Fachmenschenfreundschaft: Studien zu Troeltsch und Weber 9783110245547, 9783110245530

This volume contains studies on two of the most fascinating personalities in the academic world of the 20th century. In

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German Pages 447 [448] Year 2014

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Table of contents :
Siglen und Abkürzungen
Vorwort
Einleitung
Teil A Max Weber
Max Weber und die protestantische Theologie seiner Zeit
Die „kompetentesten“ Gesprächspartner? Implizite theologische Werturteile in Max Webers „Protestantischer Ethik“
Teil B Ernst Troeltsch
Der „Systematiker“ der „Kleinen Göttinger Fakultät“. Ernst Troeltschs Promotionsthesen und ihr Göttinger Kontext
Religion und Individualität. Bemerkungen zu einem Grundproblem der Religionstheorie Ernst Troeltschs
Ernst Troeltsch. Kulturgeschichte des Christentums
Teil C Konstellationen
Fachmenschenfreundschaft. Bemerkungen zu ‚Max Weber und Ernst Troeltsch‘
Puritanische Sektenfreiheit versus lutherische Volkskirche. Zum Einfluß Georg Jellineks auf religionsdiagnostische Deutungsmuster Max Webers und Ernst Troeltschs
Max Weber und Ernst Troeltsch
Distanz aus Nähe. Einige Anmerkungen zum „Weber-Paradigma“ in Perspektiven der neueren Troeltsch-Forschung
Wertkonflikt oder Kultursynthese?
Teil D Anhang
Abschiedsfeier für Ernst Troeltsch in Heidelberg
Abschiedsfeier für Herrn Professor Ernst Troeltsch
Abschiedsfeier
Heidelberg, 22. März
Kondolenzschreiben zum Tode von Max Weber
Brief Rudolf und Lilli Wielands an Marianne Weber, 16. Juni 1920
Brief Marta Troeltschs an Marianne Weber, 17. Juni 1920
Brief Hans von Schuberts an Marianne Weber, 18. Juni 1920
Brief Otto Frommels an Marianne Weber, 19. Juni 1920
Brief Otto Maags an Marianne Weber, 19. Juni 1920
Brief Oskar Siebecks an Marianne Weber, 20. Juni 1920
Brief Martin Rades an Marianne Weber, 22. Juni 1920
Martin Rade: Max Weber. Ein Lebensbild von Marianne Weber
Otto Baumgarten: Max Weber. Ein Lebensbild von Marianne Weber
Otto Baumgarten: Das Dennoch des Glaubens. Ein Briefwechsel
Marianne Weber: Otto Baumgarten als Theologe und Politiker
Marianne Weber: Otto Baumgartens Lebensbild
Bildquellen
Nachweise
Personenregister
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Fachmenschenfreundschaft: Studien zu Troeltsch und Weber
 9783110245547, 9783110245530

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Friedrich Wilhelm Graf Fachmenschenfreundschaft

Troeltsch-Studien Neue Folge

Herausgegeben von Reiner Anselm, Jörg Dierken, Friedrich Wilhelm Graf und Georg Pfleiderer

Band 3

Friedrich Wilhelm Graf

Fachmenschenfreundschaft Studien zu Troeltsch und Weber

DE GRUYTER

ISBN 978-3-11-024553-0 e-ISBN 978-3-11-024554-7 ISSN 1866-9638 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und buchbinderische Verarbeitung: CPI buch bücher.de GmbH, Birkach ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Siglen und Abkürzungen Vorwort

VII

XI

Einleitung

1

Teil A Max Weber

81

Max Weber und die protestantische Theologie seiner Zeit

83

Die „kompetentesten“ Gesprächspartner? Implizite theologische Werturteile in Max Webers „Protestantischer Ethik“ 111 Teil B

Ernst Troeltsch

151

Der „Systematiker“ der „Kleinen Göttinger Fakultät“. Ernst Troeltschs Promotionsthesen und ihr Göttinger Kontext 153 Religion und Individualität. Bemerkungen zu einem Grundproblem der Religionstheorie Ernst Troeltschs 215 Ernst Troeltsch. Kulturgeschichte des Christentums Teil C Konstellationen

241

267

Fachmenschenfreundschaft. Bemerkungen zu ‚Max Weber und Ernst Troeltsch‘ 269 Puritanische Sektenfreiheit versus lutherische Volkskirche. Zum Einfluß Georg Jellineks auf religionsdiagnostische Deutungsmuster Max Webers und Ernst Troeltschs 295 Max Weber und Ernst Troeltsch

323

Distanz aus Nähe. Einige Anmerkungen zum „Weber-Paradigma“ in Perspektiven der neueren Troeltsch-Forschung 335

VI

Inhaltsverzeichnis

Wertkonflikt oder Kultursynthese? Teil D

353

375

Anhang

377 Abschiedsfeier für Ernst Troeltsch in Heidelberg Abschiedsfeier für Herrn Professor Ernst Troeltsch Abschiedsfeier 379 Heidelberg, 22. März 380

377

381 Kondolenzschreiben zum Tode von Max Weber Brief Rudolf und Lilli Wielands an Marianne Weber, 16. Juni 1920 381 Brief Marta Troeltschs an Marianne Weber, 17. Juni 1920 383 Brief Hans von Schuberts an Marianne Weber, 18. Juni 1920 384 Brief Otto Frommels an Marianne Weber, 19. Juni 1920 386 Brief Otto Maags an Marianne Weber, 19. Juni 1920 387 Brief Oskar Siebecks an Marianne Weber, 20. Juni 1920 389 Brief Martin Rades an Marianne Weber, 22. Juni 1920 390 Martin Rade: Max Weber. Ein Lebensbild von Marianne Weber

391 392

Otto Baumgarten: Max Weber. Ein Lebensbild von Marianne Weber Otto Baumgarten: Das Dennoch des Glaubens. Ein Briefwechsel Marianne Weber: Otto Baumgarten als Theologe und Politiker Marianne Weber: Otto Baumgartens Lebensbild Bildquellen

418

Nachweise

423

Personenregister

425

411

400 404

Siglen und Abkürzungen Abkürzungen Deponat GS KGA METG MWG RGG TS

Bayerische Staatsbibliothek München, Deponat Max Weber-Schäfer, Ana 446 C Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe Mitteilungen der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft Max Weber Gesamtausgabe Die Religion in Geschichte und Gegenwart Troeltsch-Studien

Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe KGA 1

KGA 2

KGA 4

KGA 5

KGA 6

KGA 7

Ernst Troeltsch: Schriften zur Theologie und Religionsphilosophie (1888–1902), hrsg. von Christian Albrecht in Zusammenarbeit mit Björn Biester, Lars Emersleben und Dirk Schmid, Berlin, New York 2009 Ernst Troeltsch: Rezensionen und Kritiken (1894–1900), hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarbeit mit Dina Brandt, Berlin, New York 2007 Ernst Troeltsch: Rezensionen und Kritiken (1901–1914), hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarbeit mit Gabriele von Bassermann-Jordan, Berlin, New York 2004 Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902/1912) mit den Thesen von 1901 und den handschriftlichen Zusätzen, hrsg. von Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Stefan Pautler, Berlin, New York 1998 Schriften zur Religionswissenschaft und Ethik (1903–1912), Teilband 1, Teilband 2: Das Historische in Kants Religionsphilosophie (1904), hrsg. von Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Katja Thörner, Berlin, New York 2014 Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (1906/1909/1922), hrsg. von Volker Drehsen in Zusammenarbeit mit Christian Albrecht, Berlin, New York 2004

VIII

KGA 8

KGA 13

KGA 15

KGA 16

KGA 17

KGA 18

KGA 19

Siglen und Abkürzungen

Ernst Troeltsch: Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906–1913), hrsg. von Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Stefan Pautler, Berlin, New York 2001 Ernst Troeltsch: Rezensionen und Kritiken (1915–1923), hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarbeit mit Diana Feßl, Harald Haury und Alexander Seelos, Berlin, New York 2010 Ernst Troeltsch: Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918– 1923), hrsg. von Gangolf Hübinger in Zusammenarbeit mit Johannes Mikuteit, Berlin, New York 2002 Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme (1922) (In zwei Teilbänden: 16/1–2), hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarbeit mit Matthias Schloßberger, Berlin, New York 2008 Ernst Troeltsch: Fünf Vorträge zu Religion und Geschichtsphilosophie für England und Schottland. Der Historismus und seine Überwindung (1924) / Christian Thought. Its History and Application (1923), hrsg. von Gangolf Hübinger in Zusammenarbeit mit Andreas Terwey, Berlin, New York 2006 Ernst Troeltsch: Briefe 1884–1894, hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarbeit mit Volker Bendig, Harald Haury und Alexander Seelos, Berlin, New York 2013 Ernst Troeltsch: Briefe 1894–1904, hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarbeit mit Volker Bendig, Harald Haury und Alexander Seelos, Berlin, New York 2014

Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften GS I GS II GS III GS IV

Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912 Ernst Troeltsch: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 1913 Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie, Tübingen 1922 Ernst Troeltsch: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, hrsg. von Hans Baron, Tübingen 1925

Siglen und Abkürzungen

IX

Troeltsch-Studien TS 1

TS 2 TS 3 TS 4

TS 6 TS 9

TS 10 TS 12

Untersuchungen zur Biographie und Werkgeschichte, hrsg. von Horst Renz und Friedrich Wilhelm Graf, Gütersloh 1982, 2. Aufl. 1985 Ernst Troeltsch zwischen Heidelberg und Berlin, hrsg. von Horst Renz, Gütersloh 2001 Protestantismus und Neuzeit, hrsg. von Horst Renz und Friedrich Wilhelm Graf, Gütersloh 1984 Umstrittene Moderne. Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs, hrsg. von Horst Renz und Friedrich Wilhelm Graf, Gütersloh 1987 Ernst Troeltschs Soziallehren. Studien zu ihrer Interpretation, hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf und Trutz Rendtorff, Gütersloh 1993 Arie L. Molendijk: Zwischen Theologie und Soziologie. Ernst Troeltschs Typen der christlichen Gemeinschaftsbildung: Kirche, Sekte, Mystik, Gütersloh 1996 Friedemann Voigt: „Die Tragödie des Reiches Gottes“? Ernst Troeltsch als Leser Georg Simmels, Gütersloh 1998 Ernst Troeltsch in Nachrufen, hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf unter Mitarbeit von Christian Nees, Gütersloh 2002

Max Weber: Gesamtausgabe MWG I/4

MWG I/10

MWG I/15

MWG I/16

MWG I/17

Max Weber: Landarbeiterfrage, Nationalstaat und Volkswirtschaftspolitik. Schriften und Reden 1892–1899, hrsg. von Wolfgang J. Mommsen und Rita Aldenhoff, Tübingen 1993 Max Weber: Zur Russischen Revolution von 1905. Schriften und Reden 1905–1912, hrsg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Dittmar Dahlmann, Tübingen 1989 Max Weber: Zur Politik im Weltkrieg. Schriften und Reden 1914– 1918, hrsg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Gangolf Hübinger, Tübingen 1984 Max Weber: Zur Neuordnung Deutschlands. Schriften und Reden 1918–1920, hrsg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Wolfgang Schwentker, Tübingen 1988 Max Weber: Wissenschaft als Beruf 1917/1919 – Politik als Beruf 1919, hrsg. von Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Birgitt Morgenbrod, Tübingen 1992

X

Siglen und Abkürzungen

MWG I/23

MWG II/5

MWG II/6

MWG II/7

MWG II/8

MWG II/10

Max Weber: Wissenschaft und Gesellschaft. Soziologie. Unvollendet 1919–1920, hrsg. von Knut Borchardt, Edith Hanke und Wolfgang Schluchter, Tübingen 2013 Max Weber: Briefe 1906–1908, hrsg. von M. Rainer Lepsius und Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Birgit Rudhart und Manfred Schön, Tübingen 1990 Max Weber: Briefe 1909–1910, hrsg. von M. Rainer Lepsius und Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Birgit Rudhart und Manfred Schön, Tübingen 1994 Max Weber: Briefe 1911–1912, hrsg. von M. Rainer Lepsius und Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Birgit Rudhart und Manfred Schön, Tübingen 1998 Max Weber: Briefe 1913–1914, hrsg. von M. Rainer Lepsius und Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Birgit Rudhart und Manfred Schön, Tübingen 2003 Max Weber: Briefe 1918–1920, hrsg. von Gerd Krumeich und M. Rainer Lepsius in Zusammenarbeit mit Uta Hinz, Sybille OßwaldBargende und Manfred Schön, Tübingen 2012

Vorwort Die in diesem Bande zusammengestellten Aufsätze zu Max Weber, Ernst Troeltsch und dem Heidelberger Gelehrtenmilieu um 1900 sind in den Jahren 1982 bis 2005 geschrieben und veröffentlicht worden. Sie sind also älteren Datums. Nicht wenige Leser mögen – mit Max Weber – hoffen, daß sie überholt, vom „Fortschritt“ wissenschaftlicher Erkenntnis als veraltet oder gar obsolet erwiesen worden sind. Dies ist zum Teil der Fall. Dennoch werden die alten Texte ohne inhaltliche Korrekturen nachgedruckt; nur einige wenige stilistische Änderungen wurden vorgenommen. Einige kleinere Dubletten blieben erhalten; da ich mir schon vergleichsweise früh, kurz nach Ostern 1985, für eine bald zu schreibende Habilitationsschrift einen Personal Computer angeschafft hatte, habe ich bisweilen den einen oder anderen früher geschriebenen Absatz in einen neuen, zumeist unter Zeitdruck entstandenen Vortrag oder Aufsatz hineinkopiert. Auch Fehler, die mir einst unterliefen, wurden nicht korrigiert. Nur die Anmerkungen sind nun formal vereinheitlicht worden; aber auch hier ist nichts ergänzt und nichts gestrichen worden, sondern es sind allein die Verweise auf Troeltsch-Texte bzw. -Zitate auf die seit 1998 erscheinende Kritische Gesamtausgabe und im Falle Webers auf die Max Weber-Gesamtausgabe umgestellt worden. Auch für einige Nachrufe auf Troeltsch ist neben den alten Druckorten jetzt noch der Nachdruck in „Ernst Troeltsch in Nachrufen“ (TS 12) angegeben worden. Ich habe damals manchen gewichtigen Text noch nicht gekannt und gelesen, der mich hätte nachdenklicher, problembewußter stimmen können. Deshalb nehme ich in der Einleitung, dem einzigen für diesen Band neu geschriebenen Text, Stellung zu den Einwänden und Fragen, die einige Leser und speziell Weber-Forscher in ihren Arbeiten vorgetragen bzw. formuliert haben. Um es gleich hier zu sagen: Viele ihrer Anfragen und Korrekturvorschläge leuchten mir ein. Doch da die alten Texte nun einmal ihre Wirkung entfaltet haben, scheint mir auch mit Blick auf die diversen akademischen Memorialfeiern zu Max Webers 150. Geburtstag am 21. April 2014 und Ernst Troeltschs ebenfalls 150. Geburtstag am 17. Februar 2015 ihre Zusammenstellung in einem Bande sinnvoll. Auch für Troeltsch- und Weber-Forscher gilt, was Max Weber mit der ihm eigenen methodologischen Prägnanz in „Wissenschaft als Beruf“ betont hat: „Jeder von uns [. . .] in der Wissenschaft weiß, daß das, was er gearbeitet hat, in 10, 20, 50 Jahren veraltet ist. Das ist das Schicksal, ja: das ist der Sinn der Arbeit der Wissenschaft, dem sie, in ganz spezifischem Sinne gegenüber allen anderen Kulturelementen, für die es sonst noch gilt, unterworfen und hingegeben ist: jede wissenschaftliche ‚Erfüllung‘ bedeutet neue ‚Fragen‘ und will ‚überboten‘ werden und veralten. Damit hat sich jeder abzufinden, der der Wissenschaft dienen will. [. . .] Wissen-

XII

Vorwort

schaftlich aber überholt zu werden, ist – es sei wiederholt – nicht nur unser aller Schicksal, sondern unser aller Zweck.“ Die meinen Aufsätzen im Anhang beigegebenen, an weit entlegenen Orten publizierten Texte von Otto Baumgarten, Martin Rade und Marianne Weber sowie die an Marianne Weber gerichteten, bisher unbekannten Kondolenzbriefe vor allem protestantischer Theologen zum Tod Max Webers mögen dazu beitragen, neu für das überaus schwierige und voraussetzungsreiche Thema „Max Weber und die (kultur-)protestantische Religionskultur“ zu sensibilisieren. Einige dieser Texte lassen erkennen, daß Max Webers Verhältnis zur protestantischen Herkunft sehr viel komplexer und wohl auch widersprüchlicher war als bei vielen Weber-Forschern gemeinhin vermutet. Ich hoffe, in den nächsten Jahren, trotz der Arbeit an der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Ernst Troeltschs und der schwierigen Verantwortung als – in der Nachfolge des bewundernswerten Knut Borchardt – Vorsitzender der Kommission für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, d. h. der die große Max Weber-Gesamtausgabe seit 1974 tragenden Kommission, zu „Max und Marianne Weber und die protestantische Religionskultur“ noch einen neuen, tastenden Deutungsvorschlag vorlegen zu können. Der stereotype Hinweis darauf, daß sich Max Weber selbst als „religiös unmusikalisch“ bezeichnet habe, wird der widersprüchlichen Komplexität seiner lebensgeschichtlichen – man denke nur an die Mutter Helene und an die Straßburger Tante Ida! – Prägungen durch aktiv gelebte, karitativ hoch engagierte sozialprotestantische Frömmigkeit ebensowenig gerecht wie seiner keineswegs nur intellektuell distanzierten, sondern auch einfühlsamen Sensibilität für wahre, weltdistanziert „echte“ Seelenbindung an Gott. Keine Sorge: Max Weber soll weder zu einem frommen oder gar religiös aktiven Menschen noch zu einem Virtuosen kulturprotestantischen Persönlichkeitsglaubens gemacht werden. Aber ich hoffe zeigen zu können, wie sein starkes intellektuelles Interesse an religiös bestimmter „Lebensführung“ auch – vielleicht: entscheidend, aber das weiß ich noch nicht – durch die Auseinandersetzung mit den starken frommen Frauen seiner Kindheit und Jugend mitbestimmt (gewiß nicht: allein bestimmt!) worden ist. Eine wichtige Bemerkung noch zur alten Kontroverse um Max Webers „Protestantische Ethik“: Die einschlägigen Texte habe ich in den 1980er und 1990er Jahren nach jener Ausgabe von „Kritiken und Antikritiken“ zitiert, die Johannes Winckelmann, damals Vorstand des Max Weber-Instituts der Universität München, 1968 – und in zweiter Auflage erneut 1972 – als „SiebensternTaschenbuch 119/120“ im „Siebenstern Taschenbuch Verlag Hamburg“ herausgegeben hatte. Mir war damals nicht bewußt, daß Johannes Winckelmann durch nicht ausgewiesene Kürzungen die Beiträge Webers zur Debatte massiv verfälscht hat. Vor allem gegenüber Felix Rachfahl hat Max Weber 1910 sehr

Vorwort

XIII

viel polemischer agiert, als Winckelmanns „Edition“ insbesondere des „Antikritischen Schlußworts“ erkennen läßt. Winckelmanns Mangel an editorischer Seriosität ist mir erst 2004 durch Zufall, beim Lesen im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ deutlich geworden. Vorworte bieten Gelegenheit zum Dank. Wie schon so oft danke ich Herrn Dr. Stefan Pautler, dem souverän agierenden Mitarbeiter der Kommission für Theologiegeschichtsforschung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, sehr herzlich für die Anfertigung der Register und die Erstellung der Satzvorlage. Herrn Dr. Albrecht Döhnert danke ich für die Betreuung der „Neuen Folge“ der Troeltsch-Studien im Verlag De Gruyter. München, am 26. Januar 2014

Friedrich Wilhelm Graf

Einleitung Am 18. März 1926 liefern der Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) und die H. Laupp’sche Buchhandlung die „Nr. 1 1926“ ihrer sogenannten „Grünen Hefte“ zur Ankündigung der „Neuigkeiten“ im Verlagsprogramm aus. Das Thema des 18 Seiten umfassenden Heftes ist laut der Überschrift auf der Titelseite „Leben und Werke Max Webers“. Speziell soll für Marianne Webers neuestes Buch „Max Weber. Ein Lebensbild“ geworben werden, das der Verlag zeitgleich zur Veröffentlichung des Heftes, am 18. März, ausliefern wird; das Buch ist im „Börsenblatt für den deutschen Buchhandel“ vom 23. März 1926 als Neuerscheinung 1 angezeigt. Doch wirbt der Verlag in dem Max Weber gewidmeten „Grünen Heft“ zugleich für die Bücher Ernst Troeltschs. Schon im ersten Satz werden die beiden Heidelberger Fachmenschenfreunde in einem Atemzug genannt: „Nicht umsonst hat das Leben gegen Ende der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts in Heidelberg Max Weber und Ernst Troeltsch zusammengeführt.“ Dann heißt es weiter: „Noch heute sind dort die Spuren erkennbar, die ihre vielseitigen Anregungen weit über ihren engeren Freundeskreis hinaus zurückgelassen haben. Der Ankündigung seines Lebensbildes, mit dem jetzt Max Webers Gefährtin vor die Oeffentlichkeit tritt, konnte daher kaum ein passenderes Geleitwort vorangestellt werden als der Nachruf, den Ernst Troeltsch dereinst am Grabe des Freundes sprechen wollte. Für einen wissenschaftlichen Verlag, der bestrebt ist, seiner Produktion ein möglichst persönliches Gepräge zu geben, kann der in den Zeitverhältnissen begründete Zwang zu einer gewissen Rationalisierung nach rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten eine erhebliche Erschwerung für die Pflege dieser seiner Eigenart bedeuten. Um so glücklicher wird er sich schätzen dürfen, alle wichtigeren Schriften von zwei so ausgesprochenen Persönlichkeiten wie Max Weber und Ernst Troeltsch zu seinen Verlagswerken zu zählen. Ihrem Wirken in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts soll daher das vorliegende ‚Grüne Heft‘ ein bescheidenes Denkmal setzen“. Auf der Seite 2 findet sich dann eine Liste der im Verlag erschienenen Werke Ernst Troeltschs, auf Seite 3 eines der bekannten Portraitphotos Max Webers, die Ernst Gottmann wohl 1919 in seiner Heidelberger „Kunstwerkstätte für neuzeitl. Photographie“, Bienenstraße 6, angefertigt hatte. Ihr gemeinsamer Tübinger Verleger hat Mitte der 1920er Jahre, in den guten Jahren der Weimarer Republik, ein starkes Interesse daran, die Zusammengehörigkeit von Weber und Troeltsch zu betonen. Paul Siebeck knüpft damit an eine 2 Überlieferung an, die sich 1906 bei Gerhart von Schulze-Gaevernitz und seit 1 Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 93 (1926), Nr. 69, S. 3075. 2 Gerhart von Schulze-Gaevernitz: Britischer Imperialismus und englischer Freihandel zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Leipzig 1906, S. 27: Im Gegensatz zum Mittelalter habe der „Puritanismus

2

Einleitung

3

1907 bei Gustav Schmoller finden läßt . Auch werden die beiden Heidelberger Fachmenschenfreunde in diversen Nachrufen auf Ernst Troeltsch immer wieder parallelisiert. 1. Der wahrlich sehr junge, erst 29-jährige Ordinarius für Systematische Theologie Ernst Troeltsch trifft aus Griechenland kommend am 23. oder 24. April 1894 in Heidelberg ein, damals eine Stadt mit ca. 30 000 Einwohnern. Er zieht, vermittelt durch den einflußreichen liberalprotestantischen Praktischen Theologen Heinrich Bassermann, zunächst zur Untermiete in eine kleine Wohnung im Haus Gaisbergstraße 101a, ganz am Rande der Stadt, bevor er im Sommer 1894 in die Friedrichstraße 5 umzieht. Nach der Hochzeit am 31. Mai 1901 mieten Ernst Troeltsch und seine Frau Marta eine größere, repräsentative Wohnung im Haus Schloßberg 7. Marianne und Max Weber kommen drei Jahre später, zum Sommersemester 1897 aus Freiburg nach Heidelberg. Nachdem Max am 6. Januar als Nachfolger 4 von Carl Knies in Heidelberg ernannt worden war, suchten Marianne und Max in Heidelberg eine Wohnung; schon am 10. Januar kann Marianne Weber an 5 Helene nach Berlin vom schnellen Erfolg berichten . Am 26. März kam „der das Jenseits in das Diesseits hinein“ getragen; „er verfolgt das Jenseits nicht durch Weltflucht, sondern durch Verherrlichung Gottes in der Welt. Troeltsch und Max Weber sehen den Grund dieser Verdiesseitigung im Zentraldogma des Calvinismus, in der Lehre von der Prädestination“. Im Anmerkungsteil, S. 412, verweist Schulze-Gaevernitz auf „den ausgezeichneten Artikel von Tröltsch: Englische Moralisten“ und auf die „Protestantische Ethik“: „Max Webers Aufsätze im Archiv für soziale Gesetzgebung 1905 schildern den ethischen Typus des Puritaners auf Grund seltener Quellenkenntnis, in erster Linie unter Zugrundlegung von Baxter, Christian Directory; die Aufsätze Webers bilden ein bewunderungswürdiges Zeugnis deutscher Gelehrtenarbeit.“ 1915 erschien im Verlag von Duncker & Humblot in München und Leipzig ein „Unveränderter Abdruck (Manuldruck) der 1. Auflage“. 3 Gustav Schmoller: Adam Smith, in: Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 1 (1907), Sp. 328–336 und Sp. 373–378, hier Sp. 329, Wiederabdruck in: ders.: Charakterbilder, München, Leipzig 1913, S. 126–134, hier S. 127: Schmoller verweist auf „die neueren vortrefflichen Arbeiten von E. Troeltsch und Max Weber über diese Zusammenhänge des wirtschaftlichen mit dem geistig-moralischen Leben überhaupt und speziell in Schottland“. Und in einem Lamprecht-Portrait spricht Schmoller 1916 von einer „so tiefgreifende[n] Behandlung der kirchlich-religiösen Einflüsse, wie wir sie jetzt M. Weber und Troeltsch danken“; Gustav Schmoller: Zur Würdigung von Karl Lamprecht, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche 40 (1916), S. 1113–1140, hier S. 1130. Die Kenntnis von Schmollers Redeweise verdanke ich: Shiro Takebayashi: Die Entstehung der Kapitalismustheorie in der Gründungsphase der deutschen Soziologie. Von der historischen Nationalökonomie zur historischen Soziologie Werner Sombarts und Max Webers (Soziologische Schriften, Band 73), Berlin 2003, S. 314 und S. 316. 4 Datum nach: Dagmar Drüll: Heidelberger Gelehrtenlexikon 1803–1932, Berlin u. a. 1986, S. 288. 5 Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 10. Januar 1897, Deponat.

Einleitung

3

6

Packer“, und am 29. reisten Max und Marianne „m. unsern Sachen nach“. Ihre erste Heidelberger Wohnung ist im Haus Leopoldstraße 53b. Hier wohnen sie bis Mitte August 1900; nach der Rückkehr nach Heidelberg ziehen sie am 12. April 1902 in eine Wohnung in der Hauptstraße 73. Mehrfach überlegt Marianne Weber gemeinsam mit ihrer Schwiegermutter Helene, auf der anderen, schöneren Neckarseite gegenüber dem Schloß ein kleines Haus für Max und sie selbst zu erwerben. Aber die seit Max’ Niederlegung der Professur prekäre finanzielle Lage führt dazu, daß sich Max und vor allem Marianne, ermutigt von Helene, zwar immer wieder einmal ein Haus mit Garten ansehen, aber niemals zum Kauf entschließen können. Erst 1907 erfolgt der Umzug in eine angemietete Wohnung in der Ziegelhäuser Landstraße 27, 1911 dann der erneute Umzug in die sagenumwobene Fallensteinsche Villa Ziegelhäuser Landstraße 17. Um von der Leopoldstraße 53b (heute: Friedrich Ebert-Anlage) zu Fuß in die Friedrichstraße 5 zu gelangen, braucht man ca. zehn Minuten. Vom Schloßberg 7 zur Hauptstraße 73 geht man fünfzehn Minuten. Der Weg vom Schloßberg in die Ziegelhäuser Landstraße 27 führt über die „Alte Brücke“ und dauert ca. fünfzehn Minuten. Meine einst gestellte Frage, wann Ernst Troeltsch und Max Weber sich erstmals begegnet sind, läßt sich noch immer nicht beantworten. Sie hatten schon vor der Heidelberger Zeit eine ganze Reihe gemeinsamer Freunde und Bekannter; als Göttinger Habilitand stand Troeltsch bekanntlich mit Johannes Weiß, dem Sohn des Berliner Neutestamentlers Bernhard Weiß, in Austausch, und er kannte seit dieser Zeit auch den sieben Jahre älteren Lieblingsvetter Max Webers, Otto Baumgarten, der Max und Marianne am 20. September 1893 in der Dorfkirche 7 zu Oerlinghausen getraut hatte. Max Weber kannte Bernhard wie Johannes Weiß schon aus Berliner Jugendtagen, und durch Otto Baumgarten kam er als Heidelberger Student früh schon mit einigen protestantischen Theologen in Kontakt. Auch durch die Mitarbeit im Evangelisch-sozialen Kongreß lernte er einige Freunde und Bekannte Troeltschs wie beispielsweise Adolf Harnack, Eduard Grafe, Martin Rade und Wilhelm Bousset kennen. Doch Belege, daß Weber und Troeltsch einander schon vor der gemeinsamen Heidelberger Zeit begegnet sind, gibt es nicht. In ihren Tagebüchern aus den Jahren 1892, 1893 und 1895 erwähnt Marianne Weber Ernst Troeltsch nicht.

6 Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 11. März 1897, Deponat. 7 Otto Baumgartens Predigt zur Trauung von Max und Marianne Weber, hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf, in: Journal for the History of Modern Theology / Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 16 (2009), S. 276–291. Siehe auch Otto Baumgartens Bericht für Emmy Baumgarten über die Trauung, in: Guenther Roth: Max Webers deutsch-englische Familiengeschichte 1800–1950, mit Briefen und Dokumenten, Tübingen 2001, S. 696–698.

4

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Max Weber taucht in den Briefen Troeltschs erstmals am 5. August 1898 auf: „Den meisten Umgang pflege ich außerhalb der Fakultät, Max Weber, Paul Hen8 sel, Carl Neumann u mehrere andere sind mir sehr liebe Freunde“; umgekehrt erwähnt Weber Troeltsch erstmals in einem Brief vom 19. Juni 1897: Er lädt den Freiburger, später Tübinger Nationalökonomen Carl Johannes Fuchs zu einem sozialwissenschaftlichen Kursus ein, der gemeinsam von der Evangelisch-sozialen Vereinigung in Baden und der Evangelisch-sozialen Konferenz für Württemberg vom 4. bis 8. Oktober 1897 in Karlsruhe veranstaltet wurde. In diesem Zusammenhang teilt er seinem Freiburger Nachfolger mit, daß Troeltsch über „Sozialethik“ sprechen soll: „vielleicht“. Troeltsch nahm dann aber an dem Kursus nicht teil. In den Briefen an die Schwiegermutter Helene Weber erwähnt Marianne Weber Troeltsch erstmals am 21. November 1897, einem Sonntag: „Sonnabend 9 abend kommt als ständiger Gast Tröltsch, es ist sehr angenehm mit ihm“. Diese Formulierung setzt voraus, daß Helene Weber mit dem Namen „Tröltsch“ etwas anzufangen weiß. Dennoch: Die Frage, wann Max Weber und Ernst Troeltsch sich erstmals begegnet sind, läßt sich, wenn überhaupt, nur durch Erschließung weiterer Quellen beantworten. Exemplarisch genannt seien nur die in der Bayerischen Staatsbibliothek verwahrten 258 Briefe Otto Baumgartens, die von der zumeist von Praktischen Theologen und Ideenhistorikern des Kulturprotestantismus betriebenen Baumgarten-Forschung bisher noch nicht wahrgenommen worden sind. 10 1897 hat die Heidelberger Universität 46 Ordinarien, und gerade die Jüngeren, damals 30 bis 40 Jahre alten wie Paul Hensel (Jahrgang 1860), Carl Neumann (Jahrgang 1860), Weber (Jahrgang 1864) und Troeltsch (Jahrgang 1865) entwickelten in der Abgrenzung von den älteren Geheimräten, speziell ihren 11 „‚anspruchsvollen‘ Gesellschaften mit 9 Gängen u. 9 Weinen“ ein eigenes generationelles Selbstbewußtsein. Der Kunsthistoriker Carl Neumann, sowohl mit den Webers als auch mit Ernst Troeltsch eng befreundet, erinnerte sich in einem Nachruf auf den Theologenfreund, mit dem er sich duzte: „Als ein Lernender

8 Brief Ernst Troeltschs an Wilhelm Bousset vom 5. August 1898, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. W. Bousset 130, 41, demnächst in KGA 19. 9 Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 21. November 1897, Deponat. 10 Zu den 46 Ordinarien kamen im Sommersemester 1897 laut dem „Adressbuch der RuprechtKarls-Universität in Heidelberg“ als weiteres akademisches Lehrpersonal hinzu: ein ordentlicher Honorarprofessor, acht Honorarprofessoren, 55 Extraordinarien, 23 Privatdozenten, der nur mit Doktortitel (ohne sonstige Angabe) geführte Leiter des zahnärztlichen Instituts sowie der Universitäts-Musikdirektor Professor Dr. Philipp Wolfrum. Im Wintersemester 1897/1898 führt das Adressbuch 57 Extraordinarien und 25 Privatdozenten auf. Ansonsten entsprechen die Zahlen denen des Sommersemesters. 11 Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 10. Januar 1897, Deponat.

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trat er, neunundzwanzigjährig, unter uns und gewann mit einem Schlage, alle Fakultätsgrenzen überwindend, die Zuneigung der gleichbegierigen jüngeren 12 akademischen Kreise.“ Troeltsch und Weber dürften sich spätestens in der Universität begegnet sein: Das nach einer Umorganisation der Theologischen Fakultät neu eingerichtete, in den Verzeichnissen der Universität erstmals 1895 aufgeführte Wissenschaftlich-theologische Seminar befand sich im selben Gebäude wie das aus Anlaß von Max Webers Berufung begründete Volkswirtschaftliche 13 Seminar, in der Augustinergasse 13. In den gedruckten Personal-Verzeichnissen der Universität wird Weber als Co-Direktor des Staatswissenschaftlichen Seminars gemeinsam mit Georg Jellinek geführt sowie als alleiniger Direktor des Volkswirtschaftlichen Seminars. Ab dem Wintersemester 1900/1901 wird Weber als „beurlaubt“ geführt, ab dem Sommersemester 1904 dann ohne Zuordnung zu einem Seminar als „ordentlicher Honorarprofessor der Philosophischen Fakultät“. Dies ändert sich im Sommersemester 1908. Nun wird Weber unter den „Ordentlichen Honorarprofessoren“ als „inaktiver ordentl. Professor“ genannt. Telefonanschlüsse hatte man damals noch nicht. Max und Marianne Weber haben erstmals in der Ziegelhäuser Landstraße 27, also seit 1907, einen Telefonanschluß, und die Troeltschs sind seit dem Einzug in das oberste Stockwerk der Ziegelhäuser Landstraße 17 unter der Nummer 1636 erreichbar. 2. Einiges Neues läßt sich zum literarischen Austausch, dem wechselseitigen Zuschicken von Sonderdrucken und Neuerscheinungen sagen. In der Bibliothek Max Webers, soweit sie denn erhalten ist, haben sich keine Exemplare von Werken Ernst Troeltschs finden lassen – mit einer einzigen Ausnahme: Troeltsch läßt dem Freund wohl im Dezember 1905 einen „Sonderabdruck“ von „Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit“ zukommen – Weber hatte schon im zweiten Teil der „Protestantischen Ethik“ auf Troeltschs Abhandlung hingewiesen: „Manche andere Gesichtspunkte – z. B. die S. 15 f. gestreiften – sind hier auch um deswillen nur andeutungsweise behandelt, weil hoffentlich E. Tröltsch in seinem Beitrag zu dem Hinnebergschen Sammelwerke auf diese Dinge (lex naturae etc.), denen er, wie außer seinem ‚Gerhard und Melanchthon‘ besonders auch seine zahlreichen Rezensionen in den Gött. Gel. Anzeigen beweisen, seit Jahren nachgeht, eingehen und sie dann, als Fachmann, natürlich 14 besser erledigen wird als ich beim besten Willen könnte.“

12 Carl Neumann: Zum Tode von Ernst Troeltsch, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1 (1923), S. 161–171, jetzt in: TS 12, S. 465–473, hier S. 467. 13 Eike Wolgast: Die Universität Heidelberg 1386–1986, Berlin u. a. 1986, S. 138. 14 Max Weber: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. II. Die Berufsidee des asketischen Protestantismus, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 21 (1905), S. 1–110, hier S. 4. Siehe auch S. 14: „Die große Wichtigkeit des calvinistischen Gedankens von

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Aber dies bedeutet, wie Peter Ghosh in einer faszinierend prägnanten Ana15 lyse von „Max Weber’s Idea of ‚Puritanism‘“ zu Recht betont hat, nicht, daß Weber bei der Anfang März 1905 beendeten Niederschrift des II. Teils der „Protestantischen Ethik“ Troeltschs Text bereits gekannt hat; er schickt das Typoskript 16 des Textes Ende März nach Tübingen . Die Freunde haben parallel gearbeitet und geschrieben und sich bisweilen ausgetauscht. Als Troeltsch am 15. Januar 1905 im Eranos-Kreis über den „Zusammenhang des Protestantismus mit dem 17 Mittelalter“ sprach, war Max Weber anwesend und scheint viel geredet zu ha18 ben: „In der Diskussion nimmt sich Gothein der traditionellen Auffassung an, Weber hat geschichtsmethodologische Bedenken, verlangt für den Begriff der lex naturae genauere Definition u[nd] betont die Übergänge zur modernen Cultur 19 sehr viel stärker als der Referent“. Damit nimmt Weber auf ein für Troeltsch seit der Arbeit an der Dissertation über „Melanchthon und Gerhard“ wirklich grundlegendes, ihn bis zum Tod fortwährend beschäftigendes Thema, lex na20 21 turae bzw. „Naturrecht und Humanität“, Bezug . Doch als Weber knapp drei Wochen später, am 5. Februar 1905, im Eranos-Kreis über „Die protestantische Askese und das moderne Erwerbsleben“ sprach – es war sein erster Vortrag

der aus dem Erfordernis der ‚Einverleibung in Christi Körper‘ (Calvin Instit. III, 11, 10) folgenden Heilsnotwendigkeit der Aufnahme in eine den göttlichen Vorschriften entsprechende Gemeinschaft für den sozialen Charakter des reformierten Christentums wird, wie ich annehme, E. Tröltsch in seinem schon früher erwähnten Aufsatz entwickeln.“ 15 Peter Ghosh: Max Weber’s Idea of ‚Puritanism‘: a case study in the empirical construction of the Protestant Ethic, in: ders.: A Historian Reads Max Weber. Essays on the Protestant Ethic (Kulturund sozialwissenschaftliche Studien / Studies in Cultural and Social Sciences, Band/Volume 1), Wiesbaden 2008, S. 5–49, hier S. 17. 16 Marianne Weber: Max Weber. Ein Lebensbild, Tübingen 1926, S. 359. 17 Dazu siehe meine Edition des entsprechenden Protokolls aus dem Eranos-Protokollbuch im Anhang zu: Friedrich Wilhelm Graf: „endlich große Bücher schreiben“. Marginalien zur Werkgeschichte der „Soziallehren“, in: TS 6, S. 27–50, hier S. 49 f. 18 Dies berichtet jedenfalls Marianne Weber am 20. Januar 1905 an Helene: „Max [. . .] hat letzten Sonntag den ‚Eranos‘ bei Tröltsch mitmachen können, da aber offenbar so viel geredet u. nachher auch in der kalten Luft beim Heimweg noch weiter disputiert, daß er sich eine ganz gründliche Erkältung mit nach Hause brachte. Ich habe ihn dann 2 Tage ins Bett gepackt, mit Emser Wasser vollgepumpt“ (Deponat). 19 Aus dem Protokollbuch des Eranos (wie Anm. 17), S. 50. 20 Die Kontinuität des Interesses an der Naturrechtsthematik zeigt besonders gut: Ernst Troeltsch: Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik. Vortrag bei der zweiten Jahresfeier der Deutschen Hochschule für Politik, Berlin 1922, jetzt in: KGA 15, S. 493–512. 21 Dazu siehe vor allem: Klaus Tanner: Der lange Schatten des Naturrechts. Eine fundamentalethische Untersuchung, Stuttgart, Berlin, Köln 1993, S. 63 ff.; Ludger Honnefelder: Rationalization and Natural Law: Max Weber’s and Ernst Troeltschs’s Interpretation of the Medieval Doctrine of Natural Law, in: Review of Metaphysics. A Philosophical Quarterly 49 (1995), S. 275–294.

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im Eranos-Kreis –, war Troeltsch laut Protokollbuch nicht anwesend. „Auch Weber folgte der Praxis, ein unmittelbar vor der Veröffentlichung stehendes Manuskript im Eranos zur Diskussion zu stellen, unter Einbeziehung der während 23 der USA-Reise gewonnenen Eindrücke.“ Troeltsch hat sein Manuskript von „Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit“ dem Verlag B. G. Teubner (Leipzig und Berlin) spätestens im April 1905 geschickt, hatte also noch ca. drei bis vier Wochen Zeit, Webers 24 Text zu lesen. Wann Troeltsch erstmals Druckfahnen erhielt, ist unklar. Doch scheint Weber im Sommer 1905, also nach Abschluß der Arbeit am II. Teil der „Protestantischen Ethik“, Troeltschs Text wohl in den Fahnen – auch Peter Ghosh 25 26 spricht von „proof form“ – gelesen zu haben . Darauf deutet der von Hans Cymorek 1995 zitierte Brief Webers an Georg von Below vom 23. September – 27 Peter Ghoshs Datierung ist plausibel – 1905 hin. Als Weber von Below empfahl, statt seiner Troeltsch für den Hauptvortrag beim Stuttgarter Historikertag 1906 zu gewinnen, sprach er jedenfalls schon von „Tr.’s vortrefflicher Leistung (bei Hinneberg)“ bzw. davon, daß der Freund eine „umfassende Leistung vorgelegt“ habe, die er „vor der Öffentlichkeit vertreten“ solle: „u. ich denke er wird sich auch sehr gern dazu bereit finden lassen, wenn ich ihm ausrede, dass ich ihm 28 ein ‚Opfer’ durch mein Zurücktreten bringe.“ In diesem Exemplar finden sich keinerlei Anstreichungen Webers – was, wie 29 Peter Ghosh zu Recht betont, die Vermutung stärkt, Weber habe das Ganze schon in den Fahnen gekannt. Aber Weber verfolgt in der „Protestantischen

22 Dazu siehe: Hubert Treiber: Der „Eranos“ – Glanzstück im Heidelberger Mythenkranz?, in: Wolfgang Schluchter, Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.): Asketischer Protestantismus und der ‚Geist‘ des modernen Kapitalismus, Tübingen 2005, S. 75–153, hier S. 125. 23 Ebd., S. 125 f. Treiber bietet hier auch den Protokolltext des Weber-Abends. 24 Zur Drucklegung des Textes siehe den Editorischen Bericht zu KGA 7, S. 39–80, bes. S. 67 f. 25 Peter Ghosh: Max Weber’s Idea of ‚Puritanism‘ (wie Anm. 15), S. 17, Anm. 39. 26 Dazu siehe unten, S. 361. 27 Peter Ghosh: Max Weber’s Idea of ‚Puritanism‘ (wie Anm. 15), S. 17, Anm. 39: „I suggest that the month in this copy text is mistaken, given a reference to the imminent meeting of the Verein für Sozialpolitik in late September.“ 28 Brief Max Webers an Georg von Below vom 23. September 1905, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin, VI. HA, Nachlaß Max Weber, Nr. 30, Band 4. Auszüge des Briefes sind publiziert in der maschinenschriftlichen Fassung der Dissertation von Hans Cymorek: Georg von Below. Politische Geschichtswissenschaft in einer Zeit des Umbruchs, Diss. masch. Univ. Berlin 1995. Siehe auch den Editorischen Bericht zu: Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (1906/1911), in: KGA 8, S. 183–198, bes. S. 183 f. Die ältere falsche Datierung auf den 23. August 1905 mag beim Abschreiben des Originals entstanden sein. 29 Peter Ghosh: Max Weber’s Idea of ‚Puritanism‘ (wie Anm. 15), S. 17, Anm. 39.

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Ethik“ andere Interessen als Troeltsch in „Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit“. Peter Ghosh hat mit seiner Kritik an meinen frühen Texten zur Weber-Troeltsch-Beziehung recht: „He tends to stress their mutual 30 identity; I their separate individuality“, und dies hat in der Tat viel damit zu tun, daß mein „intellectual starting point“ nun einmal Troeltsch war, wohingegen Peter Ghosh von Weber ausgehend „Weber’s relation with Troeltsch“ in den Blick nimmt. Dennoch dürfte mit der Formulierung „Troeltsch was a skilled assimilator of Weberian material whereas – for whatever reason – Weber had 31 no interest in the reverse process“ Webers unbestrittene Eigenständigkeit ein wenig zu stark betont sein. Denn auch Peter Ghosh bezweifelt nicht, daß Weber sich beim Schreiben der „Protestantischen Ethik“ bisweilen Quellenzitate anderer zu eigen machte: etwa ein Luther-Zitat in Werner Sombarts „Der mo32 derne Kapitalismus“ aus dem Jahr 1902. Hartmut Lehmann hat zudem darauf hingewiesen, daß sich Weber im I. Teil der „Protestantischen Ethik“ bei sechs Kollegen eigens bedankt: „Weber very explicitly thanks no fewer than six of his colleagues at Heidelberg and Freiburg who had supplied him with specific pieces of information, namely Albrecht Dieterich, professor of Classics at Heidelberg, Karl Gottfried Baist, professor of Romance languages at Freiburg, whom he calls his ‚esteemed friend‘, Wilhelm Braune, professor of German at Heidelberg, and Adolf Deißmann, professor of Theology also at Heidelberg (pp 52–58). No doubt, Weber mentions these names not only to give due thanks but because these authorities in the field of philology and linguistics are meant to support one of his key arguments. This is the claim that Luther, in translation of the Bible, had 33 found and used a new meaning for the notion of calling“. Fritz Ringer, der einst so prägnante Analytiker der „German Mandarins“, behauptet gar: „Weber acknowledged his obligation to prior scholarship, along with the influence of his friend Ernst Troeltsch, whose work on the social teachings of the Christian chur34 ches evolved concurrently with Weber’s Protestant Ethic“ – obwohl Troeltsch

30 Ebd., S. 18, Anm. 41. 31 Ebd., S. 17, Anm. 39. 32 Peter Ghosh: Max Weber, Werner Sombart and the Archiv für Sozialwissenschaft: The authorship of the ‚Geleitwort‘, in: History of European Ideas 36 (2010), S. 71–100. Mit Blick auf Sombart schreibt Peter Ghosh hier: „Weber then borrowed this citation in the PE, but deliberately modernized the spelling, thereby rendering the text a good deal more accessible.“ (S. 75, Anm. 36, Hervorhebung vom Verf.). 33 Hartmut Lehmann: Weber’s Use of Scholarly Praise and Scholarly Criticism in The Protestant Ethic and the ‚Spirit‘ of Capitalism, in: ders.: Die Entzauberung der Welt. Studien zu Themen von Max Weber (Bausteine zu einer europäischen Religionsgeschichte im Zeitalter der Säkularisierung, Band 11), Göttingen 2009, S. 58–70, hier S. 60. 34 Fritz Ringer: Max Weber. An Intellectual Biography, Chicago, London 2004, S. 124.

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1904 und 1905 gewiß noch nicht an die „Soziallehren“ denkt; der erste Hinweis 35 auf das große ‚Projekt‘ stammt vom 28. April 1907 . Troeltsch dürfte seinem Fachmenschenfreund davon berichtet haben. Peter Ghosh hat jedenfalls zu Recht darauf hingewiesen, daß Max Weber am Tag darauf Oskar Siebeck – in einem Brief, in dem es vor allem um die von Martin Rade und dem Verlag erhoffte Mitarbeit Max’ und Marianne Webers an „Die Religion in Geschichte und Gegenwart“ ging – mitteilte: „Meine Arbeitskraft ist ganz unsicher. Ich werde suchen, die ‚Protest Ethik‘ für die Sonderausgabe fertig zu machen u. e[ine] Antikritik für 36 das Juliheft des ‚Archiv‘.“ In der Tat: „Chronological sequence rarely appears in 37 more beautiful, albeit slightly cosmetic, form“. Nicht nur aus Texten Sombarts, sondern auch aus Troeltsch-Texten hat Weber bisweilen Zitate übernommen, so im Sektenaufsatz etwa Richard Rothes Formel „Maximum von Religion bei 38 einem Minimum von Kirche“ bzw. „Minimum von Kirche“; da Marianne ihrer Schwiegermutter begeistert von der „Gedächtnisrede“ Troeltschs bei der großen, aus Anlaß des 100. Geburtstages veranstalteten Rothe-Feier am 9. Februar 1899 39 in der Aula der Universität berichtete, mag es sein, daß auch Max – damals ja

35 Dazu siehe: Friedrich Wilhelm Graf: „endlich große Bücher schreiben“ (wie Anm. 17), S. 30 f. 36 Brief Max Webers an Oskar Siebeck vom 29. April 1907, in: MWG II/5, S. 285. Mit der „Antikritik“ meint Weber seine erste Kritik an H. Karl Fischer. Siehe: Max Weber: Kritische Bemerkung zu den vorstehenden „Kritischen Beiträgen“, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 25 (1907), S. 243–249. 37 Peter Ghosh: Max Weber and William James: ‚Pragmatism‘, Psychology, Religion, in: Max Weber Studies 5.2 (2005), S. 243–280, hier S. 263, Anm. 62, jetzt in: ders.: A Historian Reads Max Weber (wie Anm. 15), S. 239–268, hier S. 255, Anm. 62, allerdings mit abgeändertem Zitat: „[. . .] beautiful, though no doubt fortunate form.“ 38 Max Weber: „Kirchen“ und „Sekten“, in: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, 50. Jg., Nr. 102, 13. April 1906, 4. Morgenblatt, S. [1], und Nr. 104, 15. April, 6. Morgenblatt, S. [1], leicht veränderter Nachdruck unter dem Titel: „Kirchen“ und „Sekten“ in Nordamerika. Eine kirchen- und sozialpolitische Skizze, in: Die Christliche Welt 20 (1906), Sp. 558–562 und Sp. 577–583, hier Sp. 583. Vgl. Ernst Troeltsch: Richard Rothe. Gedächtnisrede gehalten zur Feier des hundertsten Geburtstages in der Aula der Universität, Freiburg i. B., Leipzig, Tübingen 1899, S. 37, jetzt in: KGA 1, S. 722–752, hier S. 745. Troeltsch bezieht sich auf Richard Rothe: Theologische Ethik, zweite, völlig neu ausgearbeitete Auflage, bearbeitet von Heinrich Julius Holtzmann, Band 3, Wittenberg 1870, S. 183 f. Zu Troeltschs Rothe-Rezeption vgl. Stefan Pautler: Die Rothe-Rezeption von Ernst Troeltsch, in: METG 12 (1999), S. 7–32. 39 Dazu siehe unten, S. 344. Hier mag der Ort sein, eine Selbstkorrektur mitzuteilen. Ich habe 1993 – siehe unten, S. 117 – behauptet, daß der Großherzog an der Rothe-Feier teilgenommen hat. In der Tat hatte Troeltsch als Dekan der das Ganze veranstaltenden Theologischen Fakultät den Großherzog sowie, nach Rückfrage des Vorstandes des Großherzoglichen Geheimen Kabinetts, Hugo Freiherr von Babo, auch die religiös-konservative, den protestantischen „Positiven“ um Troeltschs Systematik-Kollegen und Dauergegner Ludwig Lemme nahestehende Großherzogin am 3. und 8. November 1898 eingeladen. Aber am Morgen des 8. Februar hatte der Großherzog, nach

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noch als Ordinarius Mitglied des Lehrkörpers und, weil man den Großherzog erwartete, wohl zur Teilnahme verpflichtet – trotz seines labilen Zustandes in der akademischen Gedenkfeier dem Freund lauschte. Dennoch sollte man zur „Protestantischen Ethik“ nicht sagen: Weber „borrowed extensively, but selective40 ly“ von Troeltsch. Weber mag Troeltsch um Hinweise auf theologische Literatur gebeten haben. Auch hat er einige Texte des Freundes gelesen und gekannt, und mehr noch: Er hat bisweilen anderen am Thema Interessierten die Lektüre 41 von Troeltschs Texten ausdrücklich empfohlen. Aber er verfolgte andere, seine eigenen Erkenntnisinteressen. Mehrfach bekundet Weber mit Blick auf die „Protestantische Ethik“, daß hier die Theologen – er nennt gerade nicht die Historiker! – die Fachleute seien. Und dem Nationalökonomen Franz Eulenburg schickt er Ende Juni 1905 einen Sonderdruck des II. Teils der „Protestantischen Ethik“ mit der koketten Bemerkung: „Gleichzeitig erlaube ich mir, Ihnen eine Entgleisung auf das Ge42 biet der Theologie zuzusenden.“ Dies mag die in der Debatte um die „Protestantische Ethik“ schnell sichtbare Tendenz verstärkt haben, zunächst Weber und Troeltsch eine Art „Arbeitsgemeinschaft“ zuzuschreiben und später auch Eberhard Gothein und Hans von Schubert für eine genuin Heidelberger kulturhistorische Protestantismusdeutung mit in Anspruch zu nehmen. „Weber’s colleague Ernst Troeltsch, Professor of Systematic Theology at the University of Heidelberg, accepted most of Weber’s ideas and provided further material to support them. As a result the thesis was sometimes known as the Weber43 Troeltsch thesis.“ Es mögen auch dieser zeitgenössische Sprachgebrauch, die in vielen Troeltsch-Nekrologen (und auch im eingangs zitierten Siebeck-Prospekt) zu findende Parallelisierung Troeltschs und Webers sowie die – noch nicht zuvor gegebener Zusage der Teilnahme, abgesagt – wohl um dem Konflikt zwischen den „Positiven“ und den „religiös Liberalen“ aus dem Wege zu gehen. Dies habe ich 1993 noch nicht gewußt – weil die Akten im Archiv der Heidelberger Universität damals nur eingeschränkt zugänglich waren. 40 Jack Barbalet: Weber, Passion and Profits. ‚The Protestant Ethic and the Spirit of Capitalism‘ in Context, Cambridge (UK) 2008, S. 55, mit Bezug auf meinen 1995 in englischer Sprache publizierten Vortrag bei einer von Hartmut Lehmann und Guenther Roth in Washington, D.C., veranstalteten Tagung. Siehe in diesem Band unten, S. 269–293. 41 Am 10. Oktober 1903 rät Weber Lujo Brentano, Troeltschs Artikel über „Englische Moralisten“ zu lesen. „Die dort citirte Litteratur bietet nur sehr theilweise Brauchbares, der Aufsatz selbst auch nur einige, wenige Andeutungen für die ökonomische Seite der Sache, aus denen immerhin hervorgeht, daß Troelsch [sic!] das Wesentliche richtig gesehen hat.“ Rita Aldenhoff danke ich für den Hinweis auf diesen Brief. 42 Brief Max Webers an Franz Eulenburg vom 29. Juni 1905, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin, VI. HA, Nachlaß Max Weber, Nr. 30, Band 4. 43 Alastair Hamilton: Max Weber’s Protestant Ethic and the Spirit of Capitalism, in: Stephen Turner (Hrsg.): The Cambridge Companion to Weber, Cambridge 2000, S. 151–171, hier S. 161 f.

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geschriebene – protestantisch-theologische Rezeptionsgeschichte von Webers 44 „Protestantischer Ethik“ gewesen sein, die mich Troeltsch und Weber mit Blick auf die Protestantismus-Deutung einst allzu stark zusammenrücken ließen. Dies hat in meinem Fach, der Systematischen Theologie, Tradition, aber ich bin durch 45 46 Peter Ghosh, Johannes Weiß und Gangolf Hübinger hier eines Besseren belehrt worden. Ein fundamentaler Unterschied ist zu betonen: Ernst Troeltsch hat sich seit der Lektüre der „Protestantischen Ethik“ immer wieder mit Weber auseinandergesetzt, mehr noch: an ihm abgearbeitet – wirklich, wie der Historismus-Band und „Die Revolution in der Wissenschaft“, sein großer Beitrag 47 zur Debatte um „Wissenschaft als Beruf“, zeigen, bis zu seinem Tod – er hatte Martin Rade für „Die Christliche Welt“ noch eine Besprechung von Webers „Wirt48 schaftsethik der Weltreligionen“ versprochen . Weber aber hat nur gelegentlich auf Troeltsch Bezug genommen, sich allerdings unter dem Eindruck der „Soziallehren“ dazu entschieden, den Troeltsch bekannten Plan einer überarbeiteten und erweiterten Separatausgabe der „Protestantischen Ethik“ nicht weiterzuverfolgen. Marianne Weber hat darauf schon in ihrem „Lebensbild“ hingewiesen. „Er plante ursprünglich, sich von der Reformation nach rückwärts zu wenden, um auch das Verhältnis der mittelalterlichen und frühen Christlichkeit zu den sozialen und ökonomischen Daseinsformen zu analysieren. Aber als nun Ernst Troeltsch seine Studien über die Soziallehren der christlichen Kirchen beginnt

44 Einige wenige protestantisch-theologische Gedächtnisspuren legt frei: Gangolf Hübinger: Max Webers „Protestantische Ethik“ in der protestantischen Erinnerungskultur, in: METG 20/21 (2008), S. 24–41. 45 Johannes Weiß: Von der Religionsgeschichte zur Religionssoziologie. Ernst Troeltsch und Max Weber, in: Seigakuin University. General Research Institute Bulletin 2 (1991), S. 5–27. 46 Gangolf Hübinger: Kirchen und Staat im Deutschen Kaiserreich, in: Hartmut Lehmann, Jean Martin Ouédraogo (Hrsg.): Max Webers Religionssoziologie in interkultureller Perspektive (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Band 194), Göttingen 2003, S. 17–28. Hübinger spricht von „gegensätzliche[n] Denkstile[n]“: „Weber dramatisierte Gegensätze, Troeltsch versöhnte in hegelianischer Manier“ (S. 24). Mit Blick auf Weber ist dies zutreffend, aber Troeltsch orientiert sich in seiner Arbeit am ethisch begründeten „Kompromiß“ gerade nicht an Hegel. 47 Ernst Troeltsch: Die Revolution in der Wissenschaft. Eine Besprechung von Erich von Kahlers Schrift gegen Max Weber: „Der Beruf der Wissenschaft“ und der Gegenschrift von Artur Salz: „Für die Wissenschaft gegen die Gebildeten unter ihren Verächtern“, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche 45,4 (1921), S. 1001–1030, jetzt in: KGA 13, S. 523–563. Zum Kontext siehe: Richard Pohle: Max Weber und die Krise der Wissenschaft. Eine Debatte in Weimar, Göttingen 2009. Die Debatte ist auch in englischer Sprache nachzulesen: Peter Lassmann, Irving Velody, Herminio Martins (Hrsg.): Max Weber’s ‚Science as a Vocation‘, London 1989; Troeltschs Text unter dem Titel „The Revolution in Science“, hier S. 58–69. 48 Dazu siehe unten, S. 391.

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[. . .], vermutet er, daß die Arbeitsgebiete sich allzu nahe berühren, und wendet 49 sich zunächst andern Aufgaben zu.“ Troeltsch hat Weber mehr als nur „Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit“ zukommen lassen. Im Juli 1904 schenkte er dem Freunde ein Exemplar seines Breslauer Vortrages „Politische Ethik und Christentum“, 50 der Mitte Juli erschienen war. Aus der Korrespondenz mit Paul Siebeck und einigen Mitarbeitern des Verlags läßt sich erkennen, daß er dem Freunde zwei Bände seiner „Gesammelten Schriften“ direkt durch den Verlag schicken ließ: Am 14. Januar 1912 bat er den Verlag, Max Weber den soeben erschienenen 1. Teilband der „Soziallehren“ zu senden. Den 2. Teilband, von dem er sich mehrere Exemplare in die Ziegelhäuser Landstraße schicken ließ, dürfte er dem Freund dann selbst gegeben haben. Im Mai 1913 erhielt Weber auf Troeltschs Bitte hin durch J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) auch ein „Dedikationsexemplar“ von Band II der „Gesammelten Schriften“ „Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik“. Ernst Troeltschs große Bibliothek wurde zwischen 1923, dem Todesjahr Troeltschs, und 1937, vermutlich durch Vermittlung Adolf von Harnacks, der seit 1905/1906 im Nebenamt Direktor der Königlichen, seit 1918 Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin war, vom Preußischen Staat für die Berliner Universität gekauft; in einer Chronik der Universität für den Zeitraum von April 1937 bis März 1938 heißt es, daß die „bisher nicht eingeordnete Bibliothek Ernst Troeltschs [. . .] in die bestehenden systematischen und geschichtlichen Abteilun51 gen aufgelöst“ wurde. Aus dieser mehrere Tausend Bände und eine unbekannte Zahl von (zum Teil eigens gebundenen) Sonderdrucken umfassenden Bibliothek haben sich nach dem Beitritt der DDR zum Staat des Grundgesetzes in der 52 Humboldt-Universität nur noch zweihundert Bücher finden lassen. Hier werden – zum Teil mit überaus spannenden Widmungen der Autoren versehene – 49 Marianne Weber: Lebensbild (wie Anm. 16), S. 346. David J. Chalcraft meint gar, daß Weber wegen Troeltschs Arbeit an den „Soziallehren“ den ursprünglichen Plan, eine von Siebeck gewünschte Separatausgabe der „Protestantischen Ethik“ zu veranstalten, aufgegeben habe: „With the planned publication of Troeltsch’s work on the social history of Protestantism, which eventually appeared in 1912, the project of a new edition was abandoned. This made economic sense to Siebeck who was also Troeltsch’s publisher.“ David J. Chalcraft: Introduction, in: David J. Chalcraft, Austin Harrington (Hrsg.): The Protestant Ethic Debate. Max Weber’s Replies to his Critics, 1907–1910, translated by Austin Harrington and Mary Shields, Liverpool 2001, S. 1–19, hier S. 4. 50 Vgl. KGA 6, S. 131. 51 Chronik der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. April 1937/März 1938. Im Auftrage des Rektors bearbeitet von Dr. Walter Wienert, Berlin 1938, S. 118. 52 Sabine Wagner: Die Privatbibliothek von Ernst Troeltsch. Forschungsergebnisse, in: METG 12 (1999), S. 33–68.

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Bücher von Heidelberger Kollegen und Gesprächspartnern wie Carl Heinrich Becker, Ernst Bloch, Franz Boll, Albrecht Dieterich, Hans Ehrenberg, Adolf Hausrath, Willy Hellpach, Karl Jaspers, Georg Jellinek, Karl von Lilienthal, Georg von Lukács, Carl Neumann, Leonardo Olschki, Helmuth Plessner, Karl Rathgen, Hans von Schubert, Gerhart von Schulze-Gaevernitz und Karl Vossler verwahrt. Doch von Max Weber ist in Berlin nur ein Sonderdruck der „Kritischen Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik“ aus dem 22. Jahrgang des „Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ überliefert. Allerdings ist die Überlieferungslage kompliziert. Zahlreiche Bücher aus Troeltschs Bibliothek wurden von der devisenarmen DDR in den späten 1970er und in den 1980er Jahren über das sogenannte „Zentralantiquariat der DDR“ in Leipzig in die Bundesrepublik verkauft. Darunter ist auch der Sonderdruck von Webers großem, ebenfalls 1906 im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ erschienenen Aufsatz „Russlands Übergang zum Scheinkonstitutionalismus“, den Troeltsch sich dann hat binden lassen. Anstreichungen hat Troeltsch hier keine gemacht. Doch findet sich eine eher nichtssagende handschriftliche Widmung 53 Webers: „Mit herzlichem Gruß! M. W.“. Dies läßt nicht auf eine besonders enge Beziehung schließen. Ob Troeltschs Bibliothek weitere vom Zentralantiquariat in die Bundesrepublik verkaufte Titel Webers enthielt, muß derzeit offen bleiben. Dazu wären zunächst alle Verkaufskataloge des Leipziger Zentralantiquariats durchzusehen. Die Hoffnung, Troeltschs Handexemplar der „Protestantischen Ethik“ zu finden – um zu sehen, ob er sich wie in vielen anderen Büchern seiner Bibliothek Anstreichungen oder Notizen gemacht hat –, habe ich noch nicht aufgegeben. Über Max Webers Pläne, auf Wunsch des Verlegers eine Separatausgabe der „Protestantischen Ethik“ zu veranstalten, war Troeltsch bestens 54 informiert. 3. Schwer tut sich die Weber-Forschung mit Max’ Theologenfreund. Sie kann es, aus welchen Gründen auch immer, nicht akzeptieren, daß der einige Jahre wohl engste Heidelberger Fachmenschenfreund ihres Helden ein ordentlicher Professor für Systematische Theologie und auch ein – auf ganz eigene Weise – frommer, religiös musikalischer Kulturprotestant war. Michael Sukale führt Troeltsch in seiner Weber-Werkbiographie als „Religionswissenschaftler und Phi55 losoph“ ein und kommt dann gar auf den eher unglücklichen Einfall, „Weber,

53 Privatsammlung, München. 54 Dazu siehe: Brief Ernst Troeltschs an Paul Siebecks Mitarbeiter Friedrich Michael Schiele vom 4. November 1907, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachl. 488 (Verlagsarchiv Mohr Siebeck), A 240. 55 Michael Sukale: Max Weber – Leidenschaft und Disziplin. Leben, Werk, Zeitgenossen, Tübingen 2002, S. 188. Mit Blick auf die Diskussion um die „Protestantische Ethik“ spricht Sukale

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Sombart und Troeltsch“ eine mafiöse Arbeitsteilung zu unterstellen: „Weber, Sombart und Troeltsch waren um die Mitte des ersten Jahrzehnts so etwas wie 56 eine ‚Gelehrtenmaffia‘ [sic!] und die Hoffnungsträger der historischen Schule.“ Auch Joachim Radkau weiß über die Beziehungen zwischen Troeltsch und den Webers überraschend viel zu sagen – sehr viel mehr als die bisher erschlossenen Quellen erlauben. Einerseits behauptet er, daß Weber bei der Niederschrift der „Protestantischen Ethik“ vom Theologenfreund „so viele Anregungen“ erhalten habe, „daß manche Kritiker Troeltsch das Hauptverdienst an diesem Werk 57 zuschrieben“ – diese Kritiker, die mir (noch) nicht bekannt sind, nennt er aber nicht. Schlicht falsch ist seine Behauptung, daß der von Weber ob seiner religionsgeschichtlichen Forschungen geschätzte Neutestamentler Adolf Deiß58 mann – als Deißmann zum Sommersemester 1908 einem Ruf nach Berlin folgte, hat, wie Marianne Weber ihrer Schwiegermutter berichtete, Weber nach einem zweistündigen freien Vortrag beim Essen „auf den scheidenden Prof. Deiß59 mann getoastet“ – im Eranos-Kreis „der einzige Theologe im engeren Sinne“ gewesen sei: „Troeltsch verstand sich mittlerweile als freier Religionswissen60 schaftler“ – eine insoweit höchst originelle Auskunft über einen Ordinarius für Systematische Theologie, als Troeltsch bis zum Wechsel nach Berlin in Heidelberg nicht weniger als elfmal zweisemestrig – also 22 Semester! – vierstündige 61 Vorlesungen über christliche „Glaubenslehre“ hielt, als Mitglied im Badischen „Wissenschaftlichen Predigerverein“ enge Kontakte zu zahlreichen liberalprotestantischen Pfarrern im Lande knüpfte, für das von Martin Rade herausgegebene Lexikon „Die Religion in Geschichte und Gegenwart“ als Abteilungsleiter die Verantwortung für die „Dogmatik“ übernahm und in akademisch-theologischen Zeitschriften, Kirchenzeitschriften und religiösen Kulturjournalen immer wieder zu klassisch dogmatischen Themen wie Christologie und Ekklesiologie publizierte. Allein für die RGG verfaßte er in den Jahren 1909 bis 1913 neben einigen Ethik-Artikeln 23 dogmatische Artikel: „Aemter Christi“, „Akkomodation davon, daß „ein so belesener Religionswissenschaftler wie Troeltsch sich ebenfalls mit dem Christentum und seiner Beziehung zum Kapitalismus“ auseinandergesetzt habe, ebenso wie Sombart (S. 236). 56 Ebd., S. 255. 57 Joachim Radkau: Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München 2005, S. 95. 58 Dazu siehe: Ein unbekannter Brief Max Webers an Adolf Deißmann, hrsg. und kommentiert von Christian Nottmeier, in: METG 13 (2000), S. 99–131. Zur Biographie: Albrecht Gerber: Deissmann the Philologist (Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, Band 171), Berlin, New York 2010. 59 Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 5. März 1908, Deponat. 60 Joachim Radkau: Max Weber (wie Anm. 57), S. 457. 61 Dazu siehe: Walter E. Wyman, Jr.: The Concept of Glaubenslehre. Ernst Troeltsch and the Theological Heritage of Schleiermacher, Chico, California 1983.

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Jesu“, „Berufung“, „Concursus divinus“, „Dogma“, „Dogmatik“, „Erlösung II. Dogmatisch“, „Eschatologie IV. Dogmatisch“, „Gericht Gottes 2. (dogmatisch)“, „Gesetz. Uebersicht. I. Religionsphilosophisch, Gesetz: II. Dogmatisch, Gesetz: III. Ethisch“, „Glaube: III. Dogmatisch, Glaube: IV. Glaube und Geschichte, Glaube: V. Glaubensartikel, dogmatisch“, „Gnade Gottes: III. Dogmatisch“, „Gnadenmittel“, „Heilstatsachen“, „Kirche: III. Dogmatisch“, „Offenbarung“, „Prädestination: III. Dogmatisch“, „Prinzip, religiöses“, „Theodizee: II. Systematisch“ sowie 62 „Weiterentwickelung der christlichen Religion“. Zwar kann er in einem „Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft“ der theologischen Dogmatik attestieren, nicht mehr als Wissenschaft auftreten zu können. Aber: „Troeltsch proklamiert nicht das Ende der Dogmatik, nicht deren Verabschiedung. Neben der Analyse ihres Bedeutungsverlusts findet sich bei ihm ein anderer Strang von Aussagen, nach denen die Dogmatik nun doch ‚den eigentlichen Hauptzweck der Theologie‘ (Ge63 sammelte Schriften II, S. 505) ausmacht.“ Max Webers Freund will „eine neue, wahrhaft moderne Dogmatik“ entfalten, d. h. eine „individuelle Dogmatik“, die 64 den „Charakter eines persönlichen ‚Bekenntnisses‘“ gewinnt. Es dürfte gerade den spezifischen Reiz des intellektuellen Austauschs zwischen Weber und Troeltsch ausgemacht haben, daß der eine nicht ohne Pathos für epistemisch konsequente ‚Werturteilsfreiheit‘ eintrat und der andere im akademischen Beruf, als Dogmatiker und Ethiker in einer Theologischen Fakultät, ein Interesse an Normativität haben und sich kritisch wie konstruktiv zu partikularen religiösen Wertvorstellungen verhalten mußte. Über „die letzten Unterschiedspunkte“ sprachen die Freunde zwar „so gut wie nie“, „vermutlich“, wie Troeltsch unter dem unmittelbaren Eindruck der ihm durch Werner Sombart telefonisch übermittelten Nachricht von Webers Tod meinte, „beide in dem Gefühl der unaufheblichen 65 inneren Verschiedenheit“. „Im übrigen ist er [sc. Max Weber] mir im letzten Grund vielfach problematisch u. undurchsichtig. Seine letzten gedanklichen 66 Hintergründe kenne ich nicht.“ Zugleich spricht Troeltsch in einem Brief an 62 Troeltschs Dogmatik-Artikel werden gemeinsam mit Lexikonartikeln zur Ethik und neueren Theologiegeschichte in Band 3 der Troeltsch KGA kritisch ediert werden. 63 Hans-Joachim Birkner: Glaubenslehre und Modernitätserfahrung. Ernst Troeltsch als Dogmatiker, in: TS 4, S. 325–337, hier S. 331. 64 Ebd., S. 331 und S. 333. Birkner bezeichnet die zweisemestrig vorgetragene „Glaubenslehre“ als Troeltschs „Heidelberger Hauptvorlesung“ (S. 326). Seine Schülerin Gertrud von Le Fort publizierte 1925 bei Duncker & Humblot die von Troeltsch diktierten Thesen und ihre Nachschrift der mündlichen Erläuterungen: Ernst Troeltsch: Glaubenslehre. Nach Heidelberger Vorlesungen aus den Jahren 1911 und 1912, hrsg. von Gertrud von Le Fort. Mit einem Vorwort von Marta Troeltsch, München, Leipzig 1925. 65 Kondolenzbrief Ernst Troeltschs an Marianne Weber vom 18. Juni 1920, Deponat. 66 Brief Ernst Troeltschs an Heinrich Dietzel vom 22. Oktober 1917, Privatsammlung, München.

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den mit ihm befreundeten Bonner Nationalökonomen Heinrich Dietzel im Oktober 1917 von „vertraulichen u intimen Selbstmitteilungen“ Max wie Alfred 67 Webers. Wie auch immer – die Freunde waren sich darüber im Klaren, daß sie innerhalb der Universität ganz unterschiedliche Aufgaben wahrzunehmen hatten. Weber, stark interessiert an der „Kulturbedeutung“ des Christentums und speziell des Protestantismus, sah in der akademischen Theologie eine konfessionell wertgebundene Disziplin. Und die von ihm für die Sozialwissenschaften eingeklagte ‚Werturteilsfreiheit‘ bedeutet ja gerade nicht, daß er als Individuum ‚wertfrei‘ war – er war, auch wenn dies bisweilen behauptet wird, alles andere als ein ethischer Relativist, sondern als „Persönlichkeit“ von einer wahrlich leidenschaftlichen Neigung zu moralischer Unbedingtheit und ethischer Konsequenz bestimmt –, der Kirchenhistoriker Hans von Schubert spricht in seinem Kondolenzbrief an Marianne Weber vom „ethischen Fanatismus seiner Fallen68 steinschen Erbschaft“, und Troeltsch beklagt in seinem Doppelportrait bzw. Psychogramm der beiden Weber-Brüder Max’ „moralische Intransigenz, die mit Vorliebe fremden Leuten das Gewissen macht“: „Immerhin gehöre ich auch in 69 dieser Hinsicht zu den gebrannten Kindern, die das Feuer scheuen.“ Troeltsch aber teilte diesen Hang zu radikaler moralischer Konsequenzmacherei nicht und war, als theologischer wie philosophischer Ethiker von Beruf, weniger gesinnungsethisch kompromißlos denn verantwortungsethisch kompromißorientiert gestimmt. In Sachen Naturrecht und Ethik lief sein Theoriekonzept auf eine Ethik des verantwortbaren Kompromisses hinaus. Philosophische wie theologische Ethik – Troeltsch hielt, was in der Weber-Forschung gar nicht gesehen wird, seit dem Wintersemester 1909/1910 auch an der Philosophischen Fakultät der Heidelberger Universität Vorlesungen über „Ethik“ bzw. „Allgemeine Ethik“, neben den in der Theologischen Fakultät angebotenen Vorlesungen über „Christliche Ethik“ – können nun einmal keine ‚werturteilsfreien‘ akademischen Disziplinen sein. Dies war Max Weber auch durchaus bewußt. Desto mehr verdient Beachtung, daß er seinem Freunde mehrfach analytische Prägnanz jenseits aller Wertrhetorik attestierte. Ob Max Weber dafür sorgte, daß Ernst Troeltsch eingeladen wurde, Gründungsmitglied der „Deutschen Gesellschaft für Soziologie“ zu werden, ist unklar; die überlieferten Quellen bleiben hier diffus. Sicher ist aber, daß Weber hinter der Einladung Troeltschs als Vortragsredner beim Ersten Deutschen Soziologentag am 21. Oktober 1910

67 Ebd. 68 Brief Hans von Schuberts an Marianne Weber vom 18. Juni 1920, Deponat, siehe in diesem Band unten, S. 385. 69 Brief Ernst Troeltschs an Heinrich Dietzel, 22. Oktober 1917, Privatsammlung, München.

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in Frankfurt stand: „An die Herren Gothein und Troeltsch ist geschrieben“, 71 berichtet Weber Hermann Beck am 8. Februar. Drei Tage später heißt es dann: „Professor Tröltsch wird mündlich mit mir Rücksprache nehmen, ist im Prinzip 72 nicht abgeneigt (Religionssoziologisches Thema)“. Am 8. März teilt Weber Beck Troeltschs Thema mit: „Tröltsch (profanes und religiöses Naturrecht in ihren 73 Beziehungen und Konflikten)“. Troeltschs Frankfurter Auftritt hat ihn wegen dessen entschiedener Abstinenz von allem Werten beeindruckt. An Franz Eulenburg schrieb er am 27. Oktober 1910 über Troeltschs Frankfurter Vortrag: „Troeltsch: Vortrag ausgezeichnet, vor allem: gänzlich wertfrei – Debatte die 74 beste des Tages.“ 4. Die Fortschritte, die sowohl in der Weber-Edition als auch in der kritischen Edition der Werke Ernst Troeltschs seit dem Erscheinen der hier nachgedruckten Aufsätze erreicht worden sind, erlauben es, einige Informationen zur komplexen Beziehung zwischen Weber und Troeltsch nachzutragen. Man muß zwischen intellektuellem Austausch, etwa bei gemeinsamen Spaziergängen der beiden mit 75 „wissenschaftlichen Gesprächen“, und ‚persönlicher‘ Beziehung unterscheiden und vor allem einen ganz fundamentalen Unterschied ernst nehmen: In den meisten zeitgenössischen Berichten über ‚den Menschen‘ Ernst Troeltsch wird er als eine bayerisch-schwäbische Kraftnatur geschildert, unerschütterlich robust und stürmisch, tatkräftig und unvorstellbar fleißig, außerordentlich trinkfest, ein begeisterter Schwimmer, der gemeinsam mit Jüngeren gern Kopfsprünge in den Neckar macht – und zugleich ein wahrnehmungssensibler, feinfühliger, zärtlicher Mensch, der durchaus auch selbstquälerisch nach einer irgendwie festen religiösen ‚Lebensposition‘ sucht. Max Weber hingegen ist seit seinem Zusammenbruch nicht nur lange quälende Monate arbeitsunfähig, sondern muß auch nach der Rückkehr nach Heidelberg und dem Wiederbeginn des Schreibens fortwährend neu mit tiefer Erschöpfung, Depression, Schlafproblemen, Medikamentenabhängigkeit bzw. -sucht und unbefriedigter sexueller Erregung kämpfen. Troeltsch, im Unterschied zum „schlagenden“ Weber, Mitglied einer

70 Vgl. die Briefe Max Webers an Hermann Beck vom 8. und 11. Februar 1910, dem 8. März 1910 und dem 18. September 1910, in: MWG II/6, S. 397–399, S. 401, S. 422–423 und S. 610–611. 71 Brief Max Webers an Hermann Beck vom 8. Februar 1910, in: MWG II/6, S. 397–399, hier S. 398. 72 Brief Max Webers an Hermann Beck vom 11. Februar 1910, in: MWG II/6, S. 401. 73 Brief Max Webers an Hermann Beck vom 8. März 1910, in: MWG II/6, S. 422–423, hier S. 423. 74 Brief Max Webers an Franz Eulenburg vom 27. Oktober 1910, in: MWG II/6, S. 655–656, hier S. 655. 75 Ernst Troeltsch: [Rez.] Georg Jellinek: Ausgewählte Schriften und Reden, 2 Bände, Berlin 1911, in: Zeitschrift für das Privat- und Öffentliche Recht der Gegenwart 39 (1912), S. 273–278, hier S. 274 f., jetzt in: KGA 4, S. 639–645, hier S. 641.

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nicht-schlagenden, entschieden christlichen Verbindung, ist zudem ein extrem erfolgreicher Repräsentant jenes akademischen ‚Systems‘, das Weber immer wieder kritisierte: 1898/1899, 1904/1905, 1910/1911 Dekan der Theologischen Fakultät und Mitglied des Engeren Senats, 1906 (Pro-)Rektor der Heidelberger Universität, 1897 Ehrenpromotion durch die Theologische Fakultät der Universität Göttingen, 1903 Ehrendoktor der Philosophischen Fakultät Greifswald, 1911 Ehrenpromotion durch die Juristische Fakultät in Breslau, seit 1909 Vertreter der Heidelberger Universität in der I. Badischen Kammer, Mitglied im Landesvorstand der Nationalliberalen Partei, Mitglied im Heidelberger Stadtrat, Mitglied in der lokalen Schulkommission, Mitglied in der städtischen Kommission für sozialpolitische Fragen, als Geheimer Kirchenrat Mitglied in der Badischen Landessynode, Februar 1899 Ritterkreuz I. Klasse des Ordens vom Zähringer Löwen, 1913 dann auch Ritterkreuz I. Klasse mit Eichenlaub des Ordens vom Zähringer Löwen – ein öffentlich hoch anerkannter und einflußreicher Akteur in diversen badischen Institutionen also, über dessen viel beachtete öffentliche Auftritte in Heidelberg man zahlreiche Berichte in der Lokalpresse findet. Spätestens seit seiner großen, auch von Max und Marianne Weber in der Stadthalle gehörten 76 Rede „Nach Erklärung der Mobilmachung“ am 2. August 1914 – an diesem ersten Tag der Mobilmachung, einem Sonntag, meldeten sich Max Weber und Ernst Troeltsch freiwillig beim Garnisonskommando Heidelberg – galt Troeltsch als der politische Professor der Universität. Und als akademischer Lehrer wirkte Troeltsch bald über die Grenzen der Theologischen Fakultät hinaus: In den Heidelberger Jahren vom Sommersemester 1894 bis zum Wintersemester 1914/1915 stammen, wie Martin Riesebrodt 77 detailliert gezeigt hat, nur 54,1 % seiner Hörer aus der Theologischen Fakultät, aber 30,3 % aus der Philosophischen. 5,5 % seiner Studierenden sind angehende Juristen, 1,7 % kommen aus der Medizinischen Fakultät, 3,0 % aus der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen. Und die „Personen reiferen Alters“ und Hörerinnen, also die Gasthörer, machen immerhin 5,4 % aus. Troeltsch scheint

76 Ernst Troeltsch: Nach Erklärung der Mobilmachung. Rede gehalten bei der von Stadt und Universität einberufenen vaterländischen Versammlung am 2. August 1914, Heidelberg 1914. Neben Troeltsch sprachen der Prorektor Eberhard Gothein und Hermann Oncken. Karl Hampe hielt in seinem Tagebuch fest: Gothein „ist kein Redner, der die Herzen erschüttern könnte. Oncken mit seinem bei solchen Gelegenheiten etwas hohlen Ton sprach sehr klug und mit guter Steigerung, namentlich auch auf die Versöhnung der Sozialisten berechnet [. . .]. Er weckte doch schon wärmere Anteilnahme, die dann bei Tröltsch’ erschütternder Ansprache sehr stark wurde.“ Karl Hampe: Kriegstagebuch 1914–1919, hrsg. und eingeleitet von Folker Reichert und Eike Wolgast (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts, Band 63), München 2004, S. 97. 77 Martin Riesebrodt: Profaner Alltag. Ernst Troeltsch als akademischer Lehrer und seine Heidelberger Hörer, in: TS 2, S. 215–265.

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seinen Einfluß in der Universität durchaus zugunsten des Freundes genutzt zu haben. Als Weber hoffte, als ordentlicher Honorarprofessor Sitz und Stimme in der Fakultät sowie das Promotionsrecht behalten zu können, ist Troeltsch in einem Gespräch mit dem Dekan Karl Rathgen jedenfalls für Webers Inter78 essen eingetreten. Da Weber seit dem Zusammenbruch und der auf eigenen Antrag erfolgenden Pensionierung am 1. Mai 1903 keinen Gremien der Universität mehr angehörte, war er eben auf Fürsprache anderer angewiesen. Gewiß, auch Max Weber ist vom badischen Großherzog, wohl aufgrund eines Vorschlags von Franz Böhm, mit einem Zähringer Orden ausgezeichnet worden. Aber er war im akademischen Milieu Heidelbergs seit 1903 ein Außenseiter, genauer: ein von vielen in der Universität bewunderter, aber zugleich als schwierig wahrgenommener Außenseiter, der sich, obwohl als Honorarprofessor de facto nur noch Privatgelehrter, immer wieder in universitäre Fragen einmischte. „If today the best-known denizen of early 20th century Heidelberg is unquestionably Max Weber, we can be equally certain that this was not the case a hundred years ago“, hat Peter Ghosh mit Blick auf die damals führenden Heidelberger „public 79 intellectuals“ Georg Jellinek und Ernst Troeltsch bemerkt. In der Tat tut man der Genialität Webers keinen Abbruch, wenn man die elementare Differenz der sozialen Rollen betont, die Troeltsch und Weber seit seinem Zusammenbruch und der Niederlegung der Professur spielten. Wer, wie Michael Firsching und Hartmann Tyrell, von meinem „schwerlich zu verkennenden Interesse“ spricht, 80 „Max Weber in Relation zu Ernst Troeltsch zu verkleinern“, hat die Intention meines Bemühens um Kontextualisierung ebenso wenig verstanden wie die methodischen Leitannahmen einer „Konstellationsforschung“. Kontextualisieren meint nun einmal: Historisieren, aber Historisieren – man kann gerade dies bei Troeltsch lernen – bedeutet eben auch: Relativieren. Warum sollte ich Max Weber ‚kleiner machen wollen‘ als er war? Es geht darum, (mögliche) Kontexte zu erhellen. Mit Weber assoziierte Begriffe wie „Idealtypus“, „Gesinnungsethik“, „Erfolgsethik“, „Verantwortungsethik“, „Geist des Kapitalismus“ hat er nicht selbst geprägt, sondern von anderen übernommen – um sie für seine eigenen Deutungsinteressen nutzbar zu machen. Nicht wenige Arbeiten zu Max Weber leiden 78 Nach äußerst kritischen Bemerkungen über Karl Rathgen schreibt Marianne Weber am 10. Mai 1903 an Helene Weber: „Tröltsch hat übrigens auch sehr energisch mit R. gesprochen.“ (Deponat) Siehe auch: Bärbel Meurer: Marianne Weber. Leben und Werk, Tübingen 2010, S. 165. 79 Peter Ghosh: Max Weber and Georg Jellinek: two divergent conceptions of law, in: Saeculum 59/II (2008), S. 299–347, hier S. 299. 80 Michael Firsching, Hartmann Tyrell: Ein Historiker liest die Protestantische Ethik. Längere Anmerkungen zu einer Aufsatzsammlung von Peter Ghosh, in: Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte / Journal for Ancient Near Eastern and Biblical Law 15 (2009), S. 400–450, hier S. 403.

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hingegen darunter, nur ahistorische Bilder des dämonisch einsamen „Mythos von Heidelberg“ nachzuzeichnen. An akademischem Heroenkult habe ich in der Tat kein Interesse – im klaren, in den letzten Jahren mehrfach betonten Bewußtsein, daß Weber mit Blick auf die Vielfalt seiner Themen, die Prägnanz seiner methodologischen Überlegungen und die Distinktionskraft seiner Kategorien bzw. zentralen Begriffe der deutlich genialere Denker war. Aber ein solipsistisch einsamer oder gar autistischer Kulturdeuter war er nicht. Troeltsch selbst hatte keinerlei Schwierigkeiten damit, Max Webers unvergleichliche intellektuelle Überlegenheit anzuerkennen. Jedenfalls hat er mehrfach bekannt, daß Max Weber der ungleich genialere Gelehrte war und er selbst vor allem empfangen hat: „[. . .] ich weiß, daß ich in diesem Falle sehr viel mehr der Empfangende als der Gebende war. [. . .] Ihr Mann ist mir ein geistiges Schicksal gewesen u ist es noch heute, ein Schicksal, das ich auf meine Weise u mit einer allmählich sich wiederherstellenden Selbständigkeit verarbeitet habe, natürlich nach dem Maß meiner Kräfte. Ich habe nicht eigentlich das Gefühl der Schülerhaftigkeit u der Unselbständigkeit ihm gegenüber. Dazu ist meine Natur von Hause aus zu verschieden konstruirt u setzt sich mit natürlicher Unbefangenheit immer durch. Aber er ist eine seelische Revolution für mich gewesen und eine ungeheure Anregung, die mich zwang Gedanken, Kenntnisse und Gefühle in mich aufzunehmen, für die ich vielleicht eine Disposition, aber kaum eine wirkliche Vorbereitung hatte. Es sind ganze Jahre, in denen ich diese Revolution innerlich verarbeitet habe, u heute noch denke ich an wichtigen Punkten: was würde er dazu sagen? Er war die stärkere u genialere Natur; aber ich habe nie einen Hauch des Neides empfunden u nur grenzenlos empfangen u gelernt. [. . .] Ich war philosophisch u religiös von innen heraus anders konstruirt; das ist mir heute ganz klar. Und eben deswegen konnte ich mich so vollständig hingeben ohne mich zu verlieren. Wir haben ja auch über die letzten Unterschiedspunkte so gut wie nie gesprochen, vermutlich beide in dem Gefühl der unaufheblichen inneren Verschiedenheit. Aber ich bin ein anderer durch ihn geworden, als ich vorher war und bin mir dieser entscheidenden Einwirkung, die ja nicht mehr in die Jugend, sondern in die reife Manneszeit fiel u doch wirkte wie ein ungeheures Jugenderlebnis auf 81 den werdenden Menschen, wohl bewußt.“ 5. In Lawrence Scaffs wunderbarer Studie „Max Weber in America“ ist die gemeinsame Reise in die USA für die Seite Max und Marianne Webers nun in 82 einer Prägnanz erkundet, die höchsten Respekt verdient; für Troeltschs Reise, die sich von der der Freundin und des Freundes ja schon dadurch unterschied, 81 Kondolenzbrief Ernst Troeltschs an Marianne Weber vom 18. Juni 1920, Deponat. 82 Lawrence A. Scaff: Max Weber in America, Princeton, NJ 2011.

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daß er wegen des Todes seiner am 1. September 1904 verstorbenen Schwiegermutter Anna Caroline Friederike Fick früher als geplant nach Deutschland zurückkehrte, fehlen, trotz langwieriger Recherchen, leider vergleichbar dichte Quellen. Dies hat auch damit zu tun, daß in der amtlichen Überlieferung weder Troeltsch noch Weber überhaupt erwähnt werden. Lawrence Scaff hat – dies 83 ist kein Vorwurf! – die deutschen staatlichen Quellen nicht ausgewertet. Sie lassen erkennen, daß die Reichsregierung eine demonstrativ starke Präsenz deutscher Wissenschaft beim Congress wollte, auch förderte, und man sich nicht nur gegenüber den amerikanischen Gastgebern, sondern auch gegen die europäischen Konkurrenten, die Briten und vor allem die Franzosen, als die führende Wissenschaftsmacht der Welt in Szene setzen wollte. Dabei spielten, jedenfalls in den offiziellen Berichten, die beiden Heidelberger so gut wie keine Rolle. Beispielsweise schreibt der Kaiserliche Konsul in St. Louis Friedrich Carl Rieloff am 29. September ans Auswärtige Amt: „Weit bedeutsamer war der vom 19. bis 25. d. M. hier tagende ‚Congress of Arts & Science‘, der eine geradezu glänzende Corona von Männern der Wissenschaft aus aller Herren Länder zusammengeführt hat. Deutschland war durch 32 Gelehrte vertreten, unter denen die Professoren Waldeyer, Pfleiderer, Harnack, Ad. Furtwängler, Oscar Hertwig, 84 Joh. Orth, Oscar Liebreich hervorzuheben sind“. Weber und Troeltsch werden in seinen und anderen amtlichen Berichten nirgends erwähnt. Beim ganz großen „Amerika-Abend“ des von Adolf Deißmann geleiteten 85 Heidelberger „Nationalsozialen Vereins“ traten Marianne Weber und Ernst Troeltsch am 20. Januar 1905 gemeinsam auf – nur fünf Tage nach Max Webers Teilnahme an der Eranos-Sitzung bei Troeltsch, die laut Marianne zu einer starken Erkältung führte. Marianne Weber sprach darüber „Was Amerika den Frauen 86 bietet. Reiseeindrücke“, und dann berichtete Troeltsch über seine Sicht der

83 Siehe meine Rezension seiner Studie in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 161, 14. Juni 2011, S. 34. 84 Bundesarchiv Berlin, R 901/512. 85 Bärbel Meurer: Marianne Weber (wie Anm. 78), S. 193, behauptet: „Es sprachen Ernst Troeltsch und dessen Frau Marta.“ Marta Troeltsch war jedoch nicht mit in die USA gereist. Der Fehler erklärt sich durch Marianne Weber: Lebensbild (wie Anm. 16), S. 358: „Als die Heidelberger National-Sozialen [. . .] einen ‚Amerikaabend‘ veranstalten, auf dem neben Ernst Troeltsch auch seine Frau berichtet, läßt er sich mitlocken und improvisiert dann in der Diskussion länger als die Hauptredner zusammen.“ Mit „auch seine Frau“ meint Marianne sich selbst. 86 Siehe auch: Marianne Weber: Was Amerika den Frauen bietet, in: Centralblatt des Bundes deutscher Frauenvereine, 6. Jg., 1. März 1905, S. 170–172, S. 177–179 und S. 186–188. Zum Kontext siehe: Guenther Roth: Transatlantic Connections: A Cosmopolitan Context for Max and Marianne Weber’s New York Visit 1904, in: Max Weber Studies 5.1 (2005), S. 81–112, bes. S. 98 f.

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USA – vor wohl 600 Hörern . Im Schlußteil eines am 20. Januar begonnenen Briefes, wohl am 21. oder 22. Januar, schrieb Marianne: „Der Abend ist also vorbei u. war ein wahrer Glanz! Ich bin noch ganz voll Begeisterung. Als riesiger Knalleffekt kam zum Schluß unser ‚Großer‘ u. redete, redete, trotz Katarrh bis er kaum noch eine Stimme hatte – bis 1/2 12 Uhr, über eine Stunde! Glänzend sage ich Dir! Der verflixte Kerl. Ich bin froh, daß ich ihn hingeschleift habe“. Als Postscriptum teilte Marianne mit: „Ich kriegte dann von Deißmann einen 88 Nelkenstrauß!“ Blickt man auf das Werk, haben die USA-Erfahrungen für Weber eine ungleich wichtigere Rolle als für Troeltsch gespielt. Einerseits: Ernst Troeltsch kann, ganz anders als Max Weber, mit seinem Vortrag aus St. Louis in Deutschland bald Geld verdienen, indem er den programmatisch gemeinten Text, in überarbeiteter und erweiterter Fassung, erstaunlich schnell, schon einen Tag (oder zwei Tage) nach der Rückkehr nach Heidelberg, am 24. Oktober 1904, Paul Siebeck anbietet 89 – höchst erfolgreich. Andererseits: Die USA-Reise hat Troeltsch zwar begeistert und höchst fröhlich gestimmt. So schreibt Edgar Jaffé am 25. Oktober an Else Jaffé über den Abschiedsbesuch des Mathematikers Georg Landsberg, der einem Ruf nach Breslau gefolgt war: „Wie er mir sagt, ist Troeltsch soeben von Amerika zurück und sehr vergnügt“. Und zwei Tage später heißt es auf einer Postkarte an Else: „Troeltsch ist ganz erfuellt von St. Louis, es muss sehr interessant gewesen 90 sein.“ Doch ist die große Reise dann bei Troeltsch, jedenfalls nach den bisher erschlossenen Briefen, relativ schnell vergessen. Nur vereinzelt nimmt Troeltsch in Vorträgen, Aufsätzen und Büchern auf die Reise Bezug. Sieht man von einzelnen Kontakten zu Theologen und Philosophen in Harvard und deren Bitte, für „The Harvard Theological Review“ eine Art Nachruf auf William James zu

87 Am 20. Januar 1905 schrieb Marianne Weber an Helene Weber zum „nationalsozialen Amerikaabend“: „Es wird nämlich eine Massenveranstaltung. Jeder will hingehen u. der nur 600 Leute fassende Saal wird sicher polizeilich gesperrt werden müssen. Max ist noch sehr verschnupft, aber vielleicht riskieren wir’s dies eine Mal doch, ihn in eine politische Versammlung zu schleppen.“ (Deponat) 88 Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 20. Januar 1905, Deponat. 89 Dazu siehe die Briefe Troeltschs an Paul Siebeck vom 24. Oktober und 3. November 1904 und dessen Briefe an Troeltsch vom 25. und 29. Oktober; der Vertragsabschluß erfolgte schon am 9. November, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachl. 488 (Verlagsarchiv Mohr Siebeck), A 191. Die Briefe demnächst in KGA 19. 90 Für den Hinweis auf diese Briefstellen danke ich meinem Freund Guenther Roth, New York, der 2007 bei einem Enkel von Edgar und Else Jaffé an die tausend Briefe Edgars sowie der nach 1933 in die USA emigrierten Söhne Friedel und Hans Jaffé an die Ehefrau bzw. Mutter fand; diese Briefe werden nun, von Guenther Roth transkribiert, erschlossen und kommentiert, im Leo Baeck Institut in New York verwahrt.

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schreiben, ab, interessieren ihn die USA nur wenig – obwohl er einige begei92 sterte nordamerikanische Hörer hat, vergleichsweise früh schon ins Englische übersetzt wird und man ihn in den USA seit ca. 1910 intensiver wahrnimmt. Der Einladung, 1907 beim „World Congress“ des „Council of Unitarian and other liberal Religious Thinkers“ in Boston zu sprechen, folgt er nicht – wofür Max Weber kein Verständnis gehabt haben dürfte. Desto mehr verdient Beachtung, daß man im Auswärtigen Amt 1919 ernsthaft erwägt, Troeltsch zum Botschafter des Deutschen Reichs in den USA zu machen. Der Reichsminister für Finanzen (seit 19. April 1919) und dann vom 3. Oktober 1919 bis 26. März 1920 Reichsminister der Justiz und Vizekanzler Eugen Schiffer, ein DDP-Politiker, hält in einer tagebuchartigen Notiz 1919 oder 1920 fest: „Auch gegen die Absicht, Lujo Brentano nach Washington zu schicken, habe ich Bedenken. Denn ich schätze ihn zwar als Gelehrten und Mensch überaus hoch, glaube aber nicht, dass er als alter Vorkämpfer für die Gewerkschaften in dem hochkapitalistischen Amerika am Platze wäre. Eher kann ich mich für Troeltsch erwärmen, führe mit ihm ein einleitendes Gespräch und finde ihn nicht unbedingt abgeneigt; auf meine Mitteilung erklärt Rathenau, dass er zu ihm in besonders freundschaftlicher Beziehung stehe und deshalb die Verhandlungen selbst weiterführen möchte. Zu 93 einem Ergebnis haben sie anscheinend nicht geführt.“ Doch wollte Troeltsch 94 1923 nicht nur zu Gastvorlesungen nach England und Schottland reisen, sondern erklärte aus den USA kommenden Kollegen und Studenten, bald einer Ende 1922 an ihn ergangenen Einladung zu einer großen Vortragsreise in die USA Folge zu leisten. 6. In den literarischen Fehden um die „Protestantische Ethik“ sind Konkurrenzeifersüchteleien vor allem bei Weber unübersehbar. In der Fakultät trotz der Wünsche des Ministeriums entrechtet, muß er nun auch erleben – oder erleiden? –, daß im Streit um seinen Doppelaufsatz bzw. seine These der Theologenfreund mindestens ebenso stark öffentliche Beachtung findet wie er selbst – wenn nicht gar mehr. „Schon die Zurückweisung der Behandlung als ‚eine gemeinsame wissenschaftliche Firma‘ (Troeltsch), die beide eingangs nötig finden, 91 Ernst Troeltsch: Empiricism and Platonism in the Philosophy of Religion. To the Memory of William James, in: The Harvard Theological Review 5, Number 4 (October 1912), S. 401–422, überarbeitete deutsche Fassung in: GS II, S. 364–385. 92 Lucius Hopkins Miller: The Teaching of Ernst Troeltsch of Heidelberg, in: Harvard Theological Review 6 (1913), S. 426–450; dazu kritisch: John Edwards LeBosquet: A Correction, in: Harvard Theological Review 7 (1914), S. 104–106. Miller hatte bei Ernst Troeltsch 1912 „Religionsphilosophie“ gehört. 93 Bundesarchiv Koblenz, N 1191, Nachlaß Eugen Schiffer. 94 Zu den Einzelheiten siehe die Einleitung und den Editorischen Bericht zu KGA 17, S. 1–32 und S. 33–65.

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fällt bei Weber etwas schrill aus und hat bei ihm einen Beiklang von Behaupten einer Priorität: Es mag schon sein, dass Troeltsch von Webers Aufsätzen ‚angeregt‘ wurde, ein Einfluss in der anderen Richtung kann aber gar nicht sein, Weber war früher da. Ansonsten betonen beide, dass sie – an sich überschneidendem oder ergänzendem Material – völlig verschiedene Fragestellungen untersucht 95 hätten.“ Bekanntlich erregte Weber sich darüber, daß nach dem Erscheinen von Felix Rachfahls Kritik in der entscheidend von Friedrich Althoff beeinflußten „Internationalen Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik“ nicht er, sondern Troeltsch um eine kritische Antwort gebeten wurde. Aber es war, wie Paul Honigsheim in seinen „Erinnerungen“ an Weber mitteilt, gerade Troeltsch, der Weber drängte, auf die Kritik Felix Rachfahls, laut Honigsheim „auf Veran96 lassung von Max Lenz abgefaßt“, zu reagieren. „Gerade nachdem diese Kritik herausgekommen war, waren Troeltsch und ich mit Weber in dessen Wohnung zusammen. Letzterer wollte ursprünglich gar nicht antworten, und zwar aus den Gründen, die er in seiner Replik denn auch angegeben hat. Er empfand es als Unhöflichkeit von seiten der Redaktion, nicht ihn, den Hauptschuldigen, sondern Troeltsch, den nur nebenher Angegriffenen zur Verteidigung in Gestalt einer Entgegnung aufgefordert zu haben. Troeltsch aber insistierte: ‚Sie müssen antworten.‘ Weber erwiderte zögernd: ‚Ich könnte höchstens einige charakteristische englische Autoren aus jener Zeit zitieren, – einen, auf den mich Hermann Levy aufmerksam gemacht hat‘ [. . .] ‚und dann den Leser vor die Alternative stellen, ob er lieber diesen englischen asketischen Protestanten glauben will oder Rachfahl.‘ – ‚Das können Sie tun, wie Sie wollen‘, erwiderte Troeltsch, ‚jedenfalls aber müssen Sie antworten.‘ Und so hat es Weber denn auch getan, und 97 zwar im ‚Archiv‘ und mir dann auch gleich einen Sonderdruck geschenkt.“ 7. Wer die „Fachmenschenfreundschaft“ zwischen Max Weber und Ernst Troeltsch nachzuzeichnen versucht, darf von Marianne Weber nicht schweigen. Durch diverse Studien, allen voran nun die – leider äußerst fehlerreiche – Bio98 graphie von Bärbel Meurer, ist Marianne Weber in den letzten zwanzig Jahren 99 endlich aus dem Schatten ihres Mannes getreten . Dabei wurde zugleich ihre 95 Heinz Steinert: Max Webers unwiderlegbare Fehlkonstruktion. Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Frankfurt a. M., New York 2010, S. 219–234, hier S. 227. 96 Paul Honigsheim: Max Weber in Heidelberg, in: Max Weber zum Gedächtnis. Materialien und Dokumente zur Bewertung von Werk und Persönlichkeit, hrsg. von René König und Johannes Winckelmann, Köln, Opladen 1963, S. 161–271, hier S. 264, vgl. auch S. 210. 97 Ebd., S. 264 f. 98 Bärbel Meurer: Marianne Weber (wie Anm. 78). Dazu meine ausführliche kritische Besprechung in: METG 22 (2011), S. 148–163. 99 Grundlegend: Guenther Roth: Marianne Weber und ihr Kreis. Einleitung, in: Marianne Weber:

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zumindest bis zur Heirat Troeltschs enge Beziehung zum Freund sichtbar. Auch wenn Max und vor allem sie selbst seine konservativen, man mag auch, wie 100 Marianne Weber, sagen: „reaktionären“ Ansichten zur „Frauenfrage“ ablehnten, schätzte sie den Freund doch sehr. Allerdings sollte man sich die kritische Sicht Mariannes und erst recht Max Webers Empörung über Troeltschs patriarchalisches „Philistertum“ nicht unmittelbar zu eigen machen. Im Frühjahr 1899 plädierten Adolf Hausrath und Troeltsch gegenüber widerstrebenden Fa101 kultätskollegen für die Zulassung von Frauen zu den Vorlesungen. Mit großem Engagement unterstützte Ernst Troeltsch zudem Mariannes Aktivitäten im Verein „Frauenbildung-Frauenstudium“. Im Juli 1898 sagte er ihr sechs Vorträge 102 über „Prinzipienfragen der Ethik“ zu. „Troeltschs Zuhörerinnen erklärten ihm, es sei doch eine Ehre für die Theologie, bei einer solchen Unternehmung da103 bei zu sein.“ Marianne war begeistert: „mir waren nur allwöchentlich die Tröltsch-Vorträge ein inneres Erlebniß – er gab sein Bestes und er hat viel zu geben – ich wünschte, Du hättest sie hören können. Du würdest sehr viel davon gehabt haben. Die andern Frauen sind auch alle sehr dankbar – er hat alle 104 gepackt – der Stoff u. seine Probleme liegen ja auch jedem Menschen nahe.“ Auch später hat Troeltsch Mariannes Frauenbildungsaktivitäten mehrfach noch unterstützt: Im Januar 1901 hielt er eine Vortragsreihe „Über die Entstehung des Christentums und die ersten Anfänge der christlichen Kirche“, im Wintersemester 1902/1903 erneut einen Zyklus zum „Urchristentum“. Kein anderer Ordinarius der Heidelberger Universität hat sich damals vergleichbar intensiv für den Verein „Frauenbildung-Frauenstudium“ engagiert. Max Weber. Ein Lebensbild, mit einer Einleitung von Guenther Roth, München, Zürich 1989, S. IX– LXXII. Weitere wichtige Beiträge in: Bärbel Meurer (Hrsg.): Marianne Weber. Beiträge zu Werk und Person, Tübingen 2004. Als ausgezeichnete Einführung: Theresa Wobbe: Marianne Weber (1870–1954). Ein anderes Labor der Moderne, in: Claudia Honegger, Theresa Wobbe (Hrsg.): Frauen in der Soziologie. Neun Portraits, München 1998, S. 153–177 und S. 305–311; Christa Krüger: Max und Marianne Weber. Tag- und Nachtansichten einer Ehe, Zürich 2001. 100 Zit. nach: Bärbel Meurer: Marianne Weber (wie Anm. 78), S. 117. 101 Vgl. Ernst Troeltsch an die Kollegen der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg, 26. April 1899, Brief (Zirkular), Universitätsarchiv Heidelberg, Theol. Fak. 57, Bl. 224; und Ernst Troeltsch an die Kollegen der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg, 3. Mai 1899, Brief (Zirkular), Universitätsarchiv Heidelberg, Theol. Fak. 57, Bl. 226 f. Die Rede von einer „Kampfabstimmung“ (Bärbel Meurer: Marianne Weber [wie Anm. 78], S. 212) ist übertrieben. 102 Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 17. Juli 1898, Deponat: „zu meiner großen Freude hat mir Tröltsch 6 Vorträge über Prinzipienfragen der Ethik versprochen“. Troeltsch erwähnte seine Marianne Weber gegebene Zusage bereits in einem am 5. August 1898 an Wilhelm Bousset geschriebenen Brief, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. W. Bousset 130, 41, demnächst in KGA 19. 103 Bärbel Meurer: Marianne Weber (wie Anm. 78), S. 115 f. 104 Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 22. Dezember 1898, Deponat.

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Die gescheiterte Verbindung Troeltschs mit Marie Bassermann und Max’ Krankheit trugen dazu bei, daß Marianne Weber und Ernst Troeltsch eine durchaus enge freundschaftliche Beziehung entwickelten. Joachim Radkau hat in seiner fehlerreichen Psycho-Biographie Max Webers ein Bild ihrer Beziehung gezeichnet, das der Quellenlage nicht gerecht wird. „Besonders Marianne hatte in menschlicher Hinsicht weder von Troeltsch noch von Sombart eine hohe Mei105 nung.“ Troeltsch habe sie „vermutlich [. . .] an den verhaßten Adolf Hausrath“ erinnert. Auch habe Marianne Weber „feixend verfolgt“, wie Troeltsch, den sie ganz wie Max „für sexuell impotent hält“, „schließlich an die liebeshungrige Hauptmannstochter Marta Fick gerät, diese 1901 ehelicht und durch sein erotisches Desinteresse zur hemmungslosen Hysterikerin macht, die ihren Gatten in Gesellschaft herunterputzt, während der darauf mit einem ‚moralischen Eiertanz‘ 106 reagiert“. Daß Troeltsch Marianne an Adolf Hausrath erinnert habe, ist blanke Projektion; dafür gibt es in den Quellen, insbesondere in den Briefen Mariannes an Helene Weber, keinen Beleg – auch wenn Marianne Weber weiß, daß „der Onkel“ den 28 Jahre jüngeren Troeltsch nicht zuletzt wegen seines Humors sehr geschätzt hat: „Tröltsch – nach dem Du Dich öfters erkundigt hast – ist wieder kerngesund u. recht zufrieden. In Gesellschaften vollführt er kolossalen Radau – wenigstens neulich bei Hausraths, aber er darf sich alles herausnehmen, ihn mit Onkel Adolf umspringen zu sehen, ist wirklich vergnüglich – u. Onkel A[dolf] liebt ihn zärtlich – der hat es überhaupt gern, wenn man etwas naseweis zu 107 ihm ist.“ Nun dürfte die Ehe der Troeltschs wenig glücklich gewesen sein. Aber mit der Frage der Freundschaft von Marianne Weber und Ernst Troeltsch hat dies zunächst nichts zu tun. Durch Troeltschs gescheiterte Verlobung mit der elf Jahre jüngeren Marie Bassermann und seine Hilflosigkeit bei der Suche nach einer passenden Frau sowie Max’ Krankheit kamen sich die beiden näher. Zur Intensivierung der Freundschaft trug bei, daß sich Marianne und Ernst offen über die hier wie dort bestehenden Probleme austauschten. Seit Ausbruch der Krankheit kam Troeltsch fast jeden Tag zu Besuch, um wenigstens für ein 108 „1/4 Stündchen“ mit dem Freund zu sprechen. In der zweiten August-Woche 1898 berichtete „Jänne“ ihrer „Liebste[n] Mutter“: „Während R[ickert]s hier waren, ging es bei uns zu wie in einem Taubenschlag. Hensels waren oft da, dann hatten wir auch Troeltsch, den guten treuen Freund zum Abendessen u. auch wir 109 waren öfter bei Hensels.“ Mitte Oktober heißt es: „Liebste Mutter, als ich um

105 106 107 108 109

Joachim Radkau: Max Weber (wie Anm. 57), S. 342. Ebd., S. 96. Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 22. Dezember 1899, Deponat. Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 9. Februar 1899, Deponat. Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 9. August 1898, Deponat.

