehrfachkodierung in einer einfachen Form diskutiert; er stellt sich dabei hauptsächlich dem Problem einer vom Autor aus realisierbaren adressatenspezifischen „Beherrschung" von Wirkungen politiktheoretischer Texte. Anders gefaßt: bei Strauss fließen zwei Dinge zusammen, nämlich zum einen die Notwendigkeit von Kodierung wegen der Verfolgungsgefahr, und zum anderen macht er auf eine eigenwillige Weise die Verantwortung des Philosophen für die potentiellen Wirkungen seiner Schriften sehr stark. Allerdings ist die Frage der Verantwortung nicht primär eine Frage, wofür der Philosoph sich engagiert, sondern als Verhinderung von Mißbrauch gefaßt. Zugleich geht es positiv um den Erhalt der Philosophie, wozu die Rechtfertigung ihrer Existenz ebenso gehört wie das Aufzeigen ihrer öffentlichen Ungefährlichkeit. Die noble Lüge kann nur unter der Bedingung der Kodierung der gefahrlichen Wahrheit gewahrt werden. Wiewohl Strauss die Bedeutung von Philosophie idealistisch überschätzt, ist die Kodierung von Texten und die Verantwortlichkeit von Philosophen für mögliche Wirkungen ein wesentliches Problem, das nicht nur in der Vormoderne, sondern gerade in der Moderne - man denke an die von Strauss verhandelten Beispiele wie Nietzsche und Heidegger - wichtig ist. Das Konzept eines „exoteric teaching" mit all seinen elitistischen Konsequenzen ist darüber hinaus der Schlüssel für Strauss' spezifischen Rekurs auf die Antike. Nach Matthias Bohlender kann man prinzipiell zwei verschiedene Bedeutungen politischer Philosophie bei Strauss voneinander abheben, nämlich die esoterische und exoterische philosophische Behandlung der Politik, und zum anderen die esoterische und exoterische politische Behandlung der Philosophie (vgl. Schema 1, Seite 116). Idealtypisch lassen sich dann vier „Äußerungsmodi politischer Philosophie" unterscheiden: 1. „Als esoterische Übung (Dialektik) ist sie Teil der Philosophie, Teil des philosophischen Dialogs um ,Tugend',Gerechtigkeit' und das ,gute Leben'. 2. Als esoterische Lehre (Psychagogie) ist sie Instrument der Philosophie zur Rekrutierung der tugendhaften' Männer und Jugendlichen. 3. Als exoterische Übung (Diätetik) ist sie Praxis der Philosophie zur Ausbildung einer Führungselite. 4. Als exoterische Lehre (Rhetorik) ist sie die politische Rechtfertigung der Philosphie vor dem Tribunal der politischen Gemeinschaft (Staat, Gesellschaft, Bürger)" (Bohlender: 216).
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Politische Philosophie (1)
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Esoterisch
Exoterisch
philosophische Behandlung der Politik (= Philosophisch):
Philosophische Behandlung der Politik:
Sprecher: Philosoph als Philosoph
Sprecher: Philosoph als Rhetor Sprache: politische Diätetik Auditorium: politische Führungseliten
Sprache: Dialektik Auditorium: Philosophen Politische Philosophie (2)
politische Behandlung der Philosophie:
Politische Behandlung der Philosophie:
Sprecher: Philosoph als Pädagoge
Sprecher: Philosoph als Rhetor Sprache: apolog./polem. Rhetorik Auditorium: Bürger/Sophisten
Sprache: Psychagogie Auditorium', aristokratische Jugend Schema 1
Quelle: Bohlender 1995: 217
Das Schema unterscheidet die verschiedene Seiten politischer Philosophie mit Blick auf den mittleren und späten Strauss und verdeutlicht die vielfaltigen Interpretationsebenen, die flexible und multifunktionale Rolle, die sokratische Rhetorik bei Strauss erhält. Heraushebenswert sind dabei die verschiedenen Formen von Sprache und Sprecherrollen, die auditoriumsabhängig gedacht sind. D.h. faktisch spielt sich das Ganze, gleich ob in der Darlegung eines Philosophen oder der Interpretation, die Strauss von ihm gibt, in der Alltagssprache ab, die zu Begriffen verdichtet wird, aber mit dem Ebenenwechsel auch die Stringenz wieder verliert. Hinzu kommt als Besonderheit von Strauss' Konzept, daß diese verschiedenen Seiten zwar differenziert, aber nicht scharf voneinander abgehoben methodisch kontrolliert eingesetzt werden. Die Dekodierung ist ja gerade absichtsvoll weitgehend dem Leser überlassen. Strauss kann so, was entscheidend ist, virtuos zwischen den Ebenen hin und her wechseln und ist deshalb selbst oft auch schwer zu fassen. Bei der Entwicklung seiner Methodik kommt Strauss nur sukzessive zur Differenzierung der Seiten politischer Philosophie, und sie werden nicht nur auf diese bezogen. Da jede Philosophie sich mit der Religion auseinandersetzen muß, gibt es auch noch einen esoterischen und exoterischen Umgang mit religiösen Themen. Gerade weil Strauss' Philosophieren um das „politisch-theologische Problem" zentriert ist, setzt er sich immer wieder mit jüdischen und arabischen Theoretikern des Mittelalters auseinander, die man nicht problemlos in das obige Schema einordnen kann, denn bei ihnen spielt die Beziehung von Philosophie und Religion ein tragende Rolle.
D I E WIEDERENTDECKUNG DES EXOTERISCHEN
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Im folgenden werden vor dem skizzierten Hintergrund vor allem drei Punkte erörtert: Erstens geht es darum zu zeigen, wie der tiefenhermeneutische Ansatz mit dem „theologisch-politischen" Problem verbunden ist. Dabei gilt es zu klären, welchen Stellenwert philosophische bzw. jüdische Einflüsse bei Strauss haben. Zweitens wird vermittels eines einfachen Modells Sprecher - Sprache - Auditorium thematisiert, wie Strauss Rhetorik als literarische Kodierungstechnik begreift und welche Mittel der Dekodierung in diesem Zusammenhang entwickelt werden. Beide Fragen werden drittens in ihrer schrittweisen Entwicklung analysiert, um so den theoretischen Einflüssen, dem Wandel der Mittel und den zugrunde liegenden Motiven genauer auf die Spur zu kommen. Dazu gehe ich auf unveröffentlichte Arbeiten zur Methode und auf die meisten im Sammelband Persecution and the Art ofWriting (1952; PAW) veröffentlichten Aufsätze ein.
4.2
Die Wiederentdeckung des Exoterischen
Wahrscheinlich hat Strauss 1929/30 das „Exoterische" als ein hermeneutischmethodisches Problem, als eine Darstellungstechnik besonderer Art erkannt. Eine große Rolle spielten dabei die Arbeiten zu mittelalterlichen jüdischen und arabischen Philosophen. Aber noch in Philosophie und Gesetz (1935; PG) läßt sich kein konzeptioneller Gebrauch der Unterscheidung esoterischen und exoterischen Schreibens ausmachen. Ziel ist es nun, Grundzüge der Genese von Strauss' Methodik und einige ihrer wichtigen Quellen aufzuzeigen und dabei auch die Streitfrage, wie weit Strauss als jüdischer Denker begriffen werden kann, zu klären. Ich stützte mich dabei primär auf von Strauss veröffentlichte Texte und ein postum ediertes Manuskript.47 Ein wichtiger Ansatzpunkt sind zwei Texte aus dem Jahr 1939, die zeigen, wieweit Strauss seinerzeit mit diesem Ansatz gekommen war. Der erste Text Exoteric Teaching% wurde im Nachlaß gefunden, und der zweite ist ein Aufsatz zu Xenophons Lakedaemonischer Verfassung (Strauss 1939). Bevor ich auf diese Arbeiten eingehe, sind, Anstöße und Überlegungen von Nietzsche und Heidegger zu skizzieren. Dann rücke ich Strauss' Deutungen von Maimonides (1941) und von al-Farabi in den Mittelpunkt, die erste Anwendungen seiner Methodik darstellen. Danach geht es mit Rousseau und Spinoza um zwei Theoretiker, bei denen Strauss die Relevanz seiner Interpretationskunst für moderne Philosophen vorführt. Nietzsche war für Strauss' geistige Entwicklung von prinzipieller Bedeutung. Seine Schriften enthielten nicht nur große Provokationen, Strauss folgte früh dessen radikaler Moderne-Kritik, wobei es freilich auch viele Dissenspunkte gibt. 49 Er kann aber auch
47 48 49
Genauere Hinweise, die sich auf Archivmaterialien stützen gibt Meier (1997: XVI). Der Text (Strauss I986)wurde in der Zeitschrift Interpretation, Vol. 14, N o . l publiziert. Vgl. z.B. Strauss über Das Heilige von Rudolf Otto (1923). Nietzsche wird dort als ein Beispiel angeführt für diejenigen, die eine Brücke zwischen dem Deutschen und dem Jüdischen geschlagen haben, denn seine Kulturkritik strebe in „vor-,christliche' Tiefen des jüdischen sowohl wie des hei-
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direkt an Nietzsche als einen der Wenigen anknüpfen, die Ende des 19. Jahrhunderts zwischen Esoterischem und Exoterischem unterschieden haben. In Jenseits von Gut und Böse heißt es: „Das Exoterische und das Esoterische, wie man ehedem unter Philosophen unterschied, bei Indern, wie bei den Griechen [...], kurz überall, wo man eine Rangordnung und n i c h t an Gleichheit und gleiche Rechte glaubte, - das hebt sich nicht sowohl dadurch voneinander ab, dass der Exoteriker draussen steht und von aussen her, nicht von innen her, sieht, schätzt, misst, urteilt: das Wesentlichere ist, dass er von unten auf die Dinge sieht, - der Esoteriker aber von O b e n herab!" (1988b: 48)
Der für den Begriffsgebrauch konstitutive Gegensatz zwischen der Elite, den Wenigen, und der Menge, den Vielen, tritt hier deutlich hervor. Die tiefenhermeneutische Methodik hat anthropologische Prämissen, nämlich eine akzentuierte Wertschätzung von „natürlicher Ungleichheit". Strauss teilt diese heroische modernekritische Haltung, fugt sie jedoch in sein, auf zeitlos gültige normative Standards politischer Ordnung zielendes, Konzept ein. Nietzsche spricht als Philosoph über die Philosophie, er verschmäht die Mäßigung und nutzt exoterische Kodierung nur als stilistisches Mittel neben anderen, denn er spielt die Konsequenzen seines radikalen Denkens in immer neuen Masken und literarischen Formen durch. Eine weitere philosophische Position, die für die Entwicklung der Methodik von Strauss wesentlich war, ist Heideggers Auffassung der Wahrheit, die nur in einem Prozeß des Entbergens und gleichzeitigen Verbergens gefaßt werden kann. Am deutlichsten läßt sich dieser Einfluß an Strauss' Auslegung des Höhlengleichnisses fassen.50 Meine These ist in diesem Zusammenhang, daß Strauss erst mit Bezug auf Heidegger dazu kommt, seine Leitmetapher von der Höhle unter der platonischen Höhle auch methodisch umzusetzen. Die Variation der Heideggerschen Auslegung des Höhlengleichnisses knüpft zunächst an diesen an, nämlich darin, daß dieses Gleichnis zentral für das Verständnis der Schwierigkeiten des Philosophierens und die Entwicklung des Philosophen ist. Die Bewegung aus der Höhle ans Licht metaphorisiert den Aufstieg vom Meinen, vom Vermeintlichen zur Erkenntnis. Der Schwerpunkt in diesem Bild liegt im Philosophieren als Prozeß und nicht im Besitz einer Wahrheit. Soweit besteht Einigkeit zwischen Heidegger und Strauss, die Differenz besteht im Verhältnis zu Piaton; während Heidegger ihn für das Verstellen der Seinsfrage verantwortlich macht, sieht Strauss in Piaton ein unerreichtes Vorbild. Allerdings weiß Strauss wiederum über Heidegger vermittelt, daß es keinen unmittelbaren Rückgriff auf die vorbildhafte Philosophie geben kann, sondern daß zunächst die Tradition, in der die Begriffe erstarrt und verselbständigt sind, destruiert werden muß. In diesem dekadenztheoretischen Zugang gleichen sich Strauss und Heidegger, und es ist genau dieser Zugang, den Strauss mit der Metapher von der Höhle unter der Höhle, in der die Modernen stecken, veranschaulicht.
50
lenisch europäischen Geistes" hinab, und zwar, ohne daß einseitig Maßstäbe übertragen werden (vgl. GS 2: 308). Für die Betrachtung ist es irrelevant, ob Strauss alle entsprechenden Texte von Heidegger kannte. Ich habe die Bedeutung des Höhlengleichnisses anderenorts näher verfolgt: vgl. Bluhm (1999).
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Wesentlich setzt sich Strauss von Heidegger durch seine Kritik des Relativismus und durch seine Zuwendung zur politischen Philosophie ab. Heidegger fehle eine politische Philosophie, eine Selbstreflexion der Rolle des Philosophen und der Philosophie in der Politik. Damit bleibt er auf gewisse Weise blind gegenüber den Gefahrdungen der Philosophie und ihrer Verantwortung. Er entzieht sich einer verantwortungsvollen politischen Behandlung der Philosophie, d.h. er weiß sie als unpolitischer Denker nicht vermittels rhetorischer Strategien zu schützen. Strauss und Heidegger teilen jedoch einen starken Begriff von Philosophie, von Denken, das per se nur die Wenigen vermögen. Die Menge verbleibt im Medium des Meinens bzw. muß wegen der Gefährlichkeit der Wahrheit getäuscht werden. Es handelt sich dabei um einen strategischen Täuschungsvorgang, der keine Ausnahme, sondern Normalität ist. Die Täuschung bezieht sich nicht auf eine Arkanpolitik, sondern primär auf das Verbergen philosophischen Wissens. Dennoch kann das philosophische Wissen auch den Hintergrund für Arkanpolitik bilden, für welche die nächtliche Versammlung aus Piatons Nomoi ein mögliches Modell bildet. Das Problem der Tiefe und des Esoterischen hat einen generellen und einen speziellen Aspekt. Man kann mit Strauss unterscheiden zwischen dem, was moderne Philosophen an tiefen Einsichten gewannen sowie verschlüsselten, und dem, was dieses Konzept in der Antike und bei wenigen späteren Autoren bedeutete, als noch seine ganze Tragweite bekannt war. Für jene Theoretiker ging es darum, kühn und radikal zu denken, aber in der Präsentation besonnen vorzugehen. Für die moderne Philosophie, die Strauss später in drei Verfallswellen gruppiert, sind Verluste kennzeichnend; so reflektieren Autoren in der frühen Moderne das Problem der Verfolgung und besonnener Präsentation von philosophischen Wahrheiten, aber sie folgen schon nicht mehr den hohen normativen Orientierungen antiker Autoren. In der fortgeschrittenen Moderne, und dafür können Nietzsche und Heidegger als Beispiel stehen, wird zwar radikal gedacht, aber die Besonnenheit und Mäßigung fehlt. Gerade deshalb sind Nietzsche und Heidegger Autoren mit gefahrlicher Breitenwirkung. Strauss orientiert sich dagegen besonders an der platonisch-sokratischen Philosophie und an Autoren, die in dieser Tradition dachten. Er bestimmt das Gespräch als die vorzügliche Form der Philosophie. Von daher gewinnen nicht nur Sokratiker wie Xenophon, sondern auch Lessings Freimaurer-Gespräche und schließlich erneut Maimonides, also Autoren, die den Gegensatz von Exoterischem und Esoterischem explizit nutzen, ihren besonderen Stellenwert. Betrachtet man Exoteric Teaching (ein posthum publiziertes Manuskript, das nach einem ersten Teil abbricht, vgl. dazu Meier 1996: 15, Note 4) und The Taste of Xenophon (einen publizierten Aufsatz), zwei 1939 verfaßte Texte, die keinen Eingang in den Sammelband Persecution and the Art of Writing fanden, so kann man beobachten, wie Strauss die neue Methodik schrittweise entwickelt. Zentral für beide Aufsätze ist zunächst die Bedeutung von „Teaching". Um die Form philosophischen Wissens näher zu beschreiben, verwendet Strauss den Begriff der Lehre, den auch Heidegger stark gemacht hat. Lehre hebt auf verschiedene Momente ab, die extra zu fixieren sind. Sie meint zuerst die gesprächshafte, flüssige Form, also das sokratische Philosophieren, das nicht auf fixe Erkenntnisse aus ist, sondern die Erörterung als Modus einer besonderen Wissensgenerierung begreift. Erst in zweiter Linie ist damit das Unausgesprochene, das Verdeckte gemeint. Der Begriff der Lehre dient der Absetzung vom Begriff systemati-
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scher Theorie. Der gesamte Text unterscheidet deutlich zwischen „public and secret teaching", also der öffentlichen und der geheimen Lehre. Strauss nutzt diese Begriffe, um die Besonderheit des philosophischen Wissens von anderen Wissensformen abzuheben. Lehre meint hier jeweils Verschiedenes, nämlich einmal die Überlegungen radikalen, rücksichtslosen philosophischen Denkens, zum anderen geht es um „public teaching", das für ein verantwortliches Reden bzw. für die Menge kodierte Texte von Philosophen steht, wie Strauss nicht müde wird, immer wieder zu betonen. In Exoteric Teaching entwickelt Strauss das hermeneutische Problem aus der jüngeren philosophischen Debatte, nämlich von Lessing und Leibniz her. Beide hätten noch ein deutliches Wissen über die antike Unterscheidung von Esoterik und Exoterik als Darstellungsproblem philosophischer Wahrheit, während bei Friedrich Schleiermacher, dem Platon-Übersetzer, zwar noch ein schwaches, aber folgenloses Bewußtsein der methodischen Unterscheidung vorhanden sei. Lessing spielt für Strauss eine große Rolle bei der erneuten Thematisierung des Exoterischen, insbesondere seine FreimaurerGespräche (vgl. Strauss/Klein 1970: 3). Damit ist insbesondere die Zeit seit der Dissertation über Jacobi bis zur Mitarbeit an der Mendelssohn-Ausgabe Anfang der 1930er Jahre gemeint, die alle in Bezug zu Lessing stehen.51 Im Text von 1939, der erst 1986 publiziert wurde, finden sich auch für das Ordnungsproblem wichtige Akzente; insbesondere wird der Zusammenhang der besten Verfassung und der Religion angesprochen. Ursache für die Existenz verschiedener Religionen sei nach Lessing die Verschiedenheit der Verfassungen, wobei festgehalten wird, daß es realiter nicht die beste Verfassung geben kann. Die Religion und die Theologie werden hier ausdrücklich zu einem Bestandteil des größeren politischen Problems (Strauss 1986: 53). Strauss nutzt die Aussage von Lessings Falk: „Der Weise kann nicht sagen, was er besser verschweigt" (ebd.: 52, Note 4) als Beleg dafür, auf die notwendige Klugheit des Weisen in seinem Verhalten hinzuweisen. Klugheit sei es und nicht Mystizismus, wenn die Wahrheit verborgen kundgetan wird. An diesen prinzipiellen Hinweis schließt sich die Überlegung an, daß nur bestimmte Wahrheiten verborgen werden müssen und daß für die Entscheidung darüber die vorherrschenden Umstände wesentlich sind. Der Text schließt mit einer kleinen Zusammenfassung von sieben Punkten der Methode der exoterischen Präsentation, in denen Strauss noch einmal verdeutlicht, daß es die moralische Verantwortung der Philosophen als Teil einer Elite ist, die Auswirkungen ihres Denkens zu reflektieren (ebd.: 54). Maßgeblich für Strauss' Herangehen ist die Rehabilitierung der klassischen Ordnung von Vita activa und Vita contemplativa, bei der das theoretische Leben dem praktischen übergeordnet wird. Mehr noch, die Verkehrung dieser Ordnung in der modernen Philosophie ist für Strauss ein zentrales Problem, ist Bestandteil der Unterbauung der platonischen Höhle. In diesem Sinne betont er die Zwiespältigkeit der Moderne und nutzt Autoren wie Lessing, Ferguson und Rousseau, um der Dominanz der Vita activa und einem damit einher gehenden Rationalismus entgegenzutreten. Folie der Kritik sind die klassischen antiken Autoren, die „Alten", die Strauss gegenüber den Modernen ausspielt. Wie diese Nutzung erfolgt, verdeutlicht ein Beispiel. Strauss erkennt bei Lessing im Gegensatz zu bildungsbürgerli-
51
Vgl. hierzu den 1937er Text Erinnerung
an Lessing, in GS 2: 6 0 7 - 6 0 8 .
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chen Lesarten einen „intransigent classicism" (ebd.: 59) und fuhrt dafür das folgende Zitat an: „Wir sehen mehr als die Alten; und doch dürften unsere Augen vielleicht schlechter sein als die Augen der Alten: die Alten sahen weniger als wir; aber ihre Augen, überhaupt zu reden, möchten leicht schärfer gewesen sein als unsere. - Ich fürchte, dass die ganze Vergleichung der Alten und Neuern hierauf hinauslaufen dürfte." (Ebd.: 59, Note 37)
Diese Stelle belegt zwar Lessings starkes Interesse an den „Alten" und seine Skepsis gegenüber der Moderne, sie ist jedoch schon auf den ersten Blick viel differenzierter als behauptet, denn Lessing nutzt den Konjunktiv exzessiv, die Augen der Modernen sind „vielleicht" schlechter, die der Alten „leicht schärfer", und er „fürchtet", daß der Vergleich auf dieses Ergebnis hinauslaufen würde. So spricht wohl kein intransigenter, auf die Antike setzender Klassizist. Die Relativierungen als Vorsicht und Exoterik zu fassen ist gewagt, aber anders läßt sich Strauss' Lesart, die Lessing aus der liberal-aufklärerischen Tradition herauslöst, weder halten noch verstehen. Dabei tritt allerdings die Stärke von Lessing, nämlich das Ausloten der Ambivalenz der Moderne, in den Hintergrund. Stellt Exoteric Teaching eine Arbeit dar, die sich philosophiegeschichtlicher Quellen des Exoterischen in der Moderne vergewissert, so ist The Taste of Xenophon die erste Anwendung des Ansatzes bei einem antiken Autor, dem ein großes Bewußtsein für diese Unterscheidung unterstellt wird. Xenophons Text über die Verfassung der Spartaner ist vor allem wegen der Bedeutung des XIV. Kapitels umstritten (vgl. Rebenich 1998: 21 f.). Dieses Kapitel fällt aus dem Rahmen, denn es ist - zumindest auf den ersten Blick - weniger eine Lobpreisung des lykurgischen Sparta, sondern enthält viele aktuelle Bezüge, die die Entfernung des gegenwärtigen Sparta von den Zeiten des legendären Gründers Lykurg herausstellen. Es ist deshalb als spätere Einfügung gedeutet worden. Strauss versucht mit seinem Konzept eine kohärente Interpretation des ganzen Textes zu geben. Er bestimmt die Intention von Xenophon als Autor in enger Verbindung mit der Formanalyse des Textes, was in diesem Falle besonders wichtig ist, denn die eingangs von Xenophon erklärte Intention führe in die Irre. Der Text sei nämlich nicht, wie er meist gelesen wird, eine Verherrlichung der spartanischen Verfassung und Lykurgs, sondern eine Satire. Strauss stemmt sich gegen eine mit dem Sparta-Mythos verknüpfte Lesart und erklärt - eine tradierte Lesart destruierend Xenophon habe, um der gegenwärtigen Zensur zu entgehen, das Mittel der Satire genutzt. Das scheinbar erratische XIV. Kapitel gebe dies dem sorgfaltigen Leser zu erkennen; es wird vom Einsprengsel geradezu zum Schlüssel für die Deutung des ganzen Textes gemacht. Das Ziel von Strauss ist eine Rehabilitierung von Xenophon als bedeutendem Sokratiker, als einem einfachen, aber gewandten Autor. Dafür schreibt Strauss ihm von vornherein „exceptional talents" (1939: 503) zu und behauptet, der Text sei in sich stimmig konstruiert und enthalte alle nötigen Informationen „between the lines". Diese Zuschreibungen vorausgesetzt, erscheint die Fehlrezeption als Ausdruck des Verlustes der Fähigkeiten, den von Xenophon verschlüsselten Text zu dekodieren, denn in der Regel kommen die Interpreten von der exoterischen Präsentation nicht los. Im Gegensatz dazu zeigt die dominierende Lesart an, wie weit die Kenntnis der esoterisch-exoterischen Methodik, die Strauss wiedergewinnen will, verfallen ist.
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Strauss' Deutung des Ganzen als Satire beginnt schon beim ersten Kapitel. Er erklärt, daß Xenophon zu verstehen gebe, die spartanischen Mädchen und Frauen dürften reichlich essen und unverdünnten Wein trinken. Diese jenseits der Mäßigung liegende Norm und das Ausbleiben aller über physische Belange hinausgehenden Bildung fallt besonders auf, weil die Männer im Geist der Mäßigung erzogen werden sollen. Dieser Sachverhalt dient der Folgerung, das scheinbare Lob der spartanischen Gesetze erweise sich als eine Satire über die spartanischen Frauen. Weitreichender sei der nächste Schritt, denn weil Xenophon keine weiteren Unterscheidungen zwischen dem einstigen und dem aktuellen Verhalten treffe, deute er den Charakter der ganzen Schrift schon früh als generelle Satire über Sparta an. Ähnlich verblüffend wird der Text vom zweiten Kapitel an gelesen. Nachdem Strauss die Konzentration der Spartaner auf die körperliche Erziehung herausgearbeitet hat, folgert er, hier seien die höheren Themen der Bildung wie Schriftkunde und Musik letztlich durch körperliche Stählung, die vor Verweichlichung schützt, ersetzt worden. Darüber hinaus weist er später nachdrücklich auf die moralisch befremdliche Erlaubnis zum Stehlen und den Einsatz der Peitsche bei der Erziehung hin (Strauss 1939: 509). Auch in der Interpretation weiterer Kapitel von Xenophons Schrift gründen sich die Argumente auf das, was verschwiegen bzw. ausgelassen wird. Strauss kann seine Behauptungen über die Tugenden in Sparta nur durch Vergleich bzw. eine Folie der Kritik gewinnen. Als eine solche Folie dient das sokratisch-platonische Bildungs- und Tugendkonzept, weshalb er resümieren kann: „One may sum up Xenophon's view o f Spartan virtue by saying that there is no greater difference between the virtue of Sparta and the virtue of other cities than the virtue o f practicing' laymen and of negligent laymen: For if virtue is wisdom, and since wisdom is found in only a very few individuals, the difference between the so-called virtue of all citizens and true virtue must be even greater than the difference between the skill o f a quack and the skill o f a physician." (Ebd.: 514)
Nach dieser scharfen Konklusion, die den Gegensatz zwischen der Tugend in Sparta und anderen griechischen Städten hinter dem Gegensatz der Bürger, der Menge und der Weisen fast verschwinden läßt, gesteht Strauss die Fragilität der „arguments from silence" ein und verlagert den Akzent auf die expliziten Aussagen und die Struktur des Textes (ebd.). Strauss deutet das Kapitel X als das „esoteric end" (ebd.: 528), das die Beziehung zur am Anfang der Abhandlung stehenden Verwunderung über die Berühmtheit und Mächtigkeit wieder herstellt. Nun werde die Distanz des Autors deutlicher, denn der Schlußsatz lautet: „So loben - und dies ist das Merkwürdigste - zwar alle diese Einrichtungen, doch nachahmen will sie keine Stadt." (Xenophon 1998: 73) Durch diese Pointierung stützt Strauss seine Lesart und verwandelt Xenophon in einen Kritiker der damaligen Bewunderung von Sparta. Methodisch kommt Kapitel XIII, das die Ehre, die der König in der Armee erfahrt, und Kapitel XV, das die Ehre, die er zu Hause erfährt, thematisiert, in Strauss' Interpretation besondere Bedeutung zu. Diese Teile klammern nicht nur das umstrittene Kapitel XIV ein, vielmehr will Strauss hier demonstrieren, wie Xenophon Widersprüche und Irregularitäten in der Komposition des Textes genutzt habe (Strauss 1932: 522). Die Kritik und Mißbilligung des gegenwärtigen Sparta sei bewußt
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zwischen diesen beiden Kapiteln plaziert. Xenophon, der bekanntlich die Monarchie favorisiert und auch die lykurgische in der Schrift zur spartanischen Verfassung lobt, nehme so seinem Lob die Würde. Damit zerstöre er auch den Plan eines im Verlauf des Textes zunehmenden Lobes. Zugleich mache dies erforderlich, die vorangegangen Kapitel erneut in ihrer Struktur zu betrachten. In diesem Sinne bestimmt Strauss dann zwei tragende Blöcke, in denen Tugenden und Institutionen diskutiert werden, und zwar solche, die für den Frieden (Kapitel I-X), und jene, die für den Krieg wichtig sind (Kapitel XI—XIII). Die entscheidende Überlegung ist die Aufforderung von Strauss, das im Vordergrund stehende Lob der Monarchie vor dem Hintergrund der Unterscheidung von Krieg und Frieden noch einmal zu überdenken. Die Kodierung des Textes erfolge nämlich durch zwei gegensätzliche Pläne; der erste laufe auf das Lob der kriegerischspartanischen Verfassung hinaus, der zweite auf die Reflexion, daß Krieg nicht dem Frieden überlegen sei (ebd.: 524). Durch diese versteckte Kritik sei Xenophon der Zensur entgangen. Was aber ist die Folie für die Kritik? Worauf gründet sich Strauss' Urteil, Sparta sei nur Ausdruck des politischen Geistes, ja eines spezifischen politischen Geistes? Strauss verneint, daß nur Bildung der Maßstab sei, sondern plädiert - wie stets - dafür, daß die Möglichkeit der Philosophie der kritische Punkt ist. Da Xenophon als Philosoph, den die Sache der Philosophie interessiert, gelesen wird, kann es sich bei dem ganzen nur um eine kritische Darstellung, eine Satire handeln, denn: „Sparta and philosophy are incompatible. Thus Sparta became, on the one hand, the natural starting point for any ruthless idealization of political life, for any true Utopia; and on the other hand, it became the natural subject of any ruthless attack on political life, or of any philosophic satire. By satirizing Sparta, the philosopher then did not so much mean Sparta, the actual Sparta o f the present or of the past, as the spirit of Sparta, or the conviction that man belongs, or ought to belong, entirely to the city." (Strauss 1939: 530)
Der eigentliche Maßstab von Xenophons Kritik sei die Überlegenheit der Seele über den Körper, die die Möglichkeit der Vita contemplativa, der Philosophie einschließe. Philosophie steht aber nicht nur in einem Spannungsverhältnis zur Politik, sondern ebensosehr zu den lokalen Göttern, da sie auf universelle Wahrheit zielt. Um in dieser doppelten Spannung philosophieren zu können, muß eine literarische Technik entwikkelt werden, die den Widerspruch zwischen dem „secret teaching" und dem notwendigerweise öffentlichen Charakter des Publizierens lösen kann: „That technique was the outcome of a very simple discovery. If a man tells a charming story, most people will enjoy the story [•••] but only a minority of readers will recover from the charm, reflect upon the story and discover the teaching which it silently conveys." (Ebd.: 534f.)
Diese Technik kann vor der Verfolgung schützen und ist, wie Strauss behauptet, bei den antiken Autoren ausgebildet, die daher die effizientesten Lehrer wirklich unabhängigen Denkens sind. Jedoch kennzeichnet sie auch die wahren Philosophen aller Epochen, „in which wisdom was not seperated from moderation" (ebd.: 535). Will man den Text nach dem Schema der vier Dimensionen der politischen Philosophie klassifizieren, so handelt es sich auf der esoterischen Ebene um einen philosophi-
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sehen Text, der sich an Philosophen wendet, aber auf die Notwendigkeit der philosophischen Behandlung der Politik mehr aufmerksam macht als sie selbst positiv unternimmt. Die Botschaft ist in der Satire versteckt. Erkennt man diese Form nicht, nimmt man das exoterisch Präsentierte ernst, dann ist die Botschaft sowohl gegenüber der Menge als auch gegenüber den herrschenden politischen Eliten kodiert, also auf doppelte Weise exoterisch. Der Text scheint nicht mehr als eine Apologie Spartas zu sein. Folgt man Strauss' literarischer Formbestimmung als Satire, und sie wird schon in der Interpretation der Kapitel I—III, danach von Kapitel X und XIV akzentuiert, dann rückt der Xenophontische Text in ein ganz anderes Licht. Dabei werden Strauss' Hintergrundannahmen vom perfekten Werk und dem exzeptionellen Autor zur Geltung gebracht. Seine Interpretation kommt allerdings, wie gezeigt, nicht aus ohne „arguments from silence", „reading between the lines" und Unterstellungen dessen, was üblich sei. Mehr noch: solche Gesichtspunkte werden ins Zentrum gerückt. An der eigenen Methodik gemessen, geht Strauss stimmig vor. Was aber, wenn seine Voraussetzung nicht stimmt, wenn die Fiktion von Xenophon als Autor falsch ist, wenn er doch, wie die überwältigende Menge der Sekundärliteratur behauptet - nur ein mittelmäßiger Schriftsteller war, der keine kohärenten, auf verschiedenen Ebenen spielenden Texte verfaßt hat? Bleibt dann von Strauss' Deutung nur, daß er den strikten Gegensatz entfaltet hat? Es bleibt mehr als dieser Gegensatz, denn Strauss hat neue Interpretationsprobleme aufgeworfen und er hat damit nachhaltige die Forschung provoziert. Er hat nachdrücklich auf Xenophon aufmerksam gemacht, der lange vernachlässigt wurde. Gerade Xenophons Rang als Autor wird von vielen Interpreten nicht sehr hoch veranschlagt. Seine Abwertung gründet sich in der Regel auf den Vergleich seiner Erinnerungsschriften an Sokrates mit denen von Piaton, in dem letzterer als der geistvollere Autor erscheint. Strauss plädiert deshalb nicht zufällig im Text dafür, die Intention der Xenophontischen Memorabilien richtig zu begreifen, es geht in ihnen nämlich darum, „what Sócrates did and what he said, not what he thought" (Strauss 1939: 518). Was er dachte, thematisiert Piaton, und deshalb schneidet er in den Augen der Späteren immer besser als der andere große Schüler des Sokrates ab. Strauss streicht demgegenüber die noble Schlichtheit von Xenophon heraus. Satire und Ironie stellen, insbesondere wenn sie nicht vom Autor deutlich gekennzeichnet sind, ein enormes Problem für hermeneutische Auslegungen dar. Sie können nach Strauss oft nur dann erkannt werden, wenn man dem „dramaturgic setting" von Dialogen genügend Aufmerksamkeit schenkt, d.h. wenn man darauf achtet, was Personen reden und was sie tun, aber auch darauf, was sie nicht tun bzw. wo sie nicht opponieren. Diese Punkte hat Strauss allerdings - einmal von Ort Tyranny abgesehen - meistens erst später in seinen Deutungen platonischer Dialoge und in der Schrift Sokrates and Aristophanes (1966; SA) entfaltet. Die beiden methodisch relevanten Texte von 1939 sind - wie gesagt - nicht in die thematische Aufsatzsammlung Persecution and the Art of Writing aufgenommen worden, und es ist durchaus eine Frage, warum. Im großen und ganzen gibt es dafür wohl zwei Gründe. Zum einen sind es noch tastende, im Falle von Exoteric Teaching unvollständige Versuche, in denen z.B. die zentrale Rolle der vom Autor im Text plazierten Widersprüche erst getestet wird. Zum anderen, und das gilt nur für den Xenophon-Text,
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handelt es sich wohl um ein stillschweigendes Eingeständnis einer Überinterpretation durch die generelle Bestimmung des Textes als Satire über Sparta. Soweit ich sehe, hat sich Strauss später nicht mehr - zumindest nicht in seinen drei weiteren Büchern zu Xenophon (1948/OT, 1970/XSD, 1972/XS) - auf seinen früheren Aufsatz bezogen. 52 An der Deutung von Xenophon als herausragendem Autor von schlichter Größe hielt er allerdings stets fest, und auch an der Behauptung, er sei der eigentliche Antipode zu Rousseau, den Strauss nur wenige Jahre später einer detaillierten Betrachtung unterzieht. Aber auch der Rousseau-Aufsatz wird nicht in die Aufsatzsammlung aufgenommen.
4.3
Ausbau des hermeneutischen Konzeptes
Beim Ausbau des Konzeptes vom esoterischen und exoterischen Schreiben kann man erkennen, daß es durchaus Einflüsse jüdischen Denkens gibt, die für die Methodik von Strauss belangvoll sind. Gezeigt wird im folgenden sowohl, worum es sich bei solchen Einflüssen handelt, als auch, wie Strauss seine Methodik in Auslegung genuin philosophischer Texte ausbaut. Dabei spielen Texte jüdischer bzw. arabischer Autoren des Mittelalters (al-Farabi, Maimonides, Jehuda Halevi) und moderner Philosophen (Rousseau, Spinoza) eine spezielle Rolle. Bevor ich auf die verschiedenen Texte eingehe, sei knapp umrissen, was man überhaupt unter Einflüssen jüdischen Denkens, insofern sie bestimmte mit dieser Religion verbundene hermeneutische Vorgehensweisen betreffen, verstehen kann. Die jüdische Religion als Buchreligion setzt nicht auf das Sehen wie die Griechen, sondern insbesondere auf das Hören als entscheidenden Sinn. Die Tora wird bekanntlich verlesen und mündlich wie schriftlich ausgelegt. Allerdings dominierte lange die mündliche Tradierung, die zunehmend durch narrative Darstellung in Form von Geschichten, wie sie etwa der Talmud enthält, ergänzt wurde. Neben der starken mündlichen Tradierung und Erinnerungsarbeit gibt es die Besonderheit, daß vom jüdischen Gott nicht direkt gesprochen werden darf. Da er nur indirekt dargestellt werden kann, gibt es in den relevanten Texten immer eine mitlaufende Dimension des Ungesagten, von etwas, das nicht darstellbar ist.53 In der Tradition jüdischen religiösen Denkens spielt die Mitteilung von etwas Nicht-direkt-Mitteilbarem, wie z.B. Gershom Scholem oder auch Emmanuel Levinas gezeigt haben, eine wesentliche Rolle. 54 Nun kann und soll gar nicht abgestritten werden, daß es hier Analogien zu Strauss' Methodik gibt. 52
53
54
In Ort Tyranny gibt es eine Passage zur Lakedaemonisehen Verfassung (ÜT: 98), aber auch hier fehlt ein Verweis auf den eigenen Text, womit Strauss sonst nicht geizt. Das ist mehr als die akroamatische Dimension der Sprache im Sinne von Manfred Riedel (1990), denn dabei handelt es sich eher um das vom gesprochenen Wort assoziierte Umfeld und nicht primär um etwas bewußt Verborgenes. Vgl. Scholem (1996a); zu Levinas vgl. Wiener (1990: 18-29). Fragen der Darstellung von nicht Darstellbarem wie das ganze Thema der Mehrfachkodierung von Texten überhaupt spielen in der Postmoderne-Diskussion eine Rolle; vgl. Welsch (1988: 6, 249 z.B.).
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Aber es handelt sich dabei primär um das Problem des Esoterischen, während Strauss die Frage vom anderen Ende, nämlich von der Seite exoterischer Präsentation her aufrollt. Es ist kein Wunder, daß Green deshalb auch immer auf das verborgene Esoterische abhebt, das Strauss mit dem jüdischen Denken verbindet, während er selbst - wie auch die folgenden Erörterungen exemplarischer Interpretationen zeigen werden - den Akzent auf die exoterische Präsentation gelegt hat. Strauss' Konzept steht also nicht nur unter dem Eindruck von Piaton und dessen indirekten, dialogischen Darstellungsformen55 - was ich insbesondere im Abschnitt zu alFarabi zeige - , sondern auch unter dem Jüdischer" Interpretationskunst, die durch die Variation von Erzählungen und Deutungen implizite Sinnstrukturen in Texten freilegt, und zwar ohne daß sie vereindeutigt werden können. Denn das letztlich Intendierte ist nicht direkt mitteilbar. Diese Position öffnet nicht nur hermeneutische Spielräume und ist nicht-historistisch auslegbar, sondern hat - wie bereits gezeigt - eine erhebliche Nähe zur Heideggerschen Dialektik von Entbergung und Verbergung von Wahrheit. Für die Entwicklung des hermeneutischen Ansatzes von Strauss spielt jüdisches Denken eine Rolle, aber die Philosophie überwiegt deutlich. Das gilt auch für Maimonides, den Strauss explizit zum Philosophen macht, der nur in zweiter Linie ein jüdischer Denker sei; er leiste exemplarisch die Rechtfertigung der Philosophie vor einem bestimmten Gemeinwesen, einer bestimmten Gemeinschaft, und zwar so wie Piaton für Athen, Cicero für Rom und al-Farabi für die arabische Welt (ÜT: 230). D.h. Maimonides philosophiert in einer besonderen Situation, nämlich einer Lage, in der sich die Philosophie gegenüber der Offenbarungsreligion auf neue Weise behaupten muß. Nach Strauss greifen Maimonides und al-Farabi, die gemeinhin als Aristoteliker gelten, dabei vor allem kreativ auf Piaton zurück. Bei ihm fänden sie Mittel, das Verhältnis von Philosophie und Offenbarung zu denken. Maimonides Alle Interpreten erkennen eine zentrale Rolle von Maimonides für Strauss' eigene Methodik an, aber sie divergieren in der Bewertung. Strauss hat sich seit seinem SpinozaBuch kontinuierlich mit ihm auseinandergesetzt. Für hermeneutische Fragen ist v.a. der Aufsatz On the literary Character of the Guide for the Perplexed wichtig. 6 Der Aufsatz von 1941 repräsentiert eine neue Stufe von Strauss' Deutungen von Maimonides, die sich deutlich von den früheren Arbeiten zu Spinoza und von der Deutung in Philosophie und Gesetz unterscheidet, denn nun wird er vor allem auf innovative Weise methodisch verstanden. Maimonides gilt nicht mehr als Vermittler von Philosophie und Religion, als eine Art jüdischer Thomas von Aquin, sondern als „ungläubiger" Philosoph. Wie kommt Strauss zu dieser radikalen Deutung und welche Rolle spielt dabei die spezifische Methodik? Um diese Fragen zu beantworten, muß etwas weiter ausgeholt werden.
55 56
Vgl. hierzu den Briefwechsel zwischen Voegelin und Strauss, in: Voegelin et al. 1993: 2 9 - 5 1 . Zuerst erschienen in Baron (1941), später in PAW. Strauss hat in den 1960er Jahren noch einen weiteren Text zu Maimonides verfaßt (How to begin to Study the Guide of the Perplexed vgl. LAM 1968: 140ff.) - den ich hier vernachlässige.
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Der Guide of the Perplexed ist ein großes und besonders komplexes Buch, es handelt sich um einen „Führer", der den unentschlossenen, aber philosophisch interessierten und etwas gebildeten Menschen die jüdische Religion nahebringen soll. Diese offensichtliche Intention wird durch die explizite Erklärung kompliziert, daß das Buch zwei verschiedene Ebenen hat - eine exoterische und eine esoterische. Es ist v.a. dieser Sachverhalt, der eine Reihe gegensätzlicher Interpretationen hervorgerufen hat. So wird Maimonides von einigen als Philosoph, von anderen als jüdischer Denker und schließlich auch als Religionsphilosoph gelesen. 57 Alle Interpreten konstatieren allerdings einen spezifischen Rationalismus, der sein Denken generell kennzeichne. Die These von Strauss lautet, Maimonides verbinde in seinem Führer der Unschlüssigen Gegensätzliches, ohne es zu vermitteln, nämlich den jüdischen Offenbarungsglauben und die Philosophie, d.h. er setzt sich mit dem theologisch-politischen Problem auseinander. Strauss plausibilisiert diese Behauptung durch eine schrittweise Bestimmung von Art und Charakter des Buches. Zunächst wird die äußere Form fixiert: Es handelt sich um eine Art Gespräch, eine in Briefen erfolgende Darlegung, deren Adressat wenige Gebildete, zwischen Philosophie und jüdischer Religion schwankende Personen sind. Über diese Genrebestimmung hinaus wird das Buch in eine besondere Situation plaziert; Maimonides sehe sich, wegen der lang andauernden Diaspora, vor eine neue Aufgabe gestellt, nämlich die schriftliche Fixierung besonderen Wissens. Das gilt auch für seine Mischne Tora, eine geordnete Präsentation der schriftlichen und mündlichen Lehren der Tora. Thema des Guide sei das richtige Gesetz, aber im Sinne des richtigen Denkens darüber; während in Mischne Tora das richtigen Handelns den Gegenstand darstelle. Da der Guide als Buch ausdrücklich an wenige Gebildete gerichtet ist, folgert Strauss, es sei ein exoterisches Buch über esoterische Probleme. Maimonides wird als Philosoph verstanden, der der Religion und der Philosophie ihr Recht zu kommen läßt, aber selbst primär für die Philosophie spricht, also von esoterischen Themen der Bibel sowie von esoterischen philosophischen Wahrheiten handelt (PAW: 55). 58 Wird derart Gegensätzliches in einem Buch dargelegt, selbst wenn es doppelt kodiert ist, dann muß es zu Widersprüchen kommen. Genau solche Widersprüche, auf die Maimonides einleitend selbst hinweist, aber nicht als zentrales Kompositionsprinzip versteht (vgl. Fradkin 1996: 90) sind es, die Strauss nun - und das ist in der Konsequenz neu - zum Angelpunkt seiner ganzen Argumentation macht. Er unterstellt den ganzen Guide als ein perfekt konstruiertes Buch, in dem durch Widersprüche auf Tiefenschichten aufmerksam gemacht wird. Wenn es aber eine ganze Menge von Widersprüchen gibt, dann ist unklar, wie mit ihnen umzugehen ist, welche Positionen die richtigen, richtigeren bzw. wichtigeren sind. Strauss sieht dieses Problem, aber er hat nur eine schwache Lösung, denn als Regel schlägt er vor, im Zweifelsfalle der seltensten Position zu folgen (PAW: 73). D.h. er überläßt die Entscheidung dem interpretierenden Leser 57 58
Vgl. dazu allgemein Pines (1986), Cohen (1988), Guttmann (1985). 1938 beschreibt Strauss in einem Brief an den befreundeten Philosophen Jacob Klein seine radikale und neue Sicht auf Maimonides, den „diabolischen Zauberer des 12 Jahrhunderts": „Das, was N. [Nietzsche - H.B.] beim Zarathustra vorgeschwebt hat, die Parodie der Bibel nämlich, ist M. in einem viel großartigerem Maßstab geglückt" (Strauss/Klein 2001: 553f.).
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und seinem Vermögen, in die Tiefe einzudringen. Der Sprecher richtet sich an zwei Auditorien mit verschiedenem Dekodierungsvermögen, und nur der Philosoph bzw. der werdende Philosoph ist im Unterschied zur Menge in der Lage, die Tiefendimensionen des Textes zu erschließen. Die bloß skizzierte Formbestimmung zeigt an, wie Strauss vorgeht und daß Maimonides ein zentrales Beispiel für seine Methodik ist. Mit seiner Deutung hat Strauss nicht nur eine neue Interpretation vorgelegt, sondern wie oft mit seinen Arbeiten auch Kontroversen ausgelöst (Maier 1995: XVII, XXIIIf.). Seine Position hat das Augenmerk auf die verschiedenen Textschichten gelenkt, aber Maimonides zugleich auf den (aristotelischen) Philosophen eingeengt. Zu den Akzenten, die Strauss setzt, gehört auch das Pointieren der politischen Problematik (ebd.: XXIII). D.h. er kehrt heraus, daß die Unterscheidung des esoterischen und exoterischen Schreibens auf dem Gegensatz von Elite und Menge beruht und daß der philosophische Autor nicht nur, um sich zu schützen, sein Werk kodiert, sondern auch aus moralischer Verantwortung heraus. Es seien solche antizipierten politischen Folgen, die Maimonides veranlaßt hätten, diese Methodik zu nutzen. Für die methodisch zentrale Frage der Widersprüche lohnt sich ein Blick auf die sieben verschiedenartigen Widersprüche in Texten, die Maimonides unterschied (1995: 20f.). Strauss setzt v.a. bei der siebenten Art von Widersprüchen an, nämlich jenen, die bewußt im Text plaziert sind und aus dem Bedürfnis erwachsen, bei geheimnisvollen Gegenständen „manches zu verschweigen und manches zu offenbaren" (Maimonides 1995: 22). Das sind die Fingerzeige für das Esoterische. Aber Maimonides hält ausdrücklich fest, daß er im Guide auch Widersprüche der fünften Art nutzt, und diese Art von Widersprüchen ist seines Erachtens für Philosophen typisch. Es sind Widersprüche, die aus dem Problem einer nur sukzessive möglichen Darstellung eines konkreten Gegenstandes erwachsen, aus der Notwendigkeit, die Darstellung von Sachverhalten an das Vorstellungsvermögen der zu Unterrichtenden anzupassen. Als Beispiel wird genannt, daß ein „dunkler und schwer vorstellbarer Gegenstand" genutzt werden muß, bevor er in seiner Tiefe erklärt werden kann, d.h. er muß zunächst zwangsläufig vereinfacht dargestellt werden. Damit sind Möglichkeiten widersprüchlicher Darstellung impliziert, denn die Darstellung des Gegenstandes in seiner Tiefe kann der anfanglichen Auffassung entgegengesetzt sein. Es handelt sich hier aber nicht notwendig um etwas Esoterisches, Geheimnisvolles, das auf jeden Fall zu verbergen wäre, sondern eher um ein didaktisches Problem und eines systematischer schriftlicher Darstellung. Warum Strauss diese beiden Formen von Widersprüchen kaum unterscheidet, ist rätselhaft. Sie haben jedenfalls nicht primär etwas mit exoterischer Präsentation in schriftlichen Texten zu tun. Der Guide läßt sich demnach als ein pädagogischer Text fassen, der sich an schwankende, an potentielle Philosophen wendet. Unter der Hülle religiöser Fragen werden in ihm philosophische Probleme verhandelt. Zwei deutlich distinkte Adressatenkreise, Menge der Gläubigen und (werdende) Philosophen, d.h. die Jugend und junge Gelehrte jüdischen Glaubens. Aber er bietet keine philosophische Behandlung der Politik, sondern erörtert verdeckt philosophische Probleme und ist esoterisch, im Sinne einer verdeckten politischen Thematisierung der Philosophie, nämlich durch den Aufweis ihrer Gefährlichkeit.
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Einige Besonderheiten der Interpretation von Strauss treten erst hervor, wenn man sein Werk von außen betrachtet. So streift er den innovativen Charakter von Maimonides' Denken nur partiell, aber er ist eine Voraussetzung seiner ganzen Interpretation. Maimonides ist die Wende von der Deutung im Rahmen von Tradition, Schulen und kollektiven Auslegungen zur individuellen, monographischen Auseinandersetzung mit der jüdischen Religion (Guttmann 1914: 309f.). Diese individualisierende Wende eröffnet überhaupt erst die Möglichkeit für Strauss, seine Deutung zu entfalten, da er notwendig mit einem sehr starken Begriff des Autors arbeitet. Verdeckt gibt Strauss aber zu erkennen, daß ihm dieser Wandel bewußt ist, denn er behandelt die Autorenrolle, die sich Maimonides zuschreibt, als eine besondere (PAW: 66ff.). Als problematisch erweist sich auch eine genauere Einordnung der Deutung von Strauss in Strömungen jüdischen Denkens. Drury und andere Interpreten haben ihn in die mystische, kabbalistische Tradition gestellt. Das ist schon insofern nicht überzeugend, als Strauss sich deutlich gegen eine Identifikation von Mystizismus und Esoterismus ausgesprochen hat (PAW: I I I , Note 46). Er will eine Grenzlinie ziehen zwischen bewußter Kodierung und Dekodierung von Texten sowie weitergehenden Zuschreibungen und allegorischen Deutungen. Letzteres kennzeichnet kabbalistisch-mystische Deutungen. Darüber hinaus betont Strauss immer den Adressatenbezug, der für die verschiedenen Leseweisen konstitutiv ist; gerade deshalb begreift er die exoterische Präsentationsform j a als eine literarische Technik, die die Mittel der Rhetorik einsetzt. Ein anderes Beispiel, das die Einordnungsprobleme der Deutung verdeutlicht, ist die Lesart von Green, der Strauss fiir einen jüdischen Denker hält. Maimonides sei für Strauss so wichtig, weil er in zweifacher Hinsicht für ihn ein Vorbild war: zum einen in der Frage, wie man Philosoph und Jude sein kann, sich also mit den beiden wichtigsten, rationalsten Positionen, die die Welt als ganzes und die gute Lebensführung betreffen, auseinandersetzen kann - und zwar so, daß der absolute Anspruch, den jede dieser Positionen enthält, erhalten bleibt (vgl. Green 1993: 111 ff.). Dabei sind Weisheit, Vorsicht und Zurückhaltung zentrale Tugenden. Was dabei das spezifisch jüdische Denken ist, bleibt allerdings unklar. Green betont daher ausdrücklich, daß man den Maimonides von Strauss nicht als eine Art jüdischen Thomas von Aquin verstehen kann, denn dann stünde ja die Vermittlung von Theologie und aristotelischer Philosophie unter dem Primat ersterer im Vordergrund. Wie schwierig die Deutung von Maimonides und auch seiner Lesart von Strauss ist, verdeutlicht auch Shlomo Pines, der mit Strauss gut bekannt war. Er interpretiert den Führer der Unschlüssigen zwar auch als ein esoterisches Buch, aber er macht Maimonides nicht zum Philosophen par excellence, sondern hebt darauf ab, daß es in dem Buch drei gleichzeitige Diskurse gibt, den allegorischen, den philosophischaristotelischen und den, der die Unmöglichkeit der Metaphysik bezüglich der ewigen Dinge zeigt (Pines 1986: 9f.). Pines kann von diesem Ansatz her Strauss nicht ganz folgen, er sieht in Maimonides nicht nur den Philosophen und auch nicht einen perfekten Autor. Dennoch streicht er die bewußte Kodierung des Textes heraus. Der entscheidende politische Akzent, den Strauss setzt, wird sichtbar, wenn man als Kontrast die ältere Rezeption heranzieht, in der Maimonides als Vorbildfigur des liberalen Judentums, des Rationalismus und auch der Assimilation galt. Strauss hat mit seiner
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Insistenz auf der esoterischen Lehre, also der Behauptung philosophischer Ansprüche, die nicht mit der jüdischen Religion vermittelbar sind, dieses Leitbild destruiert. Seine Lesart verwandelt Maimonides nicht - wie es sich an der Oberfläche des Textes darstellt - in einen Mann der Synthese, der Judentum und Aristotelismus verbindet, sondern in einen starken Philosophen, der eine instrumenteile Deutung von Religion hat und sie primär als unersetzlichen Ordnungsfaktor, als ein praktisches Wissen besonderer Art betrachtet. Man kann den Gegensatz, um den Strauss' Denken kreist, auch mit einem Zitat von ihm verdeutlichen. In einer Rezension formuliert er, die Griechen und ihre Philosophie würden primär das richtige Denken über die politische Ordnung und die Gerechtigkeit thematisieren, während die jüdische Religion den Akzent auf richtiges Handeln selbst lege (SPPP: 232) - das ist eine Variation von Strauss' Fassung des politisch-theologischen Problems, das durch die Fixierung der Differenz sich von politischer Theologie unterscheidet.
Exkurs zu al-Farabi und zur Bestimmung politischer Philosophie Mittelalterliche arabische und jüdische Philosophen wie al-Farabi und Maimonides bilden das Verbindungsstück, die Brücke auf Strauss' Rückweg zur Antike. Ein Grund dafür ist die Wiederentdeckung der esoterisch-exoterischen Schreibweise, bei der diese Autoren für Strauss wichtig waren. Ein anderer Grund ist die sich im gleichen Kontext vollziehende Bestimmung von politischer Philosophie. Der klassische Text, in dem Strauss seine Auffassung zum ersten Mal in aller Deutlichkeit darlegt, ist der Aufsatz Farabi 's Plato (Strauss 1945), den er später für die längere Einleitung in das Buch Persecution and the Art of Writing nutzte. Der Text ist darüber hinaus zentral, weil Farabi als der Schlüssel zum Verständnis von Maimonides erklärt wird und weil, wie Heinrich Meier zu Recht urteilt, Strauss hier hinter der Maske des Kommentators einige Male selbst deutlich sichtbar wird (Meier 1988: 95f., FN). Al-Farabi gilt Strauss zudem als der Philosoph, auf den sich Maimonides - außer auf Aristoteles selbst - als die größte Autorität bezieht, sein Verständnis ist nicht nur für das Begreifen von Maimonides wichtig, sondern er ist derjenige, der die griechische Philosophie und den Islam, eine Offenbarungsreligion, in ihrem Verhältnis zueinander bestimmt. Strauss interessiert sich hier primär für die Bestimmung politischer Philosophie, er hält den Text The Philosophy of Plato (Mahdi 1969), der zu einem dreiteiligen Werk gehört, für den wichtigsten, nämlich für eine sorgfaltig geschriebene esoterische Philosophie von Farabi, die jener im Schutz der Rolle des Kommentators verfaßte. Vom Typus des Textes her spricht hier ein Philosoph (al-Farabi) über einen Philosophen (Piaton), und zwar in wenig kodierter Form. D.h. wenn es einen schwach kodierten esoterischen Text gibt, dann ist es dieser, der fast esoterische Philosophie bietet. So gesehen handelt es sich tatsächlich um etwas Besonderes, und insofern es um die anonyme Wahrheit geht, kann Strauss hier auch selbst ab und zu aus dem Hintergrund hervortreten.
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Für solche Lesarten stehen noch die Bände (Bacher et al. 1908, 1914); weitere Beispiele ähnlicher Lesarten sind auch Cohen (1988), Guttmann (1985), Maier (1995: LXVII). - Eine an Strauss anschließende Lesart hat Ralph Lerner entwickelt (Lerner 1963, 1996).
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Al-Farabi steht für die nur kurze Zeit im eigenen Kulturkreis wirksame, aber doch eindrucksvolle arabische politische Philosophie, die später v.a. in Europa als Tradierung des griechischen Denkens wichtig war. Er schließt an Aristoteles an, aber, wie Strauss aufweist, noch viel mehr an Piaton. Als zentral wurden lange Zeit der Musterstaat (alFarabi 1895, engl. 1985) und Die Staatsleitung (1904, engl, in Lerner/Mahdi 1963) angesehen. Die Schrift über Piaton wurde erst 1943 durch eine lateinische Ausgabe breiter bekannt. Sie gehört (als zweiter Teil) in eine Trilogie, deren erster Teil der Glückseligkeit und deren dritter Teil Aristoteles gewidmet ist; der dritte Teil wurde übrigens erst später übersetzt. Es ist diese Edition, die den Anlaß für Strauss' neue Deutung bildet, in der er sich im Kern auf die Interpretation der Bedeutung von Piaton für al-Farabi beschränkt (Strauss 1945: 358). Er stellt ihn nicht als einfache Orientierungsfigur heraus, sondern hält fest: „He [Farabi] held the view that Plato's philosophy was the true philosophy" (ebd.: 359), und in diesem Sinne geht es um die ewige und anonyme Wahrheit, nicht um Akzidentelles oder die Individualität von Philosophen. 60 Die auf etwa 20 Seiten konzentrierte Zusammenfassung der wichtigsten Platonischen Schriften, die in einen systematischen Zusammenhang gestellt werden und einen Denkfortschritt verdeutlichen, ist für Strauss das Anzeichen für einen wirklich radikalen Denker. Al-Farabi läßt alles an Themen aus Piatos Dialogen weg, was er für unwesentlich hält, die Unsterblichkeit der Seele, die Ideenlehre etc. und kümmert sich nur um den Zusammenhang von Lebensform und Philosophie. Was hinter diesen radikalen Überlegungen steckt, den zum Teil überraschenden Deutungen und auch den auftretenden Widersprüchen bei der Explikation dessen, was politische Philosophie ist, interessiert Strauss. Den Ausgangspunkt bildet die allgemeine Bestimmung von politischer Philosophie als der Frage, wie man leben soll, und zwar einer Frage, die nur in Verbindung von zwei Wegen richtig beantwortet werden kann, nämlich dem „way of Sócrates", d.h. intransigentes moralphilosophisches Fragen nach der Tugend, den Grundlagen politischer Ordnung, und dem „way of Trasymachos", der bekanntlich das einfache Recht des Stärkeren behauptet. Der Fehler des Sokrates sei, die Abstraktion von der Machtpolitik, vom Weg des Trasymachos. Für Farabi/Strauss kommt es darauf an, aus diesem Fehler zu lernen, was sie auf sehr spezifische Weise tun. Plato sei vorbildhaft, weil er beide Wege kombiniert (Strauss 1945: 383), d.h. weil er den Bruch, der zwischen den Philosophen und der Menge besteht, realisiert hat und sich im Interesse der Philosophie auf Machtpolitik einläßt. Während der Weg des Sokrates richtig sei für den Umgang mit der Elite, wäre der des Trasymachos angebracht, um mit den „vulgars" und den „Jungen" umzugehen. Gerade wegen dieser verschiedenen Vorgehensweisen vermied Plato den Konflikt mit der Menge und so das Schicksal des Sokrates. Die Position des Trasymachos 60
Die Tübinger Platon-Deutungen von Hans Krämer (zuletzt 1995), Szelak (1985) und Gaiser (1963) sind ein Versuch, Piatons ungeschriebene Lehre zu rekonstruieren. Sie setzen bei der klassischen Kritik der Schriftlichkeit von Piaton im Phaidon an und gehen davon aus, daß es eine esoterische nur mündlich an der Akademie vorgetragene Lehre gibt. Strauss' Lösung ist dem „Tübinger Ansatz" geradezu entgegengesetzt. Er sucht nämlich nicht eine ungeschriebene mündliche Lehre, von der Elemente in das Schriftliche eingeflossen sind, sondern vertritt die These, daß das Esoterische kodiert im Exoterischen enthalten sei.
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wird hier nicht als eine generelle Alternative begriffen, in der Politik als Politik Gegenstand ist, sondern sie wird nur als Strategie zur Bewahrung der Philosophie, als politische Absicherung der Philosophie aufgefaßt. Die philosophische Antwort, wie man leben soll, wird in Bezug zur Antwort der Religion gesetzt. Denn die Existenz der Offenbarungsreligion schuf eine neue Situation für die Philosophie, sie muß sich jetzt vor diesem Forum rechtfertigen. Wiewohl Farabi die ganze Philosophie als theoretische begreift und damit die aristotelische Unterscheidung in einen theoretischen und praktischen Teil umgeht, präsentiert er die ganze Philosophie auf bestimmte Art als politisch (Mahdi, Tibi) - nämlich als selbstreflexive Rechtfertigung theoretischen Tuns, das für das Gemeinwesen keinen Nutzen hat; man könne aber, so die apodiktische Annahme, nicht Philosoph werden ohne die Beschäftigung mit den Tugenden und der Gerechtigkeit (vgl. dazu Strauss 1945: 362ff.). Die nähere Bestimmung der politischen Philosophie erfolgt in der Diskussion des Verhältnisses von Philosophie und königlicher Kunst, wobei die erste Antwort lautet, sie seien nicht identisch, während die zweite auf eine praktische Identifizierung hinausläuft (ebd.: 366f.). Aber diese Identifikation wird nicht offensichtlich vorgenommen. Da sich diese beiden Antworten widersprechen, wird hier ein absichtsvoller Widerspruch vermutet, der etwas Tieferes angezeigt. Die Frage wird dann mit der nach dem Verhältnis von menschlicher Perfektion und Glück verquickt und zu der Konsequenz gefuhrt: „Philosophy is the necessary and sufficient condition o f happiness" (ebd.: 381). AlFarabi - so kann man Strauss' Deutung zusammenfassen - legt Grundlagen für eine säkulare Allianz zwischen dem Philosophen und dem „Prince", aber dabei sind zwei prinzipiell verschiedene Varianten zu beachten. Als best case gilt die Identität von Philosoph - Prophet - Gesetzgeber. Sie ist aber ein außerordentlich unwahrscheinlicher Fall, da sie an das Zusammentreffen verschiedener Begabungen in einer exzeptionellen Person und an die Sonderbedingung der guten, perfekten Stadt gebunden ist. Farabi optiert für verdeckte Führung des Königs, der Herrschenden, wenn der Philosoph in der imperfekten Gesellschaft lebt. Die abschließende Antwort nach dem Verhältnis von königlicher Kunst und Philosophie lautet also: sie sind verschieden, aber koextensiv. Wie das Verhältnis konkret aussieht, hängt von den vorherrschenden Bedingungen ab. Der ganze Text über Piaton erscheint als ein weitgehend esoterischer Text, dem eine Art materialistischer Lesart von Piaton zugrunde liegt. Strauss vergleicht al-Farabi mit den „Latin Averroists" und resümiert, diese hätten sich auf die buchstäbliche Interpretation von extrem häretischen Texten beschränkt. Al-Farabi sei ein Mann anderer Art und Statur: Er tat das Gegenteil, er gab extrem „unliteral" Interpretationen „ o f a most tolerable teaching" (Strauss 1945: 374). Strauss nimmt gleichsam eine Nietzscheanisierung und Radikalisierung von al-Farabi und Maimonides vor - sie werden nämlich als philosophische Antitheologen vorgestellt. Eine ähnlich radikale Deutung gibt Strauss von Jehuda Halevis Kuzari, einem Gespräch, bei dem es darum geht, wie ein von Vorurteilen gegen das Judentum gekennzeichneter König (Kuzari) zum Judentum konvertiert und sich damit nicht nur für den Glauben, sondern für die „rationellste" Form von auf Glauben gegründeter Lebensführung ent-
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scheidet. Hier ziehe ich aus dem Text nur einige besonders deutliche Stellungnahmen heran. 61 Die Basis der Argumentation ist Strauss' Unterscheidung der Vita contemplativa, für die der Philosoph optiert und der Vita activa, die für die Religion, den Staatsmann und die Menge wichtig sind. Law of Reasons, rational (Piatons Nomoi) sind der Kode für Religion und Verfassung, sofern sie sich auf die Vita activa beziehen. So heißt es einmal pointiert, ohne Religion, Zeremonien, religiöses Handelns sei keine stabile Gesellschaft möglich (PAW: 134). Gleichzeitig gilt: Die Philosophie setzt die Arbeitsteilung voraus, aber der Philosoph hat - wie es überaus deutlich heißt - nichts mit der Gesellschaft zu tun, und wenn er sich engagiert, ist seine Seele woanders (ebd.: 139). Mit Blick auf Sokrates heißt es in diesem Sinne, er war ein aktiver Bürger, der einiges an der Gesellschaft, in der er lebte, auszusetzen hatte, obwohl er Philosoph war. Die Kuzari sind demnach primär ein pädagogischer Text, der sich an die politischen Führer wendet, um sie zu beeinflussen, und zugleich an die Jugend, die vor die Entscheidung Religion oder Philosophie gestellt wird. Strauss reflektiert die Verfolgungsgefahr in potenzierter Form, geht es doch sowohl darum, sich ihr als Philosoph zu entziehen, wie auch darum, die eigene Identät als Jude unter historisch immer wieder sehr prekären Umständen zu wahren. Wenn der Eindruck nicht täuscht, dann spiegelt Strauss die moderne Situation häufig in jener, in der sich Maimonides und auch Halevi befanden. Insofern trifft Green den Punkt, wenn er behauptet, Jude und Philosoph zu sein, seien die beiden Probleme, die Strauss' Auseinandersetzung mit Maimonides und anderen mittelalterlichen Philosophen aus dem islamischen oder jüdischen Kulturkreis motivierten. Maimonides und die arabischen Philosophen sind für Strauss eine große Herausforderung, da sie die Unterscheidung esoterischen und exoterischen Schreibens allgemein akzeptiert haben und anwenden. Aber es geht bei ihnen im Unterschied zu Piaton um eine Anwendung in einer neuen Situation, nämlich der durch die Offenbarungsreligionen herausgeforderten Philosophie. Auch die Offenbarungsreligionen haben ihren esoterischen und exoterischen Seiten. Thema sind jetzt nicht mehr nur die Meinungen, von denen zum Wissen aufgestiegen wird, das freilich verborgen bleibt, sondern es sind jetzt auch esoterische und exoterische Bezüge zu beachten, die die Religion betreffen. Das heißt mehr, als nur auf die äußeren Bedingungen zu reagieren, da hier gleichsam eine
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Strauss behauptet über Halevi, er hätte eine kurze Phase als Philosoph gelebt, sich dann aber für das Judentum, den Glauben entschieden. Deshalb stelle er die Gefahren der Philosophie besonders gut dar (1945: 109f.). So erliegt der König am Ende beinahe noch einmal einem schwachen Plädoyer für die Philosophie. Die für die Interpretation wichtige Vorstellung vom Autor wird biographisch und psychologisch aufgebaut, und Strauss zieht kaum in Erwägung, Halevi könne, wie es auch bei Piaton üblich ist, hinter keiner der Sprecherpositionen stehen. Was den Dialog Kuzari betrifft, ist hier nicht nur die einfache Unterscheidung Elite - Menge relevant, sondern die Elite wird differenziert: Philosophen, Religionsgelehrte, Staatsmänner - das sind die verschiedenen Sprecherrollen, denen letztlich bestimmte Rezipientenrollen zuzuordnen sind. Nur der Philosoph durchschaut nach Strauss den ganzen Plot und weiß, worauf es hinausläuft - das ist eine sehr schlichte Ansicht von Dramaturgie (vgl. Motzkin 1980). Auf deutsch ist der Kuzari unter folgender Schreibweise zugänglich Jehuda Hallewi: Al-Chazari, Wiesbaden 2000.
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zusätzliche Kodierungsebene entsteht. Die Religion, die für die Vielen, die Menge und deren Handeln bestimmt ist, hat auch esoterische Elemente, die nicht ohne Vorsichtsmaßnahmen und Rücksicht auf die Rezepienten öffentlich geäußert werden dürfen. Strauss spiegelt sich in den mittelalterlichen jüdischen Autoren, die als Philosophen und als Juden eine prekäre Existenz hatten. Gerade wegen dieses doppelten Umstandes von Verfolgung nutzen sie besondere Formen des Schreibens, die Strauss als rhetorische Strategien exoterischer Darstellung begreift. Die Differenz zu modernen Autoren wie Lessing besteht hier wesentlich in der verdeckten und andeutungshaften Weise, wie das Problem reflektiert wird, denn wenn die philosophische Wahrheit reell so gefahrlich ist, dann kann und darf diese Problematik nicht offen verhandelt werden. Lessing dagegen geht in Ernst und Falk, in seinen Freimaurer-Gesprächen das Problem der Geheimnisses und des notwendigen Schweigens des Weisen offen an. Es gehört, wie Wolfgang Heise treffend bemerkt, zur Ironie seiner Darstellungsweise, „das Tabu ebenso zu praktizieren wie darzustellen und dadurch zu durchbrechen" (Heise 1982: 62).
Die Dekodierung von Rousseau und Spinoza Strauss nutzt seine neue Methodik von Beginn an bei der Deutung moderner Philosophen. Er steht ja in der Beweispflicht zu zeigen, daß auch moderne Philosophen diese gegensätzlichen Darstellungsformen verwendet haben, wobei die Frage ist, auf welche Weise sie das tun, und ob es signifikante Unterschiede zur Antike und vor allem zu den verhandelten jüdischen und arabischen Autoren des Mittelalters gibt. Auf jeden Fall interessieren ihn insbesondere jene Theorien, die sich mit dem Verhältnis von Philosophie, Politik und Religion auseinandersetzen. Von den beiden ausgewählten Texten findet übrigens nur der Spinoza-Aufsatz den Weg in den Sammelband zu methodischen Problemen. Dennoch ist der Aufsatz zu Rousseau wichtig, weil er eine andere Facette der Methodik, nämlich eine extensive Intentionsbestimmung eines Autors enthält. Zugleich zeigen diese Texte eine veränderte Lage der Philosophie an, nämlich, wie Strauss später explizit diagnostiziert, einen Verfall gegenüber dem von ihm ausgezeichneten Reflexionsniveau der antiken Klassiker. Im Aufsatz On the Intention of Rousseau (1947) nimmt Strauss den ganzen Rousseau zunächst anhand der Autor-Intention in den Blick, nämlich von dessen Selbstaussage her, er habe immer die gleichen Prinzipien verfolgt. Die Prinzipien will Strauss in zwei Schritten erschließen. Der erste Schritt geht von der Prämisse aus: Wenn Rousseau immer die gleichen Prinzipien verfolgt hat, dann müssen sie schon seiner ersten Schrift zugrunde liegen. Es gilt demnach, die eigentliche Fragestellung des ersten Diskurses zu erfassen, von dem Rousseau mehrfach behauptet, er sei nicht verstanden worden. Rousseaus Antwort auf die Preisfrage: Ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen habe, seine bekannte Kritik an der Wissenschaft und Literatur, die nichts zum moralischen Fortschritt beigetragen haben, ist für Strauss gerade nicht das Besondere, denn diese Kritik gäbe es schon in der klassischen Philosophie, und die Frage der Akademie von Dijon hätte eine solche Antwort nahegelegt. Was also ist die Besonderheit bei Rousseau? Für Strauss kann man sie nur enträtseln, wenn man Rousseaus Zusammenhang mit Machiavelli und Hobbes beachtet. Beide hätten die Furcht vor dem Herrscher als Grundlage des starken Staates genutzt.
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Rousseau, der an Montesquieu anschließt, hält die Furcht für ein unzureichendes Prinzip. Er löse die Kritik aus ihrem Zusammenhang bei Montesquieu und optiere für die Demokratie, die auf der Tugend und nicht auf der Furcht beruht. Auf dieser Grundlage könne Rousseau behaupten, die Aufklärung sei eine Stütze des Despotismus, genauer der absoluten Monarchie, denn sie sei das komplementäre Substitut zum Ersatz der Tugend durch die Furcht; sie ersetze die Religion. Sein Angriff auf die Aufklärung rekurriere allerdings nicht auf Religion als Religion, sondern auf die Zivilreligion als soziales Band. Trotz dieser - aus Strauss' Perspektive gravierenden - Einschränkung trifft Rousseau damit den szientifischen Rationalismus der Aufklärung, der von praktischem Wissen und Tugenden oder, allgemeiner und moderner ausgedrückt, von soziomoralischen Bindungen, die für gesellschaftliche Ordnung konstitutiv sind, nichts versteht. Schon der erste Schritt der Interpretation, der auf die Analyse der Autorintention zielt, ist in sich hoch problematisch, denn Rousseau ist ein Autor, der auf enorme Weise seine Selbststilisierung in immer neuen Variationen - man denke an die Bekenntnisse, viele Briefe und den Text Rousseau über Rousseau - betrieben hat. Häufig ist seine Widersprüchlichkeit, die der Bestimmung einer zentralen Intention entgegensteht, herausgestellt worden. 62 Es hieße Strauss aber gründlich zu unterschätzen, wenn man annimmt, er habe die Widersprüche im Denken von Rousseau übersehen oder nicht ernst genommen. Im zweiten Schritt seiner Interpretation macht er sie im Sinne der Unterscheidung des Esoterischen und des Exoterischen zum Dreh- und Angelpunkt der Deutung. Rousseau hätte seine Texte für zwei verschiedene Adressaten geschrieben, nämlich für Philosophen und für den „common man" (Strauss 1947: 463). Nur für den „common man", das Volk, ist der Kontakt mit der Wissenschaft gefahrlich, für die Philosophen nicht. Das auch hier von Strauss herausgestellte Kernproblem ist der Gegensatz von Philosophie und Gesellschaft, der von einem Philosophen nur rhetorisch entschärft publik gemacht werden darf, wenn er der Verfolgung entgehen und sich der Sache der Philosophie dauerhaft widmen will. Da Strauss den Gegensatz so stark macht und ihn vereindeutigt, kann man sagen: Adressat des ersten Discours sind einesteils Philosophen, die wenigen, die die Wahrheit vertragen können. Insofern geht es hier um eine philosophische Behandlung von Politik, also esoterische Philosophie oder, im Sinne des Schemas von Bohlender, um politische Philosophie 1. Die Ebene der Rechtfertigung bezieht sich aber auf die politische Behandlung der Philosophie, das heißt, es geht um Exoterisches beziehungsweise politische Philosophie 2. Es zeichnet Strauss geradezu aus, zwischen den Ebenen zu wechseln. Vorworte, Widmungen, Titelbilder und ähnliche Textbausteine sind für Strauss außerordentlich bedeutsam, da man an ihnen die Adressaten, die Selbstdeutung der Autoren deutlicher fassen kann als in verschlüsselten Textstellen, und unbestritten nutzt gerade Rousseau Widmungen sowie Titelbilder und spielt mit verschiedenen Ebenen und Adressaten. Zu Recht widmet Strauss dem Frontispiz zum ersten Discours besondere Aufmerksamkeit: Auf dem Bild ist eine Prometheusfigur zu sehen, die mit der Fackel in 62
Robert Spaemann hat diesen Gedanken auf seine Weise generalisiert: „Aller Streit um den ,wahren Rousseau' ist vergeblich. Für jede rousseauistische Verirrung gibt es eine rousseauistische Kritik." (1992: 14)
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der Hand von den Wolken herabsteigend auf einen Satyr und einen Menschen zugeht. Strauss formuliert: „Rousseau who wams the common man of the dangers of science is so far from considering himself a common man that he boldly compares himself to Prometheus who brings the light of science, or the tove of science, to the few for whom alone it is destined." (1947: 464)
Heinrich Meier hat diese Stelle im Anschluß an Strauss dahingehend gedeutet, daß der Satyr den gemeinen Mann verkörpere, für den das Feuer der Wissenschaft verderblich sei, während der auf einem Sockel stehende Mensch ein Genie verkörpere, das auf die Entflammung durch die Fackel vorbereitet ist. (Meier 1990a: LIf.). Der die Fackel erwartende Mensch sei das letzte Wort der Selbstauslegung zum ersten Discours. Welche Bedeutung man dieser Selbstheroisierung auch zuerkennt - je ernster man sie nimmt, desto stärker arbeitet man mit einer Vorstellung des Autors, bei der man eine Leseweise auf Indizien gründet. 63 Wie Strauss anzunehmen, daß die Selbstheroisierung mehr als eine Stilisierung ist und daß Rousseau diese Unterscheidung mit voller Konsequenz und permanent in seinen Schriften realisiert hat, ist eine außerordentlich starke Behauptung. Allein wenn man an die Schilderung seiner primären Intuition auf dem Wege nach Vincennes und ihrer Variationen denkt 64 , kann man sich rasch fragen, ob Rousseau ein kühler souveräner Autor ist oder ob er, wenn man schon eine Vorstellung vom Autor nutzen will, nicht jemand ist, der in immer neuen Anläufen seine primäre Intuition realisieren wollte, aber mit den Resultaten und erst recht mit ihrer Aufnahme in der Öffentlichkeit stets unzufrieden war, ob er nicht, wie Jean Starobinski formuliert, seine Philosophie dachte und lebend in einer „Welt von Widerständen" erlitt. Eine solche Herangehensweise erscheint im Gegensatz zu der von Strauss psychologisch, aber sie bezieht die existentielle Seite und die Lebensumstände von Rousseau substantiell in sein Denken ein. Aber auch Strauss arbeitet mit psychologischen Annahmen, wenn er formuliert, daß Rousseau jemand war, „who had the ,well-contrived head for which doubt is a good cushion'" (1947: 482). Strauss hat in Naturrecht und Geschichte später selbst einen Widerspruch in Rousseaus Denken, nämlich ein Schwanken zwischen der Rückkehr zur Polis und der zur Natur festgemacht, der sein Bild vom souveränen Autor ins Wanken bringt (NRG: 265). Die größte interpretatorische Schwierigkeit besteht nach Strauss in der Frage, wie das späte Eingeständnis von Rousseau, er sei immer ein „useless member of society" gewesen, der für die Gesellschaft und für ein Leben nach Tugend und Pflicht nicht geeignet war, mit der Überlegung, daß Wissenschaft und Tugend für die Wenigen, die Überlegenen vereinbar sind, zusammengedacht werden kann (PAW: 478). Das ist freilich ein Problem, das erst entsteht, wenn man Rousseau in einen großen Philosophen verwandelt hat, für den die Vita contemplativa entscheidend ist. Als Lösungen des genannten Problems sieht Strauss folgende Varianten in den Texten von Rousseau angelegt: 63
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Auch Paul de Man stellt die Rolle der Rhetorik bei Rousseau heraus. Er betont zudem: „Rousseau gehört zu jenen Autoren, die immer systematisch falsch gelesen werden"; und: „die Fehllektüre [ist] fast immer von einem Unterton intellektueller und moralischer Überlegenheit begleitet" (De Man 1993: 194f.). Vgl. dazu Hennig Ritters Einleitung in die Schriften von Rousseau (Ritter 1988: 7-10).
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1. Wenn die Gesellschaft substantiell korrupt ist, dann kann unter dieser Bedingung die Wissenschaft nur geringfügig helfen und Erleichterung verschaffen. Sie sei unter diesen Bedingungen sowohl wegen ihrer pessimistischen Diagnose wie wegen ihrer theoretischen Orientierung gefährlich, und deshalb sei der Philosoph unnütz. Fraglos ist das eine Diagnose, die Rousseau für Frankreich, insbesondere aber für eine Großstadt wie Paris gestellt hat. 2. Eine zweite Lösung für den Gegensatz zwischen der Notwendigkeit politischer Philosophie und der geringen Nützlichkeit des Philosophen besteht darin, daß der Antagonismus zwischen Wissenschaft und Gesellschaft dem von natürlicher Freiheit und den von Menschen geschaffenen Bindungen und Begrenzungen entspricht. Der Gegensatz zwischen Wissenschaft und Engagement kann dann nur von einer politischen Philosophie aufgelöst werden. Der weise Gesetzgeber und der Allgemeinwille aus dem Contrat social wären eine solche Lösung, aber sie sind nur Prinziplösungen, d.h. nicht als praktische Vorschläge zu verstehen. Auch fehlten häufig die nötigen glücklichen Umstände (PAW: 483). 3. Die romantische Lösung schließlich (ebd.: 482) läuft darauf hinaus, Rousseau auf die Wiederentdeckung der Gemeinschaft, auf das Konzept des Allgemeinwillens etc. zu reduzieren, ohne Berücksichtigung seiner anthropologischen und theoretischen Prämissen. Diese Variante forciert - gleichsam in einer Umkehrung der eigentlichen Intention - eine Unterordnung der Philosophie unter die Gesellschaft, ihre Verwandlung in bloße Kultur. Insbesondere im Zusammenhang mit der romantischen Lösung moniert Strauss mit einiger Schärfe die Verwandlung von Glaubens- und Religionsfragen in solche der Zivilreligion. Das ist nicht verwunderlich, wenn man die Frage Glaube oder Unglaube für eine zentrale Frage hält, auf die alle Philosophen direkt oder versteckt antworten. Diese Verwandlung bedeutet eine Entschärfung der Religion und eine Reduktion auf ihre Funktion als soziales Band. Ohne es näher zu explizieren, verdeutlicht Strauss sein stärkeres Religionsverständnis, das impliziert, daß wirklich geglaubt wird, und zwar im Sinne der Offenbarungsreligion mit Einschluß der Wunder und Prophetien, denn ohne dieses Verständnis kann von einem politisch-theologischen Problem nicht ernsthaft geredet werden. Insgesamt gesehen, wird der Gegensatz von Philosophie und Gesellschaft, von Vita contemplativa und Vita activa, für die Notwendigkeit des esoterisch-exoterischen Schreibens genutzt und an zwei Stellen expliziert (PAW: 463f., 471). Es fällt dabei aber das Aussparen des Problems der Zensur auf. Strauss hält nur fest, Rousseau würde wie andere Zeitgenossen nichts über Zensur und Verfolgung von Autoren sagen. Das ist schon eine Verkürzung, die die zeitgenössischen Praktiken der Zensur und ihre Folgen gar nicht näher berücksichtigt. Zudem werden mit keinem Wort die enormen Differenzen erwähnt, die Rousseau mit Aufklärern wie Voltaire, Diderot u.a. hatte, und die bei Rousseau zu Verfolgungsvorstellungen anderer Art führten. Wichtig ist es für Strauss, den anti-egalitären Gehalt, den er bei Rousseau findet, herauszustellen. Er wird später
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im Naturrechtsbuch kaum erwähnt; aber Meier (1990a) 65 macht den ganzen Ansatz stark, indem er argumentiert, Rousseau sei gegen die Gleichheit und für eine Philosophie, die keine Rücksichten nimmt, also nicht populär ist, das heißt, er greife die Philosophie an, um ihre Sache zu verteidigen. How to Study Spinoza's Theologico-Political Treatise (1948, dt. Strauss 1971b) ist das zweite Beispiel, wie Strauss seine Methodik auf eine moderne Philosophie anwendet. Wie in Abschnitt 2.3. gezeigt, hat sich Strauss in seinem Buch zur Religionskritik Spinozas von diesem zu seinen verdeckten und ungenügend genutzten Quellen zurückgearbeitet, nämlich zu Uriel da Costa und zu Maimonides. Wenn Strauss nun nach einem längeren Weg mit der neu gewonnenen Methodik auf Spinoza zurückkommt, dann sind nicht nur Akzentveränderungen zu erwarten, sondern es ist das Probestück, an dem sich erweisen muß, ob die neuen Mittel weiter tragen als die einst angewandten klassischen hermeneutischen Regeln. Die Anleitung zum Studium von Spinozas Traktat ist methodisch und sachlich besonders interessant, denn sie ist aus zwei Gründen für Strauss' Konzept einschlägig. Zum einen hat Spinoza einen hohen Begriff von Philosophie als Wissenschaft und setzt den Philosophen ausdrücklich von der von Vorurteilen und unbeherrschten Leidenschaften geleiteten Menge ab. Zum anderen hat er unter Bedingungen von Verfolgung publiziert und dies reflektiert. Wo, wenn nicht hier, muß man bei einem modernen Philosophen die Kunst des esoterischen und exoterischen Schreibens nachweisen können. Hinzu kommt, daß Spinoza sachlich für Strauss nach wie vor aktuell ist, weil er das Grundproblem, die Unvereinbarkeit der Ansprüche der Philosophie und der Offenbarung, auf viel höherem Niveau als die Gegenwartsphilosophie gedacht hat (Strauss 1971 b: 300). Im folgenden geht es nicht darum, den Gedankengang zu rekonstruieren, sondern einige Präzisierungen von Strauss' Methodik zu diskutieren und zu verdeutlichen, was mit dem veränderten Reflexionsniveau gemeint ist. Methodisch hat Strauss jene Präzisierungen vorgenommen, die schon eingangs dieses Kapitels ins Spiel gebracht wurden, nämlich die Differenzierung von Auslegen und Interpretieren als Schritten des hermeneutischen Arbeitens; zudem nutzt er nun die These der Parallelität der Art des Lesens und der Art des Schreibens eines philosophischen Autors (ebd.: 302). Schließlich macht Strauss hier sehr deutlich, was es heißt, einen Denker so zu verstehen, wie er sich selbst verstand. Das ist die eigentliche Aufgabe der Interpretation, die sich auch an die seinerzeit gängige Sprache halten muß und keine moderneren Ausdrücke verwenden darf. Jeder Text wird in einem bestimmten Erfahrungsraum und in einem spezifischen Horizont gelesen, das gehört zum Wissensbestand all jener, die sich mit Heidegger auseinandergesetzt haben. Heidegger hat dies als Sprung in den hermeneutischen Zirkel metaphorisiert (1986: 315), aber einige seiner Schüler im weiteren Sinne, wie Löwith, aber auch Strauss, suchten nach einer Lösung, wie man aus dem Zirkel wieder herauskommt, wie man dem Relativismus entkommen kann. Strauss hat hier eine ganz spezifische Strategie entwickelt, er meint, die hermeneutische Hybris, nämlich einen Denker besser zu verstehen als er sich selbst verstand, sei ein Grundübel des Historismus, indem sich 65
Vgl. den langen Einfuhrungsessay in Rousseaus zweiten Diskurs von Meier (1990a) sowie ausführlicher und pointierter Meier (1996: 38f.).
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Nachfahren per se als klüger ausgeben. Es käme nämlich darauf an, einen Denker, einen Philosophen so zu verstehen, wie er sich selbst verstand. Wie soll man nun aber von den eigenen Erfahrungen und Erwartungen absehen können? Dadurch, daß man sich nicht historistisch auf das Umfeld konzentriert, sondern den Text als Text liest, denn außer dem Text gibt es keinen Zugang zur Wahrheit. Den Text als solchen zu lesen hat für Strauss zwei verschiedene Stufen: zum einen die der Interpretation, in der es darum geht zu ermitteln, wie der Sprecher sich selbst verstand und was er tatsächlich sagte. Daran anschließend erfolgt die Auslegung, das ist der Versuch, die Implikationen zu ermitteln, die dem Autor selbst entgangen sind. Die Unterscheidung von Esoterischem und Exoterischen ist nicht nur der Schlüssel, um mit den großen Philosophen ins Gespräch zu kommen, sondern für Strauss auch das Mittel, wie er in den hermeneutischen Zirkel hinein- und aus ihm herausspringt. Sind die Texte kodiert, dann haben die Autoren ja angesichts ihres Interesses, die Philosophie zu kontinuieren, selbst die Schlüssel und Fingerzeige in den Text eingelassen, die eine Explikation ihrer verborgenen Gedanken erlauben. Man kann sich also, da ab und an Mittel zur Dekodierung zu finden sind, sicher sein, daß man mit ihnen an jene verborgenen Wahrheiten herankommt. Wenn nun aber die Entdeckung des Kodes und der Möglichkeiten, ihn aufzulösen, selbst das Ergebnis der Anwendung eines hermeneutischen Prinzips sind, dann ist der Sprung nicht geglückt. Strauss argumentiert aber nicht nur auf einer allgemeinen Ebene, vielmehr hat er auch ein praktisches Mittel, das ihm besonders geeignet erscheint, um dem Selbstverständnis eines Autors nahe zu kommen. Er behauptet: „Die allgemeine Beobachtung zeigt, daß die Menschen so schreiben, wie sie lesen. Es gilt die Regel, daß sorgfaltige Schriftsteller sorgfältige Leser sind und umgekehrt" (Strauss 1971b: 302). Welchen Sinn hat die aufgestellte Regel? Die Frage muß gestellt werden, und sie hat viele Aspekte. Gilt sie generell, d.h. ist ein sorgfaltiger Autor stets ein sorgfältiger Leser? Ist es nicht denkbar, daß ein philosophischer Selbstdenker, der sorgfaltig ist, kaum rezeptiv ist, und wenn ja, vielleicht überraschende Ideen anhand von geringen Geistesgrößen entwickelt? Wie verhält es sich mit der Selektivität im Lesen? Gibt es nicht unzählige Beispiele dafür, daß selbst große Philosophen kongeniale Autoren nur im Hinblick auf bestimmte Problemstellungen wahrgenommen haben? Auf diese Weise könnte man weiter fragen. Deutlich wird, daß sich Strauss nicht nur auf große Denker konzentriert, sondern auf nachweisbare Rezeptionen, auf Kritiken, Kommentare etc. angewiesen ist. Genau in dieser Weise wendet er seine Idee auch an: Er fragt, wie Spinoza die Bibel gelesen hat, und will daraus Folgerungen ziehen, wie er seine Texte schrieb und wie sie zu lesen sind. Später wird er in der gleichen Weise an einem Paradebeispiel analysieren, wie Machiavelli Livius las und was daraus für seine Discorsi als Kommentar folgt. Um überhaupt Ordnung in die methodische Regel zu bringen, muß Strauss Arten von Büchern unterscheiden. In diesem Sinne untersucht er den von Spinoza proklamierten Grundsatz, die Bibel nur aus der Bibel zu verstehen, und zeigt, daß sich Spinoza nicht an ihn hält, denn er interpretiert nicht nur die Bibel im Sinne einer bestimmten Tradition. Die Bibel ist aber kein einfaches Buch, in dem z.B. die wichtigste Lehre fortwährend betont, deutlich gemacht und wiederholt wird; sie verlangt eine besondere Art der Interpretation. Man kann die hieroglyphischen Bücher nur
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versuchen zu entziffern, wie man versucht, im Buch der Natur zu lesen. Auf diese Art und Weise sind Spinozas Schriften selbst gerade nicht zu lesen, denn es handelt sich um Schriften, die um größte Klarheit und Verständlichkeit bemüht sind. „Verständliche Bücher legen sich selbst aus" (Strauss 1971b: 307). In der weiteren Diskussion fuhrt Strauss dann noch eine neue Kategorie von Büchern ein, nämlich die mittlerer Schwierigkeit (ebd.: 309). Strauss kommt dann zu dem Paradox, daß man Spinoza weder verstehen kann, wenn man seine eigenen hermeneutischen Regeln auf ihn anwendet, noch, wenn man sie verwirft (ebd.: 310). Die Lösung für diesen Widerspruch lautet: Spinoza hat jenes Gedankengut mißachtet, das nur durch die Lektüre sehr schwerer Bücher (gemeint sind natürlich Sokrates, Piaton und Aristoteles) zugänglich ist. Es sei nur dabei bedacht, daß Strauss' Klassifikation der Bücherarten ohne nähere Kriterien arbeitet und dabei einen Kanon von Autoren mit Hierarchie so apodiktisch voraussetzt, daß die pure Einordnung eines Autors schon das halbe Geschäft der Interpretation darstellt. Als Schlüssel fungiert wiederum ein divergierender Adressatenbezug, d.h. die Bibel ist für das Volk, die Vielen, während Spinoza für potentielle Philosophen, genauer für potentielle Philosophen, die Christen sind, schreibt (ebd.: 326). Für sie fordere er die Freiheit der Philosophie und ihre Emanzipation von der Theologie. Diese Präzisierung ist wichtig, denn Strauss rekonstruiert den Gedankengang von Spinoza wie folgt: Er geht vom Gegensatz zwischen dem umfassenden Liebesgebot des Christentums und der christlichen Praxis der Verfolgung von Philosophen aus, die allerdings nicht von Anfang an bestand. Das eigentliche Problem ist aber zunächst nicht die Verfolgung, sondern, daß die Apostel, die ihre Botschaft in unbekannter Umgebung verkündeten, sich auf Ansichten stützen, die weit bekannt waren: „So legten sie den Grundsein für jene Verschmelzung von Glauben und Philosophie, die der ursprünglichen Absicht des Evangeliums widerspricht und die Verfolgung der Philosophie im Namen der Religion rechtfertigt." (Strauss 1971b: 3 2 7 )
Durch die Entstehung christlicher Demokratien seien allerdings bessere Möglichkeiten gegeben. Zudem gibt es keine anti-urbanen, autoritären Propheten mehr und das unitarische System des Christentums ist aufgelöst. Nach Strauss heißt all dies nicht, daß mehr Freiheit für das Philosophieren existiert, sondern daß mehr Raum für die christliche Lehre gegeben ist. Spinoza ist, wie Strauss immer wieder betont, sehr kühn, er hat nicht nur den jüdischen Glauben abgelegt, sondern er verwirft - im Namen der Philosophie alle Religion, d.h. er ist radikaler als Hobbes. Auf dieser Überlegung beruhend, benennt Strauss die Annahme der Möglichkeit der Offenbarung und daß sie ein zuverlässiges Wissen von Wahrheiten ermögliche, welches das menschliche Fassungsvermögen übertreffe, als eine stille Voraussetzung von Spinoza. Durch diese Annahme kann Spinoza als widersprüchlich begriffen werden, denn in der Bibel-Kritik hatte er ja gerade behauptet, daß solches Wissen nicht möglich sei. Damit ist der Einstieg für eine Reihe von Widersprüchen (Philosophie und Theologie, die Unterstellung, Spinoza nehme eine esoterische Lehre des neuen Testamentes an, die wahrhaft philosophisch sei; vgl. ebd.: 328f.) gewonnen, die letztlich alle als Indikatoren für eine exoterische Präsentation der eigentlichen Wahrheiten verstanden werden. Die
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Konklusion lautet, man könne am Umgang Spinozas mit den Widersprüchen der Bibel sehen, wie sein eigenes an Widersprüchen reiches Buch zu lesen ist. 66 Die Vorsicht Spinozas, seine Regel, nach der Fassungskraft der Menge zu sprechen, dürfe nicht vernachlässigt werden, wenn man ihn verstehen wolle. Strauss spitzt diesen Gedanken so weit zu, daß er behauptet, ein Theoretiker wie Spinoza, der nach Evidenz und Klarheit strebt, habe seinen theologisch-politischen Traktat zu einem, was die zentralen Aussagen angeht, kaum verständlichen Werk kodiert. Diese Ansicht läuft auf ein Absehen von den proklamierten Erkenntnisidealen des holländischen Philosophen hinaus und entfernt sich somit weit von der Textgrundlage. Die ganze Rekonstruktion ist, ob Strauss es will oder nicht, ein Sprung in den hermeneutischen Zirkel, den er mit seinen eigenen Prämissen vollzieht. Wie meint Strauss, bei der Auslegung aus diesem herauszukommen? Diese Frage läßt sich nicht leicht mit Bezug auf den Text beantworten, da sie eine externe Perspektive beinhaltet, der sich Strauss nicht direkt stellt. Sein Ausweg ist, was weiter oben als Problemplatonismus entwickelt wurde. Strauss geht davon aus, daß es eine bestimmte Anzahl von Grundproblemen in der Philosophie, in der politischen Philosophie gibt, und diese Grundprobleme haben den Charakter fundamentaler Alternativen (Athen oder Jerusalem, Relativismus oder Naturrecht, teleologischer oder nicht-teleologischer Naturbegriff usw.). Die Auslegung, d.h. die Diskussion von Prämissen, die ein Autor übersieht, geschieht bei Strauss im Hinblick auf solche fundamentalen Alternativen. Nur weil er annimmt, mit dem Entstehen der politischen Philosophie (vgl. 6.3.5.) entstehe jene Menge von ewigen Problemen, kann er die jeweils interpretierten Denker in einen zeitlosen Horizont stellen. Fraglos sind aber die Grundprobleme selbst eine Konstruktion. Denkt man in diesem Kontext einmal an Spinozas Ethik, so kommt hier das von Strauss im Rahmen seiner Unterscheidung von Esoterischem und Exoterischem heruntergespielte Problem in den Blick, daß zwischen der Ordnung eines Systems und den inneren Gedanken eine erhebliche Spannung bestehen kann, die nichts mit der von Esoterischem und Exoterischem zu tun hat. Das ist insofern wichtig, als Strauss in seinen Studien zu Hobbes (1936) auf diese Frage gestoßen war. Er unterschied dort zwischen dem systematischen Konzept von Hobbes und dem zugrundeliegenden Motiv und Problem. Diese Unterscheidung, die auch für die „more geometrico" geschriebene Ethik wichtig wäre, nutzt er nicht methodisch reflektiert. D.h. es gibt außer seiner allgemeinen negativen Einstellung zu Systembauten z.B. keine Reflexion über die Divergenz zwischen Struktur und innerer Logik von Spinozas Ethik. Die Ethik, eine Universalphilosophie, die auch eine Ethik im eigentlichen Sinne enthält, ist zudem kein verschlüsseltes Buch. Wir haben hier einen klassischen Fall für nicht intendiert Subtexte eines Textes, und er zeigt an, daß selbst große Philosophen keine perfekten Autoren sind. Strauss nutzt solche Ansätze nicht, weder für die Interpretation noch für die Auslegung. Ist aber die bei Strauss zunächst fast demütige Haltung gegenüber Texten, die auf Formanalyse, Art des Schreibens, Adressaten u.a.m. zielt, nicht auf eigene Weise außerordentlich anspruchsvoll, zielt sie nicht darauf, den Philosophen im ganzen so zu verstehen, wie er sich selbst verstand? Fragt man so, dann erscheinen argumentanalytische Deutungen, „Wir können sagen, daß Spinoza den Entwurf seiner exoterischen Interpretation der Bibel dazu benutzt, den Charakter seines eigenen exoterischen Vorgehens anzuzeigen." (Strauss 1971b: 337)
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gegen die sich Strauss wendet, weil sie Texte oft nicht als ganzes betrachten, die Form vernachlässigen, als viel angemessener und bescheidener. Strauss konstatiert eine Niveauveränderung in der Debatte um Offenbarung und Philosophie, was nicht verwundert, denn er sieht in der modernen Philosophie ja einen Verfall, auch wenn er sein Dekadenztheorem noch nicht entfaltet hat. Rousseau und Spinoza sind für Strauss fraglos große Philosophen, aber sie sind in den Verfall nicht nur eingebettet, sondern auch dessen Akteure. Rousseau zumindest ist ein Weichensteller, er leitet, wie Strauss später immer wieder herausstreicht, die Krise der Moderne ein. Was bedeutet diese Spezifikation der Philosophen in einer größeren Entwicklung, was heißt das für die Anwendung der Methodik des esoterischen und exoterischen Schreibens? Explizit ist bei Strauss darüber nichts zu erfahren, aber indirekt kann man zumindest erschließen, daß er beide nicht für perfekte Autoren hält, weil sie zum Teil unbeabsichtigt selbstwidersprüchlich sind. So pendelt Rousseau häufiger zwischen der Rückkehr zum Naturzustand und der zur Polis, aber auch bei Spinoza gibt es Unklarheiten, sie sind, wie oben gezeigt, primär methodischer Natur. 67
4.4
Debatten um Strauss' Methodik
Die Aufsatzsammlung Persecution and the Art ofWriting (1952; PAW) ist schon aus kompositorischen Gründen interessant. Wie gezeigt, fanden einige Arbeiten, die sich mit der Methodik auseinandersetzen, nicht den Weg in den Sammelband. Drei Texte jüdischer Autoren bzw. von Autoren, die sich mit dem Judentum beschäftigen, sind vorhanden: von Maimonides, Jehuda Halewi und Spinoza. Alle drei werden als Philosophen thematisiert, die das theologisch-politische Problem interessiert, und nicht als jüdische Denker. Dennoch spielt die Frage, wie sich das Judentum als Religion zur Philosophie verhält, eine große Rolle. Die verschiedenen esoterischen und exoterischen Textebenen sind bei der philosophischen Behandlung der Politik und der politischen Behandlung der Philosophie wenig geschieden, oft treten sie in Mischungen hervor, und Strauss wechselt zwischen den Ebenen. Der Band, in dem Strauss sein methodisches Programm und dessen Anwendung dargelegt hat, provozierte eine Reihe theoretisch kontroverser Stellungnahmen, die man in zwei Gruppen aufteilen kann. Die einen gehen auf das methodische Programm ein. Diese sollen nun betrachtet werden. Zur anderen Gruppe gehören Arbeiten, die auf einzelne Interpretationen reagieren. Sie sollen hier ausgespart bleiben, da ich sie nach Möglichkeit in die Darstellung des Vorgehens von Strauss, bei dem man seine Methodik in ihrer Anwendung sieht, eingebunden habe. 68
67
Naturrecht
und Geschichte
bietet dagegen, nota bene, keine direkte Anwendung der Strausschen
Tiefenhermeneutik, die, ähnlich konzentriert wie im Falle von Rousseau und Spinoza, bei den Intentionen dieser Autoren ansetzen würde. 68
A u f die Kritiken von Rezensenten, nämlich von Sabine ( 1 9 5 3 ) und Beiaval (1953), antwortet Strauss 1954 in dem Artikel: On a forgotten
kind ofWriting
(vgl. WPP: 2 2 1 - 2 3 2 ) .
DEBATTEN UM S T R A U S S ' M E T H O D I K
143
Von substantieller Bedeutung ist die Kritik von Hans-Georg Gadamer vor dem Hintergrund seines hermeneutischen Programms von Wahrheit und Methode 1965.69 Seine Einwendungen gegen Strauss sind im wesentlichen folgende: 1. Kann man einen Denker wirklich verstehen, wie er sich verstand? Oder ist das nur eine Näherung, ein Problem sukzessiver Horizontverschmelzungen? 2. Verfolgung (Persecution) ist nur eine allgemeine Form, ein Sonderfall des Druckes, den die öffentliche Meinung auf die theoretischen Produktionen ausübt. Wenn dies gilt, dann ist wohl der Wechsel zwischen der eigenen Lehre, dem Esoterischen, und dem Exoterischen, d.h. dem, womit man sich an die Öffentlichkeit wendet oder ihr Konzessionen macht, ein häufiger vorkommendes Faktum. Darüber hinaus ist es nicht einfach nur häufig, sondern wird auch unbewußt realisiert. Gadamer hält fest, daß Strauss ein Problem in zugespitzter Weise aufgeworfen hat, und zwar gegen argumentanalytische Textdeutungen. 3. Ein besonderes Problem ist die große Bedeutung, die Strauss Widersprüchen als Indikatoren für Esoterisches zuschreibt. Gadamer sieht hier die Gefahr allgemeiner Konfusion und setzt auf die Phronesis, den praktischen Schluß, der eine andere, eigene Form von Klarheit hat. 4. Gadamer hält einen wirklichen Rekurs auf die Antike als Antike nicht für möglich. Er spricht sich aber für die Kunst des sorgfältigen Lesens aus und nimmt dabei das Problem von Ironie und Satire als schwerwiegende Frage auf. Diese Kritiken, denen man, wenn man sich auf das Gebiet der Texthermeneutik begibt, weitgehend folgen kann, zeigen, daß Gadamer die meisten Vorschläge von Strauss' Methodik nicht annimmt. Wenngleich er hermeneutische Tiefeninterpretation von Texten präferiert, legt er doch nahe, daß in diesem Begriffsrahmen die aufgeworfenen Probleme nicht angemessen konzeptualisiert werden können. Gadamer hebt den Problemgehalt der Unterscheidung von esoterischen und exoterischen Textschichten, die bei Strauss zwar als eine spezielle, aber durchaus generelle Methode gemeint ist, in einem allgemeinen geisteswissenschaftlichen Rahmen auf. Der Preis dafür ist der Verzicht, Besonderheiten von Texten politischer Philosophie und ihrer Wirkungen als eigenständiges Problem zu thematisieren. Gadamer ignoriert das von Strauss aufgeworfene Problem der Rhetorik als einer literarischen Kodierungstechnik und folgt eher einer aristotelischen praktischen Philosophie, während Strauss eine spezifische Platon-Lesart entschlossen ausbaut und an diesem Muster sein Verständnis von politischer Philosophie ausrichtet. Strauss teilt eine wesentliche Prämisse von Gadamer nicht, nämlich dessen starke Orientierung auf die Sprache der Philosophen, deren letzte Konsequenz die Behauptung ist, die Sprache würde denken; dagegen rückt Strauss die Philosophen als Autoren und deren Intentionen in den Mittelpunkt. Das sind gegensätzliche hermeneutische Orientierungen, die beide mit Konsequenz verfolgen. Die Problematik, die Intentionen von Philosophen zu erfassen, ist für Gadamer zumindest partiell ein veraltetes Programm; für Strauss, der 69
Gadamer hat sich mehrfach mit Strauss auseinandergesetzt; vgl. Gadamer (1965: 5 0 3 - 5 1 2 ; 1978a: 5 - 1 2 ; 1978b: 1-4; 1984: 1-13).
