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German Pages 295 [296] Year 1982
JOACHIM HElDORN
Legitimität und Regierharkeit
Sozialwissenschaftliche Schrüten Heft4
Legitimität und Regierbarkeit Studien zu den Legitimitätstheorien von Max Weher, Niklas Luhmann, Jürgen Habermas und der U nregierbarkeitsforschung
Von
Dr. Joachim Beidorn
DUNCKER & HUMBLOT/ BERLIN
Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berl!n 41 Gedruckt 1982 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany
© 1982 Duncker
ISBN 3 428 05164 5
Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Erstes Kapitel Von der legalen Herrschaft zur plebiszitären Führerdemokratie Max Webers Legitimitätstheorie
12
1.1. Max Webers Legitimitätsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
12
1.2. Webers Typologie der reinen Formen legitimer Herrschaft . . . . . . . . A. Traditionelle Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Charismatische Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Legale Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C.l. Der Rationalitätsgehalt legaler Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . C.2. Wertrationalität als Legitimationsgrundlage der legalen Herrschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C.3. "Interesse" und "Vereinbarung" als Grundlage des Legalitätsglaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13 15 17 18 19 32 43
1.3. Di:e geschich'tHche Entwicklung der bürgerltchen Gesellschaft zur "plebiszitären Führerdemokratie" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 1.4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69
Zweites Kapitel Legitimation aus systemtheoretischer Perspektive: Die Funktionen der politischen Institution des "Verfahrens" (Niklas Luhmann)
72
2.1. Luhmanns Legitimationstheorie: Legitimation durch Verfahren und die symbolisch-generalisierte Wirksamkeit physischer Gewalt . . . . . . 73 2.2. Die inhaltlich-normative Qualität der Verfahrensentscheidungen Grundlage des Legalitätsglaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
84
2.3. Die Bedeutung der materiellen Auswirkungen der Verfahrensentscheidungen für den Legalitätsglauben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 2.4. Leistungs- und Legitimationsgrenzen von Verfahren . . . . . . . . . . . . . . 102 2.5. Der Geltungsbereich von Legitimationsfragen: bloße Abnahme von Verfahrensentscheidungen oder Anerkennung der Gesellschaftsordnung als Ganzer? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 2.6. Dysfunktionale Folgen des "modernen" Legitimitätstypus . . . . . . . . . . 107
6
Inhaltsverzeichnis
2.7. Die Annulierung inhaltlicher Legitimitätserwartungen - Stabilisierungsfaktor oder Schwächesymptom des politischen Systems? . . . . . . 109 2.8. Empirieverzicht und normative Bias der Luhmannschen Analyse .. 113 2.9. Zusammenfassung ......................... .. .... . ....... ... ... . .. 116
Drittes Kapitel Grenzen der diskursiven Legitimationstheorie (Jürgen Habermas)
1QO
3.1. Jürgen Habermas' Legitimationstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 3.2. Einwände und Gegenüberlegungen zu Habermas' Legitimationskonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 3.3. Tücken des Diskurs-Modells
166
3.4. Ideal versus Wirklichkeit: Habermas' Paradigma einer Krfti-k gesellschaftlicher Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 3.5. Die "Entwicklungslogik der normativen Strukturen": Soziale Evolutionstheorie oder Metaphysik der Geschichte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 3.6. Versiegen die Legitimationsressourcen des polit1schen Systems? . . . . 192
V iertes Kapitel Legitimationsprobleme-Komponente der "Unregierbarkeit" der westlichen Industriegesellschaften? 4.1.
212
Faktoren der Unregierbarkeit ........... . . . ....... . ...... .. ...... 4.1.1. Veränderungen der äußeren Rahmenbedingungen des Regierens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2. Die "Inflation" der Ansprüche und Erw artungen .. . . . .... . 4.1.3. Die Explosion der staatlichen Aufgaben .. ........ . . . .. .. . 4.1.4. Defizite staatlicher Institutionen und Steu erungsinstrumente .. .. .. . ..... . .............. .... .. . .. . . .. .... .. . . . . .. 4.I.5. Die außerparlamentarischen Machtzentren ........ .. ...... 4.1.6. Gesellschaftlicher Wertwandel .... ... .............. ... .... 4.1.7. Gesteigerte Legitimitätsempfindlichkeit des politischen Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
213
4.II. "Unregierbarkeit"- Zur Kritik eines ideologischen Topos . . .. .... 4.II.l. Schwächen der empirischen Fundierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.11.2. Die Einschränkung staatlicher Sozialleistungen - Kern der Strategie zur Reduktion des staatlichen Aufgabenvolumens 4.11.3. "Moderation in democracy" - das Patentrezept zur Sicherung der "Regierbarkeit" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.11.4. Die normative Basis der Unregierbarkeitsforschung . . . . . . 4.11.5. Die verdrehte Ursachenattribution der "Unregierba rkeitsproblem e" ... . . ... .... .. .... . . . . .. ............ . ..... . ... . .
236 236
213 214 216 217 218 220 234
237 242 245 247
4.111. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
Inhaltsverzeichnis
7
Fünftes Kapitel
Legitimation durch alltagspragmatische Einbindung in gesellschaftliche Kerninstitutionen 5.1. Alltagspragmatische Einbindung als Legitimationsmechanismus
252 252
5.2. Ausblick: Zur Struktur von Legitimität . .. .................. .. ..... 262
Literaturverzeichnis ..... . ...... . ...... . ... . ...... .. ..... . .... . ....... . 283
Einleitung Der Zenit der sozialwissenschaftliehen Diskussion über die Legitimationsprobleme entwickelter kapitalistischer Industriegesellschaften ist überschritten, ein Modethema scheint zu verebben. Damit eröffnen sich Chancen für die Sichtung und Bilanzierung der Debatte: Welche Erklärungskraft besitzt die gesellschaftstheoretische Zentralkategorie der "Legitimität" für die Analyse gegenwärtiger sozialer und politischer Entwicklungen in den westlich-kapitalistischen Industriegesellschaften? Die Beantwortung dieser Fragestellung erfolgt in der kritischen Auseinandersetzung mit vier prominenten Konzeptionen der Legitimationstheorie, die die sozialwissenschaftliche Diskussion der letzten Jahre maßgeblich geprägt haben, nämlich: -
die Legitimationstheorie der verstehenden Soziologie Max Webers;
-
das funktionale systemtheoretische Legitimationskonzept von Niklas Luhmann;
-
die am Historischen Materialismus orientierte, kommunikationstheoretisch gewendete Legitimationstheorie von Jürgen Habermas;
-
und schließlich die in den letzten Jahren insbesondere in den angelsächsischen Ländem und der Bundesrepublik Deutschland von Autoren eher konservativer Provenienz geführte Diskussion über die drohende "Unregierbarkeit" der westlichen Industrienationen.
Die Auseinandersetzung mit diesen unterschiedlichen, zum Teil konträren Varianten der Legitimationstheorie ist auf drei Fragestellungen konzentriert: 1. Was bedeutet für die Autoren die Vorstellung der "Legitimität" gesellschaftlicher und politischer Strukturen? Welche besonderen Merkmale sind jeweils für die die Theoriekonstruktionen tragenden Konzeptionen von Legitimität konstitutiv? 2. Durch welche soziale und politische Prozesse und Mechanismen wird den genannten Theorien zufolge Legitimität geschaffen? 3. Welche Tendenzen einer Delegitimation gesellschaftlicher und politischer Strukturen werden diagnostiziert? Welche Ursachen werden dafür genannt? An die Beantwortung dieser Fragestellungen auf Grundlage einer immanenten, textnahe verfahrenden Rekonstruktion und Interpreta-
10
Einleitung
tion der genannten Legitimationstheorien schließt sich die Prüfung ihrer Stichhaltigkeit und Erklärungskraft an. Im Verlauf dieser Analyse wird eine Reihe von Elementen eines alternativen Erklärungsmodells für die legitimatorische Struktur der entwickelten kapitalistischen Industriegesellschaft und ihrer politischen Systeme eingeführt, so insbesondere: -
das Konzept einer Pluralität qualitativ unterschiedlicher, heterogen wirkender und variabel substituierbarer Legitimationsquellen, auf denen der Legitimitätsglaube der Bevölkerung an das gesellschaftliche und politische System beruht;
-
die spezifische Bedeutung der Legitimationsleistungen des ökonomischen Systems als einer tragenden Grundlage für die Legitimität der gesamten Gesellschaftsstruktur, insbesondere auch für die des politischen Systems;
-
die Betonung der Vielzahl der authentischen, eigenspezifischen Legitimationsressourcen und -mechanismen des politischen Systems und die besondere Bedeutung der sozial- und wohlfahrtsstaatliehen Aktivitäten für die legitimatorische Stabilität der entwickelten kapitalistischen Industriegesellschaften; die Bestimmung der Legitimität der Gesamtgesellschaft als Resultante der Legitimationsleistungen und Legitimationsprobleme der verschiedenen gesellschaftlichen Teilsysteme, insbesondere des ökonomischen und des politischen Systems;
-
und schließlich die Kategorie der materiellen Einbindung/Integration der Gesellschaftsmitglieder in zentrale gesellschaftliche Institutionen auf der Ebene ihres alltäglichen Handeins als einem wesentlichen Erklärungselement für die legitimatorische Stabilität der entwickelten kapitalistischen Industriegesellschaften.
Gerade die zuletzt genannten Erklärungs- und Analyseelemente führen zu der Schlußfolgerung, daß eine Entdramatisierung der Legitimationsdiskussion indiziert ist. In zahlreichen Beiträgen der letzten Jahre zur Legitimitätsanalyse westlich-kapitalistischer Gesellschaften lag der Akzent auf der Diagnose bestandskritischer Entwicklungen: Der Legitimitätsglaube der Bevölkerungen, so der Tenor, sei am Abbröckeln. Das Theorem der Legitimationskrise übernahm die Rolle der vorher ökonomisch begründeten sozialen Krisentheorie. Gravierende Legitimitätsdefizite mit entsprechenden politischen Folgeproblemen wurden prognostiziert. Dabei wurde zweifelsfrei eine Anzahl wichtiger sozialer Krisentendenzen markiert. Eine umfassende gesellschaftsformationsspezifische Legitimationsanalyse muß jedoch auch den Gegenpol aus-
Einleitung
11
loten: die Fähigkeit eines politischen und gesellschaftlichen Systems, mit Krisenerscheinungen innovativ oder auch repressiv fertig zu werden. Auf der Analyse legitimationssichernder Mechanismen und Strategien des sozialen und politischen Systems liegt daher ein Schwerpunkt der folgenden Analysen, insbesondere der Auseinandersetzung mit der Legitimationstheorie von J. Habermas. Im Bereich der Legitimationsforschung dominiert bislang die Entwicklung theoretischer Überlegungen und Konzeptualisierungen über empirisch und historisch verfahrende Analysen. Dennoch wäre es falsch, aus dieser Forschungslage den Schluß zu ziehen, nur noch empirische Analysen zu betreiben. Der gegenwärtige Stand der theoretischen Grundlagendiskussion ist nämlich durch ein hohes Ausmaß begrifflicher Ungenauigkeiten, der Verwendung identischer Termini mit unterschiedlichen Bedeutungsgehalten und widersprüchliche und konträre Erklärungsvorschläge gekennzeichnet. Die Entwicklung einer präziseren und konsistenteren Legitimationstheorie ist daher notwendig. Die vorliegende Arbeit soll einen Schritt in diese Richtung darstellen. Gerade eine empirisch gehaltvolle Legitimationstheorie, die sich gegenüber Falsifizierungs- und Testversuchen nicht immunisiert und keine Scheu davor hat, ihre tragenden Begriffe zu operationalisleren und empirische Bezugsgrößen und Indikatoren anzugeben, muß über ein ausgearbeitetes theoretisches Fundament verfügen. Ohne eine solche Grundlegung, zu der diese Arbeit beitragen soll, ist die Entwicklung einer nicht nur theoretisch-spekulativen, sondern empirisch beleg- und kontrollierbaren Legitimationstheorie nicht möglich.