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5 Uhr von Kuno Fischer zurück kam, stellte sich erst Tröltsch u. dann Hensels 110 zu einem ausgedehnten Plauderstündchen ein – Max hat |:bis 8 Uhr:| Seminar u. war nicht dabei – und nun ist auf einmal mein ganz langer Nachmittag in nichts zerflossen [. . .]. Es ist mir doch immer etwas peinlich, daß wir jetzt nicht noch gastlicher gegen unsre Freunde sein können – d. h. sie auch zum Mittag oder Abendessen mal bitten können – sie sind so rührend mit ihren Besuchen – aber das ist vorläufig leider nicht möglich. Der Sonnabendnachmittag mit seiner problematischen Verköstigung soll nun aber richtig in Erscheinung treten – Tröltsch hat sich zwar nur halbwegs mit den in Aussicht gestellten Butterbroten 111 ausgesöhnt, mit Herrn Penners Hülfe, was Aufschnitt etc. anbetrifft, werde ich 112 ihm die Sache jedoch schon interessant zu machen verstehen.“ Vier Wochen später kann sie von der erfolgreichen Sättigung Troeltschs berichten: „Der erste Sonnabendnachmittag war sehr behaglich, die Butterbrote u. Birnen fanden 113 bei Tröltsch nun doch großen Anklang, es ist nichts übrig geblieben“. Als im Sommer und Herbst 1900 Max in Urach im Sanatorium um Wiedergenesung kämpfte, besuchte Troeltsch immer wieder – Bärbel Meurer spricht von „fast täg114 lich“, ohne eine Quelle zu nennen – Marianne, um sie zu trösten, nach Max’ Zustand zu fragen – und wohl auch mit Blick auf seine verzweifelte Suche nach einer Frau. Nach Mariannes Abreise aus Heidelberg traf er sie auf der Rückreise 115 aus Augsburg in Metzingen. Schon als Max im Sommer 1898 in Konstanz zur Kur gewesen war, hatte sie über Troeltsch geschrieben: „Er läßt Dich natürlich sehr grüßen – man merkt, daß er Dich sehr lieb hat, der gute Kerl, wir haben 116 gestern abend nur so behaglich geplaudert“. Noch in seinem Beileidsbrief zum Tod von Max schreibt Troeltsch der Freundin: „Ich will gar nicht versuchen, von irgend welchem Trost zu sprechen. Ich will Ihnen nur wärmste, immer gleiche Freundschaft aussprechen. Sie wissen ja, was Sie mir in schwersten Schicksalsnöten gewesen sind. Ich kann nicht hoffen, Ihnen auch nur entfernt ähnliche Seelendienste zu leisten, aber ich kann hoffen, daß der Ausdruck der Treue und

110 Das Zeichen |: :| bezeichnet Einschübe in den handschriftlichen Brieftexten. 111 Im „Adreßbuch der Stadt Heidelberg“, Ausgabe 1898, werden die Kaufleute Karl und Wilhelm Penner als Inhaber des „Kolonialwaren-, Delikatessen-, Geflügel-, Fischhandlg. und Versandgeschäfts“ „Gebr. Penner“ in der Hauptstraße 58 geführt, mit Hinweis auf den Telefonanschluß (1898!) Rufnummer 60. 112 Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 10. Oktober 1898, Deponat. 113 Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 17. November 1898, Deponat. 114 Bärbel Meurer: Marianne Weber (wie Anm. 78), S. 119. 115 Brief Ernst Troeltschs an Paul Siebeck vom 1. November 1900, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachl. 488 (Verlagsarchiv Mohr Siebeck), A 140, demnächst in KGA 19. 116 Brief Marianne Webers an Max Weber, ohne Datum, wohl 31. Juli 1898, Deponat.

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Hingebung Ihnen wenigstens einen Hauch von Gemeinschaft in diesen Stunden 117 der ersten Verlassenheit zuträgt.“ Allerdings ist nun auch von einem Konflikt zwischen Troeltsch und den Webers zu berichten, der ihre Beziehung zumindest eine Zeit lang belastet hat. Bisher haben sich keinerlei Quellen zu Mariannes und Max Webers Wahrnehmung von Troeltschs gescheiterter Verlobung mit Marie Bassermann, der einzigen Tochter des Praktischen Theologen Heinrich Bassermann, finden lassen; die Verlobung im April 1897 wurde von Marie Bassermann schon nach drei Monaten wieder gelöst, wohl unter dem Einfluß ihrer dominanten Mutter. Troeltsch war verzweifelt und fühlte sich sehr einsam. Ende Februar 1900 berichtet Marianne Helene Weber von einer „Tröltschsache“: „Die Tröltschsache ist noch nicht erledigt u. sie |:nimmt:| uns beiden die Gedanken sehr in Anspruch. Wenn nur Max bald wieder so weit wäre, daß er mit T. darüber sprechen könnte. Er versteht es so viel besser als ich.“ Dann erläutert Marianne Weber ihrer Schwiegermutter, was sie mit der „Tröltschsache“ genau meint: „Ich will Dir mal die ganze Geschichte von vorn erzählen: Gestern vor 14 Tagen war T. bei uns u. am Schluß einer längeren Plauderei in der er zu meinem Erstaunen wieder allerlei reaktionäre Ansichten über die Frauenbewegung geäußert hatte, sagt er so ganz nebenbei – die kleine Bülow gefiele ihm u. ob er wohl auf Bälle gehen sollte um sie noch näher kennen zu lernen, oder ob wir meinten das ginge nicht – wir fanden beide, daß das nach dem vorherigen Verlöbniß unmöglich wäre. Die kleine Bülow ist höchstens 21 Jahre alt, ein hübsches u. liebes Blümchen, aber vorläufig noch gar nichts weiter u. es ist uns doch erstaunlich, daß Tröltsch so naiv die Verantwortung auf sich nehmen will ein so junges unfertiges Ding zu seiner Frau zu machen. Dabei ist er keinesfalls leidenschaftlich verliebt – er will aber heiraten, weil er das Alleinsein satt hat u. möchte sich nun die Sache wohl so bequem wie möglich machen u. sich |:über:| den Ernst eines solchen Schrittes hinwegtäuschen.“ Mit der „kleine[n] Bülow“ war die Tochter des Juristen Oskar von Bülow gemeint. Deutlich ist, daß Marianne dem Freund ihr Konzept der entscheidend durch Geistigkeit auch der Frau bestimmten Ehe nahezubringen suchte. Sie fährt jedenfalls fort: „Als er mir diese Mitteilung machte, konnte ich zunächst garnichts sagen vor innerer Verwunderung, gab ihm dann aber 2 Bücher von Helene Böhlau: den Rangierbahnhof und ‚Halbtier‘, die ich ihm schon längst versprochen hatte, mit. – Entsinnst Du Dich, Du fingst mal an den Rangierbahnhof zu lesen, das Buch ergriff Dich dann aber so – wegen der inneren Einsamkeit der kleinen Frau – daß Du es nicht weiter lesen konntest. Es ist ein entzückendes u. feines Buch. Vor 8 Tagen begegne ich Tröltsch auf

117 Brief Ernst Troeltschs an Marianne Weber vom 18. Juni 1920, Deponat.

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der Straße – er hat das Buch gelesen u. ist ganz außer sich darüber – dieses Weib – die Helene Böhlau – wäre voll giftigen Männerhasses – sie wollte eine Gleichberechtigung von Mann u. Frau die nun mal nicht ginge – diese Weiber die sich gegen den Mann auflehnten u. ihn doch brauchten wären greulich, u. die ganze Geschichte wäre ekelhaft, er würde dadurch nur reaktionär. Ich war überhaupt aus allen Wolken gefallen u. erwiderte ihm sehr scharf, daß einfach sein männliches Bequemlichkeitsbedürfnis sich geärgert fühle, u. daß er wenn er so bliebe niemals Verständnis für eine vollentwickelte Frauenseele haben würde etc. etc. Wir hatten aber nur sehr kurze Zeit.“ Natürlich berichtet Marianne Max über diese Begegnung. „Auf Maxens Wunsch schickte ich ihm dann noch ein andres Buch von H. Böhlau ‚verspielte Leute‘ wo nun grade die Frau die untergeordnete Persönlichkeit ist – eine Gans – an der der Mann zu grunde geht – mit einigen Zeilen: Max ließe ihm sagen, er wäre doch ein noch größerer Philister geblieben als Max geglaubt hätte. Seitdem hat er sich nun garnicht bei uns sehen lassen – es ist ihm natürlich in seinem jetzigen Zustand äußerst unbequem, daß er die Probleme der Ehe sehen soll etc. außerdem wird er wohl wütend sein |:u. schämt sich auch vor mir:|; ich bin nun neugierig wann er wiederkommt – eine gründliche Diskussion über das Thema kann ihm nicht erspart bleiben, dazu haben wir ihn zu lieb – u. ich werde es vermeiden ihm am dritten Ort zu begegnen, ehe er hier gewesen ist. Mir hat die ganze Angelegenheit wieder gezeigt, wie wichtig unsre Arbeit in der Frauenbewegung ist, wie unsäglich viel noch zu kämpfen u. zu arbeiten ist an den Menschenherzen!“ Mehr noch: Marianne Weber unterstellt Troeltsch auch, den Freund Paul Hensel zugunsten eines falschen Männlichkeitsstolzes bzw. Patriarchalismus zu indoktrinieren. Nur wenige Sätze nach den kritischen Worten über Troeltsch schreibt sie: „Hensel ist z. B. auch noch so – er ärgert sich entsetzlich wenn man irgend etwas auf den männlichen Egoismus u. das Bequemlichkeitsbedürfnis u. die Intoleranz sagt. Es ist möglich, daß Tröltsch über die Sache mit ihm gesprochen hat, gestern nämlich fing Hensel plötzlich auch davon an – ich hätte zu ihm von männlichem Egoismus gesprochen – das wäre alles verkehrt – wer in der Ehe der hülfsbedürftige Teil wäre, dem müsse sich der andre Teil opfern u. der 118 Mann opfere sich nach seiner Erfahrung eben so oft wie die Frau etc.“ Zugleich kritisiert Marianne Weber befreundete Frauen, allen voran die mit Troeltsch sehr eng verbundene Marie Kaiser, daß sie das Ideal der Gleichberechtigung zu wenig unterstützten. Ihre Enttäuschung über Troeltsch ist Ende Februar 1900 groß. Aber als Troeltsch drei Tage später zu ihr kommt, bessert sich die Stimmung schnell. Schon am 8. März kann sie nach Berlin berichten:

118 Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 23. Februar 1900, Deponat.

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„Am Sonntag vor 8 Tagen [. . .] kam unser Tröltschchen um sich seine Lex zu holen, er war so aufgeregt u. hatte so das Bedürfnis, daß wir ihm blos wieder gut sein möchten, daß er alle möglichen Konzessionen machte – von Helene Böhlau will er freilich nach wie vor nichts wissen, aber sonst hielt er die längsten Reden wie er sich die Ehe dächte u. daß er gar keine unselbständige Frau wolle etc etc. Er ist doch ein sehr weicher Mensch, ich hätte ihn beinah – innerlich – auf den Schooß genommen u. gestreichelt! Max war leider im Bett, kam nur für einen Moment.“ „Wir besprachen dann die ganze projektierte Verlobung, die übrigens noch sehr in der Luft liegt – jedenfalls ist er sich der Verantwortung klar, er sagte, ja wenn er warten solle bis ihn eine so starke Neigung zu einem Mädchen zöge, daß er fühle: diese oder keine – dann dürfe er überhaupt nicht heiraten – er habe sich ja auch schon oft gefragt ob er wohl überhaupt heiraten dürfe u. habe große Angst daß der Frau an seiner Seite immer etwas fehlen werde – ich sagte ihm dann, es schade garnichts wenn er keine Leidenschaft empfinde, das komme dann schon, nur müsse er um so mehr auf gemeinsame geistige Interessen bedacht sein – es war rührend wie offen er über alle möglichen Stimmungen, seine Konstitution etc. sprach. Kurz böse konnte man ihm nicht mehr sein, u. ich glaube doch etwas nachhaltigen Eindruck hat ihm die Sache doch gemacht. Hoffentlich hält es vor. Er sehnt sich offenbar sehr aus der Einsamkeit – u. ich habe nicht mehr den Mut, ihm die Ehe noch schwieriger zu machen. Die kleine Bülow soll übrigens schon 24 Jahre alt sein, er meint sie liebte ihn u. er habe früher schon zwischen ihr u. der andern geschwankt. Jedenfalls übereilt er sich 119 jetzt nicht.“ Im Mai 1903, also zweieinhalb Jahre nach der Verlobung Troeltschs mit Marta Fick, empfindet Marianne für den Freund dann einfach nur noch Mitleid: „Tröltsch war sehr reizend in dieser Zeit. Wir hatten eine lange Aussprache mit ihm über die – Frauenfrage – seine ablehnende Haltung empfand ich immer als einen Mangel u. als einen Rest von Unkultur an ihm u. außerdem als große Unklugheit betreffs seiner eignen Frau, die ihm das Leben ganz gewiß weniger schwer machen würde, wenn sie sich geistigen o. sonstigen sachlichen Interessen hingäbe. Die Art wie er dann über sich selbst sprach war geradezu rührend – er leidet doch immer noch furchtbar unter ihrem gänzlich ungebändigten Temperament, das arme Geschöpf hat offenbar weder ein moralisches

119 Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 8. März 1900, Deponat; vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Polymorphes Gedächtnis. Zur Einführung in die Troeltsch-Nekrologie, in: TS 12, S. 21–173, hier S. 120. Am 17. März kommt Marianne gegenüber Helene noch einmal auf den „Rangierbahnhof“ zu sprechen: „der thats mir wieder so ganz an. Unfasslich, daß Tröltsch da nicht mit kann, es ist eben doch so, daß da wo für uns eigentlich erst die Probleme u. auch die Poesie des Lebens anfängt, er seine Grenze hat, u. er weist alles ab, was dahinter liegt!“ (Deponat).

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noch ein intellectuelles Gegengewicht, um den Verzicht, den das Schicksal von ihr fordert, ertragen zu können. Und wie reich könnte ihr Leben trotz allem mit einem zugleich so anschlußbedürftigen u. hochbegabten u. kraftvollen Manne 120 wie Tröltsch es ist, sein!“ Auch als Max im September 1903 nach Hamburg reist, um an einer Tagung des „Vereins für Socialpolitik“ teilzunehmen, besucht 121 Ernst Troeltsch Marianne. Als Max sich 1903 in Scheveningen aufhält, folgt Marianne einer Einladung zum Abendessen bei Else und Edgar Jaffé – wo sie Marta und Ernst Troeltsch, 122 Camilla und Georg Jellinek sowie das Ehepaar Rathgen trifft. Ob es zu einer von ihr geplanten Gegeneinladung kam, zu der sie auch Bogdan Kistjakowski einladen wollte, ist unklar. Doch deutlich ist, was Marianne Weber an Ernst 123 Troeltsch schätzte: seine „Einheitlichkeit“. 8. Marianne hat im „Lebensbild“ die politischen Differenzen hervorgehoben, die zwischen Troeltsch und Weber bald nach der Ankunft der Webers in Heidelberg deutlich wurden: „Neue bedeutende Freunde finden sich herzu: Georg Jellinek, Paul Hensel, Carl Neumann und vor allem der gleichaltrige Theologe Ernst Troeltsch, der sich dem Ehepaar in naher Freundschaft anschließt. Freiheit und Weite des Geistes, quellende Lebendigkeit, plastisch-anschauliches Denken, breiter Humor und unmittelbare Gefühlswärme machen ihn zu einem Gefährten, mit dem wissenschaftlicher und seelischer Austausch ergötzlich und fruchtbar wird. Allerdings sind die Männer in manchem – vor allem politisch – verschieden orientiert. Troeltsch gehört in seinen damaligen Anschauungen noch zur älteren ‚nationalliberalen‘ Generation; seinen stark bürgerlichen Instinkten waren die sozialen und demokratischen Ideale fremd. Er glaubt an so manches nicht, was die Webers erstreben: weder an die geistige und politische Entwicklung der Arbeiterklassen noch an die geistige Entwicklung des weiblichen Geschlechts. Auch die Temperamente sind verschieden: Für Troeltsch ist es genug, daß er innerhalb der Theologie für geistige Freiheit und Duldsamkeit kämpfen muß – im übrigen ist er kein Kämpfer, sondern auf Konzilianz, Ausgleich und Sich-Fügen 124 in menschliche Schwachheiten gestellt.“ Dennoch forderte Weber 1904 den 125 Freund auf, für die Liberalen in die Politik zu gehen – zunächst vergeblich. 120 Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 10. Mai 1903, Deponat. 121 Bärbel Meurer: Marianne Weber (wie Anm. 78), S. 170, spricht fälschlich vom Besuch des Evangelisch-sozialen Kongresses, der seine Jahrestagung, die 14., 1903 jedoch in Darmstadt abhielt. 122 Ebd., S. 166. 123 So in einem Brief Marianne Webers an Max Weber aus dem Sommer 1898, zit. nach: Bärbel Meurer: Marianne Weber (wie Anm. 78), S. 118. 124 Marianne Weber: Lebensbild (wie Anm. 16), S. 240 f. 125 Dazu siehe den kurzen Auszug eines Briefes von Ernst Troeltsch an Martin Rade aus dem Jahr

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Auch wollte er kritisch zum Vortrag über „Politische Ethik und Christentum“ Stellung nehmen, den Troeltsch am 25. Mai 1904 vor dem Evangelisch-sozialen Kongreß in Breslau gehalten hatte; er kritisierte Troeltschs Verknüpfung von ‚Aristokratie‘ und ‚Konservativismus‘ als begrifflich unklar. Am 29. Juli 1904 schrieb er seinem Bruder Alfred zur Amerika-Reise: „Wir fahren mit meinem Freund Tröltsch, auf dessen Rede ich übrigens, wenn ich Zeit habe, wohl noch in der 126 Christl. Welt antworten werde.“ In jene Fassung des Sektenaufsatzes, die er für Martin Rades „Die Christliche Welt“ überarbeitet hatte, fügte Weber denn auch folgende Anmerkung ein: „Hier liegen einige jener Differenzpunkte, über welche ich, wäre ich nicht durch andre Arbeiten erschöpfend in Anspruch genommen, mich gern bei dieser Gelegenheit mit dem Vortrag meines Freundes und Kollegen Troeltsch auf dem Breslauer Evangelisch-sozialen Kongreß auseinandersetzen würde. An dieser Stelle sei nur angedeutet, daß die ständige Identifizierung von ‚konservativ‘ und ‚aristokratisch‘ bei ihm (wie bei so vielen Andren) zu manchen anfechtbaren Thesen führt. Daß beide Begriffe aber durchaus nicht identisch sind, und nur in Folge der heutigen historischen Konstellation bei uns in Deutschland so oft identifiziert zu werden pflegen, ist meines Erachtens nicht bestreitbar. Eine ‚volle‘ Demokratie – nach dem üblichen Sinn dieses Wortes – ist in mehr als einem Sinne geradezu das ‚konservativste‘ Gebilde, das es gibt, und die soziale, ökonomische, politische Differenzierung stellt ihr gegenüber einen revolutionierenden Entwicklungsprozeß dar. Des Weiteren ist auch der Sprachgebrauch bezüglich der Worte ‚Aristokratie‘ und ‚Demokratie‘ meines Erachtens bei Troeltsch (und bei vielen Andren) zu undifferenziert: setzt man Aristokratie einfach = soziale Exklusivität einer Menschengruppe, dann ist zunächst zu unterscheiden, ob sich die Zugehörigkeit zu jener Gruppe an persönliche Qualitäten oder Leistungen des einzelnen anknüpft (Prädestination, ‚Bewährung‘ in religiöser, geschäftlicher, sportlicher, ‚menschlicher‘ etc. Hinsicht), oder ob durch die erblich überkommene soziale Schichtung ihm zugekommene Qualitätsmerkmale oder die ihm zugerechnete soziale Position seiner Vorfahren etc. etc., kurz ob – nicht die Qualität der Person, sondern – ihre Position die exklusive Gruppe konstituieren. An das letztere Merkmal pflegen wir zu denken, wenn wir von ‚Aristokratie‘ reden [. . .]. Will man also, wie auch Troeltsch es tut, die Stellung des Christentums zur ‚Demokratie‘ oder ‚Aristokratie‘ erörtern, so wird neben den sehr verschiedenen Bedeutungen des Wortes ‚Demokratie‘ auf dem Boden

1904, in: Walther Köhler: Ernst Troeltsch, Tübingen 1941, S. 292, demnächst in KGA 19. Diverse Troeltsch-Briefe, die Walther Köhler und auch Johannes Rathje für ihre Arbeiten noch einsehen konnten, haben sich trotz langjähriger Suche nicht mehr finden lassen. 126 Brief Max Webers an Alfred Weber vom 29. Juli 1904, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin, VI. HA, Nachlaß Max Weber, Nr. 4.

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des ihr üblicherweise entgegengesetzten Begriffs ‚Aristokratie‘ doch wohl die ‚Positions‘- und die ‚Qualitäts‘-Aristokratie scharf zu scheiden, der Begriff des 127 ‚Konservativen‘ aber zunächst sorgsam davon fernzuhalten sein.“ Es legt sich nahe, daß die Freunde darüber gesprochen haben – spätestens in den USA. Marianne Weber spricht im „Lebensbild“ davon, daß Troeltsch „in seinen damaligen Anschauungen noch zur älteren ‚nationalliberalen‘ Generation“ gehört habe. Diese Formulierung spiegelt ihr Wissen darum, daß sich Troeltsch wohl unter dem Einfluß des Freundes Max Webers politischer Position zumindest partiell annäherte. Beide verstanden sich als Freunde Friedrich Naumanns, und 1903 konnten Troeltsch und Adolf Deißmann durchsetzen, daß die Theologische Fakultät der Heidelberger Fakultät Naumann aus Anlaß des Universitätsjubiläums einen Ehrendoktor verlieh. Theodor Heuss erinnerte sich in einem Nachruf auf Troeltsch: „Von Naumann empfing auch er als junger Theologe den Anstoß, im politischen Bezirk Verpflichtung zu finden; mit Max Weber verband ihn in den fruchtbaren Jahren ihrer Heidelberger Gemeinsamkeit der gleiche radikale 128 Ernst der wissenschaftlichen Forschung.“ Hatte er das entschiedene politische Engagement seines Freundes Wilhelm Bousset für den „Nationalsozialen Verein“ zunächst sehr kritisch gesehen – Troeltsch fürchtete nicht ohne Recht, daß Bousset damit nur seine Chancen schmälere, auf einen Lehrstuhl für Neues Testament in einer Theologischen Fakultät berufen zu werden –, so begann er spätestens 1907 damit, seinerseits Friedrich Naumann in der Öffentlichkeit politisch zu unterstützen. Gemeinsam mit Max Weber führte Troeltsch im Garten der Ziegelhäuser Landstraße 17 mehrfach Gespräche mit Naumann, dem Schwager Martin Rades. Bisweilen traten die beiden Freunde in der Heidelberger Öffentlichkeit gemeinsam für lokalpolitische Forderungen wie etwa einen verbesserten 129 Heimatschutz ein. Im Krieg übernahm Troeltsch den Vorsitz des „Volksbundes für Freiheit und Vaterland“, dem auch Weber angehörte. Troeltsch beteiligte sich 130 zudem an der von Max von Baden initiierten Heidelberger Vereinigung, und

127 Max Weber: „Kirchen“ und „Sekten“ in Nordamerika (wie Anm. 38), Sp. 580 f., Anm. [o. Nr.]. 128 Theodor Heuss: Ernst Troeltsch †, in: Demokratischer Zeitungsdienst, Nr. 28, 1. Februar 1923, jetzt in: TS 12, S. 180–181, hier S. 180. 129 Dazu siehe: Aufruf zur Begründung einer Heidelberger Vereinigung für Heimatschutz (Abteilung des Ortsvereins Heidelberg der „Badischen Heimat“), in: Heidelberger Zeitung, Nr. 50, 1. März 1910, S. 1–2. Troeltsch und Weber haben ebenso wie andere Professoren, etwa Hermann Oncken, Wilhelm Erb, Eberhard Gothein und Hans von Schubert, den Aufruf für einen „harmonischen Ausgleich zwischen den Interessen der Industrie und des Verkehrs und den Kulturbedürfnissen und Schönheitswerten“ unterzeichnet. 130 MWG I/16, S. 521.

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gemeinsam traten die Freunde in der „Kundgebung deutscher Hochschullehrer“ 131 gegen den studentischen Antisemitismus und für die Weimarer Republik ein . Nach Kriegsende und Revolution engagierten sich Max und Marianne Weber bekanntlich für die linksbürgerliche DDP, der auch Troeltsch, Otto Baumgarten und die Theologen Martin Rade, Wilhelm Bousset und Rudolf Otto angehörten. Troeltschs Schüler Hermann Maas trat gemeinsam mit Marianne Weber in Heidelberg und anderen badischen Orten bei DDP-Wahlveranstaltungen auf. Bei der Beerdigung Friedrich Naumanns, der am 24. August 1919 gestorben war, hielt Troeltsch die Grabrede: „Ernst Troeltsch, der Heidelberger Theologe, gehörte mit Max Weber, dem Heidelberger Nationalökonomen, zu den ersten und – später – zu den Treuesten, die sich der Lebensarbeit Friedrich Naumanns verbanden. Ich höre die Worte noch, mit denen Ernst Troeltsch am Grabe Naumanns für uns alle bekannte: Um keinen Preis der Welt wären wir bereit, die reich machenden 132 Illusionen jener Jahre für die Vernünftigkeiten der Anderen einzutauschen.“ Auch trat Troeltsch nun in den Kreis der Herausgeber von Naumanns „Hilfe“ ein. Als Marianne Weber im Winter 1920/1921 für den Münchner Drei Masken Verlag die „Gesammelten Politischen Schriften“ ihres Mannes zur Edition vorbereitete, las sie Troeltschs „Spectator-Briefe“. Bei allen Unterschieden des Temperaments und der Politischen Ethik – spätestens mit Blick auf die katastrophale Lage Deutschlands nach Kriegsende und Revolution waren sich Ernst Troeltsch und Max Weber darin einig, daß verantwortliche Gelehrtenpolitik nun vor allem das entschiedene Eintreten für die bedrohte Republik bedeute. 9. Wer die Beziehungen zwischen Max und Marianne Weber und Ernst Troeltsch nachzuzeichnen versucht, darf seit 1901 von Marta Troeltsch nicht schweigen. Angesichts des Mangels an Quellen läßt sich allerdings nicht viel Verläßliches sagen. Es sind aus den Heidelberger Jahren keinerlei schriftliche Zeugnisse Marta Troeltschs überliefert. Nur haben sich inzwischen einige Bildquellen, unter anderem das in einem Rostocker Atelier gemachte Hochzeitsphoto, 133 auffinden lassen. Auch spielt Marta Troeltsch in den Briefen ihres Mannes seit 1900 eine Rolle – aber keine wirklich wichtige. In Troeltschs Briefen aus den Jahren 1900 bis April 1915 wird seine Ehefrau nur an 46 Stellen überhaupt erwähnt. Dabei geht es zumeist um Martas Unpäßlichkeit und ihre vielen Krankheiten. „Häuslich habe ich vieles Ungemach durchgemacht, das noch nicht überstanden ist. Meine Frau ist den Winter über wieder sehr elend und nervenleidend gewe-

131 MWG I/16, S. 537. 132 Johannes Rathje: Ernst Troeltsch †, in: Kieler Zeitung, Nr. 56, 3. Februar 1923, Morgenblatt, erstes Blatt, S. 1, jetzt in: TS 12, S. 224–226, hier S. 224. 133 In diesem Band unten, S. 419.

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sen. Sie muß nun wohl auf ein Sanatorium.“ Sieht man von den Abschriften zweier während der USA-Reise geschriebener Briefe Troeltschs an seine Frau ab, ist keine Korrespondenz der beiden Ehepartner überliefert. Von Marta Troeltsch selbst hat sich nach langjährigen Recherchen nur ein einziges „Ego-Dokument“ über ihre Ehe mit ihrem ersten Mann – sie heiratete am 4. Januar 1927 in zweiter 135 Ehe den einflußreichen DDP-Politiker Hermann Dietrich – finden lassen: ein Brief an ihre damals in Paris XI, 45 Boulevard Magenta, lebende zukünftige 136 Schwiegertochter Rita Tommaselli vom 10. Januar 1938. Ernst Troeltsch junior, in seiner Jugend sehr schwierig und bisweilen ‚verhaltensauffällig‘, hatte der Mutter von seiner Liebe zur 31jährigen Italienerin berichtet. Marta Dietrich-Troeltsch, die die Freundin ihres Sohnes noch nicht kennt, schreibt nun erstmals an sie – mit dem Tenor, sich einen so weitreichenden Schritt wie die Verbindung mit ihrem Sohn genau zu überlegen. Dabei kommt sie auch auf dessen Vater zu sprechen. „Ich als seine Mutter kenne ja meinen Sohn am besten, er hat das aufbrausende Temperament meines verstorbenen Mannes, aber gleichzeitig auch die tiefe und ernste Lebensauffassung u. sein starkes Verantwortungsgefühl.“ Es fällt schwer, manche Passagen in diesem gewichtigen Brief nicht auch als autobiographische Reflexion zu lesen. Allerdings bleibt der Kontext diffus. „Mein liebes Fräulein Rita, seit dem Abend, an dem mein Sohn mir von seiner Liebe zu Ihnen erzählte und von seinen Plänen u. Zielen, die er mit Energie verfolgen will u. wird, um eine baldige Vereinigung mit Ihnen zu erreichen, habe ich viel u. herzlich Ihrer gedacht. Ein wenig auch mit Sorge, da ich mir denken kann, wie schwer Ihr Weg sein wird, den Sie zunächst gehen müssen, wenn auch Sie dieselben Hoffnungen hegen. Man muss aber im Leben Opfer bringen können. Irren ist menschlich, aber Irrtümer müssen, wenn man sie als solche erkennt, aufgeklärt werden, um noch grösseres Unglück zu verhüten. – Das Wort ‚zu spät‘ ist nach meinen Erfahrungen das schwerste u. schmerzlichste Wort, das es für uns Menschen gibt! – Denken Sie daran u. machen Sie sich alle Konsequenzen klar. Ich würde Ihnen so gerne helfen, mit Rat u. Tat, wenn wir nicht so weit voneinander getrennt wären! Dass ich Sie mit offenen Armen als meine Tochter bei uns aufnehmen würde und mich an dem Glück meiner Kinder freuen würde, brauche ich Ihnen wohl nicht erst zu sagen. Mein Sohn leidet schwer unter den unglückseligen Verhältnissen. Er nimmt das Leben nicht leicht, wie die meisten Menschen, die ihn nur oberflächlich kennen, glauben. Seitdem er wieder hier

134 Brief Ernst Troeltschs an Carl Neumann vom 2. Januar 1906, Heidelberg, Universitätsbibliothek, Heid. Hs. 3791, Nr. 11. 135 Zu Hermann Dietrich und Marta Troeltschs zweiter Ehe siehe: Friedrich Wilhelm Graf: Polymorphes Gedächtnis, in: TS 12, S. 137–144. 136 Zu Ernst Troeltsch junior siehe: ebd., S. 144–151.

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ist, arbeitet er von morgens bis abends u. war so ernst u. traurig, dass ich ihn gar nicht wieder erkannte. Erst nachdem er sich aussprechen u. mir sein Herz ausschütten konnte, taute er wieder auf u. war wie erlöst. [. . .] Er hat, wie er mir sagt, seit er seine Neigung zu Ihnen erkannte, seine Liebe zu Ihnen geprüft u. sieht klar die Verantwortung, die er damit auf sich nimmt. Auch die Verantwortung seinem Freund gegenüber drückt ihn schwer. Noch nie in seinem Leben hat er sich so klar u. deutlich für seine Liebe eingesetzt und nie in meinem Leben würde ich einen solchen Brief an Sie schreiben, wenn ich nicht genau wüsste, an wen ich meine Zeilen richte, da ich Sie für eine ernst zu nehmende u. tief empfindende Frau halte u. wenn ich jetzt nicht wüsste, dass meines Sohnes Liebe zu Ihnen wahrhaft gross u. treu ist. – Haben Sie Vertrauen zu mir u. schreiben Sie mir getrost, wie Ihnen um’s Herz ist. Ich bin sicher, wir beide werden uns gut verstehen. Aber am liebsten wäre mir, Sie kämen zu mir, bevor Sie einen Schritt tun, den Sie später bereuen würden. Ich bin stets für Sie da und mein Haus 137 steht Ihnen offen. Mit herzlichen Grüssen Ihre M. Dietrich-Troeltsch.“ Unklar ist, was mit den „unglücklichen Verhältnissen“ gemeint ist. Auch ist der Freund, dem gegenüber Ernst Troeltsch junior „Verantwortung“ empfindet, nicht bekannt. War Rita mit diesem Freund liiert und wußte nicht, wie sie sich entscheiden sollte? Was auch immer gemeint ist – Marta Dietrich-Troeltsch betont, daß man Irrtümer korrigieren muß, „um noch grösseres Unglück zu verhüten“. Und sie warnt davor, „einen Schritt zu tun“, den man später bereuen muß. Sie drängt auf eine überlegte, ernsthafte Entscheidung. Daß sie hier auch an ihre Ehe mit Ernst Troeltsch gedacht hat, läßt sich nicht belegen. Aber sie spricht von ihren „Erfahrungen“. Eigener Aussage nach hatte Troeltsch Auguste Gustave Antonie Martha oder – auch in ihrer eigenen Schreibweise – Marta Fick in Heidelberg während des 138 Winters 1899/1900 kennengelernt. Zu ihrer Kindheit und Jugend läßt sich nur 139 wenig sagen. Auch die Gründe für ihren Aufenthalt in Heidelberg sind nicht bekannt. Aufgewachsen war sie gemeinsam mit ihren drei jüngeren Geschwistern auf dem großen, ca. 400 Hektar umfassenden staatlichen Gut Toitenwinkel bei Rostock, das ihre Eltern Ernst Gustav Georg Julius und Anna Fick. geb. Rose, seit 1872 als Pächter bewirtschafteten. Ihr Vater war zunächst Offizier gewesen „und 137 Brief Marta Dietrich-Troeltschs an Rita Tommaselli vom 10. Januar 1938, Privatsammlung, München. 138 Brief Ernst Troeltschs an Wilhelm Bousset vom 22. August 1900, Niedersächsische Staatsund Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. W. Bousset 130, 46, demnächst in KGA 19. 139 Die wenigen Informationen, die sich haben erschließen lassen, finden sich bei: Horst Renz: Auf der alten Brücke. Beobachtungen zu Ernst Troeltschs Heidelberger Jahren 1894–1915, in: TS 2, S. 9–87, bes. S. 34–37. Einige Ergänzungen bei Friedrich Wilhelm Graf: Polymorphes Gedächtnis, in: TS 12, S. 121–136.

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hatte auf das Gut eingeheiratet“. In diversen amtlichen Unterlagen gab er als Beruf Hauptmann d. L. und Großherzoglicher Hausgutspächter an. Der Sohn des Gutsbesitzers Johann Ludwig Arnold Fick aus Pentsch in Mecklenburg hatte im Deutsch-Französischen Krieg einen Kopfschuß erlitten, engagierte sich in agrarischen Interessenverbänden und unterstützte auf lokaler Ebene die politisch Konservativen. Auch Martas Mutter Anna stammte von einem mecklenburgischen Gutshof; ihr Vater Johann Carl August Rose war der Besitzer eines großen Gutshofs in Groß Varchow (Mecklenburg). Geboren am 24. April 1874 – sie war also neun Jahre jünger als Troeltsch – hatte Marta in Rostock die Schule besucht. Berichtet wird, daß der Großherzog aus Schwerin gern nach Toitenwinkel zur Jagd kam und immer wieder bei den Ficks zu Gast war. In einem Brief an Friedrich von Hügel berichtet Troeltsch Anfang September 1913 davon, daß die Familie seiner Frau „einen früheren schwedischen Adel abgelegt oder verloren“ habe. Sie habe ihm „Fühlung mit den entgegengesetzten Gesellschaftskreisen“ 141 vermittelt. Dies bringt es auf den Punkt: Marta Fick kam aus genau jener ostelbischen Welt, die Max Weber verhaßt war; mit wachsender Aggressivität führte er alle Übel der deutschen politischen Kultur bekanntlich auf die „ländliche Arbeitsverfassung“ mit einer dank kapitalistischer Transformation dysfunktional gewordenen Herrschaftsstellung der ostelbischen Rittergutsbesitzer bzw. „Junker“ 142 zurück. Ernst Troeltsch und Marta Fick verlobten sich am 18. August 1900 in Heidelberg und reisten danach für sechs Wochen Sommerferien auf das Gut. Der Plan, ein Jahr später zu heiraten, konnte nicht realisiert werden. Mitte April 1901 starb Ernst Fick an den Folgen eines Gehirnschlags, so daß die Brautleute – so die Familienüberlieferung – „den Brautkranz auf ein Grab zu legen“ hatten. „Die bereits am Ostertag und am darauffolgenden Sonntag (8. und 14. April) in Heidelberg proklamierte Trauung wurde zum wohl nächstmöglichen, d. h. auch mit den Lehrverpflichtungen Troeltschs zu vereinbarenden Zeitpunkt vollzogen: 143 in der Woche nach Pfingsten, am Freitag, den 31. Mai“ – in der kleinen Dorfkirche von Toitenwinkel durch den lokalen Pastor, also nicht durch einen der ordinierten oder akademisch-theologischen Freunde des Bräutigams. Ein Brief Marta Troeltschs an Gertrud von Le Fort zeigt, daß sie das Leben auf dem Gut geliebt und sich immer wieder nach Toitenwinkel zurückgesehnt

140 Horst Renz: Auf der alten Brücke, in: TS 2, S. 35. Zu Toitenwinkel: Michael Bauer: Toitenwinkel. Streifzüge durch die 700jährige Geschichte eines Dorfes, Rostock 1990. 141 Brief Ernst Troeltschs an Friedrich von Hügel vom 4. September 1913, St. Andrews, University Library, Nachlaß Friedrich von Hügel, MS 3085. 142 Cornelius Torp: Max Weber und die preußischen Junker, Tübingen 1998. 143 Horst Renz: Auf der alten Brücke, in: TS 2, S. 36.

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hat: „Ein schönes großes altes Haus, der stille Park, in dessen sommerliche Stille der Ruf der Mäher, das Surren der Dreschmaschine vom Feld klingt, – ach wie ich das kenne, wie ich das liebte – einstmals! Und die einsamen Ritte über’s Feld – die frische, frohe Tätigkeit in Haus und Hof – alles so einfach, so fest, so sicher. Wie ich es liebe, noch jetzt, noch heute – dieses Leben, treu und schlicht 144 unter treuen und schlichten Menschen“. Troeltsch selbst hat sich bei seinen wenigen Besuchen in Toitenwinkel nicht wohl gefühlt. Als er sich im September 1917 mit Frau und Sohn einige Tage in Toitenwinkel erholen wollte, sprach er 145 in einer Karte an Gertrud von Le Fort von einem „analphabetischen Haus“. Neben den wenigen Primärquellen von Marta und Ernst Troeltsch ist zu ihrer Ehe und speziell ihren Beziehungen zu Max und Marianne Weber noch ein sehr viel umfangreicherer Quellenbestand überliefert: die zahlreichen Briefe Marianne Webers an Helene Weber, in denen immer wieder von Ernst Troeltsch, dann auch Marta Troeltsch und einer sehr unglücklichen Ehe die Rede ist, sowie die bisher erst zum Teil erschlossenen Tagebücher Marianne Webers. Allerdings ist zu betonen: Diese Quelle läßt nur Mariannes Blick auf eine Konstellation erkennen, in die sie, auch weil sie Troeltsch ja früher als seine Frau kennt, immer schon mit verstrickt ist. Man darf die Perspektivität dieser Überlieferung nicht abblenden und sollte nicht ausschließen, daß in Mariannes Wahrnehmung der TroeltschEhe implizit auch eigene Probleme eine Rolle spielen. Nach der Hochzeit der Troeltschs schrieb Marianne Weber an Helene Weber: „Er ist doch ein treuer Mensch, hat mir immer sehr ausführlich geschrieben, freilich war ich ja auch 146 ganz seine ‚Mama‘ – das wird jetzt natürlich aufhören.“ Als Marianne Weber Anfang April 1902 nach Heidelberg zurückkehrte, suchte sie Marta Troeltsch auch zur Mitarbeit in der Frauenbewegung zu gewinnen. Anfang 1904 beteiligte 147 sich Marta Troeltsch an der Gründung eines „Handlungsgehilfinnenvereins“. Immer wieder berichtet Marianne in ihren Briefen an die Schwiegermutter von Marta Troeltschs Krankheiten: „Frau Tröltsch ging es letzthin wieder so schlecht: 148 nervöse Herzkrämpfe, daß man wirklich nicht weiß was daraus wird!“ „Die arme Frau Tröltsch ist schon seit Wochen an Blinddarm mit Bauchfellentzündung (ohne Fieber) erkrankt – operieren wollen die Ärzte nicht, es wird deshalb noch lange dauern, bis sie wieder bei Kräften ist. Sie ist wirklich sehr zu bedauern. Er 144 Brief Marta Troeltschs an Gertrud von Le Fort vom 10. Juni 1918, zit. nach: Horst Renz: Auf der alten Brücke, in: TS 2, S. 37. 145 Karte Ernst Troeltschs an Gertrud von Le Fort vom 9. September 1917, Heidelberg, Universitätsbibliothek, Heid. Hs. 3653. 146 Zit. nach: Bärbel Meurer: Marianne Weber (wie Anm. 78), S. 181. 147 Dazu siehe den Brief an Helene Weber vom 6. März 1904, zit. in: Bärbel Meurer: Marianne Weber (wie Anm. 78), S. 214. 148 Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 9. November 1905, Deponat.

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ja auch, aber er ist seelisch und physisch so robust, daß mein Mitgefühl immer 149 doch zu ihr geht.“ „Frau Tröltsch, die Ärmste, liegt nun schon 2 Monate mit Bauchfellentzündungen u. Darmstörungen krank, will partout nicht in die Klinik u. auch keine Pflegerin. Es scheint ein gräßlicher Zustand zu sein: sie in übelster Stimmung, ihm von Zeit zu Zeit die schwersten Vorwürfe über ihr ganzes verfehltes Leben machend – das sehr tüchtige Mädchen offenbar am Rande des Nicht-mehr-Könnens. Er zunächst sehr robust, jetzt doch offenbar ganz mürbe u. 150 ratlos.“ „Denke Frau Tröltsch ist nach nur 4wöchentlicher Kur in der Klinik wieder gesund – nachdem sie 4 Monate in einem ganz desolaten Zustand verbracht hatte. Offenbar waren ihre Schmerzen u. die Ernährungsstörungen rein hysterischer Art geworden u. sie war völlig entkräftet durch Unterernährung. Durch ein neues diätetisches Regime u. Beruhigung hat sie sich ganz schnell erholt u. ist nun fortgereist! Nun liegt aber das brave Luischen, ihr Dienstmädchen, 151 sicher mit aus Überanstrengung seit 4 Wochen im Krankenhaus.“ Nur wenig läßt sich darüber sagen, wie Max Weber Marta Troeltsch wahrgenommen hat. Am 20. Januar 1907, einem „himmlischen Sonnentag“, berichtet Marianne Weber Helene jedenfalls davon, daß „mich Frau Tröltsch mit ihrer schrecklich undisziplinierten, unsachlichen Art auf irgend eine ‚Frauenfrage‘, über die wir in einer Versammlung diskutiert haben, attaquiert. Sie ist immer Opposition, versteht aber nichts davon u. |:ist:| dann so sinnlos aufgeregt u. anmaßend aggressiv, daß man’s fast nicht aushalten kann, ohne grob zu werden. Gestern ging’s wegen der Friedensfrage über die am Mittwoch Frau Driesch ein sehr hübsches Referat gehalten hatte. Frau Tröltsch behauptete es wäre jüdisch sich für den Frieden u. gegen den Militarismus zu begeistern – u. wiederholte diese Behauptung in Jaffé’s Gegenwart so oft bis Max sehr grob mit ihr wurde. Tröltsch war nicht dabei. Ich fürchte immer sein Verhältniß zu mir kriegt 152 doch noch mal via Frau Tr. einen Knaxs.“ Ob Marta Troeltsch antisemitisch eingestellt war, läßt sich nicht entscheiden. Auch gibt es keinerlei Quellen zu ihren politischen Ansichten während der Heidelberger Zeit und im Weltkrieg. Die naive, ungebildete und Marianne geistig unterlegene Frau, als die sie in der Weber-Literatur bisweilen gezeichnet wird, war sie jedoch nicht. So unglücklich ihre Ehe mit Ernst Troeltsch gewesen sein mag – nach seinem Tod agierte sie be153 merkenswert souverän. Spätestens gegen Ende der 1920er und in den frühen

149 Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 12. Mai 1912, Deponat. 150 Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 29. Mai 1912, Deponat. 151 Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 3. August 1912, Deponat. 152 Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 20. Januar 1907, Deponat; siehe auch: Bärbel Meurer: Marianne Weber (wie Anm. 78), S. 202. 153 Dazu im einzelnen: Friedrich Wilhelm Graf: Polymorphes Gedächtnis, in: TS 12, S. 123–136.

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1930er Jahren engagierte sie sich auch für Ziele der Frauenbewegung, speziell des im Mai 1926 gegründeten „Deutschen Akademikerinnenbundes“. Durch ihren zweiten Mann, Hermann Dietrich, seit 1928 Reichsernährungsminister und seit März 1930 Finanzminister und Vizekanzler des Deutschen Reiches, zu erheblicher Prominenz gelangt, hielt sie Vorträge vor der „Frauengruppe des Gustav-Adolf-Vereins“ und sprach 1931 für die Deutsche Welle „Vom Urwesen 154 der Frau“. An den politischen Aktivitäten ihres Mannes nahm sie interessiert und sehr gut informiert Anteil. Und die repräsentativen Aufgaben als Gattin des Vizekanzlers des Reiches, etwa große Einladungen für Diplomaten aus aller Welt und speziell deren Ehefrauen, soll sie glänzend wahrgenommen haben. Zu Marianne Weber dürfte sie keinen Kontakt mehr gehabt haben. In den Sammlungen von Glückwunschschreiben zu Marianne Webers 60. und 70. Geburtstag finden sich jedenfalls keine Briefe von Marta Dietrich-Troeltsch. Sie lebte nun in einer ganz anderen, großbürgerlichen Welt und gehörte durch ihren Mann zur politischen Elite der Reichshauptstadt. Am 8. Mai 1942 teilt Troeltschs Schüler Walther Köhler, seit 1929 als Nachfolger Hans von Schuberts Ordinarius für Kirchengeschichte in der Heidelberger Theologischen Fakultät, Marta Dietrich-Troeltsch mit: „Es wird Sie freuen zu hören, dass der Verleger Siebeck mir mitteilte, seit Anfang April sei die erste Auflage meines Buches über Ernst Troeltsch, d. h. 1500 Exemplare vergriffen. So ist es also gelungen, das allgemeine Interesse für Ernst Troeltsch wieder zu beleben, und ich glaube, er selbst hätte sich auch darüber gefreut.“ Das Buch habe „die Aufmerksamkeit des Direktors des Geheimen Staatsarchivs in BerlinDahlem erregt, der an mich die Frage nach dem Nachlasse von Ernst Troeltsch und nach Ihrer Anschrift richtete. Er wird also wohl demnächst an Sie schreiben. Da ich die Anregung zu einer Sammlung der Briefe von Ernst Troeltsch Ihnen gab, liegt mir daran, mitzuteilen, dass diese Anfrage des Staatsarchivs nicht von mir ausgeht, es scheint sich auch weniger um Briefe als um sonstigen literari155 schen Nachlass zu handeln.“ In der Tat wandte sich schon wenige Tage später der Direktor des Preußischen Geheimen Staatsarchivs an Frau Minister DietrichTroeltsch. „Bei dem Ausbau der hiesigen Nachlass-Sammlung richtet sich mein Augenmerk nicht nur auf Staatsmänner und Politiker im engeren Sinne, sondern auch auf diejenigen Führer des Geisteslebens, die von einem universaleren Standpunkt aus zu den grossen Fragen der Politik ihre Stimme erhoben haben. Das trifft auf Ernst Troeltsch in besonderem Maße zu. Auch sei nicht vergessen,

154 Dazu siehe: Vom Urwesen der Frau. Eine Rundfunkansprache von Marta Troeltsch, hrsg. und eingeleitet von Friedrich Wilhelm Graf, in: METG 15 (2002), S. 89–101. 155 Brief Walther Köhlers an Marta Dietrich-Troeltsch vom 8. Mai 1942, Privatsammlung, München.

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dass er gelegentlich eine Gastrolle in der Verwaltung gespielt hat, und da die Akten des Kultus-Ministeriums, in dem er als Staatssekretär wirkte, regelmäßig hierhin abgegeben worden, glaube ich mich insofern speziell legitimiert, um seinen Nachlass zu werben. Herr Professor W. Köhler (-Heidelberg) meinte, daß Sie vermutlich über ihn verfügten. So erlaube ich mir die Frage, ob Sie sich entschließen könnten, ihn hier zu deponieren, etwa in der aus beiliegendem Entwurf ersichtlichen Form. Soeben hat uns Frau Marianne Weber die von ihrem Mann hinterlassenen Papiere anvertraut: es wäre mir eine Genugtuung, gerade die von Troeltsch hinzuzuerwerben. Mit der Bitte um wohlwollende Prüfung mei156 ner Anregung in ausgezeichneter Hochachtung Heil Hitler Brenneke.“ Marta Dietrich-Troeltsch ließ durch einen Sekretär oder eine Sekretärin schon vier Tage später antworten. Sie gab deutlich zu erkennen, daß sie niemandem, erst recht einer größeren Öffentlichkeit nicht, Einblick in das private Leben ihres ersten Mannes zu geben gedenke: „Sehr geehrter Herr Direktor, leider bin ich nicht in der Lage, im Verfolg Ihres Briefes vom 18. ds. Mts – I 998/42 – Ihnen Material aus dem Nachlass meines verstorbenen Mannes zu überlassen. Dieses Material ist seinerzeit wohl restlos verarbeitet worden und zum Teil von mir veröffentlicht. Irgend etwas, was für die Allgemeinheit Interesse hätte, besitze ich nicht mehr. Ich habe selbst das grösste Interesse daran, dass nichts von der Geistesarbeit meines verstorbenen Mannes verloren geht, aber ich glaube sagen zu dürfen, dass alles Geeignete verwertet ist. Mit deutschem Gruss [nun handschriftlich] 157 gez. Frau D.“ Hier wird eine elementare Differenz zwischen Marianne Weber einerseits und Marta Dietrich-Troeltsch andererseits sichtbar. Marianne, die durch ihre unermüdliche und äußerst harte editorische Arbeit überhaupt erst die „Weltgeltung“ Max Webers ermöglicht und durch ihren Sammlerfleiß de facto die Grundlage 158 für die Kritische Gesamtausgabe geschaffen hat, schreibt ein „Lebensbild“ des Gefährten, in dem sie in einer ganz eigentümlichen, hoch reflektierten Verbindung von Diskretion und Offenheit innere Zusammenhänge von Leben und Werk teils andeutet, teils sichtbar macht. Otto Baumgarten hat durchaus recht,

156 Brief Adolf Brennekes, 1930 bis 1936 zweiter und dann bis 1943 erster Direktor des Preußischen Geheimen Staatsarchivs, an Marta Dietrich-Troeltsch vom 18. Mai 1942, Privatsammlung, München. 157 Brief Marta Dietrich-Troeltschs an das Preußische Geheime Staatsarchiv vom 2. Mai 1942, Privatsammlung, München. 158 Zu Marianne Webers editorischer Arbeit siehe vor allem: Edith Hanke: „Max Webers Schreibtisch ist nun mein Altar“. Marianne Weber und das geistige Erbe ihres Mannes, in: Karl-Ludwig Ay, Knut Borchardt (Hrsg.): Das Faszinosum Max Weber. Die Geschichte seiner Geltung, Konstanz 2006, S. 29–51.

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wenn er in seiner Besprechung von einem „Kunstwerk“ spricht. Die Diskretion Marianne Webers zeigt sich gerade mit Blick auf Troeltsch: In ihrer Darstellung des Streits um Troeltschs — in der Tat eher peinliche – Behandlung des aus dem Elsaß stammenden Heidelberger Romanisten Friedrich Eduard Schneegans bei dessen Besuchen verwundeter französischer Kriegsgefangener in dem von Troeltsch geführten Heidelberger Lazarett nennt sie den Namen des Freundes nicht; sie erzählt nur davon, daß „ein mit Weber befreundeter Professor“ mit 160 Blick auf die Behandlung verwundeter Feinde „[a]ndrer Ansicht“ war. „Weber gerät über diesen Vorgang in derart schwere Erregung, daß er in brüsker Form mit dem Freunde bricht. Wie öfter in solchen Fällen, stehen Anlaß und Effekt außer Verhältnis. Er entschuldigt sich auch für seine Heftigkeit, erwartet jedoch, daß der andre nun ebenfalls seinen Fehler einsieht. Als dies nicht geschieht, 161 bleibt der Bruch.“ 10. Adolf Hausrath, seit seinem 70. Geburtstag am 13. Januar 1907 „Ehren162 bürger“ der Stadt Heidelberg, starb am 2. August 1909. Zwei Tage später, am Mittwoch, dem 4. August, fand die Beisetzung der „sterblichen Reste“ auf dem Bergfriedhof statt. In den Berichten der Lokalpresse wird weder eine Teilnahme von Max und Marianne Weber noch von Ernst und Marta Troeltsch erwähnt; sie ist jedoch wahrscheinlich, weil beide Ehepaare Anfang August 1909 in Heidel163 berg waren. Sechs Wochen später, am 21. September, berichtete Max Weber

159 In diesem Band unten, S. 392–399, hier S. 392. 160 Marianne Weber: Lebensbild (wie Anm. 16), S. 532. 161 Ebd., S. 532. 162 Dazu siehe: Zum Hinscheiden Adolf Hausraths, in: Heidelberger Zeitung, 51. Jg., Nr. 178, Dienstag, 3. August 1909, Zweites Blatt, S. 1. Ein zweiter längerer Nachruf findet sich hier S. 2: „Gestern ist einer unserer hervorragendsten und sympathischsten Mitbürger vom Tode abberufen worden: unser Ehrenbürger Herr Geh. Rat Hausrath ist gestorben.“ 163 Am 31. Juli schreibt Max Weber aus Heidelberg an Paul Siebeck, am 7. August dann aus Heidelberg an Leo Königsberger, den geschäftsführenden Sekretär der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, und erneut Paul Siebeck. Dazu siehe: MWG II/6, S. 210–222. Zur Trauerfeier siehe insbesondere: D.: Beisetzung, in: Heidelberger Zeitung, 51. Jg., Nr. 180, Donnerstag, 5. August 1909, Zweites Blatt, S. 2. „Gestern wurden auf dem hiesigen Friedhof die sterblichen Reste des Hrn. Geh.Rat Hausrath beigesetzt. Um dem Dahingeschiedenen die letzte Ehre zu erweisen, hatte sich eine sehr zahlreiche und ansehnliche Trauergemeinde in der Friedhofskapelle versammelt. Erschienen waren u. a. die Herren Exprorektor Kossel, Geh. Rat Dr. Merx, die Mitglieder des Universitäts-Lehrkörpers, soweit sie nicht schon in die Ferien abgereist sind, Oberbürgermeister Dr. Wilckens, Bürgermeister Wielandt, verschiedene Herren vom Stadtrat, als Vertreter der Stadtverordneten der Obmann des Stadtverordnetenvorstands Dr. Bauer, Geh. Reg.-Rat Jolly, Stadtschulrat Rohrhurst, Vertreter der Studentenschaft usw.“ Die Trauerfeier in der Friedhofskapelle und die anschließende Beerdigung fanden nicht zuletzt deshalb große Beachtung, weil nur wenige Minuten nach seiner Trauerrede auf den Freund und Kollegen der Alttestamentler Adalbert

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seiner Mutter erstmals von den Plänen August Hausraths, des Sprechers der Erbengemeinschaft, für die Ziegelhäuser Landstraße 17; er meinte, sich angesichts der geringer gewordenen Dividenden der Oerlinghauser Fabrik die Miete von 3 000 Mark für den „Mittelstock“ mit „1–2 Zimmern im unteren Stock“ nicht lei164 sten zu können. Am 23. November erwähnte dann auch Marianne gegenüber Helene Weber erstmals die Möglichkeit, in die „Hausrathsche Wohnung“ einzu165 ziehen. Am 27. November des Jahres entschieden sich Max und Marianne, in das mittlere Stockwerk der Ziegelhäuser Landstraße 17 einzuziehen. „Gestern ist also der Würfel gefallen: Wir haben den Mittelstock mit 2 Mansarden, die ausgebaut werden für Bertha u. Lina, Deines lieben alten Hauses gemiethet. Nicht ganz leichten Herzens angesichts der hohen Miethe: 3000 Mk. im ersten Jahre, da im April doch noch allerlei Handwerker das Haus bevölkern: 2 700 Mk. Angesichts unsrer ersten schlechten Örlinghauser Bilanz [. . .] wurde namentlich Max die Entscheidung nicht leicht, da er eben doch eine Beschränkung seines Reisekontos fürchtet. [. . .] – Im Übrigen freuen wir uns herzlich, u. deine beglückte Karte hat uns den letzten Schwung gegeben, der uns über die Berge des Zweifels forthob, – es ist wirklich ein sehr lieber Gedanke, daß es uns vielleicht gelingt, das alte Haus zu entzaubern u. die Schmerz belasteten Räume wieder 166 mit Sonnenschein u. Liebeswärme zu erfüllen.“ Zugleich teilte Marianne ihrer Schwiegermutter mit, daß August und Laura Hausrath „vorläufig den unteren Stock beziehen wollen, um den obersten noch rentabel zu vermiethen, denn sonst können sie es doch nicht halten“. Am Nachmittag dieses Tages kamen die Troeltschs und das Ehepaar Oncken als „geladene Gäste“. Entweder bei dieser Gelegenheit oder kurz danach müssen Max und Marianne Weber die Troeltschs gefragt haben, ob sie ins oberste Stockwerk der alten Fallenstein-Villa einziehen wollen. „Für den obersten Stock haben sich – nach einigen inneren Kämpfen der Frau mit sich selbst – Tröltschs als Miether gefunden u. ich hoffe, wir fallen uns nicht gegenseitig auf die Nerven, ich werde alles dazu thun – für Hausraths ist es eine große Beruhigung, sie haben nun eine Miethe von 5500 Mk. sicher. Und da die Wohnung doch für moderne Menschen 167 ihre Haken hat, mußte man gleich zugreifen“.

Merx „vom Schlage getroffen“ wurde und sofort starb: „Merx sinkt an der Bahre Hausraths um, dem er das letzte Freundeswort nachgerufen. Kaum hat er das Pauluswort vom ‚vollendeten Lauf‘ gesprochen, auf den Freund es deutend, da hat auch er ‚seinen Lauf vollendet‘.“ Adalbert Merx †, in: Heidelberger Zeitung, 51. Jg., Nr. 180, Donnerstag, 5. August 1909, Zweites Blatt, S. 1. 164 MWG II/6, S. 275–277. 165 Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 23. November 1909, Deponat. 166 Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 28. November 1909, Deponat. 167 Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 22. Dezember 1909, Deponat. Kurz vor dem

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Obwohl die Hausrath-Erben einen Teil des Grundstücks verkauften, hatten alle drei Mietparteien einen je eigenen Sitzplatz im Garten. Schon bald nach dem Einzug in die Fallenstein-Villa schreibt Max Weber an Helene: „Hier ist, bei bedecktem Himmel, jetzt die ganze Herrlichkeit des Frühlings, im ‚Wäldchen‘ schlagen die Nachtigallen, wir saßen abends im Mond am ‚Löwenbrunnen‘, am ‚Kochfrauenplatz‘ saßen Tröltschs mit einem Freund der Violine spielte und 168 sang – u. wir waren sehr glücklich“. Im Juli 1911 berichtet Marianne erneut nach Berlin, daß ein junger Freund Ernst Troeltschs im Garten gesungen habe. Damit ist Otto Maag gemeint, ein Lieblingsschüler Troeltschs, der musikalisch hoch begabt war, selbst komponierte und seit 1927 als Schriftsteller und auch Musikredakteur der „National-Zeitung“ wirkte. Vermittelt durch Troeltsch trat Maag auch zu den Webers in Kontakt. Sein Kondolenzbrief vom 19. Juni 1920 läßt jedenfalls einige Vertrautheit erkennen. Nicht nur bezeichnet er seine Frau und sich als „Freunde“ Mariannes, sondern erwähnt auch „eine Karte und ein Paketchen“, das er „vor ein paar Tagen“ geschickt habe. Zudem lädt er Marianne Weber dazu ein, sich mit seiner Frau in Bergün im Bündner Land auszuruhen 169 und zu erholen. Man kann dies als ein Zeichen dafür lesen, daß in den fünf Jahren des Zusammenlebens in der Ziegelhäuser Landstraße 17 trotz der schwierigen Situation mit Marta die Beziehungen wieder enger wurden. Es ist hier nicht leicht, sich aus dem Wege zu gehen – auch wenn Max Weber sich im 170 März 1912 darüber beschwert, daß man von Troeltsch nichts sehe. Aber im August 1911 berichtet Marianne Helene, daß sie abends mit Clara, Max’ Schwester, den Hausraths und Troeltschs sowie einigen anderen Gästen im Garten 171 gesessen habe – ohne Max, der erneut „umgeklappt“ sei. Troeltsch nimmt regelmäßig am sonntäglichen Jour der Webers teil und lernt wohl hier Georg von Lukács, Arthur Salz und Ernst Bloch kennen. Max Weber speist mittags bei Ernst Troeltsch, wenn die Frauen abwesend sind. Er geht zu Ernst Troeltsch „nach 172 oben“, wenn dieser Gäste wie etwa Eduard Grafe hat. Und natürlich wissen die Freunde, was der jeweils andere gerade schreibt oder tut. So wie sie sich einst über die ihnen von Carl Neumann nahegelegte Lektüre von Jacob Burckhardts

25. Dezember 1909 schreibt Max Weber an seine Schwester Lili Schäfer: „Wir ziehen nun im Frühjahr in den Mittelstock des alten Hausrath’schen Hauses, unter uns Laura, über uns einen unserer Freunde (Prof. Tröltsch)“. MWG II/6, S. 346. 168 Brief Max Webers an Helene Weber, nach dem 17. Mai 1910, in: MWG II/6, S. 526. 169 In diesem Band unten, S. 387 f., hier S. 387. 170 Brief Max Webers an Marianne Weber vom 13. März 1912, in: MWG II/7, S. 470. 171 Siehe: Bärbel Meurer: Marianne Weber (wie Anm. 78), S. 284. 172 Brief Max Webers an Marianne Weber vom 27. Feburar 1912, in: MWG II/7, S. 438: „heute gehe ich Abends auf ein Stündchen zu Tröltschs, wo Grafe (Bonn) ist“.

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„Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ ausgetauscht haben, reden die Hausgenossen nun über Troeltschs „Soziallehren“, diskutieren über Politik, speziell auch protestantische Kirchenpolitik und kümmern sich bisweilen gemeinsam um 174 Jüngere, etwa Georg von Lukács . Auch weiß Troeltsch, was Weber gerade liest 175 oder soeben gelesen hat. Und er kennt – wohl aus dem sonntäglichen Salon – das entscheidende Argument des Freundes aus „den mündlichen Diskussionen mit den George-Jüngern“: „daß ihre neue Romantik wie die alte stets an dem ehernen Felsen der realen sozialen und ökonomischen Verhältnisse zerstäuben 176 werde“ . Und so ist man über das Tun und Ergehen des anderen gut informiert. Dies ist auch zu Beginn des Krieges, kurz vor dem großen Streit und Bruch der Freundschaft, der Fall. Am 31. August 1914 bittet Paul Siebeck Troeltsch um Auskunft über Max Weber: „Ich bekomme seit längerer Zeit kein Lebenszeichen mehr von Max Weber, weiss gar nicht, was mit ihm ist. Können Sie mir nicht mit zwei Worten sagen, wie es ihm geht, ob er vielleicht eingerückt ist? Sagen Sie aber, bitte, ihm nichts davon, dass ich bei Ihnen angefragt habe. Wir sind ganz begeistert von Ihrer Rede ‚Nach der Mobilmachung‘. Nur schade, dass sie bei Winter und nicht bei mir erschienen ist.“ Troeltsch antwortet noch am selben Tag: „Auf Ihre freundlichen Zeilen erwiedere ich Ihnen, daß das Problem von Max Webers Schweigen sich sehr einfach löst. Er hat sich dem Bezirkskommando als Landwehroffizier zur Verfügung gestellt u ist von diesem als militärisches Mitglied der Lazaret-Kommission bestimmt worden. Alles hier am Ort. In dieser Eigenschaft hatte er u hat er die Aufgabe vier Reserve-Lazarette zu organisieren, militärisch zu überwachen und mit allen Lieferungen auszustatten. Das Letztere ist das Schlimmste, da er hier alles kalkulieren u alle Verhandlungen mit den Lieferanten führen muß. Morgens um 1/2 8 fährt er ins Garnisons-Lazaret u Abend um 8 oder 1/2 9 kommt er wieder, meist auch auf eine kurze Mittagspause. Unter diesen Umständen hat er allerdings für nichts anderes Zeit u Gedanken, u so kommt es daß Sie nichts gehört haben. Er verträgt diese angespannte Arbeit

173 Dazu siehe den Brief Ernst Troeltschs an Carl Neumann vom 2. Januar 1906, Heidelberg, Universitätsbibliothek, Heid. Hs. 3791, Nr. 11. 174 Dazu siehe unten, S. 354. 175 Dazu siehe etwa Troeltschs Brief an Friedrich Meinecke vom 19. Januar 1910, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin, VI. HA, Nachlaß Friedrich Meinecke, Nr. 141. Meinecke hatte Troeltsch wohl gefragt, wer für die „Historische Zeitschrift“ Georg Simmels „Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung“ (1908) oder „Hauptprobleme der Philosophie“ (1910) besprechen könne. Troeltsch nannte Eberhard Gothein, Ferdinand Tönnies und Paul Hensel – sowie Max Weber: „Max Weber könnte es gleichfalls, da er das Buch gelesen hat; er ist augenblicklich nicht hier.“ 176 Ernst Troeltsch: Die Revolution in der Wissenschaft (wie Anm. 47), in: KGA 13, S. 558.

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über Erwarten gut, wenn er auch allerdings der Schlafmittel nicht entbehren 177 kann.“ Als Gertrud von Le Fort im Winter 1910/1911 nach Heidelberg kommt und bald engeren freundschaftlichen Kontakt zu ihrem wichtigsten, von ihr hoch 178 verehrten akademischen Lehrer Troeltsch – für sie „mein bester Freund“ – knüpft, lernt durch Troeltschs Vermittlung 1914 auch Marianne Weber die junge Dichterin schätzen – Max aber nicht, auch wenn er sehr viel stärker an „Litera179 tur“ bzw. „Dichtung“ interessiert war als viele Weber-Forscher sehen . Gertrud von Le Fort berichtet, in Heidelberg habe sie in verschiedenen „Kollegs“ hospitiert, „zu denen auch, auf Anregung von Marianne Weber, eine Vorlesung des jungen Dozenten Karl Jaspers gehörte – sie war Søren Kierkegaard gewidmet –, und von ihrer Tiefe und Aufrichtigkeit angesprochen, beglückt es mich noch heute, den nachmals berühmten Denker, bei dessen Büchern ich immer wieder einkehre, wenigstens einmal im Leben persönlich gehört zu haben. Hier kam eine Wahrhaftigkeit zu Wort, die jeden Ausweg aus der bestürzenden Welt des 180 großen Dänen ausschloß“. In Gertrud von Le Forts (Teil-)Nachlaß im „Deutschen Literaturarchiv Marbach“ finden sich fünf Briefe Marianne Webers, die auch ein wachsendes Interesse an gelebter Religion erkennen lassen. „Letzten Weihnachten las u. verschenkte ich mit Begeisterung das Büchlein ‚Die letzte am Schafott‘! Ich war tief davon ergriffen. Sie haben etwas Wunderbares was stets in religiösen Menschen aufs neue wirkt, zum Ausdruck gebracht. Ich kenne alle ihre Bücher und alle haben 181 mich beschenkt.“ Auch mit Blick auf die entschieden katholischen – die aus einer Adelsfamilie verfolgter italienischer Protestanten stammende Gertrud von Le Fort war im März 1926 in Rom zur römisch-katholischen Kirche konvertiert – Bekenntnisbücher der „lieben Baronin“ schreibt Marianne: „Ich bitte Sie, [. . .] gewiß zu sein, daß ich mich in Tiefen des Lebens, die solchen Zufälligkeiten entzogen sind, mit Ihnen verbunden fühle u für alle Ihre Arbeiten und Wesens182 ausstrahlungen dankbare Empfänglichkeit besitze.“

177 Brief Ernst Troeltschs an Paul Siebeck vom 31. August 1914, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachl. 488 (Verlagsarchiv Mohr Siebeck), A 361. 178 Gertrud von Le Fort: Hälfte des Lebens, München 1965, S. 87. 179 Die große Ausnahme ist abermals Peter Ghosh: Max Weber and the literati, in: Grenzüberschreitende Diskurse. Festgabe für Hubert Treiber, hrsg. von Kay Waechter, Wiesbaden 2010, S. 243–278. 180 Gertrud von Le Fort: Hälfte des Lebens (wie Anm. 178), S. 122. 181 Brief Marianne Webers an Gertrud von Le Fort vom 17. Dezember 1932, Deutsches Literaturarchiv Marbach am Neckar, Nachlaß Gertrud von Le Fort, A: Le Fort. Weber, Marianne – Le Fort Gertrud von 1926–1948, Rom, Heidelberg, 74.8322/2. 182 Brief Marianne Webers an Gertrud von Le Fort vom 22. März 1937, Deutsches Literaturarchiv

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11. Wer um die Problematik von Aufsatzbänden, d. h. Sammlungen bereits gedruckter Texte, weiß, kennt auch ihren spezifischen Vorzug: Sie bieten dem Autor Gelegenheit, sich zu den kritischen Kommentaren zu verhalten, die dem einst Veröffentlichten zuteil geworden sind. Sie erlauben Selbstkritik und bieten die Chance, manche früher präsentierte Thesen noch einmal prägnanter zu formulieren. Im Nachlaß Max Webers finden sich keinerlei Briefe Ernst Troeltschs. Sollte er dem Freunde niemals geschrieben haben? Hat er etwa in den Monaten des Rom-Aufenthaltes überhaupt keinen Kontakt zum Freund gehalten? Meine Überlegung, ob die Witwen die Briefe ihrer Männer nach deren Tod vernichtet haben, hat Bärbel Meurer zu Recht problematisiert. In der Tat konnte Weber 183 „in seinen Krankheitsjahren [. . .] nur das Allernotwendigste“ schreiben. Auch ist zutreffend, daß es „keine Hinweise auf eine Korrespondenz Weber-Troeltsch“ gibt. Aber ihr Schluß, daß Max Weber und Ernst Troeltsch einander niemals geschrieben haben, ist nicht zwingend. Im schwierigen, von zahlreichen Rückfällen und bleibender Labilität geprägten Prozeß der allmählichen Wiedergewinnung seiner Arbeitskraft – man darf nicht von Gesundung reden, weil Max Weber immer wieder mit massiven somatischen wie psychischen Problemen zu kämpfen hatte – hat Max Weber seit seiner Rückkehr nach Heidelberg 1902 mit einigen seiner Heidelberger Kollegen auch schriftlich verkehrt, etwa mit Carl Neumann und Georg Jellinek. Als Paul Siebeck am 31. Januar 1902 telegraphisch Troeltsch fragte: „Ist Ihnen die derzeitige Adresse von Professor Weber bekannt?“, teilte Troeltsch ihm umgehend, ebenfalls per Telegramm, mit: „Rom via Cicerone 35 184 Signora Martin“. Auch Briefe Max Webers an Ernst Troeltsch sind nicht überliefert. Dies kann man damit erklären, daß es, wie von mir an anderer Stelle ausführlich beschrie185 ben, einen Troeltsch-Korrespondenznachlaß nicht (mehr) gibt. Aber diese Erklärung setzt voraus, daß Marianne Weber Troeltsch nach dem Tod von Max nicht um dessen Briefe und Karten an den Freund bat – was sie aber bei allen anderen Freunden mit Blick auf das schon bald nach dem Tod geplante „Lebensbild“ und eine mögliche Briefedition tat. Angesichts der häufigen Abwesenheit Max und Marianne Webers von Heidelberg scheint es wenig wahrscheinlich, daß es überhaupt keinen schriftlichen Austausch zwischen den Freunden gab. Nach

Marbach am Neckar, Nachlaß Gertrud von Le Fort, A: Le Fort. Weber, Marianne – Le Fort Gertrud von 1926–1948, Rom, Heidelberg, 74.8322/4. 183 Bärbel Meurer: Marianne Weber (wie Anm. 78), S. 181. 184 Telegramm Ernst Troeltschs an Paul Siebeck vom 31. Januar 1902, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachl. 488 (Verlagsarchiv Mohr Siebeck), A 163, demnächst in KGA 19. 185 Friedrich Wilhelm Graf: Polymorphes Gedächtnis, in: TS 12, bes. S. 151–173.

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Max’ Zusammenbruch im Winter 1898/1899 standen, wie zuvor skizziert, Ernst Troeltsch und Marianne Weber in engem Kontakt. „Es gibt keinen Hinweis darauf, daß nach dem Wegzug des Ehepaares Troeltsch nach Berlin 1914 oder nach dem Tod Webers 1920 noch irgendein 186 Kontakt bestanden oder ein Treffen stattgefunden hätten.“ Diese Behauptung ist falsch. Zunächst: Marta und Ernst Troeltsch sowie ihr Sohn zogen nicht „1914“, sondern im April 1915 aus der Ziegelhäuser Landstraße aus; nach einer privaten Abschiedsfeier mit ca. 20 männlichen Teilnehmern im Februar, die 187 Carl Neumann für seinen Duz-Freund Ernst organisiert hatte, und nach einer „Abschiedsfeier (Bierabend)“ am 6. März im Hotel-Restaurant „Zum Schiff“, Neuenheimer Landstraße 5, zu der Eberhard Gothein als Prorektor eingeladen 188 hatte, richtete ein eigens gebildeter „vorbereitende[r] Ausschuß“ einflußreicher Honoratioren für Ernst Troeltsch am Samstag, den 20. März abends um 8 1/2 Uhr in der Turnhalle (Klingenteich) ein „einfache[s] Bankett“ aus. Diesem vorbereitenden Komitee gehörten die Stadträte Hans Hassemer und Ernst Walz, damals Oberbürgermeister, das Mitglied des Bürgerausschusses Otto Sauter, die Universitätsbuchhändler Karl Hörning und Otto Petters sowie der in der Ziegelhäuser Landstraße 31 wohnende Landgerichtsrat a. D. Hermann Engelhard an. Die Einladung erfolgte durch eine Anzeige im „Heidelberger Tageblatt“ so189 wie im „Pfälzer Boten für Stadt und Land“. Beide Tageszeitungen brachten ausführliche Berichte über die gut besuchte Veranstaltung, bei der Troeltsch 186 Bärbel Meurer: Marianne Weber (wie Anm. 78), S. 181. 187 Carl Neumann lud dazu auch seinen Duz-Freund Franz Böhm ein: „Hochverehrte Exzellenz, Ich komme heute mit einer Bitte. Geheimrat Troeltsch verläßt nach diesem Semester Heidelberg, u trotz der Schwere der Zeit, möchte ich mir nicht versagen, als sein alter Freund seit 1894 eine im kleinen Kreis (etwa 20) gehaltene Abschiedszusammenkunft zu veranstalten. Nur Herren, die ihm näher stehen. Da ich weiß, daß er Deine Anwesenheit er [sic!] als eine besondere Auszeichnung empfinden würde, wage ich Dich zu fragen, ob ich Dich einladen darf. (Auch möchte ich Dich bitten, Zug und Zeit zu wäh[len]. Ich würde die anspruchslosere Form eines Frühstücks vorziehen, also 12.30 oder 1 Uhr.“ Brief Carl Neumanns an Franz Böhm vom 2. Januar 1915, Generallandesarchiv Karlsruhe, 52 / Nachlaß Franz Böhm Nr. 321. Ob Franz Böhm zu Troeltschs Ehren nach Heidelberg kam, hat sich nicht klären lassen. 188 Überliefert sind die Einladungen der „Universität Heidelberg. Akademisches Direktorium“ vom 5. März 1915 an „die Herren Mitglieder der akademischen Korporation": „Zu Ehren der von hier scheidenden Herren Geh. Kirchenrat Professor Dr. Troeltsch und Professor Dr. Ebler findet am Samstag, den 6. März, Abends 9 Uhr im Hotel-Restaurant Zum Schiff, Neuenheimer Landstraße 5 eine Abschiedsfeier (Bierabend) statt. Die Herren Kollegen werden zu lebhafter Beteiligung ergebenst eingeladen. Der zt. Prorektor: [handschriftlich] Gothein“. Auch erschien in drei Heidelberger Tageszeitungen – „Neueste Nachrichten“, „Heidelberger Zeitung“, „Heidelberger Tageblatt“ – ein Inserat mit der Einladung. Siehe die Unterlagen in: Universitätsarchiv Heidelberg, Akademisches Direktorium, A-145/4. 189 Abschiedsfeier für Herrn Prof. Ernst Troeltsch, in: Heidelberger Tageblatt, General-Anzeiger,

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in Antwort auf eine Rede von Oberbürgermeister Walz über die „Friedensmög190 lichkeiten der Zukunft“ sprach. Das Ganze zeigt: Ernst Troeltsch war, wohl anders als Max Weber, eng eingebunden in die städtische Honoratiorenkultur. Die Feier zu Max Webers Abschied aus Heidelberg am 22. September 1919, zu der der Anatom Hermann Braus in den „Heidelberger Hof“, Rohrbacher Straße 11, eingeladen hatte, war jedenfalls, nach dem Bericht Karl Hampes, eine „ganz familiäre“ Feier ohne Vertreter der Stadt. „Ein Kreis von etwa vierzig Menschen, darunter etwa zwei Drittel Ganz- oder Halbjuden. Man setzte sich an Tischen, bekam viel Kuchen mit Thee und nachher Bier (für den Teilnehmer circa 7 Mark). Nach schlichten, recht herzlichen Abschiedsreden von Braus und dem Studenten Mittelstraß und fünf gut ausgewählten Liedern von Schubert, Wolf usw., die Fräulein Erdmannsdörfer brav mit ihrer wenig reizvollen Stimme vortrug, antwortete Max Weber höchst eindrucksvoll. [. . .] Der Eindruck der Worte, die mit vielen lebendigen Einzelheiten nach Webers Art natürlich ganz anders wirkten als ein farbloses Referat, wurde einigermaßen gestört durch eine unmittelbar anschließende Rede Gotheins, der den Ton einer müden Resignation fälschlich aus der Rede herausgehört hatte und darauf herumritt. Nachher folgte noch ein Versdialog mit Ereignissen aus Webers Vergangenheit, die sich an das nun zu verlassende Haus anknüpften, und eine schlichte Antwort von Marianne Weber. 191 Die Form ist ja bei ihr immer sehr befangen und die Worte langsam suchend.“ Zudem: Nach dem Streit der Männer im Frühjahr 1915 suchten die Frauen die Wogen zu glätten, und Marianne blieb nach dem Umzug der drei Troeltschs nach Berlin mit Marta Troeltsch in Kontakt. Beide Männer haben unter dem 192 „Bruch“ der Freundschaft gelitten. Weber und Troeltsch haben sich nach dem harten Streit durchaus noch einmal gesehen, so etwa in der Ziegelhäuser Landstraße am 10. September 1919: „Mittwoch kommt Tröltsch zu uns, – also siehst Du: die Genugtuung, daß Niemand sich mit diesem Scheusal von Grauli ver193 tragen könne, die ist nun hin“. Folgt man Mariannes Bericht, waren Marta Troeltsch und sie es, die ihre Männer damals zur Versöhnung gemahnt haben: „erst 5 Jahre später werden die beiden trotzigen Männer durch ihre Frauen wieder 194 zusammengeführt“. Zu einem von den Frauen erhofften Besuch in der SeestraNr. 64, Mittwoch, 17. März 1915, S. 5, auch in: Pfälzer Bote für Stadt und Land, Nr. 63, 17. März 1915; in diesem Band unten, S. 377–378. 190 Dazu siehe unten, S. 377–380, hier S. 379. 191 Karl Hampe: Kriegstagebuch 1914–1919 (wie Anm. 76), S. 900 f. 192 Siehe unten, S. 276, den Brief Ernst Troeltschs an Paul Siebeck vom 17. April 1915, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachl. 488 (Verlagsarchiv Mohr Siebeck), A 367. 193 Brief Max Webers (nach dem 8. September 1919) an Else Jaffé, in: MWG II/10, S. 765–768, hier S. 768. 194 Marianne Weber: Lebensbild (wie Anm. 16), S. 532.

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ße 3c kam es nicht: „Wie entsetzlich leid tut es mir nun, daß ich ihn neulich in München nicht noch besuchte. [. . .] Es hat nicht sollen sein. Der Nachmittag im alten Haus am Neckar bleibt die letzte Erinnerung. Gott sei Dank, daß es 195 wenigstens dazu gekommen ist!“ Marianne Weber und Troeltsch blieben nach Max’ Tod miteinander in Kontakt. Sie ließ ihm durch den Verlag Lieferungen der 196 dritten Abteilung des „Grundrisses der Sozialökonomik“ zukommen, – so wie Troeltsch Oskar Siebeck am 13. Oktober 1922 darum gebeten hatte, Marianne 197 Weber ein Exemplar von „Der Historismus und seine Probleme“ zu schicken . Marianne Weber fragte Troeltsch zunächst und erst nach Troeltschs Absage Karl Rothenbücher, bei der Trauerfeier eine Gedenkrede auf Max zu halten. „Sicher ist nur, daß Troeltsch mit Marianne Weber korrespondierte“, schreibt Bärbel Meurer. Davon ist in Briefen Mariannes an Helene Weber in der Tat mehrfach 198 die Rede. Doch mit Ausnahme des Kondolenzbriefs vom 18. Juni 1920 sind keine Briefe Troeltschs an Marianne Weber überliefert. Sollte sie sie vernichtet haben? Hat Marta Troeltsch Marianne gebeten, ihr die Briefe zurückzugeben? Mit Blick auf das Heidelberger Gelehrtenmilieu um 1900 und speziell die Troeltschs und die Webers verdient auch das Thema Bildquellen eigene Beachtung. Von Ernst Troeltsch wie von Max und Marianne Weber ist bekannt, daß sie sich auf Auslandsreisen haben photographieren lassen. Publiziert ist etwa das Doppelportrait von Marianne und Max während ihres Rom-Aufenthaltes, und von Troeltsch ist ein Portraitphoto überliefert, das er 1899 während seiner Reise 199 nach Siebenbürgen hat machen lassen. Desto mehr verdient Beachtung, daß sich bisher keine Bildquellen zur USAReise (bei der Troeltsch, wie er selbst betonte, sehr viel von Max Weber gelernt hat) haben auffinden lassen. Soll man sich vorstellen, daß sich die Reisenden in New York, Chicago oder St. Louis nicht vor einem der großen Bauwerke haben photographieren lassen? Auch an den Niagara-Fällen waren zahlreiche professionelle Photographen tätig. Bisher habe ich nur ein Photo vom „World Congress of Arts and Sciences“ finden können, auf dem Ernst Troeltsch und wohl auch Max Weber zu sehen sind. 12. Im Aufsatz über „die ‚kompetentesten‘ Gesprächspartner?“ habe ich 1993 darauf hingewiesen, daß es beim Heidelberger Historikertag im April 1903

195 Brief Ernst Troeltschs an Marianne Weber vom 18. Juni 1920, Deponat. 196 Dazu siehe den Brief Oskar Siebecks an Ernst Troeltsch vom 4. Dezember 1922, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachl. 488 (Verlagsarchiv Mohr Siebeck), A 406. 197 Brief Ernst Troeltschs an Oskar Siebeck vom 13. Oktober 1922, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachl. 488 (Verlagsarchiv Mohr Siebeck), A 406. 198 Kondolenzbrief Ernst Troeltschs an Marianne Weber vom 18. Juni 1920, Deponat. 199 In diesem Band unten, S. 418.

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zu einer ausführlichen kritischen Debatte über Werner Sombarts „Der moderne Kapitalismus“, erschienen im Frühjahr 1902, kam. Georg von Below hatte hier über „Die Entstehung des modernen Kapitalismus“ vorgetragen, und im Anschluß daran stritten der Vortragende, Werner Sombart, Karl Lamprecht, Friedrich Keutgen und Heinrich Sieveking heftig über Sombarts Konstruktion von Genese und „Geist“ des modernen Kapitalismus. „Zwar gibt es bisher keine Zeugnisse dafür, daß Weber Belows Vortrag besucht und an der folgenden Diskussion teilgenommen hat“, habe ich vor 20 Jahren geschrieben. Inzwischen haben sich zwei Belege finden lassen, die es höchst wahrscheinlich machen, daß Weber Belows Vortrag gehört hat. Am 31. März 1903 teilt Marianne Weber aus Rom ihrer Schwiegermutter mit, daß Max und sie dem Vorschlag Helenes, nach Istanbul zu reisen, nicht folgen möchten, sondern bald nach Heidelberg zurückkehren wollen. „Siehst Du, jetzt wird’s auch in Heidelberg wunderschöner Frühling u. wenn irgendwann, muß es auch Max dort jetzt besser zu Sinn werden. Ich halte es nicht für gut jetzt, grade jetzt, ganz unbesehen lange fort zu bleiben – vor allem aber möchte Max selbst sehr gern wenigstens etwas, an dem am 14. April beginnenden Historikertag in Heidelberg teilnehmen. Und ich selbst möchte sehr wünschen, daß ihm das glückt. Sein Kopf hat sich immerhin doch ausgeruht [. . .] – das merke ich u. a. auch daran, daß er sich einen Frack geliehen hat, um morgen an der Eröffnung des internationalen Historikerkongresses, bei der das Königspaar anwesend sein wird, teil nehmen zu können. Hoffentlich macht uns 200 die Nacht keinen Strich durch die Rechnung.“ Elf Tage später, am Samstag der Karwoche, teilt sie der Schwiegermutter mit, daß Max und sie „Morgen früh, am Ostersonntag“ abreisen und am 14. in Heidelberg eintreffen wollen. Max habe „im gemieteten Frack an der Eröffnungsfeier des hiesigen Kongresses auf dem Kapitol u. auch an einem Empfang des Unterrichtsministers auf dem Palatin teilnehmen können. War aber über das Arrangement nicht allzu befriedigt u. hat von den zahllosen Vorträgen nur weniges, z. B. Harnack u. Gierke gehört. Dann sahen wir flüchtig die alten Bekannten, nämlich Harnack u. Gierkes u. auch August Hausrath wieder. Mir machte das Freude, u. Max war momentan auch sehr frisch u. angeregt, aber hernach doch müde davon u. behauptete die vielen Berliner etc. hier verdürben ihm ganz die römische Stimmung.“ Dann heißt es weiter: „An dem Heidelberger Historikertag wird Max natürlich auch nur ganz sporadisch teilnehmen, er möchte gern einen Vortrag von Below über die Entwicklung des Kapitalismus hören u. sich auch ev. an der Diskussion betei201 ligen. Hoffen wir, daß es geht. Das ist ja immer reiner Zufall.“ In der Tat: Am 14. April trafen Max und Marianne Weber noch nicht in Heidelberg ein. „Hier 200 Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 31. März 1903, Deponat. 201 Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 11. April 1903, Deponat.

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sitzen wir noch in Mailand u. kommen statt heute erst morgen nach Haus, da Max sich zum Schluß eine ordentliche Erkältung zugelegt hat. Sonst ist er aber ganz munter, aus der Teilnahme am Heidelberger Kongreß wird nun aber wohl nichts werden“, schreibt sie auf einer am 14. April in Mailand abgestempelten Karte. Am 15. April kehrten sie mittags in ihre Wohnung zurück. Am Tag darauf kam morgens Franz Böhm aus Karlsruhe zu Besuch, um mit Weber über sein Entlassungsgesuch zu sprechen: „er war auch anläßlich des Historikertages hier. Er hat dann in der allerliebenswürdigsten u. eindringlichsten Weise Max noch einmal zu bearbeiten gesucht, den Schritt nicht zu thun – aber Max blieb fest, worauf dann verabredet wurde, daß er zum Oktober zurücktritt“. „Max hat sich nun gleich in allerlei Lektüre gestürzt, seine Aufnahmefähigkeit läßt 202 augenblicklich nicht viel zu wünschen übrig.“ Von einer Teilnahme am Historikerkongreß ist nicht die Rede. Aber es verdient Beachtung, daß Max Weber zur Rückkehr nach Heidelberg drängte, weil er Belows Vortrag über „den modernen Kapitalismus“ hören wollte. Und da nach der Rückkehr seine „Aufnahmefähigkeit“ relativ gut war, halte ich es für wahrscheinlich, daß er seine Absicht in die Tat umsetzte. Weder in den leider nur kurzen Presseberichten noch in zwei ausführlicheren Berichten in historischen Fachzeitschriften wird allerdings ein Diskussionsbeitrag Webers erwähnt. Doch bleibt festzuhalten: Gleichsam vor Webers Haustür führen prominente Ökonomen und Historiker zwischen dem 14. und 18. April 1903 – wann genau von Below seinen Vortrag gehalten hat, läßt sich ob des Mangels an Quellen (noch) nicht sagen: mit einiger Wahrscheinlichkeit am 15. April nachmittags oder aber am 16. April – eine Debatte über die Entstehung des modernen Kapitalismus bzw. genauer: „die Frage der Genesis 203 des kapitalistischen Geistes“. Zwar deckt sich ein großer Aufsatz zur Kritik an Sombarts „Modernem Kapitalismus“, den von Below 1903 in der „Historischen 204 Zeitschrift“ publizierte, „nur zum Teil“ mit seinem Heidelberger Vortrag. Doch in der Heidelberger Debatte ging es nicht um Wirtschaftsgeschichte im engeren Sinne, sondern sehr viel grundlegender um methodologische Fragen der Genetisierung des „Geistes des modernen Kapitalismus“. Gegen Sombart wandte von

202 Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 21. April 1903, Deponat. 203 Georg von Below: Die Entstehung des modernen Kapitalismus, in: Historische Zeitschrift 91 = Neue Folge 55 (1903), S. 432–485, hier S. 476. 204 Ebd., S. 433, Anm. 2: „Ich hatte mich schon auf dem Historikertag in Heidelberg über Sombarts Buch geäußert [. . .]. Die folgende Abhandlung schließt sich aber nur zum Teil an die Form meines damaligen Vortrages an.“ Zur „Herausforderung“, die Werner Sombart für Georg von Below darstellte, siehe: Hans Cymorek: Georg von Below und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900 (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte, Nr. 142), Stuttgart 1998, S. 168–176.

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Below ein, daß er „der ‚naturwissenschaftlichen‘ Logik huldigt“. Zwar wisse Sombart „sehr gut, daß das soziale Geschehen auf Motive lebendiger Menschen zurückgeht“, und habe „auch das klare Bewußtsein des Gegensatzes, in dem er 206 in dieser Hinsicht zu Karl Marx steht“. „Indessen Sombart wird durch seine an der Naturwissenschaft orientierte Logik verhindert, die rechten Konsequenzen aus seiner richtigen Anschauung zu ziehen. Sie gestattet ihm, eine so starke Vereinfachung in der Würdigung der psychischen Motive durchzuführen, daß er schließlich doch wieder der Anschauung von den ‚gesetzmäßigen Regelmäßigkeiten‘ und dem Marxismus nahekommt, Unpersönliches an die Stelle von 207 Persönlichem setzt.“ Georg von Below wirft Sombart in dessen Beisein „eine positivistische Erklärung“ der Anfänge des modernen Kapitalismus vor, wobei er sich für die Definition von „Positivismus“ auf einen Aufsatz Ernst Troeltschs über 208 „Geschichte und Metaphysik“ aus dem Jahre 1898 stützt: Unter „Positivismus“ sei „diejenige Auffassung“ zu „verstehen, die möglichst wenig aus einheimischen 209 Kräften des Geistes und möglichst viel aus äußeren Einzelwirkungen erklärt“. Obendrein könne Sombart nicht erklären, „daß der ‚kapitalistische Geist‘ trotz 210 gleicher äußerer Voraussetzungen nicht bei allen Völkern erscheint“. Zudem: „Wer sagt uns denn, daß für die Begründung einer kapitalistischen Unternehmung ein Kapital von exorbitanter Höhe erforderlich ist? Wir machen keineswegs die Beobachtung, daß nur die ganz reichen und die allerreichsten Personen großindustrielle Unternehmungen beginnen. Nicht bloß auf ein zur Verfügung stehendes Kapital, sondern auch auf die individuellen Neigungen und Befähigungen 211 der Personen kommt es an. Sombarts Kapitalbegriff ist zu unpersönlich.“ In der „äußerst lebhafte[n] Debatte“ wies Sombart diese Kritik dann zwar mit dem Argument zurück, von Below „verwechsle Wirtschaftsgeschichte mit Wirtschafts212 theorie“. „Der Wirtschaftshistoriker müsse allerdings eine Vielseitigkeit von Beeinflussungen und Wirkungen anerkennen, der Wirtschaftstheoretiker, den er in seinem Buch vertrete, aber habe nur die wirtschaftliche Ursache aufzudecken, die sonstigen politischen, religiösen, literarischen und anderen Einwirkungen

205 Ebd., S. 433. 206 Ebd., S. 434. 207 Ebd., S. 434 f. 208 Ernst Troeltsch: Geschichte und Metaphysik, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 8 (1898), S. 1–69. Zit. bei: Georg von Below: Die Entstehung des modernen Kapitalismus (wie Anm. 203), S. 445. 209 Georg von Below: Die Entstehung des modernen Kapitalismus (wie Anm. 203), S. 455. 210 Ebd., S. 476. 211 Ebd., S. 478 f. 212 Anonym: Die VII. Versammlung Deutscher Historiker, in: Historische Vierteljahrsschrift. Neue Folge der Deutschen Zeitschrift für Geschichtswissenschaft VI (1903), S. 299–307, hier S. 302.

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hätten für ihn nur den Wert objektiver Bedingungen.“ Doch nicht nur der in Marburg lehrende Nationalökonom Heinrich Sieveking, der sich 1897 bei Max Weber in Freiburg habilitiert hatte, sondern auch Karl Lamprecht lehnten die „von Sombart behauptete Scheidung von Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte“ ebenso ab wie sein Schema von „Ursache“ und „Wirkung“. Nun läßt sich, wie gesagt, eine Teilnahme Webers am Heidelberger Historikertag (jedenfalls bisher) nicht belegen. Aber er hat gewußt, daß über die „Genese des Geistes des Kapitalismus“ diskutiert werden sollte. Zudem hat Carl Neumann hier über „Byzantinische Kultur und Renaissancekultur“ vorgetragen. Erich Marcks, seit 1901 Ordinarius für Neuere Geschichte in Heidelberg und „Leiter“ der Versamm214 lung mit fast 200 Teilnehmern, sprach über Ludwig Häusser, Eberhard Gothein, damals noch Ordinarius in Bonn, trug über Vorderösterreich unter Maria Theresia und Joseph II. vor. Friedrich Gottl (seit 1907, dem Jahr der Nobilitierung seines Vaters, dann: Friedrich Edler von Gottl-Ottilienfeld) freilich, der nach seiner Habilitation in Heidelberg 1900 seit 1902 an der Technischen Hochschule in Brünn lehrte, bereitete im Vortrag „Über die Grenzen der Geschichte“ „durch 215 seine übermäßig abstrakte Behandlung eine Enttäuschung“. Troeltsch gehörte dem vorbereitenden lokalen Komitee bzw. „Ortsausschuß“ des Historikertages an. Insgesamt nahm die Heidelberger Versammlung deutscher Historiker „durch 216 die Fülle und Güte des Gebotenen einen überaus anregenden Verlauf“. Nun will ich nicht behaupten, daß auch Max Weber hier „angeregt“ worden ist. Aber liegt es nicht nahe, daß ihn das (sei es durch eigenes Hören, sei es durch Berichte Dritter gewonnene) Wissen um die Heidelberger KapitalismusKontroversen zwischen Sombart, Lamprecht, von Below und anderen dazu motiviert hat, seinen – nach eigenem Bekunden – bereits früher angedeuteten Hypothesen über Zusammenhänge zwischen calvinistischer, genauer: puritanisch asketischer Ethik und „Geist des Kapitalismus“ näher nachzugehen? Man muß die Publikation der Weber-Briefe 1903/1904 abwarten, um diese Frage – vielleicht – beantworten zu können. Aber selbst wenn Weber von Belows Vortrag und der

213 Ebd., S. 302. 214 Dazu siehe den kurzen Bericht über die „7. Versammlung deutscher Historiker“, in: Historische Zeitschrift Neue Folge 55 = Der ganzen Reihe 91 (1903), S. 190–191, hier S. 190. In einem anderen Bericht heißt es: „Die Zahl der Teilnehmer belief sich nach der letzten, aber immer noch nicht vollständigen Liste auf 189, die aus allen Teilen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz zusammengekommen waren. Darunter befanden sich nach unserer Zählung 76 Hochschuldozenten, 38 Gymnasiallehrer etc., 22 Archiv- und Bibliotheksbeamte und 21 Studirende.“ Anonym: Die VII. Versammlung Deutscher Historiker (wie Anm. 212), S. 299. 215 Bericht über die „7. Versammlung deutscher Historiker“ (wie Anm. 214), S. 191. 216 Ebd., S. 190.

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anschließenden Debatte nicht hat lauschen können – Freunde wie Carl Neumann und Troeltsch dürfte er um Auskunft gebeten haben. Mehr noch: Viel spricht für die Vermutung, daß er nach dessen Vortrag mit dem damals in Tübingen lehrenden Georg von Below über die „Genese des modernen Kapitalismus“ gesprochen hat. Von Belows Einladung an Max Weber, 1906 beim Stuttgarter Historikertag zum Thema zu sprechen, läßt jedenfalls mehr als bloße Bekanntschaft, eben einige Vertrautheit erkennen. Wie auch immer – sein Thema, die „Genese des Geistes des Kapitalismus“, war eben nicht nur sein Thema, sondern wurde 1903 auch von manch anderen als äußerst wichtig erachtet: „Das Thema 217 ist das lockendste, das sich heute finden läßt.“ In der Weber-Forschung ist bisher nicht gesehen worden, daß Weber Georg von Below zur Dankbarkeit verpflichtet war. Spätestens seit Beginn des Jahres 1904 standen sie miteinander in brieflichem Kontakt. Am 17. Juli 1904 bedankte sich Weber in einem längeren Brief „verbindlichst für Ihre sehr freundliche Zusendung und ebenso im sachlichen Interesse wie aus persönlichen Gründen 218 für Ihren Hinweis auf meine Arbeit“ – dieser Dank bezieht sich darauf, daß von Below in der „Allgemeinen Zeitung“ am 14. Juli 1904 ausführlich über Webers 219 wichtigen Objektivitäts-Aufsatz berichtet hatte . Zwei Tage später, am 19. Juli dankt Weber Georg von Below, der in der gelehrten Welt der „oberrheinischen Kulturprovinz“ bestens vernetzt war und intensiv Rickerts Geschichtstheorie 220 rezipiert hatte, für seine schnelle Antwort. In diesem Zusammenhang heißt es: „Nun gestatte ich mir noch eine Anfrage. Ich möchte Jellineks ‚Erklärung der Menschenrechte‘ gern in einer kurzen Besprechung – nicht: Kritik, das würde kaum passen – ergänzen, in Bezug auf die, für den Inhalt der im Cromwellschen Zeitalter geforderten Individualrechte, massgebende geschichtliche Situation. Glauben Sie, daß dafür in Ihrer Zeitschrift (event.) Unterkunft wäre, eventuell: weil ich nämlich nicht sicher bin, ob ich vor meiner Abreise dazu komme, die Sache zu Papier zu bringen. Paßt diese [. . .] Sache in Ihr Arbeitsgebiet nicht, so

217 Georg von Below: Die Entstehung des modernen Kapitalismus (wie Anm. 203), S. 432. Noch nicht eingesehen werden konnte: Georg von Below: Der Ursprung des modernen Kapitalismus, in: Die Zeit [Wien], 23. Mai 1905. 218 Brief Max Webers an Georg von Below vom 17. Juli 1904, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin, VI. HA, Nachlaß Max Weber, Nr. 30, Band 4. 219 Georg von Below: Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Allgemeine Zeitung, Beilage Nr. 159, 14. Juli 1904. 220 Dazu siehe: Hans Cymorek: Preußisches Erbe und die Vorzüge Badens: Georg von Below in der ‚oberrheinischen Kulturprovinz‘, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 149 (2001), S. 317–334.

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bitte ich um einfache Ablehnung.“ Beachtung verdient, daß Weber diese kleine Jellinek-Besprechung nicht im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“, sondern in der von Georg von Belows mitherausgegebenen „Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“ veröffentlichen wollte. Bekanntlich hat Weber diesen Text vor der Abreise in die USA nicht mehr schreiben können. Daß er nach der Rückkehr aus den USA auf diesen Plan nicht mehr zurück kam, erklärt er im August 1905 auch mit Blick auf Troeltsch. Nun schrieb er an von Below: „Bezüglich des Vortrags auf dem Historikertag hatte ich leider wohl vergessen, Sie zu bitten, Tröltsch nicht zu schreiben, dass ich ihn in Vorschlag gebracht habe. Nun entsteht der übliche edle Wettstreit: ‚Und weil keiner wollte leiden, dass der Andere für ihn zahle‘. – Ich habe s. Zt. meinen Artikel über Jellinek nicht geliefert, da ich annahm, dass Tröltsch die Sache ganz so wie 222 ich behandeln würde. So liegt es auch mit dem Vortrag.“ Weber meint damit Troeltschs Vortrag auf dem Stuttgarter Historikertag. 13. Nur wenig ist bisher über einige jüngere Heidelberger Gelehrte bekannt, die in ihren Dissertationen an Fragestellungen Webers wie Troeltschs anknüpften. Exemplarisch genannt sei zunächst der Ökonom und Religionshistoriker Ernst H. Correll, der seinen ursprünglich für das „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ gedachten „soziologischen Bericht“ über Schweizer Mennoniten 1925 bei J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) als kleine, 151 Seiten umfassende Monographie veröffentlichte; das Buch trägt die Widmung: „Dem Andenken von Max Weber und Ernst Troeltsch gewidmet“. Zu beiden stand Correll in Kontakt. So erklärte er im „Vorwort“: „Dreier Toter habe ich zunächst zu gedenken: Max Weber, der meine ersten Schritte in das religionssoziologische Gebiet begleitet und mich zu vorliegender Untersuchung ermuntert hat. Dabei kam mir auch seine persönliche Kenntnis der niederländischen Mennoniten zustatten. Nach dem Hinscheiden Max Webers und nach fortgeschrittener Klärung des Materials durfte ich mich über die Soziallehren des Täufer-Mennonitentums mit Ernst Troeltsch besprechen. In besonderer Hinsicht erfuhr ich Unterstützung durch Eberhard Gothein, den intimen Kenner der südwestdeutschen Wirtschafts- und 223 Verwaltungsgeschichte.“ Auch mit Marianne Weber stand Correll, der sich als einen „Hinterbliebenen aus dem Weberschen Seminar“ bezeichnete und 1920

221 Brief Max Webers an Georg von Below vom 19. Juli 1904, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin, VI. HA, Nachlaß Max Weber, Nr. 30, Band 4. 222 Brief Max Webers an Georg von Below vom 23. September 1905, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin, VI. HA, Nachlaß Max Weber, Nr. 30, Band 4. 223 Das schweizerische Täufermennonitentum. Ein soziologischer Bericht von Dr. oec. publ. Ernst H. Correll, Tübingen 1925, S. VI.

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einen Nachruf auf den Lehrer geschrieben hatte, in Kontakt: „Frau Dr. h. c. 225 Marianne Weber darf ich für hilfreiches Interesse danken“ . 226 Einige der jüngeren Russen, mit denen Max Weber in Verbindung stand, besuchten Vorlesungen Ernst Troeltschs: Im Sommersemester 1902 hörte der damals 34jährige Dr. phil. Bogdan (bzw. Theodor) Kistjakowski bei dem nur drei Jahre älteren Troeltsch vierstündig „Religionsphilosophie“; seine Dissertation „Gesellschaft und Einzelwesen“, die starke Einflüsse Georg Simmels erkennen 227 läßt, wurde von Troeltsch gerade mit Blick auf den Begriff der „Gesellschaft“ 228 in den „Soziallehren“ mehrfach zitiert . Einzelheiten über die Kontakte zwischen Kistjakowski und Troeltsch haben sich bisher nicht erschließen lassen. Entsprechendes gilt auch für Troeltschs Beziehung zu Fedor Steppuhn bzw. Stepun, der im Sommersemester 1904 unter den 30 Hörern von Troeltschs erneut vierstündiger „Religionsphilosophie“-Vorlesung war. Zu nennen ist weiterhin Hans Ehrenberg, ein Neffe des liberalen Ökonomen Richard Ehrenberg, der über sehr gute – in Max Webers kritischen Augen: allzu gute – Verbindungen in die Chefetagen der Montanindustrie an Rhein und Ruhr verfügte. Hans Ehrenberg, Jahrgang 1883, hatte 1902 ein Jurastudium in Göttingen begonnen, wo sein Onkel Victor Rechtswissenschaften lehrte. Nach drei Semestern Jura wechselte er zum Wintersemester 1902/1903 für drei Semester nach Berlin, nun hauptsächlich an staats- und sozialwissenschaftlichen Problemen interessiert. Von 1903 bis 1905 Mitglied in Friedrich Naumanns Nationalsozialem Verein ging Hans Ehrenberg zum Sommersemester 1904 nach

224 Ernst Correll: Max Weber †, in: Die Hochschule 4 (1920), 4. Heft, S. 97–100, dann in: René König, Johannes Winckelmann (Hrsg.): Max Weber zum Gedächtnis. Materialien und Dokumente zur Bewertung von Werk und Persönlichkeit (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 7), Köln, Opladen 1963, S. 90–94. 225 Ernst H. Correll: Das schweizerische Täufermennonitentum (wie Anm. 223), S. XI. 226 Zum Thema grundlegend: Hubert Treiber: Die Geburt der Weberschen Rationalismusthese: Webers Bekanntschaft mit der russischen Geschichtsphilosophie in Heidelberg. Überlegungen anläßlich der Veröffentlichung des ersten Briefbandes der Max-Weber-Gesamtausgabe, in: Leviathan 19 (1991), S. 435–451; ders.: Max Weber und die russische Geschichtsphilosophie: Ein ‚erster Blick‘ in Webers ‚ideale Bibliothek‘. Mit einem thematisch begrenzten Exkurs zu ‚Weber und Tolstoi‘, in: Volkhard Krech, Hartmann Tyrell (Hrsg.): Religionssoziologie um 1900, Würzburg 1995, S. 249–288. Zum Kontext: Willy Birkenmaier: Das russische Heidelberg. Zur Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen im 19. Jahrhundert, Heidelberg 1995. Troeltsch wird hier nicht erwähnt. 227 Theodor Kistjakowski: Gesellschaft und Einzelwesen. Eine methodologische Untersuchung. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der KaiserWilhelms-Universität zu Strassburg, Berlin 1899, eine erweiterte Fassung erschien unter demselben Titel ebenfalls im Verlag Otto Liebmann 1899 in Berlin. 228 GS I, S. 9, Anm. 5.

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Heidelberg, wo er im Wintersemester 1904/1905 auch Troeltsch hörte; zum Wintersemester 1905/1906 wechselte er abermals, nun nach München, wo er bei dem gegenüber Troeltsch wie Weber kritisch eingestellten Kathedersozialisten Lujo Brentano eine Dissertation über „Eisenhüttentechnik und der deutsche 229 Hüttenarbeiter“ schrieb, eine der ersten empirisch orientierten betriebssoziologischen Untersuchungen im deutschen Sprachraum – sein Onkel Richard hatte ihm den Zugang zum Hüttenwerk des Hörder Vereins in der Nähe von Dortmund 230 vermittelt . Nach dem Rigorosum – die Urkunde zur Promotion zum „Dr. oec. publ.“, verdeutscht dann als „Doktor der Staatswissenschaften“, trägt das Datum des 12. Juni 1906 – mußte Ehrenberg im Geburts- und Heimatort Kassel seine Militärdienstzeit ableisten. Sein zweites Studium, das den jungen, in einem assimilierten und eher religionsfernen wirtschaftsbürgerlichen Haushalt aufgewachsenen Juden über die Philosophie bald zur Systematischen Theologie führte, begann er im Wintersemester 1907/1908 in Heidelberg. Gemeinsam mit seinem geliebten Cousin Franz Rosenzweig – ihre Freundschaft und Arbeits231 gemeinschaft waren äußerst emotionsdicht – erschloß er sich die klassische deutsche Philosophie, neben Fichte und Schelling vor allem Hegel. Im Alter von 26 Jahren entschied Hans Ehrenberg sich dazu, ein bekennender, religiös aktiver Christ zu werden; er ließ sich am 3. November 1909 in der evangelischen Trinitatiskirche in Charlottenburg taufen. Franz Rosenzweig unterstützte diese Konversion. In seinem Lebenslauf zum 2. Examen schreibt Ehrenberg 1924: „Meine religiöse Entwicklung entspricht in einer gewissen Weise der geistigen. Zweifel und atheistische Strömungen übten keine Wirkung auf mich aus; die Kinderreligion ging mir nie ganz verloren. Doch verdeckten die kulturellen Interessen für Jahre den religiösen Sinn.“ „Meine Erziehung war fast überkonfessionell und daher unkirchlich zu nennen; so stand ich als junger Mann jedem Kirchentum fern. Einen Teil der klassischen Religionsbildung hatte ich als Kind erhalten, habe mich aber erst mitten in den Stürmen meiner Entwicklung im Alter von 26 Jahren zur Taufe entschlossen und machte damit dem konfessionell unentschiedenen Zustand ein Ende. Seit dieser Zeit [. . .] erhielt mein Leben den unbedingten religiösen Unterton, der schon vor dem Kriege zum Oberton wurde. [. . .] Trotz meiner starken Kulturinteressen entwand ich 229 Hans Ehrenberg: Die Eisenhüttentechnik und der deutsche Hüttenarbeiter (Münchener volkswirtschaftliche Studien, Band 80), Stuttgart, Berlin 1906. 230 Dazu siehe: Günter Brakelmann: Hans Ehrenberg. Ein judenchristliches Schicksal in Deutschland, Band 1: Leben, Denken und Wirken 1883–1932 (Schriften der Hans Ehrenberg Gesellschaft, Band 3), Waltrop 1997, S. 18–20. 231 Dazu siehe jetzt auch: Franz Rosenzweig: Feldpostbriefe. Die Korrespondenz mit den Eltern (1914–1917), hrsg. und mit einer Einleitung versehen von Wolfgang D. Herzfeld (Rosenzweigiana. Beiträge zur Rosenzweig-Forschung, Band 7), Freiburg, München 2013.

