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German Pages 260 Year 2020
Sebastian Basler Welterzeugung als Experiment
Gegenwartsliteratur | Band 2
Sebastian Basler lebt in Karlsruhe und ist Lehrer für die Fächer Englisch und Spanisch. Er studierte und promovierte an der Universität Konstanz.
Sebastian Basler
Welterzeugung als Experiment Zur Bedeutung der Räume im Werk von Julian Barnes
Dissertation der Universität Konstanz Tag der mündlichen Prüfung: 6. Dezember 2019 Referentin: Prof. Dr. Aleida Assmann Referentin: Prof. Dr. Silvia Mergenthal
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Inhalt
Abkürzungen .................................................................9 Einleitung ................................................................... 11
TEIL I: DER GESCHLOSSENE RAUM ALS EXPERIMENTELLE BÜHNE 1. Rauminszenierungen bei Julian Barnes ............................... 25 1.1. Räume, Grenzen, Ränder, Bewegungen: Eine erste Annäherung.......... 25 1.2. Just a fucking comedy? Geschlossene Räume als erzählte Bühnen ...... 29 2. Raum und Erzählung: Grenzziehungen als kommunikative Akte ....... 35 2.1. Auf dem Erzählschiff I: Vom Urheber zum begrenzten Raum ............. 36 2.2. Auf dem Erzählschiff II: Vom begrenzten Raum zum Leser ............... 40 3. Raum und Zeit: Gegenwartsinszenierungen im geschlossenen Raum.. 47 3.1. How do we seize the past? Barnes und die Zeit – ein Überblick .......... 48 3.2. How do we seize the present? Ewigkeitsvisionen und Momentaufnahmen ............................. 53 4. Welterzeugung als Versuchsanordnung ................................ 61 4.1. Neue Räume: Tabula rasa als erzählerische Raumstrategie.............. 64 4.2. Institutionalisierte Räume: Bewegungen in prästrukturierten Welten .... 67
TEIL II: VERSUCHSANORDNUNG 1 – NEUE RÄUME 5. 5.1. 5.2. 5.3. 5.4.
A History of the World in 10 12 Chapters: Die Geschichte als Text und das Hier und Jetzt ....................... 79 Die Arche und das Meer: Das symbolische Angebot des Romansettings ... 81 Die Arche und das Meer als Kontrast zweier Raum-Zeit-Strukturen ...... 88 Neue Räume vs. die Geschichte der Welt: »The Survivor« und »The Visitors«......................................................... 92 Meta-Worldmaking: »Shipwreck« und »The Dream« .................... 101
6.
The Noise of Time: Die Musik als umkämpfte Zone........................................ 107 6.1. Der Lärm der Zeit vs. die Welt der Musik: Grenzziehungen............... 109 6.2. And art made tongue-tied by authority: Entgrenzungen .................. 115 Zwischenfazit ..............................................................123
TEIL III: VERSUCHSANORDNUNG 2 – VOM NEUEN ZUM INSTITUTIONALISIERTEN RAUM 7. 7.1. 7.2. 7.3.
7.4.
Raum und Identität: Worldmaking als self-making in England, England ..................... 129 Her England, her heart: Marthas Jigsaw-Puzzle als Raummuster ...................................................... 133 Die Agricultural Show und der Verlust des Vaters ....................... 137 England, England: Die totale Bühne ..................................... 141 7.3.1. Theme Park Fiction und das Geschäft mit der Vergangenheit ..... 142 7.3.2. Der Themenpark als Symptom einer kulturellen Krise ............ 145 7.3.3. Von England zu England, England: Der Themenpark als neuer Raum .......................................................... 147 7.3.4. Die Entwicklung vom Themenpark zum Nationalstaat als Prozess der Institutionalisierung ............................... 153 7.3.5. But Time had its revenge: Die Rückkehr des Realen ..............158 Anglia: Worldmaking auf den Ruinen des ›alten England‹................ 164
Zwischenfazit .............................................................. 169
TEIL IV: VERSUCHSANORDNUNG 3 – INSTITUTIONALISIERTE RÄUME 8. The Porcupine als Erzählung des politischen Übergangs .............. 175 8.1. For example this one here: Exemplarität und Welterzeugung in The Porcupine....................................................... 178 8.2. Raum und Wirklichkeit: Das Innen und Außen der politischen Macht .....185 8.2.1. Ein Pluriversum der Wirklichkeiten: Das Außen des Gerichtssaals ....................................186 8.2.2. Von vielen Welten zu einer Welt: Transitional Justice ............. 194 9.
The tyranny of the bloody mirror: Das Blickregime des Friseursalons in »A Short History of Hairdressing« ................................... 203 9.1. »Yes«: Der Friseursalon als institutionalisierter Raum ................. 205 9.2. »No«: Gregorys Rebellion gegen die Institution ........................ 208 9.3. Sehen und Nicht-Sehen: Das Blickregime des Friseursalons............. 212
Zwischenfazit .............................................................. 219 Schlussbetrachtungen...................................................... 221 Grenzziehungen als post-postmoderne Raumstrategie ...................... 223 Barnes ʼ Blick in die Welt: Ein Baukasten der Welterzeugung ................. 232 Literatur .................................................................. 243 Danksagung ............................................................... 257
Abkürzungen
AH
Barnes, Julian, 2009a [1989]. A History of the World in 10 12 Chapters. London: Vintage.
ASHH Barnes, Julian, 2011a [2004]. »A Short History of Hairdressing«. In: The Lemon Table. London: Vintage, 1-22. BSMMBarnes, Julian, 2014a [1982]. Before She Met Me. London: Vintage. EE
Barnes, Julian, 2000 [1998]. England, England. New York: Vintage.
FP
Barnes, Julian, 2009b [1984]. Flaubert’s Parrot. London: Vintage.
M
Barnes, Julian, 2009c [1980]. Metroland. London: Vintage.
NT
Barnes, Julian, 2016. The Noise of Time. London: Jonathan Cape.
P
Barnes, Julian, 2014b [1992]. The Porcupine. London: Vintage.
S
Barnes, Julian, 2011d [2004]. »The Silence«. In: The Lemon Table. London: Vintage, 201-213.
SE
Barnes, Julian, 2011c. The Sense of an Ending. London: Jonathan Cape.
Einleitung
Martha did not understand all the words, and very few of the instructions, but something about the lists – their calm organisation and their completeness – satisfied her. Three Dahlias, decorative, over 8" – in three vases Three Dahlias, decorative, 6" – 8" – in one vase Four Dahlias, decorative, 3" – 6" – in one vase Five Dahlias, miniature ball […] There was the whole world of Dahlias accounted for. None missing. (EE 9-10) […] that was his job, after all, wasn’t it: smelting order out of chaos, rendering fear and panic and agony and passion down into two hundred pages and six quid ninety-five. (BSMM 51) Diese Zitate aus den Barnes-Romanen England, England und Before She Met Me erlauben einen ersten Blick auf die Prozesse, die in dieser Arbeit mit dem Begriff Welterzeugung bezeichnet werden. Die erste Passage beschreibt eine Kindheitserinnerung von Martha Cochrane, der Protagonistin von England, England. Als sie als junges Mädchen mit ihren Eltern eine Landwirtschaftsausstellung besucht, ist sie besonders beeindruckt von der »Welt der Dahlien«. Die Klassifizierung der Blumen schafft einen Mikrokosmos, der sich für sie als lückenlos und stimmig darstellt. Während die junge Martha nur Vollkommenheit und Ganzheit sieht, tritt für die Leser durch die beliebig erscheinenden Listen und Kategorien vor allem auch das Gemacht-Sein dieser Ordnung zutage. In der zweiten Passage geht es ebenfalls um das Machen einer Welt, auch
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Welterzeugung als Experiment
für die Schriftstellerfigur Jack Lupton hat Welterzeugung mit Ordnung zu tun: Erzählen heißt für ihn, das Chaos der ›echten‹, außerliterarischen Welt in eine reduzierte Form zu gießen, die er auf genau 200 Seiten und, in Anlehnung an den Preis des Buchs, 6,95 Pfund beziffert. Der Fokus auf verschiedene Arten der Ordnung in beiden Zitaten verdeutlicht zunächst, dass die jeweiligen Welten nicht einfach ›da‹ sind – etwa als passiver Hintergrund, vor dem sich eine Handlung abspielt oder, wie im Fall von Martha Cochrane, der Konflikt einer Protagonistin inszeniert wird. Vielmehr treten die Prozesse der Welterzeugung selbst in den Mittelpunkt: Zum einen die Prozesse, die eine Welt als eigene Ordnung entstehen lassen, zum anderen jene, die eine Welt als erzählerisches Produkt hervorbringen. ›Eine Ordnung schaffen‹ ist nur eine der fünf basalen Ways of Worldmaking, die Nelson Goodman in seiner gleichnamigen Studie in Stellung bringt.1 Goodman benennt neben dem Ordnen vier weitere Prozesse, die der Welterzeugung zugrunde liegen: Komposition und Dekomposition, Gewichtung, Tilgung und Ergänzung sowie Deformation (vgl. Goodman 2017: 20-31). Die durch diese Prozesse erzeugten Welten bezeichnet Goodman auch als Weltversionen. Der Begriff der Version bringt zum Ausdruck, dass in Goodmans theoretischem Rahmen eine ›einzige Welt‹ durch eine Vielzahl tatsächlicher und möglicher Welten ersetzt wird (vgl. ebd.: 14). Die pluralistische Absage an die ›eine‹ Welt oder »feste Grundlage« (ebd.: 17), auf die alle Welten zurückgeführt werden könnten, geht aus Goodmans symboltheoretisch-konstruktivistischer Grundausrichtung hervor. Der Philosoph betrachtet Welten oder Weltversionen ausschließlich als Symbolanordnungen, die auf der Grundlage verschiedener Symbolsysteme erzeugt werden. Die verschiedenen Bereiche einer Kultur – Kunst, Wissenschaft, Alltagsleben – haben ihre je eigenen symbolischen Formen und Systeme und erzeugen so verschiedene Weltversionen, die »[…] unabhängig voneinander von Interesse und Wichtigkeit sind« (ebd.: 17). So liegt, um diese Be1
Die deutsche Übersetzung von Goodmans Arbeit erschien erstmals im Jahr 1978 unter dem Titel Weisen der Welterzeugung. ›Worldmaking‹ und ›Welterzeugung‹ werden in dieser Arbeit synonym verwendet.
Einleitung
obachtungen mit den beiden Barnes-Zitaten ins Gespräch zu bringen, der »stillen Organisation« der Dahlien als strukturgebendes System der numerische Vergleich von Größe und Anzahl zugrunde, während die Erzählung eine Welt durch die Rahmen eines Genres und dessen Erzählkonventionen konstituiert. Beide Welten entstehen nicht aus dem Nichts, sondern bedienen sich bereits Bestehendem, das reduziert, geordnet und neu kombiniert wird – bei Barnes wie Goodman ist das »Erschaffen« damit immer ein »Umschaffen« (ebd.: 19). Aus der Perspektive der symbolischen Welterzeugung ist dabei nicht unmittelbar relevant, dass sich die beiden Welten auf verschiedenen ontologischen, oder, in erzähltheoretischen Begriffen, diegetischen Ebenen befinden: Die Landwirtschaftsschau ist ein Schauplatz innerhalb der übergeordneten fiktiven Gesamtwelt des Romans England, England, Jack Lupton steht mit seinen Überlegungen hingegen außerhalb der fiktiven Welt, über deren Erzeugung er selbst nachdenkt. Goodmans Gleichsetzung von »Fiktion« und »Nicht-Fiktion« zeigt, dass die symbolischen Prozesse der Welterzeugung über solche Grenzen hinweg am Werk sind: Die Fiktion operiert in wirklichen Welten sehr ähnlich wie die NichtFiktion. Cervantes, Bosch und Goya – nicht weniger als Boswell, Newton und Darwin – nehmen und zerlegen uns vertraute Welten, schaffen sie neu, greifen sie wieder auf, formen sie in bemerkenswerten und manchmal schwer verständlichen, schließlich aber doch erkennbaren – d.h. wieder-erkennbaren – Weisen um. (Ebd.: 130) Während Goodman eine Unterscheidung zwischen fiktiven und anderen Welten kurzerhand ablehnt, kann der Schriftsteller Jack Lupton diese Frage schon aus Gründen der beruflichen Identität nicht so schnell als erledigt betrachten. Schließlich ist es, wie er betont, sein Geschäft, eine widersprüchliche Vielheit in die besondere, geordnete Form der literarischen Erzählung zu überführen. Die kurze metapoetische Überlegung von Barnesʼ »comical proxy« (Holmes 2009b: 111) innerhalb des Romans deutet bereits an, dass das Erzählen als eigene Form der Welterzeugung durch eine differenziertere Betrachtung außerhalb der allgemeinen Symboltheorie schärfere Konturen gewinnen kann (vgl. Her-
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Welterzeugung als Experiment
man 2009: 78). Es lohnt sich, Goodmans Ansatz eine erzähltheoretische Perspektive an die Seite zu stellen und so auf wichtige Besonderheiten des fiktional-literarischen Worldmaking aufmerksam zu machen. Goodmans Liste der fünf grundlegenden Weisen der Welterzeugung fügt die Literaturwissenschaftlerin Vera Nünning acht weitere Eigenschaften hinzu, die insbesondere auf erzählte Welten zutreffen (vgl. Nünning 2010: 223-236). So haben, um hier nur die wichtigsten zu nennen, Erzählungen mit der Story und dem Discourse zwei Ebenen, die nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können. Jede Geschichte ist perspektivisch an eine erzählende Instanz gebunden, die durch Strategien wie Fokalisierung oder erlebte Rede die Storyworld nicht nur vermittelt, sondern zuallererst hervorbringt. Über diese doppelte Codierung hinaus unterscheiden sich erzählte von anderen Welten durch eine andere Referenzialität. Die erfundenen ›Tatsachen‹ eines Romans können nicht verifiziert werden, weil sie nicht über die erfundene Welt hinausweisen. Dies gilt auch für reale Ereignisse oder Orte, die in der Fiktion vorkommen. Die Leser eines Romans wie Metroland etwa wissen, dass das dort beschriebene London nicht mit dem realen London – oder besser: mit anderen London-Versionen außerhalb des Romans – gleichzusetzen ist. Die Bereitschaft, Barnesʼ London für die Dauer der Lektüre als alternatives London zu akzeptieren, ist Teil eines fiktionalen Vertrags, den die Leser eingehen, wenn sie den Roman zur Hand nehmen. Diese besondere Rezeptionshaltung ist vielleicht der wichtigste Punkt in Nünnings Liste. Geht mit ihr doch die Akzeptanz einer ungleich freieren und kreativeren Welterzeugung als außerhalb des fiktionalen Rahmens einher: Ein Roman kann Dinge sagen, die andere Diskurse und Welten nicht zulassen, er kann polemisieren und ironisieren. Vor allem aber kann er Welten, auch unwahrscheinliche, fantastische oder sogar widersprüchliche, nach Belieben bauen und wieder einreißen.2 Nicht zuletzt diese schöpferischen Freiheiten geben litera-
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Mit Nelson Goodman könnte man hier freilich argumentieren, dass auch der Philosoph, der die Weisen der Welterzeugung untersucht, die Welten im Akt der Untersuchung hervorbringt: »Wenn Welten [zudem] ebensosehr geschaffen wie gefunden werden, dann ist auch das Erkennen ebensosehr ein Neu-
Einleitung
rischen Werken im Hinblick auf Worldmaking-Prozesse ein besonders großes Potential, auch über den unmittelbaren Bereich des Fiktionalen hinaus. In der Einleitung zum Sammelband Cultural Ways of Worldmaking. Media and Narratives, der einen kultur- und literaturwissenschaftlichen Anschluss an Goodmans philosophische Thesen erprobt, präzisieren Ansgar und Vera Nünning zwei Möglichkeiten, wie fiktionale Weltentwürfe auf andere Welten verweisen. Romane und Kurzgeschichten können demnach zum einen alternative Weltmodelle projizieren und das Erzeugen dieser Welten etwa im Hinblick auf epistemologische Fragen kommentieren und hinterfragen (vgl. Nünning/Nünning 2010: 12). Zum anderen hat das Erzählen performative Kraft. Es interveniert in die Welt, indem es Rahmen zur Kontextualisierung von Welten und Identitäten bereitstellt: […] when individuals try to make sense of their personal experience they tend to order it along the lines of literary genres or other text types. Genres themselves can thus be conceived of as important ways of self-making and worldmaking in that they provide the necessary salient frames, scripts and schemata for narrating coherent selves and building worlds. (Ebd.: 13) Die Rolle des (fiktionalen) Erzählens geht weit über die Grenzen des literarischen Werks hinaus. Sowohl die Konstitution des Selbst, der eigenen Identität, als auch die Konstitution der Welten, in denen sich dieses Selbst bewegt, sehen Nünning und Nünning als narrative Prozesse.3 Er-
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schaffen wie ein Berichten. […] Das Erkennen von Strukturen besteht in hohem Maße darin, sie zu erfinden und aufzuprägen. Begreifen und Schöpfen gehen Hand in Hand.« (Goodman 2017: 37, Herv. S.B.) Das oben angeführte Beispiel über die Leser, die sich während der MetrolandLektüre auf ein alternatives London einlassen, kann entsprechend ergänzt werden. Literarische London-Erzählungen haben aus dieser Sicht ebenso Anteil am Konstrukt des ›realen‹ London wie andere Erzählungen. Auch Jack Lupton stellt diese Verbindung ausdrücklich her. Das besprochene Zitat fällt, nachdem sich Jacks Kumpel Graham an ihn wendet und ihn um Hilfe mit seiner überbordenden Eifersucht ersucht. Um dem Chaos in Grahams Gedankenwelt Herr zu wer-
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zählungen können somit, um es in Jack Luptons Worten auszudrücken, durch ihre Strukturen, Rahmen und Schemata dem »Chaos« der Welt eine »Ordnung« geben. Jack Luptons prägnante Formulierung lädt ebenso wie Nünning und Nünnings Ausführungen ein, die Fragen nach der fiktional-literarischen Welterzeugung präziser zu stellen: Wie genau, mit welchen Strategien und Äußerungsmodalitäten, gießt man aus »fear and panic and agony and passion« eine Welt? Wie können literarische Welten auf andere mögliche und tatsächliche Welten Bezug nehmen? Wie signalisiert eine erzählte Welt ihren Status? Und schließlich: Wie interveniert das Bezeichnen in die Welt? Diesen grundlegenden Fragen der Weltkonstitution wendet sich das Werk von Julian Barnes immer wieder zu. Das »chameleon of British letters« (Stout 1992: 29) stellt in bis dato 14 Romanen und zahlreichen Kurzgeschichten immer wieder tradierte Erzählformen infrage, um neue Modi der literarischen Äußerung und damit auch neue Weisen der Welterzeugung zu erproben. Den Innovationsanspruch an das eigene Schaffen formulierte Barnes in einem Interview selbst einmal so: »In order to write, you have to convince yourself that it’s a new departure for you and not only a new departure for you but for the entire history of the novel.« (zit.n. Guignery 2006: 1) Dieses Selbstverständnis mag ein Grund für die experimentellen, spielerischen Strukturen sein, die das gesamte Barnes-Werk durchziehen.4 Egal, ob das Thema Eifersucht, Erinnerung, Altern oder nationale Identität heißt – Barnesʼ Texte sind oftmals als Entdeckungsreisen angelegt, die
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den und seine blinde Eifersucht erklärbar zu machen, führt Jack verschiedene biographische Fäden Grahams und dessen Frau Ann zusammen. Er beschreibt sein Wirken nicht als Rekonstruktion einer Wirklichkeit, sondern ausdrücklich in erzählerisch-schöpferischen Begriffen: »He wasn’t used to acting as a problem page, and he’d been fairly convinced by the plot structure he’d presented to Graham at such short notice. He’d managed to impose some sort of pattern on both their lives as he went along.« (BSMM 51, Herv. S.B.) Das spielerische Element bei Barnes wurde für viele verschiedene Werke hervorgehoben, siehe z.B. Holmes (2009b: 12), Pateman (2002: 2) oder Guignery (2006: 1).
Einleitung
zwar mitunter nur schwer in herkömmlichen Gattungskategorien zu fassen sind,5 aber immer neue Perspektiven auf das Erzählen und die Welt eröffnen. In Verbindung mit Barnesʼ spielerisch-experimentellen Weltentwürfen kann mit dem Raum an dieser Stelle das zweite Schlagwort dieser Arbeit ins Spiel gebracht werden: Welterzeugung, so meine zentrale These, ist bei Barnes eng verbunden mit der topologischen Organisation der Erzählungen. So verschieden die fiktionalen Entdeckungsreisen sein mögen, so zuverlässig führen sie die Leser immer wieder an Schauplätze, die sich räumlich von einem Außen abheben: Schiffe, Inseln, aber auch Gerichtssäle und Friseursalons. Aus einer Raumperspektive betrachtet haben diese Räume zunächst eine scharf gezogene Außengrenze gemein. Durch natürliche Grenzen wie die Klippen einer Insel oder künstliche Begrenzungen wie Eintrittsgelder oder Wachposten werden diese Räume nach außen ›abgedichtet‹, sodass ein geschützter Bereich entsteht. Dieser überschaubare, geordnete Bereich steht im Kontrast zu einem Außen, das sich in steter Unordnung befindet: das Meer etwa als paradigmatischer Ausdruck der Bewegung (A History) oder die erwachende Zivilgesellschaft eines Landes, das sich aus einer Diktatur befreit hat (The Porcupine). Auf den geschützten Raum konzentriert sich der erzählerische Blick – zur räumlichen Verdichtung gesellt sich damit auch eine narrativ-formale. Ich schlage vor, diese exponierten, verdichteten Räume als andere Räume zu betrachten, als heterotop konzipierte Ordnungen, wo die oben formulierten Fragen nach der Welterzeugung zusammenlaufen: Sie verhandeln einerseits, wie sich die Erzählung auf der Ebene der Vermittlung als Ordnung konstituiert und andererseits, wie sich Individuen und Gemeinschaften innerhalb der erzählten Welt einrichten.
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Die Gattungsfrage ist für die Werke von Julian Barnes wiederholt gestellt worden. Insbesondere die essayistischen Passagen, die sich in vielen Erzählungen finden, haben Diskussionen darüber veranlasst, ob Werke wie A History of the World in 10 12 Chapters oder Flaubert’s Parrot überhaupt als Romane zu bezeichnen sind – vgl. z.B. Moseley (1997: 8) Moseley (1997: 8), Finney (2006: 39-40) oder Morrison (1).
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Die eingangs erwähnte Landwirtschaftsschau kann als Ausdruck eines Raummusters gelten, das sich in größerem und kleinerem Maßstab über das gesamte Barnes-Werk hinweg beobachten lässt. Diese Arbeit nimmt sich vor, neben England, England vier weitere Werke von Julian Barnes (The Porcupine, A History of the World in 10 12 Chapters, »A Short History of Hairdressing« und The Noise of Time) auf die Konvergenzen zwischen Raum und Worldmaking hin zu befragen und – mit einem Ausdruck von Jörg Dünne – die Elemente einer »verräumlichenden Art der Welterzeugung« (Dünne 2015: 46) aufzuzeigen. Der erste Teil der Arbeit nimmt dabei zunächst das Zusammenwirken von Raum und Erzählung in den Blick. Wie überhaupt entsteht Erzählung aus dem Chaos der Welt? Hier steht zunächst der Gegensatz von Innen versus Außen im Mittelpunkt. Im Anschluss daran soll das geschlossene Innen als anderer Raum charakterisiert werden. Neben dem bereits verwendeten Begriff der Heterotopie wird das Bild der Bühne herangezogen, um die besondere Markierung auf einer zunächst räumlichen Ebene zu fassen. Anders sind diese Raumstrukturen aber nicht nur topologisch, sondern auch wegen einer metanarrativen Ebene, die ihnen eingeschrieben ist. Es geht dabei sowohl um die Konstitution einer fiktiven Welt im Rahmen einer Erzählung, als auch darum, wie die Fiktion am anderen Ende, bei den Lesern, ankommt. »Metapoetische Wegweisungen« (Warning 2015: 185) führen die Leser immer wieder an die Orte, wo diese Konversation über die produktive ebenso wie die rezeptive Seite des literarischen Texts stattfindet. Die selbstreferentielle Markierung dient hier aber nicht einer metafiktionalen Brechung, wie sie für postmoderne Werke charakteristisch ist.6 Im Gegenteil: In einer Auseinandersetzung mit Raoul Eshelmans (erklärtermaßen post-postmodernen) Theorie des Performatismus und Hans Ulrich Gumbrechts Konzept der Präsenz soll dargestellt werden, wie durch eine performative Grenzziehung die Fragen nach Unmittelbarkeit und direktem Erleben auf Barnesʼ ›erzählten Bühnen‹ neu gestellt werden.
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Patricia Waugh etwa hat zur Beschreibung der Verfahren der selbstreferentiellen Illusionsbrechung den Begriff der »frame breaks« (Waugh 1984: 28) geprägt.
Einleitung
Metanarratives Worldmaking im geschlossenen Raum, so wird zu zeigen sein, bricht keine Rahmen auf, sondern lotet die Möglichkeiten einer erzählerischen Ganzheit aus. Eng verbunden mit dem Konzept der Präsenz ist die Kategorie der Zeit. Nach einem kurzen Überblick über die verschiedenen Zeit-Diskurse bei Barnes untersucht Kapitel 3 das Zusammenspiel zwischen (geschlossenem) Raum und Zeit. Es soll beleuchtet werden, wie der begrenzte Raum die Zeit formt und festhält, zusammenzieht und ausdehnt, kurz: sie als Grundkategorie der Weltkonstitution in den Mittelpunkt rückt. Mit der Synchronie des Raums, so möchte ich argumentieren, schafft Barnes nicht zuletzt ein Gegengewicht zur als übermächtig und oft erdrückend dargestellten Diachronie der Geschichte. Mit den Fragen nach metanarrativer Ordnung und Präsenz orientiert sich die Arbeit bis zu diesem Punkt ›nach innen‹, also zur Erzählung selbst hin. Ihr Fokus ist das Erbauen erzählter Bühnen. Kapitel 4, Welterzeugung als Versuchsanordnung, wendet sich im Anschluss den ›Stücken‹ zu, die dort zur Aufführung gebracht werden, und nimmt damit eine zweite Dimension der Welterzeugung in den Blick. Der Begriff wird hier nicht mehr nur im metanarrativen Sinn verstanden, sondern bezieht sich auf verschiedene Strategien, einzelne Lebensbereiche einzurichten und zu organisieren – der Blick geht also ›nach außen‹, hin zur Welt außerhalb des fiktionalen Texts. Zur Veranschaulichung dieser zweiten Worldmaking-Dimension und der Fragen, die sie behandelt, kann einmal mehr die Landwirtschaftsschau herangezogen werden. Diese räumlich klar abgesteckte, geschlossene Ordnung steht im Mittelpunkt verschiedener Welterzeugungsdiskurse. Sie hat als Erinnerung zunächst große Bedeutung für Marthas lebenslange Suche nach Zugehörigkeit und einer kohärenten Identität. Die perfekte Ganzheit der Agricultural Show ist ihr ein Leben lang ein Idealbild, das letztlich aber unerreichbar bleibt. Das Erzeugen einer Welt ist in diesem Zusammenhang eng mit self-making verbunden, wie in einer hochgradig selbstreflexiven Passage zu Beginn des Romans deutlich wird. Hier fragt Martha, warum sie sich »so klar« (vgl. EE 7) an den Besuch der Ausstellung erinnert und welche Rolle er für ihr Selbstbild spielt. Dass Martha den Katalog mit Öffnungszeiten und Preisen ihr ganzes Le-
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ben aufbewahrt (vgl. EE 255), zeigt nicht nur, wie wichtig das Ereignis für sie persönlich ist, sondern auch, dass es tatsächlich stattgefunden hat und nicht gänzlich ihrem – aus ihrer Sicht trügerischen – Gedächtnis entspringt. Die Ausstellung ist damit auch eine Welt eigenen Rechts, mit eigenen Regeln und Gesetzen, die sie von anderen – man könnte sagen: weniger vollkommenen – Welten unterscheidet. Schon an diesen Mikrokosmos der Landwirtschaftsausstellung als anderen, aber realen Raum richtet Barnes Fragen nach Macht und Legitimität, die mit dem Themenpark und späteren Nationalstaat England, England in einem größeren Maßstab noch differenzierter in Szene gesetzt werden. Erinnerung, Identität, Regeln, Ordnung – die Schlagworte dieser ersten analytischen Skizze der Agricultural Show in England, England geben einen Eindruck davon, wie verschiedene Aspekte der Welterzeugung in der Versuchsanordnung des geschlossenen Raums zusammengebracht und in verdichteter Form verhandelt werden. Darüber hinaus deuten sie an, dass Goodmans allgemeine Symboltheorie allein nicht ausreicht, um eine Analyse der Barnes’schen Weltexperimente zu leisten. Schon der kurze Blick auf die Landwirtschaftsausstellung macht einen immer wieder geäußerten, zentralen Vorbehalt gegenüber Goodman nachvollziehbar: Durch die radikale Verknappung auf symbolische Formen und den hohen Grad an Abstraktion, so das Argument, würden andere, ebenso konstitutive Faktoren der Welterzeugung vernachlässigt (vgl. Elgin 1991: 90).7 Vor diesem Hintergrund ist diese Arbeit auch eine Auseinandersetzung mit der Frage, welche sozialen, politischen und körperlichen Aspekte bei der Beschreibung der Welterzeugung im Werk von Barnes berücksichtigt werden müssen.
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Mitchell schreibt hierzu: »There are three basic subject areas that Goodman routinely excludes from his system: values, knowledge, and history.« (Mitchell 1991: 24; s.a. Nünning/Nünning 2010: 3) Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass die vorliegende Arbeit sich nicht als Beitrag zu einer philosophischen Debatte sieht. Goodmans Symboltheorie und die Ergänzungen, die im Laufe der der Arbeit diskutiert werden, verstehe ich vielmehr als ›Werkzeuge‹, um die Welterzeugung im geschlossenen Raum bei Julian Barnes angemessen beschreiben zu können.
Einleitung
Um die Verschränkung von Raum- und Welt- Erzeugung genauer zu analysieren, schlage ich eine grundlegende Unterscheidung zwischen neuen (Abschnitt 4.1) und institutionalisierten Räumen (Abschnitt 4.2) vor. Als neue Räume bezeichne ich Räume, die sich durch eine semantische Entleerung auszeichnen: Der Erzähler oder ein Protagonist macht Tabula rasa, um ein oftmals höchst spekulatives Worldmaking from scratch zu ermöglichen. Im Gegensatz zu den neuen ist den institutionalisierten Räumen bereits eine Raumgrammatik eingeschrieben. Diese ›schon gemachten‹ Welten, zu denen auch das Beispiel der Landwirtschaftsausstellung zu zählen ist, geben Regeln, soziale Rollen oder Handlungsabläufe vor. Einzelne Protagonisten oder Gruppen, die sich in einem solchen Raum bewegen, interagieren mit den gegebenen Strukturen und finden unterschiedliche Wege, sich in ihnen einzurichten, sie zu verändern oder gar zu zerschlagen. Die Unterscheidung zwischen neuen und institutionalisierten Räumen führt uns im Anschluss durch die Analysen der einzelnen Werke, die in drei Versuchsanordnungen eingeteilt sind: Unter die Versuchsanordnung der neuen Räume (Teil II) fasse ich A History of the World in 10 21 Chapters und The Noise of Time. Aufgrund der zentralen Bedeutung des Schiffsmotivs widmet sich das Kapitel zu A History zunächst vertiefend den metanarrativen und zeitlichen Aspekten, die bereits im ersten Teil behandelt werden. Der Roman The Porcupine sowie die Kurzgeschichte »A Short History of Hairdressing« sind geprägt von institutionalisierten Räumen und werden entsprechend als zweite, entgegengesetzte Versuchsanordnung in Teil IV untersucht. Genau zwischen den Polen ›neu‹ und ›institutionalisiert‹ ist England, England einzuordnen: Die ehemalige Isle of Wight ist zunächst ein neuer Raum, eine Tabula rasa, die sich im Laufe des Romans zu einer institutionalisierten Ordnung entwickelt (Teil III). Es wird anhand der einzelnen Texte zu zeigen sein, dass die Verschränkung von topologischer Ordnung und Worldmaking in verschiedenen Kontexten, auf verschiedenen erzählerischen Ebenen und in verschiedenen Graden der Institutionalisierung zum Ausdruck kommt. Der Fokus dieser Arbeit liegt auf den Texten von Julian Barnes; relevante Bausteine aus der Raum- oder Erzähltheorie werden herange-
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zogen, wo sie die Diskussion der einzelnen Werke bereichern. Die vier Romane und die Kurzgeschichte, die untersucht werden, verteilen sich fast über die gesamte literarische Karriere von Julian Barnes. Die Gesamtschau dieser inhaltlich zum Teil sehr heterogenen Texte hat zwei Ziele: Sie soll zum einen die Gestaltung von experimentellen Raumanordnungen als eine zentrale künstlerische Strategie im Werk von Julian Barnes aufzeigen (Teil I) und zum anderen die Elemente des Machens und Einrichtens einer Welt zu einem Barnes’schen Baukasten der Welterzeugung zusammenfügen (Teile II-IV).
TEIL I: DER GESCHLOSSENE RAUM ALS EXPERIMENTELLE BÜHNE
1. Rauminszenierungen bei Julian Barnes
1.1.
Räume, Grenzen, Ränder, Bewegungen: Eine erste Annäherung
Barnesʼ oftmals episodenhafte, durch Metakommentare und Einschübe durchbrochene Erzählungen kennzeichnen sich aus einer Raumperspektive zuallererst durch Bewegung und Mobilität. Barnesʼ Metaphorik des Aufbruchs (»…new departure…«) findet in vielen Texten eine wörtliche Entsprechung, lässt er seine Erzähler und Protagonisten doch mit Vorliebe verreisen: Der junge Christoph Lloyd aus Barnesʼ Debütroman Metroland bewegt sich von London nach Paris und wieder zurück, A History of the World in 10 12 Chapters besteht aus mehreren – wenn auch katastrophalen und oft unfreiwilligen – Schiffsreisen, und die Suche nach Flauberts Papagei führt Geoffrey Braithwaite an die Wirkungsstätten des berühmten französischen Autors. Wie in Flaubert’s Parrot sind Bewegungen der Protagonisten in vielen Erzählungen nicht nur Reisen im physisch-räumlichen Sinn, sondern oftmals auch Reisen in die Vergangenheit – zur Mobilität im Raum gesellt sich dadurch auch eine Bewegung in der Zeit. Fast zwangsweise sorgt das hohe Maß an raumzeitlicher Bewegung in Barnesʼ Texten für eine Vielzahl an echten, erinnerten und vorgestellten Schauplätzen, die besucht, durchquert, aber auch bewohnt und als Fortbewegungsmittel benutzt werden. Diese Schauplätze heben sich als geschlossene Räume deutlich von der Offenheit und Bewegtheit des Geschehens und des Settings außerhalb dieser Schauplätze ab: Verschiedene Schiffe (A History of the World in 10 12 Chapters), ein Friseursalon (»A Short History of Hairdressing«), eine Insel
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(England, England) und ein Gerichtssaal (The Porcupine). Dem Gerichtssaal, in dem nach dem Fall der Sowjetunion die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eines nicht genannten postsowjetischen Staats verhandelt wird, steht beispielsweise ein ganzes Land in Bewegung gegenüber: Der politische Aufruhr bringt Hausfrauen auf die Straße, lässt Lenin-Statuen stürzen und eine Gruppe Studenten von Wohnung zu Wohnung eilen, damit sie den Prozess gegen den Diktator am Fernseher verfolgen können. Das Verhältnis zwischen Bewegung in Raum und Zeit einerseits und diesen geschlossenen Handlungsorten andererseits offenbart eine grundlegende Raumopposition: Ein bewegliches, unüberschaubares Außen steht einem verknappten, kondensierten Innen gegenüber. Ein kurzer Blick auf die einzelnen Werke zeigt, dass der insulare Charakter, der sich für den Innenraum aus dem topologischen Spiel von Bewegung und Statik ergibt, durch inhaltliche und erzählerische Verdichtung noch verstärkt wird. Barnes hebt das Innen durch eine inhaltliche Kondensierung vom Außen ab. Im Bereich des Innen, so scheint es, platziert er Essenzielles, lässt er die Story kulminieren. So ist in The Porcupine der Gerichtssaal der Ort, wo die aufeinander prallenden Weltsichten im Widerstreit des Staatsanwalts und des angeklagten Ex-Diktators Gestalt annehmen. Die Machenschaften der Kommunisten ebenso wie die unübersichtliche Bewegtheit der revolutionären Umtriebe verdichten sich hier durch Versprachlichung und dann durch Rechtsprechung zu einem vermeintlich gerechten Urteil. Während in The Porcupine im großen Maßstab über Recht und Unrecht entschieden wird, inszeniert Barnes in A History of World in 10 12 Chapters auf den schiffsähnlichen Untersätzen eine andere Art der inhaltlichen Zuspitzung. Der Raum des Schiffs verdichtet sich für die Protagonisten zu einer Welt en miniature, die absolut ist, weil es keine Alternative, kein Außen gibt. Diese totalisierende Eigenschaft des Schiffs stellt Barnes besonders heraus, indem er seine Protagonisten extremen Schwellensituationen aussetzt. Es geht hier fast immer um Leben und Tod: Die Protagonisten sehen sich kaltblütig mordenden Terroristen, Hunger, Wahnvorstellungen und Kannibalismus gegenüber. Der vertraute Rahmen, die Symbole und
1. Rauminszenierungen bei Julian Barnes
Rituale der ›Alltagswelt‹ sind ihnen genommen; in der Schiffswelt sind sie auf ihre bloße Körperlichkeit zurückgeworfen. Diese Zuspitzung auf der Story-Ebene wird nicht zuletzt durch die erzählerische Vermittlung auf der Discourse-Ebene möglich. A History etwa präsentiert zusammengenommen 10 12 Episoden, die in einer beliebigen Reihenfolge und unabhängig voneinander gelesen werden können. Die nicht-lineare Erzählung, die keine klassische Plot-Entwicklung zulässt, kommt auch durch den erzählerischen Blick zustande: Jede einzelne Episode ist auf den engen Raum des jeweiligen Schiffs fokussiert und geht nicht über dessen physische Grenzen hinaus. Erst im Anschluss an die Lektüre können die Leser Querverbindungen ziehen und Motive finden, die sich durch das ganze Werk ziehen (vgl. Finney 2003: 64). Als weiteres Beispiel für die erzählerische Fokussierung auf den Innenraum sei »A Short History of Hairdressing« genannt. Die Kurzgeschichte umspannt eine erzählte Zeit von mehreren Jahrzehnten. Der erzählerische Blick ist dabei jeweils statisch auf drei Friseurbesuche des Protagonisten Gregory und die jeweilige Gegenwart gerichtet. Der Erzähler lässt so eine genaue Beobachtung des jeweiligen Innenraums zu, er zeigt, wie sich die Protagonisten darin bewegen und sich die Institution über die Jahre hinweg ändert. Das Außen hingegen bleibt unterbestimmt: Wir erleben Gregory mit einer Ausnahme nur als Kunden im Friseursalon. Sowohl die erzählerisch-formale als auch die inhaltliche Differenz zwischen Innen und Außen lenkt das Augenmerk schließlich auf die Raumgrenze, gleichzeitig trennendes und verbindendes Element zweier Räume. In raumtheoretischen Modellen gilt die Grenze »[…] als wichtigstes topologisches Merkmal des Raumes […]« (Nünning 2009: 37). Sie ist in der Literaturwissenschaft eng mit dem Namen Jurij Lotmans verbunden.1 Für Lotman ist der Raum der Erzählung nicht nur dekorativer Hintergrund oder Symbolträger, sondern von zentraler Bedeutung
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Hallet und Neumann betonen, dass »Untersuchungen zum Raum in der Literatur und zur Räumlichkeit durchaus fest etabliert« seien – »und zwar lange vor der Proklamation eines spatial turn« (Hallet/Neumann 2009: 16).
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für den Plot einer Geschichte. In seinem frühen strukturalistischen Ansatz entwickelt er sein einflussreiches binäres Sujetmodell, nach dem ein Raum durch eine Grenze in zwei Teile geteilt ist. Jeder der beiden Teile trägt dabei ein bestimmtes semantisches Eigengewicht. In sujethaften Texten wird diese Grenze von einem Helden überschritten und die Handlung so in Gang gebracht. Die Grenzüberschreitung, also die Bewegung im Raum, ist für die Erzählung konstitutiv: »Nur durch den räumlichen Wechsel kommt die Dynamik des Plots, eine Handlung, – oder, wie Lotman sagt, ein Sujet – zustande. Mit der Bewegung endet auch das Sujet.« (Frank 2009: 67) Lotman entwickelt sein Modell zwar als abstrakte Struktur der Bewegung, die nicht ohne Weiteres auf jede literarische Inszenierung einer oberflächlichen bzw. »topographischen« (Martínez/Scheffel 2016: 159) Grenze übertragen werden kann. Dennoch fällt auf, dass das streng binäre Muster der Grenzüberschreitung als bewegungsstiftendes Moment nur schwer mit den hier besprochenen Räumen in Einklang zu bringen ist. Dies liegt zum einen daran, dass viele Barnes-Texte keine lineare Plotstruktur aufweisen und das Sujet sich in Parallelhandlungen oder Metalepsen auflöst. Zum anderen, und das ist noch wichtiger, muss man zwei verschiedene Begriffe der Bewegung – und mithin des Stillstands – annehmen. Während bei Lotman eine statische Raumopposition durch die Grenzüberschreitung des Helden in Bewegung gebracht wird, scheint Barnesʼ unübersichtliche Raum- und Zeichenwelt sich immer schon in Bewegung zu befinden – die Bewegung beginnt nicht mit der Erzählung bzw. dem Plot, sondern geht ihr voraus. Die Funktionen der Grenze, die sich hieraus ergeben, könnten gegensätzlicher nicht sein: Für Lotman ist die Grenzüberschreitung ein »revolutionäres Element« (Lotman 1993: 339), das Bewegung in zwei disjunkte statische Felder bringt. Bei Barnes hingegen ist die Grenzziehung zentral, die die Bewegung der Außenwelt eindämmt und somit die Erzählung erst möglich macht. Das Geschehen innerhalb der räumlich verknappten Schauplätze – Schiffe, Inseln, Gerichtssäle – kann sich nur entfalten, weil die Grenzen nicht überschritten werden. Die Schiffe und Flöße in A History etwa verdeutlichen diesen Zusammenhang zwischen Erzählung und Grenzziehung: Die isolierten Episoden können nur erzählt werden, wenn das Meer die
1. Rauminszenierungen bei Julian Barnes
Schiffe nicht ›schluckt‹ und sie in der dauernden Bewegung der Wellen und Gezeiten untergehen lässt. Dass diese Trennung zwischen bewegtem Außen und statischem Innen von besonderer Bedeutung ist, wird nicht zuletzt durch die Aufmerksamkeit deutlich, die der Grenze geschenkt wird: So wird sie mal von Wächtern (The Porcupine) geschützt, mal von Schmugglern (England, England) und Piraten (A History) in Frage gestellt. Die Grenze ist umkämpft, das Außen bleibt allgegenwärtig – eine Grenzüberschreitung findet dennoch entweder nicht statt oder lässt zumindest die etablierte räumliche Ordnung nicht aus den Fugen geraten. Inhaltliche Zuspitzung, erzählerisch-formale Fokussierung und eine rigoros gezogene, aber immer wieder herausgeforderte Grenze – so lassen sich die Charakteristika der insularen Innenräume bei Barnes vorerst zusammenfassen. Was hat es mit diesen Textinseln auf sich?
1.2.
Just a fucking comedy? Geschlossene Räume als erzählte Bühnen
Die auf verschiedenen Textebenen konstruierte Raumopposition erzielt einen Bühneneffekt: Die räumlichen Grenzziehungen heben das Innen vom Außen ab und schaffen einen exponierten Bereich, in dem eine Welt zur Aufführung gebracht wird, die sich von der Welt des Außen grundsätzlich unterscheidet. Für den Effekt einer »szenischen Bündelung« (Huber 2003: 9) im narrativen Text spielt neben der physischen vor allem die perspektivische Begrenzung eine wichtige Rolle. Der erzählerische Blick übernimmt die Steuerung der Beobachter, die im Theater, d.h. auf ›echten‹, physischen Bühnen, in der räumlichen Relationierung von Spielfläche und Zuschauerraum schon vorweggenommen ist (vgl. Friedrich 2015: 109). Ebenso wie die räumliche Anordnung des Theaters die Aufmerksamkeit auf die Bühne lenkt und das Hintergrundrauschen der ›echten‹ Welt ausblendet, fokussiert Barnes seine Leser durch die topologische Organisation der Texte auf die geschlossenen Schauplätze. Zu den Besonderheiten der Bühne als Raumtypus gehört, dass ihr immer ein Zuschauer zugeordnet ist. Actor und spectator sind während
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der Aufführung zur selben Zeit im selben Raum. Im Gegensatz zum Theater ist der Erzähltext nicht an eine Aufführung oder Performanz gebunden. Der Vorteil dabei ist, dass etwa ein Roman an verschiedensten Orten und zu verschiedensten Zeiten gelesen werden kann. Aber auch ein Nachteil liegt auf der Hand: Durch die räumliche und zeitliche Entkopplung von Produktion und Lektüre kann er nie die Kopräsenz zwischen Schauspieler und Rezipient erreichen, die der theatralen Performanz eigen ist. Das Hier und Jetzt des Theaters will auf Barnesʼ Bühnen folglich erzählerisch konstruiert sein – durch, wie wir gesehen haben, die erzählerische Lenkung des Zuschauerblicks und die räumliche Verknappung. Die Bühnen-Analogie erweist sich für eine erste Beschreibung der geschlossenen Räume bei Julian Barnes auch über diese räumlichen und perspektivischen Gemeinsamkeiten hinaus als gewinnbringend. So inszenieren die Barnes’schen Innenräume auch die situative Instabilität, die dem Hier und Jetzt des Theaters innewohnt. Besonders die jüngere Performativitätsforschung hebt hervor, dass der theatrale Raum der Aufführung in »ständiger Fluktuation begriffen« sei: »Jede Bewegung von Menschen, Objekten, Licht, jedes Erklingen von Lauten vermag ihn verändern.« (Fischer-Lichte zit.n. Friedrich 2015: 106) Dass die erzählten Bühnen bei Barnes als ähnlich veränderbare und instabile Konstrukte angelegt sind, zeigt sich vor allem an den Raumgrenzen. Zwar wird hier ein Innenraum rigoros von einem Außen getrennt. Gleichzeitig sind die Grenzen und Ränder aber auch umkämpft, das Außen erscheint als ständige Gefahr für die prekäre Ordnung des Innern. Die Gefahren, die jenseits der Ränder lauern, könnten vielfältiger nicht sein: das Flugzeug einer investigativen Journalistin, das in den Luftraum des Innen eindringen will (EE), ein vielsagendes Geräusch (P), ein flüchtiger Blick (EE) oder das Meer, das die kleine Welt des Schiffs jederzeit verschwinden lassen kann (AH). Das »Grenzpersonal« (Koschorke 2012a: 121) wie Schmuggler, Wachposten oder auch Türsteher stehen symbolisch für die Wechselwirkungen, die jeden kulturellen und sozialen Raum charakterisieren: Auf der einen Seite befinden sich die Bewahrer einer gegebenen Ordnung, auf der anderen Seite jene, die diese Ordnung herausfordern – sei es, um die innere Ordnung zu stören
1. Rauminszenierungen bei Julian Barnes
oder um sie durch Innovationen von außen zu optimieren.2 Die »ständige Fluktuation«, die Fischer-Lichte für den Moment der Aufführung beobachtet, sehen wir damit bei Barnes auf die räumliche Dynamik an den Grenzen übertragen. Die erzählerisch-formale Konzeption geschlossener Räume als Bühnen wird immer wieder auch auf der Story-Ebene gespiegelt. So ist beispielsweise der Gerichtssaal von The Porcupine mehr als nur im figurativen Sinn eine Bühne: Der Prozess gegen den ehemaligen Diktator Stoyo Petkanov ist von vornherein als Schauprozess und damit Inszenierung angelegt. Das inszenatorische Bild wird unterstützt durch die Fernsehkameras, die die Verhandlung in die Wohnzimmer der Zuschauer übertragen. Einer der Studierenden, denen der Roman in einem zweiten Handlungsstrang folgt, bringt es prägnant auf den Punkt: »It’s just actors. They’re all actors. It’s a fucking comedy.« (P 100) Auch im Roman England, England ist das Theaterspielen von entscheidender Bedeutung, wird doch die nationale Identität Englands verkürzt, verändert, verschönt, kurz: fiktionalisiert in Szene gesetzt. Die Insel wird zu einer totalen Bühne, wo das gesamte Leben einem Drehbuch, einem genau getakteten Ablauf folgt. Für die Schauspieler verschwimmen die Grenzen zwischen dem off- und onstage-Bereich zusehends. Sie verbringen nicht nur ihr ganzes Leben auf der Insel, sondern verschmelzen zudem mehr und mehr mit ihren Rollen. So beginnen die Schmuggler, tatsächlich illegale Ware auf die Insel zu bringen und Robin Hoods Merrie Men wirklich Wildschweine im Wald zu jagen. Auch hier gibt es Kameras, die die Inszenierung weiter perspektivieren: Die statischen Überwachungskameras führen das gesamte Geschehen auf der Insel im Büro der CEO Martha Cochrane zusammen. Dort werden die Einzelinszenierungen zum Gesamtkonstrukt England, England gefügt (vgl. EE 189). Barnes, so kann vorläufig festgehalten werden, spielt mit dem Bild der Bühne auf verschiedenen Ebenen der Erzählung: durch eine erzählerisch-räumliche Fokussierung ebenso wie ein In-Szene-Setzen 2
Zur Erneuerung einer kulturellen Ordnung an der Peripherie im Rahmen von Lotmans Modell der Semiosphäre siehe Koschorke (2012b: 29-30).
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der Handlung innerhalb der fiktiven Welt. Die Analogie, die Barnes in Form und Inhalt nur andeutet, hat weitreichende Folgen für die Semantik der Räume, schließlich steht der Begriff der Bühne für weit mehr als nur eine räumlich abgetrennte Rampe. Die Bühne trägt als Raum der Fiktion, der von realen Orten und Räumen umgeben ist, eine besondere Markierung. Die Theaterbesucher etwa, die sich in den Zuschauerraum eines Theaters begeben, schließen – ebenso wie die Leser eines Romans – einen unausgesprochenen fiktionalen Vertrag: Noch ehe das Stück beginnt, stellen sie sich darauf ein, die reale Welt hinter sich zu lassen. Für eine kurze Zeit und an einem ganz bestimmten, anderen Ort unterbrechen sie den Fluss des alltäglichen Lebens, um sich in die erfundene und in Szene gesetzte Welt einzufühlen. Zwar ist die Bühne genauso wie die Schauspieler ein Teil der realen, materiellen Welt, ihrer fiktionalen Markierung nach steht sie aber gleichzeitig auch außerhalb dieser Welt: Für die fiktiven Welten, die auf den Bühnen entstehen, gelten weder die Regeln der Gesellschaft noch die natürlichen Begrenzungen, die die Natur dem Menschen setzt. Mit diesem besonderen Status als Ort, wo andere, erfundene Welten stattfinden, geht für das Theater eine besondere Freiheit einher. Ein Theaterstück kann sich frei in Raum und Zeit bewegen, Protagonisten umbringen und wieder zum Leben erwecken, gesellschaftliche oder politische Missstände anprangern und, für diese Analyse besonders wichtig, einen Aspekt des menschlichen Lebens herausgreifen, ihn dramaturgisch zuspitzen und so exponiert zur Schau stellen. Die Theaterbühne ist aus dieser Sicht eine beispielhafte Heterotopie, ein »Gegenort«, der »[…] all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage stellt und ins Gegenteil verkehrt […]« (Foucault 2006: 320). Und zwar, so könnte man Foucaults Definition für die Bühne ergänzen, auf dem engen Raum der Spielfläche. Neben der räumlichen und erzählerischen Markierung ist es vor allem dieser Status der Bühne als anderer Ort, der für die in dieser Arbeit zu leistende Analyse der geschlossenen Schauplätze im Werk von Julian Barnes wichtig ist. Barnes setzt einen geschützten und begrenzten Raum vom
1. Rauminszenierungen bei Julian Barnes
Rest der fiktiven Welt ab, um auf andere Orte und Bereiche der Kultur Bezug zu nehmen. Rainer Warning schlägt in einer systematischen Untersuchung das Konzept der Heterotopie im Anschluss an Foucault gewissermaßen als literaturwissenschaftliche Kategorie vor: Werke, die Räume immer wieder zu solchen anderen Räumen verdichten, bezeichnet er als »heterotop konzipiert« (Warning 2015: 181).3 Diese Bezeichnung ist für die hier untersuchten Texte insofern treffend, als viele der durch physische und symbolische Barrieren geschützten Schauplätze »normale Topien« in besonderem Maße »repräsentieren, bestreiten und invertieren« (ebd.) und somit als typische Heterotopien nach Foucaults Definition betrachtet werden können. Neben dem vermehrten Aufkommen heterotoper Räume ist ein wichtiges Merkmal derart entworfener Texte, dass sie den Lesern den besonderen Status dieser Raumfigurationen als andere Räume signalisieren: Sie arbeiten, so Warning, »[…] mit verschlüsselten Grenzübergängen von einem mimetischen zu einem heterotopen Imaginären, mit metapoetischen Wegweisungen, die die Lektüre auf dieser Ebene zu führen und zu halten suchen.« (Ebd.: 185) Diese metapoetischen Wegweisungen aufzuzeigen nehmen sich die folgenden Abschnitte vor.
3
Warning betrachtet Heterotopien in der Literatur als »Räume einer ästhetischen Erfahrung« (Warning 2009: 21), die er im Zusammenhang der Epiphanie diskutiert. Wie in den folgenden Abschnitten zu sehen sein wird, stellen Barnesʼ Versuchsanordnungen zwar auch die Frage nach einer ästhetischen Erfahrung im begrenzten und verdichteten Raum, beschränken sich aber nicht darauf. Foucaults heterotope Ordnungen – Kliniken, Bibliotheken, Museen, Jahrmärkte – stehen als reale andere Orte immer auch in enger Beziehung zu allen anderen realen Orten oder, anders ausgedrückt, zur Welt. Auch diesen Aspekt möchte das hier vorgeschlagene Konzept des anderen Raums abdecken (vgl. Kapitel 4).
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2. Raum und Erzählung: Grenzziehungen als kommunikative Akte
Warnings Rede des Übergangs von »einem mimetischen zu einem heterotopen Imaginären« meint, dass literarische Werke Räume über ihre ›eigentlichen‹ Eigenschaften hinaus als andere Räume markieren, um sie etwa symbolisch aufzuladen oder eine Handlung außerhalb dieser Räume zu kommentieren oder zu unterwandern. Eine solche Perspektive auf den Raum der Erzählung legt nahe, heterotope Schauplätze nicht ausschließlich nach ihrer primären Markierung als Teil der fiktiven Welt, sondern auch im Hinblick auf ihr Sinnpotential jenseits ihrer (mimetischen) Form zu befragen. Diese zweite, heterotope Markierung macht den jeweiligen Schauplatz damit zu einem Raum gleichzeitig innerhalb und außerhalb der Storyworld. In dieser scheinbar widersprüchlichen Verortung schwingt neben dem Was der Raumkonstitution immer schon die Frage nach dem Wie der fiktionalen Vermittlung mit. Für die Raumordnungen, die im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen, können diese Fragen konkret formuliert werden: Welche »metapoetischen Wegweisungen« führen die Leser zu den bühnenhaften, geschlossenen Anordnungen? Wie reflektiert der Text selbst das Zustandekommen seiner eigenen Raumordnung? Und: Welchem kommunikativen Zweck dienen die heterotopen Markierungen?
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Welterzeugung als Experiment
2.1.
Auf dem Erzählschiff I: Vom Urheber zum begrenzten Raum
Das Schiff und andere, schiffähnliche Untersätze sind die dominanten Schauplätze der History. Daher überrascht nicht, dass Barnes auch einen metanarrativen Einschub in der Bildsprache der Seefahrt formuliert. Er setzt das Erzählen mit dem Topos des steuerlosen Schiffs in Beziehung: When tempted by didacticism, the writer should imagine a spruce sea-captain eyeing the storm ahead, bustling from instrument to instrument in a Catherine wheel of gold braid, expelling crisp orders down the speaking tube. But there is nobody below decks; the engineroom was never installed, and the rudder broke off centuries ago. The captain may put on a very good act, convincing not just himself but even some of the passengers; though whether their floating world will come through depends not on him but on the mad winds and sullen tides, the icebergs and the sudden crusts of reef. (AH 227) In diesem Bild entspricht der Kapitän dem Autor, das Schiff der konkreten fiktiven Welt der Erzählung und das Ufer, an dem das Schiff möglichst unversehrt ankommen soll, dem Rezipienten. Die »floating world« dieses Erzählschiffs befindet sich in ständiger Bewegung und ist dem Meer auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Wind, plötzliche Ströme und Eisberge – Barnes charakterisiert die Umgebung seines Erzählschiffs als feindselig und unberechenbar. Aber auch um das Innere des Schiffs ist es in dieser düsteren Metaphorik kaum besser bestellt: Der Kapitän hat keinerlei Kontrolle über sein Schiff ohne Steuerruder und Motor; die Befehle, die er über das Sprechrohr gibt, werden von niemandem gehört und verkommen folglich zu »voices echoing in the dark« (AH 242), wie es in A History an anderer Stelle heißt. Das prekäre Innere des Schiffes, so scheint es, ist nur durch die Schiffswand vom Chaos des Außen getrennt. Barnesʼ metafiktionales Bild erscheint auf den ersten Blick von einem typisch postmodern-pessimistischen Textverständnis informiert zu sein. Der einzelne Autor verliert die Kontrolle über sein Werk, das
2. Raum und Erzählung: Grenzziehungen als kommunikative Akte
immer schon dem Meer der intertextuellen Verweise und dem endlosen semiotischen Spiel aus Identität und Alterität ausgeliefert ist. Ob der Text auf seiner langen Reise vom Autor zu den Lesern ›durchkommt‹, hängt eher an den Launen des bedrohlichen Außen als an seiner Qualität. Eine derart misstrauische Perspektive auf das eigene Schaffen hat Barnes mit vielen Schriftstellern seiner Generation gemein. Schreiben ist für diese Autoren immer auch Sprachkritik: Die Erzählwelten, die sie erzeugen, werden auf ihren Charakter als sprachliche Konstrukte hin befragt, sie verlieren sich in ihrer Darstellung oder verwischen ontologische Grenzen. Mit dem Tod des Autors hat Roland Barthes bereits 1968 den programmatischen Slogan für dieses postmoderne Textverständnis geprägt. Neben dem Einzelwerk stutzt Barthes in seinem epochalen Essay vor allem den Autor zurecht. Er ist weder das Genie der Romantik noch der souveräne Erzähler-Gott des Realismus, sondern bringt lediglich verschiedene Schreibweisen im vieldimensionalen Raum des Texts zusammen (vgl. Barthes 2000: 190). Der Autor verschwindet durch die Schrift aus dem Werk, das als Verknüpfung von Zitaten nicht mehr einem einzelnen Produzenten, sondern immer einer überindividuellen, intertextuellen Kultur verpflichtet ist (vgl. ebd.: 192). Auf den zweiten Blick wird allerdings deutlich, dass sich der Autor in Barnesʼ metanarrativem Schiffsbild nicht ohne Weiteres nach Barthes’scher Manier im Meer der Intertextualität versenken lässt. Hilflos wie er sein mag, verbleibt er im Zentrum seiner fiktiven Welt. Barnesʼ Kapitän ist, so könnte man in Anlehnung an Barthes sagen, alles andere als tot: Fast trotzig verbleibt er als metanarrative Instanz, die ihre eigene Hilflosigkeit reflektiert, auf dem Schiff. Ohne Kapitän, so scheint es, kein Schiff – er schreibt sich unwiderruflich in den Raum seiner Erzählung ein. Die Anwesenheit des Autors im Zentrum der fiktiven Welt bestätigt eine grundlegende Beobachtung von Keith Wilson: »[…] in Barnes’s case a distinctive, readily recognizable authorial voice supplies the dominant narrative tenor in much of his fiction. The ubiquity of this thinly veiled ruminative presence has important implications for characterization in his novels […].« (Wilson 2006: 363, Herv. S.B.) Wilson verwechselt hier nicht einfach die Stimme des Autors mit der des Erzählers. Es geht ihm auch nicht um die Person Julian Barnes, sondern
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vielmehr um die Stimme eines Urhebers des fiktionalen Werks, der sich den Lesern mal latent, mal offen zeigt. In dieser kaum verkleideten, nachdenklichen Stimme sieht Wilson eine Einladung, dem »Autor-Erzähler« durch den kreativen Prozess des Schreibens zu folgen und die künstlerische Schöpfung als »[…] im Kern performative Leistung zu sehen« (vgl. ebd.: 367-368). Die künstlerisch-erzählerische Performanz, die Wilson beobachtet, ist eine räumliche: Das metanarrative Bild bei Barnes begrenzt das erzählerische Produkt eindeutig auf das Schiff. Es bringt damit zuallererst einen künstlerischen Raum hervor. Der Kapitän ist es, der das Schiff in Bewegung setzt und damit die Grenze zieht zwischen Innen und Außen, zwischen der Geschichte und der ›Nicht-Geschichte‹.1 Die enge Verbindung zwischen dem Setting und der erzählend-schöpferischen Instanz, zwischen Raum und Erzählung, markiert das Schiff somit als Ort, an dem der performative Prozess der fiktionalen Welterzeugung inszeniert und reflektiert wird. Das Schiffsbild mit dem hilflosen Kapitän wird zu einer »metapoetischen Wegweisung« (Warning 2015: 185), die auf den doppelten Status der geschlossenen Schiffswelten aufmerksam macht: zum einen als Teil der erzählten Gesamtwelt des Romans, zum anderen aber auch als andere Raumordnung, wo nicht nur modellhafte Wirklichkeiten, sondern auch deren Entstehung und fiktionale Vermittlung verhandelt wird. Weil die Bildsprache für den erzähltheoretischen Vergleich dem Setting des Romans entlehnt ist, werden unweigerlich auch die anderen Schiffe und Boote metanarrativ aufgeladen – der Autor-Erzähler schmuggelt sich wie der berühmte Holzwurm des ersten Kapitels auf die verschiedenen Schiffe der History und macht sie so zu seinen »floating worlds« (AH 227). Die Idee des Autors als Urheber spielt auch für andere geschlossene Schauplätze außerhalb der History eine zentrale Rolle. Die Urheberschaft dieser Raumkonfigurationen ist im Gegensatz zur History aller-
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Das unbestimmte Außen des Schiffs erscheint dabei nicht als Hintergrund oder sogar Voraussetzung für die Schifffahrt bzw. das Erzählen. Vielmehr birgt es als Antithese zur Erzählung die Gefahr, das künstlerische Produkt, die Erzählung, zu zerstören.
2. Raum und Erzählung: Grenzziehungen als kommunikative Akte
dings nicht auf der Erzähler-Ebene, sondern auf der Ebene des Erzählten markiert. So ist das Themenpark-Projekt England, England, das from scratch aufgezogen wird, ohne Zweifel das Produkt des exzentrischen Sir Jack. Er ist es, der den Park entstehen lässt; er finanziert ihn und hält zunächst alle Fäden in der Hand. Erst später, als das Projekt im Prozess der Institutionalisierung seine eigene Dynamik (vgl. EE 258) entwickelt, verliert er die Macht im Unternehmen und damit den Zugriff auf seine Welt. Auch die Landwirtschaftsschau, die sich Martha im selben Roman als Idealbild ihrer Kindheit konstruiert, entspringt ihrem Gedächtnis und hat damit eine Autorin. Dass das Gedächtnis nicht einfach ein passiver Speicher für Erinnertes ist, sondern auch durch Selektionsprozesse Form annimmt, macht Martha zu Beginn des Romans selbst sehr deutlich: »It was like a country remembering its history: the past was never just the past, it was what made the present able to live with itself« (EE 6). Ob die Landwirtschaftsschau tatsächlich so war, wie Martha sie erinnert, spielt nach ihrer Definition eine untergeordnete Rolle. Mit ihrer kompletten Ordnung ist sie vielmehr wichtig als Marthas persönliches Sinnbild für die heile, unschuldige Welt ihrer Kindheit, die erst durch den Weggang des Vaters zerbricht und unverständlich wird. Schließlich ist auch in The Noise of Time der ideale Raum der Musik, in dem Barnesʼ Schostakowitsch ganz im Gegensatz zum echten Leben die volle Kontrolle hat, wo ihm die »Welt klar wird« (vgl. NT 24), eindeutig an einen Urheber geknüpft – an den Komponisten Schostakowitsch selbst. Die Protagonisten, die den begrenzten Raum kolonisieren, erfinden oder komponieren, können in ihrer Rolle als kreative Weltenmacher als Avatare des »Autor-Kapitäns« aus A History betrachtet werden. Für sie alle kann darüber hinaus die Tätigkeitsbeschreibung des Schriftstellers gelten, die zu Beginn dieser Arbeit zitiert wird: »[…] that was his job, after all, wasn’t it: smelting order out of chaos, rendering fear and panic and agony and passion down into two hundred pages and six quid ninety-five« (BSMM 51).2 Die Erzählung 2
Im Einklang mit dieser Analyse sieht Frederick M. Holmes in der mitunter stereotypen Schriftstellerfigur »[…] a comical proxy for Barnes within the fictional world of Before She Met Me« (2009b: 111).