Erstes Kapitel
Von der legalen Herrschaft zur plebiszitären Führerdemokratie - Max Webers Legitimitätstheorie 1.1. Max Webers Legitimitätsbegriff
Die Kernfrage der Herrschaftssoziologie von Max Weber lautet: Wodurch wird der dauerhafte Bestand eines sozialen Herrschaftsverhältnisses gesichert? Bekanntlich bedient sich jede Form von Herrschaft der Gewalt, der Anwendung oder Androhung von physischem oder psychischem Zwang. Auch Weber begreift die Androhung oder Anwendung von Gewaltsamkeit als das spezifische Herrschaftsmittel von politischen Verbänden; stets ist Gewaltsamkeit "die ultima ratio, wenn andere Mittel versagen" 1 • Jedoch wäre ein Herrschaftsverband, der nur auf Gewalt und Zwang beruhen würde, ein außerordentlich labiles Gebilde, da Gehorsam ausschließlich durch die Furcht vor Sanktionen motiviert würde. Auch andere Motive des Gehorsams wie die stumpfe Gewöhnung an eingelebte Herrschaftsverhältnisse oder die zweckrationale Berechnung eigener unmittelbarer Vorteile sind zwar für die Erklärung des faktischen Akzeptierens von Herrschaftsstrukturen bedeutsam, geben aber keine erschöpfende Erkenntnis über die spezifischen sozialen Mechanismen, durch die die dauerhafte Stabilität von gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen gesichert wird. Worin besteht nun das eigentliche Fundament von Herrschaft? Webers Antwort lautet: im Legitimitäts-Glauben der Beherrschten. Jede Macht, so Weber, bedarf der Selbstrechtfertigung-2, der Rechtsgründe3 , damit sie von den Gesellschaftsmitgliedern subjektiv als verbindlich, als vorbildlich und gelten sollend akzeptiert wird4 • Weber bezeichnet den Glauben an ein solches Legitimitäts-Prestige der Herrschaft als die wesentliche Grundlage jeder Fügsamkeit in Herrschaftsstrukturen5 • 1 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Köln und Berlin 1964, S. 39. 2 Ebenda, S. 701. 3 Max Weber, Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1973, S. 475-488, hier s. 475. 4 Wirtschaft und Gesellschaft, S. 22 f. 5 Ebenda, S. 195.
1.2. Webers Typologie der reinen Formen legitimer Herrschaft
13
Ein Minimum an "innerer Zustimmung" 6 , an "Gehorchenwollen" 7 mindestens der sozial gewichtigen Schichten der Beherrschten, ist für Weber eine unerläßliche Vorbedingung für die dauerhafte Existenz eines jeden, auch des bestorganisierten Herrschaftsgefüges. Der spezifische Gehalt der Legitimationstheorie bei Weber bezeichnet also mehr als das faktische Befolgen von Befehlen, das bloß äußerliche Hinnehmen von herrschaftlicher Macht: Legitimität bezeichnet für Weber die innere Anerkennung, das Einverständni.s8 , das Gelten-Sollen, das die Handelnden einer Herrschaftsordnung zuschreiben. Wohlgemerkt: die Handelnden. Legitimität ist für Weber eine empirische Kategorie, die auf den faktisch existenten Legitimitätsglauben der Gesellschaftsmitglieder abzielt - und kein normativer Maßstab, den der Soziologe oder Historiker an eine Gesellschaftsordnung anlegt, um über ihre Rechtmäßigkeit zu befinden. Die Legitimation einer herrschaftlichen Struktur ist für Weber immer eine dreipolige soziale Relation: den einen Pol bildet clie Herrschaft mit ihren Legitimitätsansprüchen, den anderen der Legitimitätsglaube der Beherrschten. Dazwischen steht der Verwaltungsstab der Herrschaft, dessen Loyalität gegenüber den Herrschenden nicht nur auf materiellen Privilegien und sozialen Vorteilen im Vergleich mit der Lage der Beherrschten beruht, sondern ebenfalls auf spezifischen Legitimitätsvorstellungen, die die Mitglieder des Verwaltungsstabes den Herrschenden entgegenbringen9 • Die Entwicklung des Legitimitätsglaubens der Verwaltungsstäbe- also von Armee, Polizei und Bürokratie - ist nach Weber eine für den Verlauf sozialer Krisenprozesse entscheidende Bestimmungsgröße. 1.2. Webers Typologie der reinen Formen IegitimerHerrschaft Weber hat eine Typologie von Formen legitimer Herrschaft vorgeschlagen, die in den späteren Diskussionen und Interpretationen zu recht kontroversen Auslegungen geführt hat, da die Webersehen Ausführungen zu der Idealtypologie legitimer Herrschaftsformen zum Teil dunkel, widersprüchlich und inkonsequent sind. Dies hat beispielsweise Peter Graf Kielmannsegg herausgearbeitet und "den Mangel an Präzision in der Terminologie" der Webersehen Präsentation der Ideale Max Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, in: ders., Gesammelte politische Schriften, Tübingen 1958, S. 294-431, hier S. 327. 7 Wirtschaft und Gesellschaft, S. 157. 8 Max Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, S. 427-474, hier S. 470. 9 Vgl. dazu Wirtschaft und Gesellschaft, S. 197 und S. 1045.
14
1. Kapitel: Max Webers Legitimitätstheorie
typen moniert10• C. J. Friedrich kommt in seiner Untersuchung der Webersehen Legitimitätstypologie zu dem Schluß: "All dies ist reichlich verworren" 11 • Das Ziel der folgenden Rekonstruktion der Webersehen Idealtypologie besteht daher darin, den bei Weber implizierten Anspruch auf eine klare Systematik möglicher Geltungsprinzipien von sozialer Herrschaft zu entfalten und - teilweise in Abgrenzung zur Forschungsliteratur über Weber - einen Interpretationsvorschlag der Webersehen Legitimationstheorie vorzulegen, der eine größere systematische Konsequenz und begriffliche Präzision aufweist. Weber hat drei reine Formen von Legitimitätsgründen unterschieden, denen drei Idealtypen legitimer Herrschaft entsprechen: die traditionale, die charismatische und die legale Herrschaft kraft Satzung. Der Erklärungsanspruch, den Weber diesen Idealtypen beimißt, ist begrenzt. Zum einen ist für Weber die faktische Fügung in Herrschaftsverhältnisse aus einer Fülle unterschiedlichster Motive zu erklären: Sie kann auf unmittelbaren Opportunitätsgründen, auf materiellem Eigeninteresse, auf Schwäche, Hilflosigkeit und der Furcht vor Sanktionen beruhen. Die Idealtypen legitimer Herrschaft zielen jedoch nur auf eine Komponente solcher Motivbündel: den Legitimitätsglauben der Beherrschten. Zum anderen kommen die Idealtypen historisch nie rein vor. In der empirischen Analyse stößt man, so Weber, auf "höchst verwickelte Abwandlungen, Übergänge und Kombinationen dieser reinen Typen" 12, beispielsweise in traditionalen Gesellschaften, in denen die AlltagsWirtschaftsbedürfnisse unter der Leitung von traditional legitimierten Führern gedeckt werden, während charismatische Führer außeralltägliche Aktivitäten wie Jagd und Krieg organisieren13• Die Idealtypologie soll also nicht "die unendliche Mannigfaltigkeit des Historischen schematisch vergewaltigen, sondern sie möchte nur, für bestimmte Zwecke, brauchbare begriffliche Orientierungen schaffen" 14• Mit den Idealtypen konstruiert Weber prinzipiell mögliche Grundlagen herrschaftlicher Legitimation in einer "reinen" und konsequenten Form, gerade um empirische Abweichungen und Mischungen unterschiedlicher Legitimitätsquellen präzise analysieren zu können. Nicht 10 Peter Graf Kielmansegg, Legitimität als analytische Kategorie, in: Politische Vierteljahresschrift, 12/1971, S. 367-401, hier S. 375. 11 C. J . Friedrich, Die Legitimität in politischer Perspektive, in: Politische Vierteljahresschrift, 1/1960, S. 119-132, hier S. 125. 12 Max Weber, Politik als Beruf, in: ders., Gesammelte politische Schriften, Tübingen 1958, S. 493-548, hier S. 496. 13 Wirtschaft und Gesellschaft, S. 195. 14 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1947, S. 273.
1.2. Webers Typologie der reinen Formen legitimer Herrschaft
15
als Erkenntnisziel, sondern als heuristisches Mittel der soziologischen und historischen Analyse kommt die Bildung solcher abstrakter Idealtypen demnach in Betracht15• Aron hat treffend die Webersehen Idealtypen als Beispiele für "atomische" Begriffe bezeichnet: Sie stellen gleichsam allgemeinste Elemente dar, aus denen das konkrete und komplexe Gefüge gesellschaftlicher Systeme rekonstruierbar und verständlich wird16• A. Traditionale Herrschaft
Die traditionale Herrschaft beruht nach Weber auf dem Alltagsglauben an die Heiligkeit der von jeher geltenden Traditionen17, auf der "Geltung des immer Gewesenenm8 ; die Handelnden orientieren sich am alltäglich Gewohnten als einer unverbrüchlichen Norm19• Die Heiligkeit der Tradition, des Gewohnten und immer so Gewesenen schreibt Gehorsam gegenüber persönlichen Autoritäten vor20, persönlichen Herren, die nach traditional überkommenen Regeln bestimmt werden21 • Der Typus des Befehlenden ist der des "Herren", der Typus des Verwaltungsstabes der "Diener", der Typus der Gehorchenden der "Untertan". Den reinsten Typus der traditionalen Herrschaft verkörpert die patriarchialische Herrschaft, also die Herrschaft des Hausvaters über die Hausgenossen, des Herren über die Leibeigenen, des Fürsten über die Untertanen. Charakteristikum der patriarchialischen Herrschaft als einer repräsentativen Verkörperung der traditionalen Herrschaftsform ist nach Weber eine Zweiteilung ihres Herrschaftsbereiches. Sie ist zum einen eingebettet und zugleich begrenzt durch ein System unverbrüchlicher, als absolut heilig geltender Normen, deren Verletzung dem geltenden Glaubenssystem zufolge magische oder religiöse Übel nach sich zieht. 15 Max Weber, Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher Erkenntnis, in: ders., Soziologie - Weltgeschichtliche Analysen - Politik, Stuttgart 1968, S. 186-262, hier S. 237. Den "Werkzeugcharakter" der Idealtypenbildung bei Weber betont auch Walter Schulz, Philosophie in der veränderten Welt, Pfullingen 1972, S. 156. 16 Raymond Aron, Hauptströmungen des soziologischen Denkens, Bd. 2, Köln 1971, S. 196. Mit einer wertenden Beurteilung der Wirklichkeit auf der Grundlage normativer Ideale haben die Idealtypen nichts zu tun. Weber merkt dazu an, daß es Idealtypen von Bordellen ebenso gut wie von Religionen gibt. Vgl. Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher Erkenntnis,
s. 245. 17 18 19
20 21
Wirtschaft und Gesellschaft, S. 159. Ebenda, S. 26. Religionssoziologie, Bd. 1, S. 269. Wirtschaft und Gesellschaft, S. 702. Ebenda, S. 167.