144
D I E K U N S T DES DOPPELDEUTIGEN SCHREIBENS
stark mit Autorzuschreibungen arbeitet, sind die Intentionen eine zentrale Frage, aber die bloß geisteswissenschaftlichen Mittel, die er nutzt, sind ungenügend. 70 Eine Kritik anderer Art hat Stanley Rosen, ein „abtrünniger" Strauss-Schüler, vorgetragen. In Hermeneutics as Politics (1987) hat er gezeigt, daß Hermeneutik immer einen in ihr eingeschriebenen politischen Kern hat oder Korollarium zu einem politischen Programm ist. Er demonstriert, wie Strauss diese Dimension bei anderen freilegt, sich selbst aber davon ausnimmt, und formuliert zwei Einwände. Erstens: Strauss argumentiere von der Behauptung aus, alle philosophischen Probleme wären mit der Entstehung der Philosophie aufgekommen und damals schon vorbildhaft debattiert worden. Das ist aber eine Setzung, deren Beweis nie erbracht wird. Strauss müsse eigentlich zeigen, daß bei den antiken Philosophen alle Probleme erkannt werden und daß sie für die folgenden Jahrhunderte stets bestanden sowie daß keine anderen dazugekommen sind. Zweitens fragt er, warum Strauss nie die geheime Lehre selbst zur Sprache gebracht habe. Es sei doch in vielen Fällen heute mehr als ungefährlich. Rosen greift also den Problemplatonismus und die universelle Bedeutung der hermeneutischen Methodik von Strauss an, ohne die generelle Problematik der Mehrfachkodierung von Texten mit verschiedenen Adressaten aufzunehmen. Dadurch wird die rhetorische Dimension verkannt und auf eine politische Seite von Propaganda verkürzt. 71 Stephen Holmes (1993) ist ein anderes Beispiel für eine rigorose Kritik an Strauss, die im Lichte dezidiert liberaler Ansichten vorgetragen wird und wenig nach den theoretischen Gehalten fragt. Er unterstellt Strauss die völlige Überschätzung eines nicht zu leugnenden Aspektes, nämlich der Verfolgung und ihrer gelegentlichen Konsequenzen für die Art des Schreibens. Aber er fragt, warum Strauss dieses Phänomen für verschiedene Zeitalter universalisiert. Vor allem interessiert ihn, warum Strauss in den USA in einer liberalen Gesellschaft selbst die Techniken des esoterisch-exoterischen Schreibens nutzt. Seine Antwort trifft in ihrer Einseitigkeit allerdings einen problematischen Punkt. Holmes hält die Ungleichheit für das zentrale Problem von Strauss. Die These ist, daß Strauss mit der egalitären Ausrichtung der amerikanischen politischen Kultur nicht klarkomme und ihn die Tragik einer im Exil verpflanzten Generation kennzeichne, die, aus deutschen Kontexten und Traditionen stammend, zur völligen Überschätzung der Philosophie und ihrer Bedeutung neige. Zu den grundsätzlichen Alternativen, die das Philosophieren von Strauss kennzeichnen, gehört die große Alternative Athen oder Jerusalem. Um sie zu verstehen, muß man nach Strauss die Differenz zwischen Judentum sowie Islam und Christentum be70
Hermeneutische Fragen finden sich auch in den Auseinandersetzungen zwischen Strauss und Gadamer. Ein interessanter Aspekt ist, daß der späte Gadamer (1986: 4 2 1 ) die Kritik an Strauss in dem Punkt eines zu engen Zusammenrückens von Piaton und Aristoteles (Gadamer 1965: 511) aufgegeben hat. Das ist eine bemerkenswerte Veränderung, denn Gadamer hatte Strauss längere Zeit vorgeworfen, er würde auf problematische Weise den arabischen Rezeptionslinien folgen.
71
Rosen bringt noch einige weitere interessante Punkte vor. Der Philosoph habe die Stadt zu überzeugen, daß er weder Atheist sei noch ihre Regeln mißachte, sondern eigentlich der beste Bürger, und dies unter der Voraussetzung, daß Strauss die Ideen in unlösbare Probleme verwandelt, also letztlich keine klaren Begründungen von Ordnung durch die Philosophen vorsieht (1987: 109).
DEBATTEN UM S T R A U S S ' METHODIK
145
greifen. Judentum und Islam haben es mit dem Gesetz (der Tora, der Shari'a) zu tun; einem Gesetz, in dem die soziale Ordnung als ganzes beschrieben und geregelt wird. Das Gesetz kann nicht wie das Christentum, das wesentlich ein Glaube ist, mit der Philosophie vermittelt werden. Was Thomas von Aquin unternahm, die Versöhnung von Philosophie und Christentum, sei dem Judentum und dem Islam nicht möglich (PAW: 9). Philosophen wie al-Farabi, Maimonides und andere hielten diesen Gegensatz nicht nur fest, sondern entwickelten, um sich in ihm bewegen zu können, die Kunst des esoterisch-exoterischen Schreibens. Sie waren unter erschwerten Bedingungen Philosophen, aber diese Lage hatte auch einen Vorteil, denn im Christentum geriet die Philosophie unter die Suprematie der Religion; im anderen Fall blieb der prinzipiell private Charakter der Philosophie, wie er auch für die athenische Philosophie typisch war, erhalten (PAW: 21). Strauss arbeitet im Sammelband Persecution and the Art ofWriting in der Einleitung mit einem semantischen Trick, indem er als Kritiker der Soziologie sich deren Titel borgt und ihr eine völlig andere Orientierung zuschreibt. Was ihn an einer „Soziologie der Philosophie" interessiert, hat er nachdrücklich gesagt, was ihn nicht interessiert, muß wenigstens benannt werden: Ihn interessieren weder die konkreten Lebensumstände, noch die Philosophen als eine reelle Gruppe, noch ihre tatsächlichen Spannungen mit der Politik und auch nicht Praxen und Praktiken der Philosophie, sondern die Philosophen als eine virtuelle Klasse, die als solche in prinzipieller Spannung zur Politik, die immer im Medium der Meinung funktioniert, steht. In diesem Sinne formuliert er in der Einleitung von Persecution and the Art ofWriting: „Farabi ascribed to Plato the view that in the Greek city the philosopher was in grave danger. [...] The understanding o f this danger and o f the various forms which it has taken, and which it may take, is the foremost task, and indeed the sole task, of the sociology o f philosophy." (PAW: 21)
Kommt man in diesem Zusammenhang noch einmal auf das Modell Autor - Sprache/Medium - Auditorium zurück, so muß ausdrücklich hervorgehoben werden, daß alle diese Elemente bei Strauss konstant gesetzt sind. Die Gemeinsamkeit aller Philosophen, Texte und wesentlichen Differenzierungen von Auditorien sollen überwiegen, und zwar ungeachtet der ganz verschiedenen Autorfunktionen in der Antike, im Mittelalter und der Moderne, auch ungeachtet der Verschiedenheit der Textformen und ihrer Zirkulation etwa vor und nach der Erfindung des Buchdruckes, um nur eine relevante Umwälzung zu benennen, und auch ungeachtet der Entwicklung von Bildung auf der Seite des Publikums. Dennoch sind die Elemente nicht ganz konstant, denn für Strauss gibt es ausgezeichnete Situationen für das Philosophieren, das sind Zeiten, in denen entweder noch keine Tradition vorhanden ist, wie in der Antike, oder Zeiten, in denen die alte Tradition nicht mehr gilt und noch nichts Neues da ist. In einer solchen Situation verortet er ja Hobbes (vgl. 3.2.2.). Umgekehrt gibt es demnach auch Zeiten, in denen der Zugang zu den Grundproblemen weitgehend verstellt ist. Nur insofern ist Strauss bereit, die Möglichkeiten von Philosophen als Autoren generell zu differenzieren. Wie das eigentliche Philosophieren eher in Ausnahmesituationen erfolgt, so hängt seine Interpretation, worauf ich hier nur allgemein hinweisen kann, oft am erhellenden Detail. So ist für das Verständnis Maimonides', das nach Strauss nur auf der Grundlage
146
DIE KUNST DES DOPPELDEUTIGEN SCHREIBENS
einer Interpretation von al-Farabi möglich ist, eine Briefstelle von Maimonides entscheidend, bzw. ein zentraler Beleg für das exoterische Vorgehen von Machiavelli ist wiederum eine abgelegene Briefpassage. 72 Daneben gibt es als wegweisendes Detail den Verbindungstext, z.B. Al-Farabi Plato oder das Aristoteles-Exzerpt von Hobbes oder den Schlüsselsatz, insbesondere die bereits diskutierte Sentenz von Avicenna: „[...] the treatment of prophecy and the Divine law is contained in [...] the Laws" (vgl. 3.3.). Für ein tiefenhermeneutisches Herangehen, das auf eine Enträtselung bewußt verdeckter Sinngehalte setzt, ist das konsequent, es zeigt aber gleichzeitig die Fragwürdigkeit weitreichender Folgerungen, die auf solchen Details aufgebaut werden, besonders plastisch. Am Ende dieses Kapitels über die interpretative Methodik von Strauss will ich sie zu meiner generellen These, nämlich der behaupteten paradoxen Form von Strauss' Philosophieren, seinem politischen Denken mit unpolitischem Kern in Beziehung setzen. Hier lassen sich nochmals zwei Aspekte der Relation von Esoterik - Exoterik und Rhetorik festhalten: 1. Was Strauss später insbesondere in seiner zweiten Stellungnahme zu Xenophons Hieron - „philosophische Politik" nennen wird, ist eine Politik, die sich an die Philosophen richtet, existierende oder künftige; sie zielt auf den Erhalt der Philosophie ab und transzendiert alle politischen Grenzen. Diese Politik ist auf spezifische Weise unpolitisch, da es ihr um die Sicherung des theoretischen Lebens geht, aus dem keine direkten Folgen für die jeweiligen Gemeinwesen zu erwarten sind. Im Mittelpunkt steht die Sicherung der Lebensbedingungen der Philosophen als Philosophen, also der wenigen großen Theoretiker. Sie ist nicht mit einer Art berufsständischer Politik zu verwechseln. 2. Die politischen Aktivitäten des Philosophen selbst, seine Beteiligung an der Verbesserung der Ordnung bzw. an der Errichtung der guten Ordnung sind von „philosophischer Politik" strikt zu trennen. Es handelt sich nach Strauss hier um Tätigkeiten eigener Art, deren Adressat der Staatsmann, der Politiker bzw. die Bürger sind und eben nicht Philosophen als Philosophen. Hier ist der Philosoph zwar engagiert, aber seine Seele weilt, wie bereits zitiert, woanders. Politik als Politik ist ein anderes Thema, dem sich der junge Strauss in seiner Kritik an Carl Schmitt zuwandte, das dann aber immer weniger einen Gegenstand für ihn bildete. Die Bestimmung politischer Philosophie, wie sie Strauss in Persecution and the Art of Writing und den dazugehörigen Schriften entwickelt hat, lassen sich wie folgt zusammenfassen: Politische Philosophie sollte wie Piaton bzw. al-Farabi den Weg des Sokrates, also des intransigenten philosophischen Erörterns von Grundproblemen, und den Weg des Trasymachos miteinander verbinden (PAW: 16), d.h. sie muß ihre Wirkungsbedingungen reflektieren und nicht nur erkennen, daß im Normalfall Machtbeziehungen und Machtkampf in der Politik dominieren, sondern auch, daß das normative Denken, die Suche nach der besten Ordnung notwendigerweise zu einem Konflikt mit der Politik
72
Strauss zu Maimonides' Brief an Samuel Ibn Tibbon (Strauss 1945: 357), sowie ad Machiavelli der 44. Brief an Guiccardini (in: Machiavelli 1925: 474). Zur Interpretation vgl. Abschnitt 5.2.4.
DEBATTEN UM STRAUSS' METHODIK
147
fuhrt. Recht verstanden ist sie nicht historisch, denn sie ist an der transhistorischen anonymen Wahrheit interessiert. Die klassische politische Philosophie sei ein ausgezeichnetes Orientierungsmuster, da sie nach der schlechthin besten Ordnung, nach der besten Stadt suchte und in einer direkten Beziehung zum politischen Leben stand und daher um ihre Gefahrdung und um die geringfügigen praktischen Eingriffsmöglichkeiten wußte. Philosophen können Gesetzgeber etwas lehren, aber sie wenden sich nur teilweise an die politische Elite und die Menge, ihre eigentlichen Adressaten sind Philosophen. Die antike Philosophie ist aber, wie Strauss mit Bezug auf Hegel sagt, konkreter und verfugt noch über ein natürliches Bewußtsein, denn es gibt noch keine philosophische Tradition mit all ihren abstrakten Begriffen (WPP: 75). Der Weise ist meilenweit entfernt vom modernen Philosophen und Intellektuellen, die sich unentwegt in die Politik einmischen und über das PraktischWerden der Philosophie nachdenken. Das Aufsteigen von den Meinungen zum Wissen des Ganzen ist für Strauss nur als unentwegtes Fragen und Erörtern von Grundproblemen, wie dem der politischen Ordnung, denkbar, d.h. es geht um ein prozeßhaftes Philosophieren, das keine systematische Theorie als Ergebnis hat. Zu diesem Philosophieren gehört vielmehr die entsprechende philosophische Lebensführung, die nur die Sache weniger sei. Der Gegensatz von Philosoph und Stadt sei das für politisches Philosophieren eigentliche konstitutive Politikum, dem der Philosoph - um es noch einmal zu wiederholen - letztlich nur durch die Kombination des Weges des Sokrates und des Trasymachos begegnen könne. In diesen Gegensatz ist die Spannung zwischen Philosophie und Religion eingeschrieben, und Strauss stellt seit seiner mittleren Schaffensphase die Unvereinbarkeit des Philosophen und Propheten prinzipiell heraus.
5.
Tyrannis oder Totalitarismus
Es sind zwei Bücher, mit denen sich Leo Strauss in die Totalitarismusdiskussion einschaltet, nämlich On Tyranny (1948; OT) und Thoughts on Machiavelli (1958; TM), und in beiden Fällen benennt er dieses politische und theoretische Problem ausdrücklich. On Tyranny, eine Interpretation des Hieron, ist eine philosophische Intervention, die für ihn durchaus typisch ist.73 Das ganze Buch wird von der Idee getragen, daß man zum antiken Verständnis von Tyrannis zurückkehren müsse, um die freilich veränderten Tyranneien der Gegenwart zu verstehen. Der Weg, den Strauss einschlägt, ist eine Interpretation des vom Sokrates-Schüler Xenophon verfaßten Hieron, wobei diesem Text eine Schlüsselfunktion in doppelter Hinsicht zugeschrieben wird: Zum einen sei er ein entscheidender klassischer Text zum Thema und zum anderen stelle er die Verbindung zu Machiavelli dar, der exemplarisch mit der klassischen Tradition gebrochen hat. Jener Bruch - so die dramatische Diagnose - trug nicht nur dazu bei, daß die modernen Tyranneien als solche nicht mehr begriffen wurden, sondern er ermöglichte sie ideell geradezu erst. Schon 1948 ist Machiavelli im Blickfeld von Strauss74, und zehn Jahre später heißt es in der Einleitung zur monographischen Auseinandersetzung mit ihm: „And contemporary tyranny has its roots in Machiavelli's thought, in the Machiavellian principle that the good end justifies every means" (TM: 13f.). Für Strauss hat Machiavelli den Unterschied zwischen dem Tyrannen und dem Fürsten im Principe eingeebnet und damit eine entscheidende Wendung zu „amoralischer" Politik vollzogen. Die umfangreichen Studien zu Machiavelli gehören zu den wichtigsten und auch umstrittensten Texten von Strauss und verdienen deshalb besondere 73
Die erste Ausgabe erscheint 1948, eine französische Ausgabe mit Kojeves Rezension 1954, eine erweiterte engl. Ausgabe mit Kojeves Text und Strauss Reaktion auf diesen Text sowie einem Vorwort von A. Bloom 1963 - dem entspricht die deutsche Ausgabe von 1963. Seit 1991 gibt es eine um die Korrespondenz erweiterte amerikanische Ausgabe (eds. Gourevitch/Roth).
74
ÜT: 77: „Der größte Nachahmer des Hieron war Machiavelli. Es würde mich nicht wundem, wenn ein sorgfaltiges Studium der Werke Machiavellis zutage brächte, daß gerade Machiavellis genaue Kenntnis von Xenophons wichtigster erzieherischer Schrift ihn zu den schockierendsten Passagen des Principe inspiriert hätten."
S I N N UND B E D E U T U N G DES T Y R A N N I S B E G R I F F S
149
Aufmerksamkeit. Bedeutsam ist der Umstand, daß sich Machiavelli im Principe zweimal en passant auf Xenophons Hieron bezieht, was Strauss dazu veranlaßt, die Beziehung zwischen beiden Texten genauestens zu untersuchen. Er deutet die „Lehre" beider Texte, ihren inneren geistigen Gehalt als einander sehr nahe und dennoch grundlegend verschieden. Denn alle Positionen diskutiere Xenophon vor dem Hintergrund somatischer Wissenschaft und sie haben deshalb eine stark normative Orientierung und nicht eine machttechnische, wie sie Strauss bei Machiavelli erkennt. Die Interpretation des Hieron und von Machiavelli werden in diesem Kapitel als ein Zusammenhang thematisiert, da sie über den sachlichen Zusammenhang hinaus besonders geeignet sind, erste Kristallisierungen von Strauss' Theorieform aufzuzeigen, nämlich sein philosophischpolitisches Denken, das von politischen Anstößen und Motiven - wie der Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus - lebt, gleichwohl auf spezifische Weise unpolitisch bleibt, denn es ist primär auf die Sache der Philosophie und nicht die der Politik bezogen. In der sich an die Hieron-1nterpretation anschließenden Debatte mit Alexandre Kojeve entwickelt Strauss anfangs der 1950er Jahre zum ersten Mal seinen Begriff „philosophischer Politik", einer Politik des Philosophen zur Bewahrung der Philosophie. Den Hintergrund für das spezifische Engagement von Strauss bildet die Überzeugung, daß man zur klassisch sokratischen Philosophie zurückkehren muß, daß dies aber den meisten nicht möglich ist. Es käme darauf an, heißt es an prominenter Stelle, erst wieder eine Generation heranzubilden, die die klassischen Texte lesen und verstehen kann (ÜT: 39). Dieser Klassizismus trifft auf eine Besonderheit des amerikanischen Geisteslebens, nämlich den Pragmatismus, und es ist jene Seite, die der amerikanische Gelehrte Alvin Johnston einleitend in der ersten Ausgabe von On Tyranny herausstreicht. Er urteilt, den Amerikanern stünde der von Strauss gleichsam wiederentdeckte, schlichte und pragmatische Xenophon wohl näher als der „göttliche" Piaton. Aber ganz schlicht und pragmatisch bleibt auch Xenophon bei Strauss nicht, denn On Tyranny ist seine zweite Arbeit, bei der er die Unterscheidung von esoterisch-exoterischer Textpräsentation in der Interpretation eine antiken Textes anwendet. Victor Gourevitch, ein Strauss-Kenner, sprach mit Blick auf diese Arbeit von einem Wendepunkt, einen Punkt, an dem Strauss zu seinem eigenen Thema vordrang (1968: 69). On Tyranny ist ein spezieller Beitrag zur Debatte über Antike versus Moderne, da außer Strauss, der hier als Interpret die Überlegenheit der Antike vorfuhren will, auch die moderne Philosophie einen, allerdings sehr speziellen Fürsprecher hat, nämlich Alexandre Kojeve. Von existentialistisch-hegelianischen Positionen aus hat er sich mit Strauss auseinandergesetzt; dieser Beitrag ist 1954 in die erweiterte Ausgaben von On Tyranny aufgenommen worden und seitdem Bestandteil aller Editionen. Nicht zuletzt wegen der Kontroverse zwischen Strauss und Kojeve ist das Buch recht bekannt geworden, an Aktualität gewann es in jüngerer Zeit durch die nach 1989 neu einsetzende Debatte um das Ende der Geschichte. Die Menge interpretativer Literatur ist seitdem sprunghaft angestiegen (Meyer 1993, Bradshaw 1992, Pippin 1993, Fukuyama 1992). Strauss verfolgt zwei Ziele, von denen in On Tyranny allerdings nur eines direkt zum Thema wird. Auf der einen Seite gelte es, sich von dem Anspruch wertfreier, positivisti-
150
TYRANNIS ODER TOTALITARISMUS
scher Wissenschaft zu verabschieden. Diese Art politischer Wissenschaft hätte geradezu die Erkenntnis der Tyrannei im 20. Jahrhundert verhindert. Die seit 1935 vor allem in den USA entwickelte Totalitarismustheorie 75 erwähnt Strauss mit keinem Wort, obwohl er sie kannte, denn es handelte sich ja immerhin um eine prominente politikwissenschaftliche Deutung, mit der er auch an der New School direkt in Berührung kam. Doch deutet Strauss sie offensichtlich als einen Versuch wertfreier Herrschaftsanalyse. Der Tyrannisbegriff dagegen sei wertend, und ohne den wertenden Aspekt verliere er seine normativ orientierende Funktion. Das heißt auf der anderen Seite nun aber nicht, daß sich für Strauss das Problem mit dem Rekurs auf den klassischen Begriff erledigt hätte. Für ihn charakterisieren die moderne Tyrannis durchaus einige neue Züge, wie die extensive Nutzung von Ideologie sowie die breite Nutzung von Naturwissenschaft und Technik im Dienst der Willkürherrschaft, aber dies sind nur neue Aspekte, die am Wesen dieser Regierungsform nicht ändern. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn die neuen Seiten in Ort Tyranny im wesentlichen ausgespart bleiben. Überhaupt interessiert Strauss nicht eine Theorie der Tyrannei, zu der Piaton und römische Klassiker heranzuziehen wären, sondern er beschränkt sich auf Xenophons Text, und in der Interpretation rückt die Beziehung des Tyrannen und des Weisen in den Mittelpunkt. Wenn man die Auffassungen von Strauss begreifen will, ist es über die Rekonstruktion seiner Argumentation hinaus wichtig, sie in den damaligen Diskussionsstand einzubetten.
5.1
Sinn und Bedeutung des Tyrannisbegriffs
Generell kann man zwei verschiedene Tyrannisbegriffe unterscheiden. Der eher historische Begriff hebt auf spezifische Formen tyrannischer Herrschaft im alten Griechenland ab, wobei der Tyrann selbst, der Charakter der unbeschränkten Herrschaft und auch ihr Zweck wesentlich sind. Demgegenüber gibt es einen allgemeineren, universalen Begriff der Tyrannis im Rahmen politischer Theorien, der nicht nur auf eine spezifische Herrschaftsform zielt, er ist vielmehr der Gegenbegriff zu dem der guten Ordnung und eine normative Kategorie wie diese. Tyrannis stellt in den Theorien von Piaton und Aristoteles das Gegenteil der Aristokratie, der Herrschaft der Besten dar. Zugleich ist damit ein genereller Inhalt angesprochen, der über die konkreten Herrschafts- und Regierungsformen hinausgeht. Der Begriff kennzeichnet nämlich nicht legitimierte Willkürherrschaft schlechthin. Strauss hat durchaus recht, wenn er behauptet, daß dieser Tyrannisbegriff in der Moderne sukzessive in den Hintergrund gerückt wurde. Verantwortlich sind dafür zweifellos die modernen Sozialwissenschaften, die bestrebt sind, neue For75
Das klassische Dokument ist der Band von Guy Stanton Ford: Dictatorship in the Modern World, Minneapolis 1935, der auf eine Tagung der A P S A von 1935 zurückgeht. 1939 folgte eine zweite Konferenz in Philadelphia. Totalitarismus wird gleichermaßen als deskriptive Kategorie und als politischer Kampfbegriff verwandt.
Erst in den
rich/Brzezinski ( 1 9 5 6 ) und Arendt (Origins), Deutungsmuster.
1950er Jahren, mit den Arbeiten von
Fried-
wird das Konzept dann zeitweise ein hegemoniales
SINN UND B E D E U T U N G DES TYRANNISBEGRIFFS
151
men von Unterdrückung, Willkür und Despotie in Massendemokratien und Industriegesellschaften zu enträtseln und dafür neue Begriffe zu suchen. Man denke in diesem Zusammenhang nur an Alexis de Tocqueville und seine neue Thematisierung der Tyrannei der Mehrheit sowie des Despotismus von moderner Bürokratie und Industrie.76 Hier wird Tyrannei noch als Gattungskennzeichen mitgefühlt, aber das Dominantwerden von sachlichen Mächten fuhrt bald zu einer Verabschiedung des Tyrannisbegriffs, der zu stark an die Person des Tyrannen gebunden erscheint. Die an Tocqueville anschließende Sichtweise enthält oft eine Kontextualisierung der klassischen Begriffe, die sie von den modernen abhebt, so daß es statt des universalen Tyrannisbegriffs zum Vorwiegen eines historischen Begriffs von Tyrannei in der Moderne kommt. Dabei gibt es freilich auch einen Wechsel vom stark normativen Begriff der antiken politischen Philosophie zu einem eher deskriptiven, aber dennoch nicht wertfreien Begriff. Dieser Trend dominierte lange Zeit. Sah es in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts so aus, als wäre der allgemeine Begriff von Tyrannei zugunsten des Totalitarismusbegriffs fast ad acta gelegt worden, so hat sich die Situation in der Begriffsverwendung in den letzten 15 Jahren wiederum geändert, und zwar weitgehend unabhängig von Strauss' Plädoyer für die Rückkehr zum antiken Begriff. Es gab nicht nur ein Revival des Totalitarismusbegriffs, sondern innerhalb normativer politischer Philosophie - man denke an Michael Walzer oder auch Kommunitaristen wie Robert Bellah - erfolgt ein Rekurs auf den Begriff der Tyrannei.77 Es sind zwei verschiedene Gründe, die eine erneuerte Begriffsverwendung von Tyrannei bei amerikanischen Theoretikern kennzeichnet und von dort aus verbreitet wurde. Zum einen sind es die Erneuerung moderner normativer politischer Philosophie durch Rawls und die sich daran anschließenden Debatten. Mit der Thematisierung der wohlgeordneten Gesellschaft, der guten Ordnung wurde auch Tyrannei als deren Gegenbegriff wiederbelebt. Allerdings sind jetzt, anders als im 19. Jahrhundert, moderne Phänomene wie sachlich-anonyme Mächte (Bürokratien, Märkte etc.) als normale Phänomene unterstellt. Der zweite Grund der Aufwertung von Tyrannei als Begriff liegt in der politischen Sprache, die im angelsächsischen Raum dominiert; in ihr hat sich der Begriff der Tyrannei durchgehend als allgemeiner Gegenbegriff zur Freiheit erhalten. In den USA wird diese Tradition bis auf die für die politische Sprache prägenden Federalist-Papers zurückgeführt. Erst mit der Wiederbelebung des Begriffes innerhalb politischer Theorie kam es zu einer erneuten, zum Teil absichtsvollen Verknüpfung von Theoriesprache und politischer Rhetorik.
76
Bei Tocqueville heißt es: „Darum denke ich, daß die Art der Unterdrückung, die die demokratischen Völker bedroht, in nichts der früheren Welt gleichen wird; unsere Zeitgenossen können deren Bild in ihrer Erinnerung nicht finden. Ich suche selbst vergeblich nach einem Ausdruck, der genau die Vorstellung, die ich mir davon mache, wiedergäbe und sie enthielte; die früheren Worte Despotismus und Tyrannei passen dafür nicht." (1987, Bd. 2: 463)
77
Walzer (1992b, Kap. 13) stellt Tyranneien und gerechte Ordnungen überhaupt gegeneinander. Bellah et al. (1985; 1992: 9 0 - 9 5 ) argumentieren primär gegen die Tyrannei des Marktes; Richard Sennett (1983) schließlich kritisiert die Tyrannei der Intimität. Einen Überblick über Theorien der Tyrannei bietet Boesche (1996).
152
TYRANNIS ODER TOTALITARISMUS
Leo Strauss strebt schon nach dem Zweiten Weltkrieg an, den klassischen Begriff wiederzubeleben, und zwar weil er sich davon die Rückgewinnung eines fixen normativen Horizontes verspricht. Der normative Tyrannisbegriff zwinge dazu, die „unauffälligen" Prämissen der Freiheit zu thematisieren (z.B. ÜT: 39, 89), erst auf dieser Grundlage könnten die Gefährdungen der Moderne sichtbar gemacht werden. Der antike Begriff sei weit genug, um den Rahmen auch für eine Analyse der modernen Tyrannei bereitzustellen. Mehr noch, ohne ihn könne der Totalitarismus nicht begriffen werden. Da es der modernen, scheinbar wertfreier politischen Theorie an normativen Kategorien mangelt, habe sie angesichts des Totalitarismus versagt. Strauss sichert seine Behauptungen zweifach ab, zum einen durch anthropologische Begründungen und zum anderen durch die Idee eines ethischen Maßes guter politischer Ordnung. Tyrannis kann generell als eine Art Willkürherrschaft begriffen werden, für die es keine klar definierten Grenzen und kaum Regeln gibt. Die Art und Weise, wie Strauss vor allem die Grenzen der guten politischen Ordnung faßt, ist auch für die Prämissen seiner Kritik an moderner Tyrannei charakteristisch. Thema sind Grenzen in anthropologischer Hinsicht, „heilige Grenzen", d.h. Unantastbares und Unverfügbarkeiten, die durch den Staat bzw. durch die Religion gesichert werden. Nur eine Gesellschaft, die bestimmte Grenzen anerkennt, sich durch Mäßigung auszeichnet, akzeptiert Strauss als stabiles und sinnvolles Gebilde. Maßlosigkeit, instrumenteile Nutzung aller sozio-moralischen Ressourcen und Machbarkeitswahn sind für Strauss Kennzeichen der Modernität. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn er die moderne Ideologie und die Technik, die auf der neuzeitlichen quantifizierenden Naturwissenschaft beruht, zu den zentralen Besonderheiten der modernen Tyrannei zählt (ÜT: 39). Strauss kommt auch nicht umhin einzugestehen, daß diese Tyrannei Ausmaße erreicht hat, die die Denkmöglichkeiten der Antike überschreiten. Aber dennoch sei diese Form politischer Herrschaft zuerst als maßlose sowie anmaßende zu begreifen, und insofern gebe es einen unveränderlichen Rahmen, in dem sie gedacht werden kann. Dies ist freilich eine qualitative Bestimmung, die sich kaum in ein analytische Konzept übersetzen läßt, wie es gerade die von Strauss kritisierten Theorien tun. Auch Strauss konstatiert, daß ein „permanent"- und „allumfassend"-Werden der Tyrannei ein besonderes Signum der Gegenwart ist (ebd.). Innerhalb normativer politischer Theorie, die eine gute politische Ordnung thematisiert, wird Tyrannis also auf verschiedene Weise als ein Gegenbegriff gebraucht. Eine Revitalisierung dieser Kategorie ist jedoch nur dann sinnvoll, wenn ihr Status berücksichtigt und zudem von vornherein auf unterschiedliche Formen von Gesellschaft und Politik hin gedacht wird. Zeitgenössischer
Kontext der Debatte
Wie der Nationalsozialismus in Deutschland möglich wurde und was diese Gesellschaftsform kennzeichnet, war eines der bedrückendsten Probleme im Gepäck der deutschen Geistes- und Sozialwissenschaftler im amerikanischen Exil. Die Mehrzahl von ihnen hat theoretische Erklärungsansätze dafür entwickelt. Gleichzeitig stehen diese Deutungen im Zeichen einer Auseinandersetzung mit den USA als Land des Exils und einer Bastion der Freiheit. Diese zweite Seite hat verschiedene Facetten. So ist der Begriff des Totalitarismus bekanntlich nicht wertfrei, sein impliziter Gegenbegriff ist eine
SINN UND B E D E U T U N G DES TYRANNISBEGRIFFS
153
offene, liberale Gesellschaft. Zugleich gibt es die bereits erwähnte Besonderheit im angelsächsischen Sprachraum, daß der Tyrannisbegriff eine lebendige Tradition hat. Zwei prominente Beispiele mögen das belegen, so hat Winston Churchill den deutschen Nationalsozialismus und den sowjetischen Kommunismus häufig als Tyrannei gebrandmarkt, und auch Franklin D. Roosevelt kontrastiert 1941 bei der Vorbereitung des amerikanischen militärischen Engagements gegen den Nationalsozialismus vier Freiheiten gegenüber der in Europa zu bekämpfenden Tyrannei. 78 Beide Beispiele belegen die Nutzung von „Tyrannei" als mobilisierende rhetorische Kategorie. Diese Tradition war selbstverständlich nicht fiir Strauss' Rekurs auf den antiken Tyrannisbegriff leitend, aber für die Wirksamkeit seiner Auffassungen ist es durchaus wichtig zu berücksichtigen, inwiefern er sich hier in eine Tradition politischer Sprache einfügt, die zudem seine Position als etwas weniger exzentrisch erscheinen läßt. Strauss ist ein polemischer Theoretiker, und sein Rekurs auf den Tyrannisbegriff scheint von vornherein gegen das neuartige Konzept des Totalitarismus gerichtet. Der retrospektive Blick stellt jedoch eine Verengung des Fokus dar, denn der Totalitarismusbegriff hat sich in einer Debatte durchgesetzt, in der es zunächst mehrere Kandidaten gab. Moderner Despotismus bzw. Diktatur, moderne Knechtschaft und Tyrannei waren andere Kandidaten. 79 Totalitarismus setzte sich als Kategorie wohl vor allem aus zwei Gründen durch: Zum einen spielte der Ausdruck „total" schon nach dem Ersten Weltkrieg als Reflexion neuer Zustände der Kriegsfuhrung und der Verbindung wirtschaftlicher und politischer Organisation eine große Rolle, er fließt auch in die Selbstbezeichnungen des italienischen Faschismus und des deutschen Nationalsozialismus ein. Zum anderen rekurriert Totalitarismus auf eine liberale Ordnung, in der es Öffentlichkeit, Gewaltenteilung und eine Trennung von Ökonomie und Politik gibt, als impliziten Gegenbegriff. Das war für die Zeit des Kampfes gegen den Nationalsozialismus und den Kalten Krieg durchaus bedeutsam. Zudem gab es Ende der 1940er und Anfang der 50er Jahre deutlich unterscheidbare Strömungen der Totalitarismus-Kritik. Auch deren Differenz ist wesentlich, um zu erkennen, was Strauss thematisiert und was nicht. 78
Vgl. Roosevelt (1941); die Rede steht in unmittelbarem Kontext der sog. Atlantik-Charta. Den besten Beleg bei Churchill findet man in der berühmten: Blut-, Schweiß- und Tränen-Rede vom 13. Mai 1940, w o vom Krieg gegen die „monstrous tyranny" des N S gesprochen wird (Churchill 1987: 6220). Strauss war ein Bewunderer von Churchill, was in einem Statement anläßlich des Todes von Churchill deutlich wird: „The tyrant stood at the pinnacle o f his power. The contrast between the indomitable and magnanimous statesman and the insane tyrant - this spectacle in its great simplicity was one of the greatest lessons which man can learn at any time. N o less enlightening is the lesson conveyed by Churchill's failure which is too great to be called tragedy. I mean the fact that Churchill's heroic action on behalf of human freedom only contributed, though no fault of Churchill's, to increase the threat to freedom which is posed by Stalin or his successors. Churchill did the utmost that a man could do to counter that threat - publicly and most visibly in Greece and in Fulton, Missouri. Not a whit less important than his deeds and speeches are his writings, above all his Marlborough - the greatest historical work written in our century, an inexhaustible mine of political wisdom and understanding, which should be required reading for every student of political science." Zit. nach Gildin, Hilial: A Response to Gourevitch, in: Deutsch/Soffer (1987: 118).
79
Das belegen schon die Titel: The New Democracy Road to Serfdom (Hayek 1944).
and the New Despotism
(Merriam 1939) und The
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TYRANNIS ODER TOTALITARISMUS
Grob gefaßt lassen sich zwei Strömungen der Totalitarismuskritik unterscheiden: Die eine Strömung ist eher analytisch-vergleichend orientiert, für sie stehen Politikwissenschaftler wie Franz Neumann, Sigmund Neumann, Ernst Fraenkel, Carl Joachim Friedrich und Zbigniew Brzezinski. Die andere Strömung argumentiert eher philosophischideengeschichtlich, hierzu gehört auch Strauss, wiewohl er den Begriff des Totalitarismus ablehnt. Am Anfang der zweiten Linie, die heute zumeist nur mit Namen wie Hannah Arendt und Jacob Talmon verbunden wird, stehen allerdings andere Arbeiten, nämlich Eric Voegelins Politische Religionen (1938), Karl Löwiths Meaning in History (1949; dt. 1990), Karl Raimund Poppers Open Society (1945), Ernst Cassirers Mythos des Staates (1946, dt. 1949) sowie die Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno (1947). Zu nennen ist auch Friedrich Hayeks Road to Serfdom, ein Bestseller, zuerst 1944 in Chicago erschienen, der den Westen durch einen inneren 80
Vormarsch des Sozialismus bedroht sieht. Im Rahmen der philosophischen Totalitarismuskritik lassen sich verblüffende Gemeinsamkeiten sowie sich kreuzende Frontlinien finden. Strauss besetzt dabei eine sehr spezifische Position und spitzt die Auseinandersetzung aus besondere Weise zu. Zugleich verliert seine antikisierende Position ihre Exotik, wenn man ihn in diesen Kontext stellt, Gegenpositionen und verdeckte Konvergenzpunkte aufzeigt. Die philosophisch-geistesgeschichtliche Strömung beschäftigt sich mit Problematiken, die unter Schlagworten wie Geschichtsphilosophie, Aufklärungsrationalismus, Rolle antiker Modelle und Historismus gefaßt werden. Es sind dies zugleich zentrale Themen, welche die Emigranten in die USA und in andere Orte des Exils mitnahmen. Gemeinsam ist den Autoren dieser Richtung auch der radikale Gestus des Abrechnens, der die Problematik des Totalitarismus bis in zivilisationsgeschichtliche Ursprünge zurückverfolgt. Die damals typisch deutsche Überschätzung von Philosophie fuhrt zu einem Bias, der die meisten kaum zu den konkreten politisch-institutionellen Fragen vordringen läßt. Unterhalb dieser Ebene setzen allerdings die Differenzen ein, die wenigstens benannt werden sollen. Insbesondere Voegelin, Löwith und Adorno/Horkheimer teilen mit Strauss die Auffassung einer nötigen scharfen Kritik an der Aufklärung, die bei allen in eine Kritik instrumenteller Vernunft mündet. Allerdings gehen nur die Vertreter der kritischen Theorie so weit, die Ursprünge instrumenteller Vernunft schon in der Antike bei Homer beginnen zu lassen. Die anderen zeichnet gerade aus, daß sie auf verschiedene antike Muster rekurrieren; so belebt Löwith die Figur des „skeptomai", des skeptischen stoischen Weisen, Strauss geht auf Sokrates und Piaton zurück, und Voegelin strebt eine Synthese von Philosophie und Offenbarungsglauben an. Horkheimers und Adornos zivilisationskritische Verfallsdialektik und Poppers Aburteilung von Piaton als totalitärem Denker sind scharfe Angriffe auf solche Antikerekurse. Es gibt in diesem Set indes noch weitere quer liegende Gemeinsamkeiten. So sind sich mit unterschiedlicher Konsequenz alle in einer scharfen Ablehnung der progressistischen Geschichtsphilosophie einig, die bei Voegelin und Löwith auf ähnliche, nämlich theologische Motive zurückgeführt wird. Das heißt allerdings nicht, daß die Kritik an der 80
Hayek, der übrigens Anfang der 1940er Jahre in Chicago weilt, argumentiert gegen den Sozialismus und auch gegen Roosevelt, weil er in dessen Politik den Sozialismus/Kommunismus kommen sieht. Das ist auch der Gegenstand seiner Debatte mit Merriam (vgl. Karl 1974: 2 9 0 - 2 9 2 ) .
SINN UND B E D E U T U N G DES TYRANNISBEGRIFFS
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Geschichtsphilosophie einen konsequenten Verzicht auf ihre Argumentationsmuster bedeutet. Auf keinen Fall gilt dies für Voegelin, der die Moderne dem Geist des Gnostizismus verfallen sieht und diesen mit Joachim von Fiore anheben läßt, aber auf ihre Weise sind auch Horkheimer und Adorno von solchen Argumentationen nicht freizusprechen. 81 In der eher philosophischen Debatte, die gar nicht oder nur gelegentlich von Tyrannei spricht, wird ein Begriff von totalitär, von Totalitarismus verwandt, der genauso abstrakt und überzeitlich ist, wie der von Strauss. Dies gilt besonders für Popper, der Piaton eine totalitäre Gerechtigkeitskonzeption zuschreibt und in ihm - auf seine Weise ursprungsphilosophisch - den antidemokratischen Sündenfall der antiken politischen Theorie sieht. Wenn zu Recht von einer Tyrannei der Griechen über die Deutschen gesprochen und ihren Meisterdenkern eine „homesickness for the greek" attestiert wurde (Butler 1935), so ist diese Strömung offensichtlich so mächtig, daß selbst ein Gegner des Historismus und der Fixierung auf die Antike wie Popper in seiner Kritik auf diesem Terrain ansetzen muß und Piaton zum Sündenfall der Theorie erhebt. Von der Einsicht ausgehend, daß das Totalitarismuskonzept implizit immer mit liberalen Vorstellungen als kritischem Maßstab arbeitet, kann man verschiedene Komponenten des Konzeptes unterscheiden. Es sind dies die moralisch-ethische Komponente - hier kommt er dem traditionellen Tyrannisbegriff nahe, davon abzuheben sind die Nutzung als idealtypisches Konstrukt bzw. die Verwendung im Rahmen empirischer Politikanalyse und die Thematisierung von Totalitarismus und der Selbstgefahrdung der modernen Demokratie (vgl. Schlangen 1972; Buchstein 1997: 265f.). Für die philosophische Strömung der Diskussion um den Totalitarismus gilt, daß sie vor allem die erste und die dritte Komponente verbindet. Nicht selten sind das Festhalten an Religion und Transzendenz wichtige Bezugspunkte, um sich totalisierender und alle Bereiche funktionalisierender Ansprüche der Politik zu erwehren. Die Verbindung einer moralisch-ethischen Kategorie mit dem Problem der Selbstgefahrdung moderner Demokratie zeigt sich besonders in einer Untergattung der philosophischen Totalitarismus-Kritik, nämlich jener Literatur, die sich mit Machiavelli auseinandersetzt. Machiavelli-Deutungen haben im deutschen Geistesleben bis ins frühe 20. Jahrhundert eine herausragende Rolle gespielt. Man denke in diesem Zusammenhang nur an Friedrich Meineckes Buch über die Staatsräson (1924) und Gerhard Ritters Arbeit über Machtstaat und Utopie (1940) sowie Hans Freyers Machiavelli (1938), die Machiavelli alle als Machtpolitiker und Denker der Staatsräson interpretiert haben. Eine neue Bewertung seines Denkens mit Blick auf den Totalitarismus war insofern nicht verwunderlich. Sie vollzieht sich in gegensätzlichen Linien; so wird Machiavelli von Autoren wie Eric Voegelin, Ernst Cassirer und - auf seine Weise - Leo Strauss in die Vorgeschichte des Totalitarismus, des deutschen Staatsfetischismus gestellt, wobei Erwin Faul (1961) hier am weitesten geht, indem er ihn kurzum zum Stammvater des
81
Der Vorzug von Horkheimer/Adorno und Cassirer ist die Thematisierung von neuen Formen wie Kulturindustrie und instrumenteil verwandter Mythologien als Grundlage totalitärer Herrschaft, während reine Verfallstheoretiker wie Strauss und Voegelin ihnen kaum wirkliche Aufmerksamkeit widmen.
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T Y R A N N I S ODER TOTALITARISMUS
Totalitarismus erklärt. Zugleich arbeiten Hans Baron, Felix Gilbert und Hannah Arendt den Republikanismus von Machiavelli heraus. Neben der ethisch-moralischen Fragestellung und der Problematik der Selbstgefährdung der modernen Demokratie ist für das Pro und Contra in Fragen des Tyrannisbegriffs die Bestimmung des Verhältnisses von personalen und sachlichen Mächten von entscheidender Bedeutung. Kein Theoretiker kommt daran vorbei, die Zunahme sachlicher Mächte in der Moderne in Rechnung zu stellen. Strauss, der immer eine ethische Hegung und Bändigung von politischer Gesellschaft thematisiert, interessiert sich jedoch kaum für Institutionen und sachliche Mächte. Damit geht in seinem Konzept eine Überschätzung der Person des Tyrannen einher, die allerdings auch bei anderen Autoren zu finden ist. Ein zweites Problem kreist um die Frage, inwiefern Totalitarismus ein wertfreier, deskriptiver Begriff ist bzw. inwiefern dies ein folgenreiches Mißverständnis darstellt. Strauss' Deutungen von Xenophons Hieron und von Machiavelli im Hinblick auf den Tyrannisbegriff erfolgen in dem skizzierten kontroversen Diskussionsfeld, sie stehen in engem Zusammenhang mit der philosophischen Totalitarismus-Kritik und haben prinzipielle Bedeutung für seine Art, das Problem politischer Ordnung zu thematisieren. Wenn man auf Strauss' länger währende Auseinandersetzung mit diesen Problemen blickt, die sich im engeren Sinne von den 1940ern bis Ende der 50er Jahre erstreckt, so gibt es allerdings eine generelle Akzentverschiebung, denn gegenüber den ursprünglich sichtbaren politischen Motiven, die innerhalb der Debatte um den Totalitarismus wirksam werden, gewinnt sukzessive die philosophische und radikale Moderne-Kritik noch mehr die Oberhand.
5.2
Strauss' Tyrannisbegriff und seine Deutung des „Hieron"
Was kennzeichnet Strauss' Lesart des Hieron mit Blick auf den Tyrannisbegriff? Es wurde bereits betont, daß er diesen im Sinne der antiken Klassiker als den Gegenbegriff zur guten Ordnung verwendet. Der Begriff ziele auf zwei Aspekte, nämlich die Mängel dieser Regierungsform und ihre Therapie. Beide können nur unter der Voraussetzung einer explizit normativen Begriffsbildung erfaßt werden. In diesem ersten Sinne diskutiert Strauss in der Interpretation des Xenophontischen Hieron (einem Dialog zwischen dem Tyrannen Hieron und dem Dichter Simonides) Mängel der Tyrannei und macht auch Vorschläge, wie sie in Richtung einer besseren Ordnung abgestellt werden können. Die Dramaturgie des Dialoges führt dazu, daß statt der Tyrannei als politische Ordnung die Probleme der Lebensform eines Tyrannen in den Mittelpunkt rücken, d.h. die Spannungen zwischen seinen Wünschen bzw. Absichten und den politischen Zwängen, die dieses Regime mit sich bringt. Die besondere politische Lebensführung des Tyrannen und ihr durch den Dichter Simonides repräsentierter Gegensatz sind nach Strauss generell auf der Folie von Xenophons Präferenz für die philosophische Leben zu begreifen.
STRAUSS' TYRANNISBEGRIFF UND SEINE DEUTUNG DES „HlERON"
157
5.2.1 Genre- und Strukturanalyse des „Hieron" Strauss nutzt bei der Analyse des Hieron seine noch nicht voll entwickelte tiefenhermeneutische Methodik, deren Abschluß, wie oben gezeigt, erst Anfang der 1950er Jahre erfolgt. Allerdings hat er 1946/47 seine Auffassung des Exoterischen, wie sie vor allem in den Maimonides- und al-Farabi-Interpretationen entwickelt wurde, schon fast zu einer eigenen Methodik ausgeprägt. Eingangs seiner Interpretation des Hieron in bezug auf die Mißachtung dieser Xenophontischen Schrift fest, sie habe ihren Grund in der lange ausgebliebenen Beschäftigung mit sokratischer Rhetorik (ÜT: 38). Wiewohl die Schlüsselbegriffe esoterisch - exoterisch nur selten direkt verwendet werden (ÜT: 38, 62), wird die Sache durch eine deutliche Thematisierung sokratischer Rhetorik behandelt. Schon die Form des Dialoges, die Art der indirekten Mitteilung par excellence erfordere, daß man zum angemessenen Verständnis alle Einzelheiten, die gesagten und die verschwiegenen, analysieren müsse. Wichtiger noch sei die Beachtung des im Dialog besonders gut realisierbaren Ziels, nämlich potentielle Philosophen an die Philosophie heranzufuhren und anderen, die zu dieser Aufgabe nicht berufen sind, den Weg zu verstellen. Fast definitorisch formuliert Strauss: „Sokratische Rhetorik ist unbedingt gerecht. Ihr Motiv ist soziale Verantwortung. Sie gründet in der Annahme, daß ein Mißverhältnis besteht zwischen dem kompromißlosen Suchen nach Wahrheit und den Erfordernissen der Gesellschaft; oder anders ausgedrückt: nicht jede Wahrheit ist zu jeder Zeit ungefährlich. Die Gesellschaft wird immer versuchen, das Denken zu tyrannisieren. Die sokratische Rhetorik ist das klassische Mittel, diese Versuche immer wieder zu vereiteln." (ÜT: 38)
Zu den generellen Besonderheiten der Form des Dialoges gehört, daß der Autor nicht im eigenen Namen spricht. Strauss meint, Xenophon als Weiser hätte diese Möglichkeit bei einem politisch brisanten Thema wie der Tyrannis bewußt genutzt (ÜT: 45), und der Dialog hätte, positiv gefaßt, insgesamt wie Xenophons Oeconomicus das gleiche Thema, nämlich eine gute Regierungsform: die monarchische Herrschaft. 82 Als leitende Frage des ganzen Textes wird zwar zunächst das Problem ausgemacht, wie eine Ordnung, die nicht gut ist, in eine bessere verwandelt werden könne. Im Verlauf des Dialoges erfolgt aber dann die markante Verschiebung zur Frage, wie das Verhältnis zwischen der privaten Lebensform und jener Variante des politischen Lebens, die ein Tyrann realisiert, begriffen werden kann. Strauss' Analyse des Gedankenganges setzt bei der äußeren Struktur an. So zeige Hieron Simonides im ersten Hauptteil (Kap. 1-7), daß das Leben des Tyrannen unglücklich und nicht lebenswert ist (ÜT: 40). Jener erste Teil zerfalle in drei Stücke, von denen im zweiten Stück das doppeldeutige Schweigen von Simonides über die Nachteile der Tyrannei, die Einschränkung der Freiheit und die Mängel an Tugend wesentlich sind (ÜT: 72). Den Höhepunkt der Argumentation bildet hier das Kapitel 7, in dem das Problem der permanenten Angst und Furcht, in der der Tyrann lebt, entfaltet wird. Im zweiten Teil (Kap. 8-11) geht es auf der Oberfläche um Simonides Nachweis', daß der 82
Hier kann man den klassischen Einwand von Aristoteles gegen Piaton anbringen, daß er dergestalt Hauswirtschaft fälschlicherweise mit Politeia identifiziert.
158
TYRANNIS ODER TOTALITARISMUS
Tyrann der glücklichste Mensch sein könnte, und zwar, wenn er als Wohltäter agiert, wenn er sich im Wettstreit mit anderen Gemeinwesen auszuzeichnen strebe. Sachlich sind in der Interpretation von Strauss vor allem drei Themen entscheidend, nämlich die Tyrannislehre, die Unterscheidung der zwei Lebensformen und die knappe Thematisierung des Verhältnisses von Politik und Religion. Die methodisch leitende These, mit der Strauss das dramaturgische Setting deutet, lautet: Hieron furchtet sich vor dem Weisen Simonides, und letzterer darf sich nicht offen verhalten, sondern muß schlau und geschickt vorgehen, um das Ohr des Tyrannen zu gewinnen. In einer Fußnote formuliert Strauss: „Nun behauptet Hieron selbst folgendes: daß Tyrannen niemandem vertrauen; daß sie die Weisen furchten; daß Simonides ein wirklicher Mann ist; und daß Simonides die Macht der Tyrannen bewundert und sie darum beneidet. Diese Behauptungen liefern uns den einzigen passenden Schlüssel zur Lösung des Rätsels, das dieser Dialog enthält." (ÜT: 64, FN)
Aus dieser Grundüberlegung wird die Handlungsstruktur des Dialoges mit ihren Drehund Wendepunkten entwickelt, die man schematisch wie folgt fassen kann: Im ersten Teil des Dialoges fuhrt Simonides Hieron Aporien seiner Ansichten vor. Im zweiten Teil übernimmt Simonides selbst die intellektuelle Führung des Gespräches. Hieron muß nun auf seinen Rat hören. Die neue Konstellation werde eingeleitet durch das übertreibende Anpreisen der Tyrannis, das durch die Überhöhung ihre Schwächen um so deutlicher hervortreten lasse. Das äußere Ergebnis ist eine doppelte Anklage der Tyrannis, die einmal verdeckt von Simonides angegriffen wird und zuvor durch Hieron aus eigener Erfahrung kritisiert wird, nämlich als eine Lebensform, die dem Tyrannen als Menschen nur wenig Raum läßt, da er nur vermittels Macht bzw. Gewalt regiert und nur in diesem Medium „Anerkennung" findet. Jedoch bringen die problematische Gesprächssituation, die Angst des Hieron vor Simonides und dessen notwendige Vorsicht Einschränkungen mit sich, weshalb in diesem Ergebnis nicht die ganze Kritik der Tyrannis enthalten ist ( Ü T : 62). Methodisch kann Strauss seine Interpretation nur entfalten, insofern er Xenophon als Weisen unterstellt, der die sokratische Rhetorik nutzt und deshalb über das auch von ihm konstatierte zweideutige Ergebnis des Dialoges hinsichtlich der Frage, welche Lebensform vorzuziehen sei, hinausgehen kann ( Ü T : 107). Gesetzt, Xenophon ist der weise Autor, dann kann seine Antwort nur eine implizite sein, und genau dies versucht Strauss aufzuzeigen, indem er die Unterscheidung zwischen dem, was Simonides sagt, und dem, was Hieron zu vernehmen meint, ebenso stark macht wie den Rollenwechsel im zweiten Teil des Dialoges, in dem Simonides den aktiven Part spielt. Die Überlegenheit des Weisen könne (nur) durch die Handlung des Dialoges ermittelt werden ( Ü T : 116). Um diese zu dekodieren, werden verschiedene Sozialfiguren als Sprecher und Adressaten eingeführt. Strauss unterscheidet nicht nur zwischen der Menge und der Elite bzw. den Philosophen, er differenziert weiter. S o wird die Figur des Philosophen implizit in die des weisen Philosophen (hier ist wohl an Piaton zu denken) und die des ebenfalls weisen Philosophen Sokrates aufgeteilt, letzterer zeichnet sich allerdings durch einen besonderen Modus des Wirkens aus, er ist „Bürger-Philosoph". Als weitere Figur fuhrt Strauss den „Gentleman" ein, der zunächst wiederum aus zwei Gestalten besteht, er ist entweder Sophist oder ein Weiser. Nach dieser Unterscheidung wird allerdings noch der
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philosophisch nicht reflektierende Gentleman eingeführt, als Beispiel dient Isomachos aus Xenophons Oikonomicus; diese Vorbildfigur handle immer gerecht und werde von allen dementsprechend wahrgenommen. Allein damit ist die Feindifferenzierung noch nicht beendet. Denn der Dichter Simonides ist mit all diesen Kategorien nicht greifbar, da er nicht einfach nur ein Sophist ist. Er wird als ein „wirklicher" Mann, als ein Hedonist näher gefaßt. Erst in diesem Ensemble verschiedener Sprecherfiguren enträtselt Strauss die verdeckte Wahrheit des Dialoges. Dem ganzen liegt die Idee zugrunde, daß Xenophon als Sokratiker nicht direkt über die Tyrannis sprechen will, daß man aber die Position eines Weisen als den letzen Bezugspunkt für den Streit um die Lebensformen unterstellen muß. Erst wenn man das macht, können Hieron und Simonides als imperfekte Gentlemen erkannt werden. D.h. erst dann wird ihre eingeschränkte Orientierung sichtbar. Hieron ist Tyrann, als solcher unglücklich, und vermag es nicht aus eigener Kraft, die Tyrannei in eine bessere, nämlich die monarchische Regierungsform zu verwandeln. Simonides, der Dichter, ist Hieron zwar deutlich überlegen, agiert teilweise als ein Weiser, aber aufgrund seiner hedonistischen Grundeinstellung, die das Angenehme mit dem Guten identifiziert, ist er kein wirklich Weiser, kein Philosoph, sondern letztlich ebenfalls ein imperfekter Gentleman, dessen Denken Nähen zu Machiavelli aufweise. Worin bestehen diese Nähen? Nach Strauss vor allem darin, daß Simonides nichts höher als die Ehre preist, er halte das Streben nach Ehre für das Kriterium „wirklicher Männer" (vgl. ÜT: 109). Damit kann Strauss tatsächlich Parallelen zwischen Simonides und den modernen politischen Philosophen ausmachen, denn für ihn sind letztere ja gerade dadurch gekennzeichnet, daß sie das Gute und das Angenehme identifizieren. Es wären aber nur Nähen und Parallelen, die hier bestehen, der Hedonismus von Simonides hätte zwar schockierende Momente, wie etwa sein Schweigen über die Religion und Frömmigkeit als konstitutive Größen für Politik, aber er sei nicht konsequent. Im zweiten Teil des Dialoges verschiebe sich nämlich der Akzent vom Angenehmen zum Guten und Edlen. Das Glück, das laut Simonides einem wohltätigen Tyrannen möglich ist, sei wegen der Wohltätigkeit sogar eines, um das er nicht beneidet würde, d.h. das politische Leben ist dem privaten Leben vorzuziehen. Aber die derart gepriesene Lebensform wird nicht explizit als höchstes Gut gefaßt. Da Strauss den Hieron als sokratische Schrift liest, muß er zeigen, inwiefern sich im Subtext eine Option für das philosophische Leben als höchstes Gut aufweisen läßt. Das erste Argument dafür ist das Schweigen bzw. die zurückhaltende Thematisierung der Weisheit. Zweitens demonstriere v.a. die Handlung des Dialoges die Überlegenheit der Weisheit, da Hieron sich im Gespräch wenig weise noch einmal für die Tyrannis und gegen einen Rückzug ins Privatleben entscheidet (ÜT: 116). Die dritte Ebene, auf der die Überlegenheit gezeigt wird, betreffe den Unterschied von Liebe und Bewunderung. Hieron will geliebt werden, und diese Form der Anerkennung ist an die Grenzen des politischen Gemeinwesens gebunden, Bewunderung hingegen, wie sie der Weise realisiert bzw. erregt, ist nicht an solche Grenzen gebunden, sie ist wie die Idee der Gerechtigkeit transpolitisch. Auch in diesem Sinn würde indirekt die Überlegenheit des Weisen unterstellt - für den im Dialog häufig Simonides steht. Die Figur des Weisen, die Strauss als normatives Ideal restituiert, ist der selbstgenügsame Weise, der auf sich gestellte Philosoph, der selbst unter prekären Bedingungen
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TYRANNIS ODER TOTALITARISMUS
sich dem theoretischen Leben widmet und auf eine transpolitische und translegale Weise Gerechtigkeit anstrebt. Translegal heißt, daß der Weise die Grenzen des Rechtes und dessen Abstraktheit kennt und deshalb Gerechtigkeit im Rahmen einer Ordnung als ganzer denkt. Transpolitisch ist die Gerechtigkeit, die den Philosophen interessiert, weil sie nicht an bestimmtes Gemeinwesen gebunden ist, weil sie auf die beste und gerechte Ordnung überhaupt zielt. Insofern steht der Philosoph in Distanz zu jeder konkreten politischen Ordnung. Hinter diesen Behauptungen steckt eine scharfe Kritik am direkten, theoriegeleiteten politischen Engagement von Philosophen, gerade dieses sei nicht weise. Die beste Ordnung ist nicht als eine zu konkretisierende Kategorie gedacht, sondern als ein nur zu erörterndes, erfragendes normatives Ideal. Sie ist daher eine ihre Anwendungsbezüge nicht ernsthaft reflektierende und daher unpolitische Theorie. Die bei mittleren Strauss intendierte Konzentration auf diese Art des Fragens und des Fragehorizontes ist ein weiterer Indikator für den unpolitischen Charakter seines politischen Philosophierens. Letztlich läuft Strauss' Interpretation darauf hinaus, daß ethische Orientierung und Formen der Lebensführung wichtiger sind als Institutionen und Machtverhältnisse. Er deutet den ganzen Dialog als einen Beitrag zur sokratischen Frage: wie soll ich leben, die hier an einer Variante des politischen Lebens vorgeführt wird. Das ist durchaus gerechtfertigt, aber die von Strauss selbst hervorgehobene Problematik einer Interpretation, die häufig auf Verschwiegenes, nicht Gesagtes, bloß Angedeutetes und eventuell durch das Handeln wieder in Frage Gestelltes rekurriert, bleibt auf Vermutungen angewiesen. Sie kommt ohne starke Autorzuschreibungen, in denen aus Xenophon ein weiser und außerordentlicher Schriftsteller wird, nicht aus, und insofern hat sie in hohem Maße zirkulären Charakter. Die schon bei der Interpretation der Lakedaemonischen Verfassung begonnene Aufwertung von Xenophon wird so forciert. Die ausschließliche Konzentration auf den Text, in den Xenophon nach Strauss alle notwendigen Informationen hineingepackt hat, der nur von gelegentlichen Bezügen auf andere Texte aus Xenophons Œuvre ergänzt wird, steigert die Vagheit des Unternehmens, bei dem jeder Rekurs auf historische Umstände als Einfallstor des Historismus gilt. Es ist diese vehemente Polemik gegen den Historismus, die zu problematischen Überinterpretation führt (vgl. von Fritz 1949, Randall Jr. 1949). Blickt man noch einmal auf die Kritik am Totalitarismusbegriff zurück, läßt sich folgendes Ergebnis festhalten. Die nur implizit entwickelte Kritik resümiert sich zum einen im Plädoyer für einen offen normativen Begriff wie den der Tyrannis, aber dabei kommt nur die normative, nicht die politisch-rhetorische Dimension in den Blick. Zum anderen kann man aus der ganzen Diskussion der Lebensform der Tyrannen die Folgerung ziehen, daß Strauss Totalitarismus für einen abgemagerten Begriff hält, der nur auf Strukturen und nicht im antiken Sinne auf die Politeia als Einheit von Verfassung und Lebensweise zielt.83 Diese Kritik trifft freilich einen richtigen Punkt, aber da sich
83
Es gibt hier eine Parallele zu Carl Schmitt, der den autoritären Leviathan von Hobbes für nicht stark genug hält, da über die Trennung von Außen und Innen, von Bekenntnis und Glauben, die Herrschaft über das Innere des Subjektes nicht nur freigegeben wurde, sondern ein Bereich moralischer Reflexion eröffnet wird, der zur Aushöhlung der Staates dient. Herrschaft im strikten Sinne und
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Strauss in keiner Weise für die Spezifik der „modernen Tyrannis" interessiert, ist sie auch folgenlos. Die Differenz zwischen dem Hieron und dem modernen Denken erschließt sich nach Strauss eigentlich nur dem aufmerksamen Leser, der die sokratische Technik des Xenophon bemerkt, sie besteht nämlich im unausgesprochenen Horizont des Dialoges, der untergründigen Option für das philosophische Leben, d.h. die unausgesetzte Suche nach der besten und gerechten Ordnung schlechthin. Ohne diesen Hintergrund wird Tyrannis als Begriff auf eine rhetorisch-politische Kategorie reduziert. Solch eine entnormativierte Begriffsverwendung setzt freilich einen Bruch mit dem Konzept voraus, in dem Tyrannis und die gute Ordnung jeweils mit Fragen der Lebensführung verquickt sind. Vom klassischen Begriff bleibt nur eine rhetorische Kategorie, die durch szientifische Begriffe wie den späteren Totalitarismusbegriff substituiert wird. Strauss erkennt im Totalitarismusbegriff, ohne daß er dies explizit macht, das liberale Modell als Maßstab einer modernen Gesellschaft. Die Polemik hat also zwei Seiten, sie ist verdeckte konservative Kritik am Liberalismus und gleichzeitig metapolitische Kritik des Totalitarismus. Metapolitisch ist sie, weil statt konkreter Problemstellungen die antike politische Philosophie den Maßstab der Kritik bildet. So lautet Strauss' Vorwurf dann auch: Wenn der klassische Horizont ethischer Maximen fehlt, gibt es folglich keine Normen für Grenzen, für dasjenige, was politisch für möglich gehalten wird. Der Mensch, die Religion und die Gesellschaft werden in der modernen politischen Philosophie zu verfügbaren und gestaltbaren Größen. Mit dieser Überlegung markiert Strauss den definitiven Unterschied zwischen dem so modern erscheinenden Denken im Hieron und dem modernen Denken selbst. Mit Blick auf Hegel und Hobbes formuliert Strauss daher prononciert: „Beide Lehren konstruieren die menschliche Gesellschaft, indem sie von der falschen Voraussetzung ausgehen, daß man sich den Menschen an sich als ein Wesen vorstellen kann, dem das Bewußtsein geheiligter Grenzen abgeht, als ein Wesen also, das allein vom Wunsch nach Anerkennung getrieben wird." (ÜT: 214)
Über den „echten" Philosophen heißt es hingegen: „Da er die Grenzen kennt, die aller menschlichen Tätigkeit und allen Plänen der Menschen gesetzt sind - denn alles, was entsteht, muß wieder vergehen - , erwartet er weder Erlösung noch Zufriedenheit von der Errichtung der besten Ordnung." (ÜT: 223)
Ausdrücklich hält Strauss in diesem Kontext zudem fest, die Fragen einer ethischreligiösen Hegung der politischen Ordnung, die Bedeutung von Religion und Frömmigkeit würden im Hieron nicht einmal erwähnt. Da für Xenophon Religion und Frömmigkeit wichtige Themen sind, ist dieses Schweigen für Strauss belangvoll. Es verweist wiederum auf die eingeschränkten Möglichkeiten, die wichtigen Fragen im Dialog mit einem Tyrannen erörtern zu können. Beide Seiten würden nämlich sehr große Vorsicht walten lassen - der Tyrann aus Angst vor dem Weisen und der Dichter Simonides, weil man einem Tyrannen nur indirekt die Probleme und Fehler aufzeigen darf. Gegen Strauss' Deutung des Hieron gibt es einen gerade hier ansetzenden schwerwiegenden Einwand, den Kurt von Fritz in einer Rezension geäußert hat und der Strauss insbesondere totale Herrschaft schließt demnach immer die über die Seelen mit ein (vgl. Schmitt 1982: 94f.).
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TYRANNIS ODER TOTALITARISMUS
bekannt war, aber auf den er nicht reagiert hat. Von Fritz (1949: 154f.) behauptet, der Tyrann Hieron müsse vor einem vorbeikommenden Dichter keine große Angst haben, da das Problem doch eher ein Dichter wäre, der zum Volk gehört. Wenn man diese Überlegung für treffend hält, dann ist Strauss' Formanalyse massiv in Frage gestellt, denn die Prämisse der großen Vorsicht auf seiten des Weisen und der großen Angst auf seiten des Tyrannen nicht mehr als die Grundlage des Dialoges angesehen werden können. D.h. es gibt viel weniger Verborgenes und indirekt zwischen den Zeilen Formuliertes in diesem Dialog, als Strauss unterstellt. Interessant ist es, Vermutungen anzustellen, warum Strauss diesen Einwand einfach ignoriert hat. Wie die Analyse der Debatte mit Kojeve zeigen wird, nutzt Strauss den Hieron, um das Verhältnis von Philosoph und Tyrann durchzuspielen. Es läßt sich sogar behaupten, hier gehe es eigentlich um eine verdeckte Erörterung der Frage, wie das modellhafte Gegenteil der von Carl Schmitt und Martin Heidegger zeitweilig realisierten Idee vorstellbar wäre, einen Tyrannen zu lenken, den „Führer zu fuhren". Zugespitzt läßt sich folgern: Strauss mußte den Einwand auf sich beruhen lassen, da er anhand des Dialogs prinzipielle Fragen diskutiert, die durch eine Differenzierung zwischen einem einheimischen Dichter und einem Gast nicht gestellt werden könnten. Trotz seines wiederholten Plädoyers für Weisheit und Mäßigung hält Strauss, ganz im Sinne Piatons, an einem emphatischen Philosophieverständnis fest, das ihr eine Sonderrolle gegenüber den Wissenschaften zuschreibt; der Philosoph, der Weise sei sogar der „Herrscher aller Herrscher", denn nur er vermag es, vermittels überlegenen Wissens Herrscher zu lenken (ÜT: 115).
5.2.2 Debatten um Strauss' Interpretation Strauss hat mit seiner interpretativen Arbeit über Xenophons Dialog Hieron, wie sich an einer Reihe von Rezensionen ablesen läßt, von Beginn an Aufmerksamkeit gefunden. Dabei ist zwischen den öffentlich-publizistischen und den akademischen Reaktionen zu unterscheiden. Zu ersteren gehört eine Sammelbesprechung von Gertrude Himmelfarb (1950), der späteren Frau von Irvring Kristol, die Strauss als einen Vordenker eines neu entstehenden Konservatismus behandelt, der den anmaßenden modernen Menschen kritisiert. Zu den bemerkenswerten theoretische Reaktionen auf Strauss' Lesart des Hieron gehört Eric Voegelins Rezension (1949: 241 ff.). Er formuliert folgende Einwände: 1. Man müsse bei der Interpretation beachten, daß die Polis zur Zeit von Xenophon in der Krise sei, degeneriere und ein neues Phänomen entstehe, für das die Begriffe Tyrann und auch Herrscher nicht ausreichen. Voegelin bringt den Wandel der historischen Umstände ins Spiel, spätestens der Cäsarismus sei ein Phänomen, das mit dem klassischen Tyrannisbegriff nicht mehr gefaßt werden könne, der Bezug sei jetzt nämlich reell und ideell ein politisches Reich. 2. Die Kyropädie, Xenophons positiver Fürstenspiegel, und der Hieron seien nicht so starke Gegensätze, wie Strauss behauptet, sondern beides wären Versuche, neue Herrschaftsformen zu denken, und zwar in einer Situation, in der es noch an neuen passenden Begriffe fehle.
STRAUSS' TYRANNISBEGRIFF UND SEINE DEUTUNG DES „ H I E R O N "
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3. Schließlich sei auch der Gegensatz zwischen Machiavelli und Xenophon geringer, als Strauss annimmt, da beide ein ähnliches Problem hätten, sie lebten nämlich beide in einer Situation, in der es um postkonventionelle Herrschaft geht. Zutreffend wäre jedoch, daß Machiavelli den Begriff der Tyrannis abschleift und den neuen Ansatz des bewaffneten Propheten entwickelt. Alle diese Argumente zeigen, daß Voegelin für eine stärker historische Begriffsbildung optiert. Besonders tritt dies in der Aussage hervor, nur wenn man moderne Tyrannei als ein Problem des Westens, das erst nach dem Hellenismus aufkommt, begreift, dann kommt man mit ihm zurecht. Denn dann tritt die historisch neue Beziehung von Tyrannis und Reichs- bzw. Imperiumsgedanke ins Blickfeld. Allerdings hindert dies Voegelin nicht daran, den Tyrannisbegriff auch universalhistorisch zu verwenden. Gleich zu Beginn der Rezension heißt es: Wir leben in einem Zeitalter der Tyrannei, und deshalb ist die von Strauss bevorzugt behandelte Frage, wie es mit der geistigen Freiheit in einem solchen Zeitalter aussieht, spannend. Der Begriff von Tyrannis, wie ihn Voegelin bildet, ist eine Variante des historischen Gegenmodells zu Strauss' rein philosophischem Begriff, für den historischer Wandel nur akzidentelle Bedeutung hat. Die bekannteste Kritik enthalten die Stellungnahmen von Alexandre Kojéve, der ich mich etwas ausfuhrlicher zuwende, da es hier nicht nur um den Gegensatz von historischem bzw. universellem Tyrannisbegriff geht. Strauss prägt nämlich darüber hinaus in der Debatte mit Kojéve sein Konzept „philosophischer Politik" aus. 84 Dieses Konzept ist für seine Art politischen Philosophierens charakteristisch, es wird im Rekurs auf die Antike und in scharfer Abgrenzung von der modernen Philosophie entwickelt. Für Strauss-Interpreten wie Heinrich Meier hat die „Querelle des Anciens et des Modernes ihre bedeutendste philosophische Wiederaufnahme [...] in diesem Jahrhundert zwischen Leo Strauss und Alexandre Kojéve erlebt. Was auf den ersten Blick als ein Disput über die angemessene Interpretation von Xenophons Hieron erscheint, ist tatsächlich der eindringlichste öffentliche Dialog zweier Philosophen über das Verhältnis von Philosophie und Politik und über das Ende der Geschichte" (Meier 1990b: 19, FN). Das ist ein enorme Bewertung für eine Debatte zwischen einem Platoniker und einem Hegelianer gelegentlich eines abgelegenen antiken Textes; vor allem was die Position der Modernen hinsichtlich des „Endes der Geschichte" angeht, könnte man sich weit bessere Verfechter als einen Denker wie Kojéve vorstellen, der in Analogie zu Hegels NapoleonDeutung nicht davor zurückscheut, Stalin zu einer Inkarnation des Weltgeistes zu machen. Einig sind sich beide von existentialistischem Denken geprägte Kombattanten auf seltsame Weise in der Moderne-Kritik. Hatte Strauss schon in den Anmerkungen zu Carl Schmitt in einem Zustand ohne Ernst, in dem Unterhaltung dominiert, den Endpunkt der Moderne gesehen, so hält Kojéve solch einen Zustand für das eigentliche Ende der Geschichte; er bewertet den homogenen Weltstaat als positives Ende, nämlich als ein Ende der „blutigen Prestigekämpfe", die den Kern der Geschichte gebildet hätten. Strauss hält dies mit Nietzsche für das Zeitalter der „letzten Menschen", jener Per84
Strauss kennt Kojeve seit den 1920er Jahren, trifft ihn 1932 in Paris, und von 1932 bis 1965 stehen sie im Briefwechsel, der im Zusammenhang mit der Rezension von On Tyranny und der gemeinsamen Publikation ihrer Debatte an Intensität gewinnt.
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TYRANNIS ODER TOTALITARISMUS
sonen, die nur noch blinzeln und vermeinen, das Glück zu besitzen, ohne überhaupt das Leben in seinem eigentlich emphatisch-heroischen Sinne zu kennen. Der Streit dreht sich aber eigentlich um das Verhältnis von Philosophie und Politik. Indes sind sich die Disputanten hier näher, als man auf den ersten Blick vermutet. Kojeve hält die Philosophie für den Kern der Geschichte und Strauss, auch wenn er die Geschichte, ein an sich sinnloses Geschehen, das nur partial beeinflußt werden kann, nicht für bedeutsam erachtet, pflichtet dem bei, da er den Verfall philosophischen Denkens in der Moderne als Kern ihrer Krise bestimmt. Die eminente Bedeutung der Philosophie steht für beide außer Frage, sie streiten um die Art der Philosophie und das Verhältnis des Philosophen, des Weisen zur Politik. Wenn Strauss am Ende seines Restatements formuliert, dem ganzen Streit liege unausgesprochen ein Unterschied und eine Gemeinsamkeit zugrunde, so trifft er zwei wesentliche Punkte. Zum einen trenne ihn die Auffassung des Seins von Kojeve; während er von der Unveränderlichkeit des Seins ausgeht, setzt Kojeve auf die Geschichte, in der die Wahrheit des Seins hervorgebracht wird. Während sie beide sich trotz dieser erheblichen Differenz mit der Tyrannei auseinandersetzen, würden andere (gemeint ist zweifellos Martin Heidegger, wie Strauss nur am Ende der französischen Ausgabe des Tyrannisbuches deutlich werden ließ) sich den Konsequenzen des Seins entziehen und „nur unentwegt vom Sein reden" (vgl. OT: 212). Auch im Schlußwort von Strauss zur ganzen Debatte wird also die Beziehung des Philosophen zur Politik als das eigentliche Thema hervorgehoben. Strauss und Kojeve sind von der immerwährenden Gefahr der Tyrannei für das politische Leben überzeugt und glauben, daß die gegenwärtige Tyrannei nicht hinreichend begriffen ist. Nach dieser Übereinstimmung fangen allerdings die Differenzen an, denn für den Platoniker Strauss gibt es einen feststehenden Tyrannisbegriff, den er auf die menschliche Natur, ihre Schwäche gründet. Kojeve denkt historisch und akzentuiert den geschichtlichen Wandel, er schreibt deshalb einmal an Strauss: Wenn es so etwas wie eine fixe menschliche Natur gäbe, dann hätte er recht (OT: 261). Wenngleich Kojeve also massiven Widerspruch anmeldet, so ist auch sein Verständnis des Menschen von zentraler Bedeutung für sein existentialistisches Konzept. Kojeve geht bekanntlich davon aus, daß der Kampf um Anerkennung, um Ehre und Prestige der Motor des Wandels sei. Damit rückt er in die Nähe des Hedonismus von Simonides und von modernen Denkern wie Machiavelli und Hobbes. Aus der Perspektive des allgemeinen Gegensatzes scheint Strauss durch die Debatte nur gezwungen zu sein, die eigene Kritik an den modernen Auffassungen zu explizieren, aber das ist nicht so, denn schon Kojeves erste Reaktion auf das Buch, seine Rezension in Critique bringt einen neuen Akzent ein. Kojeve fokussiert die Auseinandersetzung auf die Frage des Weisen, des Philosophen und seiner politischen Möglichkeiten. Erst in dieser Debatte entwickelt Strauss Anfang der 1950er Jahre seine Auffassung „philosophischer Politik", bestimmt er die Rolle des Philosophen zur Politik im Unterschied zu der des Intellektuellen. 85 Die ursprüngliche politische Motivation tritt damit etwas in den Hintergrund.
85
Die Kojeve-Debatte ist zeitlich genau zu verorten, da Strauss erst hier die Idee „philosophischer Politik" zum Ausdruck bringt. Kojeve äußert sich zuerst 1950 in der Zeitschrift Critique
und dann
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Der existentialistische Hegelianer Kojeve hat einen ganz anderen Ausgangspunkt als Strauss, er ist Historist und auf eine spezifische Weise Geschichtsphilosoph, der in die Abfolge historischer Formen eine Ordnung bringt und damit den einzelnen Formen eine historische Legitimität zuweist. Das gilt auch für Formen der Tyrannei. Durch diese Sichtweise kommt es zu einer Verwandlung des Tyrannisbegriffs. Dieser ist selbst dem historischen Wandel unterworfen und wird entnormativiert, denn in Rahmen der Geschichtsphilosophie verliert Tyrannis den Status eines strikten Gegenbegriffes zur guten Ordnung. Schon damit steht Kojeve in scharfem Gegensatz zu Strauss. Aber der Gegensatz reicht weiter, denn Kojeve ist wie Hegel ein Vermittlungsdenker, den die Verwirklichung des Geistes in der Geschichte, die Vermittlung von Theorie und Praxis interessiert. Insofern verfolgt er von vornherein ein anderes Ziel als Strauss mit seiner Präferenz für die Vita contemplativa. Dieser Gegensatz findet seinen deutlichen Ausdruck in Kojeves scharfer Differenzierung zwischen dem eigentlich Weisen, dem Philosophen, und den Intellektuellen. Der Kern des Streites besteht nach Strauss in folgendem: „Im Gegensatz zu dem, was Kojeve anzudeuten scheint, meinen wir, daß zwischen der unerläßlichen philosophischen Politik' des Philosophen und den Bemühungen, die er unternehmen oder unterlassen mag, um zur Errichtung des beste Regimes beizutragen, kein Zusammenhang besteht."
Und weiter heißt es über „philosophische Politik": „Sie besteht darin, den Regierenden der Stadt klar zu machen, daß die Philosophen keine Atheisten sind, daß sie nicht alles, was der Stadt heilig ist, entheiligen, daß sie verehren, was die Stadt verehrt, daß sie keine Umstürzler sind, kurz keine verantwortungslosen Abenteurer, sondern gute Bürger, j a sogar die besten Bürger. Dies ist die Verteidigung der Philosophie, die überall und immer und unter jedem Regime notwendig war." (ÜT: 229)
Kojeve sieht, wie Strauss zu Recht betont, den Gegensatz Philosoph - Stadt als tragisch an, das sei aber nicht die Sicht der antiken Klassiker gewesen, die vor allem in Gestalt von Piaton mit ihrer Verteidigung der Philosophie vor dem Forum der Stadt erfolgreich waren. Insgesamt unterscheide Kojeve nicht zwischen philosophischer Politik und Politik des Philosophen, er stelle - und das diagnostiziert Strauss präzise - eine innere Beziehung zwischen der Hegeischen Philosophie und ihrer Verwirklichung, genauer ihrem Wahrwerden, her. Er lädt die Bedeutung der Philosophie weit stärker als der ursprungsphilosophisch argumentierende Strauss gleichsam heilsgeschichtlich auf und kommt zu grandiosen Behauptungen wie: „Es kann sein, daß die Zukunft der Welt und damit der Sinn der Gegenwart und die Bedeutung der Vergangenheit letztlich von der heutigen Interpretation der Hegeischen Schriften abhängen" (Kojeve 1988: 298). Kojeve kann Strauss allerdings zu Recht vorwerfen, er halte an einer epikureisch isolierten Auffassung des Philosophen fest. Es käme jedoch darauf an zu sehen, daß der Philosoph nie bis zur praktischen Politik, dem Tagesgeschäft vordringen kann, weshalb eine Menge an Intellektuellen nötig sei, die das Vermittlungsgeschäft übernehmen. Diese Sicht lehnt Strauss - der Intellektuellenfeind - selbstverständlich ab, er hält ja 1954; auf den späteren Aufsatz reagiert Strauss im gleichen Jahr, dieser Text wird 1960 in WPP aufgenommen.
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TYRANNIS ODER TOTALITARISMUS
schon die Absicht des Praktisch-Werdens, des Praktisch-Machens der Philosophie, wie sie die moderne Philosophien seit Descartes und Bacon kennzeichnet, für verfehlt und hochproblematisch. Mit geistesaristokratischem Akzent argumentiert Kojeve auf der Basis der französischen Kultur, in der die Hochschätzung der Philosophie und des Intellektuellen lange sehr verbreitet waren, und gegen das individualistisch-elitäre Modell von Strauss. Letzterer hat die unmittelbare Politisierung der Philosophie (Heidegger) bzw. der Wissenschaft (Carl Schmitt) im totalitären Deutschland dahingehend verarbeitet, daß er prinzipielle Distanz zur Politik und Mäßigung selbst für die politische Wissenschaft zur Tugend erhebt und den Kampf um die Möglichkeit der Philosophie zur Hauptaufgabe macht. Nur an sich und für die Antike kann Strauss den Satz, der Philosoph sei der Leitung der Herrscher fähig, aufrechterhalten (ÜT: 115). Das sind radikale Konsequenzen, die zugleich einen hohen Anspruch und eine Depotenzierung des praktischen Anspruches der politischen Wissenschaft bedeuten. „Philosophische Politik", so wie Strauss den Begriff in der Debatte mit Kojeve ausprägt, stellt die Sache der Philosophie und nicht die der Politik in den Vordergrund. Deshalb ist das politische Philosophieren von Strauss in seiner Grundstruktur paradox, es behandelt politische Fragen, wie die der Ordnung und der Tyrannei, aber im Kern geht es um Philosophie als Philosophie; die ganze sokratische Rhetorik ist primär ein Rechtfertigungsmittel für die Existenz der Philosophie; in der Substanz interessieren hier Strukturen und Institutionen oder gar politischer Wandel kaum. Der Gegensatz zwischen Strauss und Kojeve geht auf divergierende anthropologische Annahmen zurück (vgl. Bradshaw 1992; Pippin 1993; Rosen 1987, Kap. 3). Kojeve nimmt aber keine fixe menschliche Natur an, sondern eine sich historisch wandelnde, in der der Kampf um Ehre und Prestige die tragende allgemeine Bestimmung ist. Strauss spielt anthropologische Prämissen antiker Klassiker nicht einfach gegen die moderne Maßlosigkeit aus, die im Streben nach Ehre und Anerkennung steckt. Er will deren Überlegenheit vor allem dadurch beweisen, daß er die Grenzen und die Nichtigkeit menschlichen Tuns gegenüber dem modernen Machbarkeitswahn ausstellt, der im Totalitarismus nur seine letzten Auswüchse habe. Trotz der genannten Gegensätze ist der existentielle Zugang zu den philosophischen Problemen eine Gemeinsamkeit von Kojeve und Strauss.
5.3
Machiavelli und der Verfall klassischen Denkens
Machiavelli ist für Strauss indirekt mindestens seit dem Buch über Spinoza (1930; RS) ein Thema. Spielte er damals noch eine untergeordnete Rolle, so verändert sich dies mit der Zeit, schon in der Interpretation des Hieron rückt Machiavelli in den Vordergrund. Seine ambivalente Haltung zu ihm beschreibt Strauss in einem Brief an Voegelin wie folgt: „I begin lentissime to write a small book on Machiavelli. I can't help loving him in spite of his errors." (in: Emberley/Cooper 1993: 98) Aus den im Frühjahr 1953 im
MACHIAVELLI UND DER VERFALL KLASSISCHEN D E N K E N S
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Rahmen der Walgreen Foundation gehaltenen Vorträgen erwächst über einen Aufsatz (1957) schließlich das Buch Thoughts on Machiavelli (TM) von 1958. Die oft konstatierte Radikalität dieses Buches, Söllner spricht sogar von einem „exorzistischen Gestus", speist sich aus zwei Quellen: Zum einen begreift Strauss Machiavelli als den Wendepunkt in der Entwicklung der politischen Philosophie. Zum anderen mißt er einer Kritik an ihm enorme Bedeutung für die Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus überhaupt und dem Kommunismus im besonderen zu. Strauss hat sich nicht nur andauernd mit Machiavelli beschäftigt, und zwar bis zu dem Beitrag über ihn in der zweiten Auflage der History of Political Philosophy86, sondern korrigiert sich hier auch auf bemerkenswerte Weise selbst. Erst seit Anfang der 1950er Jahre mißt er Machiavelli und nicht mehr Hobbes die zentrale Rolle im Verfall der politischen Philosophie zu, wenngleich letzterer diesen Bruch ausbaut und vertieft. Diese Veränderung hat verschiedene Gründe. Zu den theoretischen Gründen gehört, daß Strauss sich erst spät auch den Discorsi zuwandte und sie dann, wie den Principe, als ein kühnes, in der Form aber zurückhaltend geschriebenes Buch deutet (HPW: 9f.). Erst durch das Verständnis beider Schriften wurde Machiavelli für Strauss zu einem Autor von außerordentlichem Rang, dem er komplexe und verwickelte Studien widmete, in denen er seine ganze Interpretationskunst entfaltet. Die folgende Auseinandersetzung mit der Machiavelli-Monographie verläuft auf drei Ebenen: Zum einen erfolgt sie vor dem Hintergrund der entwickelten politischen Problematik. Zum anderen wird Strauss in den Kontext verschiedener Lesarten von Machiavelli gestellt. Schließlich ist es für die Beurteilung von Strauss' Deutung unerläßlich, unabhängig von Strauss einige Grundzüge von Machiavellis theoretischem Denken zu fixieren. In der Geschichte der politischen Theorien wird Machiavelli in der Regel ein herausragender Platz zugewiesen. Claude Lefort sprach einmal, um die andauernde Aktualität von Machiavellis Denken zu verdeutlichen, von der Arbeit seines Werkes (Lefort 1986). Um Strauss' Deutung zu konturieren, beziehe ich sie zunächst auf drei kontroverse Punkte der interpretativen Literatur, nämlich auf zwei gegensätzliche Lesarten von Machiavelli, auf die Auffassung von Politik und auf verschiedene akademisch-disziplinäre Muster der Deutung dieses Autors. Im Prinzip gibt es zwei große gegensätzliche Lesarten von Machiavelli. Die eine erkennt in ihm den Machttheoretiker, der den politischen Erfolg an die Stelle normativer Überlegungen setzt. Die machtheoretische Lesart rückt meist den Principe ins Zentrum und hat in Deutschland lange dominiert. In der zweiten Lesart wird Machiavelli als Republikaner, als Verteidiger der Freiheit gelesen, der also normative Überlegungen und Machtkalküle miteinander verbunden hat. Die Discorsi, ein Kommentar zu den ersten zehn Büchern von Livius' Römischer Geschichte, haben hier den Status des Hauptwerkes. 87
86
87
Vgl. Leo Strauss: Niccolo Machiavelli, in HPP: 2 9 6 - 3 1 7 . Weitere Texte von Strauss zu Machiavelli sind Rezensionen: „Olschki's Machiavelli, the Scientist" (1945; in WPP: 2 8 6 - 2 9 0 ) ; „Walkers Machiavelli", Review of Metaphysics, vol. VI (1953): 4 3 7 - 4 4 6 ; „Machiavelli and Classical Literature", Review of National Literatures (St. Johns University), vol. I (1970): 7 - 2 5 . Belege für die republikanische Lesart sind Arendt (1994a: 195-199); Skinner (1988, 1990); Baron (1992); Gilbert (1991).
168
TYRANNIS ODER TOTALITARISMUS
Eine weitere Kontroverse in der Machiavelli-Literatur berührt sein Verständnis von Politik. Die machttheoretische Lesart geht in der Regel einher mit der Betonung, daß Machiavelli Politik als eine besondere Form des Handelns mit eigener Logik begriffen habe, die er von der Moral und der Theologie abgekoppelt konzeptualisiert. Je nach der Einstellung zu Machiavelli werden dann das „amoralische" Vorgehen und die Dominanz des Zweck-Mittel-Kalküls auch bei der Anwendung von Gewalt bewertet. Die republikanische Lesart relativiert demgegenüber die „amoralische" Orientierung der nur machttheoretischen Deutung doppelt: Zum einen seien die Freiheit und die Republik durchaus normative Orientierungen, die für Machiavelli generell wichtig sind. Zum anderen wird die Einsicht betont, daß Moral und Tugend prekäre Ressourcen sind, und gerade deshalb würde Machiavelli über Institutionen wie Religion, Gesetze und Erziehung reflektieren, die sie bewahren bzw. hervorbringen können. Beide Lesarten sind sich auf verdeckte Weise darin einig, daß Machiavelli Politik als eine besondere Form von Handeln begriffen hat. Politik ist zugleich ein inszeniertes dramaturgisches Tun und ein strategisches Agieren, wobei für beide Seiten des Handelns auf der Seite der historischen Personen bzw. der Eliten Leidenschaftsmanagement nötig sind, denn ohne die Vermeidung von Haß und Mißtrauen läuft die „große Politik" Gefahr, ihre Ziele zu verfehlen. Die Bewertung dieser Politik-Auffassung fallt freilich divergierend aus: Während manche Autoren verschiedener Provenienz hier die Eröffnung eines manipulativen Spielraumes sehen, der bis zum Totalitarismus reicht, betonen andere, daß hier jenseits von Theologie und antiken Theorien moderne Politik erstmals als offener Handlungsraum auf den Begriff gebracht wurde. Schließlich gibt es jene eher implizite Kontroverse der Machiavelli-Interpretationen, die das Bild vom Autor berührt, und hier ist zu beachten, in welchem akademischdiziplinaren Schema Machiavelli gedeutet wird. Die Frage hat einige Relevanz, da von ihr Annahmen über die Art der Argumentation und die Zielstellungen des Autors abhängen. Generell wird betont, daß Machiavelli mit der klassischen politischen Philosophie brach, die sich auf Fragen, wie die Politik und die Menschen sein sollen, konzentrierte. Aber was heißt das für die Selbstperspektivierung? Ist Machiavelli durch den Bruch und seine neuen Ansätze automatisch auch als politischer Philosoph zu lesen? Nicht selten wird dies bejaht, mehr aber noch wird die Frage unentschieden gelassen. Quentin Skinner (1990) und Herfried Münkler (1995), um zwei jüngere Beispiele zu nehmen, sprechen von Machiavellis Denken, seiner politischen Theorie und auch seiner Philosophie. 88 Auch wenn man den Bruch mit den Sollensfragen und die realistische Orientierung von Machiavelli betont, ist er nicht zwangsläufig zum Philosophen zu erklären. Legt man einen etwas strengeren Begriff von Theorie als einem systematisch geordneten Ganzen von Aussagen und Urteilen an, so wird man Machiavelli kaum ge88
Quentin Skinnner historisiert Machiavelli; in Skinner (1990, 1988) wird von seiner Philosophie, politischem Denken und politischer Theorie gesprochen. Auch Herfried Münkler wechselt bei der Charakteristik seiner Theorie zwischen politischer Theorie, Machiavellis politischem Denken und politischer Philosophie. Am präzisesten scheint mir die Beschreibung des Theorietyps, als „einzigartige Verschränkung von Geschichtsschreibung und politisch-pragmatischer Reflexion wie sie sich in Machiavelli's Principe, in der Arte della guerra, vor allem aber in den Discorsi findet" (Münkler 1995:246).
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recht. Eher kommt man mit dem selten stringent verwendeten Begriff „politisches Denken" der Selbstperspektivierung und dem (Eeuvre besonders nahe. Mit solch einem Herangehen kann man die Genese einer neuen Auffassung von Politik, die „Entdeckung eines neuen Kontinentes", seine kasuistische Kartographierung und die unterschiedlichen theoretischen Facetten des Konzeptes ohne größere Vorentscheidungen als Prozeß analysieren.89 Die republikanische Lesart von Machiavelli (Baron, Gilbert, Arendt, Skinner, Pocock, Münkler) behandelt den Principe und die Discorsi als komplementäre Schriften. Knapp gefaßt lautet das Argument hier, der Principe sei für die Situationen gedacht, in denen die sozio-moralischen Voraussetzungen der Republik, die Tugenden und der sittliche Zustand des Volkes verfallen sind. Dann gebe es nur eine machtpolitische Option. Die Discorsi dagegen beschreiben die Politik und Regeln unter der Voraussetzung, daß Tugend und Sittlichkeit in hinreichendem Maße existieren. Machiavelli sei in erster Linie Republikaner, der in einem zyklischen Geschichtsbild einen Kreislauf der Verfassungen annimmt, der durch den notwendig immer wieder eintretenden Verfall der Tugend und der Sitten erfolgt. Dies ist bisher der gelungenste Versuch, die Spannung im Werk von Machiavelli zu erklären. Leo Strauss hat zu all den erwähnten Kontroversen eine klare Position bezogen. Er thematisiert Machiavelli ausdrücklich als exzeptionellen, weichenstellenden politischen Philosophen, als amoralischen Machttheoretiker und als einen Autor, der zwar Klarheit anstrebte, aber dessen Werk einige Rätsel enthält. Das zentrale Problem sei die „enigmatische" Beziehung zwischen dem Principe und den Discorsi (vgl. TM: 53). Beide enthalten nach Strauss die gleiche Lehre, nur auf verschiedene Weise; in beiden Werken vollziehe Machiavelli den Bruch mit der klassischen Philosophie und trete als „teacher of evil", als Protagonist reiner Machtpolitik auf.90 Damit entstehen einige Erklärungsprobleme, auf die ich gleich noch zu sprechen komme. Was die Politikauffassung von Machiavelli angeht, so erkennt Strauss in der Abkopplung von der Theologie und der Moral eine gefahrliche Enthegung von Politik, die der Willkür und der Tyrannei Tür und Tor öffnet. Als Beleg werden hier die von Machiavelli im Kapitel 6 des Principe genutzten Beispiele von Cesare Borgias Handeln angeführt, die die physische Vernichtung politischer Gegner als legitimes politisches Mittel darstellen. Machiavelli, so läßt sich gegen diese Sicht einwenden, preist in den Beispielen nicht generell eine skrupellose Machtpolitik, sondern es sind auch Beschreibungen einer Politik, bei der Herrscher, durch Fortuna und fremde Waffenhilfe gestützt, zur Macht kommen. Machiavelli hat hier die ansonsten häufig vollzogene Trennung zwischen funktional-kausalen und normativen Erklärungen nicht erreicht. Strauss hält diese Unterscheidung zwischen den Erklärungsweisen für falsch und verbindet mit der von ihm erkannten Machtpolitik die Vorwürfe von Blasphemie, Immoralität und Irreligiosität (TM: 12). Eine theoretische Grundlage dafür sei Machiavellis Präferenz für das Denken der Extreme statt des Nor-
89
Buck hat auf das kasuistische Vorgehen von Machiavelli aufmerksam gemacht (vgl. Buck 1953: 316f.).
90
Auch der Neothomist Jacques Maritain vertritt seit 1941 mit anderen theoretischen Mitteln diese Position (vgl. Maritain 1946: 1 - 2 2 , 6 1 6 - 6 2 7 ) .
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malen, des Normalfalles. Aber die Konsequenz und Radikalität des Florentiners nötigt, wie das Motto des Exkurses anzeigt, Strauss Bewunderung ab. Für Strauss ist Machiavelli eine prinzipielle Herausforderung, da er in den meisten Fragen konträr zu ihm steht. Der Gegensatz erstreckt sich auf das Pro und Contra zum Naturrecht, das Verhältnis zur Religion und die Bedeutung, die der Geschichte eingeräumt wird. Insgesamt sieht Strauss Machiavellis Denken als so wirksam an, daß die modernen Theoretiker den Bruch, den er vollzog, schon gar nicht mehr richtig begreifen, sie wüßten weder genau, wovon sich Machiavelli abgesetzt hat und wogegen er war, noch was seine eigentlichen Innovationen sind. Deshalb müsse man für eine angemessene Interpretation weit ausholen und Machiavelli wäre auf die ewigen theoretischen Alternativen zu beziehen, wobei zu zeigen sei, welchen neuen Akzent er in diesem Zusammenhang setzt. Man müsse also bei seinem Denken die Oberfläche durchstoßen, um zu den eigentlichen Grundlagen zu kommen. Strauss ist überzeugt: Machiavelli hat die Kunst des exoterischen Präsentierens von philosophischem Wissen beherrscht, er muß also tiefenhermeneutisch rekonstruiert werden.
5.3.1 Machiavelli - „A Fallen Angel" Für das Verständnis von Strauss' Interpretation ist zunächst knapp die Struktur seines Buches zu rekapitulieren. Die Einleitung enthält die bereits erwähnte Zielstellung, die alte Auffassung von Machiavelli als „Teacher of Evil" zu erneuern, und eine Exposition der Fragen. Als Perspektive für das ganze Buch werden permanente Problemstellungen der politischen Philosophie angedeutet. Kapitel 1 diskutiert das Verhältnis des Principe und der Discorsi als Problem, wobei die Differenzen zwischen diesen Schriften nicht auf Unterschiede im Gegenstand bzw. der Methode zurückgeführt werden, sondern die These lautet: Beide Bücher enthalten das ganze Denken Machiavellis, aber von einem je unterschiedlichen Standpunkt. Diese Standpunkte werden über eine mehrschichtige Adressatenanalyse aufgeschlüsselt, die bei der bekannten Unterscheidung von Herrschern als Adressaten des Principe und dem Volk im Falle der Discorsi ansetzt. Kapitel 2 enthält eine Formanalyse des Principe, seiner Teile, des gedanklichen Zentrums und der besonderen Stellung des letzten Kapitels. Kapitel 3 thematisiert die Intention der Discorsi mit dem Schwerpunkt eines Vergleiches der Lesart des Livius und der Schreibweise von Machiavelli in seinem Kommentar. Im Zentrum steht dabei, inwieweit sich Machiavelli als Gründer eines neuen Denkens und einer neuen Ordnung begreift. Die These von Strauss lautet: Livius ist für Machiavelli eine Art Bibel, nämlich ein autoritativer Text besonderer Art (TM 93); wenig später präzisiert Strauss aber die Überlegung, indem er behauptet, weil Machiavelli gegen jede Autorität sei und sich selbst als Begründer einer neuen Wissenschaft, der einzig richtigen Auffassung der Politik sehe, handele es sich vielmehr um eine „Gegenbibel" (TM: 141), einen Text, dessen Funktion nur zum Teil der Verherrlichung und Orientierung des alten Rom dient, zugleich sei er polemisch auf die Entkräftung der christlich-biblischen Tradition und der des klassischen politischen Denkens bezogen. Insgesamt nutze Machiavelli Livius nur für seine generelle „spiritual warfare" (TM: 35). Kapitel 4 resümiert die Diskussion des
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Principe und der Discorsi und untersucht Machiavellis „Teaching", seine unausgesprochene, esoterische Lehre. Seine neue amoralische Lehre der Politik verzichte im Kern auf den klassischen, wertenden Begriff der Tyrannei, was ihn zum Vorläufer aufgeklärten Despotismus und diktatorischer Regime mache. Prinzipiell wird die Frage diskutiert, ob die von Machiavelli eingeleitete Aufklärung eine solche überhaupt war oder eher eine Verfinsterung, und was eigentlich seinen Rationalismus kennzeichnet. Der Kern besteht nach Strauss darin, daß Machiavelli sich selbst als Gründer eines neuen Denkens sieht, das die Basis für ein richtiges Verständnis politischer Ordnung bildet. Aber er kann dies wegen seiner Kritik an den unbewaffneten Propheten nur tun, weil er auf die Jugend, auf eine neue Generation setzt. Es sind also nicht die eingangs unterschiedenen exoterischen Adressaten, nämlich Herrscher im Principe und die Freunde, die die Discorsi angeregt haben und darüber hinaus das Volk, die entscheidend sind. Vielmehr müsse man zwischen dem unmittelbaren Publikum, das im wesentlichen durch das Christentum geprägt ist und eine neue Lehre nur partiell aufnehmen kann, und dem mittelbaren Publikum unterscheiden, nämlich der Jugend als künftiger Elite, die von vornherein in einer neuen, an das alte Rom anschließenden Denktradition gebildet werden soll. Der zweite Adressatenkreis ist nicht direkt erreichbar, und deshalb stehe Machiavelli vor dem Problem, wie er seine Lehre, die sich in einem harschen Gegensatz zum üblichen politischen Denken befindet, so darstellen kann, daß eine künftige Elite ermöglicht wird und daß für diese kommende Elite die neue Wissenschaft und deren Lehren zugänglich sind. Insofern gibt es Gründe für eine Kodierung, für ein verdecktes, exoterisches Präsentieren der neuen Wahrheit. Das Muster für das Wirksammachen des neuen Denkens sei - wie Strauss ausdrücklich festhält - Jesus, der unbewaffnete Prophet, der erfolgreich eine neue Moral gelehrt hat (TM: 173). Der auf diese Deutung gestützte Hybrisvorwurf basiert auf der Stilisierung von Machiavelli zum Propheten und Philosophen, aber gerade diese beiden Zuschreibungen sind sehr fragwürdig. Machiavelli war ein starker Kritiker unbewaffneter Propheten, und es ist mehr als eine Umkehrung bekannter Sichtweisen, ihn selbst zu einem Propheten zu machen. Strauss versucht dies in zwei Schritten. Er schreibt Machiavelli zunächst zu, daß er eine neue Wissenschaft, ein neues, das richtige historische Wissen zu verkünden meint. Dieses zentrale Anliegen bedeute einen doppelten Bruch mit der klassischen politischen Wissenschaft, es enthalte eine starke Aufwertung der Geschichte und zugleich die Annahme, durch richtige Erkenntnisse bzw. Lehren aus der Geschichte Folgerungen für theoriegeleitetes praktisches Handeln ableiten zu können. Der zweite Schritt von Strauss besteht in der Behauptung, die Historie des Livius fungiere bei Machiavelli als Bibel, als eine autoritative Schrift besonderer Art. Fraglos handelt es sich hier um einen Referenztext, dem Machiavelli außerordentliche Bedeutung zuschreibt, aber er nutzt ihn, um bestimmte Ideen und Vorstellungen Roms neu zur Geltung zu bringen. Nur indem Strauss die Interpretation des Livius von der Bedeutung des vorbildhaften Textes abkoppelt, kann er zu der Behauptung gelangen, die römische Geschichte des Livius hätte die Funktion einer „Counter-Bible". Nun ist gar nicht abzustreiten, daß Machiavelli mit Livius auch das Christentum, seine unkriegerische Moral und seine auf Vermittlung setzende Ethik kritisiert. Jedoch folgt daraus keine Erhebung der Römischen Geschichte in den Rang eines nicht hinterfragbaren, autoritativen Textes.