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schafft einen Zusammenhang, in dem Chaos und ungefilterte Gefühle kanalisiert und geordnet werden. Während Jack seine geordnete Welt auf 200 Seiten beziffert, begrenzen Sir Jack, Martha und Shostakovich ihr Narrativ auf einen (realen oder figurativen) geschlossenen Raum. Es kann vorläufig festgehalten werden, dass in der metanarrativen Inszenierung der Worldmaking-Prozesse die Anwesenheit eines Autors oder Urhebers als schöpferische Kraft immer wieder eine herausragende Rolle spielt.3 In A History ist es auf einer extradiegetischen Ebene ein Autor-Erzähler, als dessen kreatives Produkt die Schiffswelten erscheinen, in den anderen Beispielen ist es ein Protagonist, der die jeweilige Welt hervorbringt. Sei es auf kreativ-künstlerischer (A History, The Noise of Time), politischer (England, England – Sir Jack) oder persönlich-psychologischer (England, England – Martha) Ebene – Barnes betont durch die starke Rolle eines Urhebers oder Autors erstens den performativ-prozessualen Charakter der jeweiligen Welterzeugung und zweitens die enge Verbindung zwischen Raum und Erzählung. Im folgenden Abschnitt wird erläutert, wie drittens die Rolle des Urhebers nicht nur das Verhältnis zwischen Produzenten und Produkt betrifft, sondern auch den Urheber mit den Rezipienten, den Lesern, ins Gespräch bringt.
2.2.
Auf dem Erzählschiff II: Vom begrenzten Raum zum Leser
Es ist bereits angeklungen, dass das bühnenhafte Arrangement der geschlossenen Räume immer schon die Kommunikation mit den Lesern im Blick hat. Eine figurative Bühne im Erzähltext hat nicht zuletzt die Funktion, die Leser auf den Bühnenraum zu fokussieren, d.h. ihre Wahrnehmung durch die Form der Rahmung zu lenken. Diese Lenkung des Lesers geschieht neben den Grenzziehungen im erzählten
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Wie in Abschnitt 4.2 noch genauer zu sehen sein wird, spielt der Urheber für einen institutionalisierten Raum eine gegensätzliche Rolle. In diesen vorstrukturierten Raumordnungen wird ein Urheber nicht durch seine Allgegenwärtigkeit, sondern umgekehrt durch seine Abwesenheit auffällig.
2. Raum und Erzählung: Grenzziehungen als kommunikative Akte
Raum vor allem durch narrative Mittel. Die Ich-Erzählerin Kath Ferris aus dem History-Kapitel »The Survivor« beispielsweise zieht die Leser durch eine radikal subjektive Perspektive in ihre kleine Welt, die wie die meisten Episoden der History auf einem Boot verortet ist. Die Geschichte spielt in den späten 1980er Jahren. Unter dem Eindruck des Kernreaktorunfalls in Tschernobyl befürchtet sie eine weitere atomare Katastrophe und ergreift die Flucht. Mit dem kleinen Ausflugsboot ihres Freundes Greg sticht sie hoffnungsvoll in See, um sich auf die Suche nach einem besseren Leben im Einklang mit der Natur zu machen. Die Leser begleiten Kath in die Isolation, der erzählerische Blick bleibt dabei konsequent auf Kaths neue Welt fokussiert. Auch im ersten Kapitel »The Stowaway« sorgt die erzählerische Perspektive für eine Begrenzung auf den geschlossenen Raum. Der Erzähler, ein Holzwurm, der sich als blinder Passagier auf der Arche Noah befindet, nimmt buchstäblich die äußerste Position ein: Er hat sich in den Schiffsrumpf gebohrt und berichtet von dort über die Willkürherrschaft auf Noahs Arche(n). Der Holzwurm markiert durch seine physische Position den Rahmen der erzählten Welt. Die Ausrichtung seiner »Linse« (vgl. AH 4) lässt damit alles andere, etwa ein mögliches Außen seiner Erzählung, hinter sich. Diese Art der rigorosen Rahmung führt zu einem Effekt, wie ihn Raoul Eshelman beschreibt: »The coercive frame cuts us off, at least temporarily, from the context around it and forces us back into the work.« (Eshelman 2009: 2) At least temporarily – dies gilt für die oben untersuchten Episoden umso mehr, weil der unkontrollierbare Kontext nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb des Romans zu finden ist. Der »coercive frame« oder starke Rahmen ist ein zentraler Bestandteil von Eshelmans Konzept, das er in seiner Studie Performatism or The End of Postmodernism entwirft. Wie der zweite Teil des Titels nahelegt, beobachtet Eshelman in zeitgenössischen literarischen Werken, aber auch in Filmen und in der Architektur, dass typisch postmoderne Ver-
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fahren und Überzeugungen zunehmend an Bedeutung verlieren.4 Performatistische Werke lassen den unendlichen semiotischen Regress der Postmoderne hinter sich, indem sie den Lesern eine oft lebensbejahende, nicht ironische Interpretation geradezu aufzwingen (vgl. ebd.: 3). Dies geschieht – daher rührt der Begriff des Performatismus5 – per formam, durch die Form hindurch (vgl. Eshelman 2016: 34). Ein starker Rahmen ist dabei das wichtigste formale Kennzeichen des performatistischen Werks. In der Rahmung der Erzählung begegnet uns ein starker Urheber oder Autor wieder, wie er im vorangehenden Abschnitt beschrieben wurde. Bei Eshelman nimmt er eine noch wichtigere Position ein. Der performatistische Autor schreibt sich nicht nur selbst in seine Geschichte ein, um den prozessualen Charakter der Welterzeugung herauszustreichen, sondern lenkt die Lektüre in eine bestimmte Richtung: »Because of its obvious constructedness and artificiality, this set-up or frame causes us to assume the existence of an implicit author forcing his or her will upon us as a kind of paradox or conundrum […].« (Eshelman 2009: 37) Im Gegensatz zu postmodernen Werken, wo der Autor im und durch den Text verschwindet, wird er bei Eshelman reaktiviert als positive, mit Handlungsmacht ausgestattete Kraft. Trotz dieser neuen Bedeutung des Autors kommt den Lesern in Eshelmans Modell eine ebenso wichtige Rolle zu. Natürlich liegt es immer noch an ihnen, ob die Lektüre im Sinne des Autors gelingt: There is always a certain amount of tension between the frames and our legitimate metaphysical and ideological skepticism. However, we are now being offered a specific choice as to the outcome of a reading or viewing rather than being condemned from the start to a misreading or misprision. (Ebd.: 4, Herv. S.B.)
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Zur Karriere des Begriffs der Postpostmoderne siehe beispielsweise Meurer (2007: 23). Für einen Überblick über verschiedene postpostmodernen Konzepte siehe Rudrum und Stavris (2015). Eshelman setzt seinen performatistischen Ansatz ausdrücklich ab von anderen, kulturwissenschaftlich orientierten Theorien der Performanz (vgl. Eshelman 2000: 150), zu denen man beispielsweise auch den etwa von Bachmann-Medick (2009) oder Culler (2000) beschriebenen performative turn zählen kann.
2. Raum und Erzählung: Grenzziehungen als kommunikative Akte
Genauso wie Eshelman an mehreren Stellen betont, dass eine dekonstruktivistische Lesart mit ihrer auf ein Negatives fixierten Epistemologie immer möglich ist, steht es auch den Lesern frei, die geschaffenen Rahmen anzunehmen oder zu verwerfen. Die Leser werden damit zu performativen Lesern: Sie lassen sich auf eine klar markierte, gerahmte fiktionale Welt ein – oder eben nicht. Sie werden zu etwas eingeladen, das Coleridge »the willing suspension of disbelief« nannte – nämlich, ›daran zu glauben‹ und vielleicht mit vorübergehender Naivität die ›Schönheit‹ des Texts unmittelbar wirken zu lassen. Im Gegensatz zu Coleridge, der die willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit 1817 in seiner Biographia Literaria formulierte, hat es Eshelman mit postmodernen Lesern zu tun, die diese »Einstellung des schönen Glaubens« (vgl. Eshelman 2009: 12) ganz neu erlernen müssen. Die vorherrschende Skepsis ihrer Zeit konditioniere sie geradezu darauf, das Werk nach Aporien, Widersprüchen und epistemologischen Sackgassen abzuklopfen. Das performatistische Werk, so Eshelman, versuche diese postmodernen Leser durch seine Rahmung dazu zu bringen, ihre kritische Haltung abzulegen: »The reader is ›framed‹ in such a way that trumps cognition.«6 (Ebd.) Die metanarrativen Verfahren zusammenführend – starke Rolle eines Autor-Erzählers, räumlich-physische Begrenzungen und starke Rahmen – möchte ich argumentieren, dass die Raumorganisation in Barnesʼ Texten die Leser in Eshelmans Sinn affiziert. Es geht mir dabei allerdings nicht darum, Barnes als performatistischen Autor zu stilisieren.7 Vielmehr möchte ich vorschlagen, die Affizierung der Leser im geschlossenen Raum als wichtigen Baustein der literarisch6
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In einer jüngeren Publikation, in der Eshelman sich an ein breiteres Publikum wendet, billigt er dem Glauben eine noch zentralere Rolle zu als in seinen wissenschaftlichen Veröffentlichungen – siehe hierzu Eshelman (2016). Nicht alle von Eshelman beschriebenen formalen Charakteristika finden sich in den hier untersuchten Texten wieder. Eshelman geht etwa von einem »double framing« aus, das die Leser in eine bestimmte rezeptive Haltung zwingt. Zwar können einzelne Kapitel der History mit Eshelmans Konzept in Einklang gebracht werden, für die Mehrheit der Werke ist dies aber nicht der Fall. Auch dient die Fokussierung auf den geschlossenen Raum nicht ausschließlich ei-
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fiktionalen Welterzeugung zu betrachten. Die räumlich-physischen Grenzziehungen markieren somit nicht nur einen Ort, wo der kreative Prozess des ›Weltenmachens‹ metanarrativ in Szene gesetzt wird, sondern auch das Bemühen, einen unmittelbaren Weg zu den Lesern zu finden. Diese Unmittelbarkeit zwischen Werk und Leser, die Eshelman in der paradoxen Überwindung des Zeichens im zeichenhaften Medium des Texts verwirklicht sieht, kann mit Hans Ulrich Gumbrechts Konzept der Präsenz noch genauer gefasst werden. Gumbrecht begreift Präsenz nicht vorrangig als Antwort auf eine postmoderne Krise der Repräsentation, sondern allgemeiner als Gegenentwurf zu einer »Sinnkultur«, die sich in den westlichen Kulturen in einem langen Prozess seit der frühen Neuzeit entwickelt habe und in verschiedenen Spielarten bis heute vorherrschend sei (vgl. Gumbrecht 2004: 38-69). Die Fixierung auf Sinn ebenso in ihrer klassisch-hermeneutischen als auch in ihrer dekonstruktivistischen Ausprägung stehe einem Erleben der materiellen Seite der Kultur und damit der »Dinge dieser Welt« (ebd.: 11) gegenüber. Um dieser mit den Mitteln einer Sinnkultur nicht zu erfassenden kulturellen Dimension Geltung zu verschaffen, untersucht Gumbrecht die »Produktion von Präsenz«. Der Ausdruck verweise »[…] auf alle möglichen Ereignisse und Prozesse, bei denen die Wirkung präsenter Gegenstände auf menschliche Körper ausgelöst und intensiviert wird.« (Ebd.) Die beiden Begriffe der ›Produktion‹ und der ›Präsenz‹ benutzt Gumbrecht dabei jeweils in ihrer etymologischen Bedeutung. So versteht er Produktion als einen Akt, bei dem ein Gegenstand im Raum »vor-geführt« (von lat. producere) wird; Dinge sind für Gumbrecht ›präsent‹, wenn sie »[…] vor uns und damit greifbar sind« (Gumbrecht 2010: 21). Die Elemente des Räumlichen und des Körperlichen sind es, die die Präsenz-Idee für die Beschreibung der geschlossenen Räume bei Barnes besonders interessant machen. Sie sind eng verbunden mit dem Konzept der Bühne, wo ganz in Gumbrechts Sinn Dinge vorgeführt und somit greifbar gemacht werden. Die performative Grenzziehung kann in nem ästhetischen Erleben, wie dies Eshelmans Theorie vorsieht (vgl. Eshelman 2009: 12).
2. Raum und Erzählung: Grenzziehungen als kommunikative Akte
diesem Sinn als »Präsenzeffekt« (ebd.: 127) gesehen werden: Sie erzeugt oder inszeniert eine erzählte Bühne als insularen Raum, der gerade deshalb die Aufmerksamkeit auf sich zieht, weil er strukturell durch einen Schnitt vom Rest des Texts getrennt ist. Im insularen Raum nimmt der Körper in seiner materiellen und sinnlichen Dimension oft eine zentrale Position ein. In der History etwa geht es, wie wir bereits gesehen haben, oft um Leben und Tod und damit um den Körper im grundsätzlichsten Sinn; der begrenzte Raum des Schiffs oder des Floßes wird dabei geradezu eingenommen vom körperlichen (Überlebens-)Kampf der Protagonisten. Auch in »A Short History of Hairdressing«, um ein weiteres Beispiel zu nennen, wird die Körperlichkeit des Protagonisten Gregory besonders herausgekehrt. Sie wird in den Vordergrund gerückt durch seine Angst vor der potentiell mörderischen Rasierklinge an seiner Gurgel ebenso wie durch seine Gedanken an den heimlichen Penisvergleich beim Schulschwimmen oder den Vergewaltigungsabsichten, die er dem Friseur zuschreibt (vgl. ASHH 8). Mit der Betonung des Räumlichen und des Körperlichen, so kann vorläufig festgehalten werden, erproben die Werke die Produktion von Präsenz, um eine möglichst unmittelbare Verbindung zu den Lesern herzustellen. Neben dem Raum und dem Körper hat das Präsenz-Konzept mit dem Moment eine dritte zentrale Komponente. Ein Präsenz-Erlebnis wie es Gumbrecht aus eigener Erfahrung beschreibt, etwa beim Hören einer Mozartarie oder beim Lesen eines Lorca-Gedichts (vgl. Gumbrecht 2004: 118), ist immer an einen Moment gebunden. Präsenz, so Gumbrecht, könne daher niemals etwas sein, »[…] an dem wir uns sozusagen festhalten können« (ebd.: 77). Er diskutiert im Anschluss an diese Beobachtung einschlägige Begriffe wie den der »extremen Zeitlichkeit« (Jean-Luc Nancy) oder der »Plötzlichkeit« (Karl Heinz Bohrer), um die Idee einer flüchtigen Gegenwart präziser zu fassen. Inwiefern die zeitliche Dimension von Präsenz auch im Werk von Barnes eine Rolle spielt, soll im folgenden Abschnitt untersucht werden.
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3. Raum und Zeit: Gegenwartsinszenierungen im geschlossenen Raum
Wurden bisher räumliche Phänomene wie Grenzen, Linien oder Innenund Außenräume auf ihre Rolle im Hinblick auf das fiktionale Worldmaking diskutiert, soll der Raum im Folgenden mit der Zeit, der zweiten narrativen Schlüsselkategorie der Welterzeugung (vgl. Nünning 2009: 33), ins Gespräch gebracht werden. Für einen Autor, dessen Werk sich intensiv mit Geschichte und Gedächtnis auseinandersetzt, ist die Bedeutung dieser Kategorie evident. In den folgenden Abschnitten wird zu zeigen sein, dass sich Barnes aber nicht nur auf die vergangene Zeit konzentriert, sondern auch erprobt, wie Gegenwart narrativ inszeniert werden kann. ›Gegenwart‹, das kann der Analyse als Begriffsbestimmung vorausgeschickt werden, ist hier mehr als der nicht festzumachende Kippmoment zwischen Vergangenheit und Zukunft. Gegenwart ist auch nicht nur der strukturgebende Fixpunkt, von dem aus der Erzähltheoretiker die Chronologie der erzählten Welt bestimmt. Der Gegenwartsbegriff, um den es im Folgenden geht, ist vielmehr ein qualitativer: Gegenwart als »dichter Augenblick« (Safranski 2017: 230) oder als »erfüllte Zeit« (Assmann 2013: 34). Die Bedeutung einer so verstandenen Gegenwart wird bei Barnes besonders deutlich, wenn sie mit der Vergangenheit und den Diskursen über die Vergangenheit kontrastiert wird. Barnesʼ Spiel mit den Kategorien, die das Zeitempfinden strukturieren und lenken, ist dabei eng an die Topologie der jeweiligen Erzählung geknüpft.
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Welterzeugung als Experiment
3.1.
How do we seize the past? Barnes und die Zeit – ein Überblick
Die Zeit spielt im Werk von Julian Barnes eine herausragende Rolle. Der so schwer definierbaren Kategorie, von der Augustinus sagte, dass er wisse, was sie sei, wenn ihn niemand danach frage, wolle er sie aber einem Fragenden erklären, wisse er es nicht (vgl. Augustinus 2016: 312), nähert sich auch Barnes als Suchender. In einer ersten Betrachtung kann die Barnes’sche Suche grob in zwei Richtungen geteilt werden. Ein Fokus liegt auf dem Vergehen der Zeit, auf den Spuren, die das Altern hinterlässt, und auf dem Umgang der Menschen und Kulturen mit dem Tod. Diesen im weitesten Sinne existenzphilosophischen Themen geht er in der Kurzgeschichtensammlung The Lemon Table und der essayartigen Memoire Nothing to Be Frightened of nach. Darüber hinaus widmet sich Barnes aber vor allem der bereits vergangenen Zeit und deren Repräsentation. Gedächtnis, Vergangenheitsbewältigung, Geschichtsschreibung – um diese Themen kreist ein Großteil der Romane und Kurzgeschichten aus Barnesʼ Feder. Wenn Geschichte durch die Zeit oder die Zeit durch Geschichte erfahrbar gemacht werden soll, finden sich immer wieder Passagen, die – ganz ähnlich wie bei Augustinus – die Zeit als erlebte Selbstverständlichkeit und dennoch als vom Verstand nicht zu bestimmendes Mysterium darstellt. So heißt es in The Sense of an Ending: »We live in time, it bounds and defines us, and time is supposed to measure history, isn’t it? But if we can’t understand time, can’t grasp its mysteries of pace and progress, what chance do we have with history – even our own small, personal, largely undocumented piece of it?« (SE 60) Mit dem programmatisch skeptischen Blick in den Rückspiegel befand sich Barnes über weite Strecken seines Schaffens in bester Gesellschaft, hatte die Vergangenheit im britischen Roman doch bis in die 2000er Jahre hinein Konjunktur.1 Ansgar Nünning etwa spricht Mitte 1
Christoph Henke schreibt beispielsweise im Jahr 2003, dass »[…] for the last twenty to thirty years ›the past‹ has been a dominant topic, if not the dominant topic, in British fiction« (Henke 2003: 77).
3. Raum und Zeit: Gegenwartsinszenierungen im geschlossenen Raum
der 1990er Jahre von einer Renaissance des historischen Romans, wenngleich, wie er anfügt, die zeitgenössischen Romane nicht mehr viel mit dem vor allem mit Sir Walter Scott verbundenen Paradigma gemein hätten (vgl. Nünning 1995: vii). Für die Autoren von Barnesʼ Schlag – Swift, Lively, Fowles, und außerhalb Großbritanniens auch Ondaatje oder Pynchon – ist die Vergangenheit nicht nur »just the present in fancy dress« (EE 199), um mit dem Historiker Dr. Max aus England, England zu sprechen, nicht nur der exotisch und fremd anmutende Hintergrund, vor dem eine Geschichte platziert wird. Sie stellen vielmehr mit den Mitteln der Fiktion grundsätzlich infrage, inwiefern eine Vergangenheit, in der ganz andere Episteme und Weltanschauungen den Ton angaben, aus einer Gegenwartsperspektive überhaupt noch zugänglich ist. »How do we seize the past? Can we ever do so?« (FP 14) Diese Fragen, die Barnes dem Ich-Erzähler Geoffrey Braithwaite in den Mund legt, können somit nicht nur für Flaubert’s Parrot, sondern eine ganze Reihe anderer Romane aus Barnesʼ Generation als leitend gesehen werden. In einer sehr einflussreichen Betrachtung prägte Linda Hutcheon den Begriff der historiographischen Metafiktion für die postmoderne Spielart, die die Postulate der klassischen Historiographie herausfordert. Die Selbstreflexivität im Umgang mit Geschichte, die das Genre auszeichnet (vgl. Hutcheon 1988: 113), ist allerdings nicht gleichzusetzen mit einem kategorischen Ausklammern eines außersprachlichen Referenten. Vielmehr geht es darum, Referenzialität zu problematisieren: Postmodernist reference, then, differs from modernist reference in its overt acknowledgement of the existence (if inaccessibility) of the past (except through discourse). […] Historiographic metafiction, while teasing us with the existence of the past as real, also suggests that there is no direct access to that real which would be unmediated by the various discourses about it. (Ebd.: 173) Barnes erkundet die sprachlich-narrative Verfasstheit von Geschichte mit einem unerschöpflichen Vorrat an originellen und spielerischen Verfahren, die die vermeintlich solide Faktizität der historischen Erkenntnis unterlaufen. Wie in der Sekundärliteratur schon ausführlich
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dargestellt wurde, geschieht dies – typisch postmodern – durch die Entgrenzung von Fakt und Fiktion, der Zurückweisung verschiedener großer Narrative der Geschichtsphilosophie, oder indem beispielhaft vorgeführt wird, wie das historische Bezeichnen in die Welt interveniert und sie so überhaupt erst entstehen lässt. Geschichte, so heißt es bei Barnes in einer vielzitierten Passage, »[…] isn’t what happened. History is just what historians tell us. There was a plan, a movement, expansion, the march of democracy; it is a tapestry, a flow of events, a complex narrative, connected, explicable. One good story leads to another.« (AH 242) Dennoch ist es nicht nur die große Originalität beim Aufbrechen historiographischer Sinnarchitekturen, die Barnesʼ Umgang mit der Vergangenheit besonders macht. In seinen Werken schwingt immer auch eine Nostalgie für die Wahrheit mit, die zusammen mit der geschichtlichen Großerzählung verloren gegangen ist. Das Werk des »Chameleon Author« entzieht sich auch deshalb einer einfachen Kategorisierung, weil es von einer unzweifelhaft postmodernen Skepsis informiert ist, sich gleichzeitig aber zäh weigert, sämtliche ›modernen‹ Überzeugungen über Bord zu werfen. In keinem Barnes-Text wird diese widersprüchliche Orientierung deutlicher als in A History. Muss man an die eine Wahrheit glauben, wie der Erzähler im berühmten Halbkapitel insistiert, auch wenn man weiß, dass sie unerreichbar ist (vgl. AH 246)? Claudia Kotte folgt dieser Frage durch den Roman und argumentiert, dass das Halbkapitel die relativistische ›Logik‹ der anderen zehn Kapitel konterkariere und aus einer über der Erzählung stehenden, auktorialen Position der Wahrheit zu einem unwahrscheinlichen Comeback verhelfe (vgl. Kotte 2001: 105). Barnes rehabilitiere eine objektive Wahrheit, indem er sie mit der Liebe verquicke: »[…] in what Barnes considers to be an indispensable act of faith, both love as well as ›objective‹ truth are re-instated as regulative ideas.« (Ebd.: 103, Herv. S.B.) Das Halbkapitel macht den Roman für Kotte damit insgesamt zum moralischen Appell, wider besseres Wissen an Objektivität und Liebe zu glauben, um einem nihilistischen Relativismus nicht Tür und Tor zu öffnen (vgl. ebd.: 106). Kotte schließt sich mit ihrer detaillierten Analyse also nicht nur der Sichtweise des Autor-Erzählers
3. Raum und Zeit: Gegenwartsinszenierungen im geschlossenen Raum
an, sondern macht das Halbkapitel als »moral counterpoint« (ebd.: 74) sogar zum Schlüssel des Romans. Während Kottes Analyse aus moralischer Perspektive schlüssig ist, versäumt sie es, auf eine inhaltliche Schwäche des Liebe-WahrheitsVergleichs aufmerksam zu machen. Die narrative Inszenierung des Exkurses zur Liebe – von Kotte gänzlich ausgeblendet – ist dabei entscheidend: Der Autor-Erzähler erzählt von der Liebe zu seiner Frau, während er neben ihr im Bett liegt. Bevor er die Verbindung zwischen Liebe und Wahrheit herstellt, inszeniert er diese Liebe als ausschließlich körperliche Präsenz: »I can’t see her in the dark, but from the hushed swell of her breathing I could draw you the map of her body.« (AH 225) Barnes beschreibt hier eine körperliche Erfahrung, die sich auf ein Gefühl beruft und die Sinne des Sehens und Erkennens (»I can’t see her«) explizit ausklammert. Die Szene evoziert einen Moment der dichten Gegenwärtigkeit, die durch die körperliche Nähe im reduzierten Raum des Ehebetts vermittelt wird. Dieser in einem bestimmten Moment erfahrenen, körperlichen Gleichzeitigkeit stellt der Autor-Erzähler die objektive Wahrheit an die Seite, die diese gegenwärtige Sinnpräsenz nie erreichen kann – die objektive, überindividuelle ›Wahrheit‹ kann im Gegensatz zu einem subjektiven Empfinden immer erst im Nachhinein konstruiert werden.2 Hier macht sich damit eine Schieflage zwischen zwei grundverschiedenen Ontologien bemerkbar: Auf der einen Seite steht ein präsentisch und viszeral erlebter Moment, auf der anderen ein diskursiv erzeugtes Konstrukt. Auch wenn man sich als Leser dem Charme dieses allem Anschein nach ehrlichen Autordiskurses nicht entziehen möchte, kann die im Halbkapitel suggerierte Analogie von Liebe und Wahrheit aus dieser Sicht nicht überzeugen. Der schiefe Vergleich von körperlicher, verorteter Liebe und objektiver, ortsloser Wahrheit zeigt implizit auch auf die eingangs gestellte programmatische Frage nach dem Festhalten der Zeit. Während der Autor-Erzähler über eine ungreifbare Vergangenheit sinniert, konstruiert er im Akt des Erzählens eine Gegenwart, die all das enthält, woran 2
Barnes spricht am Ende nicht von einer persönlichen oder gefühlten Wahrheit, sondern tatsächlich von »objective truth« (AH 245).
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es der Geschichte mangelt: Präsenz, Körperlichkeit, Nähe, Authentizität. Im Ehebett hält er die Zeit fest. Er macht diesen Moment zur erfüllten Zeit, weil er gerade nicht versucht, ihren »mysteries of pace and progress« (SE 60) auf die Spur zu kommen. Barnes macht hier durch die Form der Äußerung en passant deutlich, dass ein Kunstwerk wie ein Roman prädestiniert ist, solche Momente des Gegenwärtigen zu inszenieren. Ein Romanautor oder Künstler bewegt sich viel freier zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als etwa ein Historiker. Er kann mit einer Vielzahl an inszenatorischen und formalen Mitteln die Zeit zusammenziehen, ausdehnen, in eine abgerundete Erzählung gießen oder sie durch variierende Erzähltempi aus dem Takt bringen. Mit dieser Freiheit ausgestattet kann er Momente des Hier und Jetzt inszenieren und aus dem Fluss der Zeit »herausspringen« (Assmann 2013: 51), um mit Aleida Assmann zu sprechen.3 Man denke in diesem Zusammenhang an die berühmten literarischen Inszenierungen von Präsenz: Joyces Epiphanien oder die unwillkürlichen Erinnerungen in Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, wo der Geschmack eines MadeleineTörtchens eine längst vergessene und vergangene Gegenwart ins Jetzt zurückholt. Was in Prousts Jahrhundertroman spektakulär gelingt, nämlich der Vergangenheit Gegenwärtigkeit abzuringen, versucht auch Barnes immer wieder. Das Bild der Echokammer, mit dem Barnes die Geschichte
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Die modernen Zeitromane von Joyce oder Woolf, die Assmann untersucht, sind in diesem Zusammenhang besonders relevant, weil sie einer neuen Zeiterfahrung Bahn brechen. Sie wenden sich an der Epochenschwelle zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegen das Zeitregime der realistischen Romantradition, die sich ihrerseits an der dominanten Darstellungsform der historischen Erzählung orientiert. Romane wie Joyceʼ Ulysses oder Woolfs Mrs Dalloway, so Aleida Assmann, brechen mit dem engen Korsett der tradierten Erzählungsschemata, um Zeit neu zu konzeptualisieren, »[…] als Strom, der durch das Leben hindurchfließt und in der subjektiven Empfindung bald schneller, bald langsamer fließt, aus dem man in besonderen Augenblicken herausspringen kann, und dessen verlorenes Treibgut man in der Erinnerung aufsuchen und aus Fragmenten wieder neu zusammensetzen kann.« (Assmann 2013: 51)
3. Raum und Zeit: Gegenwartsinszenierungen im geschlossenen Raum
in A History identifiziert (vgl. AH 224), zeigt eindrücklich, welche Probleme dieses Unterfangen mit sich bringt. Das Original, eine einst erlebte Gegenwart, ist unwiederbringlich verloren, auch wenn Spuren bzw. Echos noch immer davon künden. Es geht Barnes allerdings nicht nur darum, im Sinne der historiographischen Metafiktion immerfort die Unzugänglichkeit der Vergangenheit herauszuheben. Diese Arbeit möchte aufzeigen, wie Barnes darüber hinaus immer wieder auch spielerische Strategien erprobt, eine (vergangene) Gegenwart in Szene zu setzen – etwa, um Präsenzmomente wie eben jenen im Ehebett zu schaffen. Die titelgebende Frage dieses Abschnitts muss daher für den folgenden umformuliert werden: How do we seize the present?
3.2.
How do we seize the present? Ewigkeitsvisionen und Momentaufnahmen
Bei der Inszenierung einer durch und durch körperlich vermittelten Gegenwart im Halbkapitel der History ist die Form zunächst wichtiger als der Inhalt: Während der Autor-Erzähler auf der inhaltlichen Ebene die Ungreifbarkeit des Vergangenen beklagt, schafft das verdichtete, durch Grenzen und Ränder abgetrennte Innen einen symbolischen Schutzraum, eine »a-chronische Gegenwart« (Assmann 2013: 32), die sich zumindest vorübergehend dem Stimmengewirr der Geschichte entzieht. Der Exkurs zur Liebe ist nur ein Beispiel, wie A History eine körperlichräumlich vermittelte Präsenz gegen die Geschichte der Welt ausspielt. Ein weiteres findet sich im Kapitel »The Visitors«, wo eine Bildungskreuzfahrt mit dem ›Besuch‹ einer terroristischen Gruppe jäh unterbrochen wird. Mit der unverhofften Ankunft der Terroristen auf dem Kreuzfahrtschiff verändert sich nicht nur schlagartig die Wirklichkeit der Urlauber, auch der Puls der Erzählung beschleunigt sich: Während der erste Teil vornehmlich in Erzählerrede gehalten ist, dominiert im zweiten die direkte Rede. Die Terroristen zwingen den Reiseleiter Franklin Hughes, den Urlaubern einen grotesk verzerrten, antisemitischen Überblick der geschichtlichen Entwicklung bis zur Gegenwart zu geben. Seine Zuhörer sollen so erfahren, warum sie in die Geschichte
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des Mittleren Ostens verwickelt seien (vgl. AH 51). Seinen historischen Überblick beschließt er mit den Worten: »And so we come to the here and now.« (AH 56) Sowohl Hughes als auch die Urlauber finden sich in einer Gegenwart wieder, die als »historical inevitability« (AH 57) in einem direkten kausalen Verhältnis zur Vergangenheit steht – so jedenfalls sehen es die zynischen Geiselnehmer. Tatsächlich hat die Gegenwart auf dem Schiff nichts zu tun mit der Geschichte, auf die sich die Terroristen berufen. Ihr geschichtliches Legitimationsnarrativ ist so offensichtlich ideologisch motiviert, dass sich ein breiter Graben auftut zwischen der Vergangenheit und der angeblich aus dieser Vergangenheit resultierenden Gegenwart. Im Schiffssetting ist damit eine doppelte Isolation angelegt: eine räumlich-physische ebenso wie eine zeitliche. Die Touristen sitzen gewissermaßen in der Gegenwart fest. Für die Dauer der Geiselnahme wird ihnen in einem zynischen Tausch ihre individuelle Vergangenheit genommen und durch ein kollektives Täternarrativ ersetzt. Neben der Vergangenheit liegt auch die Zukunft in der Hand der Terroristen: Die Geiselnehmer erschießen jede Stunde zwei Touristen, bis ihre Forderungen erfüllt sind. Auf der Santa Euphemia geht es um Leben und Tod. Wie im Exkurs zur Liebe im Halbkapitel inszeniert Barnes auf der Bühne des begrenzten Schiffsraums damit eine dichte Gegenwart, einen Jetzt-Moment, der erzählerisch und inszenatorisch von einem Davor und einem Danach abgeschnitten ist. Die Gefühle, die die jeweiligen präsentischen Momente in den Protagonisten auslösen, könnten freilich unterschiedlicher nicht sein. Die kausal-chronologische Geschichtslogik, die die Black Thunder Group in »The Visitors« instrumentalisiert, wird im Werk von Julian Barnes wiederholt kritisch hinterfragt. So lässt Barnes in The Noise of Time den Komponisten Schostakowitsch darüber nachdenken, wie er bei Stalin in Ungnade fallen konnte: It had all begun, very precisely, he told his mind, on the morning of the 28th of January 1936, at Arkhangelsk railway station. No, his mind responded, nothing begins just like that, on a certain date at a certain place. It all began in many places, and at many times, some even be-
3. Raum und Zeit: Gegenwartsinszenierungen im geschlossenen Raum
fore you were born, in foreign countries, and in the minds of others. (NT 9) Schostakowitsch spricht dem Begriff des Anfangs jede Bedeutung ab, indem er die Vergangenheit entgrenzt: Wenn ein Anfang »an verschiedenen Orten« und »zu verschiedenen Zeiten« zu suchen ist, muss eine einzelne raumzeitliche Bestimmung, wie er sie vornimmt, immer eine beliebige Setzung sein. Dennoch scheint sich Schostakowitsch selbst von einem bestimmbaren Anfang seiner Misere überzeugen zu wollen (»he told his mind«). Mit dieser (erfolglosen) Autosuggestion bringt er die Notwendigkeit zum Ausdruck, sich in der Zeit zu orientieren, um ihr einen sinnvollen Verlauf einzuschreiben. Die »Fiktion des Anfangs« (Assmann 2013: 149), wie Assmann eine solche Setzung bezeichnet, ist nicht nur eine zukunftsgewandte Strategie, das Alte hinter sich zu lassen, sondern auch der Ausgangspunkt für eine lineare, identitätsstiftende Erzählung der Vergangenheit. Während Schostakowitsch auf individueller Ebene versucht, seine Erinnerungen zu ordnen, nimmt sich Sir Jack Pitman in England, England das gesamte nationale Erbe vor. Auf der Isle of Wight versammelt er ikonische englische Persönlichkeiten, Mythen und Bauwerke in einem konsumfreundlichen Themenpark. Neben einer willkürlichen Auswahl und am Publikum ausgerichteten Anpassungen des englischen Nationalerbes zeichnet sich das Projekt vor allem auch durch einen ›unhistorischen‹ Umgang mit der Chronologie der Geschichte aus. Ein zeitliches Nacheinander wird hier zu einem räumlichen Nebeneinander: Die verschiedensten Epochen stehen hier nicht etwa geordnet nach ihrer Chronologie, sondern nach der Dramaturgie des Parks. England, England ist nach einer Definition Foucaults als Heterotopie der Zeit angelegt, als ein Ort, der Zeit akkumuliert, der aber »[…] selbst außerhalb der Zeit steht und dem Zahn der Zeit nicht ausgesetzt ist […]« (Foucault 2006: 325). Der Park konstruiert eine durch den Raum vermittelte ewige Gegenwart. Die chronologisch-zeitlichen Marksteine, über die Barnesʼ Schostakowitsch nachsinnt, sind zwar nicht verschwunden, aber auf eine andere ontologische Ebene übergegangen: Anfang und Ende sind
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in England, Englands Wirklichkeit nunmehr ausschließlich räumliche Begriffe. Noch weiter geht die Ewigkeitsvision in »The Dream«, dem letzten Kapitel der History. Hier träumt der Ich-Erzähler, dass er gestorben und im Himmel gelandet sei. Die biologische Zeit, die in England, England noch als subtiles Korrektiv zur hyperrealen Gleichzeitigkeit angelegt ist (vgl. Abschnitt 7.3.5), lässt der Protagonist genauso hinter sich wie die Geschichte der Welt, die der Roman im Titel trägt. Wie in England, England weicht auch hier eine temporal-sequentielle einer räumlichen Ordnung: In dieser ewigen Gleichzeitigkeit4 existieren alle Epochen und alle Wirklichkeiten friedlich nebeneinander. Alle Diskurse über geschichtliche Wahrheit oder Moral sind durch die Koexistenz der Welten obsolet geworden. Während die Momentaufnahmen von »The Visitors« ähnlich wie das Halbkapitel »Parenthesis« die Vergangenheit und Zukunft abschneiden, um eine verdichtete Gegenwart darzustellen, grenzen die Ewigkeitsvisionen von England, England und der letzten Episode aus A History of the World in 10 21 Chapters den Moment nicht ein, sondern dehnen ihn aus, indem sie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einer ewigen Gleichzeitigkeit verschmelzen lassen. Die ins Unendliche ausgedehnten Gegenwarten haben freilich nichts mehr mit einem »dichten Augenblick« oder einem Präsenzerlebnis zu tun. Im Gegenteil: Der Chronotop der ewigen Gleichzeitigkeit, den England, England und »The Dream« inszenieren, lässt kein »Herausspringen« aus der Zeit mehr zu. Die Prot4
Interessanterweise ist Barnesʼ Ewigkeit nicht unzeitlich, ein ständiges Gegenwärtig-Sein, wie es Platon im Timaois beschreibt (vgl. Safranski 2017: 226). Vielmehr ›baut‹ Barnes seinem Protagonisten eine Ewigkeit, in der die Zeit zwar keine Spuren an ihm hinterlässt – weder altert noch stirbt er –, aber dennoch vergeht. Der Ich-Erzähler verbleibt aus dieser Perspektive in der ›irdischen‹ Zeit: Er erinnert sich an seine Sex-Eskapaden und sportlichen Höchstleistungen und denkt über den Moment hinaus: Was soll noch kommen in dieser ewigen Gegenwart? Wie in Abschnitt 5.4 genauer erläutert wird, ist das Kapitel auch eine Spekulation darüber, ob das individuelle Bewusstsein zu einem echten Sein in der Ewigkeit überhaupt fähig ist oder ob es sich dazu nicht vielmehr auflösen müsste.
3. Raum und Zeit: Gegenwartsinszenierungen im geschlossenen Raum
agonisten sind vielmehr in der Extremform einer »breiten Gegenwart« eingesperrt, wie Gumbrecht den Zustand der ständigen Verfügbarkeit und Abrufbarkeit nennt (vgl. Gumbrecht 2010: 132-143). Dass diese beiden sich scheinbar widersprechenden Strategien der Zeitinszenierung hier dennoch zusammenfinden, liegt an der Verwandtschaft von Augenblick und Ewigkeit. Was beide gemein haben, wird vor dem Hintergrund einer als Echokammer verstandenen Geschichte deutlich: Sie überwinden die Zeit, die endlos fortschreitet und für Barnes nur »voices echoing in the dark« zurücklässt. In diesem Sinne der Über-Zeitlichkeit erkennt Rüdiger Safranski bei Augustinus in der Gegenwart die kleine Ewigkeit: »Sie [die Ewigkeit, S.B.] ist wie dasjenige am Leben, was nicht vergeht, und das ist eben die Stetigkeit von Gegenwart. Die jeweiligen Ereignisse sind vergänglich, das Gegenwarts-Fenster, durch das wir sie erblicken und erleben, bleibt.« (Safranski 2017: 229) Während Augustinus die Zeit immer vor einem religiösen Hintergrund denkt, nimmt die Kunst in Anspruch, durch eine dichte Gegenwart das Tor zu einer ästhetischen Ewigkeit aufzustoßen. In Baudelaires Definition der Modernität kommt dies so zum Vorschein: »Die Modernität ist das Übergängliche, das Flüchtige, das Zufällige, die eine Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unwandelbare ist.« (zit.n. Assmann 2013: 28) Das Kunstwerk hält die flüchtige Gegenwart mit seinen eigenen ästhetischen Ausdrucksformen fest und konserviert sie so für nachfolgende Generationen. Augustinusʼ und Baudelaires Definitionen zeigen zusammenfassend aus ganz unterschiedlichen Perspektiven, was Ewigkeitsvisionen und Momentaufnahmen gemein haben: Sie erproben auf verschiedene Weisen das Gegenwärtige. Genau in diesem Sinne, als Inszenieren und Erproben des Gegenwärtigen, mitunter auch im Extremen, ist Barnesʼ Beschäftigung mit der Zeit zu verstehen. Sein Spiel mit der Zeit gibt sich dabei immer augenzwinkernd: Wo Augustinus von der göttlichen Ewigkeit spricht, inszeniert Barnes einen Konsumhimmel. Wo Baudelaire über die Unvergänglichkeit der Kunst referiert, baut Barnes einen Themenpark, in dem der Wert ebendieser Kunst nur noch in ihrer kommerziellen Ausschlachtung liegt. Egal ob als Ehebett, Insel oder Schiff: Barnesʼ Experimente mit der Zeit sind jeweils an einen
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klar begrenzten Schauplatz gebunden. Der abgeschlossene, heterotope Raum unterbricht den Fluss der Zeit und schafft eine verortete, oftmals unmittelbar körperlich erfahrene Gegenwart. Aus einer Zeitperspektive wird der geschlossene Raum somit zum metaphorischen Refugium vor dem Fluss der Zeit, zum Ort der Zeitreflexion und zum a-chronischen Ordnungssystem gleichermaßen. Beim Modellieren der fiktionalen Zeit auf begrenztem Raum kommt schließlich noch einmal die Ähnlichkeit zwischen der Raumorganisation bei Barnes und dem Heterochronotopen der Bühne bzw. des Theaters5 zum Vorschein: Neben den Dimensionen des Raums und der Körperlichkeit ist es die Inszenierung einer geteilten Gegenwart, die
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Am Rande sei hier Gerhard Neumanns szenographischer Ansatz erwähnt. Mit Neumann könnte man argumentieren, dass es die Sprache selbst ist, die sich auf den erzählten Bühnen in Szene setzt. In dem breit angelegten Sammelband Szenographien. Theatralität als Kategorie der Literaturwissenschaft wird folgende Grundthese formuliert: »Theatralität als generatives Element von Bedeutungsproduktion […] kann nicht losgelöst von Sprachlichkeit und Textualität konzipiert werden.« (Neumann 2000: 13) Wenn Sprache, wie Neumann schreibt, »[…] ihre eigentliche Szene in sich selbst« hat und »[…] nicht erst auf Schaubühnen ›theatral‹ wird« (Neumann 2000: 14), könnte man die durch Sprache erzeugten und vermittelten Bühnen bei Barnes als ›Meta-Zeichentheater‹ sehen: Die geschlossenen Bühnen sind in Barnesʼ Romanen und Kurzgeschichten letztendlich sprachliche Konstrukte und stehen als solche metaphorisch für die Theatralität, die dem Zeichen immer schon innewohnt. Die bloße Rückbindung der narrativen Bühnen an ihre eigene sprachliche Verfasstheit wird den geschlossenen Schauplätzen allerdings alleine nicht gerecht. Eine solche Verengung auf die textuelle Verfasstheit würde den Barnes’schen Bühnen nicht nur ihre exponierte Position innerhalb des Texts nehmen, sondern sie letztlich auch ihrer erzählerischen Wirkung berauben. Diese Arbeit möchte daher einen entgegengesetzten Weg beschreiten und die performativen Bühnen als erzählerischen Versuch begreifen, ein dominantes Textparadigma, das Hoffmanns Szenographien zugrunde liegt, gerade hinter sich zu lassen und sich – in Patemans Sinne (siehe nächster Abschnitt) – der Welt zuzuwenden. Wie diese durch den bühnenhaften, geschlossenen Raum vermittelte Zuwendung zur Welt aussieht, d.h. welche Funktionen diese spezifische, wiederholte räumliche Anordnung spielt, soll im folgenden Kapitel erörtert werden.
3. Raum und Zeit: Gegenwartsinszenierungen im geschlossenen Raum
als dritter zentraler Baustein einer fiktional-literarischen Affizierungsstrategie bei Barnes am Werk ist. Barnes spielt mit der Möglichkeit, einen gemeinsamen Boden zu erschließen und mit den symbolischen Mitteln der Fiktion einen Zugang zu den Lesern und deren unmittelbarer Lebenswelt zu erzeugen. Mit dem Raum, der Körperlichkeit und dem Moment rückt er dabei Komponenten in den Mittelpunkt, die in Nelson Goodmans konstruktivistischem Worldmaking-Konzept (vgl. Nünning/Nünning 2010: 8) allenfalls eine untergeordnete Rolle spielen. Mehr noch: Goodmans Ansatz sieht gerade keinen direkten, unmittelbaren Zugriff auf eine Wirklichkeit jenseits der Symbolsysteme, aus denen Welten gemacht sind, vor. Die Welt sieht er ersetzt durch »[…] Welten, die nichts als Versionen sind […]«; ein Fundament als Wirklichkeit der Wirklichkeiten lehnt er kurz und knapp als »falsche Hoffnung« (Goodman 2017: 19) ab. Die Vorstellung einer unmittelbaren, leiblich erfahrenen Welt einerseits und die Idee der immer schon symbolischen Weltversion andererseits führen bei Barnes immer wieder zu Spannungen im Prozess der Welterzeugung. Genauso wichtig sind allerdings die Synergieeffekte, die sich oftmals ergeben, wenn diese unterschiedlichen Auffassungen zusammengebracht werden. Wie genau symbolische Weisen der Welterzeugung in Goodmans Sinn mit anderen Strategien Hand in Hand gehen, wird im Fortlauf dieser Arbeit noch genauer auszuarbeiten sein.
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Bisher hat sich diese Arbeit der Frage gewidmet, wie Barnes im Erzähltext geschlossene, bühnenartige Räume einrichtet. Eine Bühne will aber nicht nur erbaut, sondern vor allem auch bespielt werden. Die Frage nach den ›Stücken‹, die der ›Regisseur‹ Barnes inszeniert, führt uns zu einer zweiten Dimension der Welterzeugung. Diese zweite Dimension bleibt nicht auf den engen Rahmen des fiktionalen Texts beschränkt, sondern umspannt die existenzielle Bedeutung des Begriffs. Worldmaking bezieht sich aus dieser Perspektive auf Einzelne oder Gruppen, die sich ständig und in vielfältiger Weise in bereits bestehenden Welten zurechtfinden oder neue erschließen, um so verschiedene Lebensbereiche zu organisieren und sinnhaft werden zu lassen. Es bezeichnet das menschliche Grundbedürfnis des Sich-Einrichtens in der Welt, sowohl in kollektiver als auch individueller Hinsicht. Dass diese Dimension bei Barnes eine zentrale Position einnimmt, führt Matthew Patemans Gesamtbewertung vor Augen: »Barnes’s novels are all searching for ways of knowing the world, each other; they all have characters who are striving for some way of finding meaning in an increasingly depoliticized, localized, and depthless world.« (Pateman 2002: 2, Herv. S.B.) Das hier noch vage formulierte Verhältnis zwischen Mensch und Welt könnte man mit Hartmut Rosas Begriff der Weltbeziehung konkreter fassen. In seiner Resonanz-Theorie beschäftigt sich der Soziologe mit dem gelingenden Zusammenwirken von Subjekt und Welt – ein Wortpaar, das, wie Rosa ausführt, die soziologische Forschung seit jeher vor große konzeptuelle Schwierigkeiten stellt. Wie etwa lässt sich eine Grenze ziehen zwischen Subjekt und Welt, d.h. wo
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›endet‹ das eine und wo ›beginnt‹ das andere? Existiert die Welt oder der Kosmos »ganz unabhängig vom Menschen« oder sind »alle Erscheinungsformen von Welt immer schon als sozial konstruiert, also letztlich als das Ergebnis (inter-)subjektiver Hervorbringen zu begreifen […]« (Rosa 2018: 62)? Rosa begegnet diesen grundlegenden Fragen, indem er den Aspekt der Beziehung in den Mittelpunkt rückt. Seine Soziologie der Weltbeziehung geht gerade nicht davon aus, dass Subjekte auf eine vorgeformte Welt treffen, sondern postuliert, dass beide Seiten – Subjekt und Welt – in der und durch die wechselseitige Bezogenheit erst geformt, geprägt, ja mehr noch: konstituiert werden. Was und wie ein Subjekt ist, lässt sich erst bestimmen vor dem Hintergrund der Welt, in die es sich gestellt und auf die es sich bezogen findet […]. Subjekte stehen der Welt also nicht gegenüber, sondern sie finden sich immer schon in einer Welt, mit der sie verknüpft und verwoben sind, der gegenüber sie je nach historischem und kulturellem Kontext fließende oder auch fest Grenzen haben, die sie fürchten oder lieben, in die sie sich geworfen oder in der sie sich getragen fühlen etc. (Ebd. 62-63) Die wandelbare Offenheit, die Rosa der Beziehung zwischen Welt und Subjekt zuschreibt, macht das Sich-Einrichten in der Welt viel komplizierter als es bei Pateman zunächst erscheint – zumal als Thema der Literatur. Rosas soziologischer Befund der dynamischen Subjekt-WeltBeziehung führt nämlich besonders eindrücklich vor Augen, woran es einer Erzählung im Vergleich zur Welt immer mangeln muss: Sie kann weder deren Dynamik festhalten noch deren Fülle mimetisch abbilden. Wenn es sich ein Autor also zur Aufgabe macht, in Patemans Sinn die außerliterarische Welt zu ergründen, kommt er nicht umhin, diese Welt nach kultur- und genrespezifischen Regeln in Geschichten oder eben neue Welten zu übersetzen. Die Erzählung bleibt, um es mit Jurij Lotmans berühmten Worten auszudrücken, aus dieser Sicht immer »ein endliches Modell der unbegrenzten Welt« (Lotman 1973: 316). Während viele Romanautoren alles daran setzen, die Lücke zwischen Modell und Welt zu schließen bzw. die Übersetzungsprozesse zu verbergen, wird das Modellhafte bei Julian Barnes durch die Raum-
4. Welterzeugung als Versuchsanordnung
figuration der erzählten Bühne in besonderer Weise hervorgehoben. Durch die Innen-Außen-Opposition entsteht eine ›Laborumgebung‹, die die chaotische, sich ständig in Bewegung befindliche Welt rigoros ausschließt. Die Raumfiguration ermöglicht so eine experimentelle Versuchsanordnung, die Weltbeziehungen untersucht. Der offenen, ›großen‹ Welt wird eine geschlossene, ›kleine‹ Welt gegenübergestellt, wo verschiedene Strategien der Weltaneignung, aber auch Prozesse des »Fremdwerdens von Selbst und Welt« (Rosa 2018: 59) en miniature erprobt werden können. Der Regisseur Barnes nimmt in seinen Stücken also die Praktiken der Welterzeugung unter die Lupe, um sie so zu isolieren, zu vergrößern und schließlich sichtbar zu machen. Der Barnes’sche Versuchsaufbau steckt durch Grenzziehung und Fokussierung allerdings nicht nur einen unbestimmten, ›leeren‹ Handlungshintergrund ab, wie es etwa für die »abstrakt-neutralen« (Hauthal 2009: 374) Räume des absurden Theaters charakteristisch ist. Vielmehr wird der geschlossene und begrenzte Raum selbst Teil des Experiments, zu einem Worldmaking-Faktor, dem besondere Aufmerksamkeit zukommt: In einem Spiel der Strukturierung und De-Strukturierung werden Binnengrenzen und Linien gezogen oder ausradiert, Raum wird semantisch aufgeladen oder entleert. Hinter diesem Spiel stehen stets die Fragen, die auch schon in Patemans vager Formulierung mitschwingen und sich nach dem Gemacht-Sein einer Ordnung erkundigen: Wie richtet sich der Mensch in der Welt ein? Welche Praktiken lassen einen Raum zu jemandes Raum werden? Wie wird etwas sinnhaft, wahrhaftig oder wahr? Vor dem Hintergrund dieser Fragen bietet es sich an, die Barnes’schen Versuchsanordnungen in zwei Typen aufzuteilen. Während alle in dieser Arbeit untersuchten Schauplätze – Schiffe, Inseln, ein Gerichtssaal, eine Landwirtschaftsausstellung und ein Friseursalon – eine relative Geschlossenheit nach Außen gemein haben, unterscheiden sie sich ihrer inneren Raumordnung nach erheblich. Um der Heterogenität dieser Schauplätze gerecht zu werden, wird im Folgenden zwischen neuen und institutionalisierten Räumen unterschieden. Erstere zeichnen sich dadurch aus, dass sie zur Tabula rasa werden, zur leeren oder besser entleerten Bühne, die die Protagonisten neu bespielen.
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Letzteren dagegen ist bereits eine Raumgrammatik eingeschrieben; sie verfügen über soziale und semantische Strukturen, die bestehen bleiben.
4.1.
Neue Räume: Tabula rasa als erzählerische Raumstrategie
Die großen und kleinen Schauplätze, die ich als neue Räume bezeichne, sind zunächst nullgesetzte Orte, denen die Protagonisten durch ihre Handlungen neue Bedeutungen einschreiben. In der raumtheoretischen Terminologie Gerhard Hoffmans können diese Räume insofern als »Aktionsräume« bezeichnet werden, als »[…] die detaillierte Beschreibung der Dinge zurücktritt und ein vollständiges Raumbild nur selten entworfen wird […]« (Hoffmann 1978: 78). Für Hoffmann ist der Aktionsraum vor allem ein Handlungsort, der zugunsten der Aktionen der Protagonisten in den Hintergrund rückt und nicht – wie der »gestimmte Raum« (ebd.: 55) – selbst zu einem primären Bedeutungsträger wird. Während also das sozial-kommunikative Handeln in den Vordergrund drängt, sind Landschaftsbeschreibungen oder in die Landschaft eingeschriebene Symbole nicht unmittelbar relevant. In Ergänzung zu Hoffmanns enger Funktionsbeschreibung kann der Begriff des »Aktionsraums« auch so verstanden werden, dass der Raum durch die Aktionen der Protagonisten erst zum Raum wird, d.h. die Protagonisten ihn performativ erzeugen. Diese doppelte Bedeutung des Aktionsraums gleichermaßen als Grundlage und Produkt einer performativen Handlung ist entscheidend für das Konzept der neuen Räume. Als geradezu paradigmatische neue Räume können die verschiedenen Varianten des Schiffs, die Barnesʼ Roman A History of the World in 10 12 Chapters versammelt, betrachtet werden. Wenn sich ein Schiff auf hoher See bewegt, ist es ein nach außen geschlossener Raum. Niemand kann es gewöhnlich verlassen, ohne sich den Gefahren des Meeres auszuliefern; ebenso wenig kann man das Schiff ohne Weiteres von außen erreichen oder betreten. Dies gilt für die Teilnehmer einer Kreuzfahrt
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genauso wie für die unfreiwilligen Passagiere eines Rettungsboots. Neben der physischen ist auch die soziale Mobilität eingeschränkt, weil die Passagiere auf einem Schiff nur mit anderen Passagieren oder der Besatzung in Kontakt treten können und die Kommunikation mit dem Festland via Telefon oder Internet unter Umständen nur mit Einschränkungen möglich ist. Schiffe sind, so Foucault, »[…] letztlich ein Stück schwimmenden Raumes, Orte ohne Ort, ganz auf sich selbst angewiesen, in sich geschlossen, und zugleich dem endlosen Meer ausgeliefert […]« (Foucault 2006: 327). Diese spezielle Raumkonstellation macht das Schiff für ihn zum »größte[n] Reservoir für die Phantasie« (ebd.), steht es doch für Aufbruch, für eine Tabula rasa fernab des vertrauten Kontexts der Alltagswelt mit unzähligen Regeln, Normen, Kontroll- und Regulierungsinstanzen. Den Subjekten auf einem Schiff ist aus dieser Perspektive – mit Hartmut Rosas Begriffen – die Möglichkeit gegeben, eine ganz neue Weltbeziehung auszubilden. Wenn sie das Schiff betreten, lassen sie die ›alte‹ Welt hinter sich, um mit der ›neuen‹ Welt in einen wechselseitigen Konstitutionsprozess zu treten. Das Schiff und seine Varianten erscheinen damit aus zwei Gründen als ideales Setting für die fiktionalen Versuchsanordnungen, die Barnes in A History entwirft: Zum einen wegen der im Schauplatz angelegten Isolation, zum anderen, weil es ein räumlicher Ausdruck für das schlechthin Neue ist. An dieser Stelle könnte man einwenden, dass das radikal Neue, ein völlig unbeschriebenes Blatt, nicht hält, was es verspricht und sich in einer kritischen kulturwissenschaftlichen oder soziologischen Betrachtung stets als idealistische Projektion herausstellen muss. Das ›Alte‹ überdauert im ›Neuen‹, auch wenn der Neuanfang noch so radikal und einschneidend erscheint. Dies gilt auch und gerade für WorldmakingProzesse: Jedes »Erschaffen« einer Welt, egal ob real oder fiktional, ist immer ein »Umschaffen« des bereits Vorhandenen (vgl. Goodman 2017: 19). Auch aus Rosas Perspektive der Weltbeziehung muss angenommen werden, dass die ›alte‹ Welt, mit der die Subjekte »verknüpft und verwoben sind« (Rosa 2018: 63), gewöhnlich nicht ohne Weiteres abgeschüttelt werden kann. Die Menschen tragen die ›alten‹ Welten in sich und damit immer auch in die ›neuen‹ Welten, die sie betreten. Das Schiff sollte vor dem Hintergrund dieses berechtigten Einwands nicht wortwörtlich,
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sondern vor allem mit Blick auf sein symbolisches Potential verstanden werden: Es ist als »Reservoir für die Phantasie« (Foucault) ein Schauplatz, der der Hypothese oder dem Wunsch des radikal Neuen (einen) Raum gibt. Barnesʼ Schiffe tragen damit als andere Räume ebenso wie die Bühne eine besondere Markierung als genuin fiktionale Orte, wo eine – kulturpoietisch ansonsten unmögliche – Tabula rasa inszeniert werden kann. Im bereits erwähnten Kapitel »The Survivor« etwa wird ein kleines Ausflugsboot zur Tabula rasa, weil die Protagonistin Kath Ferris es zum Vehikel eines radikalen Neustarts macht: »She left the world behind from a place called Doctor’s Gully.« (AH 90) Barnes markiert den Beginn ihrer Erkundungsreise explizit als Abschied vom Bekannten, von der Realität, wie Kath und die Leser sie kennen. Durch ihren Aufbruch begibt sie sich auf unbekanntes Terrain, das Boot wird zu ihrer neuen und einzigen Welt. Als Kath auf sich selbst gestellt ist, verdichten sich ihre wirren Spekulationen und Verschwörungstheorien zu absoluten Wahrheiten, während ihr gewalttätiger Freund Greg und die mächtigen »men in grey suits« (AH 89), die stellvertretend für eine rücksichtslose, männerdominierte Leistungsgesellschaft stehen, keine Macht mehr über sie haben. Der räumlich-physische Abschied von der Welt am »Doctor’s Gully« markiert somit gleichzeitig ein Aufbruch in eine neue, noch zu schaffende Wirklichkeit, die sich zunächst im Raum des kleinen Boots manifestiert. Am Beispiel der kleinen, neugeschaffenen Welt von Kath Ferris lassen sich wesentliche Eigenschaften eines neuen Raums umreißen. Die fiktiven Welten werden jeweils zunächst auf einen übersichtlichen, von der Umgebung abgeschnittenen Raum reduziert. Dass dieser Raum zum anderen Raum und damit zur Versuchsanordnung werden kann, liegt nicht zuletzt am Setting: Das Schiff wurde mit Foucault bereits als paradigmatischer Schauplatz für literarisch-imaginative Experimente ausgemacht.1 Die Protagonisten verwandeln das Schiff in einen neuen Raum, indem sie erst Tabula rasa machen und sich diesen neuen 1
Zur Möglichkeit eines literarischen Raums und einer genaueren Unterscheidung zwischen realem und literarischen Raum siehe Garnier (2015).
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Raum anschließend durch verschiedene Strategien anverwandeln oder erschließen. Neben der Nullsetzung der räumlichen Semantik und der anschließenden »transformation of empty place into world« (Miller 1995: 277) ist den Barnes’schen Versuchsanordnungen auch gemein, dass die neu entstandenen Wirklichkeiten nicht von Dauer sind. So wird etwa in »The Visitors« – eine weitere Episode der History, auf die noch genauer einzugehen sein wird – der durch eine Geiselnahme auf einem Ausflugsschiff konstruierte Raum mit seinen ganz spezifischen Machtverhältnissen mit einem Schlag aufgelöst, als Spezialeinsatzkräfte das Schiff entern und der Geiselnahme ein blutiges Ende bereiten. Genau wie der von den Terroristen kurzfristig besetzte Raum in »The Visitors« oder Kath Ferrisʼ neue Welt auf dem Ausflugsboot in »The Survivor« bleiben auch die anderen Schiffsepisoden nur flüchtige Wirklichkeiten. Sie sind nicht mehr als »doodles«, um einen Begriff zu verwenden, den Salman Rushdie in seiner Besprechung der History wählt (vgl. Rushdie 1991: 241) – Kritzeleien also, ein situativ zu Papier gebrachtes Spiel des what if. Die Kritzelei als spielerische und voraussetzungslose Form der Äußerung erhebt nicht den Anspruch, etwas Ganzes oder Fertiges darzustellen, sondern skizziert einen Sachverhalt – etwa Kath Ferrisʼ Wunsch nach einem umfassenden Neustart – in groben Zügen. In diesem Sinne, als spielerische, skizzenhafte Sammlung von Ideen, sind die Experimente zu verstehen, die ich unter der Bezeichnung neue Räume subsumiere. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird zu zeigen sein, dass sich im Werk von Julian Barnes auch neue Räume finden, die zwar nicht als Schiffe modelliert sind, dennoch aber dem beschriebenen experimentellen Muster – enge Raumgrenzen, Tabula rasa, performative Raumaneignung – folgen.
4.2.