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mich dem Kulturliberalismus, der mir durch persönliche Beziehungen zu Ernst Troeltsch nahestand, und bekannte mich bei meinem Übertritt zur Absolutheit des Christentums, lehnte daher auch damals die sogenannte religiös vergleichen232 de Betrachtung ab.“ Noch 1909 kann Ehrenberg die bei Wilhelm Windelband geschriebene philosophische Dissertation über „Kants mathematische Grundsät233 ze der reinen Naturwissenschaft“ abschließen und sich schon im Jahr darauf, im April 1910, auch von Troeltsch gefördert und unterstützt, mit einer „Kritik der Psychologie als Wissenschaft. Forschungen nach den systematischen Prinzipien 234 der Erkenntnislehre Kants“, einer erheblich überarbeiteten und erweiterten Fassung der Dissertation, in Heidelberg für das Fach Philosophie habilitieren. Im Wintersemester 1910/1911 liest er dann neben Windelband, Lask und Troeltsch „Über das System der Geschichts- und Kulturphilosophie“. Wann genau Ehrenberg, der über seine Familie gute Kontakte zu Camilla und Georg Jellinek hatte, Max und Marianne Weber kennenlernte, ist unklar. Oft besuchte er Troeltsch in der Ziegelhäuser Landstraße 17, und es mag sein, daß er die Webers über Troeltsch kennenlernte. Ehrenberg nahm, wie Berichte Rosenzweigs zeigen, am Jour der Webers teil: „Hans hat ein paar Nächte mit Bloch und Lucacz disputiert, daher weiss ich allerlei, Lucacz habe ich auch einmal, auf der Strasse, gesehen. Der interessanteste von den dreien schien mir Bloch zu sein. Er schrieb z. B. an den Papst, weil der irgend eine Rolle in seiner Apokalyptik spielte, sozusagen um ihn einzustudieren damit er auch richtig funktionierte. Eine grosse Rolle in seinem System spielten astrologische Parallelen zwischen Erde und Himmel [. . .]. Bloch war ganz wild. Z. B. als Naumann mal Webers besuchte und über die Politik des Jahres – des Jahres, nun etwa 1913 1/2 orakelte und alles ihm sehr andächtig zuhörte, unterbrach ihn Bloch: das sei doch alles sehr nebensächlich, da grade jetzt demnächst der Sirius u.s.w. u.s.w. Nun liess er das Gespräch nicht wieder los und redete vom Sirius und der Gegenwart, und Naumann war ganz 235 bestürzt, und auch Webers war es etwas zu viel.“ Mit Blick auf jenen „type of professor“, der sich als „the intellectual und moral leader of the nation“ ver-

232 Hans Ehrenberg: Lebenslauf zum 2. Examen, in: ders.: Autobiographie eines deutschen Pfarrers, hrsg. von Günter Brakelmann (Schriften der Hans Ehrenberg Gesellschaft, Band 5), Waltrop 1999, S. 168–176, hier S. 170. 233 Hans Ehrenberg: Kants mathematische Grundsätze der reinen Naturwissenschaft, Leipzig 1910. 234 Hans Ehrenberg: Kritik der Psychologie als Wissenschaft. Forschungen nach den systematischen Prinzipien der Erkenntnislehre Kants, Tübingen 1910. 235 Brief Franz Rosenzweigs an Margrit Rosenstock-Huessy vom 13. Januar 1919, in: Franz Rosenzweig: Die „Gritli“-Briefe. Briefe an Margrit Rosenstock-Huessy, hrsg. von Inken Rühle und Reinhold Mayer, mit einem Vorwort von Rafael Rosenzweig, Tübingen 2002, S. 220–221, hier S. 220.

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stand, schrieb Ehrenberg im englischen Exil: „To it there belonged two men who not only worked at the same universiy of Heidelberg, but were also born during the same period. [. . .] I mean Max Weber and Ernst Troeltsch, familiar to English readers as the authors respectively of two famous books: The Protestant Ethic and the Rise of Capitalism and The Social Teaching of the Christian Churches. [. . .] The fact that both men were democrats made them very acceptable to your countrymen, but their kind of democracy was the social-democracy of Naumann. They were both professing Christians, but not churchmen, Troeltsch the theologian no more than Weber the economist, and the former accepted the offer from Berlin University of the chair of philosophy in preference to that of theology. Both men 236 belonged to the south-western school of neo-Kantian philosophy“. „Virtually the last professors of this idealistic creed – I mean, of course, Troeltsch and Weber (Rickert, who outlived them, went over to the Nazis) – were shipwrecked on the rock of their chief work, the education of the German people for political life, just as was their friend Naumann, and Stefan George, to whom Weber, the more fine-feeling of the two, managed significantly enough to build a bridge. Troeltsch and Weber died in the knowledge that their attempt to educate the nation politically, ethically, and intellectually was being frustrated. [. . .] When Weber, who possessed almost demonic features of greatness, retired to continue his purely academic work, after unsuccessfully trying to persuade Ludendorff to offer himself as a hostage in the place of the Kaiser, we friends of his felt that his spirit was broken; and a year later he died. Troeltsch, the stronger of the two, followed him after three years. Neither was sixty years of age. Before the war Weber several times paid me the honour of reading to me some chapters of his work on the sociology of religion in its initial stages. With Troeltsch I stood in a more intimate relationship. He visited me with obvious pleasure in my rooms in 1912. [. . .] almost daily we went swimming together. At that time neo-Hegelianism was not very popular among the academic brass-hats; so I pulled Troeltsch’s leg one day, knowing that I was considered to be a Hegelian; he was on the point of performing one of his vigorous and splashing dives into the river, so I instructed him in the Hegelian method of diving: the leap into the air – that was the Thesis; the dive down into the river – the Antithesis; the emergence from the water – the Synthesis. Several of his young friends used to accompany him to my cottage above the Neckar and just below the Philosopher’s Walk. They used to sit on the terrace behind a trellis of ivy a century old, or play together in a string quartet in the sitting room, drinking German wine and

236 Hans P. Ehrenberg: Autobiography of a German Pastor, London 1943, S. 101.

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philosophizing. Troeltsch’s philosophy of religion left me cold; [. . .] Troeltsch’s 237 gold was his approach to historical problems.“ Der weitere Gang von Ehrenbergs Leben ist hier nicht zu schildern. Nachdem er sich bei Kriegsbeginn als Offizier zur Front gemeldet hatte – er war „vom 238 zweiten Kriegstag an Soldat“, in der tiefen Überzeugung, daß das Deutsche Reich einen ihm aufgezwungenen gerechten Krieg führe und siegen werde –, unterstützt er seit Dezember 1917 den von Troeltsch – den er im Krieg in Ber239 lin „häufig“ aufsucht – geführten „Volksbund für Freiheit und Vaterland“, tritt im Oktober 1918 in die SPD ein, wird im selben Monat in absentia von der Heidelberger Universität zum außerordentlichen Professor für Philosophie ernannt, entscheidet sich bald aber für ein drittes Studium, das der evangelischen Theologie, um religiös-sozialistischer Pfarrer werden zu können – als „judenchristlicher“ Pfarrer der Bekennenden Kirche, der aufgrund seines entschiedenen Kampfes gegen die „Deutschen Christen“ im September 1938 mit einem „totalen Predigt- und Redeverbot“ zum Schweigen gebracht werden sollte und nach der Verwüstung seiner Wohnung in den Novemberpogromen 1938 ins KZ Sachsenhausen verschleppt wurde, konnte Ehrenberg dank einer Intervention des Bischofs von Chichester George Bell im April 1939 aus Deutschland ausreisen und über Holland nach England fliehen; auch seine Familie durfte ihm kurz vor Kriegsbeginn folgen. Ein dritter stark von Weber wie Troeltsch inspirierter Heidelberger Religionsdeuter sei noch genannt: Paul Honigsheim. Geboren 1885 in Düsseldorf hatte der Sohn eines katholischen Bankdirektors und einer aus Frankreich stammenden Mutter zunächst in Bonn und Berlin Geschichte, Staatswissenschaften, Philosophie, Öffentliches Recht und Kirchenrecht studiert, bevor er zu einem derzeit noch nicht genau zu bezeichnenden Zeitpunkt 1905 oder 1906 nach Heidelberg kam. Hier in Heidelberg hörte er Vorlesungen Eberhard Gotheins, Georg Jellineks, Erich Marcks’, Karl Rathgens, Ernst Troeltschs und Wilhelm Windelbands. Jellinek, an dessen Seminar er teilnahm, stellte ihn an der sagenumwobenen Stiftsmühle Max Weber vor. Auch nahm Honigsheim an Seminaren Ernst Troeltschs teil, den er ebenso wie Jellinek und Erich Marcks zu „seinen 240 eigentlichen Lehrern“ zählte. Mit einer Arbeit über „Die Staats- und Soziallehren der französischen Jansenisten im 17. Jahrhundert“ wurde er am 26. Mai

237 Ebd., S. 103 f. 238 Günter Brakelmann: Hans Ehrenberg (wie Anm. 230), S. 49. 239 Ebd., S. 69. 240 Karl Gustav Specht: [Art.] Honigsheim, Paul, in: Neue Deutsche Biographie, Band 9, Berlin 1972, S. 600–601, hier S. 600.

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1914 in Heidelberg zum Dr. phil. promoviert. In der Gemeinsamen Bibliothek der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Heidelberger Universität ist das Widmungsexemplar erhalten, das Honigsheim Marianne und Max Weber schenkte: „Herrn und Frau Professor D. Weber in grösster Verehrung überreicht, als ein Zeugnis der Anregungen und Eindrücke, aus Schriften und Unterredungen empfangen, zugleich auch als ein kleines Zeichen der Dankbarkeit für tiefste menschliche Anteilnahme. Paul Honigsheim Detmold, 9 VI. 14.“ Das Exemplar trägt den Vermerk „eingestellt, 12. Juni 1950 m“, wurde der Bibliothek – so die dort eingeholte Auskunft – aber bereits am 15. Juli 1948, also nur wenige Wochen nach der Währungsreform vom 20. Juni 1948, von Marianne Weber für 3 DM verkauft. „Die neueren Werke von Gierke, Jellinek, von Meier, Troeltsch und Max Weber haben vor allem die Bedingtheit des Naturrechts durch ökonomische, politische und insbesondere religiöse Faktoren herausgearbeitet. Auf sie wird im folgenden oft Bezug zu nehmen sein“, schreibt Honigsheim zu Beginn der 242 Arbeit. Honigsheim, der seine Homosexualität offen lebte, nahm regelmäßig an den sonntäglichen Jours der Webers teil und führte mit Max Weber zahlreiche Gespräche. „Obwohl er im eigentlichen Sinne kein Schüler Webers war, gehörte er doch zum engeren Kreis um Weber. Trotz der offenbaren gegenseitigen Achtung und der grundsätzlich übereinstimmenden Weltanschauung, die ihre Beziehung charakterisierte, sah sich Webers Frau Marianne oft veranlaßt, in die hitzigen Diskussionen einzugreifen und Weber um Nachsicht mit dem jungen 243 Honigsheim zu bitten.“ Zudem besuchte er immer wieder Troeltsch, auch nach dessen Wechsel nach Berlin. Aufgrund seiner exzellenten Französischkenntnisse wurde er im Krieg als Dolmetscher in deutschen Gefangenenlagern eingesetzt. Nach Kriegsende strebte Honigsheim eine akademische Laufbahn an. Am 23. April 1919 schrieb er an Max Weber: „Insbesondre hatte ich mit der Möglichkeit gerechnet, durch Geheimrat Troeltsch, den ich verschiedentlich in Berlin während des letzten halben Jahres sah, und der ja jetzt Unterstaatssekretär ist, irgendwo untergebracht zu werden, doch ist es gekommen, wie es im allgemeinen Geheimrat Walter Goetz und Geheimrat Meinecke vorausgesagt hatten. Troeltsch ist wohl einer der glänzendsten politischen Redner und Schriftsteller, aber die eigentliche Initiative des 241 Paul Honigsheim: Die Staats- und Soziallehren der französischen Jansenisten im 17. Jahrhundert, Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der hohen philosophischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität zu Heidelberg, Heidelberg 1914, Nachdruck: Darmstadt 1969. 242 Ebd., S. 12, Anm. 21. 243 Allan Beegle, Rolf Schulze: Paul Honigsheim (1885–1963), in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 15 (1963), S. 1–5, hier S. 1.

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Staatsmannes ist ihm weniger gegeben. Und so hat er auch jetzt nichts für mich unternommen. Unter diesen Umständen glaube ich, berechtigt zu sein, vorläufig die Politik wieder in den Hintergrund zu stellen, und zunächst einmal meine 244 alten Habilitations-Pläne wieder aufzugreifen.“ Honigsheim fragte Weber dann nach einer geeigneten Universität für die Habilitation, vor allem mit Blick darauf, daß ihm die Universität Halle für eine Habilitation „in mehrfacher Hinsicht sehr 245 zweckmäßig“ erscheine. Weber antwortete drei Tage später: „Tröltsch könnte 246 immerhin in Halle etwas für Sie tun.“ Troeltsch vermittelte Honigsheim dann eine Assistentenstelle bei Max Scheler in Köln. 1920 übernahm er auf Bitte Konrad Adenauers hauptamtlich die Leitung der Kölner Volkshochschule. Da Honigsheim wegen seiner linken politischen Grundhaltung als Gegner des NSRegimes galt, ging er im Herbst 1933 nach Paris, wo er die Leitung des Pariser Zweigbüros des Instituts für Sozialforschung übernahm. 1936 folgte er einem Ruf an die Nationale Universität von Panama, und 1938 ging er als Professor für Soziologie und Anthropologie an die Michigan State University. Zu Marianne 247 Weber, die ihn sehr mochte, blieb er auch aus den USA in Kontakt. In „Erin248 nerungen“ an seine Heidelberger Jahre hat Honigsheim mehrfach über seine Gespräche mit Weber, Troeltsch und Jellinek berichtet. Für die Weber-Rezeption in den USA spielte er vor allem in den 1940er und 1950er Jahren eine wichtige 249 Rolle. Auch trug er dazu bei, die religionssoziologische Typologie Troeltschs, also die Unterscheidung von Kirche, Sekte und Mystik, bei englischsprachigen Sozialwissenschaftlern bekannt zu machen. 14. In der Weber-Literatur ist bisweilen vermutet worden, daß möglicherweise Ernst Troeltsch sich daran beteiligt habe, eine Berufung Georg Simmels, damals noch Privatdozent in Berlin, in die Philosophische Fakultät der Heidelberger Universität zu verhindern. Weber selbst hielt Troeltsch, den Windel244 Brief Paul Honigsheims an Max Weber vom 23. April 1919, zit. in: MWG II/10, S. 591. 245 Zit. nach: MWG II/10, S. 592. 246 Brief Max Webers an Paul Honigsheim vom 26. April 1919, in: MWG II/10, S. 591–593, hier S. 592. 247 Dies zeigen diverse Briefe Honigsheims im Nachlaß Marianne Webers, Bayerische Staatsbibliothek München, Deponat Max Weber, Ana 446 B. 248 Paul Honigsheim: Max Weber in Heidelberg (wie Anm. 96). 249 Paul Honigsheim: Max Weber as Rural Sociologist, in: Rural Sociology 11/3 (September 1946), S. 207–218; ders.: Max Weber as Applied Anthropologist, in: Applied Anthropology. Problems of Social Organization 7 (Fall 1948), S. 270–335; ders.: Max Weber as Historian of Agriculture and Rural Life, in: Agricultural History 23/3 (July 1949), S. 179–213; ders.: Max Weber. His Religious and Ethical background, in: Church History 19 (1950), S. 219–239. Diese Texte finden sich nun mit vier aus dem Deutschen übersetzten Weber-Texten Honigsheims in: Paul Honigsheim: The Unknown Max Weber, edited and with an introduction by Alan Sica, New Brunswick (U.S.A.), London (U.K.) 2000, Taschenbuchausgabe: 2003.

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band „privatim“ über den Grund seiner Ablehnung Simmels – er wollte keine starke Konkurrenz neben sich haben – informiert hatte, für einen Gegner Simmels, sprach in einem Brief an Heinrich Rickert im Mai 1908 jedenfalls von 251 einer „Aversion des persönlich sehr einflußreichen Tröltsch“ – nachdem er am 1. April 1908 Rickert berichtet hatte: „Es folgte weiterhin die Behauptung W[indelband]’s, er könne S[immel] nicht vorschlagen, Tröltsch’s wegen, der auf ihn ‚drücke‘ [sic!], dies nicht zu tun (durchaus glaubwürdige Mitteilung Jellineks, dem gegenüber W[indelband] dies damals – Herbst – wiederholt geltend gemacht haben muß, denn es war auch von andrer Seite etwas durchgesickert). Tröltsch, dessen (theologisch motivierte) Antipathie gegen S[immel] Jedermann bekannt war, bestritt auf das Entschiedenste, jemals irgend wie zu S[immel]’s Ungunsten 252 interveniert zu haben.“ Nun verfügte Troeltsch spätestens seit seiner Zeit als Prorektor – im akademischen Jahr 1906/1907 – über ausgezeichnete Kontakte ins Badische Ministerium der Justiz, des Kultus und des Unterrichts (seit 19. Mai 1911, der Ernennung des bislang schon für Hochschulfragen zuständigen Franz Böhm zum Minister: Ministerium des Kultus und Unterrichts), speziell zu Franz Böhm, den er sehr oft in Karlsruhe aufsuchte. Doch für irgendwelche gegen Simmel gerichteten Aktivitäten Troeltschs gibt es keinerlei Beleg. Er hat sich insoweit auch nicht indirekt gegen Georg Jellinek und Max Weber gewandt, die Simmel sehr gern in Heidelberg gesehen hätten. Troeltsch und Simmel kannten sich, wie ein Brief Simmels an Jellinek zeigt, damals noch nicht persönlich; dies hat sich spätestens mit dem Gründungskongreß der „Deutschen Gesellschaft für Soziologie“ im Oktober 1910 in Frankfurt geändert. Die Frage, ob Troeltsch, wie von Simmel gegenüber Jellinek im Juni 1908 erhofft, damals zugunsten Simmels und gegen die ihn ablehnenden konservativen „Pfaffen“ in Karlsruhe interveniert 253 hat, läßt sich nicht klären – es gibt dazu keinerlei amtliche Quellen. Doch in einem Beitrag zum „Buch des Dankes an Georg Simmel“ hat Paul Honigsheim

250 So Weber in einem Brief an Georg Jellinek vom 21. März 1908, in: MWG II/5, S. 469 f., hier S. 470. 251 Brief Max Webers an Heinrich Rickert vom 18. Mai 1907, in: MWG II/5, S. 308–310, hier S. 309. 252 Brief Max Webers an Heinrich Rickert vom 1. April 1908, in: MWG II/5, S. 492–497, hier S. 493. 253 Siehe den Brief Georg Simmels an Georg Jellinek vom 22. Juni 1908, in: Georg Simmel: Briefe 1880–1911, bearbeitet und hrsg. von Klaus Christian Köhnke (Georg Simmel: Gesamtausgabe, Band 22), Frankfurt a. M. 2005, S. 630–632, hier S. 630: „Sollte übrigens in dieser Richtung nicht ein Wort von Tröltsch als Gegengift wirken können? Ich kenne ihn zwar nicht u. es besteht keinerlei Verbindung zwischen uns, aber ich schließe aus seiner Rezension eines meiner Bücher, daß er mir wohlgesonnen ist, u. so würde es jene Einflüsse vielleicht abschwächen, wenn einmal ein Theologe seine Stimme für mich erhöbe.“

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Troeltsch auf der Seite derer gesehen, die Simmel 1908 nach Heidelberg holen wollten. „Nun wurde grade er [sc. Simmel] nicht nur von Gothein und Jellinek angefordert, welche beide nationalliberal waren, deren Urteil man dementsprechend noch hingenommen hätte, sondern ausgerechnet von Troeltsch, Max und Alfred Weber, die ihrerseits ‚Russen, Polen und Juden‘“ in ihrer Umgebung hat254 ten. Mit Blick auf Max Webers zunehmend „düstere“ Sicht auf die „Zukunft der deutschen Universitäten“ fügt Honigsheim hinzu: „Nicht ganz so dunkel sah Troeltsch; zwar verbitterte auch ihn die Simmel-Angelegenheit, doch war er eine 255 robustere Kämpfernatur von unvorstellbarer Arbeitskraft.“ Der Autor der „Soziallehren“ hat Simmels soziologische Arbeiten intensiv rezipiert. Auch haben sich Troeltsch und Simmel als Freunde verstanden; Simmel wollte Troeltsch, so dieser in seiner 1919 veröffentlichten Doppelrezension von Simmels „Grundfragen der Soziologie“ und „Konflikt der modernen Kultur“ seine 1917 erschienenen „Grundfragen der Soziologie“ widmen – wohl zum Dank dafür, daß Troeltsch sich 1915 für eine Berufung Simmels nach Heidelberg 256 eingesetzt hatte. Als nach dem Tod Emil Lasks – er fiel am 25. Mai 1915 bei Turza Mata in Galizien – und Wilhelm Windelbands am 22. Oktober 1915 einige Heidelberger Professoren sowie das Karlsruher Ministerium den seit dem 1. Mai in Berlin lehrenden Troeltsch nach Heidelberg zurückholen wollten, gab dieser zu erkennen, daß er, soeben erst in die Reichshauptstadt gewechselt, einem Ruf keine Folge leisten könne. Die Fakultät hoffte, das Extraordinariat Lasks zu einer ordentlichen Professur aufwerten zu können, so daß zwei philosophische Lehrstühle gleichzeitig zu besetzen wären. Nur ein Lehrstuhl für Philosophie sei für Heidelberg mit Blick auf „die systematischen wie die historischen Fächer der Philosophie“ nicht ausreichend. „K. Fischer und W. Windelband waren noch in der seltenen Lage, ebensowohl die systematischen wie die historischen Fächer der Philosophie in hervorragender Weise vertreten zu können. Windelband

254 Paul Honigsheim: Wie man in Heidelberg für Simmels Berufung gekämpft hat, in: Kurt Gassen, Michael Landmann (Hrsg.): Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie, Berlin 1958, S. 262–268, hier S. 266. 255 Ebd., S. 267. 256 Ernst Troeltsch: [Rez.] Georg Simmel: Grundfragen der Soziologie (Individuum und Gesellschaft), Berlin, Leipzig 1917 (Sammlung Göschen); ders.: Der Konflikt der modernen Kultur. Ein Vortrag, München, Leipzig 1918, in: Theologische Literaturzeitung 44 (1919), Sp. 207–208, jetzt in: KGA 13, S. 460–463. „Wieder, wie nach dem Tode Windelbands, bringe ich mit tiefstem Schmerz kleine Schriften eines unserer bedeutendsten Denker zur Anzeige, dem ich zugleich persönlich und in vieler Hinsicht sachlich nahe stand. Seine ‚Grundfragen der Soziologie‘ wollte er ‚um der Symbolik willen‘ mir widmen, was an äußeren Verhältnissen scheiterte. Das deutet auf eine gewisse Verwandtschaft des Denkens hin, bei der freilich der Unterschied so wichtig war wie die Zusammenstimmung.“ (S. 460 f.)

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fand hierbei eine verständnisvolle Unterstützung nach der systematischen Seite durch E. Lask. Heute ist es ausgeschlossen, das [sic!] sich Gelehrte finden, die diese Doppelaufgabe zu lösen fähig und sie zu übernehmen bereit wären. Heidelberg ist – wie dies von auswärtigen Beurteilern vorgehalten wurde – neben Rostock jetzt die einzige deutsche Universität, die nur einen ordentlichen Lehrstuhl besitzt, während es doch unbezweifelt ist, dass das philosophische Studium grade unserer Universität immer ein ausgezeichnetes Gepräge verliehen hat und dass alle Kreise der Studentenschaft von ihm angezogen worden sind 257 und bestimmende Eindrücke empfangen haben.“ „Wir beschränken uns, da wir entschlossen sind, nur Kräfte ersten Ranges – soweit sie erreichbar sind, was z. B. bei Tröltsch und Külpe nicht der Fall sein dürfte – zu nennen|:, auf 258 folgende sechs Herren, die wir ohne beabsichtigte Rangfolge aufführen.:|“ Im Anschluß werden dann genannt und im Hinblick auf ihre Eignung für Heidelberg charakterisiert: „1) Heinrich Rickert“, „2) Georg Simmel“, „3) Edmund Husserl“, 259 „4) Heinrich Maier“, „5) Eduard Spranger“ und „6) Ernst Cassirer“. Die Mitglieder der Fakultät wußten um das hohe Ansehen, das Troeltsch im Karlsruher Ministerium, aber auch beim Erbprinzen Max von Baden genoß. So begründeten sie ihre Liste ausdrücklich mit einem Hinweis auf Troeltschs Sicht: „Aus den uns zugegangenen Urteilen sei nur das von Tröltsch hervorgehoben, dass nämlich durch eine gleichzeitige Berufung von Rickert und Simmel Heidelberg ohne 260 Zweifel an die Spitze der Philosophie überhaupt treten würde.“ Handschriftlich fügte man – es ist nicht von Duhns Handschrift, sondern wohl die eines Angestellten in der Universitätsverwaltung – am Ende des Textes hinzu: „Da vorhin das Urteil von Tröltsch über die Doppelbesetzung RickertSimmel vorgeführt worden ist, sei hier Tröltsch’s Urteil über weitere mögliche Kombinationen wiedergegeben: ‚Husserl u Spranger neben einander würden der Heidelberger Fakultät für die Philosophie ein Gesicht geben. Auch Spranger u. 261 Cassirer neben einander ist nicht übel.‘“ Leider hat sich Troeltschs Gutachten oder ein Brief an den Dekan in den Akten der Universität und speziell der Philosophischen Fakultät nicht finden lassen. So läßt sich nichts darüber sagen, ob er die Kombination Rickert-Simmel näher begründet hat. Doch wie auch immer man die Erinnerungen Paul Honigsheims an die Konstellationen von 1908

257 Bericht des Dekans Friedrich von Duhn an das Grossherzogliche Ministerium für Cultus und Unterricht „Die Vertretung der Philosophie betr.“ vom 18. November 1915, Universitätsarchiv Heidelberg, Phil. Fak. 101.141, Bl. 109–113, hier Bl. 109. 258 Ebd., Bl. 109 v. 259 Ebd., Bl. 109 v.–Bl. 113. 260 Ebd., Bl. 110. 261 Ebd., Bl. 113.

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beurteilen mag, 1915 trat Ernst Troeltsch dafür ein, Simmel nach Heidelberg zu holen. 15. Seit dem Beginn meines Interesses an Troeltsch habe ich in diversen Archiven immer wieder Erinnerungsspuren zu entdecken und zu sichern versucht. Karl-Ernst Apfelbacher hat sich in seiner 1978 publizierten ausgezeichneten Münchner katholisch-theologischen Dissertation „Frömmigkeit und Wissenschaft“ auf 30 unpublizierte Briefe Troeltschs sowie die in Auszügen publizierten Briefe Troeltschs an Wilhelm Bousset und die 25 von ihm gemeinsam mit Peter Neuner veröffentlichten Briefe an Friedrich von Hügel stützen können; mehr Troeltsch-Briefe waren damals nicht bekannt. Hans-Georg Drescher listet in seiner 1991 erschienenen Troeltsch-Biographie 340 unveröffentlichte Briefe und 262 Postkarten Troeltschs auf. Durch langjährige Suche in nicht weniger als achtzig Bibliotheken weltweit und durch von Horst Renz und mir betriebene Recherchen bei Nachkommen von Freunden und Kollegen Troeltschs haben sich inzwischen 542 Briefe an Troeltsch und 1227 von Troeltsch finden lassen, die in vier Bänden – anders als die Weber-Edition bietet die Troeltsch KGA auch die an Troeltsch gerichteten Briefe – ediert werden; ein erster Band mit den Briefen des jungen Troeltsch ist im November 2013 erschienen (KGA 18), und noch im Sommer 2014 wird ein zweiter Briefband mit den Briefen aus den Heidelberger Jahren 263 1894–1904 erscheinen (KGA 19). Die neu aufgefundenen Quellen lassen Konstellationen des Denkens und Beziehungen des Lebens sichtbar werden, die auch mit Blick auf Weber und Troeltsch Beachtung verdienen. Nur ein Beispiel: Bärbel Meurer hat in ihrer Marianne-Biographie die ganz enge emotionale Bindung der deutlich jüngeren protestantischen Pfarrfrau Lily – bisweilen auch Lilli geschrieben – Wielandt an Marianne Weber kurz erwähnt, der sie, so Marianne in einem Brief an Helene Weber, „Beichtmutter u. einzige Rettungsplanke in einem Chaos 264 von innerlichen stürmischen Konflikten“ sei. Aber nirgends erfährt man hier, daß Lily Wielandts Ehemann Rudolf ein Schüler Ernst Troeltschs war, der im Sommersemester 1903 von der Heidelberger Fakultät mit einer von Troeltsch betreuten Arbeit über „Herders Theorie von der Religion und den religiösen Vorstellungen“ zum Dr. theol. promoviert worden war. Lily Wielandt und ihr Mann dürften Marianne Weber bei Ernst (und Marta) Troeltsch begegnet sein. Schon im April oder Mai 1905 schreibt Marianne an Helene Weber: „Während

262 Hans-Georg Drescher: Ernst Troeltsch. Leben und Werk, Göttingen 1991, S. 542. 263 KGA 20 wird dann 2015 die Briefe 1905 bis April 1915, KGA 21 die Briefe seit Anfang Mai 1915 bis zum Tode Troeltschs, d. h. die Briefe aus der Berliner Zeit, bieten. 264 Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 6. April 1913, Deponat, mit falschem Datum zitiert von Bärbel Meurer: Marianne Weber (wie Anm. 78), S. 289. Eine zweite Erwähnung Lily Wielandts dort S. 377.

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ich jetzt an Dich schreibe, feiert mein Freund, der kleine Stadtvikar Wielandt, ein 265 schrecklich nervöses, thatendurstiges Männchen, eine Seelenstunde mit Otto“ – gemeint ist der Familienseelsorger Otto Baumgarten. Die Briefe Lily Wielandts an Marianne sind ebenso überliefert wie die Briefe „Mutterle[s]“ oder „Mütterle[s]“ – so bezeichnet sich Marianne Weber selbst in ihren Briefen – an Lily; die Nachkommen Lily Wielandts haben Marianne Webers Briefe 2001 ins Deutsche Literaturarchiv nach Marbach gegeben. Troeltschs Briefe an Rudolf Wielandt sind hingegen verloren gegangen oder vernichtet worden. Die Beileidsbriefe, die Lily und Rudolf Wielandt nach Max Webers Tod an Marianne schicken, lassen bei Lily Wielandt – sie schreibt auf der Rückseite des Briefes ihres Mannes – große Vertrautheit erkennen: „Meine liebe, arme Marianne, ich habe die Zeitung lange in der Hand gehalten – sie wird mir, da ich von der Operation noch recht schwach bin, morgens ins Bett gebracht – und dachte darüber nach, wie Euch in diesem letzten halben Jahr ein Keulenschlag nach dem anderen traf. – bis zu diesem letzten – für Dich schwersten. [. . .] Du kanntest ihn, Marianne, mög dies stolze Wort Dir die Kraft geben, die Du jetzt brauchst und die Dir aufs innigste 266 erfleht Deine Lilli“. 16. Trotz einiger neuer Editionen – genannt seien nur die Edition des Kriegs267 268 tagebuchs Karl Hampes, die Tagebücher Alexander Cartellieris oder die Brie269 fe von Eberhard und Marie Luise Gothein – und Arbeiten zum Heidelberger 270 Gelehrtenmilieu um 1900 fällt auf, daß zentrale Themen noch kaum auf die akademische Agenda gesetzt worden sind. Dies betrifft, um ein für den TroeltschForscher und theologischen Ideenhistoriker besonders wichtiges Themenfeld zu

265 Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 12. April oder aber 12. Mai 1905, Deponat. 266 In diesem Band unten, S. 381 f. 267 Karl Hampe: Kriegstagebuch 1914–1919 (wie Anm. 76). 268 Alexander Cartellieri: Tagebücher eines deutschen Historikers. Vom Kaiserreich bis in die Zweistaatlichkeit (1899–1953), hrsg., eingeleitet und bearbeitet von Matthias Steinbach und Uwe Dathe (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts, Band 69), München 2014. 269 Im Schaffen genießen. Der Briefwechsel der Kulturwissenschaftler Eberhard und Marie Luise Gothein (1883–1923), hrsg. von Michael Maurer, Johanna Sänger und Editha Ulrich, Köln, Weimar, Wien 2006. 270 Siehe beispielsweise: Matthias Steinbach: Des Königs Biograph. Alexander Cartellieri (1867– 1955). Historiker zwischen Frankreich und Deutschland (Jenaer Beiträge zur Geschichte, Band 2), Frankfurt a. M. 2001; Andreas Cser: Eberhard Gothein (1853–1923). Max Webers Nachfolger auf dem Heidelberger Lehstuhl für Nationalökonomie. Aspekte seiner Wissenschaftsbiographie, in: Heidelberg. Jahrbuch zur Geschichte der Stadt 11 (2006/07), S. 57–82; Michael Maurer: Eberhard Gothein (1853–1923). Leben und Werk zwischen Kulturgeschichte und Nationalökonomie, Köln, Weimar, Wien 2007; Folker Reichert: Gelehrtes Leben. Karl Hampe, das Mittelalter und die Geschichte der Deutschen (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 79), Göttingen 2009.

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benennen, die spannungsreichen Beziehungen von „Religion und Kultur“. Peter Ghosh hat im bereits erwähnten Aufsatz über das „Geleitwort“ zum „Archiv für Sozialwissenschaft“ über die neuere gelehrte Literatur zum Thema „Kultur“ vor drei Jahren geschrieben: „The obvious defect of today’s writers is their secularity. The idea that religion is a basic root of conceptions of Kultur in the years c. 1890–1914 does not occur, even though any writer on Weber must necessarily 271 use religious terminology. It is as if the ‚Protestant Ethic‘ does not exist.“ In der Tat: In der neueren, vor allem der deutschsprachigen Literatur zum Heidelberger Gelehrtenmilieu um 1900 läßt sich mancherlei Religionsignoranz beobachten. Die Spannungen zwischen gelebter Frömmigkeit und abgelehnter Religion, die habituelle Kulturarroganz liberalprotestantischer Gelehrter gegenüber dem katholischen „Volksglauben“, die fragile Akzeptanz der Juden und, man denke nur an Carl Neumann und Georg Jellinek, ihre im Heidelberger Gelehrtenmilieu zu beobachtende Neigung zur Konversion zur evangelischen Kirche kommen nur selten in den Blick. Noch gibt es keine Überblicksdarstellung zum Thema „Religion (oder auch: Religionsdistanz) im Heidelberger Gelehrtenmilieu um 1900“. 272 Doch gewiß gehörte zum viel beschworenen „Heidelberger Geist“ des frühen 20. Jahrhunderts auch eine weithin kulturprotestantisch geprägte kirchendistanzierte Religionskultur. Gangolf Hübinger spricht gar vom „religionsemphatischen 273 Heidelberg“. Otto Frommel beklagte in seinen noch unveröffentlichten Lebenserinnerungen zwar die „Unkirchlichkeit der Professoren“. „Bei einem Gespräch mit Troeltsch über die Unkirchlichkeit der Professoren meinte er, der sie doch kannte: Unkirchlichkeit sei noch keineswegs ein Beweis für Unchristlichkeit. Nach seiner Erfahrung stünden sehr viel mehr seiner Kollegen auf dem Boden 274 des Christentums, als man aus ihrer Unkirchlichkeit schließen könnte.“ So 271 Peter Ghosh: Max Weber, Werner Sombart and the Archiv für Sozialwissenschaft (wie Anm. 32), S. 92, Anm. 201. 272 Erinnert sei nur an Gustav Radbruchs bekannte Formulierung zum Eranos und anderen Professorenkränzchen: „In diesen und in anderen Heidelberger Kreisen bildete sich ein geistiges Leben ganz eigenartigen Charakters heraus, das man halb ernst, halb spöttisch damals den ‚Heidelberger Geist‘ nannte. Es war eine einheitliche geistige Welt, in der sich die geistigen Menschen Heidelbergs bewegten, von ihr beeinflußt und wiederum sie beeinflussend. Ich glaube nicht, daß zu jener Zeit an irgendeiner anderen deutschen Universität ein Miteinanderdenken der verschiedenen Geister in diesem Grade bestand.“ Gustav Radbruch: Der innere Weg. Aufriß meines Lebens, Stuttgart 1951, S. 87. 273 Gangolf Hübinger: So ein Goethe-Leben. Das war reif: Eine Biographie über Eberhard Gothein, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 281, 6. Dezember 2007, S. 14. 274 Otto Frommel: Mein Leben. Erinnerungen von Otto Frommel [1947], Ms., Landeskirchliches Archiv Karlsruhe, 150.052 Nachlaß Frommel, Otto; 1964 erstellte maschinenschriftliche Kopie in der UB Heidelberg, Lebenserinnerungen Otto Frommel, HS 3662. Frommels Erinnerungen sollen bald in den „Troeltsch-Studien. Neue Folge“ ediert werden.

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darf man die Frage nach dem gelebten Kulturprotestantismus im Heidelberger Gelehrtenmilieu nicht auf das Thema Kirchlichkeit verengen – auch wenn sich 275 viel volkskirchliche Normalität beobachten läßt: Kinder werden getauft, Ehen 276 – auch die der Dienstmädchen – in der Kirche geschlossen und Gestorbene kirchlich beerdigt. Auch spricht selbst bei akademischen Trauerfeiern in der Alten Aula der Universität in aller Regel ein evangelischer Pfarrer Gebete. Vieles liegt im Dunkeln. Wer hat für Helene Weber in Charlottenburg die Trauerfeier gehalten? War dies, wie zu vermuten steht, der wirklich von allen, sowohl den Älteren als auch den Jüngeren, d. h. seinen Generationsgenossen, immer wieder als äußerst einfühlsam, ‚liberal‘ wahrgenommene Otto Baumgarten? Warum eigentlich ist von ihm, dem Familienseelsorger, kein Nachlaß überliefert? Wollte er nicht, daß die vielen harten Konflikte innerhalb der Familie und die äußerst fragile, prekäre psychische Kondition seiner engsten Verwandten bekannt wurden? Wie auch immer – trotz des Booms an Literatur über Max und Marianne Weber ist über ihr Verhältnis zu Otto Baumgarten (der mindestens zweimal im Jahr nach Heidelberg kam und darauf hoffte, mit Troeltschs ihm zugesicherter Unterstützung hier 1910 zum Professor für Praktische Theologie 277 berufen zu werden) nur vergleichsweise wenig bekannt. Die Gründe, aufgrund derer Georg Jellinek, der Sohn eines im deutschen Sprachraum vielfältig bewunderten und hoch bedeutenden, aber vermögenslosen Wiener Rabbiners, und seine ebenfalls aus einer jüdischen (und hier: vermögenden, aber zum Katholizismus übergetretenen) Familie stammende Frau Camilla sich am 30. März 1910 in Nizza, also nach seinem schweren ersten 278 Schlaganfall Ende Oktober 1909 und kurz vor seinem Tod, „ganz im Stillen“ 279 haben taufen lassen, werden in den diversen neuen Jellinek-Studien nicht erhellt. Vielleicht lassen sie sich gar nicht genau erkunden, weil der überaus 275 „Wir haben nichts Neues erlebt in diesen Tagen, nur den kleinen Jaffé am 2. Festtag zu einem Christen gemacht. Es war eine ganz bescheidene Kaffeetaufe nur mit Else’s Papa u. Frau Wörishoffer zu Pathen“. Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 28. Dezember 1903, Deponat. 276 Max berichtet Marianne am 3. Mai 1913 über die Hochzeit von Louise, dem Dienstmädchen der Troeltschs: „Bertha ist heut auf ‚Louischen’s‘ Hochzeit, zur Kirche und zum Essen, zu ersterem waren auch Tröltsch’s gegangen.“ MWG II/8, S. 222 f., hier S. 223. 277 Dazu siehe: Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 22. Dezember 1909, Deponat: „Otto Baumgartens hiesige hypothetische Professur ist nun besetzt, ach es wäre für ihn doch schön gewesen u. hier hätten sich auch Viele auf ihn gefreut, vor allem auch die Hausräter [sic!]. Für Paula wäre er ein solch erquickender Beichtvater gewesen.“ 278 Paul Honigsheim: Georg Jellinek. Ein Wort zum 100. Geburtstag eines soziologischen Juristen und Historikers sozialer Ideen und Institutionen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie 3 (1950/1951), S. 391–397, hier S. 394. 279 Martin J. Sattler: Georg Jellinek (1851–1911). Leben für das öffentliche Recht, in: Helmut Heinrichs u. a. (Hrsg.): Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, München 1993, S. 355–368; Klaus

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sensible, vielfältig verletzte und zugleich diskrete Gelehrte über sein ‚Innenleben‘ nur wenig preisgegeben hat. Wollte der 58jährige, im ahnenden ‚Wissen‘ um den bald kommenden Tod, seine wahrlich erfolgreiche – er war im akademischen Jahr 1907/1908 als erster jüdischer Ordinarius Prorektor der Ruprecht-KarlsUniversität – Integration in eine zutiefst kulturprotestantisch geprägte Heidelberger Gelehrtenkultur demonstrieren? ‚Assimilierte‘ er sich mit Blick auf den auch in Heidelberg grassierenden Antisemitismus um seiner Kinder und seiner Frau willen? War ihm, nachdem ihm selbst das universalistische Reformoder Kulturjudentum des Vaters fremd geworden war, Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft gleichgültig, so daß der Konversion nur lebenspraktische – Beerdigung auf dem überkonfessionellen, weithin christlichen Teil des Bergfriedhofs (im südlichen Teil des Friedhofs gab es einen eigenen jüdischen Friedhof) – Bedeutung eignete? Paul Honigsheim, „der nicht nur ein Schüler Georg 280 Jellineks war, sondern auch ein enger Bekannter von dessen Frau“, spricht davon, daß Jellinek sich habe taufen lassen, „um mit seiner Familie beerdigt 281 werden zu können“ . „Diese Erklärung, die einzige Andeutung einer Begründung für die Taufe, die sich im Umkreis der Jellineks finden läßt, vermag nicht 282 zu befriedigen.“ Denn es gab keinen Zwang, daß Juden allein auf dem abgegrenzten jüdischen Teil des Friedhofs beerdigt werden mußten. Allerdings: Eine andere Erklärung als die Honigsheims vermag ich nicht anzubieten. Ich habe auf diese und andere religionsbezogene Fragen noch keine Antwort. Aber ich weiß: Kulturdeutscher kann ein zum Protestantismus – genauer: liberalen Kulturprotestantismus – konvertierter Wiener Rabbinersohn gewiß nicht sein. Am Abend des 12. Januar 1911 liest er Camilla in der eigenen Bibliothek aus Goethes Werken vor, erleidet dabei den zweiten Schlaganfall, fällt auf den Boden, sagt seiner Frau „Leb wohl“ und stirbt. Die Trauerfeier – es war eine Urnenbeisetzung – auf dem Heidelberger Bergfriedhof hält am 15. Januar, einem Sonntag, Otto Frommel: „Die kirchlichen Gebete verrichtete Herr Stadtpfarrer Frommel. Seiner Trauerrede hatte er den ersten Vers des neunzigsten Psalms ‚Herr Gott, du bist unsere Zuflucht für und für‘ unterlegt. In längeren Ausführungen schilderte der Geistliche nun die Vorzüge Jellineks als Mensch, von dessen bedeutendem Wissen eine hohe Leuchte weit hinausgedrungen sei in die Welt. In treffenden kennzeichnenden Zügen ließ er die Persönlichkeit Jellineks noch einmal vor dem geistigen

Kempter: Die Jellineks 1820–1955. Eine familienbiographische Studie zum deutschjüdischen Bildungsbürgertum (Schriften des Bundesarchivs, Band 52), Düsseldorf 1998. Kempter beschreibt den Prozeß der Entfremdung vom Judentum, kennt aber keine Gründe für die Konversion. 280 Klaus Kempter: Die Jellineks 1820–1955 (wie Anm. 279), S. 380. 281 Paul Honigsheim: Georg Jellinek (wie Anm. 278), S. 394. 282 Klaus Kempter: Die Jellineks 1820–1955 (wie Anm. 279), S. 380.

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Auge der Trauerversammlung vorüberziehen. Er schloß seine Ansprache mit den Worten des Entschlafenen, die dieser vor 30 Jahren niedergeschrieben: ‚Es gewährt größte Befriedigung, zu sehen, wie die leuchtende Flamme von Säkulum zu Säkulum wandert, wie Gedanke an Gedanke sich anreiht, kein Funke des 283 Geistes im Großen verloren geht, sollte er noch zur größten Flamme werden.‘“ Zu einer von Camilla gewünschten akademischen Gedenkfeier kommt es nicht; zu den – vielleicht oder vermutlich auch antisemitischen – Beweggründen der entscheidenden Akteure Hans von Schubert, damals Prorektor, und Karl von Lilienthal, 1909/1910 und wieder 1914/1915 Dekan der Juristischen Fakultät, 284 haben sich noch keine Quellen erschließen lassen. Camilla Jellinek wollte, daß Troeltsch hier die Rede auf ihren Mann hält. Peter Ghosh hat eine meiner 285 Formulierungen zum Thema kritisiert und mir Übertreibung vorgeworfen – zu Recht. Meine Behauptung, daß Troeltsch „Camilla Jellinek [. . .] als der im Heidelberger Gelehrtenmilieu geeigneteste Deuter von Leben und Werk ihres 286 Mannes“ galt, sei zu präzisieren. „His claim should read: ‚the most suitable interpreter within the university to deliver a funeral oration‘ – a position from 287 which Weber was excluded“. In der Tat: Nach Georg Jellineks Schlaganfall eilte als erster Max Weber, bis Ende April 1903 sein gleichberechtigter Partner im Direktorium des Staatswissenschaftlichen Seminars, ans Krankenbett des Freundes. Und bei der Hochzeit von Friedrich und Dora Busch waren Max und 288 Marianne Weber „die einzigen Gäste, die nicht zur Familie gehörten“. Max Weber hielt hier eine Gedenkrede auf den verstorbenen Freund, Marianne eine Rede auf das Brautpaar. Doch so eng die persönlichen Beziehungen zwischen Max Weber und Georg Jellinek – auch sie „siezten“ sich, was beim Altersunterschied von 14 Jahren und den damaligen Gepflogenheiten nicht überraschend ist – gewesen sein mögen, sachlich, mit Blick auf ihre Theorieprogramme und Denkstile standen Jellinek und Troeltsch sich näher als Max Weber und Georg Jellinek. Dennoch ist es durchaus berechtigt, Jellinek den „Fachmenschenfreund II“ Max 289 Webers zu nennen.

283 Feuerbestattung des Geh. Hofrats Georg Jellinek, in: Heidelberger Zeitung, 53. Jg., Nr. 13, Montag, 16. Januar 1911, Zweites Blatt, S. 2. Für die Universität sprach der Prorektor Hans von Schubert, für die Juristische Fakultät der Dekan Richard Schroeder, für die Heidelberger Akademie der Wissenschaften Jellineks enger Freund Wilhelm Windelband und für seine Schüler ein Dr. Leser. 284 Zu ihr wirklich aufschlußreich: Klaus Kempter: Camilla Jellinek und die Frauenbewegung in Heidelberg, in: Bärbel Meurer (Hrsg.): Marianne Weber (wie Anm. 99), S. 111–126. 285 Siehe oben, S. 8. 286 KGA 4, S. 638. 287 Peter Ghosh: Max Weber and Georg Jellinek (wie Anm. 79), S. 312, Anm. 45. 288 Bärbel Meurer: Marianne Weber (wie Anm. 78), S. 286. 289 Stefan Breuer: Fachmenschenfreundschaft II: Max Weber und Georg Jellinek, in: ders.: Max

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Troeltschs und Jellineks sachliche Nähe hat schlicht mit ihren Fächern viel zu tun: Man kann sich „werturteilsfreie“ Sozialwissenschaft vorstellen, aber keine normenabstinente Jurisprudenz oder Theologie. Juristen und Theologen haben nun einmal strukturell ganz ähnliche Probleme. Sie wissen, jedenfalls wenn sie kritizistisch gebildet und historisch reflektiert sind, um die geschichtliche Relativität und kontingente Positivität von Normen – und müssen gleichwohl ihre Geltungskraft plausibel machen, sie also rational „begründen“. Troeltsch hat Jellinek sehr genau und lernend gelesen, aber den älteren „Freund“ auch bemerkenswert gut verstanden. In der Fähigkeit zum Kompromiß – dies ist für beide kein negativ besetzter Begriff – waren sie sich einig, ohne den Anspruch auf intellektuelle Redlichkeit preiszugeben. Eigene Beachtung verdient, daß Ernst Troeltsch in seiner ausführlichen Besprechung von Jellineks „Ausge290 wählten Schriften“ dessen jüdische Herkunft, aber auch die Konversion nicht erwähnt. Camilla Jellineks Weltanschauung ist schwer einzuschätzen. Von ihrem Vater, dem angesehenen und wohlhabenden jüdischen Arzt Gustav Wertheim, der anläßlich der Heirat zur katholischen Kirche konvertiert war, wird berichtet, er sei eher freidenkerisch und agnostisch gewesen. Die katholische Mutter Wilhelmine, geb. Walcher, wird als fromm, aber tolerant und so auch am Judentum interessiert beschrieben. Wie auch immer es nun um Camillas eigene religiöse Haltung bestellt war – sie sorgte nach dem Tod ihres Schwiegervaters dafür, daß ihre Kinder getauft und dann auch konfirmiert wurden, und schrieb nicht nur über die Theologin als Pfarrgehilfin, sondern auch über die religiöse Erziehung 291 von Kindern aus Mischehen. Am 1. April 1920 nimmt sich Max Webers Lieblingsschwester Lili Schäfer das Leben. Der Grund oder die Gründe sind hier nicht zu erläutern. Beachtung verdient, daß dieser 1. April der Karfreitag, in der protestantischen Überlieferung 292 der bedeutendste Feiertag des Kirchenjahres, war. Max ist tief erschüttert. Die Beerdigung findet kurz nach Ostern auf dem Heidelberger Bergfriedhof statt.

Webers tragische Soziologie. Aspekte und Perspektiven, Tübingen 2006, S. 293–325. Dies ist eine neue Fassung von: ders.: Georg Jellinek und Max Weber. Von der sozialen zur soziologischen Staatslehre (Würzburger Vorträge zur Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie, Heft 25), Baden-Baden 1999. 290 Ernst Troeltsch: [Rez.] Georg Jellinek (wie Anm. 75). 291 Klaus Kempter: Die Jellineks 1820—1955 (wie Anm. 279), S. 198–206; ders.: Sozialfürsorge oder Sozialpolitik? Camilla Jellinek und das „Kellnerinnenelend“, in: Heidelberg. Jahrbuch zur Geschichte der Stadt 3 (1998), S. 253–267; ders.: Camilla Jellinek und die Frauenbewegung in Heidelberg (wie Anm. 284). 292 M. Rainer Lepsius, von mir geschätzt und verehrt, ist in seiner Einleitung zu MWG II/10 nicht präzise genug: „kurz vor Ostern“ (MWG II/10, S. 35) erfaßt das Demonstrative, Anklagende an

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Erneut ist Ernst Troeltsch indirekt im Spiel. Der protestantische Pfarrer, der Lili Schäfer beerdigt, ist Otto Frommel, Max und Marianne schon von der Trauerfeier für Georg Jellinek (wenn denn Max und Marianne Weber daran teilgenommen haben) und von der Haustaufe Ernst Eberhard Troeltschs am 25. Oktober 1913 bekannt – Frommel, Vater des stark von George inspirierten „Argonauten“ Wolf293 gang Frommel und des Komponisten Gerhard Frommel , war seit 1907 Zweiter Pfarrer an der neuerbauten Christus-Kirche in Heidelberg West und übernahm dort 1910 die erste Pfarrstelle. Mit einer von Dietrich Schäfer angeregten und betreuten mediävistischen Arbeit war er am 1. Juni 1898 in Heidelberg promoviert worden. Frommel, nur sechs Jahre jünger als Troeltsch, verstand sich seit seinem Studium der evangelischen Theologie, Philosophie und Geschichte als ein begeisterter Anhänger und Freund Troeltschs, hatten ihn doch neben den „Systematischen Uebungen des praktisch-theologischen Seminars“ die „Geschichte der protestantischen Theologie im 19. Jahrhundert“ (Sommersemester 1895), die „Symbolik“ im Wintersemester 1896/1897 sowie die „Christliche Ethik“ im Sommersemester 1897 tief beeindruckt. „Nie werde ich die Spannung vergessen, mit der wir jungen Studenten im Sommersemester 1894 unseren neuberufenen Lehrer für systematische Theologie erwarteten. Wer mit dem Begriff eines Theologieprofessors etwa Vorstellungen von Bedächtigkeit, feierlicher Haltung, gemessener Würde verband, dem mußte der von Bonn kommende 27jährige Ordinarius eine starke Ueberraschung sein: als die Tür des Hörsaals aufflog, bestieg den Lehrstuhl elastischen Schritts, wuchtigen Körpers ein Mann von jugendlicher Erscheinung, dessen lichtes Kraushaar und volles, etwas kurzsichtiges Antlitz an einen Knaben denken ließ, der lebensfroh und seiner selbst gewiß in den Tag stürmt. [. . .] Einen kleinen Kreis versammelte er allwöchentlich am Mittwochabend in seiner schönen Wohnung in der Friedrichstraße: da lasen wir Schleiermachers Reden über die Religion und Monologe, Novalis’ Hymnen an die Kunst, Hölderlins Gedichte. Auf Gängen ins Gebirge – wobei es galt, tüchtig auszugreifen, um Schritt mit ihm zu halten – wurde das Gelesene weiter überdacht und besprochen. [. . .] Wie vieles habe ich ihm doch geistig zu danken! Es bestand damals kein philosophisches Seminar an unserer Universität. Da war es Troeltsch, der unablässig philosophisches Studium anregte und tatkräftig Lilis Suizid nicht. Die jüngste, von der Mutter (auch vom 17 Jahre nach ihrer Geburt sterbenden alten Vater?) besonders geliebte Tochter Helene Webers weiß – wenn sie denn in ihrer tiefen Verletztheit durch Paul Geheeb und ihren Depressionsphasen noch ‚wissen‘ kann – protestantisch sozialisiert, was sie tut, wenn sie gerade am Karfreitag aus dem Leben scheidet. Wie oft mag sie in ihrer Kindheit und Jugend (und vielleicht auch später noch) „Oh Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn“ gesungen haben – oder haben müssen? 293 Wolfgang Osthoff: Gerhard Frommel 1906–1984. Ein Heidelberger Komponist. Eine Ausstellung des Stadtarchivs Heidelberg, Heidelberg 1987.

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unterstützte. [. . .] Wie viel haben wir über künstlerische Fragen gesprochen, über Zusammenhänge zwischen Kunst und Religion, Verwandtschaft und Spannung zwischen Kunst und Christentum. Wie meisterlich wußte er dichterische Bücher, die er gewandt gelesen, zu analysieren, ihren Gehalt plastisch herauszustellen, in die lebendige Mitte zu führen und die Gestalten hinter der Gestaltung sicht294 bar zu machen.“ Frommel publizierte zahlreiche „Gedichte und Predigten, 295 Romane und Aufsätze“ und nahm neben dem Pfarramt einen Lehrauftrag am Praktisch-theologischen Seminar wahr, bis er sich 1912 an der Heidelberger Fakultät habilitierte und nun zum außerordentlichen Professor für Praktische Theologie ernannt wurde. Helene und Marianne Weber schätzten ihn als Prediger sehr. In seinem Kondolenzbrief zum Tod Max Webers schreibt Frommel: „Ich habe noch neulich – bei der Bestattung Ihrer Schwägerin – als er in meinem Hause war u wir zusammen auf den Friedhof fuhren, einen tiefen u starken Eindruck seiner Persönlichkeit empfangen. Es lag eine ganz besondere Güte über dem, was er sprach und wie er war – ich fühlte wohl auch das Leid, das ihn bewegte als der Sarg der Schwester in die Tiefe sank. Wie vieles ist mit ihm – nicht nur für die engeren Kreise seiner Angehörigen, Schüler, Berufsgenossen – nein, auch für Deutschland dahingegangen, in einer Stunde, da solche Männer dem Vaterland unersetzlich sind. [. . .] Nach Naumann hat die Demokratie ihren 296 zweiten großen geistigen Führer an ihm verloren.“ In seiner Rezension des „Lebensbildes“ hat Otto Baumgarten die starke protestantische Religiosität Helene Webers und ihrer beiden Schwestern skizziert, aber auch auf Max Webers teils distanziertes, teils höchst einfühlsames Verhältnis zur gelebten Religion hingewiesen: „Mit dem Vetter, dem Sohn der seelisch nächstverwandten Tante, verband mich in der Jugend und reiferen Manneszeit auch das tiefe religiöse und religiös betonte soziale Interesse, das bei uns beiden aus der Anschauung edelster protestantischer Religiosität erwachsen war. Aber immer mehr wurde mir bewußt, daß die unendliche Vielseitigkeit seiner Interessen und Bedürfnisse, die Universalität seiner Bildung, die Eigengesetzlichkeit seiner wissenschaftlich-philosophischen, seiner ästhetischen wie machtpolitischen, nach Goethes Wort ‚weitstrahlsinnigen‘ Lebenstriebe, denen er Gehorsam 294 Otto Frommel: Erinnerungen an Ernst Troeltsch, in: Heidelberger Tageblatt, Nr. 32, 7. Februar 1923, S. 3–4, jetzt in: TS 12, S. 294–298, hier S. 294 f. 295 Manuel R. Goldschmidt, Michael Philipp (Hrsg.): Argonaut im 20. Jahrhundert. Wolfgang Frommel. Ein Leben in Dichtung & Freundschaft. Dokumentation zur Ausstellung im Rahmen der 12. Europäischen Kulturtage Karlsruhe 1994. Um eine Rede und die Bibliographie Wolfgang Frommels erweiterte Ausgabe, Amsterdam 1996, S. 30. Zum „Dichter“ Frommel siehe: Otto Frommel: Ausgewählte Gedichte, Heidelberg 1947. 296 Brief Otto Frommels an Marianne Weber vom 19. Juni 1920, Deponat, in diesem Band unten, S. 386.

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schuldig war, dem Primat der religiösen Beziehung, der schlechthinnigen Abhängigkeit von einem auch den kategorischen Imperativen der Pflicht und seelischen Reinheit noch übergeordneten ‚ganz Anderen‘ den Weg verlegte. Es fehlte Max Weber das Postulat des ‚Einen, was Not tut‘ bei aller tiefen Hochachtung und zarten Nachempfindung religiöser Werte; denn jenes Postulat führt zu einer unleugbaren Exklusivität, die diesem Universalgenie unerreichbar, ja verboten war. Es fehlte ihm aber durchaus nicht die Einfühlungsfähigkeit gegenüber solchen, 297 die jenes Postulat empfinden und befolgen.“ Auch Otto Baumgarten bezeichnet Marianne Weber hier als „ihm“, d. h. Max, 298 „gerade in religiösem Agnostizismus nächstverwandte Gefährtin“. Dennoch scheint auch hier die Seelenlage komplizierter als die von Bärbel Meurer gewählte Rede von der „säkularen Kulturprotestantin“ suggeriert. Was heißt hier ‚weltlich‘? Nicht nur trat Marianne vor Foren des liberalen Sozialprotestantismus wie dem Evangelisch-sozialen Kongreß auf und engagierte sich für jenes „kirchliche Stimmrecht“ der Frauen, von dem Troeltsch eine „Entmännlichung“ 299 der evangelischen Kirche befürchtete. Vielmehr berichtete sie ihrer Schwiegermutter auch von ihren Schwierigkeiten mit einem kirchlichen Christentum, das auf der schon von den Sozinianern und zahlreichen Aufklärungstheologen verabschiedeten Satisfaktionslehre – Jesus Christus sühne mit seinem Strafleiden und Opfertod die Schuld der nun einmal erbsündigen Menschheit – insistierte. Am Karfreitag – vermutlich – des Jahres 1904 schrieb sie an Helene: „Ich war heute morgen mal wieder nach langer Pause in der Kirche, kam aber, wie fast jedes Mal, so vernichtet von der Predigt nach Hause – das Dogma von unsrer unermeßlichen Sündenschuld u. dem von Gott dafür geforderten Sündenlamm – das stellvertretende Leiden Christi – ist ein so unmöglicher mir unsympathischer Gedanke; schrecklich zu denken Gott habe einen Sündenbock für uns Alle gefordert! Dagegen sind die alten schönen Gesänge u. die Liturgie mir immer erhebend, die Bibel ist eben nicht tot zu kriegen – u. deshalb denke ich doch häufig, ob man nicht von |:öfteren:| rein liturgischen Gottesdiensten 300 mehr haben würde als von den vielen mangelhaften Predigten?“ Auch las

297 Siehe unten, S. 395. 298 Unten, S. 395. 299 Dazu siehe: Ernst Troeltsch: Beitrag zur Umfrage: Wie urteilen Theologen über das kirchliche Stimmrecht der Frauen?, in: Wie urteilen Theologen über das kirchliche Stimmrecht der Frauen? Gesammelte Antworten auf eine Umfrage des Deutschen Verbandes für Frauenstimmrecht, hrsg. von Martha Zietz, Hamburg 1905, S. 21 f., jetzt in: KGA 6, S. 203. 300 Brief Marianne Webers an Helene Weber, Deponat, datiert: [2]1. April, ohne Jahresangabe; der Text beginnt mit dem Hinweis: „ein regnerischer, kalter Karfreitag“. Im Jahr 1904 fiel Karfreitag auf den 1., 1905 auf den 21. April. Die Jahresdatierung hängt ab von der Interpretation der Ziffernstreichung in der Tagesangabe.

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sie begeistert und mit großer Zustimmung religiöse Entscheidungsdenker wie Søren Kierkegaard und Leo Tolstoi, wurde immer wieder von Büchern Ricar301 da Huchs „tief ergriffen“, knüpfte Kontakte zu zahlreichen protestantischen Universitätstheologen, konnte sich für den jugendbewegt modernitätskritischen jungen Romano Guardini – wahrlich alles andere als ein kritizistischer Kantianer – begeistern und engagierte sich seit 1929 – für mich, hier werturteilend: leider – auch im sogenannten Köngener Bund, einer von Jugendbewegung und schwäbischem Pietismus geprägten protestantischen Glaubensreformbewegung, die das selbständige und inwendige „Erleben Gottes“ jenseits aller dogmatischen Bindungen und kirchlichen Autorität pries. Hier begegnete Marianne dem charismatischen Tübinger Religionswissenschaftler und Indologen Jakob Wilhelm Hauer, der 1933 die sogenannte „Deutsche Glaubensbewegung“ gründete und für die nationalsozialistisch enthusiasmierten „Deutschen Christen“ Kirchenpolitik machte. Ist es „säkular“, wenn man mit zahlreichen Freundinnen fortwährend über freie, d. h. individualisierte Frömmigkeit, eine von aller engen Kirchenbindung gelöste subjektive, gerade darin ganz „tiefe“ Christlichkeit sich austauscht? Auch wenn Marianne Weber sich in den Ehejahren, vor dem Tod Max Webers, selbst als säkulare, rationalistische Frau bezeichnen kann, nimmt sie das Brüderlichkeitsethos des Neuen Testaments, speziell der Bergpredigt, sehr ernst – vielleicht unter dem Eindruck der nun einmal verehrten Helene. Im Dezember 1914 schreibt Marianne Weber über einen ihrer Vorträge in Heidelberg: „Nur ein Referat über Schelers Buch habe ich gehalten mit Kritik an der Hand der Bergpredigt u. da waren die Leute bewegt – wie selten, das war 302 schön.“ Nun habe ich keinerlei Interesse daran, Marianne Weber religiöser, gläubiger oder gar kirchlicher zu machen, als sie gewesen sein mag. Aber an ihr läßt sich erkennen, daß das Heidelberger bildungsbürgerliche, dominant kulturprotestantische Gelehrtenmilieu mit Blick auf Frömmigkeit, Religiosität und sichtbar gelebte Religion noch kaum differenziert erkundet ist. Man muß bei manchen, vielleicht auch vielen Akteuren mit dem Wandel von Einstellungen und sich, etwa unter dem Eindruck der Begegnung mit bisher unbekannten Gesprächspartnern oder neuen Erfahrungen, ändernden „cognitive maps“ rechnen. Im Falle Marianne Webers, einer radikalen Nationalistin, läßt sich begründet vermuten, daß sie, trotz ihrer Teilnahme an diversen Veranstaltungen des Köngener

301 Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 6. März 1903, Deponat. 302 Brief Marianne Webers an Lilli Wielandt vom 10. Dezember 1914, Deutsches Literaturarchiv Marbach am Neckar, Nachlaß Lilli Wielandt, B: Weber, Marianne. Weber, Marianne – Wielandt, Lilli, 2001.111.1/4. Im Referat behandelte sie wahrscheinlich den 1913 im „Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung“, Erster Band, Teil II, S. 405–565, erschienenen „I. Teil“ von Max Schelers Studie „Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik“.

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Bundes, nach der „Deutschen Revolution“ der Nationalsozialisten protestantische Glaubensüberlieferung und Kirchlichkeit als eine Kraft zur Unterscheidung und Abgrenzung von den neuen Machthabern (wieder?)entdeckte. Es dürfte jedenfalls kein Zufall gewesen sein, daß sie den kulturprotestantischen und politisch entschieden liberalen Neutestamentler Martin Dibelius – ein großer Verehrer Ernst Troeltschs, Gesinnungsrepublikaner und vehementer Gegner des Nationalsozialismus – darum bat, am 21. Februar 1932 in ihrem Salon über 303 „Die Zerstörung des Bürgertums“ zu sprechen. Auch lud sie den mit ihr gut bekannten Stadtpfarrer Hermann Maas, einen Troeltsch-Schüler, der als entschiedener Gegner der Nationalsozialisten durch ein eigens gegründetes kirchliches Hilfsbüro seit dem Herbst 1933 zahlreichen Juden die Ausreise aus Deutschland ermöglichte, in ihren Salon ein. Marianne Weber schrieb im Frühjahr 1933 über 304 „Die unsichtbare Gemeinde“, interessierte sich für eine genuin protestantische 305 Sozialethik und deutete im Krieg die Spannungen zwischen „Christentum und 306 Welt“ . Noch im Dezember 1940 sprach sie bei einer Tagung der Köngener in 307 Stuttgart über „Das Leben als Gabe und Aufgabe“. Spätestens in der NS-Diktatur wurde Marianne Weber aber auch bewußt kirchlich: „Glauben zu können ist doch eine Gnade, nicht? Wer die Gabe dazu nicht empfangen hat, tut sich doch schwerer! – nicht im Sittlichen, aber in der ‚Zuversicht dessen, was man nicht sieht‘“, schrieb sie am 28. Dezember 1938 an ihren „lieben Freund“ Peter Wust, einen katholischen Religionsphilosophen, der, nicht zuletzt unter dem Einfluß Troeltschs, durch eine „Auferstehung der Metaphysik“ genau jenen modernen Skeptizismus überwinden wollte, dem Max Weber heroisch standzuhalten empfohlen hatte. Dann berichtete sie ihm,

303 Martin Dibelius über die Zerstörung der Bürgerlichkeit. Ein Vortrag im Marianne-WeberKreis 1932, hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf, in: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte / Journal for the History of Modern Theology 4 (1997), S. 114–153. Zu Dibelius’ politischer und kirchenpolitischer Grundhaltung und speziell seiner Analyse der Anfälligkeit des protestantischen Bürgertums für die NS-Bewegung siehe auch: Martin Dibelius: Selbstbesinnung des Deutschen, hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf, Tübingen 1997. 304 Marianne Weber: Die unsichtbare Gemeinde, in: Die Hilfe. Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und geistige Bewegung 39 (1933), S. 251–255. 305 Marianne Weber: Würdigung und Kritik einer evangelischen Sozialethik (Auseinandersetzung vor allem mit Otto Piper), in: Die Frau. Monatsschrift für das gesamte Frauenleben unserer Zeit 43 (1936), S. 401–409. Die Autorin setzt sich hier vor allem mit dem Münsteraner Systematischen Theologen Otto Piper, einem Sozialdemokraten, auseinander, der, nach der Entlassung durch die NS-Regierung im September 1933, nach England und 1937 in die USA ging. 306 Marianne Weber: Drei zeitgeborene Fragen über Christentum und Welt, in: Die Frau. Monatsschrift für das gesamte Frauenleben unserer Zeit 47 (1940), S. 169–174. 307 Marianne Weber: Das Leben als Gabe und Aufgabe, in: Rudolf Daur (Hrsg.): Bericht über die Tagung des Köngener Kreises in Stuttgart am 28. und 29. Dezember 1940, o. O. 1940, S. 22–28.

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sein „Wort ‚Seinsverwesentlichung‘“ in ihr neuestes Buch übernommen zu haben. „Ich war am ersten Weihnachtstage zuerst im protestantischen, dann im katholischen Gottesdienst; in letzterem zum ‚diakonierten‘ Hochamt mit einer ganz wunderbaren musikalischen Messe, die mit dem Tedeum schloß. Es war das durch alle Leiden und Anfechtungen und Mysterien sich auftuende himmlische Reich auf Erden. [. . .] Mir schien, wer in diesem Kultus beheimatet ist, der ist ‚immun‘ gegen den ‚Mythos des 20. Jahrhunderts‘. Meine Kirche hat 308 schwerer um ihren Bestand zu kämpfen.“ Man darf, trotz aller gebotenen Unterscheidung, individualisierte kulturprotestantische Frömmigkeit nicht gegen volkskirchliche Bindung ausspielen. Gerade Marianne Weber war sich, wie ih309 re beiden Besprechungen von Otto Baumgartens Autobiographie zeigen, des elementaren Gegensatzes von Religion und Kultur bewußt, sah zugleich aber auch in individueller Frömmigkeit jene je eigene, individuelle Seelenkraft, die die unaufhebbaren Spannungen zwischen antagonistischen Wertsphären in eine letzte präreflexive Einheit aufzuheben vermochte.

308 Brief Marianne Webers an Peter Wust vom 28. Dezember 1938, in: Wege einer Freundschaft. Briefwechsel Peter Wust – Marianne Weber 1927–1939, hrsg. von Walter Theodor Cleve, Heidelberg 1951, S. 226–229, hier S. 227 f. 309 Otto Baumgarten: Meine Lebensgeschichte, Tübingen 1929. Dazu siehe unten, S. 404–417.

Teil A: Max Weber

Max Weber und die protestantische Theologie seiner Zeit* Im Zusammenhang der Kontroversen über seine „Protestantische Ethik“ hat Max Weber 1907 die These vertreten, „eine sachlich fruchtbare Kritik“ seiner Untersuchungen über den genetischen Zusammenhang zwischen der protestantischen Askese und dem Geist des Kapitalismus sei „auf diesem Gebiete unendlich verschlungener Kausalzusammenhänge nur bei Beherrschung des Quellenstoffes möglich“: „Eine solche Kritik erwarte ich, – was manchem vielleicht höchst 1 ‚rückständig‘ erscheint, – von theologischer Seite als der kompetentesten“. Weber selbst hat seit seinem Studium intensive Gesprächskontakte mit protestantischen Theologen unterhalten. Für die Entwicklung seiner Religionssoziologie ist dies von großer Bedeutung gewesen. Sofern die protestantische Theologie der Zeit als eine historische Kulturwissenschaft des Christentums betrieben worden ist, hat sie die Fragestellungen und Probleme, welche die deutsche Sozialwissenschaft im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert beherrscht haben, nachhaltig mitbestimmt. So wenig in Deutschland im frühen 20. Jahrhundert Soziologie bereits als eine selbständige akademische Disziplin mit speziellen Lehrstühlen institutionalisiert gewesen ist, so wenig hat es hier eine autonome, außerhalb der theologischen Fakultäten betriebene Religionswissenschaft gegeben. Weber hat die Theologen deshalb mehrfach als die eigentlichen „Fachleute“ der Erforschung der Religion qualifiziert und sie im Kontext der Diskussionen um die „Protestantische Ethik“ sogar als die für ihn hier wichtigsten Gesprächs2 partner bezeichnet. Demgegenüber ist seine Wirkungsgeschichte innerhalb der Soziologie weithin durch genau solche fachbornierten Vorurteile gegenüber der Theologie geprägt, die Weber im Bild der eigenen Rückständigkeit selbstironisch kommentiert hat. Zwar hat etwa Paul Honigsheim des öfteren darauf hingewiesen, daß Weber seit seinem Studium mit dem Stand der theologischen Forschung 3 intim vertraut gewesen ist, und auch im Zusammenhang der Weber-Renaissance

* Gastvorlesung an der Universität Trento am 17. Oktober 1985. 1 Max Weber: Die protestantische Ethik II. Kritiken und Antikritiken, hrsg. von Johannes Winckelmann, 2. Aufl., Hamburg 1972, S. 31 und S. 36. 2 Ebd., S. 48 und S. 345. 3 Paul Honigsheim: Max Weber. His Religious and Ethical Background and Development, in: Church History 19 (1950), S. 219–239; ders.: Erinnerungen an Max Weber, in: René König, Johannes Winckelmann (Hrsg.): Max Weber zum Gedächtnis. Materialien und Dokumente zur Bewertung von Werk und Persönlichkeit (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 7), Köln, Opladen 1963, S. 161–271, hier bes. S. 254.

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der letzten fünfzehn Jahre ist zuweilen, insbesondere von Friedrich Tenbruck, 5 6 Johannes Weiß und Tenbrucks Schüler Gottfried Küenzlen geltend gemacht worden, daß selbst Webers späte Soziologie sehr stark noch durch die Auseinandersetzung mit fachtheologischer Literatur geprägt worden ist. Doch eine „Analyse der theologiegeschichtlichen Kontexte etwa M. Webers grundlegenden Verständnisses der Kulturwissenschaft im allgemeinen sowie des Christentums7 und Religionsbegriffs insbesondere steht noch aus“. Webers eigenem Begriff der Soziologie als einer geschichtlich orientierten „Wirklichkeitswissenschaft“ zufolge läßt sich sein Werk nur im Zusammenhang einer differenzierten wissenschaftsgeschichtlichen Wahrnehmung der historisch-kulturwissenschaftlichen Debatten seiner Zeit angemessen erschließen. In diesem Sinne soll die Gesprächslage der protestantischen Theologie im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert als ein möglicher – aber natürlich nicht: der einzige, und gewiß auch nicht: der wichtigste – Entdeckungszusammenhang für zentrale Fragestellungen der Weberschen Religionssoziologie exemplarisch dargestellt werden. Zunächst wende ich mich der intensiven Beschäftigung des jungen Weber mit der sogenannten älteren „liberalen Theologie“ und seinen Kontakten zu Otto Baumgarten und Repräsentanten der „Religionsgeschichtlichen Schule“ zu, danach möchte ich am Beispiel der forschungspraktischen Kooperation zwischen Weber und Ernst Troeltsch die Intensität seiner wissenschaftlichen Beziehungen zu protestantischen Theologen erläutern, in einer stärker systematischen Absicht stelle ich schließlich Troeltschs Religionstheorie als ein repräsentatives Gegenmodell zu Webers später Soziologie dar.

I. Religiöse Ethik und Eigengesetzlichkeiten der Kultur Am 16. Mai 1882 berichtet Weber seiner Mutter in einem Brief aus Heidelberg: 8 „Im übrigen bin ich ziemlich tief in die Theologie geraten.“ In den ersten drei

4 Friedrich Tenbruck: Die Genesis der Methodologie Max Webers, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 11 (1959), S. 573–630; ders.: Das Werk Max Webers, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 27 (1975), S. 351–364. 5 Johannes Weiß: Max Webers Grundlegung der Soziologie. Eine Einführung, München 1975, bes. S. 103 ff. 6 Gottfried Küenzlen: Die Religionssoziologie Max Webers. Eine Darstellung ihrer Entwicklung, Berlin 1980. 7 Volker Drehsen: Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen der Praktischen Theologie. Aspekte der theologischen Wende zur sozialkulturellen Lebenswelt christlicher Religion, Anmerkungsband zu Band 2, Tübingen 1985, S. 55, Anm. 23. 8 Max Weber: Jugendbriefe, Tübingen 1936, S. 48.

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Semestern seines Jurastudiums lebt Weber in einer engen Lebens- und Arbeitsgemeinschaft mit seinem älteren Vetter Otto Baumgarten, einem protestanti9 schen Theologen. Zumindest während der Studienzeit hat Otto Baumgarten einen nachhaltigen Einfluß auf Max Weber ausgeübt. Die beiden Vettern eignen sich gemeinsam klassische Texte der deutschen liberalen Theologie des 19. Jahrhunderts an. So hat Weber sich während des Studiums unter anderem mit Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers „Reden über die Religion“, Alois Emanuel Biedermanns „Christlicher Dogmatik“ und Otto Pfleiderers „Paulinis10 mus“ „viel beschäftigt“. Schleiermacher, Pfleiderer und Biedermann haben, bei allen gravierenden Unterschieden im einzelnen, jeweils eine kulturpraktische Eigenständigkeit der Religion geltend zu machen versucht. Im Unterschied zu jener szientifisch-positivistischen Religionskritik des 19. Jahrhunderts, welche in der Religion nur eine Funktion von anderen kulturellen Realitäten sieht und religiöse Gehalte aus sozialen oder psychischen Gegebenheiten abzuleiten sucht, wird Religion hier als eine autonome Potenz der Kultur verstanden. Religiöse Sinnerfahrung ist eine Erfahrung sui generis und gerade aufgrund dieser prinzipiellen Selbständigkeit kulturell relevant. Im Zentrum dieser Theologien steht deshalb die existentielle Umsetzung des religiösen Wertekosmos in ethische Lebenspraxis. Das Individuum realisiert seine ihm spezifisch eigene Frömmigkeit in einer strikt prinzipiengeleiteten „religiös-sittlichen“ Lebensführung. Das Religionsverständnis dieser älteren kulturprotestantischen Theologen hat Weber vor allem in zweierlei Hinsicht nachhaltig geprägt: hier findet er die in seiner familiären Sozialisation vor allem durch die Frömmigkeit der Mutter repräsentierte Selbständigkeit des Religiösen theoretisch gerechtfertigt, und hier lernt er die gesinnungsethische Konkretion von Frömmigkeit als eine für den neueren Protestantismus signifikante Religiosität kennen. Aber können unter den Bedingungen der modernen Kultur traditionelle religiöse Werte und Normen überhaupt noch solche ethischen Orientierungen vermitteln, die sich alltagspraktisch tatsächlich realisieren lassen? Weber hat sich, zusammen mit Otto Baumgarten, schon im Studium intensiv auch mit dem 1835 erschienenen „Leben Jesu“ und dem 1872 publizierten „Alten und Neuen Glauben“ von David Friedrich Strauß, dem einflußreichsten kritischen Theologen des 19. Jahrhunderts, beschäftigt. Strauß hatte dem überkommenen kirchlichen Christentum die Diagnose einer tiefgreifenden praktischen Relevanzkrise gestellt: Unter den Bedingungen der modernen Kultur sind die Normen

9 Vgl. neben den diversen Belegen in Webers Jugendbriefen auch: Otto Baumgarten: Meine Lebensgeschichte, Tübingen 1929, bes. S. 81 ff. 10 Max Weber: Jugendbriefe (wie Anm. 8), S. 67.

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einer religiösen Brüderlichkeitsethik faktisch obsolet geworden. Denn kapitalistische Ökonomie, moderne nationalstaatliche Machtpolitik und die von aller religiösen Heteronomie emanzipierte autonome Welt des Ästhetischen werden nach ihren je spezifisch eigenen Gesetzen gesteuert. Die entscheidende Frage ist es dann, was an die Stelle der alten, als nicht mehr alltagspraktisch transformierbar geltenden religiösen Ethik treten soll. Oder bedeutet der Plausibilitätsverlust der überkommenen religiösen Ethik die völlige Preisgabe des Anspruchs auf eine ethische Orientierung der individuellen Lebensführung? Um die moderne Kultur nicht zu einem unmenschlichen Chaos absoluter Unsittlichkeit degenerieren zu lassen, hatte Strauß dies verneint und für die Fortbildung des Christentums zu einer postchristlichen Humanitätsreligion plädiert; diese Religion der Zukunft wurde von ihm als Zivilreligion des Deutschen Reiches konzipiert: Sie soll für die Gesellschaft des Kaiserreiches praktisch plausible ethische Orientierungen bereitstellen und jenseits der politischen, sozialen und alten konfessionellen Gegensätze Integration leisten. Baumgarten und der junge Weber haben dieses Programm als bloße ideologische Überhöhung des politisch-ökonomischen status quo abgelehnt. Ihr gemeinsames Interesse konzentriert sich zunächst auf Bemühungen, allen kulturpraktischen Vermittlungsproblemen zum Trotz der überkommenen religiösen Brüderlichkeitsethik wie insbesondere der Bergpredigt auch in aktuellen sozialpolitischen Kontroversen Geltung zu verschaffen. Durch Vermittlung Otto Baumgartens hat Weber in den späten achtziger und frühen neunziger Jahren zahlreiche jüngere protestantische Theologen kennengelernt. In der neueren Weber-Forschung haben vor allem Webers politische Kontakte im Umkreis des Evangelisch-sozialen Kongresses und hier insbesondere die enge Freundschaft mit den Pfarrern Paul Göhre und Friedrich Naumann Beachtung gefunden. In Hinblick auf die Entwicklung seiner Religionssoziologie darf jedoch nicht übersehen werden, wie intensiv Weber sich auch mit gleichaltrigen akademischen Theologen auseinandergesetzt hat. Über Baumgarten lernt Weber noch während des Studiums die Theologen Eduard Grafe, Eduard Simons und Hans von Schubert kennen. Als Baumgarten im April 1887 zur Vorbereitung auf die theologische Lizentiatenpromotion seinem Freund Grafe nach Halle folgt und hier zusammen mit dem Kirchenhistoriker Albert Eichhorn eine Wohnung bezieht, hält Weber diverse Kontakte mit Baumgartens großem Freundes- und Bekanntenkreis durch Briefe und Besuche weiter aufrecht. Mehrere dieser Freunde Baumgartens sind seit den frühen neunziger Jahren dann als sogenannte „Religionsgeschichtliche Schule“ in der Theologie bekannt geworden. Zu dieser Schule, ursprünglich eine Gruppe von nahezu gleichaltrigen Privatdozenten an der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen, gehören neben anderen die Exegeten Hermann Gunkel, Wilhelm Bousset und Johannes Weiß sowie als ihr führender Systematischer Theologe Ernst Troeltsch.

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Die „Religionsgeschichtler“ verstehen sich als Avantgarde der Durchsetzung eines neuen, kritischen Theologiebegriffes, dessen systematische Struktur durch genau jenes empirische Interesse an religiöser Lebensführung konstitutiert wird, welches später auch Webers Konzeption der Religionssoziologie entscheidend bestimmt. Theologie ist nicht bloße Lehre, d. h. dogmatische Spekulation oder Verwaltung eines kirchlichen Glaubensschatzes, sondern eine induktiv verfahrende Wissenschaft von der gelebten Religion, Analyse faktischer religiöser Praxis und Deutung der kulturpraktischen Relevanz der Religion als einer Potenz der individuellen Lebensgestaltung. Der seit dem Zusammenbruch der idealistischen Systemphilosophien zu beobachtenden allgemeinen „Empirisierung 11 der Wissenschaft“ analog hat sich die protestantische Theologie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zunehmend stärker kulturgeschichtlichen, sozialgeschichtlichen, ethnologischen bzw. ‚völkerpsychologischen‘ und religionspsychologischen Fragestellungen geöffnet. Seit den frühen neunziger Jahren haben dann vor allem Baumgarten und andere jüngere Theologen aus dem Umkreis der „Religionsgeschichtlichen Schule“, mit denen Weber seit seinem Studium 12 Kontakt gehabt hat, eine am „Primat der Erfahrung vor der Theorie“ orientierte „theologische Wende zur sozialkulturellen Lebenswelt christlicher Reli13 gion“ einzuleiten und durchzuführen versucht. Sie haben sich dabei um ein konsequent geschichtliches, d. h. nicht durch irgendwelche überkommenen dogmatischen Präjudizien getrübtes Verständnis der Entstehung, Entwicklung und aktuellen Kulturbedeutung des Christentums bemüht. Methodisch bedeutet dies eine „Erweiterung der theologischen Arbeit durch die Methoden der modernen Religionswissenschaft, Historik und Philologie nach allen Seiten hin“ bzw. die Umformung der Theologie zu einer „sozialwissenschaftlich“ orientierten „Kul14 turgeschichte“ des Christentums. Das Christentum wird konsequent in den Kontext der allgemeinen Religionsgeschichte hineingestellt und dabei primär auf seine Kulturbedeutung hin thematisiert. Denn zumindest in der Vergangenheit ist Religion der dominierende Faktor im Aufbau aller Kultur gewesen. Was die „Religionsgeschichtler“ an der religiösen Tradition interessiert, ist, mit einem Wort, die Bedeutung der Religion als einer ‚Lebensmacht‘ – ein Begriff, der

11 Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831–1933, Frankfurt a. M. 1983, S. 113. 12 Ebd., S. 114. 13 Vgl. dazu die ausführlichen Nachweise in der in Anm. 7 genannten umfassenden Arbeit von Volker Drehsen. 14 So die programmatische Auskunft im Prospekt zu dem 1909 bis 1913 von Repräsentanten der „Religionsgeschichtlichen Schule“ herausgegebenen Lexikon „Die Religion in Geschichte und Gegenwart“. Vgl. Vorwort des Herausgebers, in: RGG, 1. Band, Tübingen 1909, S. V–IX, hier S. VIII f.

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dann bekanntlich auch in der „Zwischenbetrachtung“ der „Wirtschaftsethik der 15 Weltreligionen“ eine prominente Rolle spielt. In den historischen Untersuchungen der „Religionsgeschichtler“ stehen insbesondere folgende Themen im Vordergrund: die Spannungen zwischen Religion und Alltagskultur, die Versuche einer kulturpraktischen Abschwächung solcher Spannungen, die Bedeutung der „Frömmigkeit“ für die Lebensführung des Individuums und die sozialen Wirkungen religiösen Gemeinschaftshandelns. Innerhalb der Exegese des Alten und Neuen Testamentes konzentriert sich seit den späten achtziger Jahren das Interesse auf solche religiösen Phänomene, die kulturell unverrechenbar sind. In der neutestamentlichen Exegese betont man die Zentralstellung der Eschatologie innerhalb der religiösen Vorstellungswelt des Urchristentums: Im ausdrücklichen Gegensatz zum älteren Kulturprotestantismus, dem der religiöse Sinn des Christentums mit seiner Kulturbedeutung bzw. praktischen Relevanz für den Aufbau einer humanitären Sittlichkeit unmittelbar zusammenfällt, wird das Verhältnis von Christentum und Kultur nun gerade im Modell einer prinzipiell unüberbrückbaren (bzw. kulturpraktisch immer nur begrenzt vermittelbaren) Dichotomie ausgelegt. Die „Religionsgeschichtler“ und ihnen nahestehende Theologen haben die im eschatologischen Charakter des urchristlichen Kerygmas liegenden Spannungen zwischen Religion und ‚Welt‘ zu einem für das Wesen wahrer Christlichkeit konstitutiven, normativen Gegensatz radikalisiert. Wenn die Eschatologie ins Zentrum des theologischen Interesses rückt, wird jedoch die Möglichkeit einer religiös inspirierten ethischen Gestaltung der gegebenen Kultur problematisch. Dies läßt sich an Otto Baumgartens Auslegung der Bergpredigt verdeutlichen. Wie viele andere jüngere „liberale Theologen“ der Zeit hat Baumgarten die Bergpredigt zur ethischen Substanz des Christentums erklärt, die von den Relativierungen der historischen Kritik nicht tangiert wird. Indem er den Geltungsanspruch des Ethos der Bergpredigt radikalisiert, wird die Frage nach seiner tatsächlichen innerweltlichen Realisierbarkeit zum zentralen Problem theologischer Ethik. Nachdem Baumgarten in den späten achtziger und frühen neunziger Jahren des 10. Jahrhunderts in engstem Kontakt mit Weber zunächst für eine christlich-soziale Ethisierung von kapitalistischer Ökonomie und imperialistischer Politik gekämpft hatte, hat er seit der Mitte der neunziger Jahre zunehmend stärker die Grenzen der innerweltlichen Transformierbarkeit religiössittlicher Wertvorstellungen anerkannt. Einen für sein frühes christlich-soziales Selbstverständnis höchst bedeutenden Text, das Programm der von ihm herausgegebenen Schriftenreihe „Evangelisch-soziale Zeitfragen“, hat Baumgarten 15 Vgl. Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 1. Band, Tübingen 1920, S. 566 u. ö.

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gemeinsam mit Weber verfaßt. Zwar sind derzeit nur sehr wenige schriftliche Quellen über die spätere Kommunikation zwischen den Vettern allgemein zu17 gänglich. Aber daß Weber mit seinem „Lieblingsvetter“ trotz der räumlichen Trennung – Baumgarten ist nach der Privatdozententätigkeit in Berlin und einem Extraordinariat in Jena 1894 ordentlicher Professor für Praktische Theologie in Kiel geworden; von Weber unterstützte Versuche, ihn in die Heidelberger Theologische Fakultät zu berufen, sind am Widerstand von Gruppen des badischen kirchlichen Konservativismus gescheitert – in intensivem Gesprächskontakt geblieben ist, läßt sich aus Baumgartens zahlreichen Publikationen belegen. Für Weber so zentrale Begriffe wie beispielsweise ‚Idealtypus‘, ‚Eigengesetzlichkeit‘ bzw. ‚Selbstgesetzlichkeit‘, ‚Fachmenschentum‘ bzw. ‚Zweckmenschentum‘, ‚Wahlverwandtschaft‘, ‚Akosmismus‘ und ‚rational ethische Religiosität‘ dienen auch Baumgarten als Schlüsselbegriffe zur Bestimmung der ethischen Chancen der Religion unter moderngesellschaftlichen Bedingungen. Im Gebrauch dieser Begriffe dürfte Baumgarten von Weber abhängig sein. In Hinblick auf Weber selbst ist dies zunächst nur von rezeptionsgeschichtlichem Interesse. Doch kommt der näheren Erschließung von Baumgartens theologischer Position auch eine wichtige Bedeutung für ein historisch differenziertes Verständnis der leitenden Fragestellungen von Webers wissenschaftlicher Produktion zu. Der Tübinger Theologe Volker Drehsen hat auf eine weitreichende „Konvergenz eines ethischen Themas in der Praktischen Theologie Otto Baumgartens und der Soziologie Max 18 Webers“ hingewiesen. Im Zentrum von Baumgartens Theorie des neuzeitlichen Christentums steht die Frage nach dem Schicksal der Persönlichkeit und den Chancen ihrer praktischen Autonomie in einer Kultur, welche zunehmend stärker durch Selbstgesetzlichkeiten der gesellschaftlichen Institutionen, einen gesamtgesellschaftlichen Funktionsprimat der kapitalistischen Ökonomie sowie eine imperialistisch-nationalstaatliche Machtpolitik geprägt wird. Seiner wachsenden Skepsis bezüglich einer kulturpraktischen Realisierung religiöser Normen zum

16 Otto Baumgarten: Meine Lebensgeschichte (wie Anm. 9), S. 215. Darüber hinaus hat Weber bei der Redaktion der „Evangelisch-sozialen Zeitfragen“ mitgewirkt und für Baumgartens Projekt engagiert geworben. Vgl. Adolph Wagner: Briefe, Dokumente, Augenzeugenberichte 1851–1917, hrsg. von Heinrich Rubner, Berlin 1978, S. 260; Rita Aldenhoff: Max Weber und der Evangelischsoziale Kongreß, in: Wolfgang J. Mommsen, Wolfgang Schwentker (Hrsg.): Max Weber und seine Zeitgenossen, Göttingen, Zürich 1988, S. 285–295. 17 Paul Honigsheim: Erinnerungen an Max Weber (wie Anm. 3), S. 265. 18 Volker Drehsen: Protestantische Religion und praktische Rationalität. Zur Konvergenz eines ethischen Themas in der Praktischen Theologie Otto Baumgartens und Soziologie Max Webers, in: Wolfgang Steck (Hrsg.): Otto Baumgarten. Studien zu Leben und Werk, Neumünster 1986, S. 197– 235, jetzt in: Volker Drehsen: Der Sozialwert der Religion. Aufsätze zur Religionssoziologie, hrsg. von Christian Albrecht, Hans Martin Dober und Birgit Weyel, Berlin, New York 2009, S. 313–360.

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Trotz hat Baumgarten der Religion in einer bestimmten, für ihn selbst zentralen Perspektive eine konstitutive Funktion für die Gestaltung der Kultur zuerkannt: Religiöse Gehalte symbolisieren einen prinzipiellen Mehrwert des Individuums über die Immanenz von Kultur und Gesellschaft. Der essentielle, eschatologische Gegensatz von (christlicher) Religion und Kultur gewinnt hier also insoweit eine kulturpraktische, ethische Relevanz, als mit ihm eine Transzendenz der frommen ‚Persönlichkeit‘ über die faktischen Lebensordnungen geltend gemacht werden 19 soll. Innerhalb der alttestamentlichen Exegese machen die „Religionsgeschichtler“ den Überschuß religiöser Gehalte über die Kultur vor allem durch eine programmatische Aufwertung der Gestalt des Propheten geltend. Damit verbindet sich eine Polarisierung von Priester und Prophet. Zentrale Begriffe in Webers „Einleitung“ und „Zwischenbetrachtung“ zu den vergleichenden religionssoziologischen Skizzen über die „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ sowie in der Studie über das „antike Judentum“ sind innerhalb der Prophetenforschung der „Religionsgeschichtlichen Schule“ geprägt bzw. mit jenem Bedeutungsgehalt gefüllt worden, der dann auch für Weber maßgeblich wird. Dies ist nicht zuletzt auch in Hinblick auf die systematische Religionssoziologie in „Wirtschaft und Gesellschaft“ von Interesse. Denn werkgeschichtlich gesehen dürfte gerade Webers Beschäftigung mit der Prophetie „die Exposition der systematischen 20 Religionssoziologie in erheblichem Maße mitbestimmt“ haben. Vor allem Webers Sicht des antiken Judentums und des asketischen Protestantismus ist entscheidend durch jene Deutung der israelitisch-jüdischchristlichen Religionsgeschichte beeinflußt, wie sie innerhalb der „Religionsgeschichtlichen Schule“ entwickelt worden ist. Gottfried Küenzlen hat darauf hingewiesen, daß für Weber grundlegende Duale wie ‚Naturreligion‘ – ‚Erlösungsreligion‘ oder ‚Mystik‘ – ‚Askese‘ und Begriffe wie ‚Akosmismus‘, ‚religiöse Weltablehnung‘, ‚Weltindifferenz‘ und ‚Theodizee‘ bereits in religionswissenschaftlichen bzw. religionsgeschichtlichen Publikationen Cornelius Peter Tieles, Abraham Kuenens, Eduard von Hartmanns, Otto Pfleiderers und Hermann Siebecks sich nachweisen lassen. Mit Blick auf die „Religionsgeschichtler“ läßt seine Frage „Aus welchen religionswissenschaftlichen Quellen könnte Weber

19 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Lex Christi und Eigengesetzlichkeit. Das Grundproblem der ethischen Theologie Otto Baumgartens, in: Wolfgang Steck (Hrsg.): Otto Baumgarten (wie Anm. 18), S. 237–285, jetzt in: Friedrich Wilhelm Graf: Der heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik, Tübingen 2011, S. 161–209. 20 Wolfgang Schluchter: Altisraelitische religiöse Ethik und okzidentaler Rationalismus, in: ders. (Hrsg.): Max Webers Studie über das antike Judentum. Interpretation und Kritik, Frankfurt a. M. 1982, S. 11–77, hier S. 21 und S. 65.

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sinnvollerweise geschöpft haben?“ sich erheblich präzisieren. Denn ein Großteil der leitenden Begriffe von Webers Religionssoziologie lassen sich aus solchen Publikationen der exegetischen Repräsentanten der „Religionsgeschichtlichen Schule“ herleiten, welche Weber nachweislich gekannt hat. Weber verdankt den „Religionsgeschichtlern“ nicht nur zentrale Begriffe wie ‚ethische Prophetie‘, ‚Hierokratie‘, ‚Theodizee des Leidens‘ und ‚Magiefeindschaft‘ sowie so grundlegende begriffliche Unterscheidungen wie etwa ‚exemplarische Prophetie‘ – ‚Sendungsprophetie‘ und ‚Erlösungsreligiosität‘ – ‚Vergeltungsreligiosität‘. Vielmehr macht er sich auch die Sicht der Kulturbedeutung der altisraelitischen Prophetie zu eigen, wie sie innerhalb der Prophetenforschung der „Religionsgeschichtlichen Schule“ vertreten worden ist. Der Leidener Religionshistoriker Abraham Kuenen und der Alttestamentler bzw. Orientalist Julius Wellhausen hatten schon in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts ein Modell zur Deutung der altisraelitischen Prophetie entwickelt, für welches gerade die ethischen Implikationen des Auftretens der Propheten grundlegend waren: Die sogenannten ‚freien Propheten‘ von Amos bis Jeremia galten hier als Verkünder eines ethischen Monotheismus. Innerhalb der „Religionsgeschichtlichen Schule“ ist der Zusammenhang zwischen Gottesbild und Ethik der Propheten dann ausdrücklich auch auf die Kulturbedeutung der Prophetie für die Genese des okzidentalen Rationalismus hin thematisiert worden. Für Weber ist hier insbesondere Hermann Gunkel sehr wichtig gewesen. Weber hat Gunkel, der sowohl mit Baumgarten als auch mit Troeltsch eng befreundet gewesen ist, spätestens in Heidelberg, höchstwahrscheinlich aber – durch Vermittlung Baumgartens – schon Ende der achtziger Jahre in Halle kennengelernt. In der Studie über „Das antike Judentum“ führt er eine Publikation Gunkels über „Die geheimen Erfahrungen der Propheten“ mit dem Kommentar 22 ein: „glänzend wie immer“. Ein solches Werturteil – wie es sich in Webers Literaturangaben höchst selten findet – läßt die Intensität seiner Wahrnehmung der exegetischen Arbeit Gunkels erkennen. Vor allem folgende Elemente des von den Alttestamentlern der „Religionsgeschichtlichen Schule“ und insbesondere von Gunkel entwickelten Bildes der altisraelitischen Prophetie und ihrer Kulturbedeutung hat Weber sich zu eigen gemacht: die Deutung der vorexilischen Propheten als Volksredner, Demagogen und z. T. auch Pamphletisten; die Unterscheidung von ekstatischer Form und metaekstatischem, sittlichem Gedankengehalt der prophetischen Rede; die Konstruktion eines prinzipiellen Gegensatzes zwischen traditioneller, magischer 21 Gottfried Küenzlen: Unbekannte Quellen der Religionssoziologie Max Webers, in: Zeitschrift für Soziologie 7 (1978), S. 215–227, hier S. 218, Anm. 3. 22 Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 3. Band, Tübingen 1921, S. 281.

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Volksfrömmigkeit und antimagischer ethischer Rationalität des Ethos der Propheten; die Behauptung, daß, obgleich (wie gerade von Gunkel erkannt worden ist) den Drohworten bzw. Unheilsankündigungen der Propheten historische Priorität zukommt, gerade die Scheltworte und Mahnreden wirkungsmächtig gewesen sind; die Absage an Versuche einer politischen Deutung der von den Propheten erhobenen Forderungen bzw. die Betonung von deren rein religiösen Charakter; und die Stilisierung der Propheten zu Trägern einer rationalen religiösen Ethik des innerweltlichen Handelns. Auf der Basis der Behauptung, daß als das „eigentlich Wertvolle an den Propheten [. . .] nicht die ekstatische Form, [. . .] sondern ihr ewiger Gehalt, die großen göttlichen Gedanken, die ihnen aufgegangen sind“, anzusehen ist, hat vor allem Gunkel dem altisraelitisch-prophetischen „sittlichen Monotheismus“ eine „universalgeschichtliche Bedeutung“ zuerkannt: Er spricht in diesem Zusammenhang von „unverlierbare[n] Errungenschaften des Geistes [. . .], die auch jetzt nicht veraltet sind und niemals veralten können und die daher allem modernen Denken, mag man sich zur Kirche und Religion 23 stellen, wie man will, zu Grunde liegen“. Daß sich Webers Einschätzung der Kulturbedeutung des Judentums nach 1909 – dem Jahr des Erscheinens der dritten Fassung des Artikels über die „Agrarverhältnisse im Altertum“, in dem „Altisrael“, d. h. die Zeit zwischen Landnahme und babylonisch-persischem Exil, noch keinen prominenten Stellenwert hat – wandelt und er das Ethos der Propheten zunehmend stärker zum Nukleus der okzidentalen Ethik erklärt, dürfte auf die einschlägigen Thesen der „Religionsgeschichtler“ und hier vor allem Gunkels zurückzuführen sein. Nach 1910 hat auch Troeltsch dem prophetischen Ethos eine zunehmend gewichtigere Rolle für Bildung und Entwicklung der 24 spezifisch okzidentalen ethischen Rationalität zuerkannt. Die exegetische Forschung der „Religionsgeschichtler“ als eine Quelle von Webers Religionssoziologie zu erschließen, ist von mehr als nur philologischem Interesse. Indem Weber bestimmte Begriffe der „Religionsgeschichtler“ rezipiert, macht er sich zugleich zentrale, durchaus problematische Elemente des von ihnen entwickelten Bildes der israelitisch-jüdischen Geschichte zu eigen. Dies betrifft vor allem Tendenzen zur Überschätzung des historischen Gewichts der Prophetie und zur Idealisierung der Gestalt des Propheten. Die Prophetenexegese der protestantischen Theologie der Jahrhundertwende hat, vor allem unter dem Einfluß Julius Wellhausens, ein Bild der sogenannten freien Prophetie entworfen, welches nachhaltig durch spezifisch bürgerliche Wertvorstellungen geprägt

23 Hermann Gunkel: Was bleibt vom Alten Testament?, Göttingen 1916, S. 18. 24 Vgl. insbesondere Ernst Troeltsch: Das Ethos der hebräischen Propheten, in: Logos 6 (1916/17), S. 1–28. Weber hat diesen Text gekannt: vgl. Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 3. Band (wie Anm. 22), S. 281.

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ist. Obwohl Gunkel und andere „Religionsgeschichtler“ Wellhausen und seiner Schule in Hinblick auf die Prophetenexegese vorgeworfen haben, die „unleug25 bare Originalität der Propheten [. . .] überschätzt“ zu haben, haben auch sie die Propheten zu Repräsentanten exemplarischer Individualität stilisiert. Der Prophet ist innerhalb einer primär durch Aberglauben und magische Überlieferung geprägten Welt Agent des geschichtlich Neuen, und in der Exklusivität seiner Bindung an den Willen Jahwes hebt er das überkommene Ethos auf eine qualitativ neue, gesinnungsethische Stufe. So hat etwa Gunkel, von Nietzsches „Schrecken und Ehrfurcht vor den ungeheuren Überbleibseln dessen, was der 26 Mensch einst war“ fasziniert, die Propheten zu Leitbildern der Erhebung des schöpferischen Individuums über die Masse erklärt. Denn die „geistige Geschichte Israels“ stellt für Gunkel „die Geschichte des Fortschritts vom Sozialismus zum Individualismus“ dar: „Es ist ein Gesetz der geistigen Entwicklung des menschlichen Geschlechts, daß auf niederer Stufe die gesellschaftlichen Verbände, Volk, Geschlecht, Familie das einzelne Individuum an Bedeutung überragen, daß aber 27 auf höherer das Individuum ersteht und seine Rechte fordert“. Dieser Durchbruch zum Individualismus ist aber wesentlich eine Leistung der Propheten 28 als „große[n] religiöse[n] Persönlichkeiten“ und „ersten ‚Individuen‘ in Israel“. „Die objektive Wahrheit kommt zum Bewußtsein der Menschheit in gewaltig 29 erregten und über sich selbst emporgerissenen Personen“. Gunkel nimmt die 30 Propheten denn auch zur Kritik „unserer sozialistischen Zeit“ in Anspruch, die dem geschichtlichen Eigengewicht der kreativen autonomen Persönlichkeit

25 Hermann Gunkel: Die Religionsgeschichte und die alttestamentliche Wissenschaft, in: Max Fischer, Friedrich Michael Schiele (Hrsg.): Fünfter Weltkongress für Freies Christentum und Religiösen Fortschritt, Berlin 5. bis 10. August 1910, Protokoll der Verhandlungen, Berlin-Schöneberg 1911, S. 169–180, hier S. 171. 26 Zur Nietzsche-Rezeption Gunkels vgl. die Hinweise bei Hans-Peter Müller: Hermann Gunkel (1862–1932), in: Martin Greschat (Hrsg.): Theologen des Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert, Band 2, Stuttgart u. a. 1978, S. 241–255. 27 Hermann Gunkel: Individualismus und Sozialismus im AT, in: RGG, 3. Band, Tübingen 1912, Sp. 493–501, hier Sp. 494. 28 „Nun ist in Israel vom 8. Jahrhundert an ein gewaltiger Individualismus entstanden, der, zuerst durch große Propheten vertreten, dann auch zu den Psalmisten und den Weisen gekommen ist [. . .]. Gewaltige Propheten erstehen, in den Tiefen ihrer Seele von dem Ewigen, das sie erlebt haben, getroffen, die das Unerhörte wagen, allein auf die Stimme des Gottes in ihrer Brust zu hören, keine Autorität zu achten und dem Heiligsten, was ihr Volk kennt, zu widersprechen. Das sind die ersten ‚Individuen‘ in Israel.“ (Ebd., Sp. 497 f.). 29 Hermann Gunkel: Die Religionsgeschichte und die alttestamentliche Wissenschaft (wie Anm. 25), S. 174. 30 Hermann Gunkel: Zum religionsgeschichtlichen Verständnis des Neuen Testaments, Göttingen 1903, S. 12.

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nicht gerecht zu werden vermag. Diese spezifisch bürgerliche „Hochschätzung 31 der Person in ihrer vereinzelten Innerlichkeit“ prägt nachhaltig auch Webers Prophetenbild, so wie es in der Rezeption der alttestamentlichen Exegese seiner 32 Zeit sich gebildet hat . Entsprechendes gilt in Hinblick auf den Charismabegriff : Weber hat ihn selbst auf den protestantischen Kirchenrechtler Rudolph Sohm und auf den Kirchengeschichtler Karl Holl, einen Schüler Adolf von Harnacks, 33 zurückgeführt. Sohm hatte, in ausdrücklicher Kritik an Adolf von Harnacks Deutung des Begriffs der Kirche als einer wesentlich legalen Anstalt, im ersten Band seines „Kirchenrechts“ die These vertreten, daß alles Recht und insbesondere ein eigenes kirchliches Recht zum Wesen der Kirche als communio 34 sanctorum in einem prinzipiellen Widerspruch stehe, und damit innerhalb der Theologie heftige Kontroversen über das Verhältnis von Charisma und Institution, Wort und Kult, Geist und Gesetz provoziert. Unter deren Eindruck hatte Karl Holl 1898 in „Enthusiasmus und Bussgewalt beim griechischen Mönchtum. Eine Studie zu Symeon dem neuen Theologen“ nachzuweisen versucht, daß der „Gegensatz zwischen Amt und Geist [. . .] nicht verschwunden [ist], als sich die festen Formen einer Verfassung in der Kirche herausbildeten. Das Mönchtum hat ihn neu belebt und die Kirche hat ihn verewigt, indem sie das Mönchtum anerkannte. Die Reibung zwischen dem selbständigen Geist im Mönchtum und der Ordnung der Kirche ist eines der wichtigsten Momente in der inneren Entwick35 lung der Kirche“. Weber hat sich insbesondere Holls These zu eigen gemacht, daß die Aufrechterhaltung charismatischer Autorität primär vom „Erfolg“ des charismatischen Propheten bzw. Mönchs, also vor allem „dem Eintreffen seiner

31 Hans-Peter Müller: Hermann Gunkel (wie Anm. 26), S. 248. 32 Vgl. Bernhard Lang: Max Weber und Israels Propheten, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 36 (1984), S. 156–165. 33 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. I. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte, Erster Teil (Grundriß der Sozialökonomik, Abt. III), Tübingen 1921, S. 124, jetzt in: MWG I/23, S. 454. 34 Rudolph Sohm: Kirchenrecht, 1. Band: Die geschichtlichen Grundlagen, Berlin 1892, 2. Band: Katholisches Kirchenrecht, Berlin 1923. 35 Karl Holl: Enthusiasmus und Bussgewalt beim griechischen Mönchtum. Eine Studie zu Symeon dem neuen Theologen, Leipzig 1898, S. III. Zu Webers Holl-Rezeption vgl. auch den Nachruf Hajo Holborns auf Holl: „Sein Buch über ‚Enthusiasmus und Bußgewalt im griechischen Mönchtum‘ [. . .] erschloß eine bis dahin fast nicht gekannte Stufe der christlichen Frömmigkeit [. . .]. Was etwa dies Buch über das spätgriechische Mönchtum auch dem Nichttheologen zu sagen vermag, dafür sind die energischen Striche und Bemerkungen charakteristisch, die Max Weber an den Rand zeichnete“. Hajo Holborn: Karl Holl. Geb. 15. Mai 1866, gest. 23. Mai 1926, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 5 (1927), S. 413–430, hier S. 415.