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Vielmehr dient der Text des Livius Machiavelli dazu, exemplarische politische Erfahrungen, die Menschen nach seinem zyklischen Geschichtsbild immer wieder machen werden, zu verdeutlichen und zu nutzen. Ein solcher Status des Textes ist deutlich von einer „heiligen" Schrift unterschieden. Strauss deutet demgegenüber die Römische Geschichte von Livius als einen Referenztext besonderer Art und hebt die Interpretation, die Machiavelli von ihm gibt, deutlich davon ab. Er kann dann argumentieren, es wäre eigentlich nicht der Livius-Text, um den es geht, Machiavelli würde sich vielmehr hinter Livius verbergen, er selbst wäre es, der sich zur höchsten Autorität erhebt, und genau in diesem Sinne wirke er selbst als Prophet - als Prophet einer neuen Art von Wissenschaft und eines auf diese gestützten politischen Handelns, das theoretische Erkenntnisse in die Praxis überfuhrt. Machiavelli würde die eigene Kritik an den unbewaffneten Propheten dadurch unterlaufen, daß er sich an die Jugend wendet, auf eine neue Generation setzt, und in diesem Sinne wäre Jesus sein Vorbild. Ein derart „hybrishaftes" und „blasphemisches" Vorgehen von Machiavelli ist es, was ihn zum Lehrer des Bösen macht, aber Strauss weist in diesem Kontext auf eine „fundamentale theologische Wahrheit" hin, nämlich „that the devil is a fallen angel" ( T M : 13). Hinsichtlich des Charakters der Thoughts on Machiavelli als Buch läßt sich die entsprechende Sekundärliteratur entlang der Unterscheidung von esoterischem und exoterischem Schreiben zu drei Varianten typisieren: 1. Nach Harvey Mansfield, einem Strauss-Schüler, handelt es sich um ein exoterisches Buch über zwei esoterische Bücher von Machiavelli. Der Principe und die Discorsi seien, wiewohl der Leser sie meist zu verstehen glaubt, esoterische Bücher, die ihre verdeckte Lehre nicht leicht preisgeben. Strauss' Buch über sie sei ein exoterisches Buch in dem einfachen Sinne, daß es die verdeckte Wahrheit der Schriften Machiavellis expliziere (Mansfield 1975: 372). 2. Robert M c S h e a und Claude Lefort wenden dagegen die Methodik von Strauss zum Teil gegen ihn selbst. Für McShea handelt es sich trotz aller interessanten Erkenntnisse und der geistigen Stärke, mit der Strauss argumentiert, um ein ideologisches Buch, das von vornherein moralische Ziele verfolgt, nämlich zu zeigen, daß Machiavell „a teacher o f evil" ist. Das Buch sei aber selbst doppelt kodiert. Exoterisch argumentiere Strauss auf der Ebene biblischer und klassischer Tradition, d.h. Machiavelli wird wegen seiner funktional-technischen Herangehensweise an die Religion, seine Trennung von Moral und Politik als amoralischer und blasphemischer Theoretiker kritisiert. Esoterisch ginge es um die Rückkehr zur klassisch antiken Philosophie und deren permanenten Problemen, was auf der einen Seite eine Rückkehr zur Verbindung von Moral, Politik und Religion bedeutet. A u f der anderen Seite könnten die klassisch paganen Vorstellungen der Griechen nicht mit monotheistischen Gottesvorstellungen verbunden werden. Esoterisch wird also eine systematische Differenz zwischen Philosophie und Religion als Weltdeutungen und Formen der Lebensführung aufgemacht (vgl. McShea 1963: 796). Lefort schätzt Strauss' Lesart wegen ihrer Genauigkeit und des Verfolgens verwickelter Gedanken, er wirft ihm aber ein zirkuläres Vorgehen vor. Es gäbe nämlich einen Widerspruch zwischen der enormen Wertschätzung für Machiavelli als Philosophen und der Behauptung, alles in seinem
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Werk sei geplant. Nach klassisch-sokratischer Auffassung ist Philosophie ja gerade ein Gespräch, eine Lehre, die diskursiv entwickelt wird, der gegenüber jede verschriftlichte Fassung nur eine defizitäre Wiedergabe ist. Dann könne aber das philosophische Werk auch nicht völlig geplant sein. Wenn diese Annahme und Strauss' Auffassung von Machiavellis esoterisch-exoterischer Methodik gilt, dann würde Strauss Machiavelli eine Lehre zuschreiben, um seine eigene Rückkehr zur antiken Philosophie vorzubereiten. 91 3. John G. A. Pocock hält Strauss' Buch für „marvelous perceptive in some ways, as well as marvelously wrong headed in others" (Pocock 1975b: 385f.). Die Leistungen und Schwächen werden mit dem methodischen Konzept des esoterischen Schreibens verbunden. Zu den Leistungen zählt er die Suche nach verborgenen Gehalten des Textes, der trotz der von Machiavelli angestrebten Klarheit bei weitem nicht eindeutig ist. Aber Pocock macht mit Nachdruck auf das zentrale Problem bei der Suche nach einer verborgenen Lehre aufmerksam; die Frage sei nämlich, was sind überhaupt Kriterien, nach denen Hinweise auf Verborgenes und normaler Text, der auf nichts verweist, unterschieden werden können (ebd.: 391). Das Problem sei bei Strauss besonders gravierend, da er wegen der obsessiv-fundamentalen Ablehnung aller historisch-kontextualistischen Argumente als Historismus und der damit auch verbundenen Ablehnung einer Analyse der politischen Sprache der Zeit zwei wichtige Kontrollinstrumente per se ausschließe. 92 Die an sich schätzenswerte Orientierung auf die Formanalyse der Texte und verschiedene Adressatenkreise wird bei Strauss durch die Fixierung auf die großen Texte enorm verkürzt. Pocock und auch Skinner analysieren Machiavelli als politischen Denker im Kontext seiner Zeit und nicht dekontextualisiert als großen Philosophen; das Buch von Strauss wird - anders als bei Strauss' Schülern - nicht verklärt, sondern auf seine expliziten Thesen und ihre Validität hin gelesen. Begreift man Machiavelli als einen republikanischen politischen Denker 93 , dann ist besonders interessant, ob und wie Strauss seine dazu gegensätzliche Interpretation begründet. Insgesamt gesehen macht er sich damit nicht viel Mühe. Zwar weist Strauss auf die große Bedeutung hin, die Machiavelli der Geschichte zumißt, aber er deutet ihn dennoch als Philosophen. Das Besondere an ihm sei sein Bruch mit der klassischen Philosophie, der darin bestehe, daß er direkt und im eigenen Namen die Maximen reiner Machtpolitik vorträgt. Strauss bezieht Machiavelli auf die klassisch-antike Philosophie, und zwar, um den Bruch mit ihr und nicht einen Aufbruch zu neuen Ufern im Sinne neuer wissenschaftlicher Orientierungen zu verdeutlichen; dieser Bruch werde philoso91
Ähnlich, aber genereller auch Drury (1988). Sie behauptet, der „Nietzscheaner" Strauss stimme Machiavelli, die Darstellung der Politik betreffend, zu - und zwar trotz aller Polemik.
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Pocock (1975b) gibt auch in der ersten Fußnote einen Hinweis auf einen Anachronismus, nämlich daß die Bajonette, von denen Strauss redet, und auf denen man keine Ordnung gründen könne, in der Renaissance noch gar nicht erfunden waren.
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Für diese Lesart plädiert auch Buck in seinem Literaturbericht (1985). Selbst Cassirer, der Machiavelli in eine philosophische Perspektive stellt, betont, er sei im eigentlichen Sinne kein Philosoph (1988: 179).
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phisch vollzogen. Das Verbindungsstück dabei ist die Annahme, Machiavelli unterscheide sich von den antiken Klassikern primär dadurch, daß er Machtpolitik konsequent und direkt in eigenem Namen vortrage; er radikalisiere Positionen, die in den antiken Philosophien als eine Möglichkeit durch die Nutzung literarischer Figuren reflektiert würden. Das ist durchaus ein bemerkenswerter Wandel, den Strauss allerdings nur mit Blick auf die kanonischen Texte politischer Philosophie fixiert. Dabei interessieren weder die veränderte Rolle des Autors noch das gedruckte Buch als neues Medium. Vielmehr wird zirkulär argumentiert: Da alle philosophischen Probleme bei den antiken Klassikern schon gedacht wurden - als Beispiele für das Konzept der Machtpolitik werden hier Piatons Trasymachos (Politeia St. 338c), Kallikles (Gorgias) und der berühmte Melier-Dialog (Thukydides 1991, Buch V, 85-113) angeführt - , könne Machiavelli unter dieser Prämisse eigentlich keine neuen Konzepte vertreten, sondern nur ältere radikalisieren. Die Konsequenz lautet: In der frühen Moderne gebe es einen Bruch mit den klassischen Positionen, und zwar im Sinne eines Verfalls des Reflexionsniveaus; man bedenke nun nur noch eine Seite der Alternative, die zwischen guter Politik bzw. guter Ordnung und Machtpolitik bestehe. Das sei ein Prozeß der Vereinseitigung und Entnormativierung innerhalb politischer Philosophie. Insofern Machiavelli die Machtpolitik im eigenen Namen vorträgt und propagiert, sei er reell der oft apostrophierte „teacher of evil", der die instrumentelle Vernunft und das strategische Nutzenskalkül an die Stelle der in den klassischen Theorien dominierenden Themen, wie der Gerechtigkeit und der guten Ordnung, setzt. Strauss beurteilt Machiavelli nur im Horizont antiker Theorien, und dadurch verschließt er sich gegenüber der Frage, inwiefern Machiavelli einen erneuerten, veränderten Republikanismus vertritt und worin dieser besteht. Statt dessen verwandelt er vermittels seiner Tiefenhermeneutik auch die Discorsi in ein Werk, das verdeckt auf Machtpolitik setzt. Dieses Vorgehen hat seinen Preis, aber so kann man den Bruch mit antiken Theorien und verschiedene Substitutionsprozesse bei Machiavelli gut verfolgen, denn er vollziehe den Bruch im klarem Bewußtsein der älteren Theorien. Zudem eröffnet diese Gemengelage eine hermeneutische Situation, die Strauss mit spezifischen Mitteln auslotet, was vor allem mit Bezug auf den Begriff der Tyrannei nachvollzogen werden soll.
5.3.2 Wie Machiavelli zu lesen ist In der Genre- und Strukturanalyse des Principe und der Discorsi entfaltet Strauss seine hermeneutische Methodik virtuos. Hier werden die Grundlagen für die Enträtselung von Machiavelli als einem kunstvollen Schriftsteller gelegt, der nur scheinbar einfach und klar ist. Diese Ebene wird, was die Discorsi anbetrifft, durch eine Analyse darüber ergänzt, wie Machiavelli Livius las. Der Deutung der Leseweise kommt prinzipieller Stellenwert zu, da Strauss hier seine These demonstriert, daß man über die Leseweise auch die Schreibweise eines Autors erschließen könne. Beide Ebenen der Textauslegung sind für das Verständnis der nach Strauss tatsächlichen Auffassung von Tyrannei und Ordnung wesentlich, denn wenn Machiavelli seine Auffassungen kodiert vortrug, muß der Schlüssel zur Dekodierung gefunden werden, um die Tiefenbedeutungen zu verstehen.
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Der Form nach ist der Principe ein Fürstenspiegel. Er hat, so Strauss, eine traditionelle äußere Form und ein revolutionäres Inneres. Aber bei diesen bekannten Bestimmungen bleibt Strauss nicht stehen. Er hält außerdem eine charakteristische Doppelstruktur fest, es handele sich nämlich gleichzeitig um einen „Treatise" und einen „tract for the times". Als politische Schrift für die Zeit gebe sich der Principe durch die Widmung an Lorenzo de'Medici, durch seine Bezugnahmen auf politische Figuren der Gegenwart, wie Cesare Borgia und den Prediger Girolamo Savonarola, sowie durch das 26. Kapitel, das einen Aufruf zur Einigung Italiens enthält, zu erkennen. Gleichzeitig handele es sich um eine gelehrte Untersuchung, die nicht an die Zeitumstände gebunden ist, denn Machiavelli verkünde eine neue Auffassung der Politik, und zwar im Namen einer neuen politischen Wissenschaft. Mit der deutlichen Auseinanderlegung des Zeitbezogenen und der davon abgehobenen Wissenschaft wird hier schon die Unterscheidung zwischen der esoterischen und exoterischen Lehre vorbereitet. Äußerlich sei der Principe in vier Teile gegliedert, nämlich die Kapitel 1-11, 12-14, 15-23 und 24-26 (TM: 54f.). Entscheidende Bedeutung hat das Kapitel 15, es ist - und hier stimmt Strauss mit vielen anderen Interpreten überein - der Drehpunkt des Ganzen (vgl. z.B. Skinner 1988: 65). Hier wendet sich Machiavelli offen von der humanistischen Morallehre ab und beginnt die Analyse von Tugenden mit Blick auf die politischen Ergebnisse. Das betont auch Strauss, der von einem in diesem Kapitel beginnenden Ausmerzen der Tradition spricht, und er bemerkt auch, daß Machiavelli hier ohne historische Beispiele auskommt, weshalb man dem 15. Kapitel besondere Aufmerksamkeit widmen müsse (TM: 59). Wenn Machiavelli in den darauf folgenden Kapiteln wieder Beispiele nutzt und auch auf antike Autoren eingeht, zu denen seine Lehre im Gegensatz steht, so verstecke er nach dieser Passage seine radikale Innovation. Nach der großen Offenheit im 15. Kapitel bewege sich die Argumentation auf absteigender Linie, und nur dem aufmerksamen Leser werde angesichts der verdeckten Präsentation des neuen Denkens deutlich, daß eine Veränderung der Denkweise immer auch eine Veränderung der Substanz des Denkens bedeute (vgl. TM: 59f.). Eine besondere Rolle fallt im dritten Teil dem Kapitel 26 zu, das den berühmten Aufruf zur Einigung und Rettung Italiens enthält. Auf den ersten Blick kommt hier ein weiterer Adressat - das italienische Volk - ins Spiel; für Strauss ist dies aber etwas anders, denn er hat ja als Adressaten des Principe einen neuen Fürsten und Machiavelli als seinen Propheten ausgemacht. Wenn Machiavelli im Principe generell auf die Zukunft bezogen argumentiert, dann kann man folgern, daß das 26. Kapitel zur Komposition dazugehört. Dieses Kapitel, nicht selten als ein bloßer Anhang aufgefaßt, zeigt für Strauss das prophetische Denken, da der Aufruf an das Volk, sich zu einem Staat zu vereinen, auf einen Akteur bezogen ist, der sich erst konstituieren muß. Machiavelli agiere als Prophet, der auf eine zu erzeugende Zukunft referiert und auf künftige politische Akteure und Strukturen setzt. Zugleich verlasse Machiavelli auch hier nicht den Rahmen des Machtkalküls. Strauss faßt seinen Gedanken dazu wie folgt zusammen: „Is it not possible to understand the patriotic conclusion of the Prince as a respectable coloring of the designs of a self-seeking Italian prince? There can be no doubt regarding the answer; the immoral policies recommended throughout the Prince are not justified on grounds of common
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good, but exclusively on grounds of the self-interest of the prince, of his selfish concern with his own well-being, security and glory." (TM: 80)
Es handelt sich demnach beim letzten Kapitel nicht um politische Rhetorik. Strauss läßt sich auch in diesem Zusammenhang, was bei seinem Konzept vom Philosophen als perfektem Autor kaum verwundert, fast gar nicht auf textgeschichtliche Fragen ein. So ignoriert sein Buch von 1958 die Erkenntnisse, die Ridolfi schon 1954 vortrug, nämlich daß das letzte Kapitel des Principe ein späterer Anhang ist.94 Auf der Grundlage dieses Befundes wären in der Lesart von Strauss auch einige Revisionen nötig, die seine Interpretation von Machiavelli als Propheten vor Probleme stellt, welcher kommende politische Strukturen ankündigt und via Ausbildung einer Elite auf den Weg bringen will. Strauss könnte zudem, wenn man das 26. Kapitel als einen späteren Anhang liest, der nicht ganz in die Komposition des Principe paßt, kaum seine These vom perfekten Autor aufrecht erhalten, denn das sperrige 26. Kapitel des Principe kann ja nur als eine politische Stellungnahme gelesen werden, die nicht recht zu dem vorangegangenen systematisch geordneten Text gehört. Darüber hinaus bekommt so die von Strauss sehr kritisch diskutierte Aussage, die Liebe für das Vaterland sei größer als die Sorge um die Seele, einen anderen Stellenwert. In diesem Satz resümiere sich das Überhandnehmen der Vita activa gegenüber der Vita contemplativa, die zusammen mit der Kritik an der Religion eine Entgrenzung der Politik bedeuten, denn sie sei nun nicht mehr unter prinzipielle und höhere Werte subsumiert. Machiavelli sei, so Strauss, trotz aller ihm zugeschriebenen reinen Machtkalküle kein Nationalist, sondern ein Patriot, und zudem habe sein Denken ein transpatriotisches Zentrum, welches im Aufwerfen fundamentaler Fragen bestehe (vgl. TM: 80f.). Dieses Zentrum mache ihn zu einem Klassiker moderner politischer Philosophie (vgl. TM: 55). Auch die Discorsi unterzieht Strauss einer Strukturanalyse, die für das Begreifen der Intention ebenso wichtig ist wie für das Verständnis von Machiavellis Aussagen, da es nicht einerlei sei, wo etwas gesagt wird, zumal wenn ein Autor wiederholt auf ähnliche Probleme zu sprechen kommt, sie variiert oder gar in widersprüchlicher Weise behandelt. Die Discorsi sind für Strauss nicht einfach an das Volk gerichtet, sondern viel offener, expliziter als der Principe, der an Fürsten, an Herrscher gerichtet ist, was von vornherein viel gefährlicher sei. Die Intention von Machiavelli, die ihn von anderen Bewunderern Roms unterscheide, bestehe im Glauben an die Wiederbelebung, an eine mögliche Imitation der römischen Tugenden und Politik (TM: 86). Das mache einen Teil des revolutionären Gehaltes der Discorsi aus, dessen anderer Bestandteil sich nur durch eine Analyse der verdeckten Struktur erschließe. Als Themen der drei Bücher hält Strauss in einem ersten Schritt fest, Buch I thematisiere die innere Stabilität der römischen Republik. Buch II behandle den Gegensatz von bewaffneten alten Staaten und den unbewaffneten neuen, wobei es die Außenpolitik und die Kriege der Römer untersucht und über die Bestimmung von Defiziten und Differenzen eine Analyse der Moderne enthalte (TM: 102). Buch III greift von einem neuen Standpunkt Themen der
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Vgl. dazu Chabod und die Interpretation bei Münkler; auch Cassirer weist auf den besonderen Charakter dieses Kapitels hin: Es sei gerade nicht als Konsequenz des Traktates zu begreifen (1988: 187).
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beiden vorangegangenen auf, was sich erschließe, wenn man zwei leitende Unterscheidungen von Machiavelli beachtet, nämlich die grundsätzliche zwischen Innen- und Außenpolitik sowie die zwischen öffentlicher und privater Beratung, zwischen öffentlicher Deliberation und privaten Ratschlägen bzw. Beratung durch Experten. Blickt man von hier auf die ersten beiden Bücher, so behandele das erste Innenpolitik und privaten Rat bzw. Beratung und das zweite Außenpolitik und öffentliche Deliberation. Von den offengebliebenen Kombinationen nehme das dritte Buch nur eine Variante auf, nämlich Innen- und Außenpolitik, soweit sie auf privater Beratung beruhen. Insofern Machiavelli den Erfolg von Beratung nur dann annimmt, wenn er auf Seiten der Herrscher, der politischen Eliten mit „private benefits" verbunden ist, würde das dritte Buch eigentlich private Beratung und privaten Vorteil thematisieren. Folgt man diesem Gedankengang, dann ist aus den der Republik gewidmeten Discorsi ein Buch geworden, das keine wesentliche Differenz zum Principe aufweist. Machtkalküle und Nutzenlogik dominieren auch hier. Über eine Strukturanalyse, die Verdecktes stark macht, bringt Strauss den offensichtlichen Republikanismus von Machiavelli, sein Engagement für Freiheit und gegen Knechtschaft fast zum Verschwinden. Er kommt in diesen Zusammenhang zwangsläufig auf Machiavellis Verhältnis zum Volk, zur Menge zu sprechen. Strauss hält fest: Machiavelli formuliere einen anderen Standpunkt zur Menge, er fasse sie positiv und breche auch hier mit den antiken politischen Philosophen, die die Menge mindestens skeptisch beurteilten. Aus seiner generellen Kritik der Massengesellschaft und der Gleichheit heraus hält Strauss Machiavelli seinen allzu plebejischen Standpunkt vor und setzt dabei auf die ältere, eher elitäre Tradition des Republikanismus. Er differenziert dabei den Begriff der Menge nicht näher, was problematisch ist, denn Machiavelli unterscheidet deutlich zwischen dem Volk, den Besitzenden, und der eigentumslosen Menge, dem Pöbel, den man zu allen möglichen Aktionen manipulieren kann. Besonders plastisch wird dies im 3. Buch der Geschichte von Florenz, welches „die Fehden zwischen Volk und Pöbel und die daraus hervorgehenden Verhältnisse" schildert (Istorie: 158). Die Neubewertung von Konflikten als Phänomenen, die als gebändigte und regulierte zu einer politischen Ordnung dazugehören, ist bei Machiavelli auf vier Gruppen bezogen: auf die Adligen, auf die in sich differenzierte Gruppe der begüterten Bürgerlichen, die nur bedingt zum Volk gezählt werden können, auf das Volk im engeren Sinn und den Pöbel. Zwischen diesen Gruppen und innerhalb von ihnen gibt es Gegensätze, die dynamisch und destruktiv auf eine Ordnung wirken können. Die Betonung und die Differenzierung der Akteure ist es, durch die Machiavelli über eine bloße Erneuerung des Modells von Patriziern, Plebejern und Pöbel bei Livius hinausgeht. Die Strukturanalyse und die Deutung von Machiavellis Auffassung des Volkes und der Menge haben erheblichen Einfluß auf Strauss' Verständnis von politischer Ordnung und Tyrannei. Bevor ich sie diskutiere, muß noch ein spezifisches hermeneutisches Konzept von Strauss umrissen werden. Das Machiavelli-Buch ist nämlich das exemplarische Muster für seinen hermeneutischen Grundsatz, daß ein Autor so zu lesen ist, wie er selbst las. Die bereits mehrfach hervorgehobenen Akzente von Strauss' Interpretationsmethoden, nämlich Formanalysen und Bestimmungen der Autorenintention, die den jeweiligen Texten zugrunde liegt, wird hier exemplarisch ergänzt durch die Deutung
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von Lektürespuren. Dabei spielt nicht nur die Frage, wie gelesen wurde, d.h. gründlich, mehrfach etc., eine Rolle, sondern in den Vordergrund rücken auch Fragen darüber, was weggelassen, uminterpretiert oder beschwiegen wird. Strauss meint, durch eine Analyse derartiger Fragen ließen sich am ehesten Hinweise gewinnen, wie ein Autor selbst zu lesen wäre. Nun kann und soll gar nicht bestritten werden, daß dies teilweise möglich ist, nur gibt es eben Theoretiker verschiedener Art, etwa ausgesprochen eigenständige Theoretiker, die ihre Fragen kaum rezeptiv entfalten, oder Theoretiker, die selektiv andere Autoren rezipieren, dafür aber intensive Interpretationen bevorzugen. Es gibt auch Autoren, die sehr rezeptiv vorgehen und Synthesen anstreben. Insofern kann die hermeneutische Regel von Strauss, anhand der Lese- und Rezeptionsweise das Denken von Philosophen zu enträtseln, nur selektiv und in gradueller Stufung angewandt werden. Mehr noch, sie ist eigentlich nur in dem Textgenre, das einen kommentierenden Charakter hat, voll anzuwenden. Deshalb ist es j a auch nicht verwunderlich, daß Strauss diese Regel extensiv an Machiavellis Discorsi entfaltet. Widersprüche, Auslassungen und anderes mehr, aus denen Strauss zum Teil seine Argumente gewinnt, haben nur dann eine große Bedeutung, wenn man beide Autoren als bedeutende Geister und Schriftsteller deutet, die ihr Werk souverän gestalten. Liest man dagegen Machiavelli nicht als Philosophen, sondern als Denker, der vornehmlich auf dem Gebiet historisch-politischer Geschehnisse und Erfahrungen argumentiert, kann man einen Teil der Widersprüche der Vorlage von Livius zuschreiben, das Auslassen und Beschweigen kann dann - zumindest gelegentlich - bloß besagen, was Machiavelli für unwichtig hielt. Es ist allerdings unzureichend, Strauss zu unterstellen, er würde in allen Interpretationen immer nur seine eigenen Themen erkennen. Wenn Strauss getreu der Maxime von Heidegger sich stets in den hermeneutischen Zirkel hineinbegibt, so zeigt er gerade damit an, daß es sich mitnichten um naive Interpretationen handelt. Sein Anspruch, politische Theoretiker nicht historistisch zu deuten, zielt darauf, Autoren so zu verstehen, wie sie sich selbst verstanden haben. Damit werden nicht nur Kontexte für akzident e l l erklärt, Strauss wendet sich auch mit seiner Auffassung des Historismus (vgl. Kap. 6.3.) gegen die Hybris, die in dem Anspruch steckt, einen Denker besser zu verstehen, als er sich selbst verstand, und zwar bloß deshalb, weil man aus späterer Sicht auf ihn blickt. Strauss' Konzept ist jedoch auf andere Weise ambitioniert und von vornherein restringiert: Er setzt nämlich, wie in Kapitel 4 gezeigt wurde, auf eine nur aus den Texten erfolgende Rekonstruktion des Selbstverständnisses und der theoretischen Intention des Autors. Damit werden als Quellen für die Rekonstruktion des Selbstverständnisses nicht nur alle historischen Kontexte ausgeschlossen, das adäquate Selbstverständnis wird zudem nur vermittels einer Reihe von Autorzuschreibungen realisiert. Das Schlüsselproblem ist, daß Strauss Machiavelli zu einem Philosophen macht, und zwar unter Vernachlässigung der ihm bekannten, dominierenden historischen Argumentationen und seiner kasuistischen Diskussion von Handlungskalkülen. Strauss betont allerdings zu Recht, daß der Principe ein politischer Traktat ist und daß die Discorsi und die Geschichte von Florenz historiographische Arbeiten sind. In der Einleitung zu den Discorsi hält Machiavelli explizit fest, daß es der Gegenwart am richtigen historischen Wissen gebricht (Discorsi: 5). Hier ließe sich doch eine offensichtliche Intention
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von Machiavelli ablesen; er will das politische Denken durch historiographische Arbeiten fundieren, d.h. die elementaren Erfahrungen und wiederkehrenden Probleme diskutieren. Dazu setzt er sich von der Philosophie seiner Zeit und der klassischen Tradition ab. Es verwundert in diesem Kontext auch nicht, daß - wie Strauss moniert - Piaton und Aristoteles kaum vorkommen. Seine Vorbilder sind nicht Philosophen, sondern Historiographien wie Livius, Polybius, Thukydides und auch Autoren wie Xenophon, nicht aber Piaton. Weil Strauss Machiavelli zu einem Philosophen und perfekten Autor macht, kann er seinen Ansatz von Esoterischem und Exoterischem anwenden, um fast alle Unstimmigkeiten, Ungenauigkeiten und Ambivalenzen zugunsten einer höheren Konsistenz aufzulösen. Ein enthüllendes Detail, mit dem Strauss seine Lesart besonders absichert, ist eine Briefstelle. Machiavelli schreibt im Mai 1521 sinngemäß an Guiccardini: Ich sage und schreibe nicht die Wahrheit, sondern verberge sie (1925, Bd. 5: 473f.). Für Strauss ist das ein versteckter, aber prinzipiell gemeinter Hinweis auf die exoterische Kodierung, die Machiavelli in seinen Texten vornimmt (TM: 36). Strauss benötigt fur seine Rekonstruktionen solche Hinweise, die intendierte Verschlüsselung anzeigen, denn gerade weil er die Intention des Autors so betont, müssen für eine exoterische Schreibweise Belege beigebracht werden, da ihre Annahme sonst als zu willkürlich erscheint. Bei näheren Besehen läßt sich indes besagte Briefstelle auch auf Machiavellis Tätigkeit als politischer Gesandter beziehen, denn im Absatz davor stellt er ironisch seine Situation dar, unter der er von anderen beobachtet schreibt. Wenn dies der eigentliche Bezugspunkt ist, wenn es primär darum ging, sich der Beobachtung anderer Gesandter zu entziehen, dann kann man daraus nur schwer die prinzipiellen Folgerungen für die Kodierung der Schriften durch Machiavelli ziehen, wie Strauss dies tut. Ein Bezug auf Philosophen als die einzigen wahren Leser ist hier nämlich nicht einmal angedeutet. Zu den Besonderheiten von Strauss' Vorgehen gehört die große Aufmerksamkeit, die er der äußeren Form von Texten widmet. Im Hinblick auf die Bestimmung der Textsorte, der Adressaten und der Struktur ist das auch wichtig, aber Strauss übertreibt die Analyse der äußeren Form, insofern er der Gliederung, der Anzahl von Absätzen und Paragraphen eine enorme Bedeutung zuweist. Gerade bei seiner Deutung von Machiavelli wird ihm deshalb eine „Numerology" vorgeworfen (McAllister 1996: 93). Zwei in der amerikanischen Literatur gern herangezogene Beispiele mögen diese häufig kritisierte Tendenz belegen. Im einen Fall argumentiert Strauss wie folgt: „We have seen that the number of chapters of the Discourses is meaningful and has been deliberately chosen. We may thus be induced to wonder whether the number o f chapters of the Prince is not also meaningful. The Prince consists of 26 chapters. Twenty-six is the numerical value of the sacred name of God in Hebrew, of the Tetragrammaton. But did Machiavelli know this? I do not know. Twenty-six equals 2 times 13. Thirteen is now and for quite sometime has been considered a lucky number. So ,twice 13' mean both good luck and bad luck, and hence altogether: luck, fortuna." (HPP: 311)
Das andere Beispiel bezieht sich auf die Dauer, die Machiavelli einer Religion zumißt: „Machiavelli says that these sects change two or three times in 5.000 or 3.000 years. He thus determines the life span of Christianity; the maximum would be 3.000 years, the minimum
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1.666 years. This means that Christianity might come to an end about 150 years after the Discourses were written." (HPP: 314; vgl. TM: 142)
Zwar hält Strauss die Bedeutung dieser Zahlenspekulationen im Bereich des Vagen, aber die Aufnahme auch in den Lehrbuchtext zeigt an, daß sie ihm doch wichtig sind. Man kann im seinem Schrifttum insgesamt die Tendenz einer zunehmenden Verselbständigung dieser spekulativen Seite der äußeren Formanalyse von Texten erkennen.
5.3.3 Ordnung und Tyrannei Vor dem Hintergrund der entwickelten methodischen Überlegungen läßt sich nun fragen, welche Perspektiven Strauss mit seinem hermeneutischen Ansatz für die Auffassung von Tyrannei und politischer Ordnung bei Machiavelli eröffnet und was seine Deutung kennzeichnet. Der erste Befund, von dem auszugehen ist und der einen Widerspruch in sich birgt, lautet: Im Principe wird der Begriff der Tyrannis vermieden, aber in den Discorsi wird er häufig gebraucht. Für Strauss ist dies ein systematisch wichtiger Umstand, den er genauer diskutiert (TM: 25ff.). Er erkennt die „ethische Neutralität", mit der Machiavelli vorgehe, als ein Problem, weil sie dazu führe, auf den Tyrannisbegriff zu verzichten, was im Principe auch mit Konsequenz getan wird. Wenn der Begriff der Tyrannei in den Discorsi doch verwandt wird, dann paßt sich Machiavelli nach Strauss der Sprache der Zeit an. Für die anvisierte Elite, die das neue politische Denken zur Geltung bringen soll, ist solch eine Sprache nicht nötig. Aus der Perspektive von Strauss ist dies durchaus folgerichtig, aber wenn man sich die Texte von Machiavelli anschaut, gibt es auch gute Gründe für eine andere Lesart, die bei dem Punkt einsetzt, daß eine funktionale Erklärung, wie sie Machiavelli oft gibt, nicht notwendig amoralisch sein muß. Aus logischen Gründen gilt: Eine Trennung der Argumentationsweisen ist möglich, auch wenn funktionale Erklärungen nicht gänzlich wertfrei sind, wie die postempiristische Wissenschaftstheorie überzeugend gezeigt hat. Machiavelli kann durchaus eine moralische Position vertreten und anderenorts funktional argumentieren. In beiden Fällen sind die normativen Prämissen interessant. So scheut er sich ja im Principe auch nicht, das Verbrechen Verbrechen zu nennen, allerdings sollen eben auch die Effekte betrachtet werden, nämlich wie jemand dadurch an die Macht gelangt. Als Problem bleibt freilich, warum im Principe der Tyrannisbegriff nicht verwandt wird, während er in den Discorsi häufig vorkommt. Über den Bezug auf den Adressaten läßt sich die Vermeidung des Begriffes nicht allein aufklären, es gibt außerdem im Principe auch eine viel stärkere Dominanz funktional-deskriptiver Argumentation, die mit Bezug auf die breiten geschichtlichen Vorgänge, welche in den Discorsi dominieren, nicht realisierbar wäre. Die Discorsi sind zudem auf die rekonstruktive Nutzung historischer Vorgänge für die Gegenwart abgestellt, schon deshalb muß Machiavelli sich viel stärker an der im alten Rom und in der Gegenwart üblichen politischen Sprache orientieren. Zudem werden, um die politischen Lösungsvorschläge zur Geltung zu bringen, von Machiavelli rhetorische Techniken eingesetzt, so daß es insgesamt zu einer viel größeren Verschränkung von Perspektiven als im Principe kommt.
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Schaut man auf die Discorsi als ganze, dann arbeiten sie mit einem großen Gegensatz, der verschiedene Varianten hat. Auf der einen Seite stehen die gute Ordnung, die wohlgeordnete Republik und die Freiheit; auf der anderen Seite sind es Tyrannei, Knechtschaft, Unterwerfung. Mit diesem Gegensatz arbeitet Machiavelli. Bemerkenswert ist, daß Tyrannei sowohl als theoretischer Begriff wie auch als Ausdruck der politischen Sprache verwandt wird. Machiavelli greift hier die Sprache der Römer und seiner Zeit auf. So ist etwa in einem Bericht über eine Predigt von Savonarola die prominente Bedeutung der Tyrannisbegriffs in der damaligen politischen Sprache belegt (1979: 422f.). Insgesamt lassen sich drei Bedeutungsebenen von Tyrannis bei Machiavelli unterscheiden: Eine erste Ebene bildet die Verfassungslehre, wie sie in der klassischen politischen Philosophie gefaßt wurde. Zweitens wird Tyrannis vor dem Hintergrund der römischen Erfahrung mit Bezug auf den Begriff der Diktatur und auf Cäsar als historischer Figur erörtert. Diesen Strang nimmt Strauss gar nicht auf. Er geht, nebenbei gesagt, hier auch nicht auf Carl Schmitt und dessen prominente Auffassung der Diktatur ein. Drittens gibt es bei Machiavelli eine universelle Verwendungsebene von Tyrannis, wobei hervorzuheben ist, wie weit er den Gegenbegriff faßt, er reicht von politischer Ordnung schlechthin über einen stabilen Staat bis zur wohlgeordneten Republik. Wiewohl für Machiavelli nichts wirklich Neues in der Geschichte entsteht, hat sein Tyrannisbegriff deutlich historische Züge. Was die politische Ordnung, die wohlgeordnete Republik oder Monarchie betrifft, also Regierungsformen, die das Gegenteil von Tyrannei sind, so hat Machiavelli stets zwischen Gründung, Erhalt und Verfall unterschieden. Er spricht von der guten Ordnung, der wohlgeordneten Republik, dem stabilen, dauerhaften Staat. Dem liegen insgesamt Vorstellungen eines proportionalen Kräfteverhältnisses, aber nicht von widerspruchsfreien Zuständen zugrunde. Vielmehr hat er ja die Auseinandersetzungen als Triebkraft politischer Entwicklung begriffen, so jedenfalls explizit in der Geschichte von Florenz (vgl. Istorie). Ordnung wird bei Machiavelli auf zwei Ebenen thematisiert. Zum einen geht es um Strukturen, hier ist er insbesondere ein Denker des modernen institutionellen Flächenstaates, des Nationalstaates. Zum anderen werden bei ihm alle politischen Gebilde mit einem zyklischen geschichtsphilosophischen Modell verknüpft, dessen Stufen Entstehen, Aufblühen und Vergehen sind (vgl. Münkler 1995: 330ff.). Erst die Verknüpfung der Strukturvorstellungen mit dem zyklischen Modell eröffnet den Zugang zum Konzept politischer Ordnung insgesamt. Machiavelli will nicht einfach die Politik aus sich heraus erklären, als besondere Form strategischen Handelns etwa, sondern er will den Wandel der politischen Strukturen im wesentlichen aus ihnen selbst erklären. Dazu schafft er eine Verbindung von Politik und Moral, indem er die Tugenden als politische Tugenden diskutiert. Sein geschichtsphilosophisches Modell schließt den Kreislauf der Verfassungen überhaupt ein, den er in Anlehnung an Polybius denkt, und sucht zugleich den Wandel von Republiken erklären, was ihm besonders wichtig ist. Auch die Republiken erreichen nach ihrer Aufstiegsphase ein Stadium der Saturiertheit, womit der Verfall und die Korruption einsetzen, welche zur Untergrabung der Ordnung und zu ihrer schließlichen Auflösung fuhren.
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Die rhetorische Seite, die der Tyrannisbegriff als ein tradierter Ausdruck der politischen Sprache hat, spielt in den Überlegungen von Strauss keine Rolle, da er ja Rhetorik primär als Kodierungsstrategie philosophischer Texte begreift und sich nicht für den politisch-persuasiven Sprachgebrauch interessiert. Insofern entgeht ihm zwangsläufig, inwieweit der Tyrannisbegriff als tradierte Kategorie des politischen Denkens und der politischen Sprache eine Rolle spielt. In den Discorsi nutzt Machiavelli den Begriff der Tyrannei nicht nur häufig, sondern er grenzt sie von Alleinherrschaft, die gesetzlich gebunden sein kann, und von der zeitweiligen Diktatur ab. Vor allem aber behandelt er Tyrannei als Form von Unfreiheit und Knechtschaft (Discorsi: 173 f.). In der Istorie gibt er oft Auffassungen politischer Akteure wieder, nutzt dabei deren Sprache und demonstriert so die politisch mobilisierende Bedeutung von Freiheit, von einem freien Gemeinwesen, die oft erst durch die Schilderung von Tyrannis und Knechtschaft als ihren Gegenstücken plastisch und als hoher, aber prekärer Wert sichtbar wird. Wenn man einen weiten und weniger normativen Begriff von politischer Ordnung hat, der das Auf und Ab von Staaten, das Angewiesensein von Politik auf bestimmte, nicht einfach reproduzierbare Voraussetzungen wie eben spezifische Sitten und politische Tugenden enthält, dann läßt sich bei Machiavelli ein allgemeiner Gebrauch von Ordnung und Tyrannei als deren Gegenstück finden. Er fragt allerdings, wie Strauss zu Recht festhält, nicht nach der besten Ordnung. Näher kommt man seinem Verständnis durch eine Aufgliederung von Aspekten seines Politikbegriffes. Wiewohl Machiavelli der Politik einen beträchtlichen Handlungsraum zumißt, ist sie erheblichen Limitationen ausgesetzt, die nicht nur ihre Bedingungen und Voraussetzungen betrifft, sondern den Wandel der menschlichen Angelegenheiten. Fortuna spielt auf vielen Ebenen politischen Handelns eine Rolle, von den Staaten und Eliten angefangen bis zum einzelnen. Aber selbst in den Launen der Fortuna vermag Machiavelli Handlungsmöglichkeiten zu entdecken, denn sie ist auch ein Grund für das Auftreten von politischen Chancen und Gelegenheiten. Die Nutzung der „occasione" ist jedoch daran gebunden, daß sie erkannt wird und daß der Akteur über die notwendige Entschlossenheit und Tugend verfügt. Machiavelli hat in seinen dramaturgischen Politikbegriff die Wahrnehmung der Politik durch verschiedene Akteure als konstitutiven Bestandteil mit eingebaut. Wie der Herrscher die Wirkungen seines Tuns zu bedenken hat, Leidenschaftsmanagement betreiben muß, so reagieren politische Eliten und auch das Volk auf das, was sie als wichtig wahrnehmen. Der Politikbegriff bei Machiavelli wird oft, und Strauss ist hier nur ein herausragendes Beispiel, auf den Machtkampf bezogen, er hat jedoch weitere bemerkenswerte Momente. Sein zentraler Bezug sind der Krieg und die Diplomatie, beide Aspekte sind wichtig, es geht jeweils um Macht und Handlungsstrategien. Für den strategischen Aspekt des Handelns hat Ernst Cassirer die Metapher der Schachpartie verwandt und betont, es gehe Machiavelli um das Verstehen der Regeln des „Spieles" und nicht um ihre Veränderung (Cassirer 1988: 188). Das ist eine treffende Charakteristik, die Metapher drängt allerdings die dramaturgische Seite politischen Handelns, d.h. die Seite der auf Wirkung bedachten Inszenierung, die Machiavelli ebenfalls interessiert, in den Hintergrund. Über diese beiden Seiten des Handelns hinaus ist das Politikverständnis sehr stark auf Entscheidungen und Institutionen bezogen. Der dezisionistische Zug bei Ma-
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chiavelli beruht bekanntlich auf einer antithetischen Entweder-Oder-Logik. Sie liegt auch der expliziten Ablehnung des Mittelweges in der Politik zugrunde. Diese Ablehnung heißt aber bei dem politischen Denken von Machiavelli, welches Handlungsalternativen kasuistisch entwickelt und diskutiert, keineswegs, daß nicht auch aus Klugheitsgründen gelegentlich für Mäßigung und den Mittelweg plädiert werden kann. Gerade das von Machiavelli geforderte notwendige Leidenschaftsmanagement von Politikern ist eine Quelle für Mäßigung im politischen Handeln. Die institutionalistische Seite, die dieses Politikverständnis hat, ist ausdrücklich kreativistisch, geht es Machiavelli doch darum, mit Rekurs auf die Antike neue Institutionen zu schaffen. Dafür reflektiert er ausdrücklich die verschiedenen notwendigen Ressourcen, die für ihre Schaffung und ihren Erhalt notwendig sind. Die Annahme, daß politische Gebilde letztlich wieder zerfallen, ist eine metahistorische Regel, die sich auf alle Institutionen bezieht, da sie auf die Dauer gesehen, alle einer Auszehrung ihrer soziomoralischen Ressourcen und der Korruption anheimfallen. Der Republikaner Machiavelli denkt hier insbesondere an Tugenden, Gemeinwohlorientierungen und Bürgersinn, die in Zeiten der Prosperität verfallen und in ihr Gegenteil verkehrt würden. Der Mensch, bei Machiavelli sowieso nicht als gut, sondern als ein problematisches Wesen unterstellt, wird also nur zeitweilig bzw. mittelfristig in bestimmten institutionellen Kontexten zum aktiven Bürger, langfristig und dauerhaft ist dieses Engagement, auf dem gerade republikanische Institutionen beruhen, nicht anzunehmen. Strauss begreift Politik als doppelt eingegrenzt, nämlich durch das Vorpolitische („pre or sub-political"; TM: 290), das sind anthropologische Voraussetzungen, Moral, der sittliche Zustand eines Volkes, seine Religiosität, und zum anderen durch das Überpolitische („supra-political"; TM: 295). Dazu gehören etwa religiöse Ideen von Transzendenz oder auch kosmologische Vorstellungen und philosophische Ideen, wie etwa die Vita activa. Nur durch diese doppelte Eingrenzung, die Strauss von Piaton herleitet, sei das eigentlich Politische zu begreifen. Machiavelli aber kenne keine überpolitischen Orientierungen, thematisiere vorpolitische Ressourcen wie moralische Werte nur als republikanische und substituiere die eigentlich moralischen Fragen durch politische (TM: 257). Damit vollzieht er zwei Veränderungen. Er senkt das Ziel politischen Denkens ab, weil es nach dieser Substitution nicht mehr um die beste und mithin moralisch gehaltvollste politische Ordnung gehen kann; zugleich werden die eigentlich moralischen Fragen aus dem Bereich des Politischen eskamotiert. In der Politik gehe es um Erfolg, um große Ziele, wie man sie strategisch erreichen und auf Dauer stellen kann, und nicht um Moral, denn eine Vielzahl von Zielen lassen sich, wie Machiavelli mit Beispielen aus der Innen- und Außenpolitik belegt, oft nur mit Mitteln erreichen, die moralisch nicht einfach gerechtfertigt werden können. Strauss verfehlt damit die normativen Orientierungen von Machiavelli als einem republikanischen Denker. Wenn er Machiavelli als Machtpolitiker und Theoretiker faßt, der die Selbstermächtigung des Menschen denkt, so hält er die Grenzen, die dabei von Machiavelli gezogen wurden, in zu geringem Ausmaß fest. Das gilt schon für die Begrenzung menschlichen Tuns durch die große Macht der Fortuna. Die generelle republikanische Orientierung ist darüber hinaus auf spezifische Weise mit der Kreislaufvorstellung der politischen Verfassungen verbunden, die wiederum den Rahmen menschlichen
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Handelns limitiert. Je nach dem Zustand der soziomoralischen Ressourcen (Tugenden, Sitten) schlägt Machiavelli divergierende Politiken vor. Ein korruptes Volk könne nicht durch eine Republik, sondern nur durch Diktatur eine gefestigte politische Ordnung bekommen, die auch eine partielle Regeneration von Tugenden ermöglichen kann. Sind dagegen die Tugenden entwickelt, so ist die Republik die geeignete Form. Machiavelli verknüpft den Kreislauf der Verfassungen mit dem Auf und Ab der soziomoralischen Grundlagen politischer Ordnung, d.h. eine erfolgreiche Republik untergräbt sich mit ihrem Erfolg selbst und bereitet durch den Erfolg die Saturiertheit und Korruption vor, die dann längerfristig zum Wandel dieser politischen Form fuhren. Strauss sieht all diese Überlegungen, soweit er sie überhaupt anerkennt, allerdings nicht als Eingrenzungen an, sondern als Aufwertung der Geschichte und des Zufalls. Wie Strauss immer wieder betont, müsse eine gehaltvolle politische Philosophie vor allem um die Frage der guten Ordnung und der Tugenden zentriert sein, wobei letztere die subjektive Seite der Ordnung bilden. Strauss' Ziel ist es zu erklären, wie Machiavelli mit der klassischen Tugendlehre bricht, daß er den Tugendbegriff durch Bezug auf den Erfolg entnormativiert und auch von dieser Seite gedanklich tyrannischer Machtpolitik Tür und Tor öffnet. Ein Verständnis und eine Prüfung dieser harten Vorwürfe setzt einen genaueren Blick auf den Tugendbegriff voraus. Unter dem Titel Tugend werden primär in klassisch-antiken und an sie anschließenden Theorien in der Regel verschiedene Probleme diskutiert, die man analytisch wie folgt unterschieden kann: Zum einen geht es um die Dispositionen und subjektiven Ressourcen von Akteuren; tugendhaftes Handeln setzt eine bestimmte charakterliche bzw. seelische Verfaßtheit des Individuums und ein bestimmtes Wissen, bestimmte Fertigkeiten und Fähigkeiten voraus. Zum anderen werden Werte bzw. Wertorientierungen thematisiert, die auf eine Regulierung privater Interessen und Leidenschaften zielen. Schließlich bedeutet Tugend eine Qualität des Handelns, worauf Tüchtigkeit als Synonym ebenso hinweist wie Weisheit, Besonnenheit und Tapferkeit. In normativen Theorien sind diese Aspekte selten deutlich geschieden. Hinzu kommt ein weiterer Mangel, nämlich eine fehlende Unterscheidung zwischen dem allgemeinen, meist moralphilosophischen Tugendbegriff und einem politischen Tugendbegriff. Während ersterer die Vielfalt moralischer Probleme bis hin zu seelischen Fragen im engeren Sinn einbegreift, ist letzterer enger auf eine Handlungssphäre bezogen und dafür in der Regel mit dem Begriff des Bürgers und Fragen des Gemeinwohls verknüpft (vgl. Münkler 1991a: 384f.). Tugend ist zudem wesentlich mit der politischen Ordnung verbunden. Auch hier kann man analytisch verschiedene Aspekte unterscheiden, die Handlungsdispositionen und Wertorientierungen können als sozio-moralische Ressourcen politischen Handelns begriffen werden; zu den Bedingungen von tugendhaftem Handeln im politischen Sinne gehören Sitten und Institutionen, also bestimmte strukturelle Elemente politischer Ordnung. Das als tugendhaft qualitativ ausgezeichnete Handeln selbst fungiert als Norm, an der das Tun des einzelnen und der Gemeinschaft ausgerichtet sein sollen. Es ist damit auch ein Maß für den Verfall, das Ausmaß von Korruption einer politischer Ordnung und einer Regeneration der Ordnung. Dabei ist es gleichgültig, ob der Tugendbegriff, die damit verbundene Vorstellung vom Bürger und von politischer Ordnung stark oder schwach normativ aufgeladen sind.
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Nur durch seine qualitativen Bestimmungen kann der Begriff krisendiagnostisch und therapeutisch eingesetzt werden. Das Spektrum von Themen, das mit dem politischen Tugendbegriff verbunden ist, kann man in moderner Terminologie dem Gebiet der politischen Kultur zuweisen. Die für den Tugenddiskurs charakteristische Ablehnung der Fortschrittsidee und die Präferenz für zyklische Geschichtsmodelle ist mit einem Pessimismus hinsichtlich der Stabilität der politischer Ordnung und tugendhaften Handelns verbunden, der nicht nur darauf verweist, wie prekär der Bestand von politischer Kultur ist, sondern auch, wie voraussetzungsvoll ihre Regeneration und erst recht ihre Erzeugung ist. Indes, wenn Tugenden klassisch zur Regulierung von Leidenschaften gedacht wurden, impliziert die Annahme ihrer passageren Existenz keinen völligen Pessimismus. Obgleich die Leidenschaften und insbesondere das Überhandnehmen privater Leidenschaften für eine Ordnung destruktiv sein können, denkt sie Machiavelli nicht nur negativ. Wie das Beispiel des Patriotismus zeigt, den er als eine gemeinwohl-orientierte Leidenschaft begreift, kann Leidenschaft auch positiv für Politik in Anspruch genommen werden. Schon durch diesen ergänzenden Blickwinkel erweitert Machiavelli das klassische Muster ethischer Hegung von Leidenschaften, und zwar insbesondere mit Bezug auf die Schaffung und den Erhalt einer politischen Ordnung. Auch Strauss diskutiert die Bedingungen der Möglichkeit von guter politischer Ordnung, wobei die Tugenden als subjektive Ermöglichungsbedingungen durchaus zentral sind. Aber die Erzeugung einer politischen Ordnung, wie sie Machiavelli interessiert, ist bei dem hohen, rein normativen Reflexionsniveau seines zetetischen politischen Denkens kein Gegenstand. Vielmehr ist für sein politisches Philosophieren charakteristisch, daß er analytische Unterscheidungen häufig gar nicht anzielt, sondern die Probleme komplex lassen will, womit von vornherein eine ganze Reihe wichtiger Fragen ausgespart bleiben. Für die nähere Betrachtung seiner Deutung von Machiavellis Bruch mit den überkommenen Tugendlehren sind ideengeschichtliche Differenzierungen notwendig. Der entscheidende Punkt in der Sicht von Strauss ist der Bruch mit dem Tugendkonzept der klassischen politischen Philosophie von Piaton und Aristoteles, den Machiavelli durch die Abwendung von Sollensfragen, nämlich der Frage der besten Ordnung vollzieht. Er vollführe eine Wendung zum Sein, d.h. zur Untersuchung verschiedener empirisch vorfindlicher Ordnungen. Strauss stellt hier die griechischen Klassiker in den Mittelpunkt, weniger die wirksamen römischen Theoretiker wie Cicero. Noch weniger berücksichtigt er die in der frühen Neuzeit wirksamen Denker des Humanismus, von denen sich Machiavelli absetzt. So fallt der Bruch Machiavellis weit epochaler aus. Für die Wendung vom Sollen zum Sein macht Strauss die ethische Neutralität von Machiavelli verantwortlich. Er würde alle Arten von Politikern beraten und mache keine Unterschiede zwischen den verschiedenen Ordnungen. Mit dieser Argumentation verwickelt sich Strauss aber in einen Widerspruch, denn er wirft ja Machiavelli selbst vor, Künder einer neuen Moral zu sein, und er kennt die in den Discorsi vortretende Präferenz für die Republik. Was ihn stört, fallt am Tugendbegriff besonders auf: Er würde normativ verkürzt, denn Machiavelli klammere alle inhaltlichmoralischen Bestimmungen der Tugenden aus und verbinde sie mit dem politischen Erfolg. In der Konkretisierung klassisch-humanistischer Auffassung zu einem Begriff
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politischer Tugend sieht Strauss einen Verfall des politischen Denkens. Er kann diesen Verfall so generell nur fassen, weil er von der Prämisse aus argumentiert, daß Principe und Discorsi die gleiche Lehre enthalten, und zwar als ganze. Die Behauptung, die Tugenden hätten bei Machiavelli nichts mit dem Gemeinwohl zu tun, zieht er aus dem Principe, in dem der Begriff des Gemeinwohls fehlt. In den Discorsi dagegen spielt das Gemeinwohl als Begriff durchaus eine Rolle, und zwar schon eingangs des ersten Buches, wenn sich Machiavelli als ein dem Gemeinwohl verpflichteter Autor präsentiert oder wenn er betont, daß die legendären Gründungsfiguren wie Moses, Lykurg und Solon ihre Gesetzgebung im Sinne des Gemeinwohls unternahmen (Discorsi: 4, 37). Was Machiavelli kennzeichnet, ist, daß er das Gemeinwohl nicht als ethisch und inhaltlich bestimmt ausgibt und es zudem nicht primär als Bezugspunkt unmittelbaren Handelns, sondern als Orientierung für strategisch-langfristiges Handeln begreift. Insofern gibt es auch eine Verknüpfung zwischen den Tugenden politischer Akteure und dem Gemeinwohl, weshalb Machiavelli verallgemeinernd behaupten kann: ,,[D]as Gemeinwohl ist es, was die Größe der Staaten ausmacht" (Discorsi: 169). Der Tugendbegriff bei Machiavelli ist - wie Strauss zu Recht bemerkt - auf neuartige Weise anthropologisch fundiert. Er gründet nämlich auf dem Konzept der Willensfreiheit, erst dadurch kann die Spannung zwischen den Fähigkeiten zum Handeln und den weitgehend dem Einfluß des Individuums entzogenen Chancen dazu aufgemacht werden. Der Kreislauf der Verfassungen, die besonderen Bedingungen und überhaupt die Launen der Fortuna bestimmen die Verteilung von Chancen und Gelegenheiten. Für die politischen Akteure kommt alles darauf an, Chancen als solche zu erkennen und strategisch zu nutzen. Hier erkennt Strauss zwei Motive, die für ihn beide eine dramatische Abwendung vom ganzheitlichen Ordnungsdenken darstellen: Zugleich mit einem ersten Entwurf des liberalen Chancen- und Freiheitsmodells wird der Stellenwert des Individuums und der Subjektivität durch eine enorme Ausweitung seines Spielraumes völlig verändert. Statt Weisheit und Besonnenheit werde die maximale Ausnutzung der sich bietenden Möglichkeiten propagiert, und zwar primär im Interesse individuellen Nutzens. Dem tragenden Gegensatz von virtù und fortuna - einem Gegensatzpaar, das für die in der Frühen Neuzeit entstehende offene moderne Gesellschaft und ihre politische Semantik als geeignet erscheint - wird auch von Strauss doppelte Wirkungsmächtigkeit zugeschrieben, nämlich im Sinne eines Verfalls theoretischen Reflexionsniveaus und als Vokabular einer dynamischen Gesellschaft, die ihre Zielsetzungen über rastlosem Tun vergißt. Machiavellis Unterscheidung von Tugend und Gutsein (Goodness) ist für Strauss problematisch, da ihr Ziel sei, politische von moralischer Tugend abzuheben, wobei das bloße Gutsein gerade nicht immer mit dem Gemeinwohl (common good) verbunden sein muß, wie es für die Tugend nötig ist (TM: 257). Wo sich Machiavelli von den antiken Konzepten und den in seiner Zeit verbreiteten humanistischen Vorstellungen abwendet, erkennt Strauss nur Verfall und problematische Einsichten. In seinem Bestreben, den Bruch mit der klassischen Philosophie von Piaton und Aristoteles herauszukehren, vernachlässigt Strauss dabei sogar die offensichtlichen römischen Einflüsse. Das betrifft nicht nur die Unterschätzung von Cicero, der an Einfluß höher als
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Xenophon veranschlagt werden kann (vgl. dazu Skinner 1988: 63) 95 , sondern auch die spezifisch römische Fassung von Tugend, die im Begriff der virtù gebündelt ist. Virtù ist bei Machiavelli primär Kraft, eine Haltung und Einstellung von Akteuren, die für politisches Handeln generell, insbesondere aber für Institutionen wichtig ist. Durch die virtù erst können Institutionen geschaffen werden. Die Kraft und Virtuosität des Handelns, das moralisch-politische Engagement können jedoch generell und insbesondere in republikanischen Institutionen nicht einfach bewahrt werden (vgl. Münkler 1994: 99). Der Verlust des überschüssigen Impulses ist der Keim der Aushöhlung und des zwangsläufigen Verfalls der Institutionen, welcher dem Kreislauf der Verfassungen zugrunde liegt. Kommt man noch einmal auf die Unterscheidung von Tugenden als Handlungsdispositionen, als Orientierungen an Werten und als eine bestimmte Qualität des Handelns zurück, so lassen sich Machiavellis Akzente deutlich beschreiben. Er bestimmt die virtù in erster Linie als disponible Kraft, etwas zu tun, in zweiter Linie interessiert die Qualität des Handelns, deren zentrales Kriterium der Erfolg ist, schließlich spielt die Orientierung an Werten eine Rolle. Durch die Verbindung von Tugend und Institutionen bekommt nicht nur die Dauerhaftigkeit der Tugenden und der Ordnung einen höheren Stellenwert, die Tugenden werden viel weniger als im klassisch-antiken Muster nur für sich genommen betrachtet. Dieses Konzept der Tugenden stellt eine Neubestimmung dar, und gleich ob man es positiv als neuen, realistischeren Ansatz in der politischen Theorie oder als Verfall faßt, es handelt sich um eine wesentliche Versschiebung der Akzente. Den Vorwurf einer mangelhaften Unterscheidung von virtù als moralischer Tugend und virtù als politischer Tugend bei Machiavelli spitzt Strauss wie folgt zu: „virtù is for Machiavelli a term of deliberate ambiguity" (1953b: 443f.). Man kann diesen Befund, wenn nicht die begriffliche Genauigkeit im Zentrum steht, auch so interpretieren, daß Machiavelli als eher problemorientierter Denker diesen Unterschied zwar kannte und nutzte, aber nicht begrifflich ausgeprägt hat (vgl. Münkler 1994: 98f.). So gelesen, lassen sich statt Inkonsistenzen verschiedene Aspekte unterscheiden und für sich genommen betrachten. Strauss findet für den Bruch in der politischen Philosophie, den Machiavelli aus seiner Sicht vollzieht, keine eigene Terminologie, um das Neue, das damit verbunden ist, zu beschreiben. Er kann jenseits der Polemik und verurteilender Vorwürfe nicht fixieren, was es heißt, in einem nicht substantialistischen Sinn auf Tugenden zu rekurrieren. Bei Machiavelli geht es um Leidenschaftsmanagement, um die erfolgversprechende Inszenierung von Politik, und er hat, was Strauss nicht besonders beachtet, einen weiten Rationalitätsbegriff, der die Vernunft und die Tugenden als Vermögen zur Regulierung von Leidenschaften begreift, ohne die durch Politik entfachbaren Leidenschaften ausschalten zu wollen. Damit ändert sich auch die Blickrichtung. Will Xenophons Hieron als Tyrann geliebt werden, so denkt Machiavelli das Problem anders, denn er ordnet die Frage nach dem Befinden des Herrschers der Stabilität und dem Erfolg seines Handelns unter. Es sei für den Fürsten und die Herrscher überhaupt gut, sowohl geliebt als ge95
In seiner Interpretation des Principe betont Skinner (vgl. 1990 Kap. 15-19), daß Machiavelli sich für ein andere, neue Moral einsetzt (ebd.: 135) und hält fest, Machiavelli sei kein Lehrer des Bösen (ebd.: 137f.).
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furchtet zu werden, besser sei es aber, im Zweifelsfalle nur gefürchtet zu werden. Damit sind die überkommenen Doktrin, in denen ethische Gesichtspunkte meist dominieren, wie es etwa für Cicero typisch ist, umgekehrt worden. Die normativen Fragen werden dem Problem der Gründung und des Erhaltes politischer Gebilde untergeordnet, dabei zähle nicht einfach der Erfolg und die kluge Strategie, sondern ebensosehr die richtige Inszenierung der Politik. Aus dem einfachen gegensätzlichen Zusammenhang von Tugenden und Leidenschaften ist ein komplexer und vermittelter geworden. Von seinem neuen Ansatz her kann Machiavelli die strategisch-kalkulatorische und die dramaturgische Seite von Politik zusammenbringen und zeigen, daß Politik nicht jenseits ihrer Perzeption durch Akteure zu begreifen ist. Ich will diesen Gedanken mit Blick auf das 19. Kapitel im Principe verdeutlichen. Es ist ein verhältnismäßig langes Kapitel, in dem erklärt wird, warum für den Fürsten, für den Herrscher Verachtung und Haß zu vermeiden sind, wobei die Perspektive der Herrscher und die des Volkes als verschieden für die Wahrnehmung von Politik unterstellt werden. Das Management der Leidenschaften ist in zweierlei Hinsicht für den Herrscher nötig, es betrifft sowohl sein eigenes Verhalten und Handeln als auch die Wahrnehmung dieses Handelns durch die anderen Akteure. In dieser Perspektive kann man den später von David Hume formulierten Grundsatz, „on opinion only [...] government is founded" (Hume 1987: 32) bei Machiavelli vorbereitet sehen. Machiavelli kann, wie bereits angedeutet, wegen seiner breiten Auffassung von Politik und Rationalität auch den Patriotismus als eine sinnvolle politische Leidenschaft deuten, die auf Identifikation mit dem Gemeinwesen beruht, und muß ihn nicht, wie viel andere Theoretiker, als irrationale Leidenschaft abtun (vgl. Münkler 1991b). Für das Problem politischer Ordnung ist bei Machiavelli die Religion eine wichtige Ressource. Strauss behandelt die damit verbundenen Fragen sehr polemisch, so daß Nähen zwischen beiden Autoren erst auf den zweiten Blick hervortreten. So argumentiert nicht nur Machiavelli kausal-funktional, wenn er die Bedeutung und den Nutzen der römischen Religion darstellt und wenn er darauf verweist, daß der Politiker die Bindung an die Religion fordern und nutzen muß, gleich ob er an sie glaubt oder nicht (Principe, Kap. 12). Auf seine Weise deutet auch Strauss als Philosoph die Religion nach ihrer Funktion, etwa wenn er ein Leben nach der Bibel für all jene vielen, die nicht zu selbständiger, von skeptischer Vernunft geleiteter Lebensführung imstande sind, für angemessen hält. Religion wird bei Strauss als gesellschaftlicher Integrationsfaktor begriffen und als Ressource, durch die eine Einhegung von Politik möglich ist. Machiavelli und Strauss setzen auch beide auf eine Staatsreligion. Jenseits dieser Gemeinsamkeiten liegen jedoch erhebliche Differenzen. Was Strauss an Machiavelli als Blasphemie kritisiert, ist nicht nur die Selbsterhebung zu einem neuen Gesetzgeber und Propheten, sondern daß es keine durch Heiliges und Unantastbares gezogenen Grenzen bei ihm gibt. Ein Philosoph kann zwar solch eine Position vertreten, aber sie darf nach Strauss nicht als politische Maxime propagiert werden, da sie destruktiv für die politische Ordnung ist und gegen die Philosophie ins Feld geführt werden kann. Auch die Verankerung von Religion und Politik in einem größeren, metaphysisch-kosmologischen Weltbild scheint Strauss nötig, sie scheint in der zur Formel zugespitzten Kritik auf, bei Machiavelli gelte: Deus sive fortuna (HPP: 311, TM: 214).
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Machiavellis Anerkennung von Zufällen und Kontingenz lehnt Strauss, nachdem er sie überhöht hat, als geschichtsphilosophische Konstruktion und als säkularisierte Gottesvorstellung ab. Allerdings wird Machiavelli nicht als Atheist gedeutet, sondern in die Tradition von Averroes eingereiht, der die Philosophie über die Religion stellte und als höhere Erkenntnisform begriff. Zudem fasse er im Anschluß an Aristoteles Gott nur als letzte Ursache, und zu berücksichtigen sei, daß es sich bei den Averroisten um solche Personen handele, die sich nicht nur über die gewöhnliche Religion erheben, sondern auch über den gewöhnlichen Paganismus, da all dies nichts als Mythen seien (TM: 175). Generell kritisiert Strauss an Machiavelli, daß er die Religion säkularisiert begreife und sie nichts mehr mit Transzendenz zu tun habe. Wenn Machiavelli beobachtet, wie dem zeitgenössischen Prediger Savonarola von seinen Hörern und der Menge der Status des Propheten wirksam zugeschrieben wird, und er diesen Vorgang beschreibt (Principe, Kap. 12), so ist für Strauss dies gerade nicht eine Beschreibung, sondern Blasphemie; er erkennt hier nämlich eine Spiegelung von Machiavelli, den er ja als einen sich selbst ermächtigenden Propheten faßt. Ein weiterer problematischer Punkt von Strauss' Machiavelli-Interpretation ist seine zu enge Deutung von Machiavelli als Weichensteller der Geistesgeschichte. Es geht nämlich bei dem in der italienischen Renaissance erfolgenden Paradigmenwechsel nicht nur um eine neue Auffassung von der Politik, sondern um eine andere Art von Wissenschaft überhaupt, nämlich um eine Wissenschaft, die das Wie, die Technik mehr untersucht als das Warum. Deshalb ist Machiavelli oft auch als Vorbereiter von Galilei verstanden worden (ebd.: 171 f.). An sich ist dieser Paradigmenwechsel für Strauss auch ein wichtiger Punkt, aber er geht wissenschaftsgeschichtlich nie näher darauf ein, da er gerade nicht historisch argumentieren will. Dennoch wäre so eine Validierung seiner bloß geistesgeschichtlichen Thesen möglich, die zunächst nur in die Breite der Wissenschaften überhaupt geöffnet werden müßte. Auch die Aufwertung der Geschichte, die als ein Auftakt zum Historismus verstanden werden kann, berührt Strauss nicht, aber sie liegt seiner Kritik zugrunde. Wichtiger für ihn ist es, Machiavelli der historistischen Interpretationstradition zu entreißen, und in diesem Sinne entwickelt er seine tiefenhermeneutische Interpretation, die eine Restitution der alten Auffassung von Machiavelli als Lehrer des Bösen ist. Damit gehen aber zwei große Defizite einher: Zum einen koppelte Strauss Machiavelli ganz von der Krise der Stadt Florenz ab, die ein zentraler Bezugspunkt für ihn war, d.h. er vernachlässigt jene wichtige Seite reflexiven Einbettens politischen Denkens, die einen politischen Theoretiker wie Machiavelli auszeichnet, der politisch intervenieren will und Krisen auch als Chancen deutet. Machiavelli zum Propheten einer neuen Ordnung zu machen heißt, ihn für seine Zeit zu entschärfen und als Denker zu lesen, der mehr auf die Zukunft setzt. Zum anderen spart Strauss bei der Erneuerung der Lesart von Machiavelli als Lehrer des Bösen aus, was im 16. Jahrhundert und später immer klar war, nämlich den neuen historischen Bezugspunkt, auf den hin Machiavelli denkt, nämlich den sich entwickelnden modernen Staat und die Staatsräson als einen zentralen Begriff. Dieser Zusammenhang spielt wegen der obsessiven Ablehnung alles bloß historischen Denkens als eines relativistischen Historismus
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kaum eine Rolle. Im engeren Sinne politische Fragen werden durch die generelle Verwandlung von Machiavelli in einen Philosophen weitgehend ausgeklammert.
5.3.4 Wirkungsgeschichte des Machiavelli-Buches In der Weimarer Zeit - erinnert sei hier nochmals an Autoren wie Friedrich Meinecke, Gerhard Ritter und auch Max Weber, aber auch Hans Freyer und Carl Schmitt - spielte Machiavelli im deutschen politischen Denken eine wesentliche Rolle. Während einige Autoren stärker Machiavellis Ambivalenz, die Dämonie der Macht herausarbeiten, läßt sich für Freyer und auch Schmitt festhalten, daß sie Bewunderer „realistischer" Machtpolitik sind. Diese gegensätzliche Konstellation bildet einen Hintergrund, vor dem später im amerikanischen Exil eine intensive Auseinandersetzung um Machiavelli und den Totalitarismus geführt wird, in der Autoren wie Ernst Cassirer, Hans Baron, Felix Gilbert, Hannah Arendt und Eric Voegelin ihre Positionen entwickeln. Mit der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland und den breiten Debatten über den Totalitarismus wurde - wie bereits gezeigt - Machiavelli für viele Autoren noch wichtiger. Beide Kontexte sind auch für die Wirkungsgeschichte von Strauss' Machaivelli-Buch relevant. Strauss setzt sich von den Totalitarismustheoretikern ab; er sieht in Machiavelli gleichsam ihren ersten Repräsentanten, und eben nicht wie in republikanischer Lesart einen Denker der Freiheit. Man darf darüber hinaus jedoch nicht übersehen, daß es für diese Debatten auch einen eigenen amerikanischen historisch-politischen Kontext gab, der sich anhand von drei Beispielen knapp verdeutlichen läßt. So thematisiert James Burnham auf einflußreiche Weise die Machiavellisten als Verteidiger der Freiheit (1943, dt. 1949), und zwar mit innenpolitischer Relevanz, indem er gegen Gesinnungsdemokraten einen Primat der Resultate hervorkehrt und betont, nur Macht könne Macht in Grenzen halten. Der deutsche Emigrant Hans Morgenthau argumentiert zu einem wesentlichen Teil und in exemplarischer Weise bezogen auf die Außenpolitik ähnlich. Morgenthau arbeitete zu Beginn der 1940er Jahre den realistischen Ansatz der internationalen Beziehungen aus, der bald in der amerikanischen Politikwissenschaft und Politik dominierend wurde (Morgenthau 1943, vgl. Söllner 1996b: 146ff). Thema der Debatten, für die Burnham und Morgenthau hier stellvertretend stehen, ist die Frage nach dem Charakter von Politik in der Moderne, ob sie sich im Machtkampf erschöpft und ob Moral wie Religion nur Ressourcen für diesen Machtkampf sind. Die Schlacht um den Ahnen dieser falschen oder richtigen Politikauffassung hatte eminente politische Bedeutung nicht nur für eine Form von Traditionsbegründung im politischen Denken, sondern auch für die Frage, welche Politik gegenüber dem Nationalsozialismus und Nachkriegsdeutschland sowie in der Zeit des Kalten Krieges zu wählen sei. Wenn man diese Perspektive einnimmt, muß man die scharfe Unterscheidung von Innen- und Außenpolitik bei Strauss in Rechnung stellen. Für die Innenpolitik lehnt er machiavellistische Prinzipien ab, nach außen aber erkennt er sie an. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, daß sich Hans Morgenthau, der Begründer der realistischen Schule, einmal beim Chicagoer Kollegen Strauss für Hinweise bedankt, die er von ihm für eine Zusammenfassung der Prinzipien
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des „realistischen Konzeptes" bekam. 96 Schließlich ist zu erwähnen, daß Machiavelli für den sich formierenden Neokonservatismus der späten 1940er und 50er Jahre, der sich als politisch-moralische Erneuerungsbewegung verstand, einen wichtigen Stein des Anstoßes bildete (Kristol 1995: 151 ff.). Für Irving Kristol ist Machiavelli nämlich ein Beispiel amoralischer Politik, dem man vermittels der Kritik von Strauss und dessen Plädoyer für Piaton entgegentreten kann. Am Ende seines Machiavelli-Buches kommt Strauss selbst auf den Konservatismus zu sprechen und betont, seine Lesart würde zu Recht als konservativ angesehen werden, aber sie sei nicht in dem Sinne konservativ, wie er seinerzeit in den USA üblich war, weil er dem prinzipiellen Fortschrittsoptimismus, dem Vertrauen in Technik und Wissenschaft abhold sei. Vielmehr denke er wie die antiken Philosophen, für sie sei technischer Fortschritt nicht wesentlich; und wenn technischer Fortschritt berücksichtigt wird, erscheint er zunächst als problematisch und es sei zu prüfen, ob er zur jeweiligen bzw. zur jeweils gewünschten politischen Ordnung paßt. Nur in diesem fundamentaleren antiken Sinne sei sein Denken konservativ (TM: 298). Strauss' Machiavelli-Buch hat rasch Aufmerksamkeit auf sich gezogen, wie einige Rezensionen zeigen, und es hat kontroverse Diskussionen evoziert. Bei den Rezensionen stehen sich am Anfang einfach ein Pro und Contra gegenüber. So teilt Willmoore Kendall alle Machiavelli-Literatur in solche vor Strauss und die danach ein, während Felix Gilbert, ein ausgewiesener Machiavelli-Forscher, Strauss' Interpretation als zu künstlich und willkürlich ansieht. 97 Eine Debatte um die Deutung von Strauss wird erst durch die Auslegung von Harvey Mansfield entfacht. Dieser Strauss-Schüler ruft 1975 eine Polemik von John Pocock hervor, deren Gegenstand nur teilweise die Sicht von Strauss ist, mindestens genauso stark ist das Thema, wie „Straussians" mit den Arbeiten ihres Meisters umgehen. 98 Strauss' Buch wird darüber hinaus in den theoriegeschichtlichen Arbeiten häufig als Repräsentant einer sehr spezifischen Position zu Machiavelli erwähnt, aber außer bei Lefort findet er in der Literatur keine besondere Resonanz. Anders sieht es in den Arbeiten zu Strauss und zur Entwicklung seiner Auffassungen aus, da spielt dieses Buch zu Recht eine große Rolle als exemplarische Anwendung seiner Methodik. Es wurde allerdings kaum wie hier in den Kontext der Debatte um den Totalitarismus gestellt, einer Debatte, in der es um das Verständnis des Nationalsozialismus und des Kommu96
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Vgl. Morgenthau (1955: IX). Er formuliert auch: „International politics would be governed exclusively by those considerations of political expediency of which Machiavelli has given the most acute and candid account." (ebd.: 205) Morgenthaus Realismus zielt freilich nicht auf reine Machtpolitik, sondern wird durch anthropologische und normative Annahmen gemäßigt. Zu Morgenthau vgl. Söllner (1995). Zu Strauss' Buch erschienen zahlreiche Rezensionen, von denen viele wohlwollend kritisch sind; Butterfield (1960); McShea (1963); Hallowell (1959). Zu Kendalls Unterscheidung der Machiavelli-Literatur vgl. ders. 1966: 245. Kritisch äußert sich Gilbert (1959). Er folgert: „Mr. Strauss's method o f interpretation appears to me so artificial and arbitrary that enables anyone to prove anything he wants to" (p. 468). Germino (1966) steht Strauss wiederum positiv gegenüber und betont allerdings, das Rätsel Machiavelli bleibe auch nach seinem Buch bestehen. Die Debatte zwischen Mansfield und Pocock - in Political Theory 3 (1975) 4 - hatte sich an der Frage entzündet, inwieweit Strauss' Buch vorbildlich und unübertroffen ist.
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nismus ging. Strauss setzt sich von dem Totalitarismuskonzept ab, das Wertfreiheit in Anspruch nahm, die es für ihn nicht gibt. Er kritisiert kaum die liberalen normativen Prämissen, die in diesen Ansatz eingeschrieben sind, sondern erklärt, man müsse zum Konzept der Tyrannis als einem dezidiert wertenden Begriff zurückkommen. Das ist schon insofern verwunderlich, als die Totalitarismustheorie in den 1950er Jahren enorm moralisch aufgeladen wurde (vgl. Schlangen 1972: 164). Diesen normativ-moralischen Anspruch mit dem Konzept von Tyrannis überbieten zu wollen, ist problematisch, da schon in Totalitarismuskonzepten die prekäre Balance zwischen wissenschaftlicher und ideologischer Dimension zu tarieren ist. Das Übertreffen des Anspruchs bei Strauss zielt nicht nur auf die politisch-normative Seite (worunter auch die Nutzung von Totalitarismus als Kampfbegriff fallt), sondern eben auch auf die Seite der Wissenschaftlichkeit. Totalitarismus als Konzept zielt auf eine Überwindung der klassischen Staats- und Regierungsformenlehre; genau deren Aufrechterhaltung ist aber das Ziel von Strauss. Fragt man sich nun, was mit Tyrannis bei Strauss genau gemeint ist, so kommt man über allgemeine Bestimmungen dieses Gegenbegriffes zu dem der guten Ordnung kaum hinaus. Der normative und transhistorische Begriff bleibt seltsam unterbestimmt. Das ist durchaus typisch für das politische Philosophieren von Strauss, welches keine politikwissenschaftlich deskriptive Ausrichtung hat, sondern Grundprobleme erörtert. In gewisser Hinsicht ist es gar nicht sinnvoll, nach Genauigkeit zu suchen, denn je präziser man fragt, desto mehr verschwimmen die Konturen des allgemeinen Gegenbegriffes, der essentialistisch und transhistorisch konzipiert ist. Insofern nimmt Strauss innerhalb der Debatte um den Totalitarismus eine exzentrische Position ein, die den Fragehorizont der klassischen politischen Philosophie wahren will, aber sich weigert, ihn anzuwenden. Insgesamt gesehen stellt die Thematisierung von Ordnung und Tyrannis durch Strauss als stark normative sowie universelle Gegenbegriffe im Diskurs der Politikwissenschaft und der politischen Philosophie der ersten Nachkriegsjahrzehnte eine Erweiterung des normativen Horizontes dar. Vermittels klassischer Muster wird mit Rekurs auf Xenophon und auf die antike politische Philosophie, mit der Machiavelli brach, das Totalitarismusproblem innerhalb des Gegensatzes von Antike und Moderne erörtert und Totalitarismus als ein scheinbar wertfreier Begriff heftig kritisiert, weil er im Unterschied zu Tyrannis normativ zu schwach sei. Strauss berücksichtigt dabei nur große theoretische Werke und philosophiert auf der Metaebene ewiger Probleme; er verbaut sich damit den Zugang zu genuin modernen Fragestellungen, die in der von ihm kritisierten Totalitarismustheorie aufgeworfen wurden, nämlich Fragen nach den modernen Wissenschaften und ihrer Rolle in der Wirtschaft, Politik, Propaganda und im Krieg bis hin zur Massenvernichtung. Aber anders als Hannah Arendt oder auch Ernst Cassirer, die zur philosophischen Linie der Totalitarismustheorien gehören, lehnt Strauss selbst eine partielle Aufnahme gesellschaftstheoretischer Erklärungen ab, da sie die entscheidende normative Perspektive unterlaufen würden. Dennoch hat Strauss auf seine Weise zur Schärfung des Bewußtseins über den Gegensatz antiker und moderner Begriffe beigetragen, aber dabei nur für die klassischen Begriffe, für deren überzeitliche Geltung plädiert. Ewige Probleme gibt es für ihn in gültiger Fassung seit der Antike. Er unterscheidet sich durch diese Rigorosität von allen
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Formen eines Neohumanismus oder Neoplatonismus bzw. Neoaristotelismus. All diese geistigen Bewegungen gehen nicht weit genug und haben ihren Anker in der Moderne. Zur Verdeutlichung „halbherziger" Rekurse auf die antiken Begriffe kann die Sicht eines gemäßigten Neoaristotelikers wie Dolf Sternberger herangezogen werden. Sternberger erkennt in Machiavelli den Autor, der mit der klassischen Philosophie bricht und im Principe die zweite Wurzel von Politik - die Dämonologie - offengelegt hat. Auch hier wird Machiavellis Leistung in der „Emanzipation des Tyrannen" gesehen (1978: 160). Der neue Fürst, von dem Machiavelli träumt, sei dieser ungebundene Tyrann. Sternberger schreibt jedoch, anders als Strauss, einem modernen Autor zu, ein generelles Problem erst auf den Begriff gebracht zu haben. Der Gegensatz zwischen den antiken und modernen Begriffen hat hier nicht die prinzipielle Natur wie bei Strauss. Um zu zeigen, daß in der Antike alle grundsätzlichen Probleme bereits aufgeworfen wurden, fuhrt Strauss nicht nur Figuren von Piaton (Trasymachos, Kallikes) ins Feld, mit dem Hieron hat er auch als erster ein Werk des Xenophon ins Spiel gebracht, auf das sich Machiavelli mehrfach bezieht. Einen direkten Nachweis des Einflusses von Xenophon bleibt Strauss im Machiavelli-Buch jedoch schuldig. Daß Machiavelli später den wertenden Tyrannisbegriff ganz fallenläßt, bleibt eine Behauptung, die an den stark normativen Begriff von Ordnung bei Strauss gebunden ist. Der weite Begriff von politischer Ordnung, inklusive dessen geschichtsphilosophischer Komponenten, den Machiavelli nutzt, und zu dem Knechtschaft, Unfreiheit und Tyrannei das Gegenstück bilden, bleibt Strauss verschlossen, weil er einseitig am Konzept der besten Ordnung festhält. Beim Problem der Tugenden als subjektiver Seite und Voraussetzung politischer Ordnung hält Strauss komplementär zum Konzept der guten Ordnung am moralphilosophischen Tugendbegriff fest und kritisiert Machiavellis Verwandlung dieses Begriffes in einen genuin politischen Tugendbegriff als Entnormativierung des Problems. Die nach Strauss auf Entnormativierungen beruhende Propagierung von Machtpolitik im eigenen Namen, ohne sich durch literarische Figuren zu schützen, ist jedenfalls eine Neuerung von Machiavelli. Wobei allerdings umstritten bleibt, ob diese Art von Politik amoralisch ist, denn wie gezeigt, lassen sich bei Machiavelli funktionale und normative Argumentationen unterscheiden, und Strauss ist bemüht, sie auseinanderzuhalten. Zudem tritt Machiavelli für eine neue Art von Moral in der Politik ein. Strauss ist, so muß man mit Blick von außen konstatieren, auf bestimmte Weise selbst im Machiavelli-Mythos befangen, was sich vor allem darin äußert, daß er ihn als den Weichensteller der modernen politischen Philosophie maßlos überschätzt. Dieses Problem hat verschiedene Aspekte. Es ist bekannt, daß Machiavelli insbesondere in der deutschen Wirkungsgeschichte erst zu dem stilisiert wurde, was er aus der Sicht vieler moderner Autoren ist - nämlich ein Denker, der dem Machtparadigma zu Durchbruch verhalf (vgl. Meinecke 1924, Ritter 1940). Auch Strauss attestiert ihm letztlich diese Bedeutung, wobei er sich weniger auf die Wirkungsgeschichte bezieht, sondern in Machiavelli den Weichensteller in der geheimen, eigentlichen Geistesgeschichte der politischen Philosophie sieht. Viel wichtiger als die Erklärung des Einflusses ist für Strauss die typologische Gegenüberstellung von vormodernem und modernem Denken. Aber die große Typenbildung hat deutliche Schwächen, denn weder die vormoderne noch die moderne Philosophie läßt sich so einfach auf einen Nenner bringen. Selbst Strauss muß
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T Y R A N N I S ODER TOTALITARISMUS
ja dann Gegenbewegungen innerhalb der Moderne annehmen, die allerdings alle vom modernen Denken infiziert sind. Vor allem klärt Strauss nie auf, in welchem Verhältnis die geistesgeschichtlichen Veränderungen zu den realgeschichtlichen stehen. Man könnte sagen, dies fallt von vornherein aus seinen Überlegungen heraus, aber es gibt eine Reihe von Hinweisen, die allerdings nie expliziert wurden, nach denen er der Französischen Revolution die entscheidende Bedeutung beim endgültigen Durchbruch des modernen Denkens zumißt. Ebensowenig wie er die Aufklärung als Bewegung näher betrachtet, verhält er sich zu dieser Revolution (vgl. McAllister 1996: 107). Im Machiavelli-Buch gibt es nur einen knappen wirkungsgeschichtlichen Hinweis darauf, daß die Französische Revolution reell und in der Breite den Bruch mit dem klassischen philosophischen Erbe vollzog, daß sie eine Wasserscheide war (TM: 231). Ein Einlassen auf die Wirkungsbedingungen von politischem Denken würde für Strauss nur in die Bahnen des bekämpften Historismus führen, und insofern sind seine bloß kryptischen Hinweise durchaus konsequent. Das Machiavelli-Buch ist ein Paradebeispiel für Strauss' Enträtselung eines Autors über die Spuren seiner Lektüre. Zugleich ist es nach Philosophie und Gesetz ein Buch, das auf besondere Weise politisch ist. Strauss' Deutung ist nämlich nicht nur kritisch gegen den Totalitarismusbegriff gerichtet, sondern sie enthält auch eine Deutung von Amerikas Aufgabe, nämlich den Geist der ursprünglichen amerikanischen Republik, der nicht von Machiavelli beeinflußt war, zu bewahren. Das ist zeitkritisch gegen den amerikanischen Liberalismus gerichtet und zugleich eine deutliche Identifikation mit dem Land des Exils, die eine erhebliche Akkulturation anzeigt. Wie Pocock in The Machiavellian Moment (1975a) detailliert ideengeschichtlich nachgezeichnet hat, ist im Gegensatz zu Strauss' Annahmen die Gründung der amerikanischen Republik durchaus von Machiavelli, aber eben von seinem republikanischen Denken beeinflußt worden. Strauss' Arbeiten zu Xenophons Hieron und zu Machiavelli stehen im Kontext der Totalitarismusdebatte und des sich neu formierenden Konservatismus, aber es handelt sich dabei zumeist um indirekt zu erschließende Einflüsse. Oft gewinnt man den Eindruck, daß Strauss die praktisch-politischen Bezüge seines Denkens bewußt in den Hintergrund drängt. Er hält den zeitdiagnostischen Bestandteil politischer Philosophie sowieso weitgehend für irrelevant. Seine generelle Kritik des Historismus verstellt ihm nicht nur solche Einblicke, sondern auch das Verständnis, wie in der Wirkungsgeschichte Autoren zu namhaften, einflußreichen Theoretikern gemacht werden. Insbesondere Machiavelli ist immer politisch gelesen worden, und mit dem Aufkommen des Totalitarismus sind solche Lektüren forciert worden, so daß es zu einer Auseinandersetzung um den Machiavellismus kam, in der Protagonisten und Gegner hart aufeinandertrafen. Im Hintergrund von Strauss' scharfer Kritik an Machiavelli kann man eine fortgesetzte Auseinandersetzung mit Carl Schmitt finden, der sich j a bekanntlich selbst in Machiavelli spiegelte, und zwar eine Auseinandersetzung, in der Strauss neue Akzente setzt und weiter geht als in der Besprechung des Begriffs des Politischen. Strauss war ja seinerzeit nicht unbeeindruckt vom Denken der Extreme und dem Setzen auf Entscheidungen, das bei Schmitt und auch bei Heidegger vorwiegt. Er war auch an Denkern, die solche Radikalität aufweisen, wie das Motto des Machiavelli-Abschnittes zeigt, nach
MACHIAVELLI UND DER VERFALL KLASSISCHEN DENKENS
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wie vor interessiert. Aber das radikale, kühne, gefahrliche Denken ist etwas für die wenigen und es darf sich als solches nicht unmittelbar artikulieren, denn dann können fatale Konsequenzen eintreten, nämlich eine von den Theoretikern selbst provozierte Verfolgung der Philosophen. Es können aber auch direkt politische Konsequenzen entstehen, nämlich wenn versucht wird, theoretisch radikales Denken politisch zu realisieren; gerade dann ebne man der Tyrannei den Weg. Für Strauss ist demnach spätestens seit dem Nationalsozialismus „modesty" in politischen Fragen zur absolut verbindlichen Tugend von politischen Denkern und Philosophen avanciert.
6.
„Naturrecht und Geschichte"
6.1
Ziel und Struktur des Buches
Naturrecht und Geschichte gilt zu Recht als das systematischste Werk von Strauss, und es verdient gerade deshalb eine detaillierte Behandlung. Dennoch ist dieses Buch nicht typisch für Strauss, denn es enthält auch eine Problemgeschichte und argumentiert historisch. Es ist eine höchst spezifische geistesgeschichtliche Entwicklung, die Strauss in der Einleitung von Naturrecht und Geschichte in seiner Auseinandersetzung mit dem Historismus und dem Relativismus präsentiert. Strauss wirft zunächst rhetorisch, die Frage auf, ob für die Amerikaner und ihr politisches Denken der Naturrechtsgedanke, wie er in der Unabhängigkeitserklärung exemplarisch formuliert wurde, noch leitend ist, ob dieser Gedanke noch als übergeordneter Bezugsrahmen fungiert. Die Diagnose ist negativ, zumeist würde das Naturrecht nur als Ideal oder gar als Ideologie angesehen, was für Strauss ein alarmierendes Zeichen ist. Mit Rückgriff auf die Weimarer Republik verweist er darauf, daß ihr Ende durch den Historismus und Relativismus geistig vorbereitet worden sei. Die Einleitung bekommt aber erst einen dramatischen Charakter, wenn Strauss eindringlich vor einer Wiederholung des Phänomens warnt, daß ein siegreiches Volk geistig von dem unterworfenen beherrscht wird. Das ist eine ausdrückliche Warnung vor gefahrlichen geistigen Einflüssen aus Deutschland, denen für das politische Denken in Amerika eine Besinnung auf die naturrechtlichen Ursprünge entgegengestellt wird. Strauss begreift seine Arbeit durchaus immer noch im Sinne der von Gunnell pointierten Idee der Weimarer Debatten, nämlich als eine theoretische Intervention. Strauss steht mit seiner Zuwendung zum Naturrecht unter den Emigranten nicht allein. Waren die deutschen politischen Theoretiker, d.h. Philosophen, Staatsrechtler und Soziologen, in der Mehrzahl kritisch zum Naturrecht eingestellt und auch von einer ersten vorsichtigen Renaissance des Naturrechtes, die schon nach dem Ersten Weltkrieg ein-
Z I E L UND STRUKTUR DES B U C H E S
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setzte, wenig beeindruckt, so ändert sich das in den 1930er Jahren auf zwei Wegen." Zum einen ist es die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, die eine Suche nach „absoluten" Maßstäben evoziert, und zum anderen fuhrt Aneignung der westlichamerikanischen Art und Tradition politischer Theorie zu einem Wandel. Ernst Bloch, Ernst Fraenkel, Franz L. Neumann und Arnold Brecht, um nur einige Beispiele zu nennen, gehören zu den Autoren, die sich erneut dem Naturrecht zuwenden. Im Rahmen dieser Bewegung, die sowohl ein Problemgepäck der Emigranten als auch Aufnahme der amerikanischen Tradition, eine Akkulturation im neuen Umfeld verdeutlicht 100 , fallen sehr deutliche Worte. So formuliert Fraenkel einmal: „Nur wenn Deutschland die Notwendigkeit und Wirksamkeit eines Naturrechtes zu bejahen bereit ist, hat es den inneren Anschluß an die westlichen Demokratien vollbracht" (Fraenkel 1991: 67). Franz L. Neumann skizziert 1940 Typen des Naturrechtes mit dem Ziel einer erneuten Rekonstruktion dieses Gedankenstranges, und zwar in demokratischer Perspektive. Er will die erkannte Renaissance des Naturrechtes positiv aufnehmen (Neumann 1978). Nach dem Zweiten Weltkrieg kommt es dann zu einer „weltweiten Renaissance des Naturrechts", die Ende der 1950er Jahre abebbt und deren Quintessenz die Suche nach dem Weg zu „einer Neubegründung des Rechts durch Naturrecht und Rechtspositivismus hindurch" (Maihofer 1962: X)101 und damit eine Auflösung der zugespitzten Alternative war. Strauss steht in diesem großen Kontext und reagiert auf ihn, denn auch er hat substantielle theoretische Fragen - wie etwa das Totalitarismusproblem - mit ins Exil gebracht, das bereits in On Tyranny thematisiert wird, und er setzt sich, wie andere deutsche Wissenschaftler, mit der westlichen, insbesondere amerikanischen Tradition auseinander. Aber Strauss ist gegenüber dem aufklärerischen Naturrecht und den Rekonstruktionsversuchen, die andere deutsche Kollegen unternehmen, sehr kritisch, erscheint ihm doch das moderne Naturrecht als ein Verfall gegenüber dem klassischen. Damit bezieht er eine besondere Position und plaziert sich auf eigenwillige Weise außerhalb des Streites zwischen den Anhängern einer erneuten Auseinandersetzung mit dem Naturrecht und deren Gegnern, wie etwa dem Rechtsgelehrten Hans Kelsen und dem Philosophen Karl R. Popper. 1949 warnt Strauss in seinen Walgreen Lectures, aus denen bis 1953 das „Naturrechtsbuch" entstand, vor geistigen Einflüssen aus Deutschland; die Warnung gilt insbesondere Einflüssen deutscher Philosophie und Geistesgeschichte, von denen er selbst geprägt ist - man denke an den Einfluß von Heidegger, Nietzsche und auch Schmitt. Vor diesem Hintergrund gehören seine Vorlesungen auf spezielle Weise zur zeitweiligen Renaissance des Naturrechtes. Systematisch wird vor allem das Problem der Ordnung und des Maßstabes für politische Ordnungen weiter ausgeführt, und insgesamt argumentiert Strauss' dabei primär geistesgeschichtlich und methodisch. 99
Vgl. zur Nachkriegszeit und den 1920er Jahren Troeltsch (1925).
100
Vgl. zu diesem jüngeren Ansatz in der Exilforschung Söllner (1996b). Zur deutschen Rezeption formulierte Arthur Kaufmann: „Die Naturrechtsrenaissance der ersten Nachkriegsjahre war eine Episode. Sie ist nur aus der damals herrschenden, von der Diktatur herrührenden Rechtsnot verständlich, die den Gerichten die fast unlösbare Aufgabe abverlangte Recht zu sprechen, Unrechtsgesetzen die Gültigkeit abzusprechen und an deren Stelle nach .übergesetzlichen' Normen zu judizieren" (1991: 3).
101
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Für letzteres ist seine Auffassung des Historismus und des Relativismus von zentraler Bedeutung. In diesem Kontext wird das Panorama von Entstehung und Verfall des naturrechtlichen Denkens gemalt, dessen Stufen klassische Konzepte (Sokrates, Piaton, die Stoa) und Aristoteles sowie die thomistische Doktrin und das moderne Naturrecht (Locke, Hobbes) sind. Mit Rousseau und Burke beginnt die finale Krise dieses Konzeptes, die bei Nietzsche kulminiert. Damit ist Strauss wieder am Anfangspunkt angelangt und hat nun nach der Historismus-Kritik diesen selbst destruiert und meint, antihistoristische Zugänge freigelegt zu haben. In diesem Sinne wird die metatheoretische Zielsetzung des Buches in einem Brief an Voegelin wie folgt formuliert: „I do nothing more than present the problem of natural right as an unsolved problem" (Brief vom 10.12.1950 in Emberley/Cooper 1993: 74). 102 An philosophisch-politischen Problemen stehen die Auseinandersetzung mit dem Individualismus und Subjektivismus im Zentrum - neben den methodischen Fragen, wie und mit welcher Art von Wissenschaft man ohne relativistische Konsequenzen ein Maß für politische Ordnungen denken und wie die Frage nach der besten Ordnung als Denkhorizont wiedergewonnen werden kann. Am Ende des Buches geht Strauss sogar einmal so weit, die Auseinandersetzung mit dem Individualismus und Subjektivismus als die entscheidende Frage zu bezeichnen, um die sich der ganze Streit zwischen den Alten und den Modernen dreht. Damit sind zwei andere Facetten des Ordnungsproblems angesprochen, nämlich die strukturelle und die existentielle Seite. Die strukturelle Dimension ist in die enorme Extension des Begriffs politische Ordnung eingeschrieben, der nicht ein Subsystem oder ein selbständige Sphäre umfaßt. Vielmehr hat Strauss, ähnlich wie sein großes Vorbild Piaton, eine Vorstellung politischer Ordnung, welche die Bereiche Wirtschaft, soziales Leben, Politik im engeren Sinn und Moral einschließt. Nicht zufallig spricht er gelegentlich von der moralisch ernsthaften Ordnung, die Piaton und Aristoteles zutreffend als die beste ausgezeichnet hätten (Strauss/Löwith 1983: 107). Die existentielle Dimension betrifft, wie Strauss an einer Schlüsselstelle knapp aufzeigt, eine Entscheidung über die Art der Lebensführung. Die grundsätzliche Alternative für den Menschen sei die Frage, ob man ein Leben nach der Offenbarung, der Bibel, oder ein philosophisches Leben, das keine absolute Autorität kennt, führen wolle (NRG: 77). Hier werden nicht nur die verschiedenen Lebensformen zu einer einzigen Alternative zugespitzt, sondern Strauss spricht auch dezidiert von Lebensführung und meint damit weit mehr als bloß einen Lebensstil. Wenn es theoretisch nur die Alternative gibt, sich für Athen oder Jerusalem zu entscheiden, dann heißt das, daß alle Vermittlungen als Scheinvermittlungen abzulehnen sind. Damit sind die Vermittlungsversuche, die es außer im theoretischen Bereich auch im praktischen Leben gibt, als Unentschiedenheiten disqualifiziert. Lebensführung im strikten Sinne heißt, daß das Leben grundsätzlich nur einem Prinzip 102
Eine generelle Besonderheit des Buches, die sogleich von einem Rezensenten benannt wurde, besteht darin, daß Strauss die moderne Revolte gegen das Naturrecht nicht als einen Angriff auf die christliche Tradition, sondern als Angriff auf die klassische pagane Tradition der alten Griechen begreift (Hallowell 1954: 540). Er streicht damit eine ganz andere Linie heraus als die wirkungsmächtige christliche Tradition des Naturrechtsdenkens und die spezifische Revolte gegen sie.
Z I E L UND STRUKTUR DES B U C H E S
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der Alternative untergeordnet sein kann und erst dann ein ernsthaftes anspruchsvolles Leben darstellt. Fraglos bedient sich Strauss hier existentialistischer Motive, aber im Kern ist er ein Kritiker des Existentialismus, denn er lehnt gerade die subjektivistischindividualistische Fassung von Fragen der Lebensführung als einseitig und unpolitisch ab. 103 Philosophie - so Strauss - diskutiert Grundprobleme, und politische Philosophie muß das Unternehmen Philosophie rechtfertigen und die grundlegenden politischen Alternativen sokratisch erörtern. Dieses Verständnis von Philosophie erschöpft sich aber nicht in unendlichen zetetischen Untersuchungen, sondern es hat auch eine eigene Entschiedenheit. Denn Strauss betont, eine Lösung der Alternativen müsse als möglich unterstellt werden, da sonst die politische Philosophie konsequenzlos sei (vgl. NG: 37). Die Suche nach der Wahrheit und der richtigen, der besten Ordnung wirke, wenn die Spannung zwischen dem Philosophen und der Stadt angemessen bewältigt wird, humanisierend. Strauss hebt hier primär darauf ab, daß eine unentwegte Suche nach der besten Ordnung dazu fuhrt, die Grenzen des Menschenmöglichen zu reflektieren und zu erkennen. Oder, anders gefaßt: nur in diesem weiten normativen Denkhorizont kann dem modernen Machbarkeitswahn entgegengetreten werden. Die Problematik der Tugenden, insbesondere die der Gerechtigkeit und des Gemeinwohls sind bei Strauss Schlüsselfragen, weil sie sich auf den ganzen Bereich politischer Ordnung beziehen lassen und die Beziehung zwischen den strukturellen Seiten der Ordnung und ihren Akteuren herstellen. Mit den Tugenden thematisiert Strauss die subjektiven Bedingungen der Möglichkeit einer normativ gehaltvollen politischen Ordnung. Ihrer Ausdeutung ist im folgenden besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Ihr Platz und Status ist zudem bedenkenswert, da Strauss zwar gegen den Wertrelativismus argumentiert und mindestens indirekt auf eine Anerkennung einer Wertehierarchie setzt, aber selbst ebenso wie die antiken Vorbilder nicht das eigentliche moderne wertphilosophische Vokabular nutzt. 104 Statt dessen thematisiert er das Problem von Ordnung in seinen strukturellen und existentiellen Facetten und nicht als Frage, wie eine Menge von egoistischen Individuen durch Orientierung an Werten oder durch einen Vertrag zu einer politischen Ordnung kommen. Nach dem Wert der Werte muß gefragt werden, aber wertphilosophisch ist das Problem der Ordnung nicht zu lösen. Das gilt insbesondere deshalb, weil die moderne Wertphilosophie gerade jene Metaphysik ersetzt, die Strauss letztlich restituieren will.
103 104
Vgl. Strauss in RCPP: 2 7 - 4 6 , sowie die knappe Stelle NG: 334. Zum Ursprung des philosophischen Wertbegriffes vgl. Kuhn (1974), Gebhardt (1989) und Joas (1997).