16
1. Kapitel: Max Webers Legitimitätstheorie
Der Inhalt möglicher Befehle ist so durch Tradition gebunden; eine rücksichtslose Verletzung derartiger traditioneller Grenzen droht die Legitimität des Herren selbst zu gefährden. Zum anderen gibt es außerhalb der Schranken, die die Normen der Tradition setzen, einen Bereich der freien Gnade und Willkür des Herren, in dem er nach persönlichem Belieben entscheidet22 • In den Webersehen Ausführungen zu den spezifischen Kennzeichen traditionaler Herrschaft sind die Übergänge zu einem anderen, später ausführlicher begründeten Typus der Legitimitätsgeltung fließend, nämlich der wertrationalen Legitimation. Das Gewohnte und Althergebrachte wird in die Qualität einer Norm, eines Wertsystems transformiert, das bewußt aufrechterhalten und an das als eine als gültig erschlossene Wertorientierung geglaubt wird. Dennoch ist die Unterscheidung von traditionaler und wertrationaler Legitimation analytisch sinnvoll: Die wertrationale Legitimation bezeichnet die relativ bewußt-reflektierte Rechtfertigung und Begründung sozialer Strukturen durch den Bezug auf normative Systeme und Wertmuster wie beispielsweise die protestantische Ethik, während der traditionale Legitimationsmodus eine eher naturwüchsig-bewußtlose Wahrnehmungsund Verarbeitungsform gesellschaftlicher Realität als eines naturhaften, unveränderbaren und daher fraglos "geltenden" Bedingungsgeflechtes bezeichnet. Georg Jellineks prägnante Formulierungen von der "normativen Kraft des Faktischen" und der "legitimierenden Wirkung der Zeit" 23 dürften für die Stoßrichtung des Webersehen Idealtypus der traditionalen Legitimation leitend gewesen sein. Diese vorgeschlagene Unterscheidung zwischen traditionaler und wertrationaler Legitimation, die auf das Ausmaß und die Intensität der Strukturierung des Legitimitätsglaubens durch die Orientierung an bewußten, explizierten oder zumindest explizierbaren Werten abzielt, ist natürlich graduell und fließend wie die Konstruktionslogik der Webersehen Herrschaftstypologie überhaupt. Dennoch verbessern derartige idealtypische Differenzierungen die Chancen einer analytischen Durchdringung realer Herrschaftsgebilde, die aus unterschiedlichen Legitimitätsquellen zusammengesetzt und gemischt sind24 • Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft, S. 478. Vgl. Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, Darmstadt 1960, S. 332 ff. 24 Diese Überlegung richtet sich gegen die Argumentation von Heino Speer, Herrschaft und Legitimität. Zeitgebundene Momente in Max Webers Herrschaftssoziologie, Berlin 1978. Speers Vorschlag, die traditionale Legitimation lediglich als einen Unterfall der wertrationalen Legitimation zu betrachten (S. 53), läuft auf eine Nivellierung der Idealtypen und eine Verwischung ihrer Unterscheidungskraft hinaus. Seine Konzeption einer bloßen Zweiteilung der Geltungsgründe (Glauben und Anerkennung der Faktizität; S. 86 f. und S. 168) fällt hinter den bei Weber erreichten Differenzierungsgrad zurück. 22
23
1.2. Webers Typologie der reinen Formen legitimer Herrschaft
17
B. Charismatische Herrschaft
Die Legitimitätsgeltung der charismatischen Herrschaft entspringt nach Weber der außeralltäglichen, affektiven Hingabe an die Heiligkeit, Heldenkraft oder Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie geschaffenen Ordnungen25 • Es handelt sich um eine Hingabe an das Außerordentliche, an besondere Fähigkeiten und Gaben, die in der Person des charismatischen Herren liegen, wie magische Fähigkeiten, Offenbarungen, Heldentum, geistige oder rednerische Fähigkeiten. Aufgrund dieser als übernatürlich, gottgesandt und vorbildlich erachteten Kräfte wird der Herrscher als "Führer" gewertet; der Typus des Gehorchenden ist der des "Jüngers". Der Zauberer, der Prophet, der Heiland, der Führer auf Jagd- und Beutezügen oder die Führer politischer Parteien stellen für Weber Formen charismatischer Herrschaft dar. Die Herrschaftsausübung solcher charismatischer Figuren unterliegt weder traditionalen noch rationalen generellen Normen; sie ist regelfremd. Entscheidungen werden von Fall zu Fall getroffen auf der Grundlage von Offenbarungen, Eingebungen oder Orakeln. Die Macht des Charisma ruht auf Offenbarungs- und Heroenglauben, auf der emotionalen Überzeugung der Anhänger. Die charismatische Herrschaft bildet daher eine Legitimationsform, die "von innen" her wirkt, die von der Gesinnung der Beherrschten getragen wird26• Die Quelle des kontinuierlichen Glaubens an solche Typen persönlicher Führer ist die Bewährung ihrer charismatischen Qualität, sei es durch Wunder, Siege oder Jagderfolge27 • In einem derartigen Zwang zum Erfolg liegt zugleich die Hauptgefahr für den dauerhaften Bestand eines jeden charismatischen Herrschaftsverhältnisses: "Bleibt die Bewährung dauernd aus, zeigt sich der charismatisch Begnadete von seinem Gott oder seiner magischen oder Heldenkraft verlassen, bleibt ihm der Erfolg dauerhaft versagt, vor allem: bringt seine Führung kein Wohlergehen für die Beherrschten, so hat seine charismatische Autorität die Chance, zu schwinden" 28 • So war der chinesische Monarch beispielsweise in seiner Stellung bedroht, sobald Dürre, Überschwemmungen oder Mißerfolge im Krieg es fraglich erschienen ließen, ob er noch in der Gnade des Himmels stehe. Neben der Notwendigkeit ihrer dauerhaften Bewährung ist die charismatische Herrschaft mit zwei weiteren, ihr eigentümlichen Problemlagen konfrontiert: Zum einen unterliegt sie als spezifisch außeralltäg25 26
27 28
Wirtschaft und Gesellschaft, S. 159. Wirtschaft und Gesellschaft, S. 836 f. Religionssoziologie, Bd. 1, S. 269. Wirtschaft und Gesellschaft, S. 179.
2 Heldorn
18
1. Kapitel: Max Webers Legitimitätstheorie
liehe, den traditionellen Normen entgegengesetzte, "revolutionäre" Kraft selbst Prozessen der Veralltäglichung, die sie ihrer besonderen Qualität berauben. Daher tendieren Formen charismatischer Herrschaft bei längerer Dauer dazu, in Formen der traditionalen Herrschaft überzugehen. Zum anderen mündet jede charismatische Herrschaft unweigerlich in die schwierige Situation, einen Nachfolger für den charismatischen Herren zu bestimmen, der ebenfalls die hingebungsvolle Anerkennung der Beherrschten findee 9• Wie diese Darstellung zeigt, löst Weber den Begriff des Charisma von seinem ursprünglichen, relativ engen Gehalt ab30 und nimmt eine Verallgemeinerung vor: Die religiös-sakrale Bedeutung tritt zurück, das Konzept charismatischer Führung bleibt nicht länger auf religiösmagische Gruppen beschränkt. Einen prominenten, nicht auf die Sphäre der Religion bezogenen Anwendungsfall des Charisma-Begriffes bilden die Webersehen Untersuchungen zur "plebiszitären Führerdemokratie", die im dritten Abschnitt dieses Kapitels diskutiert werden. C. Legale Herrschaft
Max Webers Konzeption der legalen Herrschaft muß ausführlicher auf ihren sachlichen Gehalt hin untersucht werden, da Weber den Legalitätsglauben als "die heute geläufigste Legitimationsform" betrachtete3\ der Idealtypus der legalen Herrschaft also eine zentrale Rolle für Webers Analysen der legitimatorischen Struktur der kapitalistischen Industriegesellschaften spielt. Hinzu kommt, daß die Webersehe Auffassung der legalen Herrschaft gravierende Schwierigkeiten beinhaltet, die in der Weber-Rezeption Anlaß zu kontroversen Interpretationen gegeben haben. Wie bestimmt Weber die wesentlichen Kennzeichen legaler Herrschaft? Die Legitimitätsgeltung dieses Herrschaftstypus soll nach Weber rationalen Charakters sein, auf dem Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen und des Anweisungsrechts der durch sie zur Herrschaft Berufenen beruhen32. Die Geltung der Befehlsgewalt ist ausgedrückt in einem "System gesatzter (paktierter oder oktroyierter) rationaler R egeln, welche als allgemein verbindliche Normen Fügsamkeit fin29 Die drei reinen Typen legitimer Herrschaft, S. 485 f. 30 Vgl. dazu auch den Hinweis von F. Tenbruck, daß der Ursprung des Charisma-Begriffes nicht in der politischen Soziologie liegt, sondern die Suche nach einer auf magische Mittel gegründeten Überlegenheit über die Unsicherheiten einer leidvollen Welt bezeichnet (Das Werk Max Webers, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1975, S. 663-702, hier
s. 686).
31 Wirtschaft und Gesellschaft, S. 27. 32 Ebenda, S. 159.
1.2. Webers Typologie der reinen Formen legitimer Herrschaft
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den" 33• Darin liegt für Weber der besonder~ Gehalt des Legalitätsglaubens: in der Fügsamkeit gegenüber formal korrekt und in der üblichen Form zustandegekommenen Satzungen34• Gehorcht wird nicht der Person des Herrschenden, sondern der gesatzten Regel, die bestimmt, wem inwieweit zu gehorchen ist. Auch der Befehlende selbst gehorcht einer Regel, dem Gesetz, orientiert sein Handeln an einer abstrakten Norm. Der Befehlende ist Vorgesetzter, dessen Herrschaftsrecht durch gesatzte Regeln legitimiert ist und auf der sachlichen Kompetenz des Amtsinhabers beruht; die Kompetenz wiederum umgrenzt den Bereich legitimer HerrengewaW5 • Gehorsam wird daher nicht einer Person, sondern einer unpersönlichen Ordnung geleistet3&. Den reinsten Typus der legalen Herrschaft bi1det für Weber die Bürokratie37 • Diese Charakteristika der legalen Herrschaftsform werfen unmittelbar die Frage auf: Warum gilt den Beherrschten die Legalität als legitim? Aus welchen Quellen speist sich die legitimierende Kraft eines solchen rein legalen Herrschaftssystems? Ich möchte die Richtung, in der sich Webers Beantwortung dieser Problemstellung bewegt, in drei Schritten skizzieren. Zunächst ist zu untersuchen, ob für Weber der spezifische Rationalitätsgehalt des legalen Herrschaftstypus seine eigentliche Legitimationsgrundlage darstellt. Diese Überlegung führt zweitens zu der Fragestellung, ob der Webersehen Auffassung zufolge der legalen Herrschaft ein System materialer Normen zugrunde liegt, aus dem sich die Legitimität legaler Herrschaftsstrukturen ableitet. Abschließend wird die Interpretation vorgeschlagen, in den eröffneten Chancen der Interessenbefriedigung der Gesellschaftsmitglieder und dem Ausmaß freiwillig-zustimmender Teilnahme ("Vereinbarung") die eigentlich legitimierende Potenz legal organisierter Herrschaftsinstitutionen zu sehen. C.l. Der Rationalitätsgehalt legaler Herrschaft
Weber betont wiederholt, daß die legale Herrschaft auf einem System "rational gesatzter" Regeln beruht, daß sie "rationalen Charakters" sei. Beruht demnach der Legalitätsglaube auf der Überzeugung der Beherrschten, daß das legale Herrschaftssystem Ansprüchen der Vernunft standhält? Gehorchen und fügen sich die Beherrschten, weil die rationale Fundierung der legalen Herrschaft jede Opposition als vernunft33 114 35
36 37
Ebenda, S. 702. Ebenda, S. 27. Religionssoziologie, Bd. 1, S. 268. Wirtschaft und Gesellschaft, S. 161. Die drei reinen Typen legitimer Herrschaft, S. 475.