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Vorhersagungen und der Erfüllung seiner Bitten“ abhänge. Darüber hinaus rezipiert er Sohms und Holls Vorstellung von einem prinzipiellen Antagonismus zwischen Charisma und Institution. Bis in die einzelnen Bestimmungen seines 37 Charismabegriffs hinein läßt sich zeigen, in welch starkem Maße Weber auch hier durch theologische Debatten über Spannungen zwischen religiöser Subjektivität und Eigengesetzlichkeiten kultureller Institutionalisierungsprozesse geprägt worden ist.

II. Konkrete Kooperation Daß Webers Soziologie entscheidend durch Fragestellungen der zeitgenössischen protestantischen Theologie mitbestimmt worden ist, gilt vor allem in Hinblick auf Ernst Troeltsch, den sogenannten „Systematiker der Religionsgeschichtlichen Schule“. Bekanntlich sind Troeltsch und Weber seit 1896 eng miteinander be38 freundet gewesen und haben einen ‚fruchtbaren wissenschaftlichen Austausch‘ gepflegt. Ein intimer Kenner der Heidelberger akademischen Szenerie des frühen 20. Jahrhunderts, der Neutestamentler Martin Dibelius, hat von einer „Zusam39 menarbeit“ zwischen Troeltsch und Weber gesprochen. Dies bezieht sich nicht nur auf die gemeinsame Teilnahme am „Eranos“-Kreis. Troeltsch hat in einem Nachruf auf den Freund selbst davon berichtet, „jahrelang in täglichem Verkehr 40 die unendlich anregende Kraft“ Webers erfahren zu haben. In der Literatur zur Kirche-Sekte-Thematik ist das Verhältnis zwischen Webers und Troeltschs religionssoziologischer Arbeit zumeist als einseitige Abhängigkeit des letzteren gedeutet worden. Dies wird den komplexen Beziehungen jedoch nicht gerecht. Unter dem unmittelbaren Eindruck von Webers Tod hat Troeltsch in einem erst kürzlich aufgefundenen Beileidsbrief an Marianne Weber zwar davon berichtet, er sei im jahrelangen intensiven Austausch „sehr viel mehr der Empfangende als der Gebende“ gewesen: „Ihr Mann ist mir ein geistiges Schicksal gewesen u[nd] ist es heute noch, ein Schicksal, das ich auf meine Weise u[nd] mit einer allmählich sich wieder herstellenden Selbständigkeit verarbeitet habe, natürlich 36 Karl Holl: Enthusiasmus und Bussgewalt beim griechischen Mönchtum (wie Anm. 35), S. 188. 37 Vgl. Heino Speer: Herrschaft und Legitimität. Zeitgebundene Aspekte in Max Webers Herrschaftssoziologie, Berlin 1978, S. 42–50. 38 Marianne Weber: Max Weber. Ein Lebensbild, Tübingen 1926, S. 240. 39 Martin Dibelius: Ernst Troeltsch, in: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, Nr. 98, 7. Februar 1923, Erstes Morgenblatt, S. 1 f., jetzt in: TS 12, S. 278–282. 40 Ernst Troeltsch: Max Weber, in: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, Nr. 447, 20. Juni 1920, S. 2, leicht gekürzt auch in: ders.: Deutscher Geist und Westeuropa. Gesammelte kulturphilosophische Aufsätze und Reden, hrsg. von Hans Baron, Tübingen 1925, S. 247–252.

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nach dem Maß meiner Kräfte [. . .] er ist eine seelische Revolution für mich gewesen und eine ungeheure Anregung, die mich zwang, Gedanken, Kenntnisse und Gefühle in mich aufzunehmen, für die ich vielleicht eine Disposition, aber kaum eine wirkliche Vorbereitung hatte. Es sind ganze Jahre, in denen ich diese Revolution innerlich verarbeitet habe, u[nd] heute noch denke ich an wichtigen 41 Punkten: was würde er dazu sagen? Er war die stärkere und genialere Natur“. Daraus darf aber nicht auf ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis geschlossen werden. Troeltsch betont hier auch: „Ich habe nicht eigentlich das Gefühl der Schülerhaftigkeit u[nd] der Unselbständigkeit ihm gegenüber.“ In der Tat ist Troeltsch im wissenschaftlichen Austausch mit Max Weber durchaus auch der Gebende gewesen. Trotz der zunehmend intensiveren Bemühungen um eine differenzierte Erforschung der Geschichte von Webers Werk ist die Entstehung der „Protestantischen Ethik“ bisher nur zu einem geringen Teil aufgeklärt. Weber hat bekanntlich behauptet, das Thema der „Protestantischen Ethik“ schon 1898 im Kolleg behandelt zu haben. Darüber hinaus haben Weber und Troeltsch mehrfach darauf hingewiesen, von Georg Jellineks 1895 erschienener berühmter Monographie „Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ für die Frage nach den außerreligiösen Folgewirkungen einer an der calvinistischen Gesinnungsethik orien42 tierten Lebensführung sensibilisiert worden zu sein. Ohne dies bestreiten zu wollen, läßt sich zeigen, wie intensiv gerade bezüglich der „Problemstellung“ der „Protestantischen Ethik“ der Austausch zwischen Troeltsch und Weber gewesen ist. Weber hat hier Publikationen Troeltschs präzise verarbeitet. Darüber hinaus nimmt er in Konzeption und Ausführung des Textes ausdrücklich auf ein thematisch verwandtes Arbeitsvorhaben des Freundes, nämlich eine von Troeltsch 41 Brief Ernst Troeltschs an Marianne Weber vom 18. Februar 1920, Deponat. Für die Vermittlung der Kenntnis dieses Briefes bin ich Herrn Manfred Schön, Düsseldorf, zu herzlichem Dank verpflichtet. 42 „Für die Geschichte der Entstehung und politischen Bedeutung der ‚Gewissensfreiheit‘ ist bekanntlich Jellinek’s ‚Erklärung der Menschenrechte‘ grundlegend. Auch ich persönlich verdanke dieser Schrift die Anregung zur erneuten Beschäftigung mit dem Puritanismus.“ (Max Weber: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. I. Das Problem, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 20 [1905], S. 1–54, hier S. 42 f., Anm. 74). Auch in einer Gedenkrede auf Georg Jellinek von 1911 hat Weber den „Nachweis religiöser Einschläge in der Genesis der ‚Menschenrechte‘ für die Untersuchung der Tragweite des Religiösen überhaupt auf Gebieten, wo man sie zunächst nicht sucht“, auf „wesentlichste Anregungen [. . .] aus seinen [sc. Jellineks] großen Arbeiten“ zurückgeführt (Gedenkrede Max Webers auf Georg Jellinek bei der Hochzeit von dessen Tochter Frau Dr. Dora Busch am 21.3.1911, in: René König, Johannes Winckelmann [Hrsg.]: Max Weber zum Gedächtnis [wie Anm. 3], S. 12–17, hier S. 15). Für Troeltsch vgl. seine ausführliche Rezension der postum gesammelten Schriften Jellineks in: Zeitschrift für das Privatund Öffentliche Recht der Gegenwart 39 (1912), S. 273–278, jetzt in: KGA 4, S. 639–645.

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seit spätestens 1902 geplante, 1906 erschienene enzyklopädische Darstellung der Geschichte von „Protestantischem Christentum und Kirche in der Neuzeit“ 43 Rücksicht. In einigen Anmerkungen des im Oktober 1903 erscheinenden „Roscher und Knies“-Artikels findet sich der früheste publizierte Hinweis Webers auf Zusammenhänge zwischen der „‚Genesis des kapitalistischen Geistes‘“ und „pu44 ritanischen Vorstellungen“. Im selben Jahr veröffentlicht Troeltsch einen Le45 xikonartikel über „Englische Moralisten“, der Weber bei der Arbeit an der „Protestantischen Ethik“ bekannt gewesen ist. Troeltsch beschreibt die „calvinistische Ethik“ hier in Begriffen, welche ausnahmslos auch für Webers Darstellung grundlegend sind. Dies gilt nicht nur für theologische Bestimmungen des Calvinismus wie „Bibliokratie“, religiöse Zentralstellung des „Prädestinationsgedankens“, „Kirche als [. . .] Heiligungsanstalt der Prädestinierten“ und innerer Zusammenhang von „Prädestinationsgnade“ und „Gesetzlichkeit“. Vielmehr läßt auch seine „kulturgeschichtliche“ Beschreibung der „reformierten Ethik“ als des „große[n] Knotenpunkt[es] der modernen geistigen Entwicklung“ eine große Nähe zur Begrifflichkeit der „Protestantischen Ethik“ erkennen. Mit Nachdruck hebt Troeltsch die Bedeutung bestimmter religiös-theologischer Vorstellungen für die Lebensführung des frommen Individuums hervor: weil „sittliche Leistung [. . .] Kundmachung des Erwähltseins ist, [geht] [. . .] höchste Energie des Handelns [. . .] von dem Prädestinationsdogma aus“; und: In den „calvinistischen Länder[n] [. . .] herrscht [. . .] eine freiere Stellung zum wirtschaftlichen Verkehr und dem ihn befördernden Kapital. Im Gegensatz zu dem Patriarchalismus und naturalwirtschaftlichen Konservatismus der Lutheraner huldigen die Reformierten einem politischen und wirtschaftlichen Utilitarismus [. . .]; und diesen Utilitarismus unterstützen die christlichen Forderungen der Mäßigkeit, Rechtlichkeit und Arbeitsamkeit, in denen sich das Evangelium als auch dem materiellen Gedeihen förderlich erweist. So werden die reformierten Länder Träger der Kapitalwirt-

43 Max Weber: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. II. Die Berufsidee des asketischen Protestantismus, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 21 (1905), S. 1–110, hier S. 3 f., Anm. 3. Vgl. Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit, in: Julius Wellhausen u. a.: Die christliche Religion. Mit Einschluss der israelitischjüdischen Religion (Die Kultur der Gegenwart, Teil 1, Abt. 4), Berlin, Leipzig 1906, S. 253–458, jetzt: KGA 7. 44 Max Weber: Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie (Erster Artikel) (1903), in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Johannes Winckelmann, 3. Aufl., Tübingen 1968, S. 1–145, hier S. 32, Anm. 3. 45 Ernst Troeltsch: Moralisten, englische, in: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 3. Aufl., 13. Band, Leipzig 1903, S. 436–461.

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schaft, des Handels, der Industrie und eines christlich temperierten Utilitarismus, der ihre Kulturtheorien wie ihre thatsächliche Kraft bedeutsam beeinflußt hat. Neben der modernen politischen Entwickelung ist auch die wirtschaftliche von ihr mächtig gefördert worden. Wer in der Prädestination seines Zieles und des Jenseits so unbedingt sicher ist, der kann die natürlichen Kräfte umso freier auf den natürlichen Zweck, den Erwerb, wenden und braucht keine übermäßige Liebe zum irdischen Gut dabei zu fürchten. Mit der reformierten Ethik konnten daher die rein profanen Theorien sich verbinden, die in Politik und Wirtschaft sich ausgebildet hatten, und aus der reformierten Ethik konnten kulturelle Be46 standteile sich zu rein weltlichem Betrieb verselbständigen.“ Weber hat im 47 zweiten Teil der „Protestantischen Ethik“ auf diesen Text hingewiesen. Natürlich darf man daraus nicht auf ein Abhängigkeitsverhältnis schließen. Doch verdient es Beachtung, daß Troeltsch schon vor Weber bestimmte Grundelemente des in der „Protestantischen Ethik“ entfalteten Konzepts publik gemacht hat. In einer bestimmten Hinsicht hat Troeltsch denn auch einen eigenen produktiven Anteil an der Entstehung der „Protestantischen Ethik“ gehabt. Die Publikationen Troeltschs, die Weber in der „Protestantischen Ethik“ zitiert, lassen nicht nur eine enge begriffliche und sachliche Wahlverwandtschaft mit Webers Darstellung des asketischen Protestantismus erkennen. Ein kritischer philologischer Vergleich der Texte zeigt vielmehr auch: Weber verdankt dem Freunde die Kenntnis des größten Teiles der theologiegeschichtlichen Literatur, auf der seine Darstellung des asketischen Protestantismus dem historischen Materiale nach basiert, übernimmt Troeltschs Kritik verschiedener Positionen der älteren protestantischen Dogmengeschichtsschreibung und macht sich dabei bestimmte historiographische Leitbegriffe Troeltschs, etwa den Begriff des Altprotestantismus, zu eigen. Dabei übernimmt er zugleich auch dessen kritische Sicht des Luthertums als einer kulturpraktisch impotenten, ethisch quietistischen Frömmigkeit, welche die gegebenen Obrigkeiten verklärt und einem feudal-korporativen Gemeinwohlideal verpflichtet ist. Diese Kritik der lutherischen Ethik ist auch als ein Ausdruck des aktuellen politischen Interesses zu begreifen, auf die gesellschaftspolitische Immobilität der in Deutschland dominierenden Religion hinzuweisen: Die tatsächliche gesellschaftliche Praxis und die herrschende Religion, das preußisch-deutsche Luthertum, sind nicht kompatibel. Das Luthertum ist wesentlich nur noch die Religion der traditionellen agrarischen Eliten und des Kleinbürgertums bzw. die „Religion einer

46 Ebd., S. 443–445. 47 Max Weber: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. II. (wie Anm. 43), S. 5, Anm. 4.

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Herrenschicht“ und vermag der kapitalistischen Modernisierung bzw. den damit verbundenen sozialpolitischen Transformationsprozessen nicht konstruktiv gerecht zu werden. Liest man die „Protestantische Ethik“ auf dem Hintergrund des Gesprächskontextes mit Troeltsch – und natürlich auch: mit Georg Jellinek –, erschließen sich deshalb auch kritische politische Konnotationen von Webers Text, die in der soziologischen Weber-Literatur bisher nur zum Teil wahrgenommen worden sind. Entsprechendes gilt für den 1906 publizierten Aufsatz „‚Kirchen‘ und ‚Sekten‘“. Weber hat ihn im Untertitel selbst als „Eine kirchen- und sozialpolitische Skizze“ charakterisiert und in einer Kirchenzeitschrift, nämlich in Martin 49 Rades „Christlicher Welt“ publiziert. Weber hat den Sektenaufsatz weniger als ein zeitloses Lehrstück in Sachen religionssoziologischer Kategorienbildung als vielmehr als eine auf die besonderen deutschen religionspolitischen Verhältnisse zielende Analyse konkurrierender Typen religiöser Vergemeinschaftung verstanden. „Weber soll hier wahrhaftig nicht mit dem Etikett ‚liberaler Prote50 stant‘ versehen werden.“ Es verdient jedoch Beachtung, daß er sich auch nach der Jahrhundertwende nicht – wie häufig behauptet wird – aus dem Kontext der liberalprotestantischen Kirchenpolitik einfach gelöst hat. Wie sehr Webers Religionssoziologie durch Troeltschs Arbeit beeinflußt worden ist, läßt sich werkgeschichtlich auch an den gravierenden Modifikationen von Webers ursprünglichem Arbeitsprogramm zeigen. Seit 1908 hat Weber mehrfach betont, zentrale in der „Protestantischen Ethik“ nur angeschnittene Probleme seien von Troeltsch inzwischen „in glücklicher Weise von seinem Gedankenkreis aus aufgegriffen“ und mit „weitaus größere[r] Sachkunde“ behandelt 51 worden. Sowohl die Überarbeitung der „Protestantischen Ethik“ von 1904 als auch die Ausweitung von Webers Fragestellung auf die universalgeschichtlichen Vermittlungen von Religion und Gesellschaft sind zu einem gewichtigen Teil als Reflex der Rezeption von Publikationen Troeltschs zu deuten. Besondere Bedeutung kommt hier Troeltschs „Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“ zu. Weber hat deren komplizierten und langwierigen Entstehungsprozeß mit zahlreichen Ratschlägen zu wirtschaftsgeschichtlichen Problemen, mit Hinweisen auf soziologische Literatur und mit kritischen Kommentaren intensiv 48 Ernst Troeltsch: Luther und das soziale Problem, in: März 11/4 (1917), S. 983–990, hier S. 990. 49 Max Weber: „Kirchen“ und „Sekten“ in Nordamerika. Eine kirchen- und sozialpolitische Skizze, in: Die Christliche Welt 20 (1906), Sp. 558–562 und Sp. 577–583. Eine erheblich gekürzte Fassung des Textes ist unter dem Titel „‚Kirchen‘ und ‚Sekten‘“ in der „Frankfurter Zeitung“ vom 13. und 15. April vorabgedruckt worden. 50 Paul Honigsheim: Erinnerungen an Max Weber (wie Anm. 3), S. 261. 51 Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 1. Band (wie Anm. 15), S. 17 f., Anm. 1.

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begleitet. Welches Gewicht die „Soziallehren“ für die Weiterentwicklung seiner eigenen Religionssoziologie gehabt haben, läßt sich neben weit verstreuten Hinweisen auf Troeltsch im Spätwerk Webers auch aus einem Brief an Paul Siebeck belegen. Im Dezember 1913 kündigt Weber dem gemeinsamen Verleger die Religionssoziologie von „Wirtschaft und Gesellschaft“ mit dem Hinweis an, nun für „alle großen Religionen der Erde“ eine „Soziologie der Erlösungslehren und der religiösen Ethiken“ ausgearbeitet zu haben: „was Troeltsch gemacht hat jetzt für 53 alle Religionen.“

III. Die modernen Lebensordnungen und das Schicksal der „Persönlichkeit“ Innerhalb der neueren Weber-Forschung ist bekanntlich umstritten, ob und inwieweit die Frage nach dem Schicksal der „Persönlichkeit“ im Horizont der modernen „Lebensordnungen“ als zentrales, die Einheit in der Mannigfaltigkeit seines fragmentarischen Œuvres repräsentierendes Grundthema Webers verstan54 den werden kann. In diesem Interpretationsstreit ist es hilfreich, sich den differenten Umgang Webers und Troeltschs mit dem Problem der moderngesellschaftlichen Bedrohung des Individuums zu verdeutlichen. Denn so eng Webers und Troeltschs religionssoziologische Publikationen auch werkgeschichtlich und thematisch verflochten sind – dem konstruktiven Gehalte nach stellen ihre Religionstheorien nicht nur konkurrierende, sondern ausdrücklich gegensätzliche Entwürfe dar. Diese Gegensätze finden ihren zusammenfassenden Ausdruck in alternativen Analysen der aktuellen Beziehungen zwischen okzidentaler Rationalität, Ethik und Christentum. Zwar gibt es, was die Analyse der kritischen Folgen kapitalistischer Modernisierung für die aktuellen Lebensführungschancen betrifft, zwischen Weber und Troeltsch einen bemerkenswerten Konsens. 52 Vgl. GS I, S. 9, Anm. 5, S. 20, Anm. 12, S. 79 f., Anm. 36 d, S. 251, Anm. 114 a, S. 355, Anm. 160, S. 460, Anm. 186, S. 645–647, Anm. 336, u. ö. 53 Dieser Brief Webers an Paul Siebeck ist auszugsweise durch Wolfgang Schluchter bekannt gemacht worden: Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Gesellschaftsgeschichte, Tübingen 1979, S. 123. 54 Vgl. die provokativen Diskussionsbeiträge von Wilhelm Hennis: Max Webers Fragestellung, in: Zeitschrift für Politik 29 (1982), S. 241–281; ders.: Max Webers Thema. „Die Persönlichkeit und die Lebensordnungen“, in: Zeitschrift für Politik 31 (1984), S. 11–52. Hennis’ Interpretation von Webers frühem Œuvre ist überzeugend von Martin Riesebrodt problematisiert worden: Vom Patriarchalismus zum Kapitalismus. Max Webers Analyse der Transformation der ostelbischen Agrarverhältnisse im Kontext zeitgenössischer Theorien, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 37 (1985), S. 546–567.

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Doch geht Troeltsch (wie etwa auch Otto Baumgarten) zu Weber in Hinblick auf die kulturpraktischen Konsequenzen der Einsicht in den krisenhaften Charakter moderner Rationalisierungsprozesse auf Distanz. Differenzen zwischen ihren Theorieprogrammen beziehen sich nicht auf den kritischen Gehalt der jeweiligen Zeitanalytik. Webers Diagnose der mit dem „Hochkapitalismus“ gegebenen Bedrohung individueller Freiheit ist von Troeltsch geteilt und in apokalyptischen Szenarien des „Untergangs des Individuums“ zum Teil noch radikalisiert worden. Troeltsch hat seit den späten neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts zahlreiche kulturpolitische Gegenwartsanalysen publiziert. Diese lassen erkennen, daß er keinesfalls als ein unkritischer Apologet der modernen Kultur verstanden werden darf. In seinen kulturdiagnostischen Publikationen stellt er den modernen Industriegesellschaften des frühen 20. Jahrhunderts die Diagnose einer tiefgreifenden Krise: In enger Übereinstimmung mit Weber sieht Troeltsch die vom Primat der kapitalistischen Ökonomie geprägte moderne Kultur durch vielfältige Tendenzen einer zunehmenden Entpersönlichung bzw. Depersonifikation des Subjekts geprägt. So heißt es etwa in einer im Winter 1906/07 geschriebenen Analyse des „Wesen[s] des modernen Geistes“: Der „Kapitalismus [. . .] wirkt in der Hauptsache depersonifizierend. Der politisch-rechtliche Individualismus, die Freizügigkeit, die freie Verfügung der Person über sich selbst sind seine Voraussetzungen, ohne die er nicht entstehen konnte und die er daher zu erhalten strebt, soweit sie ihm nützlich sind. Aber es ist sein Schicksal, diese seine Voraussetzungen fortwährend wieder aufzuheben. Er läßt die Individuen nur als Unternehmer und Arbeitshände über und unterwirft beide der unerbittlichen Logik des Abstraktums ‚Kapitalismus‘, das seine Unpersönlichkeit überall hin verbreitet und als Persönlichkeiten nur die wagemutigen Kondottieren des Kapitalismus übrig läßt. Er ballt um die großen Betriebe neue Abhängigkeiten zusammen und schafft ein Analogon der antiken Sklaverei und der mittelalterlichen Hörigkeit, das der persönlichen Elemente dieser älteren Formen vollends entbehrt. [. . .] Seine Hauptwirkung [. . .] ist ein 55 abstrakter, depersonifizierender Rationalismus“. Solche kritischen Analysen der moderngesellschaftlichen Bedrohung der Freiheit des Individuums orientiert Troeltsch wesentlich an der Frage, ob bzw. inwieweit es innerhalb des „stahlharten Gehäuses“ überhaupt noch Chancen zu neuer individueller Handlungsfreiheit geben könne. Dabei konzentriert sich sein Interesse vor allem auf die Religion als eine Kulturpotenz, von der her die praktische Freiheit des einzelnen sich möglicherweise stärken läßt.

55 Ernst Troeltsch: Das Wesen des modernen Geistes, in: Preußische Jahrbücher 128 (1907), S. 21–40, jetzt in: KGA 6, S. 434–473.

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Webers Entzauberungskonzept dürfte zwar nicht im Sinne einer globalen evolutionstheoretisch fundierten Säkularisierungsthese zu verstehen sein. Doch impliziert es die Annahme, daß religiösen Traditionen im Horizont der modernen, vom okzidentalen Rationalismus geprägten Welt nur noch individuelle Plausibilität und Verbindlichkeit zukommen kann. Die Kraft ethischer Orientierung, wie sie insbesondere dem asketischen Protestantismus zu eigen ist, läßt sich bestenfalls in Hinblick auf die Lebensführung des einzelnen geltend machen. Demgegenüber hat Troeltsch in seinen Analysen kapitalistischer Rationalisierung Religion als einen auch unter moderngesellschaftlichen Bedingungen überindividuell relevanten Faktor der Sozialgestaltung thematisiert. Seine theoretische Aufmerksamkeit gilt vor allem der Frage, inwieweit auch unter den Bedingungen des entwickelten Kapitalismus Religion als eine gesellschaftliche Potenz zur kontrafaktischen Stärkung individueller Freiheit gestaltet werden könne. Insbesondere in Troeltschs zahlreichen Veröffentlichungen zu einer systematischen Philosophie der Religion ist „Persönlichkeit“ ein zentraler Grundbegriff. Troeltschs Theorie des religiösen Bewußtseins läßt sich insgesamt zwar nicht als eine funktionale Religionstheorie begreifen. Aber zumindest in einer bestimmten Hinsicht ist es gerade die Funktion der Religion, die ihn interessiert: Weil Religion einerseits ein Faktor innerhalb der Kultur ist und sie die Immanenz der Kultur andererseits immer auch transzendiert, thematisiert Troeltsch Religion primär in einer an der praktischen Stärkung der „Persönlichkeit“ orientierten Perspektive: Religion gilt als wichtigste kulturelle Macht zur Erweiterung des Bewegungsbzw. Handlungsspielraums des Individuums innerhalb der modernen Lebensordnungen. Nicht nur in diversen Programmskizzen zur systematischen Religionsphilosophie, sondern auch in ausführlichen religionssoziologischen und religionspolitischen Analysen der „religiösen Lage“ seiner Zeit hat Troeltsch zu zeigen versucht, daß sich Religion unter den besonderen Bedingungen der „Gegenwart“ vor allem im „Gegensatz gegen die naturalistische Entseelung und 56 gegen die kapitalistisch-technische Veräußerlichung“ formiert. Dennoch ist Troeltschs Antwort auf Webers Frage, wie es „angesichts der Übermacht der Tendenz zur Bürokratisierung überhaupt noch möglich“ sein solle, „irgendwelche Reste einer in irgendeinem Sinne ‚individualistischen‘ Bewe57 gungsfreiheit zu retten“, nicht von vornherein eindeutiger oder optimistischer als die Webers ausgefallen. Keineswegs hat Troeltsch Webers kritischem Skeptizismus einfach fromme Gutgläubigkeit entgegengestellt. Von Weber unterscheidet er sich primär in Hinblick auf die konstruktive Bestimmung des gesamtgesellschaft56 Ernst Troeltsch: Wesen der Religion und der Religionswissenschaft, in: GS II, S. 452–499, hier S. 499. 57 Max Weber: Gesammelte Politische Schriften, 3. Aufl., Tübingen 1971, S. 333.

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lichen Stellenwertes der Religion. Troeltsch begreift Säkularisierung weniger als einen fortschreitenden, in seinem Richtungssinn eindeutigen Verlust an Religion als vielmehr als einen tiefgreifenden Wandel der kulturellen Gestalt und der sozialen Funktion von Religion. In traditionalen Gesellschaften ist Religion primär nur ein Medium der Vergemeinschaftung und darin dann zugleich das wichtigste Instrument der Begründung bzw. Verstärkung politischer Herrschaft gewesen. Unter den Bedingungen der spezifisch okzidental modernen, rein rationalen Begründung politischer Verbindlichkeit und der Auflösung geschlossener sozialer Kosmoi in den gesellschaftlichen Pluralismus der vielen Partikularsubjekte hat Religion die tradionelle herrschaftsbegründende Funktion weitgehend verloren. Dadurch ist Religion aber keineswegs überhaupt funktionslos geworden. Troeltschs Religionstheorie zielt auf eine der moderngesellschaftlichen Differenzierung komplementäre Umbestimmung des gesamtgesellschaftlichen Ortes und der Leistungskraft der Religion für den einzelnen. Bezüglich der Frage, inwieweit sich Religion als ein mögliches Gegengewicht gegen gesellschaftliche Tendenzen einer bürokratischen Gleichschaltung der „Seele“ in Anspruch nehmen läßt, müssen in erster Linie die Potentiale an Transzendenz des Gegebenen thematisiert werden, wie sie dem religiösen Bewußtsein spezifisch eigen sind. Denn wenn es – um Troeltschs religionstheoretisches Ziel in der Metaphorik Webers zu beschreiben – einen „Rest des Menschentums“ von 58 der „Parzellierung der Seele“ freizuhalten gilt, dann muß in irgendeiner Weise jene transempirische ‚Ganzheit der Seele‘ dargestellt werden können, auf die hin sich von Entzweiung und Parzellierung allein sinnvoll reden läßt. Solcher Überschuß über die Empirie wird vor allem durch religiöses Bewußtsein und hier insbesondere dessen eschatologische Gehalte repräsentiert. Denn religöses Bewußtsein ist seiner besonderen Verfassung nach wesentlich durch einen Bezug auf Transzendenz konstituiert. Insofern stellt es für Troeltsch einen Ort der symbolischen Repräsentanz von Individualität einerseits und offener Sozialität andererseits dar. Angesichts der nicht zu bestreitenden Eigengesetzlichkeiten der einzelnen Kultursphären thematisiert Troeltsch – im Unterschied zur älteren „liberalen Theologie“ – die Leistungskraft der Religion also nicht mehr nur im Modell einer gesinnungsethischen Prägung der individuellen Lebensführung. Troeltsch insistiert darauf, daß Religion gleichsam schon vor ihrer gesinnungsethischen Konkretion eine zentrale Leistung für das Individuum erbringt. Als ein möglicher Evolutionsfaktor auch moderner okzidentaler Gesellschaften kann die diesen historisch zugehörige Religion, das Christentum bzw. ein

58 Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, hrsg. von Marianne Weber, Tübingen 1924, S. 413.

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modernisierter Protestantismus, zunächst wegen einer spezifischen Individualitätsfunktion gelten. Denn Religion ist für Troeltsch Verkehr der Seele mit Gott, Beziehung des endlichen Bewußtseins auf eine letzte nichtempirische Allgemeinheit, welche alle innerweltlichen überindividuellen Realitäten wie etwa den Staat transzendiert und darin auch relativiert, oder eine Selbstbegründung der individuellen Subjektivität in einem transzendenten Grund der Freiheit. Die Vorstellungsgehalte der christlichen Religion stellen für den einzelnen also ein Potential zur Unterscheidung von der Allgemeinheit der gegebenen Welt dar. So dient Religion in exemplarischer Weise der Konstitution der Identität der „Persönlichkeit“ – modern formuliert: Sie stabilisiert personale Identität gerade im Gegenüber zur Gesellschaft und stärkt das individuelle Autonomiebewußtsein. Denn Religion vermittelt eine Sicht des Menschen, welche zu den gesellschaftlich produzierten Erfahrungen der Nichtigkeit des Individuums in einer unaufhebbaren Spannung steht: Werden hier instrumentelle Verfügung des Allgemeinen über das Besondere und funktionalistische Reduktion des einzelnen exekutiert, so wird dort ein ‚unendlicher Wert der Menschenseele‘ symbolisiert. Troeltsch hat nicht bestritten, daß alle Sozialverhältnisse als solche immer auch Herrschaftsverhältnisse sind. Doch die religiöse Symbolisierung einer letzten, prinzipiellen Unverfügbarkeit des Individuums durch die Gesellschaft ist als solche selbst sozial relevant. Denn wo eine Transzendenz des einzelnen über alle nur sozialen Definitionen des Menschen exemplarisch dargestellt bzw. geltend gemacht wird, wird zugleich das Wissen um die reale Konfliktträchtigkeit der Gesellschaft präsent gehalten, die Fähigkeit des Individuums zur Selbständigkeit gestärkt und seine Bereitschaft zum Austragen von Konflikten gefördert. In diesem Sinne stellt Religion für Troeltsch nicht nur den bedeutendsten Träger von Neuheit, Offenheit und Unabgeschlossenheit in der Geschichte dar. Sie bezeichnet vielmehr auch eine konstitutive Grenze der politischen Verfügbarkeit des Individuums und repräsentiert darin einen Ort der Relativierung politischer Herrschaft. Zum anderen hat Troeltsch aller Religion jedoch auch eine Sozialitätsfunktion zuerkannt. Die kulturellen Institutionen des Religiösen sollen auch unter den modernen Bedingungen von Kampf und Widerstreit der gesellschaftlichen Partikularsubjekte ein Potential sozialer Integration bereitstellen. Die inhaltliche Konkretion dieser Integrationsleistung hat Troeltsch allerdings sehr viel größere Schwierigkeiten bereitet als die Darstellung der Individualitätsfunktion der Religion. Dies ist nicht nur ein Ausdruck des spezifischen politischen Gehalts seiner Theorie einer moderngesellschaftlichen Bedingungen kompatiblen Religion. Troeltsch hat seine Religionstheorie ausdrücklich auf die besonderen politisch-sozialen Bedingungen der deutschen Gesellschaft des Kaiserreiches und der frühen Weimarer Republik hin formuliert: einer Gesellschaft also, wel-

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che nicht nur durch Klassenantagonismen, sondern auch durch tiefgreifende religionspolitische Gegensätze geprägt worden ist. Mögliche integrative Wirkungen der Religion sind hier vor allem durch die konfessionelle Zersplitterung und durch die Konkurrenz diverser, zumeist dezidiert christentumskritischer bzw. postchristlicher neuer Bildungsreligionen mit den Großkirchen stark behindert worden. Insofern hat Troeltschs Integrationsprogramm der tatsächlichen religiösen Situation sowohl im wilhelminischen Deutschland als auch in der Weimarer Republik nur begrenzt entsprochen. Eine Integrationsfunktion der Religion auszuweisen, hat Troeltsch darüberhinaus auch prinzipielle Schwierigkeiten bereitet. In einem Nachruf auf Weber hat Troeltsch darauf hingewiesen, ihm seien „alle seine [sc. Webers] Arbeiten 59 bekannt und gegenwärtig“. Daß er sich des grundlegenden Dilemmas, vor das alle Integrationstheorien gestellt sind, präzise bewußt gewesen ist, dürfte als eine Folge seiner intimen Kenntnis von Webers Œuvre zu verstehen sein. Im Interesse von gesellschaftlicher Integration müssen Bestände materialer Rationalität als überindividuell verbindlich bzw. als gesamtgesellschaftlich konsensfähig ausgewiesen werden. Die Formulierung inhaltlicher Rationalitätsprinzipien, etwa von „Werten“, für welche man Allgemeingültigkeit reklamiert, stellt jedoch, wie Weber vor allem in der kritischen Auseinandersetzung mit Heinrich Rickert betont hat, selbst eine potentielle Bedrohung der Freiheit des einzelnen dar. Aufgrund der kritizistischen, kantischen Elemente seines Denkens hat Troeltsch Webers hohe Sensibilität für jene Gefahren geteilt, die durch die Hypostasierung von faktisch nur subjektiven Wertorientierungen zu einem (vermeintlich) objektiven Wertekosmos entstehen. Webers Lösung des „Werteproblems“ aber – die metaphysikkritische, neokantianisch inspirierte Restriktion von Rationalität auf strikt und ausschließlich formale Prinzipien, die Bestreitung der Universalisierungsfähigkeit irgendwelcher materialer Prinzipien, die damit verbundene Radikalisierung der Gegensätze zwischen den vielen subjektiven Wertsetzungen und das Plädoyer für den permanenten politischen Kampf – hat Troeltsch nachdrücklich abgelehnt. Denn auch Weber könne – so Troeltsch – durch das „Polytheismus“-Konzept den freiheitsbedrohenden Gefahren einer Verabsolutierung des nur Partikularen nicht entgehen. Der Theologe hat deshalb den gegenüber Weber genau umgekehrten Weg beschritten. Aufgrund der je spezifischen Eigengesetzlichkeiten der verschiedenen Wertsphären läßt sich der antagonistische Charakter der modernen Gesellschaft zwar nicht zum Verschwinden bringen. Aber Politik ist auch unter den Bedingungen des moderngesellschaftlichen Pluralismus nicht nur Kampf. In genau dem Maße, in dem moderne,

59 Ernst Troeltsch: Max Weber, in: ders.: Deutscher Geist und Westeuropa (wie Anm. 40), S. 247.

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entscheidend von der Eigendynamik der kapitalistischen Ökonomie bestimmte Gesellschaften durch den permanenten Konkurrenzkampf der unendlich vielen Partikularinteressen geprägt sind, bedarf es vielmehr auch politischer Vermittlung der Gegensätze. Politik muß immer auch als Anstrengung zu gemeinsamer Willensbildung und als Institutionalisierung von Konsens begriffen und gestaltet werden. So plädiert Troeltsch, in ausdrücklicher Kritik an Webers Programm einer gezielten Radikalisierung politischer Antagonismen, für die Mediatisierung gesellschaftlicher Gegensätze. Mit diesem integrationalistischen Politikverständnis ist er den besonderen Erfordernissen der frühen Weimarer Republik sehr viel besser als Weber gerecht 60 geworden. Schon in seinen kurz nach der Jahrhundertwende veröffentlichten Studien zu „Grundproblemen der Ethik“ hat Troeltsch eine konstruktive Qualifikation des Kompromisses zur wichtigsten Aufgabe ethischer Theoriebil61 dung erklärt. Troeltschs geschichtsphilosophisches Spätwerk läßt sich dann insgesamt als der Versuch verstehen, die politisch-praktische Notwendigkeit von Kompromiß und Interessenausgleich theoretisch zu rechtfertigen. Demgegenüber beinhaltet Webers Verständnis ethischer Theorie eine Tendenz zur gesinnungsethischen Denunziation des politischen Kompromißbedarfes. „Der Politiker muß 62 Kompromisse machen – der Gelehrte darf sie nicht decken.“ Wie gegensätzlich Troeltschs und Webers Theorieprogramme ihrem ethischen Fundamente nach sind, läßt sich bezüglich des jeweiligen Umgangs mit der Notwendigkeit von Kompromissen besonders prägnant erkennen. Wo Weber als ein „ethischer 63 Absolutist“ argumentiert und um des Gewinns normativer Eindeutigkeit willen die Differenz von Sein und Sollen, Faktizität und Normativität zu einem immer nur individuell vermittelbaren Hiatus radikalisiert (bzw. dichotomisiert), erkennt Troeltsch dem Kompromiß bzw. auch den praktischen Anstrengungen zur Herstellung von Kompromissen selbst eine ethische Qualität zu, und seine theoretische Anstrengung richtet sich gerade darauf, ethische Kriterien für die Institutionalisierung von Kompromißbildung zu gewinnen. So entgeht er der Gefahr, die Eindeutigkeit des Normativen unmittelbar bzw. abstrakt negativ

60 Auf die Grenzen der praktischen Politikfähigkeit Max Webers hat Gangolf Hübinger überzeugend hingewiesen: Gustav Stresemann und Max Weber. Interessentenpolitik und Gelehrtenpolitik, in: Wolfgang J. Mommsen, Wolfgang Schwentker (Hrsg.): Max Weber und seine Zeitgenossen (wie Anm. 16), S. 448–461. 61 Vgl. Ernst Troeltsch: Grundprobleme der Ethik, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 12 (1902), S. 44–94 und S. 125–178. 62 Brief Max Webers an Clara Mommsen, Mitte April 1920, über seinen geplanten Austritt aus der Deutschen Demokratischen Partei; vgl. Marianne Weber: Lebensbild (wie Anm. 38), S. 702. 63 Die Bezeichnung Webers als eines „ethischen Absolutisten“ geht auf Gustav Radbruch zurück: Der innere Weg. Aufriß meines Lebens, Stuttgart 1951, S. 88.

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gegen die Mehrdeutigkeit des Faktischen auszuspielen. Der damit verbundene Gewinn an politisch-praktischer Kompetenz beinhaltet umgekehrt freilich die Gefahr einer ideologischen Indifferenzierung von Normativität und Faktizität. Das Troeltsch vorschwebende Programm von Interessenausgleich, Kompromiß und sozialer Integration soll jedoch nicht im Sinne der Aufhebung des gesellschaftlichen Pluralismus in einer „Einheitskultur“ gestaltet werden. Troeltsch hat durch seine historischen Untersuchungen über die Auflösung der mittelalter64 lichen „Einheitskultur“ in der Aufklärung des späten 17. und 18. Jahrhunderts selbst gerade zu zeigen versucht, daß der Prozeß der Dekomposition solcher substantieller Verbindlichkeiten, die die Einheit der alteuropäischen Welt sicherstellten (oder sicherstellen sollten), irreversibel ist. Kulturpolitische Bewegungen, welche die Krisen der modernen Individualitätskultur durch die Abschaffung des lebensweltlichen Pluralismus zu bewältigen postulieren, unterliegen seiner nachdrücklichen politischen Kritik. So hat Troeltsch etwa schon im Juli 1922 vor 65 den faschistischen Bewegungen in Italien und in Deutschland gewarnt, die die Folgeprobleme des moderngesellschaftlichen Pluralismus durch die unbedingte Durchsetzung einer neuen Einheitskultur auf nachchristlicher Weltanschauungsbasis zu lösen versucht haben. Entsprechend distanziert ist er auch gegenüber allen kulturpolitischen Programmen einer primär religiös fundierten bzw. bildungsreligiösen Transformation von Gesellschaft in eine Gemeinschaft eingestellt gewesen, in der eine antipluralistisch bestimmte Allgemeinheit der Besonderheit der einzelnen, etwa ihren politischen oder ökomischen Partikularinteressen, abstrakt vorgeordnet wird, also etwa der im deutschen Bildungsbürgertum des frühen 20. Jahrhunderts einflußreichen Kulturpolitik des Eugen-Diederichs66 Verlags. Gerade auf der Folie dieser Kritik wird deutlich, daß Troeltsch das Interesse an Integration mit einer ausdrücklichen Akzeptanz des moderngesellschaftlichen Pluralismus zu verbinden intendiert hat. Die Kommunikationspotentiale der Religion sollen für offene Integration aktiviert werden. 64 Vgl. neben der in Anm. 43 genannten Gesamtdarstellung der Geschichte des neueren Protestantismus vor allem den berühmten Vortrag von Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt. Vortrag, gehalten auf der IX. Versammlung deutscher Historiker zu Stuttgart am 21. April 1906, Sonderabdruck aus der Historischen Zeitschrift, München, Berlin 1906; eine zweite (stark veränderte und erweiterte) Auflage erschien München, Berlin 1911, jetzt in: KGA 8, S. 199–316. 65 Ernst Troeltsch: Gefährlichste Zeiten. Berliner Brief, in: Kunstwart und Kulturwart 35/2 (1921/22), S. 291–296, sehr stark gekürzt auch in: ders.: Spektator-Briefe, hrsg. von Hans Baron, Tübingen 1924, S. 281–288. 66 Zu Troeltschs kritischer Distanz gegenüber dem von Eugen Diederichs vertretenen religiösweltanschaulichen Kulturreformprogramm vgl. Gangolf Hübinger: Kulturkritik und Kulturpolitik des Eugen-Diederichs-Verlags im Wilhelminismus. Auswege aus der Krise der Moderne?, in: TS 4, S. 92–114.

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Das Programm offener Integration bildet insbesondere das sachliche Zentrum von Troeltschs Berliner geschichtsphilosophischem Spätwerk. In „Der Historismus und seine Probleme“ und verschiedenen anderen theoriegeschichtlichen Untersuchungen zu Grundproblemen der Geschichtsphilosophie hat Troeltsch sich darum bemüht, durch eine religiös inspirierte Rekonstruktion der okzidentalen Geschichte materiale, politisch-praktisch relevante Konsensprinzipien mit Geltung für den europäisch-amerikanischen Kulturkreis zu formulieren und als unverzichtbare Bedingung einer humanitären Politik auszuweisen. Dieses Konzept einer „europäischen Kultursynthese“, mit dem Troeltsch ausdrücklich der nach dem Ende des Ersten Weltkrieges gegebenen politischen Lage und hier insbesondere den Erfordernissen der neuen deutschen Demokratie gerecht zu werden versucht hat, hat er auch in Gestalt einer intensiven kritischen Auseinandersetzung mit Webers politischer Soziologie entwickelt. Dabei hat er freilich an einem sehr wichtigen Punkt an einer Übereinstimmung mit Weber festgehalten: Die Kultursynthese darf nicht zu einem ein für allemal fixierten Wertekosmos positiviert werden. Im Interesse individueller Freiheit ist vielmehr auf einer Relativität, Überbietbarkeit und Unabgeschlossenheit jedes inhaltlichen Konsenses zu insistieren: Unter modernen Bedingungen muß aller kulturelle Konsens offen gestaltet sein, sodaß er neue individuelle Wertsetzungen nicht ausschließt. In dem bereits erwähnten Beileidsbrief an Marianne Weber hat Troeltsch darüber berichtet, Weber und er hätten trotz der Intensität ihres langjährigen Austausches „über die letzten Unterschiedspunkte so gut wie nie gesprochen, vermutlich beide in dem Gefühl der unaufheblichen inneren Verschiedenheit“: „Ich habe in den letzten Jahren viel, fast täglich über ihn nachgedacht. Ich glaubte zu empfinden, daß auch er in dem letzten Jahrzehnt Entwicklungen noch 67 erlebte, die gerade die uns gemeinsame Basis schmäler machten.“ Entsprechendes gilt umgekehrt auch für Weber. So wie Troeltsch sein Konzept einer europäischen Kultursynthese in einem sehr intensiven literarischen Gespräch mit Webers politischer Soziologie entfaltet hat, so hat auch Weber zentrale Teile seiner späten Soziologie in der kritischen Auseinandersetzung mit Troeltsch entwickelt. Insbesondere die „Zwischenbetrachtung“ ist da, wo Weber die Antagonismen zwischen der religiösen Wertsphäre und den autonomen Wertsphären Politik, Kunst und Erotik thematisiert, weithin als eine indirekte Auseinandersetzung mit theologischen Gesprächspartnern wie Troeltsch und Baumgarten zu lesen. Troeltschs Programm, dem „harten Felsen“ der modernen Sozialverhältnisse mittels der weichen Wasser der Religion etwas von seiner Härte zu nehmen, hat Weber hier als illusorisch verworfen. So wenig es durch Erotik und Ästhetik

67 Vgl. oben, S. 96, Anm. 41.

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einen allgemein zugänglichen Ausweg aus den sozialen Gehäusen des modernen okzidentalen Rationalismus gibt, so wenig auch durch die „Lebensmacht“ Religion. Wo Troeltsch – und in anderer Weise auch Baumgarten – um eine religiös wertethische Abschwächung und Milderung der Antagonismen zwischen den einzelnen Kultursphären bemüht gewesen sind, hat Weber gerade umgekehrt die Spannungen zwischen den vielfältigen Eigengesetzlichkeiten der Kultur dramatisiert. Denn Weber hat sehr präzise die fundamentale Schwäche von Troeltschs Versuch erkannt, der „Persönlichkeit“ durch eine religiös inspirierte materiale Wertethik zu größerer Autonomie zu verhelfen: Die Individualitätsfunktion und Sozialitätsfunktion der Religion lassen sich nicht konsistent miteinander vermitteln, und Religion kann nicht sowohl Ort des Aufbaus personaler Identität gegenüber der Gesellschaft als auch zugleich Medium gesellschaftlicher Integration, d. h. der Einbindung der vielen einzelnen in die Gesellschaft sein. Jeder Versuch einer gesamtgesellschaftlichen Institutionalisierung religiöser „Werte“ droht nach Weber jene individuelle Autonomie aufzuheben, in deren Interesse sie betrieben wird. Wo Troeltsch für eine religiös fundierte „Kultursynthese“ plädiert hat, ist Weber deshalb für einen ethischen „Polytheismus“ eingetreten: Im Interesse seiner Freiheit darf dem einzelnen die Entscheidung zwischen den konkurrierenden Normen der verschiedenen, antagonistischen Wertsphären nicht abzunehmen versucht werden, und der daraus resultierende radikale Kampf der subjektiven bzw. individuellen Wertorientierungen läßt sich nicht von irgendeinem gleichsam objektiven Orte aus schlichten oder auch nur mildern. Schon in „Zwischen zwei Gesetzen“, einem im Februar 1916 publizierten Beitrag zu einer Debatte über die Konflikte zwischen der Liebesethik der Bergpredigt und den faktischen Imperativen des modernen Machtstaates, hat Weber die Spannungen zwischen religiösen Normen und den Gesetzlichkeiten der Welt als einen Kampf der Götter geschil68 dert. Daß Weber – dem für ihn signifikanten Pathos radikaler Aufklärung zum Trotz – „bei der Erörterung des ewigen Konflikts alternativer Werte bzw. konkurrierender Weltbilder immer wieder Formulierungen in die Feder fliessen, die der 69 antiken Mythologie verpflichtet sind“, hat vielen Interpreten keine geringen Schwierigkeiten bereitet. Auf dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit

68 Max Weber: Zwischen zwei Gesetzen (1916), in: MWG I/15, S. 95–98, hier S. 98. 69 Wolfgang J. Mommsen: Rationalisierung und Mythos bei Max Weber, in: Karl Heinz Bohrer (Hrsg.): Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion, Frankfurt a. M. 1985, S. 382– 402, hier S. 385. Mommsen hat in diesem Zusammenhang deshalb die Frage gestellt, „ob sich Max Weber nicht mit einer [. . .] radikalen Konzeption von der Rolle des einzelnen als des gänzlich auf sich gestellten Mittlers zwischen im Prinzip völlig heterogenen Sphären der Wirklichkeit selbst an der Grenze mythologischer Denkweise bewegte“.

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theologischen Gesprächspartnern wie Troeltsch gewinnt diese mythologische Redeweise jedoch insoweit Sinn, als sie äußerst prägnant den Versuch der Liquidation aller jenseits der Individuen substantialisierten Einheitsbegriffe oder -vorstellungen bezeichnet: Selbst der Auslegungsort überindividueller Einheit par excellence, der Gottesbegriff, wird so dem Interesse der Dramatisierung von individuellen Wertkonflikten gemäß neu bestimmt. Folglich scheidet Religion als ein potentielles gesellschaftliches Integrationsmedium aus. Blickt man aus einer an Troeltschs Religionstheorie orientierten Perspektive auf Webers PluralismusKonzept, drängt dann aber die Frage sich auf, wie jene Einheit der Gesellschaft sich bestimmen läßt, die selbst für die Radikalisierung gesellschaftlicher Antagonismen noch in Anspruch genommen werden muß. Man kann diese Frage auch in Webers eigenen mythotheologischen Begriffen formulieren: Funktioniert der moderngesellschaftliche Polytheismus nicht nur da, wo dem Streit der Götter ein Rest von Monotheismus vorausliegt?

Die „kompetentesten“ Gesprächspartner? Implizite theologische Werturteile in Max Webers „Protestantischer Ethik“ 1

1. In den Auseinandersetzungen um die „Protestantische Ethik“ hat Max Weber 1907 erklärt: Eine „sachlich fruchtbare Kritik“ seiner Untersuchungen über den genetischen Zusammenhang zwischen der protestantischen „innerweltlichen Askese“ und dem „Geist“ des Kapitalismus sei „auf diesem Gebiete unendlich verschlungener Kausalzusammenhänge nur bei Beherrschung des Quellenstoffes 2 möglich“. „Eine solche Kritik erwarte ich, – was manchen vielleicht höchst 3 ‚rückständig‘ erscheint, – von theologischer Seite als der kompetentesten“. Auch später hat Weber mehrfach betont: Die für ihn wichtigsten Gesprächspartner im Streit um die „Protestantische Ethik“ seien keineswegs die Historiker und Nationalökonomen, sondern „die Fachleute“ in Sachen Religion, die „Fachtheo4 5 logen“. Allein von ihnen erwarte er „fruchtbare und belehrende Kritik“. Wie ist diese eigentümliche Hochschätzung der akademischen Theologie zu erklären? Zu verweisen ist zunächst auf biographische Prägungen: Max Weber ist schon im Elternhaus und in der weiteren Familie zahlreichen protestantischen Theologen begegnet. Durch Vermittlung seiner Mutter Helene Weber, geb. Fal6 lenstein, die „tiefe Religiosität“ mit einem intensiven karitativen Engagement in zahlreichen sozialprotestantischen Vereinen und Hilfswerken verbunden hat, lernt der junge Weber früh schon theologische Literatur, insbesondere Schriften 1 Der folgende Text stellt eine überarbeitete Fassung eines Vortrages dar, den ich am 3. Mai 1990 bei der von Hartmut Lehmann und Guenther Roth organisierten Konferenz „Weber’s Protestant Ethic“ im Deutschen Historischen Institut in Washington, D. C., gehalten habe. Dieser Vortrag ist gedruckt als: The German Theological Sources and Protestant Church Politics, in: Hartmut Lehmann, Guenther Roth (Hrsg.): Weber’s Protestant Ethic. Origins, Evidence, Contexts (Publications of the German Historical Institute, Washington, D. C.), Cambridge, New York, Melbourne 1993, S. 27–51. 2 Max Weber: Kritische Bemerkungen zu den vorstehenden „Kritischen Beiträgen“, in: ders.: Die protestantische Ethik II. Kritiken und Antikritiken, hrsg. von Johannes Winckelmann, 5. Aufl., Gütersloh 1987, S. 27–37, hier S. 31. 3 Ebd., S. 31. 4 Max Weber: Antikritisches Schlußwort zum „Geist des Kapitalismus“, in: ders.: Die protestantische Ethik II (wie Anm. 2), S. 283–345, hier S. 322. 5 Ebd., S. 345. 6 Marianne Weber: Max Weber. Ein Lebensbild, Tübingen 1926, S. 19.

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der beiden amerikanischen unitarischen Sozialreformer William Ellery Channing (1780–1842) und Theodore Parker (1810–1860), kennen. Zur „enormen prägenden Kraft William Ellery Channings [. . .] auf Weber“ hat Wilhelm Hennis festgestellt: „Soweit sich das aus den ‚Jugendbriefen‘ ohne Konsultation des Nachlasses erschließen läßt, hat kein anderer Autor den jungen Mann so leidenschaftlich beschäftigt wie dieser neuenglische Unitarier. Nach Ausweis der publizierten Briefe geben Channings Predigten und Traktate, die durchweg in deutscher Übersetzung vorlagen, über zwei Jahre hinweg immer wieder Stoff zur Auseinandersetzung mit der Mutter und der Channing verehrenden Straßburger 7 Tante Ida Baumgarten“. Seit seinem Studium pflegt Max Weber intensive Kontakte mit protestantischen Theologen. Seine ersten Semester stehen im Zeichen intensiven intellektuellen Austausches mit seinem Vetter Otto Baumgarten, einem sechs Jahre älteren protestantischen Theologen. Zusammen lesen die beiden theologische Werke des deutschen liberalen Kulturprotestantismus. So berichtet der Heidelberger Student seiner Mutter beispielsweise am 16. Mai 1882: „Im übrigen bin ich ziemlich tief in die Theologie geraten; meine Lektüre besteht aus Strauß, 8 Schleiermacher und Pfleiderer (‚Paulinismus‘) und außerdem nur Platon“. Seit 1894 lehrt Otto Baumgarten als Professor für Praktische Theologie in Kiel; er unterhält sehr enge Beziehungen zu seinem Heidelberger Vetter und vor allem 9 auch zu Marianne Weber. Durch Baumgartens Vermittlung lernt der junge Weber zahlreiche andere religiös liberale, kirchenkritisch eingestellte protestantische Theologen kennen, und zusammen mit seinem „Lieblingsvetter“ beteiligt er sich seit 1890 am Evangelisch-sozialen Kongreß. Durch diese Mitarbeit werden seine Kontakte zur 10 kulturprotestantischen Theologenszene noch einmal intensiviert. Als Weber 1897 von Freiburg nach Heidelberg wechselt, wird im Kreis der jüngeren Heidelberger Professoren ein Theologe sein engster Freund: der damals

7 Wilhelm Hennis: Freiheit durch Assoziation. Zwischen Tocqueville und Weber: William Ellery Channing, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 3, 4. Januar 1995, S. N5. 8 Max Weber: Jugendbriefe, Tübingen 1936, S. 48; weitere Belege: Friedrich Wilhelm Graf: Friendship between Experts: Notes on Weber and Troeltsch, in: Wolfgang J. Mommsen, Jürgen Osterhammel (Hrsg.): Max Weber and his Contemporaries, London, Boston, Sydney 1987, S. 215–233; ders.: Max Weber e la teologia protestante del suo tempo, in: Marta Losito, Pierangelo Schiera (Hrsg.): Max Weber e le scienze sociali del suo tempo, Bologna 1988, S. 279–320. 9 Zu Otto Baumgarten siehe: Hasko von Bassi: Otto Baumgarten. Ein „moderner Theologe“ im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Frankfurt a. M., Bern 1988; Wolfgang Steck (Hrsg.): Otto Baumgarten. Studien zu Leben und Werk, Neumünster 1986; Günter Brakelmann: Krieg und Gewissen. Otto Baumgarten als Politiker und Theologe im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1991. 10 Dazu finden sich zahlreiche Belege in: MWG I/4.

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zweiunddreißigjährige Ernst Troeltsch. Darüber hinaus knüpft Weber Kontakte zu anderen Professoren der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Heidelberger Universität, insbesondere zu dem Alttestamentler Adalbert Merx sowie später auch zu dem Neutestamentler Adolf Deißmann. Weber hat einerseits christlichen Wertvorstellungen eine sehr hohe kulturelle Relevanz zuerkannt und die christliche Brüderlichkeitsethik zu den „letzten und 11 höchsten Wertideen“ gezählt. Die sehr intensive Beschäftigung mit religiöser Literatur, wie sie durch die Mutter und durch die Straßburger Tante Ida Baumgarten (die Ehefrau des liberalprotestantischen Historikers Hermann Baumgarten) angeregt war, führt dazu, daß Weber von der reinen „Gesinnungsethik“ der wahren, universalistischen christlichen Bruderliebe extrem hoch denkt. Andererseits hat Max Weber sich mit einem impliziten kulturprotestantischen Bildungszitat als ‚religiös unmusikalisch‘ charakterisiert. Im Kontext einer Kritik am „‚metaphysischen‘ Naturalismus“ von Propheten des „Anti-Pfaffentums“ wie Ernst Haeckel schreibt er Ferdinand Tönnies am 19. Februar 1909 (1908?): „Und ich könnte ein solches [sc. Anti-Pfaffentum] auch gar nicht mit subjektiver Ehrlichkeit mitmachen. Denn ich bin zwar religiös absolut unmusikalisch und habe weder das Bedürfnis noch Fähigkeit, irgendwelche seelischen ‚Bauwerke‘ religiösen Charakters in mir zu errichten; – das geht einfach nicht, resp. ich lehne es ab. Aber ich bin nach genauer Prüfung weder antireligiös noch irreligiös. Ich empfinde mich auch in dieser Richtung als einen Krüppel, als einen verstümmelten Menschen, dessen inneres Schicksal es ist, sich dies ehrlich eingestehen zu müssen, sich damit (um nicht in romantischen Schwindel zu verfallen) abzufinden, aber auch nicht – als ein Baumstumpf, der hin und wieder noch auszuschlagen vermag, – 12 mich als einen vollen Baum aufzuspielen“. Zu Recht hat Otto Baumgarten in einem – in der Weber-Forschung bisher unbeachtet gebliebenen – kurzen Por11 Siehe neben der noch immer wichtigen Studie von Paul Honigsheim (Max Weber. His Religious and Ethical Background and Development, in: Church History 19 [1950], S. 219–239) auch die Analysen von Hartmann Tyrell: Max Weber. Wertkollision und christliche Werte, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 37 (1993), S. 121–138. 12 Eduard Baumgarten (Hrsg.): Max Weber. Werk und Person, Tübingen 1964, S. 670; auch bei Wolfgang Schluchter: Wertfreiheit und Verantwortungsethik. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik bei Max Weber, in: ders.: Rationalismus der Weltbeherrschung. Studien zu Max Weber, Frankfurt a. M. 1980, S. 41–74 und S. 236–256, hier S. 245 f. – Der Brief an Tönnies wird von Baumgarten auf den Februar 1908 datiert. In der Max Weber Gesamtausgabe wird das Datum 19. Februar 1909 genannt (MWG I/17, S. 196). – Die Formel ‚religiös unmusikalisch‘ ist Bildungszitat (vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Die Spaltung des Protestantismus. Zum Verhältnis von evangelischer Kirche, Staat und „Gesellschaft“ im frühen 19. Jahrhundert, in: Wolfgang Schieder [Hrsg.]: Religion und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1993, S. 157–180). Sie findet sich schon in der Originalfassung des Sektenaufsatzes, aber signifikant verallgemeinert: „Wir modernen, religiös ‚unmusikalischen‘ Menschen sind schwer imstande, uns vorzustellen oder

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trait 1926 darauf hingewiesen, wie komplex das Verhältnis seines Cousins zur überlieferten christlichen Religion gewesen sei: Auch wenn Max Weber nicht zu „jener religiösen Gewißheit“ habe gelangen können, „die das entscheidende Merkmal eines religiösen Charakters ist“, sei er doch „ein Mann von stärkster Reaktion gegenüber allen Erfahrungen einer irrationalen, geheimnisvollen Ueberwelt“ gewesen. „Gewiß ist Weber weder irreligiös zu nennen noch auch nicht christlich, vielmehr bildete Reizbarkeit für religiöse Werte und Einfühlungskraft in religiöse Erlebnisse einen Wesensbestandteil seines wissenschaftlichen und 13 persönlichen Lebensberufs“. Doch wie immer die sehr schwierige Frage nach Webers individuellen religiösen Wertorientierungen zu beantworten sein mag – sein heroischer Agnostizismus ist eng verbunden mit einem großen praktischen Interesse am deutschen Protestantismus seiner Zeit und mit gelegentlichem kirchenpolitischem Engagement. Zwar hat Weber nach der Jahrhundertwende nicht 14 mehr aktiv am Evangelisch-sozialen Kongreß teilgenommen. Auch scheint er sich in Heidelberg, anders als Marianne Weber, vom kirchlichen Leben weithin fern gehalten zu haben. Aber er hat immer wieder an Diskussionen über die Geltungsansprüche und Realisierungschancen des christlichen Brüderlichkeitsethos teilgenommen und sich intensiv mit „religiösen Heroen“ – insbesondere mit Leo 15 N. Tolstoi – auseinandergesetzt. Bis in den Weltkrieg hinein hat er zudem kirchenpolitische Aktivitäten unterstützt, die von liberalprotestantischen Universitätstheologen und Kirchenjuristen

auch nur einfach zu glauben, welche gewaltige Rolle in jenen Epochen, wo die Charaktere der modernen Kulturnationen geprägt wurden, diesen religiösen Momenten zufiel“ (Max Weber: „Kirchen“ und „Sekten“ in Nordamerika. Eine kirchen- und sozialpolitische Skizze, in: Die Christliche Welt 20 [1906], Sp. 558–562 und Sp. 577–583, hier Sp. 581). In „Wissenschaft als Beruf“ spricht Weber vom „religiös ‚musikalischen‘ Menschen“ (MWG I/17, S. 106). Weber dürfte auf die „Musik meiner Religion“ anspielen, die der junge Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher in seinen „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ 1799 erklingen ließ. Zusammen mit Otto Baumgarten hat Weber Schleiermachers „Reden“ schon als Heidelberger Student gelesen. 13 Otto Baumgarten: Das Dennoch des Glaubens. Ein Briefwechsel, in: Schleswig-Holsteinisches Kirchenblatt 22 (1926), S. 225–228, in diesem Band unten, S. 400–403. 14 Rita Aldenhoff: Max Weber and the Evangelical-Social Congress, in: Wolfgang J. Mommsen, Jürgen Osterhammel (Hrsg.): Max Weber and his Contemporaries (wie Anm. 8), S. 193–202. 15 Weber hat Tolstoi zunächst im Kontext seiner Rußland-Studien und 1912 bis 1914 dann im Zusammenhang der im Weber-Kreis geführten Debatten über die Spannungen zwischen weltflüchtigem östlichen Christentum und moderner okzidentaler Weltbemächtigung intensiv gelesen. Dazu grundlegend: Edith Hanke: Das „spezifisch intellektualistische Erlösungsbedürfnis“. Oder: Warum Intellektuelle Tolstoi lasen, in: Gangolf Hübinger, Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.): Intellektuelle im Deutschen Kaiserreich, Frankfurt a. M. 1993, S. 158–171 und S. 235–238; dies.: Prophet des Unmodernen. Leo N. Tolstoi als Kulturkritiker in der deutschen Diskussion der Jahrhundertwende (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Band 38), Tübingen 1993, S. 168–208.

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initiiert worden sind. 1894 unterschreibt er Aufrufe für eine Reform von Liturgie und Kultus in der preußischen Kirche. 1902 kämpft er zusammen mit Ernst Troeltsch dagegen, daß die badische Regierung unter dem Druck der katholischen Zentrumspartei das seit dem Kulturkampf bestehende Verbot von Männer-Orden aufheben will; implizit treten Weber, Troeltsch und andere Heidelberger Liberale damit für eine Fortführung der kulturpolitischen Repression des ‚ultramontanen‘ Katholizismus ein. 1911 unterzeichnet Weber zwei Protesterklärungen gegen den preußischen Oberkirchenrat, die in diversen Kirchenzeitschriften erschienen sind. Mit diesen Erklärungen wenden sich liberalprotestantische Theologen dagegen, daß der von konservativen Kräften dominierte, autoritäre Evangelische Oberkirchenrat der preußischen Kirche den liberalen Kölner Pfarrer 16 Carl Jatho einem Lehrzuchtverfahren unterwerfen will. Die Langfassung seines Aufsatzes über „‚Kirchen‘ und ‚Sekten‘ in Nordamerika“ veröffentlicht Weber 1906 in der Zeitschrift „Die Christliche Welt“, in der er schon in den neunziger Jahren publiziert hat. Diese von dem Marburger Theologen Martin Rade herausgegebene Zeitschrift ist das wichtigste religiös-theologische Publikationsorgan der liberalen Kulturprotestanten. Webers Aufsatz hat im Original den Untertitel „Eine kirchen- und sozialpolitische Skizze“ (1906). Dies läßt erkennen: Im Sektenaufsatz, den Weber 1907 als „den Anfang 17 einer Fortsetzung“ zur „Protestantischen Ethik“ bezeichnet, geht es keineswegs bloß um Kulturgeschichtsschreibung, religionssoziologische Typenbildung (Unterscheidung der religiösen Vergemeinschaftungsformen von ‚Kirche‘ und ‚Sekte‘) und Fortführung der Analysen zur „Kulturbedeutung“ der puritanischen „innerweltlichen Askese“. In der Weber-Forschung ist zumeist nur die Textfas18 sung in den „Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie“ rezipiert worden, die sich vom ursprünglichen, in der Osterausgabe der „Frankfurter Zeitung“ und dann erweitert in der „Christlichen Welt“ veröffentlichten Text tiefgreifend unter19 scheidet; Weber hat den sehr „stark überarbeitete[n]“ Text von 1920 sowohl um 67 (!) Anmerkungen erweitert als auch in inhaltlich wichtigen Passagen gekürzt. Dabei hat er die originale Intention des Essays weithin verdeckt: 1906 will Weber entschlossen wertend Stellung zu aktuellen religions- und kirchenpolitischen Auseinandersetzungen in der liberalprotestantischen Theologenszene nehmen. Die in der Weber-Forschung dominierende Lesart des Textes lautet:

16 Für die Nachweise im einzelnen siehe: Friedrich Wilhelm Graf: Max Weber e la teologia protestante del suo tempo (wie Anm. 8). 17 Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 24. März 1907, in: MWG II/5 , S. 273. 18 Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 1. Band, Tübingen 1920, S. 207– 236. 19 Ebd., S. 207, Anm. 1.

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Die im Sektenaufsatz entfaltete Analyse des spezifischen kirchlichen bzw. religiösen Gemeinschaftslebens in Nordamerika sei auch biographisch zu lesen, als Reflexion von theoriegeleiteten Erfahrungen während der zusammen mit Ernst 20 Troeltsch unternommenen USA-Reise; Weber wolle vor allem die religionssoziologische Unterscheidung von ‚Kirche‘ und ‚Sekte‘ entfalten und stärker als in der „Protestantischen Ethik“ den spezifischen Gemeinschaftscharakter der Frömmigkeit der verschiedenen asketischen Protestantismen darstellen. Aber es geht Weber vorrangig um die deutsche kirchliche Gegenwartslage, um einen kritischen Beitrag zu den religions-, kultur- und sozialpolitischen Debatten, wie sie seine Theologenfreunde, also Göhre, Naumann, Baumgarten und Troeltsch, sowie andere „liberale Theologen“ aus dem Umkreis des Evangelisch-sozialen Kongresses bzw. die „Freunde der Christlichen Welt“ – Rade und Harnack, Arthur Titius und Gottfried Traub – damals geführt haben. Weber formuliert 1906 eine polemische Kritik des wilhelminischen Staatskirchentums – im „Berliner Dom“, „diesem cäsaropapistischen Prunksaal“, ist der „Geist des Protestantismus“ sehr viel weniger lebendig als „in den kleinen, jeden mystischen Schmucks entbehren21 den Betsälen der Quäker und Baptisten“ – und behandelt das liberale Postulat der Trennung von Staat und Kirche. Er kritisiert die von Ernst Troeltsch beim Evangelisch-sozialen Kongreß 1904 gegen die „Nationalsozialen“ um Naumann vorgetragene These, daß es kein notwendiges inneres Gefälle der christlichen Ethik hin zur modernen Demokratie gebe, sondern sich durch christliche Normen gleichberechtigt auch eine konservativ-aristokratische, vordemokratische Elitenherrschaft und ein autoritärer Staat rechtfertigen lasse; Weber sieht darin eine politisch höchst fatale Konzilianz gegenüber den konservativen, unbürgerlich 22 feudalen alten Machteliten und ihrem lutherischen Autoritätspathos. Weber äußert sich 1906 zum deutschen Schicksal, daß die Repräsentanten politischer Emanzipation, die Liberalen, ihre Freiheitsansprüche nur gegen die 20 Dazu: Hans Rollmann: Ernst Troeltsch in Amerika. Die Reise zum Weltkongreß der Wissenschaften nach St. Louis (1904), in: TS 2, S. 88–117; ders.: „Meet Me in St. Louis“: Troeltsch and Weber in America, in: Hartmut Lehmann, Guenther Roth (Hrsg.): Weber’s Protestant Ethic (wie Anm. 1), S. 357–383. 21 Max Weber: „Kirchen“ und „Sekten“ in Nordamerika (wie Anm. 12), Sp. 578. 22 Dieser Bezug auf Troeltsch ist von Weber 1920 getilgt worden. Aber er hat, kennzeichnend genug, die weitreichenden Modifikationen des ursprünglichen Textes mit einem wohl auch durch Konkurrenz geprägten Hinweis auf den Freund gerechtfertigt: „Die Umarbeitung ist dadurch motiviert, daß der von mir entwickelte Sektenbegriff (als Gegensatz zum Begriff der ‚Kirche‘) inzwischen von Tröltsch in seinen ‚Soziallehren der christlichen Kirchen‘ zu meiner Freude übernommen und eingehend behandelt worden ist, so daß diese begrifflichen Erörterungen hier um so mehr fortfallen können, als schon in dem vorstehenden Aufsatz [also: der überarbeiteten ‚Protestantischen Ethik‘] [. . .] das Nötige gesagt ist“ (Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 1. Band [wie Anm. 18], S. 207, Anm. 1).

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kirchlichen Anstalten formulieren konnten. Er analysiert die kulturellen Chancen einer an Goethe und den Idealismus sich anschließenden liberalen „‚Bildungsre23 ligion‘“ – also des Protestantismus der Baumgarten, Troeltsch e tutti quanti – und erklärt, einst ein Aktivist des Evangelisch-sozialen Kongresses, die Hoffnung auf eine neue „religiöse Durchdringung des sozialen Lebens“ für Deutschland zur Illusion. Wie intensiv er hier mit seinen Theologenfreunden kommuniziert, zeigt schließlich die Bezugnahme auf Richard Rothe im Schlußsatz des Essays. Der 1837 bis 1849 und 1854 bis 1867 in Heidelberg lehrende Systematische Theologe Richard Rothe (1799–1867) galt als der „Heilige“ des liberalen Bildungsprotestantismus; ein Onkel Max Webers, der Kirchenhistoriker Adolf Hausrath, der noch zu Zeiten Webers und Troeltschs in Heidelberg lehrte und ein einflußreicher Repräsentant des älteren badischen Liberalismus war, hatte 1902 und 1906 – also im Jahr der Niederschrift des Sektenaufsatzes! – eine grundlegende Rothe24 Biographie veröffentlicht. In den Heidelberger Diskussionen war Richard Rothe entscheidend auch durch Troeltsch präsent. 1899 hatte Troeltsch in Heidelberg mehrere öffentliche Vorträge über Rothe gehalten, als Dekan der Theologischen Fakultät u. a. bei einer großen akademischen Festveranstaltung aus Anlaß von Rothes 100. Geburtstag, an der auch der Großherzog teilnahm. Weber nimmt auf diese bei J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1899 veröffentlichte Rede Troeltschs (die der Autor dem Freunde vom Verlag aus hatte zuschicken lassen) Bezug. Zum Verhältnis zwischen dem – in seiner Sicht: wahrhaft protestantischen – asketischen Protestantismus der nordamerikanischen Sekten und dem deutschen liberalen Kulturprotestantismus stellt Weber mit wertender Entschiedenheit fest: „Aber über Eins ist keine Täuschung möglich: auch alle heutigen Argumentationen gegen die ‚Enge‘ und ‚Abstrusität‘ des Sektentums, die wir von den besten und ‚modernsten‘, dogmatisch ungebundensten Vertretern des Ideals der universalistischen evangelischen ‚Kirche‘ hören, bedeuten ganz das Nämliche: Kulturwerte 25 und nicht genuine religiöse Bedürfnisse sind für sie das Ausschlaggebende“. Dies war vor allem eine Fundamentalkritik am Freunde Troeltsch und dessen Verarbeitung der USA-Erfahrungen: Weber formuluiert hier eine Kritik liberalprotestantischer Kulturtheologie in einer Perspektive, in der, so die Pointe des Nichttheologen, die spezifische „Irrationalität“ des religiösen Menschen ungleich ernster genommen sei als in einer rationalisierenden Theologenperspektive. Im

23 Max Weber: „Kirchen“ und „Sekten“ in Nordamerika (wie Anm. 12), Sp. 582. 24 Adolf Hausrath: Richard Rothe und seine Freunde, 2 Bände, Berlin 1902/06; siehe: Friedrich Wilhelm Graf: Richard Rothe, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, begründet und hrsg. von Friedrich Wilhelm Bautz, fortgeführt von Traugott Bautz, Band 8, Herzberg 1994, Sp. 759– 823. 25 Max Weber: „Kirchen“ und „Sekten“ in Nordamerika (wie Anm. 12), Sp. 582.

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Schlußsatz der in der „Christlichen Welt“ veröffentlichten Fassung des Sektenaufsatzes präzisiert er dies: „Damit möchte ich aber – und auf die Beseitigung dieses möglichen Mißverständnisses kam es mir an – nicht etwa so verstanden werden, als glaubte ich, daß etwa alle Diejenigen, welche ihre Lebensarbeit in den Dienst eines – idealen – Landeskirchentums gestellt haben, diese Position nur von außerreligiösen Kulturwerten aus gewinnen können: Das entspräche den Tatsachen, wie ich sehr wohl weiß, nicht. Aber für jene von der Irrationalität der religiösen Persönlichkeit ausgehende Anschauung muß dann Rothes ‚Maximum von Religion bei einem Minimum von Kirche‘ doch wohl die unent26 rinnbare Konsequenz sein“. Schon im sprachlichen Gestus hat dies Züge einer Konfession, einer Stellungnahme zu den religionspolitischen Hoffnungen der Naumann, Baumgarten, Rade und Troeltsch, das landeskirchliche Christentum erneuern und reformieren zu können. Mit dem Zitat der Rothe-Formel bezieht er sich kritisch auf Troeltschs Rothe-Rede von 1899, in der Troeltsch daran erinnert hatte, daß Rothe zwar die Vision einer Aufhebung der Kirchen in den religiössittlichen Kulturstaat vertreten, aber ausdrücklich „bis zur Wiederkunft Christi 27 [. . .] ein ‚Minimum von Kirche‘ für unentbehrlich“ gehalten hatte. Troeltsch hat auf Webers Kritik im Sektenaufsatz postwendend reagiert und als Prorektor der Heidelberger akademischen Öffentlichkeit am 22. November 1906 dann seine Sicht der „Trennung von Staat und Kirche“ bzw. der religionspolitischen Lage in 28 Deutschland dargestellt. Sowohl die „Protestantische Ethik“ als auch der Sektenaufsatz sind von protestantischen Universitätstheologen der Zeit intensiv rezipiert worden. Im „Antikritischen Schlußwort“ weist Weber gegen seinen Kritiker Felix Rachfahl, einen Kieler Historiker, 1910 nicht ohne Stolz darauf hin, daß die theologischen „Fachleute“ auf die „Protestantische Ethik“ des „Außenstehenden“ mit Zustimmung reagiert hätten: „Daß meine Versuche von einer Anzahl angesehener theologischer Kollegen nicht schlechthin interesselos und prinzipiell unfreundlich aufgenommen wurden, ist mir an sich schon eine reichliche Genugtuung 29 im Interesse der Sache“. Neben prominenten protestantischen Kirchen- und

26 Ebd., Sp. 583. 27 Ernst Troeltsch: Richard Rothe. Gedächtnisrede gehalten zur Feier des hundertsten Geburtstages in der Aula der Universität, Freiburg i. B., Leipzig, Tübingen 1899, S. 37, jetzt in: KGA 1, S. 722–752, hier S. 745. 28 Ernst Troeltsch: Die Trennung von Staat und Kirche, der staatliche Religionsunterricht und die theologischen Fakultäten. Akademische Rede zur Feier des Geburtstages des höchstseligen Großherzogs Karl Friedrich am 22. November 1906 bei dem Vortrag des Jahresberichts und der Verkündung der akademischen Preise gehalten, Heidelberg 1906, jetzt in: KGA 6, S. 342–435; zum Kontext siehe den Editorischen Bericht in: KGA 6, S. 319–341. 29 Max Weber: Antikritisches Schlußwort zum „Geist des Kapitalismus“ (wie Anm. 4), S. 345.

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Dogmenhistorikern wie Adolf von Harnack und Friedrich Loofs haben auch liberalprotestantische Sozialreformer und Vereinsfunktionäre die „Protestantische Ethik“ intensiv diskutiert. Webers Aufsätze sind nicht bloß in religiösen Kulturzeitschriften und in Vereinsorganen liberalprotestantischer Vereinigungen 30 besprochen worden. Angesichts der großen Rolle, die die Auseinandersetzung mit der Frage nach der „Kulturbedeutung des Kapitalismus“ in den politischkulturellen Auseinandersetzungen der Jahrhundertwende gespielt hat, haben vielmehr auch kulturprotestantische Vereine, etwa Ortsgruppen der „Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt“ und des „Evangelischen Bundes“, eigene 31 Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen über Webers Thesen durchgeführt. Was bedeutet Webers Einbindung in ein liberalprotestantisches Intellektuellenmilieu für die Interpretation der „Protestantischen Ethik“? Harry Liebersohn hat in seinem 1988 erschienenen Buch „Fate and Utopia in German Sociology, 1870–1923“ den Vorschlag gemacht, die „Protestantische Ethik“ nicht nur als eine religionshistorische Studie bzw. als eine kultursoziologische Analyse der Genese des modernen Kapitalismus zu deuten. Sie sei auch als ein zeitdiagno32 stischer Text, als eine „allegory about Germany in his own day“ zu lesen. Die Art, wie Weber den Unterschied von Calvinismus und Luthertum beschreibe,

30 Hans Norbert Fügen behauptet in seiner Biographie über die Rezeption der „Protestantischen Ethik“: „1909 begann eine kritische Auseinandersetzung, die bis heute nicht beendet ist“ (Hans Norbert Fügen: Max Weber, Reinbek 1985, S. 86). Dies ist unzutreffend, gerade mit Blick auf die zeitgenössische protestantische Theologie. Hier beginnt der Streit um die „Protestantische Ethik“ schon 1905. Für die Diskussion in den liberalprotestantischen religiösen Kulturzeitschriften siehe unter anderem: Wilhelm Schubring: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus [nach Weber], in: Protestantenblatt Nr. 46 f. (1905); Gottfried Traub: Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Die Christliche Welt 19 (1905), Sp. 942–946; Ferdinand Jakob Schmidt: Kapitalismus und Protestantismus, in: Preußische Jahrbücher 122 (1905), S. 189–230. Die Texte Schubrings und Traubs sind sowohl in der Bibliographie zu Webers Protestantismusstudien nachzutragen, die Johannes Winckelmann im Anhang zu seiner Sammlung von „Kritiken und Antikritiken“ veröffentlicht hat (Max Weber: Die protestantische Ethik II [wie Anm. 2], S. 395–405) als auch in der Bibliographie von Seyfarth und Schmidt (Constans Seyfarth, Gert Schmidt: Max Weber Bibliographie. Eine Dokumentation der Sekundärliteratur, 2. unveränderte Aufl., Stuttgart 1982). 31 Vgl.: An die Freunde. Vertrauliche d. i. nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Mitteilungen (1903–1934), Nachdruck mit einer Einleitung von Christoph Schwöbel, Berlin, New York 1993. Dazu meine ausführliche kritische Rezension in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 1 (1994), S. 323–328. Zum Organisationsspektrum und zu den Wertorientierungen des deutschen liberalen Protestantismus um die Jahrhundertwende grundlegend: Gangolf Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland, Tübingen 1994. 32 Harry Liebersohn: Fate and Utopia in German Sociology, 1870–1923, Cambridge, Mass., London 1988, S. 96.

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sei stark geprägt durch sein kulturkritisches Leiden an der politischen Unentschlossenheit des deutschen Bürgertums, durch seine Verzweiflung über die autoritäre politische Kultur des Kaiserreichs und den politischen Quietismus des Bürgertums; für diese politische Passivität mache er im wesentlichen den Geist 33 des Luthertums verantwortlich. In der Tat ist eine politisch motivierte radikale Luthertumskritik für Webers Analyse des „Scheinconstitutionalismus“ im politischen System des Kaiserreichs und für seine Polemik gegen die politische 34 Impotenz des nationalliberalen Bürgertums grundlegend. Ich möchte deshalb Harry Liebersohns Interpretationsvorschlag aufgreifen und zeigen, wie stark sich in dem Geschichtsbild der „Protestantischen Ethik“ bestimmte kulturelle Wahrnehmungsmuster des deutschen liberalen Kulturprotestantismus reflektieren. Dazu orientiere ich mich primär am originalen Text der „Protestantischen Ethik“ von 1904 und 1905. Weber hat hier erklärt, daß seine „Skizze, soweit sie sich auf rein dogmatischem Gebiet bewegt, überall an die Formulierungen der kirchen- und dogmengeschichtlichen Literatur, also an die ‚zweite Hand‘ angelehnt ist und insoweit schlechterdings keinerlei ‚Originalität‘ 35 beansprucht“. Mehr als vierzig Prozent der neueren Literatur, die Weber in der ersten, von ihm selbst mehrfach als fragmentarisch bezeichneten Fassung

33 Siehe ebd. 34 Siehe als beeindruckendes Beispiel Webers bekannten Brief an Adolf Harnack vom 5. Februar 1906: „So turmhoch Luther über allen Anderen steht, – das Luthertum ist für mich, ich leugne es nicht, in seinen historischen Erscheinungsformen der schrecklichste der Schrecken und selbst in der Idealform, in welcher es sich in Ihren Hoffnungen für die Zukunftsentwicklung darstellt, ist es mir, für uns Deutsche, ein Gebilde, von dem ich nicht unbedingt sicher bin, wie viel Kraft zur Durchdringung des Lebens von ihm ausgehen könnte. Es ist eine innerlich schwierige und tragische Situation: Niemand von uns könnte selbst ‚Sekten‘-Mensch, Quäker, Baptist etc. sein. Jeder von uns muß die Überlegenheit des – im Grunde doch – Anstalts-Kirchentums, gemessen an nicht-ethischen und nicht-religiösen Werthen, auf den ersten Blick bemerken. Und die Zeit für ‚Sekten‘ oder etwas ihnen Wesensgleiches ist, vor Allem, historisch vorbei. Aber daß unsre Nation die Schule des harten Asketismus niemals, in keiner Form, durchgemacht hat, ist auf der andren Seite der Quell alles Desjenigen, was ich an ihr (wie an mir selbst) hassenswerth finde, und vollends bei religiöser Wertung steht eben – darüber hilft mir nichts hinweg – der Durchschnitts-Sektenmensch der Amerikaner ebenso hoch über dem landeskirchlichen ‚Christen‘ bei uns, – wie, als religiöse Persönlichkeit, Luther über Calvin, Fox e tutti quanti steht“ (MWG II/5, S. 32 f.). Weitere Zitate bei: Wolfgang J. Mommsen: Max Weber und die deutsche Politik 1890– 1920, 2. Aufl., Tübingen 1974, S. 118. Zu Webers Kritik „des autoritär verfaßten Kapitalismus“ im Kaiserreich: Wolfgang Schluchter: Der autoritär verfaßte Kapitalismus. Max Webers Kritik am Kaiserreich, in: ders.: Rationalismus der Weltbeherrschung. Studien zu Max Weber, Frankfurt a. M. 1980, S. 134–169 und S. 267–281. 35 Max Weber: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. II. Die Berufsidee des asketischen Protestantismus, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 21 (1905), S. 1–110, hier S. 3, Anm. 3.

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der „Protestantischen Ethik“ benutzt, stammt von deutschen protestantischen Theologen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Mit einer beeindruckenden Kennerschaft hat Weber die Werke der damals in Deutschland führenden Dogmenund Kirchenhistoriker rezipiert. Auch bei der Spezialliteratur über Luthers Berufsethik, über die Ethik des Calvinismus und über den Methodismus bewegt Weber 36 sich auf der Höhe des zeitgenössischen theologischen Forschungsstandes. Der Dortmunder Pfarrer Gottfried Traub, ein protestantischer Sozialreformer, der Weber vom Evangelisch-sozialen Kongreß her gekannt haben dürfte, hat in einer begeisterten Würdigung der „Protestantischen Ethik“ 1905 zu Recht festgestellt: „Als ich die Abhandlung gelesen hatte, schämte ich mich, nämlich für meine theologische Wissenschaft. Warum zanken wir Theologen uns um die Sicherheit und Notwendigkeit oder gar über die Seligkeit und Verdammlichkeit religiöser Vorstellungen, statt zu prüfen, wie sie tatsächlich auf die Lebenshaltung der Menschen wirken und wirken müssen? Wie hat dieser Professor der Nationalökonomie sich in die dogmengeschichtliche Entwicklung des Protestantismus vertieft, und welche Schlaglichter werfen seine Untersuchungen auf dieses Gebiet selbst, abgesehen von dem nationalökonomischen Ziel, zu dem er alle diese Gedanken nur als Vorarbeit auseinandergelegt hat! Es ist eine wahre Freude, 37 sich in diese Arbeitsmethode zu vertiefen“. Weber nimmt aus der theologischen Literatur nicht bloß historische Materialien auf. Schon seine Frage nach den möglichen sozialen Folgewirkungen religiöser Wertorientierungen ist stark geprägt von der dogmenhistorischen und 38 religionswissenschaftlichen Debatte in der deutschsprachigen Universitätstheologie und anderen historischen Kulturwissenschaften der Zeit. Diese Debatte

36 Während im ersten Teil des Aufsatzes, der in Band 20 des „Archivs“ 1905 erschienen ist (S. 1–54) – er enthält die Teile: „1. Konfession und soziale Schichtung“, „2. Der ‚Geist‘ des Kapitalismus“ und „3. Luthers Berufsbegriff. Aufgabe der Untersuchung“ – etwa ein Viertel der genannten neueren Literatur (die Quellentexte, etwa die Schriften Martin Luthers, sind also nicht mitgezählt) von protestantischen Theologen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts stammt, ist der Anteil neuprotestantischer Theologen im systematisch wichtigeren zweiten Teil des Aufsatzes aus Band 21 (siehe Anm. 35) des „Archivs“ mit den Teilen: „1. Die religiösen Grundlagen der innerweltlichen Askese“ und „2. Askese und Kapitalismus“ doppelt so hoch: Fast die Hälfte der genannten neueren Literatur stammt von protestantischen Theologen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. 37 Gottfried Traub: Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (wie Anm. 30), Sp. 942. 38 Zu den vielfältigen begrifflichen Anregungen, die Weber aus der breiten Religionsdebatte in den historischen Kulturwissenschaften der Zeit einschließlich der sich disziplinär verselbständigenden „Religionswissenschaft“ aufgenommen hat, vgl. die grundlegende Darstellung von Küenzlen (Gottfried Küenzlen: Die Religionssoziologie Max Webers. Eine Darstellung ihrer Entwicklung, Berlin 1980) sowie Tyrell (Hartmann Tyrell: „Das Religiöse“ in Max Webers Religionssoziologie, in: Saeculum 43 [1992], S. 172–229) und Kippenberg (Hans G. Kippenberg: Max Weber

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ist keineswegs nur ein rein akademischer und vergangenheitsorientierter Diskurs von Historikern gewesen. In den Auseinandersetzungen um das Verhältnis von Protestantismus und moderner Kultur sind immer auch die Legitimitätsgrundlagen des Deutschen Reiches thematisiert worden. Dies zeigt nicht nur die prominente Rolle, die die Auseinandersetzung mit theologischer Literatur in der bildungsbürgerlichen Öffentlichkeit vor 1914 gespielt hat. Vielmehr lassen sich die politischen Implikationen der theologischen Kontroversen über die politisch-kulturelle Prägekraft des Protestantismus in der neueren deutschen Geschichte auch am Selbstverständnis der führenden protestantischen Dogmenund Kirchenhistoriker der Zeit erkennen. Mit wenigen Ausnahmen verstehen sie ihre Disziplin als eine „historische Kulturwissenschaft“, die nicht nur Einsicht in die Genese der Gegenwart vermitteln, sondern zugleich normative Prinzipien zur 39 Gestaltung von Politik und Kultur bzw. bestimmte Kulturwerte begründen soll. Nicht der Immanenz von religiösen Ideen oder dogmatisch-theologischen Systemen, sondern der Suche nach Zusammenhängen zwischen religiösen Ideenlagen und kulturellen Orientierungsmustern gilt deshalb das Interesse der Dogmenund Kirchenhistoriker. In der „Protestantischen Ethik“ thematisiert Weber „das Verhältnis logisch und psychologisch vermittelter Konsequenzen aus bestimmten religiösen Ge40 danken für das praktische Sichverhalten“ des einzelnen. Weber orientiert sich damit an einem Konzept religiösen Bewußtseins, wie es die zeitgenössische liberalprotestantische Theologie prägt und klassisch von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher entwickelt worden ist: Religiöses Bewußtsein sei keine bloße Funktion sonstiger Wertorientierungen oder Interessenlagen, sondern stelle eine autonome Region des Bewußtseins, eine „eigene Provinz des Gemüts“ (Schleiermacher) dar. Nur auf der Basis solcher prinzipiellen Selbständigkeit der Religion bzw. religiösen Wertsphäre kann dann auch nach ihren möglichen kulturellen Folgewirkungen, nach ihrer Bedeutung für die Lebensführung des einzelnen oder das soziale Handeln bestimmter gesellschaftlicher Gruppen gefragt werden. Die deutschsprachigen protestantischen Theologen des 19. Jahrhunderts haben

im Kreise von Religionswissenschaftlern, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 45 [1993], S. 348–366; ders.: Rivalität in der Religionswissenschaft. Religionsphänomenologen und Religionssoziologen als kulturkritische Konkurrenten, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 2 [1994], S. 69–89). 39 Siehe: Friedrich Wilhelm Graf: Protestantische Theologie in der Gesellschaft des Kaiserreichs, in: ders. (Hrsg.): Profile des neuzeitlichen Protestantismus, Band 2/1: Das Kaiserreich, Gütersloh 1992, S. 12–118. 40 Max Weber: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. II. (wie Anm. 35), S. 25, Anm. 48.

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sich dabei zumeist an einer psychologischen Kategorialität orientiert, die sowohl die Selbständigkeit der Religion als einer autonomen Bewußtseinsfunktion als auch die praktische Orientierungskraft religiöser Ideen für eine prinzipiengeleitete, ethische Lebensführung darzustellen erlaubt. Weber hat diese psychologische 41 Orientierung geteilt. Er nimmt in der „Protestantischen Ethik“ primär solche dogmenhistorische Literatur auf, in der die Geschichte protestantischer Theologie und Frömmigkeit nach bestimmten religionspsychologischen Idealtypen strukturiert wird. Diese starke Abhängigkeit von der theologischen Diskussion bedeutet auch: In der „Protestantischen Ethik“ steckt implizit sehr viel mehr an theologischen Werturteilen und an konfessionsspezifischer Ideologie, als Weber selbst gesehen hat und vielen seiner heutigen Interpreten bewußt ist. Kein anderer deutschsprachiger Kulturwissenschaftler der Zeit hat sich so intensiv mit den methodologischen Problemen kulturwissenschaftlicher Erkenntnis auseinandergesetzt wie Max Weber. In Fragen der „Bildung scharfer Begriffe“, der „Logik“ kulturwissenschaftlicher Erkenntnis, der perspektivischen ‚Objekt‘selektion, der konstruktiven Formulierung von Idealtypen, der „strengen Scheidung von Erfahrungswissen und Werturteil“ sowie überhaupt einer kritizistischen Traditionen verpflichteten Subjektivierung kulturwissenschaftlicher Erkenntnis ist Weber sehr viel reflektierter gewesen als die anderen Kulturwissenschaftler der Zeit. Vor allem die kritizistische Unterscheidung von individuell begründeten „Werturteilen“ einerseits und sachbezogener, ‚objektiver‘ werturteilsfreier wissenschaftlicher Tatsachenfeststellung und Wahrheitssuche andererseits entfaltet Weber in seinen wissenschaftsmethodologischen Texten mit faszinieren42 der gedanklicher Konsequenz. Aber es wäre methodisch naiv, seinen Anspruch, im Gegensatz zu anderen Kulturwissenschaftlern (mit ihrem weithin dogmatischen Gebrauch von Allgemeinbegriffen und der permanenten Vermischung von normativen, wertenden Stellungnahmen und empirischen Aussagen) dem methodischen Postulat der „Werturteilsfreiheit“ zu folgen, unmittelbar zu affirmieren. In der Konsequenz seines methodologischen Programms sind seine kulturhi-

41 Vgl. dazu die Charakterisierung der Bemühungen Webers um den Begriff der Askese durch Ernst Troeltsch schon 1910: „Weber hat an diesem Begriff in seiner besonderen reformierten Gestaltung den Umschlag einer rigoros über-weltlichen Denkweise in ökonomisch-kapitalistische Betriebsamkeit religionspsychologisch klar gemacht.“ (Ernst Troeltsch: Die Kulturbedeutung des Calvinismus, abgedruckt in: Max Weber: Die protestantische Ethik II [wie Anm. 2], S. 188–215, hier S. 197, jetzt in: KGA 8, S. 146–181, hier S. 157.) 42 Dazu ausgezeichnet: Friedrich Jaeger: Bürgerliche Modernisierungskrise und historische Sinnbildung. Kulturgeschichte bei Droysen, Burckhardt und Max Weber (Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte, Band 5), Göttingen 1994, S. 182–260 und S. 310–326, bes. S. 240–251.

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storischen Publikationen auch daraufhin zu analysieren, inwieweit sie durch kulturell vermittelte normative Elemente bzw. Wertorientierungen bestimmt sind. Für die erste Fassung der „Protestantischen Ethik“ gilt dies in besonderem Maße, sind hier doch Aussagen über äußerst komplizierte historische Kausalitäten häufig (vor allem in den Schlußpassagen des Textes und in den Anmerkungen) mit wertenden gegenwartsdiagnostischen Aussagen, politischen Anspielungen und konfessionspolitischen Stellungnahmen verknüpft. „Max Weber, der Histo43 riker“ hat dies selbst gesehen. Als Adolf Harnack ihm nach der Lektüre der „Protestantischen Ethik“ mitteilt, daß er Webers emphatische Hochschätzung des reformierten asketischen Protestantismus gegenüber dem deutschen Luthertum nicht mitvollziehen könne, antwortet ihm Weber am 5. Februar 1906: „Sie haben s. Z. meine kleinen Aufsätze über die ‚Protest[antische] Ethik‘ mit einem sehr liebenswürdigen Brief beantwortet, für den ich damals gleich gedankt hätte, böte nicht die Auseinandersetzung mit den von Ihnen angedeuteten Auffassungen für mich große Schwierigkeiten. Ich habe das Gefühl, in mancher Hinsicht 44 abweichende Werthurteile zu Grunde zu legen.“

2. Trotz der kaum überschaubaren Menge an Studien über die „Protestantische Ethik“ wissen wir erst sehr wenig über die wissenschaftsgeschichtlichen Hintergründe von Webers Arbeit, über seine Quellen und den Diskussionskontext, in dem er seine Position gebildet hat. Bekannt ist, daß eine Diskussion über Zusammenhänge zwischen Protestantismus und Durchsetzung der modernen bürgerlichen Gesellschaft in verschiedenen europäischen Gesellschaften schon seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts 45 geführt worden ist. Diese Diskussion ist stark von einer liberalen Kulturkampfmentalität, von einer antikatholischen Beschwörung der größeren ökonomischen Modernisierungsleistungen der Protestanten und vor allem Reformierten geprägt worden. Bekannt ist weiterhin, daß Webers Suche nach religiösen Wurzeln einer Gesinnung, die ökonomische Modernisierung bewirkt habe, geprägt ist durch die „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ seines Heidelberger Freundes Georg Jellinek; auf diese Abhängigkeit von Jellinek, der Weber 1904 die Einladung

43 Siehe: Jürgen Kocka (Hrsg.): Max Weber, der Historiker, Göttingen 1986. 44 Brief Max Webers an Adolf Harnack vom 5. Februar 1906, in: MWG II/5, S. 32–33, hier S. 32. 45 Siehe: Gianfranco Poggi: Calvinism and the Capitalistic Spirit. Max Weber’s Protestant Ethic, London, Basingstoke 1983; Gordon Marshall: In Search of the Spirit of Capitalism. An Essay on Max Weber’s Protestant Ethic, London 1982, S. 19 ff.

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nach St. Louis verschaffte, hat vor allem Guenther Roth hingewiesen . Auch ist in der neueren Diskussion mehrfach betont worden, daß die Auseinandersetzung mit Werner Sombarts 1902 in zwei Bänden erschienenem Buch „Der moderne Kapitalismus“ für Weber sehr viel wichtiger gewesen sein dürfte, als er in den 48 Kontroversen um die „Protestantische Ethik“ zugestanden hat; vor allem die für die ursprüngliche Fassung der „Protestantischen Ethik“ grundlegende Unterscheidung von „Geist“ und „Form“ des Kapitalismus spiegelt die Aufnahme von Sombarts Begrifflichkeit. Vermutlich ist auch die Entscheidung, für das gemeinsam mit Sombart herausgegebene „Archiv“ einen „kulturgeschichtlichen Aufsatz“ über die „Askese des Protestantismus als Grundlage der modernen Berufskultur“ – so beschreibt Weber das Ziel der „Protestantischen Ethik“ in einem Brief an 49 Heinrich Rickert – zu verfassen, durch die heftige literarische Diskussion um Sombarts „modernen Kapitalismus“ veranlaßt. Im April 1903 kam es bei dem in Heidelberg stattfindenden VII. Deutschen Historikertag zu einer ausführlichen kritischen Diskussion von Sombarts „modernem Kapitalismus“. Im Anschluß an ein Referat des zunächst in Münster und Marburg, seit 1901 in Tübingen lehrenden Historikers Georg von Below über „Die Entstehung des modernen

46 Daß Weber zum Congress of Arts and Sciences nach St. Louis eingeladen wurde, ging auch auf eine Anregung Georg Jellineks zurück. Am 27. Juli 1903 schrieb Georg Jellinek aus Heidelberg an den seit 1893 in Harvard lehrenden Psychologen und Philosophen Hugo Münsterberg, einen der Organisatoren des Kongresses, der mit Weber aus der Freiburger Zeit bekannt und für die Einladung deutscher Gelehrter zum Weltkongreß zuständig war: „Sehr geehrter Herr College! Vor einigen Tagen ist Max Weber hierher zurückgekehrt und hat sehr bedauert, daß er Sie nicht wiedersehen konnte. Zu meiner und wohl auch Ihrer Freude ist er wieder arbeitskräftig und bester Stimmung. Seinem Gesundheitszustand würde es, wie ich glaube, sehr nützen, wenn er auch zu einem Vortrag in St. Louis eingeladen würde. Seine Frau sagte mir, daß er sicher annehmen würde und einen Vortrag mit großer Leichtigkeit abhalten könnte. Schon der Gedanke an eine solche [ein Wort unleserlich] Reise würde dem ausgezeichneten Mann neue Spannkraft verleihen. Ich halte es für meine Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen. In angenehmer Erinnerung an den schönen Abend, den wir gemeinsam bei Windelband verlebt haben, sage ich Ihnen meine besten collegialischen Grüße als Ihr sehr ergebener Jellinek“ (Boston Public Library, Hugo Münsterberg papers, Ms. Acc. 2499 b [681 b]). 47 Georg Jellinek: Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, Leipzig 1895; siehe: Guenther Roth: The Protestant Ethic Revisited, in: Reinhard Bendix, Guenther Roth: Scholarship and Partisanship. Essays on Max Weber, Berkeley, London 1971, S. 308–310. 48 Werner Sombart: Der moderne Kapitalismus, Band 1, Leipzig 1902; siehe: Hartmut Lehmann: Asketischer Protestantismus und ökonomischer Rationalismus: Die Weber-These nach zwei Generationen, in: Wolfgang Schluchter (Hrsg.): Max Webers Sicht des okzidentalen Christentums. Interpretation und Kritik, Frankfurt a. M. 1988, S. 529–553; Hartmut Lehmann, Guenther Roth (Hrsg.): Weber’s Protestant Ethic (wie Anm. 1); sowie Friedrich Lenger: Werner Sombart 1863– 1941. Eine Biographie, München 1994, S. 129–135. 49 Zit. nach: Marianne Weber: Max Weber (wie Anm. 6), S. 359.

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Kapitalismus“ führten Werner Sombart, Karl Lamprecht, Friedrich Keutgen und Heinrich Sieveking eine heftige Debatte über Sombarts Konstruktion von Genese und „Geist“ des modernen Kapitalismus. Zwar gibt es bisher keine Zeugnisse dafür, daß Weber Belows Vortrag besucht und an der folgenden Diskussion teilgenommen hat. Doch dürfte er vom Auftritt Sombarts in der Heidelberger Universität gewußt haben, gehörte doch Troeltsch dem „Ortsausschuß“ an, der den Historikertag vorbereitete und von Below, Sombart, Lamprecht, Keutgen und Sieveking nach Heidelberg einlud. Es scheint wenig wahrscheinlich, daß diese – gleichsam vor Webers Haustür stattfindende – Kontroverse über Sombarts Thesen nicht auch ein – aber gewiß nicht: der! – Anstoß zur Niederschrift 50 der „Protestantischen Ethik“ gewesen ist. Mehrfach ist in der neueren Weber-Forschung und speziell in der Literatur über die „Protestantische Ethik“ zudem die Relevanz der Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsche, insbesondere mit seiner „Genealogie der Moral“ betont worden. Gerade für Webers Frage nach religiösen Wurzeln der Genese des „Geistes des Kapitalismus“ sei der Askese-Begriff der „Genealogie der Moral“ grundlegend gewesen. Dies ist gewiß zutreffend. Doch ist zu berücksichtigen, daß die vielfältigen Nietzsche-Bezüge in der „Protestantischen Ethik“ eher indirekter Art sind. Wie bei anderen prominenten Begriffen, die heute zumeist auf Weber zurückgeführt werden, hat er die begrifflichen Anleihen bei Nietzsche bzw. 51 die Rezeption von Fragestellungen Nietzsches kaum kenntlich gemacht hat.

50 Georg von Below hat Sombarts „modernen Kapitalismus“ in der Historischen Zeitschrift 91 (1903), S. 432–485 rezensiert. Der Sache nach dürfte es sich dabei um eine Ausarbeitung seines Heidelberger Vortrages handeln. Leider finden sich in der Heidelberger Tagespresse nur relativ kurze Berichte über von Belows Vortrag und die anschließende Diskussion (vgl. die Presseberichte in: Heidelberger Tageblatt, Nr. 88, 16. April 1903, S. 3; Vossische Zeitung, Nr. 186, 22. April 1903; Beilage zur Allgemeinen Zeitung, Nr. 90, 23. April 1903, S. 141–143). Ob Weber und Troeltsch anwesend waren, läßt sich aus diesen Presseberichten nicht ersehen. – Selbst dem SombartBiographen Friedrich Lenger (siehe Anm. 48) ist entgangen, daß sein Held beim VII. Historikertag zur Verteidigung seines „modernen Kapitalismus“ aufgetreten ist. Dies tut der Qualität der überaus materialreichen, konzeptionell gelungenen Darstellung Lengers keinen Abbruch! 51 Zur Bedeutung der Nietzsche-Rezeption für Weber generell siehe: Robert Eden: Political Leadership and Nihilism. A Study of Weber and Nietzsche, Tampa (South Florida) 1984; Georg Stauth, Bryan S. Turner: Nietzsche in Weber oder die Geburt des modernen Genius’ im professionellen Menschen, in: Zeitschrift für Soziologie 15 (1986), S. 81–94; Wilhelm Hennis: Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographie des Werks, Tübingen 1987; ders.: Die Spuren Nietzsches im Werk Max Webers, in: Nietzsche-Studien 16 (1987), S. 382–404; Detlev J. K. Peukert: „Der Tag klingt ab, allen Dingen kommt nun der Abend . . .“. Max Webers „unzeitgemäße“ Begründung der Kulturwissenschaften, in: Rüdiger vom Bruch, Friedrich Wilhelm Graf, Gangolf Hübinger (Hrsg.): Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. Krise der Moderne und Glaube an die Wissenschaft, Stuttgart 1989, S. 155–173; Hubert Treiber: Im Westen nichts Neues: Menschwerdung durch

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Die Rekonstruktion prägender Einflüsse ist seit der Historisierung Webers in den siebziger und achtziger Jahren zunehmend ins Zentrum der boomenden „Weber-Forschung“ gerückt und prägt auch die Debatten um die „Protestantische Ethik“. Dabei ist erst unzureichend berücksichtigt worden, in welch starkem Maße – neben den genannten „Quellen“ – auch Ernst Troeltsch die Arbeit des Freundes an der „Protestantischen Ethik“ mitgeprägt hat. In den Jahren, in denen Weber an seinen beiden Aufsätzen arbeitet, schreibt Troeltsch an einem thematisch eng verwandten großen Buch über „Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit“, das im Januar 1906 im Rahmen der von Paul Hinneberg herausgegebenen großen Enzyklopädie „Die Kultur der Gegenwart. Ihre 52 Entwicklung und ihre Ziele“ erscheint. 1905 wird Max Weber zu einem Vortrag vor dem IX. Deutschen Historikertag eingeladen, der im April 1906 in Stuttgart stattfindet. Weber kann diese Einladung nicht annehmen, obgleich er sich, wie der Sektenaufsatz zeigt, weiter mit dem Thema der „Protestantischen Ethik“ beschäftigt. Für die Ablehnung der Einladung nach Stuttgart dürfte neben den gesundheitlichen Gründen verantwortlich sein, daß er „in den ersten Monaten des Jahres 1906 [. . .] mit größter Anspannung“ am zweiten Bericht über 53 die revolutionären Ereignisse in Rußland arbeitete. Statt seiner wird Ernst Troeltsch nach Stuttgart eingeladen; er spricht hier am 21. April 1906 – acht Tage nach dem Erscheinen der Kurzfassung des Sektenaufsatzes in der „Frankfurter Zeitung“ – über „Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung 54 der modernen Welt“. Troeltschs fulminanter Auftritt in Stuttgart provoziert in

Askese. Sehnsucht nach Askese bei Weber und Nietzsche, in: Hans G. Kippenberg, Brigitte Luchesi (Hrsg.): Religionswissenschaft und Kulturkritik. Beiträge zur Konferenz The History of Religions and Critique of Culture in the Days of Gerardus van der Leeuw (1890–1950), Marburg 1991, S. 283– 323; speziell zur Nietzsche-Rezeption in der „Protestantischen Ethik“: Hartmann Tyrell: Worum geht es in der „Protestantischen Ethik“? Ein Versuch zum besseren Verständnis Max Webers, in: Saeculum 41 (1990), S. 130–177. Wolfgang Schluchters Versuch, in seiner eindrucksvollen Gesamtdeutung Webers die Bedeutung Nietzsches eher gering zu veranschlagen, leuchtet mir nicht ein (Wolfgang Schluchter: Religion und Lebensführung, 2 Bände, Frankfurt a. M. 1988). Allerdings gilt: Die Auseinandersetzung mit Nietzsche ist nur ein wichtiges Element in der Formierung von Webers kritischer Sicht der von kapitalistischer Zweckrationalität geprägten Gegenwartskultur. Für seine Kulturdeutung ebenso prägend sind die intensive Auseinandersetzung mit Goethe, die Lektüre Thomas Carlyles sowie die Faszination für das „echte“ brüderliche Christentum der nordamerikanischen Sektenchristen und Tolstois. 52 Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit, in: Julius Wellhausen u. a.: Die christliche Religion. Mit Einschluss der israelitisch-jüdischen Religion (Die Kultur der Gegenwart, Teil 1, Abt. 4), Berlin, Leipzig 1906, S. 253–458, jetzt: KGA 7. 53 M. Rainer Lepsius, Wolfgang J. Mommsen: Einleitung, in: Max Weber: Briefe 1906–1908 (wie Anm. 17), S. 1–16, hier S. 2. 54 Erschienen 1906 als Sonderabdruck aus der „Historischen Zeitschrift“, eine wesentlich erwei-

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der deutschen Geschichtswissenschaft eine breite Debatte über das Thema „reformierter Protestantismus und Kapitalismus“ sowie über die Rolle des Luthertums in der Geschichte Deutschlands. In dieser Debatte ist immer wieder von der „Troeltsch-Weber-These“ die Rede gewesen. Verschiedene Rezensenten der Buchausgabe von Troeltschs Stuttgarter Vortrag und Kritiker seines großen Buches über „Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit“ haben behauptet, die beiden Heidelberger Gelehrten hätten ihre Sicht des asketischen Protestantismus im gemeinsamen Gespräch entwickelt. In seiner äußerst polemischen Abrechnung mit dem Kieler „dilettan55 tisch hineinpfuschenden Klopffechter“ Felix Rachfahl hat Weber 1910 aber nachdrücklich betont, „daß überhaupt keinerlei, auch keine latente, Kollektiv56 Arbeit vorliegt“ . Schon knapp zwei Monate nach dem Erscheinen des zweiten Teiles der „Protestantischen Ethik“, im August 1905, erhebt Weber in einem Brief an Georg von Below ausdrücklich den Anspruch auf Originalität: „Tr.’s vortreffliche Leistung (bei Hinneberg) mag in sehr vielen Punkten auf Anregung aus unseren Gesprächen und meine Aufsätze zurückgehen, (vielleicht noch mehr, 57 als er weiss) – aber er ist der theologische Fachmann“. Umgekehrt hat auch Troeltsch mehrfach seine Eigenständigkeit gegenüber Weber betont und darauf hingewiesen, schon vor dem Erscheinen der „Protestantischen Ethik“ die Grundzüge seines Programms einer „Kulturgeschichte“ des neueren Protestantismus entwickelt zu haben. Doch wie immer das gewiß sehr schwierige, auch durch 58 „ganz unverhüllte Prioritätseifersüchtelei“ geprägte wissenschaftliche Verhält59 nis zwischen den beiden Freunden zu beurteilen ist – ihr Austausch über die

terte Fassung erschien 1911 als Band 24 der Historischen Bibliothek der „Historischen Zeitschrift“ im Verlag Oldenbourg, München und Berlin, jetzt in: KGA 8, S. 199–316. 55 Max Weber: Antikritisches Schlußwort zum „Geist des Kapitalismus“ (wie Anm. 4), S. 345. 56 Max Weber: Antikritisches zum „Geist“ des Kapitalismus, in: ders.: Die protestantische Ethik II (wie Anm. 2), S. 149–187, hier S. 150. 57 Brief Max Webers an Georg von Below vom 23. September 1905, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin, VI. HA, Nachlaß Max Weber, Nr. 30, Band 4. 58 Wilhelm Hennis: Max Webers Fragestellung (wie Anm. 51), S. 19. 59 Dazu ausführliche Notizen bei: Friedrich Wilhelm Graf: Friendship between Experts (wie Anm. 8). Neue biographische Informationen zur schwierigen, konfliktreichen Beziehung zwischen den beiden Freunden in: Friedrich Wilhelm Graf: Richard Rothe (wie Anm. 24). Zur Beziehung der Hausgenossen in der Ziegelhäuser Landstraße 17 ist nachzutragen, daß Marta und Ernst Troeltsch Max Weber im Sommer 1913 darum baten, die Patenschaft für den nach langer kinderloser Ehe am 30. Juli 1913 geborenen Ernst Eberhard Troeltsch zu übernehmen. Der Heidelberger Stadtpfarrer und Honorarprofessor für Praktische Theologie Otto Frommel – der liberale Prominentenpfarrer in Heidelberg – taufte das einzige Kind von Ernst und Marta Troeltsch am Samstag, den 25. Oktober 1913, in der Wohnung der Troeltschs; neben zwei Familienangehörigen fungierte Max Weber dabei als Pate.