200
6.2
,NATURRECHT UND GESCHICHTE"
Kontexte von „Naturrecht und Geschichte"
Strauss wird 1949 nach Chicago berufen. Er tritt dort an der Universität die Nachfolge von Charles Merriam, einem engagierten Politikwissenschaftler und Progressisten an. 5 Seine Berufung steht im Zusammenhang mit einer größeren und schon länger währenden Umorientierung der University of Chicago, die mit der Präsidentschaft und dem späteren Rektorat von Robert M. Hutchins (er amtierte von 1929 bis 1950) einher ging. Hutchins, ein liberal-konservativer Jurist, verfolgt ein elitistisch-klassisches Bildungskonzept, das sich gegen die Progressisten wendet, für die hier die Namen John Dewey und Charles Merriam stehen sollen. 106 Gemeinsam mit Mortimer Adler favorisiert er eine Bildungsidee, die nicht auf Spezialisierung, sondern auf die großen Bücher setzt. 107 In diesem Zusammenhang wird seit den 1930er Jahren eine andere Berufungspolitik verfolgt, und Chicago wird Mitte der 1940er Jahre gleichsam ein Hort der eher konservativen Emigration. An der University of Chicago sind Hans J. Morgenthau (seit 1943), für kurze Zeit auch Friedrich Hayek und eine Reihe englischer konservativ-liberaler Theoretiker, wie zeitweilig auch Thomas S. Eliot. 108 Die Berufung von Leo Strauss erfolgt ebenfalls in diesem Rahmen (vgl. dazu Karl 1974: 288ff.; Gunnell 1993: 175, Anastaplo 1999).109 Er kommt aber nicht einfach von der eher politisch links orientierten New School in ein konservatives Umfeld, sondern engagiert sich auch umgehend in Kontexten, die über die Universität hinausgehen. Seinen ersten größeren Auftritt als berufener Professor gestatten ihm die Walgreen Lectures, eine Reihe öffentlicher Vorlesungen, auf die ich im Exkurs zu Arendt, Voegelin und Strauss näher zu sprechen komme (vgl. Kapitel 7). Die 1949 gehaltenen Vorlesungen sind der Struktur nach und was die grundlegenden Argumente angeht, wie man anhand des archivierten Typoskriptes sehen kann, schon weitgehend das spätere Naturrechts-Buch. 110 Strauss arbeitet aber noch einige Zeit an den Texten, und mehrere Teile werden separat als Artikel veröffentlicht. 11 105
Vgl. dazu Karl (1974) und zur Berufungsgeschichte Shils (1991: 192). Zu Dewey und seinem Wirken vgl. Ryan 1997. 107 Vgl. Hutchins (1953), Dzuback (1991), McNeill (1991) sowie Shils (1991). 108 Zu Morgenthau vgl. Söllner (1996b: 146-165). Karl (1974: 288f.) verweist darauf, daß das 1941 gegründete Committee for Social Thought zunächst das Ziel hatte, dem deutschen Einfluß durch erhöhte Präsenz britischer Konservativer entgegenzuwirken. Später dominieren „Straussians" in diesem Komitee. 109 Gunnell hält ebenda ausdrücklich fest, daß Strauss das „highest salary in the department" bekam. ' 1 0 Vgl. University of Chicago, Joseph Regenstein Library, Department of Special Collections, The Papers of the Charles Walgreen Foundation. Box IV, Folder 8 enthält das Typoskript der sechs Vorlesungen von Strauss. 111 Vorab erschienen „Natural Right and the Historical Approach", Review of Politics 1950; „Modern Natural Right - Hobbes" Revue internationale de philosophie 1950 (nach dem Vorwort der amer. Ausg.); „The Social Science of Max Weber", Measure: A Critical Journal 2 (1951) 2: 204-230; „Origin of the Idea of Natural Right", Social Research 1952 und „Modern Natural Right - Locke", Philosophical Review, Oct. 1952. 106
KONTEXTE VON „NATURRECHT UND GESCHICHTE"
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Die politische Absicht des Buches läßt sich mit dem knappen Vorwort von Jerome G. Kerwin, dem Chairman der Walgreen Foundation, vertiefen. Er formuliert in der amerikanischen Ausgabe von 1953, daß zwei Gesichtspunkte besonders relevant seien, nämlich erstens die Erneuerung der politischen Philosophie, und zweitens: „In recent years that peculiar twentieth-century phenomenon - the totalitarian regime - revived among political philosophers the study of the traditionalist natural law doctrine, with its insistence upon limited State authority." (NRH: V ) " 2
Natural Right and History ist das dritte Buch, in dem sich Strauss mit dem Totalitarismus auseinandersetzt, allerdings ist dieser nur in der Abgrenzung präsent, denn erörtert wird jene Tradition, die ein Denken gegen die Maßlosigkeit und pure Machtlogik erlauben soll. Auch methodisch gehört das Buch zumindest partiell in die Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus, und zwar weil es mit dem Relativismus und Historismus seine geistige Vorgeschichte thematisiert. Es ist zugleich ein Beitrag im Rahmen der amerikanischen Politikwissenschaft am Beginn der 1950er Jahre, die sich ebenfalls um das Problem des Relativismus, seine Ursachen und seine Folgen dreht, hier aber stärker das Selbstverständnis der Disziplin und ihre politisch-praktische Relevanz betrifft. Die Schärfe der sich kreuzenden Debatten rührt nicht nur daher, daß deutsche Emigranten das Problem mit ins Exil nahmen und seit Ende der 1930er Jahre zunehmend diskutierten, sondern auch daher, daß von seiten der amerikanischen Politikwissenschaft die Debatte um den Totalitarismus ebenfalls zugespitzt wurde. Zudem wurde das Relativismusproblem im Streit um den Behaviorismus und dessen positivistisch-szientifische Orientierungen von 1940 an bis in 1960er Jahre ausgetragen. Erst dann ebbt die Debatte ab. Schon bei den in den 1950er Jahren forcierten Kontroversen um den Relativismus, die zunehmend mit der Diskussion um Max Webers Werk verbunden werden, ist Strauss ein wichtiger Protagonist, der sich dauerhaft engagiert. Letzteres zeigt die Beteiligung am repräsentativen interdisziplinären Sammelband Relativism and the Study of Man, der Anfang der 1960er Jahre erscheint und einen vorläufigen Endpunkt der Debatte markiert.113 John Gunnell hat die besondere Rolle von Arnold Brecht in diesem Kontext betont und zugleich festgehalten, daß seine politische Theorie viele Probleme in die Political Science einbringt, die nicht genuin amerikanischer Herkunft waren (Gunnell 1993: 213). Auch wenn Gunnell hier einen negativen Einfluß überpointiert, kann am Beispiel von Brecht deutlich gemacht werden, welchen Stellenwert das Problem für die deutschen Emigranten hatte. Brecht ist ein Theoretiker und Praktiker der Politik, der auf beiden Feldern in der Weimarer Zeit wirkte und sich im amerikanischen Exil auf die Theorie konzentriert. Sein Engagement in der Frage des Relativismus beginnt Ende der 1930er Jahre im Rahmen der Problemstellung, wie aus der Weimarer Republik heraus 112
113
Kerwin denkt vielleicht an Jacques Maritain, den Vertreter katholischer Soziallehre, der ebenfalls im Herbst 1949 seine Walgreen Lectures hält, und zwar zum Thema „Man and the State"; das gleichnamige Buch erschien 1951. Vgl. Strauss (1961a). In dem Aufsatz „Relativism" setzt er sich dort mit Isaiah Berlins Konzept der zwei Freiheitsbegriffe auseinander.
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das nationalsozialistische Regime an die Macht kommen konnte. In diesem Kontext beteiligte er sich aktiv am Rundgespräch „Beyond Relativism" anläßlich der APSATagung 1946 und widmete sein Hauptwerk Political Theory (1959, dt. 1976) ganz dieser Frage. Wie hoch Brecht die Bedeutung dieser Problematik veranschlagt, verdeutlicht die dramatische Einschätzung: „Die apokalyptische Schlacht Harmagedon (Offbg. XVI, V.16) wird in erster Linie eine Schlacht der Theorie sein" (Brecht 1976: 21).114 Ausgehend von der seinerzeit verbreiteten Überlegung, daß der Relativismus ein ideeller Vorläufer des Totalitarismus und die Basis für die Tragödie der Politikwissenschaft sei, schreibt er der politischen Theorie in der Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus eine außerordentliche Rolle zu; sie sei nicht nur zur Verteidigung der westlichen Demokratie aufgerufen, sondern ebenso zur Analyse und Kritik des Kommunismus. Beide Aufgaben steigerten die Bedeutung politischer Theorie; man müsse sich der ideokratischen Herausforderung des Marxismus-Leninismus erwehren und die Überlegenheit der westlichen Demokratie bewahren und aufzeigen. Die Problematik, wie aus der Weimarer Republik, genereller aus einer liberalen Demokratie das Gegenteil hervorgehen konnte, treibt die deutschen Exilanten um, sie fuhrt zu der Frage nach Garantien einer liberalen Ordnung und danach, inwiefern eine liberale Ordnung autodestruktive Züge hat.
6.3
Kritik am Historismus und Relativismus
Wie stark Strauss' Denken generell in der Weimarer Zeit wurzelt, zeigt auch seine Auseinandersetzung mit dem Historismus an. Die Debatte um den Historismus und seine Überwindung fand auf den Gebieten der Philosophie, der Soziologie, der Theologie, der Wirtschafts- und Staatswissenschaften statt. Bereits 1924 hat Karl Mannheim die Bedeutung dieser Debatte pointiert: „Der Historismus ist eine geistige Macht, mit der man sich auseinandersetzen muß, ob man will oder nicht." Und wenige Zeilen später erweitert er das methodische Problem zu einem generellen: „Der Historismus ist also kein Einfall, er ist keine Mode, er ist nicht einmal eine Strömung, er ist das Fundament, von dem aus wir die gesellschaftlich-kulturelle Wirklichkeit betrachten. Er ist nicht ausgeklügelt, er ist kein Programm, er ist der organisch gewordene Boden, die Weltanschauung selbst, die sich herausbildete, nachdem das religiös gebundene Weltbild des Mittelalters sich zersetzte und nachdem das aus ihm säkularisierte Weltbild der Aufklärung mit dem Grundgedanken einer überzeitlichen Vernunft sich selbst aufgehoben hatte." (Mannheim 1964:246)
Die von Mannheim angesprochene Breite des Historismus veranlaßte Strauss zu seiner scharfen Kritik. Ihn interessieren dabei zwar vordergründig die methodischen Fragen, und hier muß die Kritik auch ansetzen, aber die Folgen des Historismus und das, was 114
Nelson (1980: 139-188) hat Brechts vermittelnde Position zugunsten einer prinzipiellen Kritik des Wertrelativismus kritisiert. Dabei macht er auf eine Reihe von Unscharfen aufmerksam.
KRITIK AM HISTORISMUS UND RELATIVISMUS
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Mannheim als Weltanschauung bezeichnet, sind der Zielpunkt der Auseinandersetzung. Bei Strauss lassen sich drei Ebenen der Argumentation unterscheiden, nämlich erstens die Ebene der Philosophie, auf der Theorien von Heidegger, Hegel und indirekt auch Dilthey verhandelt werden, denen die Möglichkeit eines unabänderlichen Denkrahmens entgegengesetzt wird. Zweitens gibt es die Ebene der Sozial- und Geschichtswissenschaft, denen mangelnde philosophische Voraussetzungen und Werturteilsfreiheit vorgeworfen werden, und drittens, was gemeinhin etwas im Hintergrund bleibt, bezieht Strauss auch die Ebene der Theologie ein - das säkularisierte Weltbild der Theologie gibt nämlich den Anspruch auf überzeitliche Wahrheit preis, und zwar sowohl in bezug auf die Wissenschaft als auch auf die Religion. Gerade wegen der Kritik am Historismus und der Aktualisierung von Theologie hatte Strauss ja Barth und Rosenzweig geschätzt. Das sind keine belanglosen Verweisungen, sondern es ist eine Auflehnung gegen die Entschärfung von Religion, denn darauf läuft - wie schon Franz Overbeck behauptete - ihre Historisierung hinaus (vgl. 2.1., 3.1). Eine Rekonstruktion von Strauss' Kritik am Historismus kann an die reiche jüngere Forschungsliteratur anknüpfen 115 , die verschiedene akademisch-disziplinäre Kontexte aufgehellt hat und im Zeichen einer „Historisierung des Historismus" (Oexle) steht. In diesem Zusammenhang sind zwei Varianten des Historismus unterschieden worden, nämlich zum einen Historismus als eine generelle Form der Erkenntnis (Historismus I; der allerdings an philosophische und geschichtswissenschaftliche Debatten vom Ende des 19. und dem Anfang des 20. Jh. gebunden ist). In ihm wird historische Erkenntnis mit Relativismus gleichgesetzt und letzterer zugleich als generelles existentielles Problem aufgefaßt. Die andere Form (Historismus II) ist eine engere Fassung des Begriffs und zielt nur auf die Geschichtswissenschaft und die Ausbildung einer historistischen Matrix im 19. Jh. Was Strauss diskutiert, gehört - nach dieser Klassifikation - zu Historismus I, und er setzt diesen Strang der Debatte bis weit in die 1950er Jahre fort. D.h. seine Auffassung des Historismus stammt aus Weimarer Kontexten, die später in Debatten der amerikanischen Politikwissenschaft übertragen werden. Diese Zusammenhänge sind weniger untersucht, sie haben aber einen besonderen Reiz. Denn in den Debatten der 1950er Jahre, also in einer Zeit, in der die Verselbständigung politischer Theorie zu einer Subdisziplin erfolgt, kreuzen sich nicht nur philosophische, historische, sozialwissenschaft-
115
Vgl. Rüsen (1993), Iggers (1997), Oexle (1996), Scholtz (1997). Zum Begriff des Historismus vgl. Iggers (1997). Oexle hat die Forderung nach einer „Historisierung der Historismus-Diskussion" erhoben, um auf diese Weise die verschiedenen Verwendungsweisen von Historismus und ihre verschiedenen akademischen Kontexte aufzuhellen. (1996: 46). Iggers unterscheidet im Anschluß an Oexle zwischen zwei Varianten des Historismus: „Historismus I bezieht sich auf die philosophischen Debatten im späten 19. Jahrhundert und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in denen historische Erkenntnis mit Relativismus gleichgesetzt wurde und im Relativismus ein existentielles Problem gesehen wurde" (1997: 110); und: „Die Arbeiten, die dem von Oexle genannten Historismus II gewidmet sind, befassen sich mit einem ganz anderen Komplex von Phänomenen, nämlich mit der deutschen Geschichtswissenschaft, wie sie im 19. Jahrhundert entstand" (ebd.). Einen Überblick bietet Jörn Rüsen (1993), während Raulet (1996) die Debatte um den Historismus in der Weimarer Zeit als eine Strategie von Modernitätsbeherrschung zu fassen sucht.
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lich-empirische und andere Argumentationen, sondern es geht auch um die Bedeutung der politischen Theorie, um ihren „orientierenden" Charakter für das Fach und um das Verständnis von Politik überhaupt. Die Debatte um Relativismus und Wertfragen ist für den Charakter politischer Theorie wichtig, geht es in ihnen doch darum, inwiefern politische Theorie normativ ist und welchen Status sie hat, ob sie in Verbindung zu empirischer Forschung stehen soll oder ob sie eher metatheoretisch ist, d.h. generelle Fragen politischer Ethik und der Begrifflichkeit überhaupt erörtert. Strauss' Ansatz ist gekennzeichnet durch eine enge Zusammenführung von Historismus und Existentialismus, die gelegentlich sogar gleichgesetzt werden. 6 Schon insofern behandelt er den Historismus also nicht als eine Frage der Geschichtswissenschaft und ihrer Methodik, vielmehr wird in Anlehnung an Nietzsches Kritik am Übermaß der Historie und insbesondere an der antiquarischen und monumentalen Geschichtsschreibung, die dem Leben feindlich ist, der Historismus primär als philosophisch-methodisches Problem diskutiert. Es verwundert dann auch nicht, wenn Strauss formuliert: „I say that historicism is a reaction to system-philosophy" (Strauss in: Emberley/Cooper 1993:75). Neben diesem methodischen Gesichtspunkt liegen der Polemik zwei weitere Motive zugrunde, nämlich, daß der Historismus die Subjektivität stark macht und gegen jede Metaphysik gerichtet sei. Nicht die großen Historisten (z.B. Ranke oder Dilthey) interessieren Strauss im Kontext seiner Diskussion der historischen Denkweise, sondern er hebt primär auf die Prämissen und Prinzipien des historistischen Denkansatzes ab. Dabei wird allerdings scharf zwischen zwei Stufen des Historismus unterschieden. Der einfache Historismus, die historische Schule wird im Prinzip als eine Form moderner Diesseitigkeit beschrieben, die auf die Aufklärung und die französische Revolution reagierte. Nach Strauss entwikkelt sich aus diesem einfachen Historismus im späten 19. Jahrhundert der radikale Historismus, der nicht mehr nur die Möglichkeit eines unveränderlichen Denkrahmens abstreitet, sondern in den Nihilismus mündet. Hatte schon der einfache Historismus nichts mit dem Skeptizismus zu tun, weil letzterer alle Erkenntnis für ungewiß und willkürlich hält, so gibt der radikale Historismus alle allgemeinen Maßstäbe und Orientierungsnormen zugunsten genereller Historizität und Kontextabhängigkeit auf. Die beschränkte Gültigkeit aller Erkenntnisse stehe im Gegensatz zur antiken Skepsis, denn diese behauptet die prinzipielle Sinnlosigkeit des Geschichtsprozesses, während der Historismus ja nach den Grenzen der Geltung fragt, d.h. Wahrheiten für bestimmte Zeiten und Epochen als gültig annimmt. Strauss entwickelt sein Gegenargument, die Idee einer Anwendung des Historismus auf ihn selbst, schon anhand des einfachen Historismus. Am Beispiel Hegels zeigt er dessen Annahme einer diskreten Abfolge von absoluten Momenten auf und betont, der sukzessive „Fortschritt im Geiste der Freiheit" setzt also noch übergeordnete Denkrahmen, den Bezug auf „Absolutes" voraus. Für seine Attacke gegen den radikalen Historismus hätte Strauss auf Einsichten aus Löwiths Von Hegel zu Nietzsche (Original engl. 1941) nutzen können. Löwith hat den Bruch betont, den die Junghegelianer und Nietzsche für das Denken im 19. Jahrhundert bedeuteten. Aber Strauss geht nur gelegentlich 116
Vgl. Strauss' Vorlesung „Existentialism", Interpretation,
vol. 22, 1995: 303-320.
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auf Nietzsche ein und verschleiert damit seine starke Beeinflussung durch ihn. Damit rückt aber nicht nur eine zentrale Figur in den Hintergrund, sondern zudem wird verdeckt, daß Nietzsche den Historismus, mehr aber noch den Relativismus zugleich attakkiert und forciert. Er forciert ihn im Sinne eines allgemeinen Perspektivismus und einer Metahistorie des Willens zur Macht. Aber in dieser Metahistorie ist eine Ablehnung des am Fortschrittsgedanken oder am flachen allgemeinen Relativismus angelehnten Historismus enthalten. Hatte Nietzsche den trivialen Historismus der antiquarischen, monumentalen und auch der kritischen Geschichtsschreibung gegeißelt, so zeigte Franz Overbeck parallel die Entschärfung der Gottesfrage durch eine Historisierung der zeitgenössischen protestantischen Theologie auf. Beide Angriffslinien sind bei Strauss still schweigend vorausgesetzt, was verwundert, denn gerade sie ermöglichen ja, das „politisch-theologische Problem" wieder aufzuwerfen. Auffalligerweise nimmt Strauss also alle Widersprüchlichkeit der Interpretation von Nietzsche heraus, so daß dieser bloß als Historist und Relativist erscheint, wiewohl er doch nicht nur die zugestandenen Attacken gegen den Historismus lieferte, sondern auch große, dauerhafte Fragen, ja selbst bestimmte metaphysische Ideen zuließ.117 Auf ähnliche Seltsamkeiten trifft man bei Strauss im Umgang mit Heidegger, der zwar der Sache nach, aber nicht namentlich im methodischen Einleitungskapitel präsent ist; auch er wird nur als Historist behandelt. Die für alle Philosophie als zentral erklärte Seinsfrage, ein durchaus ewiges Problem, findet keine Erwähnung. Auch die Heideggersche Transformation des Problems, der Übergang zur Thematisierung von Geschichtlichkeit statt von Geschichte, d.h. der Zeitlichkeit von Dasein, die der Historie vorausgesetzt ist, findet keine Beachtung.118. Man muß angesichts dieser auffälligen Abschattungen bei einem Hermeneutiker wie Strauss schon fragen, ob sie etwas mit dem Charakter von Naturrecht und Geschichte als Buch zu tun haben. Die behandelten Denker werden jedenfalls nicht, wie Strauss es nach seinen hermeneutischen Ideen machen müßte, hinsichtlich ihrer Intentionen und Widersprüchlichkeiten befragt und vorgestellt, sondern oft nur exemplarisch als Repräsentanten bestimmter Positionen behandelt. Das ist problematisch, weil es nicht ausdrücklich geschieht und weil Strauss bei einigen modernen Denkern sich viel weiter auf ihre Position einläßt und dort seine Methodik einsetzt. Aber auch im Falle von Hobbes und Rousseau nimmt Strauss in anderen Schriften eine viel differenziertere Position ein. Die methodologische Ausrichtung der Historismus-Kritik und die Problemorientierung des Buches reichen als Erklärung kaum aus, eher verhilft hier die polemische 117
118
Strauss verweist (NG: 28) auf Nietzsches Vom Nutzen und Nachteil der Historie, das auch für seine Historismuskritik relevant war. Wenngleich er Nietzsches Relativismus und Plädoyer für Perspektivität ablehnt, stimmt er seiner Kritik an der Fortschrittsidee, der antiquarischen Geschichtswissenschaft und der Auflösung der Philosophie in Geschichte der Philosophie zu. Heidegger kennt ewige Grundprobleme, trotz Historismus und Verfall. Strauss liest ihn, vor allem in der Vorlesung der 1950er Jahre - Vorlesung über Existentialismus (1956) - als einen entschiedenen Historisten und Relativisten sowie als „the only great thinker o f our time" (RCPR: 29), wie Pangle (ebd.: X X I X ) betont. Warum gilt er als groß - weil er tiefschürfend und fortschrittskritisch ist, weil er weiß, daß man immer wertet, daß es keine neutrale Analyse von Existenz gibt (ebd.: 37) und er die tiefste Wurzel des Westens in einem spezifischen Verständnis von Sein erkennt (ebd.: 44ff.).
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Grundkonstellation, in der das Buch steht, zu weiteren Einsichten. Denn es ist ja die Verquickung von Historismus und Existentialismus, die Strauss attackiert, und zwar, weil sie seines Erachtens die Grundlagen normativen politischen Denkens zerstört. Als Gegenstück zu dieser massiven Kritik, die auch vor krasser Vergröberung nicht zurückschreckt, könnte man hier Poppers Auseinandersetzung mit dem Historizismus nennen. Popper greift bekanntlich nicht nur Marx und Hegel, sondern insbesondere Piaton als Urquell des Historizismus an und zielt damit stark auf deutsche Kontexte, weniger auf amerikanische. Im Gegensatz zu der zwar von deutschen Autoren initiierten, sich dann aber ausweitenden Debatte um den Positivismus und Relativismus, fand eine vergleichbare Debatte zum Historismus, der ja eng mit den anderen Strömungen verbunden ist, in den amerikanischen Sozialwissenschaften nicht statt. Dennoch gibt es zumindest implizit einen Bezugspunkt, der Strauss veranlaßte, auch mit Blick auf die amerikanische Politikwissenschaft ein Kapitel dem Historismus zu widmen. Material spielt er nämlich für die Geschichte der Politikwissenschaft als Disziplin eine Rolle. Auf diesem Feld wurde nicht nur darum gestritten, welche Art von Theorie zu präferieren ist, sondern es ging gleichermaßen darum, wie die Geschichte der Theorie zu schreiben ist: als Geschichte von Ideen, als Geschichte politischer Philosophie, die andauernde Grundprobleme bearbeitet, oder als eine Geschichte von Theorien, die jeweils einen historischen Wert haben? Fragen der Disziplingeschichte werden parallel zur Verselbständigung der politischen Theorie zur Subdisziplin forciert. Strauss hat in Naturrecht und Geschichte einen Teil der in diesem Kontext relevanten Fragen eher proklamatorisch behandelt. War und blieb der Historismusstreit im Kern eine deutsche Debatte, die nur wegen ihrer starken Verquickung mit dem Relativismusproblem und einer existentiellen Aufladung große Bedeutung erlangte, so entwickelte sich in den 1930er Jahren eine wesentlich von den Emigranten induzierte Auseinandersetzung um Relativismus, die weit über die deutschen Emigrantenkreise hinausging. Diesen Gesichtspunkt hat Gunnell stark akzentuiert und bis zu dem Punkt entwickelt, daß durch den Einfluß einer Reihe von deutschen Sozialwissenschaftlern die pragmatische Grundorientierung, eine entsprechende Verbindung von Theorie und Praxis in der Political Science verloren ging. Gunnells Auseinandersetzung insbesondere mit Strauss, Voegelin, Hannah Arendt hat hier allerdings zu einer These geführt, die in ihrer Zuspitzung fehlerhaft wird, denn sie nimmt nur Einflüsse an, die von den Emigranten mitgebracht wurden. Es ist aber vereinfacht, nur die starke philosophische Orientierung der deutschen Emigranten zu betonen. Viele von ihnen, auch die von Gunnell genannten, setzen sich mit der zentralen Rolle auseinander, welche die Politikwissenschaft in den USA hat, zu der es kein Pendant in Deutschland gibt. Vielfach wurde auch die enge Beziehung zwischen der amerikanischen Demokratie und der Politikwissenschaft als vorbildhaft erkannt. Die Anpassung und Auseinandersetzung mit amerikanischen Verhältnissen, inklusive der wissenschaftlichen Institutionen und akademisch-disziplinären Strukturen, eine auf Seiten der Emigranten erfolgende Akkulturation, sollte also nicht unterschätzt, sondern genauer betrachtet werden. Zudem überhöht Gunnell, und zwar ebenso wie die harsch von ihm kritisierten deutschen Autoren, den Einfluß bloß geistiger Prozesse. Dennoch trifft Gunnells These zu, daß die deutschen Emigranten die Debatte um den Relativismus
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evozierten. Dies läßt sich gut mit einem Statement von William Anderson belegen, der schon 1960 in seiner Rezension von Arnold Brechts Political Theory nachdrücklich daraufhingewiesen hat, daß diese Problematik erst in den 1930er und 1940er Jahren aufkam und daß Brecht selbst wesentlich daran beteiligt war (vgl. 1960: 204f.). Auch wenn diese Debatte zunächst zu einem großen Teil vor einem deutschen Hintergrund verläuft, gibt es seit den 1950er Jahren einen eigenen amerikanischen Kontext, nämlich die Auseinandersetzung um den Behaviorismus (vgl. Falter 1982: 15, 29). Eine Differenz zwischen der amerikanischen und der deutschen Debatte besteht darin, daß die deutschen Autoren eher metatheoretisch orientiert und meist philosophisch ausgerichtet sind, während die amerikanischen Politikwissenschaftler, und zwar unabhängig von ihrer besonderen Orientierung, auch Fragen der Wertfreiheit oder der Wertorientierung auf konkrete Untersuchungen beziehen. Strauss ist in diese zu einem Teil in Chicago konzentrierten Debatten zwischen Behavioristen und Normativisten involviert, wiewohl sie in seinen Texten meist nur im Hintergrund aufscheinen. Man kann heute aus einigem historischen Abstand auf die Debatte um den Relativismus zurückblicken, und die Sekundärliteratur arbeitet dementsprechend rekonstruktiv und mit begrifflichen Feindifferenzierungen. Der einst so befehdete Relativismus ließ sich schon mit Brecht in einen bloß methodischen und einen prinzipiellen auseinanderlegen. Nur in der prinzipiellen Variante geht es auch um Wertrelativismus und generellen Perspektivismus, wie er etwa von Nietzsche vertreten wurde. Der methodische Relativismus ist, außer in methodologischen Abhandlungen, meistens weniger konsequent, als es den Anschein hat, weshalb Karl Acham in diesem Sinne auch von occassionellem Relativismus spricht. Occasionell meint, daß er sich nur auf die Wahl der Methode bezieht. Dem steht der axiologische Relativismus gegenüber (Acham 1983: 247/249). Es ist nun kennzeichnend, daß seinerzeit in der Debatte beide Seiten kaum deutlich genug unterschieden wurden. Die Debatte um den Relativismus hat in den Sozialwissenschaften enorme Kreise gezogen, weil sie auch mit der Deutung von Max Webers Œuvre verknüpft wurde, woran Strauss einen erheblichen Anteil hat. Der Streit dreht sich in diesem Zusammenhang nur auf den ersten Blick um das Werturteilsproblem, im Kern geht es um den hier weniger interessierenden Status von Theorie in der Sozialwissenschaft im allgemeinen und in der Politikwissenschaft im besonderen, um die Frage, wieweit und auf welche Weise diese Disziplinen empirische oder/und normative Disziplinen sind. Jene Protagonisten, die den Wertrelativismus als Ursache für politische Fehlentwicklungen diagnostizierten, treten für eine deutlich normative Political Science ein und attackieren den Positivismus. Positivisten lehnen dies als geradezu vorwissenschaftlich ab (z.B. Weldon 1962). Wenngleich diese Alternative als grundsätzliche Entscheidung ausgearbeitet wurde, ließ sich der Mainstream in der Politikwissenschaft davon nicht sehr beeindrucken, denn viele verfolgten dazwischen liegende Optionen oder ignorierten die Debatte um den Relativismus. Das gilt auch für einen Teil der später zunehmend szientifischen behavioristischen Bewegung, die auf die Herausforderungen der Normativisten nicht methodisch, sondern mit materialen Studien antworteten (vgl. Falter 1982: 25). Für jene Autoren, die sich auf den Streit einlassen, gilt, daß die Maßstäbe für Werturteile und ihre Varianten selten genügend unterschieden werden. Auch hier läßt sich mit
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einer Unterscheidung von Karl Acham genauer argumentieren. Man kann nämlich drei Formen von normativen Maßstäben unterscheiden, die ftir Werturteile maßgeblich sind; nämlich erstens Güter und Normen, zweitens Standards der Beurteilung von Gütern und drittens evaluative Standards der Normsetzung (Acham 1983: 247f.). Bei der dritten Möglichkeit der metatheoretischen Frage nach Standards für Standards setzt Strauss an, allerdings nicht direkt in axiologischer Perspektive. Denn seine Leitfrage, die Frage der Denkmöglichkeit der guten bzw. besten Ordnung, ist keine wertphilosophische Konzeption, denn das wäre ja geradezu modernistisch, sie ist eine Frage, die das Wertproblem in die Metaphysik zurückverlagert, also in den Zusammenhang, aus dem sie Ende des 19. Jahrhunderts herausgelöst wurde.
6.3.1 Auseinandersetzung mit Max Weber Bei der Verknüpfung der Relativismusdebatte mit einer Diskussion um die Arbeiten von Max Weber war Strauss, wie gesagt, führend beteiligt. Doch bevor ich darauf eingehe, sei noch einmal Strauss' vorausgegangene Auseinandersetzung mit Weber in Erinnerung gerufen. Wie Strauss bekannte, war Max Weber für ihn bis zu seiner Hinwendung zu Heidegger eine starke Orientierungsfigur gewesen. Mit der Umorientierung Anfang der 1920er Jahre (vgl. 2.2.) setzt die andauernde Auseinandersetzung mit Weber, dem „größte(n) Sozialwissenschaftler unseres Jahrhunderts", ein (NG: 38). Den Höhepunkt dieser Auseinandersetzung bildet das Kapitel „Tatsachen und Werte"119 in Naturrecht und Geschichte. Dessen Argumente und Kontexte sollen im folgenden rekonstruiert werden, um die prominente und vehemente Weber-Kritik in ihrem ganzen Ausmaß verstehen zu können, die zu Recht einmal als „event" bezeichnet wurde: „[...] because it was a thorough going criticism of a man who was an intellectual hero to a generation of social scientists, a thinker whose reflection of science guided their understanding of the meaning and limits of their enterprise." (Behnegar 1997: 97)
Mindestens drei Kontexte sind für Strauss' Auseinandersetzung mit Weber relevant, nämlich erstens die Exilantendebatte, in der Max Weber eine große Rolle spielte. Zweitens gibt es Anfang der 1950er Jahre eine sich ausweitende amerikanische Diskussion, deren Grundlage eine spätestens Mitte der 40er Jahre erfolgende breite Rezeption von Webers Arbeiten in den USA ist. Weber wird in diesem Zeitraum durch Übersetzungen allgemein bekannt und rückt langsam ins Zentrum der sozialwissenschaftlichen Debatten.120 Drittens schließlich ist auf akademisch-disziplinärer Ebene zwischen Debatten 119
120
In gewisser Hinsicht ist die Auseinandersetzung mit Machiavelli (1958; TM) auch eine Fortsetzung der Weber-Kritik - vgl. dazu etwa die Schlüsselfunktion, die das Machiavelli-Zitat „Ich liebe mein Vaterland mehr als meine Seele" in Webers Politik als Beruf hat (Weber 1988a: 558; Machiavelli: Istorie: 170). Die wirksamen Arbeiten sind zunächst Parsons' Social Structure of Action (1937) sowie seine Übersetzung der Protestant Ethics (1930) und, wiederum in der Übersetzung von Parsons, Theory of Economic and Social Organisation (Wirtschaft und Gesellschaft; 1947). Dann Gerth/Mills: From Max Weber, 1946, sowie Shils/Finch (eds.): Max Weber on the Methodology of the Social Sciences, 1949. Auf diese Arbeiten folgen dann Bendix (O: 1960, dt. 1964) zu Leben und Werk, der Weber
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im Rahmen von Soziologie und Politikwissenschaft zu unterscheiden, und diese Differenzierung liegt zum Teil quer zu den bereits erwähnten Kontexten. Die Rezeption von Weber in der Soziologie ist nicht nur mehr untersucht, sondern auch per se empirischer ausgerichtet. Anders verhält es sich in der Politikwissenschaft, in der seit den 1950er Jahren Status, Sinn und Ziel politischer Theorie als ausdifferenzierter Subdisziplin diskutiert. Hier wächst der Auseinandersetzung um Weber ein anderer Stellenwert zu, der bisher kaum die nötige Aufmerksamkeit fand. Mit Blick auf diese verschiedenen Kontexte wird im folgenden die Argumentation von Strauss rekonstruiert. Max Weber ist eine zentrale Bezugsfigur vieler deutscher Sozialwissenschaftler im amerikanischen Exil. Sein durch Nüchternheit, Engagement und eine komplexe Begrifflichkeit beeindruckendes Werk dient vielen deutschen Exilanten an der New School for Social Research als wissenschaftliche Orientierung. Bis in die 1950er Jahre gibt es nur wenige Kritiker, zu denen namentlich Protagonisten normativer Theorie wie Strauss, Voegelin und später auch Arendt zählen. Max Weber in die geistige Vorgeschichte des Nationalsozialismus zu stellen, wie Strauss es macht, liegt noch weitgehend außerhalb des verbreiteten Horizontes, es sei denn, man analysiert wie Georg Lukacs' Die Zerstörung der Vernunft.121 Strauss' Weber-Kritik geht übrigens auf einen Vortrag in der New School zurück und ist zuerst 1951 in der Zeitschrift Measure erschienen. Eine Auseinandersetzung mit Weber trifft also ins Zentrum des Selbstverständnisses und der Orientierungen der exilierten Sozialwissenschaftler, und weniger hat Strauss mit seiner Debatte auch nicht beabsichtigt. Parallel zur Wertschätzung durch die deutschen Emigranten verlief die zunehmende, meist positive Rezeption von Weber in den amerikanischen Sozialwissenschaften, insbesondere in der Soziologie. Weber wird dort methodisch und material stark aufgenommen, aber - und das gilt schon für Talcott Parsons - die disziplinare Vereinnahmung geht mit erheblichen Vereinseitigungen einher. So werden seine tragischpessimistische Geschichtssicht, die damit verbundenen Fragen des Menschentums, die seit einigen Jahren Wilhelm Hennis wieder herausstellt, und sein spezifisch politisches Denken kaum beachtet. 122 Weber avanciert zum soziologischen Modernisierungstheoretiker, und sein Denken wird nicht selten mit evolutionistischen Theoremen verknüpft. 123 Diese „Amerikanisierung" hebt sich von den Deutungen der Emigranten ab, die oft die tragisch-pessimistische Seite akzentuieren. nicht mehr auf protestantische Ethik verkürzt. Zur Rezeption vgl. Erdelyi (1992) - die Philosophie kommt hier allerdings nur knapp vor, und die Politikwissenschaft fehlt leider völlig. 121
Vgl. Eden (1987: 2 1 2 - 2 4 1 ) sowie Rutkoff/Scott (1986: 201). In der Bundesrepublik ist eine Einbettung Webers in die geistige Vorgeschichte des N S erst mit Wolfgang Mommsens Arbeit über Max Weber und die deutsche Politik (1959) zu verzeichnen. Mommsen hat seine Position in der 2. Auflage (1974) relativiert.
122
Hennis (1987, 1996) und Tenbrock (1959: 5 7 3 - 6 3 0 ) . Tenbrock zeigt besonders Webers Kampf gegen den Naturalismus und für eine subjektivierend-konstruktivistische Wendung der Kulturwissenschaften auf und betont, daß Weber sich im Objektivitätsaufsatz vom Methodologismus befreit (619).
123
Repräsentativ für eine solche Lesart in Deutschland sind z.B. die Arbeiten von Wolfgang Schluchter (v.a. 1988 B d . l , 2), in denen trotz der Fokussierung auf das Problem der Lebensführung dieser Begriff übrigens nicht näher definiert wird.
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Wendet man den Blick zu den in diesem Kontext selten näher untersuchten Politikwissenschaften, so ändert sich das Bild; hier wird Weber nicht nur als soziologischer Moderne-Theoretiker gelesen, seine politischen Konzepte und Ansichten sind per se belangvoll. Nicht selten sind sie sogar der Schlüssel zum Verständnis von Weber überhaupt, denn in ihnen wird eindrucksvoll die Beziehung von Theorie und Praxis thematisiert und realisiert. Damit kommt ein für die sich subdisziplinär ausdifferenzierende amerikanische Politikwissenschaft drückendes Problem ins Blickfeld, nämlich die Debatte über den Sinn und Nutzen von Theorie und - auch wenn es so damals nicht bezeichnet wurde - über den Sinn und Nutzen von Metatheorie und Methodologie. Die metatheoretisch-methodologischen Orientierungen der deutschen Kollegen trafen auf das eher pragmatische Verständnis von Politikwissenschaft in Amerika. Auch der Werturteilsstreit bekommt in diesem Kontext eine andere Dimension, er verliert sein primär akademisches Profil und wird zur Frage, wieweit politische Theorie jenseits eines objektivistischen Selbstverständnisses betrieben werden kann. Es gibt bei diesen Debatten allerdings keine eindeutigen Frontlinien, denn im Streit zwischen alten und neuen Normativisten kommt es, ebenso wie bei den Positivisten und Szientisten unterschiedlicher Couleur, zu Überlagerungen von unterschiedlichen Argumentationen. So sind Behavioristen der ersten Generation wie Charles Merriam von der notwendigen Wertorientierung der Forschung überzeugt und setzten sie pragmatisch in politisches Engagement um. Erst in der zweiten Generation setzt eine Szientifizierung des Wissenschaftsverständnisses ein, das Werturteile verbannen will, sie aber dennoch nutzt. Diese Behavioristen bringen einen wissenschaftlichen Input, revoltieren kurze Zeit; aber für die meisten amerikanischen Politologen ist Political Science so oder so Demokratiewissenschaft, und hier schlägt die pragmatische, wertorientierte Haltung durch. Weber war, wie Robert Dahl zu Recht pointierte, also insgesamt ein Stimulus für die behavioristische Bewegung (1961: 764). Auch David Easton greift in diesem Sinne in die Debatte um Weber ein. Er engagiert sich 1951 in seinem Aufsatz Decline of Political Theory, der später ein Kapitel von The Political System wird, sehr deutlich für eine Rezeption von Weber (1953: 43ff.). Dabei vertritt er eine mittlere, Fakten und Werturteile verbindende Position und deutet Mannheims Wissenssoziologie als Unausweichlichkeitsnachweis für Werturteile, die in jeder Theorie seien. Easton ist kein methodologischer Individualist, wie viele Behavioristen, sondern zielt mit dem Konzept des politischen Systems vor allem auf die Verbindung zwischen selbstbewußten Individuen und einer rationalen politischen Ordnung. Mit dem Chicagoer Kollegen Strauss teilt er verblüffenderweise eine Überzeugung, nämlich daß das Schicksal des Westens nach dem Zweiten Weltkrieg substantiell bedroht sei, und diese Diagnose wird direkt mit dem Zustand der Political Science verbunden (vgl. dazu Strong 1998, Gunnell 1993). Die Politikwissenschaft sei angesichts von Werteverfall und ganz neuen Problemen, die bis zum Problem atomarer Waffen reichten, nicht innovativ. Zum Erhalt und Ausbau der Demokratie sei eine „Rejuvenation" der Theorie, eine neue Synthese notwendig (Easton 1953: 307ff.). Weber wird von Easton aber aus seiner Verfallsdiagnose gerade herausgenommen.
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6.3.2 Das Weber-Bild von Strauss Zunächst fallt auf, daß Strauss Weber fast ausschließlich methodologisch liest und wenig auf die materialen Erträge eingeht; damit wird eine prinzipielle Kritik eröffnet, es gibt und das verdient festgehalten zu werden - insofern keinen Unterschied zur damals üblichen Rezeptionsweise, wie sie bei den Emigranten an der New School und in der amerikanischen Sozialwissenschaft überhaupt verbreitet war. Ob man mit einer Lesart von Webers Œuvre, die den Akzent auf die Methodologie legt, diesem gerecht werden kann, ist in jüngerer Zeit von Hennis bezweifelt worden (1996: 163). Strauss jedenfalls setzt auf die methodologische Auseinandersetzung und hat dabei allerdings durchaus einen Sinn für Zeitgebundenes, denn die Werte- und Relativismusdebatte wird in den Kontext der frühen Weimarer Republik gestellt. Bei einem zweiten Blick auf Strauss' Herangehensweise fällt auf, daß auch das von Weber exponierte Problem des Sinnverstehens, eine für Hermeneutiker zentrale Frage, ausgespart wird. Webers Theorie zielt erklärtermaßen gerade auf eine Verbindung von Kausalanalyse und sinnhaftem Verstehen sozialen Handelns. Es geht ihm darum, soziales Handeln „verstehend zu erklären", d.h. es geht um eine allgemeine Hermeneutik sozialen Handelns, und nicht - wie bei Strauss - um eine Tiefenhermeneutik, die sich nur fur die Texte großer Denker interessiert. Strauss konzentriert sich ganz auf die methodologische Frage des Verhältnisses von Fakten und Werten und stellt von dort eine Beziehung zum Problem der Lebensführung her. Aus diesem Zusammenhang heraus wird ein prinzipieller Angriff, ein Rundumschlag gestartet, der von der Ablehnung der Werturteilsfreiheit, des methodologischen Individualismus, der Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik, der Differenzierung der Wertsphären und ihrer unentscheidbaren Kollisionen bis hin zur Ablehnung des konfliktorientierten Politikbegriffes reicht. 124 Wie geht Strauss vor? Das Weber-Kapitel hebt mit einem Plädoyer für die antike politische Philosophie und die Frage nach dem letzten Ziel weisen Handelns an. Dann folgt eine erste knappe Diskussion der Pluralität der Werte sowie eine Rekonstruktion Weberscher Gedankengänge zu Fragen der Wertfreiheit. Nach diesem Hauptstück wird eine grundlegende Alternative im Politikverständnis aufgemacht, die abschließend an zwei Beispielen diskutiert wird. Ich folge diesem Aufbau, um Strauss' Argumentation zu verdeutlichen, deren anspruchsvolles Ziel es ist, die positivistisch-empirische Sozialwissenschaft, an der Weber hing, ins Herz zu treffen. Die Pluralität der Werte bildet systematisch den Ausgangspunkt der Kritik an Weber. Strauss macht gleich am Beginn seiner Auseinandersetzung deutlich, daß sich Weber von der historischen Schule der Nationalökonomie, die dem Naturrecht ein historisches Gepräge gab, abwendet und das Naturrecht als eine transhistorische Wahrheit prinzipiell 124
Die Literatur zu Weber und dem Werturteilsproblem ist umfangreich. Ich verweise hier nur auf für Strauss, seinen Kontext und die Deutung des Problem besonders wichtige Arbeiten: Löwith (1988), Hennis (1996: bes. 157) Henrich (1952), Tenbruck (1959), Schelting (1934), der schon seinerzeit festhielt: Weber lehnt nicht Werte und deren Analyse ab, sondern behauptet, konkrete Zwecksetzungen lassen sich nicht wissenschaftlich deduzieren, Sein und Sollen sind nicht zu verquicken (Schelting 1934: 59). Eden (1987, 1981) zeigt, daß Weber kein Nihilist war. Vgl. auch Kennington (1981); Nelson (1980); Voegelin (1995b); Hübinger et al. (1990) und Behnegar (1997).
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bezweifelt. Die Webersche Idee der Sozialwissenschaft sei im Kern „radikal historistisch" (NG: 40). Was Weber vom Historismus unterscheide, sei ein eigentümlicher Begriff höchster Werte, in deren Namen das Naturrecht abgelehnt werde. Zugleich gebe es eine Pluralität höchster Werte in Europa - und dies erst recht, wenn man verschiedene Kulturkreise mit einbeziehe. Weber habe allerdings nie erklärt, was er unter Werten versteht, sondern sich auf die Beziehung zwischen Werten und Tatsachen konzentriert. Der eigentliche Grund für die Werturteilsfreiheit liege in Webers Prämisse, daß es keine wahre Erkenntnis des Seinsollenden gebe. Das ist die strikte Gegenposition zu Strauss, und dieser bemüht sich nicht nur, sie zu entkräften, sondern behauptet auch, daß diese These zwangsläufig in den Nihilismus führe und überhaupt inkonsistent sei. Um dies nachzuweisen, wird Webers Grundgedanke der Trennung von Fakten und Werten auf spezifische Weise rekonstruiert (NG: 44-65). Strauss' Argumentation kulminiert in folgendem Satz: „Das Verbot von Werturteilen in der Sozialwissenschaft würde in der Folge für uns die Erlaubnis mit sich bringen, eine streng faktische Beschreibung sichtbarer Handlungen, wie sie in den Konzentrationslagern beobachtet werden können, und eine vielleicht ebenso faktische Analyse der Motive der betreffenden Täter zu geben, es würde uns aber nicht gestatten, von Grausamkeit zu sprechen." (NG: 54)
Wie begründet Strauss diese Überlegung? Er ordnet Weber zunächst in den Neukantianismus ein und behauptet, daß Weber zwischen sittlichen Geboten, die sich an das Gewissen wenden, und kulturellen Werten, die sich an das Gefühl wenden, deutlich unterscheidet. Diese Unterscheidung liege dem individualistischen Begriff der Persönlichkeit zugrunde, deren Würde in der Autonomie besteht. Das ist für Strauss bereits ein zu weit gehender Formalismus, der keine inhaltlichen Bestimmungen zuläßt. Es gehe bei Weber, trotz der Betonung der Autonomie der Individuen, auch nicht um eine „Bruderschaft der Idealisten", die sich mit Würde und Respekt begegnen, sondern: „Was zunächst eine unsichtbare Kirche zu sein scheint, erweist sich als Kampf jedes gegen jeden oder vielmehr als Hölle" (NG: 47). Die Formel „Folge deinem Dämon" lasse keine Unterscheidung zu, ob es ein guter oder böser Dämon sei. Webers Idealismus, seine Anerkennung hoher kultureller Werte schlage also ins Gegenteil um, weil er keine Unterscheidungen zwischen Vortrefflichkeit und Niedrigkeit bzw. Verworfenheit zulasse. Der Formalismus werde zwar noch durch zwei weitere Prinzipien ergänzt, nämlich einesteils durch eine dezisionistische Entschlossenheit, nur einer Maxime, einem Dämon zu folgen, und zweitens durch das Streben, auf vernünftige Weise authentisch zu sein; aber das verstärke nur das Prinzip. Strauss streicht hier nietzscheanischexistentialistische Züge in Webers impliziter Ethik heraus. Er bezichtigt ihn eines edlen Nihilismus, der von der Einsicht in die Grundlosigkeit alles Edlen geleitet ist. Weber bewahre sich vor gemeinem Nihilismus nur durch eine charakterlich begründete Bevorzugung rationaler Selbstbestimmung und intellektueller Rechtschaffenheit. Er setze eine wahrhaft wissenschaftliche Wissenschaft gleichsam als höchsten Wert. Strauss ist überzeugt, mit der skizzierten Überlegung den Zusammenhang zwischen Ablehnung objektiver Normen, die im Namen der Freiheit und der Selbstbestimmung erfolgt, und Nihilismus nachgewiesen zu haben. Dagegen muß mindestens geltend gemacht werden, daß Weber in anderer Art und Weise fragt; ihn interessiert nicht die
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Möglichkeit einer universellen politischen Ethik, sondern die Frage der Wirksamkeit von Normen und politischen Ethiken. Gerade am Beispiel der russischen Revolution von 1905 hat Weber mit explizitem Bezug auf das Naturrecht diese Fragerichtung verdeutlicht. Dort folgert er, diese einst - für die amerikanische und auch französische Revolution - wichtigen Ideen seien nicht nur verblaßt, sondern könnten in keiner Weise Auskunft darüber geben, was in Rußland zu tun sei (vgl. Weber 1996: 99). Der Sozialwissenschaftler Weber argumentiert nicht auf der metatheoretischen Ebene von politischer Ethik, sondern ihn interessiert wesentlich die Wirksamkeit und Praktikabilität von Ideen und Normen. Der Verschleiß und die Vielfalt möglicher normativer Orientierungen trieben j a gerade die Frage der Wertfreiheit als für empirische Forschung wichtige Maxime hervor. Was bei Strauss auf der Ebene politischer Ethik als Nihilismusproblem thematisiert wird, ist auf der sozialwissenschaftlichen Ebene, wenn es um die Analyse der Wirksamkeit von Ideen und Normen geht, ein anderes Problem, welches diese Weber-Kritik weitgehend ignoriert. Robert Eden hat die „paradoxical thesis" entwickelt, Weber sei nach Strauss kein Nihilist (Eden 1987: 212). Diese These kommt nicht ohne einige hermeneutische Windungen aus. Eden muß nämlich plausibilisieren, daß allein das Festhalten an der Idee der Werte vor dem Nihilismus schützt, und kommt dabei ohne Rekurs auf Weber als Persönlichkeit nicht aus. Zu Recht betont er allerdings Webers Verteidigung der Vita activa gegen jeden Intellektualismus und zeigt, daß hier eine Wurzel für Webers Zurückweisung der Philosophie liegt (ebd.: 231). Damit wird indessen die Differenz zwischen Weber und Strauss, der für den Rekurs auf die Klugheitslehren des antiken Naturrechtes plädiert, unzulässig eingeebnet. Die von Eden pointierte Abwehr der Zuschreibung eines primitiven Nihilismus, die Strauss vornehme, weist allerdings auf ein nietzscheanisches Erbe in Webers Denken hin, das Strauss als „edlen Nihilismus" faßt. Man kann Weber trotz dieses ideengeschichtlichen Bezuges nicht einfach eine wertnihilistische Position zu schreiben; dem steht insbesondere seine tragende Unterscheidung zwischen Werturteilen und Wertbeziehungen entgegen. Strauss streift diese wichtige Problematik allerdings nur knapp. Zustimmend referiert er, Werte seien für die Auswahl des Stoffes, die Bündelung des Interesses wichtig und durch die Beziehung auf Werte würden Zusammenhänge aus dem Ozean der Tatsachen erst herausgehoben. Der wissenschaftliche Umgang mit diesen herausgehobenen Zusammenhängen sei Erklärung und nicht Werturteil. Soweit scheint Strauss mit Weber einverstanden, aber daß die Sozialphilosophie keine Klärung zum Wertproblem an sich beitragen könne, daß sie sich letzter Stellungnahmen enthalten müsse, geht Strauss zu weit. Gerade hier sieht er das eigentliche Feld der Sozialphilosophie und lehnt deshalb den Weberschen Ansatz in toto ab. Mit dieser prinzipiellen Abwehr läßt sich Strauss auf eine Reihe wichtiger von Weber aufgeworfener Fragen gar nicht ein. Schon Alexander von Schelting (1934), einer der ersten Interpreten der Weberschen Wissenschaftslehre, hat darauf hingewiesen, daß die interessantesten Fragen für Weber in der Wertkonkretion, bei der Wahl der Mittel und der Wertrealisierung liegen. Die hier entstehenden Paradoxien sind es, die ihn interessieren und von denen Strauss per se abstrahiert. Es ist ja mitnichten so, daß Weber alle normativen Konzepte ablehnt. Was ihn substantiell stört, ist die Vermischung von Betrachtungsebenen, von normativen und deskriptiven Aussagen. Wenn Schelting betont,
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eine generelle Ablehnung von Werturteilen sei nichts weiter als ein Werturteil, dann hat er damit ein Argument von Strauss vorweggenommen und für Webers Position genutzt. 125 So hätte Weber gegen Strauss' beispielhafte Kritik an „wertfreier" Wissenschaft eingewandt: Die Konzentrationslager als grausam zu kritisieren, erbringt noch kein Verständnis im kausalen Sinne, wie es zu dieser organisierten Grausamkeit kam und wie ihre Wiederholung verhindert werden könnte. Auch wissenschaftstheoretisch ist Strauss' Position zu relativieren. Schon in den 1950er Jahren wurde gezeigt, daß es auch für die Naturwissenschaften so etwas wie wirksame Wertbeziehungen gibt, die man nach Thomas S. Kuhn als Paradigmen von Forschergruppen entschlüsseln kann (vgl. Rosa 1995). Der Positivismus der Naturwissenschaften ist großenteils eine Fehldeutung der naturwissenschaftlichen Praxis, und die Orientierung von Sozialwissenschaften an diesem wissenschaftstheoretischen Selbstmißverständnis ist es, was als Trennung von Fakten und Werten durch die Sozialwissenschaften geistert. Strauss ist diesem Mißverständnis aufgesessen, denn für ihn bildet der Übergang von der Metaphysik zur modernen Naturwissenschaft eine entscheidende Bruchstelle. Zwar gibt es einen Wandel vom qualitativen zu einem nicht-teleologischen und quantitativen Naturverständnis; das heißt aber mitnichten, daß die Wertfrage aus dem Naturverständnis und der Naturwissenschaft verschwindet. Die Ignoranz gegenüber den modernen Naturwissenschaften wird hier zum gravierenden Problem. Dennoch gilt: Strauss hat von seinen spezifischen Prämissen her - jedenfalls der Sache nach - eine parallel zur postempiristischen Wissenschaftstheorie liegende Intuition in der Kritik und bei der Erschütterung des positivistischen Verständnisses der Sozialwissenschaften verfolgt. Seine problematischen Prämissen haben die Wirksamkeit seiner Kritik allerdings erheblich beeinträchtigt. Für Weber war die Problematik des Menschentums und das Schicksal des europäischen Kulturmenschen zentral. Das haben frühe Interpreten wie Karl Löwith (vgl. 1988), Karl Jaspers (vgl. 1988), später Dieter Henrich (1952) und in jüngerer Zeit Wilhelm Hennis (1987, 1996) gezeigt. Diese Fragestellung reicht weiter als die offensichtlich bedeutsame Problematik der methodischen Lebensführung. Bei Strauss jedoch spielt diese anthropologisch-zeitdiagnostische Frage, die ihm eigentlich nahe liegt und ihn interessieren müßte, keine bemerkenswerte Rolle. Er diskutiert nur die Problematik der methodischen Lebensführung und auch sie fast ausschließlich in der Perspektive der Werturteilsfreiheit. Er fragt, wie Weber, der soviel Wert auf die Erkenntnis des Ethos legt, das verschiedene Handlungsformen auszeichnet, meint, Ethos und Lebenstechnik (Geschäftsklugheit) ohne Werturteile unterscheiden zu können. Strauss häuft hier Bei125
Wieweit Strauss Feindifferenzierungen in der Frage der Wertbeziehungen unterläßt, tritt im Vergleich mit den nahezu zeitgleich publizierten Deutungen des Philosophen Dieter Henrich ( 1 9 5 2 ) plastisch hervor. Henrich hat deutlich zwischen Wert und theoretischem Gesichtspunkt unterschieden, die für Weber eine verschiedene Rolle bei der Selektion von Forschungsgegenständen spielen, und er hebt zudem theoretische und praktische Wertbeziehung als unterschiedliche Formen voneinander ab. Gewonnen sind damit forschungspraktische Orientierungen und nicht - wie auch Strauss fälschlich unterstellt - methodologische oder erkenntnistheoretische Theoreme. Vor diesem Hintergrund erst entwickelt Weber die Prinzipien seiner verstehenden Sozialwissenschaft, auf die Strauss gar nicht eingeht.
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KRITIK AM H I S T O R I S M U S U N D R E L A T I V I S M U S
spiele von wertenden Stellungnahmen an, ohne sich auf das eigentliche Problem einzulassen. Die zentralen Fragen bei Weber sind doch, wie ein Ethos entsteht, wie das Leben von Individuen bzw. Gruppen in all seinen ökonomischen, rechtlichen, politischen sowie ethischen Aspekten leitenden Maximen unterworfen werden kann und welche beabsichtigten und unbeabsichtigten Konsequenzen daraus entstehen. Diese genuin sozialwissenschaftliche Sicht interessiert Strauss nicht. Gerade hier wäre für einen Kritiker seines Formates eine Möglichkeit gewesen, den für die Moderne so wichtigen und von Weber breit entwickelten Gedanken der paradoxen Folgen ethischen Handelns zu diskutieren und aufzunehmen. So bleibt nur die oberflächlich mit Beispielen belegte Konsequenz, daß Weber in seiner sozialwissenschaftlichen Praxis nicht vor Werturteilen zurückscheute und, wie Strauss betont, durch diese Praxis trotz seiner problematischen, positivistischen Prämissen ein großer Forscher war. Die dabei verfolgte Argumentationsstrategie möchte ich nun anhand von Strauss' Diskussion einer These von Webers Arbeit Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus näher charakterisieren. 126 Im Fall der Schrift über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus will Strauss aufzeigen, wie nachteilig Webers methodologische Prämissen seine Analyse beeinflußt haben. Webers Werturteilsfreiheitspostulat verhindere, wiewohl er den Gegensatz zwischen der Lehre Calvins und ihrer epigonalen Auslegung betont, daß er in der „fleischlichen" Auslegung des Prädestinationsgedankens einen Verfall, ein Verderben der theologischen Position Calvins erkennen kann. Weber zeige demnach auch etwas ganz anderes als intendiert: Nicht der Calvinismus, sondern die Entartung des Calvinismus habe zum kapitalistischen Geist geführt. Aber Strauss bleibt hier nicht stehen; mit Rekurs auf seinen Chicagoer Kollegen Tawney (1972) wird behauptet, Weber könne zudem seine These nur dadurch validieren, daß er sich auf den späten Puritanismus stütze und aus ihm den Geist des Kapitalismus entstehen lasse. Dieser Puritanismus aber habe seinen Frieden mit der Welt bereits gemacht. In einer lange Fußnote setzt Strauss seine Argumentation fort und zeigt, wo er den entscheidenden Bruch in der neuzeitlichen Ethik sieht (NG: 6 2 f f ) . Der Kantianismus hätte Weber dazu gebracht, jede Beziehung zwischen sittlicher Pflicht und Gemeinwohl aufzukündigen. Auf diesem Fundament ruhe Webers implizite Behauptung, alle Bezüge auf das Gemeinwohl seien nichts weiter als verhüllter Utilitarismus. Strauss hält das für anachronistisch und für prinzipiell falsch. Denn der kapitalistische Geist habe die philosophische und theologische Tradition des Denkens mit Bezug auf das Gemeinwohl nicht erschüttert. Den
126
Ein anderes Beispiel wäre die harsche Polemik gegen das Differenzierungstheorem. Weber entwickelt die Ausdifferenzierung von Wertsphären in der Zwischenbetrachtung der
Religionssozio-
logie und legt mit dieser These die Grundlage für die Kollision von Werten, denn in den verschiedenen Sphären dominieren divergierende Orientierungen. Es ist für Strauss durchaus kennzeichnend,
daß er solch
eine
prinzipielle
Frage in einer Fußnoten
erledigt.
Am
Beispiel
der
Ausdifferenzierung der Erotik zu einer Wertsphäre formuliert er, ohne nähere inhaltliche Auseinandersetzung, daß die Annahme einer spezialisierten erotischen Sphäre und der Versuch von Intellektuellen, ihr zu entgehen, wie bei Weber in einer erotischen Weltanschauung münde. „Mit anderen Worten, er bewies, daß seine erotische Weltanschauung vor dem Forum der menschlichen Vernunft nicht bestehen kann" (NG: 69f., FN 27). Die Stelle belegt, wie scharf Strauss gegen das Differenzierungstheorem polemisiert.
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Schlüssel für den Wandel sieht Strauss in dem Bruch mit der tradierten Morallehre, wie er von Machiavelli eingeleitet und von Hobbes, Descartes und anderen vollzogen wurde.127 Die Umwälzung erfolgt also im Bereich der säkularen Wissenschaft und nicht, wie Weber meint, auf dem Gebiet der Theologie. Das ist zwar ein interessantes Argument, aber es trifft Weber nur höchst partiell, denn Strauss geht hier auf den entscheidenden Punkt, auf den es Weber ankam, nicht ein, nämlich auf die Entwicklung der methodischen Lebensführung und ihre Ausbreitung in der Moderne. Die Kritik der Trennung von Fakten und Werten und des darauf aufruhenden Theorems von der unvermeidlichen Wertkollision hat ihr Zentrum in einer fundamentalen Alternative. Strauss stellt nämlich einen konfliktorientierten und einen integrationistischen Politikbegriff gegenüber. Der konfliktorientierte Begriff, für den hier Nietzsche und Weber stehen, baut das Verständnis von Politik als Machtkampf auf einer Auffassung des Lebens als Kampf auf. Diese Sicht fuhrt nach Strauss letztlich zu einer „Kriegerethik" (NG: 67). Der integrative Politikbegriff dagegen stellt die politische Ordnung ins Zentrum. Strauss wirft Weber vor, im Plädoyer für Machtpolitik und Verantwortungsethik so weit zu gehen, daß Frieden zum Gegensatz für Kampf wird (vgl. ebd.). Die polemische Gegenüberstellung von Kampf und Frieden, der Widerstreit der Werte führe notwendig bis zur Annahme eines „kampfzerrissenen Individuums", und Weber werde hier wiederum ein Opfer seiner Prämissen, die keine Hierarchie der Werte zuließen. Strauss macht hier zu Recht eine Alternative auf, die für das politische Denken wesentlich ist und bis in die Antike zurückverfolgt werden kann. Seit dieser Zeit gibt es einen Gegensatz von Piaton und Aristoteles als integrativen Ordnungsdenkern auf der einen Seite und Thukydides, der Machtpolitik beschreibt und thematisiert, auf der anderen Seite. Dieser Gegensatz, seine Modifikation und Variation in politischen Theorien ist für Strauss zentral. Er hat sich häufig mit Protagonisten der konflikttheoretischen Linie, nämlich Thomas Hobbes sowie Carl Schmitt (vgl. 3.2.), auseinandergesetzt und insbesondere in seinem Machiavelli-Buch diese Fragen später vertieft. Zur Denkungsart von Strauss gehört, die Alternativen scharf herauszustellen. Im Falle der Kritik an Weber entgeht ihm deshalb aber zwangsläufig, wieweit dieser selbst auf Ordnung und Integration setzte. So sind Webers Weltkriegsschriften zu einem großen Teil davon getragen, nach dem Krieg eine neue, demokratisierte Ordnung in Deutschland zu ermöglichen, und der ganze zweite Teil von Wirtschaft und Gesellschaft ist mit „Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte" überschrieben. Mit diesen Hinweisen ist nicht entkräftet, daß Weber kriegerische Konflikte zwischen Nationen, vor allem zwischen solchen, die eine weltgeschichtliche Rolle spielen wollen, für wahrscheinlich hält. Weber verfolgt unter Priorität des Nationalstaates einen „realistischen" Ansatz in der internationalen Politik, d.h. er begreift die Nation als integratives politisches Gebil127
In einem Kommentar zu Winthrop S. Hudsons Vortrag „The Weber Thesis reexamined" (Church History 3 0 (1961) 1: 8 8 - 9 9 ; Strauss' Kommentar: 1 0 0 - 1 0 2 ) heißt es zugespitzt gegen Weber: „Yet he failed to consider a fact of the utmost importance, namely, that within the Renaissance an entirely new spirit emerged, the modern secular spirit. The greatest representative of this radical change was Machiavelli and there is a straight line which leads from Machiavelli to Bacon, Hobbes and other Englishmen who in various ways came to exert a powerful influence on P u r i tanism'." ( l O l f . )
KRITIK AM HISTORISMUS UND RELATIVISMUS
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de, in dem der durchaus universell gedachte soziale Kampf eingehegt ist. Insofern gibt es zwar eine Präferenz fiir das Verständnis von Politik als Kampf, aber es ist einer integrativen Auffassung nicht strikt entgegengesetzt. Denn ein scharfer Gegensatz zwischen diesen Auffassungen von Politik besteht nur, wenn man, wie Strauss, einen normativen und metatheoretisch-philosophischen Begriff von politischer Ordnung hat. Wie viele moderne Denker (z.B. Hobbes und Hegel) versucht Weber jedoch, unter Favorisierung einer der beiden Seiten die Alternative zu vermitteln. Dabei verändert sich freilich, was am Beispiel des Naturrechtes noch zu diskutieren sein wird, das normative Niveau, auf dem politische Ordnung bzw. politische Integration gedacht wird. Strauss' Kritik an Weber ist insgesamt vereinseitigend und richtet sich wesentlich gegen dessen „edlen" Nihilismus, der zu Gesinnungslosigkeit führe. Es gibt aber noch eine „positive" Seite in der Kritik. Weber nimmt, so unterstellt Strauss, Religion und fundamentale ethische Orientierungen in ihrer Bedeutung für Politik nicht ernst genug. Der Grund dafür wird implizit in seiner differenzierungstheoretischen Argumentation erkannt. Die von Weber analysierte Differenzierung von Wertsphären liegt der Pluralität der Werte und dem unentscheidbaren Kampf zwischen ihnen zugrunde und wird in Kritik an der Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik fortgesetzt. Das führt nach Strauss dazu, daß die Religion als Ressource für Ordnung unterschätzt wird. In scharfer Abgrenzung formuliert er in diesem Kontext seine bereits mehrfach erwähnte große und letzte Alternative, nämlich entweder ein freies und selbstbestimmtes, der Philosophie geweihtes Leben zu führen oder der Bibel und ihrer höheren Autorität zu folgen (NG: 77). Betrachtet man die Ergebnisse von Strauss' Weber-Kapitel, so macht er im Prinzip zwei Alternativen auf. Zum einen jene, wonach Politik entweder nach dem Modell von Kampf oder nach dem von Ordnung zu denken ist. Zum anderen geht es um die Lebensführung; die Alternative ist hier, entweder ein Leben als Philosoph zu führen oder eines, das sich an den vorgegebenen Mustern der Religion orientiert. Strauss verbindet diese Alternativen allerdings so, daß die zweite Alternative nur im Rahmen der Option für das Ordnungsmodell formuliert werden kann. Dafür muß freilich der stark normative und weite Begriff politischer Ordnung in Anspruch genommen werden. Auf diese Weise wird der Zugang zu einer Reihe sozial wissenschaftlich interessanter Fragen verbaut, vor allem solchen nach der Legitimität politischer Ordnung, bis hin zum Problem, wie Legitimitätsglaube in modernen Staaten funktioniert. All die deskriptiv-analytischen Ziele, die Weber mit seinem Konzept verfolgt, sind nicht wichtig für Strauss, der die Moderne mit Maßstäben, die außerhalb von ihr liegen, kritisieren möchte. Die Exklusion der genannten Fragen resultiert aus der generellen Orientierung von Strauss, das Problem politischer Ordnung nicht als politisches Problem, sondern als ein Problem der guten Ordnung schlechthin zu thematisieren. Er bevorzugt generell die metatheoretischmoralphilosophische Ebene. Thematische Limitationen, die aus Webers Methodik folgen, zeigen sich nach Strauss auch beim Problem der Gerechtigkeit, das Weber im wesentlichen bloß als Frage von Sozialpolitik diskutiere. Von vornherein werde damit unterstellt, daß solche Fragen nicht durch eine Ethik entschieden werden können. Nach Weber gebe es zwei gegensätzliche moderne Konzeptionen: 1. man schuldet dem viel, der viel leistet, und 2. man
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sollte viel von dem fordern, der viel leistet. So gesehen kommt man vor die Alternative, entweder Begabten Chancen zu eröffnen und ihre Nutzung wegen zu erwartender Effekte zu fördern, also Elitebildung zu betreiben oder, im zweiten Fall, Begabte zugunsten der Gleichheit an der Realisierung guter Chancen zu hindern und auf Egalitarismus zu setzen. Strauss nutzt hier zwar einmal das Chancenmodell von Weber, aber er erörtert es nicht und zeigt auch nicht auf, welche Aporien im Verhältnis von Freiheit und Gleichheit damit aufgelöst werden können. Seine etwas kryptische Nutzung von Webers Chancenmodell zum Verständnis der Spannung von Freiheit und Gleichheit hat Strauss erst in einem späteren Aufsatz konkretisiert. In Relativism weist er Arnold Brechts Kritik seiner Weber-Deutung zurück und setzt sich genauer mit dem Freiheitsverständnis von Isaiah Berlin auseinander, der ein modifiziertes Chancenmodell vertritt. Auch Berlins Konzept negativer und positiver Freiheit wird einer scharfen Kritik unterzogen. Es sei eine politische Unterscheidung, die mehr oder weniger umstandslos alle Konzepte positiver Freiheit dem Totalitarismus zuweist und Freiheit nur individuell als Chancen, als geöffnete Türen begreift.128 Wiederum moniert Strauss, daß Freiheit ebenso wie Gerechtigkeit in bezug auf eine politische Ordnung als Ganzes zu denken und daß sie eng mit dem Bildungsgrad und sozialer Schichtung zu verbinden sei. Nun hat Berlin später die politische Motivation seiner Unterscheidung eingestanden und einige Veränderungen vorgenommen, aber die grundsätzliche Problematik positiver Freiheitsbegriffe, also eines Konzeptes, das Strauss präferiert, nämlich einer normativ verbindlichen Auszeichnung bestimmten Tuns, die im Namen von Freiheit Chancen eliminiert, ist zu Recht als letztlich totalitäre Gefährdung nicht revidiert worden. Strauss streitet selbstverständlich auch den Nutzen der Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik ab. Er greift dabei zunächst das Beispiel des Syndikalismus als gesinnungsethischer Position auf, die sich nicht um die Folgen des Tuns schert. Strauss erkennt in dieser Deutung allerdings eine Zuschreibung, die nicht korrekt ist, denn jede diesseitsgerichtete Bewegung würde auf die Folgen ihres Tuns abheben. Gesinnungsethik im strengen Sinne wären nur überweltliche Ethiken. Damit attestiert Strauss Weber die Verwendung einer falschen Unterscheidung, die er selbst in der Konsequenz auflöse, nämlich dann, wenn er von echt menschlicher Ethik spricht, in der immer Momente von Gesinnungs- und Verantwortungsethik vereint sind. Webers Sozialwissenschaft einer entzauberten Welt, die auf ein Gehäuse der Hörigkeit zusteuert, versage sich überweltlichen Erklärungen, aber sie schließe die Möglichkeit einer religiösen Erneuerung nicht aus. Aus Strauss' Sicht verzweifelt Weber am „diesseitig irreligiösen Experiment" (NG: 76) und bleibt ihm dennoch zugetan, und zwar nicht zuletzt im Glauben an eine wertfreie Sozialwissenschaft. In diesem Zusammenhang entwickelt Strauss seinen Grundgedanken: „Die grundlegende Frage ist daher, ob die Menschen die Erkenntnis des Guten, ohne welche sie weder individuell noch kollektiv ihr Leben lenken können, durch die Anstrengung ihrer natürlichen Kräfte ohne fremde Hilfe erlangen können, oder ob sie für diese Erkenntnis der gött128
Vgl. Berlin (1995 [1958]: 10, sowie 4 0 - 5 3 ) . Hier hat Berlin den strikten Charakter der Unterscheidung verteidigt und relativiert. Berlin, der Strauss persönlich kannte, hat sich in einem Interview wohlwollend („ein echter klassischer Gelehrter") und kritisch über ihn geäußert - seine Ablehnung der Welt nach der Renaissance sei „absurd" (vgl. Berlin/Jahanbegloo 1994: 49f.).
KRITIK AM HISTORISMUS U N D RELATIVISMUS
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liehen Offenbarung bedürfen. Keine Alternative ist grundlegender als diese: menschliche Führung oder göttlicher Führung." (NG: 77)
Trotz der radikalen Moderne-Kritik und Dekadenzdiagnose hält Strauss die Alternative Philosophie oder Offenbarung, Athen oder Jerusalem als die grundlegende und immer geltende Alternative fest. Mit dieser Auffassung steht er in einem spezifischen Verhältnis zu Webers tragisch-pessimistischer Zeitdiagnose. Weber erkennt bekanntlich angesichts von ubiquitären Bürokratisierungsprozessen einen unaufhaltsamen Weg in ein Gehäuse der Hörigkeit. Das ist aber keine einfache Dekadenzdiagnose, vielmehr ist die enorme Dynamik der modernen Gesellschaft, Weber zufolge, autodestruktiv, sie fuhrt zur Bürokratisierung und Selbstunterminierung. Webers Schwerpunkt sind Analysen der Moderne und ihrer prekären Tendenzen. Dennoch fixiert er im Rahmen dieser Dekadenzvorstellung abstrakt die Möglichkeit eines Auftauchens neuer Propheten, einer religiösen Erneuerung, da er generell bestrebt ist, Kontingenz und Offenheit der Geschichte zu denken. Was Weber prinzipiell von Strauss trennt, ist, daß er den Zusammenhang von gesellschaftlichen Strukturen und Lebensführung historisch faßt und nicht transhistorisch. Steht Strauss' fundamentale Kritik an Weber nun außerhalb gegenwärtiger Debatten? Man kann dies in zwei Richtungen verneinen. Zum einen ist die Frage der Standards von Standards durchaus aktuell. Das gilt auch fiir den sich bei Strauss an die WeberKritik anschließenden Rekurs auf Themen der antiken politischen Philosophie. So wird die von Strauss postulierte Notwendigkeit einer Hierarchisierung von Werten in jüngerer Zeit bei Alasdair Maclntyre (1995) und Charles Taylor (1989), freilich auf anderen Grundlagen, wieder systematisch diskutiert. Beide haben im Rekurs auf Aristoteles den Zusammenhang von Wertordnung und Lebensführung betont. Auch wenn die Autoren in diesem einen Punkt ähnliche Ziele verfolgen, unterscheiden sich die Argumentationen dabei wesentlich voneinander. Maclntyre argumentiert eher dekadenztheoretisch und plausibilisiert, weshalb man zum aristotelischen Tugendkonzept zurückkehren müsse. Taylor ist an der Moderne und ihren Ambivalenzen interessiert und rekonstruiert aus diesem Blickwinkel divergente Muster neuzeitlicher Identitätsbildung. Er entwickelt eine Unterscheidung zwischen Werten erster (Hypergoods) und zweiter Ordnung, mit der man verdeutlichen kann, was Strauss mit der Problematik der Wertehierarchie anstrebt. Werte zweiter Ordnung, d.h. Ziele, die man unmittelbar verfolgt, sind zu den Werten erster Ordnung, wie Gerechtigkeit, als basalen Orientierungen in Beziehung zu setzen, wenn man eine gelingende Identitätsbildung anstrebt (vgl. Rosa 1998). Um den bewußt im individuellen Leben hergestellten Zusammenhang zwischen solchen Wertorientierungen aufzuzeigen, hat Taylor den Begriff der Lebensführung im Unterschied etwa zu Lebensstil exponiert. Er setzt im Gegensatz zu Strauss allerdings beim sozial eingebettet begriffenen Individuum und nicht bei der politischen Ordnung als ganzer an. Lebensführung als Begriff ist im Unterschied zu Lebensstil eher eine normative Kategorie. Wenn Max Weber von Lebensführung spricht und ihr Ethos kennzeichnet, dann ist wohl wesentlich ein soziologisch-deskriptiver Begriff gemeint, aber die methodische Seite der Lebensführung, die Weber betont, hat auch normative Aspekte.
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6.4
„NATURRECHT UND GESCHICHTE"
Die Rekonstruktion des Naturrechts
Die methodologische Kritik an Weber hat die Ansprüche für Strauss' „positiven" Ansatz hochgeschraubt, und es ist zu fragen, ob seine geistesgeschichtlich-philosophische Rekonstruktion der Entdeckung, der Ausprägung und des schließlichen Verfalls des Naturrechtsdenkens, ob also die positive Darstellung in Naturrecht und Geschichte solchen Ansprüchen genügt. Diese Frage kann allerdings erst am Ende des Kapitels beantwortet werden, zunächst ist zu eruieren, wie und mit welcher Methodik Strauss die Geschichte des Naturrechts als Problem jenseits des Historismus und Relativismus schreibt. Klar ist, daß er hier auf elaborierten Voraussetzungen aufbauen kann; Strauss hat sich bereits in seinen Arbeiten zu Spinoza und Hobbes mit dem Naturrecht auseinandergesetzt; seit Philosophie und Gesetz (1935; PG) trat das metatheoretische Interesse als Frage nach der Ordnung der Ordnung, als Frage nach einem Maß für Maßstäbe für politische Ordnungen in den Vordergrund. Indessen war eine Verteidigung des Naturrechtes, eine Rückkehr zum antiken Naturrecht in diesen Schriften kein Thema. Zwei Gründe standen dem noch im Weg, nämlich erstens die Vorstellung einer nötigen Destruktion eines Teils der modernen Philosophie, die im Kern Verfall sei, und zweitens, daß Strauss lange eine Rückkehr zum klassischen antiken Denken nicht für möglich hielt. Anfang der 1930er Jahre trat diese Option mehr und mehr in den Vordergrund; man kann schon im Hobbes-Buch (1936) ein verstärktes Interesse am Naturrecht beobachten (vgl. HPW: 156). Auch das fulminante Eingangskapitel von Philosophie und Gesetz entfaltet ein zivilisationskritisches Motiv, das sich nicht nur gegen die Aufklärung, sondern vor allem gegen die ihr zugrunde liegende „wertfreie" Naturwissenschaft richtet, und das einen positiv besetzten, qualitativen Begriff von Natur, Natürlichkeit und natürlichem Leben wieder ins Spiel bringt, von dem es zum Naturrecht nicht weit ist (vgl. PG: 21, 23f.). Jedoch erst in den Walgreen Lectures von 1949 wird das substantielle Interesse am Naturrecht in seinem ganzen Umfang sichtbar, wobei sich Strauss auch später immer wieder zum Thema Naturrecht geäußert; so schrieb er für die International Encyclopedia of Social Sciences den Aufsatz On Natural Law (1968). Erst in Naturrecht und Geschichte wird die Vielzahl der Facetten und Aspekte des Ordnungsproblems systematisch sichtbar. Schon in den methodischen Eingangskapiteln diskutierte Strauss die Problematik, wie man dem Historismus und Relativismus, welche die Maßlosigkeit der Aufklärung forciert hätten, durch die Suche nach prinzipiellen Normen für die beste Ordnung entgegentreten könne. Die Teile zur Entstehung des Naturrechtes und seiner klassischen Form setzen diese Argumentationslinie nicht nur fort, sondern entwickeln auch den Zusammenhang des methodischen Problems mit den vielfaltigen strukturellen Seiten, die in Strauss' weitem Begriff politischer Ordnung ebenso eine Rolle spielen wie die damit verbundene existentielle Frage der Lebensführung. Diese Kapitel, in denen Strauss direkter als sonst seine eigene Position deutlich macht, verdienen eine detaillierte Betrachtung, weil sie zeigen, auf welche Auffassungen der klassischen politischen Philosophie er rekurriert.
D I E REKONSTRUKTION DES N A T U R R E C H T S
221
6.4.1 Genesis der Philosophie und des Naturrechts Das Kapitel zum Ursprung der Idee des Naturrechtes ist eine logisch rekonstruktive Darlegung der Entstehung des Naturrechts, die eine eigenwillig zirkuläre Struktur hat, denn sie zieht ihre entscheidenden Argumente aus dem quasi vorausgesetzten Begriff von Philosophie und aus bestimmten anthropologischen Annahmen. Anthropologisch unterstellt Strauss nicht nur eine mehr oder weniger konstante menschliche Natur, sondern auch ein generelles, dem theoretischen Denken vorausgehendes, natürliches Verstehen. Mit deutlichem Anklang an Husserls „natürliche Einstellung" gegenüber den Dingen will Strauss rekonstruieren, was dem philosophischen Fragen vorausging. Wenngleich Strauss insgesamt den Wandel des Naturrechtes interpretiert, so darf man nicht übersehen, daß die in der methodologischen Einleitung aufgeworfene Problematik weiter verfolgt wird. Die Auseinandersetzung mit dem Relativismus wird jetzt unter dem Titel Konventionalismus fortgesetzt. Strauss identifiziert die Entstehung des Naturrechts mit der Genese der Philosophie und behauptet ursprungsphilosophisch, daß mit der Entstehung der Philosophie alle grundsätzlichen Fragen bereits aufgeworfen seien. Er formuliert: „Der erste Philosoph war der erste Mensch, der die Natur entdeckte. Die ganze Geschichte der Philosophie ist nichts anderes als der Bericht von den ständig sich wiederholenden Versuchen zum vollen Erfassen dessen, was in jener vor sechsundzwanzighundert oder noch mehr Jahren von irgendeinem Griechen gemachten Entdeckung schon einbegriffen war [...]. Der Sinn der Entdeckung der Natur kann nicht erfaßt werden, wenn man unter Natur ,die Totalität der Phänomene' versteht, denn die Entdeckung der Natur besteht ja gerade in der Ausspaltung jener Totalität in Erscheinungen, die natürlich sind, und solche, die nicht natürlich sind: ,Natur' ist ein Ausdruck der Unterscheidung. Vor der Entdeckung der Natur erklärte man sich das charakteristische Verhalten irgendeiner Sache oder Klasse von Dingen als ihren Brauch oder ihre Lebensweise. Man nahm also keine grundsätzliche Unterscheidung zwischen Bräuchen oder Lebensweisen vor, die immer und überall gleich sind, und solchen, die von Stamm zu Stamm verschieden sind." (NG: 84)
Wie wird diese Auffassung begründet und welche Folgerungen werden daraus gezogen? Nach Strauss steht ein besonderer Typus des Verhaltens gegenüber der politischen Ordnung historisch am Anfang. Der Grundmodus des traditionellen, vorphilosophischen Verhaltens sei, daß das Angestammte mit dem Guten identifiziert werde und autoritativ bzw. unhinterfragt gelte. Fragt man nun, wie es zum philosophischen Denken kommt, so fragt man im Prinzip danach, wie der subversive philosophische Zweifel in die Welt kommt. Strauss geht davon aus, daß immer ein Interesse an den ersten Dingen bestand und daß dieses Interesse sich wesentlich an den Gesetzen von Gemeinwesen und deren Stabilität festmacht. Erschüttert wird das fraglos Hingenommene durch die Erfahrung einer Vielfalt von anderen Gemeinwesen und damit auch von anderen Regelungen, die entweder vom Hörensagen oder durch Augenschein bekannt sind. Durch diese Kenntnis wird die vorphilosophische Unterscheidung zwischen dem, was ist, und dem, was „künstlich" vom Menschen geschaffen wurde, hervorgerufen. Von da ist es nur noch ein Schritt bis zur Entstehung der Philosophie. Sie setze mit der Frage danach ein, ob es ein Maß für die Ordnung und für das gute Leben gibt. Das ist für Strauss die Idee der Natur.
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Die Natur mußte also entdeckt werden. Dies heißt nicht, daß die äußere Natur zu entdecken war, sondern daß nach der Natur, dem qualitativen Maß für Ordnung überhaupt zu fragen war, welches angesichts der Vielfalt nichts Offensichtliches sein kann. Vor dem Hintergrund dieser Frage konnte dann die vorphilosophische Unterscheidung zwischen dem Natürlichen und dem Künstlichen in die von physis und nomos transformiert werden. Der Naturbegriff, den Strauss nutzt, zielt weder deskriptiv auf die äußere Natur, noch ist er einfach ein Wesensbegriff, der den Gegensatz der Natur zur Kultur nutzt; vielmehr verklammert er die äußere Natur, die natürliche Ausstattung des Menschen und die natürliche Ordnung der Gesellschaft zu einem metaphysischen Ganzen. Mit der Frage nach der Natur ist die grundlegende philosophische Alternative aufgeworfen, nämlich ob und inwieweit es sich bei der guten, naturgemäßen Ordnung um etwas Objektives oder nur um etwas Konventionelles handelt. Mit der Aufnahme dieser Frage setzt Strauss seine Auseinandersetzung mit dem Relativismus aus dem methodologischen Einleitungskapitel von Naturrecht und Geschichte fort. Wichtig sind dabei die Differenzierung von Formen des Konventionalismus und die Transformationen bzw. Substitutionen von Zusammenhängen. Strauss unterscheidet einen einfachen, vulgären Konventionalismus, der sich in der Behauptung resümiert, Gerechtigkeit und Gemeinwohl wären nur Bemäntelungen von Sonderinteressen und arbiträre Konventionen. Diese Auffassung hält Strauss deshalb nicht für präzise, weil unter der Hand doch vorausgesetzt wird, daß sich alle Angehörigen einer Polis an bestimmte, bloß vereinbarte Regelungen halten und damit sehr wohl eine geteilte Auffassung von Gerechtigkeit und Gemeinwohl hätten. Die These des einfachen Konventionalismus wäre damit eigentlich, daß das Recht konventionell ist, weil es auf der Polis und damit auf Konventionen beruht (NG: 111). Der philosophische Konventionalismus lehnt demzufolge ein generelles Naturrecht ab, weil er annimmt, jegliche natürlichen Bedürfnisse stünden in Spannung zur Gerechtigkeit, und weil Gerechtigkeit sich nur auf den Rahmen der Polis bezieht. Damit ist Strauss an dem Punkt angelangt, von dem aus der theoretische Kern des Konventionalismus als Epikureismus bestimmt wird. Das von Natur aus Gute wird hier als Lust gefaßt, und die Lust nimmt die Stelle der Orientierung am Angestammten ein; insofern ist philosophischer Konventionalismus also Hedonismus. Der Konventionalismus hält die Unterscheidung zwischen Natur und Konvention für zentral, aber er verwirft die Natur als „Maßstab". Damit wird nicht nur eine Autoritätsressource besonderer Art verworfen (NG: 11 f.), der Mensch setzt sich zudem selbst über die Natur und deren besondere Würde. Schon in der Antike kommt auf der Grundlage dieses Ansatzes das egalitäre Naturrecht auf. Als moderne Fortsetzung dieser Positionen sieht Strauss das vertragstheoretische Denken an, das allerdings auf einen starken Gerechtigkeitsbegriff verzichtet und die Idee individueller Seelenruhe in die eines Friedens zwischen den Bürgern und äußere Ruhe transformiert. Eine Differenz zwischen philosophischem und vulgärem Konventionalismus wird in Naturrecht und Geschichte durch eine Zuweisung klassischer Vertreter ausgemacht: für den vulgären Konventionalismus steht vor allem Piatons Trasymachos, der das Recht und dessen Geltung an Stärke und Macht bindet sowie das größte Gut mit dem Angenehmen identifiziert. Einen elaborierten philosophischen Konventionalismus vertritt v.a.
D I E REKONSTRUKTION DES NATURRECHTS
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der Epikureer Lukrez. Letztlich behandelt Strauss den vulgären Konventionalismus als eine Entartung des Philosophischen, welche von den Sophisten geleistet wurde, die ihre Redekunst in den Dienst jeder Sache stellten. Wenngleich Strauss die Idee der Natur und ihren Status nicht strikt und systematisch diskutiert, so lassen sich doch zunächst drei allgemeine Aspekte deutlich unterscheiden: die sogenannte äußere Natur, die menschliche Natur und Natur im Sinne einer allgemeinen Wesensbestimmung. Strauss' Akzentuierung der Idee der Natur zeigt, daß er nicht einfach auf die äußere Natur zielt, und auch der Naturbegriff selbst ist erkenntnistheoretisch voraussetzungsvoll, da die verborgene Natur ja erst entdeckt werden mußte. Strauss nutzt insgesamt einen qualitativ-normativen Naturbegriff, der äußere Natur, menschliche Natur und normativ-teleologische Wesensbestimmungen miteinander verbindet. Charakteristisch ist das Changieren zwischen den Ebenen, wozu Strauss bei der Rekonstruktion der Entstehung des Naturrechtes implizit und selektiv auch Husserls Idee nutzt, wonach dem wissenschaftlichen Verständnis ein „natürliches Verstehen" vorgelagert ist (vgl. NG: 83). Hier müsse die Analyse beginnen, und durch sie sollen die Selbstverständlichkeiten, die einfachen Erfahrungen thematisiert werden, die der Entdeckung der Idee der Natur zugrunde liegen. Strauss zielt damit nicht auf eine phänomenologische Analyse von Tätigkeiten oder Praxen, sondern nur auf den Typus politischen Handelns als einem Tun, das vor die Notwendigkeit von Entscheidungen gestellt ist. Die Frage laute daher, woran man sich bei der Vielzahl notwendiger Entscheidungen im allgemeinen orientiert. Genau wenn diese Frage prinzipiell reflektiert würde, entstehe das Naturrecht. In der Analyse der Entstehung des Naturrechtes wird dabei allerdings weit mehr als eine erkenntnistheoretische Perspektive eingenommen, denn Strauss substantialisiert die natürliche Einstellung häufig zur Erkenntnis der natürlichen Ordnung, von natürlicher Ungleichheit und anderem mehr. Dennoch sollte Strauss' Konzept nicht einfach als substantialistisch ad acta gelegt werden; was er hier im Rahmen des Ordnungsproblems aufwirft, ist die alte Frage, inwiefern ein glückliches Leben und ein gerechtes Leben einen Zusammenhang bilden. Sokrates und Piaton haben hier einen strikten Zusammenhang hergestellt. Die Gegenposition repräsentiert tatsächlich der Konventionalismus der Sophisten, die das Glück dem im strikten Sinne gerechten Leben vorziehen. Wie unlängst Martin Seel (1995) gezeigt hat, zieht sich die Debatte um das rechte Verhältnis dieser beiden Lebensorientierungen bis zu Nietzsche hin, der unter dem Primat einer individualistischen Glücksauffassung Tugend und Moral dem Glücksstreben nachordnet, sie aber dennoch beide in ein Verhältnis setzt. Seel hat, wie eine Reihe von Autoren in jüngerer Zeit, und zwar mit deutlichem Rekurs auf die Antike, das Problem des guten Lebens wieder aufgenommen. Seine Idee einer dauerhaften Spannung beider Seiten des moralischen Lebens, des Glückes und der Gerechtigkeit, ist für die Moderne viel eher eine angemessene Idee als Strauss' Auffassungen, denn es geht um eine Vielfalt von Formen des guten Lebens. In dem Moment jedoch, wenn man solch eine Pluralität annimmt, tritt der strikte Zusammenhang zwischen der Ethik und der politischen Ordnung, wie Strauss ihn faßt, in den Hintergrund. Die knappe Gegenüberstellung der beiden Positionen zeigt an, daß Strauss antike Positionen als solche für die Kritik der Moderne verwendet, während Autoren wie Seel, aber auch Martha Nussbaum (1999) und Michael Walzer (1992a) durchaus
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auf die antike Philosophie rekurrieren, aber klassische Positionen modifizieren und reformulieren, um sie für moderne Problemstellungen zu nutzen.
6.4.2 Das klassische Naturrecht Das Kapitel „Klassisches Naturrecht" hat bei Strauss eine zentrale Stellung. Es birgt zugleich enorme interpretatorische Fragen in sich, die schon damit beginnen, inwieweit man, bezogen auf die Theorien von Sokrates, Piaton und Aristoteles, überhaupt von Naturrechtskonzepten sprechen kann. Strauss variiert diese Problematik von vornherein durch eine besondere Klassifikation, er unterscheidet nämlich Typen klassischen Naturrechtes. Den ersten Typ repräsentiert das sokratisch-platonische Philosophieren, den zweiten das aristotelische Konzept und den dritten das thomistische Naturrecht. Neben dieser Typenbildung diskutiere ich in diesem Abschnitt die drei elementaren Problemkreise, die jede Naturrechtslehre enthält, nämlich die Problematik der Natur des Menschen, die Frage der Erkenntnismöglichkeit des Naturrechtes und die Frage nach der natürlichen (der guten) Ordnung einschließlich der Möglichkeiten, sie zu verwirklichen. Die affirmative Beziehung auf die Aussagen von Piaton und Aristoteles erlaubt noch am ehesten, die Position von Strauss zu ermitteln, zumal Strauss hier oft auf das Niveau prinzipieller Aussagen hinüberwechselt. Bevor ich Strauss' Darstellung unterschiedlicher Varianten des Naturrechtes im einzelnen nachgehe, sind ein paar Bemerkungen darüber notwendig, was Strauss unter Naturrecht versteht und was üblicherweise als Naturrecht bezeichnet wird; dem folgt eine summarische Antwort auf die drei systematischen Fragen des Naturrechtes. Das Naturrecht gilt häufig als eine erst von der Stoa ausdrückliche entwickelte Lehre, die zwar an eine Reihe voraufgegangener Auffassungen anknüpft, aber vor Cicero keine systematisierte Gestalt gehabt habe. Alle antiken Theorien haben einen primär politischen Charakter und stellen Rechtsfragen im engeren Sinne nicht in den Vordergrund; der systematische Beginn bei den subjektiven Rechten gilt als Signum modernen Naturrechtes; (vgl. Brandt 1984). Strauss schreibt gegen die Auffassung eines eigentlich erst bei Cicero beginnenden Naturrechtes an und muß sich deshalb gleich zu Beginn des Kapitels gegen die Vorstellung wenden, wonach Sokrates die Philosophie vom Himmel und von der Natur auf die Erde geholt habe. Dies sei unzutreffend, da Sokrates ein neues Verständnis aller Dinge erarbeitet habe, und seine neue Auffassung des Seins schließe den Menschen, die Ethik und Politik und eben auch die Idee der Natur ein. Natur ist für Strauss im Prinzip eine normative Idee, die auf die Ordnung des Ganzen abhebt. Erst durch diese Weichenstellung ist es ihm möglich, seinen weiten Begriff klassischen Naturrechtes zu halten. Mehr noch, nur dadurch kann er die partielle Identifikation von philosophischem Fragen und Naturrecht vornehmen. Zugleich hat er damit auch den Zugang zu einem Erkenntnispfad des Natürlichen eröffnet, der antispekulative und antimetaphysische Züge aufweist. Jede Erkenntnis hebe mit den Meinungen an, da es keinen unmittelbaren Zugriff auf die Realität gebe, und dennoch sei ein Aufsteigen von den Meinungen zur Wahrheit nur denkbar, wenn es einen auf die Erkenntnis der Wahrheit des Ganzen gerichteten Horizont gibt. Die sokratisch-platonischen Erörterungen
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über die Tugend, die Gerechtigkeit und die beste Ordnung können unter der Voraussetzung, daß dieses Ganze naturgemäß sei, als naturrechtliches Denken interpretiert werden. Strauss stützt diese Position zusätzlich, indem er an der von den antiken Klassikern vorausgesetzten Unterscheidung von physis und nomos festhält. Die Stärke der klassischen Autoren sei, daß sie im Gegensatz zum Hedonismus das Gute höher schätzen und im Gegensatz zum Angenehmen begreifen (NG: 130). Strauss' Antworten auf elementare Problemstellungen des Naturrechtes lassen sich wie folgt resümieren: 1. Strauss teilt mit Piaton und Aristoteles das Grundverständnis menschlicher Natur. Der Mensch ist ein soziales Wesen, das sich und seine eigene Vortrefflichkeit nur im Zusammenhang mit anderen entfalten kann. Von Natur her gibt es, im Hinblick auf Anlagen und Vermögen der Menschen, eine deutliche Ungleichheit, von der jede realistische Auffassung von Politik und Gerechtigkeit ausgehen muß. Wegen dieser Ungleichheit sei in jeder Gesellschaft eine hierarchische Rangordnung angelegt. Aus der Natur des Menschen ergeben sich auch eine Reihe von Folgen für die naturgemäße, gute politische Ordnung. Sie muß die Anerkennung der Rangordnung bewerkstelligen, sie ist an bestimmte Grenzen gebunden, die Vertrauen und Übersichtlichkeit ermöglichen. Dies sind zwei der Argumente, weshalb Strauss die Polis, eine Stadt, als den günstigsten Rahmen für die gute Ordnung auszeichnet. 2. Die natürliche Ordnung, d.h. die der menschlichen Natur als einer mung entsprechende Ordnung, könne vom Menschen vermittels des kennens begriffen werden. Dieses natürliche Begreifen ist unter der daß die Idee der Natur entdeckt wurde, für Strauss das philosophische
Wesensbestimnatürlichen ErVoraussetzung, Erkennen.
3. Verbindlich gemacht und realisiert werden könne die beste Ordnung aber nur, wenn eine ganze Reihe von außerordentlichen Voraussetzungen und Bedingungen (z.B. angemessene historische Umstände und befähigte Akteure) gegeben sind. Diese Ordnung sei zwar wahrscheinlich und denkbar, aber ihre Realisierung sei äußerst unwahrscheinlich. Strauss hält an der möglichen Realisierung dessen fest, was im Kern ein Metastandard zur Beurteilung politischer Ordnungen ist, und zwar um dem Utopie-Vorwurf zu entgehen. Wie kann man nun diese Ordnung selbst und Bedingungen ihrer Realisierbarkeit genauer erkennen? Nach Strauss gibt es für Theorie nur den Weg der Erkenntnis, welcher bei der Erörterung von Meinungen und Positionen anhebt. Dies ist der zentrale Zugang zur Wirklichkeit. Gleichwohl muß er die philosophische Erörterung, wenn sie denn die Meinungen und Aporien überwinden soll, näher qualifizieren (NG: 127f.). Hier kommt wieder das natürlichen Verstehen ins Spiel, d.h. das Bestreben, unverstellte Einsicht und die Erkenntnis des Ganzen zu gewinnen. Strauss unterstellt darüber hinaus mit einem an Husserl erinnernden Sprachgebrauch die Möglichkeit der Wesensschau (NG: 129). Fragt man, wie Strauss die Typen des Naturrechtsdenkens bildet und worin ihre jeweilige Verbindung mit dem Problem der guten Ordnung sowie der Gerechtigkeit besteht, so sind zunächst die Merkmale zu rekapitulieren, die für alle Formen fixiert werden. Für die Lösung des gemeinsamen Problems, wie Freiheit und politische Ordnung
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miteinander verbunden werden können (NG: 138), würden bei allen Typen des Naturrechtsdenkens die Prämissen geteilt, wonach das Gute vom Angenehmen zu unterscheiden und eine natürliche Ordnung der Bedürfnisse vorauszusetzen ist, die auf der natürlichen Konstitution des Menschen ruht. Zusammenfassend heißt es: „Daher besteht das dem Menschen eigentümliche Wirken im besonnenen Leben, im Verstehen und besonnenen Handeln. Das gute Leben ist das im Einklang mit der natürlichen Ordnung des menschlichen Wesens stehende Leben, das aus einer wohlgeordneten oder gesunden Seele fließende Leben." (NG: 131)
In einem solchen Leben, das auf der „natürlichen" Sozialität des Menschen beruht, ist die Gerechtigkeit die „Gemeinschaftstugend par excellence" (NG: 133). Die politische Wissenschaft hat die Aufgabe, sowohl die Verfassung als auch die Lebensweise der Gesellschaft zu untersuchen, beide Aspekte seien im antiken Ausdruck „Politeia" bezeichnet, für den Strauss den Begriff des Regimes nutzt. Das beste Regime ist aber nicht nur ein philosophisches Thema, es ist zugleich mehr als ein bloßes Ideal: „Es ist sowohl wünschenswert wie auch möglich, weil es naturgemäß ist. Da es naturgemäß ist, bedarf es zu seiner Verwirklichung keiner wunderbaren oder nicht-wunderbaren Veränderung in der Natur des Menschen. [...] Während jedoch das beste Regime möglich ist, ist seine Verwirklichung keinesfalls notwendig. Seine Verwirklichung ist sehr schwierig, deshalb unwahrscheinlich, sogar äußerst unwahrscheinlich. Denn der Mensch ist nicht Herr der Bedingungen, unter denen es Wirklichkeit werden könnte." (NG: 143)
Man kann an diesem Textstück sehr gut erkennen, wie tragend die Annahmen über die wesenhaft und unveränderlich gefaßte Natur sind. Die Wesenszuschreibungen und die Folgerungen sind nämlich unmittelbar miteinander verknüpft, und aus der normativen Fassung des Wesens des Menschen und der guten politischen Ordnung werden nicht nur allgemeine Standards abgeleitet, um politische Regime überhaupt beurteilen zu können, sondern aus ihnen erwächst auch das Problem der Realisierung solch einer Ordnung. Strauss kann nicht zugestehen, daß diese Ordnung nur ein normatives Konstrukt ist, dann wäre er ja ein moderner politischer Philosoph und seine Behauptung hätte ohne den Bezug auf die antiken Klassiker auch keine besondere Dignität. Das sokratisch-platonische
Naturrecht
Die von Strauss mit mehr als bloßer Sympathie gekennzeichneten Prämissen der verschiedenen Typen naturrechtlichen Denkens lassen seine Präferenz für das sokratischplatonische Denken sehr deutlich durchscheinen. Wie kennzeichnet er diesen Typ aber genauer? Verblüffend ist schon die Wahl der Repräsentanten. Strauss bezieht in diese Form nämlich insbesondere Cicero mit ein und stellt diese Verbindung vor allem durch eine wirkungsgeschichtliche Behauptung her, die er in der Tradition sokratischen Denkens bei den Kynikern sieht, welche von den Stoikern rezipiert wurden. Der Kern dieser Form des sokratisch-platonischen Naturrechtes sei, daß es radikal gedacht wird, nämlich als Gerechtigkeit, in der jeder das Seine bekomme und in der die gesellschaftliche Hierarchie jener der Verdienste entspreche. Wenn man diesen Grundsatz konsequent auslegt, dann ist dieses Naturrecht durch zwei Besonderheiten gekennzeichnet: Zum einen ist es nicht mit dem gesetzlichen Recht und dem Privateigentum
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vereinbar. Denn strikt gefaßt wäre das Naturrecht „Dynamit" für die bürgerliches Gesellschaft. Es muß deshalb mit der Bürgermoral, d.h. mit dem durch Tradition und Verfassung politisch Möglichen, vermittelt werden (NG: 158). Zum anderen stellt Strauss eine doppelte Beziehung zur Theologie her. So, wie es letztlich keine „wahre Gerechtigkeit" ohne göttliche Herrschaft oder Vorsehung geben könne, so konstatiert er auch eine Verwandtschaft „zwischen dem Begriff des Naturrechts und dem Begriff eines vollkommenen Anfangs: des Goldenen Zeitalters oder des Gartens Eden" (NG: 156). Strauss entwickelt die Spannung zwischen dem stark normativen Gerechtigkeitsbegriff und dem, was der Bürgermoral entspricht, auf zwei Wegen, die für sein eigenes Verständnis von Politik durchaus von Belang sind. Der erste ist eine Kritik an der Formalität des Rechtes und des Privateigentums; beide sind für jedes tatsächliche Gemeinwesen von Bürgern wichtig, aber sie stehen im Gegensatz zu starken Gerechtigkeitsforderungen nach dem Muster: Jedem das Seine. Der zweite Weg geht von der Einsicht in den partikularen Charakter jeder politischen Ordnung aus. Wenn es immer eine Vielzahl von Gesellschaften gibt, dann ist Krieg möglich. Da jede Gesellschaft mit dieser Möglichkeit rechnen muß, hat sie eine „Kriegermoral" zu fordern, die wiederum im Gegensatz zu den Forderungen der Gerechtigkeit steht. Insofern wird mit Piaton gefolgert: „das Problem der Gerechtigkeit transzendiert offenbar die Grenzen des politischen Lebens" (NG: 155). Wie Strauss in späteren Schriften (z.B. City and Man) entwickelt, wird Piaton als Realist und Kritiker von Utopien gedeutet, der Gerechtigkeit und das eigentliche Naturrecht gerade unter der Bedingung ihrer außerordentlich unwahrscheinlichen Realisierung (vgl. unten 9.1.) denke. Bei der Situierung von Cicero in diesen eher platonischen als sokratischen Typus naturrechtlichen Denkens, sind zwei Punkte zu beachten. Zuerst fallt auf, daß Strauss Cicero in die Nähe Piatons rückt. Er streicht seine Bewunderung für Piaton heraus und nutzt seinen hermeneutischen Ansatz, indem er die Dialogform stark als Mittel deutet, die eigentliche, esoterische Auffassung zu verbergen. Mit diesen beiden Prämissen kann das abgeschwächte, bekannte Naturrecht von Cicero, das nach Strauss primär Rücksicht auf die Bürgermoral nimmt, als eine zweite, äußere Schicht seines Denkens gesehen werden. Wegen der Entschlüsselung von zwei Textschichten ist es für Strauss auch kein Problem darauf hinzuweisen, daß Cicero die teleologische Sicht der Natur gelegentlich ebenso verwirft wie bestimmte theologische Thesen. Er kann diese Widersprüche auf verschiedenen Textebenen plazieren. Die Umdeutung von Cicero und seine Einbeziehung in den Typ des sokratisch-platonischen Naturrechts hat eine polemische Stoßrichtung, sie weist nicht nur erneut gegen Dilthey, der diese zumindest in Deutschland lange unterschätzte Tradition für das moderne philosophisch-politische Denken betont hat, sondern sie pointiert auch, daß es ein erhebliches Mißverständnis ist, Cicero als Ahnherren für modernes Naturrecht zu lesen. Darüber hinaus reagiert Strauss auf die hohe Wertschätzung, die Cicero in der angelsächsischen Tradition politischen Denkens hat, und zwar, indem er ihn in die Nähe Piatons rückt. Aristotelisches
Naturrecht
Aus einem knappen locus classicus der Nikomachischen Ethik (1134b), der einzigen Stelle, wo Aristoteles ausdrücklich vom Recht von Natur spricht, wird die Auffassung
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von Aristoteles entwickelt. Es fällt auf, daß Strauss Aristoteles aber nicht hinsichtlich seiner ganzen Philosophie aufgreift, denn er geht weder auf seinen Begriff der Natur ein, der doch für die Idee des Naturrechtes tragend ist, noch zeigt er, wie Aristoteles sich auf die Praxis einläßt und aus ihr am Beispiel verschiedener Poleis entwickelt, was das von „Natur aus rechte" unter diesen geschichtlichen Bedingungen ist. Wie diese Auffassung für eine praktische Philosophie im engeren Sinne genutzt werden kann, hat Joachim Ritter (1961) in einer Studie aufgezeigt. Der Gedanke eines normativen Maßstabes fallt, wenn das von „Natur aus Rechte" und seine Realisierung als Praxis zusammen gedacht werden, anders aus. Es hat dann von vornherein viele empirische und normative Facetten. Strauss jedoch ist eher Platoniker und hebt nicht zuletzt deshalb für die Antike auch immer den Begriff der politischen und nicht den der praktischen Philosophie ab. Aus der Passage der Nikomachischen Ethik werden zwei Thesen diskutiert. Die erste setzt bei der Zuordnung des Naturrechts zum Staatsrecht ein. Wenn Aristoteles alle Seinsformen einschließlich der politischen nach ihrem besonderen Maßstab behandelt, dann besagt diese Zuordnung zunächst, daß es nicht um die wahre Gerechtigkeit Piatons geht. Vielmehr impliziert die Zuordnung Strauss zufolge die Behauptung, entwickelte Formen des Naturrechtes gebe es nur zwischen Bürgern. Dieser erste Punkt ist nicht kontrovers, aber der zweite, den Strauss bespricht, führe zu einem „furchtbaren Gegensatz". Aristoteles behaupte nämlich zweitens, das Naturrecht sei veränderlich. Damit könne, wie Strauss mit Thomas von Aquin argumentiert, nur gemeint sein, daß die Anwendungsregeln veränderlich seien. Denn die Annahme der Änderbarkeit von Axiomen würden diese selbst aufheben. Dagegen bringt Strauss auch Auslegungen mittelalterlicher jüdischer und arabischer Aristoteliker ins Spiel, vor allem von Averroes. Nach diesem versteht Aristoteles unter dem Naturrecht juristisches Naturrecht, ein Recht, das nur quasi-natürlich sei. Im Unterschied zum positiven Recht handele es sich hier um wenige universale Gebote, Mindestanforderungen („In großen Zügen entsprechen sie der zweiten Tafel der Zehn Gebote, schließen aber das Gebot der göttlichen Verehrung ein"; NG: 163). Diese Mindestanforderungen müssen ohne Wenn und Aber durchgesetzt werden. Wenn sie ohne Einschränkung gelehrt werden, dann wird den Regeln zwar erhöhte Wirksamkeit verliehen, aber sie werden zugleich unwahr, da sie doch nur konventionelles Recht sind. In dieser Auslegung wird die Veränderbarkeit allen Naturrechtes betont. Die Auslegung der zweiten These mündet in den Gegensatz von Thomas und Averroes, den Strauss durch eine Unterscheidung von Ebenen auflösen will. Gerechtigkeit als eine je konkrete Frage der Anwendung thematisiere Aristoteles mit seiner Unterscheidung von kommutativer und distributiver Gerechtigkeit. Dagegen gebe es aber noch eine weitere Bedeutung: „Das Gerechte ist das allgemeine Wohl, bevor es kommutativ und distributiv gerecht ist" (NG: 165). Strauss macht hier auf einen Aspekt aufmerksam, der nicht mit dem zu identifizieren ist, was gelegentlich auch als dritte, absolute Dimension der Gerechtigkeit bei Aristoteles gefaßt wird, denn er bezieht den Begriff des Allgemeinwohls auf eine bestimmte Gemeinschaft, und zwar unter Einschluß des Erhalts ihrer Existenz wie ihrer Bestandteile. Aus diesen Prämissen folgert er, daß in die Existenzerhaltung auch die Möglich-
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keit von Extrembedingungen (Krieg, Notwendigkeit von Spionage) einbezogen werden müssen. Da solche Situationen nicht vorab geklärt und bestimmt werden können, muß das Naturrecht veränderlich gehalten werden. Insofern könnten generelle Geltung und notwendige Veränderung miteinander vermittelt werden. Was wie ein abgelegener Streit anmutet, ist für Strauss eine wesentliche Frage, denn gleich nach der Vermittlung der Aristoteles-Deutungen von Thomas und Averroes kommt er auf den polemischen Bezug zu sprechen, nämlich auf Machiavelli und der Machiavellismus - beide sind j a Gegenstand einer Dauerpolemik (vgl. NG: 167f.). Machiavelli verwirft das Naturrecht und orientiert sich in seinem Verständnis von Politik prinzipiell an der Ausnahmesituation. Damit gebe er alle übergeordneten Maßstäbe preis und eröffne, so Strauss, unbegrenzter Machtpolitik Tür und Tor. Den dritten Typ des Naturrechtes bildet nach Strauss das thomistische. Diese Form, die er als vornehm und klar bezeichnet, wurde wohl vor allem wegen ihrer langen Wirkungsgeschichte und ihrer nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgenden Erneuerung ir seine Typisierung aufgenommen - man denke in diesem Zusammenhang z.B. an Jaques Maritain, den französischen Neothomisten. Sachlich handelt Strauss diesen Typus außerordentlich knapp ab. Der Grund dafür ist schon seine Gegnerschaft zu allen Vermittlungen von Philosophie und Theologie, und in diesem Sinn weist er auf die Ununterscheidbarkeit dieses Naturrechtes von der theologia naturalis und der Offenbarungstheologie hin. Die drei Typen des Naturrechts haben einige Ansatzpunkte und Problemstellunger gemeinsam, die sie als klassische gegenüber dem modernen Denken auszeichnen, unc zwar die Orientierung an hohen normativen Standards (das gute Leben, die Vortrefflichkeit, die gute Ordnung); sie diskutieren das Problem von Tugenden und Gerechtigkeit als subjektive Voraussetzungen, sind im Kern nicht-individualistisch und zielen au1 die Ganzheit politischer Ordnung. Alle in diesem Sinne von Strauss herausgehobener Punkte und die Art der Thematisierung, nämlich im Rahmen politischer Philosophie, werden substantiell im Kontrast zum klassischen (bürgerlichen) Naturrecht sowie zi seinem Verfall entwickelt, und beide Perspektiven zusammen bilden den Horizont dei Darstellung.