Institutionalisierte Räume: Bewegungen in prästrukturierten Welten
Während in neuen Räumen die Protagonisten den begrenzten Raum durch bestimmte Praktiken zu ihrem Produkt machen, ist bei Barnes immer wieder auch der umgekehrte Fall zu beobachten: Eine räumliche
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Ordnung prästrukturiert die Handlungen der Protagonisten und macht sie im Extremfall gänzlich zu ihrem Produkt. Die Liste der Schauplätze – Schiffe, Inseln, ein Gerichtssaal, eine Landwirtschaftsausstellung und ein Friseursalon – lässt erahnen, dass sich nicht alle in gleichem Maße als »Reservoir der Phantasie« (Foucault) und damit als möglicher Ort einer literarischen Nullsetzung eignen. Vielmehr sind dem Gerichtssaal, der Landwirtschaftsschau und dem Friseursalon schon bestimme Raumgrammatiken eingeschrieben, die das literarische Werk nicht einfach auslöschen kann – zumindest nicht, ohne die Räume ihrer grundlegenden Charakteristika zu berauben. Diese Schauplätze können gerade nicht als »empty places« (Miller) bezeichnet werden. Zwar kann ein Roman ohne Weiteres einen Gerichtsprozess frei erfinden oder, wie Barnes es in The Porcupine tut, reale Personen und Inhalte fiktionalisieren. Damit aber der Gerichtsprozess auch in der Fiktion als solcher erkennbar und funktional bleibt, muss er über eine überindividuelle soziale Grundstruktur (etwa Angeklagter vs. Ankläger) verfügen, die sich wiederum meist in der Semantik des Gerichtsraums niederschlägt.2 Diese sozialen und räumlichen Grundkonfigurationen importiert der Text entweder aus der außerliterarischen Wirklichkeit, als »Rohmaterial aus der Empirie« (Hoffmann 1978: 1-2), oder aus anderen Texten. Das Entscheidende ist, dass sie vom Leser als eine bestimmte Raumordnung wiedererkannt werden und im Gegensatz zu den anfangs leeren Bühnen der History über eine Struktur verfügen, die nicht ausgelöscht wird. Raumordnungen dieser Art bezeichne ich als institutionalisierte Räume. Für die vorliegende Arbeit, die keinen Beitrag zu einer sozialwissenschaftlichen Debatte leisten kann oder möchte, soll der klassische Institutionsbegriff von Berger und Luckmann als Orientierungspunkt dienen:
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Dies bedeutet natürlich nicht, dass die Strukturen im literarischen Werk (und auch anderswo) nicht hinterfragt werden können. Wie in Kapitel 8 zu sehen sein wird, stellt The Porcupine Fragen zur Legitimität der Institution genauso wie nach der Wahrheit, die sie aufzudecken versucht. Auch die vielleicht berühmteste aller literarischen Verhandlungen, Kafkas Proceß, lässt diese Grundstruktur wanken – K. weiß weder, warum er angeklagt ist, noch, wer über ihn richtet.
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Institutionalisierung findet statt, sobald habitualisierte Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok typisiert werden. Jede Typisierung, die auf diese Weise vorgenommen wird, ist eine Institution. Für ihr Zustandekommen wichtig sind die Reziprozität der Typisierung und die Typik nicht nur der Akte, sondern auch der Akteure. Wenn habitualisierte Handlungen Institutionen begründen, so sind die entsprechenden Typisierungen Allgemeingut. (Berger/Luckmann 1969: 58) Als Beispiel einer Institution führen die Soziologen die Familie an. Die Eltern erschaffen eine Welt aus Gewohnheiten und Regeln, in die die Kinder hineingeboren werden. Die Kinder erleben diese Welt als »da seiend«; gewissermaßen als Teil der ›natürlichen‹ Umwelt, die sie umgibt (vgl. ebd.: 61-62). Im Anschluss an diese grundlegende Begriffsbestimmung der Institution können institutionalisierte Räume definiert werden als Räume, deren überindividuelle Ordnung soziale Konstellationen, Rollenverhalten und Machthierarchien vorgibt. Es ist für diese Raumordnung bezeichnend, dass der in Abschnitt 2.1 diskutierte Urheberdiskurs hier eine andere Form annimmt. Im Gegensatz zu den neuen Räumen zeichnen sich institutionalisierte Räume bei Barnes in der Regel dadurch aus, dass ein Urheber oder Autor gerade durch seine Abwesenheit auffällig wird. Im Gerichtssaal von The Porcupine beispielsweise wird nicht näher bestimmt, wer das Gericht einberuft, wer ihm als Richter vorsitzt und wie sich die Gerichtsbarkeit in den Wirren der Übergangszeit von einer Staatsform in eine andere legitimiert (vgl. P 31). Der Gerichtssaal, so kann diese Abwesenheit erklärt werden, ist eine Raumordnung, die sowohl von den Protagonisten als auch den Lesern in Berger und Luckmanns Sinn als »da seiend« erlebt wird. Sie ist durch einen langen, mal mehr, mal weniger durchsichtigen Prozess der Institutionalisierung zu einer eigenen Welt geworden, deren Konventionen und Entstehungsbedingungen in der Gegenwart der Gerichtsverhandlung nicht hinterfragt werden. Berger und Luckmann beschreiben auf abstrakter Ebene, wie diese Prozesse der Institutionalisierung eine Ordnung oder Welt entmenschlichen und dadurch objektivieren. Sie schlussfolgern: »Die wahre
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Beziehung des Menschen mit seiner Welt wird im Bewusstsein in ihr Gegenteil verkehrt. Der Mensch, der Hervorbringer einer Welt, wird als deren Hervorbringung gesehen […].« (Berger/Luckmann 1969: 9495) Aus dieser Perspektive überrascht es nicht, dass The Porcupine den Protagonisten Peter Solinsky als zunehmend fremdbestimmt und ohnmächtig darstellt. Je länger sich der Staatsanwalt in der Welt des Gerichts aufhält, desto mehr wird er zur Hervorbringung dieser Welt. Die Hervorbringer hingegen treten wie oben beschrieben nicht in Erscheinung. Wie für viele andere institutionalisierte Räume kann die Frage nach der Autor- oder Urheberschaft auch für diesen nicht eindeutig geklärt werden – weil er als gegeben vorausgesetzt wird und weil er im sozialen Zusammenspiel der Akteure fortwährend kollektiv umgeschrieben und angepasst worden ist. Die Rede von Entmenschlichung und Hervorbringung bedeutet freilich nicht, dass Subjekte in einer institutionalisierten Raumordnung nach einem mechanistischen Prinzip in der Grammatik des Raums festgeschrieben sind. Eine handelnde Person findet sich vielmehr in einem Spannungsverhältnis wieder, das Michel de Certeau mit der Unterscheidung zwischen Ort und Raum ausdrückt: Auf der einen Seite steht der Ort als eine bereits bestehende soziale Anordnung, als »momentane Konstellation von festen Punkten« (de Certeau 2006: 345), auf der anderen Seite die individuelle Raumpraxis, die die soziale Ordnung des Orts bestätigen oder aber unterlaufen kann. Je nach Grad der Institutionalisierung können Raumordnungen der individuellen Praxis mehr oder weniger Spielraum bieten. Anders als bei den neuen Räumen, wo die Protagonisten ihre Wirklichkeit selbst schaffen, steht hier also die Frage, wie sie mit bereits bestehenden Strukturen interagieren und inwiefern diese eine Auswirkung auf ihre Wirklichkeit haben. Das Extrembeispiel einer sozial prädeterminierten Wirklichkeit fasst der Soziologie Erwin Goffman unter den Begriff der totalen Institution. Eine totale Institution bündelt verschiedene Lebensbereiche an einem einzigen Ort, »unter ein und derselben Autorität« (Goffman 1972: 16). Alle Lebensabläufe sind streng geregelt und überwacht. Der Einzelne ist gezwungen, seine Individualität abzulegen und sich dem Skript seiner sozialen Rolle unterzuordnen. Die totale Institution ziele
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darauf ab, so Goffman, »[…] bestimmte, arbeit-ähnliche Aufgaben besser durchführen zu können […]« (ebd.). Ein klassisches Beispiel für eine totale Institution ist eine geschlossene psychiatrische Anstalt.3 Die Insassen sind einer umfassenden Überwachung ausgesetzt und folgen einem streng geregelten Tagesablauf. Ihnen ist für die Zeit des Aufenthalts in der Anstalt jede Wahlmöglichkeit genommen; sie können sich nicht frei bewegen und vor allem die Anstalt nicht verlassen (vgl. Raab 2014: 98). Die räumliche Einschränkung lässt nicht zu, dass sie ihren limitierten Kontext ausweiten und damit eine neue Perspektive einnehmen. Wird das Ziel der totalen Anpassung erreicht, wird der Insasse »[…] zum ›normalen‹, ›programmierten‹ oder ›zugehörigen‹ Mitglied« (Goffman zit.n. Raab 2014: 99). Die Rollen, die sie spielen, werden den Insassen einer totalen Institution damit geradezu aufgezwungen, sie werden, um einen anderen Begriff Goffmans zu benutzen, in einen Rahmen gezwängt. Auch bei weniger stark gelenkten Ordnungen als einer totalen Institution finden sich nach Goffman Individuen in Rollen wieder. Besonders in seinen frühen Arbeiten ist die Theaterbildsprache zentral für die Beschreibung des sozialen Zusammenseins. Er spricht etwa von »Vorderbühnen« und »Hinterbühnen«, um auszudrücken, wie ein Individuum in verschiedenen Kontexten und mithin verschiedenen Räumen eine jeweils andere Rolle spielt. So ist für einen Lehrer das Klassenzimmer, wo die Interaktion mit den Schülern stattfindet, die Vorderbühne, während das räumlich benachbarte Lehrerzimmer mit den Lehrerkollegen die Hinterbühne darstellt.4 Während die Lehrpersonen im Klassenzimmer die sozial eingeübte Rolle der pädagogischen Autorität 3
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Auch das Schiff, das von Foucault als »größtes Reservoir der Phantasie« (siehe Abschnitt 4.1) bezeichnet wird, kann aufgrund einer strengen, bis ins Detail geregelte Organisation für die Besatzung in vielen Fällen als institutionalisierter Raum oder sogar als totale Institution gesehen werden – siehe Lisch (1976). Mit Goffmans Begriffen kann die bereits erwähnte ›totale Bühne‹ England, Englands genauer bestimmt werden: Weil die Protagonisten die Fiktion England, England nicht verlassen können, ist ihnen die »Hinterbühne« genommen. Sie können die Rolle der »Vorderbühne« nicht ablegen und so immer weniger zwischen ihren sozialen Rollen und Identitäten unterscheiden.
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einnehmen, können sie auf der Hinterbühne des Lehrerzimmers »[…] relativ gefahrlos ihre Einschätzungen über ihr jeweiliges Publikum austauschen, sich darüber ärgern oder lustig machen und sich so erneut auf den Unterricht […] einstimmen« (Raab 2014: 90). Entscheidend ist für Goffman allerdings, dass man die Maske, die auf der Vorderbühne getragen wird, auf der Hinterbühne nicht einfach ablegen und dadurch ein ›echtes Selbst‹ zum Vorschein bringen kann. Vielmehr setzt das Selbst auf der Hinterbühne eine andere Maske auf; es »[…] ist und bleibt in jeglicher Hinsicht ein ›Produkt‹ sozialer Situationen.« (Ebd.: 93) Während für Goffman in den alltagsweltlichen Beispielen weniger ein räumlicher als ein sozial-situativer Rahmen ein bestimmtes Rollenverhalten hervorbringt, steht das Individuum als »Produkt sozialer Situationen« bei Barnes immer in engem Verhältnis zur jeweiligen Raumordnung. Mal handeln die Protagonisten nach dem ungeschriebenen Drehbuch, das diese Räume vorsehen, mal brechen sie daraus aus. Allen Episoden gemein ist indes ein Fokus auf den Prozessen, die einen institutionalisierten Raum hervorbringen und legitimieren. Raum wird »[…] denaturalisiert, er wird in seiner Konstruiertheit und Erzeugtheit oder, was das Gleiche ist, in seiner Kulturalität, Historizität und Relativität zum Gegenstand literarischer Darstellung, zu einem Phänomen, das der Verhandlung und Reflexion bedarf.« (Hallet 2009: 83) Was Wolfgang Hallet hier als wichtige Eigenschaft der Romangattung Fictions of Space hervorhebt, kann ebenso gut auf institutionalisierte Räume angewendet werden.5 Während Raum-Fiktionen jedoch hypothetische Ge5
Fictions of Space nennt Wolfgang Hallet solche Werke, die »[…] wie unter einem Brennglas Raumpraktiken, soziale Interaktionen und Bewegungen im Raum […]« (Hallet 2009: 83) hervortreten lassen. Nicht zuletzt durch den BrennglasVergleich scheint diese Definition auf den ersten Blick sehr gut zu den hier analysierten Räumen zu passen. Jedoch können Barnesʼ Werke außerhalb der Fokussierung auf die Praktiken des Raums nicht als Fictions of Space bezeichnet werden. Bei Hallets konstruktivistischem Konzept geht es vornehmlich um Bewusstseinsvorgänge im Verbund mit Raumsemiotisierungen (vgl. ebd.: 108), während bei Barnes die soziale Raumkonstitution (Macht, Ermächtigung, Kontrolle, Unterdrückung etc.) im Mittelpunkt steht.
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dankenkonstruktionen sind, die auf dem Schreibtisch von Autoren erfunden werden, sind institutionalisierte Räume eminent folgenreich für das Leben und Handeln von Menschen. Sie geben ihnen feste Rahmenbedingungen in Form von Normen und Handlungsmustern vor, die die Bewegungen nicht nur des Handelns, sondern auch des Denkens und der Existenz überhaupt stark einschränken. Damit bleiben sie nicht fiktiv im Sinne eines Denkexperiments, sondern produzieren Wirklichkeit, formen Menschenleben und machen Geschichte. Ein Beispiel, das sowohl den Charakter einer institutionalisierten Ordnung als auch deren historische Entwicklung und Wandelbarkeit darstellt, hält Barnesʼ Kurzgeschichte »A Short History of Hairdressing« bereit. Die Geschichte erzählt in drei Abschnitten drei Friseurbesuche des Protagonisten Gregory. Beim ersten ist Gregory ein Junge an der Schwelle zur Pubertät, beim zweiten ein rebellischer Student Anfang Zwanzig, beim dritten schließlich ein Mann mittleren Alters. Obwohl sich die Grundkonstellation zwischen Friseur und Kunde als stabil erweist, ändert sich der soziale Raum des Friseursalons ebenso wie Gregorys Selbst- und Außenwahrnehmung im Laufe der Zeit massiv. Die Kurzgeschichte skizziert auf einer diachronen Ebene in groben Zügen tatsächlich so etwas wie die Geschichte des Haareschneidens. Dieser Diachronie der Geschichte stellt Barnes jedoch die synchrone Ebene der drei Friseurbesuche gegenüber, d.h. drei Gegenwartsmomente, die einen jeweiligen Status quo zu Tage fördern. In diesen drei Momenten wird jeweils deutlich, dass mit Ausnahme von Gregory die räumliche Ordnung des Friseursalons für alle Beteiligten völlig natürlich ist. Sie bewegen sich mit Leichtigkeit im Raum, dem ein ganzes Set an sozialen Konventionen eingeschrieben ist. Vom Blick in den Spiegel über die Auswahl der ausliegenden Magazine bis hin zu den Formalitäten des Bezahlens – der soziale Raum ist durchzogen mit Regeln und Ritualen, die beinahe automatisiert über die Bühne gehen. Erst die Reflexionen des Außenseiters Gregory, der Zeit seines Lebens eine schrullige Angst vor Friseursalons hat, lassen die Spezifika der Raumordnung für die Leser an die Oberfläche treten. Er nimmt durch seine Vorbehalte den Salon aus einer anderen, ungewöhnlichen Perspektive wahr und entfremdet ihn so für die Leser (vgl. Hallet-Zitat oben). Die Entfrem-
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dung betrifft nicht nur die ungeschriebenen Regeln und Konventionen, sondern insbesondere auch das raumspezifische, kulturell zugerichtete Inventar des Friseurs. Gregorys Vergleich des Rasiermessers mit einem Sarazenenschwert (vgl. ASHH 6) zeigt, dass die scharfen Klingen und Scheren des Friseurs eine ganz eigene, dieser spezifischen Raumkonstellation zugerichtete Funktion einnehmen. Das Setting des Friseursalons stellt einen kulturellen Kontext her, der die Kunden in ihrer sozialen Rolle dazu bringt, sich von einem Fremden bereitwillig eine potentielle Mordwaffe an den Hals legen zu lassen. Ist für die anderen Kunden dieser kulturelle Kontext so dominant, dass sie ihn nicht in Frage stellen, sorgt er bei Gregory für Angstzustände. Das diachrone Panorama von 40 Jahren, das die Erzählung in ihrer Gesamtheit auffächert, lässt drei Beobachtungen zu: Erstens erscheint der Friseursalon als kontingente, historisch gewachsene Struktur. Zweitens werden dem jeweiligen Raum eingeschriebene Verhaltensweisen und Konventionen zutage gefördert. Bei Barnesʼ Friseursalon geht es dabei vor allem um Macht und Machtlosigkeit, um ein zähes Ringen zwischen der Institution und dem Individuum. Durch Gregorys individuellen Blick wird drittens offenbar, wie sich der jeweilige Friseurraum erst durch die Zuschreibungen und subjektiven Wahrnehmungen des Jungen konstituiert. Was für den jungen Gregory ein Ort der Erniedrigung und sozialen Kontrolle ist, stellt für die anderen Kunden schließlich nur ein Ort des alltäglichen Rituals des Haareschneidens dar. Sie befinden sich im selben Raum, und doch könnten ihre Wirklichkeiten nicht unterschiedlicher sein. Die verschiedenen neuen und institutionalisierten Ordnungen, so lässt sich zusammenfassen, skizzieren auf engstem Raum, wie Wirklichkeiten entstehen und wie, wenn sie einmal etabliert sind, die Menschen darin geleitet, unterdrückt oder zur Transzendenz ihrer Rahmen ermutigt werden. Es handelt sich dabei auch bei den institutionalisierten Räumen nicht um präzise ausgearbeitete Sozialstudien, wie sie etwa der realistische Roman des 19. Jahrhunderts entwirft. Rushdies Begriff der »Kritzelei« (vgl. Rushdie 1992: 284) passt daher nicht nur zu den neuen Räumen der History, sondern kann generell auf Barnesʼ Raumexperimente übertragen werden. Im Folgenden wird es darum gehen,
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diese topologischen ›Kritzeleien‹ einzeln und in ihrem jeweilig spezifischen Zusammenhang in den Blick zu nehmen.
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TEIL II: VERSUCHSANORDNUNG 1 – NEUE RÄUME
5. A History of the World in 10 12 Chapters: Die Geschichte als Text und das Hier und Jetzt The history of the world? Just voices echoing in the dark; images that burn for a few centuries and then fade; stories, old stories that sometimes seem to overlap; strange links, impertinent connections. […] We make up a story to cover the facts we don’t know or can’t accept; we keep a few true facts and spin a new story round them. Our panic and our pain are only eased by soothing fabulation; we call it history. (AH 242) Was ist von einer Geschichte der Welt zu erwarten, die sich selbst den Boden unter den Füßen wegzieht? Die Passage aus dem Halbkapitel »Parenthesis« macht deutlich, dass es Barnes in diesem Roman nicht darum geht, eine Geschichte der Welt nach den Konventionen der Geschichtswissenschaften zu erzählen. Schließlich scheint der Erzähler geschichtswissenschaftliche Grundkategorien wie Kausalität (»strange links«) oder historische Wahrheit (»spin a new story«) rundheraus abzulehnen. A History of the World in 10 12 Chapters ist vielmehr eine spielerische Annäherung an das Thema, eine Fußnote zur Geschichte der Welt, wie Rushdie (vgl. Rushdie 1992: 284) meint: Mit viel Witz stellt Barnes eine Geschichte infrage, die die Stimmen aus der Echokammer der Vergangenheit in ein homogenes, lineares Narrativ überführt. Der Roman erzählt eine Geschichte der Welt in zehn thematisch unterschiedlichen Episoden, die allenfalls am Rande dessen stehen, was man als »welthistorisch relevant« (vgl. Finney 2003: 49) bezeichnen
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könnte. Von einer revisionistischen Version des Arche Noah-Mythos über eine Diskussion von Théodore Géricaults berühmtem Werk Das Floß der Medusa (Kapitel 5) bis hin zu einer zeitgenössischen Version des Himmels im letzten Kapitel »The Dream« versammelt A History eine fragmentarische, auf den ersten Blick unzusammenhängende Erzählung. Der Vielzahl an Stimmen in dieser Geschichte der Welt entspricht »a multiplicity of discursive genres«, die Brian Finney beobachtet: »[…] a fable, a political thriller, a courtroom drama, science fiction (or a psychiatric case history), a historical narrative, art criticism, epistolary fiction, an essay on love, and a dream-vision […]« (Finney 2006: 39-40). Das Halbkapitel »Parenthesis« nimmt dabei eine besondere Stellung ein. Nicht nur kommen hier fast alle anderen Kapitel durch Anspielungen oder Verweise vor, wie Christoph Henke (vgl. Henke 2001: 224) detailliert nachweist, die ›Klammer‹ zu Barnesʼ Weltgeschichte ist auch als Metakommentar zum Rest des Romans zu lesen (vgl. ebd.: 220). »Strange links, impertinent connections« – so kommentiert der Autor-Erzähler das formale Prinzip, das seine History nicht zu einem kohärenten Ganzen fügt, die einzelnen Kapitel aber dennoch miteinander ins Gespräch bringt. In A History ist die Vergangenheit dabei in ständigem Fluss. Sie ist weder abschließbar noch jemals ganz mit dem in Einklang zu bringen, ›was passiert ist‹, sondern als »soothing fabulation« immer ein interessengeleitetes Konstrukt. Die wiederkehrenden Motive und Symbole laden die Leser dabei ein, selbst die Konstruktionsprozesse der Geschichte zu vollziehen und nach einem Faden zu suchen, der die »im Dunkeln widerhallenden Stimmen« zu einer sinnhaften Erzählung verwebt.1 Für Russell West-Pavlov ist es vor allem die räumliche Qualität von Barnesʼ History, die eine solche Metaperspektive auf geschichtliche Emplotment-Prozesse möglich macht: »The raft motif, alongside dozens of other interwoven motifs, make the text a text in the etymological sense: the predominantly two-dimensional spatial artefact which it patent1
Verschiedene Studien haben sich auf die Suche nach einem durchgängigen geschichtlichen Muster in der History gemacht, siehe z.B. Kotte (1997) oder Buxton (2000).
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ly is.« (West-Pavlov 2004: 447) Er sieht in der Wiederholung der Motive eine räumliche Alternative zur sequentiellen, in der Zeit fundierten Geschichte (vgl. ebd.: 452). Mit der Text-Metapher und der Priorisierung des Raums verortet er seine Analyse des Romans in einem dezidiert postmodernen Zusammenhang. Das topologische Grundschema des Romans ist aber mehr als ein räumlich-metaphorischer Ausdruck eines postmodernen Textparadigmas. Wie in den ersten beiden Kapiteln der vorliegenden Arbeit erörtert wurde, sind die verschiedenen Versionen der Arche (vgl. Finney 2006: 46) beispielhafte andere Räume: Sie sind vom Außen getrennt, stehen im erzählerischen Fokus und werden durch »metapoetische Wegweisungen« besonders markiert (vgl. Abschnitt 2.1). Die folgenden Abschnitte knüpfen an diese Überlegungen an und untersuchen, wie die markante Gegenüberstellung von Schiff und Meer mit dem Thema des Romans, der Geschichte der Welt, in Verbindung steht. Mit den geschlossenen, vom Außen abgetrennten Schauplätzen, so soll dieses Kapitel zeigen, setzt Barnes symbolische Bühnen ins Werk, die er mit der Geschichte als Text kontrastiert. Während das Meer die Bewegtheit und die Unabschließbarkeit des semiotischen Prozesses verkörpert, sind die Archen als neue Räume experimentelle Anordnungen, die einer diskursiv erzeugten Geschichte der Welt Momente der Präsenz gegenüberstellen. Worldmaking heißt in A History damit vor allem, in der Echokammer der Geschichte der Welt eine Gegenwart zu erzeugen. Während die ersten beiden Unterkapitel vertiefend auf symbolische und formale Aspekte des Meer-Arche-Settings eingehen, beschäftigen sich die nachfolgenden beiden Abschnitte mit den verschiedenen Ebenen, auf denen der Roman Präsenz produziert und die Prozesse der Welterzeugung verortet.
5.1.
Die Arche und das Meer: Das symbolische Angebot des Romansettings
Die Flut, die auf der überschwemmten Erde dahintreibende Arche – mit dem Setting des berühmt gewordenen ersten Kapitels und der revi-
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sionistischen Version des Noah-Mythos etabliert der Roman ein dominantes, wiederkehrendes Raummuster. Ein kurzer Überblick über die Kapitel zeigt, dass Wasser und Schiffe bzw. schiffsähnliche Untersätze in den einzelnen Teilen von A History of the World in 10 21 Chapters eine wichtige Rolle spielen, sei es als Schauplatz der Episoden oder durch Verweise, Zitate und Bilder. Im zweiten Kapitel steht mit der Santa Euphemia ein Luxusliner im Mittelpunkt, der auf dem Mittelmeer verkehrt und seine Gäste zu verschiedenen antiken Kulturstätten bringt. Die »Visitors« aus dem Titel des Kapitels sind arabische Terroristen, die die Gäste als Geisel nehmen und sie am Ende nach und nach paarweise erschießen. Im vierten Kapitel, »The Survivor«, verlässt Kath Ferris in einem kleinen Boot mit zwei Katzen die Nordküste Australiens, um im Angesicht einer vermeintlichen nuklearen Katastrophe einen Neubeginn in Harmonie mit der Natur zu wagen. »Shipwreck«, das fünfte Kapitel, erzählt im ersten Teil von einem Überlebenskampf auf hoher See, nachdem das französische Schiff Medusa gesunken ist und sich einige wenige Männer auf ein Floß retten konnten. Der zweite Teil beschäftigt sich mit Gericaults berühmter Inszenierung dieses Kampfes und der Frage: »How do you turn catastrophe into art?« (AH 125) Das nächste Kapitel, »The Mountain«, erzählt die Geschichte einer religiösen Pilgerfahrt der besonderen Art. Amanda Fergusson reist mit einer Begleiterin zum Berg Ararat, wo dem Mythos nach Noahs Arche gestrandet sein soll. Obwohl dieses Kapitel zu Lande spielt, sind Wasser und Arche gerade durch ihre Abwesenheit anwesend: Amanda wird nicht fündig und bezahlt die Exkursion darüber hinaus mit dem Leben. Die »Three Simple Stories«, die in dem folgenden Kapitel zusammengefasst sind, stellen wiederum das Meer in den Mittelpunkt: Die erste ist eine essayistische Annäherung an den Untergang der Titanic und die Frage, auf welche Art und Weise man eine solche Katastrophe überleben kann – Lawrence Beesley, der Protagonist, schmuggelte sich etwa als Frau verkleidet auf ein Rettungsboot. Die zweite Geschichte setzt sich mit dem Jona-Mythos auseinander, die dritte mit der tragischen Irrfahrt der St. Louis über die Weltmeere. »Upstream« erzählt in Briefform von Filmarbeiten im venezolanischen Dschungel. Filmische Fiktion und Realität verwischen immer mehr, bis einer der Schauspieler
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tatsächlich im Fluss ertrinkt, nachdem sein Floß gekentert war. »Project Ararat« ist eine moderne Neuauflage von »The Mountain«, dieses Mal ist es ein ehemaliger Astronaut, der sich auf die Suche nach Noahs Arche begibt, nachdem er im Weltall eine göttliche Vision hatte. Die einzigen Kapitel, in denen Wasser und Schiffe keine Rolle spielen, sind das dritte, »The Wars of Religion«, und das letzte Kapitel »The Dream«.2 Warum, so kann man im Anschluss an diese Beobachtungen fragen, wählt Barnes für den Großteil des Romans ein ›maritimes‹ Setting? Was hat diese Wahl mit der Geschichte der Welt zu tun? Die Wiederkehr von Wasser und schwimmenden Untersätzen (Schiffe, Dampfer, Boote, Flöße) hängt zunächst mit dem Kohärenzprinzip des Romans zusammen. Die einzelnen Episoden sind weder chronologisch erzählt, noch bauen sie nach einer kausalen Ordnung aufeinander auf. Für María Lozano ist der Roman »[…] a non-sequential discourse of History which is not arranged according to an order of transitivity and narrative progression but on a kind of staccatto [sic!] pattern of different and non-sequential historical ›scenes‹ […].« (Lozano 1995: 120) In Barnesʼ alternativer Weltgeschichte tritt an die Stelle eines zeitlichen Nacheinanders ein räumliches Nebeneinander, die Bühnen für die »historischen Szenen« sind die verschiedenen Versionen der Arche, die als dominantestes Strukturelement immer wieder auftaucht. Den Lesern der History wird dieser christliche Ursprungsmythos allerdings nicht aus der bekannten biblischen Perspektive dargeboten, sondern aus der Sicht eines Holzwurms, der sich als blinder Passagier auf die Arche geschlichen hat. Jackie Buxton hebt die Bedeutung beider Motive, Arche und Holzwurm, besonders hervor, wenn sie Barnesʼ Methode als »arch-ologisch« bezeichnet: »[…] inverted and transposed, the imagery of Noah’s ark weaves its way through the novel, much like the woodworm who provided it« (Buxton 2000: 65). Die verschiedenen Schiffe und Wasserschauplätze können demnach als Variationen auf
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Das Kapitel »The Wars of Religion« handelt von einem surrealen mittelalterlichen Gerichtsprozess, in dem Holzwürmer angeklagt sind, weil sie die Holzbestandteile einer Kirche zerfraßen. Rushdie sieht in der Kirche ein »[…] Schiff für die Seelen, auch eine Art Arche.« (Rushdie 1992: 285)
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dieses Grundmuster gesehen werden: »Either explicitly linked to Noah’s maiden voyage or metaphorically figured as human lifeboats, Barnes’s ships are all in some sense arklike vessels […].« (Ebd.: 65-66) Während Buxton die zentrale Rolle des Holzwurms zu Recht betont, kann der Arche hingegen keine einheitliche Funktion als »lifeboat« zugeschrieben werden. Im Buch Genesis ist die Arche der Ort der Rettung vor der Sintflut, die Gott als Strafe für sündhaftes Leben über die Erde kommen lässt. Die revisionistische Darstellung des Holzwurms räumt mit diesem Rettungsmythos allerdings schon im ersten Kapitel gründlich auf (vgl. AH 4). Insbesondere für einige der Tiere stellt sich die Aufnahme auf die Arche nicht als Chance auf ein Überleben, sondern als sicheres Todesurteil heraus. In der Darstellung des Holzwurms werden die reinen Tiere nicht in Paaren, sondern in Siebener-Gruppen auf die Arche geführt, damit fünf der sieben während der Fahrt nach und nach geschlachtet und von Noah und seiner Familie verspeist werden können (vgl. AH 11). Während in Kapitel 5, »The Shipwreck«, das Floß der Medusa zumindest einigen Schiffbrüchigen das Überleben sichert, ist die Rettung in anderen Kapiteln – ebenso wie für die überzähligen reinen Tiere – nur eine vermeintliche. Einen zynischen Höhepunkt bietet in diesem Zusammenhang die Irrfahrt der St. Louis in der dritten der »Three Simple Stories«. Das Kreuzfahrtschiff hat jüdische Flüchtlinge an Bord, für die die Fahrt mit der St. Louis zunächst ein Entkommen vor den Nazis bedeutet. Nachdem aber keines der angesteuerten Länder sich bereit erklärt, die Verfolgten aufzunehmen, wird auch diese moderne Arche unversehens zum Gefängnis: Keiner der Passagiere wird von Bord gelassen. So kehrt die St. Louis nach genau 40 Tagen und Nächten auf hoher See nach Europa zurück, wo auf viele der jüdischen Passagiere die Deportation in verschiedene Konzentrationslager wartet (vgl. AH 188). Die Beispiele verdeutlichen, dass das biblische Arche-Muster im Roman insgesamt uneinheitlich verwendet wird. Mal bedeutet es tatsächlich Überleben und Reinigung, mal wird es, wie im Fall der St. Louis, auf fatale Weise umgedreht. Die Arche erweist sich hier nicht als Rettung vor der Katastrophe, sondern als die Katastrophe selbst.
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Nicht nur das Arche-Motiv, auch das Meer ist in A History ambivalent. In ihrer dem Ecocriticism verpflichteten Dissertation misst Jill Wagner dem Meer als »natürlichem Setting« eine übergeordnete Bedeutung bei: »[…] important action takes place on a boat or raft, a constructed place, but Barnes points out that that vessel is continually subject to the natural elements of wind and wave. The ocean is the larger setting.« (Wagner 2009: 94, Herv. S.B.) Wagner hebt dabei hervor, dass das Meer nicht nur »tomb«, sondern auch »womb«, nicht nur zerstörerisches, sondern auch lebensschaffendes Element sein kann (vgl. ebd.: 125). Auch die Ambiguität des Wassers ist bereits im biblischen Flutmythos zu beobachten. Einerseits bedeutet die Flut für einen Großteil der Lebewesen Untergang und Tod, andererseits ist die Strafe Gottes auch Reinigung und Neuanfang für die Welt. Die Doppeldeutigkeit des Wassers tritt im Kapitel »The Survivor« besonders hervor. Für die Protagonistin Kath Ferris ist die ungewisse Reise auf das offene Meer hinaus ein Neuanfang, der sie zum Ursprung der Menschheit zurückführt: »We all crawled out of the sea once, didn’t we? Now we’re going back to it.« (AH 94) Für sie ist das Wasser ein hoffnungsvolles Symbol für die Rückkehr in eine urwüchsige, reine Natur, wenngleich das Bild des aus dem Meer steigenden Menschen eher von der Evolutionstheorie als der Bibel informiert ist. In dieser Erzählung wird bis zuletzt nicht deutlich, ob das Meer für Kath eine metaphorische (Wieder-)Geburt oder ein metaphorisches Grab ist, weil sie nicht auflöst, ob die Psychiater, die gegen Ende des Kapitels auftauchen, tatsächlich nur in Kaths Träumen vorkommen, oder ob umgekehrt Kaths Leben auf einer einsamen Insel Einbildung ist. Eine weitere Verbindung zwischen dem Setting des Romans und der Geschichte der Welt schlägt Joanna Rostek vor. Für sie ist das dominante Meeressetting eine Metapher für das Vergessen in der Geschichte: Barnes’s view of how the history of the world evolves appears to be as follows: those who survive the voyage and reach land can put forward their versions of ›how it really happened‹; but those who drown take their stories with them. The maritime depth becomes thereby a con-
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tainer for lost voices, unheard accounts, and vanished perspectives; it epitomises those versions of history that were cast aside. (Rostek 2011: 188) Das ständig bewegte Meer ›schluckt‹ die Stimmen derer, die nicht gehört werden können oder sollen. Barnesʼ Geschichte der Welt ist demnach fokussiert auf die Frage, wessen Version auf der Oberfläche bleibt und welche der »vergesslichen See« (vgl. ebd.: 193) anheimfallen werden. Rosteks Lesart einer ›Geschichte der Überlebenden‹ beleuchtet zwar einen wichtigen Aspekt, wird der komplexen History aber nicht vollständig gerecht. Zunächst ›schluckt‹ das Meer nicht nur, es ›spuckt auch wieder aus‹, wie der Erzähler von »Parenthesis« bestätigt: We lost the Titanic, forever it seemed, in the squid-ink depths, but they turned it up. They found the wreck of the Medusa not long ago, off the coast of Mauretania. […] All they salvaged after a hundred and seventy five years were a few copper nails from the frigate’s hull and a couple of cannon. (AH 243) Die Kupfernägel und Kanonen stehen stellvertretend für Spuren (Texte, Artefakte), die auf dem Grund der Geschichte gefunden werden und verloren gegangene Stimmen und Wirklichkeiten zutage fördern.3 So werden geschichtliche und kulturelle Überzeugungen der Gegenwart über die Vergangenheit durch neue Erkenntnisse von Historikern, Anthropologen etc. immer wieder verworfen oder angepasst. Obwohl der Erzähler enttäuscht scheint über die gefundenen Objekte, erfüllen die Nägel und Kanonen als ›materielle Beweisstücke‹ einer vergangenen Wirklichkeit eine wichtige Funktion – insbesondere, wenn die Vergangenheit vor allem als textuell-sprachliches Konstrukt verstanden wird, 3
Rostek verweist ebenfalls auf diese Passage, misst den wiedergefundenen Artefakten in ihrer ausgesprochen postmodernen Lesart aber keinen großen Wert zu: »And although to a certain degree helpful, ›a few copper nails‹ recovered from the depths are but mute tokens of the past. They are dead matter which has to be emplotted before it yields a meaning, either corroborating existing versions of the past or constructing new stories purporting to explain ›how it really was‹.« (Rostek 2011: 194)
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das den Zugriff auf ein »past real« (Hutcheon 1988: 173) infrage stellt. In Rosteks Metaphorik verkürzt sich der geschichtliche Diskurs auf einen Foucaultschen Machtmechanismus, auf eine Geschichte, die hauptsächlich auf Ausschluss und Normierung durch die Mächtigen gründet: »History turns into a continuous power struggle […].« (Rostek 2011: 188) Eine glattgebügelte, monoperspektivische Erzählung der Mächtigen ist die History allerdings gerade nicht. Zum einen wird der Roman von einer Vielzahl von Stimmen getragen, zum anderen kommt mit dem Holzwurm das paradigmatische Symbol für das Andere (vgl. Finney 2003: 64), dessen Stimme unterdrückt und ausgeschlossen wird, immer wieder zur Geltung. Das im Holzwurm symbolisierte »Gegengedächtnis« (vgl. West-Pavlov 2004: 454) wird in dieser Geschichte nicht im Meer versenkt, sondern findet immer wieder seinen Weg an die Oberfläche. Ob »life boat« vs. zerstörerische Kraft des Wassers, »constructed place« vs. »natural setting« oder vergessene vs. sichtbare Geschichte – so deutlich und grundlegend sich die Opposition zwischen den verschiedenen Versionen der Arche und dem Meer in A History gibt, so sehr scheint sie sich im Hinblick auf die Geschichte der Welt einer einheitlichen Bedeutung jenseits der räumlich-physischen Differenz zu entziehen. Barnes stellt die Geschichte auf der räumlich-metaphorischen Ebene weder als einheitliche Abfolge von Katastrophen, noch als hoffnungsvolle Rettungen dar; das Meer ist als zerstörerische Kraft einerseits und lebensspendendes Element andererseits ebenso ambivalent. Während die Semantik von Arche und Meer also wiederholt auf den Kopf gestellt wird, möchte ich im Folgenden einige Strukturmerkmale zusammentragen, die die Opposition zwischen den verschiedenen Räumen der Arche und des Meers, des Innen und des Außen, dennoch erhalten. Allerdings nicht als semantische oder metaphorische Differenzbeziehung, sondern als Kontrast erzählerisch unterschiedlich inszenierter Raum-Zeit-Strukturen.
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5.2.
Die Arche und das Meer als Kontrast zweier Raum-Zeit-Strukturen
Das Meer ist keine Welt, aber es hat bei Barnes natürliche und – wie im Fall der Medusa als Container verlorener Stimmen und Zeichen – semiotische Kraft, Welten zu verändern oder sogar zu zerstören. Dem bewegten Meer stehen die statischen Schiffswelten gegenüber. Zwar bewegt sich das Schiff als relativer Raum (vgl. Günzel 2006: 110) ständig mit dem Meer und kann sich, solange es auf dem Meer segelt, nie aus der Dichotomie Meer/Schiff befreien. Während das Meer sehr wohl ohne Schiff auskommt, verliert das Schiff ohne Meer jede Bedeutung. Das Schiff bleibt somit im Positiven wie im Negativen auf das Meer fixiert, schafft durch seine In-Sich-Geschlossenheit (vgl. Foucault 2006: 327) aber seine eigene, kondensierte Welt. Dass die kleine Welt des Schiffs dabei ganz entscheidend davon abhängt, dass die Grenze zwischen Innen und Außen intakt bleibt, zeigt sich in A History in der prägnanten erzählerischen Akzentuierung dieser Grenze. Schon im ersten Kapitel der History wird die dem Setting eigene Grenzziehung zwischen dem Innen und dem Außen des Schiffs mit erzählerischen Mitteln in Szene gesetzt. Wie wir bereits gesehen haben, spricht der Erzähler in »The Stowaway« buchstäblich aus dem Rahmen der Erzählung: Der Holzwurm, der sich unbemerkt auf die Arche schleicht, hat sich in den Schiffsrumpf gebohrt und nimmt damit die äußerste Beobachterposition ein. Als blinder Passagier befindet er sich innerhalb des erzählten Raums, gleichzeitig aber außerhalb des Geschehens. Der Holzwurm gibt dem Leser einen Überblick, der die hermetische Geschlossenheit der Arche hervorhebt: »It wasn’t a nature reserve, that Ark of ours; at times it was more like a prison ship.« (AH 4) Auch die St. Louis in der zweiten der »Three Simple Stories« im siebten Kapitel bietet ein Beispiel für die narrative Dramatisierung von Geschlossenheit. Weil den jüdischen Flüchtlingen in Havanna kein Asyl gewährt wird, beginnt die St. Louis eine Irrfahrt entlang der süd- und nordamerikanischen Küste auf der Suche nach einem sicheren Hafen. Da ihnen aber nirgendwo Zuflucht gewährt wird, muss das Schiff zurück nach Europa, wo es schließlich in Antwerpen einlaufen darf, »[…]
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300 miles from its port of departure« (AH 188), wie der Erzähler trocken bemerkt. Die Geschlossenheit des Schiffs wird hier doppelt sichtbar, weil ein Verlassen auch nach dem vermeintlichen Ende der Reise in Havanna nicht erlaubt wird. Der temporäre, freiwillige Aufenthalt wird damit zu einem erzwungenen und zeitlich ungewissen; auch die St. Louis ist zu einem Gefängnisschiff geworden, das nicht mehr verlassen werden kann.4 Eine weitere erzählerische Zuspitzung der Geschlossenheit dieser Räume erreicht Barnes durch einen narrativen Blick, der nicht über das Schiff/Boot/Floß hinausgeht: Der erzählerische Fokus ist so eingestellt, dass die Außengrenzen des schwimmenden Untersatzes auch gleichzeitig die Außengrenzen der Erzählung darstellen. In Kapitel 4, »The Survivor«, wird der Übergang der Protagonistin Kath von einer Welt in die andere auch auf einer topographischen Ebene markiert. Die Küste wird zur peripheren Kontaktzone, wo sich die beiden Welten treffen: She left the world behind from a place called Doctor’s Gully. […] The rocks over here were strewn with discarded bits of metal – engines, boilers, valves, pipes, all turning orangey-brown with rust. As she walked, she stirred up flocks of orangey-brown butterflies which had started to live among the scrap metal, using it as camouflage. (AH 91) Der Roman projiziert hier Kaths Opposition von Kultur (die ›alte‹ Welt) und Natur (ihre ›neue‹ Welt) auf die räumliche Ordnung, wo Kultur und Natur sich nicht nur begegnen, sondern zu einer Welt eigenen Rechts verwachsen. Nachdem Kath diese Zone des Übergangs verlassen hat, ändert sich der Puls der Erzählung. Die Abschnitte werden kürzer und verworrener; der Erzähler springt zwischen erster und dritter Person hin und her. Die Erzählung wird in Genettes Terminologie nach und 4
Für den Großteil der Passagiere ist die Ankunft nicht mit der Freilassung, sondern weiteren, dieses Mal von vornherein als Gefängnisse markierten geschlossenen Räumen verbunden: »Those admitted to Belgium were put on a train whose doors were locked and windows nailed shut; they were told that such measures were necessary for their own protection. Those admitted to Holland were immediately transferred to a camp surrounded by barbed wire and guard dogs.« (AH 188)
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nach zu einem Extremfall interner Fokalisierung (vgl. Genette 1998: 137). Der Erzähler verknappt die Welt mit anderen Worten nicht mehr nur auf das Boot, sondern auf die Perspektive und die Gedanken von Kath. Während in »The Survivor« die Perspektive nicht nur extrem verengt, sondern geradezu pathologisiert wird, stellt es sich in »The Visitors« zunächst anders dar. Obwohl diese Schiffswelt nicht so limitiert ist wie Kaths, ist sie dennoch verknappt, wenn mit Abendessen am Kapitänstisch und »fancy dress night« (AH 38) auch auf die angenehmeren Seiten des Lebens. Dies wird nicht zuletzt betont durch »[…] the ship’s newspaper, which printed their daily route alongside birthday messages and non-controversial events happening on the European continent.« (AH 38, Herv. S.B.) Die unübersichtliche, problem- und krisenbehaftete Wirklichkeit wird für die Dauer der Bildungskreuzfahrt schlicht ausgeblendet. Während sich Hughes bis hierher in beiläufigen, hochfahrenden Beobachtungen ergeht, findet mit dem Erscheinen der Terroristen der Black Thunder Group auf dem Schiff ein radikaler, zwangsläufiger Bruch in der Erzählung statt. Die aus dem nichts auftauchenden Terroristen vollziehen eine Grenzüberschreitung, sie machen durch ihr Erscheinen den begrenzten Raum des Schiffs mit einem Schlag spürund sichtbar. Auch der erzählerische Fokus ändert sich abrupt: Zwar ist Hughes noch immer die Reflektor-Figur, durch die Geiselsituation aber wird der Blick statischer und eindimensionaler, der physische wie ideologische Raum wird nun von den Geiselnehmern bestimmt. Neben der räumlichen und perspektivischen zeigt diese Episode auch exemplarisch die zeitliche Geschlossenheit, die sämtliche Schiffsepisoden in A History charakterisieren. Diese Geiselnahme ist streng getaktet: Die Black Thunder Group hat den westlichen Regierungen ein Ultimatum für die Freilassung ihrer inhaftierten Mitstreiter gestellt. Die Regierungen lassen die Frist verstreichen und so macht sich die Gruppe wie angekündigt daran, jede Stunde ein Paar der Touristen hinzurichten. Es sind ›Eindringlinge‹ von außerhalb, die der Geiselnahme schließlich ein Ende setzen: »Shortly after eleven, twenty-two members of the American Special Forces, who had been trailing the Santa Euphemia for fifteen hours, managed to get on board. In the battle six more passengers […] were shot dead.« (AH 58) Das plötzliche Übertre-
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ten der Außengrenzen des Schiffs durch die Spezialkräfte ist eine zweite Überschreitung des Rahmens. Jetzt erst dringt die äußere Welt in die Erzählung. Dass diese Welt die ganze Zeit über da gewesen ist (»[…] had been trailing the Santa Euphemia for fifteen hours«), wird den Lesern jetzt bewusst. Es ist bezeichnend, dass wir im Anschluss an die Geiselnahme nichts über Hintergründe, Konsequenzen oder Folgen erfahren. Die Erzählung endet, sobald die Sondereinsatzkräfte – die Repräsentanten der Außenwelt – das Schiff betreten. Sie bleibt somit auf die Gegenwart der Geschehnisse reduziert. Die Beispiele zeigen, dass die Rahmen der fiktionalen Schiffswelten in A History durch eine erzählerische Verknappung von Raum, Zeit und Perspektive besonders hervortreten (siehe hierzu auch Abschnitt 2.1). Der starke Rahmen, der durch die Profilierung der Raumgrenzen entsteht, inszeniert eine räumliche und temporale Totalität. Mit diesem »Here and Now« (AH 56) entwirft A History eine Raum-Zeit-Struktur, die die geschlossenen Welten exponiert und scharf von einem Außen abtrennt. Die Grenze scheint auch deshalb so absolut, weil das Außen, das Meer, kein Here and Now kennt. Der Ausspruch Heraklits, dass man nie zweimal in denselben Fluss steige, gilt auch für das Meer: Die Wellen kommen und gehen, ohne dass sie dabei jemals identisch wären oder sich auf einen bestimmten Zustand festlegen ließen. Steht das Meer für den vorsokratischen Denker Heraklit für eine Philosophie des Werdens und des Wandels (vgl. Scholtz 2016: 16), erscheint es bei Barnes als postmoderne Wiederholung mit Differenz. Es ist der paradigmatische Raumausdruck für eine Geschichte, die als Text, als »zweidimensionales räumliches Artefakt« (vgl. West-Pavlov 2004: 447) verstanden wird: Die Bewegung des Meeres ist wie der semiotische Prozess der Signifikation unabschließbar, wie der postmoderne Text hat die Bewegung des Meeres keinen Anfang und kein Ende. In diesem Sinn bezeichnet A History für María Lozano eine Geschichte, die sich nicht zur Sprache bringen lässt, weil kein »already there« (Lozano 1995: 123) eines Beginns gefunden werden kann. Das Meer steht in dieser Metaphorik somit nicht nur für das Vergessen (Rostek), sondern für eine zeichenhafte Geschichte, die sich selbst auflöst, um sich immer wieder neu zu knüpfen.
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Die Schiffe bekommen in der als Gegensatz zwischen steter Bewegung und geschütztem Hier und Jetzt verstandenen Meer-SchiffDichotomie einen neuen Status. Sie widersetzen sich als einzelne, in sich geschlossene Welten der Aneinanderreihung und Verknüpfung, sie sind widerständige Räume, die sich gegen eine Vereinnahmung durch das Meer und damit der Geschichte der Welt wehren. Mit dem postmodernen (Zeichen-)Meer und dem Here and Now der verschiedenen Versionen der Arche, so möchte ich vorschlagen, verräumlicht der Roman das spannungsvolle Verhältnis zwischen dem, was die Postmoderne ist und dem, woran es ihr mangelt, nämlich Anwesenheit, Identität, Körperlichkeit und neue Anfänge.5 Barnesʼ geschlossener Schiffsraum ist aus dieser Sicht nicht weniger als die bildliche Rehabilitation eines »Innen«, das Derrida in seiner Schrift- und Logozentrismuskritik zugunsten eines verzögerten, nie anwesenden »Draußen« demontiert (vgl. Assmann 2015: 88). Im folgenden Abschnitt soll erstens dargelegt werden, was das abgetrennte, isolierte Hier und Jetzt der geschlossenen Schiffswelten auszeichnet und wie dies zweitens einen innovativen Blick auf das im Roman entworfene Geschichtsbild erlaubt.
5.3.
Neue Räume vs. die Geschichte der Welt: »The Survivor« und »The Visitors«
Ein markantes Beispiel für einen widerständigen geschlossenen Raum findet sich im vierten Kapitel der History, »The Survivor«. Wie schon dargelegt wurde, macht Kath Ferris ein kleines Ausflugsboot, das sie sich von ihrem gewalttätigen Freund ›leiht‹, zum Vehikel eines radikalen Neustarts: Greg would have been angry about the boat. Still, he only had a quarter share in her, and if the four of them were going to spend their last days drinking in bars and picking up girls because of the men in dark5
Das Wort Arche geht etymologisch zwar auf lat. arca ›Truhe‹ zurück. In dieser Lesart kommt aber auch das griechische archē als ›Beginn, Ursprung‹ zur Geltung.
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grey suits […], then they weren’t going to miss the boat, were they? I filled her up, and as I cast off I saw that the tortoiseshell [cat, S.B.] I’d put down just anywhere was sitting on top of Paul’s basket, looking at me. ›You’ll be Linda,‹ I said. (AH 90) Diese Passage zu Beginn ihrer Reise zeigt zunächst, wie Kath ihren Freund Greg und die anderen Besitzer regelrecht enteignet. Weil sie die Gefahr ohnehin nicht ernst nehmen, so ihre krude Logik, steht es ihr zu, das Ausflugsboot zu ihrem persönlichen Rettungsboot zu machen. Gleich zu Beginn schreibt sie dem so umgewidmeten Boot ihre utopische Weltsicht ein. Mit dem Kater und der eben gefundenen Katze Linda, die sie kurzerhand mit an Bord nimmt, stellt sie dabei einen symbolischen Anschluss an das Arche-Motiv her. Die bessere Welt, die sich Kath erschließen will, steht in einem markanten Gegensatz zur Welt, die sie zurücklässt. Kaths Verallgemeinerungsbegriff der »men in dark-grey suits«, die dort die Entscheidungen treffen, drückt in einer Formel den gesellschaftlichen Status quo aus und hilft ihr, im Kontrast dazu ihre eigene Welt zu erzeugen. Sie erkennt dabei insbesondere das Verständnis der Zeit als wichtigen Worldmaking-Faktor: »I don’t keep count of the days. There is no point, is there? We aren’t going to measure things in days any more. Days and weekends and holidays – that’s how the men in grey suits measure things […].« (AH 93) Eine homogene Geschichte der Welt lehnt sie als Ausdruck der alten Zeitordnung ebenfalls ab: I’m stuck with this rhyme as we head in whatever direction we’re heading: In fourteen hundred and ninety two Columbus sailed the ocean blue And then what? They always make it sound so simple. Names, dates, achievements. I hate dates. Dates are bullies, dates are know-alls. (AH 99) Auf dem Boot lässt Kath das Zeitverständnis und die Geschichte der alten Welt hinter sich, um zu einem zyklischen, an der Natur ausgerichteten Lebensrhythmus zurückzukehren. Doch Kaths neue Welt be-
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kommt schon bald Risse: Als in ihren Alpträumen vermehrt Ärzte in weißen Kitteln auftauchen, wird deutlich, dass sie auch Insassin einer psychiatrischen Anstalt sein und sich ihre Welt »zusammenfabulieren« (vgl. AH 109) könnte. Wie viele andere Rettungsboote in der History wird auch ihre Arche zu einem Gefängnis: »She began to have more nightmares. […] She was in a sort of cage, as far as she could tell: on either side of her metal bars rose vertically. Men came and saw her, always men.« (AH 96, Herv. S.B.) Mit der alternativen Version, die Kath in ihren vermeintlichen Albträumen heimsucht, werden die Rahmen ihrer neuen Welt aufgebrochen und die alte drängt mit aller Macht zurück. Die Männer der psychiatrischen Klinik nehmen nun die Rolle der »men in dark-grey suits«, der mächtigen Entscheider, ein. Die Pointe in »The Survivor« ist, dass sich Kath und die Ärzte gegenseitig bezichtigen, jeweils eine Welt durch »fabulation« entstehen zu lassen. So heißt es, als ihr der psychiatrische Fachbegriff erklärt wird: »›Well, I admire your fabulation,‹ I said, using the technical term back to him. That put him in his place. ›I really think it’s quite clever.‹ He’d given himself away, of course. You keep a few true facts and spin a new story round them – exactly what he’d done.« (AH 110) So verschieden die beiden Welten auch sein mögen, so ähnlich erscheinen die Prozesse, die die Welten entstehen lassen: Beide verbinden die ›Fakten‹ auf bestimme Weisen, um zu einem subjektiv schlüssigen Narrativ zu gelangen. Die Geschichte endet damit, dass Linda fünf kleine Katzen zur Welt bringt und Kath so zur Verzückung bringt: »She felt such happiness! Such hope!« (AH 111) Die Erzählinstanz tritt nicht mehr hinter Kath hervor und verzichtet auf einen auktorialen Urteilsspruch über ihre Zurechnungsfähigkeit. Die von Kath über die Erzählung hinweg sorgsam konstruierten Oppositionen von Natur und Kultur, Frau und Mann, Linearität und Zirkularität bleiben so am Ende als völlig inkompatible Wirklichkeiten nebeneinanderstehen. Mit diesen unversöhnlichen Wirklichkeiten geht auch eine Gegenüberstellung zweier Raumtypen einher: Kaths Boot ist ein neuer, die psychiatrische Klinik ein institutionalisierter Raum. Kaths Resilienz und ihr Unwille, ihre neue Welt aufzugeben, erlauben dabei eine ungewohnte Perspektive auf die Institution und den normativ-
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wissenschaftlichen Diskurs, der von ihr ausgeht. Kath zwingt die Ärzte zu einer Antwort. Sie macht den nicht-reziproken Diskurs der Geisteskrankheit zu einem reziproken und provoziert so grundlegende Fragen an die Institution: Wie wird die Grenze zwischen dem ›Normalen‹ und dem ›Nicht-Normalen‹ gezogen? Wer hat die Macht, eine solche Setzung vorzunehmen? Diese Fragen stellen sich, weil »The Survivor« sich dem Thema so nähert, wie es in dieser Form nur die Fiktion kann: Barnesʼ literarisches Experiment gibt dem Anderen eine Stimme und eröffnet so eine Perspektive, die einem ›psychologischen‹ oder ›medizinischen‹ Diskurs versperrt bleibt. Mit der Konfrontation zweier Wirklichkeitsentwürfe inszeniert A History hier aber nicht nur Fragen der Normierung und der Macht, sondern auch einen Widerstreit zwischen einem unmittelbar erlebten Hier und Jetzt und einem diskursiven Konstrukt. Nicht zuletzt durch das Abwerfen des Rationalen und der angedeuteten Rückkehr zu einer vormodernen Einheit von Mensch und Natur liegt Kaths verknappter Welt eine Präsenzkultur (vgl. Abschnitt 2.2) zugrunde. Die Psychiater dagegen können als paradigmatische Vertreter einer Sinnkultur gelten: Sie lesen Kaths Symptome, um ihnen innerhalb einer wissenschaftlichen Systematik eine dahinterliegende Bedeutung abzugewinnen. Sie lösen Kaths Welt aus ihrem Hier und Jetzt und verknüpfen sie nachträglich in einem anderen Zusammenhang zu einem ganz neuen Narrativ. Eine unmittelbar erlebte Präsenz wird durch diesen Prozess historisch; sie findet Eingang in die Geschichte der Welt. Auch im bereits erwähnten Kapitel »The Visitors« beobachten die Leser zunächst, wie sich für die Protagonisten von einem Moment auf den nächsten eine neue, auf den Raum des Schiffsdecks begrenzte Wirklichkeit auftut. Das Kreuzfahrtschiff Santa Euphemia wird von einer Terrorgruppe gekapert und unversehens von einem Symbolort der Freiheit zu einem Gefängnis. Es liegt auch an den Charakteristika des Schiffs, dass die Terroristen im Handumdrehen Tabula rasa machen und sich der Wirklichkeit dieses Raums ermächtigen können. Barnes inszeniert die Geiselnahme dabei als moralisches Dilemma für den selbstgefälligen Reiseleiter Franklin Hughes, aus dessen Sicht wir die Episode erleben. Soll er mit den Terroristen kooperieren, um sein
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eigenes Leben zu retten, oder zeigt er sich mit den Passagieren – und einer westlichen Weltsicht – solidarisch und wählt den sicheren Tod? Es kommt nicht von ungefähr, dass Hughes seine Situation mit einem zweifelhaften Versuchsaufbau vergleicht: […] Franklin remembered a TV series about psychology he’d once been asked to present. […] One item in that show reported an experiment for measuring the point at which self-interest takes over from altruism. […] The researchers had taken a female monkey who had recently given birth and put her in a special cage. […] Then they turned a switch and began heating up the metal floor of the monkey’s cage. […] At a certain point the heat from the floor became unbearable, and she was faced with a choice […]. She either had to suffer extreme pain and perhaps death in order to protect her offspring or else place her infant on the floor and stand on it to keep herself from harm. (AH 52) Der Raum des Schiffs, dessen Begrenztheit durch die an allen Seiten postierten, mit schweren Waffen ausgerüsteten Terroristen doppelt markiert ist, wird zu Hughesʼ Käfig, er selbst zum Versuchskaninchen in einem makabren Sozialversuch. Hier begegnet uns erneut das Bild der Bühne. Hughes wird zum »Showman«, weil ihm die Worte, die er an die Passagiere richten soll, vom Regisseur der Szene – der Anführer der Terroristen – in den Mund gelegt werden (vgl. AH 51). Auch für die Passagiere macht das Schiff eine Verwandlung durch: Zunächst ist es ein Ort der Freiheit, der durch die Ankunft der ›Besucher‹ unversehens zum Gefängnis und schließlich zum Theaterraum wird. Interessanterweise scheint das Bühnenarrangement den größeren Kontext der Geiselnahme in den Hintergrund treten zu lassen: »He [Hughes] felt his audience begin to relax. The circumstances were unusual, but they were being told a story, and they were offering themselves to the storyteller in the manner of audiences down the ages, wanting to see how things turned out, wanting to have the world explained to them.« (AH 55) Obwohl »The Visitors« unter völlig anderen Vorzeichen steht als »The Survivor«, geht es auch hier um die Aneignung eines begrenzten Raums. Indem die Terroristen Franklin Hughes zwingen, den Passa-
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gieren ihre Sicht auf die Geschichte des Nahen Ostens vorzutragen, verwandeln sie das Auditorium (vgl. AH 41) zu einem – im wahrsten Sinne des Worts – Hallraum für ihre einseitig antisemitistische Weltsicht. Sie kolonisieren den begrenzten Raum, indem sie ihn mit ihren Begriffen und ihrer Geschichte besetzen. Erfolg hat dies freilich nur, weil die soft power ihrer Narration durch die hard power ihrer Maschinengewehre sekundiert wird. Während dieses Experiment aus geschichtstheoretischer Sicht als Metapher dafür gelten kann, wie Macht und Zwang Geschichte machen können, ist es aus raumtheoretischer Sicht ein eindrückliches Beispiel für die performative Besetzung eines Raums, im physisch-räumlichen wie ideologischen Sinn. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen den beiden Episoden besteht darin, dass eine im geschlossenen Raum erzeugte Wirklichkeit infrage gestellt wird, indem sie mit einer nachträglichen, historischen Perspektive kontrastiert wird. Nachdem die Geiselnahme durch die Sondereinsatzkräfte ihr blutiges Ende gefunden hat, löst sich der erzählerische Blick von der Gegenwart des Schiffs und richtet sich in die Zukunft: »Neither the leader nor the second-in-command survived, so there remained no witness to corroborate Franklin Hughes’s story of the bargain he had struck with the Arabs.« (AH 58) Hughes, das dürfen wir annehmen, hat kein Interesse daran, seine feige Komplizenschaft mit den Terroristen wahrheitsgemäß wiederzugeben. Der Erzähler spielt hier mit dem Gedanken, dass der Reiseleiter die Geschichte als einziger verbliebener Zeuge zu seinen Gunsten umschreiben könnte. Die Geschichte würde somit genau zu dem manipulativen Konstrukt, als das es A History immer wieder darstellt. Während in »The Survivor« und »The Visitors« ein Hier und Jetzt von einer historisch-diskursiven Version des Ereignisses im Nachhinein umgeschrieben zu werden droht, beschreitet das erste Kapitel, »The Stowaway«, den umgekehrten Weg. Dieses Kapitel beginnt mit der im Buch Genesis überlieferten Geschichte der Sintflut und der Rettung der Menschen, um es anschließend parodistisch-revisionistisch Stück für Stück auf den Kopf zu stellen. Wie wir gesehen haben, ist der Holzwurm als blinder Passagier ähnlich wie Kath Ferris die Stimme des unterdrückten Anderen, das eine Alternative zur ›offiziellen‹ Ge-
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schichte anbietet. Er leitet aus seiner randständigen Position einen Anspruch auf eine objektive, vertrauenswürdige Sicht der Dinge ab: »When I recall the Voyage, I feel no sense of obligation; gratitude puts no smear of Vaseline on the lens. My account you can trust.« (AH 4, Herv. S.B.) Die Version des Holzwurms zeichnet sich zum einen dadurch aus, dass ihr Erzähler als Nicht-Auserwählter dem christlichen Mythos nicht verpflichtet ist. Zum anderen unterscheidet sie sich von der »oft wiederholten Version« (vgl. AH 4) der Menschen, weil der Holzwurm als Augenzeuge an Bord war und dem Hier und Jetzt der Sintflut in persona beiwohnte. Er etabliert damit schon zu Beginn des Romans eben jene Opposition von erlebter Gegenwart und historischem Text, die schon für die anderen beiden Kapitel beobachtet wurde.6 Die erlebte Welt zeichnet sich im Gegensatz zur repräsentierten, historisch gewordenen Welt in allen drei Episoden vor allem durch eine ausdrückliche Körperlichkeit aus. Nicht zuletzt durch die klaustrophobe Qualität des geschlossenen Raums wird zur Anschauung gebracht, was Husserl die »Raumkörperlichkeit« (zit.n. Günzel 2006: 111) des Menschen nennt: Der enge Raum, der die jeweiligen Protagonisten umgibt, ist konstitutiv für ihr Erleben, er bedeutet für sie die Welt. Sie eignen sich diesen Raum an, indem sie mit ihrem Körper auf ihn wirken. Kath schreibt sich im Raum des kleinen Boots durch ihre Anwesenheit und der ihrer Katzen ein, die Terroristen ermächtigen sich des Raums des Kreuzfahrtschiffs zunächst durch ihre körperliche Potestas, der sie durch ihr fragwürdiges historisches Narrativ erst im Anschluss einen Anschein von Auctoritas geben. Noch deutlicher tritt diese physisch-leibliche Komponente hervor, wenn die Integrität des Körpers im Fortlauf der Erzählungen in zunehmendem Maß bedroht wird. So wird Kath in der alternativen Version der Ärzte im Krankenbett fixiert und mit Handschuhen versehen (vgl. AH 100) – der normative Diskurs, so
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Mit dem Kontrast zwischen ›Geschichte‹ einerseits und ›Gegenwart‹ oder ›Präsenz‹ andererseits beschränke ich mich hier auf inszenatorische Aspekte. Fragen nach einer ›historischen Wahrheit‹ oder den Möglichkeiten und Grenzen des Augenzeugenberichts – auch im Zusammenhang der oral history – sollen hier ausgeklammert bleiben.