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sie gemeinsam interessierenden Fragen dürfte 1903 bis 1905 sehr viel enger gewesen sein, als Max Weber im Streit um die „Protestantische Ethik“ zuzugeben bereit gewesen ist. Jedenfalls läßt sich in der Auswahl der fachtheologischen Literatur und in den Urteilen über einzelne theologische Autoren eine sehr starke Übereinstimmung zwischen der „Protestantischen Ethik“ und schon früher veröffentlichten Texten Ernst Troeltschs aufweisen. Max Weber hat in der „Protestantischen Ethik“ ausdrücklich auf aktuelle Publikationspläne des Theologenfreundes Rücksicht genommen und erklärt, manches „nur andeutungsweise“ zu behandeln, „weil hoffentlich E. Tröltsch auf diese Dinge (lex naturae etc.), denen er [. . .] seit Jahren nachgeht, eingehen und sie dann, als Fachmann, natürlich besser erledigen wird als ich beim besten 60 Willen könnte“. Schließlich zitiert Weber einen von Troeltsch spätestens 1902 geschriebenen, 1903 veröffentlichten Text über den reformierten Protestantismus in England, der eine erstaunliche Nähe zum Thema und zur Begrifflichkeit der „Protestantischen Ethik“ erkennen läßt. Der Heidelberger Theologe behauptet in diesem großen Lexikonartikel über „Englische Moralisten“, daß für die reformierte Frömmigkeit das Prädestinationsdogma zentral sei. Auch sieht er im Prädestinationsdogma einen starken Handlungsimpuls: Weil „sittliche Leistung [. . .] Kundmachung des Erwähltseins“ sei, gehe „höchste Energie des Handelns [. . .] 61 von dem Prädestinationsdogma“ aus. Bei aller Nähe zu Weber gibt es aber auch einen signifikanten Unterschied: In den „calvinistischen Länder[n] [. . .] herrscht [. . .] eine freiere Stellung zum wirtschaftlichen Verkehr und dem ihn befördernden Kapital. Im Gegensatz zu dem Patriarchalismus und naturalwirtschaftlichen Konservatismus der Lutheraner huldigen die Reformierten einem politischen und wirtschaftlichen Utilitarismus [. . .]; und diesen Utilitarismus unterstützen die christlichen Forderungen der Mäßigkeit, Rechtlichkeit und Arbeitsamkeit,

60 Max Weber: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. II. (wie Anm. 35), S. 4, Anm. 3. – Auch in späteren Jahren spricht Weber mehrfach davon, daß Troeltsch der Fachmann in Sachen Geschichte des Naturrechtsdenkens sei. Vgl. etwa die im Brief an Karl Vossler vom 5. Mai 1908 formulierte, teils zustimmende, teils kritische Würdigung von dessen großer Monographie zu Dantes „Divina Commedia“ (Karl Voßler: Die göttliche Komödie. Entwicklungsgeschichte und Erklärung, 1. Band, 1. Teil: Religiöse und philosophische Entwicklungsgeschichte, 2. Teil: Ethischpolitische Entwicklungsgeschichte, Heidelberg 1907): „Der schwierige Begriff der lex naturae, naturalis ratio u.s.w. dürfte das Gebiet sein, wo die noch offen gebliebenen Probleme liegen. Ich bin begierig[,] wie Tröltsch, der beste Kenner gerade dieser Seite sich dazu stellt.“ (MWG II/5, S. 556–563, hier S. 558). Zu Troeltschs Naturrechtsdeutung: Klaus Tanner: Der lange Schatten des Naturrechts. Eine fundamentalethische Untersuchung, Stuttgart 1993, S. 59–163. 61 Ernst Troeltsch: Moralisten, englische, in: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 3. Aufl., 13. Band, Leipzig 1903, S. 436–461, hier S. 443, eine leicht erweiterte Fassung erschien in: GS IV, S. 374–429, hier S. 391.

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in denen sich das Evangelium als auch dem materiellen Gedeihen förderlich erweist. So werden die reformierten Länder Träger der Kapitalwirtschaft, des Handels, der Industrie und eines christlich-temperierten Utilitarismus, der ihre Kulturtheorien wie ihre thatsächliche Kraft bedeutsam beeinflußt hat. Neben der modernen politischen Entwickelung ist auch die wirtschaftliche von ihr mächtig gefördert worden. Wer in der Prädestination seines Zieles und des Jenseits so unbedingt sicher ist, der kann die natürlichen Kräfte umso freier auf den natürlichen Zweck, den Erwerb, wenden und braucht keine übermäßige Liebe zum irdischen Gut dabei zu fürchten. Mit der reformierten Ethik konnten daher die rein profanen Theorien sich verbinden, die in Politik und Wirtschaft sich ausgebildet hatten, und aus der reformierten Ethik konnten kulturelle Bestandteile 62 sich zu rein weltlichem Betrieb verselbständigen“. Troeltschs Argumentation ist hier der in den beiden folgenden Jahren von Weber entwickelten „Kausalität“ genau entgegengesetzt: Unter dem Eindruck der intensiven Diskussion über den Begriff der certitudo salutis und der Rechtfertigung, die in der protestantischen Theologie der Zeit geführt wurde, leitet Troeltsch die Disposition reformierter Askese zur Ausbildung des kapitalistischen Geistes gerade aus einer mit dem Prädestinationsdogma gegebenen Heilsgewißheit, nicht aber aus einer Heilsunsicherheit ab. Demgegenüber ist für Webers Argumentation dann – sehr viel überzeugender – eine aus der Lehre von der doppelten Gnadenwahl resultierende Unsicherheit über den Gnadenstand entscheidend. Ernst Troeltsch hat sich später Webers Auffassung angeschlossen, dabei aber zugleich betont, daß Webers Begriff des „asketischen Protestantismus“ in der protestantischen Dogmengeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts bereits „vorbereitet“ worden 63 sei.

3. Die wichtigste theologische Quelle der „Protestantischen Ethik“ ist die „Vergleichende Darstellung des lutherischen und reformirten Lehrbegriffs“ des Berner Theologen Matthias Schneckenburger, eine postume Edition von Vorlesungen, 64 die Eduard Güder 1855 aus dem Nachlaß seines Lehrers herausgegeben hat. Weber erklärt dieses Buch zu einer historisch überaus zuverlässigen Quelle:

62 Ebd., S. 444 f. bzw. S. 393 in der erweiterten Fassung. 63 GS I, S. 950 f., Anm. 510. 64 Matthias Schneckenburger: Vergleichende Darstellung des lutherischen und reformirten Lehrbegriffs, in zwei Theilen, aus dem handschriftlichen Nachlass zusammengestellt und hrsg. von Eduard Güder, Stuttgart 1855.

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Schneckenburger habe die Unterschiede zwischen lutherischer und reformierter 65 Frömmigkeit unter „Zurückstellung aller Werturteile rein sachlich analysiert“. Die Kritik, die zahlreiche andere protestantische Theologen an Schneckenburger geübt haben, lehnt Weber ausdrücklich ab – mit dem Argument, daß diese Kritik historisch nicht ‚objektiv‘ und nur Ausdruck dogmatischer Vorurteile der Kritiker sei. Besonders massiv wendet sich Weber gegen den einflußreichsten deutschsprachigen protestantischen Theologen des späten 19. Jahrhunderts, gegen den Göttinger Systematischen Theologen und Dogmenhistoriker Albrecht Ritschl. Es spricht vieles für die Vermutung, daß Weber in der programmatischen Bevorzugung Schneckenburgers gegenüber Ritschl durch Ernst Troeltsch beeinflußt worden ist. Denn Ernst Troeltsch hat seine eigene kulturgeschichtliche Sicht des Protestantismus und insbesondere der Differenzen zwischen den protestantischen Konfessionen seit seiner ethikhistorischen Dissertation „Vernunft und Offenbarung bei Johann Gerhard und Melanchthon. Untersuchung zur Geschichte der altprotestantischen Theologie“ (Göttingen 1891) in kritischer Auseinandersetzung mit seinem Göttinger akademischen Lehrer Albrecht Ritschl entwickelt und seit spätestens Ende der neunziger Jahre die „Vergleichende Darstellung“ Matthias Schneckenburgers prononciert gegen Ritschls Geschichtsbild 66 in Anspruch genommen. Hinzu kommt eine bemerkenswerte „Wahlverwandtschaft“ zwischen Schneckenburgers dogmenhistorischem Ansatz und Webers eigenem historiographischen Konzept: Schneckenburger ist in der Darstellung dogmengeschichtlicher Stoffe sehr stark von der Konzentration auf bestimmte religionspsychologische Idealtypen geleitet. In der Entfaltung der Unterschiede zwischen Calvinismus und Luthertum will Schneckenburger „eine in’s Einzelne gehende Nachweisung der Differenzen [. . .] geben, welche in der ursprünglichen Auffassung des religiösen Inhaltes zwischen beiden Confessionen liegen, um diese Verschiedenheiten auf psychologische Gesetze zu reduciren und dar67 aus zu begreifen“. Es dürfte dieser Mechanismus begrifflicher Reduktion, die perspektivische Selektion historischen Materials nach bestimmten psychologischen Idealtypen gewesen sein, die Schneckenburgers dogmenhistorische Pu-

65 Max Weber: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. II. (wie Anm. 35), S. 21. 66 Siehe auch: Ernst Troeltsch: Moralisten, englische (wie Anm. 61), S. 445 in der ursprünglichen Fassung. 67 Matthias Schneckenburger: Die neueren Verhandlungen betreffend das Princip des reformirten Lehrbegriffs, in: Theologische Jahrbücher 7 (1848), zit. nach: Karl Bernhard Hundeshagen: Beiträge zur Kirchenverfassungsgeschichte und Kirchenpolitik insbesondere des Protestantismus, 1. Band, Wiesbaden 1864, Unveränderter Nachdruck Frankfurt a. M. 1963, S. 321 f. Weber nennt diese Arbeit Hundeshagens in: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. II. (wie Anm. 35), S. 17, Anm. 22.

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blikationen zur wichtigsten theologischen Quelle der „Protestantischen Ethik“ haben werden lassen. Von Schneckenburger fasziniert sind Troeltsch und – mit sehr großer Wahrscheinlichkeit: ihm folgend – Max Weber gerade deshalb, weil hier die in der protestantischen Dogmatik-Debatte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts intensiv diskutierte Frage nach der individuellen certitudo salutis, der Rechtfertigungserfahrung und der Heilsgewißheit des einzelnen, in einer psychologischen Begrifflichkeit thematisiert wird, die scharfe idealtypische Kontrastierungen von passiv-quietistischer lutherischer Frömmigkeit einerseits und aktivistisch-reformierter, asketischer Bewältigung der Heilsunsicherheit andererseits beinhaltet und fortzuschreiben ermöglicht. Schneckenburger stammt aus dem württembergischen Luthertum. Er hat keinen akademischen Hintergrund: Sein Vater und seine Großväter sind Landwirte, Kaufleute und Fabrikanten gewesen. Schneckenburger studiert und lehrt Theologie zunächst am Tübinger Stift, dann in Berlin. Nach einer Lehrtätigkeit als Repetent am Tübinger Stift und Pfarramtsdienst in der württembergischen Kirche wird er 1834 als Dreißigjähriger zum ordentlichen Professor für Theolo68 gie an die Hochschule des reformierten Bern berufen. So muß der geborene Lutheraner nun Dogmatik „für das Bedürfnis künftiger Geistlicher der refor69 mirten Kirche“ lehren. Dies führt dazu, daß er ein starkes Interesse für die dogmatischen Unterschiede zwischen dem reformierten Protestantismus der Schweizer und dem deutschen Luthertum entwickelt. Die Analyse der Differenz von Luthertum und Calvinismus wird ihm gleichsam als Lebensthema aufgezwungen. Schneckenburger möchte durch seine theologische Arbeit die Union 68 Zur Biographie Schneckenburgers siehe: Ernst Friedrich Gelpke: Gedächtnißrede auf den Doktor und Professor der Theologie Matthias Schneckenburger, gehalten bei seiner Leichenfeier in der Aula der Hochschule zu Bern den 16. Juni 1848, Nebst der Grabrede von C. Wyss, Bern 1848; Karl Bernhard Hundeshagen: Schneckenburger, Matthias, in: Real-Encyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 2. Aufl., 13. Band, Leipzig 1884, S. 602–608; Manfred Wichelhaus: Kirchengeschichtsschreibung und Soziologie im neunzehnten Jahrhundert und bei Ernst Troeltsch (Heidelberger Forschungen, 9. Heft), Heidelberg 1965, S. 18–23. Wichtige Informationen über die Berner Wirksamkeit des politisch liberalen Schneckenburger auch bei: Andreas Lindt: Karl Bernhard Hundeshagen und Bern. Ein deutscher Theologe in der Frühzeit der Berner Universität, in: Hochschulgeschichte Berns 1528–1984. Zur 150-Jahr-Feier der Universität Bern, Bern 1984, S. 171–186. Zur überaus großen Hochschätzung Schneckenburgers durch Weber siehe auch die Hinweise bei: Hartmann Tyrell: „Das Religiöse“ in Max Webers Religionssoziologie (wie Anm. 38), S. 188 f. und S. 214 ff. Tyrell teilt freilich die affirmative, unhistorische Begeisterung Webers für Schneckenburger und unterschlägt in seinem Bemühen um eine „systematische“ Rekonstruktion der „Protestantischen Ethik“ den hochgradig konstruktiven Charakter von Schneckenburgers konfessionspsychologischer Differenzierung von lutherischer und calvinistischer Frömmigkeit. Siehe auch: Hartmann Tyrell: Protestantische Ethik – und kein Ende, in: Soziologische Revue 17 (1994), S. 397–404, bes. S. 402. 69 Karl Bernhard Hundeshagen: Schneckenburger, Matthias (wie Anm. 68), S. 605.

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zwischen den beiden protestantischen Konfessionen befördern, wie sie in einigen deutschen protestantischen Territorien im zweiten und dritten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts eingeführt worden ist. Diese Union ist in Preußen und anderen Territorien auf massiven Widerstand von Gruppen lutherischer Theologen und Laien gestoßen, die die Nivellierung der Lehrunterschiede zwischen den protestantischen Konfessionen als falsche Aufklärung, bürokratische Gleichmacherei und Zerstörung der zentralen Wahrheiten der lutherischen Überlieferung ablehnen. Gegen die Unionsbestrebungen formiert sich im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert in Deutschland ein konfessionalistisches Neuluthertum, das in 70 neuer Weise die alten Lehrgegensätze gegenüber den Reformierten betont. Dieses Neuluthertum sucht nicht allein im Bereich der kirchlichen Lehre, sondern auch auf der Ebene der Frömmigkeitspraxis eine spezifisch lutherische Identität geltend zu machen. Obgleich Schneckenburger auch als Berner Professor 71 weiter der lutherischen Tradition näher steht, will er mit seiner „comparativen Dogmatik“, der vergleichenden Untersuchung der Lehrdifferenzen zwischen den protestantischen Konfessionen, dieses konfessionalistische Luthertum bekämpfen und einer neuen, besseren Union den Weg bereiten. Seine zentrale These lautet: Die konfessionalistische Kritik der Union habe bei den Lutheranern in Deutschland nur deshalb so breite Zustimmung finden können, weil die Union bisher theologisch unzureichend begründet worden sei. Die führenden Unionstheologen, vor allem der berühmte Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher und seine Schüler, hätten das Gewicht der überkommenen Lehrunterschiede unterschätzt. Nur wer die Tiefe des Gegensatzes zwischen den protestantischen Konfessionen erfasse, könne auch eine Union, eine theologische Überbrückung der überlieferten dogmatischen, ethischen und frömmigkeitsspezifischen Unterschiede zureichend begründen. Max Webers wichtigste theologische Quelle dient dem kirchenpolitischen Programm, die Unterschiede zwischen den protestantischen Konfessionen möglichst profiliert zu erfassen, um gerade so, mit Blick auf die Schärfe der Gegensätze, eine wahre Union begründen zu können. Schneckenburger schreibt Geschichte in praktischer Absicht. Seine vermeintlich rein historische Analyse der Lehrunterschiede zwischen dem Altcalvinismus und Altluthertum des 16. und 17. Jahrhunderts ist stark geprägt von einer innerprotestantischen Konfessionspolemik, wie sie sich überhaupt erst in den Uni72 onsdebatten des 19. Jahrhunderts entwickelt hat. Schneckenburger entwickelt

70 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Schule des Asketismus. Max Webers Ethik der Verantwortung, in: Lutherische Monatshefte 32 (1993), S. 18–22. 71 Hundeshagen spricht bei Schneckenburger von einer „gewissen Vorliebe für den lutherischen Typus“ (Karl Bernhard Hundeshagen: Schneckenburger, Matthias [wie Anm. 68], S. 606). 72 Zum Thema „Schneckenburger und Union“ siehe: Eduard Güder: Vorwort des Herausgebers,

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eine stark typisierende Sichtweise der innerprotestantischen Konfessionsdifferenzen. Calvinismus und Luthertum werden antithetisch gegenübergestellt. Diese Sichtweise ist weithin ein Produkt des 19. Jahrhunderts. Schneckenburger hat seine konfessionspolitischen Interessen in die Vergangenheit zurückprojiziert. Indem Max Weber ihm folgt und Schneckenburgers eindrucksvoll geschlossene Geschichtsdarstellung zu einer ‚objektiven‘, werturteilsfreien Rekonstruktion hypostasiert, übernimmt er ein Bild der Konfessionsdifferenzen im Protestantismus, in dem die komplexe geschichtliche Wirklichkeit des 16. und 17. Jahrhunderts – so wie sie sich in der Perspektive der neueren Konfessionalisierungsforschung derzeit darstellt – nur perspektivisch verengt, in den Abgrenzungsmustern der theologischen Dogmatik des 19. Jahrhunderts wahrgenommen wird. Neuere Forschung zur Konfessionsproblematik in den deutschen Territorien der Frühneuzeit hat gezeigt: Im 16. Jahrhundert hat es noch keine festen Konfessionsgrenzen gegeben. Vielmehr entstehen die konfessionellen Milieus erst in einem langwierigen Prozeß der Formierung konfessioneller Identitäten, durch allmähliche 73 „Konfessionalisierung“. Vor allem auf der Ebene gelebter Religion und Frömmigkeit sind die Differenzen zwischen Katholizismus, Luthertum und Calvinismus sehr viel geringer ausgeprägt gewesen, als es Max Weber in Übereinstimmung mit der protestantischen kirchen- und dogmenhistorischen Literatur des 19. Jahrhunderts suggeriert.

in: Matthias Schneckenburger: Vergleichende Darstellung des lutherischen und reformirten Lehrbegriffs (wie Anm. 64), S. III–XLIII, bes. S. VIII ff. 73 Zur neueren Konfessionalisierungsforschung siehe: Hartmut Lehmann: Das Zeitalter des Absolutismus (Christentum und Gesellschaft, Band 9), Stuttgart 1980; Wolfgang Reinhard: Konfession und Konfessionalisierung in Europa, in: ders. (Hrsg.): Bekenntnis und Geschichte, Augsburg 1981, S. 165–189; Heinz Schilling (Hrsg.): Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – Das Problem der „Zweiten Reformation“, Gütersloh 1986; Hans-Christoph Rublack (Hrsg.): Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland, Gütersloh 1992. Eine am aktuellen Forschungsstand orientierte kritische Analyse des von Ernst Troeltsch entfalteten, von Max Weber in vielem geteilten Bildes des Verhältnisses von Calvinismus und Luthertum im späten 16. und 17. Jahrhundert hat Luise Schorn-Schütte vorgelegt: Ernst Troeltschs „Soziallehren“ und die gegenwärtige Frühneuzeitforschung. Zur Diskussion um die Bedeutung von Luthertum und Calvinismus für die Entstehung der modernen Welt, in: TS 6, S. 133–151. Hier findet sich auch weitere Literatur zur neueren Konfessionalisierungsforschung. Speziell zur neueren Calvinismus-Forschung und ihrer differenzierten Sicht der für Weber (unter dem Einfluß Schneckenburgers und Troeltschs) kennzeichnenden Konzentration auf das Prädestinationsdogma siehe auch die 1993 veröffentlichten Beiträge von David Zaret (The Use and Abuse of Textual Data, S. 245–272), Kaspar von Greyerz (Biographical Evidence on Predestination, Covenant, and Special Providence, S. 273–284) und Philip Benedict (The Historiography of Continental Calvinism, S. 305–325) in dem von Hartmut Lehmann und Guenther Roth herausgegebenen Band der Washingtoner Konferenz von 1990 (vgl. Anm. 1).

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4. Wie hat Schneckenburger den Gegensatz von Calvinismus und Luthertum bestimmt? Sein Ausgangspunkt ist eine bestimmte Zuordnung von theologischer Lehre und religiösem Leben. Auch diese Zuordnung von Dogmatik und Frömmigkeit hat Weber rezipiert. Für Schneckenburger sind die Gegensätze zwischen Calvinismus und Luthertum keineswegs nur Lehrgegensätze. Sie seien sehr viel elementarer Folge einer – wie er in einer von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher entlehnten Terminologie sagt – „Verschiedenheit der frommen Gemüthszustände, und zwar eine[r] tiefe[n] Verschiedenheit in der subjektivsten Region 74 der Frömmigkeit“. Christentum sei primär nicht Lehre, sondern Leben. Die theologische Dogmatik sei nur die sekundäre begriffliche Abstraktion des christlichen Lebens bzw. des frommen Selbstbewußtseins. Schneckenburger sieht in theologischer Lehre also einen Ausdruck „religiöser Psychologie“, einen Reflex frommer Gemütszustände. So will er von dogmatischen Texten her auf die jeweils zugrundeliegende Bestimmtheit des religiösen Bewußtseins zurückschließen. Er fragt, wie sich in der Lehre religiöses Leben spiegelt und was dann wiederum solche Lehre für konkrete religiöse Praxis bedeutet. Dabei konzentriert er sich besonders auf solche Lehren, in denen es um das christliche Subjekt selbst geht, also vor allem auf die Lehre von der Bekehrung und von der Heiligung 75 bzw. vom Gewinn der Seligkeit. Methodisch bedeutet dies: Schneckenburger erklärt dogmatische, lehrhafte Differenzen zwischen den Konfessionen zu Indikatoren für Unterschiede in der religiösen Lebensführung. Für seine überaus materialreiche Geschichtsdarstellung stützt er sich neben den dogmatischen Publikationen von Universitätstheologen auch auf Bekenntnisschriften, Katechis76 men, Bücher für den Religionsunterricht, Predigten und Erbauungsschriften. Sehr viel intensiver als andere protestantische Kirchen- und Dogmenhistoriker des 19. Jahrhunderts hat Schneckenburger Seelsorgeliteratur und religiöses Kleinschrifttum erschlossen, Textgattungen, die Einblicke in die Bewußtseinswelten

74 Matthias Schneckenburger: Vergleichende Darstellung des lutherischen und reformirten Lehrbegriffs (wie Anm. 64), S. 52. 75 Siehe: Eduard Güder: Vorwort des Herausgebers (wie Anm. 72), S. V. 76 So schildert es Karl Bernhard Hundeshagen in seinem Artikel in der „Real-Encyklopädie für protestantische Theologie und Kirche“ (vgl. Anm. 68), S. 606, Anm. 32: „Mit unermüdlichem Fleiß studirt Schneckenburger die Repräsentanten der altkirchlich reformirten Theologie und ihrer unterschiedenen Schulen, und seitdem er die Überzeugung gewonnen, daß fast noch mehr als aus den Symbolen und Kompendien der Geist des reformirten Bekenntnisses aus Katechismen, katechetischen Erläuterungen, Predigt-, Gebet- und sonstigen Erbauungsbüchern zu erheben sei, widmete er sich auch dieser aus Antiquariaten weit und breit aufgestöberten Lektüre, ungeachtet ihrer Trockenheit, mit einer nur ihm eigenen Ausdauer.“

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der Frommen eröffnen. Trotz der Fülle der von ihm erschlossenen Quellen zur Geschichte reformierter und lutherischer Frömmigkeit bleibt jedoch immer eine dogmatische Perspektive, die Deutung der Frömmigkeitspraxis von der theologischen Lehre her, bestimmend. Deutsche kulturprotestantische Theologen haben im 19. Jahrhundert ihren kulturhegemonialen Anspruch, die für Staat und Gesellschaft insgesamt verbindlichen Normen und Wertorientierungen formulieren zu können, auch durch Konstruktionen einer deutschen Nationalgeschichte zu rechtfertigen versucht, in der Luthers Reformation zum zentralen Datum einer spezifisch deutschen Freiheitsgeschichte erklärt wurde. Immer wieder haben die protestantischen Liberalen betont, daß die Reformation dem Eigenrecht des frommen einzelnen gegenüber der Institution der Kirche Geltung verschafft habe. Auch Matthias Schneckenburger erklärt: Im Zentrum des Protestantismus stehe die fromme Sub77 jektivität des einzelnen, das „unmittelbare Selbstbewußtsein“. Folglich muß er Differenzen zwischen den protestantischen Konfessionen als unterschiedliche Auslegungen von Subjektivität rekonstruieren: „wir haben es auf jeder Seite zu thun mit einer anderen Urbestimmtheit des Selbstbewußtseins, angewandt 78 auf die Idee des Gnadenheils“. Auf der Basis der idealistischen Psychologie Schleiermachers differenziert Schneckenburger im Begriff der Subjektvität dazu drei Elemente: Verstand, Wille und Gemüt. Oder er unterscheidet am Subjektivitätsbegriff zwischen den Momenten Selbstbewußtsein und Selbsttätigkeit. Nach diesen psychologischen Kategorien bestimmt er die Differenz zwischen reformierter und lutherischer Frömmigkeit dann folgendermaßen: Das reformierte Subjekt wisse sich wesentlich nur als Intellekt und Wille, wohingegen sich das lutherische Subjekt vorrangig in der tieferen Einheit dieser beiden Elemente, im Gemüt bewege. In der Sprache der idealistischen, von Schleiermacher geprägten Subjektivitätstheorie liest sich diese Verknüpfung von lutherischem Geist und „Gemütstiefe“ dann so: Der „lutherische Lehrbegriff“ stelle sich „als diejenige doktrinelle Gestalt des Christenthums heraus, welche sich vom Standpunkte des überwiegenden Selbstbewusstseins, der reformirte als diejenige, welche sich 79 vom Standpunkte der überwiegenden Selbstthätigkeit aus ergibt“. In der reformierten Frömmigkeit herrschten „die thätigen Zustände vor den ruhenden“ vor, wohingegen beim Lutheraner „das ruhende zuständliche Bewußtsein“ dominie80 re. Mit Blick auf die Lebensführung des Frommen unterscheidet Schneckenbur77 Matthias Schneckenburger: Vergleichende Darstellung des lutherischen und reformirten Lehrbegriffs (wie Anm. 64), S. 159. 78 Ebd., S. 159. 79 Eduard Güder: Vorwort des Herausgebers (wie Anm. 72), S. XXXVI. 80 Matthias Schneckenburger: Vergleichende Darstellung des lutherischen und reformirten Lehrbegriffs, Erster Theil (wie Anm. 64), S. 158.

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ger Calvinismus und Luthertum also nach dem Schema Aktivität – Rezeptivität, Gestalten und Empfangen. Dem entsprechen konfessionstypologische Unterscheidungsfiguren wie „verständig“ und „mystisch“, „praktisch“ und „quietistisch“, 81 „republikanisch“ und „konservativ“. Schon Schneckenburgers Zeitgenossen haben die gedankliche Konsequenz bewundert, mit der der Berner Theologe diese Unterscheidung bis in die Subtilitäten einzelner theologischer Lehren hinein verfolgt bzw. aus dogmatischen Lehrunterscheidungen abzuleiten versucht hat. Selbst für ein hochabstraktes theologisches Konstrukt wie die Lehre von den drei Ämtern Jesu Christi sucht er nachzuweisen, daß die hier bestehenden tiefen dogmatischen Gegensätze zwischen Lutheranern und Reformierten Folge der gegensätzlichen religiösen Psychologie seien. Dabei ist entscheidend, daß Schneckenburger in den materialen dogmatischen Passagen seiner Vorlesungen der Lehre von der Prädestination für die Reformierten eine Zentralstellung zuerkennt: Die „Verschiedenheit der frommen Gemüthszustände [. . .] hängt causativ mit dem Prädestinationsdogma 82 als seiner Wirkung zusammen“. Die Prädestination stehe keineswegs zum spezifisch reformierten Weltbemächtigungsaktivismus im Widerspruch. Sie habe diesen gerade entscheidend gefördert und geprägt. Die reformierte Lehre von der doppelten Gnadenwahl habe eine Unsicherheit über den Gnadenstand bewirkt. Diese Heilsunsicherheit habe nur durch eine „Probe der Bethätigung“, durch 83 ethischen Aktivismus, in Heilsgewißheit umgewandelt werden können. Andere protestantische Theologen des 19. Jahrhunderts, die die Unterschiede zwischen lutherischer und reformierter Theologie und Frömmigkeit analysiert haben, haben diese These Schneckenburgers bestritten. So haben etwa der ebenfalls in der Schweiz lehrende Vermittlungstheologe Karl Bernhard Hundeshagen, ein Berner Kollege und enger Freund Schneckenburgers, und ihm folgend zahlreiche andere reformierte Dogmatiker und Kirchenhistoriker erklärt, es gebe schon deshalb keinen inneren Zusammenhang zwischen der Prädestinationsvorstellung und der sittlichen Lebensführung der reformierten Frommen, weil die Prädestination nur ein hochabstraktes Theologendogma gewesen sei. Die reformierte Lehre von der doppelten Gnadenwahl sei bloß ein dogmatisches Konstrukt von theologischen Eliten, von Universitätsgelehrten, gewesen und habe die Frömmigkeit des Volkes gar nicht geprägt. Max Weber hat diese Kritik an Schneckenburgers religionspsychologischer Deutung des Prädestinationsdogmas

81 Belege bei Manfred Wichelhaus: Kirchengeschichtsschreibung und Soziologie im neunzehnten Jahrhundert und bei Ernst Troeltsch (wie Anm. 68), S. 22 f. 82 Matthias Schneckenburger: Vergleichende Darstellung des lutherischen und reformirten Lehrbegriffs, Erster Theil (wie Anm. 64), S. XLVI. 83 Ebd., S. 159.

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gekannt. Gleichwohl folgt er Matthias Schneckenburger und macht sich dessen zentrale These zu eigen, daß es für „den reformierten Frommen“ im Gegensatz zum lutherischen Gläubigen kennzeichnend sei, durch ethischen Aktivismus Heilsgewißheit erlangen zu wollen. Insoweit ist Ernst Troeltschs Behauptung zutreffend, daß das Entscheidende an Webers Analyse des asketischen Prote84 stantismus bereits von Schneckenburger vorbereitet worden sei. Schon der Aufbau der „Protestantischen Ethik“ ist durch eine bestimmte Grundunterscheidung von Luthertum und Calvinismus geprägt: Das Luthertum habe zwar den weltlichen Beruf religiös aufgewertet. Doch bleibe lutherische Frömmigkeit traditional: Sie sei quietistisches „Sich-Schicken“ in vorgegebene 85 Autoritäten. So trage sie nichts zur Entstehung jener protestantischen Askese bei, die indirekt ökonomische Modernisierung, die Durchsetzung des modernen rationalen Betriebskapitalismus gefördert habe. In diesem Bild vom traditionalen Luthertum einerseits und vom modernisierenden Calvinismus andererseits folgt Weber jener psychologischen Antithese von Aktivität/Passivität, wie sie für Schneckenburgers Konstruktion grundlegend ist. Besonders deutlich zeigt dies seine Interpretation des Methodismus, die trotz Webers breiter Berücksichtigung des von anderen Dogmenhistorikern präsentierten historischen Materials im Entscheidenden durch Schneckenburgers Kategorien bestimmt ist. Im ausdrücklichen Anschluß an Schneckenburgers Argumentation verweist Weber auf die potentielle Mehrdeutigkeit des Versuchs der Reformierten, die Unsicherheit über 86 den Gnadenstand zu überwinden. Schneckenburger hatte betont: Reformiertes Berufsbewußtsein könne keineswegs nur zu aktivem Heiligungsstreben führen.

84 „Auf den Begriff des ‚asketischen Protestantismus‘ wäre ich allerdings ohne Weber nicht in größerer Klarheit gekommen, als dieser Begriff schon bei Schneckenburger und Ritschl vorbereitet ist. Man braucht übrigens die Werke dieser beiden hervorragend scharfsinnigen und kenntnisreichen Gelehrten nur genau zu studieren, um auf den Begriff geführt zu werden.“ (GS I, S. 950 f., Anm. 510; vgl. Ernst Troeltsch: Moralisten, englische [wie Anm. 61], S. 393 f. in der erweiterten Fassung). 85 Zu Webers Einschätzung des Luthertums, gerade auch in Hinblick auf die Folgen im Politischen, vgl. Max Weber: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. II. (wie Anm. 35), S. 36 f., bes. Anm. 74 (dort auch Zitat); vgl. Harry Liebersohn: Fate and Utopia in German Sociology (wie Anm. 32). 86 Weber schreibt in „Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus. II.“ (wie Anm. 35), S. 60: „Der emotionelle Charakter der [zu ergänzen: methodistischen] Religiosität führte daher nicht zu einem innerlichen Gefühlschristentum nach Art des deutschen Pietismus. Daß dies mit der [. . .] geringeren Entwicklung des Sündengefühls zusammenhängt, hat schon Schneckenburger gezeigt und ist ein stehender Punkt in der Kritik des Methodismus geblieben.“ Vgl. dazu ebd., Anm. 120a: Weber spricht davon, daß der „oft ausgeprägt pathologische Charakter der methodistischen Emotion im Gegensatz zu der relativ milden Gefühlsmäßigkeit des Pietismus wohl [. . .] vielleicht auch mit stärkerer asketischer Durchdringung des Lebens“ zusammenhängt.

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Der Methodismus zeige, daß sich „der Ernst des Heiligungskampfes“ auch „in ein antinomistisches Schwelgen in der Zuversicht oder bei anderer Charakter88 bildung in eine Frechheit des geistlichen Hochmuths“ auflösen könne . Indem Weber auf die „geringere Entwicklung des Sündengefühls“ bei den Methodisten 89 hinweist, macht er sich Schneckenburgers theologische Kritik methodistischer Frömmigkeit ausdrücklich zu eigen und funktionalisiert sie im Sinne seiner Kritik des Luthertums. Auf der doppelten Folie eines quietistischen Luthertums einerseits und einer theologischen Verkehrung reformierter Frömmigkeit im Methodismus andererseits erstrahlt dann die kulturprägende Bedeutung des „Heiligungskampfes“ der theologisch legitimen Gestalt reformierter Frömmigkeit, vor allem des Puritanismus, desto heller. In der Perspektive eines heutigen Betrachters hat Webers Übernahme der theologischen Werturteile Schneckenburgers allerdings eine problematische Folge: Die Leitbegriffe der religiösen Psychologie, mit denen Schneckenburger die Unterschiede von lutherischer und reformierter Frömmigkeit beschreibt, schließen es von vornherein aus, auch modernisierende Potentiale im Luthertum wahrzunehmen. Weber bleibt schon im Ansatz auf eine starre Antithetik festgelegt, die es ihm verwehrt, mögliche produktive Anteile lutherischer Tradition in den Prozessen der Formierung der modernen bürgerlichen Gesellschaft zu würdigen. Besonders deutlich illustriert dies seine scharfe Polemik gegen die LuthertumsDeutung Albrecht Ritschls. In ausdrücklichem Gegensatz zu Schneckenburger hat Ritschl lutherische Frömmigkeit primär vom Begriff der „Berufstreue“ her interpretiert. Nicht Quietismus und passives Sich-Fügen in vorgegebene Ordnungen, sondern ethischer Aktivismus und eine sittliche Energie entbindende Frömmigkeit seien für die lutherische Tradition kennzeichnend. Indem Max Weber mit den religionspsychologischen Idealtypen Schneckenburgers auch bestimmte theologische Werturteile übernimmt, kann er die möglichen produktiven Leistungen von Ritschls Luthertumsdeutung überhaupt nicht wahrnehmen.

87 Webers Behandlung des Methodismus in „Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus. II.“ (wie Anm. 35), S. 57 ff., hier vgl. bes. S. 60 f., Anm. 120a. 88 Matthias Schneckenburger: Vorlesungen über die Lehrbegriffe der kleineren protestantischen Kirchenparteien, aus dem handschriftlichen Nachlass hrsg. von Karl Bernhard Hundeshagen, Frankfurt a. M. 1863, dort Kap. IV: Der Methodismus, S. 103–151, Zitat S. 144. In der „Protestantischen Ethik“ ist der Vorname Schneckenburgers falsch wiedergegeben als J. Schneckenburger, siehe: Max Weber: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. II. (wie Anm. 35), S. 59, Anm. 115, dagegen wird korrekt M. Schneckenburger geschrieben, wenn dessen „Vergleichende Darstellung“ genannt wird. 89 Max Weber: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. II. (wie Anm. 35), S. 60.

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5. Max Weber hat sich intensiv mit Publikationen Albrecht Ritschls sowie mit dogmengeschichtlichen Einzelstudien verschiedener Kirchenhistoriker aus der Schule Ritschls auseinandergesetzt. Weber stützt sich auf Ritschls systematisches Hauptwerk „Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung“, das in erster Auflage 1870 bis 1874 erschienen ist; er benutzt die 1889 erschienene, zum Teil überarbeitete dritte Auflage. Weiterhin bezieht er sich auf 90 Ritschls sehr materialreiche dreibändige „Geschichte des Pietismus“, das da91 malige „Standardwerk“ der Pietismus-Forschung, und eine Aufsatzsammlung 92 des Göttinger Theologen . Dabei würdigt er ausdrücklich die „Großartigkeit 93 der gedanklichen Schärfe“ des „große[n] Gelehrten“ und folgt Ritschls großer Pietismus-Geschichte in vielen historischen Einzelheiten. Im Entscheidenden, in der Unterscheidung von reformierter und lutherischer Frömmigkeit sowie in der Wertung der Kulturbedeutung des asketischen Protestantismus, vertritt Weber jedoch eine gegenüber Ritschls Geschichtsbild konträre Sicht. Zugespitzt formuliert: Die „Protestantische Ethik“ läßt sich auch als ein Gegenentwurf zu Albrecht Ritschls Bestimmung des Verhältnisses von lutherischem Protestantismus und moderner bürgerlicher Gesellschaft in Deutschland lesen. Keinen anderen Autor kritisiert Weber im Anmerkungsapparat der „Protestantischen Ethik“ so häufig 94 und polemisch wie Ritschl. Im Zentrum dieser Kritik steht die These, daß Ritschl in seine historische Darstellung „kirchen- oder vielleicht besser gesagt: religionspolitisch orientierten 95 Werturteile“ hineintrage. Dies gelte insbesondere für die Sicht des Luthertums: „Was [. . .] für ihn aus der großen Mannigfaltigkeit der religiösen Gedanken und Stimmungen, schon bei Luther selbst, als ‚lutherische‘ Lehre gilt, scheint oft

90 Albrecht Ritschl: Geschichte des Pietismus, 3 Bände, Bonn 1880–1886, ND Berlin 1966. 91 So Max Weber, siehe: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. II. (wie Anm. 35), S. 49, Anm. 92. 92 Otto Ritschl (Hrsg.): Gesammelte Aufsätze von Albrecht Ritschl, Freiburg i. Br., Leipzig 1893. 93 Max Weber: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. II. (wie Anm. 35), S. 5 und S. 40, Anm. 76. 94 Siehe ebd., S. 5, S. 9, S. 21, S. 31, S. 40, S. 46 f., S. 49 f., S. 52, S. 61–63, S. 89 und S. 91. Inwieweit er dabei von Troeltsch beeinflußt ist, läßt sich aus Webers Text nicht erkennen. Troeltsch, der 1886 bis 1888 bei Ritschl studierte, hat seit den frühen neunziger Jahren seine kritische Sicht der Geschichte des deutschen Luthertums zunehmend im Medium einer ausführlichen Kritik seines Göttinger Lehrers formuliert. In den Grundmustern der Ritschl-Kritik gibt es zwischen Troeltsch und Weber ein hohes Maß an Übereinstimmung, doch ist Webers Kritik an Ritschl aggressiver und politischer. 95 Ebd., S. 40; siehe ebd., S. 5.

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durch Werturteile festgestellt: es ist Das, was für Ritschl dauernd wertvoll am Luthertum ist. Es ist Luthertum, wie es (nach R.) sein sollte, nicht immer, wie es 96 war“. Noch schärfer kritisiert Weber dann Ritschls überaus kritische Deutung der „Wiedertäufer“ des 16. Jahrhunderts und der pietistischen Reformbewegungen des 17. und 18. Jahrhunderts. Ritschl messe Pietismus und Täufertum an einem theologischen Maßstab, der eine unverstellte Sicht der historischen Phänomene von vornherein ausschließe: an einem idealisierten Bild der Reformation Luthers. Weber sieht in Ritschl einen Philister, der weder für den apokalyptischen Glauben der Täufer einen Sinn habe noch auch die asketische Strenge des Pietismus zu würdigen wisse. Ritschls Kritik der täuferischen Bewegungen 97 lasse einen „theologischen ‚Bourgeoisstandpunkt‘“ erkennen. Ritschl versteht seine historischen Forschungen als integralen Teil seines systematischen Programms. Umgekehrt entwickelt er seine dogmatische Position primär im Medium einer dogmengeschichtlichen Darstellung der zentralen Lehren des Protestantismus, der Lehren von der Rechtfertigung und Versöhnung. So sind in allen seinen Arbeiten die Grenzen zwischen Historischem und Systematischem fließend. Ritschl entwirft ein Bild der Geschichte des Protestantismus, das stark von normativen theologischen Annahmen bzw. von politischen Inter98 essen geleitet ist. Er möchte mit seiner Theologie sowohl den „Kulturkampf“, den von den deutschen Liberalen und insbesondere der preußischen Regierung unter Bismarck geführten Kampf gegen die römisch-katholische Minderheit der Bevölkerung, als auch den Kampf gegen die kirchenfeindliche Sozialdemokratie unterstützen. Diese doppelte politische Frontstellung gegen den römischen 96 Ebd., S. 6. 97 Ebd., S. 62, Anm. 123. – Diese kritische Stilisierung Ritschls zum Bürgertheologen ist möglicherweise durch Troeltsch beeinflußt. Jedenfalls begegnet sie auch bei dem Ritschl-Kritiker Troeltsch. In den „Soziallehren“ schreibt Troeltsch dann: „Das in seiner Weise großartige Werk Ritschls beruht auf der scharfen Erkenntnis des sektenhaften Charakters des Pietismus und eröffnet aus diesem Grunde vom Standpunkt des vollendeten Bourgeois und Kirchenmannes gegen ihn eine Polemik, die wegen ihres geradezu inquisitorischen Scharfsinns von höchster Bedeutung ist“ (GS I, S. 831 f., Anm. 459). – Die Polemik gegen den theologischen Bourgeois findet sich auch bei Franz Overbeck, aber erst in einer später veröffentlichten, äußerst problematischen Auswahl aus dem im Nachlaß überlieferten „Kirchenlexikon“ (siehe: Franz Overbeck: Christentum und Kultur. Gedanken und Anregungen zur modernen Theologie, aus dem Nachlaß hrsg. von Carl Albrecht Bernoulli, Basel 1919). 98 Zur politischen Dimension des Werkes Albrecht Ritschls siehe: Manuel Zelger: Modernisierte Gemeindetheologie: Albrecht Ritschl (1822–1889), in: Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.): Profile des neuzeitlichen Protestantismus (wie Anm. 39), S. 182–204; Helga Kuhlmann: Die theologische Ethik Albrecht Ritschls, München 1992. Gegenüber einer politischen Kritik skeptisch, aber mit wichtigen Hinweisen auf Ritschls dezidiertes „Preußentum“: Jörg Baur: Albrecht Ritschl – Herrschaft und Versöhnung, in: Bernd Moeller (Hrsg.): Theologie in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe (Göttinger Universitätsschriften Serie A: Schriften, Band 1), Göttingen 1987, S. 256–270.

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Katholizismus und gegen die Sozialdemokratie prägt auch seine Geschichtsauffassung. Geschichtsschreibung hat für den entschiedenen Preußen eine Legitimationsfunktion im Weltanschauungskampf: Sie soll die prinzipielle Überlegenheit des national-liberalen Protestantismus über den Katholizismus und die Sozialdemokratie begründen. In einer berühmten akademischen Rede zum „vierten Saeculartage der Geburt Luthers“ am 10. November 1883 und in zahlreichen ethischen Publikationen hat Ritschl erklärt: Der neue Nationalstaat, das aus dem Kampf gegen das katholische Frankreich hervorgegangene Deutsche Reich von 1870/71, könne nur auf einer liberalprotestantischen Wertebasis Bestand haben. Römischer Katholizismus wie Sozialdemokratie seien international orientiert und verträten Kulturwerte, die den Nationalstaat schwächten. Beide repräsentierten darüber hinaus Gestalten des Christentums, die seit der Reformation definitiv überholt seien. Der Katholizismus sei seinem Wesen nach traditional und rückschrittlich: Er repräsentiere die mittelalterliche Gestalt des Christentums, in der eine universale Kirche Staat und Kultur zu beherrschen versuche und alle Ansätze zu einer relativen Eigenständigkeit des bürgerlichen Lebens unterdrücke. Auch die Sozialdemokratie verkünde eine Weltanschauung, die im Verhältnis zur Reformation historisch überholt sei: Die sozialistische Hoffnung auf Revolution und Schaffung einer neuen Welt stelle nur eine säkularisierte Spätgestalt jenes utopischen Glaubens an eine innerweltliche Realisierung des Reiches Gottes dar, den im 16. Jahrhundert die „Wiedertäufer“ verkündet hätten. Demgegenüber repräsentiert der Kulturprotestantismus für Ritschl das Prinzip gelungenen kulturellen Fortschritts. Die Reformatoren, vor allem Martin Luther, hätten ein neues Verständnis christlicher Freiheit erschlossen. Sie hätten der neutestamentlichen Einsicht neue Geltung verschafft, daß in Gottes universellem Gnadenwillen der Mensch als Sünder prinzipiell gerechtfertigt sei, ohne dazu eigene religiöse oder ethische Leistungen erbringen zu müssen. Unter den Bedingungen der Sünde sei der Mensch unfrei, gebunden an seine Kreatürlichkeit und an die natürliche Welt. Als Gerechtfertigter wisse er sich zu einer geistigen Herrschaft über die Welt befreit. Der römische Katholizismus habe eine Freiheit von der Welt gelehrt. In seiner weltfeindlichen Ethik seien Mystik, religiöse Askese und Kontemplation die zentralen Werte, so daß die Hinwendung zu Gott gleichbedeutend sei mit der Flucht aus konkreter weltlicher Verantwortung. Demgegenüber verstehe der Protestantismus Freiheit als sittliche Weltbemächtigung. Er habe Staat, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft und bürgerliches Alltagsleben von den Herrschaftsansprüchen der Kirche befreit und die Arbeit in der Welt als wahren Gottesdienst zu verstehen gelehrt. Frömmigkeit realisiere sich für Luther nicht in der Abwendung von der Welt, sondern im weltlichen Gottesdienst bzw. im „Beruf“. Nicht der Mönch, der sich Gott durch religiöse Askese und Rückzug aus der Alltagswelt zu nähern suche, sei der ideale

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Christ. Gelungenes Christsein verwirkliche sich, indem jeder einzelne seine je besonderen weltlichen Aufgaben als von Gott auferlegte Pflichten anerkenne und mit religiöser Hingabe, in sittlicher „Berufstreue“ erfülle. Für Ritschl ist der Protestantismus gerade deshalb die Religion des Fortschritts, weil er der Arbeit in den säkularen Institutionen bzw. dem Engagement für die Hebung der Kultur eine religiöse Würde zuerkannt habe. Diese Deutung reformatorischer Freiheit als ethischer Weltbemächtigung dient ihm zur Legitimation des Anspruchs, daß der Staat ein protestantischer Kulturstaat sein und der nationalliberale Protestantismus Leitkultur der deutschen Gesellschaft des Kaiserreiches werden müsse. Entschlossen adressiert der Göttinger Theologe seine Theologie deshalb an die bürgerlichen Eliten, die im Kampf gegen die überkommenen feudal-ständischen, partikularistischen Kräfte Fortschritt durch sittliche Freiheit, industrielle Weltbemächtigung und preußisch-protestantische Reichseinigung herbeizuführen suchen. Ziel seiner theologischen Arbeit sei es, so erklärt Ritschl, daß „die aufge99 klärten Leute der Gegenwart“ wieder „eine gebildete persönliche Überzeugung 100 vom Werthe des Christenthums“ gewinnen können. In Ritschls Bild des Protestantismus treten die innerprotestantischen Konfessionsunterschiede zwischen Reformierten und Lutheranern konsequent hinter den gemeinprotestantischen Gegensatz gegen den römischen Katholizismus zurück. Wie Schneckenburger möchte Ritschl die Union zwischen Lutheranern und Reformierten fördern und das Einheitsbewußtsein der Protestanten stärken. Im Zentrum seiner dogmengeschichtlichen Arbeiten steht ein „Wesen“ oder „Prinzip“ des Protestantismus, das Reformierte und Lutheraner miteinander verbindet und alle innerprotestantischen Lehrgegensätze übergreift. Schon in der Methode der Darstellung werden die innerprotestantischen Konfessionsunterschiede zwischen Lutheranern und Reformierten zugunsten des allgemein Protestantischen relativiert. Der normative Ursprung des Protestantismus, der reformatorische Protest Luthers und dann auch Zwinglis und Calvins, lasse erkennen, daß es eine substantielle praktische Einheit des Protestantismus gebe. Gewiß bestünden in einzelnen dogmatischen Lehren signifikante Unterschiede zwischen Reformierten und Lutheranern. Ungleich gewichtiger sei jedoch eine elementare Übereinstimmung im Zentrum der Frömmigkeit und in der religiösen Ethik. Im Rechtfertigungsglauben und in der ethischen Konkretion des neuen Erlösungsbewußtseins stimmten Luther, Calvin und Zwingli überein; Differenzen in der dogmatischen Begriffsbildung seien demgegenüber sekundär. Alle Reformatoren lehnten das Askese-Ideal des spätmittelalterlichen Mönchtums und weltflüchtige 99 Otto Ritschl: Albrecht Ritschls Leben, Zweiter Band: 1864–1889, Freiburg i. Br., Leipzig 1896, S. 79. 100 Ebd., S. 71.

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Mystik – für Ritschl eine dem originären Christentum fremde Fehlgestalt religiösen Bewußtseins, die er aus der hellenistischen Überfremdung des Christlichen herleitet – ab. Auch stimmten sie darin überein, den weltlichen „Beruf“ ins Zentrum der religiösen Lebensführung zu rücken. Calvin und Zwingli hätten ausdrücklich Luthers ethischer Grundeinsicht zugestimmt, daß die treue Erfüllung der im jeweiligen „Stand“ gegebenen Berufspflichten der wahre Gottesdienst des Christen sei. Luther ist für Ritschl der wahre Modernisierer, dem Calvin und Zwingli nur gefolgt sind. Ritschls Deutung lutherischer Frömmigkeit ist Webers Bild des Luthertums diametral entgegengesetzt. Zwar folgt Weber Ritschl – und der an Ritschls Darstellung sich eng anschließenden dogmengeschichtlichen Spezialliteratur zu 101 Luthers Ethik – darin, daß er „Luthers Berufskonzeption“ einen hohen kulturgeschichtlichen Stellenwert zuerkennt und die Hochschätzung des weltlichen Berufes zur zentralen ethischen Leistung aller protestantischen Konfessionen 102 gegenüber dem Katholizismus erklärt . Auch spricht vieles für die Vermutung, daß er in seiner kritischen Sicht der „Mystik“ sowie der prononcierten Entgegensetzung von „Mystik“ und „innerweltlicher Askese“ durch Ritschls polemische 103 Abwertung mystischer Frömmigkeit geprägt ist. Weber teilt zudem Stereotypen kulturprotestantischer Katholizismus-Kritik, wie Ritschl sie theologisch legitimiert hat: Für Ritschl wie für Weber sind die Katholiken traditional, fortschrittsfeindlich und kulturell „inferior“. Indem Weber Schneckenburgers religionspsychologischer Grundunterscheidung von Aktivität/Passivität folgt, betont er jedoch praktische Kontinuitäten zwischen Katholizismus und Luthertum: Das Luthertum stelle eine defizitäre Gestalt protestantischer Frömmigkeit dar, die auf der Ebene der „Lebensführung“ dem katholischen Traditionalismus näher stehe als dem ethischen Aktivismus der Reformierten. Um seines prononcierten Antikatholizismus willen ist Ritschl demgegenüber daran interessiert, Brüche zwischen dem spätmittelalterlichen Katholizismus und Luthers Reformation hervorzuheben. Aus Luthers Entdeckung des weltlichen Berufes leitet er die Behauptung ab, daß das recht verstandene Luthertum, der originäre Protestantismus Luthers, eine Frömmigkeit darstelle, die hohe sittliche Energien freisetze. In Ritschls Sicht sind für das Luthertum nicht Quietismus und passives Sich-Fügen in vorgegebene Ordnungen kennzeichnend, sondern ethische Weltbemächtigung bzw. religiös motivierte Förderung der säkularen Kultur.

101 Siehe: Karl Eger: Die Anschauung Luthers vom Beruf, Gießen 1900. 102 Max Weber: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. I. Das Problem, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 20 (1905), S. 1–54, hier S. 35–54. 103 Siehe auch: Hubert Treiber: Im Westen nichts Neues (wie Anm. 51), S. 295 f.

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Mit dieser Hochschätzung der kulturgestaltenden Potenzen des Luthertums verbindet Ritschl eine scharfe Kritik all jener protestantischen Bewegungen, deren Frömmigkeit durch mystische Introspektion und Weltabwendung bestimmt ist. Daß Ritschl den Pietismus zu einem Schwerpunkt seiner historischen Forschungen macht, ist theologisches Programm: Die historische Darstellung dient einer grundlegenden theologischen Kritik pietistischer Frömmigkeit. Aus dem Spektrum der innerhalb des Protestantismus legitimen Frömmigkeitsformen sollen all jene ausgegrenzt werden, die noch „mittelaltrig“ sind, etwa seelenschwelgerische mystische Herzensfrömmigkeit im Sinne Zinzendorfs (eines protestantischen Erben des Bernhard von Clairvaux), die „apokalyptische Quackelei“ mit ihren politisch revolutionären Implikationen sowie alle Spielarten eines kir104 chenzerstörenden religiösen Separatismus („Sekten“!). Ausdrücklich verfolgt Ritschl ein politisches Interesse: Der nationalliberale, emphatisch preußischprotestantische Ritschl möchte dem lutherischen Konfessionalismus – in seinen Augen ist dies die Ideologie eines kleindeutsch-reichsfeindlichen Partikularismus – bzw. den politisch konservativen alten Herrschaftseliten ihre protestantische Legitimationsbasis nehmen. Im Medium einer theologie- und frömmigkeitsgeschichtlichen Darstellung möchte er zeigen, daß die lutherischen Konservativen in Staat und Kirche den Geist der Reformation verraten hätten und eine religiöse Gesinnung pflegten, die noch mittelalterlich, römisch-katholisch sei. Eine Kontinuität zwischen der pietistischen „Mystik“ und dem lutherischen Konservatismus sieht Ritschl vor allem durch die Erweckungsbewegung des frühen 19. Jahrhunderts gegeben. Den Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts verdächtigt Ritschl, eine Rekatholisierung des Protestantismus betrieben zu haben. Die Pietisten hätten sich zwar als legitime Erben von Luthers Reformation verstanden und den Anspruch erhoben, die evangelische Kirche im Geiste der Reformation zu erneuern. In der breiten Aufnahme mystischer Frömmigkeitstraditionen und der neuen Hochschätzung der Askese stelle der Pietismus aber eine Perversion reformatorischer Weltfrömmigkeit dar. Die Bildung von Konventikeln und religiösen Kleingruppen, in denen sich die besonders Frommen von der Masse der übrigen Gläubigen abgrenzen, zerstörte den reformatorischen Kirchenbegriff bzw. die Vorstellung vom allgemeinen Priestertum der Gläubigen. Kontemplation, Gefühlsseligkeit und mystische Devotion führten zu neuer Werkgerechtigkeit, d. h. zur Vorstellung, sich die Rechtfertigung durch religiöse Leistung und fromme Askese erwerben zu können. Die Tendenz, sich in der religiösen Kleingruppe, im Konventikel bzw. in der Gemeinschaft der wenigen wahrhaft Frommen, von der Welt abzugrenzen, widerspräche der reformatorischen Einsicht, daß der gerechtfertigte 104 Vgl. Jörg Baur: Albrecht Ritschl (wie Anm. 98), S. 263.

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Sünder seinen Glauben vorrangig im weltlichen Berufe zu verwirklichen habe. So sei der Pietismus im Kern ein Rückfall in den römischen Katholizismus. Für den reformierten Pietismus gelte dies in besonders starkem Maße. Ritschl sieht in den pietistischen Reformbewegungen keine Träger geschichtlichen Fortschritts, sondern Kräfte der Beharrung. Dem diametralen Gegensatz zwischen Ritschls und Webers Deutungen des Luthertums entspricht also ein nicht minder scharfer Gegensatz in der Einschätzung der „Kulturbedeutung“ des „asketischen Protestantismus“: Ritschl konstruiert eine Kontinuitätslinie zwischen römischem Katholizismus und asketischem Protestantismus. Weber sieht umgekehrt das Luthertum durch Kontinuität zum katholischen Traditionalismus bestimmt. Für ihn stellt der asketische Protestantismus die einzig konsequente protestantische Antithese zur römisch-katholischen Frömmigkeit dar. Dieser Gegensatz der Geschichtsbilder ist auch – aber keineswegs: nur! – Ausdruck eines tiefen politischen Gegensatzes. Ritschl will die Integrationskrisen der deutschen Gesellschaft des Kaiserreiches durch eine innere Erneuerung des Luthertums überwinden. Ein national gesinntes, liberales lutherisches Bürgertum, das sich am originären Prinzip der Reformation Luthers, der protestantischen Freiheit zur prinzipiengeleiteten Weltbemächtigung, orientiere, erklärt er zur wichtigsten Kraft kulturellen Fortschritts. Weber sieht in der lutherischen Tradition demgegenüber jene Macht, die die politische Emanzipation des deutschen Bürgertums verhindere und die Befangenheit in Traditionalismus und Autoritätsglauben auf Dauer stelle. Für ihn gibt es politische Modernisierung und sozialen Fortschritt nur gegen das Luthertum. In der Pietismus-Forschung ist seit Troeltsch und Weber immer wieder auf die Grenzen von Ritschls Geschichtsbild hingewiesen worden. Seine pauschale Kritik pietistischer Frömmigkeit, die These vom Rückfall in den Katholizismus, gilt als ein dogmatisches Konstrukt, das der komplexen historischen Wirklichkeit nicht gerecht wird. Insoweit hat Weber mit seiner Kritik an Ritschls „religionspolitischen Werturteilen“ recht. Dies bedeutet jedoch nicht, daß Weber selbst ein rein objektives Geschichtsbild entworfen habe und seine Darstellung von Werturteilen frei sei. Die Intensität seiner Polemik gegen Ritschl läßt erkennen, wie sehr auch sein Bild des Protestantismus von bestimmten normativen Urteilen bestimmt wird. Zumindest in einer, entscheidenden Hinsicht dürften die Leitbegriffe von Ritschls Geschichtskonzeption zur Erschließung der Frömmigkeitsgeschichte des älteren lutherischen wie reformierten Protestantismus geeigneter sein als die idealtypischen Begriffe Max Webers. Ritschl hat immer wieder betont, daß für alle christliche Frömmigkeit die enge Bindung an die Gemeinde grundlegend sei. Religiöse Heilsgewißheit könne es für den einzelnen nur vermittelt durch die Gemeinschaft der Frommen geben. „Der Rechtfertigung des Einzelnen oder vielmehr seinem Rechtfertigungs-

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bewußtsein geht [. . .] die Rechtfertigung oder Gründung der Gemeinde voran“. Programmatisch will Ritschl „der Idee der Gemeinde ihre constitutive Bedeutung 106 für die gesamte Lehrauffassung verschaffen“. Für seine Geschichtsdarstellung ist deshalb die Orientierung an der Gemeinde bzw. an der empirischen Kirche grundlegend. Diese Konzentration auf die christliche Gemeinde läßt verstehen, warum er die protestantischen Sekten und die Bildung religiöser Kleingruppen im Pietismus so scharf ablehnt. Schon aufgrund seiner psychologischen Kategorien, wegen der Zentralstellung des Begriffs der frommen Subjektivität, hat Schneckenburger demgegenüber das Bewußtsein der Erlösung unabhängig vom Bezug auf die Gemeinde definiert. Zwar ist Schneckenburger von der Sozialethik der Reformierten fasziniert gewesen: An Bern beeindrucken ihn gerade die enge Verwobenheit von kirchlichem und politischem Leben sowie das System der sozialen Fürsorge für Alte und Kranke, das aus dem Geiste praktischer Nächstenliebe entstanden ist. Der begrifflichen Struktur seiner Argumentation nach vertritt Schneckenburger aber einen religiösen Individualismus. In seiner „vergleichenden Darstellung“ steht der reformierte „Einzelne [. . .] im Kampf um die Heilsgewißheit unabhängig 107 von der Kirche letztlich ganz für sich selbst“. Schneckenburger unterscheidet lutherische und reformierte Frömmigkeit gerade danach, wie hier jeweils das Verhältnis des einzelnen zu Gott bestimmt wird. Die Gemeinde tritt völlig hinter den frommen einzelnen zurück. Ritschl hat Schneckenburgers systematische Position und seine Geschichtsdarstellung primär wegen dieser starken Orientierung am religiösen Individuum abgelehnt. Weber aber dürfte Schneckenburger gerade wegen dieses Individualismus zustimmend rezipiert und Ritschl wegen seiner Gemeindeorientierung abgelehnt haben. Doch ist Schneckenburgers und Webers Bild, der einzelne Fromme stehe völlig allein, auf sich selbst zurückgeworfen vor 108 dem verborgenen Gott des Prädestinationsdogmas, historisch plausibel? Spielen denn der gemeinsame Gottesdienst, die Einbindung des einzelnen in eine Kultgemeinde und Gemeinschaft der Betenden für den Aufbau des individuellen Erlösungsbewußtseins keine Rolle? Wird das religiöse Leben in den protestanti105 Brief Albrecht Ritschls an Ludwig Diestel vom 5. Dezember 1867, in: Otto Ritschl: Albrecht Ritschls Leben (wie Anm. 99), S. 47. 106 Brief Albrecht Ritschls an Ludwig Diestel vom 2. Januar 1868, in: ebd., S. 48; vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Der „Systematiker“ der „Kleinen Göttinger Fakultät“. Ernst Troeltschs Promotionsthesen und ihr Göttinger Kontext, in: TS 1, S. 235–290, hier S. 279–290, in diesem Band unten, S. 153–213, hier S. 201–213. 107 Belege bei Manfred Wichelhaus: Kirchengeschichtsschreibung und Soziologie im neunzehnten Jahrhundert und bei Ernst Troeltsch (wie Anm. 68), S. 21. 108 Siehe: Hartmut Lehmann: Asketischer Protestantismus und ökonomischer Rationalismus (wie Anm. 48).

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schen Gemeinden nicht durch einen hohen Vergemeinschaftungsdruck geprägt? Ist der pathetische Individualismus, der Schneckenburgers und Webers Bild des Frommen prägt, nicht eher ein spezifisches Produkt des 19. Jahrhunderts? Solche Fragen gewinnen ein besonderes Gewicht vor dem Hintergrund der kontroversen Diskussionen um Ritschls Gemeindetheologie, wie sie zur Zeit Webers geführt worden sind. Vor allem die Theologen der „Religionsgeschichtlichen Schule“ und hier insbesondere Ernst Troeltsch haben das Verhältnis von Indivi109 duum und Glaubensgemeinschaft ins Zentrum ihrer Kritik an Ritschl gerückt. Gegen Ritschl haben sie das Recht auf religiösen Individualismus eingeklagt. Ist dann auch das Bild des Frommen, das Weber zeichnet, nur ein Konstrukt jenes liberalen Protestantismus, der ihn auch noch in agnostischer Distanz zum Kirchenglauben der lutherischen Anstaltskirche geprägt hat? Ist seine Hoch110 schätzung des heroischen einzelnen – sein „ethischer Personalismus“ bzw. 111 sein „asketischer humanistischer Individualismus“ – das „religionspolitische Werturteil“, das dem Geschichtsbild der „Protestantischen Ethik“ – im Sektenaufsatz liegen die Dinge bekanntlich anders, da Weber hier sehr viel stärker die vergemeinschaftenden Tendenzen von Frömmigkeit betont – Kontur verleiht?

6. Der Streit um die „Protestantische Ethik“ hat sich in der englischsprachigen Welt seit einigen Jahren auf die Frage zugespitzt, inwieweit Webers historische Urteile heute noch Geltung beanspruchen können. Verschiedene nordamerikanische und britische Autoren haben darauf hingewiesen, wie problematisch viele Urteile Webers im Lichte der neueren sozial- und kulturhistorischen Calvinismusforschung sind. Dies hat umgekehrt Apologeten Webers auf den Plan gerufen, die bis ins einzelne hinein die historischen Ableitungen in der „Protestantischen 112 Ethik“ zu verteidigen unternommen haben. Mit Blick auf den skizzierten theologischen Kontext der „Protestantischen Ethik“ erscheint dieser Streit weithin als sinnlos. Findet in der Interpretation 109 Siehe: Friedrich Wilhelm Graf: Der „Systematiker“ der „Kleinen Göttinger Fakultät“ (wie Anm. 106), S. 279–290, in diesem Band unten, S. 201–213. 110 Wilhelm Hennis: Die Spuren Nietzsches im Werk Max Webers (wie Anm. 51), S. 388. 111 Wolfgang J. Mommsen, Wolfgang Schluchter: Einleitung, in: Max Weber: Wissenschaft als Beruf (wie Anm. 12), S. 1–46, hier S. 42. 112 Dafür kann der in der Zeitschrift „Telos“ geführte Disput als exemplarisch gelten; siehe: Guy Oakes: Farewell to „The Protestant Ethic“, in: Telos 78 (1988/89), S. 81–94; ders.: Four Questions Concerning „The Protestant Ethic“, in: Telos 81 (1989), S. 77–86; Luciano Pelliciani: Reply to Guy Oakes, in: Telos 81 (1989), S. 63–76.

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der „Protestantischen Ethik“ die von Weber verarbeitete theologische Literatur Berücksichtigung, verliert die Frage an Interesse, inwieweit Weber mit seinen einzelnen historischen Annahmen tatsächlich recht gehabt hat. In den Vordergrund treten dann seine konzeptionelle Leistung und die methodologischen Probleme seiner Analyse. M. Rainer Lepsius hat in seiner prägnanten Analyse der „Zurechnungsproblematik bei Max Weber“ darauf hingewiesen, in welch starkem Maß Webers kultursoziologische Forschung von der Rezeption des Fachwissens über einzelne Kulturbereiche abhängig ist: Der Kultursoziologe bleibe „auf Experten für die jeweiligen Kulturbestände angewiesen und muß doch in der Lage sein, deren Ergebnisse so umzuformen, daß sie für seine Fragestellung verwendbar werden. Das bedeutet aber, daß er selbst ein hohes Maß an Wissen 113 über diese Kulturbereiche erwirbt.“ In der „Protestantischen Ethik“ zeigt sich dies besonders deutlich. Max Weber hat sich wie kein anderer Kultursoziologe des 20. Jahrhunderts auf den Diskurs der Theologen eingelassen. Läßt sich das Deutungsprogramm der „Protestantischen Ethik“ dann überhaupt verstehen, ohne sich selbst auf den Fachdiskurs einzulassen? Die Wahrnehmung der theologischen Debatten, die Webers Arbeit an der „Protestantischen Ethik“ geprägt haben, erlaubt es zumindest, den Streit um die historische Sachgemäßheit von Webers Darstellung zu entdramatisieren. Die Frage nach der hermeneutischen Erschließungskraft der leitenden Kategorien Webers bzw. der analytischen Leistungskraft seiner Idealtypen dürfte sehr viel produktiver sein als Kontroversen um einzelne historische Ableitungen. Das Ernstnehmen der fachwissenschaftlichen Kontexte schützt Weber wie seine Interpreten vor unhistorischer Kritik: Wie sollte von Weber ein Wissen um die theologische Lehre, Ethik und die Frömmigkeit des „asketischen Protestantismus“ erwartet werden können, über das um 1900 in Deutschland nicht einmal die einschlägigen „Fachmenschen“, die protestantischen Universitätstheologen, verfügt haben?

113 M. Rainer Lepsius: Interessen und Ideen. Die Zurechnungsproblematik bei Max Weber, in: Friedhelm Neidhardt, M. Rainer Lepsius, Johannes Weiß (Hrsg.): Kultur und Gesellschaft (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 27), Opladen 1986, S. 20–31, hier S. 22, wieder abgedruckt in: M. Rainer Lepsius: Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, S. 31–43, hier S. 34.

Teil B: Ernst Troeltsch

Der „Systematiker“ der „Kleinen Göttinger Fakultät“. Ernst Troeltschs Promotionsthesen und ihr Göttinger Kontext I. Einleitung 1. 1904 veröffentlichte der damals in Halle lehrende Dogmatiker Max Reischle unter dem Titel „Theologie und Religiongeschichte“ „Fünf Vorlesungen“, die er im Oktober 1903 auf einem Ferienkurs für Pfarrer der Hannoverschen Landeskirche gehalten hatte. Reischle, der in der theologischen Öffentlichkeit als ein durchaus eigenständiger Repräsentant der sogenannten „Ritschlschen Schule“ galt, setzte sich hier vor allem mit einem seiner Fachkollegen auseinander. Zwar galt seine Kritik überhaupt denen, die den „Ruf ‚religionsgeschichtliche Methode!‘ [. . .] heutzutage in der Theologie mit lautem, oft etwas gellendem Ton“ 1 ertönen lassen. Doch den Halleschen Systematiker interessierten primär nicht 2 Wilhelm Bousset und Hermann Gunkel. Seine Kritik zielte vielmehr auf einen Vertreter des eigenen Faches. Denn der „allgemeinere Sinn der neuen Losung wurde [. . .] auf den umfassendsten Begriff gebracht durch einen Systematiker, 3 durch Ernst Tröltsch“. Der „Religionsgeschichtlichen Theologie“ liege „eine gewisse Gesamtanschauung“ von Religion und Christentum zugrunde, und sie

1 Max Reischle: Theologie und Religionsgeschichte. Fünf Vorlesungen gehalten auf dem Ferienkurs in Hannover im Oktober 1903, Tübingen, Leipzig 1904, S. 1. 2 Gunkel und Bousset betrachtet Reischle als die wichtigsten exegetischen Repräsentanten der „Schule“. Johannes Weiß wird nur ein einziges Mal erwähnt – in einer Reihe mit Spitta, Baldensperger, Holtzmann und Everling, d. h. nicht als Mitglied der „Schule“, sondern als jemand, der ihrer Ansicht vorgearbeitet habe (ebd., S. 5). – Neben Bousset und Gunkel bezieht Reischle sich noch auf Wilhelm Heitmüller, Paul Wernle und Heinrich Weinel, die im Sinne des von Bousset und Gunkel formulierten Programms die „religionsgeschichtliche Arbeitsweise“ (ebd., S. 23) an einzelnen Themen spezifizierten. 3 Ebd., S. 11. – Dieser Bezugnahme auf Troeltsch liegen voraus: Max Reischle: [Rez.] Theologische Arbeiten aus dem rheinischen wissenschaftlichen Predigerverein, Neue Folge, 4. Heft, Tübingen und Leipzig 1900, in: Theologische Literaturzeitung 26 (1901), Sp. 336–338; ders.: Historische und dogmatische Methode der Theologie, in: Theologische Rundschau 5 (1901), S. 261–275 und S. 305–324. Auf letztere Abhandlung seines „Kritiker[s]“ aus den „Reihen der Ritschl’schen Schule“ bezieht Troeltsch sich in der Absolutheitsschrift zurück: Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte und zwei Schriften zur Theologie (Siebenstern-Taschenbuch 138), München, Hamburg 1969, Anm. S. 62 f. und S. 15, jetzt in: KGA 5,

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setze eine bestimmte „Grundstimmung“ voraus, deren systematische Voraussetzungen und Folgen Troeltsch zu formulieren unternommen habe. Die Kritik der „Strömung“ zeitgenössischer Theologie, die im Begriff von Religionsgeschichte sich selbst auslegt, muß insofern primär an Troeltsch sich adressieren, als dieser „systematisch die leitenden Gedanken der religionsgeschichtlichen Methode 5 herausstellte“. Diese Intention Reischles drückte einer seiner Rezensenten, Hermann Gunkel, dann in einer höchst einprägsamen Formulierung aus: „Troeltsch, 6 der Systematiker unter den ‚Religionshistorikern‘“. Diese Charakteristik fand erstaunlich schnell Verbreitung. Schon 1913 konnte Martin Rade konstatieren: „Als Systematiker der rg. Sch. ist unter den Jüngeren 7 Ernst Troeltsch von Freund und Feind begrüßt worden“. Die intensive Debatte um die „Religionsgeschichtliche Schule“ hatte zur Folge, daß die Rede von Troeltsch als dem ‚Systematiker‘ bzw. ‚Dogmatiker der religionsgeschichtlichen Schule‘ zu einer Formel sich verselbständigte, die es erlaubte, von Troeltsch zu reden, ohne auf die materiale Ausarbeitung seines theologischen Programms

S. 81–244, hier S. 161, Anm. 1, und S. 96. Reischles Vorträge von 1903 gehören insofern in den Kontext der breiten, bisher nicht erforschten Debatte um die Absolutheitsschrift. 4 Max Reischle: Theologie und Religionsgeschichte (wie Anm. 1), S. 10. 5 Ebd., S. 11. – Mit dieser Formulierung spielt Reischle vermutlich auf die im zeitgenössischen Diskussionskontext stark beachtete Troeltsch-Kritik Friedrich Traubs an, der unter dem Eindruck von Troeltschs Niebergall-Kritik „der Idee einer [. . .] religionsgeschichtlichen Theologie“ programmatisch widersprach (Friedrich Traub: Die religionsgeschichtliche Methode und die systematische Theologie. Eine Auseinandersetzung mit Tröltschs theologischem Reformprogramm, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 11 [1901], S. 301–340, hier S. 303). 6 Hermann Gunkel: [Rez.] Max Reischle: Theologie und Religionsgeschichte. Fünf Vorlesungen, gehalten auf dem Ferienkurs in Hannover im Oktober 1903, Tübingen 1904, in: Deutsche Literaturzeitung 25 (1904), Sp. 1100–1110, hier Sp. 1101. Seit Martin Rades Behauptung, daß diese Rezension „am bündigsten“ über „die Ziele der rg.lichen Schule“ informiere (Martin Rade: Religionsgeschichte und Religionsgeschichtliche Schule, in: RGG, 4. Band, Tübingen 1913, Sp. 2183–2200, hier Sp. 2186), wird sie immer wieder als die Äußerung der „Schule“ gegenüber der ihr von Seiten der Ritschlianer widerfahrenden Kritik verstanden. Das ist insofern illegitim, als auch Reischles Fachkollege die Auseinandersetzung mit einer Rezension fortführte: Ernst Troeltsch: [Rez.] Max Reischle: Theologie und Religionsgeschichte. Fünf Vorlesungen, gehalten auf dem Ferienkurs in Hannover im Oktober 1903, Tübingen 1904, in: Theologische Literaturzeitung 29 (1904), Sp. 613–617, jetzt in: KGA 4, S. 340–347. Troeltsch konzentriert sich hier auf eine Zurückweisung von Reischles Kritik „der von mir vertretenen vergleichenden geschichtsphilosophischen Würdigung“ der Religionen (Sp. 616 bzw. KGA 4, S. 346). 7 Martin Rade: Religionsgeschichte und Religionsgeschichtliche Schule (wie Anm. 6), Sp. 2189. Vgl. dazu die möglicherweise von Rades Formulierung abhängige Aussage Karl Bornhausens: „[. . .] sehr bald wurde er [sc. Troeltsch] als der führende systematische Kopf der Religionsgeschichtlichen Schule [. . .] begrüßt“ (Karl Bornhausen: Troeltsch, Ernst, in: RGG, 5. Band, Tübingen 1913, Sp. 1360–1364, hier Sp. 1360).

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sich eigens beziehen zu müssen. Die Verwendung der Formel implizierte den Gewinn von Eindeutigkeit vor allem in historischer Hinsicht. In ihr war der geschichtliche Ort Troeltschs festgelegt, indem sie seine Theologie zum Ausdruck eines bestimmten Schulstandpunktes und zugleich zu einem Moment innerhalb eines größeren schulischen Ganzen erklärte. Vor allem da, wo die exegetische Theologie des 20. Jahrhunderts sich über ihre eigene Geschichte zu verständigen suchte, wurde – und wird noch – die Formel mit einer gleichsam präreflexiven Selbstverständlichkeit tradiert und als Chiffre des Begriffs von Troeltschs Theologie verwendet. Am vorläufigen Ende der – ja noch relativ kurzen – Überlieferungsgeschichte dieser Formel steht schließlich die Behauptung: „Bekannt ist, daß Ernst Troeltsch sich den ‚Systematiker der religionsgeschichtlichen Schu8 9 le‘ nannte.“ Da mir dies nicht bekannt ist, wird im folgenden danach gefragt, inwieweit die Formel Troeltschs Selbstverständnis adäquat zum Ausdruck zu 10 bringen vermag bzw. inwieweit hier eine „Kritik der Überlieferung“ geboten ist. Dabei sollen die Standards der Rekonstruktion von „Überlieferung“ Berücksichtigung finden, die durch jene „Schule“ der neueren Theologie definiert wurden, die hier, freilich ausschließlich in Hinblick auf die Stellung des jungen Troeltsch in ihr, thematisch ist.

2. Troeltsch als Dogmatiker der religionsgeschichtlichen Schule zu sehen, legte sich für das historisch exegetische Bewußtsein der Theologie wohl auch deshalb nahe, weil es damit zugleich eine Interpretation der Entstehung der „Religions8 Carsten Colpe: Die religionsgeschichtliche Schule. Darstellung und Kritik ihres Bildes vom gnostischen Erlösermythus, Göttingen 1961, S. 9, Anm. 1. 9 Vgl. vor allem den bekannten, 1913 zunächst im „American Journal of Theology“ erschienenen Aufsatz „Die Dogmatik der ‚religionsgeschichtlichen Schule‘“ (GS II, S. 500–524). Troeltsch macht sich die Fremdbezeichnung nicht direkt zu eigen. Zum „Ausdruck ‚Religionsgeschichtliche Schule‘“ heißt es: „Der Verfasser dieser Zeilen gilt dabei als der Systematiker und Dogmatiker dieser Richtung. Insoferne mag es mir allerdings zukommen, die liebenswürdige Anfrage der Redaktion des ‚American Journal of Theology‘ zu beantworten, welchen Sinn eine Dogmatik unter den Voraussetzungen und im Sinne dieser Schule haben könne“ (S. 500). Vgl. auch GS I, S. 935 f., Anm. 504a. 10 Ernst Troeltsch: [Rez.] Max Reischle (wie Anm. 6), Sp. 614, jetzt in: KGA 4, S. 343. – Die von Henning Paulsen: Traditionsgeschichtliche Methode und religionsgeschichtliche Schule, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 75 (1978), S. 20–55, vertretene These, daß nach 1895/96 „die weiteren Arbeiten der religionsgeschichtlichen Schule“ durch „Tendenzen“ bestimmt seien, „die durchweg an dem Verschwinden der Termini ‚Überlieferungs-‘ bzw. ‚Traditionsgeschichte‘ zu erkennen“ sind (S. 37), findet an Troeltschs Sprachgebrauch keine Bestätigung.

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geschichtlichen Schule“ verbinden konnte, die die Konstitution des Neuen in der Theologiegeschichte zu einer produktiven Leistung seiner selbst zu erklären erlaubte. In der Deutung der Genese der „Schule“ ist ein Interpretationsmuster herrschend geworden, welches aus der Differenz von ‚historisch‘ und ‚systematisch‘ seine eigentümliche Deutungskraft bezieht. Durch Ablösung von einer noch dogmatischen Bestimmtheit gewinne das historische Bewußtsein die Möglichkeit zu einer wirklichkeitsgerechten ‚unverstellten‘ und ‚freieren‘ Sicht des geschichtlichen Materials. Der eigentümliche Anspruch der Exegeten der „Religionsgeschichtlichen Schule“, als konsequente Historiker „voraussetzungslose 11 Wissenschaft“ zu treiben, wird in der Theologiegeschichtsschreibung dahingehend bestätigt, daß gerade die Autonomisierung des historischen Bewußtseins, seine Emanzipation von den dogmatischen Präsumtionen der Theologie Ritschls, es gewesen sei, die neue Einsichten in den wahren Begriff des (Ur-)Christentums ermöglicht und insofern schließlich auch eine systematische Neuorientierung der Theologie provoziert hätte. Dafür kann paradigmatisch die Deutung stehen, die Johannes Weiß erfahren hat, der heute in aller Regel zur „Schule“ gezählt 12 wird. Der durch „Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes“ hinsichtlich der Klärung des Reich-Gottes-Begriffes erbrachte Fortschritt wird als Destruktion eines dogmatischen Sprachgebrauchs durch Aufweis seiner historischen Illegitimität verstanden; durch eine von systematischen Prämissen nicht restringierte Entäußerung an das historische Material habe der Exeget Ritschl bzw. überhaupt „den systematischen Theologen [. . .] die Hauptbelege“ ihres ethisierenden „Sprachge13 brauchs“ entzogen und den ursprünglichen, eschatologischen Gehalt von Jesu Reich-Gottes-Vorstellung zu erkennen ermöglicht. Dann kann dem „Systematiker“ der Schule nur die Aufgabe zukommen, die durch die historischen Einsichten der Exegeten evidente Krisis der Dogmatik Ritschls in einer neuen Dogmatik produktiv zu verarbeiten. Immer wieder wird

11 Wilhelm Bousset: Jesu Predigt in ihrem Gegensatz zum Judentum. Ein religionsgeschichtlicher Vergleich, Göttingen 1892, S. 9. – Zum Begriff vgl. auch Ernst Troeltsch: Voraussetzungslose Wissenschaft, in: Die Christliche Welt 15 (1901), Sp. 1177–1182, auch in: GS II, S. 183–192; ders.: Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft, in: Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie 51 (N. F. 16) (1909), S. 97–135, hier S. 100–102, auch in: GS II, S. 193–226, hier S. 195–197. 12 Werner Georg Kümmel: Weiß, Johannes, in: RGG, 3. Aufl., 6. Band, Tübingen 1962, Sp. 1582 f.; Karl Prümm: Johannes Weiss als Darsteller und religionsgeschichtlicher Erklärer der paulinischen Botschaft. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der Entmythologisierung, in: Biblica 40 (1959), S. 815–836; Gerhard Wolfgang Ittel: Urchristentum und Fremdreligionen im Urteil der Religionsgeschichtlichen Schule, Diss. masch. Univ. Erlangen, 1956, S. 39 ff. 13 Rolf Schäfer: Das Reich Gottes bei Albrecht Ritschl und Johannes Weiß, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 61 (1964), S. 68–88, hier S. 75.

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denn auch unterstellt, Troeltsch sei erst sehr spät zur Schule gestoßen: „Troeltsch hatte zunächst den geringsten Kontakt mit dem Kreis und erschloß sich erst ab 1895 ganz den religionsgeschichtlichen Gedankengängen, um dann allerdings 14 der ‚Dogmatiker der religionsgeschichtlichen Schule‘ zu werden“. Dieses Urteil verdankt sich jedoch nicht einer historischen Einsicht in die Anfänge der Schule, die trotz der schon 1913 von Rade erhobenen Forderung, die „Vorgeschichte 15 der rg. Sch.“ zu untersuchen, noch nicht einmal in Ansätzen erforscht sind, sondern einer – problematischen – Zuordnung von historischer und systematischer Tätigkeit von Theologie, die unterstellt, daß es die spezifische Aufgabe des Systematikers ist, unter den Bedingungen des von den Historikern produzierten neuen Wissens um das Christentum nachgängig eine Systematik zu konzipieren, in die jenes Wissen konstitutiv eingeht. Im folgenden wird gezeigt, daß in Hinblick auf Troeltsch und die Exegeten der „Schule“ dieses Schema – es dürfte sich um eine dogmatische Präsumtion des historischen Bewußtseins handeln – unangemessen ist. Auch seine Vergegenständlichung in der Auskunft, Troeltsch 16 sei zur Schule „erst später“ hinzugekommen, bleibt dem tatsächlichen Hergang, so wie er sich in einer ersten vorläufigen Annäherung zeigt, äußerlich.

3. Schon die Informationen, die die einschlägigen Lexikonartikel bieten, belegen deutlich den Mangel an Eindeutigkeit, der mit der Verwendung des Begriffs „Reli17 gionsgeschichtliche Schule“ in der Theologie sich verband und noch verbindet. Was theologiehistorische Klassifikationsbegriffe leisten sollen, die konkrete Mannigfaltigkeit eines in seiner Totalität an sich nicht überschaubaren historischen Prozesses zu strukturieren, leistet der Begriff gerade nicht. Vielmehr erzeugt seine Verwendung Diffusität, was deutlich am Fehlen eines Konsenses darüber

14 Werner Klatt: Hermann Gunkel. Zu seiner Theologie der Religionsgeschichte und zur Entstehung der formgeschichtlichen Methode (Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments 100), Göttingen 1969, S. 21, Anm. 17. 15 Martin Rade: Religionsgeschichte und Religionsgeschichtliche Schule (wie Anm. 6), Sp. 2190. 16 Werner Klatt: Hermann Gunkel (wie Anm. 14), S. 21. Otto Eißfeldt: Religionsgeschichtliche Schule, in: RGG, 2. Aufl., 4. Band, Tübingen 1930, Sp. 1898–1905, hier Sp. 1898, zählt Troeltsch demgegenüber zur „ersten Generation“, der er fälschlicherweise auch Heitmüller und Wernle zurechnet, die sich bereits als Schüler Boussets verstanden. 17 Vgl. neben den Artikeln von Rade (wie Anm. 6) und Eißfeldt (wie Anm. 16) Johannes Hempel: Religionsgeschichtliche Schule, in: RGG, 3. Aufl., 5. Band, Tübingen 1961, Sp. 991–994, und die bei Ittel (wie Anm. 12), S. 16 ff. („Der Begriff der ‚religionsgeschichtlichen Schule‘“) genannte Literatur.

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sich zeigt, wer eigentlich zu dieser „Schule“ – die bekanntlich nicht durch die Bindung an einen Lehrer konstituiert wurde – zu rechnen ist: In der neueren Literatur finden sich zum Teil absurde Zuordnungen; Namen hingegen, die sehr viel 18 eindeutiger der Schule zuzurechnen sind, fehlen. Der diesbezüglichen Vorsicht etwa Boussets und Gunkels folgend wird der Begriff hier deshalb ausschließlich auf die jüngeren Göttinger Theologen bezogen, die innerhalb eines relativ kurzen Zeitraumes – Februar 1888 bis Februar 1893 – in Göttingen zum Lizentiaten der Theologie promoviert wurden und jeweils unmittelbar nach ihrer Promotion sich für verschiedene Fächer der Theologie habilitierten. Wenn überhaupt die Rede von einer „Religionsgeschichtlichen Schule“ innerhalb der Theologie sinnvoll sein soll, d. h. eine Leistung zur Erfassung des inneren Verlaufs der höchst komplexen Geschichte der protestantischen Theologie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erbringen will, muß man sie zunächst auf jene Gruppe junger Göttinger beziehen. Nur so kann die „Religionsgeschichtliche Schule“ – wie von 19 Hermann Gunkel verlangt – als „eine durchaus innertheologische Bewegung“ 20 verstanden werden. „Eine Schule entsteht nicht von ohngefähr“. Doch schon seit den Tagen der „Religionsgeschichtlichen Schule“ gibt es keinen Konsens darüber, durch welche älteren Theologen die jüngeren positiv angeregt wurden; so ist, um nur ein Beispiel zu nennen, immer noch umstritten, inwieweit der seit 1869 in Göttingen lehrende Paul de Lagarde, der selbst die Aufhebung der 21 Theologie in Religionsgeschichte vertreten hatte, die Jüngeren zu beeinflussen vermochte. Desgleichen liegen auch die Motive noch im Dunkeln, die die Ausbildung einer gemeinsamen Vorstellung davon beförderten, was in der Theologie zu tun sei; die abstrakt allgemeinen Hinweise auf Faszination durch historisches Denken, Begeisterung für Thomas Carlyle etc. geben nicht zu erkennen, worin 18 Das gilt vor allem von Heinrich Hackmann, der selbst bei Klatt (wie Anm. 14) überhaupt nicht und bei Anthonie Frans Verheule: Wilhelm Bousset. Leben und Werk. Ein theologiegeschichtlicher Versuch, Amsterdam 1973, nur kurz genannt wird (S. 12 und S. 329, Anm. 1) – obgleich Troeltsch ihn ausdrücklich zur „kleinen Fakultät“ zählte (Ernst Troeltsch: Die „kleine Göttinger Fakultät“ von 1890, in: Die Christliche Welt 34 [1920], Sp. 281–283, hier Sp. 283). Hackmann gilt als einer der „ältesten Vertreter“ der deutschen Sinologie und Buddhismus-Forschung (Eduard Erkes: Heinrich Hackmann †, in: Artibus Asiae 32 [1930], Nr. 1, S. 272–275). 19 Hermann Gunkel: Die Richtungen der alttestamentlichen Forschung, in: Die Christliche Welt 36 (1922), Sp. 64–67, hier Sp. 66. Vgl. ders.: Was will die „religionsgeschichtliche“ Bewegung?, in: Deutsch-Evangelisch. Monatsblätter für den gesamten deutschen Protestantismus 5 (1914), S. 385–397, hier S. 386. Bei „religionshistorische[r] Forschung“ überhaupt, etwa im Sinne einer „Allgemeinen Religionsgeschichte“, handelt es sich demgegenüber „weniger um eine innertheologische Bewegung“ (Hermann Gunkel: [Rez.] Max Reischle [wie Anm. 6], Sp. 1102). 20 Martin Rade: Religionsgeschichte und Religionsgeschichtliche Schule (wie Anm. 6), Sp. 2190. 21 Hans-Walter Schütte: Theologie als Religionsgeschichte. Das Reformprogramm Paul de Lagardes, in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie 8 (1966), S. 111–120.

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das Besondere des die jungen Göttinger verbindenden Theologieverständnisses zu sehen ist. Noch weniger bekannt ist schließlich, wie es „in der Mitte der 22 achtziger Jahre“ zu jenem „Freundeskreis junger Theologen“ kam, der dann Theologiegeschichte machen sollte, wie man sich kennenlernte und wie man miteinander verkehrte, wie die persönlichen Beziehungen innerhalb des Kreises waren bzw. wer schon damals zu ihm gehörte, und vor allem: wie der wissenschaftliche Austausch sich vollzog, der dazu führte, daß man schließlich „wir“ 23 24 sagte und von sich als „wissenschaftliche[n] Freunde[n]“ sprach. „Über die 25 Anfänge der ‚Religionsgeschichtlichen Schule‘ [. . .] wissen wir nicht eben viel.“ Folgt man dem Verständnis kritischer Geschichtsforschung, das damals in Göttingen in ersten Ansätzen entwickelt wurde, verdienten aber gerade diese Anfänge unser besonderes Interesse; denn, so Troeltsch, der „originale Sinn einer histori26 schen Erscheinung ist in den Ursprüngen am kräftigsten und reinsten erhalten“. Troeltschs „Thesen [. . .] zur Erlangung der Theologischen Licentiatenwürde“ stammen zwar nicht aus den ersten Anfängen der „Schule“, stehen ihnen zeitlich gesehen aber doch so nahe, daß sie das Dunkel jener frühen Jahre ein wenig zu erhellen vermögen. Da bei Troeltschs Disputation Alfred Rahlfs und Wilhelm Bousset als Opponenten auftraten, legt es sich nahe, ihre bisher teil27 weise als verschollen geltenden Thesen zum Vergleich heranzuziehen. Denn, um noch einmal Troeltsch zu bemühen, „erst durch Vergleichung [. . .] lernen wir 28 29 verstehen“ . Solche „Vergleichung“, in der die jungen Göttinger einen entscheidenden Grundzug ihrer historischen Arbeit sahen, ist desto mehr geboten, als

22 Hermann Gunkel: Die Richtungen der alttestamentlichen Forschung (wie Anm. 19), Sp. 66. 23 Hermann Gunkel: [Rez.] Max Reischle (wie Anm. 6), Sp. 1109. 24 Ebd., Sp. 1104. Troeltsch spricht von „Genossen“ (Die „kleine Göttinger Fakultät“ von 1890 [wie Anm. 18], Sp. 282 f.). 25 Werner Klatt: Ein Brief von Hermann Gunkel über Albrecht Eichhorn an Hugo Greßmann, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 66 (1969), S. 1–6, hier S. 1. 26 Ernst Troeltsch: Was heißt „Wesen des Christentums“?, in: GS II, S. 386–451, hier S. 413. 27 Vgl. Anthonie Frans Verheule: Wilhelm Bousset (wie Anm. 18), S. 13, Anm. 4. 28 Ernst Troeltsch: [Rez.] Max Reischle (wie Anm. 6), Sp. 616, jetzt in: KGA 4, S. 346; vgl. ders.: Die Religion im deutschen Staate, in: GS II, S. 68–90, hier S. 68. 29 „Vergleichung“ ist einer der wichtigsten Begriffe der jungen Göttinger. Vgl. neben dem Troeltsch-Zitat etwa Wilhelm Bousset: Jesu Predigt in ihrem Gegensatz zum Judentum (wie Anm. 11), S. 6 f., S. 9 u. ö., und Hermann Gunkel: „Geschichtliche Exegese heißt [. . .] die Erklärung aus dem Zusammenhang“ (Reden und Aufsätze, Göttingen 1913, S. 26). Vgl. ders.: Die Religionsgeschichte und die alttestamentliche Wissenschaft. Sonderausgabe aus dem Protokoll des 5. Weltkongresses für Freies Christentum und Religiösen Fortschritt, Berlin 1910, S. 11 ff., und William Wrede: „Erklären aber heißt, in den Zusammenhang einer geschichtlichen Entwicklung stellen“ (Das theologische Studium und die Religionsgeschichte. Vortrag im Neuen theol. Verein zu Breslau am 2.11.1903, in: ders.: Vorträge und Studien, Tübingen 1907, S. 64–83, hier S. 75).

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nur fünf Monate vorher Troeltsch zusammen mit William Wrede gegen Boussets Thesen opponiert hatte. Weil Wrede nur eine Woche nach Troeltsch seine Thesen gegen die Einwände von Johannes Weiß und Heinrich Hackmann verteidigen mußte, sind auch diese in den Vergleich einzubeziehen; bei Hackmann opponierten Rahlfs und Bousset, bei Rahlfs aber mußten Hackmann und Bousset die Kritikerargumente vorbringen. Zu den Einsichten, mit denen diese jungen Göttinger das methodische Selbstverständnis und die Forschungspraxis der historischen Disziplinen der Theologie revolutionierten, gehört insbesondere die in die historische Vermitteltheit überlieferter literarischer Dokumente. Im Gegenzug gegen ein Verständnis historisch-kritischer Exegese, das insofern an das pure Gegebensein der Texte fixiert blieb, als sie diese nahezu ausschließlich in der Perspektive von Literarkritik analysierte, insistierten sie mit Nachdruck auf der geschichtlichen Konstitution aller literarischen Dokumente in dem Sinne, daß ein jeder Text von Hause aus in einem bestimmten lebensweltlichen und Traditionszusammenhang steht, der rekonstruiert werden muß, soll die Deutung des Textes wirklich historisch sein. Troeltschs Promotionsthesen nicht von seinen späteren Publikationen her, sondern in bezug auf die gleichzeitigen Promotionsthesen der anderen jungen Göttinger zu interpretieren, macht also mit der Kontextualität des Textes Ernst. Sie stellen die mögliche „Umwelt“ – um einen 30 vor allem von Gunkel verwendeten signifikanten Ausdruck zu gebrauchen – von Troeltschs Thesen dar. Die Angemessenheit dieser Kontextualisierung kann sich nur durch ihre Ergebnisse rechtfertigen. Dabei ist ein primärer von einem sekundären Kontext der Thesen Troeltschs zu unterscheiden. Da Bousset und Wrede im gleichen Semester wie Troeltsch zum Lic. theol. promoviert wurden, 31 waren ihre Thesen Troeltsch gewiß bekannt. Entsprechendes gilt für die Thesen von Rahlfs, dessen Disputation zu Beginn des folgenden Sommersemesters stattfand. Weil Troeltsch am 18. Februar 1893, als Hackmann vor der Fakultät auftrat, bereits in Bonn war, kann nicht unterstellt werden, daß ihm diese Thesen bekannt waren. Insofern bilden sie zusammen mit den Thesen von Johannes Weiß

30 Vgl. Henning Paulsen: Traditionsgeschichtliche Methode und religionsgeschichtliche Schule (wie Anm. 10), S. 23–26. 31 An Boussets Disputation nahm Troeltsch als Opponent teil; da die Thesen jeweils vier Wochen vor der Disputation ausgehängt wurden, konnten die Göttinger Studenten drei Wochen lang Troeltschs und Wredes Thesen direkt miteinander vergleichen. Zu ihren Disputationsterminen vgl. Thesen zur Erlangung der theologischen Lizentiatenwürde an der Georg-Augusts-Universität zu Göttingen 1888–1893, mit einer Einleitung hrsg. von Horst Renz, in: TS 1, S. 291–305, hier S. 299 und S. 301. Neben den Thesen Troeltsch sind hier auch die Thesen von Johannes Weiß, Wilhelm Bousset, William Wrede, Alfred Rahlfs und Heinrich Hackmann abgedruckt. Im Folgenden werden die Seitenbelege aus Zitaten hieraus im Fließtext wiedergegeben.

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und Hermann Gunkel den sekundären Interpretationskontext. Im Winterseme32 ster 1887/88, als Weiß seine Thesen gegen Gunkel und Carl Mirbt verteidigte, waren Bousset und Troeltsch zwar als Studenten in Göttingen, doch gibt es derzeit keine Belege für ihre Anwesenheit bei der Disputation. Zum Zeitpunkt von Gunkels Promotion aber war Troeltsch im Münchner Predigerseminar. Ob ihm die Thesen bekannt waren, kann nicht entschieden werden, weil sich nicht einmal feststellen läßt, in welcher Auflage sie damals in der „Univ.-Buchdruckerei von 33 W. Fr. Kaestner“ gedruckt wurden. Da Albert Eichhorn immer wieder als der wichtigste Anreger der „Schule“ genannt wird bzw. manche in ihm ihren bedeutendsten Repräsentanten sehen, ist es sinnvoll, über die Thesen der genannten Göttinger Doktoranden hinaus auch seine am 26. Juni 1886 verteidigten Thesen 34 in den Vergleich einzubeziehen, die bereits publiziert sind.

4. Es lag in der inneren Konsequenz des den jungen Göttingern vorschwebenden Verständnisses einer konsequent geschichtlichen Theologie, die Einsicht in die historische Konstitution eines Textes zur Analyse eines inneren Zusammenhanges zwischen Textform (Gattung) und sozio-kulturellem Kontext („Sitz im Leben“) fortzuentwickeln, wie dies vor allem von Gunkel in der andauernden Beschäftigung mit der Genesis getan wurde. Wenngleich Gunkel eine tradierte sprachliche Äußerung desto stärker durch die überindividuelle Form, in der bestimmte Regulative sozialen Lebens sich abbilden, geprägt sah, je weniger sie der Reflexion entstammt, also vorliterarisch und unmittelbar volkstümlich ist, kann seine Einsicht in die Interdependenz von literarischer Form und sozialem Kontext auch 32 Carl Mirbt, der von 1886 bis 1888 als Nachfolger Wredes und Vorgänger von Rahlfs Inspektor des Theologischen Stifts war (vgl. Julius August Wagenmann: Das Theologische Stift, in: Chronik der Georg-August-Universität zu Göttingen für das Rechnungsjahr 1889–90. Mit Rückblicken auf frühere Jahrzehnte 1837–1890, Göttingen 1890, S. 33 f.), habilitierte sich 1888 in Göttingen, wurde jedoch schon 1889 Extra-Ordinarius und ein Jahr später ordentlicher öffentlicher Professor für Kirchengeschichte in Marburg. Vgl. Paul Glaue: Mirbt, Carl, in: RGG, 2. Aufl., 4. Band, Tübingen 1930, Sp. 29 f. 33 Zumindest die Thesen von Rahlfs und Wrede wurden hier gedruckt. Die in den Vergleich einbezogenen Göttinger Thesen wurden mir von Horst Renz zur Verfügung gestellt, der sie in der Niersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen aufgefunden hat. 34 Ernst Barnikol: Albert Eichhorn (1856–1926). Sein „Lebenslauf“, seine Thesen 1886, seine Abendmahlsthese 1898 und seine Leidensbriefe an seinen Schüler Erich Franz (1913/1919) nebst seinen Bekenntnissen über Heilige Geschichte und Evangelium, über Orthodoxie und Liberalismus, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Gesellschaftsund sprachwissenschaftliche Reihe 9 (1960), S. 141–152, hier S. 144 f.

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für die Interpretation von Troeltschs Thesen fruchtbar gemacht werden. Wie die Monographie, der wissenschaftliche Essay, der Literaturbericht, die Rezension etc. sind die Thesen als eine eigene Gattung wissenschaftlicher Literatur zu verstehen. Ihr „Sitz im Leben“ ist eine öffentliche akademische Versammlung, an deren Ende die neu erworbene Würde dem Promovenden in einem eigenen Akt durch den Dekan der Fakultät ausdrücklich verliehen wird. Diese Handlung stellt den Höhepunkt des gesamten Promotionsverfahrens dar. Nachdem der Kandidat in der wissenschaftlichen Abhandlung an einem bestimmten Thema seine Fähigkeit zu selbständiger wissenschaftlicher Arbeit nachgewiesen hatte, war er in der mündlichen Prüfung pro facultate nach seinen Kenntnissen in den einzelnen Disziplinen der Theologie befragt worden. Auch in der dritten Leistung, die der Promovend zu erbringen hat, werden alle Fächer der Theologie thematisch. Doch geschieht dies in einer von der Prüfung signifikant verschiedenen Weise. Denn nun wählt der Kandidat nicht bloß selbst die Themen, zu denen er sich äußern möchte, sondern in den Thesen bringt er ausdrücklich seine eigene Ansicht zu den von ihm angeschnittenen Fragen zur Geltung. Von ihrem sozialen Kontext her ist zu sagen, daß sich in den Promotionsthesen in besonderer Weise der eigene theologische Standpunkt des Promovenden aussprechen soll. In der Disputation tritt er erstmals vor einem größeren akademischen Publikum auf, dem er demonstrieren soll, daß er zu Recht Anspruch auf die Würde eines Licentiatus Theologiae erhebt. Nicht zufällig geschieht solche Demonstration in Form eines Streitgesprächs. In der inneren Logik der Thesendisputation ist es impliziert, daß die vom Promovenden zuvor schriftlich fixierten Anschauungen von den Opponenten kritisiert und mögliche Einwände vorgetragen werden. Für den Kandidaten wird dadurch die Chance noch größer, seinen Anspruch auf theologische Selbständigkeit darzulegen. Denn das argumentative Gespräch über die Einwände gegen seine Thesen gibt ihm die Gelegenheit zur Verteidigung seines Standpunktes, d. h. die Gelegenheit dazu, einzelne Punkte zu erläutern und bestimmte Begründungen zu entfalten, also möglicherweise das Profil der eigenen Position deutlicher als zuvor hervortreten zu lassen. Daß diese Disputation in Anwesenheit der Fakultätsmitglieder geschieht, verdient insofern besondere Beachtung, als zumindest einige von ihnen die theologischen Lehrer des Kandidaten waren oder noch sind. Will er in den Thesen einen Anspruch auf theologische Selbständigkeit erheben, so muß er sich hier über sein Verhältnis zu seinen akademischen Lehrern äußern. Selbständigkeit kann jedenfalls nur über eine qualifizierte, zumeist negative Bezugnahme auf bestimmte herrschende Positionen geltend gemacht werden. Von ihrem „Sitz im Leben“ her gesehen ist bei der Deutung von Troeltschs Promotionsthesen deshalb danach zu fragen, inwieweit in ihnen ein eigenständiger theologischer Standpunkt sich (schon) ausdrückt bzw. ob sich Rückbezüge auf Positionen

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aufweisen lassen, die in der damaligen Universitätstheologie in besonderer Geltung standen. „Im allgemeinen pflegen ja hinter den Thesen der Promovenden versteckte Anspielungen sachlicher und oft auch persönlicher Art zu lauern, und um sie ganz zu verstehn, muß man wissen, gegen wen oder gegen welche 35 Richtung innerhalb der Wissenschaft sie sich wenden.“ Solches Wissen kann, wenn überhaupt, nur aus den Thesen selbst gewonnen werden.

II. Exegetisch-historische Theologie 1. Von den 17 Thesen Troeltschs beziehen sich nur zwei auf das Alte Testament. Da sie jedoch ein Problembewußtsein erkennen lassen, das auch bei anderen jungen Göttingern unschwer identifiziert werden kann, sind sie im Zusammenhang unserer Fragestellung von besonderer Bedeutung. Zugleich belegen die 2. und 3. These Troeltschs, wie stark er sich bei seiner Doktordisputation auf die von Bousset fünf Monate vorher verteidigten Thesen zurückbezieht. Ich beschreibe zunächst ihren möglichen Kontext. Hermann Gunkels Lebenswerk ist neben der andauernden Beschäftigung mit der Genesis vor allem durch eine fortwährende Arbeit an den Psalmen einerseits 36 und der prophetischen Literatur andererseits gekennzeichnet. Dieses ausdrückliche Interesse an Prophetie und Psalmen tritt schon in seinen Doktorthesen deutlich hervor; die drei von zwölf Thesen, die dem Alten Testament gelten, beziehen sich ausschließlich auf Psalmen und Prophetie. Die spätere Grundhaltung von Gunkels Exegese, prophetische Literatur und Psalmen als zwei einander entsprechende Ausdrücke eines Phänomens zu deuten, läßt sich an den Thesen von 1888 jedoch noch nicht ablesen. Genau diese Tendenz tritt aber bei anderen Göttingern schon seit 1890 deutlich hervor. Am Ende des Sommersemesters 1892/93 müssen Bousset und Rahlfs gegen die Behauptung Hackmanns opponieren: „Die Entstehung des Buches Jesaia hat ihre nächste Analogie an der Entstehung des Psalmbuches“ (5. These Hackmanns, S. 304). Aber dagegen kann zumindest Bousset, wenn überhaupt, nur literarkritische Einwände vortragen. Denn in der Sache selbst, der Analogisierung von Psalmen und prophetischer

35 Hugo Greßmann: Albert Eichhorn und die Religionsgeschichtliche Schule, Göttingen 1914, S. 8. 36 Vgl. neben Werner Klatt: Hermann Gunkel (wie Anm. 14), bes. S. 104 ff., Hans-Peter Müller: Hermann Gunkel (1862–1932), in: Martin Greschat (Hrsg.): Theologen des Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert, Band 2, Stuttgart u. a. 1978, S. 241–255 und S. 434 f.