6.4.3 Modernes Naturrecht Die Kapitel zum modernen Naturrecht sind für Strauss' Position in zweifacher Hinsichi kennzeichnend; zum einen für seine Ausformung des Verfallsgedankens und seine Krisendiagnostik, in der ideelle Entwicklungen einen dramatischen Stellenwert haben. Es muß hier noch einmal daran erinnert werden, daß Strauss sich auf spezifische Weise ir Dekadenzdiagnosen einreiht, wie sie Nietzsche und Heidegger, aber auch Husserl in seiner Krisis-Schrift gegeben haben. 129 All diese Diagnosen kennzeichnen die Erhebung 129
Strauss weist Voegelin im Brief vom 9. Mai 1943 auf Husserls Die Krise der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie mit den Worten hin: „I know nothing in the literature of our century that would be comparable to this analysis in rigor, depth and breadth" (vgl Emberley/Cooper 1993: 17).
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der Philosophie zum Kern nicht nur der Geistesgeschichte, sondern der Geschichte überhaupt. Zum anderen zeigen die Ausfuhrungen zum modernen Naturrecht und seinem Verfall Strauss als Interpreten moderner Theoretiker, der sehr prononciert eigene Deutungen entwickelt und auch einige seiner früheren Positionen - etwa im Falle von Hobbes - revidiert. Zum Vater des Verfalls politischer Philosophie ist inzwischen Machiavelli avanciert, der aber keinen eigenen Platz in der Metageschichte des Naturrechtes hat. Was Strauss' eigene positiven Ambitionen angeht, sind sie freilich weit weniger deutlich als in den vorausgegangenen Teilen zum präferierten antiken Denken. Der Grund für den Verfall des Naturrechtsdenkens ist für Strauss insbesondere die Entstehung der modernen Naturwissenschaft, die er aber nie näher diskutiert hat, sondern nur als Bruch mit dem qualitativen Naturbegriff fixiert (NG: 170f.). Mit dem Aufkommen der modernen quantitativen Naturwissenschaft - gedacht ist wohl an Galilei, Bacon und auch Descartes - wird die Warum-Frage durch die Untersuchung dessen ersetzt, wie etwas geschieht und wie man die Veränderung messen, experimentell wiederholen kann. Die von der erfolgreichen und dynamischen Naturwissenschaft genutzten Rationalitätsstandards werden auch für Philosophen zum Vorbild, und genau dann, wenn politische Philosophie nicht mehr als Aufgabe und Rationalitätsform sui generis begriffen, sondern am Muster der Naturwissenschaft ausgerichtet wird, setzt das moderne Naturrecht ein. Es verabschiedet bis auf Restbestände den qualitativen Naturbegriff. Nun kennzeichnet Strauss, im Gegensatz zu typologisch-systematischen Gegenüberstellungen, die man sich in diesem Kontext vorstellen kann, daß er sich gerade für den Übergang als solchen interessiert. Er richtet sein Augenmerk nicht auf die Tradition, in der das Denken immer erstarrt, sondern auf den Moment, in dem das Alte verabschiedet und das Neue erst gedacht und entworfen wird. Solche kognitiven Weichenstellungen enthalten in der Regel verschiedene Positionen und eröffnen insofern große hermeneutische Spielräume. Man ist fast geneigt, vom Paradigmenwechsel zu sprechen, der hier allerdings nur auf Geistesheroen bezogen wird. Der Wechsel erfolge von der politischen bzw. praktischen Philosophie zur Konzeptualisierung von Politik im Rahmen theoretischer Philosophie, d.h. durch den Übergang zu einem dekontextualistischen und szientifischen Konzept. Das moderne Naturrecht stellt für Strauss generell die Abwendung vom antiken Denken dar und ist erst in zweiter Linie ein Bruch mit christlicher Tradition. Den Kern bildet eine Veränderung der Auffassung des Politischen und dessen, was als politische Ordnung begriffen wird. Nach der Verabschiedung vom ganzheitlich-teleologischen Naturbegriff wird nun eine Differenz von Naturzustand und Gesellschaftszustand aufgemacht, und damit wird die Bedeutung vorpolitischer Ressourcen wie Moral und Tugenden, die in der Regel in den antiken Begriff des Politischen integriert waren, verändert. In den modernen Konzepten des Naturzustandes und der Konstitution des Gesellschaftsvertrages oder dem „pactum subjectionis" werden diese Ressourcen systematisch aus dem Zentrum gedrängt. Strauss dagegen thematisiert solche Ressourcen als subjektive Ermöglichungsbedingungen politischer Ordnung auf mehreren Ebenen: zum einen als anthropologische Gegebenheiten, zum anderen sind sie integraler Bestandteil seines ganzheitlichen Politikbegriffes, und schließlich gibt es einen transpolitischen, einen überpolitischen Bereich. Die anthropologischen Gegebenheiten sowie unverfügbare geschichtliche Umstände und der Bezug auf transpolitische Bereiche sorgen für die
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doppelte Einhegung des Politischen. Sie markieren die Grenzen des Politischen und bilden - gesetzt, das Problem der politischen Ordnung wird richtig gestellt - die Schranken gegen den modernen „Machbarkeitswahn". Ein zweiter, ebenfalls eher äußerer Punkt der Differenz zwischen klassischem und modernem Naturrecht ist die Insistenz auf Rechtsbeziehungen, die Entwicklung der Idee subjektiver Rechte. Im klassischen Naturrecht lag der Akzent auf einer Rechtsordnung als ganzer, die zudem durch eine bestimmte Moralität und Sitten gestützt gedacht wurde. Auch dieser zweite Punkt zielt auf eine Auflösung des traditionellen, ganzheitlichen Politikbegriffes. Auch wenn Strauss diesen Punkt betont, nimmt er ihn positiv nicht sehr wichtig, denn auf rechtstheoretische Fragen und auf die dort vollzogenen gedanklichen Innovationen geht er nicht ein. Als Repräsentanten des modernen Naturrechtes behandelt Strauss zwei gegensätzliche Denker, nämlich Hobbes, für ihn: „[...] jener unkluge, koboldhafte und bilderstürmerische Extremist, jener erste plebejische Philosoph" (NG: 172), und den klugen Locke, der aus Vorsicht seine eigentliche Auffassung oft versteckt. Ausdrücklich hält Strauss auf ihn bezogen fest: ,,[E]s gehört jedoch zum Wesen der Klugheit, daß man weiß, wann man sprechen und wann man schweigen muß" (NG: 171). Die kontrastive Charakteristik hat - wie sich zeigen wird - einige Konsequenzen. Typisch für beide Theoretiker sei der Versuch einer rigorosen Vereinfachung der Morallehre, die sich besonders plastisch bei der Reduktion der Vielzahl der Tugenden auf eine einzige zeige (NG: 194). Diese Reduktion bedeute gleichzeitig eine Absenkung des normativen Niveaus, auf dem politische Ordnung diskutiert werde, da die Frage nach der besten Ordnung zugunsten derjenigen nach Ordnung überhaupt, d.h. nach innerstaatlichem Frieden und Rechtssicherheit, substituiert werde. Strauss hat sich mehrfach mit Hobbes auseinandergesetzt (vgl. 3.2.2.). Im Naturrechts-Buch setzt seine Kritik am Grundsatz an, wir verstünden nur, was wir machten. Für ihn ist es dieser Grundsatz, der die Maßlosigkeit von Hobbes' Denken kennzeichnet. Sie liegt laut Strauss in der wissenschaftsgestützten Selbstermächtigung des Menschen, alles zu machen, was möglich erscheint. Zu den Konsequenzen des Bruches mit jeder Form höherer Autorität zählt Strauss die damit verbundene Abwendung von der klassischen Philosophie, das Auslassen der in diesem Grundsatz angelegten Frage, was es sei, was die Menschen nicht machen und worüber sie demnach auch nicht verfügen können. Vor allem aber wird die Art der Thematisierung von Ordnung verändert. Hobbes macht bekanntlich aus der Suche nach der guten, der besten Ordnung die Suche nach einer Frieden und Stabilität ermöglichenden rechtsförmigen Ordnung. Damit ist nach Strauss durch die Absenkung des normativen Reflexionsniveaus das Problem der Macht an die Stelle der Ordnung getreten. Mit dem Machtkonzept identifiziert Strauss vor allem ein instrumentell-technisches Denken, das die gehaltvollen sozio-moralischen Fragen von Ordnung, wie die nach den verschiedenen Tugenden und nach dem, was die Gesellschaft moralisch integriert, ausspart. Der Mensch werde in diesem Paradigma auf ein Triebwesen reduziert, und „der Tod nimmt den Platz des telos ein" (NG: 187). Gerade diese Verwandlung zeige an, wie aus dem Problem der Tugend jeder Inhalt verschwindet, denn die Furcht vor dem gewaltsamen Tod soll via Vertrag in eine nicht näher bestimmte Friedfertigkeit als Tugend verwandelt werden. Es ist die Reduktion und die inhaltliche Entleerung der Tugend, die
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Strauss gleichermaßen kritisiert, denn sie gestatte - bei Hobbes wie bei Machiavelli eine universelle, nicht eingehegte Machtpolitik (vgl. NG: 197). Hier ist nicht der Ort, jene Lesarten weiter zu verfolgen und zu kritisieren; es sollte aber deutlich geworden sein, welche Veränderung Hobbes mit Rekurs auf mathematisch-naturwissenschaftliche Methoden im modernen Naturrecht einleitet. Die offene Radikalität seines Vorgehens zeichnet Hobbes aus. Locke ist in den Augen von Strauss nicht weniger radikal, aber ein weitaus vorsichtigerer Theoretiker, den man ernst nehmen müsse und der nicht, wie häufig, als mittelmäßiger Denker abgetan werden könne, weil dessen Schriften voller Widersprüche seien. Bei der Deutung von Locke nutzt Strauss seine Methode der Adressatenbestimmung. In den Treatises on Government spreche nicht Locke, der Philosoph, vielmehr wende sich Locke, der Engländer, an die Engländer, d.h. er gebe seiner philosophischen Lehre eine bürgerliche Darstellung. Strauss nimmt also zwei unterschiedliche Textebenen an, die sich aus dem Treatise nicht unmittelbar erschließen. Als wichtige Belege für die Vorsicht fungieren insbesondere zwei Befunde. Zum einen stelle sich Locke häufig in den Rahmen der christlichen Tradition, aber er folge ihr nicht reell, wie man am Beispiel des Naturzustandes sehen könne. Locke habe eine eigene Naturrechtslehre und kümmere sich nicht darum, daß es im Sinne des Neuen Testamentes eigentlich nur zwei Zustände geben könne, nämlich den vor dem Sündenfall und den danach (NG: 224). Zum anderen müsse man auch, was das Naturgesetz angeht, Locke genau lesen, denn trotz vieler Worte zu seiner Bedeutung würde Locke kein natürliches Gesetz anerkennen und den Status von Aussagen über den Naturzustand wie Hobbes bloß als „forderliche Theoreme" auffassen (NG: 229, 239). 130 Nun reichen beide Belege aber nicht aus, um Locke in einen Philosophen mit einer besonderen theoretischen Lehre zu verwandeln (das Begriffspaar esoterisch-exoterisch wird hier - wie fast im gesamten Naturrechts-Buch - auffalligerweise nicht eingesetzt). Den Beweis dafür soll die Fassung des Selbsterhaltungsgedankens erbringen. Theoretisch sei bei Locke wie bei Hobbes dieser Gedanke zentral. Aber Locke gibt ihm eine spezielle Fassung; „Das fundamentalste aller Rechte ist daher das Recht auf Selbsterhaltung" (NG: 237), und zur Selbsterhaltung gehört vor allem die Aneignung der notwendigen Lebensmittel. Auch Locke hat demnach in seinem Naturrechtskonzept einen individualistischen Ausgangspunkt und stellt das Glücksstreben über die Gerechtigkeit. In gewisser Hinsicht sei er hier radikaler als Hobbes, denn die Entdramatisierung des Naturzustandes führe bekanntlich zum liberalen Modell eines schwachen Staates, bei dem die Individuen auch ein Widerstandsrecht behalten. Zudem wird das Eigentum zum zentralen Punkt der ganzen Lehre. Strauss stellt diese Seite so stark heraus, daß seine spätere positive Rezension zu Crawford B. Macpherson, der Locke marxistisch als besitzindividualistischen bürgerlichen Denker deutete, nicht verwundert (vgl. SPPP: 229231). 131 Wie Macpherson legt Strauss wenig Gewicht auf die politisch so bedeutsame 130
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In diesen Kontext gehört auch die Bemerkung von Strauss, die Menschen, die bei Locke dem Naturzustand unterworfen sind, wären eher Beispiele für eine Elite von Kolonisten als Indianer (NG: 240). Zur Debatte um Macpherson und zu einer kontextualistischen Interpretation, die die politische Problematik gegenüber dem Besitzindividualismus akzentuiert, vgl. Dunn (1969), Tully (1993).
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Lehre der Gewaltenteilung und auf die Gedanken zur Rechtssicherheit, die für die Wirkungsgeschichte von Locke zentral waren. Gegen Strauss' tiefenhermeneutische Interpretation hat Walter Euchner in seiner Studie über Locke angemerkt, daß Strauss zwar seine These der Lockeschen Abweichung vom traditionellen Naturrecht scharfsinnig vertrete, sich aber seine Behauptung nicht halten lasse, wonach all jene Stellen, da Locke sich auf das traditionelle Naturrecht bezieht, indessen bloße Fassade seien. Denn Locke argumentiere in weiten Teilen mit dem traditionellen Naturrecht. Die stärksten Argumente gegen Strauss' Interpretation zieht Euchner (1979) aus Lockes erst 1954 veröffentlichtem Essay über das Naturgesetz, in dem besonders deutlich werde, daß Locke das Naturgesetz nicht nur als Fassade nutze. Damit breche aber die These vom vorsichtigen, aber dennoch radikalen Locke, die Strauss vertritt, in sich zusammen. Locke erscheint nicht mehr als Denker erster Ordnung, sondern als jemand, der unterschiedliche Traditionsstränge auf nicht konsistente Weise verbunden hat. Nun hat Strauss die Ausgabe der Essays on the Law of Nature in einer langen Rezension selbst später noch besprochen. 132 Interessant ist dabei, wie er hier stillschweigend seine Position revidiert, denn er versucht nicht mehr, die widersprüchlichen Seiten bei Locke tiefenhermeneutisch zu vermitteln. Gleichwohl wird die These von der zentralen Rolle des Selbsterhaltungsgedankens bei Locke bewahrt, und aus dieser Perspektive behauptet Strauss, daß Locke näher zu Machiavelli stehe, als man gemeinhin annehme. Damit ist wohl ein abgründiger machtrealistischer Zug gemeint. Liest man Machiavelli allerdings anders, nämlich als republikanischen Theoretiker, dann kommt bei dieser Parallelisierung eine interessante Frage auf, nämlich, welche anderen Facetten Lockes Auffassung vom Bürger außer der häufig traktierten besitzindividualistischen Seite hatte. Welchen Stellenwert bekommt Locke in der von Strauss konstruierten Linie des Naturrechtsdenkens? Er ist ein moderner Philosoph, der mit der alten Lehre und auch mit der christlichen Tradition bricht, wiewohl er sie zum Drapieren nutzt. Charakteristisch ist sein individualistischer, vertragstheoretischer Zugang zum Ordnungsproblem. Die enorme wirkungsgeschichtliche Dimension allerdings, die gelegentlich bis zu Stellungnahmen reicht, Locke sei der geistige Vater des ursprünglichen amerikanischen verfassungspolitischen Denkens, erwähnt Strauss nur und blendet sie ansonsten aus. Das ist bemerkenswert, denn in der Einleitung zu Naturrecht und Geschichte hob er ja darauf ab, daß die amerikanische Tradition naturrechtlichen Denkens wiederzubeleben sei.
6.4.4 Krise des modernen Naturrechtes Die Krise des Naturrechts meint zunächst die Krise des modernen Naturrechts, das sich recht bald als unzulänglich erwiesen habe. Rousseau und Burke würden auf die Defizite des modernen Naturrechts reagieren und versuchen, es mit antiken Elementen gehaltvoll 132
Vgl. „Locke's Doctrine of Natural Law", zuerst in American 1958, dann in WPP: 197-220.
Political Science
Review, vol. LH,
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anzureichern. In einem weiteren Sinn ist bei Strauss die Krise des modernen Naturrechts in ein allgemeineres Konzept von den drei Wellen der Moderne eingebettet, in denen sich ihre Krise ausbreitet. Diese Krise besteht primär darin, daß der moderne Mensch normative Fragen, nämlich was gut und schlecht, vor allem aber was die gute Ordnung sei, nicht mehr entscheiden könne. 133 Die Wellen der Krise werden jeweils durch geistesgeschichtliche Weichenstellungen ausgelöst. Im allgemeinen macht Strauss folgende Autoren verantwortlich: für die erste Welle Machiavelli, der eine Reduktion von politischer Philosophie auf Machttechnologie betrieb und die klasssischen Tradition abbrach, für die zweite Welle Rousseau, der die Selbstkritik an der Moderne beginnt und dabei sowohl auf die ursprüngliche Natur als auch auf die Antike rekurriert und den Rationalismus kritisiert. Rousseaus widersprüchliche Kritik an der Moderne werde von einer spezifischen Selbstermächtigung des Menschen, der Möglichkeit der Änderung der menschlichen Natur geleitet und münde in einen deutlichen Historismus. Die dritte Welle, die schließlich zum Totalitarismus hinführt, wird durch Nietzsche eingeleitet. Nietzsche thematisierte Fragen der Existenz, der Angst, eines heroischen Lebens, der Macht und Gewalt. Diese Themen und die tragische Sicht historischer Existenz traten an die Stelle von Fragen des Friedens und der Harmonie. Nietzsches Philosophie gebe die Wahrheitsfrage zugunsten eines krassen Relativismus auf und sei offen aristokratisch. Die politische Konsequenz aus der allgemeinen Krisendiagnose lautet: „The theory of liberal democracy, as well as of communism, originated in the first and second waves of modernity; the political implication of the third wave proved to be fascism. Yet this undeniable fact does not permit us to return to the earlier forms of modern thought: the critique of modern rationalism of of the modem belief in reason by Nietzsche can not be dismissed or forgotten. This is the deepest reason for the crisis of liberal democracy. The theoretical crisis does not necessarily lead to a practical crisis, for the superiority of liberal democracy to communism [...]. And above all, liberal democracy [...] derives powerful support form a way of thinking which cannot be called modern at all: the premodern thought of our Western tradition." ( Waves: 98)
Strauss reflektiert ausdrücklich, daß es manch einen verwundern mag, einen Verfall politischer Philosophie zum Kern der Krise der Moderne zu machen. Da es sich bei den Weichenstellern aber um außerordentlich und allgemein wirksame Theoretiker handele, die nicht nur die Theorie verändern, sondern auch das moralische Klima, sei die Diagnose gerechtfertigt. Zudem ist die Moderne als eine rationalistische Kultur an den Glauben an die Vernunft gebunden, dessen Erschütterung durch den Verfall der Philosophie trifft sie demnach im Kern. Strauss plausibilisiert seine Ansicht also und bietet mehr als einen umgestülpten Fortschrittsglauben. Seine Dekadenzdiagnose mißt die Moderne an normativen Ansprüchen, die zumindest durch einen Teil der Aufklärung erhoben wurden. Für seine zugespitzten Urteile muß er freilich einige Aufklärer der Aufklärung gegenüber separieren, wie etwa Lessing, Ferguson und auch Rousseau: Sie werden zu Kritikern der Aufklärung gemacht. Kriterium des Ausklammerns sind der Antikebezug und das Verständnis der Religion. Erst nach diesem Zuschnitt kann die
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Vgl. Leo Strauss: The Three Waves of Modernity, in: Gildin (ed.) 1989: 81-98; Progress or Return; ebd.: 249-310.
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Aufklärung hart als bloß rationalistisch attackiert, ihr dann ein Unverständnis nicht nur der Fragen politischer Ordnung vorgeworfen werden; diejenigen, die in der Debatte zwischen den Alten und den Modernen einseitig die Partei der Modernen ergreifen, könnten nämlich den Konflikt zwischen der Bibel und der griechischen Philosohie, der die Quelle der westlichen Dynamik bilde, gar nicht erkennen (Return: 65). Strauss gibt in seiner Krisendiagnose der Moderne eine geistesgeschichtliche Tiefendimension, und erst dadurch wird deren Ausmaß sowie die Tiefe der Krise deutlich. Es geht nämlich nicht nur um ein Problem der Moderne im engeren Sinn, sondern der westlichen Zivilisation überhaupt. Dieses Herangehen eint Strauss mit Nietzsche und Heidegger, aber auch mit Denkern wie Adorno und Horkheimer, denn sie alle sind davon überzeugt, daß die Krise der Moderne, eine Krise, die zum Totalitarismus führte, letztlich auf fatalen geistigen Weichenstellungen beruht. Diese haben eine Dynamik eigener Art in Gang gesetzt, welche nicht einfach angehalten oder rückgängig gemacht werden kann. Das ist zu einem Gutteil Gemeingut des deutschen philosophischpolitischen Denkens nach dem Ersten Weltkrieg und erst recht in den 1920er und 30er Jahren. In der politischen Kultur der USA, für die Strauss Natural Right and History schreibt, sieht die generelle Bewußtseinslage zwar anders aus, dort dominiert auf vielen Gebieten auf den ersten Blick ein genereller und starker Fortschrittsglaube. Dieser Glaube ist jedoch auch mit einem eher zyklischen Modell des moralischen „up and down" in der Politik verknüpft, dessen Bestandteil fast periodische moralisch-politische Erneuerungs- und Erweckungsbewegungen sind. In diese Sichtweise fügt sich Strauss' Krisendiagnose durchaus ein. Verfallsdiagnosen im engeren Sinn waren anfangs der 1950er Jahre, was politische Philosophie betrifft, durchaus verbreitet, wie schon das berühmte Laslett-Diktum von der zumindest momentan toten politischen Philosophie zeigt. 134 Das gilt aber auch für die politische Theorie im engeren Sinn. Auch ein produktiver, auf eine erneuerte moderne politische Theorie zielender Autor wie z.B. David Easton redete von Verfall, wenn er die Lage im Fach beschrieb. Strauss übertrifft aber wiederum solche Diagnosen einer disziplinaren Krise. Für ihn begann die Krise mit Machiavellis falscher Weichenstellung, und sie ist schon im modernen Naturrecht sichtbar; manifest wird sie bei Rousseau und - was etwas verwundert - bei Burke. Rousseau Rousseau ist in den 1950er Jahren Gegenstand scharfer Auseinandersetzungen. In den Debatten um den Totalitarismus wird er bekanntlich von Jacob Talmon zum Vater der totalitären Demokratie erklärt und in eine Linie gestellt, die von der Wirkung in der Französischen Revolution von 1789 über Hegel und Marx zu seiner Inanspruchnahme im Sowjetmarxismus führt (vgl. Talmon 1961: l f f , 3 4 f f ) . Dabei blieben differenzierte Einsichten nicht selten auf der Strecke. Strauss' Deutung steht im Kontext dieser Debatte, und er entwickelt in ihr eine eigene Position, die sich in verschiedener Hinsicht aus134
Laslett hat seine Einschätzung von 1962 im zweiten Sammelband von Philosophy, Politics and Society (Laslett/Runciman) übrigens widerrufen. Er hält nun fest, die Einschätzung sei unter dem Eindruck der scharfen positivistischen Kritik von Weldon (1962) erfolgt.
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zeichnet. An erster Stelle ist zu nennen, daß er Rousseau als einen außerordentlichen Denker und Philosophen, als ersten großen Kritiker der Moderne auffaßt. Neben dieser Wertschätzung ist bemerkenswert, wie stark Strauss darauf insistiert, die Widersprüchlichkeit in Rousseaus Denken aufzuzeigen. Schließlich gibt es auch eine geschichtliche Dimension, wobei Strauss die philosophischen Auswirkungen und nicht die politischen Inanspruchnahmen interessieren. All diese Aspekte heben Strauss' Lesart aus dem damaligen Diskurs heraus, und Rousseau wird plastisch als innovativer, Probleme aufwerfender Theoretiker charakterisiert: „Die glühenden Felsbrocken, mit welchen die Rousseausche Eruption das Abendland übersät hatte, wurden, nachdem sie abgekühlt und behauen waren, für die imponierenden Gebäude verwendet, welche die großen Denker des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts errichteten." (NG: 263)
In den Blick genommen wurden aber nicht nur die Probleme, die Rousseau aufwarf. Strauss ist von der zeitgenössischen Polemik insoweit unbeeindruckt, als er nachdrücklich auf die modernen, individualistischen Züge bei Rousseau hinweist und statt der politischen Vereinnahmung durch Jakobiner und Kommunisten auf die anarchischen Züge aufmerksam macht, die in dessen anthropologische Prämissen eingelagert sind. Zwischen der Thematisierung von Rousseau im Aufsatz On Rousseaus Intention und der Deutung in Naturrecht und Geschichte besteht, wie Heinrich Meier (1990a) zu Recht betont, ein Unterschied. Im Aufsatz von 1947 wird er als Autor insgesamt philosophisch und hermeneutisch interpretiert. Im Buch dominiert die Beziehung zum Naturrechtsproblem. Dennoch ist auch für diese Arbeit die Differenz zwischen dem zweiten Discours, dem „philosophischsten Werk" (NG: 275), und den anderen Arbeiten wichtig. Der breite Ansatz trägt die Erklärung genereller Widersprüche in Rousseaus Denken, nämlich das Schwanken zwischen einer Rückkehr zur Polis und einer Rückkehr zur ursprünglichen Natur als den normativen Idealen, zwischen denen er sich nicht entscheiden kann (NG: 265). Über dieses Schwanken hinaus verkörpere Rousseaus Denken deshalb die Krise des modernen Naturrechtes in besonderer Weise, weil er dem Naturzustand eine völlig neue Wendung und Bedeutung gibt. Bei Hobbes und Locke ist der Naturzustand im Prinzip ein negativer Maßstab, eine Kontrastfolie, die dazu dient, die Notwendigkeit und die Vorteile des Gesellschaftszustandes aufzuzeigen. Für Rousseau sei es geradezu umgekehrt, bei ihm wird der Naturzustand zum „positiven Maßstab" (NG: 295). Mehr noch, in gewisser Hinsicht nimmt der allgemeine Wille die Stelle des Naturgesetzes ein. Welch eine Veränderung und welch ein Raum für Willkür, wenn man nicht sichern kann, daß der allgemeine Wille, also das Volk als sein Träger, sich nicht irrt! Rousseaus Lösung ist, wie Strauss betont, nur eine Prinziplösung und keine praktische. Praktisch lassen sich seine Ansprüche nur durch Rekurs auf einen exzeptionellen Gesetzgeber realisieren. Erstaunlich ist, daß Strauss Rousseaus Naturbegriff gar nicht näher untersucht, handelt es sich doch um kein quantifizierendes Verständnis. Natur wird vielmehr als eine Wert- und Ordnungskategorie gefaßt, die stets mit menschlicher Existenz zusammen gedacht wird. Aber „Natur" steht bei Rousseau weder in einem heilsgeschichtlichen noch einem metaphysischen Zusammenhang und ist, worauf Robert Spaemann nach-
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drücklich verwiesen hat, ein Emanzipationsbegriff. D.h. aber nicht, Rousseau würde einfach die Naturferne in der Moderne beklagen. Vielmehr problematisiert er besonders die mangelnde Entfaltung der natürlichen Anlagen des Menschen, die eben primär durch natürliche Erziehung und nicht durch künstlich-zivilisatorische Mittel zu bewerkstelligen sei (vgl. Spaemann 1992: 58f., 72f.). In der Anthropologie - so Strauss - lägen die Grundlagen von Rousseaus Konzept. Er hat bekanntlich einen nicht-rationalistischen Begriff des Menschen, der die emotiven und affektiven Seiten (z.B. Liebe, Familie) betont. Zudem nimmt Rousseau eine große Plastizität der menschlichen Natur an, indem er davon ausgeht, daß die menschliche Natur sich im Verlauf der Geschichte gewandelt hat und auch bewußt verändert werden kann (NG: 283). Ja, sogar um Mensch im eigentlichen Sinne zu werden, muß das Individuum seine ursprüngliche Natur schon verändern, denn der Mensch ist, was Rousseau etwas paradox festhält, eigentlich nicht für die Gesellschaft bestimmt. Gesellschaft bedeutet immer Eigentum, Verträge und Institutionen - also Entfremdung statt Unmittelbarkeit. Der spezifische Subjektbegriff, die Aussage, der Mensch sei von Natur gut und werde erst durch die Gesellschaft schlecht, ist die Grundlage für den starken Freiheitsbegriff. Rousseau hebt, wie Strauss zu Recht unterstreicht, die „wahre" Freiheit von der Freiheit des Bürgers ab, die immer beschränkt ist. Dieser anarchische Zug in Rousseaus Freiheitskonzept wird allerdings mit der Wertschätzung der Gemeinschaft verbunden, so daß er auf doppelte Weise festhalten kann, die Freiheit sei wichtiger als das Leben, sie sei dies mit Blick auf die politische Gemeinschaft und eben auch auf das Individuum. Strauss entwickelt in diesem Kontext Aporien eines letztlich individualistischen Tugendkonzeptes, das sich bei Rousseau mit einem positiven Freiheitsbegriff verbindet. Er zeigt auf, daß Freiheit an politische Ordnung gebunden ist, während bei Rousseau der starke Freiheitsbegriff inhaltlich leer bleibe. Dennoch habe Rousseau ein Bewußtsein des Verhältnisses von der Unbestimmbarkeit eines Freiheitsbegriffes und der notwendigen Bestimmtheit in bezug auf eine Ordnung, auf bestimmte Orientierungen u.a.m. (vgl. NG: 300). In der Rezeption ging dieses Bewußtsein schon deshalb verloren, weil Rousseau ihm keinen klaren Ausdruck gab, weshalb seine Auffassungen „die ideale Basis dafür" wurden, „sich von der Gesellschaft aus auf etwas Unbestimmtes und Unbestimmbares zu berufen, auf ein letztes Heiligtum des Individuums als Individuum, unerlöst und ungerechtfertigt" (NG: 307). Gegen diese letzte Konsequenz wendet Strauss ein: „Jede Freiheit, die Freiheit für etwas ist, jede Freiheit, die durch Bezug auf etwas höheres als das Individuum oder den Menschen als bloßen Menschen gerechtfertigt ist, schränkt die Freiheit notwendigerweise ein, oder, was dasselbe ist, errichtet eine haltbare Unterscheidung zwischen Freiheit und Zügellosigkeit. Sie läßt die Freiheit durch den Zweck bedingt sein, durch den sie beansprucht wird." (NG: 307)
Rousseau arbeitet nach dieser Lesart sowohl mit antiken als auch mit modernen Theoremen, die nicht synthetisierbar sind. Er könne nicht zuletzt deshalb, trotz starker normativer Orientierungen und obwohl er die verschiedenen Bedingungen der Möglichkeit politischer Ordnung (objektive Umstände, sittliche Substanz eines Volkes und morali-
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.NATURRECHT UND GESCHICHTE"
sehe sowie politische Tugend als subjektive Voraussetzungen) diskutiert, kaum inhaltlich positive Bestimmungen der guten Ordnung entwickeln. Aber er ist, wie Strauss zu Recht hervorhebt, ein unermüdlicher Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft, der mit seiner Kritik Unmengen an Munition für nachfolgende Philosophen lieferte. Gerade deshalb und auch, weil mit ihm die Krise der Naturrechtsdenkens beginnt, wirkte er wegweisend. Burke Strauss mißt auch Edmund Burke eine prominente Rolle bei seiner Darstellung der Krise des modernen Naturrechtes zu. Das überrascht, ist Burke doch eher ein pragmatischer Theoretiker, der seine theoretischen Überlegungen anhand politischer Probleme entwickelte. Aber darauf scheint es Strauss auch nicht anzukommen, denn er behauptet, die Stärke von Burke sei seine enge Beziehung zur praktischen Politik, und darin liege ein verbindendes Element seines Denkens, welches das vielfaltige Engagement in der irischen und indischen Frage sowie der amerikanischen Unabhängigkeit und französischen Revolution verbinde. Damit rückt Strauss Burke in eine ungewöhnlich weite Perspektive; denn Burke wird oft nur als Vater des Konservatismus und von seinem Spätwerk - der Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution her gedeutet. Sein Œuvre hat mehrere Schichten und ist bis heute umstritten. 135 Indes, so sehr Strauss die politische Seite betont und so sehr er sich selbst für Rhetorik als Kunst des Verbergens tiefsinniger philosophischer Wahrheiten interessiert, die politische Rhetorik Burkes, die Kunst des Überredens, Überzeugens und Beeinflussens interessiert ihn nicht. Interpreten von Strauss' Deutung haben nun gerade jene Einheit, auf die er abzielt, zerlegt - so behauptet Steven Lenzer (1991), es gäbe drei Auffassungen von Burke bei Strauss. Strauss hat nicht so sehr verschiedene Auffassungen über Burke, sondern geht, was gelegentlich übersehen wird, in zwei Schritten vor. Zuerst entwickelt er nämlich die Nähe, die Burke zu antiken Klassikern, vor allem zu Aristoteles, hat, und erst danach zeigt er dessen Differenz zur Antike auf. Strauss' Ziel besteht darin zu demonstrieren, wie man nach Rousseau auf die Idee kommen konnte, zum Naturrecht der Alten zurückzukehren, und warum dies wegen der modernen Prämissen, die auch Burke unterstellt werden, nicht gelingt (NG: 307). Dafür sei insbesondere die Auffassung von Theorie und Praxis relevant. Für Burke, den großen konservativen Kritiker der Französischen Revolution von 1789, ist diese Revolution bekanntlich der reelle, praktische Übergang von der praktischen zur theoretischen Politik. Wie Strauss mit Burke betont, ist sie der Versuch, Abstraktionen zu realisieren. Gegen diese „verhängnisvolle Entwicklung" gibt Burke die Losung „Zurück zu Aristoteles" aus. Strauss formuliert in diesem Zusammenhang sogar, er spreche machtvoller über die Klugheit und die Beziehung von Theorie und Praxis, als dies Aristoteles selber getan habe (NG: 316). Dennoch vollzieht Burke keine Erneuerung des aristotelischen Denkens, denn er bricht mit der alten Ordnung der Vita activa und der Vita contemplativa, in dem er sich von letzterer abwendet. Strauss liest -
135
Eine neuartige und auf die Einheit des Werkes zielende Deutung hat O ' B r i e n vorgelegt ( 1 9 9 2 ) .
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wie man an dieser Interpretation deutlich sieht - Burke letztlich als Philosophen und nicht, was die alternative Möglichkeit wäre, als einen politischen Denker, der politische Probleme per se unter dem Blickwinkel ihrer Implementationsmöglichkeiten begreift. Nur als Philosoph läßt sich Burke straussianisch zum Theoretiker der Krise des modernen Naturrechtes machen. Die Stärke von Burkes Argumentation ist in dieser Perspektive nicht eine positive Entfaltung von klassischen Problemen des Naturrechts, sondern seine scharfe Auseinandersetzung mit dem modernen legalistischen Naturrecht, wie es die französischen Revolutionäre für ihre Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte nutzten. Strauss zeigt an mehreren Beispielen auf, wie Burke gegen das abstrakte legalistische Denken argumentiert. Burke stelle dem abstrakten Legalismus, der von den konkreten Kontexten absieht und sich oft nicht einmal fragt, welche Instanzen denn bestimmte Rechte garantieren und durchsetzen sollen, einen politischen Rechtsbegriff entgegen. Dieser Rechtsbegriff setzt nicht nur auf eine evolutionäre Rechtsentwicklung, sondern verkoppelt das Recht mit Traditionen und Sitten. Rechte sind so gefaßt per se mit Pflichten und mit Tugenden verbunden, also mit den subjektiven Fähigkeiten, die Rechte und Pflichten ausüben zu können. Aber auch hier zeigt Strauss, wie weit sich Burke von den antiken Philosophen entfernt hat. Seine politische Theorie - im Kern eine Theorie der britischen Verfassung - ist auf zweifache Weise historistisch. Zum einen setzt Burke generell auf Rechtsveränderung in Form von „organischem Wachstum"; den bei den antiken Klassikern vorwiegenden Gedanken eines starken Gesetzgebers und der unter Sonderbedingungen möglichen Kreation einer Verfassung hat er ad acta gelegt. Damit ist aber auch - wenn man ihn etwa mit Rousseau vergleicht, der in der Frage des Gesetzgebers noch klassisch argumentierte - die Idee eines absoluten, eines ausgezeichneten Momentes in der Geschichte aufgegeben. Hinzu kommt, daß Burke bei den Verfassungen für Wachsen optiert, während es für die klassische politische Philosophie um ein Konstruieren geht, bei dem einzelne Individuen, nämlich besondere Gesetzgeber (Solon, Lykurg, etc. pp.), eine herausgehobene Rolle spielen. Dennoch vollzieht Burke keine Erneuerung des aristotelischen Denkens, denn er bricht mit der alten Ordnung der Subsumtion der Vita activa unter die Vita contemplativa, und zwar durch die Aufwertung der Geschichte. Burke, der den Historismus substantiell beforderte und auf viele deutsche Philosophen wirkte, sei in dieser Hinsicht radikaler als Hegel, da letzterer den Gedanken eines absoluten Momentes, eines „Zu-SichKommens" der Geschichte nicht preisgab (NG: 329). Den Naturbegriff und sein Gegenstück, die Künstlichkeit, unterzieht Strauss keiner näheren Betrachtung 136 ; aber auch hier gelte, so Strauss, Burke gehe nicht auf die Klassiker zurück, sondern transformiere den Gegensatz von physis und nomos. Das Gewachsene wird für natürlich erklärt, ebenso das Gemachte, wenn es in einem bestimmten Rahmen bleibe. Werde der Rahmen gesprengt, wie in der Französischen Revolution, dann sei das etwas Widernatürliches. Diese zwiespältige Vorgehensweise ist nötig, denn Burke polemisiert zwar gegen Rousseau, ist aber Historist wie dieser und will die Legitimationsressource „Natur" nutzen. Zudem spielt auch der christlich-religiöse Hintergrund bei Burke eine Rolle; er ist für Strauss der zweite Bezugspunkt, über den er den 136
Vgl. zu diesem Problem Hilger (1960: 5 - 2 0 ) .
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Allmachtsanspruch des Menschen, wie er im modernen Naturrecht proklamiert wurde, entgegentrete. Auch in Burkes Verhältnis zur Metaphysik entdeckt Strauss eine selektive Haltung zur Antike. Burke lehnt die Metaphysik, insbesondere die von Aristoteles ab und favorisiert Epikur, wofür es verschiedene Gründe gibt, zu den auch gehört, daß Epikur mehr zur modernen Naturwissenschaft zu passen scheint. War der Freiheitsbegriff bei Rousseau in letzter Konsequenz leer, so ist der ebenfalls positive Freiheitsbegriff bei Burke mit Pflichten gefüllt (vgl. NG: 306, 310). Damit kann zwar das liberale Modell kritisiert, Freiheit und Ordnung können aber nicht so einfach verkoppelt werden. Strauss hebt in diesem Kontext hervor, daß bei Burke „der Mensch [...] niemals der sehende Herr seines Schicksals werden" kann (NG: 329). Inwiefern ist Burke nun für Strauss generell Ausdruck der Krise des modernen Naturrechtes? Er ist dies, weil er die modernen Prämissen nicht verläßt und nur partiell auf die vorbildlichen antiken Theoretiker rekurriert. Lenzer verdeutlicht die Stoßrichtung von Strauss' Kritik: „The Burke section of the ,Crisis of natural Right' could be read, in part, as Strauss's Statement about the insufficiency of an appeal to Burke as a means of staving off the crisis of the West" (1991: 377). Am Ende der Darstellung der Krise des modernen Naturrechts anhand von Burke ist Strauss wieder am Anfang des Buches, nämlich bei den methodologischen Fragen des Historismus angekommen. Bemerkenswert ist, wenn man auf das ganze Unternehmen blickt, daß Strauss ohne viele für das Naturrecht wichtige Autoren auskommt - was die positiv konstruktive Linie angeht, sei hier wenigstens Hegel genannt, und von den Kritikern Hume. Es handelt sich mithin um eine selektive Präsentation des Naturrechtsdenkens, eine Art innere Problemgeschichte, in der die Vielfalt oder die Theoriegeschichte in ihrer Breite - für Strauss ein historistischer Ansatz - nicht interessiert. Der elliptische Gesamtcharakter von Naturrecht und Geschichte ist ein wesentlicher Indikator für Strauss' durchgehend vom kontrastiven Vergleich zwischen dem antiken Naturrecht und seinen modernen Formen gekennzeichneten Horizont, in dem die ganze Darstellung erfolgt. Auch wenn man also gelegentlich einen anderen Eindruck haben kann, sind die verschiedenen antiken und modernen politischen Philosophien kritisch aufeinander bezogen. Die Intention der Theoretiker, ihr Denken wird nicht für sich genommen betrachtet. Strauss präsentiert das Naturrechtsproblem insgesamt als eine Frage nach dem „Maßstab" für eine gute Ordnung. Er fragt jedoch nicht nach einem Maßstab im eigentlichen Sinn, sondern nach einem qualitativem Maß, nach einem normativen Horizont für die Bildung von Normen politischer Ordnung. Er nutzt und bleibt dabei auf einer Metaebene des Denkens, die sachlich bestimmte Fragen politischer Ordnung wie etwa gesellschaftliche und institutionelle Strukturen oder die Verfassung weitgehend ausklammert. Das methodische Problem, wie die Ordnung der Ordnung gedacht werden kann, steht also insgesamt im Vordergrund und ist bei Strauss substantiell mit der existentiellen Dimension politischer Ordnung verknüpft. So zielt sein antithetisches, auf prinzipielle Alternativen gerichtetes Denken auf die Entscheidung zwischen dem philosophischen und dem an der Religion orientierten Leben. Diese Entscheidung ist, wie insbesondere Strauss' Deutung des klassischen Naturrechtes zeigt, mit Annahmen über die natürliche Ungleichheit der Menschen verknüpft. Genereller
D I E REKONSTRUKTION DES NATURRECHTS
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wird die existentielle Dimension des Ordnungsproblems als Frage subjektiver Ermöglichungsbedingungen einer guten politischen Ordnung, als Frage der Tugenden diskutiert. Strauss wirft die Frage der Lebensführung, der Tugenden als subjektiver Seite von Ordnung auf und setzt sie primär zu Moral und Religion in Bezug. Insgesamt gesehen werden Fragen der Struktur einer guten Ordnung unter dem Primat des Methodischen oder der existentiellen Dimension von Ordnung diskutiert. Wenn Strauss in diesem Kontext Moral und Religion zu zentralen Ressourcen der guten Ordnung erklärt, dann sind dies Wesensbestimmungen, die institutionell nicht näher beschrieben werden. Mit der Konzentration auf die methodische und existentielle Dimension des Ordnungsproblems kann Strauss allerdings weder den Reichtum der platonischen Überlegungen zum Ordnungsproblem ausschöpfen, noch sind so die neuen Akzente der in der Renaissance anhebenden modernen politischen Philosophie positiv faßlich. Das Naturrechts-Buch fuhrt verdeckt eine methodische Debatte fort, die Strauss häufig aufblitzen läßt, aber nicht zusammenhängend entwickelt. Sie setzt bei dem Problem an, daß insbesondere seit Machiavelli Politik bzw. das Politische vom Extremfall, von der Ausnahme bzw. dem zugespitzten Konflikt her gedacht wird. Strauss spricht sich deutlich gegen das Begreifen von Politik bzw. politischer Ordnung vom Extremfall, von der Ausnahmesituation her aus. In diesem Sinne polemisiert er mehrfach offen gegen Machiavelli, Hobbes und auch gegen Webers Konfliktbegriff von Politik (NG: 166, 167, 186f., 203). Daß es hier um eine prinzipielle Frage geht, erhellt nicht nur der wiederholte Rekurs auf das Problem, sondern auch die Art, wie Strauss das Problem von einzelnen Denkern ablöst und dem Machiavellismus als solchem zuschreibt. Die im Hintergrund stehende Bezugsfigur ist niemand anders als Carl Schmitt, der politisch-juristische Theoretiker des Ausnahmezustandes par excellence. Es lohnt sich, einen Augenblick bei dieser Polemik zu verweilen, denn es ist eine offene Frage, ob und inwieweit Strauss das Politische selbst als Normalfall denken kann. Das Setzen auf prinzipielle Alternativen und die Zuspitzungen von Problemen kann ja indirekt die via Naturrecht erfolgende Bestimmung des Normalfalles selbst in eine Ausnahme, eine Art von Extremfall verwandeln. Eine Antwort auf die Frage ist nicht leicht, denn Strauss zieht sich auf das Niveau ewiger philosophischer Fragen zurück und verwandelt die Alternative in einen theoretischen Zugriff, der mit dem Problem, was bzw. welcherart der Normal- oder der Ausnahmefall ist, nichts zu tun hat. Man geht nicht fehl in der Annahme, im Gegensatz von Normalfall vs. Ausnahme eine ewige Alternative von Strauss zu sehen. Dennoch darf man hier nicht dem ersten Eindruck folgen, da Strauss' Normalfall in dreierlei Hinsicht Ausnahmesituationen einschließt: Was die Anerkennung der Offenbarungsreligion angeht, so nimmt er die immerwährende Möglichkeit des Auftretens von Propheten an, bei der Entstehung der klassischen politische Philosophie und auch bei der Entstehung der modernen politische Philosophie sind es jedesmal exzeptionelle, besonders fruchtbare Augenblicke, in denen die Tradition nicht mehr wirksam ist und kein schon elaborierter neuer Denkrahmen den Zugang zu den Problemen und authentischen Erfahrungen verstellen. Die Pointe besteht nun darin, daß Strauss diese wenigen Momente, diese Ausnahmen, in denen ein neues Denken geschaffen wurde, zu immerwährenden Möglichkeiten erhebt und so Ausnahmen zur möglichen Regel erhebt. In Differenz zu
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Schmitt, der bekanntlich begrifflich und reell die Ausnahmesituation im B l i c k hat, thematisiert Strauss jedoch viel stärker die Möglichkeit, den Normfall, nämlich ein Muster der guten Ordnung schlechthin zu denken. Ein weiteres generelles Problem und zugleich eine zweite Linie der Kritik an Schmitt, aber auch an Weber ist Strauss' Auseinandersetzung mit dem Säkularisierungstheorem (vgl. N G : 330ff.). Max Weber hatte Säkularisierung v.a. in der Hinsicht begriffen, daß es moralisch-religiöse Voraussetzungen des Kapitalismus gibt, die diesen nicht nur erst ermöglichen, sondern in seiner Entwicklung eine weitgehende Veränderung durch weltlichen Gebrauch erfahren. In diesem Sinn wird bei ihm aus der Berufsethik ein unentrinnbares Gehäuse. Carl Schmitt war in seiner Schrift Politische Theologie I ( 1 9 9 0 ) weiter gegangen. Er behauptet bekanntlich, alle politischen, staatsrechtlichen Begriffe seien säkularisierte theologische Begriffe, wobei Parallelen zwischen dem Begriff des Wunders und dem Ausnahmezustand das Paradebeispiel bilden. Dem hält Strauss entgegen, es könne hier gar nicht von einer Säkularisierung gesprochen werden, die dadurch abläuft, daß andere Wissenschaften ursprüngliche theologische Konzepte übernehmen; es handele sich im Gegensatz dazu vielmehr um eine Anpassung der Theologie an den Zeitgeist. Demnach ist die Säkularisierung gleichsam eine optische Täuschung, und er kritisiert verschiedene Varianten des Säkularisierungstheorems. Seine Kritik verdeutlicht, daß er nicht nur politischer Theologie im Sinne von Schmitt, sondern auch einer politische Philosophie, die eine Vermittlung mit theologischen Motiven vornimmt (das ist sein Dissens mit Voegelin, der weiter unten gesondert behandelt wird) fernsteht und dennoch Religion für eine wesentliche Seite des Problems politischer Ordnung hält. Fragt man nach den bleibenden Leistungen des Naturrechts-Buches, so ist an erster Stelle die eingangs des Kapitels behandelte methodologische Kritik am Historismus und Positivismus zu nennen. Hier hat sich Strauss exponiert und ist mit seiner Kritik vielfach und kontrovers wahrgenommen worden. Die hohen methodischen Erwartungen, die er in den Eingangskapiteln weckt, kann Strauss aber selbst nicht halten, denn er entwickelte keine präzise Begrifflichkeit um seine metatheoretischen Probleme - die Ordnung der Ordnung, normative Standards, nach denen normative Standards gebildet werden können u.a.m. - am Beispiel des Naturrechtes zu diskutieren. Er zeigt jedoch die Relevanz solcher metatheoretischen Fragen eindringlich auf. Schließlich ist als Leistung die Vielzahl heterodoxer Interpretationen politischer Philosophen zu nennen, die er entwickelt hat. Strauss macht insgesamt eine enorme Verlustrechnung auf, die zeigt, was an Themen, Problemen und Methoden in der mit Machiavelli und Hobbes beginnenden modernen politischen Philosophie verlorenging. Man sollte nun gerade von einem Gegner vermittelnden Denkens nicht die notwendige Gegenrechnung einfordern, zumal er sie von seinen Prämissen her nicht leisten könnte. Darüber hinaus gilt es zu bedenken: Es sind die theoretisch radikalen Positionen, die die Grenzen des Diskurses definieren bzw. verschieben und damit einen Rahmen spannen für das, was thematisiert werden kann. Da Strauss als Gegner des Historismus keine Erklärung, sondern eigentlich nur eine Beschreibung des Verfalls der politischen Philosophie in der Moderne gibt und dadurch den Rückweg zur klassischen Philosophie bahnen will, muß er auch besonde-
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re Gründe namhaft machen, warum solch ein Verfall möglich war. Seine tiefenhermeneutische Methode, die zwischen exoterischer Textpräsentation und esoterischer Lehre unterscheidet, liefert die Erklärung: Der Verfall ist eine Folge des Vergessens dieser Methodik und des damit einhergehenden Verbleibens an der Oberfläche von Texten. Zugleich kann Strauss nur mit einer solchen Methodik seine Lesart vom Vorwurf des Subjektivismus freihalten, denn er rekurriert - wie in Kapitel 4 gezeigt - auf eine unter der Oberfläche liegende Tiefendimension der klassisch-antiken Texte.
7.
Drei Varianten von Moderne-Kritik (Arendt, Voegelin, Strauss)
Die Entwicklung der amerikanischen Politikwissenschaft ist ohne das Engagement großer Stiftungen nicht zu begreifen. So erfuhr der Behaviorismus, um ein prominentes Beispiel zu nennen, erhebliche Unterstützung von der Ford Foundation. In diesem Kapitel spielt eine andere Stiftung, die Chicagoer Walgreen Foundation, eine Rolle. Durch ihre Förderung sind nicht nur einige Arbeiten von Leo Strauss, sondern auch von Eric Voegelin und Hannah Arendt vorangetrieben und bekanntgemacht worden. Die Monographien Naturrecht und Geschichte (Orig. 1953a; dt. 1956), Die Neue Wissenschaft der Politik (Voegelin 1952) sowie Vita activa (Arendt 1958) sind zunächst als Walgreen Lectures präsentiert worden.137 Das ist kein Zufall, es hat vielmehr mit der Politik der Foundation und bestimmten politischen Präferenzen zu tun. Über diesen äußeren Umstand hinaus ist es interessant, Parallelen und Differenzen zwischen den drei Exilanten, die auf dem Feld normativer politischer Theorie in den USA sehr wirksam wurden, zu untersuchen. So kann deutlicher gemacht werden, was sie als Exilanten mitbrachten und wie sie sich auf unterschiedliche Weise in die amerikanische Politikwissenschaft einbrachten, wobei in der historischen Retrospektive die Gemeinsamkeiten, die sich auf die akademische Sozialisation in Deutschland bzw. Österreich gründen, deutlicher hervortreten, während die Unterschiede und Gegensätzlichkeiten, die diese Autoren wechselseitig herausstellten, etwas in den Hintergrund rücken. Durch eine solche Betrachtung verlieren Strauss' Denken und sein Weg in den USA etwas ihren singulären Status. Zu den offensichtlichen Gemeinsamkeiten von Arendt, Voegelin und Strauss gehören die starke philosophische Orientierung, eine Vorliebe für die griechische Antike und ein kritisches Verhältnis zur empirischen Sozialwissenschaft. Diese geteilten Präferenzen spielen bei der Verpflanzung in ein anderes akademisches Milieu eine wichtige Rolle, ebenso wie das politische Problem des Totalitarismus, das sie mit ins Exil nahmen. Diese politische Problematik wird dabei zunehmend verallgemeinert und als Krise der 137
Der Titel von Voegelins Walgreen Lecture lautet: „Truth and Representation", die anderen beiden Lectures standen bereits unter dem späteren Buchtitel. Ich verwende in diesem Kapitel auch für Arendts und Voegelins Buch Siglen: Vita Activa (VA) und Die neue Wissenschaft der Politik (NWP).
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Moderne gefaßt. Besonders interessant ist, wie sich die philosophisch orientierten Autoren in die amerikanische Political Science einbringen. Die amerikanische Politikwissenschaft der 1940er und 50er Jahre war im Prinzip eine pragmatisch und empirisch ausgerichtete Wissenschaft und zugleich erfolgte in diesem Zeitraum ihre Szientifizierung, und nicht zuletzt unter Mitwirkung von Arendt, Voegelin und Strauss setzte die Verselbständigung der politischen Theorie zur Subdisziplin ein (vgl. Gunnell 1993). In dieser Konstellation werden eine Reihe von Themen, wie das Verhältnis von Liberalismus und Demokratie, die Moderneauffassung und der Positivismus verstärkt diskutiert.
7.1
Die Walgreen Foundation
Die Walgreen Foundation zum Studium amerikanischer Institutionen hat eine eigenwillige Gründungsgeschichte. Charles R. Walgreen, einflußreicher Besitzer einer DrugstoreKette, stiftete das Grundkapital nicht ganz freiwillig, sondern erst nach einer Auseinandersetzung mit der Universität. Das Geschehen ist rasch skizziert. 1935 kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen Walgreen und der Universität, die Eingang in die überregionale Presse fand. Eine Nichte von Walgreen, die an der University of Chicago ein College besuchte, muß erzählt haben, daß Theorien von Karl Marx im Curriculum standen. Daraufhin ist sie vom College genommen worden, und die Universität wurde der „kommunistischen Propaganda" bezichtigt. Die Universität, insbesondere ihr Präsident Robert M. Hutchins, verwahrte sich gegen die Vorwürfe mit dem Argument, um den Kommunismus widerlegen zu können, müsse man seine theoretischen Quellen kennen. Walgreen ließ indes mit dem Angriff insbesondere gegen die sog. „New Deal Professors" nicht nach, wodurch das Image der Universität zunehmend in Mitleidenschaft gezogen wurde; sogar eine gerichtliche Auseinandersetzung schien unumgänglich, nachdem Walgreen die Ergebnisse eines unabhängigen Komitees zur Prüfung der erhobenen Vorwürfe nicht akzeptierte. In dieser Situation ernannte Hutchins William Benton, der sich gerade nach einem neuen Betätigungsfeld umsah, zu seinem Rechtsvertreter in dieser Angelegenheit. Der Jurist und zudem sehr erfolgreiche Unternehmer machte Walgreen klar, daß er vor Gericht keine Chancen hat, und schlug zur Wiedergutmachung des Imageschadens im Prinzip eine Beendigung des Streites durch ein finanzielles Engagement von Walgreen für die Universität vor. Das erste in diesem Sinne von ihm arrangierte Treffen zwischen Walgreen und Hutchins war der Beginn einer wohlwollenden Beziehung, da sich beide in bestimmten konservativ-liberalen Auffassungen nahestanden (vgl. Hyman 1969: 171-173).138 Auch der Politologe Charles Merriam, der in der Chicagoer Lokalpolitik stark engagiert war und der Walgreen schon seit einiger Zeit für eine Stiftung gewinnen wollte, drängte in diese Richtung (vgl. Karl 1974: 287f.). Durch den Druck schwenkte Walgreen in seiner Haltung zur Universität um; bereits 1937 wurde die Walgreen Foundation for the Study of American Institutions gegründet, die bis 1956 138
Hutchins (1953) widmet später seine Schrift über die Universität, eine Walgreen Lecture, dem Andenken an den Freund Charles R. Walgreen.
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D R E I VARIANTEN VON M O D E R N E - K R I T I K ( A R E N D T , VOEGELIN, STRAUSS)
erfolgreich arbeitete. 139 Die Stiftung forderte Wissenschaftler sowie Lehre und Forschung an der Universität Chicago. Bekannt geworden ist sie vor allem durch öffentliche Vortragsfolgen - die Walgreen Lectures. Das sind jeweils vier bis sechs Vorträge, die mehrmals im Jahr von namhaften Wissenschaftlern gehalten wurden. Blickt man auf die Aktivitäten der Stiftung insgesamt, so überwiegt bei dem Engagement die Förderung von konservativem und liberal-konservativem Denken. Auch bei den bald angesehenen Lectures gibt es dieses Übergewicht, gleichwohl handelt es sich nicht um eine einseitige Förderung, denn auch dezidiert liberale Autoren wie Robert Dahl und Hans Kelsen sind vertreten. Generell gilt, daß der Direktor der Foundation Jerome G. Kerwin, Wissenschaftler am Department of Political Science an der University of Chicago, klassische Themen und ein eher konservatives Herangehen präferierte. Die Lectures, die 1938 mit Vorträgen von Walter Lippman zum Thema „American Destiny" begannen, sind Mitte der 40er Jahre eine anerkannte Institution. Hier trägt Strauss als erster Deutscher 1949, bald nach Antritt seiner Professur in Chicago vor, ihm folgen 1951 Eric Voegelin und 1956 Hannah Arendt. 140 Es sind jeweils konzeptive Vorträge, die das Interesse der Stiftung an grundsätzlichen Fragen dokumentieren.
7.2
Form der Theorie
Die drei ausgewählten Autoren eint zunächst eine spezifische Art von Theorie, die meistens unzulänglich als normativ-ontologischer Ansatz bezeichnet wird. Vielmehr handelt es sich um ein spezifisches politisches Philosophieren, das sich in Differenz zur empirischen Sozial- und Politikwissenschaft, aber auch zur etablierten politischen Philosophie versteht, und das, von einem existentiell-anthropologischen Ansatz her, das Prozeßhafte des Denkens im Unterschied zu systematischer Theorie betont. Ein weiteres Kennzeichen dieser Form von Theorie ist der starke Rekurs auf die Antike. All diese Dimensionen sind für die Art der Theorie und mithin der Moderne-Kritik wesentlich. Jenseits der Gemeinsamkeiten gibt es zwischen den drei Autoren bemerkenswerte Divergenzen im „Wahrheitsanspruch" - so zielt Voegelin auf eine Umwendung (periagoge) zur antiken Philosophie und auf die Wiedererlangung der episteme politike, eines
139
Vgl. The Papers of the Charles R. Walgreen Foundation 1938-1956, Department of Special Collections, University of Chicago. Das Stiftungskapital beträgt 550.000 $. (Vgl. auch Dzuback 1991: 163 ff.)
140
Strauss hatte Voegelin wohl empfohlen. Von Hannah Arendt gibt es zwei Äußerungen zu ihren Walgreen Lectures in den Briefen an Karl Jaspers. Am 7. April. 1956 schreibt sie: „Morgen fliege ich für zwei Wochen nach Chicago fur 6 Vorlesungen in zwei Wochen. Ich habe das Manuskript einigermaßen beisammen, aber druckfertig ist es natürlich noch lange nicht. Ich werde die ganze Sache , Vita Activa' nennen und behandele im wesentlichen Labor - Work - Action in ihren politischen Implikationen." (Arendt/Jaspers 1985: 320) Am 1. Juli heißt es rückblickend „Die Chicago Lectures waren in Ordnung; ein paar sehr gute Studenten und auch sonst ein normaler Erfolg" (ebd.: 326).
FORM DER THEORIE
247
echten politischen Wissens, und setzt dabei die Erfahrung von Transzendenz als einem wesentlichen Bereich menschlicher Erfahrungen wie selbstverständlich voraus. Strauss dagegen zielt auf die Restitution von Piatons Denken und versteht politische Philosophie als Bewußtheit über ewige Probleme; er begreift diese Rationalitätsform als eine mit der Religion zwar unvermittelbare, aber dennoch zu ihr komplementäre Weise, Ordnung zu thematisieren. Für Strauss sind dabei anthropologische Grundannahmen leitend, und das Problem politischer Ordnung wird von der Frage der Lebensführung her gedacht. Auch Arendt fordert eine Besinnung auf die Antike, auf das genuin politische Denken der Griechen, aber sie hält ausdrücklich fest, daß es in der Politik nicht um Wahrheit geht, sondern um die Pluralität der Meinungen. Dieser Ansatz wendet sich ausdrücklich gegen jede Tyrannei der Wahrheit, gegen das Messen der Politik am Maß der Philosophie oder gar der Theologie bzw. Religion, und fuhrt folgerichtig zu einem Bruch mit der von Piaton bis zu Marx reichenden Tradition der politischen Philosophie. Die Kritik der politischen Philosophie und die Betonung der unauflöslichen Vielfalt von Meinungen sind die Ausgangspunkte für die Thematisierung der Bedingungen der Möglichkeit, in denen sich Pluralität realisieren läßt. Dazu unternimmt Arendt als republikanische Denkerin ihre phänomenologischen Bestimmungen von Tätigkeiten, bei denen strukturelle Unterscheidungen von Tätigkeitsräumen (Arbeit, Herstellen, Handeln) sowie die auf subjektive Voraussetzungen des Handelns zielenden Analysen unterschieden werden müssen. D.h. die Differenzierung von Arbeit, Herstellen und Handeln wird durch die Problematik der Urteilskraft, die Fähigkeit des Versprechens und Verzeihens oder etwa den Mut als eine genuin politische Tugend ergänzt. Sie zielt dabei nicht auf eine substantielle, sondern eher eine formale Anthropologie. Allerdings hat sie, was für das Verständnis ihrer Art von Theorie umrissen werden muß, eine ungewöhnliche Auffassung des Verhältnisses von Wahrheit und Denken, die am deutlichsten in einem Brief an Mary McCarthy zum Ausdruck kommt. Dort heißt es: „Der Hauptirrtum ist zu glauben, daß Wahrheit ein Ergebnis ist, das sich am Ende eines Denkprozesses einstellt. Wahrheit ist im Gegenteil, immer der Anfang des Gedankens; Denken ist immer ergebnis-los. Das ist der Unterschied zwischen ,Philosophie' und Wissenschaft: Wissenschaft hat Ergebnisse, Philosophie nie. Das Denken beginnt nachdem eine Wahrheitserfahrung eingeschlagen hat" (Arendt/McCarthy 1995: 76). Das Zitat pointiert den prozeßhaften Charakter des Denkens und zeigt deutliche Einflüsse von Heidegger, der ebenfalls einen emphatisch-existentiellen Begriff des Denkens nutzt, aber nicht über eine politische Philosophie verfügt. Zum Kern des politischen Denkens von Arendt, Strauss und Voegelin gehören ihre Kritiken an der Moderne und am Liberalismus, die in dekadenztheoretischer Perspektive entfaltet werden. Zumindest bei Strauss und Voegelin steht dabei der Verfall der politischen Philosophie im Vordergrund, im Hintergrund geht es aber auch um den Verfall von Politik, die ihre zentrale Rolle verloren habe. Themen der Kritik sind der Rationalismus bzw. Szientismus in der Philosophie und der Politik sowie ein übermächtig-Werden von Technik und Ökonomie in der ganzen Gesellschaft. Arendt betont den Verfall der Politik besonders und faßlicher, da sie über einen Gegenentwurf verfügt. Was sie als Gegenperspektive zum Mainstream akademischer Auffassungen von Politik als Machtkampf und bürokratischer Verwaltung interessiert, ist eine Restitution des Politischen in seiner einsti-
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DREI VARIANTEN VON MODERNE-KRITIK ( A R E N D T , VOEGELIN, S T R A U S S )
gen hohen Bedeutung. Dabei werden durch Arendt zwei Gesichtspunkte verwoben, nämlich zum einen, wie die zentrale Rolle von Politik gefaßt werden, und zum anderen, wie der Geist des Gründens, Anfangens - nach Arendt den Kern des politischen Handelns bewahrt werden kann. Da dieser Geist, wie Arendt im Rahmen eines die Kontingenz und ein zyklisches Auf und Ab betonenden Geschichtsverständnisses annimmt, notwendig immer wieder verfallt und aus den Institutionen entweicht, können das Handeln wie der Aktivismus der Bürger nicht auf Dauer gestellt werden. Deshalb komme es darauf an, die Bedingungen seiner Ermöglichung zu denken. Die Kehrseite der in den drei normativen Konzepten jeweils enthaltenen Kritik am modernen Individualismus und Subjektivismus ist nicht ein einfaches Setzen auf Gemeinschaft, sondern die Akzentuierung des Problems der Ordnung. Arendt interessiert, wie gesagt, insbesondere die Gründung und Bewahrung einer republikanischen Ordnung, demgegenüber thematisiert Voegelin generelle Ordnungsquellen (Macht, Religion, Philosophie), und Strauss fragt in metatheoretischer Perspektive nach der Ordnung der Ordnung, nämlich nach der guten Ordnung als universellem Maß. Bei dieser Perspektive verwundert die Frontstellung gegenüber machtanalytischen Konzepten und dem Positivismus nicht, sie hat allerdings, wie sich zeigen wird, unterschiedliche Facetten. Von einer Politisierung der Philosophie zu sprechen, die alle drei unternehmen, reicht nicht aus, da es sich um weit mehr als das Herausstreichen von politischen Konsequenzen handelt; statt dessen wird hier eine Subdisziplin der Philosophie bzw. der Politikwissenschaft angezielt. Alle drei treten für ein explizit politisches Philosophieren bzw. Denken ein, das in Deutschland keine eigentliche Tradition hat. Das besondere Merkmal dieses Philosophierens ist sein selbstreflexiver Charakter, und zur Selbstreflexivität gehört auch die Idee der Wiederermöglichung politischer Philosophie, und zwar mit unterschiedlich starkem Rückgriff auf die Antike. Meist wird der Rekurs durch eine Zuordnung von Orientierungen an den beiden Klassikern, nämlich Aristoteles im Falle von Arendt und Voegelin sowie Piaton im Falle von Strauss, gefaßt. Das ist aber zu kurz gegriffen, wie schon die Reflexionen zur Möglichkeit des Rückgriffs zeigen. Er ist nämlich nicht voraussetzungslos, denn der in der Moderne erfolgte Verfall muß überwunden werden. Diese Problematik wird bei allen drei Autoren verschieden thematisiert. So ist für Hannah Arendt nach dem Traditionsbruch nur noch ein punktueller Rückgriff auf die Antike möglich, allenfalls partiell kann der authentische Gehalt von Begriffen noch enträtselt werden. Arendt nutzt, um den selektiven Vorgang des nur noch punktuell möglichen Anknüpfens an die Tradition zu kennzeichnen, Walter Benjamins Metapher vom Perlentauchen, der eben auf das Bergen einzelner Perlen, aber nicht eine kompletten Schatzes abhebt. Bei Strauss wird das Problem der Destruktion der Tradition ebenfalls metaphorisch gefaßt: Die Modernen stecken in einem Keller, der sich unter der von Piaton im siebten Buch der Politeia charakterisierten Höhle befinde (vgl. Bluhm 1999). Auch Voegelin setzt auf eine Rückkehr im Sinne einer Periagoge. Aber im Unterschied zu den beiden anderen Theoretikern wird diese Metaphorik nicht näher expliziert und besondere Probleme, aus der Moderne zur richtigen Theorie zurückzukehren, werden nicht entwickelt. Der Grund dafür liegt in den starken anthropologischen Annahmen von Voegelin.
FORM DER THEORIE
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Ein solches Herangehen bedeutet in jedem Fall, daß die Wiedergewinnung eines Horizontes, in dem politische Philosophie erst möglich ist, zur Voraussetzung und zum Bestandteil des Philosophierens wird. Umgekehrt müssen dekadenztheoretische Ansätze erklären, aus welchen Gründen es zum Verfall kam und wie er rückgängig gemacht werden kann. Diese komplexe Aufgabe erfordert spezifische Darstellungsformen, die zu Recht epische politische Theorie (Wolin 1969, Gunnell 1985) genannt wurde. Im Rahmen dieser Darstellungsformen erfolgt die Moderne-Kritik, wobei jeweils eine Krisendiagnose die Erklärung fiir die Suche nach einer neuen Theorie bzw. die Wiederbelebung einer verlorengegangenen Art von Theorie begründet. Es gibt bei den drei Autoren ein charakteristisches Changieren in der Moderne-Kritik, und zwar zwischen Verfall im strikten Sinne und eher gegensätzlichen Tendenzen. So spricht Strauss trotz seines strikten Rekurses auf die Antike einmal davon, daß der Gegensatz von Athen und Jerusalem für die Dynamik des Westens konstitutiv sei; Voegelin stellt den Verfall der politischen Philosophie plakativ dar, aber er sieht den Gnostizismus nur als eine dominierende Tendenz neben anderen; auch Arendt spricht vom Verfall, aber sie erkennt Momente, in denen das Politische zurückkehren kann; auf theoretischer Ebene ist dies Machiavelli, auf politisch-praktischem Gebiet sind es die amerikanische und auch die ungarische Revolution, der zivile Ungehorsam, und anderes mehr. Wenngleich Arendt, Voegelin und Strauss ähnliche Darstellungsformen für Verfallsgeschichten finden müssen, so sind diese verschiedener Art. Voegelin zeichnet eine große Verfallsgeschichte der Politik und des politischen Philosophierens, und er argumentiert dabei nicht nur mit strukturellen Analogien, sondern auch geschichtsphilosophisch. Auch Arendt argumentiert historisch und geistesgeschichtlich, aber sie ist eine vehementere Gegnerin der Geschichtsphilosophie und der Metaphysik. Wiewohl sie gelegentlich, insbesondere in Vita activa, wo eine Abfolge von verschiedenen dominanten Tätigkeitsformen entwickelt wird, geschichtsphilosophische Interpretationen nicht ausschließt, ruht ihre Dekadenzgeschichte der Moderne auf breiter Anerkennung von historischer Kontingenz. Gerade deshalb hatte sie j a schon in ihrer Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus festgehalten, daß es sich beim Totalitarismus um eine generelles Problem der Moderne handelte und hier weniger Zwangsläufigkeit in der deutschen Entwicklung lag als viele Interpreten annahmen. Lisa Dish hat in ihre Deutung der Art des „Story-telling" von Arendt zu Recht unter das Motto „More Truth than Fact" gestellt (1993: 665-694). Leo Strauss schließlich konzentriert seine Dekadenzgeschichte ganz auf die politische Philosophie, und auch hier gibt er als Anti-Historist keine historische Erklärung, sondern widmet sich nur exemplarisch den Wendepunkten und Brüchen, die zu einer Abkehr von der vorbildhaften klassisch-antiken Philosophie gefuhrt haben, ohne die Wirkungen genauer zu verfolgen. Neben den aufgezeigten Parallelen sind die Unterschiede zwischen den drei Autoren relevant. Sie fangen bei den verschiedenen akademischen Wegen an und fuhren zwar bei allen dreien von der Philosophie zur Politikwissenschaft, aber die philosophischen Orientierungen sind verschiedener Art. Basierend auf dem gemeinsamen Ausgangspunkt, daß politische Philosophie erst zu schaffen ist, fuhren die verschiedenen Prägungen und Denkstile zu Varianten dessen, was in dieser Arbeit als politisches Philosophieren bezeichnet wird.
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DREI VARIANTEN VON MODERNE-KRITIK ( A R E N D T , VOEGELIN, S T R A U S S )
Voegelin beginnt seinen Weg zur politischen Philosophie in Wien unter dem Einfluß von Hans Kelsen und Othmar Spann sowie Edmund Husserl. Er ist dann 1924-27 als Rockefeller-Stipendiat in den USA und in Paris, lernt in dieser Zeit den Pragmatismus kennen und setzt sich mit dem amerikanischen Geist auseinander. Es ist diese frühe Kenntnisnahme amerikanischer politischer und wissenschaftlicher Kultur, die ihn von anderen Exilanten unterscheidet, und zwar ebenso wie seine Offenheit für andere Einflüsse und ein distanzierterer Blick auf die Debatten der Weimarer Republik. Seit Ende der 1920er Jahre ist er bereits auf der Suche nach einer neuen Art von politischer Philosophie, die nach seiner Entlassung als Wiener Universitätsprofessor 1938 im Exil und in einer erneuten Hinwendung zur amerikanischen Politikwissenschaft verstärkt wird. 141 Voegelin hat sich mehrfach mit Edmund Husserls Phänomenologie auseinandergesetzt und stand seit der Wiener Zeit mit Alfred Schütz, der die Phänomenologie ins Soziologische wendete, in regem Gedankenaustausch (vgl. Voegelin 1966a).142 Wichtig sind in diesem Zusammenhang vor allem zwei Themen; zum einen der starke wissenschaftlichen Anspruch, den Husserl für die Philosophie erhoben hat und der auf eidetische Erkenntnis, auf Wesensschau gerichtet ist. Zum anderen entwickelt Voegelin mit Bezug auf Husserl, aber mehr noch im Austausch mit Schütz einen großen Sinn für hermeneutische Probleme, der nicht auf Texte eingeschränkt ist. Husserls Losung „Zurück zu den Sachen" bedeutete ja, sich den Objekten und Gegenständen, und zwar in ihrem alltäglichen Gebrauch, zuzuwenden, und in diesem Sinn interessiert sich Voegelin nicht nur für politische Symbole und Ideen, sondern auch für die Selbstauslegung der Gesellschaft, für ihr Verständnis von Institutionen und Repräsentationsformen. Aus der Differenz zwischen Selbstauslegung einer Gesellschaft vermittels bestimmter Symbolsysteme und ihrer theoretischen Auslegung entwickelt Voegelin sukzessive einen Zugang für das Verständnis politischer Ordnung. Indessen war schon die am Anfang seiner akademischen Laufbahn stehende erste tiefergehende Kenntnisnahme der phänomenologischen Methodik folgenreich, sie trug wesentlich zur Abwendung von der einige Zeit verfolgten soziologischen Herrschaftslehre und zur stärkeren philosophischen Ausrichtung bei. Vermittels einer erneuten Auseinandersetzung mit Husserl in den 1940er Jahren entwickelt Voegelin sein Konzept politischen Ordnungsdenkens und wendet sich von der traditionellen Ideengeschichte ab. Die Grundzüge des neuen Ordnungsdenkens sind in der Neuen Wissenschaft der Politik skizziert und dann in den Bänden von Order and History entfaltet worden. 143 Was Voegelin von Husserl und auch von Schütz trennt, ist nicht nur seine andere, im Feld der politischen Philosophie liegende Problemstellung, sondern auch der Stellenwert, der der Religion zugemessen wird (vgl. Schütz 1993: 81). 144 141
Zur intellektuellen Biographie von Voegelin vgl. Gebhardt (1996).
142
Für das Verhältnis zu Husserl und Schütz sind zwei Texte aus dem Band Anamnesis
(Voegelin
1966a) wichtig: „In Memoriam Alfred Schütz", sowie der Brief an Alfred Schütz über Edmund Husserl (ebd.: 1 7 - 3 6 ) . 143
Nach Peter J. Opitz erzielt Voegelin in Die Neue Wissenschaft
den Durchbruch zu seinen Konzept
und löst sich definitiv von anderen Vorbildern (vgl. Opitz, in Voegelin 1995b: 121). 144
Voegelins publizierte Walgreen Lecture bedenkt Schütz neben vielem Lob („Es ist ein wunderbares Buch, überreich und schwierig zu lesen, weil es im doppelten Kontrapunkt geschrieben ist"; 1993:
FORM DER THEORIE
251
Arendt und Strauss kommen demgegenüber aus einem anderen philosophischen Kontext, nämlich von Heidegger her. Sie setzen sich allerdings von seiner existentialistischen Philosophie partiell ab, und zwar auch, weil es bei Heidegger keine theoretische Ausformung politischen Denkens gibt, sondern fatale politische Stellungnahmen, die allerdings wesentlich mit seinem pathetisch-existentiellen Denken verbunden sind. Arendt und Strauss starten jeweils den Versuch einer selbstreflexiven politischen Philosophie bzw. eines solchen politischen Denkens, das jene Lücke auffüllen soll, und behalten dafür nur bestimmte Grundmuster existentiellen Denkens bei. In seiner akademischen Laufbahn fixiert sich Strauss schon sehr früh auf Piaton und damit auf eine besondere Art politischer Philosophie, die später in Auseinandersetzungen mit der Moderne, der Weimarer Republik und dem Totalitarismus ausgeformt wird. Im Rahmen seiner methodischen Unterscheidung von exoterisch-rhetorischer Präsentation der Philosophie (politische Philosophie I) und ihren esoterischen Gehalten (politische Philosophie II) wechselt Strauss generell zwischen zwei Ebenen des Philosophierens. Er ist deshalb oft nicht leicht zugänglich und zielt mit Heidegger auf verborgene Tiefendimensionen ab. Hannah Arendt kommt erst durch die historische Problematik des Totalitarismus von der Philosophie zur Auseinandersetzung mit der Politik, das Politische ist ihr, wie Ernst Vollrath betont, also aufgrund von Erfahrungen, die sie machen mußte, zum theoretischen Gegenstand geworden (1990: 14). Auch sie zielt auf verschüttete Tiefendimensionen des Denkens, wendet sich aber dabei von der politischen Philosophie ab, die Politik an einem starken Wahrheitsbegriff mißt. Für sie bildet die Pluralität der Meinungen den Ausgangspunkt, und in dem Maße, wie sie diesen Gesichtspunkt verfolgt, kehrt sie die Bedeutung der Rhetorik für das politische Denken heraus. Strauss und Voegelin optieren für eine Erneuerung der antiken politischen Philosophie, allerdings mit unterschiedlichem Akzent. Voegelin tritt für eine Erneuerung der episteme politike ein, und zwar im Gegensatz zu den Meinungen. Die Gültigkeit der Erkenntnisse von Piaton und Aristoteles ist für ihn zeitunabhängig. „Eine Wissenschaft vom rationalen Handeln wird dadurch möglich, daß alle untergeordneten und teilhaften Zwecksetzungen des Handelns bezogen werden auf einen höchsten Zweck, auf ein summum bonum, d.h. auf die Ordnung der Existenz durch Orientierung am unsichtbaren Maß' göttlichen Seins" (NWP: 16) - das nennt Arnold Brecht (1962: 49) einmal das „ungenierte" Bekenntnis zur Gottesidee. Für Voegelin ist die Erfahrung von Transzendenz mehr als ein Erfahrungsbereich, sie ist der Willkür menschlichen Handelns entzogen, und die Gottesidee steht für Unverfügbarkeiten, die den Rahmen politischen Handelns begrenzen. Durch diesen Bezug auf das transzendente Sein kann er historisch argumentieren und zugleich dem Historismus und Relativismus entgehen. Seine harsche Moderne-Kritik, die sich im Gnostizismusvorwurf resümiert, läuft auf eine „Pneumopathologie" hinaus. Dabei wird normativ gesetzt, was geistige Krankheit ist, nämlich 83) mit zwei Kritiken, nämlich erstens: „Was uns trennen dürfte, ist, daß ich nicht einsehe, warum eine philosophische Anthropologie nur möglich sein sollte, wenn sie - um einen Ausdruck Dempfs zu gebrauchen - gleichzeitig eine ,Anthropodizee* ist" (ebd.: 81); und zweitens: „meine Schwierigkeit liegt in der Behauptung, daß das spezifisch moderne Problem der Repäsentation mit der Wiedervergöttlichung der Gesellschaft verbunden ist" (ebd.: 91). Diese Kritiken stellen das Konzept präzise und grundsätzlich in Frage.
252
DREI VARIANTEN VON MODERNE-KRITIK ( A R E N D T , VOEGELIN, STRAUSS)
Gnostizismus, während umgekehrt „die geistige Gesundheit im Transzendenzerlebnis" ihre Basis hat und „die Voraussetzung echten Philosophierens" sei (Voegelin, zit. nach Weiss 1997: 58). Mit diesen Überlegungen bewegt Voegelin sich allerdings primär auf dem Feld von philosophisch inspirierter Zeitdiagnostik. Arendt wendet sich gegen eine Restitution der antiken politischen Philosophie. Schon bei Piaton erkennt sie eine falsche Weichenstellung, nämlich eine Abwendung von der Politik und ihre Subsumtion unter die Interessen der Philosophie. Demgegenüber gelte es, das genuin politische Denken wiederzugewinnen, welches auf Politik als Politik zielt, und zwar aus jenen wenigen historischen Situationen wie griechische Polis und amerikanische Revolution sowie jenen wenigen Theorien, in denen dieses Denken eingekapselt vorhanden ist; sie nennt hier Aristoteles, Machiavelli, Montesquieu, Tocqueville und Kant. Die Ausformung des Denkens aller drei normativen Theoretiker erfolgt in einer spezifischen Krisen- und Zeitdiagnostik, die im Kern eine voraussetzungsvolle Moderne- und Liberalismus-Kritik enthält. 145 Dabei wird eine besondere Form politischen Philosophierens entwickelt, die wegen der Verfallsdarstellung und wegen des Plädoyers für eine Rückkehr zur jeweils als vorbildhaft erklärten Theorie, einen „episch-rhetorischen" Charakter hat. Mit dieser Charakteristik ist aber nur ein Teil der Formbestimmung politischen Philosophierens geleistet, denn es hat weitere zu entwickelnde Besonderheiten, die teils aus der Übertragung von akademischen Prägungen aus Deutschland in die U S A , das Land des Exils, resultieren, wobei hier mit der amerikanischen Demokratie divergierende politische Strukturen und eine andere Wissenschaftslandschaft relevant sind.
7.3
Moderne- und Liberalismus-Kritik
Um die Moderne- und Liberalismus-Kritik von Arendt, Strauss und Voegelin zu verstehen, muß man etwas weiter ausholen. Sie ist zum einen nicht ohne die deutsche Debatte in der Weimarer Zeit zu begreifen, die später in der Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus ihre Fortsetzung findet. Zum anderen gilt es die amerikanischen Kontexte zu berücksichtigen, in denen die Exilanten seit Mitte der 1930er Jahre agierten. Nicht nur eine andere politische Kultur ist damit angesprochen, sondern auch eine andere politische Semantik, die für die politische Theorie ebenfalls relevant ist. In diesem Sinne ist im folgenden jeweils das Verständnis von modern, Moderne und von Liberalismus knapp zu konturieren, um vor diesem Hintergrund dann die Varianten der Moderne- und Liberalismus-Kritik unterscheiden zu können. Insgesamt sind es drei intellektuelle Einflüsse und eine wesentliche Erfahrung, die hier als Hintergrund für das theoretische Denken zu rekapitulieren sind. Zu den intellektuellen Einflüssen gehört Friedrich Nietzsche, der Ende des 19. Jahrhunderts eine bahnbrechende Kritik an der Modernität begonnen hatte, deren mächtige Wirkungsgeschich-
145
Dabei spielt der 1. Weltkrieg und die Weimarer Zeit eine prägende Rolle, vgl. dazu Kap. 2.1 und 2.2.
253
MODERNE- UND LIBERALISMUS-KRITIK
te nach dem Ersten Weltkrieg einsetzte. Nietzsche ist gleichsam die generelle Voraussetzung der Weimarer Debatten. Seine Kritik am modernen Menschen und modernen Geist eröffnet eigentlich erst die generelle Kritik am Fortschrittsglauben, am Liberalismus und am Rationalismus. Er war in dieser Hinsicht auch von großer Bedeutung für Max Weber, für den allerdings die Erkenntnis der Strukturen und Funktionsweisen gesellschaftlicher Teilbereiche in der Moderne die Voraussetzung der Kritik an ihnen war. Der Diskurs in der Weimarer Zeit, insbesondere ab Mitte der 1920er Jahre, zeichnet sich nun dadurch aus, daß sich die Autoren in ihrer Suche nach den Grundlagen für die gegenwärtige Krise an Radikalität zu übertreffen suchen. In diesem Sinne wird Webers Zeitdiagnose zugespitzt, und es erfolgt eine Abwendung von seinen nüchternen wissenschaftlichen Bestandsaufnahmen. In diesem Kontext stehen die anthropologische Wendung der Philosophie und die sich zuspitzende Debatte um den Historismus und Relativismus (vgl. 6.3.3.). Von zentraler Bedeutung für Arendt, Strauss und Voegelin ist indes nicht allein die Schwäche der Weimarer Republik, sondern die Tatsache daß die liberale Ordnung ihren eigenen Bestand nicht sichern kann. Diese grundsätzliche Erfahrung wird von ihnen theoretisch auf verschiedene Weise gedeutet.
7.3.1 Modernebegriff Der seit Ende der 1970er Jahre durch die Debatte um Moderne und Postmoderne inflationierte Gebrauch des Begriffs läßt in den Hintergrund treten, daß er in der Philosophie und in den Sozialwissenschaften erst nach dem zweiten Weltkrieg Konjunktur gemacht hat (vgl. Welsch 1988). Die Begriffskarriere hat rasch zu Rückprojektionen der Ursprünge des Moderne-Begriffs gefuhrt, jedoch ist weder bei Weber noch bei Simmel, um zwei sozialwissenschaftliche Klassiker zu nehmen, von Moderne die Rede. Moderne Kultur, moderne Gesellschaft, auch Modernisierung sind hingegen verbreitete Ausdrücke dieser Zeit und stehen für das Bewußtsein von Modernität und Veränderung. Ähnliche Befunde ließen sich für das erste Drittel des 20. Jahrhunderts wohl auch für die Philosophie in Deutschland feststellen. „Moderne" als über den Bereich von Kultur hinausgehenden programmatischen Ausdruck findet man erst seit den späten 1950er Jahren. Während inzwischen begriffsgeschichtliche Untersuchungen zur Semantik in Deutschland viele Aspekte aufgehellt haben (Koselleck 1977a; Gumbrecht 1977; Jauss 1970), ist die Ausbreitung des Begriffs in den Sozial- und Geisteswissenschaften noch nicht detailliert erforscht. Dieses Desiderat wird dadurch verstärkt, daß es kaum Analysen zur Verwendung von „Modernity" im angelsächsischen Sprachraum, vor allem in den USA gibt, selbst die Verwendung des viel gebräuchlicheren „Modernization" ist nur teilweise untersucht. 146 Man kann allerdings für die Sozialwissenschaften der Hypothese folgen, daß der in den 1950er und 1960er Jahren wirksam werdende Begriff Moderne bzw. Modernization verschiedene Komponenten hat, die sich durch eine Kreuzung von Einflüssen zeigen lassen. Zum einen führt die Weber-Deutung von Parsons, in den 1950er Jahren indirekt und erst 146
Vgl. dazu den Artikel „Modernization" in: International N e w York 1 9 6 8 : 3 8 6 - ^ 0 2 .
Encyclopedia
of Social Sciences,
vol. 9,
254
DREI VARIANTEN VON MODERNE-KRITIK (ARENDT, VOEGELIN, STRAUSS)
später direkt zum Programm erhoben, zu einem allgemeinen Begriff der Moderne, der Kultur, Politik, Wirtschaft und Soziales einschließt (vgl. Parsons 1967 und 1971). Dieser weite Begriff moderner Gesellschaft wird von Parsons als eine Deutung präsentiert, die Weber nicht nur ein Konzept der Moderne zuschreibt, sondern ihn auch evolutionistisch wendet, wobei sein Kulturpessimismus verlorengeht. An seine Stelle rückt ein Fortschrittsglaube, der für große Teile amerikanischen sozialwissenschaftlichen Denkens typisch war und sich in der schwach normativen Aufladung von Moderne und Modernisierung bei Parsons und seinen Schülern wie Daniel Lerner, Robert K. Merton und anderen Autoren zeigt (vgl. Lepsius).147 Dieser Fortschrittsoptimismus ist allerdings nicht auf alle gesellschaftlichen Bereiche gleichermaßen bezogen, denn im Bereich von Politik und politischem Denken gibt es zwar auch verbreitete Technik- und Wissenschaftsgläubigkeit, daneben wirkt zugleich die Tradition republikanischen Denkens fort, die in der Politik ein Auf und Ab ohne Fortschritt, die periodische Notwendigkeit zu politisch-moralischer Erneuerung sieht. Zum anderen gibt es eine einflußreiche Entwicklung, die im Kern die kulturkritisch-pessimistische Seite von Webers Zeitdiagnose vertritt. Allerdings zielt wie in 2 . 1 . 2 . gezeigt - die Radikalisierung der Kritik der modernen Gesellschaft in der Weimarer Zeit darauf, Weber zu übertreffen, und dieses Übertreffen impliziert oft eine Abwendung von seiner Gesellschaftstheorie und die Stärkung einer philosophischanthropologischen Zeit-Kritik, die so zu einer Moderne-Kritik wird, die bis hin zu prinzipieller Zivilisationskritik fuhrt. Gerade im Kontext solcher allgemeinen Kritik, die ausdrücklich auf die Moderne gerichtet ist, sind Strauss, Voegelin und Arendt, aber freilich auf andere Weise auch Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse zu begreifen, und mit dieser Moderne- bzw. Zivilisationskritik werden sie in Amerika wirksam.148 Beim Übertragen der Moderne-Kritik von Arendt und Voegelin auf amerikanische Verhältnisse kritisieren sie den Fortschrittsoptimismus in der Breite seiner verschiedenen Felder (Ökonomie, Technik, Gesellschaft), zugleich können sie aber an bestimmte tradierte republikanische Denktraditionen anschließen, die in der Politik ein zyklisches Auf und Ab sehen, bei dem zwangsläufiger Verfall nur durch politisch-moralische Erneuerungsbewegungen aufgehalten werden kann. In der amerikanischen Politikwissenschaft wird durch die deutschen Emigranten eine neue Art von Gesellschaftskritik wirksam, die sich auf die Moderne überhaupt bezieht. Durch ihre philosophische und prinzipielle Kritik an der Moderne nehmen Arendt, 147
148
Lepsius (1977) betont, daß „Modernization" zuerst prominent bei Daniel Lerner (1958) verwandt wird (Lepsius 1977:10). Er fährt fort: „Modernisierung wird kontrastiert mit Traditionalität und bezogen auf die soziale und politische Entwicklung von unterentwickelten Gesellschaften. In diesem Bedeutungszusammenhang wird der Ausdruck 1960 allgemein aufgegriffen." Modernisierung ist zunächst ein Substitut für political development. „In der Mitte der sechziger Jahre folgen Versuche der Systematisierung der Modernisierung', wobei dem Ausdruck über eine deskriptive Verwendung hinaus zunehmend der Charakter eines TypenbegrifFs zugeschrieben wird." (Ebd.: 11) Max Weber hat, obgleich Habermas das unterstellt, keinen Begriff von Moderne, er nutzt den Terminus sehr selten, häufiger spricht er von moderner Kultur, moderner Gesellschaft, modernem Kapitalismus. Auch Talcott Parsons hat in Social Structure of Action (1937) und in Social System (1951) keinen Begriff von Moderne, er spricht von moderner Gesellschaft, sowie modernem Kapitalismus. Zu Adorno vgl. Fischer (1999), der auf die Differenz von Moderne-Kritik und zivilisationstheoretischer Kritik bei Adorno abhebt.
MODERNE- UND LIBERALISMUS-KRITIK
255
Strauss und Voegelin einen exzentrischen Standpunkt in der Sozialwissenschaft ein. Sie besetzen das Feld von Grand Theory und sind zugleich fern von der für die amerikanische Politikwissenschaft charakteristischen pragmatischen Verbindung von Theorie und Praxis. Gleichzeitig aber kontinuieren sie die Weimarer Idee theoretischer Intervention (Gunnell), denn alle drei meinen, aus der außerordentlichen Bedeutung, die sie der Philosophie zuweisen, folgern zu können, eine Erneuerung der politischen Philosophien bzw. Theorie sei Voraussetzung und entscheidender Anstoß für eine neue politische Praxis. In dieser spezifischen Konstellation kommt die Moderne-Kritik von Arendt und Strauss zum Tragen.149 Knapp gefaßt, bringen sie durch ihre Kritik einen allgemeinen Begriff von Moderne in den sozialwissenschaftlich-politischen Diskurs ein, bevor die amerikanischen Zweigdisziplinen ihn nutzen, sie eröffnen durch ihre Moderne-Kritik einen Denkraum, dessen Koordinaten später auf andere Weise durch Moderne- und Modernisierungstheorien gefüllt werden. Den Ausdruck „Moderne" nutzen Voegelin, Arendt und Strauss primär als geistesgeschichtlichen Epochenbegriff, womit eine generelle Krisendiagnose verbunden ist. Von verschiedenen Punkten aus wird die ungebändigte Dynamik der Moderne, der Individualismus als die politische Ordnung bedrohend angesehen, wobei politisch jeweils eine Auseinandersetzung mit dem Liberalismus im Zentrum steht. Bei dieser Auseinandersetzung muß man unterscheiden zwischen dem, was die Exilanten mitbrachten, und dem, was ihre spezifische Sicht Amerikas ist. Alle drei bringen eine starke LiberalismusKritik aus Deutschland mit, die um die Frage kreist, wie der Nationalsozialismus siegen konnte. Die von allen geteilte Diagnose lautet: Die liberale Ordnung ist in sich nicht stark genug, um die autodestruktiven Kräfte, die sie freisetzt, bannen zu können. Als Optionen zur Hegung werden die Religion, Werte, Elite und auch Demokratisierung ins Spiel gebracht. Moderne bzw. Modernität sind, wie häufig gezeigt wurde, fast reine Zeitbegriffe, und die Kritik daran setzt zwangsläufig auf zeitlose, ewige Muster, was sich auf besondere Weise im Antike-Rekurs der drei Autoren zeigt. Auffällige Parallelen gibt es in der grundsätzlichen Deutung der USA, es wird jeweils eine zwar verschieden gelagerte, aber insgesamt eine positive Identifikation mit dem Gastgeberland, dessen Bürger sie werden, entwickelt. Was sie an Amerika als Hort der Freiheit in der Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus schätzen, divergiert indessen stark: bei Arendt ist es die amerikanische Revolution, bei Strauss und Voegelin die Verbindung von Politik und Religion sowie substantielle Wertorientierungen. Bei aller Identifikation mit den USA ist diese doch sehr selektiv und suspendiert nicht die generelle Moderne-Kritik. Allerdings werden den USA besondere Möglichkeiten zugeschrieben. Voegelin formuliert am Ende der Neuen Wissenschaft der Politik in diesem Sinne voller Emphase: 149
Auch Jacques Maritain hat eine starke Moderne-Kritik entwickelt, die er anfangs sogar unter dem Titel „Antimoderne" (1922) in einer Aufsatzsammlung von Texten von 1920-1922 präsentierte. Er spielt allerdings etwas mit dem Begriff modern, denn die angezielte Erneuerung des Katholizismus gilt ihm zugleich als „antimoderne" und als ultramoderne" (1922: 14f). Seine spätere gemäßigte Moderne-Kritik ist in dem Buch Man and the State (1951) enthalten, das personalistisch und ganzheitlich für die Demokratie argumentiert und dabei eine Öffnung zum Pluralismus enthält. Der naturrechtliche Ansatz von Maritain (1943) war 1948 politisch für die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" der UN bedeutsam.
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DREI VARIANTEN VON MODERNE-KRITIK (ARENDT, VOEGELIN, STRAUSS)
„In dieser Situation gibt es einen Hoffnungsstrahl: Denn die amerikanischen und englischen Demokratien, die in ihren Institutionen die Wahrheit der Seele am stärksten repräsentieren, sind gleichzeitig auch existentiell die stärksten Mächte. Aber es wird aller unserer Anstrengungen bedürfen, um diesen Funken zu einer Flamme zu entfachen durch die Unterdrückung der gnostischen Korruption und die Wiederherstellung der Kräfte der Zivilisation." (NWP: 266)
Hier fällt die Betonung der angelsächsischen Demokratien auf, was charakteristisch für Voegelin und auf variierte Weise auch für Strauss ist, wobei letzterer stärker als Amerika noch England, vor allem aber Churchill bewundert. Gerade bei Strauss zeigt sich hier ein aristokratisch-elitärer Zug. Demgegenüber setzt Voegelin, der ja schon in den 1920er Jahren in den USA weilte und mit der Commonsense-Philosophie in Berührung kam, mehr auf den „gemeinen Mann". Arendt dagegen betont nicht nur die amerikanische Revolution, sondern sie knüpft an die amerikanische demokratische Tradition an und will diese im Sinne ihres starken Republikanismus, der auf das Engagement der Bürger und der Bürgerschaft setzt, steigern. Anders gefaßt, elitistische Themen kommen bei ihr erst in der Konsequenz auf, sie sind nicht, wie bei Strauss und teilweise bei Voegelin, anthropologisch gesetzt. Ganzheit statt Differenzierung ist ein klassischer Topos der Moderne-Kritik, der auch bei der Wiedergewinnung genuin politischer Philosophie eine Rolle spielt. Am rigorosesten auf Ganzheit setzt Strauss, bei dem man allerdings zwischen der politischer Ordnung als ganzer, die Thema der politischen Philosophie ist, und dem Ganzen, das Gegenstand der Philosophie überhaupt ist, unterscheiden muß. Doch lassen die verstreuten Hinweise keine klaren Annahmen über eine Metaphysik bei Strauss zu. Auch Voegelin setzt stark auf Ganzheit, aber er sieht einen Unterschied zwischen den Ordnungsquellen Macht, Philosophie und Religion, die er allerdings alle unter dem Primat der Religion begreift. Am weitesten differenzierungstheoretisch denkt Arendt, ist doch die Bewahrung eines ausdifferenzierten Bereiches von Öffentlichkeit der Kern ihrer theoretischen Überlegungen und ihrer Zeitdiagnostik. Das Ganzheitsdenken und das Festhalten an der Zentralität der Politik sind theoretische Mittel, um Pathologien der Moderne darzustellen. In diesem Sinne kann der Individualismus, Ökonomismus und Werteverfall in der Moderne kritisiert werden. Jedoch wird dabei zumeist nicht nach der Funktionsweise der verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereiche gefragt. Man kann auf jeden Fall für Strauss und Voegelin konstatieren, daß die Moderne-Kritik bei ihnen, mit Daniel Bell gesprochen, einen metaphysischen Hintergrund hat, nämlich die Abwendung von Gott und vom normativen Naturbegriff (Bell 1990: 23).150 Auch bei Hannah Arendt gibt es solche Züge, die auf Verluste durch Säkularisationsprozesse abheben, aber sie hat sich ausdrücklich gegen einen Rekurs auf Religion in der Moderne verwahrt, denn sie erkennt in solchen Forderungen einen instrumentellen Gebrauch von Religion, mit dem Säkularisierungsprozesse kaum aufgehalten, sondern eher noch beschleunigt werden. In der Debatte um die Deutung des 150
Bell hält fest, daß die Moderne metaphysisch die Abwendung von Gott und von der Natur als den beiden Achsen des klassischen Denkens voraussetzt (1990: 23). Er spricht von: „[...] Modernität als dem großen, proteusartigen und diffusen Bewußtseinswandel [...], der auf ein einziges Thema hinausläuft: die Ablehnung einer geoffenbarten oder natürlichen Ordnung und die Einsetzung des Individuums, des Ich, des Selbst als Leitstern des Bewußtseins." (1990: 28)
MODERNE- UND LIBERALISMUS-KRITIK
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Totalitarismus als säkulare Religion hat sie Widerspruch gegen dieses Konzept eingelegt, und zwar schon, weil sie im Gegensatz zum proklamierten Selbstverständnis der totalitären Gesellschaften steht (vgl. Arendt: 1994b; 1950). Sie akzentuiert den Gegensatz zwischen dem traditionellen und dem modernen Glauben, der vom Zweifel durchsetzt ist, gegenüber allen Struktur- und Funktionsanalogien.