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1. Kapitel: Max Webers Legitimitätstheorie
widrig und daher als weder begründbar noch verantwortbar erscheinen läßt? Aus einer solchen Begründungsperspektive würde die Vernunftqualität legaler Herrschaft die Quelle ihrer Legitimität darstellen. Ich möchte im folgenden zeigen, daß Weher diesen Lösungsweg nicht einschlägt. Indem er die Kategorie der Rationalität differenziert und zwei qualitativ unterschiedliche Rationalitätstypen unterscheidefl8, die konträren sozialen Interessenlagen entsprechen, verbietet sich jede umstandslose Erklärung des Legalitätsglaubens aus der Annahme eines objektiven, gegenüber unterschiedlichen sozialen Interessen neutralen und mit vernünftigen Gründen nicht bezweifelbaren Rationalitätsgehaltes der legalen Herrschaft. Webers Ausführungen zum rationalen Charakter der kapitalistischen Ökonomie, des modernen bürgerlichen Rechts und der Funktionsweise der Bürokratie verdeutlichen diese Überlegung. Weber beschreibt die Struktur des kapitalistischen wirtschaftlichen Handelns als die einer "formalen Rationalität"; darunter versteht er die strikte Orientierung des ökonomischen Handeins am Prinzip zahlenmäßiger Rechnung. Die formale Rationalität ist nach Weber auf die logische Operation zweckrationaler Berechnung mit technisch möglichst adäquaten Mitteln beschränkt. Die Gegenkategorie der "materialen
38 Bereits in der Analyse der protestantischen Ethik betont Weber, daß sich das Leben unter höchst verschiedenen letzten Gesichtspunkten und nach sehr verschiedenen Richtungen hin rationalisieren läßt. Es sei eine der wichtigsten Aufgaben seiner Analyse, "den nur scheinbar eindeutigen Begriff des ,Rationalen' in seiner Vieldeutigkeit aufzudecken" (Die protestantische Ethik, Bd. 1, Harnburg 1975, S. 65 und S. 85). Die damit angesprochene Bestimmung der sehr unterschiedlichen Richtungen, in der sich der Prozeß der Rationalisierung durch Weltbilder vollzieht, betont Richard Münch, Max Webers" Anatomie des okzidentalen Rationalismus": Eine systemtheoretische Lektüre, in: Soziale Welt, 1/1978, S. 217-246. Im Unterschied zum Konfuzianismus, der zur Weltanpassung als rationaler Lebensführung führt, und zum Hinduismus, der Handeln als Weltflucht rationalisiert, führt der asketische Protestantismus zur Weltbeherrschung: Die ethische Verpflichtung vor Gott gebietet, die irrationale, unvollkommene und vom Übel befallene Welt zur Ehre Gottes in einen sinnhaften Kosmos umzugestalten. - Karl Löwiths vergleichende Untersuchung von Marx und Weber kommt zu dem Ergebnis, daß ein identisches geschichtliches Phänomen: die Entfaltung der bürgerlich-kapitalistischen Welt, bei Marx am Leitfaden einer aufzuhebenden menschlichen Selbstentfremdung, bei Weber vor der Folie eines unentrinnbaren Prozesses der "Rationalisierung" interpretiert wird. Obwohl die Kategorie der "Rat ionalität" damit im Zentrum seiner Interpretation steht, geht Löwith der Webersehen Unterscheidung zwischen formaler und materieller Rationalität nicht nach und spricht pauschal von einem Prozeß der "Rationalisierung" (K. Löwith, Max Weber und Karl Marx, in: ders., Gesammelte Abhandlungen, Stuttgart 1960, S. 1-67). - Siegfried Landshut, Kritik der Soziologie. Freiheit und Gleichheit als Ursprungsproblem der Soziologie, München/Leipzig 1929, hebt zwar hervor, daß der moderne abendländische Kapitalismus das Original sei, an dem Weber den Begriff der Rationalität gewonnen habe, arbeitet aber ebenfalls die Unterscheidung der Rationalitätstypen nicht heraus (S. 59 f.).
1.2. Webers Typologie der reinen Formen legitimer Herrschaft
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Rationalität" bezeichnet bei Weber demgegenüber "den Grad, in welchem die jeweilige Versorgung von gegebenen Menschengruppen mit Gütern durch die Art eines wirtschaftlich orientierten sozialen Handeins sich gestaltet unter dem Gesichtspunkt bestimmter wertender Postulate .. .'' 39• Die materiale Rationalität ist demnach nicht auf den Handlungstypus eines formal-rechenhaftens Wirtschaftens beschränkt, sondern bemißt dessen Resultate material und wertrational beispielsweise an ethischen, politischen, utilitaristischen oder egalitären Normen. Die absolute Indifferenz gerade der formal vollkommensten Rationalität der Kapitalrechnung gegen alle derartigen materialen Postulate und Zielsetzungen stellt für Weber die "prinzipielle Schranke" dieses Rationalitätstypus dar40 • Dabei ist für Weber das Verhältnis von formaler und materialer Rationalität nicht komplementär, sondern kontradiktorisch: "Formale und materiale Rationalität fallen unter allen Umständen prinzipiell auseinander ... Denn die formale Rationalität der Geldrechnung sagt an sich nicht aus über die Art der materialen Verteilung der Naturalgüter41.'' Ein hohes Ausmaß formal-rational perfektionierter Geldrechnung kann also der Webersehen Analyse zufolge sehr wohl mit einer unzureichenden Versorgung der Menschen mit den von ihnen benötigten materiellen Gütern einhergehen. Webers Ausführungen zur Logik kapitalistischen Wirtschaftens machen deutlich, daß die von ihm vorgeschlagene Terminologie irreführend ist. Die Struktur kapitalistischer Wirtschaftspraxis mit ihrem hohen Ausmaß an Rechnungsführung in Geldform ist mit dem Adjektiv "formal" nämlich unzureichend charakterisiert, denn sie ist sehr wohl an einem "inhaltlichen" Bezugspunkt, einer spezifischen handlungsleitenden Norm orientiert: der dauerhaften Rentabilität des investierten Kapitals. Andererseits sind rechenhafte und insofern "formale" Kalküle auch für alle Formen einer an materiellen Gebrauchswerten orientierten Planwirtschaft unabdingbar; sie stellen "formale" Mittel für die Erfüllung "materialer" Ziele dar. Der Gegensatz liegt also nicht darin, daß eine Form der wirtschaftlichen Rationalität rein "formal" ist, die andere dagegen "material". Formale, rechenhafte Rationalität dient bei beiden Rationalitäts- und Wirtschaftstypen als ein Mittel, das für die Realisierung unterschiedlicher, entgegengesetzter Zwecke eingesetzt wird; nämlich für die Maximierung der Kapitalrentabilität im Wirtschaft und Gesellschaft, S. 60. Wirtschaft und Gesellschaft, S. 78. 41 Ebenda. Vgl. auch Max Weber, Wirtschaftsgeschichte, München/Leipzig 1923, in der Weber von der Koinzidenz eines hohen Grades rechnerischer Rationalität mit einer "materiell irrationalen Verteilung der Güter" spricht 39
4o
(S. 15).
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1. Kapitel: Max Webers Legitimitätstheorie
Fall kapitalistischer Wirtschaftsorganisation, für die materielle Versorgung der Bevölkerung mit Gütern entsprechend den Bedürfnissen im Idealfall einer ethisch-egalitären wirtschaftlichen Organisation. Der eigentliche Gegensatz zwischen beiden Formen der Rationalität liegt daher auf der Ebene der jeweils angestrebten unterschiedlichen Ziele, für deren Realisierung jeweils formal-rechenhafte Methoden verwandt werden. Vom sachlichen Gehalt her ist diese Kontrastierung der beiden Rationalitätstypen, die auf die Erfüllung entgegengesetzter Ziele bezogen sind, in den Ausführungen Webers enthalten. Weber spricht z. B. davon, "daß befriedigende Rentabilität in zahlreichen Fällen nicht das mindeste mit einer, vom Standpunkt optimaler Nutzung gegebener Güterbeschaffungsmittel für einen Güterbedarf einer gegebenen Menschengruppe, befriedigenden Gestaltung der Wirtschaft gemein hat" 42 • In der vergleichenden Untersuchung von Natural- und Geldrechnung setzt Weber dann auch ohne Zögern "irrational" synonym mit "unrentabel"43. Damit ist zweifelsfrei impliziert, daß für Weber die spezifische Rationalität der kapitalistisch organisierten Unternehmen auf die Zielsetzung kontinuierlicher Rentabilität zugeschnitten ist. Noch schärfer faßt Weber das Aufeinanderprallen beider Rationalitätstypen in seiner Untersuchung der Bedingungen, die dem kapitalistischen Wirtschaftsunternehmen eine maximale Entfaltung seiner Aktionslogik gewähren: "Daß das Höchstmaß von formaler Rationalität der Kapitalrechnung nur bei Unterwerfung der Arbeiter unter die Herrschaft von Unternehmern möglich ist, ist eine weitere spezifische Irrationalität der Wirtschaftsordnung"." Mit anderen Worten: Die Durchsetzung und die Wirkungsweise der rentabilitätsorientierten Kapitalrationalität stehen für Weber im Gegensatz zu einer an den Interessen der Arbeiter (etwa am Abbau betrieblicher Herrschaftsstrukturen) ausgerichteten Form der Rationalität. Der Kampf der beiden Rationalitätstypen überträgt sich den Analysen Webers zufolge auch in die Arena der Politik. So spricht Weber zum Beispiel davon, daß plebiszitäre Führer durch ihre Legitimationsabhängigeit von dem Glauben und der Hingabe der Massen gezwungen sein können, "materiale Gerechtigkeitspostulate" auch wirtschaftlich zu vertreten, also die formale Rationalität der bestehenden Wirtschaftsorganisation durch "alle Arten rationierter und kontrollierter Produktion und Konsumtion" zu durchbrechen45 • Revolutionstribunale, RäteWirtschaft und Gesellschaft, S. 75. 43 Ebenda, S. 73. 44 Ebenda, S. 102. 45 Wirtschaft und Gesellschaft, S. 200. 42
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republiken, Konvents- und Wohlfahrtsausschußregierungen gelten Weber als Beispiele für die Durchsetzung einer an inhaltlichen Gerechtigkeitsnonnen ausgerichteten "material-rationalen" Umgestaltung der Wirtschaft, die mit der Handlungslogik der "formalen" Kapitalrationalität bricht48• Webers Ausführungen zu der spezifischen Rationalität des modernen Rechts führen zu dem gleichen Resultat wie die Untersuchung der unterschiedlichen ökonomischen Rationalitätstypen: Im Rechtssystem der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft verkörpert sich für Weber eine geschichtlich und sozial spezifische Rationalität, die im Gegensatz zu den materiellen Interessen großer Bevölkerungsteile operiert. Weber betont in seinen wirtschaftsgeschichtlichen Analysen den Zusammenhang zwischen den Erfordernissen einer kapitalistischen wirtschaftlichen Entwicklung und der Entstehung des modernen "rationalen Rechts": "Der moderne kapitalistische Betrieb ruht innerlich vor allem auf der Er braucht für seine Existenz eine Justiz und Verwaltung, deren Funktionieren wenigstens im Prinzip ebenso an festen generellen Normen rational kalkuliert werden kann, wie man die voraussichtliche Leistung einer Maschine kalkuliert47." Ka~ku~ation.