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Literatur, geht er mit Hackmann konform. In seiner 2. These (S. 297) nennt er sogar die Interpretationskategorie, die das logisch geforderte tertium darstellt, relativ zu dem jene Analogie sich überhaupt nur formulieren läßt: „Der religiöse Individualismus, dem wir bei dem Propheten Jeremias (Cap. 12, 1–6; 15, 10–21 etc.) zuerst begegnen, findet seinen kräftigsten Ausdruck in der grossen Masse der Psalmenliteratur.“ Ein Bezug auf das Phänomen des religiösen Individualismus findet sich auch bei Troeltsch. Der Behauptung, das „Stück Jer. 30 und 31“ (Befreiung Israels aus der Gefangenschaft und Verheißung des neuen Bundes) bezeichne „Ergebnis und Ende der prophetischen Nationalreligion Altisraels“, auch wenn es „vielleicht erst aus der nachexilischen Gemeinde“ stamme (2. These, S. 299), schließt er in seiner zweiten alttestamentlichen These eine Bestimmung der „Religion des exilischen und nachexilischen Judentums“ (S. 299) an, die erkennen läßt, daß ihn die Einsicht in den Prophetie und Psalmen zugrundeliegenden religiösen Individualismus vor allem im Hinblick auf seine Implikate für die Entfaltung des spezifischen Begriffs des Christentums interessiert. Als einziger thematisiert Troeltsch den exegetischen Sachverhalt in einer systematischen Perspektive. Der Bezug auf das Alte Testament wird prinzipiell auf das Christentum hin entschränkt und damit zugleich die Beschäftigung mit der „Nationalreligion Altisraels“ bzw. dem exilisch-nachexilischen Judentum zur Funktion einer Theorie des Christentums erklärt: „Die Religion des exilischen und nachexilischen Judentums ist der Mutterboden des Christentums, insofern erst jener die grossen religionsgeschichtlichen Grundlagen des letzteren entspringen, der Auferstehungsglaube, der Messiasbegriff, die Apokalyptik, der universale Monotheismus, der religiöse Individualismus, die Moral der Spruchweisheit“ (3. These, S. 299). Troeltschs Bestimmung des „Mutterboden[s] des Christentums“ impliziert ein Programm der religionsgeschichtlichen Herleitung des Christentums, welches es zur notwendigen Aufgabe der neutestamentlichen Theologie werden läßt, die mögliche Besonderheit des Christlichen allein aus der Relation, i. e. Differenz und Kontinuität, zu den historischen Gestalten zu entfalten, die ihm unmittelbar als seine Bedingungen vorausliegen. Was auf dem Gebiet der neutestamentlichen Theologie zum besonderen Programm der „Schule“ wurde, das Verhältnis des Urchristentums zu seinem direkten historischen, sozialen und religiösen Kontext in Hinblick auf die mögliche Eigenart des Christentums zu rekonstruieren, ist in Troeltschs These sachlich bereits impliziert. Darin ist vor allem die Absage an eine Theologie zu erkennen, die schon in der Entfaltung des dogmatischen Begriffs des Christentums über seine religionsgeschichtliche Kontextualisierung entscheidet. Der für das Ganze von Albrecht Ritschls Theologie entscheidenden Behauptung, das Christentum könne ausschließlich aus seinem „geschichtliche[n] Zusammenhang [. . .] mit der Religion des A. T.“ verstanden werden, ver-

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mag nicht zu folgen, wer zwischen der Religion des exilisch-nachexilischen 37 Judentums und der „Nationalreligion Altisraels“ zu unterscheiden weiß. Doch spricht Troeltsch – anders als Wrede (9. These, S. 301) – nicht vom Spätjudentum als dem primären Kontext, aus dem heraus das Neue des Christentums zu begreifen sei. Nur in seinen Thesen findet sich die Behauptung, daß die „Apokalyptik“, die zu einem der wichtigsten Arbeitsthemen der Exegeten der „Schule“ wurde, eine der religionsgeschichtlichen Voraussetzungen des Christentums darstelle. Zu den „grossen religionsgeschichtlichen Grundlagen“ des Christentums rechnet Troeltsch insgesamt sechs Elemente. Sie werden von ihm jedoch nicht in einen systematischen Zusammenhang gebracht, was mit ihrer Heterogenität zusammenhängen mag. So kann nichts darüber ausgesagt werden, wie sich die einzelnen Elemente, z. B. Auferstehungsglaube und Apokalyptik, in seiner Sicht zueinander verhalten. Troeltschs Formulierung zwingt vielmehr zur Beschränkung auf die Feststellung, daß die von ihm genannten sechs Elemente insgesamt einen Begriff des Urchristentums konstituieren. Dabei läßt sich besonders sein Verweis auf den Messiasbegriff als ein weiterer Rückbezug auf die ihm aus der Disputation fünf Monate vorher bestens bekannten Thesen Boussets verstehen. „Das Eigenartigste und Bedeutendste an der Persönlichkeit Jesu liegt nicht in etwaigen neuen religiös-ethischen Ideen, sondern in dem Selbstbewusstsein, mit dem er sich als Messias, als Bringer des zukünftigen Äon wusste“ (4. These Boussets, S. 297), hatte Bousset zu Beginn des Semesters behauptet. Verglichen mit den auf die neutestamentliche Christologie bezogenen Thesen der anderen ist dies die weitaus profilierteste Aussage über die „Persönlichkeit Jesu“. An sie knüpfen beide Opponenten Boussets an. Eine Woche nach Troeltschs Disputation behauptet Wrede: „Im Bilde Jesu treten keine pädagogisch-seelsorgerlichen Züge hervor“ (5. These Wredes, S. 301). Inwieweit Troeltschs Rekurs auf den Messiasbegriff diese Absage an eine ethische Fassung der Christologie impliziert, läßt sich nicht entscheiden. Doch muß Troeltschs „Bestimmung“ des „Mutterbodens des Christentums“ überhaupt als Ausdruck der Distanznahme gegenüber Ritschl gelesen werden. Bereits Albert Eichhorn hatte 1886 in seiner 8. These behauptet: „Die Gemeinde hat für den einzelnen keine religiöse Bedeutung.“ Nicht bloß sein Opponent Otto Ritschl dürfte das als eine sehr prononcierte Absage an die Grundannahme der Theologie seines Vaters verstanden haben. Das Eigentümliche seiner dog-

37 Albrecht Ritschl: Unterricht in der christlichen Religion, in: ders.: Die christliche Vollkommenheit. Ein Vortrag, Unterricht in der christlichen Religion, Kritische Ausgabe, hrsg. von Cajus Fabricius, Leipzig 1924, S. 21–116, hier S. 49, § 20; Otto Ritschl: Albrecht Ritschls Leben, Zweiter Band: 1864–1889, Freiburg i. Br., Leipzig 1896, S. 170, spricht von Ritschls „Verfahren, vom Neuen Testament stets auf das Alte zurückzugehen“.

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matischen Position hatte Albrecht Ritschl selbst darin identifiziert, daß er „vom 38 Standpunkte der mit Gott versöhnten Gemeinde aus“ denke. So kann Religion ausschließlich als ein notwendig gemeinschaftliches Verhalten bestimmt werden. Dieser „Wertschätzung der christlichen Gemeinde“ und Ritschls Behauptung, daß es Religion nicht anders denn als „gemeinschaftliche Gottesverehrung“ geben 39 könne, ist Eichhorns These direkt konträr. Entsprechendes gilt für Bousset und insbesondere für Troeltsch. Mit dem Verweis auf „religiösen Individualismus“ rekurrieren sie beide auf einen Sachverhalt, dessen Existenzmöglichkeit Ritschl prinzipiell negiert hatte. In seiner 8. These behauptet Bousset gegen Ritschl, daß das „Christentum“ des Paulus „ein individualistisches“ sei (S. 297). Troeltsch aber erklärt religiösen Individualismus sogar zu einem Konstitutionsmoment des Christentums. Das vor der Göttinger Fakultät zu tun, konnte nur als eine sehr weitreichende Absage an die Dogmatik verstanden werden, die bis zum März 1889 Göttingen bestimmt hatte und in vielem immer noch bestimmte.

2. In seiner 3. These hatte Albert Eichhorn programmatisch behauptet: „Die NTl. Einleitung muß urchristliche Literaturgeschichte sein“. Diese Forderung ist zunächst „als Polemik gegen die bloß literarkritische Behandlung des Neu40 en Testaments und die einseitige Beschränkung auf den Kanon aufzufassen“. 41 Hugo Greßmann, ein direkter Schüler Eichhorns aus dessen Kieler Zeit, der 42 durch sein – sehr einseitiges – Buch „Albert Eichhorn und die Religionsge-

38 Albrecht Ritschl: Unterricht in der christlichen Religion (wie Anm. 37), Vorrede zur ersten Auflage, S. 25; vgl. S. 31 f. 39 Ebd., S. 102; vgl. S. 32. 40 Hugo Greßmann: Albert Eichhorn (wie Anm. 35), S. 8. 41 Vgl. Ernst Sellin: Gedächtnisrede gehalten am 28.5.1927 in der alten Aula der Berliner Universität, in: Hugo Gressmann. Gedächtnisworte von Walter Horst, Arthur Titius, Th. H. Robinson, Ernst Sellin, Joh. Hempel, Gießen 1927, S. 15–28; Hermann Schuster: Hugo Greßmann. Ein Nachruf, in: Die Schwarzburg. Hochschulmonatsschrift 10 (1928), S. 121–124. 42 Selbst Werner Klatt, der Greßmanns Buch für „authentisch“ erklärt, muß zugestehen, daß es von „mancher Überzeichnung“ nicht frei ist (Werner Klatt: Hermann Gunkel [wie Anm. 14], S. 21, Anm. 20). Gegen die sehr differenzierten Selbstzeugnisse der jungen Göttinger betont Greßmann in einseitiger Weise ihre Abhängigkeit von Eichhorn – andere Einflüsse, etwa Ritschls, Wellhausens, Harnacks, Duhms und de Lagardes, kommen nur unzureichend in den Blick. Im Zitat eines Briefes von Troeltsch an ihn unterschlägt er signifikanterweise (vgl. Hugo Greßmann: Albert Eichhorn [wie Anm. 35], S. 12, mit Werner Klatt: Hermann Gunkel [wie Anm. 14], S. 22 f.), daß Eichhorn „neben Usener u. Lagarde ein[en] Teil der Verantwortung für die ‚Religionsgeschichtliche Schule‘“ trägt.

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schichtliche Schule“ das gängige Bild der „Schule“ entscheidend geprägt hat, behauptete 1914 denn auch, daß, obgleich bei Eichhorn 1888 „von ‚Religionsgeschichte‘ und ‚religionsgeschichtlicher Methode‘ in keiner These die Rede ist“, er hier „im Grunde doch eine Forderung der religionsgeschichtlichen Betrachtung“ 43 erhebe . Diese Feststellung aber verdankt sich dem Wissen darum, daß „das Wort Eichhorns oder wenigstens die Anschauung, der er zuerst Ausdruck ver44 liehen hat, noch weiter gewirkt“ hat. Denn in Eichhorns Thesen selbst findet sich keine nähere Bestimmung dessen, was unter dem Programm der Überführung der traditionellen Einleitungswissenschaft in eine „Literaturgeschichte“ des Urchristentums genauer zu verstehen ist. Als Reischle 1904 unter dem Eindruck von Troeltschs Absolutheitsschrift gegen die „Schule“ auftrat, warf er ihren Exegeten „die Ueberschätzung der Analo45 gie und ihre Umsetzung in Abhängigkeitsverhältnisse“ vor. Mit der Gegenkritik Troeltschs und Gunkels ist hingegen festzuhalten, daß auch sie „Analogie und 46 Abhängigkeit prinzipiell“ zu unterscheiden verlangten. So darf aus der Tatsache, daß sich auch Gunkel in der ersten seiner sieben neutestamentlichen Thesen programmatisch zur Frage äußert, wie eine neutestamentliche „Einleitung“ zu schreiben sei, nicht auf eine direkte Abhängigkeit von Eichhorn geschlossen werden – das gilt erst recht angesichts der Unsicherheit darüber, ob Gunkel Eichhorn schon aus Göttingen kannte oder ihn erst in Halle kennenlernte, was wahrscheinlicher ist. Doch es zeigt sich eine erstaunliche Nähe: „Einleitung ins N. T. ist die Wissenschaft von den Quellen des apostolischen Zeitalters“ (4. These Gunkels). Das bedeutet insofern eine Revision der bisherigen Einleitungen, als diese traditionell auf eine Bestimmung der literarischen Eigentümlichkeit der kanonischen Schriften zielten. Gunkel fordert demgegenüber, die Begrenzung auf den Kanon zu überschreiten, indem alle dem „apostolischen Zeitalter“ des Christentums zuzurechnenden Texte unbeschadet ihrer sekundären kirchlichen Qualifikation zu Thema und Material der Einleitungswissenschaft werden. Was auch immer Eichhorn 1888 mit dem Begriff „urchristliche Literaturgeschichte“ im einzelnen intendiert haben mag – in den Göttinger Disputationen tritt der Verweis auf das Urchristentum überhaupt programmatisch an die Stelle des Bezugs nur auf den Kanon. Im Hinblick auf kanonische Texte muß sich Einleitungswissenschaft dann als deren Verortung in einem größeren Ganzen, der Welt des Urchristentums, und als In-Beziehung-Setzen zu den sie konstituieren-

43 Hugo Greßmann: Albert Eichhorn (wie Anm. 35), S. 8. 44 Ebd., S. 9. 45 Max Reischle: Theologie und Religionsgeschichte (wie Anm. 1), S. 30. 46 Hermann Gunkel: [Rez.] Max Reischle (wie Anm. 6), Sp. 1106; vgl. Ernst Troeltsch: [Rez.] Max Reischle (wie Anm. 6), Sp. 614, jetzt in: KGA 4, S. 342 f.

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den historischen Gestalten verstehen. Von einem „Lexikon zum N. T.“ behauptet Wrede deshalb, es genüge „dem wissenschaftlichen Bedürfnis nur dann, wenn es nach rückwärts die spätjüdische Literatur, nach vorwärts die apostolischen Väter mitumfasst“ (9. These Wredes). Ungleich prononcierter als Gunkel und Wrede erhebt die der Sache nach identische Forderung Bousset in seiner 5. These. Er tritt sehr viel radikaler als die Genannten auf. Denn er macht die bisherige Leistung der neutestamentlichen Wissenschaft insgesamt zum Thema und erklärt im Gestus dessen, der um die wahren Aufgaben der Wissenschaft weiß, den gegebenen Stand der Disziplin zur bloßen Voraussetzung seines eigenen Progamms. Am Bewußtsein eigener Bedeutung mangelt es dem 25jährigen Promovenden nicht: „Die bisherige Gesamtleistung der biblischen ‚Theologie‘ ist nur als eine Vorarbeit anzusehen zu einer Erforschung der Eigenart und der Geschichte des religiösen Lebens im Zeitalter Jesu Christi.“ (S. 297) Das impliziert den Anspruch, selbst derjenige zu sein, der die eigentliche Arbeit in Angriff nehmen wird. So sind wohl auch die Anführungszeichen zu lesen, in die der Promovend das Wort „Theologie“ einkleidet. Sie drücken Distanz aus gegenüber den vorliegenden Entwürfen ‚Biblischer Theologie‘, indem sie deren Theologizität relativieren. Was es bisher gibt, erfüllt noch nicht die Bedingungen einer Darstellung von Neuem Testament und Urchristentum, die wirklich als Theologie zu gelten vermag. Insofern beinhalten die „Anführungszeichen“ einen Hinweis auf den Begriff des „religiösen Lebens“. Theologie soll die Rekonstruktion gelebter Religion leisten. Neutestamentliche Theologie muß sich dann als umfassende Darstellung der Anfänge christlichreligiösen Lebens ausarbeiten. Dies aber bedeutet eine Differenz gegenüber der überkommenen Forschungspraxis zumindest nach zwei Seiten hin. Zum einen ist die „Eigenart“ des christlich-religiösen Lebens zu bestimmen. Das ist nur möglich durch Vergleich mit den historischen Gestalten, relativ zu denen das Besondere des Urchristentums allein ausgesagt werden kann. Insofern impliziert Boussets Neubestimmung der Aufgabe einer Biblischen Theologie notwendig das Hinausgehen über das Christentum in Richtung auf den Kontext der für seine Anfänge relevanten Fremdreligionen. „Kenntnis des Urchristentums“ (10. These Boussets, S. 297) ist zum anderen aber auch in der Hinsicht anzustreben, daß die eigene Geschichte des christlich-religiösen Lebens geschrieben werden kann. Das zielt auf ein gegenüber der bisherigen „Biblischen Theologie“ qualitativ neues Verständnis der Texte, mit denen der Neutestamentler es primär zu tun hat. Die ‚Biblische Theologie‘ verstand sich als Wissenschaft der Schriften, welche der Kirche als Norm ihrer Erkenntnis dienen. Dieser Bezug auf die Texte als kanonische Schriften, der selbst durch ihre kirchliche Funktion vermittelt ist, bringt es aber notwendig mit sich, sie als Resultate einer spezifisch theologischen Produktionsleistung zu deuten, so daß man völlig konsequent einen

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individuellen Theologen als Produktionssubjekt eines neutestamentlichen Textes ansetzt. Schon im Ansatz der ‚Biblischen Theologie‘, der Ausschließlichkeit der Bezugnahme auf den Kanon, liegt es also beschlossen, wenn sie die neutestamentlichen Texte als quasi dogmatische Traktate begreift. Die Alternative, der Boussets These Ausdruck gibt, hat demgegenüber ein radikal anderes Verständnis der Produktionsstruktur der Texte zur Voraussetzung. Bousset zielt auf eine Wirklichkeit hinter den Texten, sofern er sie als nachgängige Objektivation religiösen Bewußtseins begreift. Die Texte stehen nicht für sich selbst. In ihnen findet vielmehr die lebensweltliche Realität religiösen Bewußtseins, das religiöse Leben, einen vermittelten und nachgängigen Ausdruck. Die Leistung historischer Kritik muß dann darin bestehen, vom Text zurückzuschließen auf den religiösen Gehalt, der in ihm in theologischer Vermitteltheit sich objektiviert. Denn die angestrebte Rekonstruktion der „Eigenart und der Geschichte des religiösen Lebens im Zeitalter Jesu Christi“ kann der Neutestamentler nur über die Texte leisten, gleichsam im Hindurch-Gang durch die Texte zur Religion. Ob und inwieweit dieses Programm durch die von Paul de Lagarde im Rahmen seiner Kritik an Ritschl vertretene These beeinflußt ist, daß „man die Religion, die nicht Objekt der Erkenntnis, sondern Leben, und zwar Leben suissimi 47 generis ist, nicht mit Erkenntnistheorien behelligen darf“, kann hier nicht untersucht werden. In dem durch die Thesen der anderen jungen Göttinger definierten Kontext zeigt sich, daß sich weder in den zwei neutestamentlichen Thesen von Rahlfs noch auch in den vier neutestamentlichen Thesen Hackmanns Anklänge an dieses Programm finden. Beide bewegen sich vielmehr in höchst traditionellen Bahnen. Desto mehr fällt auf, daß auch in Hinblick auf das Neue Testament Troeltsch eine These vertritt, die man als Ausdruck einer sehr weitreichenden sachlichen Übereinstimmung zwischen Bousset und ihm deuten muß. In welcher Richtung solche Analogie Abhängigkeit impliziert bzw. wer hier wen bestimmte, läßt sich von den Thesen her nicht sagen. Diese zeigen zunächst, daß Bousset das den Freunden gemeinsame Programm der Neubestimmung der neutestamentlichen Theologie in Richtung auf eine umfassende Geschichte der Anfänge des christlich-religiösen Lebens konsequenter als Troeltsch in den materialen Bezügen der Disziplin zu entfalten vermochte. Die erste der vier neutestamentlichen Thesen Troeltschs formuliert den Konsens im Prinzipiellen: „Die Erforschung des alten Christentums und

47 Paul de Lagarde: Zum letzten Male Albrecht Ritschl, in: ders.: Ausgewählte Schriften. Als Ergänzung zu Lagardes Deutschen Schriften zusammengestellt von Paul Fischer, 2., vermehrte Aufl., München 1934, S. 280–301, hier S. 282.

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die Exegese des neutestamentlichen Kanons der katholischen Kirche sind zwei verschiedene Dinge“ (4. These, S. 299). Auch hier werden dogmatisch bestimmte Exegese und wahrhaft historische Forschung so miteinander kontrastiert, daß Letztere implizit als Selbstdefinition des eigenen Standpunkts in Anspruch genommen wird. Troeltsch versteht die Beschränktheit der traditionellen Exegese als Folge ihrer Fixierung auf den neutestamentlichen Kanon und verweist ausdrücklich darauf, daß dieser ein Produkt der Kirche ist. Der konkurrierende Begriff, in dem sein eigenes theologisches Interesse sich Geltung verschafft, kann dann nur der des Christentums sein. Damit geht Troeltsch über Boussets Formulierung hinaus. Doch bleibt er zugleich hinter Bousset zurück, weil er das theologische Interesse einer Geschichte des Urchristentums nicht näher spezifiziert. Damit dürfte zusammenhängen, daß die weiteren neutestamentlichen Thesen Troeltschs nicht mehr auf seine Unterscheidung von ‚Erforschung‘ und ‚Exegese‘ zurückweisen. Bousset aber schließt seiner programmatischen 5. These zugleich erste Hinweise darauf an, auf welchem Wege er das ihm vorschwebende Programm zu realisieren intendiert. „In der Gedankenwelt des Apostels Paulus ist ein mythologisches Weltbild und eine begriffsmäßige Ausprägung religiöser Erfahrungen ineinander gearbeitet“ (6. These Boussets, S. 297). Da die neue historische Kritik auf den Rückschluß auf vergangene Religion zielt, muß an den Texten erhoben werden, wo in ihnen religiöses Bewußtsein sich objektiviert. Daß Bousset in diesem Kontext dem Begriff der religiösen Erfahrung Geltung verschafft, kann nicht überraschen. In ihm bildet die Unterscheidbarkeit der Religion von bloßer Theologie sich ab. Der Logik dieses Interesses folgt auch die eigentümliche Bevorzugung von Theologien, die ein sehr frühes Stadium der theologischen Traditionsbildung repräsentieren. „In der Apostelgeschichte Cap. I–XII ist eine sehr alte – vielleicht vorpaulinische – Quelle verarbeitet, deren archaistische Tendenz für die Kenntnis des Urchristentums äusserst wichtig ist“ (10. These Boussets, S. 297). Literarkritik erhält hier einen neuen Stellenwert. Sie ist nun funktional auf den Aufbau von Wissen über das Urchristentum bezogen. Dem dient sie durch Differenzierung verschiedener Stufen der Entwicklung von Theologie. Auch das aber ist eine Differenzierung im Dienste der um der Ursprünglichkeit von Religion willen wahrzunehmenden Unterscheidung von Religion und Theologie. Bousset scheint davon auszugehen, daß eine Theologie desto mehr über die in ihr vermittelt sich ausdrückende ursprüngliche Religiosität auszusagen vermag, je ‚archaistischer‘ sie ist. In den Lizentiatenthesen ist Bousset seinem Freunde da überlegen, wo es um die inhaltliche Konkretisierung einer konsequent historischen Rekonstruktion der Anfänge des christlich-religiösen Lebens zu tun ist. Troeltsch aber ist – bezogen auf die Thesen! – dem Freunde und mehr noch den anderen ‚jungen Göttingern‘ im Hinblick auf systematische Geschlossenheit voraus. Er betrachtet

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auch die anderen Disziplinen in der Perspektive theologischer Forschung, die in Boussets und seiner neutestamentlichen Programmthese anvisiert ist. Sehr viel stärker als Bousset führt er das Programm einer Theologie, die nicht als Funktion der Kirche sich konstituiert, sondern die christliche Religion in ihrer lebensweltlichen Vermitteltheit als Aufgabe weiß, für die Theologie insgesamt aus. Dabei ist es ihm in prinzipieller Hinsicht um eine Neubestimmung des Begriffs von Theologie als Wissenschaft zu tun. Die erste seiner vier kirchen- und dogmenhistorischen Thesen knüpft an seine vierte These an: „Die sog. Kirchengeschichte und die Geschichte der christlichen Religion sind streng zu unterscheiden, nur die letztere hat ein unmittelbares Verhältnis zur theologischen Wissenschaft“ (8. These, S. 299). Erneut legt Troeltsch das ihm vorschwebende Programm von Theologie so über die Differenz von Religion und Kirche aus, daß die Entschränkung des herkömmlichen Selbstverständnisses von Theologie auf Religion hin zum Kriterium ihrer Wissenschaftlichkeit wird. Der 25jährige Promovend versteht Theologie als Wissenschaft von der christlichen Religion. Am Beginn des letzten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts ist dies nicht in dem Sinne originell, daß es als solches die Eigentümlichkeit eines neuen Bewußtseins von Theologie zu definieren erlaubte. Einen neuen Begriff von Theologie über die Kontrastierung von ‚Kirche‘ und ‚Religion‘ zu entfalten, gehört vielmehr zu den gleichsam schon klassischen Möglichkeiten des Aufbaus eines neuen Standpunktes unter den Bedingungen der Aufklärung. Daß Troeltsch sich dieser Unterscheidung und der ihr notwendig verbundenen Unterscheidung von Religion und Theologie zur thetischen Bestimmung seines eigenen Programms von Theologie bedient, ist insofern nur ein Ausdruck für seine Zustimmung zum Grundkonsens aller modernen Theologie, daß die Tätigkeit von Theologie nicht in der Reproduktion des Selbstverständnisses der Kirche sich erschöpft, sondern sie vielmehr eine allgemeine, im Christentums-Bezug sich vergegenständlichende Aufgabe wahrnimmt. Wo in dem durch diesen Konsens definierten historischen Kontext die Besonderheit des Troeltsch vorschwebenden Begriffs von Theologie zu orten ist, kann deshalb nur hinsichtlich der Thesen entschieden werden, die als inhaltliche Spezifizierung dieser Unterscheidung sich begreifen lassen. Das weist an die Thesen zur Systematischen Theologie. Diese belegen deutlich, daß es dem Habilitanden für Kirchen- und Dogmengeschichte primär um die Formulierung einer Alternative zu der Systematik geht, die in Göttingen noch die herrschende ist. Darauf deutet die Unterscheidung von bloßer Kirchengeschichte und „Geschichte der christlichen Religion“ bereits hin. Da ausschließlich letztere die Bedingungen des Begriffs von Wissenschaft erfüllen können soll, muß um der Wissenschaftlichkeit der Theologie willen christliche Religionsgeschichte also an die Stelle von Kirchengeschichte treten. Zwar verstand auch Albrecht Ritschl

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seine eigene Theologie als „Darstellung der christlichen Religion“. Unter den Voraussetzungen seiner Bestimmung des „evangelisch-kirchlichen Grundsatze[s] 49 der Theologie“ wurde über den Religionsbegriff jedoch keine Differenz von Allgemeinheit und Partikularität zum Zuge gebracht, sondern der Rekurs auf den Religionsbegriff diente umgekehrt dazu, den „Standpunkt der systematischen 50 Theologie in der christlichen Gemeinde“ so festzustellen, daß sie als wissenschaftliche Darstellung des Selbstverständnisses des kirchlichen Bewußtseins sich etabliert. Ritschl polemisiert – mit kritischem Bezug auf Schleiermacher – 51 deutlich gegen einen „neutralen Religionsbegriff“ und erklärt es zu einer notwendigen Bedingung der Systematischen Theologie, exklusiv vom Subjekt der Kirche, dem Stifter des Christentums, bzw. von der Kirche, der durch ihn gestifteten Gemeinde, aus zu denken. Durch eine christozentrische Konstruktion, die die unmittelbare Bindung der Theologie an den „Standpunkt der christlichen 52 Gemeinde“ impliziert, wird gewährleistet, daß der Bezug auf Religion keine Differenz gegenüber dem Rekurs auf die Kirche impliziert. Im Religionsbegriff bringt Ritschl vielmehr die Differenz von Religion und Kirche gleichsam zum Verschwinden. In einem Aufsatz aus dem Jahre 1871 zur „Methode der älteren Dogmengeschichte“ bestimmt Ritschl deren Aufgabe denn auch dahingehend, 53 sie solle „die innere Entwicklung der Kirche verständlich machen“, und zieht ausdrücklich die Differenz von Christentum und Kirche ein. Einer solchen Methode der Christentumsgeschichte spricht Troeltsch die Wissenschaftlichkeit ab. Das aber ist Ausdruck eines gegenüber Ritschl alternativen systematischen Interesses.

48 Albrecht Ritschl: Unterricht in der christlichen Religion (wie Anm. 37), S. 25; vgl. ders.: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Dritter Band: Die positive Entwicklung der Lehre, 3. Aufl., Bonn 1895, S. V („Der Begriff der christlichen Religion als Rahmen der systematischen Theologie“) und S. 8 ff. 49 Albrecht Ritschl: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Dritter Band (wie Anm. 48), S. 1. 50 Ebd., S. V. 51 Ebd., S. 9. 52 Albrecht Ritschl: Unterricht in der christlichen Religion (wie Anm. 37), S. 31. – Die „christologische Konzentration“ der Theologie Ritschls ist von Rolf Schäfer: Ritschl. Grundlinien eines fast verschollenen dogmatischen Systems (Beiträge zur historischen Theologie 41), Tübingen 1968, bes. S. 177, nachgewiesen worden. Inwieweit sie durch den „Standpunkt der systematischen Theologie in der christlichen Gemeinde“ (Albrecht Ritschl: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Dritter Band [wie Anm. 48], S. V) vermittelt ist, diskutiert in Auseinandersetzung mit Schäfer Hans Grewel: Kirche und Gemeinde in der Theologie A. Ritschls, in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie 11 (1969), S. 292–311. 53 Albrecht Ritschl: Ueber die Methode der älteren Dogmengeschichte, in: Otto Ritschl (Hrsg.): Gesammelte Aufsätze von Albrecht Ritschl, Freiburg i. Br., Leipzig 1893, S. 147–169, hier S. 147 (Hervorhebung vom Verf.).

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III. Dogmatik und Ethik Von den systematisch-theologischen Thesen der anderen jungen Göttinger unterscheiden sich die vier Thesen Troeltschs zur Systematischen Theologie wesentlich dadurch, daß in ihnen ausschließlich der theoretische Status der Dogmatik als wissenschaftlicher Disziplin thematisch wird. Als einziger behandelt Troeltsch in den systematischen Thesen keine Einzelfragen aus Dogmatik und Ethik. Ungleich programmatischer als etwa Johannes Weiß oder Hermann Gunkel aufgetreten waren bzw. später Rudolf Otto auftreten wird, agiert Troeltsch im Bewußtsein, eine neue Konzeption der Dogmatik zu vertreten. Gegen wen er sich wendet, verschweigt er seinen Zuhörern dabei nicht. Zwar nennt er keinen Namen. Gleichwohl dürften diejenigen von den im Wintersemester 1890/91 in Göttingen für Theologie immatrikulierten Studenten, die am öffentlichen Streitgespräch zwischen Troeltsch und seinen Opponenten interessiert waren, den Adressaten seiner Kritik bestens gekannt haben. Auch nach dem Tode Albrecht 54 Ritschls wurden sie, vor allem durch Hermann Schultz und Theodor Häring, im Geiste seiner Dogmatik unterrichtet. Niemandem konnte entgehen, auf wen zum Beispiel diese These gemünzt war: „An jede positive Glaubenslehre schliesst sich eine religionsphilosophische Metaphysik an, auch wenn man den Unterschied von Religion und Metaphysik sehr wohl begriffen hat“ (15. These Troeltschs, S. 300). Mit dem Nachsatz gibt Troeltsch der Göttinger Fakultät bzw. bestimmten Professoren in ihr selbstbewußt zu erkennen, daß er nicht gewillt ist, sich sagen zu lassen, er habe die für den Ansatz von Ritschls Theologie schlechterdings fundamentale Unterscheidung von Religion und Metaphysik nicht angemessen wahrgenommen. Es wird sich zeigen, daß sich Troeltsch in einer bestimmten Hinsicht durchaus imstande sieht, an Ritschls Kritik der „Annahme, daß Religi55 on und Metaphysik eng zusammengehören“, anzuknüpfen. Das unterscheidet ihn beispielsweise von Eichhorn, der seinerseits bei der Doktordisputation mit kritischem Bezug auf die Differenz von Dogmatik und Metaphysik, die für Ritschl aus dem Unterschied von Metaphysik und Religion resultiert, behauptet hatte: „Die Dogmatik ist weder von der Metaphysik noch von der Geschichte unabhängig“ (9. These Eichhorns). Anders als Eichhorn betont Troeltsch nicht einfach

54 Vgl. Eberhard Vischer: Schultz, Hermann, in: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 3. Aufl., 17. Band, Leipzig 1906, S. 799–804; Hermann Haering: Theodor Haering 1848–1928. Christ und systematischer Theologe. Ein Lebens- und Zeitbild, Stuttgart 1963, bes. S. 206 ff., S. 333 ff. und S. 366. 55 Albrecht Ritschl: Theologie und Metaphysik. Zur Verständigung und Abwehr, 2. Aufl., Bonn 1887, S. 9.

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die Interdependenz des von Ritschl als unabhängig Behaupteten. Mit der nicht wenig arrogant klingenden Formulierung, er habe „sehr wohl begriffen“, worauf es Ritschl angekommen sei, gibt er vielmehr zu erkennen, daß die Einsicht in die Differenz von religiösem Bewußtsein und metaphysischem Einheitsdenken nicht notwendig jene Folgen aus sich heraussetzt, auf die Ritschl im Interesse der Eigenständigkeit des gläubigen Bewußtseins und der es systematisch abbildenden Theologie meinte schließen zu müssen. Troeltsch wendet sich gegen den antimetaphysischen Begriff Systematischer Theologie, wie er für Ritschls Position in hohem Maße signifikant ist. Daß die Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Dogmatik für die jungen Göttinger von besonderer Relevanz war, bedarf keiner längeren Erläuterung. Wer die Theologie aus dem Bezug auf „lebendige Frömmigkeit“ (17. These Wredes, S. 301) begreift, sieht sich dem Zwang zur Erklärung ausgesetzt, worin dann die spezifische Leistung der Dogmatik innerhalb der Theologie liegt. Einen Ansatz zu dieser Erklärung bietet Boussets 19. These: „Jede lebendige Religion ist mit bestimmten Vorstellungen und Begriffen unlösbar verbunden, daher das Interesse, das eine kräftige religiöse Gemeinschaft an Dogma und Spekulation hat.“ (S. 298) Sofern Theologie religiöses Leben rekonstruieren soll, muß sie auch jene Vorstellungen und Begriffe erheben, durch die religiöses Bewußtsein mitkonstituiert ist. Bousset geht davon aus, daß alle gelebte Religion eine spezifische Inhaltlichkeit impliziert. Das Interesse einer religiösen Gemeinschaft am Dogma muß dann verstanden werden als Interesse an einer bestimmten Explikation der im religiösen Bewußtsein mitgesetzten Gehalte. Die Aufgabe der Dogmatik ist insofern von ihrer Funktion für religiöses Bewußtsein her zu bestimmen. In der Einleitung zu seiner Dissertation entfaltet Troeltsch programmatisch eine Ansicht über die „dogmatische Aufgabe“ bzw. die „Bedeutung der Dogmatik“, die erneut nicht nur erkennen läßt, daß die jungen Göttinger untereinander theologisch verbunden waren, sondern im Falle Boussets und Troeltschs solche Verbundenheit eine Übereinstimmung in bestimmten Grundfragen der Theologie bedeutete – in Hinblick auf die Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Dogmatik sind ihre Positionen nahezu identisch, was erneut die Frage provoziert, wer dabei von wem abhängig ist. Nach den an den Thesen zur Historischen Theologie gewonnenen Einsichten kann es nicht überraschen, wenn Troeltsch in 56 seiner Dissertation „die wahre Bedeutung der Dogmatik“ aus einem funktionalen Bezug auf gelebte Religion begreift: Es ist eine „Bedeutung [. . .] für das Leben

56 Ernst Troeltsch: Vernunft und Offenbarung bei Johann Gerhard und Melanchthon. Untersuchung zur Geschichte der altprotestantischen Theologie, Göttingen 1891, S. 2, jetzt in: KGA 1, S. 81–338, hier S. 86.

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der Religion“. In kritischer Bezugnahme auf einen „hochinteressanten Vortrag“ 58 von Bernhard Duhm behauptet Troeltsch: „Die Religion ist doch nicht blos eine Art mystischer Suggestion des göttlichen Lebens an die Menschen durch Gott, sondern gerade die ‚lebendige Religion‘ ist niemals ohne fides quae creditur, und jede solche fides führt unvermeidlich zu einer Auseinandersetzung mit den 59 übrigen Vorstellungen d. h. zu einer Dogmatik.“ Dogmatik wäre unterbestimmt, wollte man sie nur als systematische Darstellung des christlich-religiösen Bewußtseins verstehen. Sie muß darüber hinaus die spezifische Inhaltlichkeit der Religion in ihrer möglichen Relation zu den sonstigen Inhalten des Bewußtseins entfalten, und ihr Ziel ist es dabei, eine mögliche Übereinstimmung des religiösen Bewußtseinsgehaltes mit den sonstigen Inhalten des Geistes zu formulieren. Damit setzt sich Troeltsch ausdrücklich von „moderne[n] Auffassungen vom Wesen der Dogmatik“ ab, wo sie als dem „Ideal der blossen Fixirung des Glaubensinhaltes oder des kirchlichen Bewusstseins“ entspringend verstanden 60 wird – eine Bestimmung, die auch Ritschl vertritt. Thema der Dogmatik ist vielmehr die Vermittelbarkeit von religiösem Gehalt des Bewußtseins mit seinen sonstigen Inhalten; die Frage nach dem „Zusammenbestehen einer weltlichen

57 Ebd., S. 3, jetzt in: KGA 1, S. 86. 58 Bernhard Duhm: Über Ziel und Methode der theologischen Wissenschaft. Antrittsvorlesung in der Aula der Universität zu Basel am 7.5.1889, Basel 1889. Dieser Text, in dem Duhm vornehmlich „die Verwechslung der Religion mit der Theologie, die Verdrängung der ersteren durch die letztere“ (S. 7) zugunsten der „lebendige[n] Religion“ (S. 22 u. ö.) kritisiert, zeigt eine eigentümliche thematische Nähe zu den Arbeiten Troeltschs. Fragen wie die, ob „die christliche Religion [. . .] noch die ‚vollkommene‘ Religion sein [kann], wenn sie sich entwickelt“ (S. 5) und wie „das rein religiöse Element von den Beimischungen sicher zu scheiden“ ist (S. 7), bzw. eine Forderung wie: „Die wichtigste gegenwärtige Aufgabe [. . .] besteht in der Bestimmung des selbständigen Wesens der Religion, der Stadien und wenn möglich der Gesetze ihrer Entwicklung“ (S. 26), lassen verstehen, warum Troeltsch später mehrfach darauf hinwies, von Duhm beeinflußt zu sein (vgl. u. a. Ernst Troeltsch: Zur theologischen Lage, in: Die Christliche Welt 12 [1898], Sp. 627–631 und Sp. 650–657, jetzt in: KGA 1, S. 685–704; ders.: Das Historische in Kants Religionsphilosophie. Zugleich ein Beitrag zu den Untersuchungen über Kants Philosophie der Geschichte, Berlin 1904, S. VI, jetzt in: KGA 6, S. 868–1072, hier S. 869; ders.: Die theologische und religiöse Lage der Gegenwart, in: GS II, S. 1–21, hier S. 16; ders: Die „kleine Göttinger Fakultät“ von 1890 [wie Anm. 18], Sp. 282). Da Troeltsch Duhms „Behauptung des wesentlich religiösen Interesses“ (Zur Theologischen Lage, Sp. 631) signifikant weiterentwickelte, bedarf sein faktisches Verhältnis zu dem Basler einer besonderen Darstellung. 59 Ernst Troeltsch: Vernunft und Offenbarung bei Johann Gerhard und Melanchthon (wie Anm. 56), S. 3, Anm. 1, jetzt in: KGA 1, S. 86, Anm. 4. 60 Vgl. ebd., S. 1 (KGA 1, S. 85), mit Albrecht Ritschl: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Dritter Band (wie Anm. 48), S. 14 f.

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Bildung mit der religiösen Wahrheit“, „die Frage, ob und wie beides zusammen 61 bestehen kann, ist die eigentliche Cardinalfrage der Dogmatik“. Diese Bestimmung der „Aufgabe“ der Dogmatik findet sich auch in Boussets Thesen: „Die Dogmatik hat die Aufgabe, die Religion, in deren Dienst sie steht, im Rahmen einer Gesamtweltanschauung zu verstehen. Sie bedarf dazu nicht nur eines logischen Begriffsformalismus, sondern wie jede Philosophie, die nach einer abschließenden Erkenntnis sucht, der spekulativen Kraft und der Phantasie“ (20. These Boussets, S. 298). Das bezieht sich, terminologisch gesehen, auf Ritschls Polemik gegen eine Metaphysik zurück, die sich als „Gesammterkenntniß der Welt“ versteht, und wendet sich gegen seine erfahrungstheologische 62 Reduktion von Metaphysik auf „elementare, blos formale Erkenntnis“. Das bedeutet jedoch nicht, daß Bousset der von Ritschl heftig befehdeten „Ueberord63 nung der Metaphysik über die Erkenntniß aus Erfahrung“ das Wort redet. Vielmehr nimmt Theologie, wie gezeigt, durchaus bei der religiösen Erfahrung ihren Ausgang. Darin drückt sich eine Kontinuität zu Ritschl aus, die auch Troeltsch wahrt. Sofern Theologie aber als Dogmatik den möglichen Ausgleich der Erfahrungsgehalte mit den sonstigen Bewußtseinsinhalten thematisiert, muß sie den Ausgang bei der religiösen Erfahrung auf Metaphysik hin überschreiten, d. h. auf eine Theorie der Einheit des Geistes hin, die nicht bloß als formale Erkenntnis bestimmt werden kann. Dogmatische Theologie stellt sich bei Bousset und auch Troeltsch somit in einer eigentümlichen Doppeltheit dar: Durch ihren Bezug auf die lebendige Religion bzw. subjektive religiöse Erfahrung ist sie einerseits Erfahrungswissenschaft; in dem Maße aber, in dem sie die Mediatisierbarkeit der religiösen Gehalte zur Darstellung bringt und die Einheit des Bewußtseins expliziert, muß sie sich andererseits als Metaphysik darstellen. Denn: „Die Erfahrbarkeit religiöser Lehrsätze ist nicht die Garantie für ihre Wahrheit.“ Diese 15. These Hackmanns (S. 305) bietet einen anderen Ausdruck desselben Problems. Sie beinhaltet eine Kritik am breiten Konsens der zeitgenössischen Dogmatik, sich als wissenschaftliche Darlegung der dem christlichen Bewußtsein eigentümlichen Erfahrungen bzw. Erfahrungsgehalte zu verstehen und die Wahrheit des christlichen Glaubens aus der christlichen Heilserfahrung zu begründen. Diesem Verständnis von Dogmatik gegenüber, das „Theologen 64 verschiedenster Schattirungen“ wie Frank, Kähler, Ritschl, Herrmann und Lipsius jeweils positionell different ausarbeiteten, insistiert Hackmann darauf, daß 61 Ernst Troeltsch: Vernunft und Offenbarung bei Johann Gerhard und Melanchthon (wie Anm. 56), S. 3, jetzt in: KGA 1, S. 86. 62 Albrecht Ritschl: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Dritter Band (wie Anm. 48), S. 16. 63 Ebd., S. 16. 64 Vgl. Ernst Troeltsch: Die christliche Weltanschauung und die wissenschaftlichen Gegenströ-

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die Erfahrbarkeit eines religiösen Gehalts keine zureichende Begründung seiner transsubjektiven Wahrheit ist. Ohne einen direkten Bezug oder gar Abhängigkeit zu unterstellen, ist zu sagen, daß Hackmann der Sache nach auf der von Troeltsch gemachten Unterscheidung von positiver Glaubenslehre und religionsphilosophischer Metaphysik insistiert. Diese Unterscheidung hat freilich für den Begriff der Dogmatik eine gravierende Folge. Wird bestritten, daß die Theologie im Rekurs auf die Erfahrung des religiösen Subjekts auf einen Ort sich bezieht, der in zureichender Weise die Wahrheit religiöser (Erfahrungs-)Gehalte zu verbürgen vermag, muß man der Dogmatik die Wissenschaftlichkeit absprechen – indem sie notwendig bei der Erfahrung des christlichen Subjekts ihren Ausgang nimmt, ist sie mit einem subjektiven Moment belastet, was es verhindert, sie im strengen Sinne als Wissenschaft zu verstehen. So redet Troeltsch nicht nur, in Anlehnung an den Sprachgebrauch der Zeit, von der „positive[n] Glaubenslehre“, um das Gebundensein an ihren Ausgangspunkt auszudrücken, sondern bestreitet den Wissenschaftscharakter der materialen Dogmatik. „Das wissenschaftliche Moment der Dogmatik liegt in der Prinzipienlehre; bei der Darlegung des Glaubensinhaltes selbst kann von Wissenschaft im strengen Sinne nicht mehr die Rede sein“ (12. These Troeltschs, S. 300). Möglicherweise ist auch diese These als ein negativer Bezug auf das Selbstverständnis dogmatischer Theologie zu verstehen, wie es von Ritschl ausgebildet wurde. Denn Ritschl nahm für die Dogmatik ausdrücklich in Anspruch, daß sie „wissenschaftliche Erkenntniß der einzelnen Wahrheiten des Christentums“ sei. Troeltschs Thesen geben keinen weiteren Aufschluß darüber, wie nun die dogmatische Prinzipienlehre, die im Unterschied zur „positiven Glaubenslehre“ oder materialen Dogmatik als Wissenschaft soll gelten können, und die materiale Dogmatik zur religionsphilosophischen Metaphysik sich verhalten bzw. wie die Aussage der 12. These auf die Ritschl-Kritik der 15. These zu beziehen ist. Da die Promotionsthesen ein Programm beschreiben, nicht aber dessen materiale Ausführung thematisieren, kann dies nicht erwartet werden. Doch wird man deshalb auch sagen müssen, daß diese beiden Thesen eine neue Perspektive zur Interpretation seiner späteren Arbeiten zur Dogmatik und Religionsphilosophie eröffnen. Sie zeigen nicht nur, daß Troeltsch die „religionsphilosophische Metaphysik“ als ein integrales Moment von Theologie verstand und insofern seine späteren religionsphilosophischen Studien auch einer ausdrücklich theologischen Deutung bedürftig sind. Vielmehr belegen sie zugleich, daß zumindest der junge Troeltsch davon überzeugt war, es gebe einen inneren Zusammenhang von Dogmatik und Religionsphilosophie. Diese Überzeugung wird sich auch in mungen, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 3 (1893), S. 493–528, 4 (1894), S. 841–854, hier S. 493.

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späteren Ausführungen der religionsphilosophischen Metaphysik und den weit verstreut publizierten Arbeiten zur Dogmatik nachweisen lassen. Entsprechend wichtig für die Interpretation des Späteren ist auch eine dritte These zum Begriff der Dogmatik, die das Verhältnis von Dogmatik und Ethik thematisiert, also erneut eine „Begründungsproblematik“ behandelt, „bei der das Verständnis der 65 Theologie im ganzen zur Debatte steht“. Gegen eine Tradition protestantischer Dogmatik, die „nur eine lockere Verbindung einzelner Lehren ist, die von verschiedenen Standpunkten entworfen sind“, hatte Ritschl die „Anschauung von 66 dem Christentum als einem Ganzen“ entfalten wollen; dem Selbstverständnis seines Autors zufolge bot insbesondere der „Unterricht in der christlichen Religion“ – über den im Zusammenhang der Praktischen Theologie noch näher zu berichten sein wird – „die vollständige Gesamtanschauung vom Christentum 67 dar, welche in der hergebrachten Dogmatik nicht entfaltet wird“ . Daß Troeltsch nun die Trennung von Dogmatik und Ethik anspricht, kann nicht anders als ein kritischer Rückbezug auf Ritschls Forderung einer integrativen Darstellung verstanden werden. Dabei gibt Troeltsch zu erkennen, daß er an einer expliziten Unterscheidung von Dogmatik und Ethik um der Selbständigkeit der Ethik willen interessiert ist: „Dogmatik und Ethik können nur dann wirklich getrennt werden, wenn man unter Ethik die geschichtsphilosophische Analyse und Darstellung des Ethisirungsprozesses versteht“ (14. These, S. 300). Da die Thesen der anderen jungen Göttinger nur Aussagen zu einzelnen materialen Fragen der Ethik bieten, kann Troeltschs Aussage hier nicht auf diesen Kontext bezogen werden. Zum Vergleich bietet sich allein die 10. These Eichhorns an: „Jede Ethik ist unfruchtbar, welche nicht die Sittlichkeit als geschichtlich bedingt aufweist.“ Abermals zeigt sich die systematische Überlegenheit Troeltschs. Denn mit dem geschichtlichen Charakter der Sittlichkeit verlangt er so Ernst zu machen, daß Ethik sich als Theorie eines historischen Prozesses darstellt. Denkt man an Troeltschs spätere programmatische Äußerungen zur Ethik, ergibt sich eine erstaunliche Kontinuität. In der bekannten Auseinandersetzung mit Wilhelm Herrmanns Ethik etwa fordert Troeltsch eine Neubegründung der Ethik als universeller Kulturtheorie; sie muß „Kulturphilosophie unter ethischem Gesichtspunkt“ werden. Die These

65 Hans-Joachim Birkner: Das Verhältnis von Dogmatik und Ethik, in: Anselm Hertz u. a. (Hrsg.): Handbuch der christlichen Ethik, Band 1, Freiburg i. Br. u. a. 1978, S. 281–296, hier S. 281. 66 Albrecht Ritschl: Vorrede [zur ersten Auflage von „Unterricht in der christlichen Religion“] (wie Anm. 37), S. 25. 67 Ebd., S. 25. – Da bei Birkners Darstellung der „Wiedervereinigung“ von Dogmatik und Ethik Ritschls „Unterricht“ keine Berücksichtigung findet, ist sein Urteil, daß nur bei Carl Immanuel Nitzsch „die Reintegration wirklich vollzogen“ sei, zu problematisieren (Hans-Joachim Birkner: Das Verhältnis von Dogmatik und Ethik [wie Anm. 65], S. 287 f.).

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von 1891 weist in dieselbe Richtung, und zwar nicht nur, weil Troeltsch terminologisch gesehen hinter Ritschl auf Schleiermacher zurückgeht, an den er auch später in der Herrmann-Kritik ausdrücklich anknüpft. Sondern die Rede vom „Ethisierungsprozess“ beinhaltet eine Tendenz auf das Ganze der Kultur, sofern alle Tätigkeiten des Menschen, welche der Produktion einer gemeinsamen Lebenswelt dienen, als Akte der Ethisierung der Welt gedeutet werden müssen. Wo die allmähliche Einbildung des menschlichen Handelns in die Natur als Thema der Ethik bestimmt wird, kann nur Kultur als ihr besonderer Gegenstand verstanden werden. So legt es die frühe Ethik-These nahe, der Frage nach der inneren Kontinuität in Troeltschs Lebenswerk besondere Aufmerksamkeit zu widmen, die in der bisherigen Literatur eine nur sehr ephemere Rolle spielte; dies mag damit zusammenhängen, daß es sehr viel leichter ist, Brüche zu konstatieren, durch externe Einflüsse provozierte Wandlungen zu beschreiben oder auch Phasenmodelle zu entwickeln, als jene Einheit zu begreifen, relativ zu der die Rede von Entwicklung allererst sinnvoll ist. Im Februar 1892 publizierte Johannes Weiß „Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes“, welches spätestens seit Albert Schweitzers emphatischem Urteil als 68 eines „der bedeutendsten Werke der historischen Theologie“ gilt. Folgt man dem herrschenden theologiegeschichtlichen Urteil, so datiert mit diesem nur 67 Seiten starken Buche die Einsicht in den eschatologischen Charakter der Botschaft Jesu. Im Artikel der RGG, 3. Aufl., heißt es etwa: „Als Glied der Religionsgeschichtlichen Schule entdeckte W.[eiß] 1892 auf rein exegetischem Wege den futurisch-eschatologischen Charakter der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu und beseitigte damit eine wesentliche Stütze der Theologie seines Schwiegerva69 ters Albrecht Ritschl.“ Obgleich dieses Urteil eine opinio communis der exegetischen Theologie bezüglich ihrer eigenen Geschichte ausdrückt, erfüllt es kaum die Bedingungen einer Aussage, die als historisch gesichert gelten kann. Höchst problematisch ist schon die Behauptung, das Buch sei der „Religionsgeschichtlichen Schule“ zuzuordnen. Denn daß Weiß sich (schon) 1892 als „Glied“ dieser „Schule“ verstand, unterstellt seine Partizipation an einem gemeinschaftlichen Verständnis von Theologie, das die einzelnen Vertreter der Schule verbinde und die Identität ihrer schulischen Zusammengehörigkeit verbürge. Diese Annahme ist, jedenfalls

68 Albert Schweitzer: Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Band 1 (Siebenstern-Taschenbuch 77/78), München, Hamburg 1966, S. 255. 69 Werner Georg Kümmel: Weiß, Johannes (wie Anm. 12), Sp. 1582; vgl. ders.: Die Eschatologie der Evangelien. Ihre Geschichte und ihr Sinn, in: ders.: Heilsgeschehen und Geschichte. Gesammelte Aufsätze 1933–1964, hrsg. von Erich Gräßer, Otto Merk und Adolf Fritz (Marburger Theologische Studien 3), Marburg 1965, S. 48–66, hier S. 48.

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gegenwärtig, nicht nur nirgends historisch gesichert – trotz der „theologiehisto70 rischen Bedeutung“ von Weiß gibt es eigentümlicherweise noch keine Gesamt71 darstellung seiner Theologie oder gar eine Biographie –, sondern widerstreitet der zugleich gegebenen Auskunft, das Selbstverständnis der „Religionsgeschichtlichen Schule“ werde durch eine allmähliche Distanznahme gegenüber Ritschl zwar nicht ausschließlich, so doch entscheidend definiert. Das aber lag Johannes Weiß zeit seines Lebens fern. Nicht nur 1892 war er der Ansicht, er könne „die geschichtlichen Grundlagen des Begriffes einer gründlichen Prüfung [. . .] 72 unterziehen“, ohne daß der Aufweis der Heterogenität von ursprünglichem historischem Gehalt und zeitgenössischer dogmatischer Verwendung des ReichGottes-Begriffes für die Systematische Theologie irgendwelche Folgen haben 73 müsse . Noch in der zweiten, stark überarbeiteten und erweiterten Auflage des Buches, die 1900 erschien, legte er Wert darauf, „noch heute“ der „Schule Al74 brecht Ritschls“ anzugehören, und hielt kontrafaktisch zur Wirkung seines Buches daran fest, es provoziere nicht notwendig eine Revision von Ritschls Sprachgebrauch. Wo Weiß zur „Religionsgeschichtlichen Schule“ gezählt wird, abstrahiert man in aller Regel davon, daß, zumindest 1892, Bousset und Gunkel sich öffentlich von Weiß absetzten. Noch im gleichen Jahr publizierte Bousset eine Gegen75 schrift, und im Februar 1893 erschien in der „Theologischen Literaturzeitung“ eine von Gunkel geschriebene Sammelrezension zu neuen neutestamentlichen Büchern zum Reich-Gottes-Begriff, die mit positivem Bezug auf Boussets bereits 76 1892 in der „Theologischen Literaturzeitung“ rezensierte Gegenschrift den

70 Ferdinand Hahn: Vorwort des Herausgebers, in: Johannes Weiss: Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes, 3. Aufl., Göttingen 1964, S. VII–X, hier S. VIII. 71 Das betont zu Recht Anthonie Frans Verheule: Wilhelm Bousset (wie Anm. 18), S. 328. Desto mehr verdient es Beachtung, daß ein Ausländer es war, der erstmals eine umfassende Darstellung von Leben und Werk Boussets vorlegte. 72 Johannes Weiss: Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes (wie Anm. 70), S. 219. 73 Weiß gesteht es einer „Dogmatik, welche biblische Begriffe verwendet“, ausdrücklich zu, „diesen Gedanken ihr ursprüngliches geschichtliches Gepräge abzustreifen, indem sie dieselben umdeutend oder umformend zu neuen Zwecken unter neuen Gesichtspunkten verwendet. Es lässt sich gegen dies Verfahren an sich nichts einwenden. Denn auf allen Gebieten des geistigen Lebens kommt es vor und muss es vorkommen, dass Worte und Begriffe von späteren Generationen in neuer Prägung und in neuem Sinn verwertet werden“ (ebd., S. 219). 74 Johannes Weiss: Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes (wie Anm. 70), S. XI. 75 Wilhelm Bousset: Jesu Predigt in ihrem Gegensatz zum Judentum (wie Anm. 11). 76 Vgl. Emil Schürer: [Rez.] Wilhelm Bousset: Jesu Predigt in ihrem Gegensatz zum Judentum. Ein religionsgeschichtlicher Vergleich, Göttingen 1892, in: Theologische Literaturzeitung 17 (1892), Sp. 444–447. Schürer sieht in Baldensperger und Weiß die primären Adressaten von Boussets Buch.

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Kontext beschreibt, aus dem heraus Weiß’ Buch zu verstehen ist, will man es wirklich geschichtlich deuten. „Seitdem Albrecht Ritschl den Begriff des Gottesreiches in den Mittelpunkt seines Systems gestellt hat, hat die Frage nach der Bedeutung dieses Begriffes 77 im N. T. besonderes Interesse bekommen.“ Solches Interesse äußerte sich unter anderem darin, daß die Haager Gesellschaft zur Verteidigung der christlichen Religion, die alljährlich theologische Preisfragen ausschrieb, 1887 dazu aufforderte, bis zum 15. Dezember 1889 eine wissenschaftliche Abhandlung über „die Lehre vom Reiche Gottes in den verschiedenen Schriften des Neuen Testaments“ als 78 79 Preisarbeit einzureichen – was denn auch sechs anonyme Bewerber taten . Neben dem Buch von Weiß rezensiert Gunkel die beiden Arbeiten, die preisgekrönt 80 wurden. Entscheidend ist nun, daß schon das bereits 1891 erschienene Buch des Derendinger Dekans Otto Schmoller „das Gottesreich der Evangelien mit aller Energie als einen religiösen und zwar als einen eschatologischen Begriff“ faßte 81 und er dabei ausdrücklich „der Ritschl’schen Auffassung scharf entgegen“ trat. Gunkel beschreibt den Standpunkt des unbekannten Provinzdekans deshalb als den einer „consequenten eschatologischen Auffassung des Gottesreiches“ und tut seine „Uebereinstimmung“ besonders mit dieser „These“ des Buches kund. Schmollers Behauptung, „das Reich Gottes sei nicht eine Gemeinschaft, welche Menschen ‚produciren‘ (Ritschl), sondern komme allein durch Gottes Thun zur

77 So beginnt Hermann Gunkels Rezension von: 1. Ernst Issel: Die Lehre vom Reiche Gottes im Neuen Testament. Eine von der Haager Gesellschaft zur Verteidigung der christlichen Religion gekrönte Preisschrift, Leiden 1891; 2. Otto Schmoller: Die Lehre vom Reiche Gottes in den Schriften des Neuen Testaments. Bearbeitung einer von der Haager Gesellschaft zur Verteidigung der christlichen Religion gestellten Aufgabe, Leiden 1891; 3. Johannes Weiss: Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes, Göttingen 1892, in: Theologische Literaturzeitung 18 (1893), Sp. 39–45. 78 Programm der Haager Gesellschaft zur Verteidigung der christlichen Religion für das Jahr 1889, in: Theologische Studien und Kritiken 63 (1890), S. 401–405, hier S. 404. Hier finden sich auch sozialgeschichtlich instruktive Informationen über den Modus der Preisverteilung und die Höhe des Preises – immerhin 400 Gulden. Auch das zweite 1887 gestellte Thema bezog sich implizit auf Ritschls Theologie: Man verlangte eine Untersuchung über „das Recht der Mystik in der Religion“ (S. 404). 79 Programm der Haager Gesellschaft zur Verteidigung der christlichen Religion für das Jahr 1890, in: Theologische Studien und Kritiken 64 (1891), S. 405–412. Hier werden die sechs eingereichten Arbeiten näher charakterisiert und die Preisvergabe an Issel und Schmoller begründet. 80 Wenn Gunkel behauptet, die Preisfrage habe nur „zwei Bearbeitungen gefunden, beide preisgekrönt“, verwechselt er die Zahl der dotierten mit der der überhaupt eingegangenen Arbeiten (Hermann Gunkel: [Rez.] Ernst Issel [wie Anm. 77], Sp. 39). 81 Ebd., Sp. 41; zu Otto Schmollers Position vgl. auch seinen Aufsatz: Die geschichtliche Person Jesu nach den paulinischen Schriften, in: Theologische Studien und Kritiken 67 (1894), S. 656– 705.

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Erscheinung“, macht er sich nicht bloß ausdrücklich zu eigen, sondern stellt sie dann „in den Zusammenhang der Religionsgeschichte“ und entwickelt eigenständig „einige Desiderien“ für „eine zukünftige Behandlung des Gottesreiches“, die gegen Weiß gerichtet sind. Trotz der Formulierung, daß Weiß „mit Schmoller die eschatologische Fas83 sung des Begriffes“ vertrete, spricht Gunkel ihm Originalität nicht ab: „Durch Schmoller angeregt hat Professor J. Weiß in Göttingen seine wesentlich mit Schm. zusammentreffenden, aber selbständig gewonnenen Anschauungen in kurzer Skizze niedergelegt.“ Doch bringt er hier zugleich sich selbst ins Spiel. Indem er der Weiß-Kritik Boussets, „der selber den zunächst eschatologischen Sinn des Gottesreiches nicht bestreitet“, sich anschließt, gesteht der „Ref.“ zugleich, daß er „schon seit lange[m] die eschatologische Fassung des ηγγικεν ῎ vertreten 84 hat“. Deshalb ist es wohl kein Zufall, daß die Metaphorik der Entdeckungsfahrt nicht erst bei Schweitzer in Hinblick auf Weiß, sondern auch bei Gunkel 85 hinsichtlich seiner selbst eine große Rolle spielt. Dem entspricht eine Kritik an der systematischen Inkonsequenz von Weiß, den historisch-exegetischen Befund 86 als der modernen Dogmatik äußerlich zu unterstellen. Wie immer es um die Richtigkeit von Gunkels eigenem Anspruch bestellt sein mag, „schon seit lange[m]“ die Bedeutung der Eschatologie erkannt zu haben – bereits die Tatsache, daß Weiß’ Buch in einer Sammelrezension besprochen wird, 82 Hermann Gunkel: [Rez.] Ernst Issel (wie Anm. 77), Sp. 42. 83 Ebd., Sp. 43 (Hervorhebung vom Verf.). Hier heißt es auch: „Weiß hat Schm.’s Resultate weiter führen wollen, indem er das ganze Bild der Predigt Jesu in diesen Rahmen der eschatologischen Auffassung des Gottesreiches mit wenig Strichen einzuzeichnen versuchte.“ 84 Ebd., Sp. 43 – „Ref. gesteht demnach, in dem Streite zwischen Weiß und Bousset mehr dem letzteren zuzuneigen“. 85 Schmoller „beschreibt das Gottesreich wie ein Forschungsreisender, der sich auf ein unbekanntes Terrain wagt, nicht wie der Führer, der den Fremden aus den wohlvertrauten Pfaden der Heimath geleitet. Aber wenn man auch über dieser Art noch eine höhere sich vorstellen kann, so wird man doch den wackeren, unerschrockenen Pfadfinder mit Sympathie auf seinem schwierigen Wege begleiten“ (Hermann Gunkel: [Rez.] Ernst Issel [wie Anm. 77], Sp. 40). Vgl. Albert Schweitzer: Geschichte der Leben-Jesu-Forschung (wie Anm. 68), S. 254: „Wie ein Wanderer, der nach mühseliger Wanderung durch wogendes Riedgras endlich den Wald betritt, statt Sumpf festen Boden unter den Füßen hat und statt des biegsamen Schilfes unverrückbare Bäume hat: also der Leser, der [. . .] zu Johannes Weiß kommt“. 86 „Weiß will die Ritschl’sche Auffassung vom Gottesreiche für die Dogmatik festhalten, obwohl er in aller Schärfe feststellt, daß diese Auffassung dem N. T. fern liege. Aber ob es sich empfiehlt, in die Dogmatik einen biblischen Begriff in ganz neuem, modernem Sinne neu einzuführen, darüber kann man vielleicht anders als Weiß denken. Jedenfalls würde eine solche Neueinführung für die Exegese eine beständige Verwirrung bedeuten. Auch scheint mir zwischen einer Umprägung und bewußter Umdeutung biblischer Begriffe ein großer Unterschied zu sein“ (Hermann Gunkel: [Rez.] Ernst Issel [wie Anm. 77], Sp. 43; vgl. oben, S. 180, Anm. 73).

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macht hinreichend deutlich, wie falsch es ist, Weiß zum einsamen „Entdecker“ eines neuen und in unserem Jahrhundert dann übervölkerten Landes der Theologie zu stilisieren. Hier bedarf es historischer Differenzierung – und zwar auch in der Hinsicht, daß die Kritik an Ritschls Fassung des Reich-Gottes-Begriffs nicht zur ausschließlichen Leistung des exegetischen Bewußtseins erklärt werden kann. Es mag zwar stimmen, daß Weiß seine These „auf rein exegetischem Wege“ gewonnen hat, obgleich die erste Auflage des Buches eine intime Vertrautheit mit der systematischen Debatte um die ethische Qualifizierbarkeit des ReichGottes-Begriffs erkennen läßt, wie sie zwischen Julius Kaftan und Max Reischle 87 geführt wurde. Doch ist hier in Rechnung zu stellen, daß Weiß zum Zeitpunkt der Niederschrift des Buches bereits eine systematische Kritik an Ritschls Verwendung des Begriffs kannte. Denn es hat wenig Wahrscheinlichkeit für sich, daß Weiß die vier Wochen aushängenden Promotionsthesen Troeltschs nicht gelesen hat. In der „Einleitung“ zu seinem Buch von 1892 nennt Weiß es eine „der erfreulichsten und zukunftsreichsten Erscheinungen in der neueren Theologie“, daß sie dem Begriffe Reich Gottes „starke Aufmerksamkeit“ widme und ihn „zum Ausgangspunkt und für die systematische Theologie zum Mittelpunkt“ mache. Daß das auf Ritschl zielt, wird spätestens im nächsten Satz deutlich, wo er das Programm seines Schwiegervaters in dessen Sprache rekapituliert: „[. . .] für eine wirklich systematische Anordnung der christlichen Gedankenreihen, welche die Theologie mit Rücksicht auf die besonderen Aufgaben unserer Zeit darzustellen hat, ist damit ein genügender Rahmen geboten. In ihm ist es möglich, die ‚Dogmatik‘ und ‚Ethik‘ in einheitlicher Darstellung zusammenzufassen, die sonst 88 doch immer mehr oder weniger auseinanderfallen“. Denkt man an Troeltschs Ethik-These zurück, ist dieser Satz möglicherweise auch als eine Bekräftigung von Ritschls Programm gegenüber der Kritik eines Göttinger Privatdozenten zu lesen, der erneut die „Trennung beider Disziplinen“ verlangt hatte. Was solche Trennung für die Ethik bedeutet, ist in der Darstellung von Troeltschs 14. These entwickelt worden. Doch die Revision von Ritschls Programm einer integrativen Darstellung hat auch Folgen für die materiale Entfaltung der „positiven Glaubenslehre“. Es muß entweder ein gegenüber Ritschl alternativer „Mittelpunkt“, d. h. ein neues integrierendes Prinzip der Explikation der dogmatischen Gehalte entfaltet oder aber das von Ritschl so heftig kritisierte Verfahren der „hergebrach89 ten Dogmatik“, die Nebeneinanderstellung einzelner Loci, restituiert werden. Wie Troeltsch unter den Bedingungen der von ihm verlangten „Trennung“ von 87 Vgl. Johannes Weiss: Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes (wie Anm. 70), bes. S. 242 ff. 88 Ebd., S. 217. 89 Albrecht Ritschl: Unterricht in der christlichen Religion (wie Anm. 37), S. 25. Ritschls Kritik

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Dogmatik und Ethik sich hier entscheidet, ist aus seiner 13. These, in der das Darstellungsverfahren einer von der Ethik ausdrücklich unterschiedenen Dogmatik thematisch ist, nicht deutlich zu ersehen. Doch zeigt diese These, daß auch der Systematiker unter den ‚jungen Göttingern‘ in Sachen Eschatologie sich äußerte. „Soweit es sich überhaupt empfiehlt, die christlichen Glaubensvorstellungen zu systematisiren, muß die Eschatologie den Mittelpunkt der Beziehungen 90 bilden.“ (13. These Troeltschs, S. 300) Daß auch diese Dogmatik-These eine Absage an Ritschl impliziert, braucht nicht mehr eigens betont zu werden. Die Rede „vom Mittelpunkt der Beziehungen“ macht den negativen Bezug hinreichend deutlich. Auch der junge Troeltsch vertrat also die Ansicht, daß der in der traditionellen Dogmatik bei De novissimis beheimatete Begriff, den Ritschl 91 mittels der ethischen Deutung in die „Mitte des theologischen Systems“ gestellt hatte, nicht ethisch gedeutet werden darf. Doch soll hier kein weiterer „Entdecker“ der Eschatologie vorgestellt werden. Solange nämlich die „Vorge92 schichte“ von Troeltschs 13. These nicht aufgeklärt ist, d. h. die Kommunikationsprozesse, die zwischen den ‚jungen Göttingern‘ stattgefunden haben, nicht erhellt sind, ist es historisch gesehen sinnlos, einen einzelnen zum originären „Entdecker“ der Eschatologie zu erklären. Es kann beispielsweise nicht ausgeschlossen werden, daß in der Herausstellung der Eschatologie ein einigen jungen Göttingern gemeinsames Interesse sich äußert. Troeltschs 13. These weist an dem wohl entscheidenden Punkte jedoch in eine andere Richtung als Weiß’ Buch. Dieser rekonstruiert den „Hauptgedanke[n] Jesu“, ohne daß seine „neue 93 centrale Verwertung“ in der Dogmatik tangiert sein soll. In dieser Hinsicht gibt es zwischen Weiß und Troeltsch keinen gemeinsamen Nenner. Denn Troeltsch der altprotestantischen Dogmatik wird von Weiß übernommen (Johannes Weiss: Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes [wie Anm. 70], S. 217 f.). 90 In der Originalvorlage (UA Göttingen) findet sich ein Druckfehler (stystematisiren). 91 Albrecht Ritschl: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Erster Band: Die Geschichte der Lehre, 2. Aufl., Bonn 1882, S. 1. 92 Das ist ein für das geschichtsmethodologische Selbstverständnis der jungen Göttinger Exegeten höchst signifikanter Begriff. Vgl. dazu die in der neueren Diskussion um die „Religionsgeschichtliche Schule“ vor allem von Henning Paulsen beigebrachten Belege (Henning Paulsen: Traditionsgeschichtliche Methode und religionsgeschichtliche Schule [wie Anm. 10]). Trotz des Rechts seiner Behauptung, daß der der Arbeit der Religionsgeschichtler „zugrundeliegende hermeneutische Ansatz mitsamt seinen Konsequenzen, aber auch Aporien, am besten“ „an Troeltsch“ sich darstellen lasse (S. 15), vermag die von Dieter Sänger vorgebrachte Kritik an Troeltsch und den anderen Göttingern nicht zu überzeugen (Dieter Sänger: Phänomenologie oder Geschichte? Methodische Anmerkungen zur religionsgeschichtlichen Schule, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 32 [1980], S. 13–27). 93 Johannes Weiss: Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes (wie Anm. 70), S. 219; vgl. ders.: Die Idee

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verwendet „Eschatologie“ offenkundig als Gegenbegriff zu einer Dogmatik, die den Reich-Gottes-Begriff seines traditionellen eschatologischen Gehalts beraubt hat. So aber wird Weiß’ Naivität hinsichtlich der systematischen Relevanz seiner These noch größer. Er vertritt die systematische Irrelevanz einer geschichtlichen Einsicht zu einem Zeitpunkt, als ein junger Systematiker den dabei leitenden Begriff schon zum Zentralbegriff der Dogmatik erklärt hat. Solange nicht neue Quellen Aufschluß über Weiß’ Beziehungen zu den jüngeren Göttinger Habilitanden Auskunft geben, kann nicht endgültig entschieden werden, ob die Kritik seines Buches, so wie sie von Bousset und Gunkel formuliert wurde, Ausdruck eines Prozesses der Selbstverständigung im Rahmen eines gemeinsamen schulischen Kontextes ist oder aber die öffentliche Distanznahme gegenüber einem Anhänger der herrschenden Dogmatik repräsentiert, wie sie insbesondere dann wichtig wird, wenn man sich selbst nicht mehr als Ritschlianer verstehen kann. Doch das bisher Bekannte weist in diese letztere Richtung. Für Troeltsch ist zu sagen, daß nicht nur seine Eschatologie-These die diesbezügliche Differenz zu Weiß deutlich belegt. In einem Brief an Bousset vom 23. Juli 1895 äußert er sich zu Weiß so kritisch, daß man nicht den Eindruck hat, 94 hier werde über einen gemeinsamen theologischen Freund geredet. Erst in einem wichtigen Brief an Bousset vom 27. Juli 1914 – als Weiß bereits sechs Jahre 95 Kollege Troeltschs in Heidelberg war – bezeichnet er ihn als seinen „Freund“.

des Reiches Gottes in der Theologie (Vorträge der theologischen Konferenz zu Gießen, 16. Folge), Gießen 1901. Weiß beschreibt hier, „wie die heutige Anschauung vom Reiche Gottes entstanden ist“, und untersucht „dann die Reichgottesidee bei Ritschl eingehend“ (S. 2), um sich trotz der von ihm konstatierten Differenz von exegetischem Befund und systematischem Sprachgebrauch zu Ritschls Theologie zu bekennen. 94 Brief Ernst Troeltschs an Wilhelm Bousset vom 23. Juli 1895, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. W. Bousset 130, 27, zuerst abgedruckt in: Erika Dinklervon Schubert (Hrsg.): Ernst Troeltsch. Briefe aus der Heidelberger Zeit an Wilhelm Bousset 1894– 1914, in: Heidelberger Jahrbücher 20 (1976), S. 19–52, hier S. 28, demnächst in KGA 19. 95 Brief Ernst Troeltschs an Wilhelm Bousset vom 27. Juli 1914, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. W. Bousset 130, 69. – Weiß begann seine Lehrtätigkeit in Heidelberg im Sommersemester 1908. Auf der Liste der Fakultät vom 23. Januar 1908 hatte er als Erstgenannter (1) zusammen mit Wilhelm Bousset (2) auf Platz I gestanden, vor Paul Wilhelm Schmiedel (3) auf Platz II und Wilhelm Heitmüller (4) auf Platz III (diese Numerierung folgt der Fakultätsliste). Eine Begründung dieser Liste, Ludwig Lemmes Separatvotum und kirchenpolitische Vorgänge bei der Wiederbesetzung des Deißmann-Lehrstuhls sind aktenmäßig ausführlich belegt in den Beständen des Badischen Kultusministeriums (GLA [Karlsruhe] 235, Nr. 3145. Ministerium des Kultus und Unterrichts. Universität Heidelberg. Dienste. Die theologische Fakultät, hier: Die Lehrstellen und deren Besetzung 1908–1922, Bl. 2–48). Da die parallelen Aktenbestände der Evangelisch-Theologischen Fakultät im Universitätsarchiv Heidelberg fehlen, kann derzeit nicht

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Vor allem aber zeigen die Thesen zur Praktischen Theologie, daß es einerseits einen Konsens zwischen den jungen Göttingern gab, der durch die Kritik an Ritschl und eine entschlossene Hinwendung zur „lebendigen Religion“ definiert wurde, andererseits aber Weiß dieses gemeinsame Selbstverständnis – zumindest zum Zeitpunkt seiner Promotion – nicht teilte.

IV. Praktische Theologie 96

Am 20. Juni 1919 unterbrach Wilhelm Bousset seine Vorlesung und sprach zum Thema „Religion und Theologie“. Diese als Manuskript gedruckte einstündige Vorlesung stellt ein faszinierendes Dokument der Vermitteltheit von Theologie und Zeiterfahrung dar. Aufgrund der Weigerung einer Majorität von Abgeordneten innerhalb der Reichstagsfraktion der Deutschen Demokratischen Partei, die Annahme des von den Alliierten einseitig diktierten Versailler Vertrages zu unterstützen und sich damit in offenen Gegensatz zur deutschen Verhandlungsdelegation zu stellen, trat das Kabinett Scheidemann der sogenannten „Weimarer 97 Koalition“ von Sozialdemokratie, Zentrum und DDP zurück. Da die Alliierten am 17. Juni ultimativ die Annahme des Vertrages binnen einer Frist von fünf Tagen verlangt und für den Fall der Ablehnung mit einem Einmarsch ins Reichsgebiet gedroht hatten, war die Gefahr eines neuen Krieges höchst real. Weil

entschieden werden, wie sich Troeltsch in den Verhandlungen innerhalb der Fakultät zu Weiß stellte. Nach seinem Brief an Bousset vom 1. März 1908 trat er für diesen ein (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. W. Bousset 130, 64). 96 Im Sommersemester 1919 war Bousset Dekan; er hielt zwei Hauptvorlesungen: „Erklärung des Johannesevangeliums“ (5stündig) und „Neutestamentliche Religionsgeschichte, II. Teil (johanneische und nachpaulinische Theologie)“ (4stündig); vgl. Vorlesungsverzeichnis der Hessischen Ludwigs-Universität zu Gießen. Sommersemester 1919, Giessen 1919. 97 Der Text von Boussets Vorlesung ist ediert in: Wilhelm Bousset: Religionsgeschichtliche Studien. Aufsätze zur Religionsgeschichte des Hellenistischen Zeitalters, hrsg. von Anthonie Frans Verheule (Supplements to Novum Testamentum, Vol. L), Leiden 1979, S. 29–49. In der „Einleitung des Herausgebers“ (S. 1–27, hier S. 1–6) findet sich eine erste Deutung des Zeitbezugs von Boussets Vorlesung. Vgl. darüber hinaus die Dokumentation bei Alma Luckau: Unconditional Acceptance of the Treaty of Versailles by the German Government, June 22–28, 1919, in: The Journal of Modern History 17 (1945), S. 215–220. Die Position der in der Versailles-Frage gespaltenen Deutschen Demokratischen Partei, der neben Bousset u. a. auch Rudolf Otto, Otto Baumgarten, Martin Rade, Hugo Greßmann und Ernst Troeltsch angehörten, wird am besten deutlich bei Walther Schücking: Annehmen oder Ablehnen? Rede in der Fraktion der Demokratischen Partei zu Weimar am 19.6.1919, Als Manuskript gedruckt, Berlin 1919, und in dem Artikel des Reichstagsmitglieds Wilhelm Külz: Das Ultimatum und die Demokratische Partei, in: Das Demokratische Deutschland 3, Nr. 19/20, 15.5.1921, S. 425–428.

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nun auch die politischen Kräfte, die den Aufbau der Republik zu tragen bereit waren, an der Frage der Stellung zum Ultimatum sich entzweiten und nicht mehr zur politischen Zusammenarbeit fähig schienen, kam eine höchst bedrohliche innenpolitische Krise hinzu. Daß Bousset „eine Art Abschiedswort“ an seine Studenten richtet, verdankt sich denn auch der Ungewißheit darüber, „ob wir in der nächsten Woche hier 98 miteinander versammelt sein werden“. Angesichts „des Ernstes unserer Lage“ behandelt er nicht „spezielle Mißstände der gegenwärtigen Theologie“, sondern führt die Kritik „einer Reihe von Studierenden [. . .] über die theologische 99 Arbeit, die ihnen an unserer Universität zugemutet werde“, zurück auf ein „schweres und großes Grundproblem“, dem jeder Theologe zu allen Zeiten notwendig sich immer wieder konfrontiert sehe: das „tiefe und ernste Problem: 100 Religion und Theologie“ . Von der politisch-sozialen Krise bis in die Grundlagen seiner Persönlichkeit erschüttert, geht Bousset auf die Anfänge seiner theologischen Biographie zurück. Nur so scheint er jener Kontinuität theologischer Arbeit überhaupt Ausdruck geben zu können, die weiter wahrzunehmen 101 er seine vom „Rausch der Unmittelbarkeit“ ergriffenen Studenten überzeugen will. Den „jungen Freunden unter Ihnen“ gegenüber, „die geneigt sind – oft bis zur Einseitigkeit –, das Christozentrische ihres Glaubens zu betonen [. . .] und 102 die doch zugleich mit dem Ruf kommen: Fort mit der Geschichte“, insistiert er auf einem alternativen Umgang mit der gegenwärtigen Krise, die durch den Verlust an historischer Eindeutigkeit sowohl in politisch-sozialer als auch in intellektualgeschichtlicher Hinsicht gekennzeichnet ist. Dem Bewußtsein des Bruchs mit der Vergangenheit gegenüber weist Bousset auf eine die Tiefenstruktur der Kultur determinierende geschichtliche Kontinuität hin, die durch die Christentumsgeschichte repräsentiert wird und im Rekurs auf den uneinholbaren Anfang christlicher Religion je neu wahrgenommen werden kann. Das ist eine Möglichkeit von Krisenbewältigung, die Bousset sich dann auch selbst zu eigen macht. Das Bewußtsein der Krise provoziert nicht nur einen Rückblick auf die eigene Lebensgeschichte; sondern um der Krisenerfahrung zum Trotz Kontinuität darstellen zu können, vergegenwärtigt er die innere Einheit seiner theologischen Biographie, indem er ihren Anfang reproduziert. Das dürfte damit zusammenhängen, daß im Anfang des eigenen Theologisierens die bestimmenden Motive der ganzen Lebensarbeit (die in eigener Verantwortung fortzuführen

98 Wilhelm Bousset: Religionsgeschichtliche Studien (wie Anm. 97), S. 29. 99 Ebd., S. 29. 100 Ebd., S. 30. 101 Ebd., S. 35. 102 Ebd., S. 39.

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die Studenten aufgefordert werden!) besonders klar und deutlich hervortreten. Jenen Anfang aber sieht Bousset ganz entscheidend durch Troeltsch bestimmt. „Ich schicke dem, was ich Ihnen hierüber [sc. über ‚jenes tiefe und ernste Problem: Religion und Theologie‘] sagen möchte, ein Wort meines Freundes Troeltsch voraus, das die Lage gut beleuchtet. Es lautete etwa: Die Theologie 103 ist für die Religion ebenso schwer zu ertragen, wie zu entbehren.“ Diese doppelte Relationierung von Religion und Theologie macht Bousset zum Prinzip der Strukturierung seiner Vorlesung. Zunächst wird die im ersten Glied des Satzes ausgedrückte Beziehung näher entfaltet. Das läuft hinaus auf eine Bestimmung von Theologie als „wissenschaftliche, erkenntnisgemäße Erfassung der Religion“, als „Versuch der wissenschaftlichen Bearbeitung der Erscheinung ‚Religion‘ mit allen Mitteln, welche der Wissenschaft zur Verfügung stehen“. Trotz seiner Kritik der „Stimmung, die jetzt so stark unter Ihnen aufzukommen scheint“, beansprucht er, den Studenten „gezeigt zu haben“, „daß ich Verständnis für Ihre Nöte und Kämpfe habe und für das zu Grunde liegende Problem: Die Theologie ist schwer zu ertragen für die Religion“. In fortwährendem Bezug auf die Zeitereignisse – mittels des tertium comparationis des „so verlockenden revolutionären Ruf[es] [. . .]: Fort mit aller historischen Belastung“ können so unterschiedliche Phänomene wie die Münchner Räterepublik, religiöser Sozialismus und eine 104 Theologie, die „fort mit dem Ballast namentlich der historischen Theologie“ sagt, als einander entsprechende Ausdrücke einer Grundstimmung der Zeit gedeutet werden! – entfaltet Bousset dann die These, daß es zu einem Verständnis 105 von Theologie als „historische Theologie“ keine rational begründbare Alternative gebe. Troeltschs „Satz von der Unentbehrlichkeit der Theologie“ wird dabei insofern spezifiziert, als diese als Unentbehrlichkeit „ihrer [sc. der Theologie] rationalen, auf Selbstbesinnung und Selbstzucht drängenden Macht“ fortbestimmt wird. Der Satz, den Bousset auslegt, stellt freilich kein Zitat im Sinne der philologischen Standards dar, die man laut seiner eigenen Auskunft als wissenschaftlicher Theologe nicht unterbieten darf. Bousset zitiert ungenau. Das belegt, daß er den Satz nicht eigens nachgeschlagen, sondern ‚aus dem Kopfe‘ zitiert hat. Dies wiederum weist auf ein hervorragendes Erinnerungsvermögen hin. Denn was er angesichts der Kritik von Studenten, die er, wohl nicht zufällig, mehrfach als die ‚Jungen‘ bezeichnet, zitiert, versetzt ihn in seine frühe Göttinger Zeit zurück. Im Zitat werden fast dreißig Jahre überbrückt. Prinzipien und systematischen Gehalt seines theologischen Lebenswerkes legt Bousset in einem Satze aus, gegen den 103 Ebd., S. 30. 104 Ebd., S. 35. 105 Ebd., S. 31 u. ö.

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er am 14. Februar 1891 öffentlich hatte opponieren müssen. Wie immer es zu erklären sein mag, daß er sich in der „Stunde der Krise“ an eine der Lizentiatenthesen seines Freundes zurückerinnert – es ist gewiß auch ein Ausdruck dafür, wie sehr sich Bousset in systematischer Hinsicht dem alten Freunde verpflichtet wußte. Troeltschs 16. These lautet genau: „Die Theologie ist für die Kirche eben so schwer zu ertragen als zu entbehren.“ (S. 300) Wo Bousset ‚Religion‘ zitiert, spricht Troeltsch von ‚Kirche‘. Das bezeichnet insofern eine gravierende Differenz, als die beiden Formulierungen an verschiedene Zusammenhänge weisen, auf die die Thesen jeweils sich beziehen. Mittels seiner ihm ja nicht bewußten Umformulierung wird es Bousset möglich, seinen Freund Troeltsch zum Kronzeugen gegen die Religionstheorie eines anderen Göttinger Freundes zu erklären, der zum Wintersemester 1891/92 nach Göttingen kam und dort am 9. Juli 1898 gegen Alfred Rahlfs und Wilhelm Heitmüller seine Promotionsthesen 106 zu verteidigen hatte. Natürlich ist von Rudolf Otto die Rede, den Bousset in 107 der Vorlesung ausdrücklich als seinen „Freund“ bezeichnet. Unter der Bedingung von dessen Theorie der Religion als des schlechterdings „Irrationale[n] im Menschenleben“ wäre Theologie als „erkenntnismäßige Erfassung der Religi108 on“ ein, wie Bousset sagt, „Widerspruch in sich und Quadratur des Zirkels“. Um der inneren Konsistenz einer Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Theologie willen, die der Theologie die Aufgabe zuordnet, den spezifischen Gehalt von Rationalität, wie er in Religion inkarniert ist, zu den sonstigen Objektivationen des Geistes in Beziehung zu setzen, muß Bousset daran interessiert

106 Vgl. Rudolph Boeke: Rudolf Otto. Leben und Werk, in: Numen 14 (1967), S. 130–143; Martin Kraatz: Rudolf Otto (1869–1937). Theologe und Religionswissenschaftler, in: Ingeborg Schnack (Hrsg.): Marburger Gelehrte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Veröffentlichungen der historischen Kommission für Hessen 35: Lebensbilder aus Hessen, Band 1), Marburg 1977, S. 362–389. Ottos Promotionsthesen sind von Hans-Walter Schütte: Religion und Christentum in der Theologie Rudolf Ottos (Theologische Bibliothek Töpelmann 15), Berlin 1969, S. 119–121, publiziert worden. 107 Wilhelm Bousset: Religionsgeschichtliche Studien (wie Anm. 97), S. 31. – Zum Verhältnis Ottos zu Bousset vgl. die bei der Münchner Evangelisch-Theologischen Fakultät zum Zwecke der Erlangung der Doktorwürde eingereichte Arbeit von Heinrich Kahlert: Der Held und seine Gemeinde. Untersuchungen zum Verhältnis von Stifterpersönlichkeit und Verehrergemeinschaft in der Theologie des freien Protestantismus, Diss. masch. Univ. München, 1980, hier S. 85 ff. („R. Otto und die ‚religionsgeschichtliche Schule‘“). Zum Verhältnis Ottos zu Troeltsch vgl. die von Karl-Ernst Apfelbacher: Frömmigkeit und Wissenschaft. Ernst Troeltsch und sein theologisches Programm (Beiträge zur ökumenischen Theologie, Band 18), München, Paderborn, Wien 1978, S. 48 und S. 58, erstmals zitierten Briefe Troeltschs an Otto (Marburg, Universitätsbibliothek, Ms 797: 800–803). 108 Wilhelm Bousset: Religionsgeschichtliche Studien (wie Anm. 97), S. 30.

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sein, neben der Irrationalität von Religion auch einem Moment von eigentümlicher Rationalität im religiösen Bewußtsein Geltung zu verschaffen. „Wäre die Religion nur jenes Irrationale, so wäre sie etwas schlechthin Unheimliches, Vernichtendes, Tötendes. Und als eine solche Macht hat sie sich sehr oft in der Tat in Furchtbarkeit und Grausen entladen. [. . .] Aber sie ist anderseits auch eine milde segnende Macht geworden. Und nun zeigt sich die große Erscheinung in der Religionsgeschichte, daß in der Religion im Laufe ihrer Entwickelung, die zunächst beim scheinbar ganz Irrationalen begann, das rationale Element sich 109 immer sieghafter entwickelt hat“. Es interessieren hier nicht die Belege, die Bousset dieser These einer progressiven Rationalisierung religiösen Bewußtseins im Verlauf der Religionsgeschichte gibt. Entscheidend ist, daß er für diese These Troeltsch in Anspruch nimmt. Durch die Umformulierung wird die Lizentiatenthese in einen speziell religionstheoretischen Kontext hineingestellt, und die Art, in der Bousset in seiner Vorlesung den leitenden Satz „Troeltschs“ entfaltet, ist wesentlich durch eine religionstheoretische Alternative zu Otto bestimmt. Dessen Irrationalitäts-Axiom erklärt Bousset zum Ausgangspunkt all der neuen Strömungen in Theologie, Kirche und Zeitgeist, die religiöse Unmittelbarkeit und Eskapismus aus der Geschichte zum Programm erheben, was für Bousset eines wie das andere Ausdruck von Sektenmentalität ist. Troeltsch aber wird als Autor einer alternativen Wahrnehmung von Religion in Anspruch genommen, die den Momenten von Irrationalität und Vernünftigkeit religiösen Bewußtseins gleichermaßen gerecht zu werden vermag. In Boussets Umformulierung von Troeltschs These bildet sich diese besondere Struktur religiösen Bewußtseins ab. Daß Theologie für Religion nur schwer ertragbar ist, bezieht sich auf das irrationale Moment aller Religion, welches durch reflexive Vermittlung nicht endgültig eingeholt werden kann. Die Unentbehrlichkeit von Theologie für Religion aber ist dem im religiösen Bewußtsein eingeschlossenen Moment von Rationalität zu korrelieren, sofern dieses auf vernünftige Bewahrheitung zielt und der Vermittlung mit sonstigen Gestaltweisen des Geistes bedarf. Es dürfte kein Zufall sein, daß Bousset in diesem Zusammenhang die von Troeltsch im Rahmen seiner Dissertation gegebene Bestimmung der Dogmatik aufgreift bzw. an seine eigene diesbezügliche Lizentiatenthese anknüpft – erneut ein Beleg dafür, wie sehr ihm 1919 Anfang und Ende des eigenen Theologisierens zusammenfallen: „Theologie hat das Ziel, die Frömmigkeit in Beziehung zu setzen zum allgemeinen menschlichen Leben, sie hat in jedem Zeitalter und an jedem Ort die Aufgabe, die Religion mit dem volklichen Leben dieser bestimmten Generation 110 zu verbinden.“ 109 Ebd., S. 36. 110 Ebd., S. 38.

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Auch wenn dies Troeltschs eigener Anschauung entspricht, weist die ursprüngliche Formulierung seiner 16. These doch an einen anderen als den skizzierten religionstheoretischen Kontext. Von der sachlichen Abfolge der Thesen her ist sie die erste der beiden Thesen zur Praktischen Theologie. Dieser praktischtheologische Ort der These aber läßt verstehen, warum Troeltsch von der Kirche spricht. Thema ist die unaufhebbare Spannung zwischen der institutionalisierten christlichen Religion und einer allein durch den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit definierten akademischen Theologie. Anders als Bousset geht es Troeltsch hier nicht um die religiöse Subjektivität, die Diskontinuitätserfahrungen, welche religiöse Individuen im Prozeß ihrer Bildung zu Theologen notwendig machen, bzw. um das Problem reflexiver Vermittelbarkeit des Gehalts von Religion, sondern Troeltsch macht die Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Theologie thematisch, und zwar in einer durch das Subjektsein der Kirche definierten Perspektive. Dies aber indiziert den praktisch-theologischen Charakter seiner These. Denn nun wird nicht mehr die der akademischen Theologie immanente Differenz von wissenschaftlicher Begründungsleistung und einer materialen Explikation ihres dogmatischen Gehalts entfaltet, die als solche nicht mehr als Wissenschaft soll gelten können (12. These), sondern es wird danach gefragt, ob die durch die genannte Differenz bestimmte Theologie als solche für die institutionalisierte Gestalt christlicher Religion in der Kirche eine Leistung zu erbringen vermag. Denkt man an die Extreme möglicher Antworten auf diese Frage, dann überrascht die Antwort, die Troeltsch gibt, und solche Überraschung wird noch verstärkt durch die diesbezügliche Wirkungsgeschichte Troeltschs. Solchen im damaligen Diskussionszusammenhang vertretenen Antwortpositionen gegenüber, die entweder um einer eng definierten dogmatischen Identität von Kirche willen die Notwendigkeit einer dezidiert wissenschaftlichen Theologie überhaupt bestritten oder aber, negativ entsprechend, in Konsequenz einer einseitigen Überhöhung des Wissenschaftsbegriffs die Relevanz wissenschaftlicher Beschäftigung mit Religion für deren lebensweltlichen Bestand nur in Auflösungsperspektiven zu deuten vermochten, reklamiert Troeltsch mit seinem ‚sowohl als auch‘ den Standpunkt der Mitte. Denn er insistiert auf einem Zusammenhang von Kirche und Theologie im Sinne einer Funktion der Theologie für die Kirche. Das heißt nun freilich nicht, daß im Stile späterer Positionen von Theologie jener Für-Bezug als ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis ausgelegt wird. Sondern der Für-Bezug impliziert zugleich die Unabhängigkeit der Theologie gegenüber der Kirche, was in Troeltschs These dadurch sich ausdrückt, daß hinsichtlich der Kirche, die theologische Leistungen in Anspruch nimmt und ihrer bedarf, zugleich auch eine Irritation durch Theologie namhaft gemacht wird. Allerdings spezifiziert Troeltsch die Unentbehrlichkeit der Theologie für die Kirche nicht näher. Doch wird im Rückblick auf die 12. These zumindest so viel deutlich,

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daß Theologie, etwa in Gestalt der Dogmatik, die methodisch reflektierte bzw. formal-wissenschaftliche Darlegung der Inhalte des gläubigen Bewußtseins leistet. Darin liegt in einem sowohl ihre positive Funktion für die Kirche als auch die Irritation, die sie notwendig erzeugt; denn die wissenschaftliche Reflexion der fides quae creditur soll die Relationierung auf die allgemeine Vernunft hin implizieren. Vergleicht man Troeltschs These mit den praktisch-theologischen Thesen der anderen hier zu berücksichtigenden Promovenden, so fällt erneut auf, wie stark Troeltsch die Gelegenheit seines öffentlichen Auftretens vor der Fakultät dazu benutzt, programmatisch eine neue Theologie anzukündigen. Die praktischtheologischen Thesen der anderen sind thematisch sehr viel spezieller und entbehren teilweise nicht der Skurrilität. Letzteres gilt vor allem für Hackmanns 18. These, wo, für die Kirche des Worts, die Abschaffung von Predigtgottesdiensten zugunsten von „reinen Cultgottesdiensten“ „wenigstens an den Höhepunkten des Kirchenjahres“ gefordert wird (S. 305). Auch Bousset und Gunkel bieten hier nur Thesen, die weder einen Zusammenhang mit ihren sonstigen Promotionsthesen erkennen lassen noch auch als besonders profiliert anzusehen sind. Sie werden an inhaltlicher Bestimmtheit und Prägnanz durch die zwei praktisch-theologischen Thesen von Rahlfs überboten. Seine Forderungen, daß „der Gemeinde“ „die alte Inspirationslehre [. . .] nicht mehr vorgetragen werden“ dürfe, sondern sie vielmehr „auf Grund der Ergebnisse der historischen Bibelforschung in ein besseres Verständnis der Bibel einzuführen“ sei (13. und 14. These, S. 303), sind wohl gegen diesbezügliche Äußerungen Ritschls gerichtet. Dieser hatte gemeint, daß „theologische Bildung überhaupt [. . .] den Mitgliedern der 111 Kirche als solchen nicht zugemutet werden“ darf. Rahlfs Thesen hingegen zielen auf ein Bildungsprogramm. Doch bleiben seine sowie auch Eichhorns eher moderate Distanznahme zu Ritschl deutlich hinter den programmatischen Äußerungen zurück, die in Sachen Praktische Theologie neben Troeltsch vor allem Wrede vertrat. Bei Wrede, der fast ein Viertel seiner Thesen praktischen Fragen widmete (21. bis 27. These), fällt die detaillierte Behandlung von Fragen der Predigttheorie auf. Wrede, der nach Boussets Charakteristik „erst verhältnismäßig spät [sich] entschloß [. . .], das Pfarramt aufzugeben und sich der wissenschaftlichen Lauf112 bahn zu widmen“, hatte bereits 1891 im Wissenschaftlichen Predigerverein zu Hannover einen Vortrag „Der Prediger und sein Zuhörer“ gehalten. In einem Gut-

111 Albrecht Ritschl: Unterricht in der christlichen Religion (wie Anm. 37), S. 110. 112 Wilhelm Bousset: William Wrede. Zur zweiten Auflage von Wredes „Paulus“, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Monatsblatt der Religionsgeschichtlichen Volksbücher 1 (1907), Januar, S. 1–4, hier S. 1. – Zu Wrede vgl. darüber hinaus Adolf Wrede: Vorwort, in: William Wrede:

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achten der Bonner Fakultät vom 30. Juni 1891 heißt es dementsprechend, daß Wredes „bisherige Tätigkeit überwiegend dem praktisch theologischen und dem 113 neutestamentlichen Gebiete galt“. Sein Vortrag enthält das Programm einer gründlichen Umgestaltung der Praktischen Theologie. Er verlangte, „den Fächern der praktischen Theologie eine praktische Psychologie des religiös-sittlichen Lebens beizugesellen“, die „das empirische religiös-sittliche Leben nach der Mannigfaltigkeit seiner Elemente, nach den wichtigsten gesetzmäßig wiederkehrenden 114 Erscheinungen, nach seiner Relativität zur Anschauung zu bringen“ habe. Der Sache nach erhob er diese Forderung schon in seinen Lizentiatenthesen: „Die Theorie der Predigt hat viel ernstlicher als gewöhnlich geschieht die Aufgaben zu betonen, welche die Rücksicht auf den empirischen sittlich-religiösen Zustand des Hörers [. . .] dem Prediger stellt“ (23. These, S. 302). Solche Orientierung am „Leben selbst“ aber hat die Erweiterung des traditionellen Fächerkanons der 115 Praktischen Theologie um eine „religiöse Psychologie“ zur Voraussetzung: „Soll dem künftigen Geistlichen ein geschärfter, von allem Schematismus freier Blick und eine Tendenz auf Kenntnis der wirklichen Menschen eignen, so darf es ein pium desiderium heissen, dass eine praktische Psychologie vorgetragen wird, welche die mannigfaltige Mischung der religiös-sittlichen Typen und die gesetzmässigen Zusammenhänge der wichtigsten Faktoren beschreibend zu lebendiger Anschauung bringt“ (26. These, S. 302). Bezogen auf den damaligen Stand der Praktischen Theologie war das eine Forderung, die zwar nicht völlig 116 neu war – Vergleichbares hatte Adolf Schlatter bereits 1887 gefordert –, aber im Rahmen der Göttinger Verhältnisse konnte sie nicht anders denn als Ausdruck des Bemühens um eine völlige Umgestaltung der Praktischen Theologie verstanden werden. Wredes Forderung wurde durch die Arbeiten von Paul Drews und Friedrich Niebergall denn auch schnell wirksam. In dem Aufsatz „Dogmatik

Vorträge und Studien (wie Anm. 29), S. III–XIV; Georg Strecker: William Wrede. Zur hundertsten Wiederkehr seines Geburtstages, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 57 (1960), S. 67–91, und Wolfgang Wiefel: Zur Würdigung William Wredes, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 23 (1971), S. 60–83. 113 Der Wrede betreffende Auszug aus dem Gutachten ist als Anlage einem Schreiben des Preußischen Kultusministeriums an den Evangelischen Oberkirchenrat vom 22. August 1892 beigefügt, das Wredes Berufung in ein Extra-Ordinariat nach Breslau betrifft (Evangelisches Zentralarchiv Berlin, EOK). 114 William Wrede: Der Prediger und sein Zuhörer, in: ders.: Vorträge und Studien (wie Anm. 29), S. 1–39, hier S. 37 f. 115 Ebd., S. 38. 116 Vgl. den „Bericht über die Verhandlungen der schweizerischen reformirten Predigergesellschaft im Jahre 1887“, Schaffhausen 1888, S. 118 f.; Paul Drews: Dogmatik oder religiöse Psychologie?, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 8 (1898), S. 134–151, hier S. 148.

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oder religiöse Psychologie?“, in dem Drews sein Programm einer „Religiösen Volkskunde“ erstmals vortrug, bezog er sich ausdrücklich auf Wredes an „vor117 trefflichen Worten“ reichen Vortrag zurück. Die Abhängigkeit ging so weit, daß 118 er ein Exzerpt aus Wredes Text als eigenes Programm ausgab. Die Forderung nach Einbeziehung einer religiösen Psychologie in die Praktische Theologie stellt die praktisch-theologische Konkretion des bereits beobachteten gemeinsamen Interesses der jungen Göttinger an der theologischen Wahrnehmung des von Dogmatik und Theologie unterschiedenen religiösen Lebens in seiner Unmittelbarkeit dar. Die sachliche Nähe zu den entsprechenden exegetischen Postulaten vor allem Gunkels, Boussets und Troeltschs läßt sich nicht übersehen. Hier wie dort werden die empirischen Bestände von Religion in der Absicht zum besonderen Thema der Theologie erhoben, sie sollte in der Wahrnehmung des nicht dogmatisch verstellten religiösen Lebens der eigentümlichen Produktivität des religiösen Bewußtseins ansichtig werden, so wie es vor allem in den großen religiösen „Persönlichkeiten“ greifbar werde. Wenngleich Wredes Sprachgebrauch stark von der in seiner Zeit herrschenden dogmatischen Terminologie geprägt ist – bester Beleg ist die häufige Rede von den „verschiedenen Stufen religiös-sittlichen Lebens“ –, zeigt sich im Rekurs auf lebensweltliche Unmittelbarkeit doch ein Interesse an Religion, das von einem speziell dogmatischen Interesse an Religion deutlich verschieden ist; für dieses kommt religiöses Bewußtsein nur insoweit in Betracht, als es als sozialer Träger von dogmatischen Gehalten bestimmt werden kann. Was Ritschl unter der Überschrift „Die Lehre von dem christlichen Leben“ entfaltet, stellt nichts anderes als einen Katalog dogmatischer Bestimmungen dar, die vermittels eines den ganzen Stoff der traditionellen Dogmatik integrierenden Darstellungsprinzips mit bestimmten ethischen Kategorien verbunden werden. Aufgrund des Arguments, daß der „einzelne Gläubige in der christlichen Gemeinde [. . .] sich die Berufung zum Reiche Gottes und die Versöhnung oder Annahme zum Kinde Gottes nicht an[eignet], ohne diese Gnadenwirkungen 119 zugleich als Antriebe zu den entsprechenden Selbsttätigkeiten zu erfahren“, kann die Darstellung des christlichen Lebens gar nicht anders als über eine Entfaltung der pneumatologischen Kategorien geleistet werden, die die Wirkungen des Geistes auf das christliche Subjekt ausdrücken – das Geschäft des Dogmatikers ist es dann, jeder Gnadenwirkung eine ihr korrespondierende menschliche 120 „Betätigung“ zu korrelieren. Im Begriff des religiösen bzw. christlichen Lebens

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Ebd., S. 148. Ebd., S. 146. Albrecht Ritschl: Unterricht in der christlichen Religion (wie Anm. 37), S. 79. Ebd., S. 79. – „Betätigung der Gotteskindschaft“ ist einer der zentralen Begriffe Ritschls.

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verschaffen die jungen Göttinger demgegenüber einem theologischen Interesse Geltung, das nicht zureichend in einer Kategorialität artikulierbar ist, die aus der Integration von Dogmatik und Ethik resultiert. Unter den Bedingungen des letztlich selbst dogmatischen Anspruchs, die Wirksamkeit Gottes und die Selbsttätigkeit des Menschen in einem einheitlichen dogmatisch-ethischen Darstellungszusammenhang zur Sprache bringen zu können, kann vom christlichen Leben nur insoweit die Rede sein, als sein idealer Fall entwickelt wird. Ritschls Aussagen über das christliche Leben fügen sich bruchlos in ein dogmatischethisches Ordnungsschema ein, in dem nahezu alle Terme des traditionellen ordo salutis einen neuen Ort finden. In der Hinwendung zur empirischen Realität von Religion äußert sich hingegen das Interesse an einer originalen Produktivität religiösen Bewußtseins, die in ihrer Unterschiedenheit von den Konstruktionsleistungen des dogmatisch-ethischen Bewußtseins von Theologie wahrgenommen werden soll. Diese Interpretationsperspektive, daß einige der jungen Göttinger schon in ihren Lizentiatenthesen von der Theologie ihres Lehrers sich zu emanzipieren bemüht waren, findet eine deutliche Bestätigung an ihren Aussagen zum zweiten großen Thema der Praktischen Theologie: dem Religionsunterricht. Das ist ein Thema, an dem ein mögliches Interesse der kritischen Bezugnahme auf Ritschl sich vorzüglich auszusprechen vermochte. 1875 und, jeweils modifiziert, 1881 und 1886 war „zum Gebrauch in der obersten Klasse der evangelischen Gym121 nasien“ Ritschls „Unterricht in der christlichen Religion“ erschienen, dessen dritte, die letzte von Ritschl selbst bearbeitete Auflage 1890 erneut gedruckt wurde. Erstmals in der neueren Theologiegeschichte – mir ist kein analoger Fall vor Ritschl bekannt – versuchte ein prominenter Universitätstheologe, die Durchsetzung seines Standpunktes außerhalb des Faches bzw. in der größeren christlichen Öffentlichkeit dadurch zu befördern, daß schon in der Oberstufe der Gymnasien nach dem Prinzip seiner Theologie gelehrt werden sollte. Bereits der von Calvin übernommene Titel war ein Ausdruck für das „stolze Bewußtsein“ des Autors, „etwas zu schaffen, was in der Geschichte der Theologie, ja der 122 christlichen Religion Epoche machen würde“. In der Tat stand der „Unterricht“ für eine neue Qualität positioneller Selbstdurchsetzung. Wie diese zu befördern sei, hatte Ritschl sehr genau kalkuliert. Zuerst schrieb er ein Gutachten für die Kultusbürokratie, daß der „Unterricht in den obersten Klassen [. . .] einer gründ123 lichen Reform bedürfe“. Danach besuchte er den Minister und teilte ihm die

121 Ebd., S. 25. 122 Vgl. Cajus Fabricius: Vorbemerkungen des Herausgebers, in: Albrecht Ritschl: Die christliche Vollkommenheit (wie Anm. 37), S. V–XXVII, hier S. XVII. 123 Ebd., S. XVII.

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„Absicht“ mit, dem selbst erzeugten „öffentlichen Bedürfnis abzuhelfen“. Um die Kongruenz von individuellem und allgemeinem Bedürfnis sicherzustellen, bedurfte es dann einiger Schüler und Freunde, die an der Verbreitung des Werkes sich beteiligten. Wilhelm Herrmann schrieb sich die jeweils fertigen Paragraphen 125 des Entwurfs ab und probierte sie in der Schule aus. Als das Buch mit dieser Hilfe schließlich fertig war, brauchte Ritschl es nur noch an die entsprechenden 126 Multiplikatoren zu schicken. Gleichwohl vermochte sich der „Unterricht“ im Schulalltag nicht in dem von Ritschl erhofften Maße durchzusetzen. Desto größer aber war sein Erfolg innerhalb der Öffentlichkeit des Faches. Nicht wenige von denen, die man gemeinhin der Ritschlschen Schule zurechnet, wurden gerade über den „Unterricht“ für seine Theologie eingenommen. „So hat der ‚Unterricht [. . .]‘ schon in den ersten Jahren nach seinem Erscheinen wesentlich dazu mitgewirkt, daß die Ritschlsche Theologie gerade den begabtesten und zukunftsreichsten unter den jungen Theologen vertraut und darüber hinaus weiteren Kreisen bekannt 127 wurde.“ Daß ihn auch unsere Göttinger vor dem Rigorosum gelesen hatten, steht außer Zweifel. Das zeigt sich zunächst bei Johannes Weiß. Als er unter dem Dekanat seines zukünftigen Schwiegervaters am 25. Februar 1888, also gut ein Jahr vor Ritschls Tod (20. März 1889), seine Thesen verteidigte, nahm er in seiner einzigen praktisch-theologischen These deutlich auf den „Unterricht“ 128 Bezug. Seine Opponenten, Carl Mirbt, der selbst bei Ritschl gehört hatte, und Gunkel brachte er damit in eine schwierige Lage. Sie wurden von Weiß faktisch gezwungen, in Anwesenheit Ritschls etwas gegen dessen „Unterricht“ zu sagen. Weiß’ 10. These erschöpft sich nämlich darin, die Absicht von Ritschls Erfolgsbuch wiederzugeben: „Der Religionsunterricht auf den Gymnasien hat vor allem die Aufgabe, eine vollständige und eindrucksvolle Darstellung der christlichen Weltanschauung zu geben.“ Bis in die sprachliche Formulierung hinein gibt dies das Programm des „Unterrichts“ wieder. Nach der von Ritschl in der Vorrede zur 1. Auflage gegebenen Auskunft ist sein „Kompendium“ vor allem deshalb zum „Religionsunterricht“ geeignet, weil es „die vollständige Gesamtanschauung vom Christentum dar[biete]“; die „Darstellung der christlichen Religion“ kann er gerade im Hinblick auf das Thema „Schule“ als Explikation der „religiöse[n]

124 Otto Ritschl: Albrecht Ritschls Leben, Zweiter Band (wie Anm. 37), S. 158. 125 Ebd., S. 267 ff. Vgl. Peter Fischer-Appelt (Hrsg.): Albrecht Ritschl und Wilhelm Herrmann. Eine Auswahl aus dem Briefwechsel (1875–1889), in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 79 (1968), S. 208–224. 126 Cajus Fabricius: Vorbemerkungen des Herausgebers (wie Anm. 122), S. XIX. 127 Ebd., S. XX. 128 Vgl. Otto Ritschl: Albrecht Ritschls Leben (wie Anm. 37), S. 363; vgl. oben, S. 161, Anm. 32.