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sieht es Kath, will ihre Welt nicht mehr nur mit aller Macht, sondern mit aller Gewalt zerstören. Auch die Passagiere der Kreuzfahrt sehen sich plötzlich auf ihr körperliches Sein zurückgeworfen. Während auf ihrer Bildungsfahrt zu den Anfängen der abendländischen Kultur eine diskursiv erzeugte Geschichte im Mittelpunkt steht, drängt mit den Terroristen eine Realität auf das Schiff, die ihnen ihre eigene Körperlichkeit bewusst macht, zunächst durch den geschlossenen Raum, den die Terroristen zum Gefängnis machen, und später, indem sie ganz auf ihren biologischen Körper reduziert werden. Die Geiselnehmer machen die Urlauber zur Verfügungsmasse in den Verhandlungen mit der Regierung. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, wie sich in der makabren Logik der Terroristen die Geschichte der Welt in den Körpern der Urlauber materialisiert. Die Black Thunder Group legt die Abfolge der Erschießungen nach der Nationalität der Geiseln fest: »The order of executions has been decided according to the guilt of the Western nations for the situation in the Middle East. […] Zionist Americans first. Then other Americans. Then British. Then French, Italians and Canadians.« (AH 57) Die Touristen werden zu Geiseln einer alternativen Geschichte des mittleren Ostens. Die Nation, in der etymologisch die ›Geburt‹ enthalten ist, wird für die Amerikaner zum Todesurteil. Die Verquickung von Geschichte und Leben bzw. Tod, die die Besucher hier erleiden, ist auch ein zynisches Echo einer Passage zu Beginn der Erzählung: »Many of the passengers commented to one another on Franklin’s obvious enthusiasm for his subject […], and how he really made history come alive for them. (AH 35, Herv. S.B.) Der Kontrast zwischen der im geschlossenen Raum inszenierten Körperlichkeit und der Geschichte der Welt findet sich in weiteren Kapiteln, wird aber vor allem im Halbkapitel »Parenthesis« deutlich ausbuchstabiert. Das Halbkapitel hat eine besondere Position innerhalb des Romans, weil es als Aside einen implizierten Leser anspricht. Barnes gibt gewissermaßen vor, die ›Maske‹ des Autors fallen zu lassen, um die intime Atmosphäre eines Gesprächs von Angesicht zu Angesicht zu schaffen (vgl. Lozano 1995: 125). Der Erzähler verquickt hier Liebe, Wahrheit und Körper, um diese Begriffe mit der Geschichte der Welt zu kontrastieren:
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But I can tell you why to love. Because the history of the world, which only stops at the half-house of love to bulldoze it into rubble, is ridiculous without it. […] Love won’t change the history of the world […], but it will do something much more important: teach us to stand up to history, to ignore its chin-out strut. […] Love and truth, that’s the vital connection, love and truth. Lying in bed, we tell the truth: it sounds like a paradoxical sentence from a first-year philosophy primer. But it’s more (and less) than that: a description of moral duty. Don’t roll that eyeball, give a flattering groan, fake that orgasm. Tell the truth with your body even if – especially if – that truth is not melodramatic. (AH 240-241) Die Liebe erscheint hier gerade deshalb als Gegenpol zum diskursiven Konstrukt der Weltgeschichte, weil sie für den Erzähler eine Wahrheit ist, die nicht in Begriffen von richtig und falsch verhandelt werden kann. Die Liebe ist vielmehr eine emotionale, körperliche Realität, die sich nicht komplett verbalisieren und damit dem Zeichenmeer der Geschichte zuführen lässt. Wie wir in Abschnitt 3.2 gesehen haben, liegt der Erzähler im Halbkapitel neben seiner Frau im Ehebett (vgl. AH 225). Das Bett ist nicht nur ein Ort großer körperlicher Nähe, sondern kann als abgesetzter Raum auch als eine weitere Version der Arche gesehen werden.7 Die Unmittelbarkeit des vertrauten Betts schafft für ihn einen Schutzraum vor der Geschichte der Welt. Aber Barnes wäre nicht Barnes, wenn diese scheinbar absolute Überzeugung unhinterfragt bliebe: The materialist argument attacks love, of course; it attacks everything. Love boils down to pheromones, it says. This bounding of the heart, this clarity of vision, […] this murmured I love you, are all caused by a low-level smell emitted by one partner and subconsciously nosed by the other. (AH 245)
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Auch die Publikationsgeschichte von Foucaults Heterotopie-Aufsatz »Von anderen Räumen« legt interessanterweise eine enge Beziehung zwischen Bett und Schiff nahe: Rainer Warning macht darauf aufmerksam, dass in der ersten, als Radiovortrag konzipierten Fassung das (elterliche) Bett die Rolle des Schiffes als Inbegriff des Imaginären innehatte (vgl. Warning 2009: 40).
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Ähnlich wie in »The Survivor« und »The Visitors« konstruiert Barnes eine absolute Gegenwart, um deren ›Wahrheit‹ im Anschluss zu destabilisieren. Auch hier lässt der Roman damit zwei Welten und zwei Ways of Worldmaking nebeneinander stehen: eine Welt der unmittelbaren Präsenz einerseits und ein mittelbares diskursives Konstrukt andererseits.
5.4.
Meta-Worldmaking: »Shipwreck« und »The Dream«
Während Barnes sich in den bisher besprochenen Kapiteln darauf beschränkt, das Here und Now der Archen dem Meer der Geschichte gegenüberzustellen, wendet er sich in »The Shipwreck« am Beispiel von Theodore Géricaults Gemälde Scène de naufrage der künstlerischen Kreation eines Hier und Jetzt zu. Der erste Teil des Kapitels berichtet zunächst in sachlich-nüchternem Ton, was auf dem selbstgebauten Floß geschieht, nachdem die Medusa auf Grund gelaufen ist. So erfahren die Leser, wie sich die Besatzung immer weiter dezimiert, wie die Lebensmittelknappheit die Überlebenden in den Kannibalismus treibt und wie schließlich die glückliche Rettung durch die Argus verläuft. Der zweite Teil des Kapitels befasst sich anschließend mit Géricaults berühmtem Gemälde, das die Geschehnisse auf der Medusa visualisiert. Wie, so formuliert der Erzähler mit dem ersten Satz die programmatische Frage, verwandelt man eine Katastrophe in Kunst (vgl. AH 125)? Barnesʼ eigenwillige kunstgeschichtliche Abhandlung zählt zunächst auf, was Géricault nicht malte, um anschließend die möglichen Gründe für den Ausschluss zu nennen: Let us start with what he did not paint. He did not paint: 1) The Medusa striking the reef; 2) The moment when the tow-ropes were cast off and the raft abandoned; […] 8) The actual moment of rescue. In other words his first concern was not to be 1) political: 2) symbolic; […] 8) unambiguous. (AH 126-127)
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Die intentionalen Auslassungen sind in der Sekundärliteratur wie das gesamte Kapitel wiederholt vor einem historiographiekritischen Hintergrund als symbolischer Ausdruck der Unzulänglichkeiten jeder Repräsentation gelesen worden; Ansgar Nünning beispielsweise sieht das Kapitel als »verdichtete Form von historiographischer Eigenmetafiktion« (Nünning 1995: 364). Barnesʼ Liste des Nicht-Anwesenden und Getilgten ist aber mehr als die Beobachtung, dass die Repräsentation, egal ob geschichtliche Abhandlung oder Kunstwerk, die Ereignisse erstens nicht vollständig erfassen kann und zweitens einen erzählerischen Rahmen bzw. eine bestimmte Art des Emplotments (Hayden White) benötigt. Dem Kunstwerk geht es gerade nicht um historische Wahrheit oder zumindest ein plausibles Narrativ, sondern, wie der Erzähler in der Erläuterung zu Punkt fünf erklärt, einzig um einen Moment (vgl. AH 128): Nicht die Geschichte steht hier im Mittelpunkt, sondern der künstlerische Prozess von der leeren Leinwand bis zum im Gemälde festgehaltenen Moment. Ähnlich wie in einem anderen, bereits besprochenen selbstreflexiven Bild (vgl. Abschnitt 2.1) greift Barnes im Einklang mit dem dominanten Setting des Werks auch hier auf Schifffahrtsbilder zurück. So drückt der Künstler die Unwägbarkeiten und Selbstzweifel während des Arbeitsprozesses folgendermaßen aus: »The painter isn’t carried fluently downstream towards the sunlit pool of that finished image, but is trying to hold a course in an open sea of contrary tides.« (AH 135) Der Weg zum Ziel, dem fertigen Gemälde, führt über unruhige Gewässer, während sich der Ausgangspunkt, die Wirklichkeit, immer mehr am Horizont verliert: »Truth to life, at the start, to be sure; yet once the process gets under way, truth to art is the greater allegiance.« (AH 135) Die entscheidenden Fragen sind letztlich Fragen der Perspektive und Form, etwa wenn Barnesʼ Géricault den Horizont verschiebt, um das Verhältnis zwischen Floß, Meer und Himmel anzupassen: »Géricault cuts down the surrounding areas of sea and sky, hurling us on to the raft whether we like it or not.« (AH 135) Spätestens der Verweis auf die Perspektivierung des Innen und Außen des Floßes, durch die die Leser in das Bild geschleudert werden, macht deutlich, dass es Barnes hier weder um eine Dekonstruktion der
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Geschichte noch um eine kunstgeschichtliche Abhandlung geht. Das Kapitel kommentiert vielmehr die kommunikative Raumstrategie der History, die in den vorangegangen Kapiteln dargestellt wurde: Erstens geht es wie Géricaults auch Barnesʼ Versionen der Arche darum, eine Gegenwart zu erzeugen, die die Rezipienten unmittelbar affizieren soll. Mit dem Bild wählt Barnes zur Veranschaulichung der Welterzeugungsstrategien der History interessanterweise ein Medium, das sich von dem des literarischen Werks, der Schrift, grundlegend unterscheidet. Eine Schrift wird gelesen, ein Bild wird erkannt, so Aleida Assmann: »Während der Code, der Schrift lesbar macht, erst förmlich erlernt werden muss, kann das, was auf Bildern dargestellt ist, in der Regel spontan identifiziert werden.« (Assmann 2015: 189) Aufgrund der größeren Unmittelbarkeit ist das Bild in der History ein Vorbild für die Schrift – nicht umsonst findet sich im Herzen dieses Romans das Gemälde von Géricault als Centerfold (vgl. AH 124-125). Barnesʼ erzählte Schiffe streben nach der unmittelbaren Erkennbarkeit von Géricaults gemaltem Floß. Die Affizierungsstrategie der History ist dabei paradox: Um als Leser die Szenen auf Barnesʼ Schiffen wie in einem Bild zu erkennen, muss man zunächst die Sprach- und Zeichenkompetenzen des Lesens beherrschen. Zweitens schafft das Gemälde wie die Erzählung einen isolierten neuen Raum: Während das Gemälde auf der leeren Leinwand beginnt und dann eine Welt erzeugt, die sich nach und nach von der historischen Vorlage emanzipiert, machen Barnesʼ Protagonisten Tabula rasa, um sich den begrenzten Raum anschließend durch verschiedene Strategien anzueignen. Drittens verortet Barnes Géricaults Floß auch im Hinblick auf die Geschichte in einer ambivalenten Position. Einerseits betont er den zeitlosen Wert des Gesamtwerks, das »den Anker der Geschichte abgeworfen« (vgl. AH 137) habe. Das Kunstwerk hat sich längst aus seinem historischen Kontext gelöst und ist zu einem zeitlosen Ausdruck der Conditio humana geworden: »We are all lost at sea, washed between hope and despair, hailing something that may never come to rescue us.« (AH 137) Andererseits währt auch die Kunst nicht ewig, auch dieser vermeintlich transzendente Moment ist dem Zahn der Zeit ausgesetzt. Weil Géricault für die Kontraste im Bild große Mengen Bitu-
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men verwendete, zerstört sich die Oberfläche des Kunstwerks nach und nach selbst: »The masterpiece, once completed, does not stop: it continues in motion, downhill. Our leading expert on Géricault confirms that the painting is ›now in part a ruin‹.« (AH 139) Während Barnes in den vorangehenden Kapiteln seine schwimmenden Welten als vom Meer und der Geschichte der Welt bedroht zeichnet, ist es hier die chemische Zusammensetzung des Materials, das im Laufe der Zeit das Bild zersetzt. Auch Géricaults Scène de naufrage ist somit eine in letzter Konsequenz instabile Welt und dazu verurteilt, als Original zu verschwinden. Kopien, Fotos und Faksimiles gibt es zur Genüge, aber ohne die Fundierung in der materiellen Wirklichkeit verliert es nicht nur »die Aura des Originals« (Walter Benjamin), sondern wird – ebenso wie die Gegenwarten von Kath Ferris, Franklin Hughes und auch des Holzwurms – diskursiv und damit zur Geschichte. »Shipwreck«, so kann zusammengefasst werden, kommentiert als Meta-Worldmaking die räumliche Opposition zwischen Schiff und Meer als metaphorische Opposition von Gegenwart und Geschichte. Ringt Barnes in den ersten 9 12 Kapiteln dem Meer durch formale Verfahren geradezu eine Gegenwart ab, verschwindet im letzten Kapitel das Meer und damit auch die Geschichte der Welt. »The Dream« ist das ultimative Gegenwartsexperiment in A History. Barnes lässt hier seinen IchErzähler träumen, dass er nach dem Aufwachen im Himmel gelandet sei. Der Himmel ist nicht räumlich und zeitlich verknappt wie der Raum des Schiffs, im Gegenteil: Der Protagonist kann sich frei bewegen in dieser Ewigkeit der unbegrenzten Möglichkeiten. Barnes inszeniert den Himmel als Ort, wo sich alle Bewohner eine Welt einrichten können, die ihnen gefällt. Während sich in »Old Heaven« die Gläubigen tummeln, die sich das Leben nach dem Tod in christlicher Tradition als entkörpertes, spirituelles Dasein vorstellen, richtet sich der Protagonist wie die meisten anderen Himmelsbewohner in einer konsumfreundlichen Ewigkeit ein. Über Jahrhunderte hinweg geht er einkaufen, hat Sex, bringt es in verschiedenen Sportarten zur Meisterschaft und trifft berühmte Schauspieler und Sportler. Der Protagonist befindet sich in einer ewigen Gleichzeitigkeit, er wird weder müde noch älter.
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Doch der Himmel der unbegrenzten Möglichkeiten verliert irgendwann seinen Reiz. Zwar wird die Stimmung nicht so bedrückend wie etwa in Sartres Drama Huis clos. Die dort entworfene Ewigkeit ist eine enge Hölle, in der sich die drei Protagonisten in einer PeinigerOpfer-Dialektik gegenüberstehen, aus der sie nicht ausbrechen können. In »The Dream« hingegen leidet niemand; die Hölle, so lernen wir von Margaret, einer Art Verwaltungsangestellten des Himmels, existiert zwar, aber nur als Themenpark: »You know, skeletons popping out and frightening you, branches in your face, stink bombs, that sort of thing. Just to give you a good scare.« (AH 301) Trotz aller Freiheit beschleicht den Ich-Erzähler aber nach und nach ein Gefühl der Unzufriedenheit: »After a while, getting what you want all the time is very close to not getting what you want all the time.« (AH 309) Die Ewigkeit, das ist die ironische Pointe der Geschichte, empfindet der Mensch in dieser Form früher oder später als lang-weilig, weil sich alle Tätigkeiten irgendwann als Variationen des immer Gleichen herausstellen. In Barnesʼ Version der ewigen Widerkehr wird die Ewigkeit unweigerlich zur »leeren Zeit« (Safranski 2017: 28), wie Rüdiger Safranski die Langeweile beschreibt. Er misst diesem Gefühl dabei eine grundlegende Bedeutung bei. Kultur, so Safranski, »entspringt aus dem Kampf gegen die Langeweile. Und so liegt diese allem zugrunde, was hoch hinaus will.« (Ebd.: 27) Die schöpferische Tätigkeit ist gleichzeitig Ergebnis und Heilung der Langweile. In der ewigen Gleichzeitigkeit von Barnesʼ Himmel ist dem Ich-Erzähler die Möglichkeit der schöpferischen Tätigkeit als Mittel, die leere Zeit zu füllen, genommen. Es kann nichts Neues geschaffen werden, weil alles bereits da und letztendlich auch beliebig ist. Die Himmelsbewohner bauen sich Traumwelten, die niemals in Konflikt geraten mit anderen, alternativen Entwürfen. Wenn jeder so hoch hinaus kann, wie er will, so lässt es Barnes erscheinen, kann das Kulturschaffen den Kampf gegen die Langeweile nicht gewinnen. Auch die Geschichte wirft in dieser anything goes-Version des Himmels im Gegensatz zu den anderen Kapiteln längst keinen bedrohlichen Schatten mehr auf die Gegenwart. Als der Protagonist etwa darum bittet, dass er und seine persönliche Geschichte auf der Erde von einer objektiven Instanz beurteilt würden (vgl. AH 293), führt man ihm einem Mann vor, »a
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nice old gent […]. A bit like my dad – no, more like an uncle, I’d say.« (AH 294) Diese gottähnliche Instanz gibt ihm schließlich eine Beurteilung, die den Ich-Erzähler zwar enttäuscht, aber perfekt in diesen Himmel passt: »He said I was OK. No, I’m not kidding, that’s exactly what he said: ›You’re OK‹.« (AH 294) Nach einigen weiteren Jahrhunderten beliebiger Beschäftigung erfährt er in einem Gespräch mit Margaret, dass es einen Weg aus der Langeweile gibt: »Everyone has the option to die off if they want to.« (AH 304) Als er Margaret daraufhin vorschlägt, dass sie ihm doch eine Persönlichkeit geben könne, die der Ewigkeit nicht müde wird, antwortet sie: »Well, there seems to be a logical difficulty. You can’t become someone else without stopping being who you are. Nobody can bear that.« (AH 308) Während sich im Himmel die natürliche Zeit, die Geschichte der Welt und letztlich auch die Wirklichkeit als beliebige Konzepte erweisen, bringt Margaret als einzige nicht verhandelbare Konstante hier so etwas wie einen Persönlichkeitskern ins Spiel. Durch diese Konstante wird in Barnesʼ Erzählung in letzter Konsequenz auch die Unendlichkeit endlich. Denn alle Himmelsbewohner, so berichtet Margaret dem überraschten Ich-Erzähler, ziehen früher oder später die Option des »Absterbens« (»die off«). Sie entscheiden sich mit anderen Worten freiwillig für den endgültigen Tod, weil sie einerseits zwar der Langeweile müde sind, ein alternatives Selbst mit anderen Wünschen und Gefühlen sich andererseits aber als unerträglich herausstellt. Mit dieser unerwarteten Verteidigung der Irreduzibilität eines nuklearen Selbst im Himmel der Beliebigkeit wird der Bogen geschlagen zu den vorangehenden 9 12 Kapiteln, wo durchgängig verschiedene Formen der psychischen, physischen und lebensweltlichen Ganzheit erprobt werden. Mit dem letzten Kapitel zeigt sich somit noch einmal eindrücklich, warum Joyce Carol Oates in ihrer Besprechung der History Barnes als »quintessential humanist of the pre-postmodernist species« (Oates 1989: 13) sieht: Trotz des postmodernen Tenors in weiten Teilen der History schreibt Barnes mit diesem Roman und den geschlossenen Schiffswelten auch gegen die Auflösung des Menschen an – sei es im Zeichenmeer der Geschichte oder durch eine Persönlichkeitsveränderung im Himmel.
6. The Noise of Time: Die Musik als umkämpfte Zone
Mit The Noise of Time (2016) wendet sich Julian Barnes dem Genre des biographischen Romans zu. In einer intimen personalen Erzählung zeichnet der englische Schriftsteller in drei Teilen und mit großen zeitlichen Sprüngen das Leben des russischen Komponisten Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch nach. Der Roman beginnt mit einem eindrücklichen Bild: Schostakowitsch, Anfang 30, steht mit gepacktem Koffer vor dem Aufzug zu seiner Wohnung im fünften Stock und wartet darauf, dass Agenten des NKWD ihn abholen. Nachdem er wegen seiner zunächst sehr erfolgreichen Oper Lady Macbeth of Mtsensk in Ungnade gefallen und darüber hinaus zu einem Plot gegen Stalin verhört worden ist, sieht er sich als dead man walking. Um nicht vor den Augen seiner Frau und Tochter aus dem Bett gezogen und deportiert zu werden, verharrt er Nacht für Nacht vor dem Aufzug. Während dieser Nachtwachen erzählen mehrere Rückblenden von der Kindheit und Jugend des Komponisten, seinen ersten musikalischen Erfolgen und seiner ersten Liebe. Die erwartete Verhaftung bleibt allerdings aus: Ohne zu erfahren, warum er nicht mehr verfolgt wird, verlässt er seinen nächtlichen Posten, nimmt sein Leben wieder auf und veröffentlicht bald darauf seine gefeierte fünfte Symphonie. Im Mittelpunkt des zweiten Teils, »On the plane«, steht Schostakowitschs Besuch bei einem Friedensgipfel in New York. Mittlerweile zum berühmtesten sowjetischen Komponisten avanciert, wird er von Stalin persönlich zur Teilnahme verpflichtet. Als wichtigstes Mitglied der Delegation wird er so wider Willen zum Sprachrohr einer sowjetischen Kulturpolitik, die
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Künstler wie ihn selbst gängelt und unter Druck setzt. Der Höhepunkt der Reise ist eine Pressekonferenz, auf der er in einer Rede, die er weder geschrieben noch vorher gelesen hat, den im amerikanischen Exil lebenden und von ihm verehrten Strawinsky denunziert. Die ultimative Vereinnahmung durch das totalitäre Regime folgt aber erst im dritten Teil, »In the car«. Nachdem Stalin gestorben und Chruschtschow an die Spitze des Sowjetstaats gerückt ist, stehen die Weichen auf Öffnung und Entspannung. Dennoch wird er jetzt dazu gedrängt, in die Partei einzutreten und den Posten des Sekretärs des Komponistenverbandes zu übernehmen: »And now, finally, after the great fear was over, they had come for his soul.« (NT 152) Bis zu seinem Tod bleibt Schostakowitsch eine in der Sowjetunion hochangesehene Persönlichkeit, hadert gleichzeitig aber auch mit der Instrumentalisierung seines Lebens und seiner Musik durch das Regime. The Noise of Time zeichnet das Bild eines Künstlers, der sich zwischen zwei Welten bewegt. Auf der einen Seite steht die Musik: Als Komponist ist er selbstsicher und tritt als souveräner Schöpfer der musikalischen Welten seiner Werke auf. Dem Komponisten Schostakowitsch gegenüber stellt Barnes den Menschen Schostakowitsch, der sich mit wenig Leichtigkeit durch das Leben bewegt: »But away from music…that was so different. He became nervous, things blurred in his mind, and he would sometimes make a decision simply in order to have the matter settled rather than because he knew what he wanted.« (NT 31) Der Kontrast zwischen Leben und Musik, zwischen Macht und Ohnmacht, den Barnes schon zu Beginn des Romans etabliert, verschärft sich weiter, als die »Power« (im Roman immer mit Großbuchstaben) auf den Plan tritt. Schostakowitsch sieht sich der Willkür des Machtapparats hilflos ausgeliefert. Als er etwa mit seiner Verhaftung wegen seiner angeblichen Beteiligung am Komplott gegen Stalin rechnet, heißt es: »His own innocence was irrelevant. The truth of his answers was irrelevant. What had been decided had been decided.« (NT 46) Schostakowitsch weiß allzu oft nicht, wie ihm geschieht: Seine Werke werden verbannt und gefeiert, er wird verschmäht und rehabilitiert. Obwohl er ein Gegner der Willkürherrschaft ist, lässt er Repression wie Ruhm über sich ergehen und bringt nicht den Mut auf, sich dem Regime zu widersetzen. Der
6. The Noise of Time
Titel des Romans ist eine Anspielung auf diese Mutlosigkeit, borgt Barnes den Titel doch von den Memoiren des Dichters Ossip Mandelstam, der sich Stalin offen entgegenstellte und seinen Widerstand gegen das Regime mit dem Leben bezahlte (vgl. Preston 2016: 1). Im totalitären Staat, den Mandelstam kritisierte, bleiben die Welten der Musik und des Lebens nicht getrennt. Das Regime macht Schostakowitsch nicht nur das Leben schwer, sondern drängt mit Macht in seine Idealwelt der Musik: Seine Werke werden verbannt oder als ›formalistisch‹ stigmatisiert, ihm werden enggesteckte Auftragsarbeiten gegeben, er bekommt Arbeitsverbot und schließlich eine Art ideologischen Tutor, der ihm helfen soll, die marxistisch-leninistischen Prinzipien zu verinnerlichen und dann in seine Musik fließen zu lassen (vgl. NT 120). Das musikalische Werk ist in The Noise of Time ein umkämpftes Gebiet. Im Folgenden soll zunächst erarbeitet werden, wie Barnesʼ Schostakowitsch die Musik in Absetzung zum Leben – Familie, Liebe, Politik – als figurativen Raum konzipiert. Der zweite Abschnitt widmet sich dem ›Kampf‹ um die Musik, dem »clash between art and power« (Wark 07.02.16), wie Barnes dies in einem Interview nennt. Wie versucht die »Power« sich des Raums der Musik zu ermächtigen? Wie verteidigt der Künstler seine Welt?
6.1.
Der Lärm der Zeit vs. die Welt der Musik: Grenzziehungen
Der Roman etabliert schon zu Beginn der Erzählung eine scharfe Grenze zwischen zwei Bereichen, dem der Musik und dem des Lebens: Like his sisters, he [Schostakowitsch, S.B.] had first been put in front of a keyboard at the age of nine. And that was when the world became clear to him. Or a part of the world, anyway – enough to sustain him for life. Understanding the piano, and music, had come easily – at least compared to other things. […] Sometimes, after a successful concert, […] he felt almost capable of becoming that elusive thing, the
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man in the family. Though at other times, even after he had left home, married and fathered a child, he could still feel like a lost boy. (NT 24) Barnes zeichnet seinen Helden als ein unsicheres Kind, das früh seinen Vater verliert und trotz seiner großen Erfolge auch später Probleme hat, die Rolle des »Mannes in der Familie« zu übernehmen. Während es Schostakowitsch schwer fällt, sich im Leben – zunächst innerhalb der Familie, später, als berühmter Komponist, auch innerhalb des Sowjetregimes – zurechtzufinden, wird die erste Begegnung mit der Musik als Erweckungserlebnis inszeniert. Am Piano eröffnet sich eine Welt, die ihm klar ist. Wenn er neue Stücke komponiert, hält er alle Zügel in der Hand, bestimmt er die Ordnung: »When he was composing, he always knew exactly what to do; he made the right decisions about what the music – his music – required.« (NT 31, Herv. S.B.) Seine Musik – Barnes positioniert den Komponisten als selbstbewussten Weltenmacher, der über den kleinen Alternativkosmos des Werks verfügt (vgl. Abschnitt 2.1). Im musikalischen Werk erzeugt er eine Welt, wo die Verwirrungen und Unsicherheiten des Lebens einer perfekten Ordnung weichen. Diese perfekte Ordnung zeichnet sich durch klare Grenzen aus: Es hat Anfang und Ende, während die Ereignisse im Leben sich zwar datieren lassen, gleichzeitig aber immer schon einem Vorher und einem Nachher verpflichtet sind. Als Schostakowitsch etwa darüber nachdenkt, wann ihn seine erfolgreiche Oper Lady Macbeth of Mtentsk zum Staatsfeind machte, weist er das Datum der vernichtenden Prawda-Kritik als absolut gesetzten Anfang zurück: »No, his mind responded, nothing begins just like that, on a certain date at a certain place. It all began in many places, and at many times, some even before you were born, in foreign countries, and in the minds of others.« (NT 9) Für Schostakowitsch besteht das Leben aus einer endlosen Reihung an Ereignissen, die sich nie auf einen einzigen Ursprung zurückführen lassen. Dem ständigen Auf und Ab des Lebens hält er die Beständigkeit der Musik entgegen: »[…] when there seemed to be nothing but nonsense in the world, he held to this: that good music would always be good music, and great music was impregnable.« (NT 124) Große Musik ist für Schostakowitsch somit nicht nur eine perfekte Ordnung, son-
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dern auch ein zeitliches Korrektiv zum »Unsinn der Welt«, weil sie erstens potentiell ewig ist und zweitens als ästhetische Erfahrung erlaubt, aus der Diachronie der Zeit auszubrechen. Mit dieser anderen Zeitlichkeit, der Rolle eines starken Urhebers, der Entfernung von der ›Welt‹ und der In-Sich-Geschlossenheit trägt die Musik bzw. das einzelne musikalische Werk deutliche Züge eines neues Raums, den der Roman in Opposition zu einem wirren, unverständlichen Außen konstruiert (vgl. 4.1). Anders als mit den Schiffen und Flößen der History steckt Barnes hier aber keinen physischen Schauplatz ab, den sich die Protagonisten körperlich und symbolisch aneignen und ihn so zu ihrer Welt machen. Zwar kann die Musik (wie eine theatrale Performanz) einen realen, physischen Raum etwa für die Dauer eines Konzerts völlig einnehmen und mit ihren eigenen akustischen Mitteln semantisch aufladen oder entleeren, sie ist aber nicht begehbar wie ein Schiff oder ein Gerichtssaal.1 In The Noise of Time ist es vielmehr eine bildliche Räumlichkeit, die an Relevanz gewinnt – dann nämlich, wenn die Opposition zwischen Leben und Musik ins Wanken gerät und das Symbolsystem der Musik zur umkämpften Zone wird. Dass der ideelle Raum der Musik als Gegenentwurf zum Chaos des Lebens nicht über alle Zweifel erhaben ist, zeigt sich, als die Macht sich zunehmend auch in den Gedanken des Komponisten einnistet. Der personale Erzähler dringt immer wieder bis zu den »Hirnkammern« (Maar 2017: 2) des Komponisten vor und eröffnet den Lesern so eine Perspektive aus Schostakowitschs Augen.2 Die Passagen der erlebten Rede os1
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Barnesʼ experimentelle Anordnungen wurden im ersten Kapitel dieser Arbeit als heterotope Räume beschrieben. Rainer Warning weist zurecht darauf hin, dass Heterotopien bei Foucault immer reale Räume sind (vgl. Warning 2009: 14) und sich somit etwa von der Utopie grundlegend unterscheiden. Das musikalische Werk, das hier untersucht wird, kann nicht als realer Raum gelten. Aufgrund der dezidiert räumlichen Charakteristika und des Kontrasts mit der ›Welt‹ soll das musikalische Werk hier dennoch als Raumexperiment, wie es im ersten Kapitel bestimmt wurde, behandelt werden. Diese Passagen hat Jeremy Denk im Blick, wenn er in einer ansonsten positiven Rezension in der New York Times bemängelt, dass in Barnesʼ biographischem
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zillieren dabei zwischen einem emphatischen, idealistischen Kunstverständnis einerseits und der Angst vor der Vereinnahmung durch die Macht andererseits: Art belongs to everybody and nobody. Art belongs to all time and no time. Art belongs to those who create it and those who savour it. Art no more belongs to the People and the Party than it once belonged to the aristocracy and the patron. Art is the whisper of history, heard above the noise of time. Art does not exist for art’s sake: it exists for people’s sake. But which people, and who defines them? He always thought of his own art as anti-aristocratic. Did he write, as his detractors maintained, for a bourgeois cosmopolitan elite? No. Did he write, as his detractors wanted him to, for the Donbass miner weary from his shift and in need of a soothing pick-me-up? No. He wrote music for everyone and no one. He wrote music for those who best appreciated the music he wrote, regardless of social origin. He wrote music for the ears that could hear. And he knew, therefore, that all true definitions of art are circular, and all untrue definitions of art ascribe to it a specific function. (NT 91-92) Schostakowitsch räumt in diesen fast manifestartigen Gedanken der Kunst zunächst eine exponierte Position ein: L’art pour l’art, die Kunst genügt sich selbst und lässt sich nicht vereinnahmen, weder von den Menschen noch von der Zeit. Der Lärm der Zeit ist hier und an anderen Stellen des Romans nicht als Referenz auf Mandelstams Memoiren und Schostakowitschs Mutlosigkeit zu lesen, sondern als Gegenkonzepte zur zeitlosen Kunst: Das Vergehen der Zeit ist damit ebenso angesprochen wie das Altern und hier insbesondere die Geschichte. Mögen die Mächtigen sich ihre Geschichte zurechtbiegen wie es ihnen gefällt, die Musik, so die optimistische Sicht, hört man auch über das Rasseln der Politik und Ideologie hinweg. Der folgende Satz offenbart allerdings, dass sich die Macht bereits einen Weg in die Gedanken des Roman das ›Erzählen‹ allzu oft die Oberhand über das ›Zeigen‹ gewinne: »I felt that he [Schostakowitsch] emerged as a (strangled) hero, but wished that Barnes would explain a little less, and show a bit more.« (Denk 2016: 1)
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Künstlers gebahnt hat. Der Idee, dass die Kunst nur sich selbst gehöre, steht hier Lenins Slogan, dass die Kunst dem Volk gehöre, gegenüber. Musik für das Volk, so werden Schostakowitsch und seine Kollegen immer wieder belehrt, hat optimistisch und melodisch zu sein und die Errungenschaften der Sowjetunion zu preisen (vgl. NT 104). Schostakowitsch erfährt am eigenen Leib, was es heißt, gegen dieses Dogma zu verstoßen. So wird seine Lady Macbeth of Mtsensk nach anfänglichem Erfolg in der einflussreichen Prawda als »muddle instead of music« bezeichnet, weil die Oper »non-political and confusing« sei und dem »perverted taste of the bourgeois with its fidgety, neurotic music« (NT 26-27) schmeichle. Die Trennung von Musik und Politik, die in Schostakowitschs Kunstdefinition mitschwingt, drückt sich an anderer Stelle auch in der Gegenüberstellung von Musik und Wörtern aus: »Let Power have the words, because words cannot stain music. Music escapes from words: that is its purpose, and its majesty.« (NT 58) Gemeint sind hier nicht die Wörter, die ein Schriftsteller in einer Erzählung benutzt, sondern jene, mit denen Macht begründet und konsolidiert wird. Anders als Mandelstam stellt er sich nicht gegen die Macht und lässt zu, dass sie ihm ihre Wörter in den Mund legt. So veröffentlicht der Komponist Zeit seines Lebens unter seinem Namen Artikel, die er nicht selbst schreibt und hält Reden, die ihm vorgelegt werden. Er wird somit zu einem Sprachrohr für eine Politik, die er ablehnt. Gleichzeitig ist er aber überzeugt, dass alle Welt ohnehin wisse, dass er seine Reden nicht selbst schreibe (vgl. NT 98). Für ihn sind die Wörter der Macht somit nicht mehr als leere Hülsen, die seine Wirklichkeit nicht abbilden und die vor allem nicht in die Welt der Musik vordringen können. Besonders auf die Probe gestellt wird die Überzeugung, dass Wörter die Musik nicht beschmutzen können (vgl. NT 58), während des Friedensgipfels in New York. Da die Rede sehr lang scheint, liest er nur die erste Seite und überlässt den ganzen Text dem Übersetzer, der die Rede ins Englische überträgt: »As the English version was being read out, he followed the Russian original, curious to discover his own trite views on music and peace and the dangers to each of them.« (NT 99) Als er seinen Blick über das Skript gleiten lässt, sieht er das Unheil kommen:
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He saw in the text the name of the century’s greatest composer, and an American accent marching towards it. First came a general condemnation of all musicians who believed in the doctrine of art for art’s sake […]; an attitude which had led to well-known perversions of music. The outstanding example of such perversion, he heard himself say, was the work of Igor Strawinsky, who had betrayed his native land and severed himself from his people by joining the clique of reactionary modern musicians. (NT 100, Herv. S.B.) In dieser Szene erreicht Schostakowitschs Entfremdung von seiner eigenen Stimme ihren Höhepunkt. Vor der versammelten Weltpresse liest er eine Rede, die nicht von ihm stammt. Danach folgt er der englischen Übersetzung ganz so, als ob er neben sich stünde und sich selbst zuhörte: Er verurteilt nicht nur sein eigenes zirkuläres Kunstverständnis, sondern denunziert darüber hinaus auch das Werk von Igor Strawinsky. Während hier durch das Setting zunächst sehr deutlich wird, dass er gerade nicht mit seinen Wörtern und nicht über seine Überzeugungen spricht, ändert sich die Situation mit dem Auftritt des wie Strawinksy im amerikanischen Exil lebenden Nicolas Nabokov grundlegend. Der Komponist Nabokov wendet sich mit seinen Nachfragen direkt an Schostakowitsch und lässt ihn so seine Aussagen insgesamt viermal bestätigen: »Yes, I personally subscribe to those opinions. […] Yes, I personally subscribe to such actions. […] Yes, I personally subscribe to such views. […] Yes, I personally subscribe to the views expressed by Chairman Zhdanov.« (NT 102-103) Nabokov schafft durch sein gnadenloses Nachfragen einen ganz neuen kommunikativen Rahmen. Indem er Schostakowitsch explizit nach seiner persönlichen Meinung fragt, zwingt er ihn, die Maske des Repräsentanten wider Willen abzulegen. Die Frage-Antwort-Runde im Anschluss an die Pressekonferenz wird gerade deshalb zu Schostakowitschs größter Demütigung, weil die Wörter in diesem Zusammenhang zu seinen Wörtern werden und dadurch ein eigenes Gewicht bekommen. Er mag in seiner Rolle als loyaler Gefolgsmann die Wörter, mit denen er die stalinistische Kulturpolitik in monoton vorgetragenen Reden (vgl. NT 98) verteidigt, lediglich als leere Signifikanten sehen, die für
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eine Wahrheitsprüfung von vorneherein nicht geeignet sind. In dieser neuen kommunikativen Situation, als Privatperson befragt, wird ihm hingegen die performative Dimension der Wörter vor Augen geführt. Durch die vierfache Wiederholung der Formel gibt er ein Glaubensbekenntnis ab. Seine Wörter konstatieren nicht nur, sondern tun etwas: Sein Bekenntnis zu seiner offiziellen Rolle greift seine persönliche Integrität und damit auch seine Musik an, weil er Strawinsky ebenso verehrt wie er den Vorsitzenden Zhdanov verabscheut. Nabokov inszeniert hier somit einen Angriff der Wörter auf die Musik. Schostakowitschs Unbehagen während des Kreuzverhörs zeigt nicht nur die Macht dieser Wörter, sondern auch, dass die selbstgezogenen Grenzen zwischen Wörtern und Musik, zwischen dem Leben und der Kunst zu verwischen drohen.
6.2.
And art made tongue-tied by authority: Entgrenzungen
Während der Komponist Nabokov vor allem darauf aus ist, die Unfreiheit im Sowjetsystem offenzulegen (vgl. NT 105), hat das Regime selbst handfeste politische Gründe, die Souveränität der Musik zu unterwandern. Wie allen totalitären Systemen ist es auch der Sowjetunion darum zu tun, die Kunst unter ihre Kontrolle bringen. Als Orte des Worldmaking stellen Romane, Gemälde oder musikalische Werke eine besondere Gefahr dar, weil sie der einen, homogenen Welt alternative Wirklichkeiten gegenüberstellen und das offizielle Narrativ untergraben können. Eine erste (und offensichtliche) Strategie, die in der Musik entstehenden Welten unter Kontrolle zu bringen, besteht darin, sie ganz verstummen zu lassen. The Noise of Time hält mehrere Beispiele bereit: Nach der vernichtenden Kritik in der Prawda darf Lady Macbeth of Mtentsk nicht mehr aufgeführt werden (vgl. NT 26), Schostakowitsch wird gezwungen, seine vierte Symphonie zurückzuziehen (vgl. NT 43) und eine ganze Reihe seiner Werke steht solange auf dem Index, bis Stalin selbst den Bann aufhebt (vgl. NT 81). Während ein verbotener Roman unter Umständen unter der Hand zirkuliert und gelesen werden kann, stellt es sich mit einer Symphonie oder einer Oper anders dar. So entgegnet Schostako-
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witsch, als »berühmte westliche Vertreter des Humanitätsgedankens« (vgl. NT 106) auf Besuch in der Sowjetunion ihm vorschlagen, dass er doch trotz der Verbote heimlich komponieren könne: »Yes, he could still write unperformed and unperformable music. But music is intended to be heard in the period when it is written. Music is not like Chinese eggs: it does not improve by being kept underground for years and years.« (NT 109) Die fiktionale Welt eines literarischen Werks kann überall und jederzeit entfaltet werden, solange die Leser über die Kompetenz verfügen, den sprachlichen Code der Erzählung zu entziffern. Die Welt der Musik hingegen erschließt sich nicht nur durch die Lektüre der Partituren. Als performative Kunstform ist die Musik anders als die Literatur auf die Gegenwart der Aufführung angewiesen. Über das brachiale Mittel des Verbots hinaus ist die welterzeugende Kraft der Künste aber immer auch gezielt eingesetzt worden, um die Menschen im Sinne einer bestimmten Ideologie zu erziehen. In seinem Buch Engineers of the Soul. In the Footsteps of Stalin’s Writers berichtet der niederländische Journalist Frank Westerman über Stalins Versuch, die russische Literatur vor seinen ideologischen Karren zu spannen. Im Jahr 1932 prägte Stalin bei einem Treffen mit wichtigen russischen Schriftstellern in der Moskauer Wohnung von Maxim Gorski den Begriff der »engineers of the human souls«: Für den neuen Staat, so Stalin, seien sowjetische Schriftsteller wichtiger als sowjetische Panzer, weil sie helfen könnten, die Menschen neu zu formen und so die Revolution voranzutreiben (vgl. Westerman 2010: 33-34). Vor dem Hintergrund dieser Phrase Stalins lässt Barnes seinen Helden an die hoffnungsvolle Zeit zurückdenken, als sich die Sowjetunion noch nicht in einen totalitären Staat verwandelt hatte und eine so positive, welterzeugende Rolle der Kunst zumindest noch denkbar schien: Music and literature and theatre and film and architecture and ballet and photography would form a dynamic partnership, not just reflecting society or criticising it or satirising it, but making it. Artists, of their own free will, and without any political direction, would help their fellow human souls develop and flourish. (NT 40, Herv. i.O.)
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In seiner stalinistischen Prägung aber ist Schostakowitsch der Gedanke des Schriftstellers bzw. Künstlers als »Entwickler der menschlichen Seele« aus zwei Gründen suspekt. Zum einen seien die Menschen nicht daran interessiert, dass man ihre Seelen entwickle und vielmehr so mit ihnen zufrieden, wie sie in die Welt gekommen seien (vgl. NT 40). Zum anderen ergebe sich ein grundsätzlicheres Problem: »Who engineers the engineers?« (NT 41) Wie auch in der Kurzgeschichte »A Short History of Hairdressing« schreibt Barnes hier eine Frage des römischen Satirendichters Juvenal um. Quis custodiet ipsos custodes, fragt Juvenal: Wer bewacht die Wächter selbst? Während im Originalzusammenhang besprochen wird, wie mit unkeuschen Frauen umzugehen sei, die, wenn sie eingesperrt werden, ihre Wächter verführen könnten3 , gibt Schostakowitsch der Phrase eine politische Wendung. In seiner früheren Idealvorstellung ist die Rede von Künstlern, die »ihrem freien Willen nach und ohne irgendeine politische Führung« (s.o.) Einfluss nehmen auf die Mitmenschen. Diese Freiheit ist den Künstlern unter Stalins Terrorherrschaft freilich genommen: Die Künstler, die die Seelen der Menschen entwickeln sollen, sind nicht etwa einem abstrakten Ideal, sondern dem System selbst verpflichtet; die Bewacher werden im totalitaristischen System selbst bewacht und die »Entwickler der Seelen« entsprechend selbst entwickelt. Die Anspielung auf Juvenal ist vor allem interessant, weil sie die Angriffe des Regimes auf Schostakowitschs Idealwelt der Musik auch auf einer Metaebene verortet: Stalins Bemühungen, die Kunst zu politischen Zwecken zu benutzen, erfahren wir aus der Perspektive eines Komponisten, der sich der Manipulation seiner Musik jederzeit bewusst ist. Aus dieser privilegierten Perspektive verfolgen die Leser, wie das Regime großzügig befindet, dass der Komponist kein verlorener Fall sei und sich doch noch in einen »optimistischen Schostakowitsch« verwandeln lasse (vgl. NT 71). Wie wir gesehen haben, ist das erste Mittel
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Nach einer plastischen Darstellung der Unkeuschheit einiger Frauen heißt es: »Ich höre wohl, was ihr alten Freunde schon lange anratet: ›Legʼ den Riegel vor, sperrʼ sie ein!‹ Wer aber soll die Wächter selbst bewachen? Schlau ist eine Ehefrau und macht den Anfang bei ihnen.« (Juvenal 1993: 115)
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der Wahl die Einschüchterung durch Verbannung und Verbote. Später werden ihm für musikalische Werke im Sinne des Volks große Preise wie der »Orden des roten Banners der Arbeit« (vgl. NT 75) versprochen. Schließlich, als vermeintlich subtilstes und dennoch – so lässt es Barnes durch beißende Ironie erscheinen – lächerlichstes Mittel, soll der Komponist durch die Lektüre einiger Klassiker aus der Feder Stalins sein politisches und ökonomisches Bewusstsein schärfen. Ihm wird zu diesem Zweck eigens eine Art ideologischer Lehrer zur Seite gestellt: »Thoughtfully, generously, the Union of Composers appointed a tutor, Comrade Troshin, a grave and elderly sociologist, to help him understand the principles of Marxism-Leninism – to help him reforge himself .« (NT 120, Herv. S.B.) Der längst weltbekannte Komponist wird aufgefordert, in regelmäßigen Abständen Zusammenfassungen der Werke einzureichen, damit sein Fortschritt auf dem Feld der politischen und ökonomischen Theorie verfolgt werden kann. Im Lichte dieses politischen Zerrens um den Künstler und seine Musik ist es vor allem der personalen Erzählsituation zu verdanken, dass die Tragik der Person Schostakowitschs besonders hervortritt. Durch die vielen Passagen der erlebten Rede wissen die Leser, dass er sich einerseits innerlich gegen jede Umerziehung und politische Vereinnahmung sperrt, andererseits verstrickt er sich äußerlich immer mehr mit der Macht. Um mit diesem fundamentalen Widerspruch seines Lebens zurechtzukommen, legt er sich einen Panzer aus Ironie zu: [But] irony – perhaps, sometimes, so he hoped – might enable you to preserve what you valued, even as the noise of time became loud enough to knock out window panes. […] Could irony protect his music? In so far as music remained a secret language which allowed you to smuggle things past the wrong ears. (NT 86) Mit dem Schutzschild der Ironie bewehrt schreibt er etwa Stalin einen persönlichen Brief, in dem er sich überschwänglich für die Möglichkeit bedankt, zum Friedensgipfel nach New York zu fahren (vgl. NT 86). Was die Musik betrifft, erweist sich die Ironie zunächst als probates Mittel, um sich nicht vollständig dem Diktat der stalinistischen
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Musikologen zu beugen. So verpasst er seiner fünften Symphonie ein ironisches Ende, das durch den musikalisch inszenierten Überschwang zu einer Verhöhnung des sowjetischen Triumphs wird. Die Mächtigen scheinen dafür aber taub zu sein, Schostakowitsch schmuggelt seine Kritik an den falschen Ohren vorbei: »They heard only triumph itself, some loyal endorsement of Soviet music, Soviet musicology, of life under the sun of Stalin’s constitution.« (NT 58) Während die Strategie, die persönliche und künstlerische Integrität durch Ironie zu wahren, sich hier als erfolgreich erweist, nutzt sie sich im Laufe der Zeit aber immer mehr ab. So heißt es schon im Anschluss an das obige Zitat: »But it [die Musik, S.B.] could not exist only as a code: sometimes you ached to say things straightforwardly.« (NT 86) Am deutlichsten zeichnen sich die Grenzen der Ironie im letzten Teil des Romans ab. Schostakowitsch ist nun ein Mann im fortgeschrittenen Alter und Nikita Chruschtschow hat Stalin als ersten Parteisekretär abgelöst. In die Zeit der Entspannung und relativen Öffnung unter dem neuen Staatschef fällt Schostakowitschs letzte Konversation mit der Macht: »Before, there was death; now there was life. Before, men shat their pants; now, they were allowed to disagree. Before, there were orders; now, there were suggestions. So his Conversations with Power became, without him at first recognising it, more dangerous to the soul.« (NT 131) Die größere persönliche und politische Freiheit birgt für ihn Gefahren, denen er sich im engen Korsett der stalinistischen Ordnung nicht gegenübersieht. Die Regeln und der Zwang unter Stalin lassen keinen Handlungsspielraum, ermöglichen es Schostakowitsch aber zumindest, seine Kollaboration und Feigheit moralisch vor sich selbst zu rechtfertigen. Die neue Freiheit hingegen bringt nicht nur Wahlmöglichkeiten, sondern auch eine größere persönliche Verantwortung mit sich. Als er nun gebeten wird, Sekretär des Komponistenverbandes und Parteimitglied zu werden, ist seine persönliche Vereinnahmung ungleich größer: Er soll nicht mehr nur ein passives Sprachrohr des Regimes, sondern ein Symbol für die Wandlung der Sowjetunion werden. Obwohl oder gerade weil er nicht mehr um sein Leben oder die Sicherheit seiner Familie fürchten muss, betrachtet Schostakowitsch diese neue Qualität der Komplizenschaft als »ruinös« (vgl. NT 148), denn
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nun ist es seine Seele (s.o.) und damit seine Integrität als Person, die auf dem Spiel steht: »Under the pressure of Power, the self cracks and splits.« (NT 155) Dass die Macht die Vorzeichen umgedreht und die Vereinnahmung eine neue Dimension erreicht hat, zeigt sich nicht zuletzt an Schostakowitschs Zweifeln an der Macht der Ironie: A distinguished Soviet composer inserts subtle mockery into a symphony or a string quartet. Was there a difference, either in motive, or in effect? […] You woke up one morning and no longer knew if your tongue was in your cheek; and even if it was, whether that mattered any more; whether anyone noticed. (NT 174) Der Komponist sieht sich durch seine Kollaboration mit der Macht in einen Zusammenhang verstrickt, wo die Grenzen zwischen der eigentlichen und der uneigentlichen Rede zunehmend verschwimmen und die Ironie damit aus den Angeln gehoben wird. Ein mit Preisen überhäufter Sekretär des Komponistenverbandes, der ein luxuriöses Leben führt, kann dem Regime nicht mit einer ironischen Haltung gegenüberstehen. Schließlich könne man, so Schostakowitsch, ebenso wenig der Partei ironisch beitreten wie man ein ironischer Folterknecht sein könne (vgl. NT 175). Welche Konsequenzen hat die Preisgabe der persönlichen Integrität des Menschen Schostakowitsch für den Komponisten Schostakowitsch? Sein persönlicher Ruin, der Eintritt in die Partei, hat zunächst positive Auswirkungen auf sein musikalisches Schaffen. Sein zuvor verbotenes Werk wird rehabilitiert. Die Oper Lady Macbeth of Mtentsk – das Werk, das ihn einst zum geächteten Komponisten machte – etwa wird in überarbeiteter Form und mit neuem Titel (Katarina Ismailowa) zwei Jahre nach dem Parteibeitritt zugelassen und nun in der Prawda gefeiert (vgl. NT 163). Als Nutznießer und Repräsentant der ›neuen‹ Sowjetunion wider Willen stellt sich für Schostakowitsch nun aber die Frage, ob seine Kunst von der Verflechtung mit der Politik »befleckt« (vgl. NT 57) wird, ob die Macht schließlich doch einen Weg gefunden hat, sich der Welt der Musik zu ermächtigen. Nicht von ungefähr erwähnt Barnes in diesem Zusammenhang das Schicksal von Andrej Tscharkow, dem Protonisten in Nikolai Gogols Kurzgeschichte »Das Portrait«. Nachdem
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der mittellose, aber talentierte Künstler hinter einem mysteriösen Gemälde eine große Menge Geld findet, lässt er nach und nach von seinen hehren ästhetischen Idealen ab und malt erfolgreiche, künstlerisch aber wenig ambitionierte Gemälde für reiche Petersburger. Nach vielen Jahren wird er schließlich gebeten, ein Werk eines anderen Künstlers, der sein Leben dem Kunststudium in Italien gewidmet hat, zu beurteilen. Als er die große Qualität dieses einzigen Werks erkennt, wird ihm schlagartig klar, dass er selbst seine Kunst verraten hat, weil er dem Ruf des Geldes und des Ruhms gefolgt war. Die Parallele, die Schostakowitsch zwischen Tscharkows und seiner eigenen Geschichte sieht, liegt auf der Hand: Haben beide auf ihre je eigene Art – der eine aus Habgier, der andere aus Feigheit – die Kunst verraten? Während die Kurzgeschichte nur die Wahl zwischen Integrität und Korruption zulasse, sieht sich Barnesʼ Schostakowitsch auf einem dritten Weg: »But in the real world, especially the extreme version of it he had lived through, things were not like this. There was a third choice: integrity and corruption. You could be both Chartkov and his morally shaming alter ego.« (NT 163) Hier wird noch einmal deutlich, wie Schostakowitsch die Welt seiner Musik vor der Macht zu verteidigen versucht: Seine persönliche Korruption führt für ihn nicht zwangsweise zu einer ›unreinen‹ Kunst. Vielmehr möchte er die Musik als ideellen Raum und autonome Welt geschützt wissen, die außerhalb der politischen und lebensweltlichen Rahmen existiert. Diese Trennung von Mensch und Werk, die Befreiung der Musik von den Umständen, in denen sie entsteht, ist auch sein letzter Wunsch: »What he hoped was that death would liberate his music: liberate it from his life. Time would pass, and though musicologists would continue their debates, his work would begin to stand for itself.« (NT 179) Mit seinem Tod, so hofft Schostakowitsch, wird seine Musik endlich von der Unordnung des Lebens abgeschnitten und zur sich selbst tragenden, unabhängigen Welt, zum – in Foucaults Worten – »[…] Ort ohne Ort, ganz auf sich selbst angewiesen, in sich geschlossen.« (Foucault 2006: 327) Die Trennung zwischen der Musik als ideelle Ordnung und dem Leben als vielstimmige Unordnung steht auch im Mittelpunkt einer Szene, die den Roman als Prolog und Epilog einrahmt und auf die auch
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während des Romans immer wieder Bezug genommen wird. Wir lernen zwei zunächst namenlose Protagonisten kennen, die zur Zeit des russischen Bürgerkriegs nach der Oktoberrevolution auf einem Bahnhof während eines Zwischenstopps mit einem Bettler ein Glas Wodka trinken. Das Trio verkörpert das russische Sprichwort »One to hear/one to remember/and one to drink«, das dem Prolog vorangestellt ist. Während die Namen des Bettlers und desjenigen, der erinnert, nicht bekannt sind (vgl. NT 179), wird im Epilog aufgelöst, dass Schostakowitsch selbst der Hörende ist. Als die drei zum Toast anstoßen, so erinnert sich der Unbekannte, hört Schostakowitsch einen Dreiklang: War, fear poverty, typhus and filth, yet in the middle of it, above it and beneath it and through it all, Dmitri Dmitrievich had heard a perfect triad. […] a triad put together by three not very clean vodka glasses and their contents was a sound that rang clear of the noise of time, and would outlive everyone and everything. And perhaps, finally, this was all that mattered. (NT 180, Herv. i.O.) Zum Schluss des Romans findet Barnes damit den vielleicht markantesten Ausdruck der Opposition zwischen dem Innen und dem Außen der Musik: Das Außen ist schmutzig, krank, arm und chaotisch. Die Welt der Musik hingegen hebt sich davon ab als Welt, die einen sich geschlossenen, bedeutsamen Kosmos repräsentiert. Zumindest der Roman endet damit in Schostakowitschs Sinne: mit einem Ton, dem der Lärm der Zeit nichts anhaben kann.
Zwischenfazit
Mit A History of the World in 10 21 Chapters und The Noise of Time untersucht dieses Kapitel zwei sehr unterschiedliche Werke. Mehr als ein Vierteljahrhundert liegt zwischen den Erstveröffentlichungen dieser beiden Romane. Es ist für den immer um Innovation bemühten Barnes nicht überraschend, dass eine parallele Lektüre zunächst große stilistische, erzähltechnische und thematische Verschiebungen erkennen lässt. Sind frühere Werke wie A History oder auch Flaubert’s Parrot formal und inhaltlich äußerst experimentell und sprunghaft, zeichnen sich spätere Texte wie The Noise of Time oder The Only Story (2018) durch eine konventionellere Erzählweise und allgemein durch eine größere ›erzählerische Ruhe‹ aus: Barnes verzichtet mehr und mehr darauf, einzelnen Gedanken in Nebenhandlungssträngen zu folgen und die Erzählung durch essayistische Einschübe und Metalepsen zu fragmentieren. Vielmehr scheint es nun darum zu gehen, eine runde Geschichte zu erzählen. Diese unterschiedlichen Orientierungen werden in diesem Kapitel besonders deutlich: Einer vielstimmigen, widersprüchlichen (Meta-)Geschichte der Welt steht das Leben eines Mannes gegenüber, erzählt von der Geburt bis zum Tod. Trotz aller Unterschiede zwischen dem ›frühen‹ und dem ›späten‹ Barnes teilen die beiden Romane eine Raumstrategie. Sowohl A History als auch The Noise of Time stellen Raum-Zeit-Konstellationen in den Mittelpunkt, die sich erzählerisch von einem Außen abheben: hier von einer als Zeichenmeer verstandenen Geschichte der Welt, dort von einem totalitären Regime, das den Menschen die Luft zu atmen nimmt. Dieses Außen bedroht die jeweils abgeschlossene Welt im Innern durch
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alternative Ordnungen, rivalisierende Narrative oder andere subversive Faktoren. In A History gibt Barnes der topologischen Differenz von Innen und Außen mit der Schiff-Meer-Dichotomie eine physisch-materielle Form, in The Noise of Time hingegen spielt sich der Kampf um die Welt der Musik auf einer immateriellen Ebene ab. Obwohl der Raum der Musik nicht wie ein realer Raum betreten werden kann, konzipiert Barnes das Ringen zwischen der Macht und dem Künstler in den räumlichen Begriffen des Innen und Außen. Das Konzept der experimentellen Anordnung, so kann gefolgert werden, ist somit nicht auf real-physische Räume beschränkt, sondern kann auch gewinnbringend auf figurative Räume angewendet werden. Die geschlossenen Räume von A History und The Noise of Time bezeichne ich als neue Räume. Anders als die institutionalisierten Räume, die in den folgenden Kapiteln untersucht werden, entstehen diese neuen Welten from scratch bzw. durch eine semantische Nullsetzung. Der Epilog von The Noise of Time offenbart in diesem Zusammenhang eine wichtige Parallele zwischen den Romanen. Zwar konstruiert Barnes mit dem Elend auf dem Bahnsteig und dem »perfekten Dreiklang« (vgl. NT 180) einen markanten Kontrast zwischen dem Innen und dem Außen der Musik. Gleichzeitig wird aber deutlich, dass sich die beiden sorgsam getrennten Welten gegenseitig bedingen. Dies zeigt sich darin, dass der Dreiklang zustande kommt, indem drei schmutzige Wodkagläser gegeneinander gestoßen werden. Der Jetzt-Moment des Dreiklangs geht damit aus der schmutzigen, chaotischen Welt hervor. Wie wir gesehen haben, sind die Schiffe und das Meer in A History in ähnlicher Weise aufeinander fixiert. Das Schiff ist nicht nur geradezu nutzlos ohne das Meer, den erzählten Bühnen und der Geschichte der Welt liegt mit dem Text bzw. der Sprache auch ein gemeinsames Medium zugrunde – es geht ebenso wie der Dreiklang aus dem Chaos der Welt oder, hier besser, des Texts hervor. Was die jeweiligen Welten trennt und so den geschützten anderen Raum erzeugt, hat jeweils mit einer aktiven Rolle des Produzenten und des Rezipienten zu tun: Mit dem Komponisten bzw. dem Autor-Erzähler und den »Ohren, die hören können« (vgl. NT 91) bzw. den Lesern, die sich auf das Raumexperiment einlassen. In beiden Romanen wird somit deutlich, dass der hypothetische Neuan-
Zwischenfazit
fang im neuen Raum immer auch mit einem kreativen Urheberdiskurs verbunden ist, der die Entstehungs- und Rahmenbedingungen dieser neuen Welten selbstreflexiv hinterfragt.
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TEIL III: VERSUCHSANORDNUNG 2 – VOM NEUEN ZUM INSTITUTIONALISIERTEN RAUM
7. Raum und Identität: Worldmaking als self-making in England, England
England, England ist vieles in einem: ernste, nachdenkliche Reflexion über den Menschen, gleichzeitig Parodie, zur Groteske überspitzter State-of-England-Roman (vgl. Henke 2001: 263) und beißende Kapitalismuskritik. Der 1998 erschienene Roman erzählt zwei Geschichten, die sich im Fortlauf der Handlung kreuzen: Zum einen die der Protagonistin Martha Cochrane, deren Lebensweg der Roman von der Kindheit bis ins Greisenalter verfolgt, zum anderen die des irrwitzigen ThemenparkProjekts England, England. Diese in Ton und Stil völlig verschiedenen Erzählstränge eint die Frage danach, wie Individuen und Nationen sich in der Welt einrichten, wenn die Realität ihre Verbindlichkeit verliert. England, England verortet die Handlung in einer postmodernen Textwelt, die hyperreal geworden und nicht mehr an ein reales Außen gekoppelt ist. Der Roman ist dabei »geradezu aufdringlich« (ebd.: 262) im Bestreben, jeder Form von Authentizität und Ursprünglichkeit eine Absage zu erteilen. Hier liegt eine zentrale Message England, Englands, die Barnes noch im kleinsten Detail des Texts platziert.1 Seien es persönliche 1
England, England wurde vor allem aus diesem Grund nicht einhellig positiv aufgenommen. In einer Besprechung beispielsweise wird der Roman als überwiegend alberne und uninteressante Farce und »essentially a middlebrow romp« (Bradshaw 1998: 41) bezeichnet. Auch Matthew Pateman ist der Meinung, dass England, England als selbstreferentielle Farce nicht funktioniere und Barnes den Themen des Romans in Essay-Form besser hätte gerecht werden können (vgl.
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Erinnerungen, historische Dokumente oder die Natur – in diesem Roman ist nichts ursprünglich oder echt, sondern immer schon die Kopie einer Kopie eines Originals, das allenfalls als Idee oder entferntes, verschwommenes Bild existiert. Betont und gewissermaßen verbrieft wird diese kulturelle Grundeinstellung mit zahlreichen Querverweisen und satirischen Seitenhieben auf jene Theorien der Postmoderne, die den Zugriff auf eine der Repräsentation vorgeschalteten Wirklichkeit infrage stellen. Die Problematisierung einer Wirklichkeit jenseits der Repräsentation setzt mit Marthas Gedanken zur Erinnerung und zum Gedächtnis ein. Im kurzen biographischen Abriss des ersten Teils erfahren wir, dass Martha in einer ihrer ersten Erinnerungen auf dem elterlichen Küchenboden ein England-Jigsaw-Puzzle zusammensetzt und dass Erinnerungen – insbesondere ersten Erinnerungen – nicht zu trauen sei. Ihre Kindheit wird überschattet von der traumatischen Trennung von ihrem Vater, der die Familie über Nacht verlässt und nie zurückkommt. Der kurze erste Teil endet, als Martha, nun Anfang zwanzig, ihren Vater in einem Café wiedertrifft. Der zweite Teil des Romans bricht mit dem realistischen, eher ernsten Ton des ersten Teils. Er beginnt mit Jack Pitmans Beobachtung, dass das gegenwärtige England nicht mehr attraktiv sei. Für eine bessere Zukunft will der Unternehmer mit dem Heritage-Park England, England Kapital aus der Vergangenheit Englands schlagen: »We must sell our past to other nations as their future!« (EE 37) In der Folge versammelt Pitmans Firma Pitco Englands Wahrzeichen wie Big Ben oder die weißen Klippen von Dover, aber auch geschichtliche Erzählungen wie den Robin Hood-Mythos auf der Isle of Wight, um ein kondensiertes, ›besseres‹ England zu erschaffen: England, England. Martha, die Hauptfigur des ersten Teils, bekommt im Projekt zunächst eine Stelle im Führungsstab und steigt später zur CEO des Inselprojekts auf. Der konsequent an marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten
Pateman 2002: 75,81). Sowohl für den Rezensenten als auch für Pateman treibt vor allem der mittlere Teil die Überspitzung zu weit und gleitet ins Alberne ab; den ernsteren Teilen, die sich auf Martha konzentrieren, fehle es dadurch an Bindung an das farcenhafte Inselprojekt im Hauptteil des Romans.