Eine Rechtsprechung nach dem Billigkeitsempfinden des Richters im Einzelfall oder die Verwendung "irrationaler" Rechtsfindungsmittel wie Los oder Orakel verträgt sich schlecht mit den Erfordernissen für das erfolgreiche Funktionieren großer kapitalistischer Unternehmungen. Diese benötigen vielmehr eine Ausprägung der Richter-Rolle, in der dieser "mehr oder minder (als) ein Paragraphen-Automat" fungiert, dessen Funktionieren im großen und ganzen kalkulatorisch antizipiert werden kann48• Vgl. ebenda, S. 199 und S. 211. Vgl. dazu Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, S. 310. Siehe auch Wirtschaft und Gesellschaft, S. 601, wo es heißt, daß der Rechtsformalismus "den Rechtsapparat wie eine technisch rationale Maschine funktionieren läßt". Das altasiatische Recht beispielsweise entsprach diesen Anforderungen nicht und hemmte dadurch die Entfaltung kapitalistischer Wirtschaftsprinzipien. Weber verweist illustrativ auf das chinesische Rechtsempfinden. In China konnte es geschehen, daß ein Mann, der sein Haus verkauft hat, nach einiger Zeit zum Käufer kommt und um Aufnahme bittet, weil er inzwischen verarmt sei. Läßt der Käufer das altchinesische Gebot der Bruderhilfe außer acht, so geraten die Geister in Unruhe. Deshalb zieht der Verkäufer als Zwangsmieter ohne Mietzahlung wieder in das Haus ein. Dazu der folgende Kommentar Webers: "Mit einem so gearteten Recht kann der Kapitalismus nicht wirtschaften; was er braucht, ist ein Recht, das sich ähnlich berechnen läßt wie eine Maschine; rituell-religiöse und magische Gesichtspunkte dürfen keine Rolle spielen" (Wirtschaftsgeschichte, S. 292 f.). 4B Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, S. 311. 46
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Weber charakterisiert den Rationalitätstypus des Rechts der modernen bürgerlichen Gesellschaft ebenso wie den der kapitalistischen Wirtschaft als "formal". Darunter versteht er zweierlei: Zum einen die strenge Berechenbarkeit der Rechtspraxis, zum anderen die systematische Ausschaltung von ethisch-wertrationalen, insbesondere Gerechtigkeitsnormen aus der Rechtsprechung. Als Gegentypus zu dem formal rationalen Recht der bürgerlichen Welt führt Weber Formen einer materialen Rechtsrationalität an, die Ethik und Recht nicht scheiden4~ und inhaltlich an Normen der Gerechtigkeit ausgerichtet sind. Beide Rechtstypen werden von Weber eindeutig sozialen Klasseninteressen zugeordnet. So heißt es beispielsweise in bezug auf das formal rationale Recht: "Denn jene durch formale Justiz gewährte maximale Freiheit der Interessenten in der Vertretung ihrer formal legalen Interessen muß schon infolge der Ungleichheit der ökonomischen Machtverteilung, welche durch sie legalisiert wird, immer wieder den Erfolg haben, daß materiale Postulate der religiösen Ethik oder auch der politischen Räson verletzt erscheinen50." Mit dem Erwachen moderner Klassenprobleme, so Weber, beginne namentlich die Arbeiterschaft, materiale Anforderungen an das Recht zu stellen: "Dies aber stellt den Formalismus des Rechts grundsätzlich in Frage. Denn die Anwendung von Begriffen wie ,Ausbeutung der Notlage' oder die Versuche, Verträge wegen Unverhältnismäßigkeit des Entgelts als gegen die guten Sitten verstoßend und daher nichtig zu behandeln, stehen grundsätzlich auf dem Boden von, rechtlich betrachtet, antiformalen Normen, die nicht juristischen oder konventionellen oder traditionellen, sondern rein ethischen Charakter haben: materiale Gerechtigkeit statt formaler Legalität beanspruchen51." Webers Analysen führen so zu dem Schluß, daß die "Instinkte der nichtprivilegierten Klassen" nach materialer Gerechtigkeit verlangen und sich am "formalen" Charakter des bürgerlichen Rechts stoßen52 • Wirtschaft und Gesellschaft, S. 599. Ebenda, S. 602. st Ebenda, S. 648. 52 Ebenda, S. 654. Zur Interpretation der Entwicklung des modernen Rechts als einem materialen Rationalisierungsprozeß vgl. Klaus Eder, Zur Rationalisierungsproblematik des modernen Rechts, in: Soziale Welt, 2/1978, S. 247256. Eder vertritt die Vorstellung, daß der Rechtsformalismus gegenwärtig einen materialen Rationalisierungsprozeß durchläuft. Dadurch werde das Recht auf eine höhere evolutionäre Stufe gehoben. Eder sieht empirische Anhaltspunkte dafür, daß sich die Gesetzgebung diskursiv organisieren und alle Normen als prinzipiell revisionsfähig unterstellen muß (S. 255). Der Realitätsgehalt dieser Annahmen sei dahingestellt. Auf jeden Fall würde ein derartiger Umwandlungsprozeß zu einer Stärkung und Sicherung des Legalitätsglaubens beitragen. 49
so
1.2. Webers Typologie der reinen Formen legitimer Herrschaft
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Auch für die Charakterisierung der Rationalität des bürgerlichen Rechts ist die von Weber gewählte Bezeichnung "formal" nur bedingt treffend, da das bürgerliche Recht durchaus auf der Anerkennung inhaltlich und sozial spezifischer Normen beruht wie etwa dem Schutz unterschiedlicher Formen des privaten Eigentums. Trotz dieser irreführenden Terminologie ist die Position Webers von seinen sachlichen Ausführungen her eindeutig: Das moderne bürgerliche Recht ist für Weber ebenso wie die Handlungslogik der kapitalistischen Unternehmen Ausdruck einer spezifischen Rationalität, die den materiellen Interessen der Arbeiterschaft und anderer "nichtprivilegierter Klassen" entgegenwirkt. Diese sozialen Gruppen tendieren vielmehr zu der Verfolgung eines anderen, an inhaltlichen Gerechtigkeitsnormen ausgerichteten Rationalitätstypus, der ihren materiellen Interessenlagen korrespondiert. Auch der Rationalitätsgehalt der Bürokratie als der reinsten Verkörperung der legalen Herrschaftsform erweist sich Webers Analysen zufolge als ein ebensowenig tragfähiges Fundament für die Stabilisierung des Legalitätsglaubens breiter Bevölkerungsteile wie der Rationalitätsgehalt der kapitalistischen Wirtschaft und der des ihr entsprechenden bürgerlichen Rechts. An der Bürokratie-Analyse Webers ist daher zu untersuchen, welche Chancen Weber der Sicherung des Legalitätsglaubens durch die spezifische Rationalität der Bürokratie beigemessen hat. Weber beschreibt die Bürokratie als eine "Menschenmaschine", die die ihr zufallenden Aufgaben sachlich, präzise und seelenlos nach rein technischen Maßstäben erledigt, also prinzipiell nach dem gleichen Muster technischer Effizienz operiert wie die Maschinerie industrieller Großunternehmen. Die technische Überlegenheit des bürokratischen Mechanismus über alle anderen Formen der Verwaltung ist für Weber evident;53 • Gemessen an Kriterien der Präzision, Stetigkeit, Disziplin, Verläßlichkeit und Berechenbarkeit erweist sich die bürokratische Verwaltung als "rein technisch zum Höchstmaß der Leistung vervollkommenbare, in all diesen Bedeutungen: formal rationalste, Form der Herrschaftsausübung"64. Der Rationalitätsgehalt der Bürokratie ist also Weber zufolge der einer seelenlosen, aber technisch hocheffizienten "lebenden Maschine" 56 - und dürfte als solcher zunächst einmal wenig legitimierende Kraft ausstrahlen. Allerdings ist auch im Fall der Bürokratie-Analyse die 53 Max Weber, Debattenrede, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, Tübingen 1924, S. 413. u Wirtschaft und Gesellschaft, S. 164. 55 ebenda, S. 1060.
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von Weber verwandte terminologische Unterscheidung zwischen formaler und materialer Rationalität nur bedingt brauchbar, da jede Form bürokratischer Herrschaft auf die Verwendung material-rationaler Elemente ebensowenig verzichten kann wie beispielsweise eine materialrational ausgerichtete Räteregierung auf formal-rationale Formen der Verwaltung, wenn sie die quantitativen und qualitativen Aufgaben eines politischen Massenverbandes auf einem großflächigen Terrain meistern will56• Für die Untersuchung der Legitimationskraft bürokratischer Herrschaftsgebilde entscheidend wird daher die Fragestellung, wer den bestehenden bürokratischen Apparat beherrscht und die Zwecke festlegt, für die diese Maschinerie eingesetzt wird57• Dieser Wendung der Webersehen Theorie, die auf die Möglichkeit beständigerer und erfolgversprechenderer Legitimationsfundamente der legalen Herrschaft verweist, gehe ich in dem dritten Teil dieses Kapitels nach. Eine weitere denkbare Möglichkeit, den Rationalitätsgehalt bürokratischer Herrschaftsorganisationen als sinnstiftende Grundlage des Legalitätsglaubens einzuführen, könnte über die Webersehe Kategorie des "Rationalitätsglau.bens" der Gesellschaftsmitglieder gewonnen werden. Diese Kategorie hat Weber im Zusammenhang seiner Untersuchungen über den historischen Prozeß der Verwissenschaftlichung der kapitalistisch-okzidentalen Welt eingeführt. Es wäre denkbar, daß Weber unter dem Eindruck einer geschichtlich unaufhaltsam voranschreitenden "Durchrationalisierung" der gesellschaftlichen Lebenswelten die Annahme begründet, daß sich bei großen Bevölkerungsteilen ein Gesellschaftsbewußtsein ausbildet, das den sozialen Herrschaftsstrukturen &s Vgl. Wolfgang Schluchter, Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Gesellschaftsgeschichte, Tübingen 1979,
S.175.
·57 Wirtschaft und Gesellschaft, S. 165. In den zitierten Formulierungen wird deutlich, daß Weber die technische Neutralität bürokratischer Apparate und Organisationsformen überschätzt. Jede bürokratische Verwaltung ist in ihrer organisatorisch-institutionellen Struktur auf die Erfüllung bestimmter Funktionen zugeschnitten; sie kann nicht beliebig und ohne Veränderungen für ganz unterschiedliche Zielsetzungen benutzt werden. Webers Diktum, daß der bürokratische Apparat für die zur Gewalt gelangte Revolution oder für den okkupierenden Feind normalerweise einfach ebenso weiter funktioniert wie für die bisher legale Regierung (ebenda), gilt nur für Typen politischer Umwälzungen, die auf den Austausch von Herrschaftseliten beschränkt sind und die die tieferen sozialen Strukturen weitgehend unangetastet lassen. Herbert Marcuse betont in seiner Interpretation der Webersehen Bürokratietheorie beide genannten Aspekte: Noch der produktivste, verdingliebste Apparat ist Mittel für einen außerhalb liegenden Zweck, aber nicht erst in die Verwendung, sondern bereits in die Konstruktionslogik des Apparates geht ein, was die gesellschaftlich dominanten Interessen mit den Menschen zu tun gedenken (H. Marcuse, Industrialisierung und Kapitalismus im Werk Max Webers, in: ders., Kultur und Gesellschaft, Bd. 2, Frankfurt 1968, S. 107-129, hier S. 121 und S. 127).
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Vernunftqualität zuerkennt - und zwar in dem emphatischen Sinn, daß Funktionsweise und Zielsetzungen herrschaftlicher Organisation Vernunftskriterien standhalten, die über das Niveau bloß "formaler", technisch-maschinenhaften Rationalität hinausgehen. Ich möchte im folgenden der Frage nachgehen, ob Weber eine derartige Erklärungsstrategie für die Existenz eines sozial weit verbreiteten und stabilen Legalitätsglaubens verfolgt hat. Weber betont in seiner Untersuchung des "Rationalitätsglaubens", daß die empirische Geltung auch einer "rationalen" sozialen Ordnung auf der Fügsamkeit in das Gewohnte, Eingelebte, Anerzogene und sich immer Wiederholende beruht. Insofern bildet der Idealtypus der traditionalen Legitimation eine wesentliche Legitimationsquelle auch von legal organisierten Herrschaftsgebilden. Weber zeigt, daß auch rationale soziale Ordnungen im Prinzip etwas von einem Großteil der Bevölkerung Unverstandenes darstellen; sie gelten als verbindlich qua Tradition und werden sachgemäß ohne jedes Wissen über die Konstruktionsregeln, auf denen sie beruhen, "benutzt", ähnlich wie man das Licht anknipsen kann, ohne auch nur das Geringste von den Gesetzen der Elektronik zu verstehen. Der Fortschritt der gesell'Schaftlichen Rationalisierung hat für Weber zur Folge, daß sich das Bewußtsein der durch die rationalen Techniken und Ordnungen praktisch Betroffenen immer weiter von deren rationaler Basis entfernt, die ihnen, so Weber, "im ganzen verborgener zu sein pflegt als dem ,Wilden' der Sinn der magischen Prozeduren seines Zauberers" 58• Die praktische Rationalisierung des Lebens bewirkt keine Universalisierung des Wissens um die Bedingungen und Zusammenhänge der gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern meist das Gegenteil: "Der Wilde weiß von den ökonomischen und sozialen Bedingungen seiner eigenen Existenz unendlich viel mehr als der im üblichen Sinn ,Zivilisierte'" 59• Wenn so im Bewußtsein des Großteils der Gesellschaftsmitglieder die rationale Sinnstruktur der bestehenden legalen Herrschaftsorganisation zunehmend verloren geht- worin besteht dann der Gehalt des Rationalitätsglaubens? Weber führt zwei Komponenten an, die die kognitiven Erwartungen eines derart eingeschränkten Rationalitätsglaubens kennzeichnen. Der Rationalitätsglaube des modernen Menschen ist zum einen der "generell eingelebte Glaube daran, daß die Bedingungen seines Alltagslebens, heißen sie nun: Trambahn oder Lift oder Geld oder Gericht oder Militär oder 58 Max Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, in: ders., Wissenschaftslehre, S. 427-474, hier S. 473. 59 Ebenda.