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Weltanschauung des Christentums“ bezeichnen. Weiß’ These heißt im Klartext also: Der Religionsunterricht an den Gymnasien muß auf der Grundlage von Ritschls Schulbuch durchgeführt werden; „Aufgabe“ ist es, von ihm Gebrauch zu machen. Das wird den ehrwürdigen Herrn Dekan wohl auch deshalb gefreut haben, weil, nur wenige Tage vor der „Disputation und Promotion, die in Göttingen zugleich die Habilitation einschloß“, Weiß im unmittelbaren Anschluß an sein summa cum laude bestandenes „Lizentiatenexamen [. . .] auf dem Heimwege 130 dem Vater Ritschl seine Liebe zu Auguste, Gulli genannt, gestanden“ hatte. Schon zehn Monate später entschloß der inzwischen schwer erkrankte Ritschl sich denn auch, dem Vorschlag von Hermann Schultz zu folgen, „daß Johannes 131 Weiß sein Colleg über Dogmatik nach seinem Hefte weiter vortrug“. Das ist gewiß kein Ausdruck der Distanz gegenüber dem Lehrer, zu dem Weiß nun schon seit mehreren Jahren in engem persönlichen Kontakt stand. Schwieriger ist es, den möglichen Ritschl-Bezug der einschlägigen Thesen Wredes angemessen zu deuten. Zwar fällt auf, daß Wrede im Hinblick auf den Religionsunterricht das eine Thema der Theologie Ritschls anspricht: die „christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung“, die für Ritschl bekanntlich 132 „die Mitte des theologischen Systems“ bildet. Doch ist die thematische Anspielung nicht notwendig als Indiz einer Distanznahme zu Ritschl zu verstehen. „Die lutherische Rechtfertigungslehre wird dem Volke (auch dem gebildeten) nie verständlich werden.“ Dieser erste Satz der 24. These Wredes (S. 302) richtet sich möglicherweise gegen den in Ritschls „Untericht“ implizierten Anspruch, den ethisch-dogmatischen Zentralgehalt des Christentums auch einem allgemeinen Publikum vermitteln zu können. Wredes Formulierung als eine Anspielung auf den „Unterricht“ zu verstehen, der „wirklich Religionsunterricht und nicht Theologie“ bieten will und erst sekundär auch „für den eigentlich theologischen 133 Bildungskreis“ geschrieben ist, setzt jedoch voraus, Ritschls Position unter die Bedingungen der „lutherische[n] Rechtfertigungslehre“ zu subsumieren. Ritschl selbst hatte die Identität seines Standpunktes zwar durch eine sehr entschiedene Kritik der „hergebrachte[n] Dogmatik“ und insbesondere auch ihrer lutherischen Lehrtradition ausgelegt – hinzu kommt die für sein Selbstverständnis konstitutive fortwährende Auseinandersetzung mit dem „Neuluthertum“ der Erlanger

129 Albrecht Ritschl: Unterricht in der christlichen Religion (wie Anm. 37), S. 110. 130 Bernhard Weiß: Aus neunzig Lebensjahren 1827–1918, hrsg. von Hansgerhard Weiß, Leipzig 1927, S. 127. 131 Otto Ritschl: Albrecht Ritschls Leben, Zweiter Band (wie Anm. 37), S. 520. 132 Albrecht Ritschl: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Erster Band (wie Anm. 91), S. 1. 133 Albrecht Ritschl: Unterricht in der christlichen Religion (wie Anm. 37), S. 25 f.

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und Philippis –, aber für die Kritik am Luthertum gerade Luther in Anspruch genommen und sich in der Kritik der altlutherischen Orthodoxie zum gleichsam ersten Lutheraner erklärt, der Luthers und Melanchthons originale Deutung der 135 Rechtfertigung „aus dem Bedürfnis des frommen Subjects“ heraus angemessen auszulegen vermochte. In Ritschl einen Vertreter der „lutherische[n] Rechtfertigungslehre“ zu sehen, ist insofern positionell bedingt, d. h. davon abhängig, inwieweit man diese historisch gesehen höchst problematische Selbstinterpretation mitzuvollziehen bereit ist oder aber, dem Selbstinteresse eines spezifisch modernen Bewußtseins folgend, den Bruch zwischen dem Reformator und seinem späteren Ausleger in den Vordergrund rückt. Nimmt man an, daß Wrede sich hier kritisch auf Ritschl bezieht, so muß man zugleich sagen, daß er Ritschls Selbstverständnis nicht problematisiert, ein besserer Lutheraner als die zeitgenössischen Theologen zu sein, die in der heftigen Kritik an Ritschl zugleich als gute Lutheraner sich darstellen wollten. Doch ist eine definitive Entscheidung hier unmöglich. Denn auch der zweite Satz der These bietet diesbezüglich keinen Gewinn an Eindeutigkeit: „Im kirchlichen Unterricht ist daher ihr [sc. der Rechtfertigungslehre] religiöser Gehalt in andrer Form nahezubringen.“ (S. 302) Das kann pro und contra Ritschl gelesen werden. Einerseits ist nicht definitiv auszuschließen, daß Wrede hier eine prinzipielle Kritik an der Tendenz des „Unterrichts“ äußern will, überhaupt den dogmatisch-ethischen Zentralgehalt des Christentums als solchen zum Thema schulischer Unterweisung zu machen. Da Wrede jedoch unbestimmt läßt, in welcher alternativen Form der Gehalt von Rechtfertigung dem allgemeinen Bewußtsein angemessener und erfolgversprechender vermittelbar sei, kann seine These andererseits auch entgegengesetzt gelesen werden. Seine Formulierung schließt jedenfalls nicht notwendig aus, daß er nicht schon durch Ritschl sein Verlangen nach einer „anderen Form“ erfüllt sieht. Obgleich dies nicht bloß im Hinblick auf Wredes Thesen zu den anderen Disziplinen, sondern auch von einer zweiten These zum Thema Unterricht her wenig wahrscheinlich ist, darf er hier nicht auf eine anti-Ritschlsche Tendenz festgelegt werden. „In Luthers Erklärung des 1. Gebots ist das Fürchten nicht von kindlicher Furcht zu erklären. Für den christlichen Unterricht überhaupt ist es verhängnisvoll, wenn die höchsten und darum am seltensten wirksamen Motive des Guthandelns den Vergeltungsgedanken zurückdrängen“ (25. These Wredes, S. 302). Zwar bezieht sich Ritschl bei der Entfaltung des Begriffs der „Furcht Gottes“, soweit ich sehe, in seinen Publikationen nirgends auf Luthers Auslegung des 1. Gebots zurück. Doch vertritt er der Sache nach genau die Deutung des Begriffs, 134 Vgl. Otto Ritschl: Albrecht Ritschls Leben, Zweiter Band (wie Anm. 37), S. 85. 135 Otto Ritschl: Albrecht Ritschls Leben, Erster Band: 1822–1864, Freiburg i. Br. 1892, S. 297.

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gegen die Wrede sich wendet. „Furcht Gottes“ stellt den „deutlichsten“ Ausdruck der christlichen Demut dar, welche Ritschl als eine der „Funktionen der Gottes136 137 kindschaft“ bestimmt. Als „Betätigung der Gotteskindschaft“ ist die Furcht Gottes Reflex der „Erkenntnis der väterlichen Leitung durch Gott“. Ritschl legt den Begriff ausschließlich in dem Schema der Vater-Kind-Beziehung aus; genau dagegen wendet sich Wrede. Entsprechend liegt auch seiner Herausstellung des Vergeltungsgedankens eine Bezugnahme auf Ritschl zugrunde. Den als einen „Rechtsbegriff“ bestimmten, „allen religiösen Weltanschauungen“ gemeinen Begriff der „Vergeltung“ faßt Ritschl so als einen Modus von Gottes „Weltregierung“, daß er seine Anwendung auf das Christentum als „gewissen Schranken unter138 worfen“ aufzeigen kann. Im Christentum wird „diese Vorstellung [. . .] ihres ursprünglichen Sinnes“ entkleidet, da „keine unmittelbare Kongruenz zwischen Übel und Schuld, Gütern und Güte der Menschen in den einzelnen Fällen zuge139 standen“ wird, „wie sie von Gottes Macht erwartet werden könnte“. So tritt „an die Stelle des im menschlichen Rechte gesetzten mechanischen Verhältnisses zwischen Lohn (Strafe) und Würdigkeit (Unwürdigkeit) ein organisches 140 Verhältnis von Grund und Folge“. Dann aber kann der Begriff der Vergeltung nicht mehr sinnvoll auf das christliche Leben bezogen werden, welches Ritschl vielmehr vom Begriff der Weltbeherrschung und Gotteskindschaft aus entfaltet. Bereits der Kontext, innerhalb dessen Ritschl den Vergeltungsbegriff behandelt, läßt erkennen, daß er ihm seine ethische Relevanz nimmt. Ritschl bestreitet ausdrücklich, daß er unter den Bedingungen des christlichen Lebens eine orientierende Funktion für die Theorie der Sittlichkeit zu übernehmen vermag bzw. übernehmen darf. Demgegenüber insistiert Wrede erneut auf einem empirischen Befund, sofern die tatsächlichen Antriebe sittlichen Handelns auch im christlich-religiösen Bewußtsein viel eher durch die Furcht vor der Vergeltung als durch das Wissen um das Verhältnis des Kindseins zu Gott bestimmt sind. Gegen eine dogmatische Verklärung der der Religion immanenten Sittlichkeit wird lebensweltlicher Faktizität Geltung verschafft. Auch wenn man dem daraus resultierenden Programm, im kirchlichen Unterricht solche Faktizität durch positive Akzentuierung des Vergeltungsgedankens zu affirmieren, aus Gründen, die der inneren Logik des Christentums sich verdanken, seine Zustimmung wird verweigern müssen, kann nicht sinnvoll bestritten werden, daß Wrede zumindest

136 Albrecht Ritschl: Unterricht in der christlichen Religion (wie Anm. 37), S. 86; vgl. Otto Ritschl: Albrecht Ritschls Leben, Zweiter Band (wie Anm. 37), S. 125. 137 Albrecht Ritschl: Unterricht in der christlichen Religion (wie Anm. 37), S. 80. 138 Ebd., S. 46. 139 Ebd., S. 46. 140 Ebd., S. 46.

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negativ auf die eigentümlich schillernde Stellung des Vergeltungsgedankens bei Ritschl hinweist, der einerseits nicht überhaupt preisgegeben, andererseits aber im Hinblick auf das Christentum seines spezifischen Gehalts beraubt wird. Wieder ist es Ernst Troeltsch, der nicht nur einen bestimmten theologischen Gehalt, in dem die Eigentümlichkeit von Ritschls Theologie sich vorzüglich ausspricht, kritisch zum Thema erhebt, sondern vielmehr diese Position insgesamt angreift. Auch in seiner zweiten praktisch-theologischen These ist er den anderen ‚jungen‘ Göttingern an Radikalität und auch Direktheit deutlich überlegen. Das programmatische Selbstbewußtsein einer neuen Position bringt deren Vertreter zumeist dadurch zur Geltung, daß er Defizite des herrschenden Betriebs benennt bzw. unterstellt, um dann zum eigenen Arbeitsprogramm zu erklären, was zuvor als Desiderat der Theologie überhaupt bestimmt worden war. In einer vergleichbaren Weise hatte Ritschl, wie gezeigt, die Selbstdurchsetzung seiner Position in einer größeren Öffentlichkeit betrieben, indem er ein allgemeines Bedürfnis der Zeit sich so zu eigen machte, daß zumindest die Befriedigung dieses Bedürfnisses zu seinem unmittelbaren Privateigentum werden konnte. Mit einer entsprechenden Strategie unterstützt Troeltsch die erste öffentliche Bekundung des Anspruchs, die herrschende Position der zeitgenössischen Theologie ablösen zu können. In seiner 17. und letzten These destruiert er den Anspruch dieser Position, einem allgemeinen Bedürfnis der Zeit zu entsprechen. Zunächst gibt Troeltsch zu erkennen, daß er Ritschls Forderung danach teilt, den Religionsunterricht durch ein neues Lehrbuch auf eine andere Basis zu stellen. Da Ritschl dieser Forderung aber selbst schon entsprochen hatte, muß sein Kritiker genau dies bestreiten. Troeltsch macht sich Ritschls Forderung so zu eigen, daß sie zur positionell eigenen wird, indem die Einlösung dieser Forderung als noch ausstehend behauptet wird. „Die wichtigste praktische Aufgabe der Theologie in der Gegenwart ist die Herstellung einer unverkünstelten Methode und eines ehrlichen Lehrbuches für den Religionsunterricht an den Gymnasien.“ (S. 300) Angesichts seines Mißerfolgs in den Schulen Ritschl Gekünsteltheit vorzuwerfen, verrät nicht wenig Geschick. Doch dürfte der Vorwurf mangelnder Ehrlichkeit noch gravierender sein. Zwar wissen wir nicht, wie Troeltsch ihn in der Diskussion der These inhaltlich spezifiziert hat. Aber es duldet keine Zweifel, daß alle am 14. Februar 1891 Anwesenden wußten, gegen wen hier geschossen wurde. Denn: Ein neues Lehrbuch muß her! hieß ja, daß das alte zu seinem besonderen Zwecke nichts tauge. Man muß nur an die diesbezügliche These von Johannes Weiß zurückdenken. Dann ist deutlich, daß schon der junge Troeltsch nicht einfach als Schüler Ritschls verstanden werden darf.

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V. Absage an Ritschl 1. Das eigentümliche theologische Profil von Troeltschs Lizentiatenthesen tritt besonders deutlich hervor, wenn sie mit den Thesen der anderen Göttinger zum Abschluß noch zusammenfassend verglichen werden. Solch ein Vergleich läßt zunächst eine Gemeinsamkeit der theologischen Tendenz bei Bousset, Troeltsch und Wrede sowie bei Hackmann erkennen, der von Troeltsch später als ein „fein141 sinniger und lieber Genosse“ charakterisiert wurde. Da die Lizentiatenthesen von Rahlfs, des „intimen Schülers Lagardes“, primär auf das Alte Testament sich beziehen, läßt sich von ihnen her nicht entscheiden, ob und inwieweit er an dem gemeinsamen Ritschl-kritischen Selbstverständnis der anderen partizipierte. Doch gehört er zeitlich gesehen zu den genannten Vier hinzu. Der Kern dieses Kreises wurde von den miteinander sehr eng befreundeten Bousset und Troeltsch gebildet – ihre Thesen weisen einen gegenüber der gemeinschaftlichen Absage an Ritschl insofern noch deutlich höheren Grad an Gemeinsamkeit auf, als sie, auch durch wechselseitige Bezüge, die Kritik an Ritschl sehr viel prononcierter als Wrede und Hackmann vortrugen. In dem „Bild gemeinsam verlebter theologischer Jugend“, das er 1920 zur „Erinnerung an meinen Freund Wilhelm Bousset“ zeichnete, spricht Troeltsch von „unseren sich allmählich um uns sammelnden 142 Genossen“. Da er in diesem Aufsatz diesen Ausdruck an zwei späteren Stellen auf bestimmte andere Göttinger bezieht, erinnert Troeltsch sich der von ihm hier so genannten „letzte[n] Schule“ Ritschls als einer Gruppe, deren Mittelpunkt Bousset und er selbst waren. Diese Sicht wird durch die Thesen insofern bestätigt, als das, was die Gemeinsamkeit der jungen Göttinger definierte, bei Bousset und Troeltsch sehr viel prägnanter als bei Wrede und Hackmann bzw. auch Rahlfs geltend gemacht wird. Das gilt erst recht gegenüber Eichhorn, Gunkel und Weiß. Auch wenn Eichhorn bestimmte Themen anspricht, die dann auch in den Thesen der genannten fünf eine Rolle spielen und insbesondere Wredes Thesen eine mögliche Beeinflussung durch Eichhorn erkennen lassen, sind sie von den Thesen Boussets und Troeltschs doch sehr viel weiter entfernt, als es der Fall sein dürfte, wenn Eichhorn wirklich der eine Mann war, dem, wie 1912 Walter Rauschenbusch wohl in Anlehnung an ein entsprechendes Urteil Adolf Harnacks behauptete, die „Religionsgeschichtliche Schule“ ihre Entstehung ver-

141 Ernst Troeltsch: Die „kleine Göttinger Fakultät“ von 1890 (wie Anm. 18), Sp. 283; vgl. oben, S. 158, Anm. 18. 142 Ebd., Sp. 281.

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dankte. Es kann hier nicht entschieden werden, wie der Einfluß Eichhorns auf die Jüngeren im einzelnen sich auswirkte. Troeltsch selbst mahnte diesbezüglich 144 zur Vorsicht: „Die Wirkung von Eichhorn ist schwer zu fixieren.“ Solange nicht durch neues Quellenmaterial die „Anregungen, Wortblitze, gelegentliche[n] Bemerkunge[n], paradoxe[n] Einfälle, klug gestellte[n] Fragen“, die die Jüngeren 145 „von ihm hörten“, dem Inhalte nach rekonstruiert werden können, muß der Historiker sich an die Thesen halten. Diese aber bestätigen Troeltschs vorsichtige Sicht der Dinge. „Es ist wohl vor allem durch das Medium Wredes hindurch geschehen, daß die ganze Göttinger theologische Privatdozentenschaft jener Jah146 re von Eichhornschem Geiste irgendwie berührt war.“ Sosehr also mit einem bisher nicht näher spezifizierbaren Einfluß zu rechnen ist, sowenig ist es in Hinblick auf die Thesen legitim, der seit Greßmanns Buch immer wieder vertretenen 147 Behauptung sich anzuschließen, Eichhorn sei der „unbestrittene Wortführer“ des Kreises gewesen. Die Thesen zeigen, daß die Jüngeren, vor allem Troeltsch, 148 Eichhorn, dem selbst Greßmann ein systematisches Defizit attestiert, nicht bloß an systematischer Stringenz deutlich überlegen waren. Sondern was die Gemeinsamkeit der Gruppe der genannten fünf definiert – die Absage an Ritschl –, tritt bei ihnen ungleich deutlicher und sehr viel direkter auf die spezifischen Inhalte von Ritschls Theologie bezogen hervor. Troeltsch – und auch Bousset – lernte Gunkel möglicherweise schon während seines Studiums in Göttingen kennen. Da über die persönliche Beziehung Gunkels zu Troeltsch und ihr theologisches Verhältnis bisher nur auf das weiterer Erklärung bedürftige Phänomen verwiesen werden kann, daß Gunkel eine auf den Rat Eichhorns zurückgehende Sonderausgabe der Einleitung seines großen 149 Genesis-Kommentars – „Die Sagen der Genesis“ – Troeltsch widmete, ermöglichen auch hier nur die Thesen eine erste Auskunft. Zeitlich gesehen liegt Gunkels 143 Vgl. Hugo Greßmann: Albert Eichhorn (wie Anm. 35), S. 24. 144 Brief Ernst Troeltschs an Hugo Greßmann vom 4. Juli 1913, teilweise publiziert von Werner Klatt: Hermann Gunkel (wie Anm. 14), S. 22 f. Eine ungekürzte Edition des Briefes findet sich in dem maschinenschriftlichen Universitätsdruck von Klatts Dissertation: Hamburg 1966, S. 399–401. 145 Ebd., S. 23. 146 Ebd., S. 22. 147 Troeltsch berichtet, daß er Eichhorn nur „verschiedentlich auf kurze Zeit gesehen [habe], wenn er seinen Freund William Wrede in Göttingen besuchte u. zwar war das in den Jahren 1889– 1892“ (zit. bei: Werner Klatt: Dissertation [wie Anm. 144], S. 399). 148 Hugo Greßmann: Albert Eichhorn (wie Anm. 35), S. 19. 149 Vgl. Johannes Hempel: Hermann Gunkels Bücher und Schriften, in: Hans Schmidt (Hrsg.): Eucharisterion. Studien zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments. Hermann Gunkel zum 60. Geburtstag, dem 23. Mai 1922 dargebracht von seinen Schülern und Freunden, 2. Teil (Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments 36, Teil 2), Göttingen 1923, S. 214–225, hier S. 215; vgl. Werner Klatt: Hermann Gunkel (wie Anm. 14), S. 81, Anm. 8.

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Disputation zwei bis dreieinhalb Jahre vor den Auftritten der Fünf. Als Troeltsch nach dem Vikariat im Spätsommer 1889 nach Göttingen zurückkehrte, um an seiner Dissertation zu schreiben, hatte er zwar die Möglichkeit des direkten Austauschs mit Bousset, Wrede, Rahlfs und vom Wintersemester 1890/91 ab auch mit Hackmann, nicht aber mit Gunkel – denn fast gleichzeitig mit Troeltschs Rückkehr war Gunkel nach Halle gegangen, wo er vom Wintersemester 1889/90 150 an las. Wenn in der Literatur Gunkel und Weiß, Wrede und Bousset, Rahlfs und Heitmüller in gleicher Weise als Repräsentanten der „Schule“ genannt werden, vermittelt dies insofern ein falsches Bild der möglichen Verbundenheit bzw. Zusammengehörigkeit, als die akademischen Altersunterschiede zwischen den Genannten viel zuwenig beachtet werden. Als Weiß sich habilitierte, hatten Bousset und Troeltsch noch nicht einmal das Erste Examen abgelegt. Zeitlich gesehen ist Gunkel sehr viel eher in die Nähe von Weiß als in die der späteren Fünf zu rücken. Obgleich er nur vier Jahre jünger war als Troeltsch, gehörte Heitmüller, von seiner akademischen Laufbahn her gesehen, einer noch späteren ‚Generation‘ an – er habilitierte sich erst 1902 in Göttingen – und müßte im Kontext von Wilhelm Lueken und Hermann Schuster gesehen werden, die sich bereits 151 als Schüler Boussets verstanden. Diesem historischen Befund, der weiterer Differenzierung bedürftig und fähig ist, entspricht das Bild der Beziehungen, das durch die Thesen vermittelt wird. Was Gunkel am 15. Oktober 1888 gegen Carl Mirbt und den damaligen Privatdozenten Weiß verteidigte, war von den Sätzen, die die Fakultät sich zwei Jahre später anhören durfte, insofern weit entfernt, als in seinen Thesen kein eigenes theologisches Profil hervortrat – allein in der 4. These gab Gunkel vorsichtig zu erkennen, daß er in der Exegetischen Theologie etwas anderes wollte als das, was man bisher dort getrieben hatte. Ansonsten aber äußerte er sich nur zu einzelnen Fragen der verschiedenen Disziplinen, ohne daß sich diese Äußerungen zu einem geschlossenen Bilde zusammenfügen ließen. Wenn Emil Kautzsch nach einem auf den Januar 1889 zu datierenden Besuch von Gunkels erster Göttinger Vorlesung nach Halle berichtete, daß er „bei den Mitgliedern der theologischen Fakultät nicht gerade große Sympathien“ besitze, weil er sich „allzu selbstbewußter oder sonst voreiliger Äußerungen 150 Verzeichniß der auf der Königlichen vereinigten Friedrichs-Universität zu Halle-Wittenberg im Winter-Halbjahr vom 15.10.1889 bis 15.3.1890 zu haltenden Vorlesungen und der daselbst vorhandenen öffentlichen Institute und Sammlungen, Halle 1889; vgl. Konrad von Rabenau: Hermann Gunkel auf rauhen Pfaden nach Halle, in: Evangelische Theologie 30 (1970), S. 433–444, bes. S. 437. 151 Hermann Gunkel: Bousset, Wilhelm, in: Deutsches Biographisches Jahrbuch, Überleitungsband II: 1917–1920, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1928, S. 501–505. Vom Göttinger „Kreise jugendlich-flammender Geister“ sagt Gunkel, daß Heitmüller ihm „eine Generation später“ zugehöre (S. 501).

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schuldig gemacht“ habe, so konnte sich dieses Urteil jedenfalls nicht auf die gedruckten Thesen, sondern, wenn überhaupt, nur auf seine Dissertation be153 ziehen. Die vorsichtige Absage an Ritschl, die hier an einer Stelle sich findet, blieb hinsichtlich der Zuspitzung und Durchführung der Kritik jedoch weit hinter dem zurück, was später dann andere in Göttingen vorlegen sollten. Gunkels Promotionsthesen spielen in den verschiedenen neueren Interpretationen seines theologischen Lebenswerkes denn auch keine Rolle. Johannes Weiß’ Thesen lassen nur an einem, zweifellos wichtigen Punkt eine Distanz zu Ritschl erkennen (7. These); ansonsten bieten sie nur Aussagen, die teils als ausdrückliche Zustimmung zur Theologie seines Schwiegervaters verstanden werden müssen, teils exegetisch so speziell sind, daß man aus diesen historischen Aussagen kein eigentlich theologisches Interesse erkennen kann. Wie immer Weiß’ Verhältnis zu den anderen jungen Göttingern – es liegt noch 154 völlig im Dunkeln – sich möglicherweise darstellen wird; von den Thesen her ergibt sich, daß er zum Zeitpunkt seiner Promotion, dreieinhalb Jahre vor der Troeltschs, sich nicht als Kritiker Ritschls verstand. Sollte auch unter den Bedingungen einer weiteren Differenzierung des historischen Bildes daran festzuhalten sein, daß die Gemeinsamkeit der jungen Göttinger sich primär über die Absage an Ritschl definierte, wird für Weiß festzuhalten sein, daß er 1888 von dieser Position noch weit entfernt war. In seinen Thesen ist jedenfalls von der programmatischen Ankündigung einer neuen Position nichts zu spüren. Das ist, wie gezeigt, bei den Thesen der Späteren – sieht man von Rahlfs ab – deutlich anders. Insofern bilden die Thesen von Bousset, Wrede, Hackmann und auch Rahlfs den primären Kontext zur Beurteilung von Troeltschs Thesen. Doch auch im Hinblick auf diesen Zusammenhang zeigt sich, daß Troeltsch die anderen an systematischer Kraft deutlich überragte. Er bildete nicht bloß zusammen mit Bousset den Kern der Gruppe der genannten fünf. Sondern er nahm darüber hinaus insofern noch eine eigene Stellung ein, als er auch Bousset in Hinblick auf die systematische Einheitlichkeit der Kritik an Ritschl deutlich

152 Zit. nach: Konrad von Rabenau: Hermann Gunkel auf rauhen Pfaden nach Halle (wie Anm. 150), S. 435 f. 153 Hermann Gunkel: Die Wirkungen des heiligen Geistes nach der populären Anschauung der apostolischen Zeit und der Lehre des Apostels Paulus, Göttingen 1888, S. 3; vgl. Werner Klatt: Hermann Gunkel (wie Anm. 14), S. 29 ff. 154 Umfangreiche Nachforschungen hinsichtlich des Nachlasses von Johannes Weiß sind bisher ohne Erfolg geblieben. Entsprechendes gilt für den Nachlaß von Bernhard Weiß. Von seinem ältesten Sohn liegen derzeit allein „Auszüge aus seinen Jugendbriefen“ vor, die zwar ausführlich über Johannes Weiß’ Studium berichten, aber keine Informationen über die von ihm in Göttingen verbrachte Zeit vermitteln.

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überlegen war. Sein Einklagen von Originalität hat an den Thesen zumindest insofern einen objektiven Anhalt, als er als einziger die Kritik an Ritschl von einem einheitlichen systematischen Gesichtspunkt aus entfaltete. Die größere innere Geschlossenheit seiner Thesen, die zugleich Ausdruck systematischer Überlegenheit ist, resultiert aus einer eigentümlichen Besonderheit – seine Thesen weichen im Aufbau von denen aller anderen an einem entscheidenden Punkt ab.

2. Alle hier berücksichtigten Promotionsthesen folgen dem gleichen Ordnungsprinzip, nämlich der sachlichen Abfolge der theologischen Disziplinen, so daß den alttestamentlichen Thesen die neutestamentlichen und diesen wiederum die kirchengeschichtlichen sich anschließen, was den Übergang zur systematischen Theologie vermittelt – das Ganze findet in den Thesen zur Praktischen Theologie seinen Abschluß. Dieses Schema impliziert, daß die Systematischen Thesen nur als Aussagen zur bestimmten Disziplin einen Ort haben. Angesichts der durch die Gegenstandsbestimmtheit der verschiedenen Disziplinen gegebenen thematischen Pluralität kann sich deshalb keine innere Einheitlichkeit herstellen; denn es gibt aus der Logik der Abfolge heraus keinen eigenen Ort, solche Einheit zur Darstellung zu bringen. Daß Troeltsch vom Prinzip der Disziplinenfolge abweicht, muß insofern als Ausdruck eines dezidiert systematischen Interesses verstanden werden. Als einziger setzt er nicht mit dem Alten Testament ein, sondern ordnet den dem inneren ordo der Disziplinen folgenden Thesen eine systematische These vor, die ihm die sachliche Einheit der folgenden Einzelaussagen zu explizieren erlaubt. Troeltschs 1. These dient der Entfaltung des Begriffs von Theologie. Das Selbstverständnis, das hier sich ausspricht, bildet den Integrationspunkt des Ganzen. Das zeigt sich nicht bloß daran, daß auf den Theologiebegriff bezogene

155 Brief Ernst Troeltschs an Wilhelm Bousset vom 1. Oktober 1892, in: KGA 18, S. 318–326. In Hinblick auf Boussets „Jesu Predigt in ihrem Gegensatz zum Judentum“ (wie Anm. 11) schreibt Troeltsch: „Ich kann Dir in Anbetracht der im Ganzen zu erwartenden Aufnahme jedenfalls dazu gratuliren. Auch was mich selbst betrifft, bin ich in vielen Punkten sehr sympathisch berührt. Den an die Spitze gestellten Grundgedanken über die Behandlung der Wirksamkeit Jesu teile ich natürlich vollständig, da ich denselben längst vertreten habe. Desgleichen bin ich ebenfalls damit einverstanden, als die weltgeschichtliche wirksame Substanz des Wirkens Jesu den Gottvaterglauben mit seinen Consequenzen anzusehen, wie mir denn überhaupt vielfach Gedanken begegneten, die mir aus unseren Unterredungen geläufig waren. Von manchen möchte ich annehmen, daß sie mit unter den Einwirkungen der Freunde von Dir anerkannt worden sind.“ (S. 318) Dem folgt dann eine ausführliche Kritik von Boussets Buch.

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Aussagen auch in den den einzelnen Disziplinen zugehörigen Thesen eine sehr viel größere Rolle als bei den anderen Göttingern spielen. Sondern durch den Kunstgriff, eine Aussage zum Theologiebegriff an die Spitze zu stellen, wird die mit dem Bezug auf die Themenbestände der verschiedenen Disziplinen notwendig gegebene Vielfalt auf ein Thema hin konzentriert. „Die Theologie ist eine religionsgeschichtliche Disziplin, doch nicht als Bestandteil einer Konstruktion der universalen Religionsgeschichte, sondern als Bestimmung des Inhalts der christlichen Religion durch Vergleichung mit den wenigen großen Religionen, die wir genauer kennen.“ (S. 299) Allein bei Troeltsch und bei ihm nur in dieser 1. These findet sich der Ausdruck Religionsgeschichte. Das wäre von keiner besonderen Bedeutung, wenn Religionsgeschichte von Troeltsch nicht in eine ganz entscheidende Funktion für die Entfaltung des Theologiebegriffs eingesetzt worden wäre. Von Religionsgeschichte zu reden, war zu seiner Zeit nicht sehr originell. Obgleich Herkunft und Verwendungskontexte des Begriffs noch nicht begriffsgeschichtlich erhellt sind, ist doch so viel deutlich, daß er zur Zeit der jungen Göttinger in selbstverständlichem Gebrauch war. Göttingern zumal war der Begriff alles andere als neu, und zwar nicht nur wegen Bernhard Duhms Religionsgeschichtevorlesung oder wegen Paul de Lagarde, der lange vor dem Auftreten der jungen Göttinger die Auflösung der theologischen Fakultäten zugunsten religionswissenschaftlicher verlangt hatte und im Begriff der Religionsgeschichte einem antidogmatischen Verständnis 156 von Theologie Geltung zu verschaffen suchte. Sein nur zum Teil direkter Einfluß auf die Jüngeren und insbesondere auf Troeltsch, der bisher noch nicht historisch differenziert untersucht ist, dürfte wohl größer gewesen sein, als die diesbezüglichen Aussagen sowohl einiger Vertreter der „Schule“ als auch der 157 ihnen sich anschließenden Sekundärliteratur vermuten lassen. Daß Lagarde Religionsgeschichte als Gegenbegriff zu einem dogmatischen Verständnis von 156 Horst Renz hat den Nachweis erbracht, daß Troeltsch und Bousset im Wintersemester 1887/88 bei Bernhard Duhm „Religionsgeschichte“ hörten (Horst Renz: Troeltschs Theologiestudium, in: TS 1, S. 48–59). – Zur Begriffsgeschichte von „Religionsgeschichte“ vgl. Kurt Rudolph: Die Religionsgeschichte an der Leipziger Universität und die Entwicklung der Religionswissenschaft. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte und zum Problem der Religionswissenschaft (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-historische Klasse, Band 107, Heft 1), Berlin[-Ost] 1962. Zur zeitgenössischen theologischen Verwendung des Begriffs ist vor allem auf Otto Pfleiderer zu verweisen. Vgl. dazu: Reinhard Leuze: Theologie und Religionsgeschichte. Der Weg Otto Pfleiderers (Münchner Monographien zur historischen und systematischen Theologie 6), München 1980. 157 Lagardes Einfluß auf das theologische Selbstverständnis der jungen Göttinger insgesamt bedarf einer eigenen Untersuchung, die zwischen einem direkten Schüler-Verhältnis und vermittelter Wirkung im Hinblick auf die einzelnen jungen Göttinger zu differenzieren hat. Auch wenn z. B. Hermann Gunkel es ablehnte, als „Schüler von Lagarde“ bezeichnet zu werden (Hermann Gunkel:

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Theologie verwendete, welche durch die der „Erkenntnistheorie eines der epigonsten Epigonen, H. Lotzes,“ entstammende Unterscheidung von Seinsurteilen und Werturteilen „die Dogmen der alten Kirche unversehrt erscheinen zu lassen“ 158 intendiert, führte jedoch das – nicht selten anzutreffende – Mißverständnis herauf, als bezeichne der Begriff Religionsgeschichte als solcher eine Antiposition zur Theologie Ritschls. Das ist insofern unzutreffend, als Ritschl den Begriff durchaus zur Kennzeichnung des eigenen Standpunktes verwenden konnte. Seiner ihm wichtigsten Bezugsfigur, Schleiermacher, lastet er beispielsweise an, daß er „seine religionsgeschichtliche Orientierung nicht zum Abschluß gebracht“ 159 habe, und Ritschl sah sich auch in dieser Hinsicht seinem bewunderten negativen Vorbilde überlegen. Die Weise freilich, wie er den Begriff Religionsgeschichte verwendete, weist zugleich an den Punkt, der die Differenz von Troeltschs These gegenüber Ritschl bezeichnet. Nicht darin, daß er von Religionsgeschichte redete, sondern wie er ihn zur Selbstverständigung über die Tätigkeit von Theologie einführte, liegt also die Originalität des jungen Troeltsch – dies gilt nach beiden Seiten hin, sowohl gegenüber Ritschl als auch gegenüber de Lagarde. Troeltschs 1. These dürfte sich einerseits auf einen zentralen Abschnitt aus der Einleitung zum dritten, dogmatisch-positiven Teil von Ritschls Hauptwerk zurückbeziehen, dessen dritte Auflage 1888 erschienen war. Nachdem zunächst der „Standpunkt der systematischen Theologie in der christlichen Gemeinde“ fixiert ist, soll im zweiten Abschnitt dieser Einleitung der „Begriff der christlichen Religion als Rahmen der systematischen Theologie“ entfaltet werden. Dieser Begriff „wird erreicht durch die geordnete Reproduction des Gedankenkreises Christi und der Apostel, und wird sicher gestellt durch die Vergleichung desselben mit den anderen Arten und Stufen der Religion. Erst mit Hinzuziehung der allgemeinen Religionsgeschichte kann die specifische Eigenthümlichkeit des Christentums ermittelt werden, welche in allen Beziehungen der theologischen Erkenntniß

[Rez.] Max Reischle [wie Anm. 6], Sp. 1103), verstand sich Rahlfs doch zeit seines Lebens als direkter Lagarde-Schüler (vgl. u. a. Alfred Rahlfs: Paul de Lagardes wissenschaftliches Lebenswerk im Rahmen einer Geschichte seines Lebens dargestellt, Göttingen 1928). Daß darüber hinaus Ernst Troeltsch GS II „dem Gedächtnis“ Lagardes, „meines anderen großen Göttinger Lehrers“, widmete (vgl. GS II, S. VI und S. VIII), macht hinreichend deutlich, wie wenig berechtigt Klatts Zurückweisung (Werner Klatt: Hermann Gunkel [wie Anm. 14], S. 27, Anm. 43) von Hans-Walter Schüttes Kritik daran ist, daß Lagardes „Wirkung auf die religionsgeschichtliche Schule“ bisher „auffällig gering bemessen“ wurde. Das diesbezügliche „Selbstgefühl ihrer Repräsentanten“ ist jedoch weniger einheitlich, als Schütte unterstellt. 158 Paul de Lagarde: Zum letzten Male Albrecht Ritschl (wie Anm. 47), S. 282. Vgl. Ernst Troeltsch: Meine Bücher (1922), in: GS IV, S. 3–18, hier S. 17. 159 Albrecht Ritschl: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Dritter Band (wie Anm. 48), S. 9.

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gewahrt werden muß.“ Troeltschs These ist dem zweiten Teil dieser Aussage terminologisch nahe verwandt. Solche Nähe vermag freilich eine grundsätzliche Differenz nicht zu verdecken. Ritschl ist im zweiten Teil des Satzes vom § 7 von Schleiermachers „Christlichem Glauben“ abhängig, wo Schleiermacher behauptet, daß die „verschiedenen in der Geschichte hervortretenden bestimmt begrenzten frommen Gemeinschaften [. . .] sich zueinander teils als verschie161 dene Entwicklungsstufen, teils als verschiedene Arten“ verhalten. Trotz der im Anschluß an das obige Zitat formulierten Schleiermacher-Kritik teilt Ritschl dessen Sicht der „Verschiedenheiten der frommen Gemeinschaften überhaupt“ insoweit, als er, in Aufnahme der Begrifflichkeit Schleiermachers, die Mannigfaltigkeit der Religionen ausschließlich unter den zwei Prinzipien betrachtet, daß jede einzelne Religion immer nur als species eines genus oder aber als Moment einer Evolution bestimmt werden kann. Aufgrund der Übernahme des „Verfahren[s]“ der Systematisierung der Religionen bezieht seine SchleiermacherKritik sich deshalb allein auf die inhaltliche Bestimmtheit von Schleiermachers dogmatischem Begriff der Eigentümlichkeit des Christentums. Wegen der „Unterschätzung der Religion des Alten Testaments“ entspreche Schleiermachers „Definition der christlichen Religion [. . .] bei näherer Betrachtung berechtigten 162 Ansprüchen keineswegs“. Seine eigene Bestimmung des Christentums gewinnt Ritschl deshalb durch eine Erhöhung des dogmatischen Anspruchsniveaus. Dadurch wird sein Programm der Einbeziehung der Religionsgeschichte in die Theologie freilich mit einer eigentümlichen Schwierigkeit belastet. Zunächst soll der spezifische Wesensbegriff des Christentums durch systematische Zusammenfassung der christlich-religiösen Gehalte „erreicht“ werden, so wie sie in der Lehre Jesu und der Apostel ausgesprochen sind. Insofern ist die Fixierung des Begriffs des Christentums von allem religionsgeschichtlichen Vergleich unabhängig. Der Vergleich ergibt nur, daß der dogmatisch erreichte Begriff „sicher gestellt“ wird. Das provoziert nicht bloß die Frage, was diese Sicherstellung des Begriffs über die dogmatisch geleistete Fixierung hinaus erbringt. Sondern unter den Bedingungen dieses Verfahrens wird auch fraglich, ob Ritschls eigene Auskunft überhaupt zutrifft, daß die „Eigenthümlichkeit des Christentums“ „erst“ durch religionsgeschichtlichen Vergleich expliziert werden kann. Ritschl hatte den entsprechenden Begriff zuvor ja schon dogmatisch „erreicht“. Die „Hinzuzie-

160 Ebd., S. 8 f. 161 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 1. Band, hrsg. von Martin Redeker, 7. Aufl., Berlin 1960, S. 47. 162 Albrecht Ritschl: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Dritter Band (wie Anm. 48), S. 9 f.

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hung der allgemeinen Religionsgeschichte“ scheint nur der Bestätigung dieses dogmatischen Begriffs des Christentums zu dienen. Troeltschs Bestimmung der Theologie als einer „religionsgeschichtlichen Disziplin“ zielt demgegenüber auf ein Verfahren zur Beschreibung des spezifisch Christlichen, das nicht durch dogmatische Vorentscheidungen konstituiert wird, welche das Resultat präjudizieren. In seiner Distanznahme gegenüber einer Durchführung der geforderten religionsgeschichtlichen Orientierung der Theologie im Sinne einer „Konstruktion der universalen Religionsgeschichte“ gibt sich dieses Interesse einer nicht dogmatischen Explikation des eigentümlichen Gehalts des Christentums nachdrücklich zu erkennen. Der spezifische Begriff des Christentums soll analytisch, durch historischen Vergleich erzeugt werden. Inwieweit Troeltsch sich damit den Dogmatismus-Verdacht zu eigen macht, den de Lagarde immer wieder gegen Ritschl zu Protokoll gegeben hatte, kann hier nicht entschieden werden. Doch ist Troeltsch mit seiner Forderung, Theologie als eine „religionsgeschichtliche Disziplin“ zu verstehen, weit davon entfernt, Lagardes Position als solche zu affirmieren. Dessen Forderung der Auflösung der theologischen Fakultäten in religionswissenschaftliche lag das Programm einer allgemeinen Religionsgeschichte bzw. „comparative[n] Religionswissenschaft“ 163 zugrunde, die das Identische „in allen Religionen“ aufsuchen und so die in aller bestimmten bzw. historischen Religion sich objektivierende „Religion über164 haupt“ erkennen soll. Troeltsch hingegen denkt an einen religionsgeschichtlichen Vergleich, in den nur die „wenigen grossen Religionen, die wir genauer kennen“, einbezogen sind, und setzt sich auch in dieser Hinsicht vom Programm einer „universalen Religionsgeschichte“ ab. Denn seiner „Vergleichung“ liegt ein von dem Interesse de Lagardes an der Bestimmung des Wesens von Religion überhaupt differentes spezifisch theologisches Interesse an einer bestimmten Religion zugrunde: Der Vergleich zielt nicht auf die Bestimmung des Gemeinsamen in allen verglichenen historischen Gestalten, sondern auf die differentia specifica des Christlichen. Religionsgeschichte steht bei de Lagarde für die Auflösung der Theologie in eine allgemeine Religionswissenschaft. Mit der Bestimmung der Theologie als religionsgeschichtlicher Disziplin setzt Troeltsch umgekehrt den religionswissenschaftlichen Vergleich in eine theologische Funktion ein. Denn

163 Paul de Lagarde: Über die gegenwärtige Lage des Deutschen Reiches (1875), in: ders.: Deutsche Schriften, hrsg. von Karl August Fischer, 2. Aufl., München 1934, S. 114–194, hier S. 179. 164 Paul de Lagarde: Über das Verhältnis des deutschen Staates zu Theologie, Kirche und Religion. Ein Versuch, Nicht-Theologen zu orientieren, in: ders.: Deutsche Schriften (wie Anm. 163), S. 45–90, hier S. 80. Vgl. dazu Hans-Walter Schütte: Theologie als Religionsgeschichte (wie Anm. 21), S. 116 ff.

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die Theologie hat nicht ein Abstraktum von Religion überhaupt zum Gegenstand, sondern dient der „Bestimmung des Inhalts der christlichen Religion“, wodurch der religionswissenschaftliche Vergleich funktional auf eine Theorie des Christentums hin bestimmt ist. Insofern läßt sich die Differenz Troeltschs gegenüber Lagarde als eine des dogmatischen Interesses begreifen. Gegenüber dem Programm einer „Allgemeinen Religionsgeschichte“ bringt er eine Kontinuität zu Ritschl zum Ausdruck, indem auch für ihn zur Betrachtung der Religionsgeschichte die Perspektive auf das Christentum hin leitend ist; denn Theologie soll nicht durch ein allgemeines Interesse an Religion, sondern einen spezifischen Bezug auf das Christentum konstituiert werden. Im Unterschied zu Ritschl soll die Eigentümlichkeit des Christentums jedoch nicht dogmatisch normativ produziert, sondern gleichsam durch empirische Analyse gegebener Religion erzeugt werden. Man wird hierin einen Grundzug von Troeltschs theologischem Selbstverständnis erblicken müssen. Seine „Arbeit“ ist nicht zureichend dadurch gekennzeichnet, daß sie „keine besonderen theologi165 schen, insbesondere keine christlichen, Methoden der Forschung anerkennt“. Sie will zugleich der Erfassung der „christliche[n] Lebenswelt“ dienen, von de166 ren „Größe und innerer Bedeutung“ Troeltsch zeit seines Lebens überzeugt bleibt. Dieses Verständnis von Theologie spricht schon die 1. Promotionsthese aus. Insofern bestätigt auch sie die Behauptung, daß die theologische Position, die Troeltsch zum Zeitpunkt von Promotion und Habilitation vertrat, falsch charakterisiert wird, wenn man sie als Position einer unmittelbaren Schülerschaft zu Ritschl beschreibt. Zwar wird in der Troeltsch-Literatur immer wieder behauptet, daß der junge Troeltsch ein Ritschlianer gewesen sei, der erst im Verlauf der neunziger Jahre allmählich von Ritschl sich emanzipierte. Diese Sicht kann sich jedoch nur bedingt auf die zahlreichen Äußerungen Troeltschs stützen, wo er 167 Ritschl als seinen „Lehrer“ bezeichnete. Diesen Titel wandte er nicht bloß auf

165 Ernst Troeltsch: Vorwort, in: GS I, S. VII–IX, hier S. IX. 166 Ebd., S. IX. 167 Ernst Troeltsch: Das Historische in Kants Religionsphilosophie (wie Anm. 58), S. V, jetzt in: KGA 6, S. 869; ders.: Meine Bücher, in: GS IV, S. 5; vgl. ders.: Vorwort, in: GS II, S. VII–VIII, hier S. VIII; aber auch ders.: Die christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen, in: GS II, S. 227–327, hier S. 324, Anm. 20. Als sich Troeltsch im Januar 1896 bei dem Verleger Paul Siebeck für die Zusendung eines „Bilde[s] meines Lehrers Ritschl“ bedankt, berichtet er davon, daß er während seiner „Studienzeit [. . .] viel mit Ritschl verkehrte“ (Brief Ernst Troeltschs an Paul Siebeck vom 12. Januar 1896, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachl. 488 [Verlagsarchiv Mohr Siebeck], A 85, demnächst in KGA 19). Da der Nachlaß Albrecht Ritschls von seinem Sohn Otto Ritschl wohl vernichtet wurde (Briefliche Auskunft von Herrn Prof. Dr. Dietrich Ritschl), läßt sich über die persönliche Beziehung zwischen Albrecht Ritschl und dem jungen Troeltsch derzeit noch nichts Genaues sagen.

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mehrere Größen der Zeit an, sondern die von ihm als seine Lehrer bezeichneten Theologen und Philosophen vertraten so unterschiedliche Positionen, daß in keinem Fall die Relation auf nur eine dieser Positionen die Eigentümlichkeit von Troeltschs eigenem Standpunkt angemessen zu genetisieren erlaubt. Daß der Schüler sich nicht nur einem Lehrer zuordnete, ist vielmehr ein erster Ausdruck des Anspruchs auf Originalität. Wo Troeltsch von seinen Lehrern sprach, betonte 169 er zugleich seine „Selbständigkeit“. Will man diesen Anspruch auf Selbständigkeit in Hinblick auf den jungen Troeltsch auf einen Begriff bringen, scheint die Formel vom „Systematiker der religionsgeschichtlichen Schule“ nur insoweit unangemessen, als das, was die jungen Göttinger miteinander verband, sich im Bilde einer „Schule“ nicht präzise genug erfassen läßt. Denn die Rede von theologischen Schulen impliziert zumeist die Vorstellung, daß sie durch die Bindung an einen Lehrer bzw. ein Schulhaupt sich gebildet habe. Wer in Göttingen in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts Theologie studierte, sah sich jedoch miteinander konkurrierenden, sehr unterschiedlichen Entwürfen verschiedener Göttinger Universitätslehrer teils direkt, teils indirekt konfrontiert. Auch wenn wir nicht wissen, wer von diesen Lehrern in welcher Weise einen bestimmenden Einfluß auf das theologische Selbstverständnis der jungen Göttinger bzw. einzelne von ihnen ausübte, ist doch eines sicher: Daß sie die „letzte Schule“ Albrecht Ritschls waren, ist nur in einem übertragenen Sinne wahr. Soziologisch gesehen lassen sie sich angemessener als eine Gruppe jüngerer Theologen beschreiben,

168 Allein in „Meine Bücher“ nennt Troeltsch neben „einige[n] tüchtige[n] Lehrer[n]“ von der Schule (GS IV, S. 3) Ritschl, Claß und de Lagarde ausdrücklich seine Lehrer (S. 5 und S. 17). In der Vorrede der Buchausgabe des großen Aufsatzes zu Kants Religionsphilosophie (wie Anm. 58, S. V, jetzt in: KGA 6, S. 868 f.) bezeichnet er „Albrecht Ritschl und Hermann Schultz“ als die, „die in der Fakultät seiner Zeit meine verehrten Lehrer gewesen sind“. Frühe Texte bieten ein anderes Bild: Im autobiographischen Text aus dem Wintersemester 1891/92 bezeichnet Troeltsch Karl Knoke als seinen „Lehrer“, ebenso in dem für das Bonner „Album Professorum“ geschriebenen Lebenslauf. Vgl. Ernst Troeltschs Brief an das Königlich Protestantische Oberkonsistorium zu München vom 28. Juni 1889 sowie seinen Lebenslauf und Brief vom 19. März 1891 an das Königlich Protestantische Konsistorium Ansbach, Nürnberg, Landeskirchliches Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Bestände Landeskirchenrat 51933 und Oberkonsistorium München Prüfungen 0771; Das Album Professorum der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn 1818–1933, im Auftrag der Fakultät hrsg. von Heiner Faulenbach (Academica Bonnensia, Band 10), Bonn 1995, S. 204–207, hier S. 206. 169 Vgl. neben GS II, S. VIII, z. B. die Vorrede zu „Das Historische in Kants Religionsphilosophie“, wo Troeltsch seinerseits zu erkennen gibt, daß er sich in einem bestimmten „Sinne [. . .] durchaus als Schüler Ritschls“ betrachtet, andererseits aber schon für sich als Studenten eine prinzipielle Selbständigkeit in Anspruch nimmt: „Aber allerdings hatte ich gegenüber der von Ritschl gegebenen Durchführung seiner Lehre schon als Student zwei grundsätzliche Bedenken.“ Ernst Troeltsch: Das Historische in Kants Religionsphilosophie (wie Anm. 58), S. V, jetzt in: KGA 6, S. 869.

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die von einem Zeitpunkt an, der gegenwärtig nicht genau bestimmbar ist, in engem wechselseitigen Austausch standen und dabei sich darüber verständigten, daß es eine Aufgabe der Theologie sei, der lebensweltlichen Faktizität von Religion im Unterschied zur bloßen Theologie gerecht zu werden – was eine Absage an das von Ritschl vertretene Programm von Theologie implizierte. Was den Mitgliederbestand dieser Gruppe, die Art ihres Kommunikationsprozesses, die verschiedenen Einflüsse, welche die Ausbildung eines gruppenspezifischen Selbstverständnisses beförderten, bzw. den Grad theologischer Gemeinsamkeit betrifft, gibt es derzeit ungleich mehr Fragen als historisch vertretbare Antworten. Doch es kann als gesichert gelten, daß es ein gruppenspezifisches Selbstverständnis auch im Sinne eines inhaltlich bestimmten Bewußtseins theologischer Zusammengehörigkeit gab. Damit ist nicht die theologische Individualität der einzelnen jungen Göttinger negiert. In Hinblick auf Troeltsch und Bousset lassen sich schon für die neunziger Jahre gravierende theologische Differenzen aufzeigen, und ihr Verhältnis in Göttingen war nicht frei von Spannungen und Kommunikationsproblemen. Das Bewußtsein der je eigenen Position und das individuelle Interesse an bestimmten Fragestellungen schlossen ein Gefühl theologischer Verbundenheit jedoch nicht aus – zumindest im Falle des jungen Troeltsch. Im Zusammenhang von Wredes Ernennung zum Extra-Ordinarius schrieb Troeltsch aus Bonn an Bousset: „Unsere Göttinger kleine Fakultät löst 170 sich schnell genug auf.“ Der Name, den einer der Ordinarien den jungen Habilitanden gegeben hatte, ist zur Selbstbezeichnung geworden. Das erlaubte es dann sogar, von sich selbst als einer „Schule“ zu sprechen. In Boussets 1895 171 erschienenem „Antichrist“ spürte der Heidelberger Troeltsch einen „der jungen Göttinger Schule gemeinsamen Zug“, den er als „eine rückhaltlos religionsgeschichtliche Methode“ charakterisierte, „welche den verschiedenartigen Stoff der das Christentum tragenden und umgebenden religiösen Bewegungen rein 172 historisch und philosophisch untersucht“ . Dieser „Schule“, die später eine breite religionsgeschichtliche Bewegung innerhalb der Theologie entscheidend zu prägen vermochte, war mehr als nur die Überzeugung gemein, die Theologie müsse radikal den Bedingungen des historischen Bewußtseins unterstellt werden. Die emphatische Verwendung von Begriffen wie historisch, geschichtlich, religionsgeschichtlich, kulturgeschichtlich etc., die für alle Mitglieder der Grup-

170 Brief Ernst Troeltschs an Wilhelm Bousset vom 1. Oktober 1892, in: KGA 18, S. 318–326. 171 Wilhelm Bousset: Der Antichrist in der Überlieferung des Judentums, des Neuen Testaments und der alten Kirche, Göttingen 1895. 172 Brief Ernst Troeltschs an Wilhelm Bousset vom 23. Juli 1895, zuerst abgedruckt in: Erika Dinkler-von Schubert (Hrsg.): Ernst Troeltsch (wie Anm. 94), S. 27; Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. W. Bousset 130, 27, demnächst in KGA 19.

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pe, insbesondere in ihren wechselseitigen Rezensionen, belegt werden kann, indiziert, daß dem Programm einer konsequent historischen Theologie ein systematisches Interesse an gelebter christlicher Religion und deren Eigentümlichkeit zugrunde lag. In den Göttinger Anfängen wurde dieses Interesse, von den Thesen her geurteilt, am konsequentesten von Ernst Troeltsch formuliert. Indem er der Kritik an dogmatischen Voraussetzungen der Theologie Albrecht Ritschls, welche die Wahrnehmung der historischen bzw. empirischen Wirklichkeit religiösen Lebens verhinderten, mit einer Deutlichkeit und systematischen Stringenz Geltung verschaffte, die in den Promotionsthesen der anderen jungen Göttinger sich so nicht feststellen läßt, trug er entscheidend dazu bei, daß die Behauptung Paul de Lagardes allmählich in Erfüllung ging: „Ritschl ist in dem Augenblick 174 beseitigt, in dem eine historische Schule der Theologie in das Dasein tritt.“ Dieser Erfolg aber war nur möglich, weil es in der Kleinen Göttinger Fakultät neben den Historikern einen stark historisch interessierten Systematiker gab, der sehr früh die systematischen Implikate des Programms einer konsequent historischen Theologie auf ihren Ritschl-kritischen Begriff brachte. In seinem zweiten Göttinger Semester als Privatdozent hielt dieser Systematiker eine „Societät“ über Ritschls „Unterricht in der christlichen Religion“ ab. Bernhard Weiß, der als Korreferent im Dezernat für die evangelisch-theologischen Fakultäten des Preußischen Kultusministeriums eine Sitzung dieses Seminars visitierte, berichtete darüber nach Berlin: Troeltsch „nahm eine durchaus selbständige Stellung seinem Lehrer gegenüber ein, dessen einschneidende Kritik er durchaus nicht 175 scheute“.

173 Inwieweit die späteren Arbeiten der jungen Göttinger ein gemeinschaftliches gruppen- bzw. „schul“spezifisches Selbstverständnis reflektieren, bedürfte einer eigenen Darstellung, welche eine bisher erst in Ansätzen geleistete historische Bestandsaufnahme zur Voraussetzung hat. Besonderes Augenmerk ist dabei vor allem auf die zumeist sehr programmatischen wechselseitigen Rezensionen zu richten, die gleichsam die öffentliche Bekundung der Rezeption des besprochenen Werkes darstellen. Dem Rezensenten bietet sich hier die Möglichkeit, sowohl seinem individuellen Standpunkt Geltung zu verschaffen als auch, sofern er dies will, die Übereinstimmung im Prinzipiellen gegenüber konkurrierenden Positionen zum Ausdruck zu bringen. Da die jungen Göttinger signifikanterweise von dieser Möglichkeit intensiven Gebrauch machten und sich nicht scheuten, sich in den Rezensionen zueinander zu ‚bekennen‘, ist diesen Texten zur Bestimmung dessen, was sie theologisch miteinander verband, eine sehr viel größere Bedeutung als bisher beizumessen. 174 Paul de Lagarde: Zum letzten Male Albrecht Ritschl (wie Anm. 47), S. 283. 175 Unveröffentlichter Auszug aus einem Bericht von Bernhard Weiß, vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Profile: Spuren in Bonn, in: TS 1, S. 103–131, hier S. 111 f.

Religion und Individualität. Bemerkungen zu einem Grundproblem der Religionstheorie Ernst Troeltschs 1. Von den Schwierigkeiten der Interpretation einer Theorie, die es nur in der Ankündigung gibt Wer mit Troeltschs Verständnis der Religion sich beschäftigt, gerät schnell in eine schwierige Lage. Einerseits läßt sich unschwer erkennen: Troeltsch angemessen zu interpretieren verlangt in erster Linie danach, sein Verständnis von Religion verstehen zu können. Denn nach Troeltschs eigenen Auskünften bildet die Theorie der Religion die sachliche Mitte seiner wissenschaftlichen Arbeit insgesamt. Sowohl seinen zahlreichen Äußerungen zur allgemeinen Wissenschaftssystematik und zur theologischen Enzyklopädie als auch seinen Kommentaren zur 1 eigenen literarischen Produktion zufolge stellt die Religionsphilosophie gleichsam den Ausgangs- und Zielpunkt, das Fundament und Zentrum seiner wissenschaftlichen Arbeit in einem dar. Andererseits aber vermochte Troeltsch seine Religionsphilosophie nicht oder nicht mehr materialiter auszuarbeiten. Was tatsächlich vorliegt, sind allein erste Programmskizzen, von denen einige mehrfach reformuliert und andere später ausdrücklich als zum Teil überholt bezeichnet 2 3 wurden, mehrere theoriegeschichtliche Vorstudien und eine eindrucksvolle 1 Neben den Vorworten zu verschiedenen selbständig erschienenen Arbeiten und den zwei Fassungen von „Meine Bücher“ (in: Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hrsg. von Raymund Schmidt, Band 2: Erich Adickes / Clemens Baeumker / Jonas Cohn / Hans Cornelius / Karl Groos / Alois Höfler / Ernst Troeltsch / Hans Vaihinger, Leipzig 1921, S. 161–173, zweite verbesserte Auflage 1923, S. 165–182, auch in: GS IV, S. 3–18) sind in dieser Hinsicht auch einige Korrespondenzen ergiebig. Die im Druck erschienenen Briefe Troeltschs sind nachgewiesen in: Ernst Troeltsch Bibliographie, hrsg., eingeleitet und kommentiert von Friedrich Wilhelm Graf und Hartmut Ruddies, Tübingen 1982, S. 261–264. Neben einem Brief an den Verleger Eugen Diederichs vom 10. Juni 1915 (in: Ulf Diederichs [Hrsg.]: Eugen Diederichs. Selbstzeugnisse und Briefe von Zeitgenossen, Mit einer Vorrede von Rüdiger Robert Beer, Düsseldorf, Köln 1967, S. 224–226) sind dazu inzwischen zwei Briefe Troeltschs an Georg von Lukács vom 1. August 1912 (aus Heidelberg) und 10. Januar 1917 (aus Berlin) nachzutragen: Georg Lukács: Briefwechsel 1902–1917, hrsg. von Éva Karádi und Éva Fekete, Stuttgart 1982, S. 292–293 und S. 390. 2 So liegt, um ein repräsentatives Beispiel zu nennen, der für Troeltschs religionsphilosophisches Programm wichtige Text „Wesen der Religion und der Religionswissenschaft“ in drei verschiedenen Fassungen (1906, 1909, 1912) vor (vgl. Ernst Troeltsch Bibliographie [wie Anm. 1], S. 74 f.). 3 Vgl. insbesondere: Ernst Troeltsch: Das Historische in Kants Religionsphilosophie. Zugleich ein Beitrag zu den Untersuchungen über Kants Philosophie der Geschichte, Berlin 1904, jetzt in: KGA 6, S. 868–1072.

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Zahl von Texten, welche eine intensive Rezeption und Kritik zeitgenössischer 4 Publikationen zur Religionsthematik widerspiegeln, sowie schließlich eine Reihe von Entwürfen bestimmter Teile des großen systematischen Ganzen, das Troeltsch vorschwebte. Dieses selbst gibt es nur in der Ankündigung des Autors bzw. auch in zahlreichen Versicherungen und eher apologetisch klingenden Beteuerungen, angesichts der zwischenzeitlichen Erledigung bestimmter Vorarbeiten endlich das schwierige Geschäft einer konsistenten Gesamtdarstellung seiner Religionsphilosophie in Angriff nehmen zu können, was er, sobald noch einige andere theoretische Voraussetzungen hinreichend geklärt seien, nun möglichst bald tun wolle. Im Zusammenhang der Arbeit am letzten Kapitel der „Soziallehren“ schreibt Troeltsch im Januar 1911 an den Verleger Paul Siebeck: „Ich muß mich jedesmal auf meinen Gegenstand konzentrieren und kann dann nichts anderes daneben treiben. Die letzten Jahre sind durch die Soziallehren vollständig in Anspruch genommen gewesen, und ich habe in systematischer Theologie und Philosophie nichts gelesen und nichts gearbeitet außer meinen Kollegien. Mit dem Sommer muß nun überhaupt ein totaler Frontwechsel kom5 men. Da kehre ich zur Systematik zurück.“ Im darauffolgenden Winter war die neue Front allerdings noch nicht eröffnet. Im Zusammenhang der Beschaffung der umfangreichen Literatur, die über und vor allem auch gegen seine Absolutheitsschrift erschienen war, heißt es im November 1911 zwar: „Die ‚Absolutheit‘ setzt in einer Neu-Auflage viel weitere Lektüre voraus. Das Kolleg, das ich jetzt neu im Winter lese, das wird gerade hierfür sehr dienlich sein. Denn jetzt geht es wieder völlig in die systematische Arbeit hinein und sind die historischen Studien zu Ende. Hoffentlich verlangt auch ‚Psychologie und Erkenntnistheorie

4 Neben den zahlreichen Literaturberichten und Rezensionen zur Religionsphilosophie, die in aller Regel mehr über Troeltsch selbst als über das jeweils besprochene Werk aussagen (vgl. dazu schon: Adolf von Harnack: Ernst Troeltsch. Rede gehalten bei der Trauerfeier am 3. Februar 1923, in: ders.: Erforschtes und Erlebtes. Reden und Aufsätze, Neue Folge, 4. Band, Gießen 1923, S. 360–367, bes. S. 362, jetzt in: TS 12, S. 266–271, hier S. 267), vgl. insbesondere: Ernst Troeltsch: Religionsphilosophie, in: Wilhelm Windelband (Hrsg.): Die Philosophie im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Festschrift für Kuno Fischer, 1. Band, Heidelberg 1904, S. 104–162, jetzt in: KGA 6, S. 543–613. Diesen Text kündigte Troeltsch Friedrich von Hügel im April 1901 als einen „Grundriß der Religionsphilosophie als Bestandteil einer Enzyklopädie der Philosophie“ an (Brief Ernst Troeltschs an Friedrich von Hügel, 13. April 1901, St. Andrews, University Library, Nachlaß Friedrich von Hügel, MS 3075, zuerst abgedruckt in: Ernst Troeltsch: Briefe an Friedrich von Hügel 1901–1923. Mit einer Einleitung, hrsg. von Karl-Ernst Apfelbacher und Peter Neuner, Paderborn 1974, S. 58, demnächst in KGA 19). Doch handelt es sich faktisch nur um den Versuch einer Beschreibung des von Troeltsch als wenig einheitlich charakterisierten „Stand[es] der Disziplin in der Gegenwart“ (Ernst Troeltsch: Religionsphilosophie, S. 109, jetzt in: KGA 6, S. 548). 5 Brief Ernst Troeltschs an den Verleger Paul Siebeck vom 6. Januar 1911, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachl. 488 (Verlagsarchiv Mohr Siebeck), A 318.

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in der Religionswissenschaft‘ eine zweite Auflage; auch hier ist viel zu ändern. 6 Jetzt geht es mit Macht auf die Religionsphilosophie los.“ Was Troeltsch neben 7 der Überarbeitung einiger älterer Aufsätze zur Religionsthematik dann aber tatsächlich in Angriff nahm, war erneut eine historische Untersuchung: Mit der wohl im Mai 1914 fertiggestellten, ursprünglich bloß als Aufsatz konzipierten Monographie über „Augustin, die christliche Antike und das Mittelalter“ wollte Troeltsch „eine Lücke in meinen Soziallehren ausfüllen“, die ihm wohl durch die insbesondere von seiten prominenter Kirchenhistoriker schon relativ bald nach dem Erscheinen des ersten Bandes der „Gesammelten Schriften“ geäußerte 6 Brief Ernst Troeltschs an Paul Siebeck vom 5. November 1911, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachl. 488 (Verlagsarchiv Mohr Siebeck), A 318. Schon im unmittelbar vorhergehenden Brief an Siebeck vom 1. November 1911 hieß es: „Es wird mir eine Erlösung sein, wenn ich die Soziallehren vom Halse habe“. Vgl. u. a. auch Troeltschs Brief an Friedrich von Hügel vom 25. Februar 1912 über die mit den „Soziallehren“ nun erstmals realisierten mehrfachen Aufforderungen von Hügels, „daß ich endlich große Bücher schreiben müsse“: „Freilich aufs Ganze gesehen ist auch das ein Vorbereitungswerk und nicht mein eigentliches Werk. Dieses muß eine Religionsphilosophie und eine Ethik sein, worauf eine Glaubenslehre und eine christliche Ethik folgen sollen. Das ist mein Plan [. . .]. In ca. 5 Jahren ist, hoffe ich, die Religionsphilosophie fertig“ (St. Andrews, University Library, Nachlaß Friedrich von Hügel, MS 3082, zuerst abgedruckt in: Ernst Troeltsch: Briefe an Friedrich von Hügel 1901–1923 [wie Anm. 4], S. 92 f.). Dies läßt eine bemerkenswerte Kontinuität in Troeltschs Publikationstätigkeit erkennen. Spätestens bei einem Heidelberg-Besuch Paul Siebecks Mitte März 1904 kündigte Troeltsch seinem über diese „Aussicht [. . .] sehr erfreut[en]“ Verleger eine „Religionsphilosophie und Glaubenslehre“ an (Brief Paul Siebecks an Ernst Troeltsch vom 23. März 1904, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachl. 488 [Verlagsarchiv Mohr Siebeck], A 191, demnächst in KGA 19). Dementsprechend heißt es in einem Brief an Paul Siebeck vom 29. Dezember 1907 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachl. 488 [Verlagsarchiv Mohr Siebeck], A 240), in dem Troeltsch u. a. ankündigte, seine zunächst im „Archiv für Sozialwissenschaft“ erscheinenden Aufsätze für eine spätere „Separatausgabe“ noch einmal überarbeiten zu wollen („ich hätte hier unter Anregung von Max Weber noch einige Bemerkungen zu machen“), mit Bezug auf seine Dogmatik-Artikel für die RGG: „Die weiteren Pläne, die hinter alledem stehen, sind ihnen ja bekannt. Ich muß meine Religionsphilosophie machen und will dann in kurzem Abriß Glaubenslehre und Ethik folgen lassen.“ Diese Absichtserklärung wurde von Troeltsch dem Verlag gegenüber mehrfach bekräftigt. 7 Die Sammlung der Aufsätze kommentierte Troeltsch im Vorwort: „In ihrer Vereinigung ergeben die Aufsätze, die teilweise geradezu Monographien sind, ein Bild des Ganzen, wie es mir vorschwebt. Nur durch viele Einzeluntersuchungen und immer neues Durchdenken der Prinzipien kann man zu einem solchen Ganzen kommen. Insbesondere muß die historische Situation klar sein, aus der heraus man das neue Ganze erstrebt [. . .]. Für die Zukunft wird es sich darum handeln, die Religionsphilosophie und Ethik auszuführen, für die so die Grundlegung geschaffen ist, und dem dann die Glaubenslehre und christliche Sittenlehre folgen zu lassen, die sich aus einer solchen Religionsphilosophie und Ethik entwickeln müssen. Für die gegenwärtige geistige Situation ist Religionsphilosophie und allgemeine Ethik entscheidend. Aber für die Sache selbst liegt natürlich der Schwerpunkt in der konkreten Ausführung des religiös-ethischen Gedankens selbst.“ (GS II, S. VII).

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Kritik deutlich geworden war, und zugleich sein Programm einer „Religionsgeschichte des Christentums“ der inneren Komplexität der christlichen Lebenswelt 8 gemäß differenzieren. So möchte ich eine erste These vertreten: Jeder Versuch einer Rekonstruktion von Troeltschs Religionsverständnis muß die systematischen Probleme klären, welche die materiale Entfaltung seiner Religionstheorie verhinderten. Allerdings sind die Schwierigkeiten Troeltschs, seine Theorie der Religion den eigenen Ansprüchen gemäß zu konzeptualisieren, häufig nur zum Teil wahrgenommen oder auch verdrängt worden. Diese Tendenz, im noch andauernden Prozeß einer umfassenden Reformulierung der durch Troeltsch repräsentierten Probleme (zunächst) von den Schwierigkeiten der Ausarbeitung seines Programms zu abstrahieren, läßt sich exemplarisch an einer Figur der Interpretation der Werkgeschichte verdeutlichen, die sich zum Realisierungsdefizit seiner Religionsphilosophie gleichsam kompensatorisch verhält: an der Behauptung nämlich, die spätere Geschichtsphilosophie habe der Sache nach die Stelle der (früheren) Religionsphilosophie eingenommen. Doch der vorliegende Historismus-Band ist 9 nur der erste Teil eines größeren Ganzen, also ein Fragment, und dieses Ganze, soweit man seinen Umriß schon aus dem dritten Band der „Gesammelten Schriften“ sowie einigen sachlich verwandten kleineren Arbeiten der Berliner Zeit erkennen kann, verstand Troeltsch selbst wiederum nur als ein bestimmtes Element des Fortschreitens auf dem langen Wege zur Ausarbeitung der materialen 10 Religionsphilosophie . Wer ein nicht bloß antiquarisches, sondern systematischkonstruktives Interesse an Troeltschs Theologie hat, darf angesichts der Bedingungen, welche dieser selbst für eine Religionstheorie im Horizont des modernen Bewußtseins formuliert hatte, deshalb einer Erklärung dafür nicht ausweichen, daß Troeltsch sein Programm nicht durchzuführen vermochte. Es wäre allerdings unangemessen, dazu schlicht auf eine vermeintliche systematische Impotenz Troeltschs zu rekurrieren, wie sie etwa Paul Tillich seinem großen heimlichen 11 Vorbilde primär aus positionenpolitischen Motiven attestierte. Denn solch einer Behauptung, die, nicht ohne polemische Zuspitzung, schon von manchen Zeitge-

8 Ernst Troeltsch: Augustin, die christliche Antike und das Mittelalter. Im Anschluß an die Schrift „De Civitate Dei“, München, Berlin 1915, S. V f. In „Meine Bücher“ (1921) bezeichnete Troeltsch das Augustin-Buch erneut als einen „Nachtrag“ zu den „Soziallehren“ (GS IV, S. 3–18, hier S. 12). 9 Dies ist von Troeltsch mehrfach betont worden; vgl. u. a. GS III, S. VII, jetzt KGA 16, S. 163; und „Meine Bücher“, in: GS IV, S. 14. 10 Vgl. insbesondere die Formulierungen in „Meine Bücher“, in: GS IV, S. 13–15. 11 Vgl. neben der bekannten Formulierung Tillichs: „Troeltsch ist die negative Voraussetzung jedes kommenden Aufbaues“ (Paul Tillich: Ernst Troeltsch. Versuch einer geistesgeschichtlichen Würdigung [1924], in: ders.: Begegnungen. Paul Tillich über sich selbst und andere [Gesammelte Werke, Band 12], Stuttgart 1971, S. 166–174, hier S. 166, jetzt in: TS 12, S. 646–653, hier S. 648),

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nossen Troeltschs vertreten und dann von einigen jüngeren Repräsentanten der Theologie der 1920er Jahre vergröbert wurde, steht bereits die bemerkenswerte Tatsache entgegen, daß Troeltsch nachweislich um die Schwierigkeiten der Einlösung seines Programms wußte und dessen Realisierungsdefizite zu benennen vermochte. So ist nach möglichen objektiven Hemmnissen und Widerständen in der Entfaltung seiner Religionstheorie zu fragen.

2. Kritische Theorie der Moderne als Entdeckungszusammenhang der Bedeutung von Religion Liest man die einschlägigen Texte unter der Fragestellung, wie Troeltsch selbst die Schwierigkeiten der Konzeptualisierung seiner Religionstheorie reflektiert, so läßt sich eine bemerkenswerte Kontinuität seiner Argumentationsstrategie feststellen. Allen Äußerungen Troeltschs zum Thema liegt eine bestimmte Figur der wechselseitigen Zuordnung von historischer und systematischer Tätigkeit zugrunde. Zunächst betont Troeltsch jeweils, daß die systematische Entfaltung der Religionstheorie notwendig von bestimmten historischen Vorstudien abhängig sei. Damit verbindet sich dann immer von neuem die Feststellung, die im Medium historischer Analyse erfolgende Klärung der Voraussetzungen der Religionsphilosophie habe sich zunehmend kompliziert, weshalb weitere, notwendig auch methodisch differenzierte Untersuchungen unumgänglich seien. So wird die Religionsphilosophie auf der langen Bank des historischen Bewußtseins immer weiter hinausgeschoben. Aber warum kann Troeltsch nicht auf solche geschichtlichen Vorarbeiten verzichten? Unverzichtbar sind diese insofern, als unter den Bedingungen der neuzeitlichen Kultur sich von Religion nur im Wissen um die spezifische Struktur des modernen Bewußtseins angemessen sprechen läßt. Es gehört nun zu den Merkmalen von Troeltschs Theorieprogramm, daß solches Wissen ausschließlich auf dem Wege historischer Analyse gewonnen werden können soll; geschichtliche Vergegenwärtigung der eigenen Genese ist der primäre Modus der Selbstverständigung modernen Bewußtseins. Infolgedessen ist solches historische Wissen die Bedingung dafür, die Frage einer intersubjektiv zugänglichen Antwort zuführen zu können, ob oder inwieweit Religion unter den kulturellen Bedingungen der Moderne überhaupt noch möglich ist. Religionsphilosophie im geschichtlichen Kontext der Neuzeit muß nach Troeltsch die Plausibilität von Religion auch außerhalb ihres bestimmten eigenen Ortes, beispielsweise bestimmte Urteile in dem ursprünglich an prominentem Orte, im Feuilleton der „Vossischen Zeitung“, erschienenen Nachruf Tillichs: Zum Tode von Ernst Troeltsch (1923), in: ders.: Begegnungen, S. 175–178, bes. S. 176, jetzt in: TS 12, S. 249–252, bes. S. 250.

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also insbesondere extra muros ecclesiae, aufweisen können. Diese Frage und eine immer radikalere Einsicht in die Schwierigkeiten ihrer angemessenen Beantwortung stellen gleichsam das Antriebszentrum seiner ungeheuren literarischen Produktivität dar. Spätestens seit der Jahrhundertwende hat Troeltsch zunehmend die sachliche Inadäquanz einer reduktionistischen Herleitung und Erklärung der modernen Kultur aus nur einem Prinzip empfunden. Die von der modern-positiven Theologie seiner Zeit vorgenommene, später gern tradierte Stilisierung Troeltschs zum Verkünder einer Triumphgeschichte der modernen Subjektivität oder gar zum alles harmonisierenden Bürgertheologen läßt sich als eine Unterbestimmung seines Problembewußtseins aufweisen, die sich den Herrschaftsinteressen einer theologischen Konstruktivität verdanken dürfte, welche wohl allzu projektiv ist. Im Zusammenhang von historischen Studien, zunächst zur Theolo12 13 giegeschichte des 19. Jahrhunderts und zur Aufklärung, entdeckt Troeltsch, daß „die“ Neuzeit einen in sich höchst komplexen Kulturzusammenhang mit 12 Schon am 9. Juli 1891, noch im Jahr seiner Habilitation also, verpflichtete sich Troeltsch vertraglich zu einer „Geschichte der Protestantischen Theologie“, die im Rahmen des von Karl Müller (Tübingen) herausgegebenen enzyklopädischen „Grundrisses der theologischen Wissenschaften“ erscheinen sollte (vgl. den Brief Paul Siebecks an Ernst Troeltsch vom 7. Juli 1891, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachl. 488 [Verlagsarchiv Mohr Siebeck], Kopier-Bücher Mohr 8, Nr. 22–29, 31. November 1890–30. März 1893, Nr. 24, fol. 23). Trotz Troeltschs wiederholten Ankündigungen der Arbeit an diesem Buche einerseits („Ich stecke mit aller Energie in meiner Gesch. d. Theologie, zu der aber erst noch eine ganze Anzahl von Vorarbeiten geleistet werden müssen“ [Brief an Paul Siebeck vom 23. März 1900, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachl. 488 (Verlagsarchiv Mohr Siebeck), A 140, demnächst in KGA 19]) sowie entsprechenden Mahnungen und Erwartungen des Verlegers andererseits („Was Sie mir über Ihre Geschichte der Theologen schreiben, hat mich sehr interessiert. Wenn Sie der Darstellung den Hintergrund der modernen europäischen Kulturgeschichte geben, wird Ihr Grundriß eines der interessantesten Bücher des Neuen Jahrhunderts werden“ [Brief Paul Siebecks an Ernst Troeltsch vom 24. März 1900; Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachl. 488 (Verlagsarchiv Mohr Siebeck), A 140, demnächst in KGA 19]) kam es bekanntlich nicht zur Verwirklichung dieses Projekts – obgleich Troeltsch wiederholt von der Arbeit an der Geschichte der „Neuesten Theologie“ berichtet (so beispielsweise in einem Brief an Wilhelm Bousset vom 23. Juli 1895, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. W. Bousset 130, 27, zuerst abgedruckt in: Erika Dinkler-von Schubert [Hrsg.]: Ernst Troeltsch. Briefe aus der Heidelberger Zeit an Wilhelm Bousset 1894–1914, in: Heidelberger Jahrbücher 20 [1976], S. 19–52, hier S. 95, demnächst in KGA 19) und zahlreiche kleinere Texte zur Theologie- bzw. Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts publizierte. Troeltschs Beitrag zum „Grundriß“ wurde in den entsprechenden Verlagsprospekten bis zu seinem Tode kontinuierlich angekündigt. 13 Vgl. insbesondere: Ernst Troeltsch: Aufklärung, in: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 3. Aufl., 2. Band, Leipzig 1897, S. 225–241. Im November 1898 berichtete Troeltsch darüber hinaus an Paul Siebeck, „daß ich neulich von Below und Meinecke, die ein Handbuch der Mittelalterlichen und Neuzeitlichen Geschichte herausgeben, die Bitte erhielt,

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äußerst heterogenen Tendenzen darstellt. Denn die den spezifischen Emanzipationsanspruch neuzeitlichen Bewußtseins definierende Freisetzung einer Individualkultur wird von ihren eigenen Folgen tendenziell dementiert. Die zunehmend kritischere Einsicht in die antagonistische Grundstruktur der Moderne tritt besonders plastisch in den Passagen seiner Texte hervor, die man eher einem durch die Erfahrung von Stalinismus und Nationalsozialismus geprägten ‚Frankfurter‘ als einem Theologen aus dem wilhelminischen Heidelberg zuschreiben möchte, welches ja, zumindest in manchen Geschichten der Theologie des 20. Jahrhunderts, gern als eine Idylle bürgerlicher Kulturtrunkenheit gemalt wird. Doch sind Troeltschs eigene Zeitaufnahmen keine idyllischen Verklärungen seiner Gegenwart. Diese zweite These soll in zwei Punkten exemplarisch erläutert werden.

a) Die Bedrohung der neuzeitspezifischen Individualitätskultur durch die Herrschaft des Kapitals Schon in relativ frühen Texten Troeltschs finden sich zahlreiche Bestimmungen der modernen Welt, die im Begriff der Individualisierung ihren zusammenfassenden Ausdruck finden. Troeltsch sieht neuzeitliche Kultur wesentlich durch vielfältige Prozesse einer Freisetzung des Individuums aus traditionalen Bindungen unterschiedlichster Art geprägt. Je entschiedener er nun in Heidelberg das schon in Göttingen und Bonn vertretene historisch-hermeneutische Programm materialiter einzulösen versucht, die Geschichte des modernen Geistes könne angemessen nicht in rein intellektualgeschichtlichen Bezügen rekonstruiert werden, sondern bedürfe – im deutlichen Unterschied zur bisherigen Historiographie innerhalb der Theologie – einer Bearbeitung „nach kulturgeschichtlicher Metho14 de“, desto stärker erkennt er jedoch die Inadäquanz einer eindimensionalen

den Band ‚Aufklärungsbewegung‘ zu übernehmen. Ich kann nun nicht leugnen, daß ich mich durch diese Aufforderung der Profanhistoriker sehr geehrt fühle und sehr gerne im Rahmen dieses Unternehmens öffentlich auftreten würde“. Trotz der „etwas getheilte[n] Gefühle“ seines Verlegers (Brief Paul Siebecks an Ernst Troeltsch vom 20. November 1898, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachl. 488 [Verlagsarchiv Mohr Siebeck], A 101, demnächst in KGA 19) gab Troeltsch, der das neue Projekt freilich nicht in Angriff nehmen wollte, „ohne vorher den Grundriß erledigt zu haben“ (Brief an Paul Siebeck vom 19. November 1898, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachl. 488 [Verlagsarchiv Mohr Siebeck], A 101, demnächst in KGA 19), auch Meinecke und Below bzw. deren Verlag, Oldenbourg in München, eine positive Antwort. Aber auch für seine „Geschichte der Aufklärungsbewegung“ blieb es bei Verlagsinseraten. 14 „Kulturgeschichte“ ist einer der Begriffe, in denen Troeltsch die Besonderheit seines historiographischen Verfahrens insbesondere gegenüber der traditionell in der Theologie herrschenden

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Erfassung der Moderne im Begriff der Individualitätskultur. Da neuzeitliches Denken in seiner Gesamtheit sich durch in sich selbst uneinheitliche Transformationsprozesse sehr unterschiedlicher geistiger Traditionen entwickelt bzw. aufbaut, differenziert sich notwendig und zunehmend stärker auch der analytische Leitbegriff Individualitätskultur: Die abstrakt allgemeine Rede von der Freiheit des individuellen Subjekts bzw. seiner Emanzipation aus religiös-kirchlicher und politisch-herrschaftlicher Bevormundung sowie aus unmittelbarer sozialer Integration wird abgelöst von einem Modell der differenzierten Korrelation mehrerer, auch in sich selbst komplex strukturierter Bestimmungen individueller Freiheit. Die diesem Modell eigene Entwicklungskapazität erlaubt es Troeltsch, der durch Abarbeitung am historischen Material gewonnenen Einsicht Rechnung zu tragen, daß der Weg in die Moderne und deren Geschichte einen noch nicht aufgehobenen Widerstreit gegenläufiger Freiheitskonzepte und wechselnde Versuche ihrer Synthesen repräsentiert. Solcher Unterscheidung verschiedener „Typen des Individualismus“ (wie 15 Troeltsch dies wenig präzise auch nennen kann) korrespondiert eine Differenzierung zwischen elementaren neuzeitkonstitutiven Freiheitsansprüchen einerseits und der in deren Realisierung sich nun erzeugenden politischen und Forschungspraxis auslegt. Schon 1895 schreibt er an Bousset, er „arbeite augenblicklich die neueste Theologie und zwar nach meiner Methode, nicht als Summe von Bücheranalysen, sondern kirchengeschichtlich und kulturgeschichtlich“ (Brief Ernst Troeltschs an Wilhelm Bousset vom 23. Juli 1895, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. W. Bousset 130, 27, zuerst abgedruckt in: Erika Dinkler-von Schubert [Hrsg]: Ernst Troeltsch [wie Anm. 12], S. 30, demnächst in KGA 19). Im August 1901 teilt Troeltsch dann Paul Siebeck mit, daß er „den Stoff der Geschichte der Theologie in einem Grundriß nicht bewältigen kann“ und deshalb zunächst sich „statt des Grundrisses ein Handbuch“ zu machen „genötigt“ sieht: „Ich will ein großes prinzipielles Werk schaffen, das Eigentümlichkeit u[nd] Wesen der neueren Theologie im Zusammenhang mit der Culturgeschichte auseinandersetzt u[nd] diese gegen die gesamte alte seit der Entstehung des altchristlichen Dogmas kontrastiert. Das ist der Kerngedanke aller meiner Arbeiten und den will ich nun in einer großen Arbeit historisch auseinandersetzen“ (Brief Ernst Troeltschs an Paul Siebeck vom 1. August 1901, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachl. 488 [Verlagsarchiv Mohr Siebeck], A 151, demnächst in KGA 19). In nahezu allen seinen größeren historischen Untersuchungen verwendet Troeltsch den Begriff „Kulturgeschichte“ denn auch zur näheren Charakterisierung der eigenen Darstellungsweise. Vgl. beispielsweise eine Formulierung aus der im Juli 1914 verfaßten „Vorbemerkung“ des Augustin-Buches: „Die religionsgeschichtliche Methode muß [. . .] überall, wo man das geschichtliche Leben überhaupt genügend in seinen Gesamterscheinungen kennt, eine kulturgeschichtliche sein, was ja die sozialgeschichtliche einschließt“ (Ernst Troeltsch: Augustin, die christliche Antike und das Mittelalter [wie Anm. 8], S. V). Dies klingt prägnant und programmatisch zugleich, ist jedoch in hohem Maße interpretationsbedürftig. 15 Vgl. u. a. Ernst Troeltsch: Das Wesen des modernen Geistes (1907), in: GS IV, S. 297–338, bes. S. 306 ff., jetzt in: KGA 6, S. 434–473, hier S. 443 ff., sowie die Zusätze in Troeltschs Handexemplar: ebd., S. 834, jetzt in: KGA 6, S. 441 f. und S. 444.

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sozialen Destruktion individueller Freiheitsräume andererseits. Mit bemerkenswerter Radikalisierungstendenz stellt Troeltsch die der modernen „Entwicklung“ 16 eigene „Zwiespältigkeit“ heraus. Die „ganz ungeheuere Individualisierung des 17 ganzen Fühlens und Denkens der modernen Menschen“, das Programm von Aufklärung und Idealismus, wird durch die imperialistischen Machtstaaten be18 droht, und an die Stelle der „Schätzung des Einzelindividuums“ ist nun die 19 freiheitsfeindliche Herrschaft des „unpersönliche[n] Abstraktum[s] ‚Kapital‘“ getreten. „Wenn diese [sc. die politischen Ideen der Neuzeit] das Individuum und die Person steigern, so werden diese gemindert durch den Kapitalismus. Er wirkt in der Hauptsache depersonifizierend. Der politisch-rechtliche Individualismus, die Freizügigkeit, die freie Verfügung der Person über sich selbst sind seine Voraussetzungen, ohne die er nicht entstehen konnte und die er daher zu erhalten strebt, soweit sie ihm nützlich sind. Aber es ist sein Schicksal, diese seine Voraussetzungen fortwährend wieder aufzuheben. Er läßt die Individuen nur als Unternehmer und Arbeitshände über und unterwirft beide der unerbittlichen Logik des Abstraktums ‚Kapitalismus‘, das seine Unpersönlichkeit überallhin verbreitet und als Persönlichkeiten nur die wagemutigen Kondottieren des Kapitalismus übrigläßt. Er ballt um die großen Betriebe neue Abhängigkeiten zusammen und schafft ein Analogon der antiken Sklaverei und der mittelalterlichen Hörigkeit, das der persönlichen Elemente dieser älteren Formen vollends entbehrt, und hält Völker und Staaten in Abhängigkeit von den internationalen Finanzkräften. Damit wirkt er allen Tendenzen der individualistisch-politischen 20 Ideen [. . .] entgegen“. Das ist offenkundig eine theoretische Universalisierung 21 und insofern Radikalisierung von Max Webers „stahlhartem Gehäuse“. Die von Weber primär am wirtschaftlichen System der Moderne aufgewiesenen frei16 Ernst Troeltsch: Neunzehntes Jahrhundert (1913), in: GS IV, S. 614–649, hier S. 638. 17 Ernst Troeltsch: Das Wesen des modernen Geistes (wie Anm. 15), S. 306, jetzt in: KGA 6, S. 443. 18 Ebd., S. 311, jetzt in: KGA 6, S. 448. 19 Ebd., S. 308, jetzt in: KGA 6, S. 446. 20 Ebd., S. 310, jetzt in: KGA 6, S. 447. – Zur modernen „Depersonifikation“ des Subjekts vgl. auch den für seine Zeitanalytik äußerst wichtigen Beitrag Troeltschs zu einer aus Anlaß des 25. Regierungsjubiläums Wilhelms II. publizierten repräsentativen Bestandsaufnahme der „Gesamtkultur“ (S. V) durch die „führende[n] Geister“ ihres jeweiligen „Fachgebietes“ (S. VII): Ernst Troeltsch: Religion, in: David Sarason (Hrsg.): Das Jahr 1913. Ein Gesamtbild der Kulturentwicklung, Leipzig, Berlin 1913, S. 533–549, bes. S. 547. 21 Max Weber: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. II. Die Berufsidee des asketischen Protestantismus (1905), in: ders.: Die protestantische Ethik I. Eine Aufsatzsammlung, hrsg. von Johannes Winckelmann, 3. Aufl., Hamburg 1973, S. 115–279, hier S. 188. Die sachliche Analogie zwischen Webers und Troeltschs Analysen der kapitalistischen Kultur ist vor allem von Trutz Rendtorff mehrfach betont worden; vgl. Trutz Rendtorff: Zur Säkularisierungsproblema-

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heitsdestruierenden Tendenzen werden von Troeltsch prinzipieller gefaßt. Denn Troeltsch verknüpft die ökonomische Bestimmung der Ambivalenz der Moderne mit umfassenden theoriegeschichtlichen Analysen der allmählichen Zersetzung der Subjektivität in den wissenschaftlichen Weltbildern der Zeit. Stärker als Max Weber, Georg Simmel, Werner Sombart und verschiedene historisch orientierte Nationalökonomen seiner Zeit thematisiert Troeltsch die Bedrohung individueller Freiheit auf mehreren analytischen Ebenen zugleich.

b) Der Determinismus des szientifischen Bewußtseins und der Ausschluß des Individuums aus der Geschichte Schon in den bekannten Bonner Vorträgen über „Die Begründung des christli22 chen Glaubens gegenüber den Gegensätzen des Atheismus und Materialismus“ beschreibt Troeltsch die mentalitätsgeschichtlich folgenreiche Bedrohung, die vom naturwissenschaftlichen Weltbild für alle aktuellen Bemühungen um eine theoretische Rechtfertigung der Idee der Freiheit ausgeht. Positivismus und Darwinismus, Mechanismus und Naturalismus konvergieren in einer Sicht der Welt als eines kausalmechanisch gesteuerten Regelungszusammenhanges, in dem alles Einzelgeschehen durch allgemeine Gesetze perfekt determiniert ist. Solche Umbestimmung der aufklärerisch-idealistischen Welt des Menschen zur szientifischen Welt der Fakten setzt aber alle Vorstellungen von effektiven Weltgestaltungspotenzen eines frei agierenden Subjektes zum bloßen Schein herab, weshalb mit der Idee sittlich-vernünftigen Handelns zugleich die geschichtlicher Praxis überhaupt obsolet wird. Sofern der „absolute Monismus“ der „mathematischmechanische[n] Naturwissenschaft“ den Geist „aus dem streng geschlossenen 23 Ring der Wirklichkeit“ ausschließt und aller Selbständigkeit als einer Realität sui generis beraubt, muß, wie Troeltsch schon 1893 betont, notwendig auch der 24 Gedanke realer Freiheit sich zersetzen . Doch ist der Bonner Apologet der christlichen Religion bezüglich einer autonomietheoretischen Metakritik der naturwis-

tik. Über die Weiterentwicklung der Kirchensoziologie zur Religionssoziologie (1966), in: ders.: Theorie des Christentums. Historisch-theologische Studien zu seiner neuzeitlichen Verfassung, Gütersloh 1972, S. 116–139, bes. S. 125. 22 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Profile: Spuren in Bonn, in: TS 1, S. 103–131, bes. S. 118 ff. 23 Ernst Troeltsch: Die christliche Weltanschauung und die wissenschaftlichen Gegenströmungen, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 3 (1893), S. 493–528, 4 (1894), S. 167–231, hier S. 513 und S. 507. 24 Dies tritt besonders deutlich in den prägnanten Nachweisen von Analogien zwischen dem „Naturproblem“ und dem „ethische[n] Problem“ (ebd., S. 503) hervor: Sofern „die biologischen Entdeckungen und Methoden Darwin’s [. . .] [als] [. . .] Erklärungsprinzipien sofort auf alle ande-

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senschaftlichen Subjektdestruktion noch relativ optimistisch: „Ein Wörtlein kann diesen Gegner fällen, nämlich, daß die Natur mit all ihren Gesetzen, wie wir sie kennen, nur in unserem Geiste existiert und in gewisser Hinsicht geradezu ein Erzeugnis des Geistes, die Vorstellung desselben ist. Der Geist ist unter allen Umständen das prius in aller den Menschen zu Bewußtsein kommenden Wirk25 lichkeit“. Je mehr Troeltsch dann solche allzu vage ‚gewisse Hinsicht‘ präziser zu bestimmen bzw. sich die vom südwestdeutschen Neukantianismus vertretene naturalismuskritische Position einer unaufhebbaren Geist-Natur-Dualität zu eigen zu machen sucht, desto stärker erkennt er jedoch die gravierenden Schwierigkeiten, die Berechtigung einer unmittelbaren Inanspruchnahme der Irreduzibilität des Geistes theoretisch auszuweisen. Dies hat, wie Troeltsch zeit seines Lebens in immer neuen Anläufen dramatisch betont, für den Menschen als individuelles Handlungssubjekt ruinöse Folgen: Die Ohnmacht gegenüber dem kausalgesetzlich selbstläufigen universellen Naturzusammenhang äußert sich notwendig in relativistischem Skeptizismus, in fatalistischer Apathie und in einer zutiefst depressiven Stimmung der Hinfälligkeit aller menschlichen Selbstwertgefühle. In dem durch die „alles verschlingenden naturphilosophischen Begriffe“ bezeichneten spezifisch modernen Denkraum rückt der Mensch aus dem Zentrum der Welt an die äußerste Peripherie eines prinzipiell subjektunabhängigen natürlichen Systems der Wirklichkeit, welches ausschließlich seiner 26 ihm immanent eigenen Gesetzmäßigkeit folgt. Solche naturalistische Zersetzung der Subjektstellung des Menschen drückt sich unumgänglich auch in einer radikalen Indifferenzierung aller seiner geschichtlichen Handlungskompetenzen aus. Im Zusammenhang der ersten um Methodenprobleme der Sozialgeschichtsschreibung geführten großen Theoriediskussion der deutschen Geschichtswissenschaft, dem sogenannten LamprechtStreit, wendet sich Troeltsch zwar kritisch gegen Karl Lamprechts ontologische Hypostasierung historischer Prozeßdeterminanten zu völlig subjektunabhängi27 gen Evolutionsgesetzen. Den vom Idealismus geprägten Glauben der Historischen Theologie des 19. Jahrhunderts, daß der Mensch aus der im Reich der

ren Lebensgebiete übertragen“ worden sind, haben sich die Annahmen sowohl einer inneren psychischen Selbständigkeit als auch einer äußeren geschichtlichen Handlungsfreiheit des Subjekts zersetzt. Mit Bezug auf die Ästhetik des sozialen Realismus kritisiert Troeltsch deshalb den „wahnwitzigen Gedanken [. . .], das im gewöhnlichen Leben als Freiheit Erscheinende [. . .] als Abwandlung von Naturgesetzen vorzuführen“ (S. 502). 25 Ebd., S. 508. 26 Vgl. Ernst Troeltsch: Wesen der Religion und der Religionswissenschaft, in: GS II, S. 452–499, hier S. 497. Weitere Nachweise in: Friedrich Wilhelm Graf: Gesetz, VI. Neuzeit, in: Theologische Realenzyklopädie, Band 13, Berlin, New York 1984, S. 90–126. 27 Vgl. insbesondere Troeltschs polemische Rezension der bei Karl Lamprecht entstandenen

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Natur erfahrenen dunklen Abhängigkeit im lichten Reich der Geschichte in seine Freiheit auferstehe, vermag er jedoch auch nicht zu teilen: Die Geschichte ist nicht der Tummelplatz freier endlicher Geister, sondern der Raum des blinden Werdens und Vergehens transindividueller historischer Subjekte. Die klassische Marxsche Lösung des Problems der Realisierung der Freiheit, die steinern gewordenen Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft durch das Proletariat zum Tanzen zu bringen, lehnt Troeltsch deshalb ausdrücklich als Scheinlösung ab; die „unpersönliche fatalistische Geschichtsphilosophie der Sozialdemokratie [. . .], die den Geschichtsprozeß sich ganz von selber durch abstrakte Notwendigkeiten treiben läßt“, steht selbst noch im „Schatten“ des Kapitalismus, der nur insoweit „atomisierend und individualistisch“ wirkt, als er „aus den gesellschaftlichen Atomen neue abhängige Massen zusammenzuballen oder in ihnen sich seine Re28 servearmee zu sichern“ sucht. Diese Kritik des Marxismus einschließlich seiner 29 verschiedenen revisionistischen Varianten bedeutet eine weitere Steigerung der Komplexität von Troeltschs Theoriebildung. So kann er die moderne Bedrohung des Individuums in geophysikalischer Metaphorik schließlich sogar zur Möglichkeit einer naturgeschichtlichen Annihilation menschlicher Kultur überhaupt radikalisieren. Der Untergang der „Titanic“ wird noch überboten durch die unabwendbaren Katastrophen des Kosmos, und die am Petrefakt der modernen Sozialgestaltung, dem berühmten „Felsen“ des offenen Endes der „Soziallehren“, 30 erfahrbare ‚Brutalität‘ stellt gleichsam nur ein endliches Vorspiel der ewigen Härte allen Lebens in seiner natürlichen Bestimmtheit dar: „Wer einmal durch eine der großen, prähistorischen Sammlungen unserer Museen gegangen ist, wird angesichts der endlosen Reihen von Resten uralter Zeiten kaum die Frage verneinen können, ob nicht auch wir einst unseren Geschichtstag erleben werden, wie so viele vor uns. Ob nicht mit irgendwelchen Polarschwankungen auch unsere ganze Kultur wieder einmal in die Nacht einer Eiszeit zurücksinken wird? Ein ungeheurer Eindruck der Nichtigkeit alles geschichtlichen Seins überkommt

Dissertation von Felix Günther: Die Wissenschaft vom Menschen. Ein Beitrag zum deutschen Geistesleben im Zeitalter des Rationalismus mit besonderer Rücksicht auf die Entwicklung der deutschen Geschichtsphilosophie im 18. Jahrhundert, Gotha 1907, in: Historische Zeitschrift 103 (1909), S. 122–127, jetzt in: KGA 4, S. 622–630. Über die Replik des Autors hinaus (vgl. Ernst Troeltsch Bibliographie [wie Anm. 1], S. 100) hat sich nun auch eine Replik seines Lehrers nachweisen lassen: Karl Lamprecht: Herr Prof. Troeltsch, in: Deutsche Literaturzeitung 30 (1909), Sp. 3071 f. (Nr. 48 vom 27. November). Eine Duplik Troeltschs läßt sich – zumindest in der „Deutschen Literaturzeitung“ – nicht nachweisen. 28 Ernst Troeltsch: Das Wesen des modernen Geistes, in: GS IV, S. 310, jetzt in: KGA 6, S. 447. 29 Vgl. Donald E. Miller: Troeltsch’s Critique of Karl Marx, in: Journal for the Scientific Study of Religion 1 (1961), S. 117–121. 30 GS I, S. 984 f.

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uns bei solchen Möglichkeiten, denen nicht auszuweichen ist [. . .]. Gegenüber dem Gedanken an einen unaufhörlichen Fortschritt bis ins goldene Zeitalter hinein, mit dem gewöhnlich das Problem behandelt wird, gilt es [. . .], der viel schwereren Einsicht ins Auge zu blicken, daß endlich kein Fortschritt mehr sein 31 wird.“ Wenn überhaupt, dann kann es höchstens im Jenseits der Geschichte, bei Gott, noch eine Rettung für das dem gesellschaftlichen Verderben und natürlichen Untergang geweihte Individuum geben. Selbst wer dem gleichsam apokalyptischen Szenario Troeltschs eher distanziert gegenübersteht, wird nicht gut bestreiten können: Die Krise des neuzeitlichen Subjekts auszurufen, stellt alles andere als eine besonders originelle Leistung oder gar eine Gütemarke der Theologie nach Troeltsch dar. In der emphatischen Produktion von Krisenbewußtsein wollten deren Repräsentanten – folgt man ihren eigenen, an diesem Punkte freilich bemerkenswert unpräzisen Auskünften – die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs zugunsten des Aufbaus neuer Strukturen transindividueller Autorität verarbeiten, weshalb einige von ihnen Folgeprobleme der Autonomie des Menschen durch deren Sistierung zu bewältigen versuchten. Demgegenüber stammen die zitierten Sätze Troeltschs alle aus vor 1914 geschriebenen Texten. Die intensive Auseinandersetzung mit dem Weltkriegsgeschehen führt dann zu bestimmten Radikalisierungen in seinen Beschreibungen der geschichtlichen Gefährdung des Individuums. Ich möchte deshalb eine dritte, durchaus auch provokativ gemeinte These vertreten: Unter den Theologen des 20. Jahrhunderts ist Ernst Troeltsch der Krisentheologe par excellence. Nicht daß er den vielen in den zwanziger Jahren auftretenden „Theologen 32 der Krise“ irgendwie quantitativ oder graduell bezüglich des Umfangs oder der Intensität seiner Krisenbewußtheit überlegen wäre. Doch sind Troeltschs 31 Ernst Troeltsch: Glaubenslehre. Nach Heidelberger Vorlesungen aus den Jahren 1911 und 1912. Mit einem Vorwort von Marta Troeltsch, München, Leipzig 1925, S. 94 (Text der Mitschrift von Gertrud von Le Fort). Zu Troeltschs „Eiszeiten“ und deren Faszination für Karl Barth vgl. die Belege bei: Wilfried Groll: Ernst Troeltsch und Karl Barth. Kontinuität im Widerspruch, München 1976, S. 14 ff. 32 Vgl. Paul Tillich: Kritisches und positives Paradox. Eine Auseinandersetzung mit Karl Barth und Friedrich Gogarten (1923), in: Jürgen Moltmann (Hrsg.): Anfänge der dialektischen Theologie, Band 1, 2. Aufl., München 1966, S. 165–174, bes. S. 166. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung der Herkunft und Verwendung des Terms „Theologie der Krisis“ und seiner Derivate ist Desiderat. Sie wird auf jeden Fall dies zeigen: Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ist mit nur wenigen Ausnahmen von jeder theologischen Position der Anspruch erhoben worden, eine Analyse und Umbestimmung „der Krise“ zu leisten. Diese zu erkennen stellt insofern kein exklusives Privateigentum nur einer bestimmten Gestalt von Theologie dar. Inhaltliche theologische und politische Differenzen zwischen verschiedenen Entwürfen der neueren Theologie lassen sich deshalb nur in Hinblick auf die jeweilige materiale Bestimmtheit des Krisenbegriffs und die diesem dann innewohnende analytische Prägnanz angemessen erheben.

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analytische Angaben zur Bestimmung der Krisentendenzen der Moderne sehr viel präziser als die seiner kritischen Adepten und dezidierten Kritiker in der ihm folgenden Theologengeneration. Von Troeltsch wird nicht einfach ein mehr (dies dürfte wohl allein für Paul Tillich gelten) oder zumeist weniger reflektiertes Unbehagen an der gegebenen Kultur einfach souverän proklamiert. Vielmehr versucht er die in der Entwicklung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft evozierte Krise analytisch bestimmt zu erfassen, was nur in dem Maße überhaupt möglich ist, in dem man an den Ort des modernen Bewußtseins selbst sich zu begeben bereit ist. Diese Differenz gegenüber späteren religiösen und theologischen Ausdrucksgestalten von kultureller Diffusion und Untergangsmentalität, die nicht bloß in Hinblick auf den jeweils möglichen Grad an gesellschaftsanalytischer Prägnanz bemerkenswert, sondern auch in theologischer Hinsicht von großer Bedeutung ist, wird in der herkömmlich zur Rekonstruktion des inneren Ganges der Theologiegeschichte unseres Jahrhunderts dienenden Kategorialität im Sinne einer Konkurrenz verschiedener positioneller Auslegungen des Begriffs von Theologie bzw. als ein Methodenunterschied gefaßt. Die methodische Differenz steht jedoch auch für einen differenten Inhalt. Troeltschs Bemühungen um eine multiperspektivische und insofern auch in sich plurale Analyse der Neuzeit müssen jedenfalls schon als ein Ausdruck eines bestimmten inhaltlichen Programms verstanden werden: Im analytischen Anspruch auf eine so präzise wie kulturwissenschaftlich überhaupt mögliche Bestimmung der Krise der Moderne artikuliert sich ein fundamentales Interesse an ihrer konstruktiven Überwindung, d. h. an einem Umgang mit den neuzeitspezifischen Krisenphänomenen, der weder das Anspruchs- noch auch das schon erreichte Realisierungsniveau des modernen Freiheitsbewußtseins unterschreitet. Bereits in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg betont Troeltsch in zahlreichen Äußerungen über die „Kulturkritik des 33 Jahrhundert-Endes“, daß man da, wo Krisenphänomene und -tendenzen nicht historisch-hermeneutisch begriffen, sondern im Pathos des Aussteigen-Könnens aus allen geschichtlichen Vermittlungszusammenhängen bloß beschworen werden, kaum über den fatalen Gestus der Selbststilisierung zum tragischen Subjekt oder eine krisenkomplementäre Rückzugsmentalität hinausgelangt. Da eine solche Mentalität jedoch von der negativen Affirmation dessen lebt, zu dem sie zugleich auf Distanz gehen muß, leistet sie bestenfalls einen besonderen Beitrag zur Perpetuierung der Krise, indem sie als deren exklusives Jenseits sich zu stilisieren sucht. Die mit der Geschichte der Neuzeit aktuell gegebene Bedrohung des individuellen Subjekts mit allen der wissenschaftlichen Rationalität zu Gebote stehenden Mitteln historisch differenziert zu erfassen, ist demgegenüber immer 33 Vgl. u. a. Ernst Troeltsch: Das Neunzehnte Jahrhundert (1913), in: GS IV, S. 614–649, hier S. 641–646.

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schon Ausdruck eines konstruktiven Interesses an einer geschichtlich vermittelten und insofern auch politisch-gesellschaftlich bestimmbaren Identifikation von eventuellen Möglichkeiten ihrer Überwindung. Bereits die für Troeltschs Theologie signifikanten methodischen Grundentscheidungen wie die Betonung der Nichthintergehbarkeit der historischen Vernunft, der Limitierung der rein dogmatischen Denkformen der Theologie zugunsten ihrer interdisziplinären Offenheit etc. lassen die Intensität seines Bemühens darum erkennen, in und an der krisenhaften Geschichte der Moderne selbst Potenzen zur Krisenbewältigung benennen zu können. Die für Troeltschs Zeitanalytik fundamentale Einsicht in die Krisenhaftigkeit der Entwicklung der Neuzeit hat für die Bestimmung der besonderen Aufgaben seiner Religionsphilosophie gravierende, aber durchaus ambivalente Folgen: Einerseits führt die geschichtliche Analyse des modernen Bewußtseins und der mit den Resultaten seiner Weltgestaltung erzeugten Bedrohtheit des individuellen Subjekts zur Religionsthematik hin. Die in dieser Hinsicht von Troeltsch erbrachten beachtlichen Vermittlungsleistungen lassen sich in der Formel zusammenfassen: Die dem aktuellen Stand der Neuzeitgeschichte eigene Krisenhaftigkeit repräsentiert den wichtigsten Entdeckungszusammenhang der besonderen Bedeutung der Religion. In Korrespondenz zu den in der Neuzeitanalyse gewonnenen Einsichten will Troeltsch in seiner Religionsphilosophie Religion deshalb als den primären Ort der Rettung des individuellen Subjekts vor den individuumsfeindlichen Mächten der Neuzeit bestimmen. Andererseits wird die Realisierung dieses Theorieprogramms durch das Wissen um das der Moderne immanente Potential an Freiheitsbedrohung zugleich wieder folgenreich erschwert. Denn in dem Maße, in dem Troeltsch die innere Vielschichtigkeit der neuzeitlichen Kultur erkennt, kann er das Verhältnis von Moderne hier und Religion dort gar nicht mehr im Sinne einer bloßen Antithetik oder in einem evolutionären Schema der Ablösung des einen Weltbildes durch ein anderes bestimmen. Eine eindimensionale Strukturierung der Relation von religiösem und modernem Bewußtsein in dem Sinne, daß dieses mit dem Paradigmenwechsel der Aufklärung ein für allemal die Stelle von jenem besetzt habe, bleibt der inneren Komplexität der im Medium der Geschichte ausgearbeiteten Beurteilung der gegenwärtigen Lage äußerlich. Infolgedessen rückt die Frage einer möglichen Kontinuität zwischen religiösem und modernem Bewußtsein zunehmend stärker ins Zentrum von Troeltschs historischen Untersuchungen. Sofern die Möglichkeit einer unmittelbar antithetischen Bestimmung von Religion und Moderne entschwunden ist, muß die Analyse ihrer möglichen Vermittelbarkeit sich auf das Problem ihres inneren Verhältnisses im Sinne eines in beiden Bewußtseinsgestalten jeweils implizierten wechselseitigen Auslegungszusammenhanges richten: Die religiöses Bewußtsein strukturierenden Elemente können im modernen Bewußtsein nicht

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einfach in Nichts aufgelöst sein, so daß jenes sich in diesem wiederzufinden vermag, und umgekehrt muß religiöses Bewußtsein sich als eine bestimmte, dem modernen Bewußtsein auch kompatible Gestalt des Freiheitsbewußtseins aufweisen lassen.