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ausgerichtete Themenpark ist nicht nur finanziell ein voller Erfolg, sondern läuft dem ›echten‹ England allmählich den Rang ab (vgl. EE 262). Sind Marthas Überlegungen im ersten Kapitel mit dem individuellen Gedächtnis beschäftigt, steht im immer grotesker werdenden zweiten Teil mit der Vermarktung des nationalen Erbes der Umgang mit der Vergangenheit auf kollektiver Ebene im Mittelpunkt. Der letzte, nun wieder ernstere Teil konzentriert sich schließlich wieder auf Martha. Nachdem sie ihren Posten im Projekt verloren und lange Zeit im Ausland gelebt hat, kehrt sie als alte Frau ins ›alte England‹ zurück. Dieses alte England, nun in Anglia umbenannt, ist im Schatten England, Englands zu einem rückständigen Agrarstaat geworden. In der kleinen Gemeinde, in der sich Martha niederlässt, drängen die Themen der Erinnerung und Zugehörigkeit einmal mehr im den Mittelpunkt: »Old England had lost its identity, and therefore – since memory is identity – had lost all sense of itself.« (EE 259) Der letzte Teil buchstabiert deutlich aus, dass die Fragen nach Gedächtnis und Geschichte in England, England immer eng an Fragen der individuellen und nationalen Identität geknüpft sind: Wie macht mich meine Erinnerung zu der Person, die ich bin? Wie schafft der geschichtliche Rückblick ein identitätsstiftendes Bild der Nation? Worldmaking, das bringen diese Fragen auch zum Ausdruck, geht in diesem Roman Hand in Hand mit self-making.2 Der hyperreale Zusammenhang, in dem der Roman angesiedelt ist, verschärft dabei Nelson Goodmans These der multiplen Welten. Zwar gibt Goodman einer monistischen Wirklichkeit eine klare Absage, betont aber gleichzeitig auch, dass Worldmaking nichts mit grenzenlosem Relativismus zu tun habe. »Die Bereitschaft, alternative Welten anzuerkennen,« so Goodman, »kann zwar befreiend sein und Hinweise auf neue Forschungswege geben, aber wem 2
Den Begriff des self-making entlehne ich aus der Autobiographieforschung und insbesondere aus Jerome Bruners Aufsatz »Self-Making and World-Making« (1991). Der Psychologe Bruner beschreibt darin, wie individuelle Lebensberichte sich eng an literarischen Genres orientieren (vgl. Bruner 1991: 68). Für die vorliegende Romananalyse löse ich den Begriff aus dem engeren Zusammenhang der Autobiographie und verwende ihn sowohl für Marthas Selbstkonstruktionen als auch für kollektive Prozesse der Selbstbeschreibung.
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alle Welten gleich willkommen sind, wird keine erbauen.« (Goodman 2017: 36) Die Willkür, die Goodman verurteilt, erweist sich spätestens im zweiten Teil nicht nur als Bestandteil, sondern zentrales Grundprinzip der Welterzeugung innerhalb der erzählten Welt. Sir Jack Pitmans neues England ist ein grotesk verkürztes, einzig nach kommerziellen Gesichtspunkten zusammengezimmertes Konstrukt, das die einstmalige Größe Englands wiederbeleben soll. Die Isle of Wight wird als der Ort auserkoren, wo England wieder zur »scepter’d isle« werden soll, die in Shakespeares Richard II besungen wird: This earth of majesty, this seat of Mars,/This other Eden, demiparadise,/This fortress built by Nature for herself/Against infection and the hand of war, This happy breed of men, this little world,/This precious stone set in the silver sea,/Which serves in the office of a wall./[…]/This blessed plot, this earth, this realm, this England,/[…]. (Shakespeare 2008: 847, II, i) In Gaunts Rede im Sterbebett verdankt ein idealisiertes England seine Besonderheit vor allem seiner geographischen Lage. Fortress, wall, this blessed spot, this realm – Gaunts Abschottungsrhetorik zeichnet die Insel als Festung, die die ›kleine Welt‹ Englands vor den Gefahren von außen, Krankheit und Krieg, beschützt. Die von Gaunt so hervorgehobene insulare Lage Englands reproduziert Sir Jack auf der Isle of Wight, um sein neues England erstehen zu lassen. Die Insel wird so zu einem experimentellen Raum, wo der Roman in überspitzter Form die Konstruktionsprozesse eines neuen Staats im Zeichen des Kommerzes nachzeichnet. Nachdem die Verantwortlichen auf der Insel Tabula rasa gemacht haben, entsteht hier eine Welt from scratch, die sich nach und nach von einer neuen zu einer institutionalisierten Ordnung entwickelt. Neben der Isle of Wight, die die zentrale Inselwelt des Romans darstellt, findet Barnes im ersten Teil zwei weitere Raumbilder, die eng mit der Protagonistin Martha verbunden sind: das Jigsaw-Puzzle und die Agricultural Show. Diese beiden geschlossenen Raumanordnungen bereiten die Leser auf England, England vor. Sie sind nicht nur ebenso räumliche Ausdrücke der Identitätsfrage, sondern teilen auch die klaren Grenzziehungen nach Außen und
7. England, England
die stringente innere Ordnung des Themenparks. Eine vierte Inselwelt, Anglia, rundet den Roman ab, indem die Weisen der Welterzeugung der ersten beiden Teile noch einmal aufgenommen und in einem weiteren Zusammenhang thematisiert werden.
7.1.
Her England, her heart: Marthas Jigsaw-Puzzle als Raummuster
Mit Marthas Definition von ›Erinnerung‹ stimmt der Roman seine Leser schon auf der ersten Seite auf ein Spiel der Doppelungen, Simulacra und Fälschungen ein: It wasn’t a solid, seizable thing, which time, in its plodding, humorous way, might decorate down the years with fanciful detail – a gauzy swirl of mist, a thundercloud, a coronet – but could never expunge. A memory was by definition not a thing, it was … a memory. A memory now of a memory a bit earlier of a memory before that of a memory way back when. (EE 3) Marthas Definition ex negativo zeigt, dass Erinnerungen für sie aus verschiedenen Gründen unzuverlässig sind. Sie werden aus einer sich ständig wandelnden Gegenwart betrachtet und sind immer schon Erinnerungen von Erinnerungen, die keinen Zugriff auf das Erinnerte, das »thing«, ermöglichen. Für Martha ist das Erinnern ein referenzielles Spiel ohne den fassbaren Grund einer nicht hintergehbaren Wirklichkeit. Ohne diesen festen Grund, so sieht es Martha, formt die Erinnerung das Vergangene nach den Bedürfnissen der Gegenwart (vgl. EE 6). Sie billigt dem Selbst durch seine Fähigkeit zu erinnern die Position des Schöpfers seines Seins, seiner eigenen Identität zu. Die Identitätsstiftung durch Erinnern ist für die zynische Martha jedoch ein geradezu manipulativer Vorgang. Die Geschichten, die man sich über die Vergangenheit erzählt und die die Gegenwart in verschiedener Weise erträglich machen, sind für sie eine Zusammenschau bewusster und unbewusster Verfälschungen und Auslassungen (vgl. EE 6-7). Überzeugt, dass insbesondere ›erste Erinnerungen‹ in letzter
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Konsequenz Lügen sind, fabriziert sie für sich das Bild, wie sie auf dem Küchenboden sitzt und ihr »Counties of England jigsaw puzzle« zusammensetzt. Das Puzzle ist für Martha ein bewusst gesetzter Anfang: Mit ihrer ersten Erinnerung beginnt nicht nur ihre persönliche Lebensgeschichte, sondern auch ein Bewusstsein der eigenen Existenz. Für Martha ist das Puzzlespiel zunächst eng mit ihrem Vater verbunden. Sie erinnert sich, wie dieser spielerisch einzelne Counties versteckt, um sie dann vor den Augen der verdutzten Tochter etwa aus seiner Jackentasche zu zaubern: […] and she would get to the end and a piece would be missing. Leicestershire, Derbyshire, Nottinghamshire, Warwickshire, Staffordshire – it was usually one of them – whereupon a sense of desolation, failure, and disappointment at the imperfection of the world would come upon her, until Daddy […] would find the missing piece in the unlikeliest place. What was Staffordshire doing in his trouser pocket? How could it have got there? Had she seen it jump? Did she think the cat put it there? (EE 6) Als der Vater die Familie schließlich über Nacht verlässt, ist Martha überzeugt, dass er gegangen sei, um das fehlende Nottinghamshire zu suchen. Das Puzzle mit dem fehlenden Teilchen wird damit zu einem Symbol für den Zusammenbruch der Familie und Marthas Verlust. Als sie Jahre später den Weggang des Vaters als endgültig akzeptiert, nimmt sie auch Abschied vom vollständigen, behüteten Familienkosmos ihrer Kindheit: Stück für Stück lässt sie die übrigen Counties hinter den Sitzen des Schulbusses verschwinden. Mit dieser symbolträchtigen Handlung tritt sie ein in die realistische, fragmentierte Welt der Erwachsenen, in der Frauen nach sich selbst schauen müssten, weil dies niemand sonst tun könne (vgl. EE 18). Hier wird eine doppelte Verbindung von Raum und Identität sichtbar: Zum einen ist das Puzzle in seiner zusammengesetzten Form ein räumlicher Ausdruck für Marthas vollständige, intakte Welt. Zum anderen trägt der Schulbus, wo die metaphorischen bits and pieces von Marthas kindlicher Identität landen, eine besondere Bedeutung. Der Bus ist als Transportmittel, das ständig zwischen A und B pendelt, ein »Nicht-Ort« (Augé 2010: 42) wie ihn Marc
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Augé beschreibt. Martha ›begräbt‹ ihre kindlichen Vorstellungen von Ganzheit und Zugehörigkeit an einem Ort, der aufgrund der ständigen Bewegung und der sich ständig verändernden, heterogenen Schar der Passagiere keine Identitätsstiftung zulässt und somit – in Augés Worten – kein »anthropologischer Ort« (ebd.) sein kann. Ihr Bruch mit der heilen Vorstellungswelt ihrer Kindheit ist so radikal, dass sie sich für diesen Verlust keinen Ort zugesteht, an den sie zurückkehren könnte – um zu erinnern, zu trauern, oder auch nur, um sich rückblickend über das kindliche Selbst zu amüsieren. Über die persönliche Ebene hinaus weist das Jigsaw als Bild Englands auch auf die Fragen der nationalen Identität und Territorialität voraus, die im zweiten Teil des Romans in den Mittelpunkt treten. Barnes buchstabiert die Verbindung zwischen dem Individuellen (Marthas Geschichte) und dem Kollektiven (England) schon im ersten Teil explizit aus. So heißt es, nachdem der Vater das fehlende Teilchen gefunden hat: »And she would smile her Nos and head-shakes at him, because Staffordshire had been found, and her jigsaw, her England, and her heart had been made whole again.« (EE 6, Herv. S.B.) Martha stellt ihr Glück mit der Ganzheit ihres England-Puzzles gleich, entsprechend bleibt nach dem Weggang des Vaters auch ihr Vaterland mit einem klaffenden Loch genau im Zentrum zurück (vgl. Mikecz 2014: 136). Barnes verschränkt mit dem Puzzle auf einer symbolischen Ebene Fragen der Identität mit Fragen des Raums. Das Puzzle ist eine spielerische, rudimentäre Landkarte, die eine Repräsentation der politischen Organisation Englands darstellt. Wenn man es aus dem unmittelbaren persönlichen Zusammenhang mit Martha löst, lädt das aus verschiedenen Stücken zusammengesetzte England-Puzzle mit dem Loch in der Mitte zu Interpretationen zum Gemacht-Sein einer Nation ein. So sieht Matthew Pateman das Puzzle als »handy metaphor of a country being constructed, arbitrarily divided into administrative centres, historically open to change« (Pateman 2002: 76), für Barbara Korte ist es ein »obvious image that all nations are constructs« (Korte 2002: 288-289). Während diese Deutungen angesichts Pitcos scheinbar wahllosen Neuordnung Englands sicher ihre Berechtigung haben, lassen sie eine wichtige Eigenschaft des Puzzlespiels unerwähnt. Die Zusammenset-
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zung des Puzzles ist keineswegs willkürlich, sondern folgt einem bestimmten räumlichen Prinzip. Martha kann Somerset nicht in den Platz Kents pressen, weil die Stücke so geschnitten sind, dass sie nur an eine bestimmte Stelle passen. Ebenso wenig kann sie, wenn sie sich an den Küsten entlang arbeitet (vgl. EE 5), Cornwall einfach außerhalb des Puzzles platzieren, weil der Rahmen klar definiert und gegen ein Außen abgegrenzt ist. Das Puzzle trägt seiner Form nach eine minimale, aber zwingende Raumlogik in sich, weil jedes Stück seinen vorgegebenen Platz hat und nur ein harmonisches Ganzes entstehen kann, wenn die (Raum-)Regeln des Spiels befolgt werden. Matthew Pateman bringt in seiner Deutung (s.o.) die historische Wandelbarkeit der arbiträren Ordnung der Counties ins Spiel. Obwohl er damit für das wirkliche England und darüber hinaus jede andere Nation Unbestreitbares sagt, macht das Puzzlespiel das genaue Gegenteil: Es blendet jede historische Dimension aus und verfestigt den Status quo einer Gegenwart, es symbolisiert eine Stilllegung der Zeit im Raum. Das Puzzle ist genau wie eine Landkarte ein Ausschnitt, der eine gegenwärtige geopolitische Ordnung darstellt. Die Entwicklung hin zu dieser Ordnung oder ihre Aussichten in der Zukunft haben in diesem Bild keinen Platz. Die räumliche, synchrone Dimension des Jigsaw-Symbols scheint damit Goodmans eingangs erwähnte Position gegen einen willkürlichen Relativismus zu bestätigen. Die Welt, die das Jigsaw symbolisiert, mag kontingent und historisch wandelbar sein. In seiner gegenwärtigen Form aber passen die Counties nur an einen bestimmten Platz, es gibt nur eine richtige Welt, die viele andere mögliche Versionen und Welten ausschließt (vgl. Goodman 2017: 34). Das Jigsaw-Bild stellt damit Marthas Erinnerungsdiskurs auf den Kopf: Es zeigt, dass die identitätsstiftenden Erinnerungen eben nicht willkürlich erfunden werden können, sondern in eine bestimmte Erzählung passen müssen. Martha gesteht sich dies letztlich ein, indem sie nicht versucht, ihr Narrativ der familiären Ganzheit im Sinne eines ›manipulativen Gedächtnisses‹ selbst zu kitten, sondern es ganz zerlegt und einzeln hinter den Bänken im Schulbus entsorgt. Klar gezogene äußere Grenzen, eine klare Strukturierung im Innern, ein Anhalten der Zeit – das Puzzle steht mit seinen räumlichen
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Eigenschaften Modell für zwei weitere Inselwelten, die Barnes in England, England baut.
7.2.
Die Agricultural Show und der Verlust des Vaters
Der Begriff ›Konstruktion‹ trägt in der Diskussion um das PuzzleSymbol in den oben angeführten Zitaten negative oder zumindest abwertende Züge, meint er doch das Gegenteil dessen, was ›Nation‹ etymologisch in sich trägt. ›Nation‹ von lat. natio (Geburt) betont den Aspekt der Verwurzelung und der Fundierung der Gruppe in einer natürlich gewachsenen Ordnung. ›Konstruktion‹ hingegen stellt den kulturell geschaffenen, kontingenten Charakter einer Struktur in den Mittelpunkt. Obwohl Martha als Kind weit entfernt ist von einem Verständnis Englands als das eine oder das andere, ist ihr Land für sie Teil eines holistischen Ganzen, in dem Natur und Kultur untrennbar verbunden sind: »her jigsaw, her England, her heart«, und, so könnte man hinzufügen, »her father«. Barnes lässt England für Martha in der asyndetischen Reihung zu einer Herzensangelegenheit werden. Zusammen mit ihren (biologischen) Eltern wird es in Form des Puzzles zu einem unhinterfragten Teil ihres kindlichen, ganzheitlichen Kosmos. Dass der Verlust des Vaters vor diesem Hintergrund einen traumatischen Einschnitt markiert, wird in der Auswahl der Erinnerungen der erwachsenen Martha deutlich. Die Rückschau auf ihre Kindheit konzentriert sich auf Strukturen der Ganzheit und Vollkommenheit, die diese Zäsur in ihrer Weltsicht akzentuieren und ihr Leben in ein ›Vorher‹ und ›Nachher‹ einteilen. Das markanteste Beispiel ist in diesem Zusammenhang neben dem Puzzle der Familienbesuch bei der Agricultural Show. Wie allen anderen Erinnerungen ist sie auch dieser Erinnerung gegenüber äußerst misstrauisch: »When she looked back, then, she saw lucid and significant memories which she mistrusted. What could be clearer and more remembered than that day at the Agricultural Show?« (EE 7) Das Bild, wie sie an jeder Hand einen Elternteil hält und in die Luft geschwungen wird, kommt insgesamt dreimal vor (vgl. EE 9, 11, 18) und portraitiert eine Familie in Perfektion, wie man
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sie sonst allenfalls in Werbespots für Familienautos oder Bausparkassen findet. Ob in Marthas retrospektivem Blick die Familienharmonie angesichts des bevorstehenden Bruchs maßlos überzeichnet ist, ob zwischen den Eltern nicht schon längst Streit herrschte und sie das Familienglück Martha zuliebe inszenieren – diese Fragen beschäftigen die erwachsene Martha. Für die Leser des Romans ist die geschichtliche Frage nach dem objektiven Wahrheitsgehalt ihrer Erinnerungen indes nicht unmittelbar relevant – »wie es eigentlich gewesen« (Leopold Ranke), kann ohnehin nicht entschieden werden. Zentraler sind die Formen und Strukturen, in die die erwachsene Martha ihre Erinnerungen einbettet, um ihnen Bedeutung und Sinn abzugewinnen. Die Landwirtschaftsausstellung nimmt eine Schlüsselrolle in Marthas Erinnerung als Strategie zur Sinnstiftung ein, weil die Ganzheit der Familie – ähnlich wie im Fall des Puzzles – mit einer vollkommenen Ordnung zusammenfällt:3 »Swung high to the heavens in a place where, despite the noise and the pushing, there was order, and rules, and the wise judgment from men in white coats, like doctors.« (EE 18, Herv. S.B.) Die Landwirtschaftsausstellung ist ein Mikrokosmos, in dem eigene Gesetzmäßigkeiten herrschen, wo das Geschehen bis ins Kleinste reguliert ist. Die »Männer in weißen Mänteln« sind die Experten in dieser Welt der Karotten, Dahlien und Ziegen und legitimieren die Ordnung durch ihre normativen Urteile. Die Regeln der Ausstellung sind als lange Listen im »Schedule of Prizes« verzeichnet: All goats entered shall be female. Goats entered as Classes 164 and 165 shall have borne a kid. A kid is defined as birth to 12 months. […] Friesian Heifer in milk Friesian Heifer Maiden not showing more than 2 broad teeth. Attested cattle must be halter led and there must be a three-yard space maintained at all times between them and non-attested cattle. (EE 9)
3
Henke beschreibt die Landwirtschaftsausstellung als »Idealbild perfekter Harmonie und Sinnfülle« (Henke 2001: 267).
7. England, England
Während diese Liste für Außenstehende so absurd und willkürlich erscheint wie Jorge Luis Borgesʼ berühmte Taxonomie der Tiere aus einer »gewissen chinesischen Enzyklopädie« (Borges 1966: 212), hinterfragt Martha die Ordnung nicht, sondern akzeptiert sie als gegeben. Die schon existente, vor ihrem Kommen institutionalisierte Ordnung spricht sie mit ihrer Vollkommenheit vor allem auch auf einer emotionalen Ebene an (vgl. EE 9-10). Anders als die Welt außerhalb des Ausstellungsgeländes oder die innere Welt ihrer Gedanken kann Martha diesen beschränkten Kosmos komplett erschließen, weil es keine inneren Widersprüche, keine Lücken wie im Gedächtnis gibt. Sie hat die volle Kontrolle in einer Welt, in der die Wirklichkeit mit ihrer Repräsentation übereinstimmt: »She felt as if the items laid out before them could not truly exist until she had named and categorised them.« (EE 10) Ihr besonderes Interesse gilt dabei den Bohnen eines gewissen Mr. A. Jones, der eine Bohne »perfekt aussehen lassen kann« (vgl. EE 11). Spätestens mit dem Hinweis auf die gezüchteten Bohnen wird deutlich, dass die Perfektion und Ganzheit der Landwirtschaftsausstellung nur in einer durch und durch gemachten, künstlichen Welt zu haben ist. Sie kann zu einer kompletten Welt werden, weil sie selbst die Maßstäbe der Wirklichkeit bestimmt und die wilde, ungezähmte Natur ausschließt. Die innere Logik dieser Inselwelt gründet sich auf die im »Schedule of Prizes« (EE 8) festgehaltenen normativen Setzungen; die »Männer in weißen Mänteln« wachen darüber, dass sie intakt bleibt. Bevor diese innere Logik jedoch erschlossen werden kann, muss sich die Agricultural Show zunächst im Raum definieren – die Wirklichkeit vom Reißbrett braucht klare Grenzen, die den Beginn und das Ende der Ausstellung markieren. Diese Grenzen setzt der Roman anschaulich in Szene. Als Martha beim ›Engelein flieg‹-Spiel von ihren Eltern in die Höhe geschwungen wird, nimmt sie für einen kurzen Moment eine Vogelperspektive auf das Geschehen ein und erhascht einen Blick auf das Gelände jenseits der Grenze: »The white marquees with stripped porticos, as solidly built as vicarages. A rising hill behind, from which careless scruffy animals looked down on their pampered, haltered cousins in the show ring below.« (EE 7) Nicht nur findet Barnes mit dem »show ring« einen Raumbegriff, der Begrenzung und In-sich-Geschlossenheit
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hervorhebt, er konstruiert das Außen der Show als markanten Kontrast zum Innern: hier die niedlichen, herausgeputzten Zuchttiere, dort die verlotterten Wildtiere. Der Gegensatz manifestiert sich für Martha als einer zwischen Kultur und Natur, zwischen Ordnung und Unordnung, zwischen »haltered« und »scruffy«. Sie verbannt das Chaos und das Unkontrollierbare aus ihrer perfekten Welt. Der flüchtige Blick auf den Hügel mit den wilden Tieren ist noch aus einem anderen Grund von Bedeutung. Er zeigt auch, dass die Verwandlung von Natur in Kultur nicht komplett gelingt. Dieser kaum bemerkte Einbruch dieser anderen, unkontrollierten Wirklichkeit bleibt als latente Gefahr anwesend. Mehr noch: Martha bezeichnet die Wildtiere als »cousins« der Zuchttiere und stellt dadurch eine unmissverständliche, biologische Verwandtschaftsbeziehung her. Das Andere des unkontrollierten Außen ist als gefährdender, unterminierender Faktor in der DNA der Tiere angelegt und damit auch schon Teil der inneren Ordnung. Diese ist darüber hinaus auch aus einem anderen, ganz banalen Grund höchst instabil. Da die Agricultural Show nur für wenige Tage einmal im Jahr stattfindet, kann und will sie von vornherein nur eine temporäre Ordnung sein. Die räumliche Semantik der Landwirtschaftsausstellung mit ihrer vollkommenen, aber von einem anderen Außen gefährdeten Ordnung ist ein eindrückliches Raumbild für Marthas familiäre Situation kurz vor einer Zäsur, die ihr Leben entscheidend prägen wird. Die Agricultural Show steht stellvertretend für ein Familienideal, in dem Marthas Vater als Familienoberhaupt die Rolle der »Männer in weißen Mänteln« einnimmt. Aus Marthas kindlicher Perspektive sind die Richter ein Sinnbild für den Vater als patriarchale, übergeordnete Instanz, die die Ordnung der kleinen Gruppe garantiert. Das latent präsente Außen nimmt dabei allerdings gleichzeitig den Verlust des Vaters und damit den Einbruch des Unverständlichen und Unkontrollierbaren in Marthas Welt vorweg. Damit widerlegt Martha zum zweiten Mal ihre Vorbehalte gegenüber dem »memory system«: Die Landwirtschaftsschau ist einerseits eine idealisierte Ordnung als Ausdruck eines intakten, harmonischen Familienlebens. Das Raumbild enthält mit der nur flüchtigen Präsenz des Außen andererseits aber auch die dunkle, unbewusste Vorahnung, dass mit der so bemüht zur Schau gestellten Harmonie inner-
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halb der Familie etwas faul sein könnte. Der räumlich-bildliche Ausdruck der Landwirtschaftsausstellung ist damit mehr als nur eine Strategie der ›großen Martha‹, sich über die unerklärliche Verlusterfahrung der ›kleinen Martha‹ mit einer ›manipulierten‹ Erinnerung hinwegzutrösten (vgl. EE 7). Wie schon für das Jigsaw-Puzzle beobachtet, wird auch hier deutlich, dass sich eine Welt nicht so einfach zurechtbiegen lässt, findet die traumatische Verlusterfahrung doch in beiden Raumbildern den Weg an die Oberfläche. Das Reale ist damit nicht so weit von der Erinnerung entfernt wie Martha glauben machen möchte. Es kommt zurück als das, »was die menschliche Lebenswelt ausmacht […]. Realität steht deshalb auch für Referenz und damit für das, was aus dem selbstgenügsamen Symbolsystem der Postmoderne hinausweist – auf Gegenstände, empirische Evidenz, Emotionalität, Wahrheitsgehalt und harte Fakten.« (Assmann/Jeftic/Wappler 2014: 15) Das Reale betritt Marthas räumliche Erinnerungsbilder gewissermaßen durch die Hintertür und nimmt den Platz dessen ein, das sich nicht vollständig kontrollieren lässt. Wie Barnes die Inselwelten des Puzzles und der Landwirtschaftsschau auf die größere und komplexere Welt England, Englands überträgt und wie das Reale sich auch einen Weg in eine nun hyperreale Wirklichkeit bahnt, soll im Folgenden erörtert werden.
7.3.
England, England: Die totale Bühne
Der titelgebende Themenpark England, England ist die zentrale Inselwelt des Romans. Sie spiegelt die (räumlichen) Eigenschaften der Agricultural Show und des Puzzles – Abgeschlossenheit nach außen, eine klare innere Ordnung, ein Ausschließen der historischen Dimension – und ist doch eine Welt unter völlig anderen Vorzeichen. England, England löst die Raumstruktur des Jigsaw und der Landwirtschaftsausstellung aus Marthas individueller Erfahrung und überträgt sie auf einen größeren, kollektiven Zusammenhang. Anders als Martha geht es Pitco jedoch nicht darum, einen Blick auf die Vergangenheit zu finden, mit dem man sich in der Gegenwart arrangieren kann (vgl. EE 6). Der Themenpark ›benutzt‹ die Vergangenheit zu einem anderen Zweck: Er
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kommodifiziert Englands Erbe, um es profitabel zu machen. Der Roman nimmt im schillernden zweiten Teil an Fahrt auf, er wird zu Worldmaking im Schnellvorlauf. Sir Jack und sein Thema stampfen auf der Isle of Wight einen Themenpark aus dem Boden, der, so will es Barnesʼ Farce, das ›echte‹ England nach und nach verdrängt. Im Fortlauf dieser Entwicklung wird die Insel zu einer totalen Bühne: Das Schauspiel wird zur Wirklichkeit, vor allem für die Schauspieler, die auf der Insel nicht nur historische Persönlichkeiten verkörpern, sondern auch dort leben. Bevor die Prozesse der Welterzeugung genauer betrachtet werden, wenden sich die folgenden beiden kürzeren Abschnitte einer etwas allgemeineren Kontextualisierung des Themenparkprojekts zu: zum einen im Hinblick auf das Phänomen des Themenparks und dem dazugehörigen Genre der Theme Park Fiction, zum anderen im Hinblick auf eine postmoderne Orientierungslosigkeit, die der Roman als fruchtbaren Grund für das Projekt England, England entwirft.
7.3.1.
Theme Park Fiction und das Geschäft mit der Vergangenheit
Barnes platziert das 1998 erschienene England, England inmitten eines lebendigen, schon seit den 1980er Jahren geführten ThemenparkDiskurses über Authentizität, Kommerzialisierung und Raum.4 Barbara Korte beschreibt den Themenpark als eine räumliche Ordnung, die sich an den Bedürfnissen des postmodernen Touristen orientiert. Die Entwicklung vom modernen zum postmodernen Touristenverhalten skizziert sie folgendermaßen: Weil dem modernen Menschen mehr und mehr die Authentizität im eigenen Alltagsleben verloren geht, möchte er wahrhafte Kulturen und Gesellschaften auf Reisen erleben. Dieses Bedürfnis deckt die Tourismusbranche, indem sie die von den Besuchern gewünschte Authentizität inszeniert. Der postmoderne Besucher hingegen suche nicht mehr nach dieser Echtheit, sondern gebe sich mit einer »surface authenticity« zufrieden. Tourismus wird 4
Zum Phänomen des Themenparks und der »Heritage Industry« siehe Hewison (1987) oder Wright (1985).
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damit zu einer bloßen Konsumbeschäftigung, der in Vergnügungsparks komfortabel nachgegangen werden kann (vgl. Korte 2002: 290). Laut Michael Walonen bleibt das Phänomen Themenpark nicht auf den Freizeitbereich beschränkt. »Theming« – das konzeptionelle Arrangieren thematisch verbundener Signifikanten – werde über Themenparks hinaus auf verschiedene Lebensbereiche ausgedehnt und bestimme den Tenor des postmodernen Alltags: The world is becoming increasingly Disney-fied, as individuals transact their lives more and more in public spaces carefully orchestrated through reference to collective myths, ›spectacular spaces‹ […]. That is, the theme park is both the ultimate concretation of and a metaphor for the dawning spatial dominant in postindustrial society. (Walonen 2014: 260) Themenparks sind also nicht nur eine Antwort auf ein verändertes Reiseverhalten und ein neues Tourismuskonzept, sondern gelten Walonen darüber hinaus als Inbegriff des gesellschaftlichen Lebens in der Postmoderne. Wenn Themenparks, wie Walonen schreibt, symptomatisch sind für das Entstehen einer neuen Dominanz des Raums, ist England, England ein besonders eindrückliches Beispiel dieses Prozesses. Durch die Evolution vom Themenpark zum souveränen Nationalstaat wird das Modell nicht nach außen ›exportiert‹, sondern das ›Außen‹, das wirkliche England, mitsamt seiner Geschichte vielmehr vom Themenpark absorbiert. England, England spitzt damit Walonens These noch zu, streift der »spektakuläre Raum« England, England in diesem Prozess doch alles Bildhafte ab, das Bild wird zum ›Ding‹: Der Robin Hood von England, England stellt in Sir Jacks verknappter Welt keine Referenz auf den Mythos Robin Hood dar, er ist Robin Hood. Ebenso ist der Park als ganzer keine Hommage an die Geschichte Englands, sondern ist die Geschichte selbst – zerstückelt und verräumlicht, damit die Besucher sie im Vorbeigehen konsumieren können. Als Beispiel der Romangattung Theme Park Fiction (vgl. Rubinson 2009) stellt England, England mit der »Disneyfizierung« und »Verräumlichung« nicht nur grundsätzliche Aspekte einer kulturellen Verschiebung zur Schau, sondern ist obendrein auch noch ein Kom-
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mentar zu einer ausdrücklich britischen Debatte. Im Zuge Thatchers Liberalisierungskurses ab Mitte der 80er Jahre veränderten sich auch Bild und Rolle der nationalen Geschichte: Thatcher’s attention to the role of English Heritage as a discrete industry, especially, underlines her understanding that the fusing of imagination and architecture plays a central role in shaping national identity. The result was a highly politicized spatialization of national identity, as various buildings and locations were listed as historically significant and thus pivotal to rewriting the differences between British identity and English identity, and how such identities are materially represented through space. (Duff 2014: 5) Das »Theme-Parking«, das Kim Duff hier beschreibt, betrifft vornehmlich den urbanen Raum. Durch die Heritage-Kampagne konnte die Regierung um Thatcher aktiv teilhaben an einem re-writing des nationalen Erbes und damit ein Großbritannien nach ihrem Geschmack entwerfen: liberal, englisch, viktorianisch. Diese ›Fiktion‹ im Raum war zum einen darauf ausgerichtet, ein bestimmtes Bild von Großbritanniens Vergangenheit zu zeichnen und damit die eigene, nationale Identität gesichert zu wissen. Zum anderen hatte sie laut Duff auch eine weniger patriotische Motivation: »Further, such fiction was concomitant with a rewriting of national identity that paved the way for a constructed nostalgia to replace other versions of historical reality, as less marketable moments of English history were substituted with something much more palatable for tourist dollars.« (Ebd.) Heritage-Industrie und Kapitalismus, eine stereotype, leicht zu vermarktende Geschichte – die Verbindungen zwischen Duffs Beschreibung des Thatcher-Erbes und England, England sind nicht zu übersehen. Duff lässt keinen Zweifel daran, dass es wohlhabende Eliten sind, die von Thatchers Liberalisierung profitieren (vgl. ebd.). Dies trifft natürlich auch auf Barnesʼ Roman zu: Es ist mit Sir Jack ein milliardenschwerer Tycoon, der England am Ende zu einem »pure market state« (EE 187) umdefiniert. Sowohl in Thatchers England als auch in Barnesʼ England, England offenbaren Debatten über die nationale Identität ein tieferliegendes gesellschaftliches Ungleichgewicht. Der Roman stellt nicht nur die Frage: Was ist englisch? sondern
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auch: Wer gibt die Antwort? Auf die erste Frage hat er erwartungsgemäß keine ›ontologische‹ Antwort. Bei Barnesʼ Feuerwerk der Kopien und Simulacra gerät leicht aus dem Blick, dass der Roman auf die zweite Frage nach Gerechtigkeit und demokratischer Teilhabe hingegen eine sehr eindeutige Position bezieht. Duff hierzu: »The outcome […] is that those with wealth and access to the spaces of English history can participate in Englishness while the others remain in the margins.« (Duff 2014: 48) Es ist schlussendlich das Pitco-Unternehmen allein, das die Deutungshoheit über die »Räume der englischen Geschichte« hält. Alle anderen, die Bewohner Anglias und die Besucher gleichermaßen, können diese Geschichte nur noch konsumieren. Der Themenpark als »spektakulärer Raum«, der vermeintlich nur Konsum und Unterhaltung verspricht, verschleiert diese hegemoniale Heritage-Politik des Konzerns nicht zuletzt durch eine einseitige »form of communication, to which one side, the audience, can never reply […]« (Gray zit. in Walonen 2014: 260). Der Themenpark erscheint vor diesem Hintergrund als ideale Raumordnung, um ein neoliberales Profitdenken unter dem Deckmantel der ›Kulturpflege‹ zu verfolgen.
7.3.2.
Der Themenpark als Symptom einer kulturellen Krise
Mit einem England, das sich selbst und seine Geschichte einem neoliberalen Profitdenken ausliefert, zeichnet Barnes das Bild einer Gesellschaft in der Krise. Ebenso wie für Martha die Landwirtschaftsausstellung nicht nur eine idealisierte Kindheitserinnerung, sondern eine Antwort auf eine Identitätskrise darstellt, ist England, England das Symptom einer Gesellschaft, die die Bindung zu sich selbst verloren hat. So findet Sir Jack zu Beginn des Projekts ein wenig schmeichelhaftes Bild für sein Vaterland: »So England comes to me, and what do I say to her? I say, ›Listen, baby, face facts. We’re in the third millennium and your tits have dropped. The solution is not a push-up bra‹.« (EE 38) Barnes projiziert das Bild eines schwachen, nicht mehr zeitgemäßen Englands in eine nicht näher bestimmte Zukunft (»the third millenium«), in der das vereinte Königreich zu zerbrechen droht. So sieht ein Berater Sir Jacks die Gefahr, dass Schottland und Wales als unabhängige
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Staaten der EU beitreten könnten. Ein vereintes Irland mit der Hauptstadt Dublin betrachtet er gar als »historical inevitability« (EE 39). Neben diesen Devolutionsprozessen gibt es weitere Gründe, die dem traditionellen englischen Nationalverständnis in den 1990er Jahren zusetzen. Während eine neoliberale, zunehmend digitale Globalisierung die ganze Welt erfasst, stellt in Großbritannien im Speziellen die Zuwanderung aus den früheren Kolonien die traditionelle Idee von Englishness infrage (vgl. Henke 2001: 270). In London und anderen Metropolen entstehen multikulturelle Gesellschaften, die mit einer überlieferten, ausdrücklich englischen Tradition wenig anfangen können. Diese Punkte spielen eine Rolle, sind aber nicht allein dafür verantwortlich, dass das alte England in Barnesʼ Farce dem Angriff Pitcos hilflos ausgeliefert ist. Barnes skizziert darüber hinaus eine allgemeine postmoderne Orientierungslosigkeit, die sich als kulturelles default setting des gesamten Romans erweist. Dies äußert sich zunächst in der Schwäche traditioneller Institutionen und sozialer Kontrollmechanismen, die der Kolonisierung der Isle of Wight und der englischen Geschichte nicht entgegentreten können. So reichen einige juristische Taschenspielertricks, um den Rechtsstaat zu düpieren und die Insel freizukaufen (vgl. EE 129). Auch die englische Krone, die man als Hort der Tradition und Bewahrung vermuten könnte, lässt sich allzu leicht überreden, auf das Miniatur-England umzusiedeln (vgl. EE 130). Nicht einmal der Historiker Dr. Max hat England, England Substanzielles entgegenzusetzen; er kann gegen das Projekt allenfalls persönliche, ästhetische Vorbehalte geltend machen: »To any creature of taste and discernment, it’s a monstrosity planned and conceived […] by another monstrosity. But as an historian, I have to say that I barely object.« (EE 136, Herv. S.B.) Schließlich gehört in diese Liste auch Martha, die sich mit ihren ganz persönlichen Zweifeln und Identitätsproblemen dem Projekt zunächst anschließt und sich damit immer weiter von der Echtheit entfernt, die sie sucht. Rechtssystem, Monarchie, Intellektuelle (Dr. Max) und, personifiziert von Martha, die Bevölkerung – in der Gesamtheit entsteht das Bild einer ›post-everthing-Gesellschaft‹, die sich ihrer Werte nicht mehr sicher ist.
7. England, England
Barnesʼ kraftlose Gesellschaft gibt die »relative Weltgeschlossenheit« (Berger/Luckmann 1969: 54-55) auf, die eine soziale Gruppe wie eine Nation nach Berger und Luckmann auszeichnet. Sie beruht auf einer durch die Gruppe legitimierten Ordnung und vertritt gemeinsame Grundwerte, wie sie etwa in einer Verfassung niedergeschrieben sind. Die so erreichte Stabilität schützt eine institutionalisierte Wirklichkeit vor dem Einbruch alternativer, rivalisierender Ordnungen. In Barnesʼ dystopischem Szenario sind es diese Mechanismen der Legitimierung und Ausschließung, die nicht mehr funktionieren. Die Menschen haben sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene eine postmoderne Offenheit internalisiert, die ihnen scheinbar jede Handlungsmacht nimmt und sie letztlich hilf- und orientierungslos dahintreiben lässt. Die Gesellschaft, in der Sir Jack die englische Geschichte kapert, ist genau jener »beguiling relativity« anheimgefallen, vor der Barnes in A History of the World in 10 12 Chapters so eindringlich warnt: »[…] we value one liar’s version as much as another liar’s, we throw up our hands at the puzzle of it all, we admit that the victor has the right not just to the spoils but also to the truth.« (AH 246) Die großen, identitätsstiftenden Erzählungen, die für Fredric Jameson noch Möglichkeiten jenseits des Kapitalismus aufzeigen (vgl. Jameson 1984: xix), haben in England, England ausgedient; der Kapitalismus erscheint vielmehr als einzig verbliebener Horizont. Barnes, so kann zusammengefasst werden, inszeniert das dystopische Szenario einer kulturellen und politischen Brache, in der der willenlose Ausverkauf der alten Ordnung eine ganz neue Wirklichkeit im Zeichen des Profits erst möglich macht.
7.3.3.
Von England zu England, England: Der Themenpark als neuer Raum
Im Zeichen dieser kulturellen Krise sind Sir Jack und sein Team diejenigen, die sich in einer Welt ohne große, identitätsstiftende Erzählungen am schnellsten einrichten. Während das alte England ohne moralischen und ideologischen Kompass »in beguiling relativity« dahintreibt, haben sie die Lektion der Tiefenlosigkeit und Willkür willig gelernt. Der Themenpark England, England nutzt die Krise aus, indem
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er nicht nur die Bürde einer verbindenden und verbindlichen Wirklichkeit abwirft, sondern das Reale gleich neu definiert (vgl. Henke 2001: 276). Seinen parodistischen Ausdruck findet die krude postmoderne Philosophie des Projekts zu Beginn des zweiten Teils in einem Vortrag eines eigens eingeflogenen »französischen Intellektuellen«. Der moderne Mensch lebe in einer Welt der Kopien, in der das Original hinter seinen mannigfachen Reproduktionen und Repräsentationen verschwunden sei: »Once there was only the world, directly lived. Now there is the representation – let me fracture that word, re-presentation – of the world.« (EE 57) Mit den Worten, die er dem Intellektuellen in den Mund legt, verschärft Barnes Marthas Gedächtnis-Reflektionen zu Beginn des ersten Teils und bestimmt den überspitzten Ton, der im zweiten Teil des Romans vorherrscht. Kreisen Marthas Gedanken um den fehlenden, authentischen Kontakt mit der Welt, rückt Barnes England, England weltanschaulich in die Nähe postmoderner Theorien der Kopie ohne Original, des Simulakrums und schließlich der Simulation.5 England, England verabschiedet die »sentimentale Idee« des Originals und feiert stattdessen die Wahrheit des Replikats, mit dem man nach Belieben verfahren könne (vgl. EE 57).6 Nachdem die großen Erzählungen abgewickelt sind, so scheint es, ist man nur noch der eigenen Wahrheit verpflichtet. Pitcos Wahrheit ist dabei der Profit, das ›nationale Erbe‹ nur eine beliebige Verfügungsmasse: Was profitabel ist, findet Berücksichtigung im Themenpark, alles andere wird aus der Geschichte getilgt.7 Entgegen Sir Jacks Beteuerungen löst der Themenpark Englands Identitätskrise aber nicht, im Gegenteil: Durch die ausschließliche Konzentration auf Gewinnmaximierung treibt er sie auf die Spitze. 5 6
7
Siehe z.B. Jászay (2014: 17). Sir Jack ist allerdings nicht zufrieden mit dem Vortrag des »französischen Intellektuellen« – für ihn bleibt sein Projekt nicht auf der Stufe des Replikats, sondern wird zu einem neuen Original eigenen Rechts (vgl. EE 63). Um herauszufinden, was die die zukünftigen Besucher mit England verbinden, lässt Sir Jack eine Liste der »Fifty Quintessences of Englishness« kompilieren, um anschließend die unliebsamen Items zu streichen (vgl. EE 89). Zur Bedeutung dieser und weiterer Listen bei der Definition von Englishness in England, England siehe Mergenthal (2003: 110-112).
7. England, England
Für die Erzeugung dieser von jeder Realität entkoppelten, hyperrealen Welt spielt der reale, physische Raum der Insel eine entscheidende Rolle. Pitco kann sich beim Gründungsakt weder auf ein Volk, eine Idee, oder einen Gott berufen, weil der Konzern diese Konzepte durch die Glorifizierung des Replikats oder neuen Originals selbst disqualifiziert. Dr. Max, der »official historian« des Projekts, versorgt die Leser des Romans später mit dem passenden Metakommentar zu kulturellen Gründungsmythen und der Unmöglichkeit eines »Moments der Reinheit«. Als Martha ihn fragt, ob er das Projekt nicht »bogus«, also unecht finde, antwortet er: Bo-gus implies, to my mind, an authenticity which is being betrayed. But is this, I ask myself, the case in the present instance? Is not the very notion of the authentic somehow, in its own way, bogus? […] Is it not the case that when we consider such lauded and indeed fetichized concepts as, oh, I throw out a few at random, Athenian democracy, Palladian architecture, […] there is no authentic moment of beginning, of purity, however hard their devotees pretend. We may choose to freeze a moment and say that it all »began« then, but as an historian I have to tell you that such labelling is intellectually indefensible. What we are looking at is almost always a replica […] of something earlier. (EE 135) Diese Wortmeldung des Historikers zur Unmöglichkeit eines Anfangs lässt einen kurzen Seitenblick auf die moralische Legitimität des Projekts zu. Maxʼ Argumentation basiert auf einer Kultur der Differenz, die auf ein Negatives, Abwesendes fixiert bleibt. Er offenbart einen kruden Relativismus, wenn er das Projekt ex negativo gutheißt: Wenn in letzter Instanz alles vermeintlich Originale – die Athener Demokratie, das alte England – unecht (»bogus«) ist, kann auch Sir Jacks Willkür nicht verurteilt werden. Er rechtfertigt seine Teilnahme am Projekt als Verfechter der Unwahrheit des Originals, der den absoluten Ansprüchen einer originalen Wirklichkeit eine Absage erteilt. Maxʼ zynische Argumentation blendet allerdings aus, dass England, England sich anschickt, immer mehr zu einem absoluten Original eigenen Rechts zu werden. Wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, zementiert der Staat England,
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England seine Erzählung und lässt durch seine totalitäre Ordnung keinen Platz für andere Narrative – beispielsweise die des alten England oder die der früheren Bewohner der Isle of Wight. Maxʼ Relativismus ist in Anbetracht der politischen Kräfteverhältnisse somit nicht überzeugend. Aus seiner philosophischen Position heraus ist er nicht fähig, über Recht und Unrecht, über gut oder böse zu entscheiden. Wenn, wie Dr. Max argumentiert, alles – Nation, Individuum, Geschichte – im Kern unecht ist, muss sich auch England, England jederzeit bedroht sehen, von einer anderen, ebenso willkürlichen Ordnung verdrängt zu werden. Der rücksichtslose Nihilismus, der England, England groß gemacht hat, könnte mit anderen Worten auch den Untergang des Themenparks bedeuten. Um dem zuvorzukommen, schafft Sir Jack auf der Isle of Wight Fakten. Die Wahl fällt nicht nur auf die Insel im Ärmelkanal, weil sich ein England im Miniaturformat dort gut simulieren lässt, sondern auch, weil die geographischen Begebenheiten die insulare Existenz Englands (bzw. Großbritanniens) in Potenz wiederholen und damit eine klare Grenzziehung möglich machen. Das jeder Essenz beraubte England, England begründet sein Da-Sein somit durch seine physische Ausdehnung im Raum. Es bleibt für den Themenpark nichts anderes übrig, als sich zunächst über das bloße materielle, räumliche Sein zu definieren – ganz egal, welche belanglosen Inhalte später auf die Oberfläche projiziert werden. Die neue Identität England, Englands speist sich somit nicht aus ihrer Geschichte oder einer Idee, sondern lässt sich einzig in einer Quadratkilometerzahl ermessen. Vor dem Hintergrund der Bedeutung der räumlich-physischen Integrität dieser Ordnung überrascht es nicht, dass die Trennung von einem Außen durch gut geschützte territoriale Grenzen gewährleistet werden soll. So wird der Helikopter einer unliebsamen Journalistin vom König persönlich abgeschossen (vgl. EE 167), weil sie sich an der Grenze mit einem Banner über ihn lustig macht. Obwohl der König an Bord eines Jagdflugzeugs auf eigene Faust handelt, decken ihn die Verantwortlichen der Insel: »Sir Jack’s office put out a statement confirming that the plane’s wreckage had sunk inside the Island’s territorial waters, and that the graves would be respected in perpetuity.« (EE
7. England, England
173) Auch am Boden sind die Grenzen der Insel wenig durchlässig. In raumtheoretischen Modellen spielen periphere Lagen als Begegnungsorte mit einem Außen – und damit einem Anderen – eine besondere Rolle. In Jurij Lotmans Theorie der Semiosphäre beispielsweise sind es die Ränder, wo ein ständiger Austausch zwischen Innen und Außen, wo Bewegung und Erneuerung stattfindet (vgl. Koschorke 2012b: 30). Nicht so in der Inselwelt England, Englands: Hier verschärft sich an der Peripherie der Abschottungsdruck und die Grenzmentalität. Das periphere Gebiet entlang der Grenzen ist alles andere als eine ›heiße Zone‹ im Sinne Lotmans (vgl. ebd.). Zum einen ist ein direkter Kontakt zum Außen aufgrund der Insellage ohnehin nur schwer möglich, zum anderen ist die hermetische Abschließung politisch gewollt. ›Privater‹ Kontakt zwischen der Innen- und Außenwelt soll vermieden werden, wie die Schwarzmarktgeschäfte am Rande der Insel verdeutlichen: Als Schmuggler Waren wie Alkohol und Pornohefte illegal auf die Insel bringen, werden sie von Pitco konsequent bestraft (vgl. EE 204). Die räumlich-physische und weltanschauliche Abschottung wird durch die narrative Perspektive noch verstärkt. Der Blick des Erzählers im zweiten Teil des Romans bleibt dauerhaft auf die Insel fokussiert. So erfährt der Leser zwar von politischen Entscheidungen der Europäischen Union oder liest einen Erfahrungsbericht einer inkognito reisenden Journalistin, dies geschieht aber immer aus der ›Inselperspektive‹. Mit Ausnahme der Passagen zu Martha finden die Leser hier auch kaum Stellen, die etwa größere Zusammenhänge beleuchten oder andere Stimmen zu Wort kommen lassen. In den anderen beiden Teilen des Romans, im ›Außen‹, wird die Offenheit der Welten hingegen durch eine multiperspektivische, ja zweifelnde Erzählweise unterstützt, Wahrheiten und Überzeugungen werden hinterfragt und verworfen. So wird Marthas begrenzte Kindervorstellung dadurch entgrenzt, dass ihr Vater nicht nur ihr geliebtes Jigsaw-Puzzle vergisst, sondern ihre Erinnerung mit einem Verweis auf seinen Sohn aus zweiter Ehe verallgemeinert und relativiert: »You did jigsaws? I suppose all kids love them. Richard did.« (EE 26, Herv. S.B.) Marthas wichtigste Erinnerung wird hier zu einer kindlichen Lappalie degradiert, weil ihr Vater der kindlichen Sicht Marthas die vermeintlich besser in-
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formierte Perspektive des Erwachsenen gegenüberstellt. An anderer Stelle begleiten die Leser Martha bei einem Perspektivenwechsel, der ihre Sicht der Dinge hin zu einer anderen Meinung öffnet. Als sie sich mit der Spanierin Cristina über Francis Drake unterhält, wird ihre unkritische nationale Sichtweise auf den »englischen Helden und Gentleman« durch die spanische Perspektive, aus der Drake als Pirat gilt, relativiert: »Later, she looked up Drake in a British encyclopedia, and while the word ›pirate‹ never appeared, the words ›privateer‹ and ›plunder‹ frequently did, and she could quite see that one person’s plundering privateer might be another person’s pirate […].« (EE 7) Im dritten und letzten Teil des Romans schließlich leitet der folgende Satz einen Perspektivenwechsel von Anglia nach England, England ein: »Martha’s eye, and then her mind, followed a skimming brimstone southwards, across downland, over water, and past chalky cliffs to another burial ground […] the resting-place of the first Baron Pitman of Fortuibus.« (EE 256) Marthas gedankliche Reise zunächst über Land, dann über das Meer hinweg ins benachbarte England, England wirkt wie ein filmischer Panoramaschwenk und zeigt, dass sich der Erzähler im letzten Teil nicht zu einer rigorosen Fokussierung auf Anglia verpflichtet. Die räumliche, durch die erzählerische Perspektive noch verstärkte Abschottung sowie die prompte Reaktion auf den Schwarzhandel sind deutliche Indizien, dass die Inselwelt England, Englands den Kontakt mit dem Außen und damit eine semiotische Erneuerung an den Rändern regelrecht fürchtet. Waren, Informationen oder, wie im Fall der Journalistin, Meinungen sind eine potenzielle Gefahr für den reibungslosen Ablauf im Innern der Insel, weil unkontrollierbare Zugaben von außen Pitcos Fiktion in Frage stellen. Die bloße Tatsache, dass geschmuggelt wird, spricht hingegen für eine Sehnsucht nach einer Zone des Austauschs und der Innovation. Die Schmuggler sind am Rand der Semiosphäre beheimatet und können – in Lotmans Begriffen – als »Experten für Mehrdeutigkeit und diffuse Identitäten« (Koschorke 2012b: 29) gelten. Genau dies, Mehrdeutigkeit und Diffusion, soll in der glattgebügelten, eindimensionalen Welt England, Englands vermieden werden. Die Meinungen und Waren wie Alkohol oder Pornohefte, die die
7. England, England
Schmuggler auf die Insel bringen, bekommen vor diesem Hintergrund eine neue Relevanz: Sie verkörpern eine pluralistische, nicht homogenisierte Realität, die nicht nur ein in sich geschlossenes, totalitäres System, sondern auch die fein eingestellte Fiktion stört. Wie für Marthas erinnerte Welten erweist sich das Reale damit auch für die Welt England, Englands als das nicht vollständig Kontrollierbare, das das eigene Narrativ bedroht: Wie die Agricultural Show schließt England, England das Chaos aus und kann dadurch eigene Regeln setzen. Die Macher des Themenparks sind es nun, die die Rolle der »Männer in weißen Mänteln« einnehmen – mit dem Unterschied, dass sie nicht über Dahlien und Karotten, sondern über die Wirklichkeit auf der Insel und damit später über einen souveränen Nationalstaat bestimmen.
7.3.4.
Die Entwicklung vom Themenpark zum Nationalstaat als Prozess der Institutionalisierung
Die neue Welt England, Englands ist in Barnesʼ Farce so erfolgreich, dass sie sich bald schon anschickt, das alte England zu ersetzen und selbst zum Nationalstaat zu werden. Spätestens mit der Beschreibung dieser Entwicklung wird England, England dabei zu dem politischen Roman, als der ihn der Autor selbst sieht.8 Die Prozesse, die den Themenpark zum souveränen Staat machen, stellt die Erzählung im Schnellvorlauf dar. Durch einen juristischen Winkelzug wird der Prozess der Staatsgründung ins Rollen gebracht: Weil der Kauf der Insel durch die englische Krone im Jahr 1293 möglicherweise nicht rechtens gewesen und der Vertrag damit ungültig sei, könne die britische Krone keine Hoheitsansprüche geltend machen (vgl. EE 129). Die Insel wird durch diesen revisionistischen Handgriff aus dem Vereinten Königreich gelöst (vgl. EE 127) und zu einem souveränen Staat, das »Island Council« wird in diesem Zuge zum »Island Parliament«. Sir Jack und sein Team bedienen sich dabei alter Vorbehalte gegenüber der britischen Regierung, 8
Julian Barnes in einem Interview: »I think England, England is farcical rather than satirical. […] And I would also call the book a political novel rather than a satire.« (Freiburg 2009: 47)
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um die Inselbewohner von der Unabhängigkeit zu überzeugen: »It was, surely, the case that the Island’s requests for help from Westminster had always been grudgingly received, that levels of unemployment had traditionally been high. Why then should Westminster and the taxman be the beneficiaries of the present and forthcoming upturn?« (EE 128) Die Unabhängigkeit, die Pitco für die Insel an den internationalen Gerichtshöfen erstreitet, dient entgegen aller Beteuerungen nicht dem Wohle der Inselbevölkerung. Sie kommt im Roman kaum zu Wort. Die Fragen nach Mitbestimmung und demokratischer Teilhabe, die politische Transitionsprozesse gewöhnlich begleiten,9 fallen mit der Ausnahme einiger kritischer Nachfragen (vgl. EE 130) unter den Tisch. Es besteht nie ein Zweifel daran, dass Sir Jacks Firma trotz der formalen Unabhängigkeit der Insel alle Zügel in der Hand hält. Pitco tritt dabei als aggressive Wirtschaftsmacht auf, die die ›native‹ Bevölkerung nach Belieben manipuliert. Zwar lässt Barnes die Handlung seiner Farce auf der Isle of Wight stattfinden, die Parallelen zu den neokolonialen Praktiken großer Konzerne in Afrika oder Südamerika sind aber nicht zu übersehen. Hier wie dort sind es finanzkräftige Unternehmen, die auf der Suche nach Rohstoffen oder Landbesitz die einheimische Bevölkerung und die Natur skrupellos ausnutzen. Im Roman lässt sich der Konzern die Macht durch einen weiteren Trick sogar formal zusichern: […] there might be some ceremonial title not inappropriate to whatever constitution they decided to frame. […] And as long as everyone understood that Sir Jack’s powers, however theoretically enunciated in slopey script on ivory vellum, would never actually be invoked. Of course, he would provide his own carriage. And uniform. (EE 132) Diese Passage markiert den Übergang von einer wirtschaftlichen zu einer politischen Macht, denn natürlich dauert es nicht lange, bis Sir Jack sich gezwungen sieht, die Kontrolle auf der Insel per Notstandsermächtigung zu übernehmen. Indem Barnesʼ Roman entgegen aller Regeln und Wahrscheinlichkeiten einen wirtschaftlichen Akteur mit wirt9
Siehe in diesem Zusammenhang Abschnitt 8.2 zu The Porcupine, wo diese Fragen in den Mittelpunkt gerückt werden.
7. England, England
schaftlichen Interessen die Staatsmacht an sich reißen lässt, eröffnet er eine ungewöhnliche Perspektive auf die Prozesse der Legitimation und Konsolidierung der Macht. Pitco, die Regierungsmacht in spe, lehnt staatliche und demokratische Strukturen zunächst rundheraus ab. Sir Jack und seine Mitarbeiter sind überzeugt, dass ein transnationales Unternehmen besser für die Menschen sorgen könne als das Auslaufmodell des »old-style nation state« (EE 131). Dies wird in der obigen Passage im Halbsatz zur Verfassung deutlich. Die Schlüsselbegriffe sind hier »some«, »whatever« und »frame«: Das Grunddokument des gesellschaftlichen Zusammenlebens scheint nicht viel mehr zu sein als eine beliebige Reihung von Signifikanten, die von anderen Staaten entlehnt werden kann. Pitco zeigt hier neben einer offenen Ablehnung demokratischer Grundrechte auch eine Geringschätzung der politisch-symbolischen Bedeutung, die die Verfassung als fundierendes Dokument einer Gemeinschaft trägt. Sie markiert Fundament und Anfang einer neuen gemeinschaftlichen Ordnung und dient nicht zuletzt dazu, eine Zäsur zu setzen und den Blick in die Zukunft zu richten. Die Verantwortlichen von England, England indes verzichten auf eine eigene Verfassung und damit eine eigene Anfangserzählung, um das Alte hinter sich zu lassen. Dies erscheint in Anbetracht der Philosophie des Replikats, die dem ganzen Projekt zugrunde liegt, nur folgerichtig: Dieser Neubeginn kann gerade nicht imGeist der Innovation geschehen und somit keinen Moment der Reinheit proklamieren (vgl. Assmann 2013: 154,156). Pitcos Desinteresse an einer Verfassung macht nur zu deutlich, dass die Staatsform, die dem Konzern vorschwebt, sich eher an vormodernen, feudalen Mustern orientiert. Mit »der geschwungenen Schrift auf Elfenbeinpergament«, der Kutsche und der Uniform nimmt Sir Jack eine Reihe von Setzungen vor, die dies auch auf einer symbolischen Ebene zum Ausdruck bringen. Symbolische Setzungen dieser Art dienen dazu, eine Ordnung – insbesondere eine in statu nascendi – zu autorisieren. Der Monarch, so Albrecht Koschorke, wird erst im »Spiegel seiner Repräsentation« (Koschorke 2002: 81) vollendet. Die politische Macht ist mit anderen Worten erst komplett, wenn sie von der Macht der Zeichen sekundiert und so für die Beherrschten oder Repräsentier-
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ten sichtbar wird. Die symbolische Machtaffirmation ist damit nicht nur bloßes Zierwerk, sondern hat durch ihren performativen Charakter welterzeugende Kraft. Es ist genau diese Rückkopplung der symbolischen Repräsentation an die politische Macht, die durch Sir Jacks grob überzeichnete Machtattribute in den Mittelpunkt gerückt und daraufhin befragt wird, ob sie ihre soziale Rolle in der Herrscher-Beherrschten-Dialektik überhaupt noch erfüllt, ob das groteske Aussehen Sir Jacks von den Empfängern noch als Ansehen ratifiziert wird (vgl. ebd.: 79). Der repräsentative Teil der Macht, das macht der Roman deutlich, ist völlig willkürlich und austauschbar. So erfindet Sir Jack etwa einen Stammbaum und häuft bis zu seinem Tod eine irrwitzige Reihung an gekauften und imaginären Adelstiteln an. Zu Beginn koinzidiert Sir Jacks symbolische Macht noch mit der politischen, schließlich entspricht die Inszenierung durchaus auch seiner großen, absolutistischen Machtfülle. Die Ehrfurcht, die ihm in seinem Mitarbeiterstab entgegengebracht wird, lässt darauf schließen, dass Sir Jack tatsächlich ein großes Ansehen genießt – wegen oder trotz seines Aussehens. Im Laufe des Romans wird jedoch deutlich, dass Macht und Repräsentation immer mehr entkoppelt werden: So verliert Sir Jack seinen CEO-Posten und damit jede Entscheidungsgewalt an Martha. Die Attribute der Macht hingegen, das Aussehen, darf er behalten. Er wird politisch entkleidet, ohne das materielle und symbolische Kleid abzustreifen. Neben dem echten britischen Monarchen, der auf der Insel ein Miniaturformat des Buckingham Palace bezogen hat, wird Sir Jack in England, England damit zum zweiten König ohne Land. Eine ähnliche Entfremdung von Symbolik und Macht lässt sich im Hinblick auf Dr. Max beobachten, dem »official historian« des Projekts. Mit dem Historiker stellt Sir Jack zu Beginn des Projekts einen Fachkundigen ein, der historische Gutachten liefern, Personenbefragungen durchführen, vor allem aber seinen wissenschaftlichen Segen zum Projekt geben soll. Dr. Maxʼ Mitwirken als »Legitimationsexperte« (Koschorke 2012a: 157) gibt dem Projekt in den Augen der Welt einen seriösen, wissenschaftlichen Anstrich und soll dem Eindruck der Willkür im Umgang mit dem englischen Erbe entgegentreten. Tatsächlich
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wird aber seine historische Expertise bald nicht mehr gebraucht. Ähnlich wie Sir Jack verbleibt jedoch auch er auf der Insel und behält die Insignien der – in seinem Fall – intellektuellen Macht. Ohne dass Max Notiz davon nimmt, verkürzt sich seine Rolle auf die Oberfläche des schrulligen, aber TV-erfahrenen (vgl. EE 71) und damit besonders sichtbaren Professors. Die Fiktion, die er mit aufgebaut hat, absorbiert ihn; er wird vom Akteur zum actor. Der Titel des »official historian« ist damit eine symbolische Komponente, die – ebenso wie Sir Jacks absurde Ansammlung von Machtattributen – ihre Verweiskraft eingebüßt hat. Die Entkopplung von Macht und symbolischer Repräsentation führt dazu, dass im »pure market state« (EE 187) England, England die repräsentative Seite der Macht ein beliebiger Teil der hyperrealen Wirklichkeit der totalen Bühne wird. Die Macht selbst, die nach Koschorkes Beschreibung durch die symbolische Doppelung hervortritt, wird dadurch gerade nicht sichtbar. Pitco kann so im Verborgenen eine hegemoniale Agenda verfolgen und nach und nach einen totalitären Staat aufbauen, der sich der kollektiven Dialektik der Einräumung und Begrenzung von Macht völlig entzieht: Everything on the Island worked, because complications were not allowed to arise. […] There was no government – only a disenfranchised Governor – and therefore no elections and politicians. There were no lawyers except Pitco lawyers. There were no economists except Pitco economists. There was no history except Pitco history. Who would have guessed, back there in Pitman House (I), […] what they would stumble into creating: a locus of uncluttered supply and demand, somewhere to gladden the heart of Adam Smith. Wealth was created in a peaceable kingdom: what more could anyone want, be they philosopher or citizen? (EE 207) Martha, deren Gedanken hier in erlebter Rede wiedergegeben werden, verschwendet keinen Gedanken an die totalitären Strukturen, die den reibungslosen Ablauf auf der Insel erst möglich machen. Wie an dieser und anderen Stellen betont wird, hat England, England im Zuge der Prozesse der Institutionalisierung eine eigene Dynamik entwickelt
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(vgl. EE 198, 207, 257), die sich aus dem Prinzip der endlosen Replikation einerseits und einer kompromisslosen Profitmaximierungsstrategie andererseits speist. Dass die Insel tatsächlich zu einem autonomen System geworden ist, zeigt sich im Zusammenhang mit Sir Jacks Tod. Nachdem er Martha abermals von der Spitze des Konzerns verdrängen konnte, bestimmt er bis zuletzt über die Geschicke England, Englands. In seiner repräsentativen Funktion als clownesker Adliger wird er bald ersetzt, nicht aber in seiner exekutiven Funktion als CEO. Dass das Detail der Nachfolge auf dem Chefsessel nicht zur Sprache kommt, ist bezeichnend für die Institutionalisierung eines Raums, der sich selbst erhält und reproduziert. Ist eine solche Welt tatsächlich, wie Marthas rhetorische Frage suggeriert, der Idealzustand für den Philosophen und den Bürger? Dieser Frage wendet sich der folgende Abschnitt zu. Der Roman, so möchte ich zeigen, kontrastiert das Bild der perfekten Fiktion mit einer Form des Realen, dem niemand entkommen kann – weder der Philosoph noch der Bürger.