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Medizin prinzipiell rationalen Wesens, d. h. der rationalen Kenntnis, Schaffung und Kontrolle zugängliche menschliche Artefakte seien". Zum anderen kennzeichnet den Rationalitätsglauben "die Zuversicht darauf, daß sie rational, d. h. nach bekannten Regeln und nicht, wie die Gewalten, welche der Wilde durch seinen Zauberer beeinflussen will, irrational funktionieren, daß man, im Prinzip wenigstens, mit ihnen ,rechnen', ihr Verhalten ,kalkulieren', sein eigenes Handeln an eindeutigen ... Erwartungen orientieren könne"60• Für die Beantwortung der Fragestellung: ob in der rationalen Qualität der legalen Herrschaft ihre legitimierende Potenz beruht, sind die von Weber diagnostizierten Elemente des Rationalitätsglaubens ambivalent. Aus dem Sachverhalt, daß es für das rationalitätsgläubige Bewußtsein "prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe" 6\ läßt sich die Vorbildlichkeit und das Gelten-Sollen der legalen Herrschaft kaum begründen, denn Fahrtrichtung und Geschwindigkeit einer Dampfwalze, die einen zu überrollen droht, mögen ja sehr wohl berechenbar und keineswegs geheimnisvoll sein, ohne daß daraus schon die Vorbildlichkeit und das subjektive Einverständnis mit der Situation des Plattgewalztwerdens folgen würden. Für die Legitimierung legaler Herrschaft ergiebiger ist sicherlich die zweite von Weber genannte Komponente des Rationalitätsglaubens, nämlich die fest verwurzelte Erwartung, daß die Bedingungen des Alltagslebens menschliche (d. h. keine naturhaften oder von Gott so und nicht anders geschaffenen) Artefakte darstellen, die prinzipiell nicht nur der Kenntnis, sondern auch der bewußten Schaffung und Kontrolle zugänglich sind. Die bürokratische Ordnung fordert, wie Weber immer wieder betont, statt des Glaubens an die Heiligkeit des immer Gewesenen die Fügsamkeit in "zweckvoll gesatzte Regeln". Diese Komponente des Rationalitätsglaubens impliziert einen außerordentlichen Erwartungsdruck, dem die legale Herrschaft ausgesetzt ist, ebenso wie eine besondere Legitimationschance dieses Herrschaftstypus. Der Erwartungsdruck besteht darin, daß der legalen Herrschaft "zweckvoll erdachte" 62 Regeln zugrunde liegen sollen; Willkür, Despotie oder irrationale Anordnungen dürfen keinen Raum einnehmen. Die Inhaber von Herrschaftspositionen müssen für ihr Handeln Gründe angeben. Rein subjektive Beliebigkeit scheidet als Entscheidungsgrundlage aus. Dieser Rationalitätsanspruch, der an die legale Herrschaft gestellt wird, bietet ihr aber zugleich eine besonders wirkungsvolle Möglichkeit der Legitimation: Als leitende Funktionsgesichtspunkte für Über einige Kategorien der verstehende Soziologie, S. 473 f. Max Weber, Vom inneren Beruf zur Wissenschaft, in: ders., SoziologieWeltgeschichtliche Analysen- Politik, S. 311-329, hier S. 317. 62 Religionssoziologie, Bd. 1, S. 273. so 61
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ihr Wirken können "Sachnotwendigkeiten" geltend gemacht werden, objektive Erfordernisse, denen zweckvolle und rational begründbare Reglements entsprechen. Die legale Herrschaft würde sich in dem Maße legitimieren, in dem die Beherrschten ihre Zielsetzung und die Art ihres Funktionierens als sachlich angemessene Antwort auf objektive Problemlagen begreifen, die Handlungsrationalität der legalen Herrschaft als eine gegenüber partikularen gesellschaftlichen Interessen neutrale Sachrationalität verstehen63 • Einen derartigen Begründungsstrang hat Weber nicht entwickelt. Gleichwohl ist damit eine wesentliche Legitimationsstrategie legaler Herrschaftsorganisationen benannt: Legale herrschaftliche Organisationen legitimieren sich in dem Maße, in dem es ihnen überzeugend gelingt, die in ihnen wirksame Rationalität gegenüber den Gesellschaftsmitgliedern als interessenneutral und streng objektiv darzustellen. Der Legalitätsglaube besteht dieser Überlegung zufolge in der Überzeugung einer Bevölkerung, daß die Operationsweise der legalen Herrschaftsinstitutionen objektiv vernünftigen, keine partikularen Interessen besonders bevorzugenden oder benachteiligenden Zielsetzungen folgt. Eine derartige Überzeugung können legale Herrschaftssysteme prinzipiell auf zwei Wegen hervorrufen. Zum einen kann der Eindruck der Bevölkerung, daß die legal verfaßten herrschaftlichen Institutionen Zielen eines objektiv begründbaren Gemeinwohles folgen, das Ergebnis manipulativer ideologischer Beeinflussung sein. In einem solchen Fall würde der Legalitätsglaube der faktischen Realität legaler Herrschaftsausübung widersprechen. Zum anderen können legal verfaßte Organisationen in ihrer tatsächlichen Zielsetzung und Arbeitsweise gegenüber unterschiedlichen sozialen Interessen offen sein. In einem solchen Fall bildet die Tätigkeit legaler herrschaftlicher Organisationen eine Gemengelage, in der gleichzeitig - mit variablen Gewichtungen unterschiedliche gesellschaftliche Interessen Ausdruck und Befriedigung finden können. Der Legalitätsglaube hat damit eine real-materielle 63 Einen in diese Richtung zielenden Interpretationsvorschlag der Webersehen Kategorie der legalen Herrschaft hat Adolf Arndt vorgetragen. Seiner Auffassung zufolge beinhaltet die "rationale Herrschaft" keine Beliebigkeit des Rechts, sondern eine "vernünftige Sachgerechtigkeit". Nicht auf willkürlichem Dezisionismus, sondern auf der sachgerechten Berücksichtigung der jeweiligen Problemlage und der Vernünftigkeit ihrer Lösung soll das Recht beruhen. Der "Vernünftigkeit, d. h. dem Maßvollen und Einsichtigen", wurde demnach von Weber die optimale Chance zugesprochen, Gehorsam zu finden (A. Arndt, Diskussionsbeitrag zu "Max Weber und die Machtpolitik", in: 0. Stammer (Hg.), Max Weber und die Soziologie heute, Tübingen 1965, S. 153). Die Verdeckung spezifischer sozialer Interessenlagen durch die Annahme einer rein "vernünftigen Sachrationalität" klingt in dieser Formulierung deutlich an.
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Grundlage: Die Wirkungsweise der legal organisierten Herrschaftsgebilde ist für alle oder zumindest einen Großteil der gesellschaftlichen Gruppen als positiv erfahrbar. Die legale Herrschaft präsentiert sich offen und zugänglich auch für die Interessen der weniger privilegierten gesellschaftlichen Schichten. Ein markantes Beispiel dafür bildet der wohlfahrtsstaatliche Tätigkeitskatalog der politischen Systeme in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften, dessen Legitimationswirkung im dritten Kapitel dieser Arbeit untersucht wird. Mit der rechtfertigenden Begründung für legal organisierte Herrschaftssysteme, daß sie objektiven Sachnotwendigkeiten und Zielen des Allgemeinwohles folgen, ist bereits eine weitere mögliche Legitimationsstrategie dieses Herrschaftstypus angeschnitten: Legale Herrschaft kann ihre Funktionsweise als prinzipiell revisionsfähig, als offen für Veränderungen darstellen. Ein legal verfaßtes Herrschaftssystem kann bei seinen Mitgliedern die Überzeugung schüren, daß die Ziele und Regeln, die seine Funktionsweise leiten, grundsätzlich durch andere Ziele und zweckvolle Regeln abgelöst werden können64• Die Legitimierung eines legalen Herrschaftssystems würde demnach von dem Ausmaß abhängen, in dem ein legales Herrschaftssystem bei den Gesellschaftsmitgliedern die bewußte Überzeugung hervorbringen kann, daß nicht nur die Kenntnis und das Kalkulieren der Funktionsweise der Bürokratie möglich ist, sondern real die Chance besteht, "andere zweckvolle Regeln" und Ziele durchzusetzen. Diesen Argumentationsstrang, der das Fragespektrum einer Idealtypologie legitimer Herrschaftsformen ohnehin überschreitet, konnte Weber nicht weiter entfalten; dazu war das historische Entwicklungsniveau legaler Herrschaftsformen zu seiner Zeit zu beschränkt. Ich fasse das Ergebnis dieses Untersuchungsschrittes zusammen. Der als Anspruch geltend gemachte Rationalitätsgehalt legaler Herrschaft ist für Weber eine unzureichende Grundlage für die Entwicklung eines stabilen Legalitätsglaubens gerade bei den benachteiligten sozialen Schichten. Webers Untersuchungen der Rationalität der kapitalistischen Wirtschaft, des modernen bürgerlichen Rechts und der Funktionsweise der Bürokratie als der Kernstruktur einer jeden legalen Herrschaftsorganisation richten sich gegen die Annahme eines gesellschaftlich konsensualen, einheitlichen, sozial neutralen und mit Vernunftgründen nicht bezweifelbaren Rationalitätstypus als legitimationsstiftender Basis der legalen Herrschaft. Die Webersehe Untersuchung kommt vielmehr zu einem gegenteiligen Ergebnis: Sie konstatiert die feindliche Koexistenz von zwei entgegengesetzten, sich an ausschließenden Nor64 Vgl. dazu (allerdings erheblich weniger explizit) Wirtschaft und Gesellschaft, S. 837.
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men orientierenden Rationalitätstypen, die unterschiedlichen sozialen Klassen- und Schichtenlagen entsprechen65 • Gesellschaftlich dominant ist dabei der Webersehen Analyse zufolge der als "formal" bezeichnete Rationalitätstypus, der den materiellen Interessen der Arbeiterschaft und anderer nichtprivilegierter Schichten im wesentlichen nicht entspricht, sondern das Handlungsmuster kapitalistischer Wirtschaftsunternehmen und die Funktionsweise des bürgerlichen Rechts- und Verwaltungssystems kennzeichnet. Da die Legitimierung des legalen Herrschaftssystems jedoch primär gegenüber den gesellschaftlich benachteiligten Gruppen und nicht gegenüber den kapitalistischen Unternehmen oder privilegierten Teilen der Gesellschaft erfolgen muß, kann der Logik der Webersehen Untersuchung zufolge durch den Rekurs auf die formale Rationalität einer legalen Herrschaftsform die Existenz eines stabilen Legalitätsglaubens der Beherrschten, der das legale Herrschaftssystem als legitim im Sinne von vorbildlich und "gelten-sollend" beurteilt, nicht begründet werden. Zwei grundlegende Möglichkeiten einer effektiven Legitimierung der legalen Herrschaft sind in den Webersehen Untersuchungen angelegt, aber nicht entwickelt. Zum einen kann sich ein legal strukturiertes Herrschaftsgefüge dadurch legitimieren, daß es sich in seiner Selbstdarstellung und/oder in seiner realen Zielsetzung als eine soziale Organisationsform präsentiert, die streng sachrational handelt, Zielen des Allgemeinwohles folgt und keine gesellschaftliche Teilpopulation systematisch bevorzugt oder benachteiligt. Zum anderen besteht eine wirkungsvolle Legitimationschance darin, daß die legale Herrschaft Zielsetzungen und Funktionsregeln ihrer organisatorischen Struktur als prinzipiell offen für Korrekturen und Veränderungen darstellt. Unzufriedene oder benachteiligte Gruppen können unter dieser Voraussetzung an der grundsätzlichen Legitimität eines derartigen Herrschafts65 Die Auffassung Herbert Marcuses, daß Weber die Möglichkeit einer "qualitativ anderen geschichtlichen Rationalität" denunziere, ist daher nicht haltbar. Sie wird dem analytischen Reichtwn der Webersehen Untersuchungen nicht gerecht. Im Webersehen Nachweis der Begrenztheit der gesellschaftlich dominanten Form von Rationalität ist die Berechtigung einer Alternative impliziert (vgl. H. Marcuse, Industrialisierung und Kapitalismus im Werk Max Webers, S. 113 f.). Den Gegenpart zu der Weberkritik von Marcuse bildet die Analyse von Raymond Aron, der es gerade als ein besonderes Verdienst von Weber würdigt, daß dieser streng zwischen bürokratischer Rationalität und historischer Vernunft unterschieden habe (vgl. Raymond Aron, Hauptströmungen des soziologischen Denkens, Bd. 2, S. 236). Die Interpretation von Aron ist allerdings reichlich beschönigend. Es ist zumindest problematisch, den Webersehen Untersuchungen mit ihren zum Teil sehr ausgeprägt deterministischen Konzeptionen des geschichtlichen Verlaufes pauschal die Unterscheidung zwischen faktischen Entwicklungen und "historischer Vernunft" zu attestieren. Eine Begriffs- und Verwendungsanalyse des Webersehen Lieblingswortes der "Unentrinnbarkeit" könnte bei dieser Aufgabe weiterhelfen.