7.3.2 Liberalismus-Kritik und Demokratieauffassung Auch die deutliche Unterscheidung von Liberalismus und Demokratie haben die drei politischen Theoretiker aus Deutschland mitgebracht. Sie hat dort eine Tradition, die bis auf die Rezeption der Französischen Revolution von 1789 zurückgeht und sowohl bei Theoretikern, die sich politisch zur Linken rechnen, insbesondere bei Marxisten verschiedener Provenienz, als auch bei Theoretikern, die sich als Konservative verstanden, anzutreffen ist. In der Weimarer Zeit wurde dieser Gegensatz sehr scharf ausgeprägt. Ein zentrales Beispiel dafür sind die Auffassungen von Carl Schmitt, dessen Kritik am Liberalismus und Parlamentarismus auf diesen Gegensatz zurückgreift. Schmitt optiert mit Rekurs auf Rousseau für Demokratie, allerdings in substantiellem Sinne, nämlich unter der Voraussetzung von sozialer Homogenität, auf der ein Allgemeinwille aufruht, dem das Volk bloß per Akklamation zuzustimmen braucht.151 Ganz anders sieht es in den USA aus, und zwar schon auf dem Feld des politischen Selbstverständnisses, über das Giovanni Sartori einmal formulierte: „Die Amerikaner machten sich nie Liberalismus' als spezifische Bezeichnung für das von ihnen geschaffene politische System zu eigen. Die Vereinigten Staaten wurden von ihnen zunächst als Republik und anschließend als Demokratie angesehen, der Name .Liberalismus' wurde gewissermaßen übersprungen." (Sartori 1992: 360).152 Wiewohl für die politische Kultur der Vereinigten Staaten der Sache nach von einem hegemonialen Liberalismus gesprochen werden kann (Vorländer 1997), sind Name und Symbol, wie Ronald D. Rotunda (1967, 1986) gezeigt hat, erst ab den 1930er Jahren substantiell in die Selbstbeschreibung des politischen Systems und in die theoretischen Konzepte eingeflossen. Bei der Durchsetzung des New Deal wurde der Begriff „liberal" von Roosevelt und seinen Anhängern positiv besetzt, und seine Einfügung in die politische Semantik hat rasch Debatten ausgelöst. Auf dem Feld von Political Science war die Differenzierung zwischen Liberalismus und Demokratie lange Zeit unwesentlich. Die überwiegende Mehrzahl der Theoretiker hielt, trotz vielfaltiger Kritik, Demokratie für das beste politische System, und zwar bei
151
152
Vgl. Schmitt (1979: 4 5 ^ 7 ) . Hasbach (1921) stellt den Gegensatz von Freiheit als liberaler Idee und Gleichheit als genuin demokratischer Idee scharf heraus (vgl. 1921: 1, 17, v.a. 276). Während Schmitt Demokratie jenseits des Liberalismus denkt, faßte Kelsen, sein großer Gegner, Freiheit und Gleichheit als einen Zusammenhang, die beide für die Demokratie charakteristisch sind (1981). Ernst Vollrath hebt die nicht auf den Staat fokussierte „Apperzeption" des Politischen im angloamerikanischen Kulturkreis heraus. (Vollrath 1987, Kap. 5)
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Favorisierung der amerikanischen Variante.153 Das ändert sich durch einen innerhalb der amerikanischen Politikwissenschaft erfolgenden Diskurs, der wesentlich mit den Problemen des New Deal und der amerikanischen Massendemokratie seit den 1930er Jahren verbunden war. Dabei treffen verschiedene Linien aufeinander; eine Linie hält am amerikanischen Selbstverständnis als Demokratie beziehungsweise Republik fest und fordert, wie man am Beispiel von David Easton und Charles Merriam ablesen kann, unter den neuen Bedingungen die Demokratie auszubauen. Daneben gibt es eine philosophische Position, die vor allem John Dewey eingenommen hat, der in ähnlicher Absicht den Liberalismusbegriff neu besetzt. Dewey kritisiert Roosevelt von links und verlangt konsistentere Reformen, die auf einen freiheitlich-demokratischen Sozialismus zielen (vgl. Ryan 1997: 284ff., Riccio 1994: 130f.). Eine entgegensetzte Linie vertritt in den 1930er Jahren Walter Lippmann, für ihn ist der New Deal das Einfallstor des Kollektivismus, gegen den es gilt, den Liberalismus neu zu fassen. Lippmann verteidigt eine etwas idealisierte ältere liberale Ordnung als liberale Demokratie gegenüber der modernen Massendemokratie und ihren mächtigen Interessengruppen. Generell setzt er dabei, wie später Hayek, mit dem er eine Zeit lang sympathisiert, auf den recht verstandenen Liberalismus und entwickelt altliberale Vorstellungen. Amerikanische Autoren diagnostizierten bei Lippmann gelegentlich eher einen Wiener Kosmopolitismus als einen konkreten amerikanischen Liberalismus (vgl. Riccio 1994). Auch ein Autor wie John Hallowell unterscheidet zwischen Demokratie und Liberalismus und fordert grundsätzliche demokratische Wertorientierungen, die in konservativer Absicht auf eine Befestigung der Demokratie gegenüber liberalen Schwächen zielen.154 Er rekurriert dabei auf die deutschen Debatten, denen er diese Unterscheidung explizit entnimmt. Die zweite Art einflußreicher Debatten, die zur Verbreitung der Unterscheidung von Liberalismus und Demokratie fuhren, ist das Wirksamwerden der Emigranten, die ihre eigenen politischen Klassifikationen und theoretischen Probleme mitbrachten. Vor allem bei deutschen Emigranten, und zwar des konservativen wie des linken Lagers gleichermaßen, war die Unterscheidung von Liberalismus und Demokratie verbreitet. Damit wurde zumeist auf eine Differenz zwischen liberalen Prinzipien im Sinne formeller 153
Vgl. Easton (1953) sowie Lippincott (1940: 125-39). Sabine (zuerst 1937) macht in seiner Geschichte der politischen Theorie keinen Unterschied zwischen der liberalen und der demokratischen Doktrin, vgl. auch Merriam (1920: 57f.); er sieht eher die Verbindungen zwischen den Liberalen und den Demokraten. Auch Wolin (1960) läßt übrigens den Verfall der politischen Philosophie mit dem Liberalismus beginnen, im Kern nach Machiavelli und Hobbes. Er parallelisiert dabei den Verfall der politischen Kategorien und ihre Ersetzung durch soziale sowie den Verfall politischer Autorität und die Entdeckung der Gesellschaft (Kap 9). 154 John Hallowells Arbeit The Decline of Liberalism as an Ideology (Orig. 1943) ist eine Auseinandersetzung mit deutschem politisch-rechtlichem Denken; seine Kritik am Historismus und mangelnder Orientierung an grundsätzlichen Werten mündet in einer allgemeinen Warnung: „The forces that produced the Nazi dictatorship in Germany were and are not peculiar to Germany alone. National Socialism, the totalitarian dictatorship, is not peculiarly a national, geographical, or temporary aberration. The same forces are at work in every other nation of the Western world. The spiritual crisis out of which totalitarianism emerged is a crisis, peculiar not to Germany but to Western Civilization." (Hallowell 1971: 122) Das ist eine Argumentationsweise, wie man sie bei Strauss und Voegelin trifft.
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Gleichheit und Demokratie mit unterschiedlich starken sozialen Homogenitätsvorstellungen abgehoben. Einige dezidiert liberale Denker, wie der Rechtstheoretiker Hans Kelsen, haben diese Unterscheidung allerdings nicht genutzt. Voegelin, Strauss und Arendt tragen also ihre Kritik in einem für amerikanischen Verhältnisse neuen Differenzmuster vor, und dieses Muster erlaubt es ihnen, ihre prinzipielle Moderne-Kritik fortzusetzen. Anders als im Falle des Moderne-Begriffs trifft die Übertragung der Liberalismus-Auffassung und ihrer Differenz zur Demokratie auf eine polemische Situation, in der im amerikanischen Umfeld dieser Begriff, nicht die Idee und die Sache, erst für die Selbstdeutung erschlossen wird. Das Trio der normativen politischen Theoretiker bringt sich hier mit einem verallgemeinerten LiberalismusKonzept ein, das theoretisch weit über die politischen Debatten der 1930er Jahre hinausgeht. Zugleich wird es durch den allgemeinen Liberalismus-Begriff und durch die Debattensituation möglich, auch im amerikanischen Umfeld zwischen Liberalismus und Demokratie zu unterscheiden. Wenn man in diesem Sinne die politischen Optionen von Strauss und Voegelin bezeichnen will, so treten sie bei starker Liberalismus-Kritik für eine wertorientierte und sittlich fundierte Demokratie ein. Das liberalismuskritische Motiv wird jeweils verschieden und stufenweise entfaltet. So differenziert Voegelin in den frühen Texten Die Form des amerikanischen Geistes (1928) und Rasse und Staat (1933) wenig zwischen Liberalismus und Demokratie, wenngleich er die Frage der Massendemokratie diskutiert. Das ist in seiner Kritik an Schmitt (1931) anders, denn dort knüpft er explizit an die scharfe Unterscheidung von Freiheit als liberalem Kampfbegriff und Demokratie an, die mit substantieller Gleichheit verbunden wird.155 Aber insgesamt stellt diese Unterscheidung nicht den zentralen Zugang seiner Kritik dar, denn er setzt beim Repräsentationsproblem an. Voegelin stellt dem Repräsentationsgedanken als einem liberalen und bürgerlichen ein viel breiteres Verständnis von Repräsentation entgegen. Schon in den späten 1920er Jahren thematisiert er im Rahmen existentiellen Denkens der Sache nach in seinen Untersuchungen symbolischer Bedeutung von Ideen das, was er später existentielle Repräsentation nennt.156 Gerade durch die Ausdehnung und Ausarbeitung seines Repäsentationsansatzes baut Voegelin in der Neuen Wissenschaft von der Politik seine Kritik an der Moderne aus. Die bloße Repräsentation weltlicher und temporärer Güter sei es, die die Instabilität der Moderne ausmacht. Voegelin greift dabei auf vormoderne Gesellschaften zurück und deutet diese als Strukturen politischer Repräsentationen von existentiellen und transzendenten Wahrheiten. Erst durch den Bezug auf Philosophie und Religion als weltliche und transzendente Ordnungsquellen mit überhistorischer Bedeutung könne die weltlich-politische Ordnung eingehegt und gewahrt werden. Die Säkularisation und die instrumenteile Verwendung der Philosophie liegen dem modernen Verfall zugrunde. 155
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Vgl. Voegelin über Schmitts Verfassungslehre (1931: 106). Dort heißt es: „Schmitt ordnet die Idee der Freiheit dem Liberalismus zu und nur die Gleichheit der Demokratie. Nun ist die Freiheitsidee in der Tat eine Kampfidee und im 19. Jahrhundert durch den Liberalismus vertreten; die vollendete Demokratie aber bedarf dieser Kampfidee nicht mehr, sie ist im Gegenteil, wie Schmitt sehr fein herausarbeitet, durch die Aussperrung und radikale Unterdrückung der nicht Gleichartigen ausgezeichnet; die Unfreiheit ist geradezu ein Wesensmerkmal der durchgeführten Demokratie." Vgl. zur frühen Fassung dieses Begriffes Voegelin (1928: 19f.; sowie 1933: 18-36).
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Voegelin erkennt gerade in diesem Zusammenhang erhebliche Stabilitätsprobleme für die Massendemokratie, die durch messianisch aufgeladene Gemeinschaftssurrogate (Rassen, Kommunismus u.a.m.) gefährdet werden. Hier ist die konservative Kritik an der Moderne einschließlich der Instabilität der Weimarer Republik deutlich sichtbar, und es erscheint geradezu als Konsequenz, wenn Voegelin den Totalitarismus seit seinem Buch Die politischen Religionen (1938) als eine säkularisierte und instrumentell gebrauchte politische Religion begreift, die weltliche Heilsversprechen transportiert. Auch Arendt kritisiert den Liberalismus vor dem Hintergrund der Schwäche der Weimarer Republik und des Antisemitismus, aber die Grundtendenz bei ihr ist, daß sie bei Anerkennung liberaler Prinzipien diese politischen Regime durch republikanische Institutionen und die Idee einer Aktivbürgerschaft ergänzen will. Sie entfaltet ihre Liberalismus-Kritik erst in den 1950er Jahren. So zeigt sie im Antisemitismuskapitel des Totalitarismus-Buches die Schwächen der liberalen Ordnung auf und favorisiert republikanische Kräfte, wie Georges Clemenceau. Im Kern verwendet sie einen historischen Liberalismusbegriff, der ihn als politische Vokabel der vorimperialistischen Bourgeoisie erklärt (vgl. Origins: 251), dabei verkoppelt sie die Krise des Liberalismus mit der Krise des Nationalstaates, wobei sie politisch allerdings durchaus für Parteien und ein starkes Parlament optiert (vgl. Origins: 199). Sachlich bringt sie gegen den bloß auf das Eigentum bedachten Wirtschaftsbürger mit Rückgriff auf die republikanischen Denktraditionen (Aristoteles, Machiavelli, Montesquieu und Tocqueville) einen Bürgerbegriff ein, der dessen politisches Engagement akzentuiert. Insgesamt gesehen, wird die Arendtsche Kritik am Liberalismus aber erst später als die von Strauss und Voegelin, d.h. in den 1960er Jahren, wirksam. Der in den 1930er Jahren bei den Debatten um den New Deal sich ankündigende und nach dem Zweiten Weltkrieg sich formierende Neokonservatismus, in dem Strauss und Voegelin als intellektuelle Bezugsfiguren eine Rolle spielen, führt auf dem Gebiet der politischen Theorie zu einem Streit um den Liberalismus, wobei die Positionen der Exilanten zu einer erheblichen Verschärfung der Debatte beitragen. Auf Seiten der Neokonservativen ist zwischen einer Kritik bei gleichzeitiger Annahme von Grundprämissen des Liberalismus und einer Kritik, die bis zur seiner Ablehnung reicht, zu unterscheiden. In diesem Kontext werden Strauss, aber auch Voegelin wirksam. Was Strauss betrifft, sei an Aussagen erinnert wie diejenige, die Konservativen seien heute die eigentlich Liberalen (LAM: IX). In diesem Kontext steht die enorme Ausdehnung des Liberalismusbegriffs anhand von liberaler Bildung, die bis in antike Grundmuster zurückprojiziert wird. Hier wird Strauss, der mit Arendt und Voegelin einen Bildungselitismus unterschiedlichen Grades teilt, konkreter. Seine starke Überhöhung liberaler Bildung zu einem universalgeschichtlichen Phänomen führt zu politischer Konturlosigkeit, da an die Stelle des Gegensatzes von Liberalismus und Konservatismus der von liberaler und illiberaler Bildung tritt. Zugleich wird aber die dramatische, anhand der Weimarer Republik gebildete Diagnose der Haltlosigkeit und Autodestruktivität des Liberalismus auch auf Amerika übertragen und die Blindheit gegenüber den Schwächen des Liberalismus als Teil der Krise der Moderne bestimmt (LAM: 223).
METAPOLITISCHE MODERNE-KRITIK UND ANTIKE-REKURS
7.4
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Metapolitische Moderne-Kritik und Antike-Rekurs
Ist für Strauss ein politisches Denken mit unpolitischem Kern charakteristisch, das sich auf die Politik als Geschehen in institutionellen Strukturen kaum einläßt, so kann man Voegelin ähnlich charakterisieren - Ursache sind in seinem Fall mehr die geschichtsund bewußtseinsphilosophischen Ansätze. Sie führen dazu, daß die moderne Politik nur auf einem sehr allgemeinen Niveau betrachtet wird, und zwar wesentlich im Lichte antiker Muster. Im Gegensatz zu diesen beiden Theoretikern verfolgt Arendt im Bruch mit der Tradition der politischen Philosophie das Ziel eines genuin politischen Denkens, doch verhindert ihr emphatisches Konzept des Denkens, das Philosophieren von empirischer Wissenschaft abgrenzt, die Aufnahme vielfaltiger, nicht ohne sozialwissenschaftliche Forschungen zugänglicher Problemstellungen. Der existentiell-phänomenologische Ansatz erlaubt zwar weitgehende Zeitdiagnosen und ihre dramatisierte Darstellung, aber der dekadenztheoretische Zugriff verhindert die Analyse der Moderne als Moderne. Insofern gibt es eine Spannung zwischen den generellen Konzepten bzw. Diagnosen und den konkreten politischen Stellungnahmen von Arendt. In den drei hier verglichenen Konzepten erfolgt die Auseinandersetzung mit dem Liberalismus jeweils im Rahmen einer philosophischen Moderne-Kritik, wodurch sie zum einen auf einem recht allgemeinen theoretischen Niveau bleibt. Zum anderen verhindert der dekadenztheoretische, Pathologien akzentuierende Zugriff die Thematisierung moderner Phänomene als Phänomene sui generis. Wieweit diese Problematik in die Grundlagen des Genres politischen Philosophierens reicht, verdient eine genauere Betrachtung. Für Hannah Arendt besteht die Krise der Moderne im wesentlichen darin, daß das Ökonomische, Soziale und die Technik in den öffentlichen Raum vordringen und ihn okkupieren. Dadurch verliere das Politische nicht nur seinen zentralen Stellenwert, sondern es komme auch zu einem dramatischen Weltverlust, denn die Öffentlichkeit ist für Arendt gerade der Raum, in dem eine gemeinsame Welt geschaffen wird. Das Vordringen von Wirtschaft, Technik und Sozialem und der Weltverlust führten nun ihrerseits zu einem Wandel des dominierenden Menschentypus. Rückt zunächst mit der Entfaltung der modernen Wissenschaft und Technik der homo faber in den Mittelpunkt, so folgt auf ihn mit der Ausbreitung des Industrialismus die Dominanz des animal laborans. Beide Typen präferieren Tätigkeitsformen, in denen die Zweck-Mittel-Relation dominiert. Wenn nun aber - und das sind 1958 fast prophetische Fragen - der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht, was tritt dann an ihre Stelle? Sind die Menschen und die Gesellschaft in der Lage, eine Umorientierung vorzunehmen? Können sie wieder auf das politische Handeln als eine besondere Form des Tuns setzen, nämlich als ein Handeln, in dem intersubjektive Beziehungen entscheidend sind und nicht Zweck-Mittel-Beziehungen? Gerade durch diese andere Art von Beziehungen sei es möglich, Welt auf eine andere Art zu konstituieren, nämlich nicht als vergängliche Welt von Instrumenten und Gegenständen, sondern eine dauerhafte Art von Beziehungen. Die im öffentlichen Tun konstituierte Welt ruhe auf dem gemeinsamen Handeln und seiner narrativen Tradierung. Der Verlust von Öffentlichkeit hat bei Arendt aber nicht nur den Weltverlust zur Folge, sondern auch eine Destruktion des Gemeinsinnes, und durch diese Destruktion wer-
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DREI VARIANTEN VON MODERNE-KRITIK (ARENDT, VOEGELIN, STRAUSS)
den die Handlungsmöglichkeiten weiter restringiert, kommt es zu einem erheblichen Erfahrungsschwund und zugleich zu einer Forcierung des Individualismus. Im Kern geht es um den Verlust der Zentralität des Politischen, den Arendt wie folgt fixiert: „Mit dem Verschwinden des antiken Stadt-Staates - Augustin war vielleicht der letzte, der zum mindesten noch wußte, welchen Rang das Politische einmal gehabt hat - verlor der Begriff der Vita activa seine eigentliche politische Bedeutung." (VA: 20).
Begründet wird der Verlust mit einer Mischung aus realgeschichtlichen und philosophischen Erklärungsfaktoren sowie einem Wandel der Orientierungsmuster; der Ansatzpunkt sind allerdings reale Veränderungen. Insgesamt hat Arendt eine Krisendiagnose, die davon ausgeht, daß Totalitarismus kein Unfall ist und nicht nur ein Problem der Deutschen bzw. Russen, sondern aus der Moderne selbst erklärt werden muß. Die Kritik der Massengesellschaft ist dabei als Faktor wichtiger als die explizite Kritik am Liberalismus (VA: 41, 57). Zu beachten ist in diesem Kontext eine scharfe Differenzierung zwischen Neuzeit und Moderne, moderner Welt, die erst mit der Französischen Revolution und der industriellen Revolution zum Durchbruch kam und eine allgemeine Industrialisierung und Technisierung bedeutet. Die Neuzeit dagegen beginne früher, nämlich mit der Entdekkung Amerikas, dem Teleskop und generell der modernen Naturwissenschaft, diese Neuerungen bereiten die moderne Welt aber nur vor (vgl. VA: 12f., 244ff.; Origins: 452). Arendt kann vermittels dieser Unterscheidung geistige Entwicklungen und „realgeschichtliche" Prozesse deutlich voneinander abheben. Erst die moderne Welt führt zu einer allgemeinen Anwendung dessen, was vorher nur angelegt war. So kommt es mit dem Bedeutungsverlust der Politik zum Verlust des Gemeinsinnes, zur Umstülpung der Beziehung von Theorie und Praxis, zum Vorrang des Prozeßbegriffes vor dem Seinsbegriff (vgl. VA: 293). Die ganze Auffassung ist auf die Diagnose eines radikalen Weltverlustes zentriert, der den Siegeszug des homo faber und dann des animal laborans begleite. Welt ist, was nicht genug betont werden kann, im phänomenologischen Sinn gemeint, als von den Individuen in Interaktionen erzeugte bedeutungshafte Welt. Der Weltverlust und die Weltentfremdung zeigen sich - so Arendt - doppelt, und zwar als Flucht ins Universum und Flucht ins Selbstbewußtsein (VA: 13). Zunehmende Weltlosigkeit bzw. Weltentfremdung bedeuten zugleich Erfahrungsschwund (VA: 312, 314f.) und ein Übermächtig-Werden utilitaristischen Denkens, das Arendt geradezu paradigmatisch bei den Behavioristen ausgeprägt sieht. Dagegen entwickelt sie ihren Handlungsbegriff, der das Selbstzweckhafte des Handelns betont und den sie mit Rekurs auf die Antike und Montesquieu expliziert. Eric Voegelin geht in seiner Moderne-Kritik geistesgeschichtlich und geschichtsphilosophisch vor und erkennt das Kernproblem der Modernität im Gnostizismus, d.h. in einer problematischen Immanentisierung des Eschaton. Der Wendepunkt für ihn ist dabei die neue Deutung der göttlichen Trinität durch Joachim von Fiore. Mit ihm setze ein neues Denken ein, das durch die historische Abfolge der Reiche des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes, eine Verwirklichung von Heiligem auf der Erde propagiert. Die Ideen des dritten Reiches, wie sie der Nationalsozialismus propagiert, und auch die Idee von Moskau als drittem Rom sieht Voegelin in dieser Tradition; und wahrscheinlich war es diese Analogie, die ihn dazu brachte, eine so weit gefaßte Be-
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Stimmung des Wesens der Modernität vorzunehmen. Es handelt sich hier um eine offensichtliche dekadenztheoretische Auslegung. Als Varianten der Immanentisierung des Eschatons gelten Progressismus, Utopismus und revolutionärer Aktivismus, sie alle seien durch Szientismus gekennzeichnet. Den Hintergrund für diese Diagnose liefert Voegelins geschichts- und bewußtseinsphilosophischer Ansatz. Er will die Geschichte der Ordnung denken, und um sie zu denken, darf man sich nicht auf die Ideengeschichte beschränken, sondern man muß bei der Selbstauslegung der Gesellschaft beginnen und deren Symbolsysteme auf die theoretischen Deutungen beziehen. Die unterschiedlichen Repräsentationen, die Beziehungen zwischen ihnen und die soziale und politische Existenz bilden in Wahrheit das grundlegende Problem (NWP: 19f.). Voegelin geht bei seiner Fassung der Problematik von der Setzung aus, daß es drei grundsätzliche Erfahrungsbereiche gibt, die zugleich auch konstitutive Ordnungsquellen darstellen. Es sind dies Religion, Philosophie und Politik. Der dekadenztheoretische Ansatz kommt nicht aus, ohne eine gute Ordnung auszuzeichnen, aber es handelt sich zugleich nicht um ein einzelnes geschichtliches Modell, sondern um eine besondere Auffassung des Politischen, in dem die Macht doppelt gerahmt und begrenzt gedacht wird. Zum einen wird sie durch die Religion begrenzt, womit zugleich ein bestimmter geistiger Zusammenhang in der Gesellschaft sichergestellt wird. Zum anderen handelt es sich um die Begrenzung der Möglichkeiten der Politik durch die Philosophie, die die innerweltliche Vernunft verkörpert. Mit Bezug auf Macht, Philosophie und Offenbarung hat Voegelin dann einmal sein Credo wie folgt formuliert: „Man kann daher gewissermaßen von einem Gesetz der westlichen Ordnung sprechen: Wenn diese drei Autoritätsquellen ihre relative Autonomie behalten, wenn sie sich gegenseitig in Schach halten und nicht die eine die andere überwältigt, dann herrscht Ordnung. Unordnung ist zum Beispiel dann vorhanden, wenn - wie in einem totalitären Staat - eine Ideologensekte herrscht und [...] der Machthaber, der die Militär- und Staatsmacht in der Hand hat, gleichzeitig der Mann ist, der unter dem Titel der Ideologie auch die geistige Leitung in die Hand nimmt und dort das versieht, was sonst Kirche und Philosophie versehen würde." (Voegelin 1996: 23)
Das Zitat verdeutlicht, wie Voegelin sich den Zusammenhang der Ordnungs- und Autoritätsquellen vorstellt, wie auch seine antitotalitäre Stoßrichtung. Deren tiefere Grundlage ist allerdings eine besondere Auffassung der Moderne. Modernität wird nicht als einfacher Epochen- oder Strukturbegriff gefaßt, sondern als eine geschichtsphilosophische Kategorie, die eine Mentalität, ein Tendenz der westlichen Zivilisation bezeichnen soll. „Wie mehrfach erwähnt, ist Modernität eine mit der mittelmeerischen Tradition rivalisierende Entwicklung innerhalb der westlichen Gesellschaft"; und: „die Unterhöhlung der westlichen Zivilisation durch den Gnostizismus ist ein langsamer, sich über ein Jahrtausend erstreckender Prozeß" (NWP: 264). Hier läßt sich eine große Ähnlichkeit in der Argumentation zu Strauss konstatieren, der letztlich den Gegensatz von Athen und Jerusalem zum Treibsatz für die Dynamik der Moderne erklärt. Auch Arendt nutzt einen ähnlichen Zugang. Die Moderne ist bei ihr zwar stärker Epochen- und auch Strukturkategorie, aber der Akzent liegt auf ihrer Ambivalenz. D.h. ein Wiedergewinnen des Handelns eines entsprechenden Horizontes erscheint als möglich. Ähnliches gilt für Voegelin, der Modernität sowohl als Epochen-
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DREI VARIANTEN VON MODERNE-KRITIK (ARENDT, VOEGELIN, STRAUSS)
kategorie als auch zur Charakterisierung von gegensätzlichen Tendenzen in der Moderne nutzt. In diesem Sinne ist die folgende dramatische Gegenwartsdiagnose zu lesen: „Die westlichen gnostischen Gesellschaften befinden sich in einem Zustand geistiger und emotionaler Lähmung, weil es nicht möglich ist, grundlegende Kritik an der gnostischen Linken zu üben, ohne dadurch gleichzeitig die gnostische Rechte zu sprengen. Erlebnismäßige und geistige Revolutionen dieser Größenordnung erfordern jedoch Zeit und den Wechsel zumindest einer Generation. Man kann nicht mehr tun, als die Problemlage formulieren." (NWP: 251)
Nur die Annahme gegensätzlicher Tendenzen in der Moderne ermöglicht es, auch Therapievorschläge zu denken, denn sonst könnten sich die Kritiker gar nicht vom Verfall frei machen. Gnostisch heißt jedoch nur, daß nur auf bestimmte Elemente im Christentum zurückgegriffen wird. Es erfolgt eine De-Divinisation und Re-Divinisation im Sinne einer Immanentisierung des Heils, die auf dem realitätsfernen Traum beruhe, die Erlösung auf Erden zu ermöglichen (NWP: 158). Den geistesgeschichtlichen Wendepunkt für das Vordringen dieser Entwicklung erkennt Voegelin wie Karl Löwith bei dem calabresischen Mönch Joachim von Fiore, der die christliche Trinitätsvorstellung in die historische Zeit verlegt. Damit sei die christliche Idee radikal säkularisiert worden und ein Muster für historisch gefaßte Heilserwartungen gegeben, das in der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie tradiert wurde. Auf der Basis anthropologischer Annahmen und der Unterscheidung von Ordnungsquellen entwickelt Voegelin seinen Zugang zum Ordnungsproblem und kann in dieser generellen Perspektive, die die Artikulation der Gesellschaft und ihre verschiedenen Repräsentationsformen betont, weitreichende strukturelle Parallelen entwerfen, die seine zivilisationsvergleichenden Bewußtseins- und Geschichtsphilosophie kennzeichnen. Gleichzeitig ist der bewußtseinsphilosophische Zugang, der eben nicht bei Strukturen und Institutionen ansetzt, die Basis für den gegen die Moderne gerichteten Gnostizismusvorwurf, der diesen ideellen, ideologischen Einfluß auf dramatische Weise betont. Hier werden die anthropologischen Prämissen und religiösen Überzeugungen so kurz geschlossen, daß selbst für eine weite Bestimmung des Verhältnisses von Säkularisierungsprozessen und Moderne, wie sie etwa Max Weber verfolgte, kein Platz ist. Die Position von Leo Strauss zur Moderne läßt sich wie folgt resümieren: Er denkt ihre Krise enger als Voegelin, nämlich primär auf dem Gebiet der Philosophie, und begründet die Frage, warum die Philosophie so wichtig sei, damit, daß sie extrem politisiert wurde und daß sie die neuen wirksamen Denkmuster bereitgestellt habe. Die Moderne selbst sowie Strukturen und geschichtliche Ereignisse spielen nur en passant eine Rolle, wichtiger sind die politisch-philosophische Orientierungskrise und der Verfall der politischen Philosophie. Deshalb sei ein Wiederaufrollen der Querelle des Anciens et des Modernes nötig (deren wesentliche Aspekte sind die Vorbildlichkeit der Antike, die Bedeutung der Religion, die Rolle der Wissenschaft sowie die Bedeutung der Individualität; vgl. 3.1.2.). Strauss ist auf eigenwillige Art präzise bei der Verwendung seines primär geistesgeschichtlichen Modernebegriffes, und zwar insofern er ihn wesentlich an die Querelle des Anciens et des Modernes bindet und seine Aufmerksamkeit auf den in diesem Kontext gefaßten Bruch mit der antiken Philosophie richtet, den in der politischen Philosophie Machiavelli und Hobbes vollzogen. Den Verfall bestimmt er durch
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die Unterscheidung von Wellen der Moderne, das sind geistesgeschichtliche Unterepochen des Verlustes normativen Reflexionsniveaus, für die Machiavelli, Rousseau und Nietzsche als jeweils weichenstellende Theoretiker stehen. Wenn Strauss jedoch von Moderne mit Blick auf Gesellschaft redet, dann wird er ungenau, denn da trägt sein Konzept nicht mehr. Besonders charakteristisch ist in diesem Sinne seine gegen die Modernität und die Neuerungssucht gewandte Passage aus einem Brief an Karl Löwith, wo es heißt, man könne die Moderne nicht mit modernen Mitteln überwinden: wenn man wirklich etwas von der Antike wolle, dann müsse man erneut lernen, von den Alten zu lernen (Strauss/Löwith 1983: 107)157. Ewiges wird gegen Modernität ausgespielt oder, wie es beim frühen Strauss einmal heißt, gegen „Ultra-Modernes". Die Rekurse auf die Antike und auch die Aufnahme naturrechtlichen Denkens sind Teil der modernetheoretischen Wendung der Liberalismus-Kritik, deren letzter Bezugspunkt die Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus bildet. Wie mit Bezug auf die Antike der modernen Politik ein anderes Muster von Politik gegenübergestellt wird, so dient die Aufnahme des naturrechtlichen Denkens, die sich bei Voegelin und Strauss findet, polemischen Zwecken. Es gilt nämlich, der modernen Maßlosigkeit, dem Verlust der Maßstäbe und genereller Wertorientierungen entgegenzutreten. Strauss zielt, wie bereits ausfuhrlich entwickelt, auf das klassische Naturrecht als einen unverzichtbaren Denkhorizont. Insbesondere in den Aufsätzen Was ist Natur? und Das Rechte von Natur argumentiert Voegelin (1966a) parallel zu Strauss, denn auch er lehnt das moderne Naturrecht als dogmatisiertes Philosophieren ab, wobei die Anfange der Dogmatisierung schon in der Stoa erkannt werden. Voegelin will demgegenüber die eigentliche Erfahrungsgrundlage des Naturrechts bei Aristoteles wieder freilegen und in diesem Kontext das Konzept der phronesis, der nicht-rationalistischen praktischen Wissensform, einer Art Klugheit politischen Handelns erneuern. So soll die normative Geltung des Naturrechtes mit den praktischen Problemen politischen Handelns verknüpft werden. Gegen das Naturrecht als einfache Lösung des Problems wendet Arendt ein: „Entscheidend ist, daß das Naturrecht nur verpflichtend sein kann, wenn es selbst noch einmal göttlich sanktioniert ist" (1974: 245). Damit hat sie einen kritischen Punkt markiert, der bei Voegelin und Strauss eher verdeckt ist. Aber wie löst Arendt das Problem eines generellen normativen Maßes für politischen Ordnungen, ohne jede arbiträr erzeugte Ordnung einfach anerkennen zu müssen? Ihr Vorschlag ist, eine arbiträr erzeugte institutionelle Ordnung mit der anschließenden Verwandlung von Teilen ihrer Grundlagen in etwas Unverfugbares zusammenzudenken und so ohne substantialistische Annahmen auszukommen. Dafür setzt sie sich wesentlich mit der amerikanischen Revolution auseinander und betont deren Mustergültigkeit als politische Revolution. Im Prinzip wird die Revolution in ihren positiven Ergebnissen als Konsequenz eines neuen Gesellschaftsvertrages gedacht. Es gibt dabei jedoch zu beachtende geistesphilosophische Annahmen, denn Arendts akteurszentrierter Ansatz, der das Tun der Revolutionäre, seine ideellen Voraussetzungen (gemeinsames Wissen über die Antike und geteilte 157
Daß damit keine einfache Rückkehr gemeint ist, kann man unter anderem dem Nietzsche-Buch von Löwith, das Strauss schätzte, entnehmen (vgl. Löwith 1935, Kap. IV). Dort wird die Wiederholung der Antike auf der Spitze der Modernität als der geschichtliche Sinn der Lehre von der ewigen Wiederkunft gefaßt.
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christliche Überzeugungen) betont, differenziert zwischen den institutionellen Konsequenzen des revolutionär-bürgerschaftlichen Handelns und dem Geist, der die Umwälzung selbst kennzeichnet. Jener revolutionäre Geist kann nicht direkt, sondern nur narrativ bewahrt werden, da er mit der Schaffung neuer Institutionen erlösche oder - auf das amerikanische Beispiel bezogen - nach der Annahme der Verfassung aus den Institutionen entwichen sei. Insofern es sich dabei aber um ein Produkt außerordentlichen Engagements handelt, in dem neue Muster für das politische Geschehen geschaffen wurden, kann durch eine narrative Tradierung das Arbiträre in einer Art Gründungsmythos wegerzählt und Unverfügbarkeit erzeugt werden. Die skizzierte Problemlösung zeigt, daß Arendt auf ewige naturrechtliche Muster verzichten kann. Allerdings expliziert sie ihre Annahmen über den flüchtigen Geist der Revolution, dessen partielle Institutionalisierung und narrative Tradierung nicht näher. Der Akzent bei Arendt liegt darauf, die Institutionen aus der Praxis als intersubjektivem Handeln von Bürgern herzuleiten. Zu Recht ist ihr dabei von Habermas auch mangelnde Konsequenz vorgeworfen worden, aber die Behauptung, „she retreats instead to the contract theory of natural law" (1986: 89), ist überzogen, da Arendt für ihre Gegenentwürfe zum traditionellen politischen Denken und der sich szientifizierenden Politikwissenschaft souverän auf eine Vielzahl verschiedener Quellen zurückgreift. Ihre im Totalitarismus-Buch erhobene Forderung nach einer neuen „Politie" setzt auch nicht auf einen Gesellschaftsvertrag, sondern auf die Verankerung essentieller Menschenrechte als vorpolitische Voraussetzungen verschiedener politischer Ordnungen, nur dann könnten sie in die Grundordnungen generell implementiert werden (Origins: 439). Wie weit Arendt von den anthropologischen Prämissen naturrechtlich-vertragstheoretischen Denkens entfernt ist, zeigt auch ihre Debatte mit Voegelin um das angemessene Verständnis des Totalitarismus. Arendt hatte behauptet, den Totalitarismus kennzeichne der Versuch, die Natur des Menschen zu verändern (ebd.: 432f.). Dabei hat sie an die Ansprüche totalitärer Ideologie generell und besonders an die brutale Praxis in den Konzentrations- und Vernichtungslagern des NS gedacht. Eric Voegelin streitet in seiner Rezension von Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1953)158 die Möglichkeit einer Veränderbarkeit der menschlichen Natur ab. Das ist insofern konsequent, als für Voegelin der Begriff menschliche Natur normativ und philosophisch ist, die Redeweise von der Transformation der menschlichen Natur macht dann keinen Sinn (1953: 74f.). Zudem sind seine anthropologischen Annahmen eher substantialistisch und beziehen sich auf eine fixe menschliche Natur. Von daher erscheint Arendts Behauptung per se als falsch. Arendt steht jedoch in der klassischen Kontroverse um die Konstanz oder Plastizität der menschlichen Natur nicht einfach auf der Seite jener, die ihre Formbarkeit und Veränderlichkeit behaupten. Sie will gerade in Vita activa durch eine formelle, phänomenologische Bestimmung der verschiedenen menschlichen Tätigkeitsformen diesen einfachen Gegensatz überwinden. D.h. es geht weniger um die Plastizität der menschlichen Natur im Sinne natürlicher Anlagen als vielmehr um den Wandel der Bedeutung verschiedener Tätigkeitsformen und um die Konsequenzen, die aus dem Siegeszug des Zweck-Mittel-Paradigmas erwachsen. 158
Vgl. Voegelin (1953: 68-76), Arendts Antwort (ebd.: 76-84) und Voegelins Concluding (ebd.: 84f.).
Remark
METAPOLITISCHE MODERNE-KRITIK UND ANTIKE-REKURS
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Alle drei Autoren verknüpfen also die Problematik der Moderne und ihrer Dynamik, ihres unausgesetzten Wandels mit der Frage nach politischer Ordnung. Bemerkenswert ist dabei, daß sie alle nach den Grundlagen politischer Ordnung überhaupt fragen; Strauss nach der guten Ordnung schlechthin, Voegelin nach den essentiellen Ordnungsquellen; Arendt nach den Bedingungen der Möglichkeit einer republikanischen politischen Ordnung. Hinzu kommt, daß jeweils „vorpolitische" Ressourcen von Ordnung als konstitutive Faktoren betont werden, und zwar unter der Voraussetzung einer besonderen Bedeutung von Politik; sie wird als zentrales Medium gedacht, in dem sich die Gesellschaft als ganzes synthetisiert. Insofern hängen alle diese Autoren einem klassischen Politikbegriff an, der von einer zentralen Bedeutung der Politik ausgeht, die nur gesichert werden kann, weil sie mit anderen Dimensionen - wie Moral und Religion - der gesellschaftlichen Strukturen verknüpft gedacht wird. Innerhalb dieses übergreifenden Gedankens gibt es jedoch erhebliche Unterschiede. Während Voegelin substantiell auf Religion rekurriert und die Transzendenzerfahrung als konstitutiv für eine wahrhafte Existenz ansieht, hält Arendt nichts von dieser Art Rekurs auf die Religion, und zwar im wesentlichen aus zwei Gründen. Sie hat eine formale und keine substantielle anthropologische Sicht des Menschen und sieht für das 20. Jahrhundert in der Religion keine politisch mobilisierbare Ressource; das heißt allerdings nicht, daß Religion für das private Verhalten, zumal unter den Bedingungen totalitärer Herrschaft, nicht einen wesentlichen Bezugspunkt bilden kann. Nicht zuletzt wegen dieser Überlegungen hatte sie in ihrer Debatte mit Voegelin ja auch dessen Begriff politischer Religion für den Totalitarismus abgelehnt und ihn bloß als analogisches Erkenntnismittel akzeptiert. Von den theoretischen Mitteln her gesehen politisieren und transformieren auf ihre Weise alle drei Theoretiker existenzphilosophisches Denken und thematisieren auf diese Weise das Problem politischer Ordnung. Die Problematik des Maßstabes von Ordnung bzw. guter Ordnung wird dabei einerseits über den anthropologischen Ansatz und andererseits über bestimmte naturrechtliche bzw. vertragstheoretische Überlegungen diskutiert, wobei insbesondere für Voegelin und Strauss hier der Rückgriff auf die Antike relevant ist. Alle drei Aspekte sind für das metapolitische Herangehen charakteristisch, und wie die anthropologischen Überlegungen der Transformation von politischen Fragen in modernetheoretische zugrundeliegen, so wird allgemein nach einem Maß bzw. Maßstab politischer Ordnung schlechthin gefragt. Der Rekurs, den die drei Autoren auf die Antike unternehmen, ist jedoch nicht nur gegen ein Vergessen abendländischer Ursprünge bzw. gegen ein Verstellen der Tradition gerichtet, sondern dient dazu, einen Bruch in der Moderne zu denken. Ob und inwieweit man diesen Bruch überwinden kann, wird sehr unterschiedlich gesehen. Die Unterschiede erwachsen schon aus der verschiedenen Denkart, die man wie folgt typisieren kann: Leo Strauss interessieren strikte und grundsätzliche Alternativen, die es als ewige Probleme zu denken gilt, und die grundsätzlichste Alternative lautet: Athen oder Jerusalem, d.h. ein der Philosophie gewidmetes Leben zu fuhren oder der Religion zu folgen. Hannah Arendt dagegen setzt auch auf starke und zugespitzte Alternativen, die aber zugunsten eines dritten, neuen Standpunktes überwunden werden sollen. Wenn Seyla Benhabib für deren Denken einmal die Formel „Zwischen Athen und Jerusalem" verwandte, so hebt sie auf eine Spannung in Arendts Denken ab, die zwischen ihrer an
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Heidegger und den Griechen orientierten Philosophie und den existentiellen und politischen Problemen, die in ihrer jüdischen Herkunft wurzeln, bestehe.159 Arendt zielt allerdings auf einen neuen Standpunkt, der jenseits dieser Spannung liegt, nämlich auf ein philosophisches Denken nach dem Traditionsbruch und ein Verständnis von Politik, das sie nicht mehr am Maß der Philosophie mißt, sondern als Phänomen eigener Art faßt. Eric Voegelin schließlich geht synthetisch vor, will die großen geistesgeschichtlichen Strömungen, die für Politik relevant sind, zusammendenken. Seine drei prinzipielle Ordnungs- und Autoritätsquellen - Philosophie, Offenbarung und Macht - verortet er auch räumlich-genetisch und spricht in diesem Sinne von einer notwendigen Verbindung von Athen, Jerusalem und Rom. Das Ziel ist eine gleichgewichtige Verbindung, in der jede Sphäre ihre Autonomie hat. Insgesamt handelt es sich um ein Vermittlungskonzept, in dem die Antike zwar sehr wichtig, aber auch offen für die Moderne ist. Gleichwohl bleibt das Erlebnis beziehungsweise die Erfahrung von Transzendenz für Voegelin basaler Natur. Nicht nur, was an der Antike für wichtig gehalten wird, unterscheidet die Varianten politischen Philosophierens, sondern auch die Stärke und Vehemenz, mit der die Notwendigkeit des Rekurses gedacht wird. Strauss' Rekurs ist - wie bereits entwickelt sehr stark und hat die platonische Philosophie als Zentrum. Auch Voegelins Konzept hat zwar den Charakter eines fundamentalen Rekurses, er unterscheidet nicht nur die drei Ordnungsquellen, sondern ist wesentlich am Zivilisationsvergleich interessiert und kennt daher divergierende Muster politischer Ordnung. Er ist darüber hinaus - wie schon Arnold Brecht herausstellte - eher Neothomist als einfacher Neoaristoteliker (Brecht 1953: 232). Folgt man Strauss, so kann man auch den Gnostizismusvorwurf, also den Vorwurf einer gefahrlichen Immanentisierung des Eschaton, den Voegelin der Moderne macht, nicht einfach teilen. Für Strauss ist das nicht nur eine abzuweisende überdehnte Variante des Säkularisierungstheorems, seine Kritik verdeutlicht auch, daß er nicht nur politischer Theologe im Sinne von Schmitt, sondern auch einer politischen Philosophie, bei der theologische Motive wichtig sind, fernsteht und dennoch Religion für eine wesentliche Seite des Problems politischer Ordnung hält. Arendt schließlich realisiert eine qualitativ andere Form des aus der Moderne erfolgenden Rekurses auf die Antike. Für sie ist nach dem im Ersten Weltkrieg begonnenen und im Totalitarismus vollzogenen Traditionsbruch mit der abendländischen Denktradition ein Rekurs nur partiell möglich. Ihr Rückgriff auf die griechische Antike umschließt dann auch ganz verschiedene Momente, nämlich Homer, Teile der demokratischen Praxis Athens, Teile sokratischen Denkens und Theorieelemente von Aristoteles. Sie steht der Metaphysik und dem aus politischen Motiven gespeisten Rekurs auf die Religion sehr kritisch gegenüber. Alle drei verbindet eine besondere Herangehensweise, nämlich die Wiederermöglichungsperspektive politischen Philosophierens. Der Rekurs auf die Tradition ist ein Teil dieser Wiederermöglichung, denn es gilt, Denkmittel zu gewinnen, die in der Moderne nicht vorhanden sind. Die hermeneutische Rückkehrbewegung zu ausgezeichneten Texten ist allerdings auf spezifische Weise zirkulär, denn sie setzt von Beginn an ein Wissen 159
Vgl. Benhabib (1998); diese Formel findet sich nur in einem kleinen Aufsatz von 1995.
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darüber voraus, wohin man zurückkehren sollte. Arendt, Voegelin und Strauss unterscheiden sich zudem in der Konsequenz, mit der immanent die Notwendigkeit und Möglichkeit der Rückkehr begründet wird. Bei Strauss liegt sie in den Texten selbst, in seiner Unterscheidung einer exoterischen Präsentationsform von Texten und ihren esoterischen Tiefendimensionen. Bei Arendt gibt es zwei Argumentationen, zum einen den immanenten Traditionsbruch, der durch die Erstarrung lebendigen Philosophierens in Systemen erwächst. Zum anderen gibt es den historisch-politischen Traditionsbruch. Nach dem historischen Bruch sei ein breites Anknüpfen an die klassischen Quellen abendländischen Denkens nicht mehr möglich, sondern nur ein punktuelles Aufgreifen.
7.5
Dekadenztheoretische Argumentationsmuster
Will man die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Arendt, Voegelin und Strauss schärfer fassen, so sind mit Blick auf die dekadenztheoretischen Darstellungsformen zwei Problematiken zu unterscheiden. Die eine betrifft die Differenz zwischen der Meta-Narration von Dekadenz und einzelnen Darstellungen von Denkern und Problemen. Bei Strauss und Arendt unterscheidet sich die Akzentuierung des Dekadenzkonzeptes nicht nur danach, in welche Zeit der thematisierte Denker bzw. das behandelte Problem gehört. Ihr Gegensatz besteht vielmehr darin, daß Arendt, wiewohl sie eine Metanarration von Dekadenz entfaltet, immer den Bezug zur Moderne sucht und dort auch Neues eruiert, man denke zum Beispiel an die von ihr gefeierte amerikanische und auch die ungarische Revolution. Strauss dagegen will auf die antiken Theorien als solche zurückgehen und beschränkt seine Darstellung des Verfalls wesentlich auf die Geschichte der politischen Philosophie. Er kann sich im dekadenztheoretischkritischen Bezug auf die Moderne nicht von dieser frei machen. Auch Voegelin argumentiert stark geistesgeschichtlich, aber er setzt den Wendepunkt zur Dekadenz anders an, nämlich mit Joachim von Fiore. Sein Fokus ist die Rückkehr und Erneuerung der episteme politike. Bei seinen geistesgeschichtlichen Dekadenzdiagnosen betont Voegelin mit dem Gnostizismus eine Geistesströmung als zentrale Verfallsursache, die weit über die Theorie hinausgeht. Trotz scharfer Moderne-Kritik bleibt er vorsichtiger als Strauss und setzt auf eine in der Moderne mögliche Zurückdrängung der gnostischen Tendenzen. Hannah Arendt dagegen läßt die „Realgeschichte" unter bestimmten Blickwinkeln breit in ihre Arbeiten einfließen und bezeichnet ihr wissenschaftliches Tun selbst häufiger im Sinne beider angesprochenen Ebenen als Story-telling, womit eine besondere Art von Geschichtsschreibung gemeint ist, die der Offenheit und der Kontingenz Rechnung trägt (Dish 1993, Benhabib 1998). Eine zweite Problematik des gekennzeichneten Typus von politischem Philosophieren berührt stärker den Kern des normativen politischen Denkens, das zugleich eine Suchund Denkbewegung sein und darstellen will. Es geht um das Verhältnis von Suche und Gewißheit; Arendt, Voegelin und Strauss kommen nicht daran vorbei, per se eine Suchrichtung zu präferieren. Für alle drei stellt die je eigene Deutung der Antike das kritische
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Korrektiv gegenüber der Moderne dar. Damit sind aber methodische Vorentscheidungen getroffen, die zeigen, daß Arendt und Strauss an ursprungsphilosophischen Motiven von Heidegger festhalten. Auch Voegelin argumentiert ursprungsphilosophisch, aber ohne Rekurs auf Heidegger. Insofern alle drei Weisen normativen politischen Philosophierens aufklärungskritisch argumentieren, unterlaufen sie dabei allerdings zugleich das Motiv von Gewißheit. Ohne diese kritische Seite, die insbesondere für das Verständnis von Politik wichtig ist, könnten sie das normative politische Denken, ihre Kritik an politischer Philosophie bzw. die Restitution der antiken politischen Philosophie, nicht als eine Bewegung und Suche darstellen. Nur wird damit eben auch deutlich, daß die zweite Begrenzung dieser Denkweise durch das jeweilige Verständnis der Moderne gezogen ist. Bei aller Gegensätzlichkeit repräsentieren die Konzepte von Hannah Arendt, Eric Voegelin und Leo Strauss also Versuche, für die Thematisierung von Ambivalenzen und Gefahren der Moderne einen Horizont zu eröffnen, welcher außerhalb der Moderne, das heißt vor und/oder nach ihr liegt. Das politische Philosophieren von Arendt, Voegelin und Strauss entwickelt seine Zeitdiagnosen wesentlich im Rahmen von Dekadenzgeschichten, und gerade deshalb unterscheidet es sich von politischer Theorie im engeren Sinn, da die dort notwendigen institutionellen Analysen und Therapievorschläge hier weitgehend fehlen bzw. oft nur vage bleiben. Bemerkenswert ist, wie stark diese Theoretiker bei ihrem Ziel, genuin politisches Philosophieren zu ermöglichen, vom Gedanken der Tradition beeinflußt sind. Strauss will an die klassischen Theorien wieder anknüpfen, sie restituieren und mithin zur richtigen Tradition zurückkehren. Auch Voegelin will zur klassischen politischen Wissenschaft im weiteren Sinne zurück, er nennt seinen Rekurs auf Athen, Rom und Jerusalem als Bestandteile der Antike nur fast modernistisch neue Wissenschaft. Für Arendt bleibt die Tradition durch die Akzentuierung des Bruches hindurch wichtig, denn die partiellen Rückgriffsmöglichkeiten tragen ihre Moderne-Kritik. Solch ein Bezug auf die Tradition und die Darlegung von Dekadenztheoremen wird nicht selten vorschnell als Konservatismus identifiziert. Alfons Söllner bescheinigt in diesem Sinne Strauss und Arendt sogar eine „ultrakonservative" Haltung (Söllner 1990a: 105f., 1990b: 218f.). Ich habe versucht zu zeigen, daß man die Ansätze von Strauss besser begreift, wenn man die theoretische Perspektive eruiert, in der sie entwickelt werden. Man kann Probleme des dekadenztheoretischen Vorgehens mit einer Überlegung von Michel Foucault verdeutlichen, mit der er die aus der Moderne erfolgenden Rückkehrbewegungen zu älteren, oft antiken Mustern und Theorien erläutert. In Was ist ein Autor wird argumentiert, für jene Rückkehrbewegungen müsse zugleich erklärt werden, warum der wahre Zugang zu den Texten verloren ging und wie man ihn trotz des Verlustes wiedergewinnen kann. Das heißt, anders gefaßt, der den Zugang zu den alten Texten versperrende „Riegel" und der öffnende „Schlüssel" müssen „innen" im Diskurs angebracht sein. Erst wenn der Verlust und die erneute Möglichkeit eines adäquaten Verständnisses der Texte immanent erklärt werden können, ist der Rekurs auf die vorbildlichen Texte plausibel. Was als Rekurs ausgegeben wird, ist mit Foucault allerdings als eine neue Diskursivierung zu verstehen, in der ein Rückweg und die neue Bedeutung der alten Texte erst geschaffen werden (1988: 28).
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Folgt man dieser Überlegung, so lassen sich zwei Ebenen unterscheiden, auf denen man solche gegen einen Verfall gerichteten Rückkehrbewegungen betrachten kann. Zum einen geht es, bei immanenter Betrachtung, um das Ausmaß, mit dem die Rückkehr zu den autoritativen Texten vermittels Riegel und Schlüssel gedacht wird. Zum anderen kann man von externer Position beobachten, inwieweit ein Bewußtsein über den Rekurs als eine Konstruktion vorhanden ist. Im Falle von Arendt stellt sich die Situation wie folgt dar: Schon das platonische Höhlengleichnis bildet für sie den Verfall des eigentlichen politischen Denkens; man müsse die Umkehrung von Homer, die Piaton vornahm, erkennen und zurücknehmen, um zum Verständnis des ursprünglichen Begriffes von Politik zurückkehren zu können. Der Weg dazu ist die von der Moderne her erfolgende Ausdeutung der ursprünglichen Begriffe und der in ihnen eingekapselten Erfahrungsgehalte. Verlust und Wiedergewinn werden hier nur partiell in einen Diskurs, in die Geschichte der politischen Philosophie eingelagert, da nach dem Traditionsbruch nur noch partiell auf die Antike und die klassische Tradition rekurriert werden könne. Diese Situationsdeutung enthält im Prinzip ein Wissen Arendts darüber, daß aus der Moderne erfolgende Rekurse auf antikes Denken immer Konstruktionen sind. Wenn sie dennoch in ihren punktuellen Rückgriffen auf antike Konzepte diese Sicht auflöst und meint, ursprüngliche Erfahrungs- und Sinngehalte bergen zu können, so ist dies inkonsequent, aber zugleich der Weg, wie sie die Ebene reiner Geistes- und Philosophiegeschichte verläßt. Voegelin argumentiert prononciert bewußtseins- und geschichtsphilosophisch. An erster Stelle steht bei ihm die Immanentisierung des Eschaton in der Geschichtsphilosophie des Joachim von Fiore, erst später folgt mit Machiavelli, Hobbes, aber auch mit Hegel und Marx die ergänzende philosophische Bewegung. Die ideengeschichtlichen Weichenstellungen sind aber nur am Anfang rein theoretisch, dann erlangen sie in der Selbstauslegung der Gesellschaft und in bestimmten Institutionen Wirkmächtigkeit. Dagegen anzudenken erfordert, zu den alten Texten zurückzukehren, aber damit sind nur die rein geistigen Rückkehrmöglichkeiten fixiert, die ohne Bezug auf die noch lebendige mediterrane Tradition Griechenlands, Roms und Jerusalems wirkungslos bleiben. Voegelin denkt die Umkehr und Rückkehr nicht nur auf Texte bezogen, und insofern kann er auch keine textimmanenten Gründe für den Verfall des Denkens und die falschen Weichenstellungen ausmachen. Sein breiter Ansatz zeigt jedoch, daß es zwischen der Rückkehrrhetorik, die sich auf klassische Texte bezieht, und dem Wissen um geschichtliche Veränderungen eine so starke Spannung gibt, daß der konstruktivmodernekritische Charakter des Rekurses nur mühsam verdeckt und gelegentlich sogar eingestanden wird. Bei Strauss liegen die Dinge anders. Ihn zeichnen größere Vehemenz und größerer Purismus im Hinblick auf die immanente Erklärung der Rückkehrbewegung aus. Er denkt den Riegel, der den Zugang zur klassischen politischen Philosophie versperrt, und den öffnenden Schlüssel diskursimmanent und weitestgehend direkt an die philosophischen Texte gebunden. Für ihn ist es nicht verwunderlich, daß das wahrhaft philosophische Wissen immer wieder verlorengeht, da per se nur Wenige, nur eine Elite zu philosophieren vermag. Den Schlüssel zum echten Verständnis der großen Bücher verortet er in diesen selbst, in den nur tiefenhermeneutisch zu bergenden esoterischen Dimensionen dieser Schriften. Damit ist auch die Möglichkeit, sie zu verstehen, also die Möglichkeit
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von echter Philosophie, immer gegeben. Insofern die moderne politische Philosophie sich von der klassisch-antiken abwendet, gerät sie für Strauss erst in die zweite Höhle, aus der sie nur durch Destruktion der modernen Tradition entkommen kann. Strauss' Beschränkung auf die Texte der großen Philosophen und die Abwehr jeglicher historischer Kontextualisierung kennzeichnen nicht nur seine Methodik, sondern sie sind auch Ausdruck des strikten Vorgehens bei der Rückkehr zu den klassischen Problemen. Der fundamentale Rekurs auf die Antike erwehrt sich mit Vehemenz des Vorwurfes, eine Konstruktion, eine neue an die Moderne gebunden bleibende Diskursivierung von Problemen zu sein. Die Vehemenz, mit der Strauss den Rekurs auf die Antike geistesgeschichtlich immanent bestimmt, erweist sich vor allem bei seiner fundamentalen Moderne-Kritik als problematisch, da sie auf eine Verfallsdiagnose des philosophischen Denkens beschränkt ist. Im Gegensatz dazu führt die schwächere diskursimmanente Begründung des Rekurses auf die Antike bei Voegelin und erst recht bei Arendt nicht nur zur partiellen Reflexion des Konstruktionscharakters jeglicher aus der Moderne erfolgender Antike-Rekurse, sondern auch zur Thematisierung des historischen Wirksamwerdens dieses Verfalls. Die größere Konzentration auf die Texte bei Strauss führt also insgesamt zu einer vergleichsweise unterkomplexen Erklärung des Verfalls. Der Wandel der politischen Philosophie wird bei Arendt nämlich mit dem praktischen Dominantwerden von Herstellen und Arbeiten als Leitbilder und als reale Tätigkeiten in der Moderne verknüpft. Auf seine Weise bezieht Voegelin alle Ordnungsquellen, Macht, Philosophie und Religion in den sich entfaltenden Verfall ein. Die dekadenztheoretischen Ansätze fundamentaler Moderne-Kritik sind nicht nur durch eine Kritik der Moderne im Lichte der Vormoderne gekennzeichnet, sondern sie erlauben es nicht, die Moderne als Moderne zu thematisieren. Das ist ein Preis des metapolitischen Ansatzes. Ihre Stärken können daher nur auf dem Gebiet der Darstellung von Verfall, von Pathologien und Restriktionen bzw. Vereinseitigungen in der Moderne liegen. Hinzu kommt, daß in der Regel der Maßstab der Kritik und seine Geltung methodisch nicht näher definiert werden. Und dennoch sind diese Positionen angesichts entgegenstehender hegemonialer Diskurse sowohl eine Ausweitung des Thematisierbaren als auch ein andauernder Verweis auf die Bedeutung der Antike. Es gibt allerdings, wie die vielfachen Rekurse auf die antike politische Philosophie in diesem Jahrhundert gezeigt haben, divergierende Varianten des Rekurses. So oder so wird in Selbstvergewisserungsprozessen der Moderne immer wieder die Antike im Hinblick auf ihre Differenz zur Moderne und ihr Anregungspotential für modernes Denken befragt. Im Unterschied zu modernen Formen des Neoaristotelismus, für die heute Martha Nussbaum, Alasdair Maclntyre und im Sinn eines partiellen Rückgriffs auch Michael Walzer stehen, sind Arendt, Voegelin und Strauss unzeitgemäße Theoretiker und als solche eine theoretische Provokation. Hannah Arendt, Eric Voegelin und Leo Strauss waren im Rahmen der amerikanischen Politikwissenschaft in den 1940er Jahren zunächst Außenseiter. Sie trafen allerdings auf die bereits geschilderte Situation der Verselbständigung von Political Theory zu einer Subdisziplin, und es war diese Situation, in der sie ihre philosophisch-theoretische Orientierung einbringen konnten. Von den 1950er Jahren an wurden sie stärker im Fach
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bekannt, und zwar wesentlich mit den konzeptiven Büchern, die aus den Walgreen Lectures entstanden. Anders als Strauss sind Voegelin und Arendt eher Einzelgänger geblieben und haben beide, trotz erheblicher Rezeption, keine Schulen im engeren Sinne begründet. Auch Voegelins Versuch, dies zwischen 1958 und 1968 in München zu tun, war im Prinzip nur für die unmittelbaren Schüler, nicht aber für eine Folgegeneration wirksam (vgl. Herz/Weinberger 1999: 269-291). Im Falle von Arendt kommen noch einige Besonderheiten hinzu. So begann sie erst spät eine im engeren Sinne akademische Karriere, und eine über die Kontroversen zu ihrem Totalitarismus- und ihrem Eichmann-Buch hinausgehende Wirkung setzte erst Ende der 1960er Jahre ein. Von da an wird sie, und das ist ein Unterschied zu Voegelin und Strauss, in mehreren Wellen sehr stark in Verbindung mit gesellschaftlichen Veränderungen rezipiert, nämlich im Kontext der neuen sozialen Bewegungen und zuletzt in den USA und in Europa beim Kollaps des Kommunismus. Die Bedeutung der drei Autoren im engeren Kontext der amerikanischen Politikwissenschaft besteht, wie Gunnell gezeigt hat, darin, daß sie zum einen durch ihre deutliche Moderne-Kritik Debatten radikalisierten. Zum anderen maßen sie philosophisch inspirierter politischer Theorie außerordentliche Bedeutung zu und verfolgten in diesem Sinne die Weimarer Idee einer aus der Theorie heraus erfolgenden Intervention in die Praxis weiter. Auf beiden Wegen prägten sie das Profil der Subdisziplin politische Theorie zumindest in den 1950er und 1960er Jahren mit. Ein äußeres Zeichen für die Anerkennung ihrer konzeptiven Leistung ist die sukzessive, in den 1970er Jahren erfolgende Verleihung des Benjamin-Lippincott-Preises für politische Theorie an alle drei (vgl. Coser 1984: 217).160 Die Wirksamkeit der drei Varianten politischen Philosophierens, so habe ich argumentiert, läßt sich nur begreifen, wenn man über die von Gunnell herausgestellte besondere Situation hinaus sowohl die Übertragung von Denkmustern aus dem Weimarer Deutschland als auch das Einbringen der Differenzierung zwischen Liberalismus und Demokratie und der generellen Moderne-Kritik beachtet, in der die Differenz von Liberalismus und Demokratie philosophisch überhöht wird. Hier und bei der Etablierung bzw. Reetablierung einer besonderen Form politischer Theorie entfalten sie in einem besonderen Moment ihre Attraktivität und auch ihre spezifischen Stärken. Ebenso wie man die Gemeinsamkeiten der drei normativen Denker, die in der Positivismuskritik, dem Engagement für politische Philosophie und dem Rekurs auf die Antike sowie der Moderne-Kritik liegen, auf eine Verarbeitung deutscher Prägungen und politischer Erfahrungen zurückführen kann, sind zumindest für die Ausformung dieser Motive das amerikanische politische Umfeld (der Wandel der politischen Semantik, der Kalte Krieg und die Entstehung des Neokonservatismus) und die neue akademisch-disziplinäre Situation wesentlich. Mehr noch, alle drei unternehmen Akkulturationsanstrengungen, die insbesondere in Deutungen der Vereinigten Staaten als Land des Exils, in das sie alle eingebürgert werden, zum Ausdruck kommen. Die USA werden von ihnen systematisch für besondere politische bzw. theoretische Entwicklungen ausgezeichnet. So kehrt Arendt die Besonderheit der amerikanischen Revolution heraus, Strauss behauptet, die Unabhängigkeitserklärung und die amerikanische Verfassung seien frei vom schädli160
Voegelin bekommt den Preis 1978 (vgl. Nachwort zu NWP: 271). Der Preis ging auch an K. R. Popper, dem Arendt, Voegelin und Strauss fremd bis feindlich gegenüberstanden.
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chen Einfluß Machiavellis, und Voegelin sieht in den USA eine besondere Verwirklichung der Verbindung von Macht, Religion und Philosophie angelegt. Wenn die drei Theoretiker gegen den Fortschrittsglauben und den „Machbarkeitswahn" der Moderne sowie die Dominanz eines instrumentellen Verständnisses von politischem Handeln argumentieren, so vertreten sie im Rückgriff auf die Antike den Gedanken selbstzweckhaften Tuns, der Grenzen des Machbaren und auf sehr verschiedene Weise die Idee, daß Ordnung nur möglich ist, wenn es Unverfugbares gibt. Damit wird ein Standpunkt zur Geltung gebracht, der in der szientifischen Politikwissenschaft, die utilitaristischen bzw. behavioristischen Modellen folgt, geradezu als der Ausdruck veralteten, „vorwissenschaftlichen" Denkens gilt. Die polemische Konstellation gegen diese nichtszientifische Art von Politikwissenschaft zeitigt Folgen. Die Frontstellung gegen den Positivismus deutsch-europäischer Prägung wird von den Exilanten in den USA fortgesetzt, und zwar als eine Gegenbewegung zur Szientifizierung der amerikanischen Politikwissenschaft, die im Zusammenhang mit dem Behaviorismus erfolgt. Vor dem Hintergrund der Weimarer Erfahrung werden die politischen Gefahren des Positivismus, der im Kern einen die Demokratie untergrabenden Wertrelativismus befördere, dramatisiert dargestellt. Die weitgehende Abstinenz gegenüber empirischen Analysen, die Voegelin und Strauss kennzeichnet und die in eingeschränkter Weise auch Arendts historisch-politische Analysen charakterisiert, erscheint als Konsequenz des Theorietyps. In den verschiedenen Varianten politischen Philosophierens werden in jedem Falle die Pfade der traditionellen Ideen- und Theoriegeschichte verlassen. So schreibt Voegelin aus bewußtseinsphilosophischer Perspektive eine Geschichte der politischen Ordnungen und ihrer Symbolisierungen; Arendt entwickelt mit starker und direkter Problemorientierung Methoden, nach dem Traditionsbruch im abendländischen Denken selektiv auf die Tradition zurückzugreifen und ihre genuinen Gehalte zu bergen. Strauss schreibt eine geheime Knoten- und Wendepunktegeschichte der politischen Philosophie, für die sein doppelter Begriff politischer Philosophie als exoterisch-esoterischer Theorie konstitutiv ist und in der wenige große Denker maßgeblich sind. Er entfaltet sein Denken im wesentlichen in Kommentaren zu diesen Autoren. Es verwundert in diesem Kontext nicht, daß alle drei Konzepte politischen Philosophierens bestimmte parallele theoriegeschichtliche Orientierungen verfolgen. So gibt es jeweils einen starken ideengeschichtlichen Einschlag, wobei zu einem erheblichen Teil die gleichen Autoren eine prominente Rolle spielen. Zu ihnen gehört Machiavelli, mit dem sich alle drei intensiv auseinandergesetzt haben. Bei Voegelin und Strauss ist er wesentlich für den Verfall der politischen Philosophie verantwortlich, während Arendt ihn positiv als republikanischen Denker herausstellt, der die Politik wieder in ihre hohe alte Rolle versetzen wollte (VA: 36). Die Debatte um Machiavelli ist eine Debatte um den Totalitarismus und um Machtpolitik (vgl. Kap. 5), sie ist deshalb oft zugleich eine Debatte um Hobbes, aber auch um Max Weber.161 In der Auseinandersetzung mit Weber stehen aber neben dem modernen Verständnis von Politik auch methodische Fragen auf der Agenda, wobei es im Kern um eine Auseinandersetzung mit dem Positivismus in der amerikanischen Politik- und Sozialwissen161
Arendt über Machiavelli (vgl. VA: 36, 1994: 195-199, v.a. 198; Über Revolution, 132f.), Voegelin (1995a); zu Strauss' Auffassung von Machiavelli vgl. vorliegende Arbeit, Kap. 5.2.
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schaft geht. Wenn die Auffassungen von Weber, den Arendt, Strauss und Voegelin als einen herausragenden Sozialwissenschaftler schätzen, sich als fehlerhaft erweisen lassen, dann sind die der zeitgenössischen Positivisten, der Behavioristen, die als weit unter ihm stehend angesehen werden, um so problematischer. Auch wenn es in dieser Auseinandersetzung viel Polemik gibt, so ist doch als ein wesentlicher Punkt festzuhalten, daß Arendt, Voegelin und Strauss gegen jeden einseitigen Positivismus, der naiv der Wertfreiheit der Wissenschaft anhängt und sie nach dem Modell der Naturwissenschaft konzipiert, zu Recht die Wertgebundenheit sozialwissenschaftlicher Erkenntnis betonen. Voegelin und Strauss spielen in ihrer Kritik an Weber und dem Positivismus letztlich die Vita contemplativa gegen Weber aus. Dabei ist Strauss mit seinem Angriff auf Weber zeitlich der Vorreiter, und Voegelin bedankt sich bei ihm für die Zusendung der WeberKritik aus der Walgreen Lecture (an Strauss, 22.04.1951). Voegelins Kritik an Weber, die in den 1950er Jahren erst ihre Schärfe bekommt, hat Parallelen zu der von Strauss, beide setzen auf die Erneuerung der Philosophie und akzentuieren das Ordnungsproblem.162 Arendt schlägt einen anderen Weg ein, denn sie versucht die Vita activa zu rehabilitieren und in diesem Kontext Politik als Politik zu denken. Ihr Ziel ist eine Kritik der (traditionellen) politischen Philosophie und nicht ihre Restitution wie bei Strauss und Voegelin. Ihre Weber-Kritik hat Arendt erst in den 1970er Jahren expliziert, als sie die Begriffe Macht und Gewalt neu faßte (1990). Der Weberschen, positivistischen Linie, die man getrost um seinerzeit aktuelle amerikanische Beispiele wie Lasswell/Kaplan und andere ergänzen könnte, wirft sie vor, Macht nur mit Bezug auf den Staat zu definieren und dabei ein Befehlsmodell, das auf Gewaltmittel angewiesen ist, zu nutzen. Dagegen entwickelt sie ihr bürgerschaftliches Modell von Macht als assoziiertem Handeln, das von der Gewalt abgehoben ist. In diesem Sinne wird dem Utilitarismus ein kreativistisches Modell entgegengestellt, bei dem assoziiertes Handelns selbst Zweck ist und als Medium von Zielentwicklung dient. Alle drei Theoretiker versuchen von ihrem jeweils starken philosophischen Hintergrund aus ein genuin politisches Philosophieren zu ermöglichen, und zwar unter der Bedingung, daß es dafür keine Tradition in Deutschland jenseits der Staatswissenschaften und der werdenden Soziologie gab und daß in der amerikanischen Politikwissenschaft die philosophische Orientierung fehlt. In der historischen Retrospektive betrachtet, reagieren Arendt, Voegelin und Strauss sowohl was ihr Gepäck als auch was die Akkulturation angeht recht ähnlich, aber wenn man genauer hinsieht, erkennt man, daß in der Form von epischer politischer Theorie divergierende Konzepte erarbeitet wurden. So verfolgt Arendt bei ihrer Kritik der überkommenen politischen Philosophie durchaus radikaldemokratische Ziele, die mit einer republikanischen Überwölbung liberaler Institutionen einher gehen; aber auch konservativ-elitäre Gesichtspunkte spielen dabei eine Rolle. Entscheidend ist, daß sie zwar auf die Antike rekurriert, aber innovativ denkt, auf das Neue, nämlich Revolutionen sowie Gründungsprozesse hin. 162
Zum Kontext der Weber-Debatte vgl. Kap. 6.3. Voegelins Neue Wissenschaft der Politik erscheint allerdings schneller als die früher von Strauss gehaltenen Walgreen-Lectures. Voegelin ist auch ein scharfer Kritiker des Positivismus und von Max Weber. Im Briefwechsel mit Strauss (vgl. Voegelin/Schütz/Strauss: 33) konstatiert Voegelin ausdrücklich Parallelen beider Weber-Kritiken. Voegelins Arbeiten zu Weber liegen inzwischen gesammelt vor (Voegelin 1995b).
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DREI VARIANTEN VON MODERNE-KRITIK (ARENDT, VOEGELIN, STRAUSS)
Vor allem aber setzt sie sich mit der neuen Regierungs- und Gesellschaftsform des Totalitarismus auseinander. Dagegen erscheinen Voegelin und Strauss geradezu als klassizistisch, aber auch zwischen ihnen gibt es bemerkenswerte graduelle Unterschiede. Strauss ist in seinem Rekurs auf die Antike auf die politische Philosophie der griechischen Klassiker fixiert. Voegelin denkt in großen geschichtsphilosophischen Perioden, rekurriert auf Athen, Rom und Jerusalem und geht in vergleichender Perspektive auf außereuropäische Zivilisationen ein. Sein Rekurs auf die aristotelische Wissenschaft von der Politik beinhaltet sowohl eine Universalisierung als auch eine differenzierende Fortschreibung des Konzeptes. Die Wiederermöglichung politischen Philosophierens ist Bestandteil der verschieden ausgeformten dekadenztheoretischen Ansätze, die jeweils den Verfall und Wege seiner Überwindung im Rahmen „epischer" politischer Theorie thematisieren müssen. Diese doppelte Aufgabe wird in Angriff genommen durch die Akzentuierung des Philosophierens oder Denkens im emphatischen Sinne, das sich gegen systematische Formen von Theorie, die auf bestimmte Erkenntnisse ausgerichtet und fixiert ist. Die Versuche, eine prozeßhafte und um bestimmte, ewige Grundprobleme kreisende Form von Theorie zu schaffen, haben einen Anspruch eigener Art, der ernst zu nehmen ist. Am Ende des exemplarischen Vergleiches der drei Varianten von Moderne-Kritik und politischem Philosophieren kann man John Gunnells Auffassung, daß die emigrierten politischen Philosophen so einflußreich seien, daß sie die pragmatische TheoriePraxis-Beziehung empfindlich gestört und eine problematische Orientierung auf metatheoretische Fragen in der Subdisziplin politischer Theorie und Ideengeschichte eingeleitet hätten, präzisieren. Zum einen unterschätzt Gunnell die Differenzen zwischen den drei Autoren, da er sie unter das Label epische politische Theorie bringen will. Man kann - wie gezeigt - mit der Formanalyse dieses Theorietyps unter Einschluß der Divergenzen weiter kommen. Zum anderen bringen die Erneuerer politischen Philosophierens, wie gezeigt, ihre Moderne-Kritik und ihre Liberalismus-Kritik in den USA in einer spezifischen Situation ein, in der sich die politische Semantik und die akademischdisziplinären Strukturen ändern, und gerade diese Konstellation ist für ihren Transfer von Ideen aus deutschen Kontexten in die amerikanische Political Science wesentlich. Darüber hinaus gilt, daß viele ihrer Kritiken am Positivismus im Prinzip treffend sind, aber eben wissenschaftstheoretische Konsequenz in der Ausführung fehlt. Vor allem aber unterschätzt Gunnell die bereits mehrfach erwähnten Akkulturationsanstrengungen, die die Emigranten im Land des Exils vornehmen. Die theoretische Grundorientierung von Strauss, sein Rekurs auf die antike politische Philosophie, die fundamentale und metapolitische Moderne-Kritik verliert im Vergleich sowohl hinsichtlich der Prägung durch deutsche Philosophie und Weimarer Debatten als auch, was das Einbringen dieser Orientierungen in den akademischen Kontext der amerikanischen Politikwissenschaft betrifft, den Status einer schwer erklärbaren Singularität. In der Retrospektive überwiegen die Parallelen zu Arendt und Voegelin, und die Spezifik des Konzeptes von Strauss rückt an die zweite Stelle. In allen drei Fällen handelt es sich um politisches Philosophieren im Rahmen der Subdisziplin politischer Theorie. Man sollte gerade diesen Kontext nicht unterschätzen, denn die Debatten und Entwicklungen in der amerikanischen Philosophie bleiben davon weitgehend unberührt.
DEKADENZTHEORETISCHE ARGUMENTATIONSMUSTER
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Aus verständlichen Gründen hatte Strauss keine Beziehungen zu Rudolf Carnap, der in Chicago Philosophie lehrt (Carnap 1993)163, und auch nicht zu Richard McKeon, der auch dort lehrt und auf dem Gebiet von Philosophie und mittelalterlichem Denken arbeitet und einen Schülerkreis um sich geschart hat. Ein ähnlich distanziertes Verhältnis von Voegelin und Arendt zur akademischen Philosophie kann zumindest bis in die späten 1960er Jahre angenommen werden. Offensichtlich gab es eine recht deutliche Abgrenzung zwischen der akademischen Philosophie und dem Gebiet politischer Theorie. Die Emigranten, die das Totalitarismusproblem im Reisegepäck mitnahmen, waren zu seiner Bearbeitung in der amerikanischen Political Science gut aufgehoben. Mit ihren philosophischen Orientierungen waren sie zwar zunächst Außenseiter, aber sie kreierten eine besondere Art von Theorie, in die sowohl ihre akademischen Prägungen als auch eine Reihe von Akkulturationsleistungen auf dem Feld amerikanischer Demokratie und Politikwissenschaft eingeflossen sind.
163
Carnap formuliert in Mein Weg in die Philosophie unter anderem zum Chicagoer PhilosophieDepartement, an dem der Schwerpunkt auf der Geschichte der Philosophie, den Great Books lag: „Bei manchen philosophischen Diskussionsveranstaltungen hatte ich das gespenstische Gefühl, unter lauter mittelalterlichen Gelehrten mit langen Bärten und feierlichen Gewändern zu sitzen." (1993: 66; zur Wirkung von Carnap vgl. auch Gunnell 1993: 223).
8.
Konturen des Spätwerks
In seiner späten Schaffensperiode, die etwa 1963/64 beginnt, vergräbt sich Strauss geradezu in die antike Philosophie. Statt der Destruktion falscher und das Denken stillstellender Traditionen widmet er sich nun vor allem der Auslegung der antiken Klassiker. Die modernen Anstöße für seinen fundamentalen Rekurs, für welche Autoren wie Nietzsche, Husserl, Heidegger und Cohen stehen, bleiben präsent, wie insbesondere einige Aufsätze des Bandes Studies in Piatonic Political Philosophy (1983a) zeigen. Vom Gegensatz zwischen antiken und modernen Theorien kommt Strauss auch im Spätwerk nicht los; anders kann er die Korrektive gegen den modernen, einseitig ausgerichteten Rationalismus und Subjektivismus vermittels seines Antike-Rekurses auch nicht verdeutlichen. Neu ist, daß Strauss als Kommentator und Interpret primär die für ihn vorbildhaften Theoretiker darstellt und dabei positiv zu zeigen sucht, wo er ihnen folgt. Gerade deshalb läßt sich hieran gut prüfen, inwieweit sein politisches Philosophieren auf Politik selbst eingeht oder durch strikte Beschränkung auf metatheoretischnormative Fragen in wesentlichen Zügen unpolitisch bleibt. In diesem Sinne gehe ich zunächst auf die Schrift The City and Man ein, die Aufsätze zu Aristoteles, Piaton und Thukydides enthält. Diese Schrift hat eine Schlüsselstellung für das Spätwerk, denn in ihr will Strauss die Überlegenheit der klassischen Thematisierungen von Politik gegenüber den modernen Konzepten demonstrieren. Anschließend behandle ich summarisch Probleme von Strauss' Sicht der Antike und verschiedene Facetten seines „sokratischen Philosophierens". Insbesondere anhand von Strauss' Buch über Piatons Nomoi läßt sich zeigen, daß sein Interesse an metatheoretischen, philosophischen Fragen ihm den Zugang zum politischen Denken von Piaton im engeren Sinne verstellt. Mit der Konzentration auf antike Philosophen geht eine Aufwertung der Philosophie gegenüber der jüdischen Religion einher, die mit Bezug auf den Aufsatz Athen and Jerusalem exemplarisch erörtert wird.
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8.1
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„The City and Man"
Seth Benardete, auf dem Gebiet der antiken Philosophie zweifellos der begabteste Schüler von Strauss, hat in einem Aufsatz die Wende herausgestrichen, die City and Man im Denken von Strauss bedeutet, eine Wende, die wegen der Kontinuität von Problemstellungen leicht übersehen wird. Er schreibt: „That Natural Right and History goes forward from the pre-Socratics to Burke, and The City and Man back from Aristotle through Plato to Thukydides, indicates some fundamental change in Strauss' way of approaching the ancients. They are no longer the beginning from which he goes, they are now the beginning to which he goes." (1978: l) 1 6 4
Strauss' Denken kreist nun fast nur noch um verschiedene antike politische Theorien. Darüber hinaus läßt sich festhalten, daß dieses Buch in theoretischer Hinsicht direkter auf Grundfragen eingeht, und zwar, weil es aus Vorlesungen erwachsen ist und daher zum Teil für Strauss typische, verschlungene Wege der Darstellung meidet. Es gehört nicht nur zu seinen wichtigsten, sondern es ist auch eines seiner besten Bücher. City and Man kommt insgesamt sehr schlicht daher, trägt jedoch eine enorme Beweislast, da Strauss zeigen will, auf welche Weise die antiken Theoretiker in den verschiedenen Zweigen des politischen Denkens den modernen überlegen sind. Hierzu ordnet er Piaton und Aristoteles verschiedenen disziplinaren Richtungen zu, ersteren der politischen Philosophie und letzteren der politischen Wissenschaft. Hinzu kommt nun Thukydides, der Vater der politischen Historiographie. An diesen drei antiken Autoren will Strauss seine Leitvorstellungen positiv demonstrieren; hier könne man lernen, was wahre politische Philosophie, politische Wissenschaft und politische Geschichtsschreibung sei. Zu erwähnen ist, daß Strauss fast vollständig auf eine Auseinandersetzung mit der reichhaltigen interpretativen Literatur verzichtet. Die Erörterung verschiedener Thematisierungsweisen von Politik zielt zugleich grundsätzlich auf verschiedene Dimensionen des Gegenstandes. Systematisch steht für Strauss aber noch mehr auf dem Spiel. Es geht nämlich auch um das Verständnis des Politischen und von Politik, also um ein wesentliches Problem von Strauss' Philosophieren, das seit der Schmitt-Kritik indirekt ein Thema ist, aber weder seinerzeit noch später klar konzeptualisiert. Man kann den Gehalt von City and Man nur verstehen, wenn man erkennt, daß dieses Problem im Zusammenhang von politischer Philosophie, politischer Wissenschaft und Historiographie gleichsam in einer Tiefenschicht indirekt 164
Auch wenn man die Veränderungen in der späten Schaffensperiode von Strauss betont, muß man zugleich Kontinuitäten festhalten, Grundfragen und -probleme sind dieselben geblieben. Zu Recht kann Strauss 1971 im Vorwort zur 7. Auflage von Natural Right and History behaupten: „Nothing that I have learned has shaken my inclination to prefer ,natural right', especially in its classic form, to the reigning relativism, politicist or historicist. To avoid a common misunderstanding, I should add the remark that the appeal to a higher law, if that law is understood in terms o f , our' tradition as distinguished from ,nature', is historicist in character, if not in intention. The case is obviously different if appeal is made to the divine law; still, the divine law is not natural law, let alone natural right." (NRH 1971: VII)
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KONTUREN DES SPÄTWERKS
zum Thema wird. Für die Diskussion greife ich auf meine in Kapitel 3 entwickelten Unterscheidungen zurück, die hier nur noch einmal knapp rekapituliert werden. Der Begriff des Politischen sollte, wenn man auf den Zusammenhang von politischem Handeln und politischer Ordnung abhebt, in doppelter Weise bestimmt werden. Zum einen ist für ihn das Verständnis der Spezifik des politischen Tuns als öffentlichem dramaturgischen Handeln wesentlich, einem Handeln vor vorgestelltem oder realem Publikum. Auf dieser Ebene lassen sich existentielle Bezüge dieser Handlungsform ebenso grundsätzlich verankern wie rhetorische und legitimatorische. Die andere Dimension des Politischen betrifft die politisch-institutionelle Grundordnung, innerhalb deren politisches Handeln und politisches Geschehen realisiert werden. Solche Grundordnungen sind Stadt, Staat und Nation, die auf verschiedene Weise qualitativ gedeutet werden und die politisches Handeln ermöglichen und restringieren. Zugleich kann man in diesem Rahmen Abgrenzungen und Situierungen des Politischen vornehmen, nämlich in bezug auf andere Sachgebiete, Systeme, oder auf das Vor- bzw. Überpolitische. Letzteres spielt bei Strauss eine enorme Rolle, und zwar seit seiner Auseinandersetzung mit Carl Schmitt, der im Begriff des Politischen festhält, daß alle Probleme politisch werden können, aber dennoch wie Strauss auf etwas Außerpolitisches als Ordnungsbezug abzielt.165 Politik im engeren Sinne als ein Geschehen innerhalb einer konkreten institutionellen Ordnung sollte man, so wichtig es ist, einen Begriff des Politischen, gleichsam einen metatheoretischen Begriff von Politik zu haben, anders begreifen. Hier geht es bekanntlich darum, Institutionen, systemische Vorgänge, Machtbeziehungen auf der einen und Akteure, Handlungen, Entscheidungsprozesse und deren konkrete Deutungsschemata auf der anderen Seite zu analysieren. Unterscheidet man die Begriffe von Politik und dem Politischen im skizzierten Sinn, was Strauss nicht macht, so lassen sich die bei ihm erörterten Probleme und jene, die er ausschließt bzw. an den Rand drängt, deutlich markieren. Ich diskutiere seine Differenzierung der Thematisierung von Politik durch die antiken Autoren in zwei Schritten. Zuerst skizziere ich, wie Strauss ihre Unterschiede hinsichtlich des Gegenstandes und der Methode bestimmt. Danach gehe ich vertiefend auf die rhetorische Dimension dieser verschiedenen Disziplinen ein. Insgesamt erhält Strauss' Thukydides-Deutung viel Aufmerksamkeit, da hier Politik als Politik, in für ihn ungewöhnlicher Weise, zum Problem wird. Strauss ist von der Suprematie der politischen Philosophie überzeugt; nur hier würden die entscheidenden grundlegenden Fragen politischer Ordnung diskutiert, dennoch müsse sie durch die politische Wissenschaft und die Geschichtsschreibung ergänzt werden, wenn es um ein umfassendes Bild von Politik geht. Zu fragen ist daher, welche Gegenstände und Methoden diese disziplinare Zuordnung beinhaltet. Piaton sei der Philosoph par excellence, so Strauss, seine Adressaten seien vor allem Philosophen, und daher könne er die tiefen und grundsätzlichen Fragen politischer Ordnung erwägen. Er thematisiere die politische Ordnung schlechthin, er frage nach ihren Voraussetzungen und werfe das Problem der Tugenden mit Konsequenz auf. Was Piaton anziele, seien absolute und höchste Maßstäbe, die beste Ordnung als Grundlage von 165
Die entsprechenden Überlegungen sind vielfach unter dem Rubrum von Schmitts politischer Theologie bzw. des Katholizismus erörtert worden, vgl. etwa Meier (1994), Meuter (1994).
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Ordnungen. Zugleich wisse er, daß das Politische auf vorpolitischen Bedingungen aufruhe und durch überpolitische Ziele (Religion, Philosophie) eingerahmt und begrenzt werde. Er habe daher ein sehr weites Verständnis von Politik und zähle alle ihre Voraussetzungen dazu, denn die politische Ordnung berühre das gesamte Leben der Menschen. Piaton hebe mit sokratischen Fragen bei der konkreten Politik an und entwickle von daher die höchsten politischen Probleme, so daß die Politik als konkrete Politik meist nur der Ausgangspunkt des Denkens ist. Eine gewisse Ausnahme bildeten hier die Nomoi, in denen die höchste politische Kunst, die Gesetzgebung näher erörtert werde. Aristoteles dagegen sei der Begründer der politischen Wissenschaft, da er das „natürliche" Verständnis der Politik entwickle und zeige, was unter dieser Voraussetzung die beste Ordnung sei. Aristoteles ist Philosoph, aber seine Politik repräsentiert für Strauss politische Wissenschaft, eine eigene Disziplin; sie wende sich mit ihrer Problemstellung vor allem an den Gentleman, den begüterten und ethisch orientierten Vollbürger. In diesem Rahmen werfe Aristoteles die Fragen der Tugend und der politischen Ordnung auf; aber sie werden laut Strauss immer auf die Akteure bezogen gedacht und nicht in der Perspektive des theoretischen Lebens, der Philosophie, die über dem politischen Leben stehe. Aristoteles ziele auf die „natürliche" Ordnung, die wiederum durch vorund überpolitische Bezüge eingerahmt wird. Die Tugenden und die politischen Regime werden hier mit Blick auf praktisch mögliche Ordnungen erörtert. Da Aristoteles eine Ebene näher zur konkreten Politik als Piaton ansetze, gelinge ihm auch die Verbindung zu ihr, allerdings ohne (wie die modernen Politikwissenschaftler) die ewigen Fragen und hohen Zielstellungen aus den Augen zu verlieren. Eben deshalb sei er, wie Strauss mehrfach betont, der Begründer der politischen Wissenschaft, der empirische Methoden und Vergleiche etwa von Verfassungen systematisch nutze. Thukydides behandelt Strauss nicht in erster Linie als Machtanalytiker, wie Hobbes und Nietzsche es taten, sondern als Historiker besonderer Art. In seiner 100 Seiten umfassenden Studie über ihn handhabt Strauss seine tiefenhermeneutische Methodik souverän.166 Sein Ziel besteht darin zu zeigen, daß Thukydides auf nicht-historistische Weise Historiker ist und er so der Vereinnahmung durch Nietzsche und dessen Relativismus entzogen werden kann. Es versteht sich, daß Thukydides, so aufgefaßt, auch allen modernen Historikern und letztlich auch allen modernen, dem Machtparadigma folgenden Politikwissenschaftlern gegenüber als überlegen gilt. Er schreibe Geschichte in einem philosophischen Horizont und finde im einzelnen, im besonderen Fall, nämlich im Peloponnesischen Krieg, das Universale. Dabei gelinge es ihm, den Krieg schlechthin zu analysieren. Strauss' zentrales Argument, weshalb man Thukydides als Ergänzung zu Piaton und Aristoteles begreifen könne, lautet, daß er mit Athen eine Stadt und ihre politische Ordnung in der Bewegung, im Krieg zeige (CM: 140). Das sei dem Philosophen verwehrt, dessen Perspektive auf die Struktur der besten Ordnung im „ruhigen" Normalzustand gerichtet ist. Auch die politische Wissenschaft könne dies nicht erörtern, da sie an der 166
Es gibt noch einen späteren Text von Strauss zu (1974): Preliminary Observations on the Gods in Thucydides' Work (in SPPP: 89-104). Der Autor betont einleitend zu diesem Aufsatz, daß er nur Gedanken aus dem Thukydides-Kapitel von City and Man variiere, und versucht hier eine Verbindung zu Xenophon herzustellen, der ja die Geschichte des Thukydides weiterschreiben wollte.
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Struktur konkret möglicher Ordnungen interessiert ist. Thukydides analysiere die Machtpolitik und das politische Geschehen am direktesten. Dabei spielten zwei Orientierungen eine Rolle. Zum einen interessiere ihn das im Konkreten sich zeigende Allgemeine. Das heißt, es gibt einen Bezug auf anthropologische Grundannahmen und die Überzeugung, daß zur Politik bestimmte grundsätzliche Phänomene gehören, die in ihrem Auf und Ab im wesentlichen nur immer wieder variiert werden. Zum anderen sei Thukydides nicht wertfrei, sondern er habe Vorstellungen einer guten Ordnung, wie Stabilität, Besonnenheit und Rationalität im politischen Handeln und andere mehr, ohne die er sich im Dickicht der politischen Phänomene verlieren würde. Blickt man auf diese Skizze von Strauss' Verständnis der drei antiken Denker, so gibt es für ihn offensichtlich generell verschiedene Ebenen der Thematisierung von Politik, die er teils explizit und teils implizit unterscheidet. Die politische Philosophie und die politische Wissenschaft fragen nach der Struktur und den Grundlagen, Voraussetzungen und Zielen von Politik mit Bezug auf das Handeln von politischen Akteuren und auf die moralisch-politische Dimension dieses Handelns. Politik wird in die sozio-moralische Ordnung eingebettet und mit der Frage nach dem guten Leben, der richtigen Lebensführung verbunden. Durch den Bezug auf die gesellschaftliche Ordnung als ganze wird die Politik durch vor- und überpolitische Bereiche begrenzt. Das sind nach Strauss anthropologische Voraussetzungen, der Bezug auf letzte Ordnungsvorstellungen (Religion, Philosophie), die bei ihm unter dem Titel theologisch-politisches Problem gefaßt sind und grundsätzliche Fragen der Lebensführung berühren. In der Lesart von Strauss spielen bei Piaton und Aristoteles Fragen des Politischen und weniger konkrete Politik eine Rolle. Der Bezugsrahmen, in dem das Politische gedacht wird, der Stadt-Staat, wird bei Strauss nicht problematisiert, da er diese Ordnung als qualitatives Maß der Dinge auszeichnet. Politik als Politik steht demnach bei Piaton, aber auch bei Aristoteles nicht im Zentrum des Denkens, obwohl sich dieser, wenn es um die Realisierbarkeit der bestmöglichen Ordnung geht, viel weiter auf sie einläßt als Piaton. Als vorbildlich können von Strauss also nur die normativen Orientierungen in Anschlag gebracht werden, die jeder wertfreien empirischen wissenschaftlichen Orientierung vorzuziehen seien - wie Strauss nicht müde wird, immer wieder zu betonen. Da Strauss die Unterschiede zwischen dem Begriff des Politischen und von Politik verwischt, kann er so eine Überlegenheit der antiken Autoren behaupten, ohne daß die Anwendung und Umsetzung von Problemstellungen die zu Fragen des Politischen gezählt werden können, in der Analyse von Politik zur Sprache gebracht werden muß. Welche Konsequenzen ergeben sich aus Strauss' These, daß jede theoretische Deutung von Politik eine rhetorische Dimension hat. Diese Dimension besteht zunächst darin, daß jede politische Theorie sich an bestimmte Adressaten wenden muß und die Theoretiker diesen Adressatenbezug nicht nur zu berücksichtigen, sondern ihn verantwortungsvoll zu reflektieren haben. In dieser Perspektive nimmt Strauss eine Spezifikation der Unterschiede der Konzepte von Piaton, Aristoteles und Thukydides vor, in welcher Politik und das Politische wiederum eine besondere Rolle spielen. Bei Piaton sind mit der rhetorischen Dimension seiner Theorie die bereits mehrfach angesprochene Unterscheidung von exoterischen und exoterischen Dimensionen politischer Philosophie gemeint. Das Verständnis der Form seiner Theorie ist an die Deutung
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des Dialoge gebunden, die Strauss als intellektuelle Dramen begreift, die verschiedene Botschaften für verschiedene Leser in sich bergen. Piaton frage philosophisch nach der politischen Ordnung schlechthin, und dieses Fragen, das auf die Lebensführung und ihren Zusammenhang mit der politischen Ordnung ziele, sei selbst politisch. Die Aktionen und Reaktionen der Dialogpartner stellten eine Art von dramaturgischem Handeln dar (CM: 59), das auf die Voraussetzungen reellen politischen Handelns ziele, welches aber selbst nicht näher thematisiert wird. Die Fragen: wie soll man leben und: was ist die richtige Ordnung erscheinen Strauss daher als Kernprobleme, die zetetisch zu erörtern sind. Von dieser Überlegung her begreift er die Politeia als eine tiefe Kritik am Idealismus, in der gedanklich die Schwierigkeiten, Fährnisse und Probleme der Gründung einer gerechten Stadt debattiert werden (CM: 127). Die Suche nach dem Guten, der guten Ordnung, die die Philosophie betreibt, sei ein die Gesellschaft humanisierender und ihre mögliche Maßlosigkeit begrenzender Faktor. Ihre Effekte könne sie allerdings nur dann entfalten, wenn die gute Ordnung an sich für möglich gehalten wird; nur dann könne man zu einem generellen qualitativen Maß kommen. Darüber hinaus seien die humanisierenden Effekte nur zu erreichen, wenn man das letztlich subversive Wissen der Philosophie den verschiedenen Adressaten (z.B. den Edlen/Besten, den Bürgern, der Menge) dosiert zugänglich mache, da ansonsten der Gegensatz zwischen der Philosophie und der Stadt geschürt wird. Die politische Philosophie ist, so gefaßt, auf mehrfache Weise politisch, ihr Fragen gilt an sich als politisch, ihr Effekt kann begrenzend und orientierend sein, und ihr öffentliches Wirken muß die jeweiligen Adressaten berücksichtigen und mit der Wahrheit politisch dosiert umgehen. Für Strauss sind Piatons Dialoge die ideale Form, in der diese verschiedenen Seiten realisiert werden können. Diese Form ist die Bedingung für eine umfassende Anwendung der Unterscheidung von esoterischem und exoterischem Schreiben, das radikales Fragen und einen differenzierten, politisch verantwortlichen Umgang mit ihr ermöglicht. Strauss nutzt seine Überlegungen zur Rhetorik in City and Man auch, um die politische Wissenschaft wie die politische Geschichtsschreibung näher zu charakterisieren. Die von Aristoteles entwickelte politische Wissenschaft habe als Adressaten den „Gentleman", die Politen und wesentlich auch die Gesetzgeber. Im Zentrum seines Denkens stehe die Klugheit als besondere, praktische Rationalitätsform; sie sei typisch für das politische Handeln, das auf die Zukunft gerichtet ist und sich wandelnde Umstände berücksichtigen müsse. Ein solches Handeln setze Besonnenheit und Erfahrungen voraus. Das Thema der Politik sei die „Politeia", d.h. die Frage nach der angemessenerweise möglichen politischen Ordnung, nach dem richtigen Regime. Entscheidend sei dabei die Verknüpfung der Problematik der politischen Ordnung mit der Frage, was den guten Bürger ausmache (CM: 45). Die Verbindung zwischen beiden Fragen wird durch die Annahme eines Strebens nach „human excellence" (CM: 44) gewonnen. Anders als Piaton frage Aristoteles nicht nach er Ordnung schlechthin, sondern nach der natürlichen Ordnung. Durch Akzentuierung dieser Frage gelangt Strauss zu dem Resultat, man müsse zwischen Legalität und Legitimität differenzieren (CM: 46). Das bei Aristoteles sichtbar werdende Naturrecht sei kein Legitimitätsprinzip, da es gegenüber den verschiedenen Verfassungsformen indifferent sei und sein müsse. Legitimitätsprinzip im konkreten politischen Sinn seien vielmehr mit konkreten Ordnungen verknüpfte
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Gerechtigkeitsvorstellungen. Auch hier zeige sich, daß Aristoteles eine politische Wissenschaft begründe, die der Empirie nahe ist und deren Adressat nicht Philosophen, sondern politische Akteure sind. Dieses normative Denken begreift Politik wesentlich als gehaltvolle, maßvoll strukturierte politische Ordnung, deren Möglichkeiten an konkrete Bedingungen gebunden werden. Mit Thukydides kommt, wie Strauss betont, die Politik als Politik ins Spiel. Sein Adressatenkreis seien alle politisch interessierten Bürger. Aber auch hier spielt Strauss' Überzeugung von der Gefährlichkeit theoretischen politischen Denkens eine Rolle. Die Darstellung der historischen Abläufen habe methodisch deutlich zu unterscheidende Darstellungsebenen. Man müsse nämlich zwischen der Gesamtanlage der Darstellung des Peloponnesischen Krieges, der Darstellung von einzelnen Ereignissen, der Thematisierung von Ereignissen in den eingeschalteten politischen Reden sowie deren indirekter Kommentierung durch die Handlungen von Akteuren und die reellen Folgen von Reden und Tun unterscheiden (vgl. CM: 166). Thukydides konfrontiere das dramaturgische Handeln von Akteuren und ihre politische Rhetorik mit faktischen Konsequenzen. Seine eigene Wertung halte er dabei im Hintergrund, und so hänge es auch hier vielfach vom Leser und seinem Denkvermögen ab, wieweit er zu den Grundüberlegungen vorstoßen kann. Strauss' unpolitisches politisches Philosophieren läßt sich gerade an seiner Thukydides-Interpretation verdeutlichen, nähert er sich hier doch der Politik als Politik und hält gleichzeitig eine normative Perspektive des politischen Historikers fest. Zeitgleich mit Strauss hat Hans-Peter Stahl ebenfalls eine neue Lesarten von Thukydides vorgelegt, die in einigen wesentlichen Punkten konträre Positionen bezieht (1966)167. Es lohnt sich daher, sie als eine Art Kontrastfolie mit in den Blick zu nehmen. Strauss geht von der Einheitlichkeit des historischen Werkes von Thukydides aus. Er schiebt damit lange erörtertete philologischen Fragen beiseite, die mannigfache Sekundärliteratur hervorgebracht haben (vgl. Stahl 1966: 19ff.). Sein Herangehen zielt darauf zu zeigen, daß Thukydides als Historiker das politische Geschehen durchaus wertet. Es gilt also, laut Strauss, den impliziten Maßstab aus seiner Darstellung herauszufiltern. Die Grundidee wird im Zusammenhang mit der Frage entwickelt, warum für Thukydides dieser Krieg der größte, der bedeutendste war und nicht etwa derjenige gegen die Perser. Strauss zeigt hier zunächst auf, was diesen Krieg als eine außerordentliche Bewegung kennzeichnet; dabei kommen Faktoren wie das Ausmaß und die Dauer zur Sprache. Aber er begnügt sich hiermit nicht, sondern behauptet, Thukydides stehe mit Homer in einem Wettkampf, der trojanische Krieg sei seinerzeit bei den Athenern das Maß der Dinge gewesen (CM: 158f.). Folgt man dieser zentralen Idee, dann ergeben sich weitreichende Folgerungen. Durch den historischen Vergleich wird die Darstellung des Peloponnesischen Krieges erheblich normativ-politisch aufgeladen, denn sie konkurriert jetzt mit dem Gründungsmythos der athenischen Polis. Strauss entfaltet diese Idee ohne konkrete Textnachweise, und man trifft hier eine besondere Form der „arguments on silence" an, die bei ihm oft eine Rolle spielen, nämlich die Unterstellung einer einst allgemein geteilten Annahme. Wichtiger aber ist, daß durch diese Ausweitung der 167
Stahl hat seine Auffassung, die im Unterschied zu Strauss philologisch argumentiert, in Auseinandersetzung mit der Thukydides-Rezeption entwickelt (1966: 12-35).