7.3.5.
But Time had its revenge: Die Rückkehr des Realen
Dass der Themenpark in seiner Entwicklung hin zum Nationalstaat keine Verwendung für eine Anfangserzählung der Originalität und Reinheit hat, entspricht nicht nur dem Prinzip der Replikation, sondern erlaubt auch Einblicke in die zeitliche Ontologie, die England, England entwirft. Die Setzungen des Anfangs und des Endes – für den Historiker Dr. Max willkürliche Akte der Identitätsstiftung – bedingen eine zeitlich-historische Dimension, von der sich England, England verabschiedet. Aleida Assmann beschreibt in ihrem Buch Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, wie eine Anfangserzählung Neues schafft, indem Vergangenes abgeschnitten wird. Erst nachdem ein neuer Beginn, eine Nulllinie gesetzt ist, kann der Blick in die Zukunft gehen (vgl. Assmann 2013: 154-155). Für einen effektiven Neuanfang muss man also zumindest auf eine rudimentäre Zeitachse von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verweisen können. Der Vertrag
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mit eben dieser etablierten zeitlichen Ontologie wird in England, England aufgekündet. Zu Beginn des Projekts fasst Sir Jack die Ausrichtung des Themenparks zusammen: »We want here, we want now, we want the Island, but we also want magic.« (EE 123, Herv. i.O.) Der Unternehmer bringt mit »now«, »here«, »magic« drei Begriffe zusammen, die die Programmatik der Insel wesentlich bestimmen: eine Fokussierung auf die Gegenwart, die räumliche Dimension und eine ›Verzauberung‹ im Sinne einer perfekten Inszenierung. Besonders die ersten beiden Schlagworte sind hier interessant. Pitco schafft ein absolutes now, indem verschiedenste geschichtliche Epochen in der Gleichzeitigkeit der Insel kombiniert werden. Den satirischen Höhenpunkt erreicht das Nebeneinander und Durcheinander der Epochen mit einer »one-off crossepoch extravaganza« (EE 234): Die Höhle von Robin Hood und seiner Bande wird von einem Spezialkommando der SAS, einer modernen militärischen Eliteeinheit, als Teil einer Bestrafungsaktion eingenommen. Kim Duff sieht in dieser geschichtlichen Kreuzung völlig zurecht »[…] the complete erasure of the significance of the chronology of English history« (Duff 2014: 49). Barnes platziert seinen Roman hier in einem Diskurs um das Ende der Geschichte und des Posthistoire: Die vergangenen Epochen sind »in ewiger Gleichzeitigkeit« (Korte 2002: 294) zum Spektakel für die Gegenwart geworden, wie Barbara Korte schreibt. Eine ›echte‹, identitätsstiftende Vergangenheit hat England, England dabei ebenso wenig wie den Maßstab einer zeitlichen Chronologie. Neben einer Vergangenheit fehlt auch die Perspektive auf die Zukunft. Die Insel kann sich nicht entwickeln, weil für die täglich wechselnden Besucher jeden Morgen das immer gleiche Programm gestartet und jeden Abend auf null zurückgespult wird. Diese Verdichtung der Zeit auf die Gegenwart verstellt nicht nur den Blick auf eine Zukunft, die aktiv gestaltet werden kann, sondern nimmt den Menschen die Orientierung, die die zeitliche Ordnung bietet. So kann ein Blick in die Vergangenheit Aufschluss über die Entwicklung hin zur Gegenwart geben, Kritik und Bewertung ermöglichen und das eigene Dasein mit Bedeutung füllen. Im Lichte dieses Mangels, der vom Wegfall der historischen Dimension verursacht wird, kommt mit dem »here« das zweite Schlagwort ins Spiel. Es bezeichnet eine Räumlichkeit, die die verlorene Ordnung
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der Chronologie kompensieren soll. England, England setzt Jamesons berühmte These von der Verräumlichung des Zeitlichen (vgl. Jameson 1991: 156) wörtlich um. Verschiedenste historische Epochen sind weniger nach einem zeitlich-historischen, als nach einem räumlichen Prinzip angeordnet; die Geschichte auf der Insel wird nicht in Jahrzehnten und Jahrhunderten, sondern in Meilen und Metern gemessen. Auch die identitätsstiftende Erzählung des Anfangs kann nicht in eine zeitliche Chronologie eingeschrieben werden, weil diese schlicht nicht mehr vorhanden ist. So werden die zeitlichen Demarkationslinien von Ursprung und Ende auf eine räumliche Ebene transponiert – in Pitcos Geschichte gibt es keinen Beginn (und kein Ende), sondern lediglich ein homogenisiertes Innen und ein ›anderes‹ Außen. Hohe Besucherfluktuation, arrangierte Settings mit wechselnden Schauspielern, eine entleerte Geschichte und eine kulturelle Zeitlichkeit, die keine Entwicklung zulässt – England, England macht den Themenpark zum Nationalstaat, die Fiktion zur Realität. Weil England, England hochprofitabel ist, läuft es dem ›echten England‹ nach und nach den Rang ab. Das Replikat, so will es Barnesʼ Farce, siegt über das Original. Diese Erfolgsgeschichte wird erzählerisch über mehrere Jahrzehnte ausgebreitet. Durch das zeitliche Panorama macht der Roman dabei nicht nur die historische Dimension des Projekts deutlich, sondern ›schmuggelt‹ auch eine zweite Zeitordnung auf die Insel, die das Zeitregime der Gleichzeitigkeit erodiert. Während Pitco die Zeit anhält und eine dauerhafte Gegenwart des Spektakels installiert, stellt Barnes dieser konstruierten, kulturellen Unzeitlichkeit auf der Ebene der Erzählung eine natürliche oder biologische Zeit gegenüber, die man nicht verbannen kann – Wachsen, Altern, Vergehen und Tod sind die Zeichen, mit denen sie sich bemerkbar macht. Dadurch stößt der Roman schließlich doch auf den harten Grund einer nicht hintergehbaren Natürlichkeit, die zuvor mit allen Mitteln von der Insel verbannt wird. Sie fördert zutage, was im biologischen Setup des Menschen verankert ist und durch keine Fiktion egalisiert werden kann. Deutlich wird diese biologische Dimension bei einem zweiten Blick auf Sir Jacks Ableben. Mit dem Tod verliert Sir Jack, Vater des Projekts und Personifikation des Inauthentischen, endgültig die Kontrolle über
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die von ihm geschaffene Fiktion. Der Tod ist in dieser Hinsicht der ultimative, absolute Einbruch des Realen. Sir Jack scheint sich dessen bewusst zu sein und schielt schon zu Lebzeiten auf das Erbe, das er einst hinterlassen wird. Denn Tod ist für Sir Jack nicht gleich Tod: Im biologischen Sinne ist er ein absoluter Endpunkt, in der individuellen oder kollektiven Erinnerung anderer möchte er aber weiter präsent sein. So arbeitet er Zeit seines Lebens auch am Narrativ, das die Nachwelt von ihm erzählen soll. Er offenbart dabei ein besonderes Bewusstsein für Strategien, um Spuren zu hinterlassen. Er versucht, sich wortwörtlich in die Geschichte einzuschreiben: Die Besucher in Pitman House empfängt eine riesige Schiefertafel, auf der seine Errungenschaften in antikem Stil eingraviert sind (vgl. EE 30-31). Auch wacht er persönlich darüber, welche Inhalte bei Besprechungen innerhalb seines Beraterstabs in die Protokolle aufgenommen und archiviert werden. So sagt er in einer Besprechung zu seinem »Ideas Catcher« Paul in einem Nebensatz: »[…] do not record this, Paul, I am not certain it is for the archive.« (EE 34) Während manches also gar nicht erst dokumentiert wird, schafft er es auch, unliebsame Teile seiner Biographie aus der Geschichte ›herauszuschreiben‹. Nachdem Martha und ihr damaliger Freund Paul ihn durch Erpressung zum Rückzug gezwungen haben, besticht er seinerseits ihren Verbündeten, um kompromittierendes Videomaterial aus einem Bordell verschwinden zu lassen. Als er mit großer Geste auf seinen Posten zurückkehrt, kommentiert er das Verschwinden des Videos: »There’s no evidence, […]. Not anymore. It must have disappeared. Been burnt or something.« (EE 240) Für Pitman verschwindet die Vergangenheit mit ihrer materiell-dokumentarischen Evidenz, ebenso wie sie im umgekehrten Fall durch die Langlebigkeit des geschriebenen Worts – wie manipulativ oder falsch es auch sein mag – konserviert wird. Dass Sir Jack der Nachwelt so offensichtlich gefälschte Quellen zu seinem Leben vorgibt, passt zu einem Misstrauen gegenüber dem (geschichtlichen) Dokument als objektiviertem Faktum, das sich wiederholt in Barnesʼ Werk beobachten lässt. Allen Anstrengungen zum Trotz wird Sir Jack, als er schließlich stirbt, dennoch auf höchst ironische Weise Opfer der Zeit: »But Time, or, more exactly, the dynamics of Sir Jack’s own Project, had its re-
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venge.« (EE 258) Nach seinem Tod wird er als »first Baron Pitman of Fortuibus« von einem Schauspieler ersetzt. Die Logik des Projekts macht auch vor ihm nicht halt. Sir Jack wird selbst repliziert und damit zu einem der vielen zurechtgeschnittenen Sehenswürdigkeiten, die auf der Isle of Wight versammelt sind. Auch er ist nun ein Produkt des hyperrealen Raums. Eine Welt der reinen Gegenwart, die den Blick in die Vergangenheit aus Marketing-Gründen nicht gestattet, ist, so scheint es, nicht zu einem ehrlichen Andenken an ihren Gründer fähig. Die Dynamik England, Englands speist sich einzig aus der Logik des Kapitals. Die natürlichen Zyklen von Werden und Sterben passen ebenso wenig in dieses Schema wie die symbolischen Rituale, die diese Schwellenmomente markieren. Dieser entmenschlichten Dynamik gegenüber stellt Barnes den Menschen, der durch seinen biologischen Körper immer auch Teil einer natürlichen Ordnung und damit an eine natürliche Zeit gebunden bleibt. Neben Sir Jacks Tod markiert das Vergehen der natürlichen Zeit einen zweiten Einbruch des Realen. Die Schauspieler, die geradezu gefangen sind auf der totalen Bühne, beginnen mit ihren Rollen zu verschmelzen: Die Schmuggler schmuggeln tatsächlich (vgl. EE 204), Robin Hoods Merrie Men gehen wirklich auf die Jagd (vgl. EE 229) und Dr. Johnson zeigt immer mehr auch die negativen Charakterzüge der historischen Vorlage, die nicht Teil seines Skripts sind (vgl. EE 215). Die Überidentifikation der Schauspieler mit ihrer Rolle legt nahe, dass eine künstliche Identität sich nicht auf Dauer durchhalten lässt. Die Schauspieler scheinen zwar immer mehr mit der Fiktion zu verwachsen und so ganz und gar zu einem Produkt der institutionalisierten, hyperrealen Ordnung zu werden. Gleichzeitig entfernen sie sich aber durch die Dynamik der Identitätsstiftung von ihrer Rolle, sie füllen die schematische, unbewegliche Vorlage mit Leben. In Barnesʼ Groteske mag diese Entwicklung auf der Fiktion einer historischen Persönlichkeit fußen, die Identität, die dadurch entsteht, ist dennoch etwas Neues und Echtes. Diesen Eindruck bekommt zumindest Martha, als sie als CEO von England, England Dr. Johnson zu sich zitiert. Sie ist nach dem Treffen tief beeindruckt vom schwermütigen Gelehrten und sträubt sich, ihn kurzerhand zu entlassen:
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An employee in breach of his contract: dismissal, the first boat out, and a quick replacement from the pool of potential labour held on file. […] But her heart resisted. The Project’s rule-book was inflexible. Either you worked or you were sick. If you were sick, you were transferred to Dieppe Hospital. Yet was he even a medical case? Or something quite different: like an historical case? She wasn’t sure. And the fact that the Island was itself responsible for turning ›Dr Johnson‹ into Dr Johnson, for peeling off the protective quotation marks and leaving him vulnerable, was also irrelevant. The sudden truth she had felt as he leaned over her, wheezing and muttering, was that his pain was authentic. And his pain was authentic because it came from authentic contact with the world. (EE 223) Dr. Johnsons Wirklichkeit, das macht das Gespräch mit Martha deutlich, fühlt sich der Fiktion England, England nicht mehr verpflichtet, er widersetzt sich mit der neuen Tiefe seiner Persönlichkeit der Oberflächenlogik des Projekts. Interessanterweise ist für Martha die Insel durch den Prozess der Institutionalisierung selbst verantwortlich dafür, dass Dr. Johnson die »schützenden Anführungszeichen« abstreift und sich in der Welt einrichtet, kurz: real wird. Auch in Dr. Johnsons Fall zeigt sich die Realität somit als das Unkontrollierbare, als das Gegenstück zur totalen Bühne. Es kommt hier allerdings nicht von außen wie die Waren, die die Schmuggler auf die Insel bringen wollen. Es erwächst im Laufe der Zeit vielmehr durch eine immanente Dynamik aus der Mitte der Ordnung, die es eigentlich verbannen will. Mit Dr. Johnsons Überidentifizierung und Sir Jacks Ableben, so kann festgehalten werden, positioniert der Roman die biologische Zeit als subtiles Korrektiv zur »ewigen Gleichzeitigkeit« (Korte 2002: 294) England, Englands. Durch den insgesamt dritten Einbruch des Realen schlägt der Roman den Bogen zum Jigsaw-Puzzle und der Landwirtschaftsschau, Marthas Raumbilder, die ebenso wie England, England nur vermeintlich perfekte Ordnungen sind.
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7.4.
Anglia: Worldmaking auf den Ruinen des ›alten England‹
Den ersten drei Inselwelten stellt Barnes im letzten Teil des Romans mit dem alten England eine vierte gegenüber. Während das Jigsaw-Puzzle, die Landwirtschaftsausstellung und England, England auf räumlicher Ebene Strukturen der Ganzheit und Vollkommenheit erproben, zeichnet sich das alte England zunächst dadurch aus, dass es jede innere Ordnung und Orientierung verloren hat. Nachdem Martha als alte Frau nach England zurückgekehrt ist, fasst der Erzähler die Marksteine der jahrzehntelangen Rückentwicklung im Schatten England, Englands zusammen. So erfahren die Leser, dass das alte England zunächst noch versucht, mit Sir Jacks aggressiver Expansionspolitik Schritt zu halten. Nach territorialen Verlusten an Schottland und Wales (vgl. EE 261) und dem Entzug der Unterstützung durch die Europäische Union (vgl. EE 260) muss das Land jedoch erkennen, dass es mit England, England nicht konkurrieren kann und obendrein zu einem failed state zu werden droht. Um dem zuvorzukommen, proklamiert die Regierung eine »neue Selbstgenügsamkeit« (vgl. EE 261), die das Land vollends in die Isolation führt: They extracted the country from the European Union […]; declared a trade barrier against the rest of the world; forbade foreign ownership of either land or chattels within the territory; and disbanded the military. Emigration was permitted, immigration only in rare circumstances. […] Old England banned all tourism except for groups numbering two or less, and introduced a Byzantine visa system. The old administrative division into counties was terminated, and new provinces were created, based upon the kingdoms of the Anglo-Saxon heptarchy. Finally, the country declared its separateness from the rest of the globe and from the Third Millennium by changing its name to Anglia. (EE 261-262) Das Zitat macht zunächst eine dreifache Abschottung deutlich. Sie ist nicht nur politischer Art, sondern findet durch die Grenzschließungen und Einreiselimitierungen auch auf räumlich-territorialer und durch die Handelsschranken auf wirtschaftlicher Ebene statt. Eine vierte
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Ebene der Abgrenzung zeigt sich darüber hinaus sinnbildlich im beschränkten Fokus der Gazzette, dem lokalen Inselblatt. Die Zeitung, so wird betont, berichtet nur über die Außenwelt, wenn sie für Anglia unmittelbar relevant wird, etwa in Bezug auf Wetterbewegungen oder die Routen der Zugvögel (vgl. EE 269). Auch weltanschaulich und informationspolitisch wird damit eine Mauer um Anglia errichtet. Obwohl der Abbau politischer und wirtschaftlicher Strukturen einen Prozess der De-institutionalisierung initiiert, geht die politisch verordnete Rückbildung nicht so weit, dass der Staat sich ganz auflöst und das Land in anarchischer Unordnung zurücklässt. Anglia wagt vielmehr einen Neuanfang, indem es an einen früheren Moment in der eigenen Geschichte anknüpft. Mit diesem neuen Anfang und der Abschottung nach außen macht Barnes auch Anglia zu einer Versuchsanordnung, die im begrenzten Raum einmal mehr durchspielt, wie eine Gemeinschaft sich in der Welt einrichtet. Ganz im Gegensatz zu Pitcos Themenpark-Projekt ist Anglia aber keine Tabula rasa, die mit viel Geld in kurzer Zeit in eine neue Ordnung verwandelt werden kann. Anglia entsteht vielmehr aus den Scherben, die vom alten England übrigbleiben. Christoph Henke bezeichnet es mit einer treffenden Formulierung als »[…] anthropologische[s] Experimentierfeld einer postapokalyptischen Gesellschaft ohne etablierte Geschichtstradition« (Henke 2001: 287). Die Abkehr von der (post-)modernen Welt drückt sich in Anglia zunächst in der neuen Bedeutung der Natur aus: Over the years, the seasons had returned to Anglia, and become pristine. […] The seasons, being untrustworthy, were more respected, and their beginnings marked by pious ceremonies. Weather, long since diminished to a mere determinant of personal mood, became central again […]. It had no rivalry or interference from industrial weather, and was self-indulgent in its dominance: secretive, immanent, capricious, ever threatening the miraculous. Fogs had character and motion, thunder regained its divinity. (EE 264) Die Abhängigkeit von den natürlichen Zyklen der Jahreszeiten und des Wetters ist in Anglia eine zentrale Komponente der Welterzeugung.
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Dass Natur und Kultur wieder zusammenfinden, zeigt sich in den »frommen Zeremonien«, mit denen die Bewohner Anglias einen neuen Abschnitt markieren, ebenso wie in der »zügellosen Dominanz« des Wetters. Das Wetter, das in dieser Passage eine personifizierte Form annimmt, kommuniziert mit den Menschen, die wiederum gelernt haben, seine Zeichen zu lesen. Allerdings enttäuscht der Roman die Hoffnung, am Ende mit Anglia doch noch eine Alternative zur tiefenlosen Welt England, Englands anzubieten. Wie in verschiedenen Studien betont wurde, ist das pastorale Idyll Anglias eine idealistische Version eines alten, ruralen England, das sich im Laufe des letzten Kapitels als ebenso konstruiert erweist wie Sir Jacks hyperreale EnglandSimulation (vgl. Nünning 2001: 72; Henke 2001: 286; Berberich 2008: 176). Das Bild des harmonischen Zusammenseins zwischen Mensch und Natur ist somit nur ein Vorspiel, um anschließend Konzepten wie ›Authentizität‹ oder ›historischer Wahrheit‹ endgültig den Garaus zu machen. Vor dem Hintergrund der allzu augenfälligen, wiederholten Problematisierung dieser Konzepte gerät leicht aus dem Blick, dass Barnes im experimentellen Raum Anglias auch verschiedene Weisen und Elemente der Welterzeugung aus den ersten beiden Teilen wieder aufnimmt und in einem anderen Kontext erprobt. Wir haben bereits gesehen, wie Anglia durch eine neue bzw. ›recycelte‹ territoriale Struktur eine Neuordnung ›im Großen‹ vornimmt. Noch deutlicher und detaillierter lassen sich die Prozesse der Welterzeugung auf lokaler Ebene beobachten. In der dörflichen Gemeinschaft, die Martha nach ihrer Rückkehr ins alte England aufnimmt, entsteht die Idee, mit einem Dorffest eine identitätsstiftende Tradition ins Leben zu rufen. Nachdem Marthas Katalog der Landwirtschaftsausstellung als mögliches Vorbild gesichtet und verworfen wird, entscheidet man sich auch hier für einen Neuanfang »from scratch« (EE 255). Im Rahmen der Festivitäten tritt einmal mehr die Sichtbarmachung durch Symbole in den Vordergrund. Geht es in den ersten beiden Teilen des Romans darum, durch weiße Mäntel (Agricultural Show) und absolutistische Attribute (Sir Jack) ›wissenschaftliche‹ Expertise oder politische Macht sichtbar zu machen, wird auf der »Village Fête« nach
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einer passenden Kopfbedeckung für die »Queen of the May« gesucht. Der Hinweis des Dorflehrers, dass die Königin traditionell eine Weißdornblüte im Haar trage, kommt zu spät: »[…] in any case Jacky’s mum had made her a coronet out of gold-painted cardboard, and that was what she wore, and there the story ended.« (EE 271) Auch als im Rahmen des Verkleidungswettbewerbs eine Diskussion darüber ausbricht, wann eine historische Persönlichkeit als real gelten könne, scheint die Sichtbarkeit, egal ob von Angesicht zu Angesicht oder in einem Buch, das wichtigste Kriterium zu sein: »Some said you were real only if someone had seen you; some that you were real only if you were in a book; some that you were real if enough people believed in you.« (EE 273) Als drittes Beispiel dient schließlich der Dorfpolizist PC Brown, »[…] who was attached to no police station and hadn’t caught a single criminal since his arrival in the village; but he had the uniform, the bicycle, the truncheon […]. This seemed to be enough.« (EE 274) Die Häufung der Beispiele zeigt zum einen, dass symbolische Setzungen grundlegende Prozesse der Welterzeugung sind – sowohl für die hyperreale Welt England, Englands auch für das ›entschleunigte‹ Anglia. Zum anderen wird durch die Betonung der mal grotesken, mal völlig leeren Attribute deutlich, dass Barnes die Verbindung zwischen Inhalt einerseits und Repräsentation andererseits auch im letzten Teil zur Diskussion stellt. Oftmals fördert erst ein Erzählerkommentar zutage, dass die beiden Pole entkoppelt sind. So legt etwa die Beschreibung des Dorfpolizisten nahe, dass die Insignien der exekutiven Macht ohne Legimitation getragen werden. Da PC Brown weder über eine Ausbildung verfügt noch die Aufgaben eines ›echten‹ Polizisten wahrzunehmen scheint, verkommt seine Uniform zur Verkleidung und sein Auftreten als Polizist aus der Perspektive der Leser zur bloßen Show. Wie so viele Protagonisten in England, England wird er zum Schauspieler, weil der Erzähler durch wenige Sätze oder Halbsätze aus allwissender Perspektive die alltagsweltliche Bühne aufzeigt, auf der sich der Protagonist bewegt. Das Bild der Bühne ist für England, England umso treffender, weil das Sichtbarmachen von Macht, Funktion oder Zugehörigkeit als Strategie der Identitätskonstruktion vornehmlich auf ein Gegenüber oder Publikum zielt. Die Kinder, die sich auf dem Fest fasziniert in ei-
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nem Zerrspiegel betrachten und – so jedenfalls deutet Martha das Geschehen – das verzerrte Bild als Teil ihrer selbst wahrnehmen (vgl. EE 274), sind ein sinnfälliger Ausdruck der vollständigen Externalisierung der Selbstkonstitution: Sie sehen sich selbst aus der Perspektive eines Gegenüber und schreiben sich die Merkmale zu, die sie ›von außen‹ beobachten. Einmal mehr verschwimmen mit dem Zerrspiegel Fiktion und Realität, Eigenes und Fremdes. Den passenden Metakommentar hierzu gibt Martha schon einige Seiten zuvor, als sie erfährt, dass sie hinter ihrem Rücken als alte Jungfer bezeichnet wird: »And perhaps it was also the case that, for all a lifetime’s internal struggling, you were finally no more than what others saw you as.« (EE 268) Die Bewertung dieses Befundes ist in England, England eine Frage der Perspektive. Während Martha die Verknappung auf die Außensicht nur widerwillig und resigniert annimmt, liegen für PC Brown die Dinge ganz anders: Solange ihm die anderen Dorfbewohner die Rolle des Polizisten aufgrund seines Aussehens und Auftretens zuschreiben, kann er sie ohne offizielle Vollmachten und Referenzen ausfüllen. Marthas enttäuschtes »no more«, so könnte man sagen, ist für ihn ein zufriedenstellendes »no less«. Mit der »Village Fête« rücken auch die Prozesse der Institutionalisierung einmal mehr in den Fokus. Das neu instituierte bzw. wiederbelebte Dorffest ist insgesamt ein voller Erfolg: »The Fête was established; already it seemed to have its history. Twelve months from now a new May Queen would be proclaimed and new fortunes read from tealeaves.« (EE 275) Die staunenden Kinder vor den Zerrspiegeln lassen dabei in die Zukunft blicken. Während für Martha, den Dorfschullehrer und die anderen Verantwortlichen der Beginn »from scratch« mit seinen teilweise willkürlichen Setzungen in Erinnerung bleibt, stellt es sich für die jüngere Generation anders dar. Sie werden die erfundene Tradition10 des Dorffests in Luckmann und Bergers Worten als »da seiend« (Berger/Luckmann 1969: 61-62) erleben, als Teil ihrer natürlichen Umwelt, die nicht hinterfragt wird. 10
Vera Nünning (2001) nähert sich dem Roman mit Hobsbawms and Grangers Begriff der »Invention of Tradition«.
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Mit den vier geschlossenen Räumen des Puzzles, der Landwirtschaftsschau, des Themenparks auf der Isle of Wight und Anglias findet Barnes in diesem Roman vier Versuchsanordnungen, die individuelle und kollektive Identitätsfragen verräumlichen. Auf individueller Ebene konstruiert Martha das Jigsaw-Puzzle und die Agricultural Show in ihrer Erinnerung als Modelle für die heile Welt ihrer Kindheit. Sie misstraut diesen Erinnerungen, weil sie fürchtet, dass sich das Gedächtnis ein manipulatives Narrativ schafft, das einzig dazu dient, die Gegenwart mit der Vergangenheit zu versöhnen (vgl. EE 6). Doch schon in diesen vermeintlich idealisierenden Raumbildern ist der Verlust des Vaters und der Einbruch des Unkontrollierbaren in die geordnete Welt der jungen Martha vorweggenommen: einerseits durch das klaffende Loch in der Mitte des Puzzles, andererseits durch die Wildtiere, die die perfekte Ordnung der Landwirtschaftsschau infrage stellen. Ihr Leben lang ist sie auf der Suche nach »some larger context« als Ersatz für die verlorene Ganzheit ihrer Kindheit: »Life is more serious, and therefore better, and therefore bearable, if there is some larger context. […] I’m saying life is more serious, and better, and bearable, even if its context is arbitrary and cruel, even if its laws are false and unjust.« (EE 244, Herv. S.B.) Der Versuch, sich in einem ›falschen‹ Narrativ einzurichten, scheitert jedoch immer wieder. Von ihrer obsessiven Suche nach Wahrhaftigkeit kann sie sich erst gegen Ende ihres Lebens befreien. Nach ihrem Rauswurf bei Pitco und vielen Jahren der Wanderschaft kehrt sie im letzten Teil ins mittlerweile in Anglia umbenannte, alte England zurück. Auch an ihr hat sich das Gesetz der natürlichen Zeit vollzogen. Sie ist
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zu einer alten Frau geworden, die ihren früher so drängenden Fragen nach Ursprünglichkeit und Authentizität nun mit Gelassenheit begegnet. Diese Gelassenheit beugt einer weiteren Enttäuschung vor, denn es wird schnell klar, dass Anglia in Sachen Authentizität nicht als Gegenthese zu England, England taugt. Schon das pastorale Idyll, das Barnes in der Landschaftsbeschreibung bemüht, ist unschwer als ein Replikat eines mythisierten England-Bilds erkennbar. Während es Martha ein Leben lang nicht gelingt, ein homogenes Identitätsnarrativ zu finden (vgl. Henke 2001: 291), wendet sich der Roman mit England, England und Anglia den self-making-Prozessen auf kollektiver Ebene zu. Die beiden Inseln wurden als isolierte Experimentierfelder betrachtet, wo jeweils ein imaginäres what if verhandelt wird: Was, wenn wie in England, England eine ›post-everything‹-Welt jede Bodenhaftung verliert und einen ungebremsten Kapitalismus schalten und walten lässt? Was, wenn wie in Anglia, ein Neuanfang erprobt wird, indem die Zeit zurückgedreht wird? Barnes baut sowohl mit England, England als auch mit Anglia Welten auf dem Reißbrett, die nach und nach an Selbstständigkeit gewinnen. Obwohl die Startbedingungen und Zielsetzungen der beiden Inselwelten unterschiedlicher nicht sein könnten, fällt eine große Kontinuität in den Weisen der Welterzeugung auf. Der Roman spielt jeweils die Mechanismen des Ausschlusses, der symbolischen Legitimation sowie der wirtschaftlichen und politischen Macht als zentrale Bausteine der Welterzeugung durch. Während in Anglia die kollektive Suche nach Sinn und Zugehörigkeit den Impuls zur Welterzeugung gibt, entleert der Roman im zweiten Teil diese Kategorien, indem er die nationale Identität Englands in den Dienst des Profits stellt. Die hyperreale Wirklichkeit erweist sich nicht nur als profitabel, sondern auch als passende Ordnung für die oberflächliche Kulturlandlandschaft der Postmoderne, die Barnesʼ Farce dem Roman zugrunde legt. Dennoch wird auch hier deutlich, dass sich die Identitätsfrage auch durch eine perfekt orchestrierte Simulation nicht erledigt. Der »größere Kontext«, um mit Martha zu sprechen, erweist sich in England, England im Laufe der Zeit als zu restriktiv. Der homogenisierten Wirklichkeit des Projekts tritt eine anarchische, unkontrollierbare Dynamik entgegen, die ich als Einbruch des Realen
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bezeichnet habe. Ein so verstandenes Reales ist eng geknüpft an die Selbstsuche der Protagonisten. Sie überschreiten die Grenzen der Fiktion, um, nochmals in Marthas Worten, »authentischen Kontakt mit der Welt« (vgl. EE 223) zu bekommen – sei es durch auf die Insel geschmuggelte echte Ware, das Fühlen echter Melancholie (Samuel Johnson) oder das Jagen echter Wildschweine (Robin Hoods Bande). Abschließend sei noch auf einen letzten Aspekt der Welterzeugung verwiesen. England, England gibt nicht nur einen Blick auf Sir Jacks, sondern durch die verwendeten Themen, Materialien und Diskurse unweigerlich auch auf Julian Barnesʼ England-Bild frei. Sämtliche England-Variationen kommen weitestgehend ohne Großbritannien aus und Spuren oder gar Stimmen von Migrantinnen und Migranten aus den ehemaligen Kolonien, etwa als Kritik an Sir Jacks homogenisierender Welterzeugung, sucht man vergebens. Das ethnisch diverse, multikulturelle England, das in englischen Großstädten im Erscheinungsjahr längst unbestrittene Wirklichkeit war, wird damit zu einem blinden Fleck des Romans. Blendet der Roman diese moderne Facette der englischen Identität absichtlich aus oder steht für England, England als Beitrag zur Englishness-Debatte der 1990er Jahre ein damals schon verstaubtes England-Bild Pate?
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TEIL IV: VERSUCHSANORDNUNG 3 – INSTITUTIONALISIERTE RÄUME
8. The Porcupine als Erzählung des politischen Übergangs
The Porcupine (1992) ist Welterzeugung im großen Stil, widmet sich der kurze Roman1 doch der (Neu-)Erfindung eines ganzen Staats: Er erzählt von einem Balkanstaat, der sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion an der Schwelle zu einem politisch, wirtschaftlich und ideologisch tiefgreifenden Umbruch befindet. Obwohl das Land nicht explizit genannt wird, ist als geschichtliche Vorlage leicht Bulgarien zu erkennen. Im Mittelpunkt der Geschichte platziert Barnes den Gerichtsprozess gegen den ehemaligen kommunistischen Führer des Landes, Stoyo Petkanov. Die Verhandlung wird als landesweit im Fernsehen übertragenes Spektakel inszeniert und soll den gestürzten Diktator zur Rechenschaft ziehen. Sein Gegenspieler ist der Generalstaatsanwalt Peter Solinsky. Der »Criminal Law Case Number 1« (P 9) will sich dabei von der willkürlichen Gerichtsbarkeit des früheren Sowjetstaates abheben (vgl. P 38) und jeden Anschein von Parteinahme vermeiden. Die Beweislage stellt sich allerdings als schwierig heraus und gibt wenig belastendes Material her: »Little was written down; what had been written down was mostly destroyed; and those who had destroyed it suffered reliable attacks of memory loss.« (P 38) So ist es an den Studenten Atanas, Vera, Stefan und Dimiter der Anklage vor dem Fernseher die Punkte beizufügen, für die sich Petkanov eigentlich verantworten müsste, ihm aber nicht nachgewiesen werden können: »[›Mass murder.‹ ›Genocide.‹ ›Ruining 1
The Porcupine wurde immer wieder auch nicht als Roman, sondern Novelle bezeichnet (vgl. z.B. McAuliffe 2012: 357).
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the country.‹]« (P 32) Die Studentengruppe verfolgt den gesamten Prozess zusammen in wechselnden Wohnzimmern und bildet den Mittelpunkt eines zweiten Erzählstrangs. Sie geben in eckigen Klammern markierte ›Live-Kommentare‹ zum Geschehen im Gerichtssaal ab und ermöglichen dem Leser eine zweite Perspektive, die sich weder an die formalen Zwänge des gerichtlichen Protokolls noch an die Regeln der political correctness halten muss. Einen ähnlichen Effekt ergeben die ›privaten‹ Unterredungen zwischen den beiden Protagonisten, zu denen es in der Zelle des Angeklagten kommt. In die Erzählung sind immer wieder Rückblicksequenzen eingestreut, die die Hintergründe der Entwicklung des Landes und der Protagonisten erhellen. Nach einer zähen und langen Verhandlung wird Petkanov schließlich zu 30 Jahren Hausarrest verurteilt. Das entscheidende Dokument, das ihn letztlich belastet, unliebsame politische Gegner aus dem Weg schaffen zu lassen, taucht in letzter Minute unter ominösen Umständen auf. Ob es sich bei dem mit Petkanovs Kürzel S.P. unterzeichneten Schreiben aber um ein echtes Dokument oder nicht vielmehr eine Fälschung handelt, bleibt den Lesern bis zum Schluss verborgen. Mit The Porcupine begibt sich Julian Barnes zu Beginn der 1990er Jahre auf politisch hochaktuelles Terrain. Der Roman betrete, so Schirrmacher in seiner im Jahr 1992 erschienenen Rezension, »die Gegenwart in ihrem innersten Raum« (Schirrmacher 1992: 1). In literarischer Form verhandelt der Roman dabei die Frage, wie ein Staat den Übergang von einer Staatsform zu einer anderen meistert. Mit dem Prozess gegen den abgesetzten Anführer des Sowjetstaats drängt insbesondere die Frage nach der Bewertung und Verarbeitung des bisherigen politischen Systems in den Mittelpunkt. Für diese Art der Aufarbeitung hat sich in der juristischen und soziologischen Forschung der Begriff Transitional Justice durchgesetzt. Nach einer Definition des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen bezeichnet er »[…] the full range of processes and mechanisms associated with a society’s attempts to come to terms with a legacy of large-scale past abuses, in order to ensure accountability, serve justice and achieve reconciliation […]« (zit.n. McAuliffe 2012: 349). Die Erwartungen an Transitional Justice sind in The Porcupine groß. Ganz im Sinne der Definition des UN-Sicherheitsrats soll der Prozess
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gegen den Diktator nicht nur den Weg frei machen für einen Neustart, sondern auch eine gerechte Bewertung der Vergangenheit leisten. Die Prozesse der Welterzeugung bewegen sich in diesem Roman somit in zwei Richtungen: Zum einen in Richtung Zukunft, die ein hoffnungsvolles Narrativ für den neuen Staat braucht. Zum anderen aber auch in Richtung Vergangenheit, weil diese, wenn sie nicht aufgearbeitet wird, dem Zukunftsnarrativ entgegensteht. Vor dem Hintergrund dieser komplexen Gemengelage möchte sich dieses Kapitel vor allem zwei Fragen widmen: Wie inszeniert Barnes eine Gesellschaft, die sich gerade aus einer repressiven Diktatur befreit hat und sich nun die bzw. eine Welt neu erschließen kann? Und: Welche Rolle spielt die Transitionsjustiz bei diesem Versuch, eine neue Welt zu erzeugen? Es soll im Folgenden gezeigt werden, dass die Prozesse des Worldmaking in The Porcupine eng mit Raumfragen verwoben sind. Zunächst finden die Bewegung und das kreative Chaos, die der Fall der autoritären Regierung auslöst, einen dezidiert räumlich-physischen Ausdruck: Statuen werden gestürzt, Plätze umbenannt und umfunktioniert, Hausfrauen gehen auf die Straße, die Studenten hetzen von einer Wohnung zur nächsten. Barnes inszeniert den Raum rund um den Gerichtssaal als sozial und politisch ungeordnetes, bewegtes Feld, das verschiedene Akteure besetzen und sich aneignen. In diesem chaotischen Feld voller Knotenpunkte und Widersprüche bleibt der Gerichtssaal selbst, das Zentrum der Erzählung und des erzählten Raums, seltsam unberührt. Er ist ein geschlossener Raum, wie ihn die einleitenden Kapitel dieser Arbeit charakterisieren: räumlich geschlossen, als Bühne inszeniert und formal-erzählerisch exponiert. Der Gerichtssaal wird zur sozialen Versuchsanordnung, in der der ›Regisseur‹ Barnes die Fragen nach der Vergangenheit und einer neuen Welt bündelt. Im Gegensatz zum wirren Außen, wo noch viele neue Wirklichkeiten koexistieren und Offenheit herrscht, hält Barnes im Gerichtssaal die statische Kamera auf die Prozesse, die eine möglicherweise manipulierte Wirklichkeit zu einer juristisch verbrieften Wahrheit verdichten. Im institutionalisierten Raum des Gerichtssaals wird dabei vor allem die Permanenz des Alten deutlich. Während um das Gericht herum alles in Bewegung ist und neue Welten erzählt werden, verbleibt das Zentrum
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statisch und bedient sich der institutionalisierten Narrative, die selbstbestimmte Akteure zu machtlosen actors machen. Obwohl Solinsky mit großen Ambitionen und hehren Zielen angetreten war, verwischen im Laufe des Prozesses die klaren Fronten zwischen ihm und Petkanov zusehends: Die Institution des Rechts zwängt ihn geradezu in ihr Narrativ. Bevor sich Abschnitt 8.2 diesen im Raum des Romans inszenierten Fragen der Welterzeugung innerhalb und außerhalb eines institutionalisierten Rahmens zuwendet, führen uns die fiktionalisierten Namen der Protagonisten Petkanov und Solinsky zunächst zu der allgemeineren Frage nach der besonderen Verortung des Romans zwischen Realität und Fiktion.
8.1.
For example this one here: Exemplarität und Welterzeugung in The Porcupine
The Porcupine scheint zunächst fest verortet in der historischen, außerliterarischen Wirklichkeit. Die Handlung basiert lose auf dem Prozess gegen den bulgarischen Diktator Todor Schiwkow und erschien zunächst in bulgarischer Übersetzung (vgl. Childs 2011a: 98).2 Die zeitgenössischen Leser können die Referenzen auf Bulgarien als peripheren Staat der Sowjetunion ohne Schwierigkeiten erkennen.3 Die Großmacht selbst wird immer wieder genannt, insbesondere Michail Gorbatschow und sein »toadying to Uncle Sam« (P 18) werden von Petkanov in Passagen der erlebten Rede für den Niedergang der Sowjetunion verantwortlich gemacht. Dass die Namen, Orte und Einzelheiten des Prozesses frei erfunden sind, tut dem realistischen Charakter des Romans dabei zunächst keinen Abbruch. Barnesʼ sechster Roman hebt
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Julian Barnes hierzu in einem Beitrag im New Yorker: »I’d used the outline of the Zhivkov trial (plus various specifics), borrowed the country’s topography, and then gone off on my own.« (Barnes 1992: 140, vgl. Henke 2001: 226) Interessante Einblicke in Barnesʼ Recherchearbeit gibt ein veröffentlichter Briefwechsel zwischen dem Autor und seiner bulgarischen Übersetzerin (vgl. Kondeva 2011). Zur Popularität des Romans in Bulgarien siehe Freiburg (1998: 445).
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sich von seinen Vorgängern nicht nur durch eine konventionellere Erzählweise, sondern vor allem auch durch das realistische Setting ab. Der auktoriale Erzähler variiert zwar häufig Perspektive und Fokalisierung und hält eine ironische Distanz zum Geschehen; insgesamt ist The Porcupine aber betont sachlich und weit entfernt von formal viel experimentierfreudigeren Texten wie Flaubert’s Parrot oder A History of the World in 10 12 Chapters.4 Während der Roman also einerseits durchaus realistische Züge trägt, sind die erfundenen Elemente wie die Nebenschauplätze in den Wohnzimmern der Studenten und Petkanovs Zelle andererseits so offensichtlich und die Freiheiten der poetic licence so unverhohlen genutzt, dass es abwegig wäre, einen direkten Bezug zur außerliterarischen Wirklichkeit, etwa in Form eines Schlüsselromans, zu vermuten. Barnes selbst ist hierzu eindeutig: »[…] Mein Diktator ist mein Diktator, nicht der Diktator der Bulgaren, meine Geschichte ist meine Geschichte.« (zit.n. Freiburg 1998: 446) Der Roman ist gleichzeitig genauso deutlich Bulgarien wie er es nicht ist, ein Stück Wirklichkeit genauso wie ein Stück Fiktion. In diesem Sinne kann der Text als typischer Vertreter postmoderner Literatur in der Tradition Graham Swifts oder John Fowles gesehen werden. Sowohl postmoderne als auch ›nicht-postmoderne‹ Romane bedienen sich realistischer Erzählkonventionen und nisten sich in einem genau recherchierten, ›wirklichkeitsgetreuen‹ Setting ein, um einen jeweils gegenteiligen Effekt zu erzielen. Während etwa im ›klassischen‹ historischen Roman dieses Setting als Hintergrund für eine erfundene Romanhandlung fungiert und ein ›realistisches Erleben‹ der historischen Vergangenheit beim Leser ermöglicht, dient es in postmodernen Subgenres wie der
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Peter Childs zum Erzähler in The Porcupine: »The sense persists of an uncommitted, slightly detached, and therefore seemingly well-balanced authorial presence: one that detects disturbing traces of sound reason and logic in the justification offered by Petkanov and sees Solinsky as someone with power and history, rather than morality, on his side.« (Childs 2011a: 98) Siehe in diesem Zusammenhang auch Henke (2001: 227), ausführlicher zur Erzählsituation in narratologischer Terminologie siehe Reinfandt (1997: 258-265).
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historiographischen Metafiktion5 oft dazu, die historische Referenz zu problematisieren und die Fiktionalität des Texts herauszukehren.6 Zwar wird durch die Anlage des Romans deutlich, dass der Blick auf die Vergangenheit/Wirklichkeit immer perspektivisch gebunden ist, »frame breaks« (Waugh 1984: 28) im Sinne Patricia Waughs etwa sucht man in The Porcupine aber vergebens. Es ist Barnes also weder in erster Linie darum zu tun, in einer tendenziell mimetischen Erzählung durch eine möglichst große Unmittelbarkeit den Leser ›in die Welt zu holen‹, noch durch perspektivische Brechung die Rahmen der Wahrnehmung und des Wirklichkeitsbezugs offenzulegen und ihn damit ›aus der Welt zu reißen‹. Wie ist The Porcupine vor diesem Hintergrund zu bewerten? Sowohl Christoph Henke als auch Peter Childs bezeichnen den Roman als Parabel. Childs hierzu: »[Yet,] the story Barnes tells is not an isolated one but a representative parable about the opposition between strong and weak ideologies at the level of personal conviction and national history.« (Childs 2011a: 99, Herv. S.B.)7 Für die Parabel als Gattung ist es charakteristisch, dass der Bericht über den spezifischen Inhalt hinausgeht und etwas anderes ›meint‹ oder auf etwas anderes ›zielt‹ – für Childs betrifft dies hauptsächlich weltanschauliche Differenzen, während Henke den die konkrete Wirklichkeit übersteigenden Bezug etwas allgemeiner im Bereich der »Vergangenheitsbewältigung« (Henke 2001: 226) sieht. Beide betonen durch diese Gattungskennzeichnungen den exemplarischen Charakter des Romans. Dieser lässt sich in Ergänzung zu Childs und Henke mit Blick auf den oben formulierten Widerspruch noch genauer fassen. The Porcupine ist literarisch-beispielhaftes Sprechen ganz im Sinne Derridas: 5 6 7
Für eine Typologie moderner und postmoderner Schreibweisen des historischen Romans siehe Nünning (1995). Siehe hierzu auch Abschnitt 3.1 der vorliegenden Arbeit. Freiburgs Charakterisierung des Romans geht in eine ähnliche Richtung. Für ihn weist die Handlung »[…] über die engen Grenzen des beschriebenen sowjetischen Satellitenstaates hinaus und liest sich über Strecken hinweg wie eine Allegorie auf die Veränderungen und Probleme, die die […] sich einstellenden Umwälzungen im sozialen und politischen Leben eines verwaisten Staates beschreibt.« (Freiburg 1998: 445-446, Herv. S.B.)
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Something literary [Quelque chose de la littérature] will have begun when it will not have been possible to decide if, when I speak of some thing [quelque chose], I speak of some thing (of the thing itself [de la chose même], this one here, for itself) or if I give an example, an example of something, or an example of the fact that I am able to speak of some thing, of my way of talking of something, of the possibility of speaking in general of something in general, or again of writing these words etc. (Derrida 1992 zit.n. Miller 1994: 8) Durch die Möglichkeit eines Verortens des Romans in der Wirklichkeit inszeniert Barnes genau den Moment, in dem nicht mehr entschieden werden kann, ob The Porcupine vom »Ding an sich, von diesem hier«, also der konkreten Wirklichkeit in Bulgarien, spricht, oder »ein Beispiel« gibt. Paradoxerweise kehrt die nur angedeutete Hinwendung zur ›wirklichen Wirklichkeit‹ das Fiktionale in besonderer Weise heraus, denn es ist natürlich nicht schwer zu erkennen, dass der Roman allem dokumentarischen Anschein zum Trotz nie etwas anderes sein will als literarisch, das heißt beispielhaft. Mehr noch: Auch die fiktionale, nach Derrida durch ihre literarische Form schon beispielhafte Welt inszeniert sich wiederum als exemplarisch. Am prominentesten tritt dies rund um den Prozess und dessen Vermittlung zutage. Die Verhandlung wird live im ganzen Land übertragen und ist als großes Spektakel inszeniert. Diese absichtliche »Staginess« (Krasteva 2000: 347) des Prozesses zeigt sich schon in der vom Erzähler reichlich verwendeten Theaterbildsprache. So nimmt sich Petkanov schon vor dem Prozess vor, nicht die »Rolle« zu spielen, die für ihn vorgesehen ist (vgl. P 17), es ist die Rede von »stage management«, wenn das Arrangement des Gerichtssaals beschrieben wird und der Eindruck, den wir zu Beginn des Prozesses vom Ex-Diktator übermittelt bekommen, ist folgender: »[…] a powerful man comfortably seated in the royal box, waiting for the curtain to rise.« (P 31, Herv. S.B.) Es ist bemerkenswert, dass Petkanov offenbar die Rolle des privilegierten Zuschauers in der Ehrenloge zugesprochen bekommt, während er nach dem Skript des ›Stücks‹ eigentlich der Bösewicht sein sollte. Die angestrebte Verurteilung Petkanovs als ebensolcher Bösewicht ist auch als beispielhaft
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zu verstehen: Er nimmt stellvertretend die Rolle des Sündenbocks ein und trägt eine in ihrer Symbolhaftigkeit fast schon abstrakte Schuld, die sich aus vielen kleinen Teilen zu einem Ganzen agglutiniert und sich auf seiner Person vereinigt. Barnes treibt die Theatralität des Prozesses schließlich auf die Spitze, wenn er gegen Ende ›echte‹ Schauspieler auftreten lässt, die von Petkanov unrechtmäßig begünstigt worden sein sollen (vgl. P 98). Einer der Studenten, Atanas, der den Prozess am Fernseher verfolgt, bringt es auf den Punkt: »It’s just actors. They’re all actors. It’s a fucking comedy.« (P 100) Die wiederkehrenden Theaterreferenzen dienen als Fiktionalitätsmarker innerhalb der Fiktion; sie heben die Handlung auf die Bühne, um den Prozess in ein »Spektakel im Spektakel« (Krasteva 2000: 347) zu verwandeln und gattungstechnisch als Courtroom Drama zu kennzeichnen. Dadurch wird zum einen zusätzliches Gewicht auf den ShowCharakter des Prozesses gelegt (vgl. ebd.). Zum anderen erzielt Barnes durch die doppelte fiktionale Markierung einen »Verallgemeinerungseffekt« (Henke 2001: 226). Die Wirklichkeit des Gerichtssaals wird durch dieses In-Szene-Setzen von der Wirklichkeit des Romans abgekoppelt und – in Derridas Worten – zu einem Beispiel ›wie es sein könnte‹. Taylor sieht das Fiktional-Beispielhafte nicht nur im Prozess, sondern bezieht es auf den gesamten Roman: »The whole of a fugitive, uneasy national life is being played out before a figurative camera; private speech and public rehearsal are interchangeable.« (Taylor 1992: 9, Herv. S.B.) Tatsächlich zeigt sich mit Blick auf die restlichen Charaktere des Romans auch in The Porcupine eine für Barnes typische psychologische Abstraktion. Außer den Hauptfiguren Solinsky und Petkanov fehlt es den Protagonisten an individueller Schärfe, sie erscheinen vor allem als Typen (vgl. Pateman 2002: 64), als Repräsentanten der verschiedenen Wirklichkeiten innerhalb der fiktionalen Welt.8 Solinsky und Petkanov
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Henke erkennt im Roman fünf Haltungen, »[…] deren zugeordnete Nebenfiguren sich auf eine [sic!] stereotypes Spektrum zwischen jugendlicher Offenheit und altersmäßiger Konservativität verteilen« (Henke 2001: 228). Auch Reinfandt beobachtet, dass die Figuren »in hohem Maße funktionalisiert« (Reinfandt 1997: 266) sind.
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sind dabei das zentrale Gegensatzpaar, um das sich alle anderen Figuren gruppieren. Der Leser wird zwar ansatzweise in die verschiedenen Lebenswirklichkeiten eingeführt, die »figurative Kamera« lenkt ihren Blick aber vor allem auf die Positionierung der Charaktere im Hinblick auf den Prozess und die zu verhandelnden Weltanschauungen. Es kann vorläufig festgehalten werden, dass der Roman durch Theaterreferenzen, Fiktionalitätsmarker und typisierte Charaktere die Handlung systematisch von ihrer real-historischen Verortung entfremdet und zu einem exemplarischen Lehrstück darüber macht, wie Individuen und Gesellschaften sich in einer neuen Welt einrichten. Die Gefahr, die eine solche Bewegung weg vom Konkreten und hin zum Allgemeineren mit sich bringt, zeigt sich an Yonka Krastevas postkolonialer Kritik am Roman. Sie sieht The Porcupine als Ausdruck der Arroganz des westlichen Intellektuellen, der sich die Wirklichkeit des Anderen zu eigen und – nach seinen eigenen, westlichen Maßstäben – sinnhaft mache. Die Begegnung mit Bulgarien sei keine auf Augenhöhe; die modernere Geschichte des Landes lediglich als exotisches Spektakel (vgl. Krasteva 2000: 344-345) interessant. Krasteva liest den Roman weniger als exemplarisches denn als referentielles Werk, das ›Andere‹ erscheint hier als Produkt kultureller Zuschreibungen der westlichen Imagination. Warum, so könnte man im Lichte Krastevas durchaus nachvollziehbarer Kritik fragen, wählt Barnes einen so spezifischen historischen Kontext, um in einem nahezu aristotelischen Literaturverständnis Allgemeines anhand einer erfundenen Geschichte exemplarisch darzustellen?9 Um diese Frage zu beantworten, lohnt es sich, zunächst einen Blick auf die Besonderheiten der Transitionsprozesse in Bulgarien zu werfen. Die »Changes«, die im Prozess gegen Petkanov ihren Höhepunkt finden, markieren eher einen graduellen Übergang als einen radikalen Umsturz:
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Aristoteles: »Daher ist die Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen – das Besondere mit.« (1982: 28, Herv. S.B.)
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Far from the type of rupture in which democratic forces assume all the levers of power from the defeated foe […] in Barnes’s negotiated transition the ancien régime still held office, albeit democratically. There was no mass movement like the Arab Spring or Prague’s Velvet Revolution – in the novella, as in Bulgaria, transformation came from above, driven by reformers within the old leadership. (McAuliffe 2012: 357) Die Veränderungen von oben, die McAuliffe beschreibt, haben wichtige Implikationen für die Prozesse, die einen neuen Staat hervorbringen sollen. Anders als Revolutionen, die einen radikalen Bruch mit dem Status quo bewirken wollen, machen die »Changes« weder im realen Bulgarien noch in Barnesʼ Roman Tabula rasa. Im Gegenteil: In The Porcupine rufen die Deutung der Vergangenheit und die Gestaltung der Zukunft nicht nur neue, sondern vor allem auch alte, wenn auch reformwillige Kräfte wie den zum Generalstaatsanwalt berufenen Solinsky auf den Plan. Die »Changes« führen so zu einer Gegenwart, die Christoph Henke als »gefährlichen Interimszustand« (Henke 2001: 228) bezeichnet. Diese Gegenwart in der Schwebe zwischen der alten Ordnung und einer ungewissen Zukunft ist es, die die historische Situation Bulgariens besonders interessant macht für einen Text, der den politischen Prozessen der Welterzeugung nachspürt: Einerseits eröffnet sich die Chance, nach Jahrzehnten der ›institutionalisierten Wahrheit‹ ein neues Narrativ und damit eine neue Wirklichkeit zu verhandeln. Andererseits besteht aber auch die Gefahr, dass die institutionalisierte Ordnung wegen der altbekannten Namen und Köpfe doch bestehen bleibt. Welchen Weg das Land schließlich beschreiten wird, entscheidet sich in der dichten Gegenwart rund um den Gerichtsprozess, die der Roman auffächert. Diese dichte Gegenwart, die Spannung zwischen Altem und Neuem, zwischen der Statik der institutionalisierten Ordnung und der neu gewonnen Beweglichkeit und Freiheit, übersetzt Barnes vor allem in räumliche Begriffe.
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8.2.
Raum und Wirklichkeit: Das Innen und Außen der politischen Macht
The Porcupine beginnt mit einer markanten Raumopposition: »The old man stood as close to the sixth-floor window as the soldier would allow. Outside, the city was abnormally dark; inside, the low wattage of the desk lamp slid thinly from the metal rim of his heavy spectacles.« (P 1, Herv. S.B.) Der alte Mann ist der angeklagte Ex-Diktator Stoyo Petkanov, der sich im sechsten Stock des zum Gefängnis umfunktionierten »Office of State Security« befindet. Barnes beschreibt mit den ersten Sätzen des Romans einen Gegensatz zwischen outside und inside, der sich hier auch markant durch die Lichtverhältnisse ausdrückt: Das Innen ist beleuchtet, während das Außen, die Stadt, sich in »außergewöhnliche« Dunkelheit hüllt.10 Am Fenster stehend lauscht Petkanov dem Protestzug mehrerer Tausend Hausfrauen, die mit Kochlöffeln auf Töpfe schlagen, um auf die Lebensmittelknappheit aufmerksam zu machen (vgl. P 7). Zwischen den Räumen, dem Innen und dem Außen, findet eine – wenn auch eine einseitige – Kommunikation statt. Durch die Geräusche des Protests hört Petkanov die Stimme des Volkes, die ihre Unzufriedenheit über die Übergangsregierung auf die Straße trägt. Für Petkanov ist diese non-verbale Wortmeldung von der Straße, die er mit einem Lächeln quittiert (vgl. P 7), ein wichtiges Indiz dafür, dass die Euphorie um den Sturz der Regierung nicht von allen geteilt wird. Obwohl die Räume also nicht völlig abgeschnitten voneinander und gänzlich impermeabel sind, konturiert Barnes mit dem Protest die Opposition zwischen Innen und Außen weiter. Während Petkanov von Soldaten bewacht unbeweglich am Fenster verharrt, beschreibt die Passage detailliert, wie sich die protestierenden Frauen durch die Innenstadt bewegen (vgl. P 4-6). Innen vs. Außen, Licht vs. Dunkelheit, Statik vs. Beweglichkeit – mit diesen Oppositionspaaren wird eine (Raum-)Struktur etabliert, die sich im gesamten
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Zur Bedeutung des Lichts und der ›Beleuchtung‹ im Roman siehe Childs (2011a: 102).
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Roman durchhält.11 Der Blick des Erzählers bewegt sich ständig zwischen den Räumen; er stellt sie nebeneinander aus, sodass ein Raum oft als Metakommentar zu einem anderen dient. Die Raumdichotomie fächert nicht nur eine multiperspektivische Sicht auf die »Changes« und den Prozess gegen Petkanov auf, sondern verdichtet sich im Fortgang des Prozesses auch immer mehr zu der Frage, wie und vor allem in welchen Räumen die Vergangenheit und Zukunft des Landes gemacht werden.
8.2.1.
Ein Pluriversum der Wirklichkeiten: Das Außen des Gerichtssaals
Das Außen des Gerichtssaals erscheint insgesamt dynamisch, offen und hoffnungsvoll; es ist geprägt von den neuen Freiheiten, die die demokratischen »Changes« mit sich bringen. Die Räume eröffnen sich erst durch den Fall der kommunistischen Partei, die das Land in eisernem Griff hielt. So können etwa die Hausfrauen ihren wortlosen Protest im öffentlichen Raum vortragen und damit aktiv an der Meinungsbildung innerhalb der Bevölkerung beitragen. Ironischerweise wenden sie sich sehr zur Freude des Ex-Diktators damit auch gegen die Kräfte, die eine freie Meinungsäußerung durch die Absetzung der kommunistischen Führung erst möglich gemacht haben. Die Demonstrantinnen wählen dabei eine besondere Vorgehensweise. Sie verzichten auf Slogans und Banner und erfinden stattdessen mit den Töpfen und Löffeln, die sie ohne Lebensmittel nicht benutzen können, ihre eigene Protestmusik. Trotz des Verzichts auf Worte schafft es der Protestzug, den Raum eindrucksvoll zu besetzen: »The noise grew fat, […] a noise none in the city had ever heard before, one made more potent by its strangeness and lack of rhythm; it was insistent, oppressive, sharper than mourning.« (P 3) Durch die bloße Möglichkeit dieses Marschs der Frauen wird deutlich, dass sich der öffentliche Raum verändert hat. War er unter 11
Matthew Pateman hierzu: »It is around the different forms of groups and individuals, insides and outsides, words and wordlessness, public and private, civic and domestic, that the narrative will revolve.« (Pateman 2002: 64)
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Petkanov ein bloß repräsentativer Raum zum symbolischen Ausdruck staatlicher Größe und Zementierung des politischen Status quo, hat er nun eine zentrale Rolle in einer »heißen Kultur« (Lévi-Strauss 1973; Koschorke 2012a: 130). Er wird zum umkämpften Schauplatz einer erstarkten Zivilgesellschaft, die Wandel und Veränderung vorantreiben will. Die gestürzten Statuen der kommunistischen Helden Marx, Lenin und Alyosha hingegen, Repräsentanten einer institutionalisierten und »erkalteten« Ordnung, sind aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit, der nun »heißen« Zone, verbannt (vgl. P 43). Auch die Ereignisse in den Studentenwohnungen sind Ausdruck einer neugewonnen Meinungsfreiheit. In besonderem Maße betont wird dabei die individuelle Meinung, die Barnes vor allem auch im geschützten Privatbereich der eigenen vier Wände verortet. Deutlich wird dies in der Parallelschaltung des Prozesses und der Kommentare der Studenten. Die derben, zynischen Einwürfe helfen dem Leser zum einen, die verklausulierten Vorwürfe an Petkanov einzuordnen, zum anderen zelebrieren sie aber auch das Sprechen(können) als solches. Der ›offiziellen‹, im Fernsehen übertragenen Stimme aus dem Zentrum der Macht stellt Barnes hier somit eine private zur Seite. Die Kommentare drücken aus, dass die Zeiten der institutionalisierten Wahrheit vorbei sind, jetzt hat jeder eine Stimme und jeder eine Wirklichkeit12 – ob diese Stimmen gehört und diese Wirklichkeiten anerkannt werden, ist freilich eine andere Frage. Die Dynamik der Entwicklung hin zu einer Meinung, zur demokratischen Teilhabe und letztendlich zur ›Wahrheit‹ wird sinnbildlich als menschlicher Reifungsprozess dargestellt: »This was a great moment in the country’s history, a farewell to grim childhood and grey fretful adolescence. It was the end of lies and illusions; now the
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Ironischerweise nutzt Dimiter, einer der Studenten, die neugewonnene Freiheit dazu, anstelle einer multiperspektivischen Wahrheit eine absolute, ausschließende zu fordern: »Because there comes a point when there aren’t two sides to every question any more, there’s only one side. […] Just holding a trial gives him false credit, is admitting that even in this case, even in this worst of cases, there is another side to the story. There isn’t. End. With some questions, there’s only one side. End.« (P 71)
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time had arrived when truth was possible, when maturity began.« (P 1920) Selbstbestimmung, Autonomie und Verantwortlichkeit: In diesen Werten sieht die naiv-idealistische Entwicklungsmetapher der jungen Vera die Schnittmenge zwischen Erwachsensein und Demokratie. Die Dynamik und Aufbruchsstimmung, die unter den Studenten herrscht, schlägt sich ebenso wie der Protest der Hausfrauen räumlich-physisch nieder. Die Studenten sind in ständiger Bewegung; Barnes lässt sie von einer Wohnung zur nächsten hetzen, weil nach Bezirken stundenweise der Strom ausgeschaltet wird und der Prozess so in nur einer Wohnung nicht komplett verfolgt werden kann (vgl. P 22). Die neue demokratische Freiheit, in die Vera so große Hoffnungen setzt, geht in der Übergangszeit mit einem liberalen Marktdenken Hand in Hand, ist dabei aber nicht immer von bloßen Racheakten gegen das alte Regime und deren Repräsentanten zu unterscheiden. So will etwa der Blumenverkäufer auf dem Markt der Großmutter einer der Studenten den doppelten Preis für ein paar Nelken berechnen – nicht aber etwa aus marktwirtschaftlichen Gründen, sondern weil sie als Kommunistin die Ursache all seiner Lebensprobleme sei (vgl. P 54). Mit der Großmutter entwirft der Roman eine Figur, die den neuen Pluralismus unterstreicht. Als Kommunistin scheint sie zwar zu den Verlierern der Entwicklungen zu gehören, in Barnesʼ Roman bekommt sie trotzdem einen zentralen Platz eingeräumt. Obwohl sie still und zurückhaltend ist, entpuppt sie sich als ebenso gefestigt in ihren Überzeugungen wie der Ex-Präsident. Wie Petkanov sagt sie den Moment voraus, »[…] when men and women would rise and shake themselves, recovering their rightful dignity and starting again the whole glorious cycle of revolution.« (P 55) Beide interpretieren die Umbrüche als einen Rückfall in ein »falsches Bewusstsein« (Marx), das – sie benutzen jeweils das Verb to shake – wieder abgeschüttelt werden wird. Die Großmutter ist die vielleicht interessanteste, weil rätselhafteste Figur der Erzählung.13 Während sich die jungen Studenten über sie und ihre selt13
Christoph Henke weist zurecht darauf hin, dass die »äußerst knappen Charakterskizzen« der Nebenfiguren wenig psychologische Tiefe zulassen und kaum über ihre Funktion als »Typen« (Henke 2001: 229) hinauskommen. Die Groß-
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same Treue zu Lenin (vgl. P 53) lustig machen, bekommen die Leser einen differenzierteren Blick auf die alte Frau. Der Erzähler zeichnet sie in Passagen der erlebten Rede als weise und bedächtige Person, der sowohl der aufgeregte Enthusiasmus der Jungen als auch die willenlose Akzeptanz kapitalistischer Heilsversprechungen fremd sind (vgl. P 54). Erst am Ende des Prozesses dringt sie in das Bewusstsein ihres Enkels Stefan, als sie zum ersten Mal (in direkter Rede) spricht. Nachdem Stefan sie über den Ausgang des Prozesses informiert hat, fragt sie ihn, ob er glücklich sei. Als dieser antwortet, er sei tatsächlich erfreut, geht der Dialog weiter: »›Then I pity you.‹ ›Why?‹ For the first time the boy seemed to concentrate properly on the old woman sitting beneath her icon [ein Lenin-Bild, S.B.]. […] ›Why?‹ he repeated. ›God forbid that a blind man should learn to see‹.« (P 132) Sie sieht diejenigen mit Blindheit geschlagen, die sich über den Richterspruch gegen Petkanov freuen. Damit kehrt sie mit einem Satz die Bildsprache der »Changes« um: Die ›Revolutionäre‹, die so bemüht sind um Transparenz und ihrem Selbstverständnis nach dabei sind, Licht in die dunkle, undokumentierte Vergangenheit des Landes zu bringen, sind in Wirklichkeit die, die nicht sehen. Mit ihrer kryptischen Antwort verstärkt sie den Eindruck, etwas Archaisches, beinahe Seherisches an sich zu haben. Sie scheint im Besitz einer Wahrheit zu sein, die den jungen Studenten und revolutionären Kräften verborgen ist. Ihr gehören auch die letzten Zeilen des Romans: Mit einem kleinen Farbbild Lenins in der Hand steht sie am Ende wortlos (wie die Hausfrauen zu Beginn der Erzählung) vor dem leeren Mausoleum, wo noch bis vor kurzem die sowjetische Identifikationsfigur Alyosha gethront hat. Passanten rufen ihr hin und wieder etwas zu, doch sie ist unbeeindruckt: »But whatever the words, she stood her ground, and she remained silent.« (P 138) Das Bild der alten, schweigsamen und einsamen Frau am Ende schlägt einen Bogen zum Anfang des Romans, der mit einer Betrachtung Petkanovs einsetzt: »The
mutter sehe ich nicht in dieser Kategorie. Schon aus erzähltechnisch-formaler Sicht besetzt sie eine exponierte Position unter den Nebencharakteren, ihrer Charakterisierung werden mehrere längere Passagen in indirekter Rede gewidmet.