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1. Kapitel:
Max Webers Legitimitätstheorie
gefüges festhalten: Sie haben die Chance, wie fiktiv auch immer, daß auch ihre Interessen durch den legalen Herrschaftsapparat berücksichtigt werden können. Derartigen Erklärungsperspektiven des Legalitätsglaubens konnte Weber nicht nachgehen. Die real-geschichtliche Entwicklung legaler Herrschaftspraxis hatte zu seiner Zeit derartige Begründungs- und Rechtfertigungsmuster noch nicht entfaltet hervorgebracht. C.2. Wertrationalität als Legitimationsgrundlage der legalen Herrschaft?
Die Erklärung der Legitimität legaler Herrschaft aus ihrem Rationalitätsgehalt schied demnach für Weber aus. Eine alternative Untersuchungsstrategie könnte auch darin bestehen, ein wertrationales System "materialer" Normen, wie es Weber nennt, als die eigentlich legitimierende Grundlage der legalen Herrschaft anzusehen. Der Logik eines solchen Erklärungsansatzes zufolge würde die eigentliche Legitimationsquelle der legalen Herrschaft nicht in ihr selbst liegen, sondern in einem Bestand ihr vorausgesetzter, übergeordneter und richtungweisender Normen. Eine solche Vorstellung hat Gerhard Leibholz prägnant formuliert: "Jede echte Staatsform setzt einen festen Bestand von politisch-materialen Werten voraus, durch die die staatliche Gemeinschaft glaubensmäßig legitimiert und inhaltlich zusammengehalten wird66." Ein solcher "bloc des idees incontestables" bildet nach Leibholz die ideelle Substanz auch der legal-parlamentarisch verfaßten Demokratie67. Eine in diese Richtung zielende Interpretation des Webersehen Idealtypus der legalen Herrschaft hat Johannes Winckelmann vorgeschlagen. Er unterscherdet einen Doppelsinn im Webersehen Begriff der legalen Herrschaft. Zum einen handele es sich um einen materialen, wertrational gebundenen Legalitätsbegriff. Ein System unbezweifelt geltender wertaxiomatischer Prinzipien bilde den eigentlichen Legitimationsgrund der legalen Herrschaft. Die Legitimität der Legalität ist in diesem Sinn abgeleitet, keine der reinen Legalität als solcher zukommende Qualität, sondern entspringt einer anderen, "echten" Legitimitätsquelle. Die Kategorie der Legitimität bezeichne diesen materialen Geltungsgrund, während der Begriff der "Legalität" die formale Geltungsweise einer solchen Herrschaftsordnung bezeichne68 • 66 Gerhard Leibholz, Die Auflösung der liberalen Demokratie in Deutschland und das autoritäre Staatsbild, München 1933, S. 9. 67 Ebenda. 68 Johannes Winckelmann, Legitimiät und Legalität in Max Webers Herrschaftssoziologie, Tübingen 1952, S. 90 ff. Vgl. ferner ders., Max Webers Ver-
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Diese ursprüngliche material-wertrationale Grundlegung der legalen Herrschaft unterliege jedoch, so Winckelmann, einem geschichtlichen Prozeß der inhaltlichen Entleerung: Die nur noch "formale" Rationalität bleibe als leerer Rest für die Begründung der legalen Herrschaft übrig. Diesen VerfaHsprozeß der legalen Herrschaft erklärt Winckelmann aus der Auflösung der ursprünglich einheitlichen gesellschaftlichen Wertordnung in ein Kosmos von disparaten Wertsystemen, Ideen un:d Interessen. Das zwangsläufige Endresultat dieser Entwicklung sei die Umwandlung der materialen in eine lediglich formale Rationalität. In dieser Form sei der legale Herrschaftstyp jedoch zu einem "bloß formellen Legalismus entartet" 69 , da diese Verfallsform der legalen Herrschaft jede wertrationale Normgebundenheit abgeworfen habe. Da damit die Rückkoppelung der Legalität an substantielle normative und ethische Prinzipien fehle, sei die Legalität als Folge :dieser Veränderungen nur noch eine "legislativtechnische Gültigkeitsbedingung". Eine solche Verfallsform der legalen Herrschaft könne nicht mehr die Qualität der Legitimität beanspruchen: ständnis von Mensch und Gesellschaft, in: K. Engisch u. a. (Hg.), Max Weber. Gedächtnisschrift der Ludwig-Maximilians-Universität München zur 100. Wiederkehr seines Geburtstages, Berlin 1966, S. 195-243, hier S. 240. Winckelmann entfaltet eine Denkfigur, deren Kern (allerdings mit konträren politischen Intentionen) in der Schrift von Carl Schmitt über "Legalität und Legitimität" von 1932 (in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954, Berlin 1958, S. 263-350) angelegt ist. Der parlamentarische Gesetzgebungsstaat der Weimarer Republik hat sich in der Optik Schmitts in einen "leeren Funktionalismus jeweiliger Mehrheitsbeschlüsse" verwandelt (S. 273). Diese "funktionalistisch-formalistische Entleerung" verändert nach Schmitt die Qualität der Legalität: Sie führt zu einem "inhaltlich indifferenten, selbst gegen seine eigene Geltung neutralen, von jeder materiellen Gerechtigkeit absehenden Legalitätsbegriff" (S. 285). Die Abkoppelung des Gesetzesbegriffes von jeder inhaltlichen Beziehung zu Vernunft und Gerechtigkeit ist für Schmitt die Ursache dafür, daß Legalität nicht mehr Ausdruck von Legitimität, sondern zu ihrem Gegensatz wird (vgl. S. 269). Schmitt plädiert daher dafür, von den "Fiktionen eines gegen Wert und Wahrheit neutralen Mehrheitsfunktionalismus" (S. 345) Abschied zu nehmen und eine klare Entscheidung für den zweiten Teil der Weimarer Verfassung zu treffen: für die "Anerkennung substanzhafter Inhalte und Kräfte des deutschen Volkes" (S. 344), für den verfassungsmäßigen Schutz von Ehe, Religion und Privateigentum (S. 300). Der Verzicht auf solche strikte Wertbindungen der legalen Verfahren hat für Schmitt zur Konsequenz, auch den "radikalsten und revolutionärsten" Bewegungen einen legalen Weg zur Macht zu eröffnen (S. 270); dann sei jedes noch so "revolutionäre oder reaktionäre, umstürzlerische, staatsfeindliche, deutschfeindliche oder gottlose Ziel" zugelassen (S. 302). Die Fallstricke dieses Gedankenganges stecken offenkundig bereits in den Prämissen: in der Annahme einer einheitlichen, eindeutig und konsensual feststellbaren, geschichtlich festen und unveränderbaren "Substanz" des "deutschen Volkes" und der unmittelbaren Harmonisierung von sozialen Institutionen wie Privateigentum und Religion mit Ansprüchen der Gerechtigkeit und Vernunft. Vgl. dazu auch Hasso Hofmann, Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts, Neuwied/Berlin 1964. 69 J. Winckelmann, Legitimität und Legalität in Max Webers Herrschaftssoziologie, S. 90 f. 3 Heldorn
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1. Kapitel: Max Webers Legitimitätstheorie
"Eine legale Herrschaft, die sich gegenüber der Legitimität wertrationaler Geltungsgrundlage ,neutral' verhält und die also die rationale Wertordnung, insbesondere die Grundwerte der Freiheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit aufgibt und verrät, hat sich damit von ihrer Legitimitätsgrundlage gelöst und ist von ihren eigenen Legitimitätsvoraussetzungen aus illegitim geworden70." Die Schlußfolgerung von Winckelmann ist eindeutig: Die wertrational gebundene Legalität stellt eine echte Legitimitätsform dar, während der wertneutrale, rein zweckrationale Funktionalismus der nur noch im formalen Sinn legalen Herrschaft als illegitim einzustufen ist71• Der geschichtliche Hintergrund dieser Interpretation des Webersehen Typus der legalen Herrschaft ist die nachhaltig wirkende Erfahrung aus der Endphase der Weimarer Republik, daß eine auf einen "legislativ-technischen Funktionalismus" beschränkte Form der parlamentarischen Demokratie als Wegbereiter und Instrument der faschistischen Diktatur gewirkt hat. Gegen derartige Verfallstendenzen legaler Herrschaftsformen richtet sich Winckelmanns Plädoyer für eine verpflichtende Rückbindung legal-parlamentarischer Staatsformen an materiale Wertpostulate. Winckelmann ist mit seinem Ansatz vor die Aufgabe gestellt, fundamentale Werte und Rechtsprinzipien zu begründen, die gegenüber allem nur positivem Recht "präeminent" gelten, die als höchste Prinzipien einer Wertaxiomatik selbst keiner Legitimierung bedürfen, sondern vielmehr einer gesellschaftlichen Ordnung ihre Legitimität allererst verleihen. Winckelmanns Lösungsvorschlag ist wenig überzeugend: Er beschwört "Prinzipien einer Wertaxiomatik", die als "absolut gültig erschlossen" werden können72 und erhofft sich eine überzeugende Demonstration der besonderen Dignität dieser fundamentalen Wertordnung aus der sich dem "reinen Denken" erschließenden, unmittelbar verp·f lichtenden "Idee des Rechts selbst'073• Winckelmann versteht seine Argumentationslinie als eine Interpretation des Typus der legalen Herrschaft, die sich mit den Intentionen Webers deckt. Ich möchte im folgenden an Hand von vier Argumenten vel'deutlichen, daß Winckelmann den eigentlichen Gehalt der Webersehen Auffassung der legalen Herrschaft verfehlt. Daher kommt es zunächst darauf an, deutlich herauszuschälen, was die Kategorie der legalen Herrschaft im System der Webersehen Soziologie bedeutet. Eine 70 Ebenda, S. 78. Siehe auch S. 48: "Die lediglich formale, an einer objektiven Wertgeltungsgrundlage nicht ausgerichtete Demokratie, mag sie formell noch so ,legal' sein, stellt ... keine Form legitimer Herrschaft dar." 11 Ebenda, S. 104. 72 J. Winckelmann, Legitimität und Legalität in Max Webers Herrschaftssoziologie, S. 87. 73 Ebenda, S. 86.