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Deutungsdimension schon im Ansatz die dominierende Rolle der Machtanalytik bei Thukydides in Frage gestellt wird. Auch für Stahl ist der Gesamtrahmen der Darstellung bei Thukydides wichtig. Er betont den tragischen Charakter der Darstellung, die eine Analyse des Verwicklung von Athen und Sparta in einen Konflikt beinhaltet, in dem das stolze demokratische Athen sukzessive untergeht. Mit Rekurs auf das pessimistische Menschenbild und die geschichtsphilosophischen Annahmen von Thukydides weist Stahl darauf hin, daß dieses historische Werk sich nicht auf die Darstellung einer Tragödie Athens reduzieren lasse, vielmehr zeige es die Tragödie des Menschen auf (vgl. Stahl 1966: 157). Immer wieder nämlich würden Individuen und Städte sich nicht bzw. nur partiell auf die Höhe ihrer geschichtlichen Bedingungen erheben können, in Fehlwahrnehmungen und ihren politischen Folgen befangen sein und so in das unentrinnbare Auf und Ab der Politik verwickelt werden. Mit dieser Sicht, die Thukydides sowie seine expliziten Prämissen ernst nimmt und auf die tragische Form abstellt, kann man ebenfalls dessen normative Prämissen in den Blick bekommen. Die Fixierung der tragischen Form erlaubt es Stahl aber auch, sich den historischen Prozessen und Machtkämpfen zuzuwenden, die Thukydides darstellt, die bei Strauss durch den Bezug auf Homer von Beginn an in den Hintergrund gedrängt werden. Stahl steht damit von vornherein jenseits des Gegensatzes, den Strauss zwischen Thukydides und seiner modernen historistischen „Schülern" aufmacht. Die Schlüsselfrage für Strauss' Interpretation und ihr Ausspielen von Thukydides gegen seine vermeintlichen modernen Schüler lautet, ob er primär ein Machtanalytiker ist oder normative Überlegungen tatsächlich in seinem Denken eine weitgehende Rolle spielen. Der klassische Text hierfür ist der Melier-Dialog, indem die Athener die Melier vor eine machtpolitische Alternative stellen und ihnen im Kampf zwischen Athen und Sparta keinen Raum für Neutralität lassen. Ich skizziere nachfolgend knapp, wie Strauss den Dialog versteht, und kontrastiere dies punktuell mit der Auffassung von Stahl. Für Strauss ist bedeutsam, daß es sich um einen Dialog hinter verschlossenen Türen handelt (CM: 192). Die Kriegsparteien Athen und Sparta seien gleichermaßen imperiale Mächte, aber die Athener argumentieren nicht imperial, sondern von der seinerzeit verbreiteten Annahme eines natürlichen Rechtes des Stärkeren aus (CM: 191). Dieses Konzept stehe in einer bestimmten Differenz zu Kallikles' und Trasymachos' Auffassungen von der Gerechtigkeit als bloßer Ausdruck von Machtverhältnissen (CM: 193f.). Bei Thukydides' Darstellung des Melier-Dialoges und der Auffassungen von Perikles wird das Recht des Stärkeren allerdings auf die Stadt, genauer auf Beziehungen zwischen Städten beschränkt. Das sei die Sicht von Perikles, deren Schwäche in der Annahme einer Harmonie zwischen den privaten und den öffentlichen Interessen in der Stadt bestehe. Thukydides dagegen sehe auch hier Konflikte, und dadurch bekomme seine Behandlung der Akteure als Angehörige einer Stadt, die darin auch eine besondere Position haben, mehr Tiefendimension. Es scheine, als schließe sich Thukydides der Sicht von Kallikes und Trasymachos an, die das Recht des Stärken in genereller Form vertreten (CM: 196). Der Testfall für diese Behauptung liegt nach Strauss in einer Verbindung des Melier-Dialoges mit der Auffassung von der sizilianischen Expedition. Beide Passagen seien in der Darstellung des Peloponnesischen Krieges durch die An-
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nähme eines höchst prekären Verhältnisses von privaten und öffentlichen Interessen verbunden (CM: 200), und beide hätten es neben dem Recht des Stärkeren mit demjenigen der Hybris zu tun. Strauss folgert: „This then is the connection between the Melian dialogue and the Sicilian Disaster, the unique dialogue and the uniquely narrated deed: not indeed the gods, but the human concern with the gods without which there cannot be a free city, took terrible revenge on the Athenians. Just as the Athenians on Melos mistakenly assumed that the leading Melians, as distinguished from the Melian populace, would as a matter of course agree with their view of the divine (V.103.2104) and hence of right, so they mistakenly assumed that the Athenian demos would never need a leader like the Melian leaders." (CM: 209)
Auch hier kommt Strauss auf die bei ihm bereits vielfach erörterte Hegung des Politischen zu sprechen. Thukydides schließt sich demnach doch nicht einfach der Auffassung von Trasymachos und Kallikles an, denn er sieht im natürlichen Recht des Stärkeren ein normatives Element und nicht die Selbstermächtigung zu beliebigem Tun, das zudem durch die Beziehung auf die Götter und die Religion vor Hybris bewahrt werden kann. Hier rückt das Problem der Führungsschichten und handelnden Persönlichkeiten in den Vordergrund, und damit die Fragen nach dem Ethos der Führungsgruppen, den Sitten des Volkes und normativen Orientierungen. Sie alle spielen für das Verständnis der Protagonisten eine wesentliche Rolle. Thukydides sieht, wie Hartmut Leppin kürzlich in einer ideengeschichtlichen Studie herausgestellt hat, das Problem der Eliten, ihrer sozio-moralischen Verfaßtheit und ihres Verhältnisses zur Menge als das Strukturproblem der Polis an (vgl. Leppin 1999: 15). Bei Strauss wird dies ausgeblendet; er interessiert sich kaum für die strukturellen Analysen von Thukydides. Daß es darauf ankomme, Thukydides nicht mit der Position der Melier zu identifizieren, und daß die Frage, was in dem Gespräch passiert, entscheidend sei, eint so verschiedene Autoren wie Strauss und Stahl (Stahl 1966: 170). Denn es geht nicht um die Positionen des Autors, sondern um Darstellung des Gegensatzes, wobei es relativ gleichgültig ist, ob Thukydides Sympathie für die Melier hatte. Gezeigt wird, daß sie ihre wirkliche Lage und die obwaltende Machtlogik nicht begreifen (ebd.: 171). Damit sind sie wie andere Akteure und Städte in eine immer wiederkehrende Konstellation eingebunden. Die Tragik geschichtlicher Verläufe entfaltet sich laut Stahl bei Thukydides nicht in der Form, daß die Geschichte wie ein Verhängnis abläuft, sondern die Akteure mit ihrer Rationalität, d.h. gerade mitsamt ihren Selbsttäuschungen und Fehlwahrnehmungen die Schausteller und Promotoren des Wandels der gleichen und wiederkehrenden politischen Konstellationen sind. Eben deshalb seinen die detaillierten Analysen bei Thukydides von entscheidender Bedeutung und ließen sich nicht auf bestimmte theoretische Positionen reduzieren. Trotz der Betonung, daß Thukydides im Konkreten das Allgemeine diskutiere, analysiert Strauss die Einzelheiten des Krieges und literarischen Techniken der Darstellungen von Ereignisfolgen kaum, sondern zielt meist nur auf das Allgemeine. Durch diese Trennung von politischer Ereignisgeschichte und den allgemeineren Gesichtpunkten verfehlt er vor allem folgenden Punkt: Politik lebt im Medium der Meinungen und Wahrnehmungen, wie Thukydides in seiner Geschichte des Krieges immer wieder zeigt, insbesondere an Fehlwahrnehmungen, Täuschungen und anderem. Die gerade im Krieg
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große Bedeutung des Zufalls, von Unvorhergesehenem und von Unwägbarkeiten betont Strauss zwar gelegentlich, aber er verfolgt sie nicht näher im Hinblick darauf, welche Konsequenzen diese Phänomene für den politischen Prozeß haben. Die historischen Ereignisse und die Machtanalytik werden bei Strauss durch die Polemik gegen Thukydides' vermeintlich wertfreie Machtanalytik, die ihm moderne Autoren unterstellen, zu weit in den Hintergrund gedrängt. Eine sinnvolle Verbindung von Politik und jenen Fragen, die auf die normativen Grundlagen von Politik abzielen, vermag Strauss auch hier nicht vorzuschlagen. Strauss' Argumente, die gegen ein Konzept reiner Machtpolitik bei Thukydides sprechen, lassen sich wie folgt resümieren: Zum einen ist es die Hegung von Politik mit Blick auf überpolitische Bezüge; dazu kommt zum anderen, daß das Recht des Stärkeren nicht mit reiner Machtpolitik identisch sei, sondern einen Bezug zur natürlichen Ungleichheit und dem Naturrecht habe. Schließlich werfe Thukydides die Frage nach der Qualität der handelnden Personen und Führungsschichten, nach ihrem Ethos auf. Dabei gehe es nicht um ihre moralische Verfaßtheit, sondern um die politischen Qualitäten wie die politischen Tugenden Rationalität, Besonnenheit und Mut. Aus all diesen Gründen sei der antike Historiker den historischen Ansätzen prinzipiell überlegen. Faßt man die Überlegungen zu den drei von Strauss herausgestellten antiken Varianten der theoretischen Perspektivierungen von Politik zusammen, so ergibt sich folgendes Bild: Alle drei arbeiten mit einem normativen Verständnis von politische Ordnung, das allerdings sehr verschieden ausgerichtet ist. Piaton zielt auf die politische Ordnung, ihre Grundlagen und Voraussetzungen schlechthin; die politische Wissenschaft des Aristoteles zielt auf die natürliche politische Ordnung, und Thukydides beschreibt die Stadt in der Bewegung, im Krieg, und arbeitet dabei mit schwachen normativen Vorstellungen der guten Ordnung. Während Thukydides und auch Aristoteles der Politik als Politik nahekommen, aber dabei immer den Bezug auf eine normative Metaebene wahren, bewegt Piaton sich primär auf der Metaebene und problematisiert diese. Faktische politische Vorgänge und zeitdiagnostische Überlegungen fließen in diese Thematisierungen ein, aber sie werden nicht systematisch als solche reflektiert, sondern dienen als Ausgangspunkte des politischen Philosophierens. Auf der Gegenstandsebene stellt Strauss drei Perspektivierungen von Politik vor, hinsichtlich derer er die jeweiligen normativen Seiten unterschiedlich stark betont. Zugleich mißt er diesen theoretischen Herangehensweisen, wie gezeigt, jeweils eine rhetorische Dimension zu, die sich aus den normativen Elementen speist. Er hebt damit auf einen Theorietyp ab, der nicht nur seine Adressaten berücksichtigt, sondern auf differenzierte und verantwortliche Weise Wissen präsentiert. Mit Bezug auf antike Theoretiker wird hier die geistesgeschichtlich orientierte Aufklärungs- und Ideologie-Kritik fortgesetzt, und insofern haben sich bei Strauss nur die Themenfelder und weniger die Fragestellungen verändert. Strauss' Konzeptualisierung der Perspektiven von Piaton, Aristoteles und Thukydides hat das Problem, daß er die antiken Vorbilder zu Paradigmen erhebt. Die hierarchische Vorstellung von den Wissenschaften mit der Philosophie als Königin, der politischen Wissenschaft als einer ihr untergeordneten Teildisziplin und der politischen Geschichte als einer weiteren untergeordneten, aber dem Konkreten näher zugewandten Disziplin verhindert per se eine umfassende und gleichwertige Verknüpfung der Gesichtspunkte in
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einem theoretischen Zugriff. Nun gibt es aber keinen plausiblen Grund - jedenfalls, wenn man Strauss' Verdikt gegen die moderne Politikwissenschaft ablehnt - nicht anzunehmen, daß eine philosophisch informierte politische Theorie normativ gehaltvoll sein und zudem Brücken zwischen philosophischen, analytisch deskriptiven und historischen Aspekten bauen kann. Nur muß man eben dazu mindestens die Vorstellung einer hierarchischen Ordnung der mit Politik befaßten Wissenschaften aufgeben, und damit fallt auch Strauss' Annahme einer schlechthin besten Ordnung und ihrer andauernden fragenden Erörterung nur durch die politische Philosophie. Übrig bleibt die Frage nach der guten Ordnung, nach gerechten Ordnungsvorstellungen, die allerdings dann auf ihre tatsächliche und nicht nur auf ihre an sich mögliche Realisierbarkeit hin zu denken sind. Aus allen drei antiken Grundkonzepten - Piatons politischer Philosophie, Aristoteles' politischer Wissenschaft und der politischen Historiographie von Thukydides - lassen sich dagegen von einem weiten und differenzierten Verständnis der Politik und des Politischen her Problemstellungen aufnehmen, allerdings sind dazu gegenüber den antiken Denkern und Strauss als ihrem Interpreten wesentlich veränderte Prämissen ebenso nötig wie eine Aufgabe der Präferenz metatheoretisch-zetetischen Fragens. Auch City and Man erweist sich somit als eine Schrift, die im Rahmen des unpolitischen politischen Philosophieren verbleibt. Strauss denkt das Problem politischer Ordnung zwar in verschiedenen Perspektiven, aber immer innerhalb des klassisch-antiken Modells von Einheit und Ganzheit. Politik, die politische Ordnung wird als alle Teile der Gesellschaft durchdringend gedacht und ist zudem das wesentliche Medium ihrer Synthetisierung. Ihr Angewiesensein auf vor- und überpolitische Ressourcen schränkt ihre zentrale Rolle nicht ein. Aber dieses vormoderne Politikmodell setzt sich bewußt von der Auffassung von Politik als einem verselbständigten System ab, dem eine zentrale Steuerungsfunktion zugeschrieben wird. Insofern ist das Konzept, wie Strauss einst in seiner Kritik an Carl Schmitt forderte, real jenseits des Horizonts des Liberalismus. Freilich schränkt der Rekurs auf die Antike die positive Aussagekraft dieses Konzeptes außerordentlich ein. Strauss interessiert letztlich nicht die Verknüpfung der verschiedenen antiken Ansätze zu einer breiten multiperspektivischen Deutung der Politik und des Politischen, sondern vor allem die politische Philosophie im emphatischen Sinne. Aus diesem Grund hat er sich im Spätwerk dann nicht weiter mit der Verbindung von Piaton, Aristoteles und Thukydides auseinandergesetzt, sondern vor allem mit Sokrates und mit Piaton.
8.2
Sokratisches Philosophieren
8.2.1 Variationen im Sokrates-Bild Der junge Strauss hatte sich Sokrates zunächst von Piaton her und letzteren über alFarabi erschlossen. Zwei Dimensionen politischer Philosophie wurden seither von ihm unterschieden, nämlich das radikale Fragen als ein „politisches Handeln" sowie jene des notwendigen politischen Verhaltens der Philosophie gegenüber der Stadt. Der Gegen-
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satz zwischen der Stadt und den Philosophen einerseits und der zwischen Philosophie und Religion/Theologie andererseits liegen diesem Verständnis von sokratischem Philosophieren zugrunde. In seiner mittleren Schaffensperiode hat Strauss Sokrates als Begründer des Naturrechtes gedeutet, der durch seine bei den Meinungen ansetzenden „Was ist ...?"-Fragen nicht nur eine neue Sicht auf die menschlichen Dinge, sondern auf alle natürlichen und göttlichen Angelegenheiten entwickelt habe (NG: 126). Durch die Selbstbeschränkung des Sokrates auf das rational wißbare Wissen und den Ausschluß dessen, was der Erkenntnis unzugänglich sei, werde sein Ansatz oft verkannt. Man reduziere ihn auf einen Moralphilosophen und unterstelle, daß er die anderen Phänomene nicht berücksichtigt habe. Für Strauss liegt aber darin eine weise Beschränkung des Rationalismus, die impliziert, daß Glauben und Götter nicht auf die gleiche Weise zu begreifen und verstehen sind. Insofern würden auch diese Gegenstände auf neue Art aufgefaßt. Im Spätwerk wendet sich Strauss in direkterer Weise der Figur des Sokrates zu, indem er die Auffassungen von Aristophanes, Xenophon und Piaton ausfuhrlich diskutiert. Dabei kommt es zu einigen Akzentverschiebungen, deren äußere Kennzeichen darin bestehen, daß Piaton und Xenophon als Antworten auf die Sokrates-Darstellung von Aristophanes gedeutet werden. Vor allem aber setzt sich der späte Strauss in einer Monographie unter dem Titel The Argument and Action in Plato 's Laws mit Piatons Nomoi direkt auseinander, die für ihn seit Philosophie und Gesetz ein wesentlicher Bezugstext waren. Diese Schrift, in der Piaton direkter die Politik und gesetzgeberischen Gestaltungsmöglichkeiten politischer Ordnung debattiert, wird ausdrücklich auf einem „pre-socratic" Niveau verortet. Gerade an dieser Interpretation soll diskutiert werden, was das für Strauss' Verständnis sokratischen Philosophierens und seine Auffassung dessen, was daran politisch ist, bedeutet. Alle drei äußeren Akzentverschiebungen - die Auseinandersetzung mit Aristophanes, die Hinwendung zu Xenophon und der Kommentar zum Spätwerk von Piaton - zeigen an, daß Strauss am sokratischen Fragen und dessen Konsequenzen viel stärker interessiert ist als an den politischen Problemen, die damit im Zusammenhang stehen. Gleichzeitig wird das Problem der philosophischen Lebensführung nur auf eine sehr allgemeine Weise exponiert, ohne Rücksicht auf die institutionellen Umstände, die insbesondere mit Blick auf Piatons Akademie ja nahelägen. Je mehr die konkreten, politischen Fragen in den Hintergrund treten und je mehr sich Strauss in die antike Philosophie vergräbt, desto mehr rückt in der Alternative Athen oder Jerusalem, Philosophie oder Religion, erstere in den Vordergrund. Verglichen mit dem jungen Strauss und seiner Auseinandersetzung mit dem Zionismus und dem jüdischen Problem ist dies ein bemerkenswerter Wandel, der sich auch in den wenigen einschlägigen Aufsätzen zeigen läßt, die Strauss dieser Problematik direkt gewidmet hat. Strauss nähert sich Sokrates aus verschiedenen Richtungen, er diskutiert mit Aristophanes die provokative Bedeutung der Philosophie und Rhetorik, er liest ihn via Piaton als Realisten und Antiutopisten und durch die Brille von Xenophon als einfachen, praktischen Akteur, der anti-abstrakt, also nicht an Ideen und abstrakten Begriffen, sondern an konkreten Fragen interessiert sei. Mit diesen Perspektiven entwickelt Strauss in einer Serie von Arbeiten in den 1970er Jahren sein Sokrates-Bild, mit dem er sich stark von
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der philologisch-philosophischen Forschung absetzt. Den Endpunkt der Veränderungen im Zugriff auf den ersten antiken Moralphilosophen bildet seine Vorlesung The Problem of Sócrates (1970) 168 . Auch hier, wo er sich anscheinend völlig in die Antike vergraben hat, bezieht Strauss sein Sokrates-Bild immer wieder auf Nietzsche, Heidegger und Cohen zurück; sie wiesen ihm den Weg in die „Antike als Antike", aber sie seien ihn selber nur teilweise gegangen. Bei Strauss dominiert die von Sokrates und Heidegger beeinflußte Idee der Philosophie als unausgesetztem Fragen, als einem zetetischen Geschäft, für das die Gegensätze von philosophischer Wahrheitssuche und konkretem politischen Gemeinwesen (Stadt) sowie von Philosophie und Kunst relevant seien. Vor diesem Hintergrund ist nun zu fragen, wie sich Strauss' Sokrates-Bild verändert, wenn er ihn nicht mehr primär mit Blick auf Piaton liest und ob mit dem Rekurs auf weitere Quellen antiker Sokrates-Deutungen diese Figur als Bürger-Philosoph in den Blick kommt, der primär auf bewußte Lebensführung abzielt. Generell ist zu konstatieren, daß das negative Bild der Sophisten als bloße Rhetoren und käufliche Redner, die die schwächeren Argumente rhetorisch zu stärkeren machen können, bei Xenophon und Piaton und in ihrer Folge auch bei Strauss die Basis ihrer Sokrates-Vorstellung ist. Durch diese Stilisierung rücken sie nicht nur den egalitäraufklärerischen Zug der Sophisten in den Hintergrund, sondern blenden diese Seite auch bei Sokrates mit aus. Allerdings gibt es hier graduelle Unterschiede, denn bei Xenophon wird diese Distanzierung nicht so stark vorgenommen wie bei Piaton. Insgesamt bleibt damit die prodemokratische Dimension, die das Wirken von Sokrates hatte, weitgehend ausgeblendet. Er wird zum Lehrer des Philosophierens und nicht zum Propagandisten reflektierter Lebensführung, die letztlich für alle Bürger und Menschen nötig sei. Das in anderen Lesarten herausgehobene Zusammentreffen von öffentlicher Schulung der Urteilskraft und Philosophieren (exemplarisch bei Hannah Arendt) löst Strauss im Ansatz auf, weil er den Akzent auf die Philosophie setzt. Damit kommt der kompetente Bürger nur einseitig in den Blick, nämlich bloß in Hinsicht auf die gute Ordnung. Sokrates aber wollte, wie schon mit Xenophon betont, nicht selbst in die Politik, sondern agierte vielmehr und absichtsvoll als Provokateur, um viele zu einer reflektierten Lebensform zu bewegen. Darüber hinaus gilt: So wie Strauss die Sache der Philosophie als theoretisches Fragen in den Vordergrund schiebt, so faßt er auch das Problem der Lebensführung nur sehr allgemein. Es ist für ihn eine große philosophische Frage, ein Dauerthema, aber die Praktiken des philosophischen Lebens erörtert er weder mit Blick auf Sokrates noch auf Piaton genauer. Was es für das Verständnis der überlieferten Texte heißt, wenn die philosophische Lebensführung an erster Stelle steht, wird nicht gefragt. Mit Rekurs auf den französischen Philosophen Pierre Hadot kann man leicht die Relevanz verdeutlichen, die diese Perspektivierung des Problems hat. Er zeigt nämlich, daß die antiken Philosophen-Schulen primär eine Lebensform waren, und hebt darauf ab, daß eine Vielzahl der überlieferten Texte als Übungen, als Exerzitien zu begreifen sind (vgl. Hadot 1995; 1999).169 Wenn die Lebensform den Primat hatte, dann sind die Texte nicht als 168 169
Vgl. Interpretation 22 (1995) 3: 321-338. Hadot hat mit seinem Konzept Foucault nachdrücklich beeinflußt; vgl. dazu Hadot (1995: 2 0 6 213), vgl. Foucault 1989a-c; zu Foucaults Auffassung der klassischen Antike vgl. Detel 1998.
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reine Theorie, nicht als konsistente Abhandlungen zu begreifen. Hadot hat die Fruchtbarkeit eines solchen Herangehens vielfach demonstriert. Er steht damit in striktem Gegensatz zu Strauss, der einen emphatischen, letztlich aus der Moderne stammenden Begriff vom Autor und vom Werk hat. Die Herangehensweise von Hadot stellt die Prämissen der tiefenhermeneutischen Methodik von Strauss grundsätzlich in Frage. Zugleich wird aber auch sichtbar, daß Strauss jene Fragen nicht nur wegen seiner Ablehnung des Historismus ausklammern muß, sondern auch, weil sie seinen Zugang sprengen würden. Deshalb klammert er fast immer textgenetische Betrachtungen aus. Ein Eingehen auf die Praktiken, eine Deutung der antiken Texte als Material von Übungen läßt sich mit seiner Tiefenhermeneutik, die von einer Kodierung esoterischen Wissens unter einer exoterischen Präsentationsform ausgeht, nicht vereinbaren. Auch die Strauss wohlbekannte Problematik der Seelenfîihrung und ihre Stabilisierung durch wiederholte Praktiken (vgl. Hadot 1995; Rabbow 1954), die er ja indirekt als eine Dimension politischer Philosophie begreift, wird bei ihm nicht selbständig thematisiert, sondern bleibt eine nur gelegentlich ins Spiel gebrachte Dimension.
8.2.2 Der Kommentar zu den „Nomoi" Über die positive Charakteristik des Platonischen Sokrates in City and Man ist Strauss in seinem Spätwerk nicht hinausgegangen. Es ist nun genauer zu betrachten, ob und wie sich die Sicht auf Piaton verändert hat. Dazu ist Strauss' Kommentar zu den Nomoi, seine letzte Monographie, besonders geeignet, handelt es sich doch bei der interpretierten Schrift um ein Werk, das stärker als andere Schriften Piatons auf die Politik eingeht und um einen Text, in dem Sokrates als Figur nicht auftritt. Es wird sich zeigen, daß das Problem der Ordnung für Strauss nach wie vor zentral ist und ihn Piaton deshalb besonders interessiert; aber die Frage der Erzeugung einer neuen politischen Ordnung, die Strauss zur Weimarer Zeit besonders beschäftigte, ist nun verblaßt. Strauss hält das politische Philosophieren, von einer Vielzahl genuin politischer Fragestellungen frei, die bei Piaton ein Rolle spielen, und diese Strategie ist in seinen gesamten Kommentar eingegangen. Er spielt mithin einen sokratischen Piaton, der an Grundproblemen und metatheoretischen Fragen interessiert ist, gegen Piaton als politischen Denker aus. Dieser Piaton ist ein Spiegelbild von Strauss' politischem Philosophieren, das vom Gegenstand her nur einen geringen Bezug zu Fragen konkreter Politik hat. Die Nomoi haben eine besondere Stellung im Œuvre von Piaton, diese Schrift ist ähnlich umfangreich und bedeutend wie die Politeia; sie hat allerdings viel weniger Interpretationen hervorgerufen. Oft gilt dieses Buch nur als Entwurf eines zweitbesten Staates, der wenig philosophisch sei.170 Nur wenige Interpreten - im deutschen Sprachraum etwa Georg Picht sowie Ada-Babette Hentschke und eine größere Anzahl im angelsächsischen Sprachraum (Barker 1959, vor allem Morrow 1960, Stalley 1983) - haben die Zuwendung zur Politik, die politische Bedeutung der Nomoi und ihren eigenständigen
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In diesen Kontext gehören auch die Aufsätze On Euthydemus (0rig.l970, in SPPP: 67-88) und On Plato 's Apology ofSocrates and Crito (Orig. 1976, in SPPP: 38-66.
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Status hervorgehoben.171 Für Strauss war diese Schrift von Beginn an bedeutsam, hatte er sich doch seinen Weg zu Sokrates und Piaton über einen Avicenna-Satz gebahnt, nämlich über dessen Behauptung, in den Nomoi werde das göttliche Gesetz und die Prophetie behandelt. Dieser Satz steht nun als Motto über dem Buch, The Argument and the Action in Plato 's Laws (1975), der ausfuhrlichsten Schrift, die Strauss zu Piaton verfaßt hat. Wie schon in anderen Arbeiten setzt Strauss auch damit jenseits bekannter Deutungen an, wobei er sich als Interpret im Kommentar zurücknimmt und teilweise nur den Argumentationsgang nachzeichnet.172 In City and Man hatte Strauss betont, daß die Politeia keine Utopie und Piaton ein Realist sei. Denn Piaton habe die größte Kritik des politischen Idealismus geliefert, und zwar dadurch, daß er ausfuhrlich die riesigen Probleme aufzeigt, die bei dem Versuch entstehen, die beste, gerechte Stadt zu schaffen. Strauss hat für diese Sicht gute Gründe. Zuerst ist die im Gespräch gegründete ideale politische Ordnung höchst unwahrscheinlich, da sie eine Vielzahl von Sonderbedingungen voraussetzt, angefangen von der geographischen Lage, über den geforderten sittlichen Zustand des Volkes bis zum Philosophen-Königtum, die kaum jemals zusammentreffen. Ein zweites Argument von Strauss hebt darauf ab, daß Piatons Philosophieren eine Verweigerung gegenüber fixen, einfachen Lösungen beinhaltet. Piaton gibt in der Politeia bekanntlich keine positive Definition des Gerechtigkeitsbegriffes. Er erörtert die Kardinaltugenden, doch die Gerechtigkeit selbst ist nicht unmittelbar faßlich. Wie der platonische Sokrates einmal ironisch bemerkt, besteht, selbst wenn man die Idee der Gerechtigkeit eingekreist und in einem „Busch" lokalisiert hat, die Gefahr, daß sie einem immer wieder entwischt (vgl. Politeia: 432b~433c). Sie ist eben, so läßt sich diese Sicht verallgemeinem, eine komplexe Idee, ein unerläßlicher normativer Horizont und eine Gesamtqualität einer politischen Ordnung. Im Buch The Argument and the Action in Plato 's Laws hebt Strauss auf andere Seiten des Problems politischer Ordnung ab. Er betont, daß die Nomoi das politischste Buch von Piaton seien (AAPL: 1), das zudem mit einem Verweis auf Gott beginne, nämlich der Frage „Legt man, ihr Gastfreunde, einem Gotte oder einem der Menschen das Verdienst der Anordnung eurer Gesetze bei?" (Nomoi: 624a). Keine andere der platonischen Schriften kenne einen ähnlichen Verweis. Für Strauss ist damit ein Grundproblem politischer Ordnung angesprochen. Mit dieser schlichten Frage sei die Frage der Garantie und der Bestandsfestigkeit von politischer Ordnung, die in erheblichem Maße etwas von Menschen Geschaffenes ist, direkt aufgeworfen. Wie tragend diese Problematik sei, 171
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Morrows grundlegende Arbeit über Piatons Nomoi und ihre historischen Grundlagen ignoriert Strauss als strikter Gegner des Historismus. Mit den Überlegungen von Barker wird er wohl seit dem England-Aufenthalt bekannt sein, immerhin bedankt er sich bei ihm im Vorwort seiner Hobbes-Studie (vgl. Strauss 1936). Auch Joseph Cropsey hat als Herausgeber im Vorwort zu diesem Buch darauf hingewiesen. Er benennt drei „conspicuous characteristics": „First, the commentary has to a high degree the appearance of a mere retelling of the discourse. This appearance will be dispelled by comparison of the commentary with the text. In the second place, the commentary emulates faithfully the reticence of the text while striving nevertheless to elucidate Plato's thought. Finally, the language of the commentary is not always prepossessing but, on the contrary, sometimes grates." (AAPL: VII).
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zeige die im letzten Buch der Nomoi aufgeworfene Frage, wie den Gesetzen „unabänderliche Gewalt in naturgemäßer Weise" verliehen werden könne (960d). Dennoch behauptet Strauss, daß die Nomoi theoretisch auf einem „subsocratic" Niveau liegen (AAPL: 27, 61). Sie seien keine philosophisch-sokratische Erörterung, da nicht nach den Standards der Standards gefragt werde, sondern nach politisch anwendbaren Standards, die für die tatsächliche Gründung von guten politischen Ordnungen relevant seien. Strauss führt dieses Argument aber in seiner Analyse der Sprecher, der Adressaten und der Form nur teilweise aus. Sokrates, so heißt es, könne wegen seines Daimoniums nicht direkt politisch tätig werden und falle daher als Sprecher aus. Auch der Ort des Gespräches sei bedeutsam, er liegt nämlich, was sonst fast nie bei Piaton der Fall ist, außerhalb von Athen. Dies sei wichtig, um die Distanz zu konkreten Gemeinwesen und damit die Allgemeinheit der Fragestellung zu verdeutlichen. Neben anderen einzelnen Hinweisen wird aber keine allgemeine Genrebestimmung des Textes, die für Strauss sonst zentral ist, vorgenommen. Man kann aber solch eine allgemeine Genrebestimmung mit Rekurs auf eine Deutung von Georg Picht vornehmen (1992).173 Die Nomoi lassen sich, wenn man mit Picht als Adressaten dieses in der platonischen Schule genutzten Buches Richter und Verfassungsgeber begreift, als Begründung der politischen Wissenschaft im Unterschied zur politischen Philosophie verstehen (vgl. Picht 1992: 38f., 48). Das gilt freilich erst dann, wenn man sieht, daß es Piaton hier um ein praktisch nutzbares Paradigma geht, wie Gesetze gegeben werden sollen. Die Schulung von Kompetenz zur kompetenten Gesetzgebung ist, so verstanden, das Ziel der Schrift, und der Erwerb dieser Fähigkeiten war ein praktisches Problem. Gleichzeitig hat Piaton in diesem Buch, das über längere Zeit geschrieben worden sein muß, und zwar, wie Picht zeigt, parallel zu einigen großen philosophischen Dialogen wie Parmenides, Sophistes, Timaios, eine Art politisches Vermächtnis hinterlassen, das man schon wegen der parallel verfaßten Schriften nicht einfach als unphilosophisches Alterswerk abqualifizieren kann. Piaton verdeutliche in den Nomoi, daß das Praktisch-Werden der Philosophie eine andere Art von Wissenschaft voraussetzt, als noch in der Politeia angenommen, und diese Wissenschaft muß vergleichend vorgehen, empirisch informiert sein und wendet sich, wie gesagt, an andere Adressaten als an Philosophen. Piaton habe, so folgert Picht, die Wissenschaft von der Politik entworfen, in der Ethik und Politik anders als bei Aristoteles noch nicht unterschieden sind; aber die Nähen zwischen den Nomoi Piatons und der Politik des Aristoteles sind, was die Zuwendung zu den politischen Problemen betrifft, beträchtlich (1992:41).
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Georg Pichts Vorlesungen (1966/67) zu den Nomoi sind 1990 erstmals publiziert worden. Zielpunkt seiner Überlegungen ist: „Wenn uns das Studium der ,Gesetze' dazu zwingen sollte, das überlieferte Platon-Bild zu revidieren, so würde eines der Fundamente des europäischen Denkens erschüttert; denn der Piatonismus, nicht der authentische Piaton, ist einer der Grundpfeiler christlicher Theologie und europäischer Wissenschaft geworden. Es gibt deshalb kaum ein Werk von Piaton, dessen Studium heute wichtiger wäre; denn wenn wir genötigt sind, die .Gesetze' und die übrigen Alterswerke als einen einzigen großen Zusammenhang zu verstehen, so wird die gesamte Interpretation der platonischen Philosophie auf eine neue Basis gestellt" (Picht 1992: 22).
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Solch eine Deutung ist für Strauss nicht akzeptabel, denn er hält an der hierarchischen Ordnung der verschiedenen theoretischen Auffassungen von Politik fest. Er löst sich damit nicht aus dem überkommenen Schema von Piaton als politischem Philosophen und Aristoteles als Repräsentanten der politischen Wissenschaft und vermag die eigenständige Bedeutung der platonischen Nomoi, die eine Verbindung beider disziplinarer Orientierungen realisiert, nicht zu erfassen. 174 Daß Strauss auf eingeschränkte Weise nach der Form der Nomoi fragt, ist auch eine Kehrseite seiner bloß abstrakten Akzentuierung von Philosophie als Lebensform. Ihn interessiert nämlich weder die Praxis in den Philosophen-Schulen noch die Frage, inwieweit in der Akademie praktische Probleme, wie zum Beispiel die Verfassungsgebung für Pflanzstädte, relevant gewesen sind. Daß dies durchaus ein aktuelles Problem war, ist aber nicht nur bekannt durch die an Piaton gerichteten Bitten, Verfassungen zu entwerfen; einige seiner Schüler sind in dieser Hinsicht auch tätig geworden. Die Nomoi sind für Strauss insgesamt ein „angewandt" philosophisches Buch, das allerdings nicht direkt praktisch wird. Was in diesem Sinne „subsocratic" Niveau genauer heißt, inwiefern dieses gerade durch ein Eingehen auf politische Fragen zustande kommt, läßt sich nur erkennen, wenn man knapp auf Strauss' Sicht der Struktur der Nomoi eingeht. Für Strauss wird in den Büchern I. bis III. die Problemstellung des ganzen vorbereitet, d.h. es wird die außerordentliche Bedeutung von Verfassungen und Gesetzen verdeutlicht und von Beginn an ein Zusammenhang zwischen Menschenwerk und dem Tun der Götter beziehungsweise mythischer Figuren hergestellt. Unterhalb dieses Niveaus seien die Fragen nicht zu erörtern. Gleichzeitig werde verdeutlicht, daß es hier um Standards für tatsächliche Verfassungen und Gesetzgebungen geht und nicht um philosophisch-spekulative Erwägungen. Bei der Erläuterung der Struktur der Nomoi spielt in der Forschungsliteratur oft das III. Buch eine besondere Rolle. Es gilt als besonders wichtig, da politische Probleme wie etwa Gegensätze von privatem und öffentlichem Interesse direkt angesprochen werden. Zudem ist hier ein Plädoyer für eine Mischverfassung enthalten. Damit, so pointiert Julia Annas, verabschiede sich Piaton von früheren radikalen Positionen (Annas 1988: 393) 175 . Für Strauss ist das III. Buch nicht so wesentlich. Für ihn fangt die eigentliche Argumentation zur Gesetzgebung mit dem IV. Buch an und wird bis zum VIII. Buch fortgeführt. Hier werde die Stadt gegründet, aber nicht, wie in der Politeia, als beste Stadt, sondern der Sprecher der Athener übernehme die Rolle desjenigen, der „hier und jetzt sagt", wie eine Stadt zu gründen sei. Der Athener, durch den Piaton in den Nomoi die entscheidenden Argumente darstellt, nimmt eine ganz andere Rolle als Sokrates wahr, er argumentiert mit Blick auf die politische Realisierung, die erfolgreiche Gründung einer Kolonie. Es geht also um anwendbare Standards für gegründete und zu gründende Städte (vgl. AAPL: 54). In anderen Worten, was hier thematisiert wird, sind Maßstäbe für konkrete politische Ordnungen und nicht das qualitative Maß
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Barker (1959: 184) hebt zu Recht hervor: „the Laws would appear to have had a great influence upon, and it certainly presents great affinities with, the teaching of Aristotle." Annas plädiert für eine prinzipielle Aufwertung des Spätwerkes, vgl. 1988: 394.
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schlechthin, die Frage nach der Ordnung der Ordnung. Strauss hebt das sokratische Philosophieren von der politischen „Anwendung" dieses Denkens deutlich ab. An die gesprächsweise Gründung der Stadt schließt sich in den Büchern IX bis XII die Diskussion der Strafgesetze an. Hier ist für Strauss vor allem das X. Buch besonders wichtig, was auch der Wechsel in der Sprecherposition anzeigt, der Athener befragt sich nun selbst (vgl. A A P L : 129). Erst durch diesen Wechsel zur Selbstbefragung des fuhrenden Gesprächsteilnehmers wird, Strauss zufolge, ein höheres theoretisches Niveau erreicht. Dieses Buch sei das philosophischste, weil hier der Gottesbeweis, die Unsterblichkeit der Seele und die Kosmologie Thema sind. Ohne diese Bezüge läßt sich, so deutet Strauss Piaton, eine Unverfügbarkeit von Ordnung nicht denken. Erst im Angesicht des Ewigen gewinnt die Frage der politischen Ordnung ihre Bedeutung, ohne diese Perspektive wäre alles Tun müßig und nur relativ. Gerade von hier läßt sich die rigorose Kritik an den Schriftstellern, insbesondere an Homer, begreifen; deren Auffassung der Götter ist Piaton zu anthropomorph, und sie bieten keine Garantie für ewige Maßstäbe. Piaton weiß demnach, daß und wie sich die Menschen Götter machen, insofern hat er die Lektion des Protagoras gelernt, aber er bekämpft diese Gottesvorstellungen im Namen einer ideatisierten Gottesauffassung, die auch monotheistische Züge hat. Diese Gottesauffassung soll die wahre Ewigkeit und eine transzendente Verankerung von Maßstäben für menschliches Tun gewährleisten. In diesem Anliegen pflichtet Strauss Piaton bei, nur läßt sich nicht recht fassen, ob er damit nur eine Denknotwendigkeit und eine Illusion für die Menge befördern will oder ob hier religiöse Überzeugungen eine Rolle spielen. Der ganze Gedankengang von Strauss weist sachlich nicht nur auf das „politisch-theologische Problem" hin, sondern hat durchaus Nähen zu politischer Theologie im Sinne von Schmitts Behauptung, daß die politischen Begriffe säkularierte theologische Begriffe sind. Dies ist zu konzedieren, gerade wenn man, wie in dieser Arbeit, auf die Differenz von politischem Philosophieren ä la Strauss und politischer Theologie abstellt. Im Bereich der Politik wird das Problem der Einschränkung und Kontrolle des Machbaren und Fixierten auf eine andere, aber zum Teil analoge Weise diskutiert. Strauss verdeutlicht hier mit Piaton nicht nur die Gesetze als Grundlage von politischen Gemeinwesen, er zeigt auch die Notwendigkeit auf, über sie zu wachen. In diesem Zusammenhang entwerfe Piaton die Institution der nächtlichen Versammlung, die gleichsam eine Kontrollinstanz zweiter Ordnung ist. Dieses Gremium vor allem älterer Männer ist Wächter der Verfassung, es tagt heimlich und ist der Einflußpolitik durch die offiziellen Machthaber entzogen. Bemerkenswert ist, daß diese Institution zum Teil strukturanalog zur theologischen Verankerung der Unverfügbarkeit politischer Ordnung entworfen wird, weshalb Piaton sie auch einmal „göttliche Versammlung" nennt (vgl. Nomoi: 969b). Piaton thematisiert hier das Unverfügbar-Machen und gleichzeitige Korrigierbar-Halten einer politischen Ordnung, die offensichtlich Menschenwerk ist und gleichzeitig fortlaufender Veränderung entzogen werden soll. Dieses Problem ist ja eigentlich auch für Strauss besonders wichtig, aber er läßt sich auf die Fragen der Konstruktion oder des Designs politischer Institutionen wenig ein. Manche Interpreten haben in der Idee der
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nächtlichen Versammlung sogar eine Vorform von Verfassungsgericht entdecken wollen. Auf jeden Fall versucht Piaton hier ein kompliziertes Problem zu lösen, nämlich wie man dem „Könnens-Bewußtsein" (Christian Meier) der alten Griechen, ihrem Wissen von der Mach- und Gestaltbarkeit der politischen Ordnung folgen und es zugleich einschränken kann. Von seinen politischen Erfahrungen her sind für Piaton die Schranken besonders wichtig, und deshalb, und nicht aus einfachem Elitismus, schlägt er ein invisibilisiertes Kontrollgremium vor, das äußeren und machtpolitischen Einflüssen entzogen sein soll (vgl. Nomoi: 962b-969c). Strauss diskutiert diese Institution kaum näher, obgleich doch das Problem für ihn eigentlich besonders wichtig sein müßte. Auch hier zeigt sich, daß sein Interesse der Philosophie gilt und nicht den Fragen der Konstruktion und Funktion von Institutionen, daß sein politisches Philosophieren diese Fragen ausklammert und insofern unpolitisch ist. Wiewohl Strauss die Nomoi als ein unter dem Niveau von Sokrates liegendendes Denken bestimmt, so gelten sie dennoch als Ausdruck des Philosophierens in anwendungsbezogener Form. Strauss hält an Piaton als Philosoph fest. Wenn sich Piaton in den Nomoi stärker der Politik selbst zuwendet und politische Fragen theoretisch und anwendungsbezogen behandelt, so kann das von Strauss gerade nicht behauptet werden. Insofern ist es nicht verwunderlich, daß Strauss diese Wendung in Piatons Denken zwar partiell darstellt, aber nicht mitvollzieht. Der moderne Interpret bleibt auf sokratisches Philosophieren als metatheoretisch fragendem Geschäft fixiert und hält trotz des großen Vorbildes an seiner paradoxen Form politischen Philosophierens fest, das politische Fragen im engeren Sinne nicht aufnimmt und daher unpolitische Züge hat. Mehr noch, beim späten Strauss wird, wiewohl der Zusammenhang von Politischem und Politik in verschiedenen Varianten zum Problem wird, der unpolitische Zug seines Denkens, die Abwendung von der Politik verstärkt. Gleichzeitig ist damit - verglichen mit dem jungen Strauss - eine Entradikalisierung seines Denkens verbunden. Es ist kein Wunder, daß Strauss damit den durchaus sokratischen Charakter, den die Nomoi haben, verkennt, denn sie zielen ja, wenn man sie mit Picht als eine besondere Art von „Lehrbuch" deutet, nicht auf konkrete Gesetzgebung, sondern auf die Kompetenzentwicklung dafür.
8.3
Athen oder Jerusalem
Das Verhältnis von Philosophie und Theologie, das Strauss mit den Kürzeln Athen und Jerusalem faßt, ist in der Sekundärliteratur stark umstritten. Die Bestimmung dieses Verhältnisses durchzieht sein Schaffen, aber erst im Spätwerk wird es selbständig thematisiert, weshalb es hier noch einmal aufgenommen wird. Es gibt zwei Linien in der Deutung von Strauss' Sicht dieses Verhältnisses. Die eine akzentuiert den jüdischen Denker, wobei insgesamt Jerusalem in den Vordergrund rückt. Strauss wird so zum Religionsphilosophen bzw. zum politischen Theologen, zumindest aber zu einem jüdischen Philosophen erklärt. Die andere Linie betont, daß Strauss primär politischer Philosoph und, wie er selbst formulierte, an der Erforschung der „anonymen Wahrheit"
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interessiert sei, die kein nationales oder religiöses Gepräge habe. Bei diese Sichtweise wird gelegentlich die Bedeutung jüdischer Einflüsse und Themen heruntergespielt. Demgegenüber soll im folgenden gezeigt werden, daß Strauss auch in seinem Spätwerk am Gegensatz von Philosophie und Theologie festhält, da er als Philosoph in radikalen Alternativen denkt. Milton Himmelfarb hat diesen generellen Umstand einmal so ausgedrückt: „His heart was in Jerusalem, his head was in Athens, and the head is the organ of the philosopher" (zit. nach Arkes 1996: 17). Wenngleich Strauss an dieser Alternative festhält und betont, niemand könne beides, Philosoph und Theologe sein (vgl. 1979: 111) verschiebt er im Spätwerk, wie am Beispiel der zum Thema einschlägigen Aufsätze Jerusalem and Athens (zuerst 1967; vgl. SPPP) und The Mutual Influence ofTheology and Philosophy (zuerst 1952; vgl. 1979) gezeigt werden soll, die Gewichte innerhalb dieses Gegensatzes etwas zugunsten von Athen. Jerusalem and Athens ist der wichtigste Text aus einer Serie von Arbeiten, die sich mit dem Zusammenhang von Politik und Religion befassen.176 Strauss kommt überraschenderweise auf den ersten Seiten des Aufsatzes gleich auf Nietzsche als denjenigen zu sprechen, der die westliche Tradition radikal in Frage gestellt hat, und er behauptet in diesem Zusammenhang, dessen „Übermensch" solle Jerusalem und Athen auf höchstem Niveau in sich vereinigen (SPPP: 149). Das ist - wie die erneute Bezugnahme auf Hermann Cohen und dessen Sicht des Zusammenhanges von Piaton und den Propheten - , ein weiterer Indikator dafür, daß Strauss von seinen aus der Moderne rührenden Problemstellungen und dem Gegensatz von Antike und Moderne, trotz des langen Versuches, in die Antike als Antike vorzudringen, nicht loskommt. Strauss nutzt, wie schon die Chiffren des Rekurses belegen, insgesamt einen großen geistesgeschichtlichen Zugriff. Die Geschichte der Philosophie und Theologie und ihres Gegensatzes im einzelnen interessiert ihn, ausgenommen die großen Theoretiker, nicht. Generell fallt auf, daß im Vergleich zum Frühwerk der Gegensatz von Athen und Jerusalem nun weniger konkrete Dramatik hat, da der Bezug auf die zionistische Bewegung und das Problem der Erzeugung einer politischen Ordnung in den Hintergrund getreten ist. Strauss erweitert den problematischen Zusammenhang von Athen und Jerusalem, wie er ihn zunächst in bezug auf das Weimarer Deutschland und mit Blick auf die Schaffung Israels diskutierte, zu einem geschichtsphilosophischen Gegensatz, der der Dynamik des Westens überhaupt zugrunde liege. Für die Skizze des im Spätwerk variierten Gegensatzes von Athen und Jerusalem sei zunächst noch einmal rekapituiert, wie Strauss ihn generell faßt. Für ihn sind Philosophie und Theologie Antworten auf das Problem der historischen Auflösung des ursprünglichen Zusammenhanges des Angestammten und des Guten. Die Philosophie entdeckt dabei nach Strauss die Natur und fragt nach dem zugrunde liegenden Naturrecht. Die Religion fragt ebenfalls nach einer Metaebene und findet das göttliche Gesetz. Da es aber eine Vielzahl von Religionen und Varianten des göttlichen Gesetzes gibt, wird diese Idee selbst problematisch. Die Philosophen „transzendieren" nach Strauss den göttlichen Kode durch die Suche nach den Voraussetzungen von Ordnung, Moral und Recht schlechthin. Die „biblische Alternative" kann diesen Weg nicht gehen, 176
Zu nennen sind hier weiterhin On the Interpretation Genesis (in Orr 1995: 209-226), On the Euthydemus (in SPPP: 67-88). Sekundärliteratur zum Thema vgl. Orr (1995) und Novak (1996).
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KONTUREN DES SPÄTWERKS
sie erklärt ein besonderes Gesetz, einen besonderen Kode zum universell gültigen, und sie verankert diesen nicht im rationalen Wissen, sondern in besonderen menschlichen Erfahrungen. Philosophie und Theologie bieten demnach divergierende Lösungen für die Frage an, wie und in welcher Ordnung man leben soll. Die Antworten seien unvereinbar, insofern die Theologie eine autoritative Lösung biete und die Philosophie dagegen auf die unausgesetzte Erörterung dieser Probleme setze. Aber Philosophie und Theologie antworteten auf ihnen gemeinsame Problemstellungen. Der Gegensatz zwischen ihnen wird zudem so gedacht, daß jede Seite die alternative Antwort als Möglichkeit mit bedenken kann. Man kann diese Sicht knapp an Strauss' Sokrates-Bild verdeutlichen. Strauss deutet dessen Selbstbeschränkung auf menschliche Angelegenheiten und die Ausklammerung von Theologie und Kosmologie eben nicht so, daß dieses Denken keine Rolle spiele, sondern nur dahingehend, daß über letzte Fragen kein rationaltheoretisches Wissen möglich ist. Wegen dieser Einsicht könne Sokrates fromm sein, ohne seinen philosophischen Anspruch preiszugeben. Zudem gebe es, was noch näher zu betrachten ist, keinen Zusammenhang zwischen der Mission des Sokrates und dem Daimonium (SPPP: 171). Hinzu kommt, daß Sokrates die Auswirkungen und Konsequenzen des radikalen Fragens unterschätzt und nicht die Notwendigkeit gesehen habe, die Philosophie politisch klug zu präsentieren. Der Zusammenhang und der Gegensatz von Philosophie und Theologie wird im Aufsatz Athens and Jerusalem zuerst durch den Typus des Wissens näher bestimmt. Die Gemeinsamkeit bestehe in der Orientierung an Weisheit, einem nicht bloß theoretischen, sondern auch praktischen Wissen. Der Gegensatz liege darin, daß die Philosophie die unausgesetzte Suche nach Weisheit sei, während die Religion respektive die Theologie auf autoritatives Wissen setze (SPPP: 149). Beide hätten jedoch ein gemeinsames Thema, nämlich die „perfectly just City" (SPPP: 171). Diese Sichtweise impliziert zum einen, Sokrates durch die Brille von Piaton zu lesen, und sie impliziert auch, die Offenbarungsreligion, vor allem das Judentum, von den Propheten her als auf Gerechtigkeit zentriert zu lesen. Es verwundert daher nicht, daß der Gegensatz von Athen und Jerusalem auch in den von Sokrates und den Propheten übersetzt wird, aber das ist eine sehr spezifische Thematisierung, durch die sich Gerechtigkeit als Thema akzentuieren läßt. Nimmt man Jerusalem als Chiffre für die (mosaische) Offenbarungsreligion schlechthin, dann ist das natürlich ein reduktives Verständnis, selbst wenn man auf die politisch-ethischen Orientierungen schaut. Strauss ist dem immer durch eine enge Verbindung der Ideen von Gesetz und Gerechtigkeit entgegengetreten. Allein dadurch läßt sich die Vielzahl der ethischen Motive der jüdischen Religion nicht bergen, und der von Cohen und anderen immer herausgestellte Messianismus bleibt in den Hintergrund gedrängt. Erst durch seine Akzentuierung von Gerechtigkeit und Gesetz als Ordnungsproblem kann Strauss die Brücken und den Gegensatz von der jüdischen Religion zur griechischen Philosophie, zu Athen, entwickeln. Eine weitere Gemeinsamkeit von klassischer griechischer Philosophie und jüdischer Offenbarungsreligion ist, so setzt Strauss seine Argumentation fort, daß beide auf verschiedene Weise auf Weisheit als eine besondere Form von Wissen und zugleich auf Gerechtigkeit als zentrale normative Orientierung ausgerichtet seien. Die zentralen Bezugspunkte sind dabei Sokrates und Piaton auf der einen Seite und die Propheten sowie
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der Talmud auf der anderen. Das zentrale Interesse an Weisheit als besonderer Rationalität, so betont Strauss, sei dadurch gekennzeichnet, daß im Partikularen das Allgemeine gesucht werde. Als Belege dafür gelten die sokratische Methode und die Auslegungskunst des Talmud. Diese Parallele ist ein Punkt, der manche Interpreten von Strauss veranlaßt, sein Philosophieren als jüdisches Denken zu verstehen. Dabei hält Strauss, dessen Denken tatsächlich viele thematische Bezüge zum Judentum hat, jedoch die grundsätzliche Differenz von Philosophie und Theologie fest, wobei für ihn die Philosophie unentwegt die Frage nach der guten Ordnung aufwirft, während sich diese Frage für die Religion nicht stelle, da sie mit Bezug auf göttliche Autorität arbeite. Beide Formen der Weltdeutung, die auf die Lebensführung ausgerichtet sind, stellen, was hervorgehoben werden muß, nicht das Individuum ins Zentrum, sondern eine Ordnung. Dieses Plädoyer für Weisheit und die Anerkennung von Philosophie und Religion, die allerdings nicht allen Menschen gleichermaßen zugänglich seien, ist Strauss' positive, aber doch nur vage Antwort auf den modernen Rationalismus und Subjektivismus. Das im Spätwerk erfolgende in-den-Vordergrund-Treten der griechischen Philosophie erkennt man erst auf der Folie der dargestellten Auffassungen von Sokrates, Xenophon und Piaton. Das Gesetz und die strengen Ordnungsvorstellungen, vor allem der aktivische Zug der Schaffung einer Ordnung, eines Staates für das jüdische Volk, der Philosophie und Gesetz noch durchwehte, ist nun dahin. An ihre Stelle ist die Bewahrung von Ordnung, nämlich der westlichen Zivilisation, genauer die Bewahrung des inneren Antriebes ihrer Dynamik getreten, die im Gegensatz von Athen und Jerusalem wurzele. Strauss behauptet in diesem Sinne: „The very life of Western civilization is the life between two codes, a fundamental tensión. There is therefore no reason inherent in the Western civilization itself, in its fundamental Constitution, why it should give up life. But this comforting thought is justified only if we live that life, if we live that conflict." (Gildin 1989: 290)
Wie das gemeint ist, wird nicht detailliert erläutert, aber Strauss scheint hier ein Idealbild amerikanischer politischer Kultur im Blick zu haben, in der sich starke rationalistische und machtpolitische Orientierungen mit moralischen Erneuerungsbewegungen abwechseln. Er meint aber darüber hinaus, daß dieser Gegensatz innerhalb von Personen ausgehalten werden müsse. Man habe zu akzeptieren, daß „the choice of philosophy is based on faith. In other words, the quest for evident knowledge rests on an unevident premise" (Strauss 1979: 118). Damit ist Strauss wiederum bei seiner zentralen methodischen Überlegung aus Naturrecht und Geschichte angelangt, nämlich der Behauptung der Unmöglichkeit der Vermeidung von Werturteilen, wenn es um die Entscheidung für die Lebensform, die Art der Lebensführung geht. Für ihn gibt es dabei aber eben nur eine große Alternative und nicht die Vielzahl von Wertsphären, die Max Weber exemplarisch unterschieden hat. Daher stellt für Strauss die Entscheidung für die Philosophie, die theoretische Lebensform, nicht allein einen Wert in sich dar, der bloß rational begründet werden kann, sondern setzt andere Werte, letztlich einen Glauben voraus. Mit dem Glauben ist bei Strauss aber kein säkularisierter Glaube an die Wissenschaft gemeint, sondern ein religiöser Glaube, der bestimmte moralische Werte und Grundorientierungen gibt. Ob und inwieweit mit Strauss' Kennzeichnung des Gegensatzes von Philosophie und Theologie auch die moderne Entwicklung von Wissenschaft und Tech-
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KONTUREN DES SPÄTWERKS
nik über basale Hintergrundannahmen hinaus charakterisiert werden soll, bleibt unklar. Wenn man die materialen Bezüge zugrunde legt, dann handelt es sich um eine sehr allgemeine Charakteristik, deren Übertragung auf die westliche Entwicklung überhaupt höchst fragwürdig ist. An Strauss' These, daß in der Moderne der prinzipiell gefaßte Gegensatz von Offenbarungsreligion und Philosophie (strikt rationaler Lebensführung) gelebt werden könne, tritt hervor, daß die starken Ansprüche der Offenbarungsreligion, die Strauss in den 1930er Jahren noch mit der Figur diskutiert hat, die zugleich Prophet, Staatsmann und Philosoph ist, nun in den Hintergrund gerückt sind. Er muß die Ansprüche der Religion auf Regelung des gesamten Lebens abmildern, da sonst der Widerspruch zur Philosophie, zur Vielfalt rational reflektierter Lebensformen nicht als lebbar behauptet werden kann. Insofern ist Alfons Söllner zuzustimmen, wenn er davon spricht, daß beim späten Strauss „nicht mehr der strenge Gesetzesgott der jüdischen Orthodoxie" dominiert (1990a: 119).
9.
Die Strauss-Schule in den USA
Lewis Coser hat in seinem Buch Refugee Scholars in America (1984) über Leo Strauss formuliert: „The fact is that he alone among eminent refugee intellectuals succeeded in attracting a brilliant galaxy of disciples who created an academic cult around his teaching" (ebd.: 202). Diesen Erfolg kann man wesentlich mit der Ausbildung einer akademischen Schule erklären, die Strauss strategisch betrieb. Bisher wurde die Bildung seiner Schule zwar häufig erwähnt, aber nicht zusammenhängend und mit Blick auf das Gesamtkonzept von Strauss erörtert. Die Sonderstellung von Strauss unter den emigrierten normativen politischen Theoretikern ist wesentlich mit dieser Schule und erst in zweiter Linie mit der Spezifik seines Philosophierens im engeren Sinne, d.h. mit seinen interpretativen Methoden verbunden. In diesem Rahmen läßt sich auch der Zusammenhang von Strauss' Philosophieren, seine politischen Absichten und die Wirkungsgeschichte begreifen. Schon aus dem Selbstverständnis von Strauss ergeben sich mehrere Punkte, die für die Schaffung einer Schule sprechen. Erstens stellt fiir Strauss als Platoniker die Förderung und Heranbildung von philosophischem Nachwuchs eine erstrangige Aufgabe dar. Zweitens wird auf der Basis der Diagnose, daß die Modernen in einer Höhle stecken, die sich unter der berühmten platonischen Höhle befindet, die Aufgabe der akademischen Nachwuchsförderung gesteigert, geht es doch darum, eine Generation heranzubilden, die die antiken Autoren wieder richtig verstehen kann, da sie sich in die erste Höhle hinaufgearbeitet hat. Drittens bildet die Ankunft des philosophisch geprägten Strauss im Umfeld pragmatisch-empirisch orientierter amerikanischer Politikwissenschaft eine spannungsvolle Beziehung, die für die Spezialisierung und Separierung des eigenen Ansatzes in einer eigenen Schule wesentlich war. Ob Schulen in der heutigen Wissenschaft noch eine zeitgemäße Organisationsform sind oder ob sie eher ein Phänomen des 19. Jahrhunderts darstellen und heutige Formen besser als wissenschaftliche Gemeinschaften (Th. S. Kuhn) bzw. „invisible Colleges" (Solla de la Price) zu begreifen sind, ist umstritten. Auf dem Gebiet der Sozial- und Geisteswissenschaften sind Schulen jedenfalls im 20. Jahrhundert durchaus noch häufiger anzutreffen, und aus den andauernden Debatten um die Kennzeichen wissenschaftli-
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DIE STRAUSS-SCHULE IN DEN U S A
eher Schulen lassen sich einige generelle Kriterien gewinnen, die auch für die Analyse und Darstellung der Strauss-Schule hilfreich sind (vgl. Bleek/Lietzmann 1999). Dazu gehören eine starke Gründerpersönlichkeit, ein mehrere Generationen von Wissenschaftlern umfassender Zusammenhang, vor allem aber eine kognitive und institutionelle Identität. Nicht zu vernachlässigen sind ferner die Selbst- und die Fremdwahrnehmung als Gemeinschaft mit einem besonderen Konzept. Darüber hinaus gibt es eine ganze Reihe von Wirkungsbedingungen, etwa eine kleine Universität, vorausgegangene Schulen, deren Stern im Sinken ist, etc. Wenn im folgenden Leo Strauss im Rahmen der amerikanischen Politikwissenschaft als Schulgründer auf dem Gebiet politischer Theorie thematisiert wird, spielen all diese Kriterien eine Rolle. Bei der Bestimmung einer Schule gibt es häufig optische Verzerrungen, weil sie oft erst durch später erklärte Schülerschaft zutage tritt, aber nichtsdestotrotz ist die Abfolge von Schülergenerationen noch das härteste Kriterium, und es spricht nichts dagegen, gleichsam vom Ende her nach der Genese der Schule zu fragen, ihre Ursprünge zu erörtern. Es lassen sich allerdings Phasen wie die Gründung, Stabilisierung und generative Tradierung voneinander abheben, wo jeweils unterschiedliche Faktoren relevant sind.
9.1
Schulgründung und Etablierung im Fach
Die erste Phase der Entwicklung der Schule, ihre Gründung, fallt in die Zeit nach der Annahme der Professur in Chicago, d.h. Ende der 1940er bis Anfang der 1950er Jahre. Strauss entwickelt in dieser Zeit nicht nur seine Konzepte weiter, sondern verfügt nun als Professor über institutionelle Voraussetzungen für größere Wirkungsmöglichkeiten, er kann im Zusammenhang mit verschiedenen Stiftungen seine Wirkung ausdehnen und lehrt an der University of Chicago. Die University of Chicago war eine überschaubare Universität mit kleinen Departments, an der es eine bemerkenswerte Tradition von Schulen im Bereich der Naturwissenschaften und auch der Sozialwissenschaften gab man denke an die Chicago School in der Soziologie (vgl. Stichweh 1999)177. Das gilt auch für das Department of Political Science. Insofern kann Strauss an verbreitete Muster anknüpfen. Wichtig für die erfolgreiche Schulgründung und -etablierung ist aber auch, daß Strauss lange genug in Chicago war; er blieb trotz interessanter Angebote von seiner Berufung 1949 bis zu seiner Emeritierung dort. Dadurch gab es eine starke institutionelle Verankerung. Alle Schulen haben eine mehr oder weniger hierarchische 177
Rudolf Stichweh formuliert zur Aktualität von akademischen Schulen: „Meine Hypothese ist auch, [...] daß dem Trend nach die großen Universitätssysteme der Welt alle dezentralisierte Systeme sind oder werden - und in relativ kleinen Hochschulen ist zu erwarten, daß kognitive Innovationen sich in der Form hierarchischer Lehrer/Schüler-Vernetzungen vollziehen, die die Strukturform wissenschaftliche Schule hervorbringen. Es wäre auch zu prüfen, ob die zahlreichen .Chicago Schools', die dieses Jahrhundert kennt, damit zu tun haben, daß die ,University of Chicago' mit gerade zehntausend Studenten auch für amerikanische Verhältnisse relativ klein ist, daß die Prägung eines ganzen departments durch einen Schulzusammenhang vorstellbar ist" (1999: 30).
SCHULGRÜNDUNG UND ETABLIERUNG IM FACH
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Form, die an das Lehrer/Gründer-Schüler-Verhältnis gekoppelt ist. Strauss war zweifelsohne Protagonist eines neuen Paradigmas und eine starke Persönlichkeit, aber er ist kein autoritativer Lehrer, kein Neuerer, obwohl er Züge von beidem hat. Vielmehr gibt er sich bescheiden als bloßer Gelehrter aus, der die höchste Autorität den großen Philosophen, vor allem den antiken Denkern und ihren Texten, zuschreibt. Damit baut er eine andere starke Autorität auf, die auf ihn abfärbt. Denn er ist der Lehrer, der anderen auf einem längeren Weg dazu verhelfen kann, den Zugang zu den klassischen Texten zu gewinnen. Das Erlernen des sorgfaltigen Lesens, das Beachten der Kleinigkeiten der versteckten Hinweise kann als der Initiationsritus aufgefaßt werden, mit dem man ein „Straussian" wird. In der Initiation wird sowohl die überragende Rolle philosophischer Texte festgeschrieben als auch eine nur partiell lehrbare Methodik vermittelt. Allein, auch diese Faktoren reichen nicht aus, um erfolgreich eine Schule zu gründen. Sie bedarf einer Gründungsfigur, und als eine solche ist Strauss tätig geworden. Aus den Berichten der Schüler und Kollegen kann man nur wenige, wenn auch eindrucksvolle Beschreibungen als Lehrer und Schulgründer gewinnen, die ein bezeichnendes Licht auf ihn werfen. Er muß demnach ein gewinnender akademischer Lehrer gewesen sein, der es schaffte, ohne Zeitbegrenzung und mit großer Intensität interpretatorische Fragen aufzuwerfen. Schon in der Zeit an der New School hat er erste Schüler. So gilt Howard B. White» der die Nichte von Kurt Riezler, einem New Yorker Kollegen und Freund, heiratet, als erster „Straussian" (Rutkoff/Scott: 200). Von der New School sollen auch einige Schüler mit nach Chicago gegangen sein. Aber erst dort begann die Schulgründung. Für die Gewinnung von Schülern ist neben der auf intensiven Interpretationen beruhenden Attraktivität auch die Fähigkeit zum Umgang mit divergierenden Persönlichkeiten relevant. Gerade diese Eigenschaft wird Strauss durchaus polemisch zugeschrieben, indem man behauptet, er habe seine Wahrheiten und Erkenntnisse dosiert, nämlich soweit sie den entsprechenden Personen als zuträglich erachtet wurden. Es handelt sich hier aber viel eher um eine Begabung. Schon Strauss' aus der Weimarer Zeiten stammender Freundeskreis (Gadamer, Klein, Löwith; vgl. 2.1.4.) zeigt seine Fähigkeit, divergierende Persönlichkeiten zusammenzubringen. Daher ist es auch nicht zufallig, daß es an der New School, wie ihre Historiker Rutkoff und Scott schreiben (1986: 199), rasch zur Gründung eines Kreises konservativ orientierter Intellektueller kam, den Strauss leitete. Wie groß seine integrativen Fähigkeiten waren, fiel vor allem bei ihrem Wegfall auf; als dieser Kreis nämlich nach 1949 ohne ihn auskommen mußte, zerfiel er rasch. Strauss hatte also die Fähigkeit, divergente Begabungen zusammenzufuhren, was gerade für die innere Dynamik einer Schule wesentlich ist. Seine methodischen Überlegungen und das Konzept politischer Philosophie als akademischer Disziplin entwickelt Strauss in Chicago mit Blick auf eine Schulgründung. Für die Ausbildung einer kognitiven Identität sind hier vor allen Dingen zwei Arbeiten wichtig: Zum einen die bereits detailliert diskutierte Schrift Persecution and the Art of Writing-, sie macht den methodischen Kern der Schule aus und bedient verschiedene Aufgaben. Der Schlüssel ist die nicht formalisierbare Tiefenhermeneutik, nach der bei den Texten vieler großer Philosophen zwischen einer exoterischen Präsentationsform von Texten und ihrer esoterischen, verdeckten Lehre zu unterscheiden ist. Es handelt sich dabei um einen Schlüssel zum Philosophieren, nicht zu einer autoritativen Ausle-
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gung der Texte. Zugleich ist es eine tiefenhermeneutische Methode, die man erst in längerer Übung anwenden und nutzen kann. Alle „Straussians" durchlaufen insofern einen längeren Lernprozeß, in dem die Methodik angeeignet wird, und aus dieser besonderen Methodik, aus der Kunst, Tiefenstrukturen von Texten deuten zu können, speist sich auch ein besonderes Bewußtsein der Schüler. Zum anderen dient die Methodik zur akademisch-disziplinären Abgrenzung. In dem hierfür einschlägigen Aufsatz What is Political Philosophy unternimmt Strauss eine strategische Abgrenzung von anderen kontemporären Strömungen der Theorie- und Ideengeschichte. Die Etablierung einer eigenen Richtung ist für die Identitätsbildung der werdenden Schule konstitutiv und soll deshalb etwas näher betrachtet werden. What is Political Philosophy geht auf Vorträge zurück, die Strauss 1954/55 in Jerusalem gehalten hat. Später fungiert der Aufsatz als programmatische Einleitung zu einem Sammelband gleichen Titels. Die Argumentation ist dezidiert, und der inzwischen in der Politikwissenschaft etablierte Professor grenzt sich deutlich von einer ganzen Reihe von Strömungen ab. Es lohnt sich, den entwickelten Begriff politischer Philosophie und die Abgrenzungen näher zu betrachten. Generell wird die Philosophie bestimmt als Suche nach dem Wissen vom Ganzen, der Wahrheit, und die politische Philosophie als ein Teil von ihr. Letztere sei zum einen der Aufstieg von den Meinungen über die politischen Dinge zum Wissen über diese. Zum anderen sei sie die Rechtfertigung der Philosophie vor dem Forum der politischen Gemeinschaft; sie muß sich dabei nicht nur einer allgemein zugänglichen Sprache bedienen, sondern ebensosehr muß sich der Sinn und „Nutzen" der Philosophie, der philosophischen Lebensweise legitimieren. Die Philosophie als humanisierende Suche nach der Wahrheit sei nicht selbstverständlich und müsse als Lebensform legitimiert werden. Nur wenn sie sich selbstreflexiv zu ihren Wirkungsbedingungen verhält, wenn sie sich nicht auf sich und das reine Denken zurückzieht, sondern als politische Philosophie auftritt, kann sie ihre eigenen Existenzbedingungen bewahren. Diagnostisch geht Strauss davon aus, daß es in der Gegenwart zwar Philosophen gebe - er nennt Alfred N. Whitehead, Henri Bergson, Edmund Husserl und Martin Heidegger - , aber es gebe keine politische Philosophie (vgl. WPP: 17). In dieser Lage komme es darauf an, über den Begriff hinaus die Aufgaben und den Status dieser wiederzugewinnenden Disziplin darzulegen. Deshalb grenzt Strauss sie von vier konkurrierenden Unternehmungen ab. Politische Philosophie sei vom politischen Denken unterschieden, weil damit nur Reflexionsformen über Politik gemeint seien, die indifferent gegenüber der Unterscheidung von Meinung und Wissen sind. Für Strauss sind die Reflexionen im Horizont des Common sense beziehungsweise der praktischen Vernunft als politischem Denken zu begreifen, das die Ebene der Meinung nicht verläßt. Von der politischen Theorie unterscheide sich politische Philosophie, weil mit ersterer nur theoretisch untermauerte politische Konzepte gemeint sind. Strauss nennt hier, und das ist zweifellos dem Vortragsort Jerusalem zuzuschreiben, Theodor Herzl und Leon Pinsker. Aber er hat zum Teil auch seine amerikanischen Fachkollegen und ihre allgemeineren Theorien vor Augen. Die Abgrenzung gegenüber der politischen Theologie erfolgt rein typologisch ohne einen Bezug auf Theoretiker. Man geht aber nicht fehl, wenn man hier einen polemischen Bezug auf Carl Schmitt und Eric Voegelin vermutet.
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Für Strauss ist politische Theologie eine zur politischen Philosophie gegensätzliche und konkurrierende Form der Auseinandersetzung mit dem Problem politischer Ordnung. Political Science schließlich, der letzte Abgrenzungsbezug, wird gefaßt als eine Form, die die Wissenschaft von der Politik in dynamischen Massengesellschaften angenommen hat, und deren Ziel in der Aggregation und Bereitstellung von Daten besteht. Den Titel Wissenschaft verdient diese Richtung eigentlich nicht, denn sie verzichtet zugunsten schwacher Methodologie auf jede Philosophie. Sie sei substantiell durch Historismus und Positivismus gekennzeichnet. Strauss bricht die Abgrenzungen hier ab, obwohl noch weitere denkbar sind, etwa gegenüber verschiedenen Formen von Ideengeschichte, die an einem anderen Ort systematisch behandelt werden. Zu fragen ist: Was bedeutet diese Positionierung innerhalb der Politikwissenschaft? Handelt es sich primär um die Markierung eines besonderen Aufgabenfeldes? Dies ist wohl zu bejahen, denn mit großer Geste wird ein Feld abgesteckt, und die Grenzen zu anderen Richtungen in der politischen Theorie werden deutlich gezogen. Damit wird indes nicht nur die Strategie der Reservierung dieses Feldes verfolgt, sondern es ist auch eine Art von Resistentmachen gegen Kritik. Wenn man sich wie Strauss derart von allen vergleichbaren Projekten und vor allem von interdisziplinären Ansätzen abschottet, dann versucht man, ein eigenes Paradigma zu etablieren. In diesem Sinne ist diese Positionierung in der Disziplin auch Ausdruck der erreichten Gründung einer wissenschaftlichen Schule. Herbert A. Deane hält in seiner Rezension von What is Political Philosophy fest: „Düring the past decade few teachers of political philosophy in this country have had an influence comparable to that of Professor Leo Strauss of the University of Chicago. As any reader of the journals or anyone who has attended professional meetings is well aware, his disciples are numerous, articúlate, and ever ready to do battle against the ,enemy' - positivism, ,scientism', and historism." (1961: 149)
Das Paradigma, das Strauss entwickelte, ist die Rückkehr zur eigentlichen politischen Philosophie, einem Teil der Philosophie, der nicht mehr existiere. Die Außenabgrenzung läuft methodisch auf zwei Gleisen. Zum einen ist es die Frontstellung gegen den Positivismus in der Politikwissenschaft und zum anderen ist es die Kritik an der Moderne und am Fortschrittsoptimismus. Diese beiden Dinge reichen jedoch allein nicht aus, um den mit diesem Konzept verbundenen Erfolg zu erklären, zumal unklar bleibt, warum Strauss als ein esoterischer Denker nicht eine solitäre Figur blieb, wie etwa Eric Voegelin oder auf andere Weise Hannah Arendt. Wesentlich ist Strauss' doppeltes Verständnis politischer Philosophie, nämlich als Rechtfertigung der Philosophie vor dem Gemeinwesen, wobei sie ihre eigentlichen Probleme und ihre Gefährlichkeit durch exoterisch-rhetorische Präsentation verbirgt (politische Philosophie I), und als esoterische politische Philosophie, die die tiefsten Fragen offen und ohne alle Rücksichten erörtert (politische Philosophie II; vgl. zu dieser Unterscheidung 4.1.). Die doppelte Bestimmung erschwert die aus dem Programm von Strauss resultierende Aufgabe, die kanonischen Texte zu bestimmen, zu edieren, zu interpretieren und das Gespräch zwischen den großen Geistern zu arrangieren. Diese begrenzte Aufgabe ist letztlich darauf abgestimmt, eine Generation heranzubilden, die diese Texte wieder versteht und über wahre Bildung verfugt, d.h. über eine Bildung, die es erst ermöglicht, einen für die Domesti-
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zierung der modernen Massengesellschaft nötigen Horizont zu eröffnen. Es geht dabei nicht um ein theoretisch-politisches Konzept im engeren Sinne, das durchzusetzen oder zu realisieren wäre, sondern um die doppelte Aufgabe, den Geist der politischen Philosophie zu bewahren und eine dafür geeignete Bildungselite zu schaffen. Im Sinne der Tradierung bedeutender Texte und der Textpflege haben viele „Straussians" gewirkt, was die folgenden Beispiele umrißhaft verdeutlichen sollen: Herbert J. Storing sammelt und ediert die Anti-Federalists, Allan Bloom gibt Rousseau heraus, Musin Mahdi übersetzt, ediert und kommentiert al-Farabi, Charles E. Butterworth widmet sich Avicenna sowie Averroes, während Christopher Bruell sich wiederholt mit Xenophon und Howard B. White mit Bacon und Descartes auseinandersetzt. In What is Political Philosophy nimmt Strauss seine Bestimmung der von ihm reklamierten Disziplin viel deutlicher vor als in den Aufsätzen aus den 1940er Jahren. Dies zeigt sich im Vergleich insbesondere, wenn man die Artikel Political Philosophy and History (1947), der wiederum seine Kritik des Historismus enthält, und On Classical Political Philosophy (1945; beide in WPP) heranzieht, welcher auf die konträr zur modernen Form liegende antike Art von Problemstellungen abhebt. Zwar fehlt in den früheren Aufsätzen etwas die spätere Schärfe, dafür stellen sie aber komplementäre Gesichtspunkte zur Bestimmung der Subdisziplin bereit, und deshalb hat Strauss sie wohl auch in den programmatischen Sammelband aufgenommen. Gegenüber der Geschichte betont Strauss, daß politische Philosophie keine historische Disziplin ist, und wendet sich gegen die üblichen Historisierungen (WPP: 65). Im Aufsatz On Classical Political Philosophy hat Strauss die „features" der vorbildhaften Theorien genauer entwickelt. Zu ihnen zählten erstens die direkte durch Tradition unverstellte Thematisierung des politischen Lebens sowie die damit verbundene methodische Orientierung am politischen Leben selbst und die Frage nach der besten Ordnung. Zweitens sei die politische Wissenschaft zwar eng mit Rhetorik verbunden, denn bei Politik gehe es um politisches Tun und Sprechen, aber die klassische politische Wissenschaft weise ihre Identifikation mit der Rhetorik zurück. Vielmehr frage sie nach Voraussetzungen politischer Ordnung und der Tugend. Die Frage nach dem Gesetzgeber und jene, welcher Typ von Mensch herrschen soll, gehören zu ihren wichtigsten politischen Problemen (vgl. WPP: 84). Neben der besten Ordnung stelle die klassische Theorie immer auch die Frage nach der besten möglichen Ordnung für eine gegebene politische Gemeinschaft. Aber um diese Frage zu beantworten, müsse man zunächst klären, welches die beste Ordnung sei, und zwar „always and everywhere" (WPP: 87). In diesem Zusammenhang nimmt Strauss dann auch eine exemplarische Verteidigung des philosophischen Lebens als der höchsten Lebensform vor (WPP: 91 f.). Die radikale Moderne-Kritik von Strauss war ein erkennbar neuer und außergewöhnlicher Ansatz im Umfeld der amerikanischen Politikwissenschaft. Der soziale Zusammenhang der „Straussians" der ersten Generation wird durch dieses gemeinsame Projekt - in einer zum Teil selbst definierten feindlichen Umwelt - gestiftet. Zugleich ruht es auf den theoretischen Ambitionen und einem elitären Selbstverständnis. Ohne diesen Rückhalt ist der selbstdefinierte und starke Gegensatz zu den Behavioristen, Positivisten und Relativisten kaum zu begreifen, machen diese doch die Mehrheit der Politikwissenschaftler aus. Man muß in diesem Kontext zwischen der Polemik und dem Problem unterscheiden. So
AUSBAU DER SCHULE UND KONTROVERSEN UM SIE
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stimmt Strauss in seiner Kritik am Positivismus und an der Wertfreiheit im Prinzip mit der postempiristischen Wissenschaftstheorie (P. Winch, Th. S. Kuhn) überein, durch die Vehemenz ihrer schlichten und antikisierenden Kritiken haben aber Strauss und seine Schüler nicht selten dazu beigetragen, daß die Differenz zwischen Polemik und Problem gar nicht mehr gesehen wurde. Umgekehrt zeigt die Vehemenz der Kritik an, daß es oft um die Etablierung und Bewahrung des eigenen Paradigmas ging. Die Distinktionsstrategie, mit der sich Strauss und seine Schüler in ihrem akademischen Umfeld bewegten, muß zur Fremdwahrnehmung in Relation gesetzt werden, da sie Auskunft über den Erfolg der Distinktion gibt. Man kann generell festhalten, daß es zwei für Schulen eng verbundene Integrationsprozesse gibt, einen internen und einen externen, die beide über die erklärte Gegnerschaft laufen. Das gilt auch für die StraussSchule, deren Ansprüche und kritische Attacken in der Fremdwahrnehmung früh dazu führten, die Schriften von Strauss und aus seinem Umfeld als Texte einer Schule zu lesen. Der Ausdruck „Straussian" wird allerdings erst seit Mitte der 1950er Jahre zu einer Selbst- und Fremdbezeichnung, d.h. die Schule wird dann als solche wahrgenommen. 178 Innerhalb der Politikwissenschaft als Fach und erst recht in der politischen Öffentlichkeit war indes damit zunächst noch kein scharfes Profil verbunden. Was sich hinter dem Label verbarg und mit ihm verbunden werden konnte, sollte sich erst in einer Debatte deutlicher zeigen, die wenige Zeit später ausgelöst wurde. 1959, am Ende der Gründungszeit seiner wissenschaftlichen Schule, wird Strauss zum Robert-MaynardHutchins distinguished Professor. Mit dieser Professur ist primär eine Entlastung von Lehre und ein Zeitgewinn für Forschung verbunden. Sie ist aber auch ein Signal, da Strauss als erster die neu geschaffene Stelle antritt, die den Namen des berühmten langjährigen Präsidenten und Rektors der University of Chicago trägt. Hutchins steht wie auch Strauss für eine konservativ-liberale Bildungspolitik; er favorisierte im Gegensatz zur Massenuniversität ältere und elitäre Bildungsformen.
9.2
Ausbau der Schule und Kontroversen um sie
In den frühen 1960er Jahren wird die Schule in der Politikwissenschaft etabliert, ihr Terrain definiert und in einer exemplarischen und scharfen Auseinandersetzung gefestigt. Parallel dazu läuft die Kanonisierung von einschlägigen Autoren und Texten der Strauss-Schule, die sich in der History of Political Philosophy niederschlägt. Im diesem Kontext erfolgt auch die Kristallisation des klassizistisch-elitären Bildungskonzeptes. Der erste akademische Streit um die Strauss-Schule und die History of Political Philosophy führte dazu, daß die Schule mit einem Schlage in der Öffentlichkeit auch als solche wahrgenommen wurde. 178
Zu Beginn der 1960er Jahre sprechen Schaar/Wolin (1963) wie selbstverständlich von „Straussians", und der Ausdruck wird in der Annotation zur History of Political Philosophy von Strauss und Cropsey als Etikett verwendet (vgl. APSR, vol. LVII, Sept. 1963: 688). Zum Auftauchen der Selbstbezeichnung vgl. Kendali (1963: 202f„ 1967: 783f.).
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DIE STRAUSS-SCHULE IN DEN U S A
Streit u m D o m ä n e n
Wenn hier zunächst an den Streit um den Relativismus erinnert wird (vgl. 4.3.3.), so deshalb, weil es sich um eine Art von Debatte handelt, an der Strauss und die „Straussians" zwar beteiligt sind, die aber einen anderen Charakter als die Auseinandersetzungen zu Beginn der 1960er Jahre hat. Im Relativismusstreit, einer wesentlich von deutschen Emigranten in der amerikanischen Politikwissenschaft initiierten Debatte, vertreten Strauss und seine Schüler nur eine Position wie andere auch. Wiewohl schon diese Position scharf und konfrontativ ist, gibt es aber keine Kontroversen, die den sachlichen Rahmen übersteigen, und es stehen sich eine Vielzahl von Strömungen gegenüber. Das ist aus zwei Gründen interessant. Zum einen war die Strauss-Schule anfangs der 1950er Jahre noch nicht im Fach etabliert. Zum anderen handelte es sich seinerzeit um eine Debatte, in der es noch nicht um die Deutungshoheit auf bestimmten Gebieten geht, sondern um methodische Grundsatzentscheidungen und gleichzeitig um eine Kritik an Prämissen des Liberalismus. Letzteres tritt in den Beiträgen von Strauss seit den 1950er Jahren ebenso hervor wie in der Reprise zur Debatte in den 1960er Jahren (vgl. Schoeck/Wiggins 1961). Wie wichtig die politischen Fragen sind, zeigt Strauss' exemplarische Auseinandersetzung mit Isaiah Berlins Differenzierung von negativem und positivem Freiheitsbegriff. Er greift damit eine besonders prominente Unterscheidung an, die wie, Berlin später eingestanden hat, auch einen polemisch-antitotalitären Zug hat (Berlin 1995: 40-53). Strauss hält gegen Berlins Plädoyer für das Konzept negativer Freiheit unbeirrt am antikisierend gefaßten positiven und nicht individualistischen Freiheitsbegriff fest. Das liberale Freiheitsverständnis habe fatale Folgen, da im Namen der Wertfreiheit die Demokratie untergraben werde. Dies sind die Fragen, die vor allem in den 1950er Jahren breit und kontrovers diskutiert wurden. Der von Herbert J. Storing herausgegebene Sammelband Essays On the Scientific Study ofPolitics (1962) ist ein Manifest der Strauss-Schule und hat eine qualitativ andere Art von Reaktionen als der Beitrag von Strauss in der Relativismus-Debatte evoziert. In dem Band von Storing wird von den „Straussians" selbstbewußt die ganze politische Philosophie als Domäne eingefordert, und zu Recht ist dieser Band als eine Attacke auf das, was man zu diesem Zeitpunkt als normal science in der amerikanischen Politikwissenschaft betrachten kann, gelesen worden. Es handelt sich nämlich um eine exemplarische Auseinandersetzung von Strauss und seinen Schülern mit dem, was in der amerikanischen Politikwissenschaft einen guten Namen hat, und die Autoren stehen jeweils für bestimmte Forschungsfelder; die Voting Studies, d.h. die extensiven Forschungen zu politischen Wahlen, werden allerdings ohne prominenten Autor kritisiert. Für die science of administration steht Herbert A. Simon, für den Gruppenansatz Arthur F. Bentley im Mittelpunkt. Harold D. Lasswell wird als Analytiker wissenschaftlicher Propaganda, der er selbst verfalle, einer außerordentlich scharfen Kritik unterzogen. Für diese exemplarischen Auseinandersetzungen konnten Mittel der Ford-, der Rockefeiler- und der Reim Foundation eingeworben werden. Ein Epilog von Strauss, dessen Thesen in den Essays aller Autoren des Bandes eine Rolle spielen, beschließt den Band. Mit markigen und auf spezifische Weise mutigen Sätzen spricht er im Vergleich mit Machiavelli der
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amerikanischen Politikwissenschaft, der positivistischen New Political Science, jegliches theoretische Niveau ab. Sie sei: „[...] not even Machiavellian, for Machiavelli's teaching was graceful, subtle, and colorful. Nor is it Neronian. Nevertheless one may say of it that it fiddles while Rome burns. It is excused by two facts: it does not know that it fiddles, and it does not know that Rome burns." (Strauss in Storing 1962: 327)
Die Essays über das wahre wissenschaftliche Studium der Politik reklamieren eine Domäne und erheben gleichzeitig einen generellen, leitenden und orientierenden Anspruch für die ganze Politikwissenschaft. Interessanterweise hat die empirische Politikwissenschaft diese Ansprüche weitgehend ignoriert. Reagiert haben zwei eher normative Theoretiker, nämlich Sheldon S. Wolin und John H. Schaar aus Berkeley 179 , wobei die scharfe Entgegnung zeigt, daß mit der Frage nach der Art der politischen Theorie und ihrer Bedeutung für die anderen Teile der Politikwissenschaft viel auf dem Spiel stand. Die Debatte hat einen anderen Charakter als die generelle Diskussion um den Relativismus; sie ist die erste scharfe Auseinandersetzung um Strauss innerhalb der amerikanischen Politikwissenschaft, in der er als Protagonist einer Strömung in Erscheinung tritt, die nicht auf die Chicagoer Universität beschränkt ist. In dem Streit spielen sachliche, wissenschaftspolitische und persönliche Aspekte eine Rolle. Wolin war ein Konkurrent von Strauss, da er auch auf dem Feld der Geschichte der politischen Philosophie und Ideen arbeitete und seine Sicht in Politics and Vision (1960) umfangreich dargestellt hatte. Die Differenz zwischen beiden Ansätzen soll erst im nächsten Abschnitt näher betrachtet werden. Es ist die Schärfe der gesamten Kritik der „Straussians" und der sehr polemische Schluß von Strauss, in dem die ganze Zunft der Unwissenheit über ihr Tun und eines Verkennens der historischen Umstände bezichtigt wird, welche die scharfe Entgegnung von Wolin und Schaar provozierte. Beide sprechen sich als Protagonisten normativer politischer Theorie für eine philosophische Kritik an den szientifisch-positivistischen Konzepten, insbesondere des Behaviorismus aus. Auch sie stehen also dem Anspruch einer am Modell der Naturwissenschaft orientierten Political Science kritisch gegenüber. Aber Strauss und seine Schüler erheben in ihren Augen nur den Anspruch dieser Kritik, ohne sie selbst zu liefern. Denn sie betrieben Kritik unter Verletzung elementarer Standards. Dazu zählt wesentlich der „fanatische" Stil, durch den gegnerische Positionen nicht sachlich dargetan, sondern nur karikiert und überspitzt aufgefaßt und dann um so leichter kritisiert werden. Man erkenne die kritisierten Autoren kaum wieder. Erst in zweiter Linie ist es Schaar und Wolin möglich, Argumente aufzunehmen, die in jedem der Essays eine Rolle spielen. Es seien im großen und ganzen fünf Punkte, die immer wieder gegen die neue, moderne Politikwissenschaft vorgebracht würden, nämlich daß sie falschlich zwischen Fakten und Werten unterscheide, daß es ihr am Verständnis für das genuin Politische mangele und statt dessen lauter gesellschaftliche Phänomene ins Spiel gebracht würden, daß sie keine wirklich neues Wissen hervorgebracht habe und 179
Vgl. Schaar/Wolin (1963) in American Political Science Review, vol. LVII; im selben Heft finden sich Antworten zu Wolin und Schaar von Herbert J. Storing (151-152), von Leo Strauss (152-155) und von Walter Berns (155-156).
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auf empiristischen Mißverständnissen beruhe, und aus den genannten Gründen schließlich statt Orientierungen Desorientierungen schaffe (1963: 130f.). All dies heißt für Wolin und Schaar, zu grob vorzugehen und von vornherein abzuwehren, daß die moderne Politikwissenschaft eigene Stärken hat. Sie folgern deshalb: „Our criticism of Strauss et al. is not an affirmation of Simon et al., though we are aware that our review may give this impression. The book we have addressed is so intemperate in tone and so often unfair to its subjects that it has provoked our considerable indignation." (Ebd.: 150)
In seiner Reaktion weist Storing die Vorwürfe ab, sie kulminiert in dem Statement: „the Essays are not political philosophy; they lead to political philosophy" (ebd.: 152). Diese Behauptung kann man nur aus einer Binnenperspektive von straussianischem Denken verstehen, und sie ist nur plausibel, wenn Philosophie als die ewige zetetische Erörterung von Grundproblemen aufgefaßt wird. Jenseits dieses Horizontes gilt jedoch, daß Kritik generell philosophische Positionen voraussetzt und nicht vage zu ihnen hinfuhrt. Berns wiederum gibt den Vorwurf, die kritisierten Positionen seien nur Karikatur von theoretischen Konzepten der positivistisch-szientifischen Auffassungen, zurück und behauptet, dies gelte auch für das, was Schaar und Wolin aus den Positionen der „Straussians" machen. Besonders interessant ist das Restatement von Strauss, der formuliert: „The charge of fanatism has surprised me more than any other, for in scholarship at any rate intransigence - i.e., the habit of refusing to make concessions for the sake of peace and comity - is not fanatism." (1963b: 153)
Wiewohl Strauss aber nach diesem Statement an scharfer Kritik interessiert erscheint, empört ihn der Vorwurf des Fanatismus, und er faßt die Kritik insgesamt sehr persönlich auf. Allerdings nehmen Wolin und Schaar in der Tat den eigentlichen Ansatz von Strauss nicht ernst. So lassen sich bei ihnen nur knappe Hinweise auf Aristoteles finden, der für Strauss wichtig sei. Da wäre aus den damals vorliegenden Arbeiten von Strauss freilich wesentlich mehr zu erfahren gewesen. Indes spricht auch dieser Umstand dafür, daß es sich im Kern um eine wissenschaftspolitische Debatte gehandelt hat. Strauss und seine Schule haben sich nach dieser zugespitzten Debatte für lange Zeit nicht mehr so deutlich in konkreten Fragen der Entwicklung der Politikwissenschaft in ihren verschiedenen Teilen engagiert. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß große Teile der Politologenzunft sich mit der Kritik von Schaar und Wolin solidarisiert haben und erfreut waren, nicht selbst die Auseinandersetzung mit den kämpferischen „Straussians" führen zu müssen. Die Auseinandersetzung um Domänen und Leitansprüche, die Kritik am großen Anspruch der „Straussians" hat also Spuren hinterlassen, denn die Strauss-Schüler ziehen sich zumindest für einige Zeit mehr auf die akademische Teildisziplin, das Gebiet der politischen Philosophie und ihrer Geschichte zurück.
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9.2.2 Kanonisierung der Theoriegeschichte In What is Political Philosophy benennt Strauss die wichtigen Strömungen, von denen er sich abgrenzt, ohne auf deren Protagonisten einzugehen; in dem Aufsatz Political Philosophy and History hält er sich noch mehr zurück. Hier überwiegt die schon mehrfach thematisierte Polemik gegen den Historismus. Der Aufsatz von 1949 ist auch viel weniger unter professionspolitischen Gesichtspunkten geschrieben; dennoch ist es lohnenswert zu zeigen, von welchen alternativen Angeboten sich Strauss unterscheidet, und zwar um so mehr, als die Auseinandersetzung mit der Theoriegeschichte im Zuge der Verselbständigung von politischer Theorie zu einer Teildisziplin enorm zunimmt. Erhellt man diese Kontexte wenigstens punktuell, dann kann man erkennen, in welcher Landschaft Strauss sich mit seiner Auffassung von politischer Philosophie und ihrer Geschichte plaziert und behauptet. Kontexte Im Anschluß an Gunnells Untersuchung Descent of Political Theory (1993) läßt sich verdeutlichen, wie Strauss in die Tradition der amerikanischen Politikwissenschaft hinsichtlich der Theoriegeschichtsschreibung eingebettet ist. Darüber hinaus ist festzuhalten, daß in diesem Zusammenhang auch der Streit um den Kanon der relevanten Ideen und Autoren seine Geschichte hat. Geht es doch bei Traditionsbildung darum, bestimmte akademisch-disziplinäre Ansprüche zu erheben und zu sichern. In den USA ist diese Seite besonders stark entwickelt, nicht zuletzt deshalb, weil dort eine kompetitive Wissenschaftslandschaft existiert und Strauss sein Paradigma und den Kanon politischer Philosophen gegenüber einer genuinen Tradition durchsetzen mußte. Hinzu kommt, daß gerade die Politikwissenschaft inklusive ihrer eigenen Geschichtsschreibung als genuiner, moderner amerikanischer Beitrag zur Wissenschaft verstanden wurde (Gunnell 1993). Strauss und die Etablierung seiner Schule sind vor diesem Hintergrund ein besonderes Phänomen. Am Anfang steht der Versuch, einen neuen Kanon zu bilden und ihn in einer Geschichte der politischen Philosophie zu fixieren, und am vorläufigen Ende steht das Engagement von Allan Bloom für den Bildungskanon. Insgesamt gesehen gibt es also ein entwickeltes Genre und ein durchaus vorstrukturiertes Feld, in das Strauss/Cropsey ihren Versuch zur Kanonisierung der Geschichte der politischen Philosophie plazieren. Auf diesem Feld ist die Arbeit von George H. Sabine die wichtigste, da Strauss und Cropsey sich von ihr polemisch absetzen.180 Dem180
Sheldon Wolins Buch Politics and Vision, das 1960 erschien und Kontinuität wie Innovationen im westlichen politischen Denken untersucht, war kaum ein Bezugspunkt für Strauss und Cropsey. Gleichwohl lohnt sich ein Blick auf diesen Strauss-Kritiker, nicht nur wegen der bereits behandelten Kritik, sondern wegen einiger Parallelen zu Strauss und Cropsey. Auch Wolin schreibt seine Geschichte des politischen Denkens wesentlich als eine, in der die politische Philosophie, in der das Problem politischer Ordnung zentral ist, und auch er erkennt in den modernen gesellschaftstheoretischen Konzepten einen Verfall. Aber er setzt sich mit diesen Konzepten, mit Max Weber, Emil Dürkheim und Karl Mannheim, um nur einige zu nennen, im großen Schlußkapitel unter dem Titel „The Age of Organization and the Sublimation of Politics" auseinander (Wolin 1960: 352-434).
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entsprechend werden im Vorwort die entscheidenden Akzente gesetzt, nämlich für ein ernsthaftes Verständnis von politischer Philosophie, die sich gerade nicht auf ihre Geschichte reduzieren lasse. Vielmehr sei es so, daß die großen Autoren uns heute noch Grundlegendes zu sagen hätten. Daher steht das Studium der bedeutenden Bücher großer Philosophen im Mittelpunkt politischer Philosophie. Zu der Abgrenzung gegenüber dem Historismus tritt die vom szientifischen Wissenschaftsverständnis hinzu: Politische Philosophie sei eine andere Form von Wissenschaft als Physik und Chemie, und nur wer so heranginge, erschließe sich den Reigen der großen Autoren (vgl. HPP: I). Das Grundkonzept von Strauss kann man zunächst mit den Stichworten Great Books und große Autoren charakterisieren, insofern steht er der Konzeption von Mortimer Adler nahe. Da Strauss aber eindeutig die antiken Klassiker präferiert und im modernen Denken einen Bruch mit ihnen erkennt, hebt er sich davon sogleich ab. Das Ziel ist letztlich, das Gespräch zwischen den großen Philosophen zu arrangieren und zu versuchen, den Grundproblemen auf die Spur zu kommen. Mit der Verselbständigung der politischen Theorie als Teildisziplin geht die Verselbständigung der Theoriegeschichte einher. Für Strauss war relevant, daß es auf diesem Feld in den USA eine ausgeprägte Tradition gab. Indirekt hat er sich mit drei anderen Konzepten auseinandergesetzt. Zuerst ist George H. Sabine181 zu nennen, dessen History ofPolitical Theory Gunnell wie folgt charakterisiert: „First published in 1937, this was the most important treatise since that of Dunning, and its subsequent significance was unparalleled. As David Easton noted in 1953, ,it exercised deeper influence over the study of political theory in the United States [...] than any other single work..' In its successive editions and printings, it became the basis of most undergraduate, and graduate, programs in political theory for an entire generation as well as the model for scholarship and other textbooks." (1993: 128)
Sabine vertritt im Prinzip eine gemäßigt historisch-kontextualisierende Konzeption, und in diesem Sinne schreibt er die Geschichte der politischen Theorien. Seine Hauptteile stehen unter folgenden Titeln: politische Theorie und der Stadtstaat, die Theorie der universalen Gemeinschaft (gemeint sind damit alte römische Theorien bis hin zu konziliaren Theorien des kirchlichen Regimentes), und schließlich die Theorien des Nationalstaates, worunter alle Theorien seit Machiavelli über Hegel, Marx bis zum Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus gefaßt werden. An der Anlage erkennt man das historisierende Herangehen. Sabine argumentiert kontextualistisch, d.h. er bezieht die Theorien auf zeithistorische Umstände und Problemstellungen, und innerhalb dieses breiten Ansatzes spielen - außer den großen Theoretikern - politische Strömungen und Ideen eine erhebliche Rolle.
181
Daß Strauss Sabine kennt, macht auch der Dank von Easton an Strauss für einen Kommentar zum Kapitel X von Eastons The Political System deutlich. In diesem Kapitel wird unter dem Titel „Decline of Political Theory" der Historismus in der Theoriegeschichtsschreibung bei Dunning, Mcllwain und Sabine ausführlich diskutiert. Direkt hat er sich in Political Philosophy and the Crisis of Our Time zu ihm geäußert. „It is, strictly speaking, absurd to replace political philosophy by the history of political philosophy. It means to replace a doctrine which claims to be true by a survey of errors, and that is exactly what Sabine, for example, does" (Crisis: 227).
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Sabines skeptischer Relativismus richtet sich auch gegen das Naturrecht, das er mit Hume kritisiert. Durch diese Kritik und die liberale Grundeinstellung ist er wirklich ein Antipode zum Konzept von Strauss. Trotz historisch-relativistischer Elemente deutet Sabine die historische Abfolge von Theorien als Beiträge zu der politischen Theorie, wobei politische Theorie hier mehr ist als politische Philosophie im engeren Sinne. In einem Aufsatz zu diesem Problem hat Sabine den Unterschied deutlich markiert. Die Beiträge, die in seinem Lehrbuch zur Geschichte der Theorie als Fortschritte der Theorie festgehalten werden, sind letztlich alle auf seinen an Hume geschulten skeptischen Liberalismus bezogen. Sabine hat sein Verständnis von Theorie in einem Aufsatz mit dem Titel What Is a Political Theory 1939 expliziert. Er behauptet, „when political philosophy is produced in quantities, it is a sure symptom that society itself is going through a period of stress and strain" (1939: 3). Jede politische Theorie habe drei Faktoren: Faktische Aussagen, die auch die Anlässe ihrer Entwicklung reflektieren, kausale Aussagen darüber, wie es zu einem bestimmten Zustand kam und wie man ihn möglicherweise überwinden kann, und schließlich wertbezogene Aussagen über das, was als wünschenswert erscheint. Sabine bezieht sich hier mit einiger Distanz auf den pragmatistischen Ansatz von Mead und Dewey. Er betont, daß die genannten Faktoren primär analytische Unterscheidungen sind (1939: 6). Auf dieser Grundlage bestimmt er eine Doppelrolle politischer Theorien: Sie gehören einesteils zur akademischen Welt der Logik und Abstraktionen, andernteils beziehen sie sich auf Werte und Glaubenssätze - Faktoren, die für das Leben relevant sind. Insofern spiele politische Theorie immer auch eine öffentlichpolitische Rolle (1939: 10). Für Sabine nehmen die modernen politischen Ideen und insbesondere die der Demokratie bei den Griechen ihren Anfang. Er macht keinen scharfen Gegensatz zwischen dem antiken und modernen Denken auf und steht schon damit in Opposition zu Strauss. Ihre zentrale Differenz liegt indes im Verhältnis zur historischen Methode. Sabine ist Historist in dem Sinne, daß er die Theorien kontextualistisch begreift, gleichsam als historische Beiträge zu der politischen Theorie. Für Strauss ist dies Historismus im Sinne einer Auflösung von Theorie in Geschichte, und er sieht mit diesem Historismus einen grundsätzlichen Wertrelativismus verbunden. Auch Easton kritisiert Sabine dahingehend (vgl. 1953: 249-254). Beide fahren somit schwere Geschütze gegen Sabine auf, der nur in letzter Konsequenz und nur methodisch Relativist ist. Normativ befürwortet Sabine eindeutig die liberale Demokratie und beschreibt in dieser Hinsicht Fortschritte in der Theorieentwicklung, die oft nur in harten Debatten errungen wurden. Zudem widersetzt er sich einer einfachen Trennung von Fakten und Werten. Die zweite sehr wirksame Linie, mit der sich Strauss indirekt auseinandersetzt, repräsentiert Arthur O. Lovejoy, der ein Paradigma der Ideengeschichte entwickelt hat, das er in der Monographie The Great Chain of Being (1937; dt. 1985) und mit der Gründung der Zeitschrift History of Ideas entfaltete. Die erste Ausgabe der Zeitschrift (Januar 1940) enthält einen konzeptiven Aufsatz, der Aufmerksamkeit verdient.182 Dort wird programmatisch festgehalten, daß die Geschichte der Ideen gegen eine „departementalization" (Lovejoy 1985: 4) gerichtet ist, d.h. gegen die Versuche, Probleme in Schubla182
Zu Lovejoy vgl. den Schwerpunkt des Journal of the History of Ideas, vol. XLVIII, No. 2.
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den („subjects", „periods", u.a.m.) einzuzwängen. Zudem wird behauptet, „knowlege of history of Ideas has an independent value" (ebd.: 9); was eine Abgrenzung von wissenssoziologischen Reduktionen geistiger Gehalte darstellt. Lovejoy plädiert für die Untersuchung des Einflusses des klassischen auf das moderne Denken, und zwar umfassend. Für ihn gilt es, den Einfluß der philosophischen Ideen auf Kunst, Literatur, Religion und Soziales zu denken und darüber hinaus auch noch den Einfluß wissenschaftlicher Entdeckungen und Entwicklungen auf weltanschaulich-geistige Strömungen zu berücksichtigen. Angestrebt wird also eine, weite philosophisch inspirierte und geistesgeschichtlich verstandene Ideengeschichte, jenseits traditioneller akademischer Grenzziehungen (ebd.: 7f.). Lovejoy ist überzeugt, daß die Geistesgeschichte auf nur wenigen Grundideen beruht, die variiert und verschieden kombiniert werden. In gewisser Hinsicht erinnern diese Grundideen an das, was bei Strauss die ewigen Grundprobleme sind; zwischen beiden bestehen zwar erhebliche Unterschiede, aber sie sind jeweils im Rahmen einer philosophia perennis gedacht. Wenn man begreifen will, wie Strauss mit seinem Konzept so wirksam werden konnte, dann sind vor dem skizzierten Kontext die Bildung des Kanons der politischen Philosophen und die Arbeit an ihm näher zu betrachten. Sie machen einen wesentlichen Teil der kognitiven Identität dieser wissenschaftlichen Schule aus. Das wohl wichtigste Lehrbuch der „Straussians" ist History of Political Philosophy, in dem der Kanon ausgeformt wurde und das eine breite Wirkung erfahren hat. Es wurde von Strauss und Joseph Cropsey einem Kollegen und Vertrauten von Strauss am Chicagoer Department of Political Science ediert.183 Der Kanon Ausgangspunkt für das Verständnis des Kanons ist, daß das Textbuch für Undergraduates nur zur politischen Philosophie hinfuhren und die basalen Probleme höchstens streifen kann. Es ist also in gewisser Hinsicht exoterisch; das gilt umso mehr, als die Grundfragen der interpretativen Methodik von Strauss, die er in Persecution and the Art of Writing entfaltet hat, hier keine Rolle spielen. Die öffentliche, auf den Universitätsbetrieb bezogene Präsentation ist politische Philosophie I (vgl. Kap. 4.1.), und zwar in pädagogisch-rhetorischer Hinsicht. Die durchgehenden grundsätzlichen Fragen, die prinzipiellen Alternativen werden als solche kaum sichtbar, und damit verläuft auch der Weg zur eigentlichen politischen Philosophie, die sich den Grundfragen selbst zuwendet und sich nicht nur rhetorisch für ihre Existenz vor dem Gemeinwesen rechtfertigt, über die methodischen Schriften und Monographien von Strauss. Der praktische universitäre Zweck und die strategische Absicht führen unter modernen Bedingungen zum Kanon, der sich im Rahmen des Paradoxes zwischen der politischen Philosophie I und der politischen Philosophie II bewegen muß. In diesem Sinne müssen die großen Autoren, das 183
Cropsey (Philosoph und Ökonom) ist 1958 nach Chicago an das Department of Political Science gekommen. Er kennt Strauss aus seiner Zeit an der New School und wird rasch mit der Mitherausgeberschaft der History of Political Philosophy betraut, in der er die Aufsätze zu Smith und Marx verfaßt hat. Cropsey ist der „Literary Executer" von Strauss Nachlaß und hat den ersten Sammelband zu Strauss herausgegeben (vgl. Cropsey 1964). Allgemein zu Cropsey vgl. Smith 1996.