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old man stood as close to the window as the soldier would allow.« (P 1) Die Geschichte beginnt und endet damit mit zwei alten Kommunisten, die beide in schwachem, gedämpftem Licht portraitiert werden (vgl. P 138). Trotz dieser erzählerisch-formalen Zirkularität (vgl. Pateman 2002: 67) mit den beiden gealterten Kommunisten schließt sich hier kein Kreis, die Wirklichkeiten außerhalb des Gerichtssaals bleiben bunt und widersprüchlich. Dies ist nicht zuletzt dem Verhältnis zwischen Sprache und Wirklichkeit geschuldet, für das der Roman insgesamt eine große Sensibilität zeigt (vgl. Reinfandt 1997: 278-281). Zeichensysteme und Symbolordnungen werden herausgefordert und den Bedürfnissen der neuen Verhältnisse nach umcodiert. So werden in Prozessen des naming, re-naming und un-naming Plätze umbenannt (vgl. P 54), Symbole der alten Macht fallen einem reinigenden Ikonoklasmus zum Opfer, das »Department of Internal Security« wird zu »Patriotic Security Forces« (vgl. P 44). Deren Leiter Ganin, unter Petkanov noch ein Leutnant der kommunistischen Armee, trägt nun statt Uniform einen Anzug, um seine neue Position kleidungssemiotisch als »unthreatening, civilian business« (P 45) zu markieren. Die Bewegung lässt bei der Selbstbezeichnung »rhetorische Vorsicht« walten: There had been a Revolution, of that there was no doubt; but the word was never used, not even in a qualified form, preceded by Velvet or Gentle. This country had the fullest sense of history, but also a great wariness of rhetoric. […] So instead of Revolution, people here spoke only of the Changes, and history was divided into these three quiet parts: before the Changes, during the Changes, after the Changes. (P 42) Dass das Ringen um die Wirklichkeit tatsächlich ein sprachlich-symbolischer Kampf ist, zeigt sich am originellsten bei den Protesten des Devinsky-Kommandos zu Beginn der »Changes«. Die Studentengruppe gibt sich als nach dem Poeten Ivan Devinsky benannte literarische Gruppe aus und hebelt für kurze Zeit die Mechanismen der Unterdrückung aus, indem sie sich mit entsprechender Verkleidung als regierungsfreundliche Gruppe ausgibt (auf ihrem Banner steht:
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»WE, LOYAL STUDENTS, WORKERS AND PEASANTS, SUPPORT THE GOVERNMENT« [P 46]). Erst nach und nach wird deutlich, dass das Banner genauso wie die Slogans ironisch und sie tatsächlich der Gruppe der Protestierenden zuzurechnen sind. Die Ironie der Studenten kann hier auch als eine fortgeschrittene Art des re-naming betrachtet werden: Sie benutzen exakt die Sprache der Kommunisten, um doch eine gegenteilige Aussage zu machen, die erst im Kontext und der Performanz des Protests deutlich hervortreten kann. Sprache, so können wir festhalten, wird in The Porcupine in einer Bewegung »der semiotischen Entfesselung« (Koschorke 2012a: 133) verbogen und entfremdet, um sie zu einer veritablen Waffe im politischen Kampf zu machen. Die neuen Sprachregelungen mögen mehrheitlich zwar ein Bemühen um Wahrheit und Authentizität ausdrücken, Barnes lässt aber keinen Zweifel daran, dass auch die im Entstehen begriffene neue Ordnung keinen exklusiven, widerspruchslosen Zugang zur Wirklichkeit hat. Natürlich sind auch die neuen Ideen und die im Entstehen begriffene neue soziale Ordnung »verletzlich« (vgl. Krasteva 2000: 346), auch diese Annäherung zwischen Sprache und Wirklichkeit ist »kontingent« und »vergänglich« (Reinfandt 1997: 281). Das Außen des Gerichtssaals enthält diese postmoderne Lektion, ist gleichzeitig aber nicht nur eine Absage an eine letztgültige Wahrheit, die die »Changes« relativiert. Vielmehr zeigt The Porcupine hier in einer politischen Dimension, wie außerhalb eines totalitären Systems hegemoniale Denkformen geschaffen werden und Emanzipation stattfindet. Die unüberbrückbare Lücke zwischen Sprache und Wirklichkeit, zwischen Diskurs und sozialer Realität, ist dabei kein Makel der entstehenden freiheitlichen Ordnung, sondern die unabdingbare Grundlage für Selbstermächtigung und Teilhabe in einem demokratischen Prozess. Der postmarxistische politische Theoretiker Ernesto Laclau etwa meint: »Unvollständigkeit und Vorläufigkeit gehören zur Essenz der Demokratie.« (Laclau 2007: 41) Unvollständigkeit, Vorläufigkeit und wir können ergänzen: Beweglichkeit inszeniert Barnes in dem offenen, umkämpften Feld außerhalb des Gerichtssaals. Nachdem Petkanov gestürzt ist und die institutionalisierte Macht ihren ›kalten‹ normativen Griff auf die Gesellschaft ver-
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loren hat, wird das Land in ›Unordnung‹ zurückgelassen. Der Begriff der »Changes« kann nach der politischen Theorie Laclaus als »Signifikant des Mangels« bezeichnet werden. Er zeigt an, dass mit dem Zusammenbruch der alten Ordnung ein (Macht-)Vakuum entsteht, das es zu füllen gilt (vgl. Laclau 2007: 76).14 Die verschiedenen Ausprägungen des ausdrücklich sprachlich-symbolischen Protests und Gegenprotests, privat wie öffentlich, sind allesamt Bestrebungen, einen »leeren Signifikanten« zu besetzen und ihn damit zu »hegemonisieren« (ebd.: 78). Wie oben gesehen ist der Roman auf den Prozess fokussiert und verweigert einen vorausschauenden Blick, der andeuten würde, welche hegemonialen Projekte es schließlich schaffen, den leeren Signifikanten zu besetzen. Das erzählerisch offene Ende entspricht damit nicht zuletzt dem offenen Charakter des politisch-semiotischen Signifikationsprozesses, der nach Laclau immer unabschließbar bleibt (vgl. ebd.: 44). Indem der Roman verschiedene Wirklichkeiten nebeneinanderstellt und die symbolischen Strategien zum Erzeugen dieser Wirklichkeiten offenlegt, erfüllt The Porcupine die wichtigsten Funktionen eines Transitionsnarrativs. McAuliffe schreibt: […] literary narrative offers a valuable corrective to the potentially hegemonic official public narrative. The novel or the play can give voice to the unacknowledged victim, to the vindications of the old regime transitional justice seeks to discredit, to the equivocacy and indeterminativeness of transition that the report or verdict cannot. (McAuliffe 2012: 351) Ganz im Sinne von McAuliffes Definition gibt das Außen des Gerichtssaals sowohl den Erneuerern (Studenten, Devinsky-Kommando), den Unterstützern der alten Ordnung (Stefans Großmutter) als auch denjenigen, die nicht klar zuzuordnen sind (protestierende Hausfrauen),
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Die ausdrückliche »rhetorische Vorsicht« bei der Wahl der Bezeichnung »Changes«, also der Verzicht auf stärkere »Signifikanten des Mangels« wie ›Revolution‹ oder ›Befreiung‹, zeugt auch von dem Verständnis, dass es »radikale Emanzipation« im Sinne Laclaus nicht geben kann (vgl. Laclau 2007: 43-44).
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eine Stimme. Gegen Ende findet die Erzählung einen bildlichen Ausdruck für die vielfältigen Wirklichkeiten, Stimmen und Sprachen, die nebeneinander existieren. Nachdem der Generalstaatsanwalt Peter Solinsky sich ein letztes Wortgefecht mit dem nun verurteilten Petkanov geliefert hat, geht er in die Kirche St. Sophia, wo er zwei Kerzen anzündet. Die Gestaltung des Kerzenständers ist eine zweite Anspielung15 auf den Titel des Buchs: »The sturdy iron-wrought candle-stand, with its bristling spikes and soft curlicues, was a theatre of light. Candles were lit at two levels: at shoulder height for the living, ankle height for the dead.« (P 137) Für Christoph Reinfandt ist der Kerzenständer ein zentrales Symbol, das dem Titel des Werks am Ende eine »völlig neue Bedeutung« gebe. In der letzten Szene in der Kirche entfalte sich »der übergreifende, einheitsstiftende Sinn des Romans, in dem die Fragmentierung und die Widersprüche der erzählten Wirklichkeit aufgehoben werden« (Reinfandt 1997: 281). Die Wirklichkeit sei viel mehr als Petkanov das Stachelschwein, »[…] dessen Stacheln einerseits den menschlichen Zugriff auf ein darunter verborgenes Sinnzentrum verhindern und andererseits der zwischen Hoffnung und Vergänglichkeit schwankenden menschlichen Existenz Halt bieten« (ebd.). Der Kerzenständer versammelt in dieser Deutung die verschiedenen fiktionalen Wirklichkeiten und Sichtweisen und stellt sie nebeneinander aus, immer in kritischer Hinterfragung der Bedingungen der Sinnstiftung. Die Dornen
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Die erste Anspielung findet sich gleich zu Beginn des Romans. Bevor Peter Solinsky das Haus verlässt, bittet ihn seine Frau, vorsichtig zu sein. Solinsky antwortet: »Of course I shall be careful. Look, […] I’m wearing my porcupine gloves.« (P 29) Das Stachelschwein ist demnach der Ex-Diktator Petkanov. Laut Peter Childs zitiert der Titel Puschkins Roman Die Hauptmannstochter, in dem es heißt, dass jemand mit ›porcupine gloves‹ angefasst werde: »[…] The phrase is thought in the story to come from a Russian proverb and its meaning is debated but seems to imply ›show him no liberty‹.« (Childs 2011a: 100) In einer Rezension führt Michiko Kakutani den Titel auf eine Bemerkung Chruschtschows zurück: »[…] which perhaps takes its title from a remark once made by Nikita S. Khrushchev: ›If you start throwing hedgehogs under me, I shall throw a couple of porcupines under you‹.« (Kakutani 1992)
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und Schnörkel stehen dabei symbolhaft für die letztendliche Unzugänglichkeit einer über die einzelnen Perspektiven hinausgehenden ›garantierten‹, überindividuellen Wirklichkeit.
8.2.2.
Von vielen Welten zu einer Welt: Transitional Justice
So schlüssig Reinfandts Interpretation des Kerzenständersymbols innerhalb ihres theoretischen Rahmens16 ist, so wenig wird sie der Differenz zwischen den heterogenen Wirklichkeiten des Außen und der durch Transitional Justice zu schaffenden, ›offiziellen‹ Wirklichkeit gerecht. Reinfandt klammert aus, was Terry Eagleton die Frage nach einem »more or less central« (Eagleton 1991: 8) verschiedener Wirklichkeiten nennt. In unverwechselbarer Manier kritisiert Eagleton die postmoderne Zurückhaltung in normativen Fragen: »If someone actually believes that a squabble between two children over a ball is as important as the El Salvador liberation movement, then you simply have to ask them if they are joking.« (Ebd.) Während Eagletons überspitzte Klassenkampf-Rhetorik nur bedingt ernst zu nehmen ist, weist die zitierte Passage dennoch auf ein zentrales Problem von Reinfandts ›pluralistischer‹ Interpretation hin. Barnesʼ Fiktion des Übergangs gibt nicht nur denjenigen eine Stimme, die sonst bei Transitionsprozessen überhört werden, er positioniert mit dem Gerichtsprozess auch eine Wirklichkeit als Gravitationszentrum in der Mitte des Romans (vgl. Pateman 2002: 64). Implizit stellt er damit auch die Frage, inwiefern es eine Hierarchie der Wirklichkeiten geben kann oder sogar muss und wie es um die Legitimation einer solche Hierarchie steht. Deutlich wird die soziale und politische Ungleichheit etwa an den parallel geschalteten Perspektiven während des Prozesses. Einerseits verfolgen wir das zähe Ringen um die dünne Anklage vor Gericht, andererseits die mit eckigen Klammern markierten Kommentare der Stu-
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In seiner systemtheoretischen Untersuchung erarbeitet Reinfandt zunächst (postmoderne) Schreibweisen und Sinnorientierungen, um anschließend an mehreren postmodernen Romanen eine dominante Sinntendenz nachzuweisen.
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denten. Obwohl keine der Wirklichkeiten dabei ontologisch ›wirklicher‹ oder ›wahrer‹ ist als die andere, wird trotz der zurückhaltenden Erzählweise deutlich, dass sie für die fiktive Gesamtwelt des Romans eine unterschiedliche Wertigkeit haben. Der Unterschied zwischen den beiden Wirklichkeiten – der des Gerichtssaals und der der Studentenwohnung – ist eine Frage der Reichweite: Die eine ist von unmittelbarer, überindividueller Bedeutung für die Vergangenheit und Zukunft eines ganzen Landes, während die andere auf den individuellen, privaten Bereich einiger weniger beschränkt bleibt. Diese ungleichen Verteilungen zeigen sich schon in der einseitigen ›Kommunikation‹ zwischen den Räumen: Der Prozess ist per Fernsehübertragung in den Wohnzimmern präsent, während die Schmähungen und Proteste der Studenten, die sie an den Bildschirm richten, nicht im Gerichtssaal ankommen können (vgl. P 35, 100). Hier werden zwei Wirklichkeiten für den ›historischen Moment‹ der Verhandlung voneinander abgegrenzt und gegeneinander gestellt. Es handelt sich dabei um eine narrative Inszenierung, ein auf Erzählerebene konstruiertes Neben- und Gegeneinander für die Dauer des Prozesses. Denn natürlich ist die Abgrenzung weder absolut noch zeitlos. Die Wirklichkeit der privaten Studentenwohnung ist schon vor dem Prozess Teil der gesamtgesellschaftlichen Wirklichkeit und wird auch danach entscheidend durch deren Horizont bestimmt bleiben. Dies wird in Atanasʼ Spruch über seinen Unernst, den er laut Vera schon vor Einsetzen der »Changes« in gleicher Weise gepflegt hat, schon wenige Stunden nach Verkündung des Urteils deutlich: »Then it was anti-social behaviour. Hooliganism. Now it’s my constitutional right.« (P 133) Was gestern ein Akt der Auflehnung gegen ein gleichschaltendes Regime war, ist heute durch die Verfassung verbrieftes Recht. Hier wird spielerisch angedeutet, wie eine – zunächst sprachliche – Umcodierung der Wirklichkeit des Einzelnen durch ein gesamtgesellschaftliches Ereignis funktionieren kann. Diesem gesamtgesellschaftlichen Ereignis wohnen wir als Leser bei – wir erleben history in the making. Aus der Gegenüberstellung von Gerichtssaal und privatem Wohnraum ist bereits ersichtlich, dass die Erzählung die verschiedenen Wirklichkeiten als räumliche Opposition konstruiert. Ist das heterogene Außen des Gerichtssaals von Dynamik und Offenheit geprägt, fällt der
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zentrale Raum des Romans durch Bewegungslosigkeit und Abschließung auf. Schon aufgrund seiner physischen Anordnung ist der Gerichtssaal eine vom Außen abgetrennte Insel: Obwohl er ein öffentlicher Raum ist und der Prozess ins ganze Land gesendet wird, kann der Gerichtssaal nicht von jedem beliebig betreten oder verlassen werden. Die Wachen und Platzanweiser, postiert an den Außengrenzen des Raums (vgl. P 30), beschützen den starken, klar definierten Rahmen des Saals sowohl physisch-räumlich als auch symbolisch. Der Blick der Kamera, aus der die Fernsehzuschauer den Prozess verfolgen, verstärkt durch ihren verknappenden Fokus auf das Innen des Saals diesen Rahmen auch figurativ. Sobald Petkanov den Gerichtssaal betritt, verschwimmt die Perspektive der Leser mit der des Fernsehzuschauers: »There was a crowd, and so he smiled and waved. Then the camera lost sight of him until he re-emerged into the courtroom. Somewhere along the burrow he had left his hat and coat […].« (P 30) Solange der Ex-Diktator nicht auf dem Bildschirm zu sehen ist, bleibt er auch für die Leser unsichtbar. Der objektivierende Blick der Kamera zwingt die Leser förmlich in die Gegenwart des Gerichtssaals. Während die Geschehnisse über weite Strecken des Romans in erlebter Rede aus der Sicht einzelner Protagonisten geschildert werden, suggeriert dieser Blick die Darstellung eines präsentischen Realen ohne die individuellen Ideologie- und Gedächtnisfilter einzelner Charaktere. Die Kamera gibt einen fokussierten Blick auf die Gegenwart des Gerichtssaals, kann dabei aber kein Garant für Objektivität sein. Im Gegenteil: Ihr Blick ist gelenkt, was sie darstellt ist Teil des Skripts des Prozesses. So wird für die Wache, die hinter Petkanov postiert ist, eine Frau gewählt, um die Zuschauer zu beeinflussen: »The prosecution had arranged this little touch of stage management […].« (P 31, Herv. S.B.) Der Gerichtssaal ist nicht nur aus räumlicher und perspektivischer Sicht ein heterotoper Ort der Verknappung. Um zu einem Urteil zu kommen, genügt es nicht, wie im Symbol des Kerzenständers am Ende des Romans, verschiedene (antagonistische) Wirklichkeiten einander gegenüberzustellen. Diese Wirklichkeiten müssen darüber hinaus im Gerichtssaal abgewogen und bewertet werden, damit am Ende der performative Richterspruch stehen kann: Egal um welche Art der Justiz es sich
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handelt (vgl. P 37), geht es in letzter Instanz darum, der wirren Unordnung des Außen Herr zu werden und der Gesellschaft eine garantierte, weil institutionell legitimierte Wirklichkeit anzubieten. Vom Gericht, im Zentrum der Macht angesiedelt, wird nichts Geringeres erwartet, als ein semantisch hochgradig verdichtetes und verknotetes Feld zu ›ordnen‹. Die Macht der Institution des Gerichts besteht darin, dass sie den Ort für einen verknappenden, nach klar definierten Regeln geführten Metadiskurs stellt. Die Diskursregeln des Gerichts spiegeln sich dabei in einer rigiden Raumordnung. So folgen wir Petkanov zu Beginn des Prozesses in den nüchtern gehaltenen, »demokratisch wirkenden« (vgl. P 30) Gerichtssaal mit »[…] the two rows of lawyersʼ desks, the small public gallery, the raised bench where the President of the Court and his two assessors would sit […].« (P 30) Die räumliche Ordnung als solche weist Funktionen, Rollen und Machtpositionen zu. Deutlich wird dies nicht zuletzt in der plötzlichen Verlegenheit einiger Journalisten, die wegen Platzmangels auf der leeren Geschworenenbank Platz nehmen müssen: »[…] a sudden self-consciousness hit them: thoughtfully, they began examining their empty notebooks.« (P 31) Durch die räumlichphysische Geschlossenheit, die statische Fernsehkamera und die Theaterreferenzen, so kann vorläufig festgehalten werden, bereitet Barnes die zentrale Bühne, auf der das Theater der Welterzeugung aufgeführt werden soll – der Gerichtssaal, das Innen, ist somit eine exemplarische Versuchsanordnung der Welterzeugung. Dass es sich beim Prozess tatsächlich um ein Schauspiel handelt und jeder Anspruch von Neutralität bloße Fassade ist, zeigt sich im Vorfeld der Verhandlung an einem zentralen Zitat, das keine Figuren-, sondern Erzählerrede ist: »[…] the President of the Court, the Prosecutor General, the defence council and the accused – most of all the accused – knew that anything other than a verdict of guilty was unacceptable to higher authority.« (P 57-58) So folgen die Leser einem Prozess, dessen Ausgang bereits feststeht und im juristischen Sinn diese Bezeichnung gar nicht verdient, weil er immer schon vom Ende her, von der causa finalis des Schuldspruchs gedacht wird. In diesem Setting nehmen die Protagonisten ihren hoffnungslosen Kampf um die Deutungshoheit über die Vergangenheit auf. Die große Nähe des Erzählers zu den
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Protagonisten erlaubt dabei einen intimen Blick auf die Individuen. Der ehemalige Diktator verteidigt sich zwar nach Kräften und bringt die Anklage immer wieder in große Bedrängnis. Wenn er nach dem Prozess im letzten privaten Gespräch mit Solinsky den Schuldspruch umdreht und gegen den Ankläger wendet, tut er dies sogar mit »gewissem moralischen Recht« (Freiburg 1998: 451), denn es ist Solinsky, der das Petkanovs Überzeugung nach gefälschte Memorandum einbringt. Der letzte Satz seiner fulminanten Schlussrede offenbart gleichzeitig aber auch ein Bewusstsein davon, dass Recht, zumal moralisches, in dieser Verhandlung eine untergeordnete Rolle spielt (vgl. P 126). Der Prozess, soviel ist am Ende klar, bringt keine echten Gewinner hervor: weder die Protagonisten, noch die geschichtliche Wahrheit oder die Gerechtigkeit. Man kann in The Porcupine somit eine Absage an einen »hermeneutisch fundierten Geschichtsbegriff Rankescher Provenienz« (Freiburg 1998: 448) sehen ebenso wie einen »[…] moralische[n] Impetus, die Suche nach der Wahrheit nicht aufzugeben und die Sorgfalt im Umgang mit ihren Versionen nicht reinen Machtinteressen zu opfern« (Henke 2001: 237-238). Über die Fragen nach geschichtlicher Wahrheit oder moralischem Handeln hinaus fördert der Schauprozess, der im statischen Zentrum des Romans stattfindet, die starke Rolle der Institution bei den Prozessen der Welterzeugung zutage. Sie ist als stabile Macht im Zentrum die eigentliche Protagonistin, während Solinsky und Petkanov viel mehr als passive Spielbälle, als »Leidtragende der Geschichte« (vgl. AH 242) erscheinen, wie es in The History of the World in 10 12 Chapters heißt. Sie sind den Mechanismen des Schauspiels in letzter Konsequenz hilflos ausgeliefert. Am deutlichsten wird dies in der Person des Generalstaatsanwalts und dem graduellen Verlust seiner Moral. Sieht er sich zunächst als idealistischen Helden der Demokratie, der seinem Land metaphorisch das Schwert der sowjetischen Unterjochung aus den Eingeweiden zieht (vgl. P 9), lässt ihn der Prozess zu einem zynischen Machtmenschen und damit zu Petkanovs Bruder im Geiste werden. Der Roman verbrieft dies durch die dokumentarische Evidenz des Memorandums. Das Kürzel S.P., mit dem Petkanov das Memorandum unterzeichnet haben soll, ist die Umkehrung von Solinskys Initialen (P.S.) – »Solin-
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sky ist Petkanov, unter den umgekehrten Vorzeichen der neuen Ordnung.« (Henke 2001: 237) Die Macht der Institution, für die es nur einen Schuldspruch geben kann, reduziert Solinsky immer mehr auf seine bloße Rolle als Generalstaatsanwalt, der das ihm zugespielte Material verwendet, um Petkanov zu inkriminieren. Mit der am Ende tragischen Person Solinskys17 entkoppelt Barnes den menschlichen Agens vom Rahmen der Institution des Rechts, der seinerseits agentive Züge anzunehmen scheint. In einer politischen Deutung sind die in The Porcupine vielfach verwendeten Theaterreferenzen damit auch als Kritik an einer verselbstständigten Institution zu verstehen, die nicht im Dienste der geschichtlichen ›Wahrheit‹ steht, sondern als perfekt organisierte (Macht-)Maschine funktioniert. Wer oder was aber ist diese Institution? Während das Spotlight der Fernsehkameras, die auch die Leser lenken, auf den Widerstreit der beiden Protagonisten gerichtet ist, bleibt der institutionelle Rahmen ein blinder Fleck. Der Erzähler betont, dass es in der Geschichte des Landes keinen Fall gebe, der mit diesem vergleichbar sei (vgl. P 58). Mit dem »Criminal Law Case Number 1« (P 9) betritt das Land in juristischer wie politischer Sicht Neuland. Umso überraschender ist es, dass sich die Institution des Rechts als außerordentlich beständig erweist. Als Petkanov Solinsky in einer ihrer privaten Unterredungen fragt, nach welchen Gesetzen er ihn anklage, antwortet dieser wie selbstverständlich: »Oh, your laws. Your constitution.« (P 15) Das Kalkül des Generalstaatsanwalts ist klar: Er will zeigen, dass sich der Ex-Diktator auch nach seinen eigenen Maßstäben schuldig gemacht hat. Gleichzeitig spricht dieses Detail aber auch für die Beständigkeit der zentralen Institution des Romans und deren Katego-
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Trotz der Verurteilung Petkanovs besteht am Ende kein Zweifel daran, dass Solinsky ebenso ein Verlierer ist wie der Ex-Diktator selbst. Dem Prozesserfolg steht der persönliche Ruin gegenüber, schließlich verliert er im Laufe des Prozesses nicht nur seine Moral, sondern auch seine Familie: Sein Vater ist tot, seine Frau Maria verlässt ihn und seine Tochter weigert sich, mit ihm zu sprechen (vgl. P 135).
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rien, während um den Gerichtssaal herum alles im Umbruch begriffen ist. Auch über die Frage nach den Gesetzen hinaus zeigt sich, dass die Gerichtsbarkeit vom demokratischen Innovationseifer ausgenommen und gleichsam unsichtbar bleibt. Wer legitimiert das Gericht? Wer sind die Richter? Diese Fragen bleiben unbeantwortet. Die Leser erfahren nicht, wer die »höheren Autoritäten« sind, für die alles andere als ein Schuldspruch inakzeptabel sei (vgl. P 57-58); es kann nur spekuliert werden, wer den »President of the Court and his colleagues« (P 31) einsetzt und welche Kriterien dafür ausschlaggebend sind. Die anonymen Richter selbst verschwinden vollständig von der Bildfläche. Trotz des großen Umbruchs, an dessen Schwelle sich das Land befindet, scheint die Institution des Rechts von sich aus, von ›innen‹ heraus zu funktionieren und sich über den politischen Wechsel hinweg selbst zu erhalten. Barnes zeichnet das Bild einer verselbstständigten, objektivierten Institution (vgl. Berger/Luckmann 1969: 94-95), die längst zu einer »sozialen Realität eigenen Rechts« (Koschorke 2012a: 288) geworden ist. Der prinzipienlose, im Prozess unsichtbare Ganin mit seiner »im gesamten Roman betonten Soldaten- bzw. Bürokratenmentalität« (Reinfandt 1997: 280) ist dabei die Personifikation des institutionalisierten Systems schlechthin. Der ehemalige Leutnant unter Petkanov und jetzt wichtigster Zuarbeiter Solinskys greift entscheidend ein, indem er das mutmaßlich gefälschte Memorandum besorgt. Er spielt die Rolle des Iago in The Porcupine, des versteckten Regisseurs, der dafür sorgt, dass passiert, was passieren muss, dass – auch für Solinsky – wahr wird, was wahr werden muss: »The document is true, even it is a forgery.« (P 113) Dieser paradoxe Satz bringt nicht nur zum Ausdruck, dass Petkanov in den Augen Solinskys eine Strafe aufgrund seiner Verbrechen verdient hat, sondern auch, dass das Setting des Prozesses keinen anderen Ausgang als einen Schuldspruch vorsieht und die vermeintlich erst zu ermittelnde Wahrheit schon von Beginn an feststeht. Er ist damit auch ein Echo einer Beschreibung der Gerichtsbarkeit zu Zeiten des kommunistischen Regimes. Zur Verschmelzung von Partei und Staat heißt es im Vorfeld des Prozesses: »[…] any clear separation between a political organisation and a legislative system ceased to exist.
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What was judged politically necessary was, by definition, legal.« (P 38, Herv. S.B.) Die Parallele zwischen dem alten Regime und dem demokratischen Wandel ist eindeutig: Hier wie dort geht es nicht um ›Wahrheit‹, ›Recht‹ oder ›Gerechtigkeit‹, sondern darum, eine bestimmte politische Wirklichkeit zu legitimieren. Die Narrative und Infrastrukturen, um eine neue Welt nicht nur zu erzeugen, sondern auch dauerhaft zu etablieren, verortet The Porcupine in der Institution des Rechts und damit im Herzen des Staats. Die Dynamik der Entwicklungen führt die »Changes« von der ›heißen‹ Peripherie ins ›kalte‹ Zentrum, wo sie mit dem Gerichtsprozess in den Übergang von einer manipulativen staatlichen Macht zu einer anderen mündet. Das Recht ist aus dieser Perspektive nicht mehr als »der zum Gesetz erhobene Wille« (Marx) der jeweiligen hegemonialen sozialen oder politischen Klasse. Mit dem Höhepunkt des Prozesses und der Permanenz der Machtstrukturen tritt auch deutlich zutage, was Laclau als die Unmöglichkeit »radikaler Emanzipation« beschreibt. Die Identität des Alten ist nicht zuletzt durch die Annäherung Solinskys an die korrupten Praktiken der ehemaligen kommunistischen Führung in eben der Identität eingeschrieben, »die nach Emanzipation sucht« (Laclau 2007: 44).18 In The Porcupine überdauert das Alte in einzelnen Personen wie Solinsky oder Ganin mit ihrer kommunistischen Vergangenheit, vor allem aber auch in der Institution des Rechts und der Art und Weise, wie sie hegemoniale Verhältnisse schafft, legitimiert und sichert. Der institutionalisierte Raum wird von den Kräften des neuen Außen besetzt, die Mechanismen der Macht bleiben jedoch unverändert. Es bleibt abschließend festzustellen, dass die rigide Raumopposition von Innen und Außen, die sich trotz veränderter Machtverhältnisse als stabil erweist, The Porcupine zu einem doppelten Transitionsnarrativ
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Für Laclau ist die Präsenz des Anderen, des Unterdrückers, notwendiger Bestandteil der eigenen Identität: »Unterdrückt zu sein, ist Teil meiner Identität als Subjekt, das um seine Emanzipation kämpft; ohne die Gegenwart des Unterdrückers wäre meine Identität eine andere. Ihre Konstitution erfordert die Präsenz des Anderen und weist sie zugleich zurück.« (Laclau 2007: 44)
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macht. Wie wir im vorangehenden Abschnitt gesehen haben, konstruiert der Roman einerseits eine dynamische Peripherie, in der verschiedenste Stimmen und Akteure zu Wort kommen und eine vielstimmige, pluralistische Wirklichkeit erzeugen. Gleichzeitig werden andererseits aber auch Schwierigkeiten deutlich, wenn die Vielstimmigkeit der Peripherie innerhalb eines institutionellen Rahmen im Zentrum zu einer ›offiziellen Wahrheit‹ oder Transitional Justice kondensiert werden soll. Hier tritt die Institution des Rechts als autonome Akteurin in Erscheinung, während sich die Protagonisten auf der großen Bühne, Solinsky und Petkanov, letztendlich machtlos in ein schon vor dem Prozess feststehendes Narrativ fügen müssen. Dass das Hegemonial-Werden der neuen Ordnung dabei nach einem altbekannten Muster verläuft, wird zum Ende des Romans insbesondere von den subversiven Kräften des Devinsky-Kommandos durchschaut. Nach dem Prozess erhält Solinsky eine anonyme Postkarte mit dem Bild der ehemaligen Zentrale der kommunistischen Partei in Sliven, der Ort, wo sich der Protest zu Beginn der »Changes« abspielt. In bewährt ironischer Manier lautet der Text: »GIVE US CONVICTIONS, NOT JUSTICE!« (P 127) Das Außen, so scheint es, bleibt in ständiger Bewegung und hat den symbolischen Kampf auch gegen die neue Ordnung bereits aufgenommen.
9. The tyranny of the bloody mirror: Das Blickregime des Friseursalons in »A Short History of Hairdressing«
Barnesʼ 2004 erschienene Kurzgeschichtensammlung The Lemon Table verdankt ihren kuriosen Titel einem Symbol aus China. Die Zitrone, so erfährt man in der letzten Geschichte »The Silence«, steht dort für den Tod. Eine Gruppe um den alternden Komponisten Sibelius greift dieses Bild auf und nennt ihre düstere Diskussionsrunde »der Zitronentisch«, denn: »Here it is permissible – indeed obligatory – to talk about death.« (S 206) Der Name ist nicht nur für die Runde in »The Silence«, sondern für den gesamten Band Programm. Alle Geschichten drehen sich um »die weniger heiteren Aspekte des Alters« (vgl. Childs 2011b: 104), wie Barnes selbst in einem Interview zu Protokoll gibt: Fragen nach dem Sinn und Unsinn des eigenen Lebens, dem Jenseits und schließlich dem »big D« (M 53), dem Tod. Den Auftakt zu diesem nachdenklichen Band macht »A Short History of Hairdressing«. Die Erzählung behandelt in drei kurzen Kapiteln ebenso die Geschichte des Haareschneidens wie die des Protagonisten Gregory. Der Erzähler verschafft den Lesern in erlebter Rede einen Einblick in Gregorys Gedankenwelt, wenn er auf dem Friseurstuhl über das Leben sinniert. So lernen wir Teile seiner Biographie, seine Abneigung für Friseure und Zahnärzte, vor allem aber seinen Blick auf Partnerschaft und Sexualität kennen. Die drei Friseurbesuche verteilen sich über mehrere Jahrzehnte, sodass Gregory sich jedes Mal in einer anderen Lebensphase befindet: zunächst als Junge an der Schwelle zur
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Pubertät bei seinem ersten eigenständigen Gang zum »barber«, dann als rebellischer junger Erwachsener beim »hairdresser« und schließlich als Mann mittleren Alters im »Barnet Shop«. Wie die verschiedenen Bezeichnungen für Beruf und Ort andeuten, wandelt sich nicht nur der Protagonist, sondern auch der Friseursalon. Ist das Haareschneiden in Gregorys Kindheit eine biedere Dienstleistung, entwickelt es sich im Laufe der Zeit hin zum hippen Lifestyle-Erlebnis. Eine Konstante allerdings ist der Spiegel, der dem Kunden am Ende den neuen Schnitt von hinten zeigt. Hier erringt Gregory einen kleinen Sieg, wenn er im letzten Teil nach Jahrzehnten der »Tyrannei des verdammten Spiegels« (vgl. ASHH 22) den Blick auf den eigenen Hinterkopf mit einem milden Lächeln ablehnt. Die dreigeteilte Struktur ist eine formale Organisation, die bei Barnes wiederholt zu finden ist. Sein Debütroman Metroland beispielsweise erzählt die Coming-of-Age-Geschichte des Protagonisten Christopher Lloyd in drei Teilen; in England, England erstrecken sich die drei Kapitel des Buchs fast über das gesamte Leben Martha Cochranes. So verfolgen die Leser, wie Martha von der Zynikerin zur altersmilden, gelassenen Beobachterin und Christopher (Metroland) vom intellektuellen Rebellen zum bildungsbürgerlichen Spießer wird. Wie in den Romanen dient die Dreiteilung auch in »A Short History of Hairdressing« als erzählerisches Mittel, um Entwicklung und Veränderung zur Darstellung zu bringen. Die Dynamik der Kurzgeschichte speist sich aus dem Vergehen der Zeit, das körperliche wie psychische Spuren am Protagonisten hinterlässt. Sie bietet einen globalen Überblick, der die Leser förmlich dazu drängt, einen Strich unter Gregorys Leben zu ziehen und es in toto zu beurteilen. In diesem Sinn sind Frederick Holmesʼ Leitfragen zu verstehen, die er für seine Analyse der Kurzgeschichten formuliert: »Is selfhood a continuous phenomenon that unites all of the phases of life? What constitutes the self? Is there some essential aspect that defines it, and, even if there is, is the self not wholly obliterated by death?« (Holmes 2009a: 113) »A Short History of Hairdressing« ist aber mehr als nur ein historisch-biographischer Abriss der Entwicklung des Protagonisten. Die Geschichte erzählt mit Gregorys Besuchen beim Friseur drei diskrete
9. »A Short History of Hairdressing«
Ereignisse, die jeweils ihre eigene Gegenwart schaffen. Für die Leser ist die Gegenwart des Friseursalons der Zugang zu Gregorys Gedankenwelt. Hier lässt Barnes den Protagonisten verstummen und in seine Gedanken abtauchen. Der Kontrast zwischen den undurchsichtigen, fließenden Prozessen des Älterwerdens und Erinnerns einerseits und der Gegenwart des Friseursalons andererseits ist auch als einer zwischen Zeit und Raum konstruiert. Ist Gregorys Erzählung als ganze stetig im Fluss, in Bewegung, konstituiert der Friseursalon eine Insel innerhalb des Texts. Hier ist Gregory physisch präsent und ›in der Welt‹. Während Holmesʼ oben zitierte Leifragen auf eine diachrone Analyse hinauslaufen1 , konzentrieren sich die folgenden Abschnitte auf die synchrone Dimension der drei Friseurbesuche: Wie bewegt sich Gregory zu den drei verschiedenen Zeitpunkten im Raum? Wie erzeugt der Friseursalon eine Welt? Wie bedingen sich Raum und Verhalten Gregorys? Der Friseursalon ist aus Sicht der Kunden ein institutionalisierter Raum, dem – noch bevor der Kunde den Raum betritt – ein Set an Strukturen, Rollen und Regeln eingeschrieben ist. Mit dieser institutionalisierten Welt befasst sich Gregorys persönliche Geschichte des Haareschneidens. Bedeutet der Friseurbesuch für ihn zunächst nur Unterdrückung und Demütigung, werden die Protokolle der Friseurbesuche im zweiten und dritten Teil zu Gregorys persönlichen Narrativen der Ermächtigung und Befreiung.
9.1.
»Yes«: Der Friseursalon als institutionalisierter Raum
Für den jungen Gregory ist der Friseursalon beim ersten eigenständigen Besuch ohne die Mutter ein bedrohlicher, ehrfurchtseinflößender
1
Die Antworten, die Holmes selbst auf seine Fragen gibt, sind für einen BarnesText wenig überraschend. Gregorys Veränderung von einer Phase zur nächsten ist so groß, dass ein kontinuierliches Selbst über die Jahre hinweg nicht erkennbar wird, mehr noch: »His sense of personal identity […] is fragile and beleaguered.« (Holmes 2009a: 113)
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Ort. Die Geschichte beginnt mit einem ersten Mal, das für Gregory wegen der vertrauten Umgebung eigentlich gar kein richtiges erstes Mal ist: That first time, after they moved, his mother had come with him. Presumably to examine the barber. As if the phrase ›short back and sides, with a little bit off the top‹ might mean something different in this new suburb. He’d doubted it. Everything else seemed the same: the torture chair, the surgical smell, the strop and the folded razor – folded not in safety but in threat. Most of all, the torturer-in-chief was the same […]. (ASHH 3) Für Gregory ist der Raum des Friseursalons sofort lesbar, weil er anderen Friseursalons in anderen Vororten aufs Haar gleicht. Er weiß, was er zu tun hat und ebenso, was er vom Friseur, dem »torturer-inchief«, zu erwarten hat. Gregory charakterisiert den Friseursalon damit soziologisch gesprochen als typisierte Einrichtung, die Rollen und Handlungserwartungen vorgibt (vgl. Berger/Luckmann 1969: 58). Dies wird durch Gregorys Blick auf den Friseur besonders deutlich: Wenn er sagt, dass der »the same« sei wie in einem anderen Salon, nimmt er ihn zunächst ausschließlich in seiner Rolle und nicht als individuelle Person wahr. Erst später nimmt das Individuum unter dem Friseurkittel für den Jungen Konturen an. Für den geradezu paranoiden Gregory ist dies ein Grund mehr zur Sorge, ist er sich doch sicher, dass der Friseur ein »loony« und »perve« sei. Die Smalltalk-Versuche des Friseurs, so glaubt der Junge, folgen einem breit angelegten Plan, an dessen Ende er missbraucht werden soll. Auch das Handwerkszeug des Friseurs – Friseurstuhl, Rasierriemen und Rasiermesser – schafft für Gregory ein bedrohliches Szenario, das ihn als Kunden auf dem Stuhl in eine Position des Ausgeliefertseins versetzt. Die banalen Rituale des Haareschneidens fasst er als Gewaltakte auf: »[…] the barber was trying to strangle him with the sheet, pulling it tight round his neck, then shoving a cloth down inside his collar.« (ASHH 4) So voraussehbar und ritualisiert das Protokoll des Friseurbesuchs in seiner ersten Beschreibung nach auch erscheinen mag, hat es für Gregory dennoch etwas Mysteriöses, Unberechenbares: »But that was
9. »A Short History of Hairdressing«
typical: you were never sure of the rules, never sure if they tortured everyone the same way, or if it was just you.« (ASHH 4) Der junge Gregory hat die unausgesprochenen Regeln und Verhaltensweisen, die sich im Friseursalon etabliert haben, noch nicht vollends durchschaut. Für ihn ist er vor allem ein Ort des Ausgeschlossenseins und der Stigmatisierung. So empfindet er es als Affront, dass ihm der Friseur ein Gummikissen auf den Stuhl legt, obwohl er schon seit 10 12 Monaten »long trousers« trage. Ebenso unzumutbar scheint ihm, dass Buben an Samstagen nicht zum Haareschneiden kommen dürfen: »Boys had to go when men didn’t want to. At least, not men with jobs.« (ASHH 4-5) Als Junge an der Schwelle zur Pubertät sieht er es als Mangel, nicht an der sozialen Welt der erwachsenen Männer teilhaben zu können. Wie der erwachsene Kunde dem Friseur ein Trinkgeld überreicht (»Boys didn’t tip«), kann er nur in stiller Bewunderung aus dem Augenwinkel betrachten: »One man giving another man money, a secret half-handshake with both pretending the exchange wasn’t being made.« (ASHH 5) Die Erzählung oszilliert hier zwischen dem Besuch beim Friseur und Gregorys Gedanken an das Schulschwimmen, wo er beim Vergleich mit seinen Mitschülern unter der Dusche feststellt, dass er auch körperlich noch nicht in der Welt der Männer angekommen ist (vgl. ASHH 7). Die Unsicherheit und Angst Gregorys im ersten Teil speisen sich aus einem Gefühl der Unreife, die auf dem Friseurstuhl sowohl auf sozialer (Rolle im Salon) als auch körperlich-biologischer (Schulschwimmen) Ebene deutlich wird. Für Gregory ist der Friseursalon auch über seine pubertäre Scham und Unsicherheit hinaus ein Ort der Machtlosigkeit. Besonders kennzeichnend ist ein Zitat des römischen Satirendichters Juvenal, das Gregory aus der Schule kennt und originell auf seine gegenwärtige Situation münzt: »Quis custodiet ipsos custodes, they’d been taught. So who barbers barbers?«2 (ASHH 8) Gregory stellt hier den Besuch beim Friseur ausdrücklich als ein Machtverhältnis dar: Der Friseur ist der Bewacher (custos), Gregory der Bewachte oder Insasse. Aber wer entscheidet, wer
2
Auch in The Noise of Time (Abschnitt 6.2) verwendet Barnes das Juvenal-Zitat in abgewandelter Form.
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Wächter und wer Insasse ist – und wer schneidet dem Friseur die Haare? Mit seiner Frage eröffnet der Junge nicht nur einen Blick auf andere Institutionen, wo es Wächter und Insassen gibt (Gefängnisse, psychiatrische Kliniken), sondern auch auf die Diskurse, die die Geschichte und Funktionsweisen dieser Institutionen ergründen.3 Mehr noch: In der blühenden Fantasie Gregorys wird der Friseursalon zu einer totalen Institution, in der der Einzelne seiner Individualität beraubt und einem strengen, alle Bereiche des Zusammenlebens regelndes (vgl. Goffman 1972: 16) Protokoll unterworfen wird. So ist es für ihn nur folgerichtig, dass er auch den letzten Akt des »perve’s game«, den Blick in den Spiegel, vollziehen muss: »[…] so he took a final glance at the alien skull, looked boldly higher up the mirror at the barber’s indifferent spectacles, and said, quietly, ›yes‹.« (ASHH 9)
9.2.
»No«: Gregorys Rebellion gegen die Institution
Während der Friseursalon für den Gregory des ersten Teils ein respekteinflößender, bedrohlicher Ort ist, hat der Gregory des zweiten Teils nur Verachtung und Geringschätzung für den Friseur und sein Handwerk übrig. Er inszeniert sich nun als liberaler Student, der ein bürgerliches Leben strikt ablehnt (vgl. ASHH 11) und den dazu passenden rebellischen Gestus kultiviert hat. Er ist nur erschienen, weil ihn seine Freundin Allie, die ihm die Haare zu Hause schnitt, verlassen hat (vgl. ASHH 10). Er setzt in der Folge alles daran, das vom jungen Gregory konstruierte Machtverhältnis auseinanderzunehmen. Als er bei einem Blick in den Spiegel über den Friseur nachdenkt, heißt es: »Maybe he wasn’t so bad. Apart from being a bore. And, of course, terminally malformed in his psychology by decades of complicity in the exploitative master-servant nexus.« (ASHH 11, Herv. S.B.) Gregory erkennt hier wie im ersten Teil ein Machtverhältnis zwischen Dienstleister und Kunde, allerdings kehrt er es jetzt um: Frei nach dem Motto ›der Kunde ist 3
Siehe zum Beispiel Foucaults berühmtes Werk Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses.
9. »A Short History of Hairdressing«
König‹ ist er nun derjenige, der die Macht über den anderen hat. Der Friseur wird vom Entscheider über Leben und Tod im ersten Teil zu einem ungebildeten Unterstützer seiner eigenen Unterdrückung durch die herrschende Klasse. Ist für Gregory das Trinkgeld Geben im ersten Teil noch ein mysteriöser und geheimnisvoller Vorgang, lehnt er es im zweiten Teil aus politischen Gründen ab: »Gregory didn’t believe in tipping. He thought it a reinforcement of the deferential society, equally demeaning for tipper and tippee.« (ASHH 12) Hier stellen zwei weitere Sätze Gregorys Motivation in Frage: »Anyway, he couldn’t afford it. And on top of that, he was fucked if he was going to tip a topiarist who accused him of being a shirt-lifter.« (ASHH 12) Obwohl Gregory »pro-choice«, also für eine schwulenfreundliche Politik ist, reagiert er entsetzt, als er denkt, dass der Friseur ihn für homosexuell hält. Wie an dieser Stelle lässt Barnes Gregorys vermeintliche Überzeugungen immer wieder durch feine Ironie ins Leere laufen. So zitiert Gregory dem Friseur gegenüber Voltaire mit dem Satz, dass die Ehe das einzige Abenteuer sei, das Feiglingen offenstehe (vgl. ASHH 12). Als er später darüber sinniert, warum Allie ihn verlassen hat, wird deutlich, dass es mit seinen freiheitlichen Idealen womöglich nicht weit her ist: »He still couldn’t work out why Allie had broken it up. Said he was too possessive, said she couldn’t breathe, being with him was like being married.« (ASHH 13, Herv. S.B.) Gregory entwirft für sich selbst ein Idealbild, dem er nicht gerecht wird. Er wird mehr und mehr zu einer Parodie der freiheitlichen, rebellischen Figur, die ihm vorschwebt. Unter der Oberfläche, so scheint es, ist er immer noch der unsichere und kleingeistige Junge des ersten Teils. Obwohl Gregory immer noch Respekt vor dem Besuch beim Friseur hat, hat sich seine Perspektive auf den Friseursalon im Vergleich zum ersten Teil geändert. Der Friseursalon stellt sich ihm als eine wandelbare, kontingente Struktur mit einer Geschichte dar: Snip, snip. Hair, skin, flesh, blood, all so fucking close. Barber-surgeons, that’s what they’d been in the old days, when surgery had meant butchery. The red stripe round the traditional barber’s pole denoted the strip of cloth wound round your arm when the barber
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bled you. His shop-sign featured a bowl as well, the bowl which caught the blood. Now they’d dropped all that, and declined into hairdressers. (ASHH 13) Vor dem geschichtlichen Hintergrund der »barber-surgeons«, die Haare schnitten, Zähne zogen und Operationen durchführten, bekommen auch die wiederholten Zahnarzt-Referenzen (vgl. ASHH 3, 11) eine besondere Relevanz. Obwohl die »barber-surgeons« den Abstieg zu bloßen Friseuren mitgemacht haben, atmet der Friseursalon für Gregory noch immer die Gefahr für Leib und Leben, die ein Besuch dort einst bedeutete. Während die »barber-surgeons« Geschichte sind, sieht er in anderen Merkmalen aus der Vergangenheit auch die Zukunft des Haareschneidens: In the old days, Gregory reflected, barber shops had been of ill repute, where idle fellows gathered to exchange the latest news, where lute and viol were played for the entertainment of the customers. Now all this was coming back, at least in London. Places full of gossip and music, run by stylists who got their names in the social pages. (ASHH 15) Gregorys Mittel, um gegen die im ersten Teil so exakt beobachteten Konventionen und Rituale zu rebellieren, ist das der Aufklärung: Seine gedanklichen Exkurse in die Soziologie der vermeintlichen masterservant-Dialektik und die Geschichte der Institution zielen darauf ab, Licht ins Dunkel der mysteriösen Struktur des Friseursalons zu bringen. Für Gregory sind die sozialen Komponenten des Salons Ausdruck von Ungleichheit und Unterdrückung, allerdings nicht mehr auf der unmittelbaren, persönlichen Ebene des ersten Teils der Kurzgeschichte. Vielmehr ist das Dienstleistungsverhältnis zwischen Kunde und Friseur (inklusive »tipping«) nun Ausdruck der ungleichen Verhältnisse in der englischen Klassengesellschaft der 1960er und 70er Jahre. Trotz seiner aufklärerischen Agenda bleibt jedoch auch der Gregory des zweiten Teils im Protokoll des Friseurbesuchs verhaftet. Während der Blick in den doppelten Spiegel für den jungen Gregory den letzten Akt »in the perve’s game« bedeutet, nimmt er im zweiten Teil keine Notiz von der sozialen Funktion des Rituals. Gebannt von seiner neuen Frisur und
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abgelenkt vom Liebeskummer beschließt er das Protokoll des Friseurbesuchs abermals mit einem »yes«. Die ultimative Rebellion gegen den Spiegel bleibt dem Gregory des letzten Teils vorbehalten. Der ist nun ein gesetzter älterer Herr, der sich vor dem Gang zum Friseur die Haare schneidet, die ihm aus den Ohren und aus der Nase wachsen (vgl. ASHH 16). Der Friseursalon hat sich der von Gregory prophezeiten Wandlung unterzogen: Es wird nun laute Musik gespielt, es werden Getränke angeboten, man duzt sich und der »barber« ist mittlerweile eine Frau. Die Gregorys der ersten beiden Teile könnten einwenden, dass sich die soziale Grundfiguration dennoch nicht geändert habe. Es ist noch immer ein Dienstleister-KundenVerhältnis, bei dem Trinkgeld eine wichtige Rolle spielt; der Friseur ist noch immer derjenige, der die lebensbedrohlichen Instrumente in der Hand hält. Obwohl Gregory die Angst vor Friseuren hinter sich glaubt, hallen die alten Vorbehalte auch im letzten Teil der Geschichte nach. So ist die Erinnerung an die raue medizinische Vergangenheit der Institution des Friseursalons noch immer nicht getilgt. Als ihm die Haare gewaschen werden, heißt es: »And then you lay there, with cold porcelain holding your neck and your throat exposed. Upside down, waiting for the guillotine blade.« (ASHH 17)4 Der gealterte Gregory kann jedoch alles in »half-amused passivity« (ASHH 17) über sich ergehen lassen, weil er durch eine symbolträchtige Handlung eine Distanz zwischen sich und dem Protokoll des Friseurbesuchs schaffen konnte. Einige Jahre zuvor widersetzt er sich dem letzten Akt des Spiels und lehnt den Spiegel ab – Gregorys persönliche Revolte »against the tyranny of the bloody mirror« (ASHH 22). Dass die Friseurin das Ritual so verinnerlicht hat und ihm trotzdem jedes Mal den Spiegel vorhalten will, stört ihn nicht: »In fact it was better, since it meant that his timid victory was repeated every time. Now, as she came towards him […] he raised a hand, gave his regular indulgent smile, and said, ›No‹.« (ASHH 22) Die Kurzgeschichte endet mit dem Wort »no« 4
Siehe in diesem Zusammenhang auch folgendes Zitat: »The salon had the mixed-ward atmosphere of a jolly outpatientsʼ department where no one had anything serious.« (ASHH 19)
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und damit dem »zaghaften Sieg«, den Gregory über das Protokoll des Friseurs davonträgt. Der abgelehnte Blick in den Spiegel ist der Kulminationspunkt einer Geschichte, in der Blicke – gespiegelte, verstohlene, direkte – eine zentrale Rolle spielen.
9.3.
Sehen und Nicht-Sehen: Das Blickregime des Friseursalons
Für den jungen Gregory ist der Friseursalon ein Ort der sozialen Kontrolle. Sein Blick ist entsprechend unfrei: Er traut sich nicht, die ausgelegten Magazine anzuschauen und fixiert seinen Blick stattdessen auf den Boden, wo sich die »Hamsterneste aus Haar« (vgl. ASHH 4) tummeln. Als die Prozedur schließlich beginnt, schließt er die Augen ganz: »Eyes tight shut, he endured he tickly torment of hair falling on his face. He sat there, still not looking […].« (ASHH 6) Die Blicke, die er sich in der Folge erlaubt, sind indirekt und verstohlen. So beobachtet er die Trinkgeld-Transaktion der erwachsenen Männer »out of the corner of his eye« (ASHH 5). Als seine Gedanken abschweifen und sich auf das Schulschwimmen konzentrieren, sind es ebenfalls indirekte Halbblicke, mit denen die Jungen einander anschauen: »[…] and afterwards they towelled themselves dry and looked at one another without looking, sort of sideways, like in the mirror of the barber’s.« (ASHH 7, Herv. S.B.) Die Unfreiheit von Gregorys Blicken liegt in der sozialen Konfiguration des Friseursalons begründet. Weil der Friseur, der »torturer-inchief« (ASHH 3), sich stets hinter ihm befindet, wird Gregory in eine Position des Angeblickten, des Beobachteten versetzt. Er weiß weder, welche Bewegungen und Blicke ihm gestattet sind, noch ob er bzw. seine Bewegungen und Blicke gesehen werden.5 Dieses »Sichtbarkeits-
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Die Möglichkeit, die Blicke des Friseurs zu ›parieren‹, indem er ihn selbst durch den Spiegel vor ihm anblickt, kommt ihm nicht in den Sinn. Erst gegen Ende der Geschichte, als der Friseur ihn direkt anspricht, wagt er überhaupt einen ersten Blick (vgl. ASHH 8).
9. »A Short History of Hairdressing«
regime« (Prinz 2014: 121)6 , das Gregory in die Struktur des Friseursalons eingeschrieben sieht, unterwirft ihn somit einer ständigen Beobachtung. Aus seiner Sicht ist der Friseursalon ein machttechnologisch strukturierter Raum wie ihn Foucault etwa in Überwachen und Strafen für das Panopticon des Gefängnisses beschreibt. Die Architektur des Panopticons sorgt dafür, dass die Insassen sich durch den Blick des Wächters stets beobachtet fühlen, auch wenn der Wächter auf dem Turm gerade in eine andere Richtung blickt oder der Turm gar nicht besetzt ist. Durch den dauerhaften, wenn auch nur imaginierten Blick der Disziplinarmacht wird das Denken und Fühlen der Insassen gelenkt: Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus; er internalisiert das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt, er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung. (Foucault zit.n. Prinz 2014: 127) Zwar hat der Friseursalon keine panoptische Struktur, die Konfiguration zwischen Friseur, Kunde und Spiegel hat für Gregory dennoch einen ähnlichen Effekt. Er erstarrt durch seine Unsicherheit geradezu auf seinem Stuhl. Durch seine Angst, sich auch nur falsch zu bewegen, zeigt er, dass er sich das »Prinzip seiner eigenen Unterwerfung« einverleibt hat. Die Welt, in die Gregory wider Willen geworfen wird, stützt ihre Ordnung damit im Wesentlichen auf ein visuelles Regime – der beobachtende Blick des Friseurs und die Einschränkung der eigenen Blickfreiheit konstituieren Gregorys Wirklichkeit. Im krassen Gegensatz zu Gregory stehen die anderen Kunden wie die »old geezers« (ASHH 5) neben ihm, der Friseur und vermutlich auch 6
Prinzʼ Arbeit Die Praxis des Sehens schließt an poststrukturalistische Theorien des Sehens und der Sichtbarkeit als grundlegende Formen der Selbst- und Wirklichkeitskonstitution an. Während diese Theorien »[…] die Genese historischer Subjektivität nahezu ausschließlich auf einen einzigen Diskurstypus, nämlich die Zeichen-, Sprach- und Diskursordnungen[,] zurückführen […]«, nimmt sich Prinz vor, »[…] die möglichen nicht-repräsentationalen, materiellen und visuellen Ordnungen der Welt sowie die körperlichen Erfahrungen des Subjekts […]« in den Mittelpunkt zu rücken (Prinz 2014: 10).
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die Leser der Kurzgeschichte, die ihre Rollen im Friseursalon natürlich nicht so erleben wie der Junge. Für sie ist das Haareschneiden nicht mehr als eine banale Alltagshandlung. Dass sich die anderen Protagonisten zwar im gleichen Raum, aber tatsächlich in einer anderen Wirklichkeit bewegen, wird besonders deutlich in Gregorys Wahrnehmung des Handwerkszeugs des Friseurs. Für ihn stellen die ausgelegten Messer und Klingen potenzielle Mordwaffen dar, während die anderen Kunden sich der Rasur an der Kehle mit scharfen Instrumenten bereitwillig unterziehen. Sie schreiben dem Werkzeug des Friseurs andere Eigenschaften zu: Die Instrumente haben für sie im Kontext des Friseursalons eine andere Funktion, außerhalb derer sie nicht gedacht oder gesehen werden. Gregory, das wird hier deutlich, verfügt noch nicht über diesen soziokulturell zugerichteten Blick der Erwachsenen. Der Blick des Kindes7 eröffnet den Lesern somit eine andere, entfremdende Perspektive auf Raum und Wirklichkeit des Friseursalons. Für den Jungen ist der Friseursalon eine kontrollierend-normative Einrichtung wie sie Foucault oder auch Goffman mit seinem Konzept der totalen Institution entwerfen (vgl. Abschnitt 4.2). Wie wir gesehen haben, ist Gregory als Kind kein vollwertiger Akteur im sozialen Gefüge des Friseursalons und verfügt entsprechend nicht über einen ›autorisierten‹ oder ›informierten‹ Blick. Er erschließt sich die Umgebung durch indirekte Blicke, Blicke von unten, Halbblicke. Umso überraschter ist er, als der Friseur ihn einlädt, sich geradeaus in der Spiegelung des Spiegels zu betrachten. Dieser Blick stellt sich für Gregory jedoch nicht als Ermächtigung, sondern als ultimativer Mechanismus der sozialen Kontrolle heraus: Gregory looked into the first mirror, into the second mirror, and out the other side. That wasn’t the back of his head. It didn’t look like that. He felt himself blush. He wanted to pee. The perve was showing him 7
Siehe in diesem Zusammenhang die Aufsätze, die der Band Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft versammelt. Im Anderson-Märchen ist es ebenfalls ein Kind, das durch seinen unschuldigen – oder nicht zugerichteten – Blick entlarvt, wie kulturelle und politische Zuschreibungen funktionieren und – im Fall des Märchens – den nackten Kaiser kleiden.