1.2. Webers Typologie der reinen Formen legitimer Herrschaft
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solche Rekonstruktion ist erforderlich, da Wirrekelmann seine Sichtweise als den genuinen Gehalt der Webersehen Theorie ausgibt. Auf einer solchen klärenden Grundlage kann dann stichhaltigeren Erklärungsmöglichkeiten des Legalitätsglaubens nachgegangen werden. 1. Zunächst ist grundsätzlich gegen die Interpretation Wirrekelmanns einzuwenden, daß der empirische Legitimitätsbegriff von Weber, der den in einer Gesellschaftsordnung faktisch bestehenden Legitimitätsglauben wertungsfrei kennzeichnen soll, bei Wirrekelmann durch eine normative Legitimitätskonzeption ersetzt wird. Wirrekelmanns Überlegungen liegt die Vorstellung zugrunde, daß beispielsweise ein Sozialwissenschaftler oder Historiker einen faktisch existierenden Legitimitätsglauben anhand seiner eigenen normativen Kriterien bewertet, die von den Legitimitätsvorstellungen der jeweiligen Population durchaus abweichen oder auch völlig konträr sein können. In diesem Sinn vermutet Winekelmann, daß Weber die formale und die materiale rationale Satzungsherrschaft unter der gleichen empirischen Legitimitätskategorie der "Legalität" zusammengefaßt habe, da der rein formale Legalitätsmodus für das empirisch-tatsächliche Legitimitätsverständnis eine zentrale Rolle spiele und Weber in seiner verstehenden empirischen Soziologie "richtiges" und "falsches" Legitimitätsbewußtsein gleichermaßen unter einer Kategorie subsumiere74 •
Genau gegen eine solche Auffassung hat sich Weber jedoch explizit ausgesprochen: Die Frage nach der Legitimität eines Herrschaftssystems betrifft für Weber das Bewußtsein derjenigen, die in einer spezifischen Form beherrscht werden. Legitimität stellt für Weber keine Kategorie dar, die ein Beobachter extern nach der Richtlinie seiner normativen Kriterien einer Gesellschaftsordnung zuerkennt oder auch nicht. So betont Weber beispielsweise in seiner Untersuchung der Legitimierung durch charismatische Führerpersönlichkeiten, daß die "wertfreie Soziologie" das Charisma eines manischen Berserkers oder das nach üblicher Bewertung anerkannte Charisma großer Helden oder Heilande durchaus gleichartig behandeW5• Für Weber besteht die Aufgabe der Soziologie in der wertungsfreien Rekonstruktion des jeweiligen faktischen Legitimitätsglaubens einer Bevölkerung. Mit dieser Kennzeichnung der Webersehen Position ist über die Frage natürlich noch nicht entschieden, inwieweit es sinnvoll ist, das Prädikat einer "echten" Legitimität vom empirischen Legitimitätsglauben der Gesellschaftsmitglieder abzulösen76 • Mit der Webersehen Auffassung von Le74 J. Winckelmann, Legitimität und Legalität in Max Webers Herrschaftssoziologie, S. 99. ~5 Wirtschaft und Gesellschaft, S. 179. 76 Vgl. zu dieser Frage ausführlicher das dritte und fünfte Kapitel dieser Arbeit.
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1. Kapitel: Max Webers Legitimitätstheorie
gitimität hat die von Winkelmann verfolgte Begriffsstrategie jedenfalls wenig gemein. 2. Winckelmann möchte offensichtlich die legitimierende Basis der legalen Herrschaft in einer modernisierten Form des Naturrechts verankert wissen und wähnt sich dabei konform mit den Auffassungen Webers. Ein in diese Richtung zielender Versuch, die "echte" Legitimität der Legalität zu begründen, steht jedoch ebenfalls quer zu den Ansichten Webers77 • Weber hat sich in der Rechtssoziologie über die Chance eines Naturrechts (als des Inbegriffes "präeminent geltender", nicht gesatzter Normen, die kraft ihrer immanenten Qualitäten legitim sind), eine legale Herrschaftsordnung zu legitimieren, eindeutig negativ geäußert. Weber hebt hervor, daß die "naturrechtliche Axiomatik heute in tiefen Mißkredit" geraten sei und "jedenfalls die Tragfähigkeit als Fundament eines Rechts verloren" habe. Der Rechtspositivismus sei im vorläufig unaufhaltsamen Vordringen. Das Schwinden der alten Naturrechtsvorstellungen habe die Möglichkeit "prinzipiell vernichtet", das Recht als solches kraft seiner immanenten Qualitäten mit einer überempirischen Würde auszustatten78 • Die "zunehmende Wertung des jeweils geltenden Rechts als eines rationalen, daher jederzeit zweckrational umzuschaffenden, jeder inhaltlichen Heiligkeit entbehrenden, technischen Apparates" gilt Weber als "unvermeidliches Schicksal" der geschichtlichen Entwicklung der modernen Gesellschaft79 • Und schließlich sieht Weber ein wesentliches Kennzeichen der legalen Herrschaft darin, daß "beliebiges Recht" gesatzt werden könne60 ; eine Vorstellung, die sich mit der Idee einer absolut geltenden, axiomatisch erschließbaren Wertbasis nicht verträgt, da diese eine "beliebige" Rechtssatzung ja gerade nicht zulassen würde. Auf wertrationaler Grundlage wäre nur solches Recht satzbar, das den fundamentalen Wertnormen material nicht widerspricht. Webers Position schließt daher ein System allgemeinster Wertvorstellungen als Grundlage des Legalitätsglaubens aus. Die geschichtliche Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft hat seinen Analysen zufolge 77 Daraus folgt selbstverständlich nicht, daß die Überlegung Winckelmanns falsch ist. Winckelmann gibt seine Auffassung jedoch als die von Weber aus, was nicht haltbar ist. Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 189~1920, Tübingen 1959, beurteilt Winckelmanns Versuch, den Typ der rationalen Legitimität von seinem formalistischen Charakter zu befreien, als sinnvoll, kritisiert aber ebenfalls, daß Winckelmann seine neonaturrechtlichen Auffassungen retrospektiv in Weber hineininterpretiert (S. 418 f.). 78 Wirtschaft und Gesellschaft, S. 642. 79 Wirtschaft und Gesellschaft, S. 656. so Ebenda, S. 160.
1.2. Webers Typologie der reinen Formen legitimer Herrschaft
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die Möglichkeit einer naturrechtliehen Begründung von Recht und Politik prinzipiell vernichtet. 3. Die Hoffnung Winckelmanns, unhumane Verfallsformen der legalen Herrschaft durch eine Reaktivierung naturrechtlicher Wertmuster unterbinden zu können, die sich unmittelbar und evident als absolut gültig und zwingend verpflichtend erschließen lassen sollen, läßt sich ebenfalls nicht mit den Auffassungen von Weber harmonisieren. Sowohl in der wissenschaftstheoretischen Frage nach der Möglichkeit einer objektiven Beweisbarkeit und Begründbarkeit von Werten wie in der Einschätzung der Entwicklung von Wertsystemen in der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft bezog Weber eine entgegengesetzte Position. In seinen wissenschaftstheoretischen Schriften hat Weber bekanntlich für eine prinzipielle Scheidung zwischen einer "Wertungssphäre" und einer "Sphäre des empirischen Erkennens" plädiert81 • Die empirische Wissenschaft, so Weber, bewegt sich auf dem Boden des Seins und besagt nichts über das Sollen82 • Für Weber gibt es schlechterdings keine Brücke, die von der empirischen Analyse der gegebenen Wirklichkeit zu der Feststellung oder Bestreitung der Gültigkeit eines Werturteiles führen kann83• Weber formuliert pointiert: "Wir kennen keine wissenschaftlich beweisbaren Ideale" 84• Die Ausklammerung ethischer Entscheidungen und normativer Geltungsfragen aus dem Kompetenzbereich wissenschaftlicher Forschung bedeutet für Weber jedoch nicht, daß beispielsweise die empirische Soziologie alle Fragestellungen gänzlich ausschließen muß, die die "Wertungssphäre" berühren. Bei eindeutig vorgegebenen, feststehenden Zwecken kann die Wissenschaft nämlich nach den geeigneten Mitteln für die Realisierung dieser Zwecke fragen, da es sich dabei um eine empirisch entsch.e idbare Problemstellung handelt85• In diesem begrenzten Sinn kann eine wissenschaftliche Analyse "technische Wertungen" treffen88• Sozialwissenschaftliehe Disziplinen können ferner die geschichtlich-gesellschaftlichen Ursprünge von Wertsystemen untersuchen, die in ihnen angeleg81 Max Weber, Der Sinn der "Wertfreiheit" der Sozialwissenschaften, in: ders., Soziologie - Weltgeschichtliche Analysen - Politik, S. 263-310, hier
s. 308 f.
82 Diskussionsrede, in: Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, s. 417. e3 Max Weber, Roseher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1973, S. 1-145, hier S. 61. 64 Diskussionsrede, S. 420. 85 Der Sinn der "Wertfreiheit" der Sozialwissenschaften, S. 283. ss Ebenda, S. 297.
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1. Kapitel: Max Webers Legitimitätstheorie
ten Konsequenzen logisch entfalten, bezweckte wie auch unbeabsichtigte Neben- und Folgewirkungen bewußt machen und systematische Vergleiche mit anderen Wertmustern vornehmen. Aber Entscheidungen über Wertungsfragen zu treffen (von der Art: Heiligt der Zweck die Mittel? Inwieweit sind die Nebenwirkungen eines verwandten Mittels in Kauf zu nehmen? Wie sind Konflikte zwischen unterschiedlichen Zielsetzungen zu schlichten?) liegt für Weber prinzipiell jenseits des Geltungsbereiches wissenschaftlicher Analyse. So heißt es kategorisch in Webers Schrift über die Wertfreiheit der Sozialwissenschaften: "Es gibt keinerlei (rationales oder empirisches) wissenschaftliches Verfahren, welches hier eine Entscheidung geben könnte87 ." Die Beurteilung der Geltung von Werten ist für Weber eine "Sache des Glaubens" 88, Im Gegensatz zur Behauptung von Winckelmann, daß sich im Webersehen Sinn eine eindeutige Wertaxiomatik evident und zwingend erschließen läßt, läßt sich auch Webers zustimmendes Diktum zu einem Satz von John Stuart Mill anführen: Rein vom Boden der Erfahrung aus gelange man nicht zu einem Gott, sondern zum Polytheismus89 • Der Erfahrung eröffnet sich, so Weher, der Kampf zwischen einer Vielzahl von Wertsystemen, von denen jedes für sich als verpflichtend erscheint; das Individuum muß in subjektiver Gewissensentscheidung seine Wahl treffen. Dabei handelt es sich um einen geradezu tragischen Akt, denn zwischen den verschiedenen Wertordnungen der Welt herrscht für Weber ein "unlöslicher Kampf" 90• 87 Der Sinn der "Wertfreiheit" der Sozialwissenschaften, S. 273. Vgl. auch Die "Objektivität" der sozialwissenschaftliehen Erkenntnis, S. 188, wo Weber betont, daß die Entscheidung über das Abwägen zwischen Zwecken "nicht mehr eine mögliche Aufgabe der Wissenschaft, sondern des wollenden Menschen (ist): Er wägt und wählt nach seinem eigenen Gewissen und seiner persönlichen Weltanschauung zwischen den Werten, um die es sich handelt". Der Kategorie der Entscheidung fällt der Logik dieses Ausgangspunktes zufolge eine prominente Rolle zu. Weber hebt hervor, daß "das Leben als Ganzes, wenn es nicht wie ein Naturereignis dahingleiten, sondern bewußt geführt werden soll, eine Kette letzter Entscheidungen bedeutet, durch welche die Seele, wie bei Platon, ihr eigenes Schicksal . . . wählt" (Der Sinn der "Wertfreiheit" der Sozialwissenschaften, S. 272). Wenn Wertungsfragen wissenschaftlich prinzipiell nicht beantwortbar sind, fällt dem als wesentlich irrational vorgestellten Individuum die Rolle der letzten Entscheidungsinstanz zu. Weber hat die Entscheidung des "urteilenden Subjekts" über sein Bekenntnis zu letzten Wertmaßstäben konsequent als "persönlichste Angelegenheit" und "Frage seines Wollens und Gewissens" bezeichnet (Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher Erkenntnis, S. 190). Diese von Weber so dezidiert vertretene Begrenzung des wissenschaftlichen Kompetenzbereiches ist vielfach kritisiert worden. So bemängelt Hans Maier Webers "Hinnahme eines unlösbaren Konflikts der ,Werte' als eine vorzeitige Resignation der Vernunft vor ihrer Ordnungsaufgabe". (H. Maier, Max Weber und die deutsche politische Wissenschaft, in: K. Engisch u. a. [Hg.], Max Weber, S. 163184, hier S. 182 f.). 88 Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher Erkenntnis, S. 191. 89 Max Weber, Zwischen zwei Gesetzen, in: Gesammelte politische Schriften, S. 139-142, hier S. 142.
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Gegen die Interpretation Winckelmanns, der zufolge Prinzipien einer aprioristischen Wertaxiomatik als "absolut gültig" erschließbar sind, spricht jedoch nicht nur die eindeutige Position Webers zur Werturteilsfrage, sondern auch Webers Befund eines kontinuierlichen Bedeutungsverlustes der Wertorientierungen und Wertsysteme in der geschichtlichen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft. Der unaufhaltsame Fortschritt des rational empirischen Erkennens durch die Wissenschaften hat laut Weber "die Entzauberung der Welt und deren Verwandlung in einen kausalen Mechanismus vollzogen"; insbesondere die mathemati