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heißt die Klassiker unter Einschluß der modernen, die den Verfall bewirkt haben, behandelt werden, die gemeinsame Darstellung macht den Reiz der Textbuches aus, an dem sich Präferenzen ablesen lassen. Auch im Lehrbuch werden nur die großen Autoren und magistralen Werke behandelt; für eine Entwicklung des Denkens und die Einbettung in historische Umstände bleibt kaum Platz. Unter diesen Prämissen hat der Kanon von Autoren der Geschichte der politischen Philosophie bei Strauss/Cropsey folgende Grundstruktur: am Anfang stehen selbstverständlich die antiken Klassiker, daran anschließend werden mittelalterliche Vermittler (Maimondes, al-Farabi, Thomas von Aquin) behandelt, wobei das Verhältnis von Politik und Theologie im Mittelpunkt steht. Die Aufnahme von Farabi und Maimonides wird im Editorial der ersten Ausgabe eigens erwähnt; ohne allerdings auf die bei beiden prominente Beziehung zwischen esoterischem und exoterischem Schreiben Bezug zu nehmen. Antike und mittelalterliche Denker nehmen viel Raum ein. Danach stehen jene Theoretiker im Zentrum, die den Bruch mit dem klassischen Denken vollziehen, und zwar auf der einen Seite Machiavelli und Hobbes, auf der anderen Seite werden Luther und Calvin thematisiert, was wenig verwundert, wenn man das Verhältnis von Theologie und Philosophie für wichtig hält (beide Autoren sind bei Wolin auch mit jeweils einem ganzen Kapitel, V bzw. VI, bedacht). Indes gilt für beide Theologen, was man in Strauss' Perspektive zugestehen müßte, daß sie zwar einflußreich sind, aber keine politische Philosophie haben, wenn man einen strikten Begriff anlegt. Da für die amerikanische politische Kultur die Entwicklung des Protestantismus so wesentlich gewesen ist, konnte man sie in einem theoriegeschichtlichen Werk schlecht ausklammern. Auch Descartes und Bacon sind keine genuin politischen Philosophen. Der Grund für die Aufnahme der Themen und Autoren in den Kanon liegt in der neuen Relationierung von Theologie und Philosophie und, was Descartes und Bacon betrifft, im Aufzeigen der neuen Art des Philosophierens, im neuen Rationalismus, der für die Aufklärung wichtig wird. Descartes und Bacon fungieren exemplarisch als Aufklärer. In diesem Sinne werden dann auch Spinoza und andere Aufklärer behandelt, bei denen eine Niveauabsenkung des politischen Philosophierens durch Abwendung von der Antike und der für sie charakteristischen Fragen erfolge. Mit Rousseau setzt für Strauss bekanntlich die Krise der Moderne ein, aber auf besonders widersprüchliche Weise, denn er rekurriert ja gerade auch auf die griechische Philosophie und formuliert mit modernen und antiken Mitteln eine höchst einflußreiche Zivilisations- und Moderne-Kritik. Dieser wie jeder andere Kanon ist eine Sammlung autoritativer Texte, mit der bestimmte Probleme und Sichtweisen festgeschrieben und eine Tradition geschaffen werden. Ein Kanon ist aber nicht nur eine positive Bestimmung, sondern zugleich schließt er andere Strömungen aus und verbürgt dadurch auch Identität. Im Sinne einer Abgrenzung setzt sich Strauss' Kanon ausgewählter politischer Philosophen vom Historismus und von positivistischer politischer Theorie ab. Die Kanonisierung von Texten wird in der Regel begleitet von einer Selbstautorisierung zur angemessenen Auslegung durch jene, die den Kanon schaffen. In diesem Sinne argumentieren die „Straussians" stets im Modus großer Gewißheit - wissen, was die eigentlichen Probleme sind, wissen, wer Philosoph ist bzw. wer nicht - und können qualitativ unterscheiden zwischen den klas-
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sischen politischen Philosophen und jenen, die unter den Bedingungen des Verfalls philosophieren bzw. diesen selbst bewerkstelligen. Blickt man auf die Darstellung einzelner moderner Stränge der philosophischen Entwicklung bei Strauss und Cropsey, so ist die amerikanische Tradition nur in geringem Maße vertreten. Bestandteil des Kanons sind die Federalist's Papers', die AntiFederalists, die Storing später ausgräbt und die für die „Straussians" ja wichtig sind, spielen noch keine Rolle. Dennoch wird schon im Vorwort (HPP: 6) darauf verwiesen, daß der frühe amerikanische Republikanismus auf klassische politische Philosophie zurückverweise. In gewisser Hinsicht gehört zur amerikanischen Linie auch Tocqueville mit seinem klassischen Werk über die amerikanische Demokratie. Der Band enthält allerdings auch eine erwähnenswerte Besonderheit, die darin besteht, daß von der ersten Ausgabe an mit John Dewey nur ein einziger moderner Amerikaner Eingang in die Reigen der großen politischen Philosophen findet. Ansonsten sind wegen ihrer Ausnahmestellung fiir die Selbstdeutung der amerikanischen politischen Kultur die Federalist-Papers und Tocqueville Gegenstand. Was aber sprach für eine Aufnahme von Dewey in den Kanon? Neben den Auswahlkriterien von Strauss, nämlich im Prinzip nur große und bedeutende Philosophen zu berücksichtigen, war bestimmt Deweys enorme Wirksamkeit ein wichtiger Faktor. Schwerer wiegen allerdings inhaltliche Gründe, eine bloße Konzession an die amerikanische Wissenschaft ist wohl auszuschließen. Was Dewey fur Strauss und seine Schüler attraktiv macht, sind vor allem einige Fragestellungen; so wirft er in seiner Kritik des Liberalismus das Problem politischer Ordnung auf, das für Strauss so wesentlich ist. Der wichtigste Grund könnte allerdings sein, daß er das Problem der Lebensführung exponiert. Dewey denkt Demokratie ja bekanntlich als eine allgemeine Lebensform, und diese Überlegung bildet, wie Robert Horwitz im entsprechenden Kapitel hervorkehrt (HPP 1963: 747), den Angelpunkt seiner Erneuerung, seiner Rekonstruktion der Philosophie. Dewey steht damit in striktem Gegensatz zu Strauss, denn er optiert für die Vita activa und deren philosophische Durchdringung, und nicht für die Vita contemplativa wie Strauss.184 Wie weit der Gegensatz zwischen den platonistischen „Straussians" und Dewey reicht, hat Richard Rorty einmal pointiert. Er formuliert: „Both Platonists and Deweyans take Socrates as their hero. For Plato, the life of Socrates did not make sense unless there was something like the Idea of the Good at the end of the dialectical road. For Dewey the Life of Socrates made sense as a symbol of a life of openness and curiosity." (1988: 31)
Viel stärker als die amerikanische ist die englisch-angelsächsische Linie in der History of Political Philosophy repräsentiert - als Autoren werden hier Hooker, Locke, Hume, Blackstone, Smith, Paine, Burke und John Stuart Mill behandelt. Diese Auswahl enthält kaum bemerkenswerte Unterschiede zu anderen theoriegeschichtlichen Überblicksarbeiten; es fallt allerdings auf, daß - anders als bei Sabine - republikanische Denker wie Harrington, Milton und Sidney nicht aufgenommen wurden. 184
Auch in der Rezension von Dewey's German Philosophy and Politics (2. Aufl. 1942), in WPP (279-281), kritisiert Strauss dessen Progressismus und den Glauben an die experimentelle Methode.
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Mit der angelsächsischen Linie verglichen fallt die deutsche Linie knapp aus, denn außer Hegel, Marx und Nietzsche findet kein weiterer Autor Eingang, nicht einmal fiir Immanuel Kant war Platz in der ersten Auflage. Nun kann man immer pragmatische Gründe für Beschränkungen geltend machen, aber das wenige, das übrig bleibt, hebt die Präferenzen der Autoren nur noch deutlicher hervor, etwa wenn es abzuwägen gilt, ob man nun Kant oder Hegel aufnimmt. Daß Hegel bevorzugt wurde, zeigt den Ausschluß von wirkungsgeschichtlichen Kriterien ebenso an wie eine Bevorzugung des Ordnungsdenkers, der mit metaphysisch-ontologischen Prämissen arbeitet und im Kampf um Anerkennung auch über Motive existentiellen Denkens verfügt. Der metaphysikkritische Kant, der ein Vordenker des Liberalismus war, muß demgegenüber zurückstehen. Eine weitere Besonderheit des philosophiehistorischen Lehrbuches ist die Thematisierung von Nietzsche. Man kann sich durchaus darüber wundern, wie dieser Autor in ein für amerikanisches Publikum geschriebenes Lehrbuch politischer Philosophie kam. Etwa weil er so einflußreich und politisch bedeutsam war? Das hieße, doch wirkungsgeschichtliche Kriterien anzuziehen und damit auch historischen Argumenten Raum zu verschaffen. Bei der Klärung der Kriterienfrage muß man einen Moment innehalten. Die wirkungsgeschichtliche Dimension im politischen Sinne dürfte für Strauss und seine Schüler kein Kriterium für die Auswahl im engeren Sinne sein. Eine Erklärung bietet der Aufsatz von Werner J. Dannhäuser. Er thematisiert Nietzsche als Zeitdiagnostiker und Therapeuten, der einen hohen Begriff vom Philosophen hat und sich kritisch gegen alle zeitgenössischen Konzepte wendet. Als besonders wichtig erscheint Nietzsches Kritik des Historismus, dabei sei er aber halbherzig und kippe in den Relativismus ab. Daneben spielen Bewunderung und Auszeichnung vorsokratischer Philosophie und griechischer Kultur eine Rolle. Die politische Seite von Nietzsche im engeren Sinn wird in der Umwertung der Werte, der mit der Verkündung von Gottes Tod verbundenen Entdeckung menschlicher Kreativität, der Vorhersage von kommender „apocalyptic politics" (HPP: 743) und der politisch wichtigen Kritik am Marxismus erkannt. Der sich auf Nietzsche beziehende Nationalismus und auch die nationalsozialistische Bewegung könnten zu Recht an ihn anknüpfen, denn er verfüge über diese problematischen Seiten. Hier wird, wiewohl nochmals ausdrücklich von Nietzsches politischer Philosophie die Rede ist, nicht aus dem Kern seiner Philosophie argumentiert, sondern bloß eine Verbindung zwischen theoretischen Gedanken und politischen Auffassungen hergestellt (HPP: 744). Insgesamt hat die History of Political Philosophy eine traditionelle Anlage, in der Darstellungen großer Denker dominieren. Zentrale Themen, die für die Strauss-Schule wichtig sind, wie die vom Verfall der politischen Philosophie in der Moderne, stehen nicht im Vordergrund, sondern sie sind Hintergrundannahmen, welche die Auswahl und die Proportionen leiten. Gleiches gilt für die tiefenhermeneutische Problematik des Esoterischen/Exoterischen; sie wird in dem Textbuch nicht ausgebreitet und spielt selbst in den Artikeln zu Plato, al-Farabi, Maimonides, also bei der Thematisierung von Autoren, bei denen sie wesentlich ist, keine Rolle. Strauss und Cropsey sind in ihrer Auswahl doppelt restriktiv, d.h. sie nehmen im Prinzip nur Philosophen auf und schließen sich damit gegenüber dem weiter gefaßten politischen Denken ab. Aber das Vorgehen ist nicht konsequent. So wurde in die zweite Auflage der Historiker Thukydides aufgenommen und gleichsam zum Philosophen geadelt. Nun gibt es aber eine ganze Reihe
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weiterer interessanter Kandidaten, die eher historisch-politische Denker sind und keinen Platz in der Auswahl fanden, man denke etwa an Polybius, John Milton und andere mehr. Ausgeschlossen aus dem Kanon werden im Prinzip auch alle gesellschaftstheoretischen Ansätze, wenn man von Marx einmal absieht. Für Max Weber ist, trotz der großen Kritik von Strauss an ihm, kein Platz. Die Kanonisierung von Texten ist nicht nur eine Eingrenzung dessen, was als wichtig erachtet wird, sondern sie hebt die Autoren auf ein besonderes Niveau. Nur ihnen wird zugeschrieben, die grundsätzlichen Probleme zu verhandeln. Zugleich stellt der eingegrenzte Kanon einen Rückhalt für den oft reklamierten „Kult" der „Straussians" dar. Damit ist nämlich nicht einfach eine Verehrung des Lehrers gemeint, sondern der Rückbezug aller Fragen auf eine eingegrenzte Reihe von Autoritäten. Dieser Rückhalt und die damit verbundene gemeinsame Sicht von Problemen sind die Basis für die für „Straussians" charakteristische enorme Selbstgewißheit, über die richtige Sicht zu verfügen. Es handelt sich dabei um einen Rückbezug, der dem auf eine Schlüsseltheorie ähnlich ist alle Fragen werden letztlich auf die eine an die antike Philosophie angelehnte unbedingte Frage, nach dem einen, was nottut, bezogen. Rorty hat den Umgang mit den kanonischen Autoren und den antiken Ansätzen einmal treffend wie folgt pointiert: „Straussians typically do not countenance alternative, debatable interpretations of those writers, but rather distinguish between their own ,authentic understandings' and others' ,misunderstandings'. In this respect they resemble the Marxists and the Catholics." (1988: 29)
Es bleibt festzuhalten, daß die History of Political Philosophy viel breiter angelegt ist als die Knotenpunktgeschichte, die Strauss sonst gibt, etwa in Naturrecht und Geschichte oder den Aufsätzen zu den Wellen der Moderne (Strauss in Gildin 1989: 81-98). Auch in der Lehre betritt Strauss weitere Felder, wie etwa die Beispiele der HegelVorlesungen185, die er wiederholt hielt, und der späten Nietzsche-Vorlesung (1967) verdeutlichen. Sein hohes Ziel, nämlich das Gespräch zwischen den großen Philosophen zu arrangieren, kann Strauss hier nicht verfolgen, weil dazu erst die Grundlagen zu legen sind. Insofern wird mit der History of Political Philosophy zwar ein Kanon formuliert, die esoterischen Tiefendimensionen des ausgewählten Theoretikers können jedoch schon aus pädagogischen Gründen nicht in einem Lehrbuch angesprochen werden. Strauss ist übrigens nicht der einzige Deutsche, der in den 1950er Jahren einen „Ersatz" für Sabines Standardwerk schreibt. Auch Eric Voegelin sitzt in dieser Zeit an seiner mehrbändigen Geschichte politischer Ideen, die er 1951 mit seiner Walgreen Lecture definitiv zugunsten einer neuartigen Geschichte der politischen Ordnungen, ihrer symbolischen und theoretischen Repräsentationsformen fallen läßt, die dann in Order and History Gestalt angenommen hat (vgl. Opitz 1991: 276f.). Arbeit am Kanon Ein interessantes Feld sind die Veränderungen an der History of Political Philosophy, die Strauss und Cropsey und später die „Straussians" vornehmen, da sie die Arbeit am 185
12 Vorlesungen von Strauss, Herbst 1958; vgl. Papers of Leo Strauss, Joseph Regenstein Library, Special Collections, Box 20; Montesquieu-Vorlesung Winter-Frühjahr 1966, Box 21; NietzscheVorlesung 1967 ebd.
AUSBAU DER SCHULE UND KONTROVERSEN UM SIE
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Kanon der einschlägigen Autoren und Veränderungen im Selbstverständnis der Schule widerspiegeln. 1963 - in der ersten Auflage dieses Lehrbuches - dominieren zwar „Straussians" als Autoren, was auch in Rezensionen ausdrücklich vermerkt wird, aber 186 es sind noch eine Reihe anderer Autoren dabei. Zu nennen wären hier zum Beispiel Charles McKoy (St. Augustin, St. Thomas Aquinas), Pierre Hassner (Hegel). Offensichtlich konnte seinerzeit das ganze Spektrum der ausgewählten Philosophen noch nicht durch „eigene Leute" bearbeitet werden. Auffallig ist darüber hinaus, daß die Ergänzungen zum größten Teil aus religiös orientierten Universitäten kommen (Catholic University of America, Madras Christian College, St. Johns College). In der zweiten Auflage (1972) gibt es dann gerade bei den Autoren signifikante Veränderungen; einige Autoren werden durch solche ersetzt, die der Schule näherstehen. Das Oberhaupt der Schule ist nun, neben Aufsätzen zu Piaton und Marsilius von Padua, auch mit einem Beitrag über Machiavelli vertreten. Erneuert werden darüber hinaus auch die Artikel über Augustinus bzw. Thomas von Aquin, und neu aufgenommen wurde das Kapitel über Immanuel Kant. Größere Revisionen enthalten die Abschnitte zu Descartes und Locke. Die History of Political Philosophy setzt jetzt einen Standard, der repräsentativ den Auffassungen der Schule über den Kreis kanonischer Autoren entspricht. Ein neues Stadium der Schulentwicklung kündigt die wichtigste Veränderung der nächsten Auflage an. Nach dem Tod des Schulgründers ergänzen der Mitherausgeber Joseph Cropsey und die Schüler in der Ausgabe von 1987 den Kanon um Husserl und Heidegger, die für Strauss zwar wichtig waren, aber keine politischen Philosophien hatten. Diese Aufweichung des Kanons hat einen weiteren Aspekt, denn mit dieser Veränderung und der Ergänzung des Kreises kanonischer Autoren durch Xenophon und Thukydides ist die Kanonisierung von History of Political Philosophy als Schuldokument an ihr Ende gekommen. Nun verwalten und ergänzen die Schüler das Erbe und plausibilisieren im Vorwort die Aufnahme von Husserl und Heidegger eben nicht mit deren Bedeutung für die Geschichte der politischen Philosophie, sondern mit der Bedeutung, die diese Autoren für Strauss hatten. Wenngleich Strauss nicht zum kanonischen Autor gemacht wird, so wird er auf die geschilderte Weise indirekt in den Kanon einbezogen. Eine Aufnahme von Strauss in den Kanon ist ja auch dadurch erschwert, daß er sich selbst nicht als politischen Philosophen bezeichnet hat. Allan Bloom hat dies und indirekt die davon divergierende Sicht der Schüler einmal trefflich fixiert. Nachdem er ihn einen Philosophen genannt hat, für den er ihn auch hält, schränkt er sogleich ein, daß er sich selbst nicht so genannt hat, „for he was too modest and he had too much reverence for the rare human type and the way of life represented by that title to arrogate it to himself, especially in an age when its use has been cheapened" (Bloom 1974: 376). Blickt man vor dem Hintergrund des andauernden Streites, der in den USA um den Kanon in der politischen Theorie, aber auch in der Literaturwissenschaft geführt wird, 186
In der Annotation (American Political Science Review, vol. LVII, Sept. 1963: 688) heißt es: „This undergraduate textbook presents discussions of 35 great names in the history of political philosophy ranging in time from Plato to John Dewey. Most of the 27 authors are members of the senior editor's ,school', but the book is adressed ,to those who do not believe that political science is scientific as physics and chemistry are subjects from which their own history is excluded' (HPPP: I), and so few of the essays are polemical. - A.R.".
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auf Strauss' Lehrbuch zurück, so erscheint der Versuch der Kanonisierung von Tradition als eine Selbstbehauptungsstrategie in einer kompetitiven Wissenschaftslandschaft, für die es in Deutschland keine Parallele gibt. Ein Grund dafür ist gewiß das viel weniger staatlich verfaßte Bildungssystem, das die Fortsetzung des Streites garantiert. Ein weiterer ist die seit Anfang des 20. Jahrhunderts währende Entwicklung der Politikwissenschaft als Disziplin mit einer Reihe von Subdisziplinen, die ihre Identität gerade in Debatten behaupten. Die konservative Position der „Straussians" schlägt sich nur teilweise in der Auswahl des Kanons nieder; so bringen sie, was die Zeit bis Ende des 19. Jahrhunderts angeht, im Prinzip jene Autoren, die auch heute als Standards gelten, und müssen sich generell den Vorwurf des Eurozentrismus und der Fixierung auf die großen weißen Männer gefallen lassen. Bei Strauss ist diese Engführung nur in einem Punkt überwunden, nämlich durch die Thematisierung der „mittelalterlichen" Plato- und Aristoteles-Rezeption bei al-Farabi und Maimonides. Ansonsten ist er auf die „großen Bücher" fixiert, und kritisch-emanzipatorische Theoretikerinnen bleiben in dieser Art von Theoriegeschichtsschreibung ebenso unberücksichtigt, wie durch die Ausblendung des politischen Denkens im weiteren Sinne jene theoretischen Stränge vernachlässigt werden, in denen die Bürgerrechtsproblematik entwickelt wurde. Im Streit um den Kanon zeigt sich auch, was für die „Straussians" zu den zentralen theoretischen Aufgaben gehört, nämlich Textpflege, d.h. Übersetzungen, sowie Interpretationen. Es kommt darauf an, den Geist der klassischen politischen Philosophie durch die Geschichte zu tragen und lebendig zu erhalten. Diese Aufgabe im Gegensatz zu allem modernen politischem Denken realisieren zu können, erfordert eine heroischkritische Einstellung, die im Rahmen der Schule offenbar vermittelt wurde. Die Schaffung des Kanons ist allerdings nur ein Anfang von Textpflege als Einheit von Edieren, Kommentieren und Auslegen.
9.3
Ausdehnung und Tradierung der Schule
Für den Erfolg der Strauss-Schule ist die Verbindung der theoretischen Texte und der zeitdiagnostischen Überlegungen wesentlich, da gerade letztere für die politischöffentliche Wirkungsgeschichte von Belang sind. Insgesamt gesehen, hat Strauss diese Seite seiner Schriften nicht in den Vordergrund gestellt, wenn man einmal von den bildungspolitischen Überlegungen absieht. Erst posthum sind die entsprechenden Texte, insbesondere durch Hilail Gildin (1975, 1989) gesammelt worden und haben dann zeitverzögert, vor allem in zwei Schüben - nämlich seit Ende der 1970er Jahre als neokonservative Kulturkritik, und nach dem Ende des Kommunismus - ihre andauernde Wirkung entfalten können. Man muß einen Blick auf die Strauss-Texte selbst und ihre Grundthesen sowie die generelle Krisensemantik, durch die sie miteinander verbunden sind, werfen, um Ursachen für ihre erstaunliche allgemeine Verwendbarkeit finden zu können. Nach einer Skizze von Strauss' Krisendiagnosen und Therapievorschlägen zeige ich punktuell ihre Bedeutung für die Wirkungsgeschichte auf.
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9.3.1 Strauss' Zeitdiagnosen Strauss ist in seinem Denken von der Weimarer Zeit und der Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus geprägt, und er setzt diese Zeitdiagnostik modifiziert im Kalten Krieg fort. Aber der Rahmen, nämlich eine generelle Auseinandersetzung mit dem, was er seit Anfang der 1940er Jahre das „modern project" nennt, bleibt im wesentlichen bestehen. Dieses Projekt, so Strauss' immer wieder variierte These, führe zu einer Instrumentalisierung der politischen Philosophie und ihrer Verwandlung in Ideologie, womit letzte Maßstäbe gingen verloren, die für die geistig-moralische Orientierung nötig seien. Die metapolitische Moderne-Kritik von Strauss zielt auf eine innere Geistesgeschichte und entfaltet so ihre Dramatik. Aber erst durch eine Modifikation der Krisendiagnose, die das Niveau einer allgemeinen Moderne-Kritik beibehält, wird der Weg zu größerer Wirksamkeit eröffnet. Mitte der 1950er Jahre gibt es nämlich eine Akzentverschiebung: Strauss interessiert nun nicht nur der Verfall der politischen Philosophie und die sich ausbreitende Orientierungslosigkeit in der Moderne, sondern er will und muß - insbesondere angesichts des raschen Wandels der amerikanischen Gesellschaft - auf die Frage antworten, worauf die Dynamik des Westens beruht. Zugleich betrachtet er den Westen vergleichend mit seinem Feind im Systemwettbewerb, dem Kommunismus, und zieht daraus allgemeine Konsequenzen. Die Dynamik des Westens wird also zum Problem, und Strauss führt sie letztlich auf einen geistig-konzeptuellen Gegensatz zurück, nämlich auf den Gegensatz von Athen und Jerusalem (Return: 265). Das überrascht auf den ersten Blick, denn die ModerneKritik von Strauss lief ja gerade darauf hinaus, diesen Gegensatz in seiner ursprünglichen Gestalt und Bedeutung wiederzuerkennen und zu restituieren. Was also ist damit gemeint, wenn dieser Gegensatz nun zum Motor westlicher Dynamik erklärt wird? Schwächt Strauss seine Moderne-Kritik ab? Eine Antwort auf diese Fragen setzt einen Blick auf die Schlüsselpassagen vor allem des Textes Progress or Return voraus. Der Titel ist durchaus programmatisch; Strauss will nämlich zeigen, daß das jüdische Denken nicht auf Fortschritt und auf eine verdeckte Geschichtsphilosophie setzt, wie viele moderne Interpreten meinen, unter ihnen auch Cohen. Vielmehr sei das Motiv der Rückkehr zentral, und Strauss formuliert in diesem Sinne zwei Thesen: „Repentence is return; redemption is restoration. [...] Judaism is a concern with return, is not a concern with progress" {Return: 250f.). Das so verstandene Judentum ist eine Ressource für Strauss' obsessive Auseinandersetzung mit der Geschichtsphilosophie und dem Historismus, deren Ergänzung die Annahmen der klassischen Philosophen über die Zufälligkeit historischen Geschehens und einen kreislaufartigen Wandel politischer Formen bilden. Wie Strauss den Gegensatz von Athen und Jerusalem zum Treibsatz der Moderne macht und wie er ihn in den Gegensatz der Alten resp. Antiken und Modernen übersetzt, zeigt am besten das folgende Zitat. „The core, the nerve of Western intellectual histoiy, Western spiritual history, one could almost say, is the conflict between the biblical and the philosophic notions of the good life [...] it seems to me that this unresolved conflict is the secret of the vitality of Western civilization."
(Return: 289)
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Und an anderer Stelle erfolgt die Übersetzung in den Gegensatz Antike - Moderne, der gleichsam der Moderne eingelagert wird: „The real quarrel between the ancients and moderns did not concern the drama, of course, but concerned modern science and philosophy" {Return: 269). 187 Was aber ist, nachdem der Gegensatz von Athen und Jerusalem in den der Alten und Modernen übersetzt wurde, dieser Gegensatz selbst? Er ist vor allem ein Gegensatz in der Art und Zielbestimmung des philosophischen Denkens und insofern verwundert es nicht, wenn Strauss auch bei dieser Gelegenheit Merkmale der antiken und der modernen Philosophie (Anthropozentrismus, Akzentuierung subjektiver Rechte, Historismus) miteinander kontrastiert. Bei der Bestimmung des Gegensatzes sind zwei Fragen zu unterscheiden: nämlich zum einen, was der Gegensatz von Athen und Jerusalem im Altertum bedeutet, und zum anderen, wie man ihn allgemein fassen kann; das heißt auch, was er in der Moderne bedeutet. Nur in diesem Kontext läßt sich dann auch klären, wohin eigentlich zurückgekehrt werden soll. Zuerst weist Strauss auf negative Gemeinsamkeiten von Athen und Jerusalem hin, sie stehen in Opposition zu den genannten drei Elementen modernen Denkens {Return: 273). Darüber hinaus gibt es eine positive Gemeinsamkeit. Im Mittelpunkt des Denkens, das mit der Chiffre Athen und Jerusalem bezeichnet wird, steht die Gerechtigkeit, und es wird in diesem Zusammenhang jeweils das „divine Law" thematisiert (Return: 275, 287). Doch die Art der Thematisierung von Gerechtigkeit und göttlichem Gesetz ist divergierend. Philosophie als eine Lebensform zielt auf das Denken der Gerechtigkeit schlechthin, und dieses Denken habe, wie Strauss mit Jehuda Halevi betont, bei den Griechen zwar „most beautiful blossoms, but no fruits" (Return: 279). Die jüdische Religion dagegen zielt auf das Handeln selbst, das Gesetz und seine Auslegung behandeln die politische Ordnung konkret als durch eine ganze Reihe verbindlicher Regeln und Handlungsanweisungen bestimmt. Aus diesen divergierenden Orientierungen erwachse ein säkularer Konflikt zwischen der Bibel und der Philosophie, für den es keine Synthese gibt. Die Antworten auf die Frage Wie soll ich leben? sind nicht nur gegensätzlich, sondern Strauss schließt auch aus, daß man gleichzeitig Philosoph und Theologe sein kann, und lehnt trotz der gezeigten thematischen Verschränkung von Philosophie und Theologie jede politische Theologie ab. Was implizieren diese Reflexionen für die Frage, was von dem Gegensatz zwischen Athen und Jerusalem in der Moderne noch virulent ist, partiell als Treibsatz wirkt und in verstärkter Weise freizusetzen sei? Zunächst zweierlei: Zur Philosophie im eigentlichen, klassischen Sinn kann man nicht einfach zurück, weil sie am Boden liegt (Return: 298), aber auch die historistische Ablehnung des Offenbarungsglaubens ist ein Problem, da sie das Verständnis von Religion verstellt. Man muß also erst einmal den Weg für die Umkehr bereiten. Das erfordert einen Blick auf die Bezugsgröße, für die der Gegensatz von Jerusalem und Athen als ideeller Treibsatz behauptet wird, nämlich den Westen. Wenn Strauss so großflächig argumentiert, dann muß mit dem Westen, mit westlicher Zivilisation immer mehr als die Moderne gemeint sein, etwa das Abendland oder, an187
Nebenbei gesagt, Strauss schätzt Swift außerordentlich und hält seine grandiose Satire The Battle of books fur eine besonders gelungene Darstellung des Streites der Alten mit den Modernen; Swift gebe völlig zu Recht den Alten den Sieg.
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ders gefaßt, die westliche Zivilisation seit der „Achsenzeit". Nur so können der Verfall und die Vitalität des Westens in der genannten Weise diskutiert werden, und nur durch den enormen Zeitraum des Epochenbegriffes kann Strauss die klassischen Muster, ihren Verfall und eine zumindest an sich mögliche Rückkehr zum klassischen Denken als einen Zusammenhang erörtern. Insofern er diese Herangehensweise in den 1950er Jahren ausbaut und dabei die Möglichkeiten, den Verfall in der Gegenwart zu überwinden, etwas aufwertet, schwächt er seine radikale Moderne-Kritik etwas ab. Die verschiedenen Akzente in seinem Werk kehren dann, wie ich noch zeigen werde, im Streit zwischen einer „East-Coast"- und einer „West-Coast"-Lesart wieder. Therapeutisch schlägt Strauss vor, die zwei widersprüchlichen Wurzeln des Westens tiefenhermeneutisch zu durchdringen und sie freizulegen, um die eigentliche Dynamik des Westens freizusetzen. Das ist eine starke, aber keine fundamentale Kritik. Zu letzterer wird Strauss' Konzept erst dadurch, daß er den Modernen abstreitet, in der Lage zu sein, die klassische politische Philosophie zu verstehen, da sie schon zu weit in den Verfall verstrickt seien. Mit anderen Worten: Eine radikale geistige Umkehr ist nötig. In diesem Sinne setzt Strauss darauf, zu einem natürlichen, unverstellten Verständnis des Politischen zurückzukehren, und favorisiert dafür ausdrücklich die Politik des Aristoteles (Crisis in Graham/Carey 1964: 226). Sie ist allerdings - soviel muß zugleich festgehalten werden - nicht die eigentliche politische Philosophie, deren Repräsentant Piaton ist. Wenngleich Strauss das antike Modell, die Philosophie Piatons, eindeutig präferiert, weiß er doch, daß man nicht einfach dahin zurückkehren kann. Aber man müsse von den Athenern wieder denken lernen, um in der Moderne Gegengewichte gegen deren Selbstvergessenheit und maßlosen Machbarkeitswahn wieder aufzubauen. Das theoretische Mittel, mit dem Strauss die Kritik am Fortschrittsglauben der Aufklärung und der Moderne vornimmt, ist eine Differenzierung des Fortschrittsbegriffs. Selbstverständlich gebe es in der Moderne enormen technischen, naturwissenschaftlichen und partiell auch sozialen Fortschritt, aber der Fortschritt sei eben nicht generell und nicht gleichzeitig. Vor allem aber sei mit den genannten Veränderungen entgegen dem ursprünglichen Anspruch der Aufklärung und dem modernen Projekt kein moralisch-sittlicher Fortschritt verbunden {Return: 259f.). Das heißt, gerade wegen all der Neuerungen ist für Strauss der moderne Mensch „a blind giant" {Return: 264). Der hybrishafte und rationalistische Anspruch der Aufklärung, nämlich die universelle Fortschrittsidee, die mit dem Gedanken einer weitgehenden Gestaltbarkeit von Natur und Gesellschaft verbunden war, habe zur Krise der Moderne gefuhrt, die im Kern eine Krise des Selbstvertrauens in die leitende Fortschrittsidee ist. Politisch gefaßt, nimmt Strauss eine an alten Mustern orientierte konservative Position ein und fordert - in einer Umkehr der Beweislastregel gegen jeden Progressismus - , daß dieser zeigen müsse, ob all die gewünschten technischen, wissenschaftlichen und anderen Veränderungen überhaupt jeweils dafür geeignet sind, einen moralischen bzw. sittlichen Fortschritt zu erbringen bzw. den Status quo in dieser Hinsicht wenigstens nicht verschlechtern. Schon die antiken Klassiker wüßten, daß zur Skepsis gegenüber politisch-sozialem Wandel die Skepsis gegenüber technologischem Wandel gehöre (vgl. TM: 298). Geistig-moralische Orientierung, und darum geht es in den zeitdiagnostischen Arbeiten von Strauss primär, stellt sich für ihn seit Mitte der 1950er Jahre doppelt. Zum einen
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bringt sich Strauss in die allgemeine Debatte um Orientierungen in einer „affluent Society" ein. Hier wirft er von seinem traditionellen Politikverständnis her das Problem des Verhältnisses von Institution und Charakter auf, das in der politischen Wissenschaft nur ungenügend diskutiert werde. Das ist aber nur plausibel, wenn man die klassische Auffassung von Institutionen und Charakter, also die Lehre von den Tugenden denkt, ansonsten ist gerade in den 1950er Jahren in der Debatte um die Überfluß- und Konsumgesellschaft genau diese Beziehung Thema. David Riesman, in den 1950er Jahren prominenter Soziologe in Chicago, veröffentlichte mit The Lonely Crowd (1950, dt. 1958) einen Bestseller, der zehn Jahre lang viele sozialwissenschaftliche Diskussionen beeinflußte. Auch Erich Fromm (1960), um ein zweites Beispiel zu nennen, hat sich in einer Verbindung von Freud und Marx kritisch mit dem Wandel des Sozialcharakters und seinem Zusammenhang mit institutionellem Wandel befaßt, den Riesman bekanntlich als einen vom innen- zum außengeleiteten Menschen diskutiert. Das reicht aber für Strauss nicht aus, denn wirkliche Orientierung bietet für ihn nur die klassische politische Philosophie. Umgekehrt zeigt er über seine allgemeine Moderne-Kritik und über die Unterscheidung zwischen einer Mangel- und Überflußökonomie hinaus keine weiteren sozialen bzw. strukturellen Faktoren auf, die für den Charakterwandel des modern Menschen wesentlich sind. Zum anderen wird die Frage der geistig-moralischen Orientierung mit Bezug auf den Kommunismus diskutiert, wobei die Grundthese lautet, der Westen könne nur machtpolitisch im Rahmen des Status quo agieren, gemäß seinen eigenen Wertvorstellungen dürfe er den Kommunismus nicht anerkennen, da er sonst unglaubwürdig werde und eine Selbstzerstörung der eigenen Wertgrundlagen einleite. Es ist diese prinzipielle und nur auf den ersten Blick schlichte Überlegung, die für einige „Straussians" später ausreicht, in der Reagan-Administration den Kampf gegen das „Reich des Bösen" auszurufen. Strauss versucht hier mit einem Dilemma realistischer Außenpolitik klarzukommen, die die beiden Ebenen machtpolitischen Agierens und normativer Gesichtspunkte kaum vereinen kann. Er favorisiert dabei jedoch nicht einfach einen idealistischen Ansatz, sondern eine Doppelstrategie: der Westen müsse machtpolitisch vorgehen und sich gleichzeitig moralisch mit dem Kommunismus auseinandersetzen. Aus dem Kommunismus zieht Strauss folgende Lehren: Erstens, und das ist eine knapp gehaltene Konsequenz, sei kein Weltstaat möglich, da politische Gesellschaften immer partikular sind (Crisis: 221). Die zweite lautet, der Westen müsse aus sich heraus normative Orientierungen produzieren und verfolgen, der Systemwettstreit verdecke die Notwendigkeit dafür zumindest partiell. Es reiche nämlich nicht aus, besser zu sein, sondern der Westen müsse, um aus der eigenen Krise herauszufinden, sich normativ neu orientieren, um den Weg zu einer „good society" (LAM: 260) einschlagen zu können. Die Thematisierung von geistig-moralischer (Re-)Orientierung ist es, die Strauss zu einem Vordenker neokonservativer Themen und Kulturkritik werden läßt. Konstitutiv für seine geistesgeschichtliche Krisendiagnose ist die Diskussion der Moderne als eine Art singuläres Projekt und nicht als plurales Projekt von Projekten. Durch die Kombination dieser Sicht mit der großen Alternative Athen oder Jerusalem gewinnen seine Diagnose und Therapie erst ihren radikalen Gestus. Wiewohl Strauss nach wie vor die Rückkehr zur Philosophie und Offenbarungsreligion im eigentlichen Sinne fordert, ist
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der fundamentalistische Gestus, der beim jungen Strauss wesentlich war, nun abgemildert. Mit Blick auf die amerikanische politische Kultur und die in ihr wirksamen religiösen Traditionen scheint Strauss ein solcher, höchst schwieriger Rekurs dennoch denkbar. Im Zentrum steht dafür eine neue Bestimmung von Bildung, und fast nur hier wird Strauss politisch etwas konkreter. Ansonsten ist seine Krisendiagnose viel allgemeiner und vager als die soziologisch unterbaute Analyse von Daniel Bell, die im Kern aus der Mitte der 1960er Jahre stammt und später prominent wurde. Bell stimmt Strauss, was Fragen notwendiger geistig-moralischer Reorientierungen betrifft, letztlich zu (vgl. Bell 1976: 195ff.). Gerade an die Themen Bildung, Verantwortung, Charakter knüpfen „Straussians" wie Bloom mit ihrer konservativen Kulturkritik erfolgreich an. Deshalb ist es lohnenswert, das Verständnis von Bildung näher zu charakterisieren - Bildung wird von Strauss im starken Sinne von Paideia, d.h. als Einheit von Charakterformung und Aneignung eines breiten, theoretisch und praktischen Wissens gefaßt. Sie ist gleichsam die Substanz der politischen Gesellschaft, bildet die ideell-moralische Achse des Bürgers, verbindet zudem den Gentleman mit dem Politiker und den Geistesschaffenden. Geistige Kultur und die Gebildeten bestimmen darüber hinaus den Rahmen des politisch Möglichen und Sinnvollen, und Bildung trägt somit zur Hegung der Politik bei. Der modernen Kultur mangele es an wahrer Bildung und einer entsprechenden Schicht von Gebildeten, die gewährleisten können, daß sie nicht maßlos wird. Aus dieser elitär-bildungsbürgerlichen Position heraus wird der Liberalismus kritisiert, dem Strauss ethische Prinzipienlosigkeit vorwirft. Bildung, vor allem Philosophie, ist die Grundlage dafür, das ein verantwortungsvolles politisches Denken wirksam werden kann. „Human excellence" müsse wie bei den alten Griechen wieder das Ziel werden, und das wird bewußt gegen die liberale Forderung nach universeller Freiheit gestellt, deren Sinn nicht positiv gefaßt wird. Die Tugend der Liberalität zu praktizieren sei, was „liberal" eigentlich bedeute, und ein liberaler Mann sei jemand, der durch Erziehung und Bildung in die Lage versetzt würde, sich selbst als Freier zu verhalten. Nur durch eine an hohen Idealen ausgerichtete Erziehung könne man ein Gentleman werden, der sich selbst der Verpflichtung unterzieht zu zeigen, daß sein Verhalten das Beste für jeden in der Stadt und für die Stadt als ganzes sei (vgl. Responsibilty: 10f.). Für Strauss ist es „a demand of justice that there should be a reasonable correspondence between the social hierarchy and the natural hierarchy" (ebd.: 21). Er scheut sich auch nicht, eine Rangordnung aufzumachen, an deren Spitze er den Philosophen stellt, dem im Prinzip der Gentleman folgt; darunter rangieren das Volk sowie die Menge. Allerdings deutet Strauss immer nur an, daß diese Rangordnung auf eine natürliche Hierarchie unterschiedlicher Vermögen zurückgeht, und man gewinnt den Eindruck, daß er es vermeidet, hier konkreter zu werden. Offensiv wird dagegen die Überzeugung vertreten, daß die Massenkultur nicht nur eine Schicht Gebildeter als, modernistisch gesprochen, „Wertträger" brauche, sondern daß diese auch die einzige Garantie für das Vorwiegen des für die Politik essentiellen Geistes der Moderation sei (ebd.: 24). Im Rahmen der starken Moderne-Kritik erfolgt eine metapolitische Kritik am Liberalismus, der mit einem abstrakten Freiheits- und Gleichheitsgedanken verbunden wird. Strauss stellt diesem seinen positiven Begriff von Freiheit entgegen, der diese mit politischer
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Ordnung verbindet und zu deren Faktoren die klassische Philosophie sowie die Religion gerechnet werden. Mit diesem Ansatz verteidigt er dann die Demokratie gegen den einseitigen Liberalismus. Es ist diese etwas enigmatische Doppelstellung der Liberalismuskritik und der seltsamen Demokratiebejahung, die immer wieder Rekurse auf die zeitdiagnostischen Schriften von Strauss und die Kritik an ihm evoziert. Wenngleich es insgesamt unklar bleibt, wieso der Gegensatz von Athen und Jerusalem der Motor der westlichen Zivilisation überhaupt und damit auch in der Moderne sein soll, ist die Thematisierung dieses Gegensatzes durch Strauss zumindest eine Quelle anhaltender Debatten um sein Denken, und zwar innerhalb der Schule wie auch zwischen der Schule und ihren akademischen und politischen Kritikern. Für den Neokonservatismus sind aus den Zeitdiagnosen von Strauss vor allem die Forschrittskritik, der Antikommunismus und der Kampf gegen jeden Werterelativismus Anknüpfungspunkte gewesen. Seine dauerhafte Attraktivität speist sich aus der Vehemenz, mit der er diese Positionen auf prinzipielle Weise vertritt, ohne politisch konkret zu werden. Damit ist er allerdings nicht zufällig primär für den kulturkritischen und wertkonservativen Teil des Neokonservatismus und kaum für seinen Wirtschaftsliberalen Strang anschlußfahig geworden.
9.3.2 Tradierung der Schule Die 1970er Jahre stehen im Zeichen der akademischen und auch politischen Ausdehnung der Strauss-Schule und ihrer generativen Tradierung über das Wirken des Schulgründers hinaus. Nach Strauss' Emeritierung (1968) und seinem Tod (1973) tritt die erste Schülergeneration definitiv in den Vordergrund, und zwar im Sinne der offensiveren Nutzung der seit Mitte der 1960er Jahre erlangten Professorenstellen. 188 Bereits 1974 wird im Rahmen der American Political Science Association ein Leo Strauss Dissertation Award etabliert, der auf die Tradierung der Denkschule abzielt. 189 Besonders wichtig für die Schule und ihre Tradierung ist das Jahr 1970, in dem das theoretische Organ der „Straussians", die Zeitschrift Interpretation, gegründet wird. Es erscheint zunächst mit zwei, dann bald mit drei Ausgaben pro Jahr und ist ganz auf die Interpretation von Texten der großen politischen Philosophen abgestellt. Strauss gehört neben Michael Oakeshott, Wilhelm Hennis und anderen zum Beirat. Als Schüler sind vor allem Seth Bernadete und Hilial Gildin mit dem Zeitschriftenprojekt verbunden, wobei letzterer von Beginn als „executive editor" wirkt. Beide sind zu der Zeit in New York, als die Zeitschrift am Queens College der City University herausgegeben wird. Bis 1977 wird das theoretische Journal bei Martinus Nijhoff in Holland verlegt, seit 1978 erscheint es am Queens College selbst. Zum inhaltlichen Profil der Zeitschrift ist 188
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Porträts von zehn Angehörigen der ersten Generation von Strauss-Schülern bietet Teil III des Buches von Deutsch/Murley (1999). So engagiert sich Herbert Jaffa für eine bestimmte Form des Leo Strauss Preises, der auf dem jährlichen Treffen der American Political Science Association 1974 etabliert wurde (Jaffa 1978: 162) und weist auf den Streit um diesen Preis hin, der in der Schule auftrat, während Politikwissenschaftler anderer Provenienz das Projekt ganz ablehnten.
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über die Deutung klassischer Texte hinaus zu bemerken, daß im ersten Jahrzehnt etwa in jedem dritten Heft ein Text von Strauss ediert wird. Ab 1973 werden in dieser Form Stücke aus den Nachlaß des Schulgründers bekannt gemacht. Doch erst in den 1980er Jahren wird mit der Interpretation von Strauss-Texten begonnen, quantitativ handelt sich allerdings höchstens um einen Artikel pro Jahr. Strauss und sein Gedankengut sind auch implizit bei der Auswahl der Themen, Autoren und der Blickrichtung präsent, etwa wenn vielfach Texte zu Piaton, Shakespeare und auch zu Nietzsche und Heidegger publiziert werden. Für den Schulzusammenhang und die Stabilisierung der Schule kann man die Bedeutung der Zeitschrift nicht überschätzen; sie bildet ein zentrales Medium für die andauernde Präsenz der „Straussians" im akademischen Feld. Die Zeitschrift überdauert in einem umkämpften Markt und sie hat sich nicht nur von Lovejoys früher gegründeter History ofIdeas abgesetzt, sondern besteht auch gegenüber dem wenig später, nämlich 1973 gegründeten Journal Political Theory, das in einem breiteren und modernen Sinne politische Philosophie und politische Theorien zum Gegenstand hat. In beiden Fällen handelt es sich, über einen größeren Zeitraum betrachtet, weniger um Zeitschriften, die für eine bestimmte Richtung stehen, als vielmehr um Fachorgane, in denen verschiedene Konzepte vertreten werden. Interpretation dagegen ist ein Expertenforum einer hermeneutisch-normativen Richtung, das keine weite Ausstrahlung in die Politikwissenschaft bzw. in die Philosophie hat. Das hängt schon damit zusammen, daß die Zeitschrift nicht strömungsübergreifend angelegt war und auch nicht geworden ist. Dennoch handelt es sich um ein etabliertes Organ für die Vorstellung und Diskussion von wesentlichen, für die Strauss-Schule kanonischen Texten bzw. der Sekundärliteratur zu ihnen. Für die weitere Wirkungsgeschichte der Strauss-Schule muß man zwischen akademischen und außerakademischen Kontexten unterscheiden. Erstere sind die Disziplinen Politik- und auch Geschichtswissenschaft, weniger die Philosophie. Außerakademisch sind vor allem öffentliche Debatten um Konservatismus im engeren Sinne belangvoll, die hier nur grob umrissen werden können. Schon Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre hatte Strauss in den Aufsätzen What is Liberal Education und Liberal Education and Responsibility die Frage der Bildung akzentuiert und die großen Bücher der seltenen Philosophen zum Kernbestand von Bildung erhoben. Seit 1968 wurde dieses Bildungskonzept, das in striktem Gegensatz zu den in dieser von studentischen Unruhen und beginnenden Bildungsreformen geprägten Zeit steht, in mehreren Ausgaben von Strauss' Schrift über den antiken und modernen Liberalismus (LAM) verbreitet. Seinerzeit gab es keine starken Reaktionen darauf. Das änderte sich erst, als die damit verbundenen Konzepte und auch der Elitismus aktualisiert wurden. Hinzu kommt, daß mit der Arbeit von Rawls generell das Interesse an politischer Philosophie wieder zunimmt - ein Umstand, von dem auch die „Straussians" profitieren und den Rogers M. Smith wie folgt faßt: „But Rawl's success also gave new energy to Marxist and Straussian critics of liberal democracy, who had a large new target" (1997: 261). Die 1980er Jahre sind, was die Bekanntheit der Strauss-Schule angeht, insbesondere mit drei Ereignissen verbunden. Eine große Rolle spielen die erste und auch die zweite Amtszeit von Ronald Reagan (seit 1980 bzw. 1984), die eine konservative Wende in der Politik bedeutete. Mit Reagan ziehen eine Reihe von „Straussians" in die Politik. Devigne
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hat einmal elf Akademiker aufgelistet, die von der politischen Philosophie in die Politik wechselte.190 Einige vehemente Strauss-Kritiker wie Drury dramatisieren den Einfluß geradezu und sehen von Strauss' radikaler Moderne-Kritik an sich und erst recht von ihrer politischen Umsetzung eine Gefahr fiir die amerikanische Demokratie ausgehen. Strauss sei nämlich nicht einfach konservativ, sondern „right". Aber unter den „Straussians" ist das direkte politische Engagement natürlich auch umstritten, denn es bedeutet ja die Abwendung vom höchsten Gut für den Philosophen, nämlich der Vita contemplativa. John Gunnell sieht hier einen verhängnisvollen theoretischen Einfluß: Strauss betreibe gleichzeitig epische Metatheorie, die der Praxis fern ist, und verfolge die aus der Weimarer Zeit stammende Idee einer theoretischen Intervention in die Praxis, die diese substantiell verändern soll. Von zwei Seiten her erfolge damit eine Unterminierung der pragmatischen Theorie-Praxis Relation, die den Kern der amerikanischen Idee von Politikwissenschaft ausmache. Auf viel vermitteitere Weise als bei Drury wird hier ebenfalls ein verhängnisvoller Einfluß von Strauss und den „Straussians" angenommen. Das zweite für die Strauss-Schule relevante Phänomen ist die Forcierung ihrer internen Differenzierung. Zu jeder Schule gehört nicht nur eine interne Differenzierung der Schülerschaft, sondern oft eine Aufspaltung, wenn der Gründer nicht mehr als Integrationsfigur zur Verfügung steht. Auch bei den „Straussians" ist es Mitte der 1980er Jahre zum Streit gekommen, der aber nicht zum Bruch zwischen den verschiedenen Gruppen führte (Jaffa 1984, 1985, Pangle 1983, Bloom 1990 sowie Druiy 1988, Kap 10). Die Divergenzen im gemeinsamen Verständnis hatten jedoch die Aufspaltung der Schule in unterschiedliche Richtungen zur Folge. Wesentlich ist hier die Unterscheidung einer East-Coast und einer West-Coast-Lesart, über die Susan Orr berichtet: 190
„Among those who were influenced by Strauss who became actively engaged in politics over the past two decades were Carnes Lord, who left the University of Virginia to serve on the National Security Council in the first Reagan Administration. During Reagan's second term he became director of international studies at the National Institute for Public Policy. He became the chief foreign policy adviser of Vice President Quayle during the Bush administration. Similarity, William Kristol, after receiving a doctorate in political science at Havard University under the tutelage of Mansfield, joined William Bennett's staff at the department of Education. He became the chief policy advisor of Vice President Quayle during the Bush administration. There are among other examples: Nathan Tarcov left the University of Chicago to join the State Department Policy Planning Staff; David Epstein left the New School for Social Research and became an analyst in the office of Net Assessment, a part of Caspar Weinberger's staff at the Department of Defense; Werner Dannhauser set aside the study of Nietzsche and took a leave of absence from Cornell in order to co-edit Commentary, Gary Schmitt left the University of Dallas to head President Reagan's National Advisory Board for Foreign Intelligence; Abram Shulsky left the University of Chicago to become director of Strategic Arms Control Policy at the Department of Defense; Marc Plattner left the National Humanities Center in North Carolina to become the editor of The Public Interest and later became the director of program at the National Endowment for Democracy; Joel Schwartz left the University of Toronto to become the managing editor of the Public Interest; Jeremy Rabkin left Cornell University to become an editor of publications for the American Enterprise Institute; Michael Malbin left the University of Maryland to become the associate director of the House Republican Conference. This list is not based upon my investigation Straussians hidden in government. It is based on reading the short biographies of contributors to books and journals" (Devigne 1994: 22If.).
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„The split between the West Coast and the East Coast Straussians is much more than a geographical division. It is a dispute over ideas, over the legacy of Leo Strauss. His East Coast students, such as Allan Bloom and Thomas Pangle, have collapsed the distinction between ancient and modern philosophy, claiming that the real dispute is between philosophy and poetry, poetry being simply a code word for the spiritual realm or revelation. [...] Against this claim, Harry V. Jaffa, leading West Coast Straussian, [...] understands Strauss's contribution to political philosophy in this way: ,Strauss's distinctiveness - indeed, his uniqueness, I had thought lay above all else in the fact that he was the first great critique of modernity whose diagnosis of the ills of modernity did not end by seeking a solution of those ills through a radicalization of the principles of modernity'. [...] For Jaffa and his students, following Strauss consists in reflecting upon good citizenship and the question of the best regime and applying these considerations to the here and now. Such ideals are of crucial and practical interest specifically in relation to the American regime as it is based on principles of natural law." (Orr 1995: 9f.)
Die Ostkiistler, die Strauss als stark durch Nietzsche beeinflußt lesen, halten diese Deutung für exoterisch, d.h. sie behaupten, man sei an der Westküste einer äußerlichen Argumentation von Strauss aufgesessen. Es ist dies durchaus ein Paradox, denn wenn Jaffa und andere die Stärke von Strauss gerade in seiner radikalen Kritik der Moderne mit nicht-modernen Mitteln sehen, dann kann man diese Kritik nicht positiv auf das Hier und Jetzt anwenden, selbst wenn es die angesprochene naturrechtliche Fundierung der amerikanischen Verfassung gibt. Genauso paradox ist es anzunehmen, Strauss sei der Moderne durch Rekurs auf die Antike entkommen, seine Interpretationen antiker Klassiker sei eine aus der Moderne erfolgende Lesart, wie jede andere auch, und er bleibe nicht zuletzt wegen seiner Moderne-Kritik an diese als referentiellen Bezug gebunden. Die Westküsten-Lesart, die Strauss positiv mit der amerikanischen Demokratie verbindet, steht dem Selbstverständnis nach näher zur historischen Anwendung von Strauss auf das Hier und Jetzt, und das ist, was die USA betrifft, wesentlich deren Geschichte. Eine ganze Reihe von Straussians arbeiten in diesem Sinne auch auf dem Feld der Geschichtswissenschaft, die in den USA nicht selten im Rahmen von Political Science angesiedelt ist (Deutsch 1999). Die Kontroverse zwischen der Ostküsten- und der Westküsten-Lesart dreht sich im Kern um drei Punkte: Erstens geht es um das Verhältnis zwischen dem Philosophen und dem Gentleman, und das ist zugleich auch die Frage danach, wieviel Nietzsche im Denken von Strauss enthalten ist. Zweitens wird darüber verhandelt, ob im Verhältnis von Offenbarung und Philosophie die Seiten der Alternative gleichwertig sind, ob beim späten Strauss noch die Kunst dazukommt, oder ob die Idee darin besteht, daß die Position, die die Poeten (z.B. Homer, Aristophanes) einmal einnahmen, später von Philosophen wie Nietzsche und Heidegger besetzt wurde. Drittens sind all dies wiederum Fragen, die bei der Unterscheidung esoterischer und exoterischer Textschichten bei Strauss selbst ansetzen. Mit diesen Differenzen, die zwischen den verschiedenen Lesarten in der Schule bestanden, waren die grundlegenden Kontroversen vorgezeichnet. Drury und andere Autoren haben dann später nur skizzierte Linien ausgezogen. So erheben Thomas Pangle und andere Strauss zum großen Philosophen, statt als Kommentator und Gelehrten, als den er sich ausgab, zu begreifen. Damit wird nicht nur die Selbstdeutung von Strauss verfehlt, sondern auch das fundamentale Interesse von Strauss, die großen Probleme als unlösbare Alternativen und Antithesen zu denken, zu wenig berücksichtigt. In gewisser
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Hinsicht heißt das, Strauss zu sehr zu „nietzscheanisieren", denn er hat die Rückkehr zur antiken politischen Philosophie und zu Sokrates viel substantieller gedacht als der Künstler-Philosoph, der häufig „mit dem Hammer philosophiert". Strauss hält häufig Alternativen offen, und das ist keine esoterisch-exoterische Kodierung von Texten, sondern ein Bestehen auf den Alternativen. Jaffa und andere verfehlen diesen Punkt, denn sie sehen in Strauss letztlich einen vermittelnden Denker. Das ist auch einseitig. Mit diesem Streit sind generelle Deutungsdifferenzen, die auch in externen Kritiken eine Rolle spielen, innerhalb der Schule etabliert, und insofern ist er relevant. Für die öffentliche Wahrnehmung der Schule war in den 1980er Jahren ihre Popularisierung und Anwendung durch Allan Bloom zentral.191 Man kann die Wirkung seines Bestsellers The Closing of the American Mind (1987) in dieser Hinsicht kaum überschätzen.192 Er aktualisiert das Bildungskonzept von Strauss am Ende der Expansion der Massenuniversitäten und wird damit prominent. Sein Plädoyer für Werte, echte Bildung und einen Bildungskanon hat eine Vielzahl von Reaktionen ausgelöst, die hier nicht näher interessieren. Im Kern macht dieser bildungskonservative Ansatz Strauss durch Anwendung auf einen politischen Bereich bekannt; allerdings wird der akademische Lehrer von Bloom nur einmal namentlich genannt. Dennoch gilt, daß die ganze Argumentation im Kern straussianisch ist und auch so wahrgenommen wurde (vgl. Nicgorski 1999: 205-209). Auf die selbst gestellte Frage How Higher Education has Failed Democracy and Impoverished the Souls of Today 's Students gibt Boom eine klare Antwort: Die Ursache sei die falsche Allianz von Relativismus und (abstrakten) Gleichheitsvorstellungen. Dagegen plädiert er für die Anerkennung der natürlichen Ungleichheit und polemisiert gegen den Relativismus, dessen Einfluß in den USA fatal sei. Der Relativismus (damit ist im wesentlichen die nach Amerika transferierte Philosophie Nietzsches und seiner Gefolgsleute gemeint) habe durch seine Ablösung von seinen europäisch-kulturellen Wurzeln und seine Popularisierung eine Trivialisierung erfahren, die aus ihm eine wertezersetzende Universalwaffe gemacht habe. Dagegen setzt Bloom mit Piaton und den alten Griechen auf einen antiken Bildungsbegriff, der hohe Normen, einen längeren Erziehungsprozeß und die Ausbildung von Tugenden akzentuiert. Von diesen Standards aus entfaltet er eine wertkonservative Kulturkritik. Richard Rorty hat Bloom in seiner Kritik nicht nur vorgeworfen, er würde an der „Old Time Philosophy" festhalten, sondern auch behauptet, die Strauss-Schüler würden dessen enigmatische 191
192
Werner Dannhauser formuliert: „[...] the legacy of Strauss lives on, and nobody did more to secure it than Allan Bloom. Strauss bred Straussians, and Bloom never tried to breed Bloomians. Many, perhaps most, of today's Straussians were once students of Allan Bloom." (Dannhauser 1995: 5). Vgl. Bernstein (1995). Dort heißt es, „the most prominent Straussian, and the man most responsible for the Strauss cult was Allan Bloom, also of the University of Chicago, whose unexpected bestseller, [...] marked a traditionalist counteroffensive against the calls for diversity and multiculturalism - and who thus became anathema to those who believed the curriculum needed to be changing and opening to new voices, especially female and minority ones". Eine scharfe Kritik hat Martha C. Nussbaum in der New York Review of Books (5.11.1987) vorgetragen. Vgl. auch die an Blooms Closing of the American Mind anknüpfenden Sammelbände von Stone (1989) und Buckley/Seaton (1992). Bloom antwortet in Giants and Dwarfs (1990b: 13-31) auf seine Kritiker und bestreitet, Elitist zu sein.
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und verdeckte Liberalismus- und Demokratie-Kritik zur offenen Konsequenz bringen, und insofern sei die Auseinandersetzung mit Strauss und seinen Schülern zu verbinden (Rorty 1988: 30). Die 1990er Jahre bringen für die Strauss-Schule im politisch-öffentlichen Bereich auf zwei Wegen einen Aufmerksamkeitsgewinn. Zum einen macht Francis Fukuyama als Schüler von Allan Bloom und damit als jemand, der der zweiten Generation nahe steht, mit seinem Bestseller End of History (1992) eine Reihe straussianische Themen, aber auch solche, die Strauss mit Kojeve debattierte, bekannt. Das Buch ist allerdings primär zeitdiagnostischer Art und vermengt verschiedene Diagnosen, die alle in dem Punkt zusammenlaufen, daß nach dem Ende des Kommunismus die liberale Demokratie als einziges Modell übrig geblieben und damit ein Ende der Geschichte erreicht sei. Als Einfluß von Strauss ist hier am ehesten noch die enorme Wertschätzung der politischen Philosophie anzusehen; Fukuyama folgt ansonsten eher historischen Erklärungsmodellen. Die Beispiele von Fukuyama und das ältere von Allan Bloom zeigen, daß die „Straussians" bei weitem nicht bloß esoterische und politikferne Philosophen sind, wie mitunter angenommen wird, sondern sich mit beachtlichem Effekt in öffentlichen Debatten engagieren können. Schwerer wiegt, daß es Mitte der 1990er Jahre zu einer kurzzeitigen Revitalisierung des affirmativen Bezuges konservativer Republikaner auf das Denken von Strauss gab. Er wurde zu einem der einflußreichsten Emigranten erklärt, die politische Debatte um ihn flackerte erneut auf, und in diesem Zusammenhang spitzte die Strauss-Kritikerin Drury ihre Auffassungen noch einmal zu und erklärte Strauss zu einem Vordenker der Rechten und nicht des Neokonservatismus. 193 Damit steht Drury quer zum Grundtrend der Auseinandersetzung mit Strauss in den verschiedenen Strömungen, denn diese hat sich zunehmend akademisiert und von direkten politischen Zuordnungen frei gemacht (vgl. z.B. Dallmayr 1994, Beiner 1990, Villa 1998). Bei „Straussians" wie bei ihren Antipoden überwiegt ein Eingehen auf die Texte sowie auf generelle und spezielle Problemstellungen. Insgesamt wäre es abgesehen von den besonderen historischen Umständen, auf die ich gleich noch einmal zu sprechen komme, wohl auch ohne sie zu einer Schulgründung und Tradierung gekommen. Dazu war - wie gezeigt - Strauss nicht nur als Persönlichkeit und Gelehrter geeignet, sondern er vermochte es, eine kognitive Identität seiner Schule innerhalb der Teildisziplin politische Theorie auszuprägen. In strategischer Absicht wurden Schuldokumente (Aufsätze, in denen disziplinare Abgrenzung dominiert, das Lehrbuch als Kanon) verfertigt. In diesem Kontext hat Strauss mit der Unterscheidung von esoterischem und exoterischem Schreiben bzw. Lesen von Texten einen eigenen methodischen Ansatz entwickelt, der für die kognitive Identität besonders wichtig 193
„It is something of a puzzle that a seemingly reclusive German Jewish émigré and scholar has been declared the godfather of the Republican party's 1994 Contract with America in the pages of the New York Times. And in its exhaustive account of the most influential men in American politics, Time magazine concluded that, .perhaps one of the most influential men in American politics is the late Leo Strauss, the German émigré political philosopher who taught at the University of Chicago in the 1950s and '60s.'" (Drury 1997: XI).
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war. Auch institutionell ist Strauss eine Stabilisierung seiner Schule bald nach Antritt der Professur in Chicago gelungen. Dort knüpfte er auch Fäden zu Stiftungen (z.B. der Walgreen-Stiftung) und wirkte in universitären Gremien wie dem einflußreichen Commitee for Social Thought mit, das lange Zeit zu Recht als von „Straussians" dominiert galt (vgl. Gunnell 1993: 229). Zur institutionellen Verankerung gehört, daß einige seiner Schüler rasch eine Professur bekamen und mit Interpretation ein Organ zur Veröffentlichung und Pflege kanonischer Texte und Autoren geschaffen wurde. Für den äußeren Erfolg der Strauss-Schule waren zwei Umstände wesentlich. Zuerst ist die schon mehrfach erörterte Situation in der Politikwissenschaft als Disziplin zu nennen. Wie John G. Gunnell gezeigt hat, erfolgt seit den 1940er, massiv aber erst in den 1950er Jahren eine Ausdifferenzierung der politischen Theorie und Ideengeschichte zu einer Subdisziplin, die sogar als amerikanische Erfindung bezeichnet wurde. 194 Es ist diese Situation, in der Weichen gestellt werden konnten, welche Strauss halfen, sein Konzept zur Wirkung zu bringen; zugleich erlaubte sie es Strauss, die Konturen der neuen Subdisziplin mit zu formen. Ohne diese besondere Situation hätte Strauss möglicherweise viel weniger Aufmerksamkeit im Fach auf sich ziehen können. Der zweite Umstand, der einen Zugang zum Verständnis der enormen Wirksamkeit von Strauss eröffnet, ist seine Verbindung mit dem Neokonservatismus. Auch wenn man im Gegensatz zu Shadia Drury und einigen neueren Bestrebungen bei den Republikanern Strauss nicht zum intellektuellen Vater des amerikanischen Nachkriegskonservatismus oder gar der amerikanischen Rechten macht, läßt sich eine Verbindung mit dem Konservatismus nicht übersehen. Einen interessanten Beleg bietet ein Brief zum Zustand Israels, den Strauss, der sich ansonsten zu unmittelbar politischen Fragen in den USA im wesentlichen nicht geäußert hat, an den Editor der National Review (5.1.1957, in Green 1997a: 413f.) schrieb. In seinem Brief wendet er sich dagegen, Israel als „racist State" zu bezeichnen. Er hebt darauf ab, was der an sich problematische politische Zionismus erreicht hat, und daß dies eine konservative Leistung sei. Er will also in der National Review, einem dezidiert konservativen Organ, nicht nur etwas richtigstellen, sondern auch den eigentlich konservativen Standpunkt verdeutlichen. In der Regel blieb Strauss in Distanz zum unmittelbaren politischen Geschehen, und es waren vornehmlich der Bildungselitismus sowie die generelle Moderne- bzw. Kultur-Kritik, weniger konkrete politische Positionen, die zu Recht Anlaß gaben, Strauss mit konservativen Positionen und Autoren in Verbindung zu bringen. Auffallend ist allerdings die erhebliche Menge der Schülern schon der ersten Generation, die es in die Politik zog und die sich damit gegen das philosophische Leben entschieden. Die Bedeutung der besonderen Faktoren der Schulbildung kann man an drei Wellen politisch-öffentlicher Wirksamkeit der Strauss-Schule näher verdeutlichen. Der Einfluß in den 1950er Jahren, einer Zeit, als der Konservatismus in den USA rekonstituiert wurde (Himmelfarb 1950), steht für eine erste Welle. Er war nicht sehr stark, aber Strauss wirkte durch seine scharfe Moderne-Kritik und das Pathos der Distanz - weniger vermöge inhaltlicher Positionen, sondern mehr als Ermöglicher eines neuen elitären Selbstverständnisses, das für die Formung des Neokonservatismus wesentlich war. Die 194
Gunnell pointiert: „But if political science is an American invention, even more so is political theory" (1993: 3).
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Konsolidierung der Schule gab dabei auch einigen Rückhalt. Eine zweite Welle der Wirksamkeit der „Straussians", die viel Aufmerksamkeit in der Literatur gefunden hat, ist mit dem Amtsantritt von Ronald Reagan als Präsident verbunden (vgl. Drury 1988, 1997, Devigne 1994). Allan Bloom steht mit seinem populären Bestseller über das amerikanische Bildungssystem am Ende dieser Welle. Von einer dritten Welle der Wirksamkeit kann man nur in einem schwächeren Sinne sprechen; es kommt nämlich in den 1990er Jahren zu einem überraschenden kurzzeitigen Rekurs politischer Akteure auf Strauss, und zwar in einer Zeit, als sich die politischen Debatten beruhigt hatten. Das Verblüffende an diesem Rekurs ist, daß er erfolgt, als Fred Dallmayr für die sich politisch links verortenden Theoretiker forderte, Strauss nicht den „Straussians" zu überlassen (1994). Die erneute Aufmerksamkeit, die Strauss bei den Republikanern und im amerikanischen Konservatismus fand, ging nun mit dem Versuch einher, eine eigene Tradition zu stiften. Daß Strauss, der sich meist von der Politik ferngehalten hat, mehrfach politisch in den Mittelpunkt rücken konnte, kann man sich nicht einfach erklären. Politische Protagonisten des Neokonservatismus wie Irving Kristol haben sich vielleicht nicht dazu geeignet und trugen somit ihr Scherflein dazu bei, Strauss prominent zu machen. Aber vielleicht muß man nur die Blickrichtung verändern und fragen, ob Strauss als ein starker Kritiker der Moderne, der sich von der Politik im einzelnen ferngehalten hat, nicht gerade wegen dieser Ferne als Galionsfigur einer intellektuellen Tradition des Nachkriegskonservatismus geeignet erschien.195 Aus der Politikferne erwuchs kaum Revisionsbedarf für die moderne- und liberalismuskritischen Grundpositionen; zugleich bewahrten diese Positionen ein kritisches Potential und bildeten den Hintergrund für elitistische Auffassungen. Die enorme Wirkungsgeschichte von Strauss ist ein auf die Vereinigten Staaten beschränktes Phänomen. Hier wirken seine Schüler und nur hier gibt es ein Verknüpfung seines Denkens mit dem Neokonservatismus. In Europa nimmt seine Rezeption zwar zu, aber sie ist nur auf das akademische Feld bezogen und hier erfolgte weder eine Verknüpfung mit einflußreichen theoretischen Strömungen, noch mit dem Neokonservatismus der 1980er Jahre. Strauss hat zwar interessante normative Fragestellungen mit Rekurs auf die Antike festgehalten, aber er blieb in seinem Denken von polaren Gegensätzen der Weimarer Zeit und dem Kalten Krieg geprägt. Seinen großen Alternativen und Fragestellungen nach einem gültigen qualitativem Maß für politischen Ordnungen kann zwar an sich Relevanz zugeschrieben werden, aber sie lassen sich für die modernen Problemstellungen weder übersetzen noch operationalisieren. Insofern reduziert sich sein akademisches Wirken auf die Bewahrung eines geistigen Horizontes, nämlich der klassischen politischen Philosophie.
195
Treffend hebt Irvring Kristol hervor, daß Strauss mit seiner Moderne-Kritik das westliche politische Denken durch ein umgekehrtes Teleskop betrachtet. Er betont damit dessen die Ferne zu jeder praktischen Politik (Kristol 1995: 7).
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Politische Philosophie, politisches Philosophieren, politische Theorie
Strauss ist mehr als ein Platzhalter klassischer politischer Philosophie, wenngleich er darin eine seiner Aufgaben sah. Meine Gesamtdeutung seines Denkens als politischem Philosophieren besonderer Art liegt zwischen drei dominierenden Lesarten, nämlich seiner Interpretation als exzeptioneller politischer Philosoph (Allan Bloom, Heinrich Meier), als politischer Theologe, der einen starken Konservatismus vertritt (Alfons Söllner), sowie seiner Deutung als esoterischer Philosoph (Stephen Holmes, Shadia Drury). Die Qualifizierung als politisches Philosophieren dient der genaueren Beschreibung seiner Art von Theorie. Sie soll in diesem Fall das oft kritisierte, aber selten positiv ersetzte ältere Label normativ-ontologischer Theorie ersetzen und auffüllen. Strauss entwickelte eine besondere Art von Theorie, ein zetetisches Denken, das die Wiederermöglichung genuin politischen Philosophierens mit Bezug auf antike Vorbilder anstrebt und eine dekadenztheoretische Darstellung der Geschichte der politischen Philosophie bietet. Jene Denkform hat Strauss im Rahmen der amerikanischen Politikwissenschaft bei gleichzeitiger scharfer Kritik an ihr entwickelt. Er wirkte, wie gezeigt, wesentlich in einer Situation, als die interne Struktur dieser Disziplin sich veränderte, als nämlich parallel zur Szientifizierung der Politikwissenschaft die Verselbständigung von politischer Theorie zu einer Teildisziplin erfolgte. Das Konzept und die Wirkungsgeschichte von Strauss sind insbesondere in diesem Kontext zu verstehen. Michael Walzer hat einmal die Vermutung geäußert, viele politische Philosophen und Politikwissenschaftler würden sich für Politik nicht wirklich interessieren (1999: 141). Mit gutem Grund kann man diese Überlegung auf Strauss beziehen, der nicht nur in Distanz zur empirischen Politikwissenschaft dachte, sondern darüber hinaus den Gegensatz zwischen den Philosophen als Theoretikern und den politischen Gemeinwesen, denen sie angehören und in denen immer bestimmte praktische Weltsichten dominieren, beschworen und zur Grundlage seiner Methodik vom exoterischen Schreiben gemacht hat. Die Spannungen zwischen den Intellektuellen, der Politikwissenschaft und der Politik in modernen Massendemokratien hat Strauss nie systematisch eruiert, noch hat er j e die Folgen eines revitalisierten antiken Denkens ausbuchstabiert. Seine Redeweise von der Wissenssoziologie der Philosophen, ihre ahistorische Behandlung als eine durch die Zeiten hinweg existierende Klasse, ist metaphorischer und kaum analytischer Natur. Die Distanz zur praktischen Politik bei Strauss reicht weit, will er doch die Philosophie gegen Instrumentalisierungen schützen. Daher vermeidet er systematisch den Brückenschlag vom Begriff des Politischen, der guten Ordnung schlechthin zur Politik als praktisch-institutionellem Geschehen und konkreten Ordnungstypen sowie Herrschaftsformen. Statt dessen wird immer wieder die Bedeutung der Verknüpfung von politischer Ordnung und Lebensführung als qualitatives Problem herausgestellt. Auch das Verhältnis von Krisendiagnostik und Therapievorschlägen ist problematisch, und zwar nicht nur, weil sich Strauss auf die politische Philosophie beschränkt, sondern
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auch weil der schon vagen, aber durchaus weitgreifenden Krisendiagnostik nur ein in seiner Machbarkeit und Bedeutung wenig diskutierter Therapievorschlag, nämlich die Rückkehr zu den antiken Klassikern gegenübersteht. Werkgeschichtlich gesehen hat Strauss die ursprünglichen aus der Weimarer Zeit stammenden politischen Motive, wie den Zionismus, die Renaissance jüdischer Kultur, die politische Krise des Weimarer Systems in grundlegende philosophische Fragen transformiert und mit der Zeit immer mehr in den Hintergrund gedrängt. Sind im Naturrechtsbuch und in der Auseinandersetzung mit der Tyrannis, der Totalitarismus, der Kalte Krieg und die „Krise der Moderne" noch präsent, so kann man sie im Spätwerk nur noch erahnen. Gerade die Distanz zur Politik und die fundamentale Moderne-Kritik sind jedoch gleichzeitig die Grundlage für die enorme Wirkungsgeschichte von Strauss und seine Attraktivität für den amerikanischen Neokonservatismus. Dabei sind zwei Ebenen zu unterscheiden. Auf der institutionellen Ebene sind der Stand der akademischdisziplinären Entwicklung, die wissenschaftliche Schule und Einrichtungen in Chicago, wie Stiftungen u.a.m. zu berücksichtigen. Die zweite Ebene ist die große Ferne gegenüber der aktuellen Politik; sie war eine Voraussetzung der breiten Wirkung von Strauss. Diese Feme und die starke Moderne-Kritik eröffneten einen freien Raum der politischen Anwendung und Auslegung von Strauss, deren Resultate nicht auf ihn unmittelbar zurückbezogen werden konnten. Die außerordentliche Wirksamkeit von Strauss beruht auf der Verquickung der akademischer Schule mit dem Neokonservatismus und ist in dieser Form ein auf die USA beschränktes Phänomen. Strauss ist als Theoretiker schwer zu fassen, weil er politische Philosophie doppelt bestimmt und in der doppelten Bestimmung jeweils noch eine esoterische und exoterische Dimension annimmt. Zum einen gibt es die philosophische Thematisierung von Politik, deren esoterische Dimension die Untersuchungen von Grundfragen politischer Ordnung von Philosophen für Philosophen bedeutet. Exoterisch heißt hier, daß Philosophen als Rhetoren agieren und sich an politische Eliten wenden. Davon zu unterscheiden ist die politische Thematisierung der Philosophie; die esoterische Dimension ist hier das Agieren des Philosophen als Pädagoge, der den Nachwuchs für die Philosophie rekrutieren, die Jugend gewinnen will. Die exoterische Dimension bedeutet in diesem Fall, daß der Philosoph als Rhetor vor den Bürgern und Sophisten agiert; während er gegenüber der einen Gruppe die Notwendigkeit der Philosophie, aber auch ihre Ungefahrlichkeit demonstriert, wird gegenüber der anderen Gruppe festgehalten, daß sich Philosophie nicht auf Rhetorik reduzieren läßt. Nun hat Strauss diese Seiten von politischer Philosophie nicht scharf unterschieden und systematisch dargestellt, vielmehr wechselt er häufig zwischen ihnen (vgl. 4.1.). Ebenso wie das unausgesetzte, zetetische Fragen kennzeichnet dies sein im Anschluß an Heidegger gebildetes Theorieverständnis, das ich als politisches Philosophieren mit unpolitischem Kern bestimmt habe, da letztlich immer die Sache der Philosophie im Vordergrund steht. Die Kehrseite dieser Bestimmung ist, daß Strauss im deutlichen Unterschied zu systematischen Formen politischer Philosophie, wie sie etwa Rawls repräsentiert, zu begreifen ist. Ihn interessiert weder eine vergleichbare Systematik, noch ist seine Philosophie in der Weise von Rawls selbstreflexiv. Eine systematische Explikation der impliziten Grundlagen der politischen Kultur der Vereinigten Staaten
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von Amerika strebt Strauss nicht an. Das ist für ihn schon im Ansatz ein relativistisches und historistisches Konzept. Die Form von Selbstreflexivität, die Strauss' Denken kennzeichnet, bezieht sich auf die Bewahrung und Legitimation der Philosophie im Sinne ihrer seit der Antike exponierten Probleme. Daß Strauss und seine Schüler in diesem Rahmen der amerikanischen politischen Kultur ein antikes Erbe attestieren und es für ihre Vitalität verantwortlich machen, ist weniger eine sozialwissenschaftliche Deutung als ein Versuch, das antikisierende Konzept zeitdiagnostisch umzumünzen. Inwiefern Strauss als ein esoterischer Philosoph zu begreifen ist, berührt neben seiner Tiefenhermeneutik den Umstand, daß er in der Regel die Maske des Kommentators nutzt, d.h. er interpretiert und arrangiert philosophische Texte zu einem Gespräch, um in ihm grundlegende Fragen aufzuwerfen. Das ist insofern nur ein quasi-sokratisches Vorgehen, als anhand von Texten und nicht in realen Gesprächen nachgedacht wird und diese Schriften zudem akademischen Kontexten entstammen. Die tragende Annahme lautet: Wenn man die klassischen (platonischen) Dialoge und Texte nachvollzieht, dann gelange man zum Denken der Probleme, und zwar in der Weise, wie sie die antiken Theoretiker noch unverstellt diskutieren konnten. Allerdings werden diese Probleme nie offen und direkt angegangen. Hier liegt die große Differenz zu Hannah Arendt, die eine andere Variante politischen Philosophierens kennzeichnet, nämlich eine an politischen und theoretischen Problemen orientierte Weise, die nicht die Maske des Kommentators nutzt. Wenn Strauss als Kommentator agiert, bleibt es oft im unklaren, was seine Auffassung und was Kommentar ist. Die Annahme, daß es beim angemessenen Kommentieren von Philosophen einen unmerklichen Übergang zum Denken der Sache selbst gibt, wie Strauss unterstellt (vgl. Meier 1996: 41 f.), wird nicht begründet. Die Unterscheidung von politischem Philosophieren und politischer Philosophie wendet sich auch gegen ein verkürztes Verständnis von politischer Philosophie, das diese argumentanalytisch begreift und, wie im Falle von Kymlicka (1997), um ihre Zeitdiagnosen beraubt und so das selbstreflexive Momente ausschließt. Zudem gibt es in diesem Falle eine inhaltliche Verkürzung auf das Problem der Gerechtigkeit, das nicht zwingend zur Hauptfrage politischer Philosophie erklärt werden kann. Das von Strauss eingeschränkt aufgeworfene Problem politischer Ordnung und ihrer Grundlagen ist zudem umfangreicher als Fragen der Gerechtigkeit und ebenfalls von zentraler Bedeutung. Darüber hinaus sind politische Philosophie und politische Theorie immer in eine bestimmte Zeit und Epoche eingebettet. Sie haben eine handlungsorientierende Dimension und bleiben insofern notwendig auch mit Zeitdiagnosen und Therapievorschlägen verbunden. Mehr noch, sie sind auf vermitteltende Weise für die Perzeption und Formulierung politischer Probleme wesentlich und tragen so nicht nur zur Wahrnehmung von Problemen bei, sondern sind essentiell umstritten. Kommt theoriegeleitetes politisches Denken in seinen verschiedenen Formen erst zum Zuge, wenn die Probleme akut und in anderer Weise formuliert worden sind, dann ist der Weg zu sinnvollen Vorschlägen manchmal schon verbaut. Freilich, die prognostische Erkenntnis, für die schon Machiavelli mit Nachdruck plädierte, ist nur eine Seite politischer Theorien. Wie weichenstellendes politisches Philosophieren - Denken, auf das Strauss so großen Wert legt - wirksam wird, ist allerdings nur im Zusammenhang von politischen Institutionen und politischer Kultur zu erklären, und gerade diese Perspektive fehlt bei Strauss völlig.
POLITISCHE PHILOSOPHIE, POLITISCHES PHILOSOPHIEREN, POLITISCHE THEORIE
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Politische Theorien können auf verschiedene Weise Themen von politischer Philosophie, politischer Theorie sowie der Geschichte der politischen Ideen aufnehmen und Begriffsgeschichte, den Wandel der politischen Sprache und politische Weltbilder als Verbindungsstücke zwischen diesen Dimensionen begreifen. Sie sind dann durchaus hermeneutisch orientiert. Von Strauss kann man hierfür nur Einsichten bergen, wenn man eine rigorose Historisierung des Autorbegriffs vornimmt. Erst dann lassen sich in einem größeren Rahmen die von ihm nur für die großen politischen Philosophen herausgearbeiteten Fragen des Adressatenbezuges und der Form, des Genres von Texten fruchtbar anwenden. Im Kern sind politische Theorien auf das Begreifen von institutionellen politischen Ordnungen, ihrem Funktionieren und den Zusammenhang von politischem Handeln und diesen Ordnungen ausgerichtet. Die Unterscheidung von politischer Philosophie und politischer Theorie ist selbstverständlich nur relativ und soll keine Barrieren zwischen akademischen Disziplinen errichten. Vielmehr zielt sie darauf ab, die überlappenden Räume und die Unterschiede zu fixieren. Zwischen der Zeitdiagnostik und den therapeutischen Vorschlägen, die die politische Philosophie und die politische Theorie unterbreiten, bestehen nicht selten erhebliche Unterschiede. Während die Philosophie hier auf einem metatheoretischen Niveau verweilen kann, muß politische Theorie weitaus konkreter werden, was Fragen der institutionellen Implementierung angeht. Für den Horizont ihrer Fragestellungen ist der Bezug auf die Philosophie oft wesentlich, hinsichtlich der Diagnosen und Therapievorschläge ist sie substantiell Teil des Ensembles der Sozialwissenschaften. Das Philosophieren im Sinne von Strauss kann also einen Bezugspunkt für politische Theorie bilden, der freilich nur sinnvoll ist, wenn man den von Strauss propagierten Bruch mit den Sozialwissenschaften gerade nicht vollzieht. Eine normative politische Theorie sollte empirisch informiert sein sowie Zeitdiagnose und institutionelle Therapievorschläge enthalten und zugleich hermeneutisch sensibel vorgehen. Fragt man sich, was vom politischen Philosophieren ä la Strauss nach dem Ende der Metaerzählungen (Lyotard), zu denen auch die großen Dekadenzgeschichten gehören, bleibt, so ist es zunächst wohl ein Problembezug, eine Öffnung der Fragen von Politik hin zu denen der Lebensführung, die freilich nicht nur im Rekurs auf die Antike zu gewinnen ist. Doch es geht hier um mehr als um politische Ethik, nämlich um die Frage nach dem qualitativen Maß für politische Ordnung. Zu beurteilen ist dieses Denken, das metatheoretisch nach den Grundlagen politischer Ordnung fragt, auch daran, wieweit es sich für Politik als praktischen Prozeß interessiert und wieweit neben der metatheoretischen Erörterung des Politischen auch Politik und Machtprozesse analysiert werden. Was die Verknüpfung von Antike-Rekurs und Dekadenzgeschichten angeht, so ist sie im Rahmen dieser Art von Theorie der Weg, Probleme aufzuwerfen und meist in Form von Moderne-Kritiken auszuformen. Solche Kritiken sind ein essentielles Moment in der Entwicklung gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen und Theorieentwicklungen in der Moderne und begleiten die in ihr nahezu permanent ablaufenden Selbstvergewisserungsprozesse. Wie vielfach konstatiert greifen die alten Klassifikationen der Schulen und Ansätze von Theorien in der Politikwissenschaft kaum mehr; viel bemerkenswerter ist jedoch, daß es wenig ernsthafte Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Strömun-
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gen gibt. Vielleicht ist die Zeit der Neubesinnung in der politischen Theorie nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes und nach der Wiederkehr als erledigt angesehener Probleme noch nicht abgeschlossen. Zwar läßt sich ein erheblicher Aufschwung normativer Theorien konstatieren (vgl. Greven/ Schmalz-Bruns 1999), aber für zentrale neue Herausforderungen - genannt seien als Stichworte nur Globalisierung und Europäisierung gibt es vielfach nicht mehr als erste systematisch theoretische Zugriffe. Es fehlen zudem neue Paradigmen mit interdisziplinären Anknüpfungspunkten, die die vielfach als defizitär kritisierten älteren Ansätze ersetzen. In theoriegeschichtlichen Arbeiten tritt ein weiterer Punkt der aktuellen Situation auf dem Gebiet der politischen Theorie hervor. Es sind nicht nur die alten Frontstellungen verblaßt, sondern auch die letztlich aus der Weimarer Zeit und dem Kalten Krieg stammende dramatische Überschätzung der Bedeutung der politischen Theorie. Arnold Brechts Satz vom Armageddon, das zwischen dem Westen und dem Totalitarismus auf dem Gebiet der politischen Theorie entschieden wird (Brecht 1976: 21), stammt flir den heutigen Leser offensichtlich aus einer vergangenen Epoche. Im Rückblick auf die damaligen Debatten hat sich nicht nur die Bedeutung der politischen Theorie entscheidend zugunsten eines Theorienpluralismus relativiert, sondern auch viele Gegensätze, die von den zeitgenössischen Theoretikern zwischen ihnen herausgestellt wurden, verlieren gegenüber den gemeinsamen Problemstellungen an Bedeutung. Mit den einstigen Debatten in der Politikwissenschaft verglichen, hat die heutzutage dominierende Windstille und das Vorhandensein weniger theoretisch-radikaler Positionen aber auch etwas Beunruhigendes. Damit sollen weder verflossene Debatten romantisiert noch alte Schulen wieder zum Leben erweckt werden. Dennoch sollte man anerkennen, daß es die rigorosen und zugespitzten Positionen sind, die die Grenzen der politiktheoretischen Diskurse wesentlich mitdefinieren.
LITERATURVERZEICHNIS
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Arkes, H Aschheini, S. E. Assmann, J. . . Augustinus . . Averroes . . . Avicenna
. . .
. . 278-279,281-284, . . . 287-288,293-294, 310,320,323 297 . 45 . 74 . 55,319 . . . 16,71,83,85,189, 228,306 . . . .16,25,71,75,78, . . . 86, 146, 292, 306
Bacher, W. . . . 130 Bacon, F . 166,27(5,230,306,315 Barker, E. . . . 100, 291,294 Baron, H. . . . . . . 156,167, 169, 190 Baron, S.W. . . 126 Barth, K 43, 76, 203 Behnegar, N. . . 208,211 Beiner, R. . . . 331 Beiaval, Y. . . . 142 Bell, D . . . . 36,38,256,324 Bellah, R. N. . . 11,151 Benardete, S. . . 279,326 Bendix, R. . . . 208 Benhabib, S. . . 267,268, 269 Benjamin, W. . . 49,248 Bennett, W. . . . 328 Bentley, A. F. . . 308
364 Benton, W Berger, P Bergson, H Berlin, 1 Berns, W Bernstein, R Berthold, L Blackstone, W Bleek, W Bloch, E Bloom, A
Bluhm, H Böckenförde, E.-W Boesche, R Bohlender, M Bollenbeck, G Bolz, N Borgia, C Bradshaw, L Brandt, R Brecht, A Brenner, M Bruell, Ch Brzezinski, Z Buber, M Bubner, R Buchstein, H Buck, A. . . . Buckley, W.K Burckhardt, J Burke, E Burnham, J Bush, G Butler, E. M Butterfield, H Butterworth, Ch. E Calvin, J Carey, G. W Carnap, R
PERSONENVERZEICHNIS
245 38 304 201, 218,308 37,309, 310 330 99 316 302 197 17-19, 28-29, 38, 148, 306,311,319,325, 328-330, 333, 334 22, 33, 87,118 73 151 100,102, 115-116 50 30,41,49,58 169,175 166 224 197,201-202,218, 251,268,338 15,34,41,42,43 306 150,154 43,47 78 155 169,173 330 56 198, 233, 235, 238-240,316 36, 190 328 50, 155 191 77,306 215,315 323 277
Cäsar, G.1 Cassirer, E Chabod Churchill, W. S Cicero Clemenceau, G Cohen, H . . . .
Cooper, B Coser, L Costa, U. da Cropsey, J
Dahl, R Dallmayr, F Dannhauser, W Deane, H. A Dempf, A Derrida, J Descartes, R Detel, W Deutsch, K. L Devigne, R Dewey, J Diderot, D Dilthey, W Dish, L. J Donaggio, E Drury, S
Dunn, J Dunning, W. A Durkheim, Dzuback, M. A Easton, D
181 15, 53, 154, 155,173, 176, 182,190, 192 176 153,256 126, 185-186, 188, 224,226-227 260 42,43-46,48, 50, 54, 57,60,61-64,72-73, 86,127,130, 278, 297-298,321 166, 198, 204,230 273, 301 63, 138 33, 35,292,307, 311,314-319 210,246 38,331,333 17, 317, 328, 330 305 251 19 65, 166, 216, 230, 306,315,319 290 38, 326, 329 38, 327-328, 333 30, 34, 200, 258, 313,316,319 137 79, 203-204, 227 249, 269 56 20-21, 26, 36-38, 91, 129,173, 328-329, 331-332,334 232 312 311 200,246 210,235,258,312-313
365
PERSONENVERZEICHNIS
Eco, U Eden, R Eliot, T. S Emberley, P Epikur Epstein, D Erasmus Erdelyi, A Euchner, W Falter; J. W Faul, E Ferguson, A Figal, G Finch, A Fiore, J. v Fischer, K Ford, G. St Foucault, M Fradkin, H Fraenkel, E Freud, S Freyer, H Friedrich, C. J Fritz, K. v Fromm, E Fukuyama, F Gadamer, H. G. . . . . . . Gaiser, K Galilei, G Gebhardt, J George, St Germino, D Gerson, L. ben Gerth, H. H Gilbert, F Gildin, H Glatzer, N. N Göbel, A Golomb, J Gourevitch, V Graham, G. J
114 209,211, 213 200 166, 198, 204, 230 64,240 328 61 209 233 207 155 120, 234 54 208 155,262,264,269,271 254 150 25, 27,270,290 127 154,197 324 155,190 150, 154 160,161-162 324 149,331 13, 14, 16, 19,31, 51, 53, 55-57,144, 303 131 189,230 22,199,250 51 191 84 208 156, 767, 190, 191 153,234, 320, 326 45 95 42 100,148, 149 323
Green, K. H
17,21,41,71,72, 111,126,129,133 Greven, M. Th 338 Grondin, J 53, 57 Guiccardini, F 146, 179 Gumbrecht, H. U 253 Gunnell, J. G. . . . 20,30,31,41,49,71, . . . 196,201,206-207,210, . . . 249, 255, 273,276,277, 311-312,328,332 Guttmann, J 16,45,127,129,130 Habermas, J 26, 254, 266 Hadot, P 290-291 Halevi, J 125,132,142,322 Hallowell, J. H 191,198, 258 Harrington, J 316 Hasbach, W 257 Hassner, P 319 Hayek, F. v 36,153,154,200, 258 Hegel, G. W. F. . . . 44, 50, 88, 96, 147, 161,163,165,203, 204,206,217,235, 239-240,271,312, 317-318 Heidegger, M. . . . 15-16,19,27,30,42, . . . . 46,49-50,52-59,61, 63,65,76,99,115, 117-119,126,138, 164, 166, 178,194, 197,203.205,235, 247,251,270,278, . . . 304,319,327,329,335 Heise, W 134 Hennis, W 13, 209, 211, 214, 326 Henrich, D 277,214 Hentschke, A. B 291 Herz, D 273 Herzl, T 48,304 Hieron v. Syrakus 156 Hilger, D 240 Himmelfarb, G 37, 162, 332 Himmelfarb, M 297 Hitzler, R 94
366
PERSONENVERZEICHNIS
Hobbes, Th. . . . . . 13, 14, 32, 64, 68, . . . . 71,75,93-94, . . . 97-109,134, 140, . . . 141, 145, 164, 167, . . . 198,205,216,217, . . . 220,230-232,236, . . . 241,258,264,271, . . . 274,281,292,315 Hoffmann, Ch. . 43,45, 46 Holmes, St. . . . 20-21,26, 111, 144, 334 Holzhey, H. . . 44,112 Homer . . . . 154,268,271, . . . 284-285,295,329 Hooker, R. . . . 316 Horkheimer, M. . . . . . 154-155,235 Horwitz, R. . . . 316 Hubinger, G. . . 211 Hudson, W. S. . 216 Hume, D. . . . . . . 188,240,313,316 Husserl, E. . . . . . . 15-16,52,56-57, . . . 221,223,225,250, 278,304,319 Hutchins, R. M. . . . . 34,200,245,307 Hymann, S. . . . 245 Iggers, G. . . . Irrlitz, G
203 60
Jacobi, F. H. . . . . . . 15,43,60,120 Jaeger, W. . . . 31,51-52 Jaffa, H. V. . . . . . . . 36-37, 326, 328, 329-330 Jahanbegloo, R. . 218 32,214,246 Jaspers, K. . . . 253 Jauss, H. R. . . . 171-172 Jesus v. Nazareth Joas, H 199 Johnston, A. . . 149 Jouvenel, B. de 37 Kallikles . . . Kant, I Kaplan, A. . . . Karl, B. D
285-286 88,252,317 275 154,200,245
Kauffmann, C. . 16, 19 Kaufmann, A. . 197 Kelsen, H. . . . . 197,246,250,257,259 Kendali, W. . . 191,507 Kennington, R. . 211 Kerwin, J. G. . 201,246 Klausner, J. . . 60 Klein, J. . . . . . 15,16,55-56,75,110, . . . I l l , 120, 727,303 Kojève, A. . . . . . 13,14—15, 20,148, . . . 149,162-166,331 Koselleck, R. . 253 Krämer, H. . . 131 Kristol, I. . . . . . . . 36-37,162, 191, 328,333 Krochmalnik, D. 42 Krüger, G. . . 13, 16,53,55, 57, 61, 65, 70 199 Kuhn, H. . . . Kuhn, Th. S. . 214,301,307 Kymlicka, W. . 336 Laches . . . Lagarde, P. de Lampert, L. . Laslett, P. . . Lasswell, H. D. Lefort, C. . .
. . . . .
Leibniz, G. W. . Lenzer, St. J. . Leppin, H. . . Lepsius, R. M. . Lerner, D. . . . Lerner, R. . . . Lessing, G. E. . Lévinas, E. . . Lietzmann, H. J. Lincoln, A. . . Lippincott, B. E. Lippmann, W. . Livius, T. . . . Llanque, M
15 44 17 13,235 275,308 74-75,89-90, . . . 167, 172-173, 191 120 238,240 286 254 254 83,130, 131 . . 43,119-121,134,234 125 302 37 258 246,258 . . . 139,167, 170-172, 174, 177-179 95
367
PERSONENVERZEICHNIS
Locke, J Lord, C Lovejoy, A. 0 Löwith, K . . . .
Lübbe, H Lüders, J Lukrez Luther, M Lykurg Lyotard, F Machiavelli, N
. . . . . .
Maclntyre, A Macpherson, C. B Mahdi, M Maier, J Maihofer, W Maimonides, M
Malbin, M Man, P. de Mannheim, K. . . Mansfield, H Mansfield Jr., H. C Marchand, S.L Marcuse, H Maritain, i Marsilius v. Padua
13, 198, 231-233, 236,316,319 328 313-314,327 13, 16, 25,43—44, 53, 55-56, 57-58, 67,72,88,138,154, 198,204,2/7,214, 264-265,303 30,44, 50 15 223 315 121, 123, 186, 239 337 13, 29, 67, 76, 101, 134,139,146, 148-149, 155-156, 159, 163,164, 166-194, 208, 216, 230, 232-235, 241, 252, 258,260, 264-265,271,274, 308,312,315,336 39,219,272 232-233 130,131,132,306 128,730 197 16, 21, 25,49, . . 64—65, 71, 77, 80, . 83-87,109,111,117, 119,125-130,132-133, 138, 142, 145-146, 157, . . . . 315,317,320 328 136 . 32,58,202,210,377 328 172,191 51 254 169,201,255 319
Marx, K
35, 44,206,235, 245,247,271,312, 314, 317-318, 324 McAllister, T 19, 26, 37, 179, 194 McCarthy, M 247 McCormick, J. P 91 Mcllwain, Ch. H 312 McKeon, R 277 McKoy, Ch 319 McNeill, W.H 200 McShea,R. J. 172, 191 Mead, G. H 313 Medici, L. de' 175 Meier, Ch 296 Meier, H 12,16,18-19, 22, 54, 71, 89, 90-91, . . . . 93,98-99,777,119, 130, 136, 138,163, 236, 280, 334, 336 Meinecke, F 155, 190, 193 Meinel, T 75 Mendelssohn, M 16,43, 120 Merriam, Ch 153,154,200, 210,245,258 Merton, R. K 254 Meuter, G 99,280 Meyer, F 37 Meyer, M 149 Mill, J. St 316 Mills, C.W 208 Milton, J 316,318 Mohammed 87 Mommsen, W 209 Montesquieu, Ch. de S. . 135,252,260,262 Morgenthau, H 190,200 Morrow, G. R 291 Moses 186 Motzkin, A. L 133 Münkler, H 100, 108,168-169, . . . 7 76, 181, 184, 187, 188 Murley, J. A 38, 326 Nash, G. H Natorp, P
37 53, 95
368
PERSONENVERZEICHNIS
Nef, J. U. . . . Nelson, A. D. . Neumann, F. . Neumann, F. L. Neumann, S. . Nicgorski, W. . Nietzsche, F. .
34 202,211 154 197 154 330 14,15,77,19,21,25, 35, 44—48, 49-52, 59, 76, . . 81-82,115,117-119, . 163,197,198,204-205, . 207,216,223,234-235, . 252-253,265,278,281, . 297, 317, 318, 327, 328, 329-330 Nordau, M. . . 48 297 Novak, D. . . Nullmeier, F. . 94 Nussbaum, M. . . . . . 39,223,272,330 Oakeshott, M O'Brien, C. C Oexle, O. G Offe, C Olbrechts-Tyteca, L Opitz, P.J Orr, S Otto, R Overbeck, F Paine, Th Pangle, Th. L Parsons, T Perelman, Ch Perikles Picht, G Pines, Sh Pinsker, L Pippin, R. B Piaton . . . . . . . .
100, 326 238 203 II 113 250,318 77,297,329 46, 76,7/7-778 203,205 316 205, 328 13, 208, 209, 253-254 113 285 291, 293, 296 127, 129 304 149, 166 12,15,16,25,26,32, 44,51-52,54,57,75, 78, 82, 86-87, 92, 104-105, 108-109, 114,118,122,124, 126, 130-133, 140,
. . . . . . . . . .
. . 143,144, 145-146, . . 149-150, 154-155, . . 757, 158, 162,165, 174, 179,183,185-186, . . 191,193,198,216, 222,224-225,226-227, 241,247,248,251-252, . . 268,271,278-279, . . 280-283,287-299, . . 316,317,319,320, 323, 327, 330 Plattner, M. . . 328 Pocock, J. G.A. . . . . 169, 173, 191, 194 Polybius . . . 179,181,318 Popper, K. R. . 154-155, 197, 206,273 Protagoras . . 295 Quayle, D. . . . Rabkin, J Randall Jr„ J. H Ranke, L. v Raulet, G Rawls, J Reagan, R Rebenich, St Riccio, B. D Rickert, H Riesman, D Ridolofi Riedel, M Riezler, K Ritter, G Ritter, H Roosevelt, F. D Rorty, R Rosa, H Rosen, St Rosenzweig, F Roth, M. S Rotunda, R. D
328 328 160 204 203 11,13,25,26, 151,327,335 36, 38, 324, 327, 328,333 121 258 95 324 176 13,125 303 155,190,193,228 136 153,257-258 316,318,330-331 214,219 19-20, 144,166 15, 42, 43-48, 50, 52, 54, 57, 60,203 100,148 257
369
PERSONENVERZEICHNIS
Rousseau, J.-J. . . . . . . Runciman, W. G. . Riisen, J Rutkoff, P. M. . . Ryan, A
. . . . . .
. 117,120,125, 134-137, 142, 198, 205,233-239,257, . 265,306,315 : . . 235 203 209,303 200,258
I l i , 142,258, Sabine, G. H. . . . . . . . . 312-313,316,318 257 Sartori, G. . . . 175, 181, 189 Savonarola, G. . . . . . . . . . . 307,309-310 Schaar, J.H. . . . . . . 277,213-214 Schelting, A. v. . Schlangen, W. . . 155 Schleiermacher, F. 120 Schluchter, W. . . 209 338 Schmalz-Bruns, R. Schmitt, C. . . . . . . 27,32,49,58,71, 74, 75-76, 86, 89-100, 109,160-161, 163, 166, 181, 190, 194,197,216, 241-242, 257, 259, 268, 279-280, 288,295, 304 Schmitt, G. . . . 328 Schoeck, H. . . . 308 Scholem, G. . . . 45,77 Scholtz. G. . . . 203 Schopenhauer, A. 15 Schulte, Ch. . . . 48 Schütz, A. . . . 250,257 Schwartz, J. . . . 328 Scott, W. B. . . . 209,303 Seaton, J 330 223 Seel, M Sennett, R. . . . 151 Shakespeare, W. . 327 Shils, E . . . . 13,15,200,208 Shulsky, A. . . . 328 Sidney, A. . . . 316 Simmel, G. . . . 253 Simon, H. A. . . 308 Simon, W. . . . 46
156 100,113,7(57,168, . . 169, 173, 175,187 Smith, A 314,316 Smith, R. M. . . . 327 Smith, St. B. . . . 45 51 Snell, B Sokrates 12, 33,51,55, 73,81, . . 86,114,122,124, 131, 133,140, 146-147, . . 148-149,154, 158, 198, 223,224, 226-227, 296,298-299,316, 330 Solla de la Price, D. J 301 Solon . 186,239,288-289, 292,294 Söllner, A . 14,22,29,41,72,91, 99, 167, 190,191,197 . . 200, 270, 300, 334 Somit, A 33 Sophokles . . . . 51 Spaemann, R. . . . 135,237 Spann, O 250 Spengler, O. . . . 43 Spinoza, B. de . 13,14, 16, 32,42,44, . 46,53,54,59-69,75, 79, 100, 106, 108,117, 125-126,134,138-142, . . . . 166,220,315 Stahl, H.-P 284-286 Stalin, J.W. . . . 163 Stalley, R. F. . . . 291 Starobinski, J. . . 136 Stegmaier, W, . . . 42 Sternberger, D. . . 193 Stichweh, R. . . . 302 Stone, R. L. . . . 330 Storing, H. J. . . . 33, 306, 308-310,316 Strong, T.B. . . . 210 Swift, J 322 Szelak, Th 131 Simonides Skinner, Q
. . . .
Talmon, J. L. . . . Tamer, G
154,235 79
PERSONENVERZEICHNIS
370 Tanenhaus, J. . . 33 Tarcov, N. . . . 328 73 Taubes, J Tawney, R. H. . . 215 39,219 Taylor, Ch. . . . Tenbruck, F. H. . 209,211 Thukydides . . . . . 102-104, 174, 179, 216, 278-282,284-288, 317,319 Tibbon, S. Ibn . . 146 71, 132 Tibi, B Tietz, U 53 Tocqueville, A. de . . 151,252,260,316 Trasymachos . . . . 131-132, 146-147, 285-286 44 Treitschke, H. v. . Troeltsch, E. . . . 197 232 Tully, J Villa, D. R. . . . Voegelin, E. . . .
Vollrath, E. . . . Voltaire . . . . Vorländer, H. . .
331 13, 14, 19,20,37,126, . . 154-155, 162-163, . . 166,190,198,200, . . 206, 209,211,230, . . 242, 244-256,258, 259-277, 304, 305,318 251,257 137 257
Waldenfels, B. . . Walgreen, Ch. R. . Walzer, M. . . . . . . .
25 245 11,87,151, 223,272,334
Weber, M. . . . . 75,15-16,32,34,49, . . . 53,57-58,76,88 . . . 93-94,190,201, . . . 207-220,241-242, 253-254,264, . . . 274-275,377,318 Wehner, A. . . 15 Weinberger, C. . 328 Weinberger, V. 273 Weiss, G. . . . 252 Weldon, T. D. . 207,235 Welsch, W. . . 125,253 White, H.B. . . 303,306 Whitehead, A. N. 304 Wiener, Th. . . 125 Wiggins, W. J. . 308 Winch, P. . . . 307 Witt, J. de . . 62,67 Wolin, Sh. S. . 249,258,307, 309-310,377 Wood, G. S. . . 39 Xenophon
. . . . . . .
Zimmerli, W. Ch. Zuckert, C. . .
. 20,29,32,117,119, 121-125,146, 148-150, . . 156-163, 179, 187, . . 192-194,281,289, 299,306,319 772 19
Kursiv gesetzte Seitenzahlen beziehen sich auf den Fußnotentext.