9. »A Short History of Hairdressing«
the back of someone else’s head. Black magic. Gregory stared and stared, his colour getting brighter, staring at the back of someone else’s head, all shaved and sculpted, until he realized that the only way to get home was to play the perve’s game, so he took a final glance at the alien skull, looked boldly higher up the mirror at the barber’s indifferent spectacles, and said, quietly, ›yes‹. (ASHH 9, Herv. S.B.) Er hat keine Möglichkeit mehr, einen geheimen, subversiven Blick auf das Geschehen zu werfen oder die Augen ganz zu schließen. Der Friseur ›zwingt‹ ihn, geradewegs in den Spiegel zu schauen. Der doppelte Spiegel sorgt für eine zweifache Perspektivierung des eigenen Blicks: Es sieht sich, wie ihn ein Gegenüber, gleichzeitig aber auch, wie ihn jemand von hinten sehen würde. Diese doppelte Sicht auf sich selbst aus einer fremden Perspektive gibt ihm den Eindruck, den »Hinterkopf eines anderen«, einen »fremden Schädel« zu betrachten. Der doppelte Spiegel löst den Blick vom blickenden Subjekt. Das Vorhalten des doppelten Spiegels zeigt symbolhaft, wie ihm sein individueller Blick genommen und er dadurch in die objektivierte Rolle des Kunden im typisierten Friseur-Kunden-Verhältnis gezwängt wird. Der finale Blick in den doppelten Spiegel und Gregorys »yes« sind performative Akte, mit denen er die Spielregeln letztlich nicht nur passiv, sondern auch aktiv bestätigt. Das »perve’s game« hat sich nicht nur auf sozialer Ebene, sondern mit der neuen Frisur auch an Gregorys Körper vollzogen. Der junge Gregory erlebt die Schikanen des Friseursalons zwar unmittelbar, der größere politische Horizont des Gangs zum Friseur eröffnet sich ihm aber noch nicht. Erst der Gregory des mittleren Teils begreift das Haareschneiden als vermeintlich normierenden Vorgang, um einen politischen Status quo zu sichern. Während lange Haare bei Männern längst keine Gemüter mehr erregen, kann der rebellische Gregory im zweiten Teil in den 1960er/1970er Jahren mit seiner wilden Mähne beim Friseur zumindest noch »polite contempt« (ASHH 10) hervorrufen. Wie oben erläutert, ist Gregory im zweiten Teil darum bemüht, sich nicht in das Protokoll zwängen zu lassen und die sozialen Praktiken im Raum sowie deren historische Bedingtheit offenzulegen. Gregory ist entsprechend forsch und um einen direkten Blick bemüht, der
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zweite Teil scheint die Verhältnisse des ersten Teils umzukehren: »Gregory looked in the mirror but the fellow wasn’t making eye contact, just head down and snipping away.« (ASHH 11) Dieses Mal ist es der Friseur, der den Augenkontakt meidet. Gregory sieht dies als Zeichen dafür, dass er seinem Gegenüber intellektuell überlegen ist. Als es schließlich zum Spiegelritual kommt, wird Gregory jedoch zum Opfer seiner Eitelkeit: Gegen das zentrale Ritual der sozialen Komplizenschaft kann er nicht rebellieren, weil er es gar nicht als solches erkennt. Er verliert sich zunächst selbstgefällig in seinem Spiegelbild (»pretty neat job, he had to admit«), in seinen philosophischen Überlegungen und schließlich in melodramatischem Liebeskummer. Dieser Blick in den Spiegel ist ein völlig anderer als noch im ersten Teil: Es handelt sich um einen narzisstischen Blick, der ganz auf sich selbst gerichtet ist und ihn nicht von sich selbst zu entfremden vermag. Gregory braucht den doppelten Spiegel geradezu, um seinem unsicheren Selbst das so vehement verfolgte Image durch den Blick eines Dritten zu bestätigen. Erst nach einer Weile bemerkt er, dass der Friseur den Spiegel noch immer in der Hand hält: »›Yes‹, he said idly.« (ASHH 15) Der aufklärerische, kritische Gregory geht dem Friseur hier auf ironische Weise auf den Leim. Er ist ›blind‹ für die soziale Praxis des doppelten Spiegels und damit auch der sozialen Kontrolle, die dadurch auf ihn wirkt. Er stimmt mit seinem müßigen »yes« somit nicht nur dem Protokoll zu, sondern auch der bürgerlich-verstaubten Gesellschaft, als deren Symbol er den Friseursalon sieht (vgl. ASHH 12). Der zweite Friseurbesuch greift somit auf ironische Weise dem letzten Teil der Kurzgeschichte vor, in dem Gregory tatsächlich ein durch und durch bürgerliches Leben führt – er ist nun »[…] one who stayed at home, went to work, and had his hair cut« (ASHH 20). Gregory verfügt im letzten Teil über die Souveränität des Erwachsenen. Seine insgesamt demonstrativ zur Schau gestellte Gelassenheit schlägt sich auch in seinen Blicken nieder. Anders als im ersten Teil nimmt er sich wie selbstverständlich eines der ausgelegten Magazine, um sich darin zu vertiefen – auch wenn er dabei darauf achtet, dass es eines ist, mit dem er sich sehen lassen kann: »He picked out a copy of Marie Claire, the sort of women’s mag it was OK for a bloke to be seen reading.« (ASHH
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18) Ebenso hat er keine Probleme, Kelly im Spiegel nicht nur als Friseurin, sondern als Individuum zu sehen und zu beurteilen: »He looked up at her in the mirror, a tall girl with a sharp bob he didn’t really like; he thought it made her face too angular.« (ASHH 19) Weil er nun keine Angst vor dem Friseur mehr hat, eröffnet sich ihm ein völlig neuer Blick auf das Geschehen und sich selbst. So heißt es im Text völlig unvermittelt: »He was afraid of sex. That was the truth. […] He wanted to howl. He wanted to howl into the mirror and watch himself howl back.« (ASHH 21, Herv. S.B.) Gregory erlebt vor dem Spiegel einen epiphanen Moment, der ihm eine tiefere Einsicht (»that was the truth«) in sein Leben gewährt. Der Spiegel wird ihm zu einem Reflexionsraum, der eine individuelle, tiefschürfende Auseinandersetzung mit sich selbst zulässt. Dieser Blick in den Spiegel ist ein Ein-blick: Auch wenn die ›Wahrheit‹, die sich ihm erschließt, eine unbequeme ist, scheint es, dass er einen eigenen, wahrhaftigen Zugang zu sich selbst gefunden hat. In diesem Sinn ist sein anschließendes »no« zum doppelten Spiegel mehr als ein Nicht-Sehen-Wollen des eigenen körperlichen Verfalls und damit der eigenen Endlichkeit (vgl. Childs 2011b: 106). Der Gregory des letzten Teils hat keine Angst vor einem Blick auf die kahle Stelle am Hinterkopf, die dem alternden Protagonisten in T.S. Eliots Lovesong of J. Alfred Prufrock auch in Bezug auf die eigene soziale Position Unbehagen bereitet: »[…] Time to turn back and descend the stair,/With a bald spot in the middle of my hair –/(They will say: ›How his hair is growing thin!‹) […].« (Eliot 1973: 14) Gregorys »no« als Höhepunkt der Geschichte ist vielmehr ein Zeichen seiner Ermächtigung. Er lässt nicht zu, dass das soziale Spiel des Friseursalons ihm den ›neuen‹ Blick auf sich selbst wieder nimmt. Er scheint nun befreit von den ›institutionellen‹ Blickregeln, die ihn im ersten Teil von sich selbst entfernen und ihm den Blick eines Anderen auf sich selbst aufzwängen. Auch die Unsicherheit und die narzisstischen Züge, durch die er sich im zweiten Teil auf eine Oberfläche reduziert, hat er abgelegt. Barnes inszeniert in diesem verdichteten Moment den Sieg Gregorys gegen die äußeren Zwänge, »die Tyrannei des verdammten Spiegels«, die ihm die Gegenwart des Friseursalons auferlegt. War Gregory bisher ein passiver Protagonist in
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dieser Welt, erschafft er sich durch die Epiphanie und dem nein zum Spiegel seine eigene, persönliche Wirklichkeit abseits des Protokolls. Die Praxis des Sehens, so kann abschließend festgehalten werden, ist in »A Short History of Hairdressing« eine fundamentale Worldmaking-Operation. Am Beispiel der Friseursalons und der drei diachronen Momente der Friseurbesuche spielt die Kurzgeschichte durch, wie das Sehen bestimmt, »[…] wie sich das Subjekt in seiner Welt einrichtet, sprich: welches Selbstverhältnis es ausbildet, wie es sich in seiner Umgebung verortet und welche Interaktionsmöglichkeiten es für sich darin erkennt« (Prinz 2014: 7).
Zwischenfazit
Mit The Porcupine und »A Short History of Hairdressing« stellt dieser Teil zwei sehr unterschiedliche Texte nebeneinander: Auf der einen Seite steht die Abhandlung des politisch und sozial hochkomplexen Themas der Transition eines ganzes Staats, auf der anderen eine augenzwinkernde, leichte Kurzgeschichte über die Geschichte des Haareschneidens. So verschieden die beiden Texte in gattungstechnischen und thematischen Fragen sind, so ähnlich erscheinen die institutionalisierten Räume, die im Mittelpunkt beider Erzählungen angesiedelt sind. Beide Raumordnungen, der Gerichtssaal und der Friseursalon, zeichnen sich durch Strukturen aus, die bestehen, bevor die Protagonisten sie betreten. Regeln, Handlungsrahmen und Narrative sind den institutionalisierten Räumen also bereits eingeschrieben; sie werden als »da seiend« (Berger/Luckmann 1969: 61-62) erlebt. In The Porcupine äußerst sich dies vor allem in den Strukturen des Rechts und der Rechtssprechung, die nicht nur soziale Rollen präfigurieren, sondern auch in der Anordnung des Gerichtssaals ihren physisch-räumlichen Ausdruck finden. In »A Short History of Hairdressing« gibt der Raum ebenso Verhaltensund vor allem Blickmuster vor, die durch den verfremdenden Blick Gregorys zutage treten. Über die in den Räumen angelegten, typisierten Sozialformen hinaus haben die institutionalisierten Räume gemein, dass sie jeweils eine Gegenwart auffächern, die sich der Diachronie der Erzählungen entgegenstellt: So ist The Porcupine die Gegenwart, in der die Vergangenheit (und in gewisser Weise auf die Zukunft) des Landes ›gemacht‹ wird. In »A Short History of Hairdressing«, die schon eine diachrone Dimensi-
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on im Titel trägt, werden dem Fluss der Geschichte der Institution drei Gegenwartsmomente gegenübergestellt. Trotz dieser räumlichen, zeitlichen und formalen Gemeinsamkeiten zeigen sich grundlegende Unterschiede in der Art und Weise, wie die jeweiligen Protagonisten sich im institutionalisierten Raum bewegen. Peter Solinsky, der Generalstaatsanwalt in The Porcupine, beginnt zunächst als selbstbewusster, moralisch integrer Ankläger des ehemaligen kommunistischen Führers. Einmal in den Mühlen der Institution, verliert er sich jedoch zunehmend und wird nach und nach auf seine Funktion als Ankläger reduziert. Was sein größter beruflicher Erfolg werden sollte, die Verurteilung Petkanovs, ist Solinskys moralische Bankrotterklärung: Er bringt das höchstwahrscheinlich gefälschte Memorandum ein und fügt sich somit in die Rolle, die das Schauspiel für ihn vorsieht. »A Short History of Hairdressing« skizziert dagegen eine umgekehrte Entwicklung: Ist der junge Gregory der institutionalisierten Ordnung anfangs hilflos ausgeliefert, schafft er es, sich frei zu machen. Seine kleine Rebellion gegen die »Tyrannei des Spiegels« bricht das Protokoll des Friseurbesuchs und lässt ihn, so inszeniert es Barnes, in einem epiphanen Moment sich selbst im Spiegel erkennen. Durch die Transzendenz der Rahmen, die ihm der institutionalisierte Raum des Friseursalons steckt, schafft es Gregory, seine eigene ›Wahrheit‹ zu sehen und seine eigene Welt zu schaffen.
Schlussbetrachtungen
Abbildung 1: Scan aus der französischen Zeitschrift Philosophie hors-série 20 (2013/14), 90
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Dieser Sempé-Cartoon stelle, so Julian Barnes im Vorwort zur 2012 erschienenen Essay-Sammlung Through the Window, eine Illustration seines Literaturverständnisses dar (vgl. Barnes 2012b: IX). Der Betrachter des Cartoons blickt in einen Secondhandbuchladen, der bis unter die Decke mit Büchern gefüllt ist: links die gesammelten Werke der »PHILOSOPHIE«, rechts die Reihen der »HISTOIRE« und in der Mitte eine Abteilung, die mit »ROMANS« überschrieben ist. Hier befindet sich auch ein von Büchern umrahmtes Fenster, durch das man eine sich anbahnende Begegnung auf der Straße beobachten kann. Dieses Fenster stehe symbolisch für den Blick in die Welt, den die Literatur ermögliche und sie so über die anderen Abteilungen privilegiere. Barnes: Novels tell us the most truth about life: what it is, how we live it, what it might be for, how we enjoy and value it, how it goes wrong, and how we lose it. Novels speak from and to the mind, the heart, the eye, the genitals, the skin; the conscious and the subconscious. What it is to be an individual, what it means to be part of a society. (Ebd.) Barnes begreift Literatur als in der Welt fundiert, sie kommt aus dem Leben und weist darauf zurück. Während Philosophie und Geschichte ihr tristes Dasein als unbelebtes Wissen in ihren jeweiligen Nischen der Bibliothek fristen, erlaubt die Fiktion einen direkten, lebendigen Blick in die Welt. Dass Barnes gerade diesen Cartoon zur Veranschaulichung seiner Literaturauffassung wählt, ist im Hinblick auf das Thema dieser Arbeit besonders interessant. Schließlich kann man ihn als bildlichen Ausdruck der räumlichen Worldmaking-Strategie betrachten, die in den vorangehenden Kapiteln erarbeitet wurde. Der Cartoon illustriert aus dieser Perspektive nicht nur, was Literatur leisten soll, sondern gibt auch Aufschluss darüber, wie Barnes den Blick durch das Fenster literarisch umsetzt. Eine kurze Raumanalyse des Cartoons soll im Folgenden als Ausgangspunkt für eine abschließende Betrachtung und Einordnung der Ergebnisse der vorliegenden Arbeit dienen. Der Blick des Cartoons durch das Fenster der Bibliothek auf die Straße schafft eine räumliche Opposition zwischen Innen und Außen: hier die Zeichenwelt der Bibliothek, wo durch die Bücher der verschie-
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denen Disziplinen unzählige Diskurse und Weltentwürfe zusammenkommen und miteinander konkurrieren, dort ein in Echtzeit beobachtbares Ereignis der ›echten‹, physischen Welt. Auseinandergehalten werden diese beiden Bereiche des Innen und Außen durch den Fensterrahmen. Er trennt nicht nur die Welt der Bibliothek von der Welt jenseits der Bücher, sondern dient auch der Perspektivierung der Szene auf der Straße. Als Betrachter des Cartoons bekommen wir nur einen kleinen Ausschnitt des Geschehens zu Gesicht; unser Blick ist verengt auf die sich anbahnende Begegnung zweier Menschen. Die Umgebung dagegen ist abgeschnitten; wir wissen nicht, ob der Frau vielleicht ein Ehemann folgt, ob es auf der anderen Straßenseite Passanten gibt, die die Begegnung in letzter Sekunde noch verhindern könnten. Der Blick auf die Szene wird somit durch den Rahmen nicht nur möglich gemacht, sondern auch limitiert und reduziert. Mit den Welten des Innen und Außen und dem Fensterrahmen als trennendes und gleichzeitig verbindendes Element spiegelt der Cartoon auf bildlicher Ebene das topologische Grundmuster, auf das mein Konzept einer räumlich codierten Versuchsanordnung gründet. Die vielfältigen geschlossenen (Innen-)Räume – Schiffe, Inseln oder auch eine Landwirtschaftsschau und ein Friseursalon – wurden zunächst als erzählte Bühnen charakterisiert, weil sich diese Räume nicht nur erzählerisch-formal und durch eine scharf gezogene Grenze von einem Außen abheben, sondern – genau wie eine Theaterbühne – auch eine Markierung als andere Räume tragen. In diesen geschlossenen, exponierten Räumen, so lautete meine zentrale These, verhandeln die Texte grundlegende Fragen der Welterzeugung.
Grenzziehungen als post-postmoderne Raumstrategie Eine erste Frage des fiktional-literarischen Worldmaking richtet die Opposition von Innen und Außen an den Text selbst. Vor allem in den Kapiteln 1, 2 und 5 wurde argumentiert, dass Barnes in den besprochenen Texten eine metanarrative Konversation mit den Lesern über das Entstehen und den Status fiktionaler Welten initiiert. Keith Wilson
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beobachtet, dass sich in den Romanen von Barnes oft eine dominante erzählerische Stimme bemerkbar mache. Er sieht diese kaum »verkleidete Präsenz« eines Autor-Erzählers als Aufforderung, das künstlerische Werk als »performative Leistung« (vgl. Wilson 2006: 367-368) zu betrachten und so den kreativen Prozess der fiktionalen Welterzeugung nachzuvollziehen. Ausgehend von Wilsons Beobachtung habe ich vorgeschlagen, die erzählerische Performanz vor allem in den Grenzziehungen, die den geschlossenen Raum hervorbringen, zu verorten. Es konnte gezeigt werden, dass Barnes die Leser durch »metapoetische Wegweisungen« (Warning 2015: 185) immer wieder zu den geschlossenen, heterotopen Räumen führt: Erstens durch einen kreativen Urheberdiskurs, der den geschlossenen Raum auf verschiedenen erzählerischen Ebenen als Produkt des Autor-Erzählers oder eines Protagonisten ausweist. Zweitens durch den Einsatz erzählerisch-formaler Mittel: Der erzählerische Fokus ist statisch auf den geschlossenen Raum ausgerichtet; das Außen wird ausgeblendet, indem die Perspektive mit den Außengrenzen des geschlossenen Raums zusammenfällt. Der räumlichen Statik entspricht drittens auch eine andere, auf die Gegenwart fokussierte Zeitlichkeit. Die metafiktionalen, formalen und zeitlichen Markierungen machen den geschlossenen zum anderen Raum, wo Barnes in einem selbstreflexiven Diskurs die Verbindungen zwischen Text, Produzent und Rezipient auslotet: Wie bringt die Grenzziehung im literarischen Werk – oder der Fensterrahmen im Cartoon – eine Welt hervor? Wie steht diese Welt zur Welt ›da draußen‹, also außerhalb des Texts oder, im Cartoon, außerhalb der Bibliothek? Wie Sempé mit dem Blick durch das Fenster spielt auch Barnes in diesem Zusammenhang mit der Möglichkeit eines direkten, unmittelbaren Erlebens. Dass die Idee der Unmittelbarkeit für ihn ein wichtiger Bestandteil der fiktional-literarischen Welterzeugung ist, wird in seinen Ausführungen zum Cartoon deutlich. From and to the mind, the heart, the eye, the genitals, the skin – für Barnes sind Lesen und Schreiben nicht nur intellektuelle Vorgänge, ihnen haftet auch eine ausdrückliche Körperlichkeit an. Diese körperliche Komponente spielt in den geschlossenen Räumen immer wieder eine prominente Rolle. So wird In A History of the World in 10 12 Chapters das Kuscheln in der Intimi-
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tät des Ehebetts als Gegenentwurf zur Geschichte der Welt in Stellung gebracht, Kath Ferris trägt den Kampf um ihre Weltanschauung auf ihrem eigenen Körper aus (»The Survivor«) und die Terroristen in »The Visitors« verknüpfen Geschichte und Körper, indem sie, als letzten Schritt einer zynischen historischen Kausalkette, die Passagiere eines Kreuzfahrtschiffs kaltblütig ermorden. Mit der inszenierten Körperlichkeit, dem Fokus auf das Momentane und den geschlossenen Raum evoziert Barnes damit Elemente dessen, was Hans Ulrich Gumbrecht als »Präsenzkultur« – im Gegensatz zu »Repräsentations- oder Sinnkultur« – bezeichnet (vgl. Gumbrecht 2016: 216-217). Gumbrechts Unterscheidung zwischen Repräsentation und Präsenz ist auch im räumlich-bildlichen Ausdruck des Sempé-Cartoons angelegt: hier die Bücher in der Bibliothek (Repräsentation), dort die Begegnung auf der Straße (Präsenz). Der Cartoon gibt dabei auch Zeugnis über die Instabilität des Moments (vgl. Gumbrecht 2004: 127, 133), der eng mit dem Konzept der Präsenz verwoben ist. Die Texte der Philosophie und der Geschichte türmen sich zu beiden Seiten und lassen nur einen schmalen, zum Fenster führenden Korridor offen. Das versammelte Wissen dieser Bücher, so scheint es, könnte jederzeit über den gegenwärtigen Jetzt-Punkt, den der Cartoon mit dem Blick durch das Fenster inszeniert, hereinbrechen. Die Bücher stellen für die Szene im Fenster aber nicht nur im wörtlich-physischen, sondern auch im übertragenen Sinn eine Gefahr dar. Die Theorien und Weltmodelle, die sich zuhauf in ihnen finden, stehen schon zu allen Seiten bereit, den Moment in einen größeren Zusammenhang einzuordnen, ihm einen Sinn zu geben oder – postmodern gewendet – ihn in das »Gefängnis der Sprache« (Waugh 1984: 84) zu stecken und ihm so die Unmittelbarkeit zu nehmen, die ihn ja gerade auszeichnet. Ein postmodernes Zeichenkonzept, wie es in Waughs Metapher zum Ausdruck kommt, lässt die Präsenz nicht nur als prekär erscheinen, sondern stellt sie ganz infrage. Suggeriert es doch, dass kein Außerhalb der Sprache oder des Texts existiert: Jeder Präsenzeffekt und damit jede Literatur from and to the mind, the heart, the eye, the genitals, the skin wird aus dieser Sicht verunmöglicht, weil ihr in ihrer textuellen Gestalt immer eine Nicht-Präsenz innewohnt (vgl. z.B. Culler 1988: 103-106).
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Diese Debatte über die (Un-)Möglichkeit von Gegenwärtigkeit sehe ich auch der topologischen Opposition von Innen und Außen bei Barnes eingeschrieben. Die Analysen haben gezeigt, dass das Außen auf vielfältige Weise als Gefahr oder gar als Antithese des geschlossenen Innenraums erscheint. So sind etwa die Schiffe in A History stets vom Meer bedroht, die Welt des musikalischen Werks muss sich destruktiver politischer Mächte erwehren (The Noise of Time) und die geschlossene Themenpark-Welt England, Englands sieht ihre Integrität durch Schmuggelware von außen gefährdet. Das Außen ist – wie das postmoderne Zeichen – in steter Bewegung, es ist nie ganz zu kontrollieren oder zu assimilieren. Mit dem räumlichen Nebeneinander von Repräsentation und Präsenz erscheint die räumliche Struktur damit in einem neuen Licht. Sie stellt nicht nur eine Verbindung zwischen Leser und Text und damit einen Präsenzeffekt her, sondern hinterfragt gleichzeitig auch die Möglichkeiten und Voraussetzungen der Produktion von Präsenz im Erzähltext. Die Raumopposition Innen/Außen eröffnet vor diesem Hintergrund eine neue Perspektive auf eine literaturwissenschaftliche Debatte, die Barnes spätestens seit der Veröffentlichung von Flaubert’s Parrot (1984) begleitet und nach dem vielfach proklamierten Ende der Theorie wieder Fahrt aufgenommen hat. Eshelmans Performatismus, der in Abschnitt 2.2 genauer in den Blick genommen wurde, ist nur ein Beispiel für eine wachsende Anzahl von Konzepten, die trotz großer programmatischer Unterschiede zweierlei eint: Sie stimmen erstens überein, dass die kulturelle Produktion in Literatur, Film und Internet seit geraumer Zeit1 nicht mehr postmodern sei. Und zweitens, dass das analytische Werkzeug, die Begriffe und die Theoriesprache, die in den letzten Jahrzehnten entwickelt wurden, unbrauchbar geworden seien für die Analyse dieser neuen Werke. Auf der Grundlage dieser Einschätzung versuchen Literatur- und Kulturwissenschaftler Wege zu finden, um solche post-postmoderne Werke zu beschreiben: »Altermodernism«, »Digimodernism« oder »Metamodernism« nennen sich einige der neuen Konzepte, die etwa in Supplan1
Eshelman datiert die »Epochenwende« um das Jahr 2000 herum (vgl. Eshelman 2009: IX).
Schlussbetrachtungen
ting the Postmodern. An Anthology of Writings on the Arts and Culture of the Early 21st Century (Rudrum/Stavris 2015) zusammentragen werden. Im Zuge dieser kritischen Neuorientierung bleiben Kontroversen zwischen den verschiedenen Lagern nicht aus: Ist ein Werk noch postmodern oder schon post-postmodern? Ist ein Konzept tatsächlich neu oder geht es lediglich vor die Postmoderne zurück?2 Die Romane und Kurzgeschichten von Julian Barnes haben einen festen Platz in dieser fortdauernden akademischen Konversation. Einerseits wird Barnes vor allem im Hinblick auf Romane wie Flaubert’s Parrot oder A History of the World in 10 12 Chapters als klassisch-postmoderner Autor gelesen, andererseits wurde aber schon seit den 1980er Jahren immer wieder darauf hingewiesen, dass für Barnes das Label ›postmodern‹ aus verschiedenen Gründen zu kurz greife.3 In einer viel zitierten Rezension der History prägte Joyce Carol Oates für Barnes gar den Begriff des »quintessential humanist […] of the pre-post-modernist era« (Oates 1989: 13), weil der Roman so exzessiv um Begriffe wie ›Wahrheit‹ oder ›Moral‹ kreise. In den letzten Jahren schließlich kamen vermehrt auch Stimmen auf, die Barnes nicht nur in post-postmodernen Kontexten diskutieren,4 sondern auch explizit fordern, die Barnes-Rezeption auf eine ganz neue Grundlage zu stellen. Am deutlichsten positionieren sich in dieser Hinsicht Peter Childs und Sebastian Groes in der Einleitung zu ihrem Sammelband Julian Barnes (2011). Eine postmoderne
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Raoul Eshelmans Homepage, www.performatism.de, vermittelt einen lebhaften Eindruck von diesen Debatten – insbesondere die Sektion Blogs, in der sich Eshelman vor allem mit den Ideen anderer Theoretiker auseinandersetzt, ist in dieser Hinsicht sehr aufschlussreich. In der ersten Monographie, die sich ausschließlich auf Barnes konzentriert, macht etwa Merritt Moseley die »ernsthaften Ideen« (vgl. Moseley 1997: 16) – Leben, Gott, Tod, Philosophie – in Barnesʼ Werk geltend. Hier sind vor allem Wolfgang Funks Kapitel zu England, England und The Sense of an Ending in seinem Buch The Literature of Reconstruction. Authentic Fiction in the New Millenium (2015), Jean-Michel Ganteaus Diskussion von A History als Traumanarrativ (2014) und Volha Salmans Dissertation zu metanarrativen Strategien bei Barnes (2009) zu nennen.
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Lesart, schreiben sie, werde der »seriousness and intellectual intensity of the writer’s engagement with the world beyond the subjective self« (Groes/Childs 2011: 2) nicht gerecht; ihren Sammelband verstehen sie folglich als eine Barnes-Neubetrachtung jenseits von »postmoderner Taschenspielerei« (vgl. ebd.). Während die Aufsätze des Sammelbands durchaus interessante Aspekte beleuchten, erscheint mir Childs und Groesʼ Verteufelung des Postmodernen überzogen. Die spielerischen, ironischen und metareferentiellen Elemente sind für Barnesʼ Prosa konstitutiv. Sie gänzlich außen vor zu lassen, führt zu einer reduktiven und rückwärtsgewandten Lektüre – vor allem, wenn, wie in Childs und Groesʼ Fall, keine neuen Analyse-Horizonte vorgeschlagen werden. Auch wenn es der Sempé-Cartoon glauben machen mag: Fiktional-literarische Welterzeugung nach der Postmoderne kann nicht einfach die Zeit zurückdrehen und die Welt durch das transparente Medium der Sprache wiedergeben. George Orwell konnte gute Prosa im Jahr 1946 noch mit einer Fensterscheibe vergleichen5 ; für die Autoren aus Barnesʼ Generation stellt sich die Verbindung zwischen Welt und Fiktion hingegen ungleich komplizierter dar. Wenn Linda Hutcheon in A Poetics of Postmodernism schreibt, dass ein »unschuldiger« Blick auf eine außerliterarische Wirklichkeit nicht mehr möglich sei (vgl. Hutcheon 1988: 124), hebt sie hervor, dass ein mimetisches, ganzheitliches Literaturverständnis à la Orwell für diese Autoren nicht mehr infrage kommt. Dass dies insbesondere auch für Barnes gilt, macht er nicht zuletzt in seinem Aufsatz »George Orwell and the Fucking Elephant« deutlich. Er greift neben dem Fenstervergleich ein weiteres berühmtes Orwell-Diktum auf, um beides anschließend zur Diskussion zu stellen: But it [der Fenstervergleich, S.B.] begs questions, as does Orwell’s other key instruction, from ›Politics and the English Language‹: ›Let the meaning choose the word, not the other way around.‹ […] But does anyone, even Orwell, actually write like that? And are words glass?
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In seinem berühmten Aufsatz »Why I write« lautet Orwells Schlussfolgerung: »Good prose is like a window pane.« (Orwell 2004: 10)
Schlussbetrachtungen
Most writing comes from an inchoate process; ideas may indeed propose words, but sometimes words propose ideas […]. As E.M. Forster, a frequent target of Orwell’s, put it (or rather quoted), in Aspects of the Novel: ›How do I tell what I think till I see what I say?‹ (Barnes 2012a: 37) Während es Orwell darum geht, Bedeutung zu versprachlichen, dreht Barnes den Spieß um: Worte schaffen Ideen und Gedanken, der verbale Blick durch die Scheibe bringt die Welt dahinter erst hervor. Von einem unmittelbaren Zugang zur Welt kann hier keine Rede mehr sein. Welt, Gedanken und Wörter verwachsen sich zu einem Dickicht, bei dem es kein Davor und Danach mehr gibt. Zusammen gelesen zeigen dieses Zitat und jenes zu Beginn dieses Abschnitts, dass Barnes beides ist: nicht nur ein vehementer Verteidiger des Menschlichen und einer Literatur, die sich mit der Welt beschäftigt, sondern auch ein Sprachjongleur, der die Möglichkeit eines Zugang zu jener Welt problematisiert, indem er die ontologische Hierarchie von Wirklichkeit und sprachlicher Repräsentation auf die Probe stellt. Dies gilt für den Essayisten, umso mehr aber für den Romanautor Barnes. Die räumliche Opposition zwischen geschlossenem Innen und bewegtem Außen, so möchte ich vorschlagen, kann diese gegensätzlichen Orientierungen – hin zur ›Welt‹ und hin zum ›Text‹ gleichermaßen – zusammenbringen: Mit der performativen Grenzziehung trotzt Barnes dem Text eine Welt ab, er bietet den Lesern einen – wenn auch nur temporären – Ausgang aus dem »Gefängnis der Sprache« (Waugh 1984: 84) an. Der geschlossene, exponierte Raum gibt dabei aber nicht vor, zu einem unschuldigen Blick auf die Welt durch das Fenster der Fiktion zurückzukehren. Im Gegenteil: Er erzeugt einen genuin literarisch-fiktionalen Erfahrungsraum, der durch die selbstreflexiven Elemente und die Anwesenheit des Außen ebenso offen fiktional wie prekär erscheint. Was Barnes den Lesern somit anbietet, ist – in Gumbrechts Worten – ein Oszillieren zwischen »Präsenzeffekten« und »Sinneffekten« (Gumbrecht 2004: 18), einem Hin- und Herspringen zwischen einem literarischen Erleben und einem kritischen Hinterfragen der Prozesse der Sinnstiftung bzw. deren dekonstruktivistischer Verunmöglichung.
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Dass die rigorose Grenzziehung sich bei Barnes geradezu ›un-postmodern‹ ausnimmt, wird besonders deutlich bei einem kurzen Seitenblick auf zwei postmoderne Romane, deren Autoren oft in einem Atemzug mit Barnes genannt werden: Graham Swifts Waterland (1983) und Salman Rushdies Satanic Verses (1988). Rushdies Roman beginnt mit einem Absturz: Nach einem terroristischen Anschlag fallen die beiden Protagonisten »[…] wie Tabakkrümel aus einer zerbrochenen alten Zigarre« (Rushdie 1989: 14) aus einem Flugzeug, das unterwegs war von Indien nach Großbritannien. Der Fall der ineinander verkeilten Gibril Farishta und Saladin Chamcha entwirft bereits auf den ersten Seiten einen hybriden Kontaktraum, wie er im Roman in verschiedenen Kontexten immer wieder vorkommt und für Rushdie überhaupt typisch ist: Starre Grenzen, etwa zwischen Immigranten und autochthoner Bevölkerung, Orient und Okzident oder Zentrum und Peripherie, weichen einem thirdspace, einem dritten Raum, wo verschiedene Identitäten und Wirklichkeiten zusammenkommen und neu verhandelt werden (vgl. Mergenthal 2002: 335). Im zweiten Beispiel, Swifts Waterland, bestimmt wie in Barnesʼ History das Wasser die Bildsprache des Romans. In Tom Cricks ausufernden historischen Erzählungen führen die Vorfahren einen ständigen Kampf gegen die Sumpflandschaft Norfolks. Sie schütten Land auf, um den Fens eine Lebensgrundlage abzuringen, während das Wasser immer wieder zurückkehrt. Die Grenze zwischen bewohnbarem Land und menschenfeindlichem Sumpfgebiet ist somit nie genau zu ziehen, weil sie sich ständig verschiebt. Auch der River Ouse steht als wichtiges Raumbild des Romans sinnbildlich für ständige Bewegung. Die Bewegtheit und Zirkularität des Wassers ist dabei in Waterland symbolisch immer auch gebunden an das Vergehen der Zeit und die menschlichen Versuche, der indifferenten natürlichen Zeit ein historisches Narrativ abzugewinnen und dadurch das ›Here and Now‹ der Gegenwart sinnhaft zu machen. Die knappe Raumskizze dieser beiden postmodernen Klassiker offenbart, dass weder Rushdies thirdspace noch Swifts bewegte Landschaft mit Barnesʼ rigoroser Grenzziehung in Einklang zu bringen ist. Die beiden Romane sind vielmehr herausragende Beispiele einer postmodernen Dynamisierung des Raums, die im Rahmen des spatial turn in den
Schlussbetrachtungen
Kultur- und Literaturwissenschaften große Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat (vgl. Bachmann-Medick 2009: 293). Neuere Raummodelle, die diese ›Raumwende‹ ausgelöst haben oder sich an ihr orientieren, nehmen kulturelle und politische Verschiebungen genauso wie postkoloniale Migrationsbewegungen in den Blick und versuchen, die Neuverhandlungen von Eigenem und Fremdem in ihrer räumlichen Dimension zu erfassen. Starre, impermeable Grenzen, so eine der Grundbeobachtungen des spatial turn, werden diesen dynamischen Entwicklungen nicht gerecht: Die Grenze könne nicht mehr nur eine Trennlinie sein, sondern müsse vielmehr als Raum eigenen Rechts aufgefasst werden (vgl. Frank 2009: 68). Besonders deutlich wird diese neue Sichtweise in Lotmans späterem Raumkonzept der Semiosphäre. Die binäre Entweder-oder-Grenze des eingangs skizzierten Sujetmodells wird nun zu einem »Übergangs- bzw. Begegnungsraum« (ebd.: 69), der ständige Austausch an der Peripherie sorgt für Bewegung und Innovation bis hin zum Zentrum. Schon dieser kurze Blick auf die Semiosphäre sollte deutlich machen, dass nach dem Sujet-Modell (vgl. Abschnitt 1.1) auch das zweite Lotman’sche Raumkonzept zwar für Rushdie und Swift ergiebig sein kann, die oben beschriebenen geschlossenen Innenräume bei Barnes aber nicht abbildet. Die Grenze als Transformationsraum oder Membran würde das Innen zu einem Außen öffnen und relativieren – genau dies scheint aber bei Barnes gerade nicht der Fall zu sein. Die Raumgestaltung in den Romanen Waterland und Satanic Verses kann auch insofern als postmodern bezeichnet werden, als die Texte den entgrenzten Raum ausdrücklich als sprachlich-zeichenhaft konzipieren: Rushdie bricht Grenzen und reale Orte auf, um inter- und transkulturellen Identitätsdiskursen Raum zu geben, bei Swift sind die Fens Geschichtsmetapher und Teil der erzählten Geschichte gleichermaßen. Wie diesen beiden Romanen geht es der Postmoderne allgemein, so Ulrich Meurer, »[…] nicht um den Raum, den etwa ein Text mit anderen Mitteln wiedergibt, sondern um eine Idee der Räumlichkeit, die nur in Anschauungen und Ausdrucksweisen existiert. Spricht die Postmoderne über den Raum, so spricht sie – im weitesten Sinne – über die Sprache.« (Meurer 2007: 19) Einer Öffnung des Raums hin zum Fluss des postmodernen Texts, wie sie Meurer beschreibt, stehen Barnesʼ per-
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formative Rahmensetzungen als Teil einer metanarrativen Kommunikationsstrategie entgegen. Die erzählerischen Grenzziehungen ›immunisieren‹ den Raum der erzählten Binnenwelt gegen das postmoderne Zeichenspiel und bieten dem Leser so eine ganzheitliche, präsentische Erfahrung an. Die Raumgrenzen sind damit weit mehr als nur die ›natürlichen‹, dem Setting eigenen topologischen oder topographischen Merkmale. Als Inzisionen im Text markieren sie einen Ort, wo sich ein Autor-Erzähler als kreativer Urheber mit ›seiner‹ fiktiven Welt genauso wie mit den Rezipienten ins Gespräch bringt. Durch die Interaktion mit den Lesern und dem gleichzeitigen Angebot einer ganzheitlichen Lektüre innerhalb des geschützten Raums zeigt sich Barnes damit als kreativer postmoderner Autor, der über die Postmoderne hinausdenkt – als, wenn man so will, Postpostmodernisten avant la lettre. Die Erprobung eines Hier und Jetzt im postmodernen Text ist eine wichtige Worldmaking-Frage, die im geschlossenen Raum verhandelt wird. Barnesʼ Raumexperimente, das hat die vorliegende Arbeit auch gezeigt, beschäftigen sich aber nicht nur mit metanarrativen Überlegungen, sondern sind darüber hinaus Orte, wo Barnes seinen Blick in die Welt inszeniert. Die Konversation, die Barnes mit den Lesern führt, ist mit anderen Worten kein Selbstzweck, sondern schafft die Voraussetzungen dafür, dass die mit hohem erzählerischem Aufwand ausgehandelten Bühnen auch bespielt werden können. Diese zweite Worldmaking-Dimension soll Gegenstand des nächsten und abschließenden Abschnitts dieser Arbeit sein.
Barnesʼ Blick in die Welt: Ein Baukasten der Welterzeugung Im Zentrum der ›Stücke‹, die Barnes auf seinen erzählten Bühnen zur Aufführung bringt, steht das individuelle und kollektive SichEinrichten in der Welt. Unter diesem Begriff verstehe ich die verschiedenen Verfahren und Strategien, aus dem Chaos der realen, möglichen, vorgestellten und fiktionalen Weltentwürfe und -versatzstücke eine Welt zu erzeugen, die einen bestimmten Grad an Geschlossenheit erreicht und es Individuen oder Gruppen so erlaubt, sich in ihr zu-
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rechtzufinden und sie als sinnhaft und identitätsstiftend zu erleben. Mein Vorschlag lautete, die Barnes’schen Wirklichkeitsexperimente nach zwei Raumtypen zu unterscheiden: Auf der einen Seite stehen die neuen, auf der anderen Seite die institutionalisierten Räume. Neue Räume zeichnen sich dadurch aus, dass sie Worldmaking from scratch erlauben. Sie suggerieren einen radikalen Neustart; ein leeres Blatt, das neu beschrieben werden kann, wenn die ›alten‹ Inhalte einmal ausradiert sind. Mit einem Rückgriff auf Foucault wurde das Schiff als paradigmatisches Setting für diese experimentelle Raumordnung ausgemacht. A History of the World in 10 12 Chapters bietet sich hier besonders an, sind Schiffe und andere schwimmende Untersätze doch die dominanten Schauplätze des Romans. Es konnte zum einen gezeigt werden, dass Barnes der Dichotomie Schiff/Meer einen kreativen Urheberdiskurs einschreibt und so den geschlossenen Raum auf metafiktionaler Ebene als Ort der Welterzeugung ausweist. Neben diesen Überlegungen zum fiktional-literarischen Worldmaking stellt der Roman auf der Story-Ebene zum anderen aber auch Fragen nach dem Sich-Einrichten in der Welt. Anhand dreier Kapitel wurde dargelegt, wie die Protagonisten sich den begrenzten Raum des Schiffs körperlich, symbolisch und ideologisch aneignen. Die ›Welt‹ mit ihren unüberschaubaren Strukturen und Wirklichkeiten wird auf dem Schiff buchstäblich zurückgelassen, um die radikal begrenzten Weltentwürfe in Szene setzen zu können. Es bleibt bei den kurzen Episoden von A History aber mehr noch als in anderen Barnes-Texten bei einer skizzenhaften, geradezu exemplarischen Betrachtung. Ein nur auf den ersten Blick ganz anderer neuer Raum findet sich in The Noise of Time. Ich habe vorgeschlagen, den Kampf um die Musik zwischen dem Komponisten Schostakowitsch und den Mächtigen der Sowjetunion als Kampf um einen metaphorischen und damit im Gegensatz zu den Schiffen der History nicht begehbaren Raum zu lesen. Schostakowitsch zieht zu Beginn die Grenze um sein musikalisches Werk und markiert es als künstlerischen, von ihm geschaffenen neuen Raum, der eine der chaotischen Außenwelt gegenüber perfekte Ordnung hat. Die von Barnes so klar gezogene Grenze zwischen Musik und Welt gerät im Fortlauf des Romans immer mehr unter Beschuss, erprobt die Führung
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der Sowjetunion doch über Jahrzehnte hinweg verschiedene Strategien, um die künstlerische Sphäre zu entgrenzen und damit zu politisieren. Am Ende steht die Frage: Ist die Musik ›rein‹, bleiben die Grenzen des künstlerischen Raums unberührt, auch wenn sich der Urheber dieses Raums korrumpieren lässt? Mit dem Außen, das mit aller Macht versucht, die innere Ordnung der Welt zu unterminieren, wird die Parallele zu A History deutlich: Während hier die Politik die Welt der Musik bedroht, ist es dort – in Form des Meeres – die Geschichte der Welt, die die kleinen Schiffswelten zu vereinnahmen versucht. Der Roman England, England repräsentiert sowohl den neuen als auch den institutionalisierten Raumtyp. Der Themenpark England, England erzeugt zunächst einen neuen Raum. Die kulturelle und soziale Wirklichkeit der Isle of Wight wird regelrecht ausradiert, um Platz für den Themenpark zu machen. Hier wohnen die Leser aber nicht nur dem Entstehen einer neuen Ordnung bei, sondern auch den Prozessen, die diese Ordnung institutionalisieren. Im Zuge der Institutionalisierung dieser neuen Welt werden einige Worldmaking-Praktiken evident: Die willkürliche Zusammenstellung des Themenparks mit Ereignissen und Persönlichkeiten der englischen Geschichte ist ein Umschaffen des bereits Vorhandenen, Elemente werden neu kombiniert und Unliebsames getilgt (vgl. Goodman 2017: 19, 21, 27). Darüber hinaus fragt der Roman sowohl in England, England als später auch in Anglia nach der symbolischen Sichtbarmachung als Faktor der Welterzeugung. Ich habe England, England als totale Bühne bezeichnet, weil sämtliche Lebensbereiche der Oberflächenlogik der Themenparkfiktion unterworfen werden. Obwohl diese Welterzeugung im Zeichen des Kapitals und der Manipulation äußerst erfolgreich ist, gelingt dem Realen ein ebenso unwahrscheinliches wie unscheinbares Comeback: in Form der Überidentifikation der Schauspieler mit ihrer Rolle und vor allem in Form der natürlichen Zeit, die Barnes mit dem Ableben Sir Jacks in Erinnerung ruft. Die politische Dimension, die in der Groteske England, England nur anklingt, wird in der Transitionserzählung The Porcupine in den Mittelpunkt gerückt. Auch hier stellt Barnes ein bewegtes Außen, ein Land im politischen Aufbruch, einem statischen Innen gegenüber. Dieses sta-
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tische Innen ist der Gerichtssaal. Mit den beiden Polen schreibt Barnes der Topologie des Romans zwei wesentliche Aspekte des politischen Übergangs ein: Zum einen gibt er der hoffnungsvollen Masse und den vielen möglichen neuen Welten eine Stimme, zum anderen zeigt er die Schwierigkeit auf, wenn es heißt, eine neue Ordnung politisch umzusetzen und zu legitimieren. Der institutionalisierte Raum des Gerichtssaals, so wurde argumentiert, steht sinnbildlich für die Macht im Zentrum. Die institutionalisierte Ordnung, verkörpert durch den Apparatschik Ganin, gibt eine mächtige Wirklichkeit vor, die die Protagonisten vor Gericht zu bloßen Erfüllungsgehilfen verkommen lässt. Der Roman macht damit nicht zuletzt deutlich, warum die neuen Räume immer nur eine experimentelle Anordnung sein können: Ein Neustart, zumal ein politischer, kann in einem größeren Zusammenhang nicht völlig losgelöst vom Alten erfolgen. Die neue Ordnung bleibt, um mit Ernesto Laclau zu sprechen, immer auch negativ fixiert auf das, was sie hinter sich lassen möchte (vgl. Laclau 2007: 43-44). Der letzte institutionalisierte Raum, der in dieser Arbeit behandelt wurde, ist der Friseursalon in »A Short History of Hairdressing«. Die Leser begleiten den Protagonisten Gregory zu drei verschiedenen Zeitpunkten seines Lebens beim Gang zum Friseur. Der junge Gregory lenkt durch seine kindliche Perspektive die Aufmerksamkeit auf die sozialen Rollen, die dem Friseursalon eingeschrieben sind und die Handlungen prästrukturieren. Aus Gregorys Perspektive ist der institutionalisierte Raum eine Ordnung, die vor allem durch ein elaboriertes Blickregime funktioniert. Sich in der bereits gemachten Welt des Friseursalons einzufinden, heißt für Gregory zu lernen, welche Blicke erlaubt sind und welche nicht, was sichtbar sein soll und was nicht. Gregorys ›Befreiung‹ von dieser vermeintlichen Tyrannei des Friseursalons gelingt, indem er sich im letzten Teil der Kurzgeschichte gegen das Blickregime auflehnt und sich seines eigenen Blicks ermächtigt. Zusammenfassend zeigt der Überblick, dass durch die topologische Opposition von Innen und Außen die Erzeugung und Institutionalisierung verschiedenster Welten – künstlerische, historische, soziale – räumlich inszeniert und reflektiert wird. Der geschlossene Raum ist
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damit jeweils sowohl ein realer Schauplatz6 innerhalb der fiktiven Gesamtwelt als auch ein anderer Raum, wo thematische Aspekte des jeweiligen Werks potenziert und verdichtet verhandelt werden. So verbindet A History das Erzeugen neuer Räume mit einer Reflexion über Geschichte und Gegenwart, The Noise of Time widmet sich der (Un-)Freiheit der Kunst und England, England überträgt die Prozesse der Identitätsbildung mit der Opposition von wirrem Außen und geordnetem Innen in eine räumliche Form. Über das Aufzeigen der Verbindung zwischen Worldmaking und Raum hinaus war ein Ziel dieser Arbeit, gemeinsame Elemente dieser heterogenen Versuchsanordnungen hervortreten zu lassen und zu einem Barnes’schen Baukasten der Welterzeugung zusammenzutragen. Nelson Goodman, auf den diese Arbeit zu Beginn und während des Hauptteils immer wieder Bezug genommen hat, liefert mit seiner grundlegenden Beobachtung der elementaren Ways of Worldmaking ein wichtiges Instrumentarium für die Beschreibung auch der Raumwelten, die im Mittelpunkt dieser Untersuchung standen. Aus Goodmans konstruktivistischer Sicht ist jede Art der Welterzeugung immer an Symbolsysteme gebunden. Eine Welt ist damit vor allem eine bestimmte Ordnung von Symbolen oder Zeichen, die durch die Prozesse der Komposition und Dekomposition, Gewichtung, des Ordnens, Tilgens und Ergänzens sowie der Deformation zustande kommen (vgl. Goodman 2017: 20-30). So aufschlussreich und weitreichend Goodmans Konzept ist, so sehr verbleibt seine Analyse jedoch auf einer abstraktphilosophischen Ebene. Schon die kurze Zusammenfassung der einzelnen Analysen zeigt, dass Goodmans Ways of Worldmaking für eine Beschreibung der Welten, die Barnes in seinen Romanen und Kurzgeschichten erbaut, der Konkretisierung und Erweiterung bedürfen. Der Baukasten der Welterzeugung muss mit weiteren Elementen gefüllt werden.
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Wie bereits erwähnt setzt sich The Noise of Time hier von den anderen untersuchten Räumen ab, weil die Welt des musikalischen Werks kein physischer, sondern ein metaphorischer oder figurativer Raum ist.
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Als zentrale Bezugsgröße der Welterzeugung, die in Goodmans Symboltheorie ausgeklammert wird, hat sich bei Barnes etwa immer wieder der Körper erwiesen. Wie wir bereits im vorangehenden Abschnitt gesehen haben, geht mit dem Fokus auf den geschlossenen, bühnenartigen Raum eine Betonung des Körperlichen einher, sowohl in seiner physisch-natürlichen, als auch seiner kulturellen Dimension. So wird der Körper immer wieder in seiner Integrität bedroht, er wird im neuen Raum der Mittelpunkt einer Neuordnung oder im institutionalisierten Raum in eine bereits bestehende Anordnung integriert und entsprechend zugerichtet. Ein intensives Experimentieren mit Raum und Körper als nicht hintergehbare physische Realitäten erfolgt immer im Dialog mit einer konstruktivistischen Grundannahme, die Goodman folgendermaßen auf den Punkt bringt: »Wir können zwar Wörter ohne eine Welt haben, aber keine Welt ohne Wörter oder andere Symbole.« (Ebd.: 19) Die Barnes’sche Suche nach ›festem Boden unter den Füßen‹ führt daher immer wieder auch zu der Frage, inwiefern Entitäten wie Körper, Raum oder Tatsachen gefunden und/oder durch symbolische Prozesse erfunden werden (vgl. ebd.: 114). Dass das Körperliche und das Symbolische meist nicht getrennt, sondern in einer symbiotischen Verschmelzung auftreten, zeigt sich deutlich in den verschiedenen Strategien der Sichtbarmachung – ein weiteres Element, das in den Barnes’schen Baukasten der Welterzeugung aufgenommen werden muss. Weiße Arztkittel, Uniformen, Manschettenknöpfe, Pappkronen: Die Liste der Attribute, die Barnesʼ Protagonisten zum Ausdruck von Funktion oder Bedeutung verwenden, ist lang und bunt. Hier wird das Körperliche mit dem Symbolischen verbunden. Die Protagonisten beschreiben oder bekleiden ihren eigenen Körper, um vor sich selbst und in den Augen der anderen in einer bestimmten Weise sichtbar zu werden. Die immer wieder vollzogene symbolische Ein- und Entkleidung erlaubt vielfältige Einblicke in die Dialektik von Repräsentation und Inhalt. Beharrlich experimentiert Barnes mit der Entkopplung und Neukopplung dieser beiden Pole: Mal entsteht dabei ein klaffendes Loch, weil die beiden nicht zueinander finden, mal bleiben die Wörter oder Symbole ohne Inhalt stehen, mal schafft die Repräsentation einen ganz neuen Inhalt.
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Die Sichtbarkeit spielt aber nicht nur eine Rolle für Individuen, die ihre soziale Funktion oder Stellung über ihren Körper oder ihre Kleidung ausdrücken oder erschaffen, sondern auch für institutionalisierte Räume, denen soziale Rollen und bestimmte Praktiken des Sehens eingeschrieben sind. Nirgendwo wird dies deutlicher als in »A Short History of Hairdressing«. Durch die verfremdete Perspektive auf den alltäglichen Raum des Friseursalons zeigt Barnes mit dieser Kurzgeschichte nicht nur die Entwicklung und Wandelbarkeit eines institutionellen Rahmens auf. Er stellt durch seine oft augenzwinkernde Diskussion der Blicke und der Sichtbarkeit auch eine Verbindung her zu jenen Institutionen, die sich ähnlicher Praktiken des Sehens bedienen, aber viel stärker im Fokus der Gesellschaftsanalyse stehen: Jeremy Benthams Gefängnis als Panoptikon, das Foucault als Sinnbild schlechthin für die allgegenwärtige Überwachung in modernen westlichen Staaten galt, oder Goffmans Analyse psychiatrischer Einrichtungen als totale Institutionen bieten sich hier als Referenzpunkte an. Die bisher angeführten Weisen und Elemente der Welterzeugung beschreiben zwar, wie einzelne Welten gebaut werden, sie erklären aber nicht, warum manche Weltversionen verdrängt werden, während andere sich als äußerst widerständig erweisen – und dies, obwohl sie alle mit den Mitteln und Stoffen aus demselben Baukasten der Welterzeugung gemacht sind. Eine ›ontologische‹ Antwort kommt für den Relativisten Goodman nicht infrage: Er lehnt eine Bewertung verschiedener Welten als richtig und falsch, wahr und unwahr oder real und fiktiv kategorisch ab, weil sie je nach Bezugsrahmen, Perspektive oder Kontext sowohl das eine als auch das andere sein könnten (vgl. Goodman 2017: 141). Damit ist die Frage nach der Bedeutung einzelner Welten im Vergleich zu anderen Welten aber noch nicht beantwortet – und ausschließlich mit der Symboltheorie, auf die sich Goodmans Analysehorizont ja ausdrücklich beschränkt, ist ihr auch nicht beizukommen. Ein Blick auf die in dieser Arbeit untersuchten Werke ist hier aufschlussreicher. Julian Barnes präsentiert in seinen fiktionalen Versuchsanordnungen originelle mögliche Antworten auf diese Frage, indem er immer wieder Welten oder Wirklichkeiten in individuellen und kollektiven Zusammenhängen miteinander konkurrieren lässt. Es fällt dabei zunächst
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auf, dass sich der Widerstreit der Welten auch bei Barnes nicht auf einer ontologischen Ebene abspielt. Weder die innere Kohärenz einer Welt, deren Wahrheitsgehalt oder auch nur das ›bessere Argument‹ sind entscheidend. Vielmehr entwickelt sich der Widerstreit der Welten fast immer zu einer Machtfrage. Macht muss als weiteres Element im Baukasten der Welterzeugung dabei äußerst weit gefasst werden. Barnes macht deutlich, dass sie sich in verschiedensten Formen manifestiert: Von der rohen physischen Gewalt über die ökonomische Kraft bis hin zur Institution des Rechts, in vertikaler genauso wie in horizontaler Ausprägung, sowohl in individuell-persönlichen als auch in gemeinschaftlich-sozialen Zusammenhängen. Sie erweist sich bei Barnes sowohl als der Klebstoff, der die Welten zusammenhält, als auch das Lösungsmittel, das sie auseinanderdividiert. Die Fragen der Macht als wichtiger Worldmaking-Faktor werden im Großen und Kleinen immer wieder inszeniert, gewinnen aber vor allem dann an Relevanz, wenn sie in einem ausdrücklich politischen Zusammenhang verortet werden. So geht es wiederholt um die Legitimation staatlicher Ordnungen (The Porcupine, England, England), um Fragen der Entscheidungsmacht (The Porcupine, England, England, »A Short History of Hairdressing«, aber auch A History) oder der nationalen Identität (England, England). Es sind dabei vor allem die Prozesse der Institutionalisierung, die kritisch beleuchtet werden. Der ›politische Barnes‹, der hier zum Vorschein kommt, ist in der literaturwissenschaftlichen Rezeption – ganz im Gegensatz etwa zum ›moralischen Barnes‹ – mit wenigen Ausnahmen bisher noch nicht ausreichend zur Geltung gekommen.7 Christoph Henke etwa schreibt mit Blick auf A History, dass sich der Roman »[…] einer genaueren Analyse der Dispositive der Macht […]« (Henke 2001: 216) enthalte. Dem kann im Lichte der Ergebnisse der vorliegenden Arbeit entgegengehalten werden, dass sowohl in A History als auch den anderen untersuchten Werken Machtstrukturen durch
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Eine Ausnahme ist sicherlich Pádraig McAuliffes in Kapitel 8 (The Porcupine) mehrfach erwähnter Aufsatz »The Ambiguities of Transitional Narrative in The Porcupine by Julian Barnes«. Zum ›moralischen Barnes‹ hingegen haben sich etwa Henke (2001) und Kotte (2001) ausführlich geäußert.
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Bewegungen und Operationen im Raum sichtbar gemacht und hinterfragt werden. Wenn man an der Foucaultschen Diktion festhalten will, könnte man also sagen, dass Barnesʼ Grenzziehungen die Dispositive der Macht verräumlichen, d.h. sie in die »elementar-literarische Form« (Link/Link-Heer 1990: 95) des erzählten Raums übersetzen. In diesem Sinn erlaubt die hier vorgeschlagene Verknüpfung von Raum und Welterzeugung eine erste Annäherung an die politische Dimension in Barnesʼ Werk und bietet darüber hinaus eine Grundlage für weitere, systematischere Analysen, die die ›politische Lücke‹ in der Barnes-Forschung schließen helfen. Der politische Gehalt vieler Barnes-Werke lädt dazu ein, abschließend noch einmal auf die performative Dimension der Welterzeugung einzugehen. Wir haben zu Beginn dieser Arbeit gesehen, dass vor allem jüngere Ansätze die welterzeugende Rolle literarischer Werke und damit deren Potential, Wirklichkeit mitzugestalten, hervorheben (vgl. Nünning/Nünning 2010: 13). Dies gilt insbesondere auch für literarische Räume, wie Wolfgang Hallet und andere überzeugend nachgewiesen haben. So können literarische Werke zur Konzeptualisierung von subjektiven Raumerfahrungen als Teil einer komplexen »kognitiv-semiotischen Tätigkeit« (Hallet 2009: 91) beitragen oder als fiktionale Folien, die aus der Literatur exportiert werden, das Räumlich-Imaginäre einer Kultur beeinflussen (vgl. z.B. Cohen 2015). Kann Barnesʼ »verräumlichender Art der Welterzeugung« (Dünne 2015: 46) in diesem Sinn eine performative Rolle zugeschrieben werden? Die Werke wenden sich mit der Inszenierung grundlegender Fragen des Worldmaking einerseits ausdrücklich an eine Welt jenseits des fiktionalen Texts. Die erzählten Bühnen sind also zunächst ganz in Edward Saids Sinn »ein Stück Welt« und damit »[…] ein Teil der gesellschaftlichen Welt, des menschlichen Lebens und natürlich der historischen Momente [sind], in denen sie sich befinden und aus denen heraus sie interpretiert werden.« (Said 1997: 11)8 Andererseits stellen die experimentellen Versuchsanordnungen den Weltbezug her, ohne dabei 8
Saids Forderung nach einer Hinwendung zur Welt hat einen dezidiert sozialkritisch-politischen Ton und war Anfang der 80er Jahre an die amerikanische
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den geschützten Raum der Fiktion zu verlassen. Mehr noch: Anstatt die Fiktion zur Welt hin zu öffnen, zieht Barnes eine Grenze um seine fiktionalen Weltentwürfe – im räumlich-physischen Sinn, aber auch durch die besondere fiktionale Markierung, die im Begriff der Bühne transportiert wird. Barnesʼ erzählte Bühnen sind nicht nur räumlich, zeitlich und perspektivisch exponiert, sondern betonen immer wieder auch ihren exemplarischen, nicht referentiellen Charakter. Am deutlichsten wird dies in The Porcupine: Zwar hat der Roman mit den Umbrüchen in Bulgarien ein unmissverständliches historisches Vorbild, er zeigt durch die offensichtlich erfundenen Handlungsstränge, die fiktionalisierten Namen und die inszenierte »Staginess« (Krasteva 2000: 347) aber genauso unmissverständlich, dass er Fiktion ist. Einem Übergreifen des literarischen Raums auf die Welt scheint das Konzept der erzählten Bühne regelrecht entgegenzustehen. Durch die erzählerischen Grenzziehungen wird ein Raum erzeugt, der eine besondere Qualität der literarischen Sprache im Vergleich zu nicht-literarischen Sprachen wiederholt und potenziert. Ein literarischer Text öffnet sich hin zu anderen – politischen, philosophischen, juristischen – Diskursen, ohne jedoch als Teil dieser Diskurse identifiziert zu werden oder sogar deren Regeln befolgen zu müssen. Literatur, so Derrida, steht immer in einer »suspendierten Relation« (Derrida 1992a: 48) zu Bedeutung und Referenz. Sie ist im Hinblick auf andere Diskurse immer Teil einer »Dialektik von Einbettung und Ausbettung« (Warning 2009: 24)9 , auch wenn es in vielen literarischen Spielarten gerade darum geht, diese Prozesse, etwa zugunsten eines Realitätseffekts, im Verborgenen zu halten. Für die hier untersuchten Werke gilt dies jedoch nicht. Das Herausgreifen und Zuspitzen einzelner Elemente und Prozesse der Welterzeugung findet in Barnesʼ Versuchsanordnungen nicht
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Literaturkritik adressiert, die sich ganz in das »Labyrinth der Textualität« (Said 1997: 10) zurückgezogen habe. Es sei hier angemerkt, dass Warning diese Beobachtung nicht im Hinblick auf Barnes (oder Derrida), sondern auf Foucault und dessen Konzept der Literatur als Konter- oder Gegendiskurs formuliert.
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zuletzt durch die räumlichen Markierungen immer als aktive Auseinandersetzung mit der besonderen – suspendierten – Position der Literatur statt, der Blick auf die Welt durch diese Linse ist somit immer ein betont literarisch-experimenteller. Die so hervorgehobene Literarizität im geschlossenen Raum bedeutet freilich nicht, dass Barnesʼ Wirklichkeitsexperimente keine Relevanz jenseits der Welt der Fiktion hätten. Denn, um Barnes noch einmal zu zitieren: »Novels tell us the most truth about life: what it is, how we live it, what it might be for, how we enjoy and value it, how it goes wrong, and how we lose it.« (Barnes 2012b: IX)
Literatur
Aristoteles, 1982. Poetik, hg. von Fuhrmann, Manfred. Stuttgart: Reclam. Assmann, Aleida, 2013. Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne. München: Hanser. Assmann, Aleida, 2015. Im Dickicht der Zeichen. Berlin: Suhrkamp. Assmann, Aleida/Jeftic, Karolina/Wappler, Friederike, 2014. »Einleitung«. In: Assmann, Aleida/Jeftic, Karolina/Wappler, Friederike (Hg.): Rendezvous mit dem Realen. Die Spur des Traumas in den Künsten. (Erinnerungskulturen 4). Bielefeld: Transcript, 9-24. Augé, Marc, 2010 [1992]. Nicht-Orte. Übersetzt von Michael Bischoff. München: Beck. Augustinus, 2016. Bekenntnisse. Übersetzt und kommentiert von Wilhelm Thimme. München: dtv. Bachmann-Medick, Doris, 2009. Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Barnes, Julian, 1992. »Stranger Than Fiction«. New Yorker 26.10.1992, 140. Barnes, Julian, 2000 [1998]. England, England. New York: Vintage. Barnes, Julian, 2009a [1989]. A History of the World in 10 1/2 Chapters. London: Vintage. Barnes, Julian, 2009b [1984]. Flaubert’s Parrot. London: Vintage. Barnes, Julian, 2009c [1980]. Metroland. London: Vintage. Barnes, Julian, 2011a [2004]. »A Short History of Hairdressing«. In: The Lemon Table. London: Vintage, 1-22. Barnes, Julian, 2011. The Lemon Table. London: Vintage. Barnes, Julian, 2011b. The Sense of an Ending. London: Jonathan Cape.
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Welterzeugung als Experiment
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Danksagung
Die vorliegende Arbeit ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Jahr 2019 von der Universität Konstanz angenommen wurde. Mein besonderer Dank gilt Aleida Assmann. Auch, weil ich als Studierender in einem ihrer Seminare den Autoren Julian Barnes wiederentdeckte, vor allem aber, weil sie als Erstbetreuerin dieses Projekt mit vielen Anregungen und genauen, enorm hilfreichen Rückmeldungen von Anfang bis Ende begleitet hat. Die Zusammenarbeit habe ich dabei als immer wertschätzend und überaus lehrreich erlebt. Ebenso bedanken möchte ich mich bei meiner Zweitbetreuerin Silvia Mergenthal, die immer ein offenes Ohr für meine Fragen hatte, und Pere Joan Tous, der trotz erschwerter Bedingungen den Vorsitz des Prüfungskolloquiums übernahm. Eva Mendes möchte ich für die aufmerksame Durchsicht mehrerer Kapitelentwürfe genauso danken wie für die konstruktiven und aufmunternden Gespräche, die wir in unregelmäßigen Abständen in der Konstanzer Uni-Mensa führten. Wertvolle Hinweise verdanke ich auch einem im Februar 2015 in Konstanz abgehaltenen Forschungskolloquium, wo ich einen frühen Entwurf meines Projekts vorstellen durfte. Eva Obrecht sei gedankt für ihr hilfreiches Feedback zum vierten Teil dieser Arbeit. Die größte Unterstützung habe ich in meiner Freundin Sarah Pohlmann gefunden. Mit ihrem sicheren Gespür für Sprache und Stil war sie beim finalen Korrekturdurchgang eine unentbehrliche Hilfe. Ich danke ihr herzlich für diesen großen fachlichen Einsatz, noch viel mehr aber für ihre Geduld und ihre Lebensfreude, die mich immer wieder auch den nötigen Abstand zur Dissertation gewinnen ließen.
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Welterzeugung als Experiment
Nicht zuletzt möchte ich meinen Eltern Petra und Thomas Basler und meiner Großmutter Waltraud Fechtig Danke sagen. Sie haben mich nicht nur während der Promotionszeit, sondern mein Leben lang unterstützt und ermutigt. Ihnen ist dieses Buch gewidmet.
Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke
Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur 2018, 120 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1
Sascha Pöhlmann
Stadt und Straße Anfangsorte in der amerikanischen Literatur 2018, 266 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4402-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4402-3
Werner Nell, Marc Weiland (Hg.)
Kleinstadtliteratur Erkundungen eines Imaginationsraums ungleichzeitiger Moderne April 2020, 540 S., kart. 49,00 € (DE), 978-3-8376-4789-1 E-Book: 48,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4789-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Literaturwissenschaft Thorsten Carstensen (Hg.)
Die tägliche Schrift Peter Handke als Leser 2019, 386 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-4055-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4055-1
Wolfgang Johann, Iulia-Karin Patrut, Reto Rössler (Hg.)
Transformationen Europas im 20. und 21. Jahrhundert Zur Ästhetik und Wissensgeschichte der interkulturellen Moderne 2019, 398 S., kart., 12 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4698-6 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4698-0
Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 10. Jahrgang, 2019, Heft 2: Poetiken des Übergangs 2019, 190 S., kart., 2 SW-Abbildungen 12,80 € (DE), 978-3-8376-4460-9 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4460-3
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