3. Religion als Konstitutionsort individueller Freiheit Schon von Troeltschs theologischen Zeitgenossen ist häufig behauptet worden, seine religionsphilosophischen Arbeiten zielten auf eine umfassende Rehabilitierung des Theorieprogramms Schleiermachers, auch im Kontext der Moderne gebe es eine Notwendigkeit der Religion. Aufgrund seiner Gegenwartsdiagnose hält Troeltsch den innerweltlichen Ort des Subjekts jedoch für sehr viel weniger stabil als noch sein großes Vorbild Schleiermacher. Infolgedessen will er die Notwendigkeit von Religion stärker noch als dieser kulturpraktisch begründen. In Aufnahme bestimmter Grundintentionen Schleiermachers und Hegels, welche unter postmarxschen Bedingungen notwendig radikaler gefaßt werden müssen, sieht Troeltsch deutlich, daß die religiös bestimmbare Freiheit des Individuums ihrer spezifisch modernen gesellschaftlichen Bedrohtheit zum Trotz auch in politisch-sozialen Bezügen identifizierbar sein muß. Für die materiale Durchführung seiner Religionstheorie bringt dies allerdings gravierende Schwierigkeiten mit sich. In Troeltschs Programmentwürfen zur Religionsphilosophie läßt sich bei allen gewichtigen Differenzen im einzelnen eine gewisse Kontinuität erkennen: Durchgängig wird die Religionsphilosophie in einem Modell der Zuordnung von 34 vier verschiedenen Theoriedimensionen strukturiert. Diese Einteilung der materialen Religionsphilosophie nach dem Schema von vier Darstellungsebenen,

34 In der neueren Troeltsch-Diskussion ist insbesondere auch das Modell der Zuordnung vier verschiedener Theorieebenen erstmals genauer rekonstruiert worden: Vgl. neben Gaathe Willem Reitsema: Ernst Troeltsch als godsdienstwigsgeer (Philosophia Religionis 15), Assen 1974, insbesondere: Anthony Oakley Dyson: Ernst Troeltsch and the Possibility of a Systematic Theology, in: John Powell Clayton (Hrsg.): Ernst Troeltsch and the Future of Theology, Cambridge 1976, S. 81–99; Michael Pye: Troeltsch and the Science of Religion, in: Ernst Troeltsch: Writings on Theology and Religion, translated and edited by Robert Morgan and Michael Pye, London 1977, S. 234–252; Karl-Ernst Apfelbacher: Frömmigkeit und Wissenschaft. Ernst Troeltsch und sein theologisches Programm, München, Paderborn, Wien 1978, bes. S. 129–160 (dazu nun gerade im Hinblick auf das Viererschema kritisch: Hartmut Ruddies: Mystische Theologie? Bemerkungen zur TroeltschInterpretation Karl-Ernst Apfelbachers, in: METG 2, S. 95–108); Gerhold Becker: Neuzeitliche Subjektivität und Religiosität. Die religionsphilosophische Bedeutung von Heraufkunft und Wesen der Neuzeit im Denken von Ernst Troeltsch, Regensburg 1982, bes. S. 298–344.

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die in je bestimmter Weise der theoretischen Explikation der spezifischen Eigenständigkeit der Religion als eines besonderen Lebensgebietes dienen, das nicht im Sinne einer bloß funktionalen Bestimmung aus irgendeinem anderen Lebensphänomen abgeleitet werden kann, läßt sich bereits im berühmten, 1895/96 35 publizierten Aufsatz über „Die Selbständigkeit der Religion“ identifizieren; das Viererschema findet sich auch in allen bisher bekanntgewordenen Mitschriften von Troeltschs Vorlesungen über Religionsphilosophie und liegt schließlich nicht nur den zahlreichen während der Heidelberger Jahre konzipierten Publikationen zur Religionstheorie zugrunde, sondern auch den wenigen explizit religionsphilosophischen Texten der Berliner Zeit. Obgleich Troeltsch sowohl bezüglich der Bestimmung des Verhältnisses der vier verschiedenen Darstellungsebenen als auch in Hinblick auf die Bestimmung der besonderen Leistungen der einzelnen Teile des ihm vorschwebenden Gesamtkonzepts mehrfach seine Position verschiebt, bleibt er seinen früheren religionsphilosophischen Programmentwürfen doch darin treu, daß er die Aufgabe der Religionsphilosophie insgesamt immer in Richtung auf die rational auszuweisende Selbständigkeit der Religion beschreibt und von daher dann auch das Viererschema einführt – als ein Mittel, im Ausgang von der empirisch-faktischen Eigenständigkeit der Religion allmählich ihrer Notwendigkeit für das individuelle Subjekt ansichtig zu werden. Sofern die Religionsphilosophie „auf die Analyse des möglichst rein und 36 sachlich aufgefaßten geistigen Phänomens, das wir Religion nennen“, zielt, muß sie notwendig mit einer umfassenden religionspsychologischen Erhebung von empirisch gegebenen Religionsbeständen einsetzen. Durch phänomenolo37 gische Beschreibung und „Fixierung“ einer möglichst unverstellt (etwa im Kultus der Gemeinschaft oder dem Gebet des einzelnen) sich objektivierenden Religion soll die Religionspsychologie spezifische Identifikationskriterien des Religiösen gewinnen, d. h. solche Bestimmungen, die die religiösen Elemente und Anteile in aller Kultur von sonstiger kultureller Praxis zu unterscheiden erlauben. Das angesichts der historisch-lebensweltlichen Komplexität des Gegenstandes sowohl umfangreiche als auch äußerst schwierig zu realisierende 38 religionspsychologische Forschungsprogramm zielt insofern auf den gleichsam empirischen Nachweis, daß es Religion als ein eigenständiges Lebensphänomen 35 Ernst Troeltsch: Die Selbständigkeit der Religion, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 5 (1895), S. 361–436, 6 (1896), S. 71–110 und S. 167–218, jetzt in: KGA 1, S. 364–535. 36 Ernst Troeltsch: Wesen der Religion und der Religionswissenschaft, in: GS II, S. 492. 37 Ebd., S. 492. 38 Der gewichtige Anteil Troeltschs am Formationsprozeß der deutschsprachigen Religionspsychologie bedarf dringend einer eigenen Darstellung. Troeltsch gehörte zu den Mitbegründern der 1914 in Nürnberg sich konstituierenden „Gesellschaft für Religionspsychologie“ und gab das bei J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) seit 1914 erscheinende „Archiv für Religionspsychologie“ mit heraus.

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unterscheidbar von sonstigen Akten sozialer Praxis gibt. Troeltschs Religionsphilosophie sucht die real existierende Religion in der ihr eigenen Differenz zur sonstigen Kultur zur Darstellung zu bringen. Aber solche tatsächliche Selbständigkeit der Religion ist keine zureichende Rechtfertigung ihrer Geltungsansprüche; daß es „gelebte Religion“ gibt, begrün39 det noch nicht die für sie reklamierte „Vernunft“. Die Religionspsychologie impliziert deshalb notwendig eine Erkenntnistheorie der Religion, welche eine intersubjektiv vermittelbare Begründung der Geltungsansprüche religiösen Bewußtseins entfalten soll. So unverzichtbar eine solche „erkenntnistheoretische Untersuchung nach dem Gültigkeits- oder Wahrheitswert“ der „psychischen Vorgänge“, die durch die Religionspsychologie als spezifisch religiöse erhoben 40 worden sind, gerade im Interesse der Religion selbst einerseits ist, so schwierig ist es andererseits auch, ihr diejenige theoretische Konsistenz zu verleihen, welche unter den von Troeltsch ausdrücklich als nicht hintergehbar behaupteten modernen, primär durch Kant definierten Bedingungen von Erkenntnis zu ver41 langen ist . So partizipiert die Religionsphilosophie hier an den Schwierigkeiten 42 der „allgemeinen Erkenntnistheorie“. Diese bündeln sich in dem von Troeltsch schon in den 1890er Jahren benannten und seitdem kontinuierlich bearbeiteten Problem, inwieweit „überhaupt Gültigkeitsurteile aus dem konstatierten 43 Psychologisch-Tatsächlichen gewonnen werden können“. In den Bemühungen Troeltschs, ein der Vernunft immanentes „apriorisches Gesetz der religiösen 44 Ideenbildung“ aufweisen zu können, das als ein bestimmt besonderes unter

Sein Schüler Rudolf Wielandt, der von Troeltsch zu einer Promotionsschrift über Johann Gottfried Herders Religionsverständnis angeregt worden war (Rudolf Wielandt: Herders Theorie von der Religion und den religiösen Vorstellungen. Eine Studie zum 18. Dez. 1903, Herders 100jährigem Todestag, Berlin 1904), veröffentlichte 1910 ein Forschungsprogramm für eine empirische Religionspsychologie, das den starken Einfluß der Religionstheorie Troeltschs deutlich erkennen läßt: Die zur „Zentralaufgabe der Religionsforschung“ (S. 5) erklärte psychologisch-empirische Analyse der Religion weitet sich zu einer umfassenden Kulturtheorie aus, die die „ungeheure Macht“ der Religion in aller Kultur zeigt und darin zugleich die „Selbständigkeit“ des Religiösen erkennen lassen soll (Das Programm der Religionspsychologie [Sammlung gemeinverständlicher Vorträge und Schriften aus dem Gebiet der Theologie und Religionsgeschichte, Heft 62], Tübingen 1910, S. 12). 39 Vgl. Dietrich Rössler: Die Vernunft der Religion, München 1976, bes. S. 13 f. 40 Ernst Troeltsch: Wesen der Religion und Religionswissenschaft, in: GS II, S. 494. 41 Vgl. u. a. Ernst Troeltsch: Psychologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft. Eine Untersuchung über die Bedeutung der Kantischen Religionslehre für die heutige Religionswissenschaft, Tübingen 1905, bes. S. 26 ff., jetzt in: KGA 6, S. 215–256, hier S. 234 ff. 42 Ernst Troeltsch: Wesen der Religion und Religionswissenschaft, in: GS II, S. 494. 43 Ebd., S. 494. 44 Ebd., S. 494.

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mehreren Vernunft-Apriori zugleich deren inneren Zusammenhang und insofern die Einheit der Vernunft verbürgen können soll, hat solche Partizipation an allgemeinen Problemen der Erkenntnistheorie ihren spezifischen Ausdruck gefunden. Um die gebotene differenzierte Aufklärung dieser Bemühungen nicht durch die stereotype Wiederholung von (Vor-)Urteilen über ihr Scheitern zu verhindern, mag hier jedoch die Erinnerung daran geboten sein, daß der spezifischen Logizität des Begriffs der Allgemeinheit zufolge allgemeine Probleme wohl als solche zu bestimmen sind, die man keiner Theorie exklusiv zurechnen oder auch allein absprechen darf. Über die Belastung durch die Grundschwierigkeiten der allgemein philosophischen Erkenntnistheorie hinaus befindet sich die speziell religionsphilosophische Erkenntnistheorie auch insofern in einer eher prekären Theorielage, als der für sie konstitutive Bezug auf religiöses Bewußtsein den ohnehin schon bestehenden erkenntnistheoretischen Problemdruck noch erhöht. Das Bewußtsein aller modernen Erkenntnistheorie vermag spätestens da, wo die besondere Bestimmtheit religiös strukturierten Bewußtseins thematisch wird, nur noch als bloße Abstraktionsfigur von faktischer Pluralität aufzutreten. Denn Religion in ihrer lebensweltlichen Realität repräsentiert ein Ensemble differenter und konkurrierender religiöser Bewußtseinsgestalten. Folglich muß der innere Gang der Religionsphilosophie so konzipiert werden, daß in ihr einerseits die spezifischen Wahrheitsansprüche religiösen Bewußtseins eine Rechtfertigung in den Begriffen der erkenntnistheoretischen Rationalität erfahren und andererseits die dieser Rationalität immanente Tendenz zum abstrakten Monismus insoweit konterkariert wird, als dieser der gegebenen pluralen Verfaßtheit des Religiösen äußerlich bleibt. Schon die eigentümliche Darstellungslogik von Troeltschs Religionsphilosophie insgesamt, wie sie in der Differenzierung von vier Darstellungsebenen, die zugleich auch koordiniert bzw. zu einem geschlossenen Theoriezusammenhang integriert werden müssen, sichtbar wird, muß man als einen Ausdruck seines Interesses an der Verhinderung eines solchen Monismus verstehen. Dieses Interesse tritt besonders deutlich an der Überführung der Erkenntnistheorie der Religion, der zweiten Darstellungsebene also, in die dritte, d. h. in die sogenannte spezielle „Geschichtsphilosophie der Religion“ hervor. Argumentationsstrategisch läßt sich dieser Schritt als Entgrenzung der erkenntnistheoretisch geschlossenen Rationalität auf faktische Mannigfaltigkeit hin rekonstruieren. Denn in den Grenzen der reinen Erkenntnistheorie allein können die unendlich weiten Felder der Wirklichkeit bzw. der unausschöpfliche Ozean der (Religions-)Geschichte bestenfalls perspektivisch verkürzt wahrgenommen werden, wobei solche Relativität für sich selbst freilich als absolute Position erscheint: Die begriffsscharfen Fernrohre erhöht sitzender Prinzipienreiter ermög-

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lichen bekanntlich keinen insgesamt bzw. total weiteren Blick, sondern können das natürliche Sehvermögen nur im Maß einer allerdings weitreichenden neuen Limitierung des jeweiligen Gesichtsfeldes entgrenzen. So bedarf es einer kritischen Restriktion des Geltungsbereiches der Erkenntnistheorie. Um der Verhinderung destruktiver Reduktion der faktischen Pluralität religiöser Lebenspositionen willen, welche die Erkenntnistheorie aufgrund der ihr immanenten Logizität gar nicht zuzulassen vermag, will Troeltsch der Gültigkeitsanalyse der Religion darum eine speziell religionsphilosophische Geschichtsphilosophie anschließen, durch die erneut die historisch-psychologische Realität der Religion in der Mannigfaltigkeit positiver Religionen thematisch wird. Die „Geschichtsphilosophie der Religion“ soll zwischen Einheit und Pluralität vermitteln, ohne die gegebene Differenz der historisch positiven Religionen in einen abstrakten Einheitsbegriff zu verflüchtigen. Deshalb dürfen die geschichtlichen Religionsgestalten hier vor allem nicht aus einer außerhalb aller innergeschichtlichen Vermittlungszusammenhänge lokalisierten konstruktivistischen Vernunft, etwa als deren bloße Manifestationen, abgeleitet werden. Im Interesse einer möglichst ‚offenen‘ Wahrnehmung ihrer faktischen inhaltlichen Differenz will Troeltsch vielmehr nur in der Weise gegebene Mannigfaltigkeit auf Einheit hin bestimmen, daß aus bzw. innerhalb der Geschichte selbst überindividuell 45 gültige Kriterien zur Bestimmung eines „normativen Ziels“ der Religionsgeschichte gewonnen werden. Die exemplarische Durchführung dieses Verfahrens in den beiden Fassungen der „Absolutheitsschrift“ läuft bekanntlich auf eine 46 Privilegierung des Christentums im Sinne seiner „Höchstgeltung“ hinaus. Denn das Christentum kann von seiner individuellen Zielbestimmtheit her zentral als Religion der Persönlichkeit bestimmt werden. So repräsentiert es diejenige historische Gestalt von Religion, in der das Interesse aller Religion an individueller Freiheit seinen bisher intensivsten Ausdruck gefunden hat. Um der von ihm intendierten Offenheit gegenüber der geschichtlich-realen Religion willen muß Troeltsch notwendig dieses „bisher“ betonen und folglich über das traditionell aufklärerische Modell der Perfektibilität des Christentums hinaus den die zweite Aufklärung in Sachen Religionsgeschichte repräsentierenden Gedanken einer das Christentum möglicherweise überhaupt transzendierenden religionsgeschichtlichen Entwicklung bzw. offenen Zukunft der Religion konzipieren. Gerade die einschlägigen späten Texte Troeltschs lassen jedoch erkennen, daß dieser Ge-

45 Ebd., S. 495. 46 Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte. Vortrag gehalten auf der Versammlung der Freunde der Christlichen Welt zu Mühlacker am 3. Oktober 1901, erweitert und mit einem Vorwort versehen, Tübingen, Leipzig 1902, zweite, durchgesehene Aufl. 1912, jetzt: KGA 5, S. 111, S. 20 und S. 210.

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danke selbst als ein theologischer zu gelten hat. Denn ohne den ausdrücklichen Bezug auf die Religionsgeschichte des Christentums und hier insbesondere des neuzeitlichen Protestantismus ist dieser Gedanke überhaupt keiner materialen Entfaltung fähig, wie beispielsweise Troeltschs „Europäismus“-Konzept zeigt. Noch die unter den Bedingungen eines wissenschaftlich ausweisbaren, d. h. primär auch historisch-kritischen Theologieverständnisses unverzichtbare Bestimmung möglicher historischer Grenzen des Christentums ist ein Akt der Wahrnehmung der Idee individueller Freiheit, durch welche das Christentum zentral definiert ist. Dies ließe sich ex negativo nicht zuletzt auch an den demgegenüber zumeist sehr viel weniger bescheidenen und zum Teil dezisionistisch-imperialen Auslegungen des Theologiebegriffs zeigen, die bedeutende Repräsentanten der gegenüber Troeltsch und seiner Generation „Jüngeren“ in der Theologie des 20. Jahrhunderts entwickelt haben. Gleichsam im ihnen durch die Macht der politischen Verhältnisse aufgezwungenen Stile von Geheimagenten, die in das feindliche Territorium des modernen Bewußtseins eingeschleust hier nun für die Gegenaufklärung agitieren wollen, haben zumindest einige von ihnen den Freiheitsgedanken entschlossen vom Bezug auf individuelle Subjekte abgelöst und dabei tendenziell alles Individuelle der unbedingten Prädominanz abstrakter Allgemeinheit zum Opfer gebracht. Innerhalb der Geschichtsphilosophie der Religion wird das spezifisch religiöse Interesse an individueller Freiheit primär über den Bezug auf die Religionsgeschichte und hierbei insbesondere auf das Christentum als der Religion der Persönlichkeit thematisch. Damit ist individuelle Freiheit als solche aber noch nicht zureichend erfaßt. Sie ist angemessen erst im Rahmen einer umfassenden Rekonstruktion der in aller Religion implizierten Metaphysik bestimmbar. Diese Metaphysik der Religion zielt also auf eine Konstitutionstheorie der individuellen Subjektivität, welche im Prozeß ihrer argumentativen Entfaltung zugleich ihre Übereinstimmung mit einer allgemeinen Konstitutionstheorie der Wirklichkeit, d. h. faktisch mit einer Ontologie, zu erweisen hat. Die Notwendigkeit dieser Metaphysik begründet Troeltsch damit, daß allem religiösen Bewußtsein immer schon eine bestimmte Sicht der Wirklichkeit zu eigen ist. Religion repräsentiert jedoch weder die einzig mögliche noch die allein wirkliche Gestalt von Realitätsbewußtsein, und insbesondere unter modernen Bedingungen drohen konkurrierende Weltbilder die religiöse Wirklichkeitssicht zu marginalisieren. Für diese kann deshalb nur insofern ein allgemeiner Verbindlichkeitsanspruch ausgewiesen werden, als man eine besondere Realitätsadäquanz religiösen Bewußtseins zu zeigen vermag; bezüglich der inneren Struktur von Wirklichkeit ist deshalb nachzuweisen, daß Realität in der Perspektive der Religion entweder allein angemessen oder aber zumindest angemessener als in dezidiert nichtreligiösen Erkenntnishaltungen wahrgenommen wird.

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Genau diesen Nachweis soll die Metaphysik der Religion erbringen. Sie hat ein Argumentationspotential dafür bereitzustellen, daß das dem religiösen Bewußtsein eigene Insistieren auf dem Eigenrecht des Individuums nicht zum blinden wie folgenlosen Beschwören irrealer Gegenmächte zu den Instanzen sozialer Allgemeinheit depraviert. Die Bedeutung, die die intendierte „Metaphysik der Religion“ für Troeltschs Religionsphilosophie insgesamt hat, läßt sich deshalb nur in bezug auf seine Analysen der labilen und prekären Lage des Individuums innerhalb der modernen Gesellschaft überhaupt angemessen erfassen. Im Zusammenhang einer umfassenden kritischen Rekonstruktion der traditionellen Wahrnehmungsfiguren religiösen Bewußtseins in den Sozialwissenschaften hat Volker Drehsen das „Interesse“ an der Religion, das sich mit Troeltschs und Webers Verständnis spezifisch moderner, d. h. kapitalistisch-rationaler, Herrschaft verbindet, präzise so beschrieben: „Gegen die sachliche Verfügung über den Menschen, gegen seine Instrumentalisierung und funktionalistische Reduktion bringt Religion menschliche Identität mehr oder weniger lautstark kontrafaktisch zur Geltung, d. h.: ohne sich vom gleichsam naturwüchsig sozial Gegebenen 47 verschrecken zu lassen“. Von hier aus läßt sich die religionsphilosophische Metaphysik als Ausarbeitung des kritischen Interesses daran begreifen, die religiös vermittelte Wahrnehmung des Eigenrechts des Individuums über die bloße Gegenbewegung zu sozialer Faktizität hinaus als realitätsadäquatere Sicht der Wirklichkeit aufweisen zu können. Denn die der Religion insbesondere im Hinblick auf spezifisch moderne historische Lagen zugeschriebene Individualitätsfunktion kann nur in dem Maße als plausibel gelten, in dem sie als ein bestimmter Ausdruck einer wahrheitsfähigen Sicht der Wirklichkeit verständlich gemacht werden kann. So ist es die primäre Aufgabe der religionsphilosophischen Metaphysik, die zunächst kontrafaktisch etablierte Individualitätsfunktion der Religion als Wahrnehmung einer Faktizität höherer Ordnung aufzuweisen; sofern dies gelingt, läßt sich die besondere Realitätsadäquanz religiösen Bewußtseins dann auch positiv explizieren. Damit ist zugleich über das methodische Verfahren und den internen Aufbau dieser Metaphysik entschieden: Weil sie Individualität als organisierendes Strukturprinzip von Weltwirklichkeit überhaupt zur Darstellung bringen soll, darf sie nicht im Sinne eines deduktionistischen Monismus bzw. als prinzipientheoretische Konstruktion aus einem fixen Substanzbegriff entfaltet werden; schon in ihrer Anlage und der Art ihrer Durchführung

47 Volker Drehsen: Zum Interesse der sozialwissenschaftlichen Kritik an der Religion, in: KarlWilhelm Dahm, Volker Drehsen, Günter Kehrer: Das Jenseits der Gesellschaft. Religion im Prozeß sozialwissenschaftlicher Kritik, München 1975, S. 281–327, hier S. 316, jetzt in: Volker Drehsen: Der Sozialwert der Religion. Aufsätze zur Religionssoziologie, hrsg. von Christian Albrecht, Hans Martin Dober und Birgit Weyel, Berlin, New York 2009, S. 159–199, hier S. 190.

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muß dem faktischen „Pluralismus und der Freiheit“ der endlich-individuellen Subjekte Rechnung getragen werden. Daß die materiale Entfaltung einer unter diesem Anspruch stehenden Metaphysik zahlreiche gravierende Probleme mit sich bringt, wird von Troeltsch dabei keineswegs verkannt. Für ihn selbst ist es 49 etwa eines der „Hauptprobleme“ seiner metaphysischen Konzeption, inwieweit eine Vermittlung von Allgemeinheit und Besonderheit sich explizieren läßt, die zugleich den Gedanken des realiter Neuen in der Geschichte bzw. endliche Freiheit im Sinne einer originalen historischen Produktivität des Subjekts zu denken erlaubt. Es dürfte dem Druck und Gewicht solcher Probleme zuzuschreiben sein, daß Troeltsch die geplante religionsphilosophische Metaphysik nicht eigens auszuarbeiten vermochte und sich auch in seinem Spätwerk hierzu nur eine Vielzahl von Andeutungen und Programmformulierungen finden – obgleich er schon in den im Februar 1891 vor der Göttinger Fakultät verteidigten Lizentiatenthesen aus50 drücklich eine „religionsphilosophische Metaphysik“ forderte. Doch unbeschadet der Tatsache, daß seine Metaphysik bloßes Programm geblieben ist, macht Troeltsch von ihrem Grundgedanken immer schon Gebrauch – als sei dieser Gedanke bereits argumentativ gesichert und bezüglich seiner Voraussetzungen und Folgen materialiter entfaltet. Insbesondere in den verschiedenen Berliner geschichtsphilosophischen Arbeiten, die dann zum größten Teil in den ersten Band von „Der Historismus und seine Probleme“ eingegangen sind, beschreibt er Individualität als eine ontologische Grundstruktur aller Wirklichkeit, und gerade auch für das hier entfaltete Konzept von Europäismus und Kultursynthese nimmt er bereits die Evidenz von Einsichten in Anspruch, deren Rechtfertigung nach seinen eigenen Auskünften erst im Argumentationsrahmen der materialen Religionsphilosophie erfolgen können soll. Im Vorwort zum Historismus-Band kündigt Troeltsch „meine Religionsphilosophie, die [. . .] alle philosophischen Dis51 ziplinen berührt“, ausdrücklich noch einmal an. Unmittelbar nach Troeltschs Tod hat Paul Tillich, der damals gerade an seinem „System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden“ schrieb, welches er dann „dem Andenken 52 von Ernst Troeltsch“ widmete, diese Ankündigung zu einer Art systematischer

48 Ernst Troeltsch: Das Wesen der Religion und der Religionswissenschaft, in: GS II, S. 497. 49 Ebd., S. 497. 50 Nähere Nachweise finden sich in meinem Beitrag: Der „Systematiker“ der „Kleinen Göttinger Fakultät“. Ernst Troeltschs Promotionsthesen und ihr Göttinger Kontext, in: TS 1, S. 235–290, bes. S. 253 ff., in diesem Band oben, S. 153–213, bes. S. 173 ff. 51 GS III, S. VIII, jetzt: KGA 16, S. 164. Vgl. Ernst Troeltsch: Meine Bücher, in: GS IV, S. 3–18, hier S. 14 f. 52 Paul Tillich: Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden, in: ders.:

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Selbsttäuschung des „verehrten Meister[s]“ erklärt . Diese Behauptung dürfte mehr über Tillich als über Troeltsch aussagen. Ich möchte deshalb vorschlagen, 54 die von Tillich 1923 gleich mehrfach formulierte These, das Denken Troeltschs habe seines unbestreitbaren Interesses an kritiktranszendenter Konstruktion zum Trotz eines konstruktiven Ausgangspunktes wie auch eines systematischen Abschlusses entbehrt, in eine systematische Frage zurückzuverwandeln: nämlich in die an alle Theologen, die sich dem Theorieprogramm Schleiermachers positiv verpflichtet wissen, zu richtende, wohl grundlegende Frage, inwieweit eine Metaphysik der Individualität sich überhaupt rational ausweisen läßt. Primäre Aufgabe des Troeltsch vorschwebenden Konzepts einer solchen Metaphysik ist es, die Freiheit des individuellen Subjekts aus seiner religiösen Beziehung, d. h. aus seiner Relation auf einen transzendenten Grund der Freiheit, zu entwickeln. Folgt man Troeltschs eigenen Auskünften zur Sache, gerät die Metaphysik der Religion damit aber notwendig an die Grenzen ihrer diskursiven Vermittelbarkeit. Troeltsch spricht deshalb auch von Einbruchsstellen des Irrationalen. Diese scheinen jedoch nur prima facie den späteren Einschlagstrichtern verwandt zu sein. Denn die – bemerkenswerterweise auch in Aufnahme von Argumentationsfiguren der Positiven Philosophie Schellings thematisierte – Irrationalität des transzendenten Grundes der Freiheit wird von Troeltsch weder in eine Theorie der logisch reinen Selbsterfassung dieses Grundes überführt, deren eigentümlicher Rationalitätsanspruch ja nur über eine irrationale Begründungsstruktur überhaupt ausgelegt werden kann. Noch wird von Troeltsch das Irrationale einfach beschworen und darin diskursive Vernunft sistiert. Vielmehr

Frühe Hauptwerke (Gesammelte Werke, Band 1), Stuttgart 1959, S. 109–293. „Während der Drucklegung traf mich die Nachricht von dem plötzlichen Tode Ernst Troeltschs. Sein leidenschaftliches Streben war es, zum System zu kommen. Dem Dank, den ich ihm schulde, auch für die Wirkung, die seine Arbeit auf die geistigen Grundlagen dieses Buches gehabt hat, möchte ich dadurch Ausdruck geben, daß ich das Buch seinem Andenken widme“ (S. 112). Tillichs Beschreibung seiner „Gewißheit, daß das System nicht nur Ziel, sondern auch Ausgangspunkt alles Erkennens ist“ (S. 111), läßt sich denn auch als eine zugleich kritische und konstruktive Anknüpfung an die durch Troeltschs Werk repräsentierte Problemstellung verstehen. Der Verzicht des Autors „auf den wissenschaftlichen Apparat“ (S. 112) verschleiert freilich das Ausmaß seiner – vor allem in der Bestimmung der Grundbegriffe („metalogische Methode“!) hervortretenden – Abhängigkeit von Troeltsch. 53 Vgl. den in Anm. 11 genannten Nachruf Tillichs auf Troeltsch (Begegnungen, S. 175), jetzt in: TS 12, S. 249. 54 Vgl. Paul Tillich: Ernst Troeltsch. Versuch einer geistesgeschichtlichen Würdigung, in: KantStudien 29 (1924), S. 351–358, wieder abgedruckt in: ders.: Begegnungen (wie Anm. 11); ders.: Der Historismus und seine Probleme. Zum gleichnamigen Buch von Ernst Troeltsch, in: Theologische Literaturzeitung 49 (1924), S. 25–30, wieder abgedruckt in: ders.: Begegnungen (wie Anm. 11), S. 204–211.

Religion und Individualität

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arbeitet er sich an genau diesem Punkt zeit seines Lebens ab, weil er sich bezüglich der vernünftigen Bestimmbarkeit des transzendenten Grundes der rationalen Kontrolle permanenter Selbsteinwände aussetzt. Diese Selbsteinwände zentrieren in der Frage, ob Religion die ihr zugeschriebene Leistung, der primäre Ort der Freiheit des individuellen Subjekts zu sein, unter den Bedingungen eines modernen postaufklärerisch-kritischen Bewußtseins überhaupt noch wahrzunehmen vermag. Dem sachlichen Gewicht dieser Frage sucht Troeltsch dadurch gerecht zu werden, daß er sie nicht durch die Produktion eines Idealbildes der reinen Religion konterkariert, wie es in der theologischen Dogmatik erzeugt wird. Die skizzierte mehrdimensionale Anlage seines religionsphilosophischen Programms läßt vielmehr deutlich erkennen, daß er die sehr viel schwierigere Aufgabe in Angriff nehmen will, die empirisch gegebene Religion, wie sie innerhalb der Religionspsychologie und der religionsphilosophischen Geschichtsphilosophie thematisch wird, daraufhin zu befragen, ob bzw. inwieweit sie die ihr theoretisch zugesprochene besondere Leistung (Individualitätsfunktion) überhaupt oder zumindest tendenziell noch zu erfüllen vermag. Sofern die kulturellen Bestände von Religion auch in psychologischer und soziologischer Kategorialität erschlossen werden müssen, kann hier aber keine dogmatisch einfache Antwort mehr gegeben werden. Im Maß der Integration sozialwissenschaftlicher Deutungsmuster wachsen vielmehr notwendig die Schwierigkeiten einer Beantwortung dieser Frage. Denn dann zeigt sich, daß gegebene Religion primär nur durch Analyse der „zahllosen äußeren Verbindungen des Religiösen mit dem Nicht-Religiösen“ erschlossen werden kann: „Das ‚Rein-Religiöse‘ existiert nur für den Theoretiker und für wenige innerlich tief empfindende Seelen. Auf dem Markt des Lebens gibt es kein Interesse, das nicht durch Verkoppelung mit der Religion geschützt und gestärkt würde, und wenig Religionshaß, der nicht in der Religion eigentlich andre, von ihr wirklich oder angeblich geschützte Dinge 55 haßte.“ Der religionstheoretische Aufweis einer freiheitskonstitutiven besonderen Funktion der Religion für das Individuum muß deshalb fortwährend einer Kontrolle durch die Frage ausgesetzt bleiben, in welchen gesellschaftlichen und lebensgeschichtlichen Bezügen sich diese spezifische kulturelle Leistung der Religion überhaupt identifizieren läßt. Die multiperspektivische Anlage von Troeltschs religionsphilosophischem Programm läßt sich insofern selbst schon als Ausdruck einer reflektierten Korrekturstrategie interpretieren. Man kann die dadurch erzeugte Unabgeschlossenheit bzw. Offenheit seiner Religionsphilosophie als Zeichen eines prinzipiellen Scheiterns deuten. Demgegenüber möchte ich vorschlagen, diese gleichsam

55 Ernst Troeltsch: Religion (wie Anm. 20), S. 534.

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systemkonstitutive Unabgeschlossenheit als ein Medium der kulturpraktischen Entgrenzung der Religionstheorie zu verstehen. Diese Entgrenzung zielt primär auf die Wiedergewinnung einer geschichtlichen Handlungsfähigkeit des empirischen Subjekts. Eine solche Handlungstheorie nimmt freilich eine entscheidende 56 Voraussetzung in Anspruch: Damit Religion nicht zur „religiösen Verbrämung“ einer radikalen sozialen Liquidation des Subjekts depraviert, müssen auch unter den Bedingungen der in der kapitalistischen Moderne implizierten Bedrohung des Individuums für dieses reale Handlungsräume ausgewiesen werden können. Genau dies soll der Intention nach das Insistieren auf der wechselseitigen Bezogenheit von Religionstheorie und soziologisch-historischer Analyse der kulturellen Lebenswelt leisten. Es bedarf denn auch keiner besonderen interpretatorischen Leistungen, um bezüglich des – ein hohes, im damaligen Protestantismus seltenes Maß an gesellschaftsanalytischer und politischer Sensibilität dokumentierenden – Programms der „praktischen Kultursynthese“ (wie es im ersten Teil des Historismus-Bandes eher angedeutet als entfaltet wird) zu zeigen, wie stark Troeltsch hier fortwährend von religionstheoretischen Voraussetzungen Gebrauch macht. Die in solcher Inanspruchnahme der nicht material entfalteten Religionsphilosophie liegenden Aporien dürften deutlich geworden sein. Bezüglich der im Begriff der Religion zentrierten Aufgabe der Theologie und insbesondere auch im Hinblick auf die gegenwärtige theologische Gesprächssituation scheint es allerdings wichtiger und zugleich produktiver, jenes theologischen Interesses ansichtig zu werden, in dessen Explikation solche Aporien allererst entstehen können. „Ich darf daher – wenigstens nach meiner persönlichen Auffassung der Lage – mit dem Ergebnis schließen: Bewahren wir uns das religiös-metaphysische Prinzip der Freiheit, sonst möchte es um Freiheit und Persönlichkeit in dem Augenblick geschehen sein, wo wir uns ihrer und des 57 Fortschritts zu ihr am lautesten rühmen.“

56 Ernst Troeltsch: Das Neunzehnte Jahrhundert (1913), in: GS IV, S. 635. 57 Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt. Vortrag, gehalten auf der IX. Versammlung deutscher Historiker zu Stuttgart am 21. April 1906, Sonderabdruck aus der Historischen Zeitschrift, München, Berlin 1906, S. 66, jetzt in: KGA 8, S. 199–316, hier S. 316.

Ernst Troeltsch. Kulturgeschichte des Christentums 1. Normativität und Geschichte Ernst Troeltsch war kein Fachhistoriker. Gleichwohl wird er in der Dogmengeschichte der neueren Geschichtswissenschaft auch als ein Historiker in Anspruch 1 genommen. Dies ist jedoch nur insoweit berechtigt, als Troeltsch zahlreiche historische Studien publizierte und sich sein Werk in weiten Teilen als ein historisches lesen läßt. Darüber hinaus veröffentlichte nicht erst der Berliner Kulturund Geschichtsphilosoph, sondern schon der Heidelberger Systematische Theologe diverse Beiträge zur Methodologie der Geschichtswissenschaft und kritische Kommentare zum Methodenstreit in der deutschen Geschichtswissenschaft des 2 späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Kein anderer Autor, der nicht Fachhistoriker war, publizierte in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts so häufig in der „Historischen Zeitschrift“ wie Troeltsch. Trotz dieser sehr engen Verknüpfung seiner wissenschaftlichen Arbeit mit der Geschichtswissenschaft, wie sie sich auch auf einer unmittelbar biographischen Ebene, vor allem an 3 den engen Beziehungen zu Friedrich Meinecke und zu Otto Hintze, thematisieren ließe, kann Troeltsch aber nur bedingt als ein Historiker außerhalb der Fachhistorie charakterisiert werden. Zwar habilitierte Troeltsch sich 1891 an der Göttinger theologischen Fakultät für das „Fach der Kirchen- und Dogmengeschichte“. Doch schon beim

1 Vgl. etwa Gustav Schmidt: Deutscher Historismus und der Übergang zur parlamentarischen Demokratie. Untersuchungen zu den politischen Gedanken von Meinecke, Troeltsch, Max Weber (Historische Studien, Heft 389), Lübeck, Hamburg 1964; ders.: Ernst Troeltsch, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.): Deutsche Historiker, Band 3, Göttingen 1972, S. 91–108; Dietrich Fischer: Die deutsche Geschichtswissenschaft von J. G. Droysen bis O. Hintze in ihrem Verhältnis zur Soziologie. Grundzüge eines Methodenproblems, Diss. masch. Univ. Köln 1966, S. 222–247; Georg G. Iggers: The German Conception of History. The National Tradition of Historical Thought from Herder to the Present, Revised Edition, Middletown, Conneticut 1983. 2 Zahlreiche bis dahin unbekannte oder kaum beachtete geschichtsmethodologische Publikationen Troeltschs sind nachgewiesen in: Ernst Troeltsch Bibliographie, hrsg., eingeleitet und kommentiert von Friedrich Wilhelm Graf und Hartmut Ruddies, Tübingen 1982. 3 Zu den Beziehungen zwischen Troeltsch und Meinecke vgl. neben den diversen autobiographischen, von der Tendenz zur Selbststilisierung geprägten Mitteilungen Meineckes Horst Bögeholz: Berliner Zeitgenossenschaft. Erläuterungen zu Briefen von Ernst Troeltsch an Friedrich Meinecke, in: TS 1, S. 145–172.

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Zulassungsgesuch zur Habilitation erklärte er der Fakultät, daß er aus der Historischen Theologie „zu der systematischen Theologie überzugehen hoffe, auf 4 welche meine eigentliche Absicht gerichtet ist“. Promotion und Habilitation erfolgten nur deshalb im Fach Kirchengeschichte, weil in Göttingen damals „in meinem eigentlichen Fache, der systematischen Theologie, die Habilitation nicht 5 gestattet“ war. Seit dem Übergang nach Bonn 1892 und der Berufung nach Heidelberg 1894 lehrte Troeltsch bis 1915 im Fach der Systematischen Theologie. Seine akademische Lehrtätigkeit erstreckte sich deshalb nur insoweit auch auf historische Gegenstände, als er regelmäßig Vorlesungen über „Dogmengeschichte“ und über „Geschichte der protestantischen Theologie im 19. Jahrhundert“ sowie einmal, im Wintersemester 1909/10, eine Vorlesung über die „Geschichte der christlichen Soziallehren“ hielt. Seit der Übernahme eines Lehrauftrages in der Heidelberger Philosophischen Fakultät 1910 las er darüber hinaus dann auch über die „Geschichte der neueren Philosophie“. 1914/15 wurde Troeltsch als Professor für „Kultur-, Geschichts-, Gesellschafts- und Religionsphilosophie und christliche Religionsgeschichte“ nach Berlin berufen. Nun war er immerhin ein halber Historiker. Aber auch in Berlin hielt Troeltsch hauptsächlich systematische Vorlesungen und nur einige Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie. Auch die ausdrücklich auf seine Person zugeschnittene Lehrstuhlbezeichnung läßt erkennen: Historiker war Troeltsch nur insoweit, als er zugleich auch Kulturphilosoph war. In einer allein an der Wissenschaftsgeschichte der Fachhistorie orientierten Perspektive droht nur ein Element jenes komplexen, in sich äußerst spannungsvollen Beziehungsgefüges zwischen Theologie bzw. Philosophie und Geschichte in den Blick zu kommen, das Troeltsch gerade als einen notwendigen Zusammenhang zu begreifen verlangte. Seine historischen Publikationen lassen sich allein aus dem Kontext seines systematischen Theorieprogramms angemessen verstehen. Auch den Historiker Troeltsch interessierte Geschichte niemals um ihrer selbst willen. Alle historische Darstellung war für ihn vielmehr Funktion eines praktischen Gegenwartsinteresses. Geschichte sollte einer ethischen Gegenwartsorientierung dienen. Im Gegensatz zu solchen zeitgenössischen Theorien, für welche die Annahme eines prinzipiellen Hiatus von Sein und Sollen leitend war, also auch in ausdrücklichem Gegensatz zu seinem Freunde Max Weber, suchte Troeltsch normative Gehalte durch geschichtliche Reflexion abzustützen. Geschichte und

4 Gesuch des Predigtamtskandidaten Ernst Troeltsch um Zulassung zur Lizentiatenprüfung und zur Habilitation, 3. November 1889, Universitätsarchiv Göttingen, Kur. 4306 Bl. 45 f., jetzt in: KGA 18, S. 285 f., hier S. 286. 5 Zit. nach: Friedrich Wilhelm Graf: Licentiatus theologiae und Habilitation, in: TS 1, S. 78–102, hier S. 91.

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Ethik, Analyse und Wertung, Faktizität und Normativität sollten so miteinander verbunden werden, daß aus der Rekonstruktion der geschichtlichen Genese der Gegenwart selbst normative Kriterien ihrer vernünftigen Fortentwicklung gewonnen werden können. In der einleitenden Passage seiner bei Fachhistorikern wohl bekanntesten Publikation, dem beim Stuttgarter Historikertag 1906 anstelle Max Webers gehaltenen Vortrag über „Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt“, erklärte Troeltsch in programmatischer Absicht, 6 daß „das Verständnis der Gegenwart immer das letzte Ziel aller Historie“ sei. So ist Troeltschs historische Arbeit als Teil einer umfassenden systematischen Theorie der möglichen Kulturbedeutung der Religion für die praktische Gestaltung und Fortentwicklung der modernen Kultur zu verstehen.

2. Die Ambivalenz der modernen Kultur In dieser ethischen Zuspitzung des Geschichtsverständnisses reflektiert sich eine spezifische Zeiterfahrung: Troeltsch sieht die moderne okzidentale Kultur durch eine ethische Steuerungskrise bedroht. Für Troeltschs Einschätzung der kulturellen Lage der Gegenwart ist die gezielte Dramatisierung der Differenz zwischen den moralischen Idealen der Aufklärung – einem der zentralen historischen Forschungsgebiete Troeltschs, in dem er eine bemerkenswert präzise Quellenkenntnis besaß – und den problematischen Folgen des kulturellen Modernisierungsprozesses leitend: Der Prozeß kulturellen Wandels habe sich gegenüber dem handelnden Menschen so sehr verselbständigt, daß er gleichsam subjektlos zu werden drohe. Im Prozeß der Realisierung der Freiheitspostulate der Aufklärung habe sich eine tendenziell steuerungslose Eigendynamik kultureller Modernisierung erzeugt, die faktisch nicht mehr der praktischen Durchsetzung von Autonomie diene, sondern, genau umgekehrt, individuelle Freiheit stärker als je zuvor bedrohe und zu zerstören drohe. Diese „deperso7 nifizierenden“ Tendenzen macht Troeltsch in Aufnahme und Fortführung der entsprechenden Analysen Max Webers vor allem an den Eigengesetzlichkeiten 6 Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt. Vortrag, gehalten auf der IX. Versammlung deutscher Historiker zu Stuttgart am 21. April 1906, Sonderabdruck aus der Historischen Zeitschrift, München, Berlin 1906, S. 2, jetzt in: KGA 8, S. 199–316, hier S. 205. 7 Zu dem für Troeltschs kritische Zeitdiagnostik zentralen Begriff der „Depersonifikation“ vgl. beispielsweise Ernst Troeltsch: Das Wesen des modernen Geistes, in: Preußische Jahrbücher 128 (1907), S. 21–40, veränderter Wiederabdruck in: GS IV, S. 297–338, hier bes. S. 310, jetzt in: KGA 6, S. 434–495, hier S. 447; ders.: Religion, in: David Sarason (Hrsg.): Das Jahr 1913. Ein Gesamtbild der Kulturentwicklung, Leipzig, Berlin 1913, S. 533–549, bes. S. 547.

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von kapitalistischer Ökonomie und okzidental-rationalen Bürokratisierungsprozessen fest. Aber auch die anderen Sphären der modernen, wesentlich durch Ausdifferenzierung relativ autonomer Funktionsbereiche geprägten Kultur folgten faktisch nicht mehr oder kaum noch einer moralischen Steuerung durch die gemeinsame vernünftige Selbstbestimmung autonomer Individuen, sondern ihrer jeweiligen inneren Eigenlogik. Die Entwicklung eines jeden Teilgebietes der Kultur werde von einer diesem spezifisch eigenen Rationalität bestimmt, die sich mit den eigenen Gesetzen der anderen Kultursphären nur noch teilweise vermitteln lasse. Troeltsch sieht die moderne Kultur also wesentlich von zunehmender Desintegration bedroht. Mit dieser Zeitdiagnose verbinden sich vor allem folgende Fragen: Gibt es, wenn die moderne Gesellschaft wesentlich durch die Beschleunigung von Ausdifferenzierungsprozessen bestimmt ist, überhaupt noch eine identifizierbare ‚Einheit der Kultur‘? Läßt sich die religiöse Tradition Alteuropas noch einmal so umformen, daß sie zur inneren Integration der modernen Kultur beizutragen vermag? Inwieweit können die Individuen in die Rationalisierungsprozesse der einzelnen Kultursphären noch eingreifen? Oder ist aus der Analyse der Eigengesetzlichkeiten der einzelnen Kultursphären die fatalistische Konsequenz zu ziehen, daß menschliche Verantwortung für den geschichtlichen Wandel Schein sei. Anders formuliert: Welche Rolle kann der ‚handelnde Mensch‘ – d. h. für Troeltsch: ein durch Herkunft, Geschichte und besondere kulturelle Kontexte geprägtes Individuum – überhaupt noch im Gang der modernen Kultur spielen? Und vor allem: Wie läßt sich gegenüber den depersonifizierenden Tendenzen der modernen Gesellschaft individuelle Freiheit retten? Bekanntlich sind Fragen dieser Art im frühen 20. Jahrhundert keineswegs nur von Troeltsch gestellt worden. Sie prägen, mindestens zum Teil, etwa auch das Werk Max Webers und dürften Ausdruck einer relativ weit verbreiteten Erfahrung der Ambivalenz der modernen Kultur sein. Für Troeltsch spezifisch ist jedoch die Art, wie er auf diese Fragen eine Antwort zu gewinnen sucht. Alle von ihm publizierten historischen Arbeiten zielen im Kern darauf, den Anteil religiöser Triebkräfte an der Genese der modernen Kultur zu rekonstruieren. Besonders deutlich zeigen dies seine zahlreichen Publikationen zur Geschichte des neueren Protestantismus und hier vor allem die im Rahmen von Paul Hinnebergs „Kultur der Gegenwart“ erstmals 1906 erschienene große Gesamtdar8 stellung „Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit“. Aber auch

8 Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit, in: Julius Wellhausen u. a.: Die christliche Religion mit Einschluss der israelitisch-jüdischen Religion (Die Kultur der Gegenwart, Teil 1, Abt. 4), Berlin, Leipzig 1906, S. 253–458. 1909 erschien der Text stark erweitert und überarbeitet in zweiter, 1922 um einen Nachtrag erweitert in dritter Auflage, jetzt: KGA 7.

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da, wo Troeltschs historisches Interesse sich, hinter die Reformation zurückgehend, auf den mittelalterlichen Katholizismus und die Alte Kirche richtet, bleibt eine gegenwartsanalystische Fragestellung leitend. Dies ließe sich im einzelnen vor allem an seiner außerhalb der Theologie wohl wirkungsvollsten historischen Publikation, den 1912 als Buch erschienenen „Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“ belegen: Troeltsch hat hier schon in der einleitenden Klärung „methodische[r] Vorfragen“ hervorgehoben, daß auch seine Analysen des Urchristentums, des Frühkatholizismus und der mittelalterlichen katholischen Einheitskultur ihren „Ausgangspunkt von den sozialethischen Fragen der 9 Gegenwart“ nehmen. Selbst seine Beschäftigung mit dem hebräischen Prophe10 tismus ist noch von der Frage nach den kulturgeschichtlichen Fernwirkungen des von den Propheten vertretenen religiösen Personalismus im modernen rationalistischen Individualismus geprägt. Dies läßt erkennen: Troeltschs historische Analysen der gesamtkulturellen Prägekraft religiöser Traditionen und hier insbesondere seine Bemühungen um die Rekonstruktion des Anteils religiöser Triebkräfte an der Genese der modernen Kultur dienen primär dazu, Chancen neuer wertrationaler Gestaltung des Modernisierungsprozesses auszuloten. Mit diesem Programm verbinden sich zwei Probleme: a) Sieht man von der wichtigen Ausnahme Max Webers ab, so ist es in der protestantischen Theologie, Kulturphilosophie und Geschichtswissenschaft des 20. Jahrhunderts relativ unbestritten gewesen, daß geschichtliche Forschung an ethische Zielsetzungen zurückzubinden sei. Denn sofern Kulturethik sich nur durch historische Reflexion ihres Gegenstandes versichern könne, müsse dementsprechend auch historische Forschung auf ethische Fragestelllungen hin transparent gemacht werden. Eine solche Geschichtswissenschaft tendiert aber notwendig zur Suche nach großen Leitideen, Globalperspektiven und historischen ‚Grundkräften‘. Dies führt nicht nur zu einem Verlust an Aufmerksamkeit und Schärfe für das historische Detail. Gravierender ist die Frage, wer überhaupt als indviduelles Forschersubjekt imstande sein soll, eine so sehr an großen Linien orientierte Geschichtsschreibung methodisch kontrollierbar – und d. h. immer auch: mit aller historischen Einzelforschung vermittelt – durchzuführen. Dieses Problem läßt sich besonders deutlich am Stil von Troeltschs historischen Arbeiten erkennen: Troeltsch hat eine Art Überfliegerhistorie der großen Linien geschrieben. Neigung zum Positivismus, spezialistische Verliebtheit ins Detail und Genauigkeit im Umgang mit den Quellen sind ihm fremd gewesen. So hat er etwa in der Einleitung zu den „Soziallehren“ bekannt: „Meine Arbeit verfügt 9 GS I, S. XI. 10 Vgl. insbesondere Ernst Troeltsch: Das Ethos der hebräischen Propheten, in: Logos 6 (1916/17), S. 1–28; leicht veränderter und erweiterter Wiederabdruck in: GS IV, S. 34–65.

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bezüglich jener Probleme des faktischen Verhältnisses (sc. der christlichen Ideenmächte gegenüber den politischen und ökonomischen Lebenskreisen) nur in sehr beschränktem Maße über eigene Quellenforschung, am wenigsten bezüglich der alten und mittelalterlichen Kirche. Ihr etwaiges Verdienst liegt überhaupt nicht in selbständiger Quellenforschung, sondern in selbständigem Durchdenken der aus der jeweiligen Lage und Konstellation der Interessen erfolgenden Vereinheitlichung des Ganzen zu einer Theorie der Stellung des Religiösen zum 11 Politisch-Sozialen“. b) Aber lassen sich durch historische Analysen wirklich Orientierungsleistungen für die Zukunft erbringen? Troeltsch hat diese Frage insoweit positiv zu beantworten versucht, als er die geschichtswissenschaftliche Vergegenwärtigung von Traditionsbeständen auf das Thema der kulturellen Prägekraft von Religion konzentriert. Religiöse Traditionsbestände sollen so rekonstruiert werden, daß mit ihrer Hilfe wieder eine wertrationale Steuerung der krisenhaften Gegenwartskultur möglich wird.

3. Die zwei Geschichtswissenschaften im Kontext der historisch-ethischen Disziplinen Wo Fachhistoriker Troeltsch als Geschichtsphilosophen rezipiert haben, ist zumeist nicht beachtet worden, daß nicht erst der Berliner Kulturphilosoph, sondern schon der Heidelberger Theologe sich intensiv am Methodenstreit in der deutschen Geschichtswissenschaft beteiligt hat. Seit der Mitte der 1890er Jahre hat Troeltsch in diversen theologischen Aufsatzpublikationen auf die Kontroversen um Lamprechts Kulturgeschichtskonzept Bezug genommen. Wie präzise er die Methodendebatten in der Geschichtswissenschaft rezipiert hat, zeigen darüber hinaus die von ihm 1896 bis 1899 jährlich in der Zeitschrift „Theologischer Jahresbericht“ publizierten Literaturberichte über „Religionsphilosophie und principielle Theologie“: Hier eröffnet er innerhalb des Kapitels über „Religionsgeschichte und -Entwicklung“ 1898 und 1899 eigene neue Abteilungen über „Wesen und Methode der Geschichte“ bzw. „Principielle historische Fragen“, in denen er neben der Literatur zum Lamprechtschen Streit breit auch die materia12 listische Geschichtsauffassung marxistischer Historiker behandelt. Weiterhin

11 GS I, S. 15. 12 Ernst Troeltsch: Religionsphilosophie und principielle Theologie, in: Theologischer Jahresbericht 17 (1898), S. 531–603, bes. S. 568–581, jetzt in: KGA 2, S. 367–484, bes. S. 428–449; ders.: Religionsphilosophie und principielle Theologie, in: Theologischer Jahresbericht 18 (1899), S. 485–536, bes. S. 507–514, jetzt in: KGA 2, S. 555–642, bes. S. 591–603.

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liegen zum Teil sehr ausführliche Rezensionen zu Georg von Belows Polemik 13 14 gegen Lamprecht, zu Kurt Breysigs Buch über den Gottesgedanken und zu 15 Arbeiten verschiedener Lamprecht-Schüler vor . Als Troeltsch in der „Historischen Zeitschrift“ 1909 die bei Lamprecht angefertigte Dissertation von Felix Günther über die Anthropologie des 18. Jahrhunderts polemisch und unsachlich zum typischen, nämlich quellenmäßig oberflächlichen Produkt der „neuen Richtung“ erklärt und gegen die Verwüstungen, die die Lamprechtschen Kategorien in Auffassung, Erklärung und Anordnung des Stoffes angerichtet hätten, 16 polemisiert, hat zunächst Günther eine Streitschrift „Troeltsch-Heidelberg und 17 18 die Lamprechtsche Richtung“ und dann auch Lamprecht selbst eine scharfe Kritik an Troeltsch veröffentlicht. Troeltsch hat den Streit um Lamprecht also nicht nur als Unbeteiligter kommentiert. Vielmehr sind seine Stellungnahmen zum Methodenstreit in dessen Spätphase selbst zu einem Gegenstand der Auseinandersetzungen um die Legitimität von Lamprechts Kulturgeschichtskonzept geworden. Insofern ist es naheliegend, Troeltsch in die Phalanx jener Repräsentanten der deutschen Geschichtswissenschaft einzuordnen, die, wie insbesondere Georg von Below, für eine politikgeschichtliche Orientierung der Geschichtswissenschaft eingetreten sind und am Geltungsanspruch überkommener historistischer Leitannahmen historischer Darstellung festgehalten haben. Dies wird jedoch weder Troeltschs frühen, in den Jahren unmittelbar vor und nach der Jahrhundertwende publizierten Beiträgen zum Methodenstreit in der Geschichtswissenschaft noch auch seiner späteren Geschichtsphilosophie gerecht, wie sie insbesondere im ersten Band des Fragment gebliebenen Werkes „Der Historis-

13 Ernst Troeltsch: [Rez.] Georg von Below: Die neue historische Methode, München, Leipzig 1898; Heinrich Rickert: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft. Ein Vortrag, Freiburg i. Br., Leipzig, Tübingen 1899, in: Theologische Literaturzeitung 24 (1899), Sp. 375–377, jetzt in: KGA 2, S. 529–533. 14 Ernst Troeltsch: [Rez.] Kurt Breysig: Die Entstehung des Gottesgedankens und der Heilbringer, Berlin 1905, in: Göttingische gelehrte Anzeigen 168 (1906), S. 688–698, jetzt in: KGA 4, S. 493– 507. 15 Vgl. insbesondere Ernst Troeltsch: [Rez.] Hermann Bock: Jakob Wegelin als Geschichtstheoretiker, Leipzig 1902 (Leipziger Studien aus dem Gebiet der Geschichte, Band 9), in: Historische Zeitschrift 94 (1905), S. 123–126, jetzt in: KGA 4, S. 381–385. 16 Ernst Troeltsch: [Rez.] Felix Günther: Die Wissenschaft vom Menschen. Ein Beitrag zum deutschen Geistesleben im Zeitalter des Rationalismus mit besonderer Rücksicht auf die Entwicklung der deutschen Geschichtsphilosophie im 18. Jahrhundert, Gotha 1907 (Geschichtliche Untersuchungen, Band V.1), in: Historische Zeitschrift 103 (1909), S. 122–127, jetzt in: KGA 4, S. 622–630. 17 Felix Günther: Troeltsch-Heidelberg und die Lamprechtsche Richtung. Eine Entgegnung, Leipzig 1909. 18 Karl Lamprecht: Herr Prof. Troeltsch, in: Deutsche Literaturzeitung 30 (1909), Sp. 3071–3072.

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mus und seine Probleme“ entfaltet ist. Schon Troeltschs frühe Beiträge zum Lamprechtstreit lassen erkennen, daß sich sein Geschichtsverständnis mit keiner der in der allgemeinhistorischen Debatte damals vertretenen Positionen identifizieren läßt. Troeltsch argumentiert in einer doppelten Frontstellung: einerseits geht er zu den Vertretern der „neuen Methode“, also insbesondere zu Breysig und Lamprecht, mit großer polemischer Schärfe auf Distanz. Andererseits formuliert er auch eine zwar im Ton sehr viel freundlichere, aber in der Sache nicht weniger entschiedene Absage an Vertreter der überkommenen Politikgeschichtsschreibung. 1902 bezeichnet Troeltsch den „jüngste[n] Streit über die historische 20 Methode“ als ein „trauriges Denkmal moderner philosophischer Unbildung“. Dieser Vorwurf gilt beiden Parteien. Sowohl den Anhängern der alten als auch den Vertretern der neuen Historiographie wirft er vor, die eigene Position dogmatisch zu verabsolutieren. Er selbst postuliert demgegenüber einen Methodenund Theorienpluralismus und plädiert für die Notwendigkeit und Legitimität von Arbeitsteiligkeit innerhalb der Geschichtswissenschaft. Für dieses pluralistische Konzept ist einerseits eine scharfe Kritik der zeitgenössischen Versuche grundlegend, dem Zirkel von Normativität und Geschichte durch „eine von allen Wertungen freie naturwissenschaftliche oder gesetzes21 wissenschaftliche Behandlung der Geschichte“ zu entrinnen. Gegen das „Programm einer ‚naturwissenschaftlich-empirischen‘, Naturgesetze der Geschichte 22 anstrebenden Historie“, wie es im deutschen Sprachraum insbesondere von Lamprecht und Breysig vertreten worden ist, erhebt Troeltsch vor allem fünf Einwände. – Troeltsch lehnt erstens das positivistische Ideal einer Natur und Geschichte umfassenden Einheitswissenschaft ab. Er insistiert auf einer konstitutiven Differenz von Geist und Natur. So bestreitet er die Übertragbarkeit naturwissenschaftlicher Kategorien auf alle Phänomene des menschlichen Geisteslebens. Dies bedeutet insbesondere eine Kritik aller Versuche, die Geschichtswissenschaft in eine dem naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriff verpflichtete Gesetzeswissenschaft umzuformen. – Troeltsch lehnt zweitens jede „monistische Betrachtungsweise“ der Geschichte ab, „die den ganzen Geschichtsprozeß auf eine treibende Kraft [. . .] bezie19 GS III, jetzt: KGA 16. 20 Ernst Troeltsch: [Rez.] Otto Ritschl: Die Causalbetrachtung in den Geisteswissenschaften, Bonn 1901, in: Theologische Literaturzeitung 27 (1902), Sp. 387–389, hier Sp. 387, jetzt in: KGA 4, S. 213–216, hier S. 213 f. 21 Ernst Troeltsch: [Rez.] Arvid Grotenfelt: Die Wertschätzung in der Geschichte. Eine kritische Untersuchung, Leipzig 1903, in: Theologische Literaturzeitung 29 (1904), Sp. 643–644, hier Sp. 644, jetzt in: KGA 4, S. 361–363, hier S. 362. 22 Ernst Troeltsch: [Rez.] Georg von Below (wie Anm. 13), Sp. 375, jetzt in: KGA 2, S. 529 f.

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hen will“. Dabei spielt es nur eine untergeordnete Rolle, wie die Anhänger der ‚neuen Methode‘ die eine Bewegungskraft der Geschichte jeweils inhaltlich bestimmen. Troeltschs Kritik gilt dem monistischen Prinzip, die Geschichte werde durch eine, gleichsam metahistorisch invariante Entwicklungspotenz bewegt. Er selbst geht davon aus, historische Realität werde durch eine Pluralität von Bewegungskräften geprägt. Damit eng verbunden lehnt Troeltsch drittens teleologische Einheitskonstruktionen ab, denen zufolge der Geschichtsprozeß mit gleichsam objektiver Notwendigkeit auf ein Ziel zulaufe. So wenig geschichtliche Realität insofern uniform sei, als sie von einer ein für allemal gegebenen Bewegungskraft vorangetrieben werde, so wenig sei sie auch in Hinblick auf ein ihr objektiv vorausgegebenes Telos einheitlich. Dies bedeutet vor allem die Absage an universalgeschichtliche Konstruktionen bzw. an evolutionistische Positionen, in denen eine objektive Entwicklungslogik der Geschichte unterstellt ist. Gegenüber solchem universalgeschichtlichen Evolutionismus plädiert Troeltsch dafür, konkrete historische Forschungspraxis von der Frage nach der möglichen Einheit der geschichtlichen Wirklichkeit abzukoppeln. In seinen geschichtsphilosophischen Schriften gibt er zwar weder den Teleologiebegriff noch den Begriff der Einheit der Geschichte bzw. die Idee der Universalgeschichte völlig preis. Aber der Gebrauch dieser Begriffe wird kritisch restringiert: Sie seien möglicherweise regulative Begriffe für den Geschichtsphilosophen, aber gewiß keine konstitutiven Begriffe für den Historiker. Troeltsch lehnt viertens solche Strukturkonzepte ab, für die die Annahme einer invarianten, für alle geschichtliche Realität grundlegenden Prädominanz der ‚Basis‘ gegenüber dem ‚Überbau‘ leitend ist. Zwar eigne den ökonomischen Realfaktoren generell eine größere geschichtliche Prägekraft als Idealfaktoren wie Recht, Sitte, Moral, Kunst und Religion. Jeder Versuch einer Ableitung des Geschichtsverlaufs von ökonomischen Bedingungen 24 habe aber auch „rein psychische Factoren“ in Rechnung zu stellen, die aus diesen Bedingungen selbst nicht zureichend erklärt werden könnten. So sei schon der Begriff der Ableitung zur Bezeichnung der spezifischen Aufgabe des Historikers ungeeignet. Denn sofern geschichtliche Realität durch eine Pluralität relativ autonomer Bewegungsfaktoren bestimmt sei,

23 Ernst Troeltsch: [Rez.] Paul Barth: Die Philosophie der Geschichte als Sociologie. I. Teil: Einleitung und kritische Uebersicht, Leipzig 1897, in: Theologische Literaturzeitung 23 (1898), Sp. 398– 401, hier Sp. 400, jetzt in: KGA 2, S. 349–354, hier S. 352. 24 Ernst Troeltsch: [Rez.] Georg von Below (wie Anm. 13), Sp. 376, jetzt in: KGA 2, S. 530.

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müsse der Historiker primär die zwischen diesen jeweils gegebenen, selbst geschichtlichem Wandel unterliegenden Beziehungen und Wechselwirkungen erheben. Pluralistisch ist Troeltschs Geschichtskonzept also nicht nur deshalb, weil er mit einer Pluralität dynamischer Potenzen rechnet. Die Offenheit geschichtlicher Realität wird vielmehr noch gesteigert, indem er auch die Relationen zwischen den Geschichtspotenzen für kontingent erklärt. Je offener das Bild geschichtlicher Wirklichkeit ist, desto schwieriger wird freilich die Erkenntnis konkreter historischer Zusammenhänge. So richtet sich Troeltschs Kritik invarianter Strukturmodelle nicht dagegen, daß hier mit bestimmten Leitbegriffen geschichtliche Realität zu strukturieren versucht wird. Seine Kritik zielt, genau umgekehrt, darauf, daß die Annahme unwandelbarer Beziehungsstrukturen zwischen geschichtlichen Prägefaktoren der inneren Komplexität der Geschichte nicht gerecht werde, also geschichtliche Realität nur durch theoretisch sehr viel komplexere Modelle zureichend erschlossen werden könne. Troeltsch lehnt fünftens ein soziologistisches Geschichtsverständnis ab, demzufolge „die Collektiveinheit als solche das Centrum und Ziel des Ge25 schichtsprozesses bilde“. Gegen solche – in Troeltschs Sicht für die westeuropäische soziologische Tradition typische – Überbetonung des Gemeinschaftsgedankens beschwört er die geschichtliche Macht freier Persönlichkeit: Gerade auf dem Hintergrund der Individualitätsmetaphysik der klassischen deutschen Philosophie sei gegenüber dem westlichen soziologischen Rationalismus mit seiner abstrakten Vorordnung der ‚Objektivität‘ des Sozialen vor dem Individuellen daran festzuhalten, daß der einzelne weder in der Allgemeinheit von Gesellschaft oder Gemeinschaft aufgehe noch auch zum bloßen Agenten ihm vorgegebener autonomer Bewegungsgesetze der Geschichte herabgesetzt werden dürfe. Zwar hätten die soziologisch inspi26 rierten „modernen [. . .] Bekämpfungen der ‚Große-Männer-Theorie‘“ eine große Berechtigung. Aber Geschichte lasse sich durch soziologische Analyse nur zum Teil erschließen. So sehr sie von überindividuellen sozialen Realfaktoren geprägt werde, so sehr sei sie prinzipiell auch ein Ort freier individueller Lebensführung mit der Chance, selbst auf historische Prozesse aktiv einzuwirken. Hypostasiere soziologisch orientierte Geschichtsschreibung die geschichtsprägende Kraft überindividueller gesellschaftlicher Realfaktoren zu einer völlig subjektunabhängigen Eigenlogik des Sozialen, schlage sie deshalb in erkenntnistheoretischen Dogmatismus um. Diese Kritik des

25 Ernst Troeltsch: [Rez.] Paul Barth (wie Anm. 23), Sp. 400, jetzt in: KGA 2, S. 352. 26 Ebd., Sp. 400, jetzt in: KGA 2, S. 351.

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„modernen Halbmaterialismus“ richtet sich insbesondere gegen den mechanistischen Marxismus und eine empiristische Gesellschaftsgeschichte, die erkenntniskritischer Selbstaufklärung entbehrt und insofern zu einem blinden Determinismus tendiert. Troeltsch entwickelt sein pluralistisches Geschichtskonzept andererseits auch in der kritischen Auseinandersetzung mit den Vertretern der ‚alten Methode‘. Dabei formuliert er vor allem vier Einwände. – Troeltsch lehnt erstens jeden dogmatischen Anspruch auf exklusive Geltung des alten Paradigmas ab. Zwar stimmt er der von Friedrich Meinecke, Max Lenz, Felix Rachfahl und Georg von Below vertretenen Lamprecht-Kritik 1898/99 insoweit zu, als sie Freiheit zum wesentlichen Element des historischen Geschehens erklärt und einen universalgeschichtlichen Evolutionismus mit dem Argument abgelehnt haben, daß „die Wechselbeziehung aller geschichtlichen Einzelgebiete zu anderen irgend eine reine Entwicke28 lungslinie zu gewinnen nicht gestatte“. Aber er geht zu ihnen zugleich auf Distanz und betont schon in den 1890er Jahren die Notwendigkeit einer tiefgreifenden Reform der herrschenden geschichtswissenschaftlichen Forschungspraxis: nachdem die neue „entwicklungsgeschichtliche und vergleichende Methode [. . .] Gesellschafts-, Wirthschafts-, Religionsgeschichte usw. gründlich umgestaltet“ habe, sei „auch unsere im engen Sinne sog. ‚Geschichtsschreibung‘ [. . .] vor die Aufgabe einer Umbildung ihrer princi29 piellen Voraussetzungen gestellt“. Troeltsch verlangt dabei insbesondere eine Öffnung der Geschichtswissenschaft gegenüber soziologischen Fragestellungen. – Denn Troeltsch lehnt zweitens eine einseitig ideengeschichtliche Orientierung der Geschichtswissenschaft ab. Besonders deutlich zeigt dies seine kritische Auseinandersetzung mit führenden Dogmen- und Kirchenhistorikern der Zeit. Beispielsweise postuliert er gegenüber Adolf von Harnacks Dogmengeschichtskonzeption „eine nicht mehr wesentlich ideologische, d. h. an der Entwickelung der Glaubensgedanken allein interessierte, sondern soziologische, d. h. die ethischen und religiösen Gedanken und ihrem engen Zusammenhang mit den verschiedenen christlichen Gemeinschaftsbildungen und in Wechselwirkung mit den profanen Gesellschaftsmächten erfassende

27 Vgl. Ernst Troeltsch: Moderner Halbmaterialismus, in: Die Christliche Welt 11 (1897), Sp. 98– 103 und Sp. 157–162, jetzt in: KGA 1, S. 577–596. 28 Ernst Troeltsch: [Rez.] Georg von Below (wie Anm. 13), Sp. 376, jetzt in: KGA 2, S. 531. 29 Ernst Troeltsch: [Rez.] Paul Barth (wie Anm. 23), Sp. 398 f., jetzt in: KGA 2, S. 349.

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Darstellung“. Was die prinzipielle Notwendigkeit einer Öffnung für soziologische Fragestellungen betrifft, weiß er sich den Anhängern der neuen Methode näher als denen der alten. Troeltsch lehnt drittens die politikgeschichtliche Orientierung der „sog. al31 ten historischen Schule“ ab. Sie habe das „dem Historiker unentbehrliche Princip der Gruppirung der Thatsachen [. . .] ohne viel Untersuchungen in dem die deutsche Historie beherrschenden Begriffe einer Weltkultur [gefunden], in welcher der Staat als der eigentliche Träger dieser Kultur eine 32 besondere Bedeutung hat“. Diese politikgeschichtliche Lösung des Strukturierungsproblems mit der Fixierung auf den Staat als Strukturierungskern der Geschichte sei jedoch nicht weniger dogmatisch als das naturalistische Gesellschaftsverständnis der ‚neuen Schule‘: Hier wie dort werde eine faktisch nur relative Potenz der Geschichte absolut gesetzt und so die Pluralität geschichtlicher Bewegungskräfte reduktionistisch abgeblendet. Die Geschichte politischer Institutionen zum Kern des historischen Prozesses zu erklären, ist, wie Troeltsch betont, eine Lösung des Strukturierungsproblems, die insbesondere den Religionshistoriker nicht überzeugen könne. Denn die Religionsgeschichte zeige, in welch starkem Maße neben den politischen auch religiöse Institutionen relevante Antriebskräfte geschichtlichen Wandels gewesen und soziales Handeln durch religiöse Mentalität mitgeformt worden sei. Die einseitig etatistische Orientierung der herrschenden deutschen Fachhistorie gilt Troeltsch insoweit als Ideologie: Hier werde nur die für die deutsche politische Kultur seit 1870/71 signifikante Übersteigerung des Nationalstaatsgedankens universalgeschichtlich überhöht. Troeltsch lehnt viertens ein exklusiv idiographisches Verständnis historischer Forschung ab. Seiner Forderung nach Öffnung der Geschichtsschreibung für soziologische Fragestellungen korrespondiert eine kritische Relativierung der Rickertschen Unterscheidung von Verstehen und Erklären. Keineswegs ziele die Erkenntnisaktivität der Geschichtswissenschaft nur auf Verstehen im Gegensatz zum Erklären. Auch der Historiker wolle erklären. „Der Historiker hat andere Voraussetzungen, Mittel und Grenzen der Erklärung und kann neben der Erklärung die Gruppirung nach Werthgesichtspunkten nicht umgehen, aber die Begriffe der Typen, der Tendenzen und der allgemei33 nen historischen Kräfte sind für ihn unentbehrlich“, heißt es 1899 in der schon erwähnten Stellungnahme zum Lamprechtstreit, in der er sowohl mit

Ernst Troeltsch: Was heißt „Wesen des Christentums“?, in: GS II, S. 386–451, hier S. 449. Ernst Troeltsch: [Rez.] Arvid Grotenfelt (wie Anm. 21), Sp. 644, jetzt in: KGA 4, S. 362. Ernst Troeltsch: [Rez.] Georg von Below (wie Anm. 13), Sp. 376, jetzt in: KGA 2, S. 531. Ebd., Sp. 377, jetzt in: KGA 2, S. 533.

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Below Lamprecht kritisiert als auch mit soziologischen Begriffen Rickerts Geschichtsmethodologie ablehnt. Troeltschs kritische Auseinandersetzung mit dem Methodenstreit in der deutschen Geschichtswissenschaft läßt erkennen, daß er einen dritten Ort jenseits der streitenden Parteien zu etablieren sucht. Dabei bleibt zunächst freilich unklar, wie sich die kritischen Argumente, die er gegen die „neue Methode“ geltend macht, mit seinen Einwänden gegen die „alte Methode“ überhaupt zu einer in sich widerspruchsfreien eigenen Position verbinden lassen. Schon 1904 hat Troeltsch selbst darauf hingewiesen, daß sich „soziologische Historie einerseits und idiographische Historie andererseits“ nicht einfach „zur Ergänzung neben34 einander“ stellen ließen. Im Zusammenhang seiner Versuche, eine eigenständige Methodologie für „alle Wissenschaften vom menschlichen Geistesleben“ zu 35 entwickeln, hat Troeltsch deshalb zwischen zwei Typen von Geschichtswissenschaft unterschieden, die gerade in ihrer Selbständigkeit notwendig aufeinander bezogen seien. Diese Unterscheidung zweier Geschichtswissenschaften prägt insbesondere die Wissenschaftssystematik seines geschichtsphilosophischen Spätwerks. Troeltsch hat hier sowohl Heinrich Rickerts Begriff der „Kulturwissenschaften“ als auch den seit den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts gebräuchlichen, dann wesentlich von Dilthey propagierten Begriff der „Geisteswissenschaften“ als enzyklopädischen Leitbegriff für all jene Erkenntnisbemühungen abgelehnt, die sich auf den ‚Geist‘ im Unterschied zur ‚Natur‘ richten. Sein eigener Leitbegriff 36 heißt im Historismusband „historisch-ethische Wissenschaften“. Diese umfassen entwickelnde Geschichtsdarstellung, soziologisch vergleichende Geschichtssystematik, systematische Geisteswissenschaften und schließlich Kulturethik. Die historisch-ethischen Wissenschaften behandeln folglich sowohl eine darstellende Geschichtsschreibung, die historische Gegenständlichkeit primär in ihrer konstitutiven Individualität zu verstehen sucht, als auch eine abstraktgesetzliche, gesellschaftsgeschichtlich orientierte Historiographie, die auf nomothetische Begriffsbildung, systematischen Vergleich und typologische Klassifikation des Besonderen zielt. Beide Typen von Historiographie sind von den systematischen Geisteswissenschaften zwar scharf unterschieden, aber auch auf sie notwendig bezogen. Denn die systematischen Geisteswissenschaften „arbeiten mit psychologischem und historischem Stoff, sind aber stets auf Wesen,

34 Ernst Troeltsch: [Rez.] Arvid Grotenfelt (wie Anm. 21), Sp. 644, jetzt in: KGA 4, S. 362. 35 Ernst Troeltsch: [Rez.] Paul Barth (wie Anm. 23), Sp. 398, jetzt in: KGA 2, S. 349. 36 GS III, S. 80, Anm. 34, und S. 83 f., Anm. 34a, jetzt: KGA 16, S. 254 f., Anm. 34, und S. 259 f., Anm. 34a.

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Norm, Ideal ihres Gegenstandes [. . .] gewendet. [. . .] Sie schließen sich also an die Historie an und setzen sie voraus, wie sie umgekehrt für Gliederung und 37 Auffassung des historischen Stoffes vorauszusetzen sind“. Das distinkte Beieinander von Analyse und Wertung, das Troeltsch postuliert, läßt sich also als ein Zirkel beschreiben: So wenig sich geschichtliche Gegenständlichkeit ohne normative Prämissen überhaupt konstitutieren läßt, so wenig können normative Begriffe ohne Rekurs auf Geschichte gewonnen werden. Folgt man Troeltsch, dann läßt sich dieser Zirkel nicht nach einer der beiden Seiten hin auflösen. Ob diese Behauptung philosophisch zu überzeugen vermag, ist für seine materiale 38 historische Arbeit nicht von Gewicht.

4. Radikale Historisierung der Theologie: Christliche Theologie als Religionsgeschichte des Christentums Wie ist das Verhältnis zwischen Troeltschs Geschichtsmethodologie und seinen eigenen historischen Publikationen zu bestimmen? Inwieweit lassen sich seine historischen Studien als Beiträge zur Einlösung des Programms deuten, historische Forschung diene einer Kulturethik, die die Geltung bestimmter geschichtlich vermittelter Kulturideale zu erweisen versuche?

4.1 Von der theologischen Ideengeschichte zur Kulturgeschichte der Theologie Aufgrund seiner Freundschaft mit Friedrich Meinecke gilt Troeltsch in der geschichtswissenschaftlichen Literatur häufig als Repräsentant einer neohistoristischen Ideengeschichtsschreibung. Doch so wenig diese – relativ unscharfe – Klassifikation Troeltschs Stellungnahmen zur Methodologie der Geschichtswissenschaft und hier insbesondere der Unterscheidung zweier Typen von Historiographie gerecht wird, so wenig ist sie auch seinen eigenen historischen Publikationen angemessen. Schon seine erste historische Arbeit, die Dissertation und Habilitationsschrift „Vernunft und Offenbarung bei Johann Gerhard und Melanchthon. Untersuchung zur Geschichte der altprotestantischen Theolo-

37 Ebd., S. 80, Anm. 34, jetzt: KGA 16, S. 254 f., Anm. 34. 38 Zum Problem vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Hartmut Ruddies: Ernst Troeltsch. Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht, in: Joseph Speck (Hrsg.): Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Neuzeit, Band 4, Göttingen 1986, S. 128–164.

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gie“ läßt erkennen, daß Troeltsch um eine methodische Neuorientierung der Theologie- und Kirchengeschichtsschreibung bemüht gewesen ist, die gerade auf eine Relativierung von ‚Ideengeschichte‘ zielt. Die Arbeit unterscheidet sich vom Stil der damals herrschenden Theologiegeschichtsschreibung wesentlich dadurch, daß sie die Wissenschaftsgeschichte der Theologie nicht mehr rein ideenimmanent rekonstruiert, sondern die institutionellen Bedingungen sichtbar zu machen sucht, die die Durchsetzung bestimmter theologischer Gedankenkomplexe befördert haben; Troeltsch versucht das Selbstverständnis der Theologie aus ihrer Funktion für die Theologenausbildung und im Kontext der besonderen Aufgabe der Theologie im Organismus der Universität deutlich zu machen. Dabei verdient vor allem ein Ergebnis besondere Beachtung: Die altprotestantische Theologie suche noch einmal eine religiös-weltanschauliche „Einheitskultur“ zu stabilisieren. Denn im Medium einer wesentlich von Melanchthons Aristoteles-Rezeption geprägten Naturrechtskonzeption entwickle sie keineswegs nur eine Theorie der Kirche im Unterschied zur Welt. Vielmehr verstehe sie die von der Kirche und Universitätstheologie gemeinsam verwaltete konfessionsspezifische Auslegung der christlichen Tradition als das exklusiv geltende normative Fundament des gesamten Gemeinwesens, entwickle also eine alle Stände umfassende ethische Gesamttheorie des Sozialen, die über die engen Verbindungen zwischen Theologie und Rechtswissenschaft einen tiefgreifenden Einfluß auf die konkrete Gestaltung der politisch-sozialen Ordnung der protestantischen Territorien ausgeübt habe. Zwar wird diese Funktion der Theologie, den Wertekosmos der Gesellschaft so zu begründen, daß er juristisch positivierbar ist, noch methodisch tastend und unsicher entfaltet. Aber als Ideengeschichtsschreibung läßt sich Troeltschs Dissertation nur insoweit charakterisieren, als seine Quellen hier ausnahmslos literarische Texte, Publikationen von Theologen und Philosophen sind. Doch auf dieser Ebene sucht er noch einmal den Schein einer Immanenz der Ideen zu durchbrechen. Besonders deutlich zeigt dies Troeltschs Versuch, im Gegensatz zu den führenden Vertretern der zeitgenössischen Dogmengeschichtsschreibung die Umformung der Theologie der Reformatoren zur altprotestantischen Dogmatik nicht mehr als Verfall und Niedergang zu deuten, sondern sie aus dem Zusammenhang der Konsolidierung protestantischer Territorien und hier insbesondere der neuen Organisation der höheren Bildung verständlich zu machen. Einer der beiden Referenten, der Reformationshistoriker Paul Tschackert, später ein Kritiker Troeltschs, hat an der Arbeit deshalb bemängelt, sie sei „mit 39 Ernst Troeltsch: Vernunft und Offenbarung bei Johann Gerhard und Melanchthon. Untersuchung zur Geschichte der altprotestantischen Theologie, Göttingen 1891, jetzt in: KGA 1, S. 81– 338.

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kulturgeschichtlichem Ballast überladen“. Troeltsch selbst verwendet in der Dissertation den Kulturgeschichtsbegriff freilich noch nicht. Doch spätestens seit der Mitte der 1890er Jahre dient ihm Kulturgeschichte als ein – nicht: der – Leitbegriff für die ihm vorschwebende methodische Neuorientierung geschichtlicher Forschung innerhalb der Theologie. So schreibt er 1895 an seinen Freund Wilhelm Bousset, einen Neutestamentler, er „arbeite augenblicklich die neueste Theologie und zwar nach meiner Methode, nicht als Summe von Bücherana41 lysen, sondern [. . .] kulturgeschichtlich“. Schon 1891 verpflichtet Troeltsch sich gegenüber dem Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) zu einer „Geschichte der Protestantischen Theologie“, die, wie er 1901 dem Verleger mitteilt, „Eigenthümlichkeit u[nd] Wesen der neueren Theologie im Zusammenhang mit 42 der Culturgeschichte auseinandersetzt“. Darüber hinaus erklärt er sich 1898 gegenüber Friedrich Meinecke und Georg von Below bereit, für deren Handbuch der Mittelalterlichen und Neuzeitlichen Geschichte eine kulturgeschichtliche Darstellung der Aufklärung zu schreiben. Für den Historiker Troeltsch ist es freilich auch signifikant, daß diese kulturgeschichtlichen Werke nie erschienen sind. Troeltschs programmatische Verwendung des Kulturgeschichtsbegriffs darf aber nicht im Sinne einer positiven Bezugnahme auf Lamprecht gedeutet werden. Möglicherweise ist sein Begriffsgebrauch von den geschichtsmethodologischen Arbeiten Ernst Bernheims und Eberhard Gotheins beeinflußt, die er seit den frühen 1890er Jahren mehrfach zustimmend zitiert. ‚Kulturgeschichte‘ ist in der protestantischen Theologie und historischen Religionswissenschaft im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts freilich so häufig verwendet worden, daß der Begriff als solcher noch kein spezifisches Programm beinhaltet. Mit großem Nachdruck ist davor zu warnen, den Begriff als Indikator für ein besonders progressives Geschichtsverständnis zu verstehen. Schon in den siebziger Jahren haben gerade theologisch traditionalistische und politisch äußerst konservative Lutheraner

40 Paul Tschackert: Referat über die Abhandlung des Kandidaten Ernst Troeltsch „Vernunft und Offenbarung bei Johann Gerhard und Melanchthon“, Universitätsarchiv Göttingen, Kur. 4306, Bl. 43. 41 Brief Ernst Troeltschs an Wilhelm Bousset vom 23. Juli 1895, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. W. Bousset 130, 27, zuerst abgedruckt in: Erika Dinklervon Schubert (Hrsg.): Ernst Troeltsch. Briefe aus der Heidelberger Zeit an Wilhelm Bousset 1894– 1914, in: Heidelberger Jahrbücher 20 (1976), S. 19–52, hier S. 30, demnächst in KGA 19. 42 Brief Ernst Troeltschs an Paul Siebeck vom 1. August 1901, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachl. 488 (Verlagsarchiv Mohr Siebeck), A 151, demnächst in KGA 19. Troeltsch kommentiert hier diese kulturgeschichtliche Orientierung seiner theologiegeschichtlichen Forschung: „Das ist der Kerngedanke aller meiner Arbeiten und den will ich nun in einer großen Arbeit historisch auseinandersetzen [. . .]“.

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„Kulturgeschichten“ veröffentlicht, die primär der historischen Abstützung des Anspruchs dienen sollten, pluralistischer Zerfall und sittlicher Niedergang der Kultur ließen sich nur dann verhindern, wenn einem spezifisch lutherischen Ideal einer neuen religiös homogenen und kirchlich dominierten Kultur wieder gesamtgesellschaftliche Verbindlichkeit zuerkannt werde. In der protestantischen Theologie ist der Kulturgeschichtsbegriff spätestens seit Ende der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts sowohl von religiös Liberalen als auch von Orthodoxen in Anspruch genommen worden. Am Begriff Kulturgeschichte haben sich hier deshalb keine Kontroversen entzünden können. Die den Methodendebatten innerhalb der Fachhistorie vergleichbaren methodologischen Kontroversen sind innerhalb der protestantischen Theologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts primär um Begriff und Möglichkeit der Religionsgeschichte geführt worden.

4.2. Von der Kirchengeschichte zur Religionsgeschichte des Christentums Schon der junge Troeltsch vertritt eine radikale Kritik des überkommenen Selbstverständnisses der Theologie als kirchlicher Legitimationswissenschaft, in der alle historischen Erkenntnisvollzüge der dogmatischen Explikation überzeitlicher Wahrheitsansprüche der Kirchenlehre subordiniert bleiben. Er postuliert 43 die Umformung der Theologie zu einer „religionsgeschichtliche[n] Disziplin“: Sie sei in allen ihren Teilen, also auch in ihren systematischen Disziplinen wie Dogmatik und Ethik, im Sinne einer rein historisch-analytischen Wissenschaft vom Christentum als einer Religion unter Religionen zu betreiben. Dieser radika44 len Historisierung des Theologiebegriffs entsprechend muß notwendig auch die historische Zentraldisziplin der Theologie, die Kirchengeschichte, auf ein religionsgeschichtliches Paradigma umgestellt werden. Bereits in 1891 für die akademische Promotionsdisputation verfaßten Thesen erklärt Troeltsch: „Die sog. Kirchengeschichte und die Geschichte der christlichen Religion sind streng zu un-

43 Die Formel verwendet Troeltsch programmatisch schon in der ersten These seiner von mir 1978 aufgefundenen Promotionsthesen: „Die Theologie ist eine religionsgeschichtliche Disziplin, doch nicht als Bestandteil einer Konstruktion der universalen Religionsgeschichte, sondern als Bestimmung des Inhalts der christlichen Religion durch Vergleichung mit den wenigen großen Religionen, die wir genauer kennen.“ Vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Der „Systematiker“ der „Kleinen Göttinger Fakultät“. Ernst Troeltschs Promotionsthesen und ihr Göttinger Kontext, in: TS 1, S. 235– 290, bes. S. 283 ff., in diesem Band oben, S. 153–213, bes. S. 205 ff. 44 Zu Troeltschs radikal historischem Theologiebegriff vgl. die eindrucksvolle Interpretation bei Volker Drehsen: Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen der Praktischen Theologie. Aspekte der theologischen Wende zur sozialkulturellen Lebenswelt christlicher Religion, Band 2, Tübingen 1985 (Hochschuldruck), bes. S. 542 ff.

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terscheiden, nur die letztere hat ein unmittelbares Verhältnis zur theologischen 45 Wissenschaft“. Der überkommenen Kirchengeschichte wird jede Wissenschaftlichkeit abgesprochen. Denn Kirchengeschichte ist nur Geschichte der Kirche bzw. unter den Bedingungen der nachreformatorischen konfessionellen Pluralisierung des Christentums Geschichte der Konfessionskirchen. Kirchengeschichte setzt ihrem Begriff nach voraus, daß die Kirche das exklusive oder zumindest primäre Subjekt der Geschichte des Christentums ist. Ihr geschichtlicher Gegenstand wird implizit durch die dogmatische Leitannahme konstituiert, daß außerkirchliche Frömmigkeit, etwa die Frömmigkeit der Sekten, rein als solche schon theologisch illegitim, nämlich Häresie sei. Diese dogmatische Voraussetzung läßt sich zwar selbst historisch erklären: sie reflektiert die für das vorneuzeitliche Christentum grundlegende Prädominanz der Institution vor dem Individuum und der Kirche vor der Sekte. Aber Kirchengeschichte entbehrt der analytischen Kompetenz zur Erschließung der für die Gesellschaftsgeschichte der Moderne signifikanten Ausdifferenzierung einer Pluralität von Organisationsgestalten christlicher Frömmigkeit. Troeltschs Programm, Kirchengeschichte zu einer Geschichte der christlichen Religion umzuformen, läßt sich seiner Struktur nach deshalb als eine Parallele zu den diversen Bemühungen in der Allgemeingeschichte der Zeit begreifen, eine auf den Staat fixierte politikgeschichtliche Historiographie durch ein neues geschichtswissenschaftliches Paradigma abzulösen, dessen Strukturierungskern nicht mehr der Staat, sondern die Gesellschaft bzw. die Kultur ist. Denn der Ausdifferenzierung von Staat und Gesellschaft entspricht christentumsgeschichtlich gesehen die erstmals in der sogenannten Neologie, der Aufklärungstheologie des späten 18. Jahrhunderts, formulierte Unterscheidung zwischen der Institutionalität der Kirche und der kulturellen Allgemeinheit des Christentums. Mit der Forderung nach einer Geschichte der christlichen Religion sucht Troeltsch also dem faktischen Gestaltwandel des Christentums unter den Bedingungen moderngesellschaftlicher Differenzierung Rechnung zu tragen. Eine einseitig an der Institution der Kirche orientierte und darin immer schon dogmatisch verengte Perspektive soll von einer offenen Wahrnehmung der Christentumsgeschichte abgelöst werden, die neben der Kirche auch außerkirchliche Sozialgestalten des Christentums, etwa Frömmigkeitsbewegungen, religiöse Vereinsbildungen, Sekten, die Bildungsreligion des Bürgertums und literarische Manifestationen individueller Frömmigkeit zu erschließen vermag. Eine solche Religionsgeschichte versteht sich als integraler Bestandteil einer Kulturgeschichte, so daß Kulturgeschichte der Leitbegriff für eine neue, auf Totalität zielende Synthese ist. Grundthema dieser Kulturgeschichte im weiteren 45 Vgl. meinen in Anm. 43 genannten Aufsatz, hier S. 251, in diesem Band oben, S. 171.

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Sinne ist die Wechselwirkung zwischen den einzelnen Kultursphären. Troeltsch versteht den epochalen Wandel der europäischen Gesellschaften im 18. und 19. Jahrhundert als einen Prozeß der Auflösung jener substantiellen Einheit der Gesellschaft, die in der christlichen, kirchlich dominierten „Einheitskultur“ des Mittelalters und in den konfessionell geschlossenen Territorien des 16. und frühen 17. Jahrhunderts im wesentlichen durch Religion fundiert worden sei. Gesellschaftliche Modernisierung vollziehe sich primär als soziale Differenzierung: Seit dem späten 17. Jahrhundert hätten sich Handlungsgebiete des sozialen Lebens, die traditionell durch Religion zu einem homogenen Ganzen integriert gewesen seien, zunehmend zu relativ autonomen Teilbereichen der Gesellschaft verselbständigt. Kunst, Wissenschaft, Ethik, Recht und Politik folgten nun nicht mehr einem einheitlichen religiösen Ethos, sondern ihrer je besonderen Zweckrationalität. Auf dem Hintergrund einer intensiven Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen deutschen Soziologie – neben den Arbeiten Webers hat Troeltsch insbesondere die Soziologie Georg Simmels sehr intensiv rezipiert – versteht Troeltsch die moderne Gesellschaft also als ein pluralistisches Ensemble relativ autonomer Kultursphären mit je spezifischen, einander widerstreitenden Eigen46 gesetzlichkeiten. Für die Religion bedeutet dies: einst normative Substanz und allgemeines Integrationsmedium der Kultur ist sie selbst zu einer besonderen Kultursphäre neben anderen Kultursphären geworden, deren spezifisches Ethos, das Ethos von gottgebundener freier Persönlichkeit und universeller Brüderlichkeit, der in den anderen Sphären jeweils herrschenden Rationalität widerstreitet. Religionsgeschichte versteht Troeltsch deshalb als die auf den Problembereich Religion gerichtete Teilgeschichte einer kulturhistorischen Geschichtskonzeption, deren Grundthema die Konflikte und wechselseitigen Beeinflussungen zwischen den verschiedenen Kultursphären sind. Das Schicksal der Religion im Prozeß gesellschaftlicher Differenzierung soll also nicht mehr im Sinne einer allgemeinen Verhältnisbestimmung von Religion und moderner Kultur überhaupt thematisiert werden. Denn eine solche allgemeine Verhältnisbestimmung abstrahierte von der inneren Differenziertheit und Widersprüchlichkeit der modernen Kultur. Für Troeltschs Verständnis von Religionsgeschichte ist gerade das Interesse leitend, mögliche Wechselwirkungen zwischen der Kulturpotenz Religion – d. h. insbesondere auch den religiösen Institutionen, also vor allem den großen Konfessionskirchen – und anderen Kulturpotenzen auf der Ebene der je besonderen Beziehung zu den einzelnen Kultursphären zu erheben. Dabei interessiert ihn vorrangig die Frage, ob und inwieweit es angesichts der kulturprägenden Macht von kapitalistischer Ökonomie und modernem bürokratischen Staat eine relative

46 Dies ließe sich im einzelnen vor allem an Programm und Aufbau der „Soziallehren“ zeigen.

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Autonomie der Religion gibt. Ist Religion, wie insbesondere von einer dem mechanistischen Materialismus der Arbeiterbewegung verpflichteten christentumskritischen Religionsgeschichtsschreibung und diversen Repräsentanten einer universalgeschichtlichen ‚allgemeinen Religionsgeschichte‘ behauptet worden ist, nur Funktion bzw. sekundärer Ausdruck anderer Kulturpotenzen? Oder ist sie auch gegenüber so prägenden Kulturmächten wie moderner Ökonomie und Politik eine Kulturpotenz sui generis, die aufgrund ihrer relativen Selbständigkeit nicht nur von anderen Kultursphären bestimmt wird, sondern, genau umgekehrt, diese auch mit zu beeinflussen vermag?

5. Religion als eine relativ autonome Potenz der Kultur Kirchengeschichtsschreibung ist institutionenzentriert: Sie thematisiert die Geschichte des Christentums primär aus der Perspektive der religiösen Institution, der Kirche. Für Troeltschs Religionsgeschichte des Christentums ist demgegenüber ein prinzipieller Perspektivenwechsel grundlegend: Es sollen neben der Kirche auch solche religiösen Kräfte in den Blick genommen werden, die nicht institutionell gebunden sind. Troeltsch sucht ein gegenüber der herkömmlichen konfessionell gebundenen Kirchengeschichtsschreibung komplexeres, an mehreren Strukturierungsprinzipien orientiertes Bild der Christentumsgeschichte zu entwickeln. So unterscheidet sich seine Sicht der Geschichte des Protestantismus vom Geschichtsbild der deutschen lutherischen Kirchengeschichtsschreibung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wesentlich durch drei signifikante Verschiebungen: ein neues Periodisierungsverständnis, in dem nicht mehr die Reformation, sondern die Aufklärung des späten 17. und 18. Jahrhunderts die entscheidende Epochenschwelle zur Neuzeit markiert; die Aufwertung des reformierten „asketischen Protestantismus“ gegenüber dem deutschen Luthertum, das dem obrigkeitsstaatlichen Leitbild eines starken Gemeinwohlstaates verhaftet geblieben sei, paternalistisch vormoderne Gemeinschaftsideale propagiert habe und entscheidend für die autoritäre Verformung der deutschen politischen Kultur verantwortlich sei; die Betonung der gerade für die Genese der modernen Kultur relevanten geschichtlichen Prägekraft institutionell ungebundener religiöser Kräfte. Ich konzentriere mich im folgenden auf das letzte dieser drei tragenden Elemente von Troeltschs Sicht der Geschichte des Protestantismus. Denn in seinen historischen Analysen des Verhältnisses der Kirche als Institution zu den institutionell nicht gebundenen religiösen Kräften tritt der konstitutive Gegenwartsbezug seines Kulturgeschichtskonzepts besonders prägnant hervor: Ist das Luthertum im Kern eine noch an vormodernen Sozialidealen orientierte Gestalt des Christentums, dann taugt es, wie Troeltsch im negativen Schluß der

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„Soziallehren“ nachdrücklich betont hat, nicht dazu, die vielfältigen Krisen der wesentlich von kapitalistischer Zweckrationalität geprägten deutschen Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts mit den Mitteln religiöser Erneuerung zu ‚meistern‘. Desto größeres Gewicht gewinnt infolgedessen die Frage, inwieweit sich die religiösen Kräfte außerhalb der Kirche als Subjekte einer religiös inspirierten wertethischen Einflußnahme auf die Gesellschaft in Anspruch nehmen lassen. Der von Troeltsch postulierte Perspektivenwechsel hin zu den außerkirchlichen Kräften der Christentumsgeschichte betrifft erstens die Wahrnehmung der Sekten. In intensiver Auseinandersetzung mit Max Webers Protestantismus47 studien stellt Troeltsch in seinen „Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“ dem soziologischen Typus der Kirche bekanntlich einen „Sektentypus“ als eigenen Typus religiöser Vergemeinschaftung gegenüber. Kein anderer protestantischer Theologe des frühen 20. Jahrhunderts hat den „protestantischen Sekten“ wie organisiertem Täufertum, Mennoniten, Baptisten und Millenariern etc. eine so hohe allgemeingeschichtliche Relevanz zuerkannt wie Troeltsch. Den Sekten komme für den Weg aus der religiösen Einheitskultur des Mittelalters in die moderne pluralistische Individualitätskultur eine sehr viel größere Bedeutung als den Konfessionskirchen zu. Besonders deutlich zeige sich dies an der historischen Genese all jener spezifisch modernen Kulturideale, die auf der Annahme einer prinzipiellen Selbständigkeit des einzelnen gegenüber den Sinnstiftungsansprüchen der kirchlichen Institution beruhten, also insbesondere an Menschenrechten wie Religions- und Gewissensfreiheit und dem Toleranzprinzip. Nicht nur hätten sich solche modernen Individualrechte nur gegen den erbitterten Widerstand der Konfessionskirchen überhaupt durchsetzen können. Vielmehr wurzelten sie auch positiv in der Opposition der Sekten gegen den dogmatischen Uniformitätszwang der Kirchen, die weithin noch dem vormodernen Leitbild einer religiös homogenen, von der Kirche als exklusiver Sinnstiftungsagentur dominierten Kultur verpflichtet geblieben seien. Insofern sei die moderne Kultur in ihrer Entstehung entscheidend von religiösen Triebkräften außerhalb der Kirchen mitgeprägt. Troeltsch bestreitet damit die zentrale These der konfessionell lutherischen Kirchenhistoriographie des 19. Jahrhunderts: die These, die reformatorischen Kirchen seien die primären Träger des Prozesses kultureller Modernisierung gewesen. Dies läßt verstehen, daß seine genau gegenläufige Behauptung, der Prozeß

47 Zu Troeltschs intensiver Auseinandersetzung mit Webers Protestantismusstudien vgl. im einzelnen Friedrich Wilhelm Graf: Fachmenschenfreundschaft. Bemerkungen zu ‚Max Weber und Ernst Troeltsch‘, in: Wolfgang J. Mommsen, Wolfgang Schwentker (Hrsg.): Max Weber und seine Zeitgenossen, Göttingen, Zürich 1988, S. 313–336, in diesem Band unten, S. 269–293.

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der Auflösung des mittelalterlichen Ideals einer religiösen Einheitskultur sei im wesentlichen nicht von den protestantischen Kirchen, sondern von den protestantischen Sekten (mit-)getragen worden, sowohl von der großen Mehrheit der zeitgenössischen deutschen Kirchenhistoriker als auch von nationalprotestantischen Allgemeinhistorikern wie Georg von Below, Max Lenz, Felix Rachfahl und Erich Marcks vehement abgelehnt worden ist. Ihre Kritik an Troeltsch hat sich zunächst auf seine relativ positive Sicht des Täufertums konzentriert. Zu 48 Recht haben theologische Kritiker Troeltschs wie insbesondere Karl Holl darauf hingewiesen, daß Troeltschs Darstellung der täuferischen Bewegung weithin nur aus Sekundärliteratur gearbeitet und in vielen Details korrekturbedürftig sei. Troeltsch hat in der Tat keine spezialisierte Täuferforschung betrieben. Aber 49 er hat eine „Entpathologisierung“ des Täufertums eingeklagt und die Zerstörung der berufsspezifischen Ideologie lutherischer Kirchenhistoriker initiiert, derzufolge Luther Prophet der Deutschen und Müntzer nur der Ahnherr der sozialistischen inneren Reichsfeinde sei. Die Auseinandersetzungen um Troeltschs Sicht der protestantischen Sekten und der eng damit verbundene Streit um seine Abwertung des Luthertums gegenüber dem „asketischen Protestantismus“ sind in ihrem Kern deshalb politische Kontroversen um konkurrierende normative Kulturkonzepte gewesen. Troeltschs Kritiker haben seine Aufwertung der geschichtlichen Bedeutung der Sekten gegenüber den Konfessionskirchen primär als Legitimationsentzug des tragenden kulturpolitischen Fundaments des zweiten Reiches empfunden. Christentumsgeschichte nicht mehr exklusiv vom Strukturierungskern Kirche her wahrzunehmen, ermöglicht zweitens die Entdeckung der christlichen Frömmigkeitsbewegungen als relativ institutionenunabhängiger, gegenüber dem Kirchentypus soziologisch eigenständiger prägender Kräfte insbesondere des neuzeitlichen Christentums. Dies betrifft vor allem die Einschätzung des Pietismus und der spannungsreichen Wechselwirkungen zwischen pietistischer Reformbewegung und deutscher Aufklärung. Die lutherische Dogmen- und Kirchengeschichtsschreibung des späten 19. Jahrhunderts hat weithin ein äußerst negatives Bild des Pietismus und hier insbesondere seiner radikal spiritualistischen Strömungen gezeichnet. Dafür ist insbesondere die 1880–1886 von Albrecht Ritschl publizierte dreibändige Gesamtdarstellung der „Geschichte des Pietismus“ repräsentativ: Der Pietismus sei ein katholisierender Rückfall in spätmittelalterliche Mystik, eine Regression hinter die theologische Wahrheit der

48 Zum geistespolitischen Hintergrund von Holls äußerst polemischer Auseinandersetzung mit Troeltsch vgl. Dietrich Korsch: Karl Holl als Antipode Ernst Troeltschs, in: TS 4, S. 211–229. 49 Vgl. Volker Drehsen: Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen der Praktischen Theologie (wie Anm. 44), S. 539.

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lutherischen Reformation und insofern protestantisch illegitim. Troeltsch hat demgegenüber den Pietismus als „Träger des Fortschritts in Kirche, Theologie 50 und allgemeiner Geistesbildung“ gedeutet. Auch hier geht es um mehr als nur um eine Differenz des historischen Urteils: In den konkurrierenden Einschätzungen der Kulturbedeutung des Pietismus reflektieren sich über die methodologischen Differenzen im Verständnis historischer Forschung hinaus auch alternative kirchenpolitische Positionen. Für Ritschls negative Sicht des Pietismus ist die dogmatische Annahme leitend, auf dem Boden des Protestantismus entstandene autonome Frömmigkeitsbewegungen seien nur insoweit theologisch legitim, als sie mit der Substanz des in den reformatorischen Bekenntnisschriften positivierten Bekenntnisses der Kirche übereinstimmten und insofern eine Prärogative der Institution vor dem Zusammenschluß frommer Individuen in Kreisen, Konventikeln, Gruppen und Vereinen gewahrt bleibe. In ausdrücklicher Kritik am Kirchenverständnis Ritschls hat Troeltsch demgegenüber das Programm einer offenen, in sich pluralistischen Volkskirche vertreten: Aufgabe der kirchlichen Institution sei es nicht, durch rechtsförmige Positivierung orthodoxer Lehre einen hohen inneren Homogenitätsdruck zu erzeugen und so die freie Religiosität der verschiedenen protestantischen Frömmigkeitsbewegungen auszugrenzen, sondern genau umgekehrt die faktische Vielgestaltigkeit protestantischer Frömmigkeit als legitim anzuerkennen und die verschiedenen Richtungen durch vermittelnde Kirchenpolitik zu integrieren. Die für Troeltschs Kulturgeschichtskonzept signifikante größere Offenheit gegenüber der Mannigfaltigkeit geschichtlicher Erscheinungsweisen protestantischer Frömmigkeit ist insoweit auch als forschungspraktischer Reflex seines kirchenpolitischen Kampfes um eine Liberalisierung der dogmatisch uniformen, autoritären lutherischen Kirchentümer der Zeit zu verstehen. Besonders deutlich zeigen dies drittens Troeltschs Bemühungen darum, in seinen historischen Publikationen neben dem Kirchen- und dem Sektentypus auch die mögliche religiös-kulturelle Prägekraft rein individueller Frömmigkeit zu erfassen. Troeltsch hat das bei Weber leitende Kirche-Sekte-Schema seit ca. 1910 durch eine Typologie religiöser Gemeinschaftsbildung abgelöst, die über Kirche und Sekte hinaus nun auch die Mystik als eigenständigen Typus sozialer Darstellung der Religion umfaßt. Inwieweit dies eine plausible Differenzierung der soziologischen Begrifflichkeit ist, wird in der Religionssoziologie seit langem kontrovers diskutiert. In historischer Hinsicht ist zunächst die Intention dieser Erweiterung der Kirche-Sekte-Typologie zu würdigen: Troeltsch sucht mit dem 50 So die bekannte, wesentlich von Troeltschs Protestantismus-Studien inspirierte Formel von Horst Stephan: Der Pietismus als Träger des Fortschritts in Kirche, Theologie und allgemeiner Geistesbildung, Tübingen 1908.

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Teil B: Ernst Troeltsch

Mystik-Typus eine Sozialgestalt von Frömmigkeit zu analysieren, die im Prozeß gesellschaftlicher Differenzierung zunehmend an Bedeutung gewonnen habe und gerade in der deutschen Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts von bemerkenswerter kulturpolitischer Prägekraft sei. Im Unterschied zur Kirche als Heilsanstalt und der Sekte als Freiwilligkeitsgemeinde sei Mystik wesentlich ein kirchenkritischer, dezidiert antiinstitutioneller religiöser Individualismus, der im Glauben an eine prinzipielle, gegenüber den kultischen Vermittlungsleistungen der Kirche völlig unabhängige Unmittelbarkeit der Seele des frommen einzelnen zu Gott gründe. Die aktuelle Kulturbedeutung dieses religiösen Typus thematisiert Troeltsch primär in dreierlei Hinsicht: im Sinne einer genetischen Konstruktion versteht er die protestantische Mystik (a) als eine historische Wurzel des für die moderne Kultur signifikanten Individualismus; er versteht sie (b) als eine Sozialgestalt des Christlichen, die im Deutschen Idealismus und in der Romantik zu einem bildungsreligiösen Persönlichkeitsglauben umgeformt worden sei, durch den die Kulturideale der neuen bürgerlichen Eliten religiös abgestützt worden seien; er subsumiert unter den Mystik-Typus (c) auch die diversen postchristlichen synkretistischen Reformreligionen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, deren Anspruch, durch religiöse Erneuerung eine neue kulturelle Gesamtintegration der politisch, sozial und konfessionell hoch segmentierten deutschen Gesellschaft des Kaiserreichs bewirken zu können, vor allem im bürgerlich-liberalprotestantischen Sozialmilieu erhebliche Resonanz gefunden hat. Insofern zeigt sich in der Einführung des Mystik-Typus der konstitutive Gegenwartsbezug von Troeltschs Kulturgeschichtsschreibung besonders deutlich: Mit dem Mystik-Typus sucht Troeltsch primär eine spezifisch moderne, vor allem vom Bildungsbürgertum getragene frei vagabundierende Frömmigkeit zu erfassen, die sich, sei sie ihrem Selbstverständnis nach auf christliche Tradition noch bezogen oder nicht, weder als Kirche noch auch als Sekte organisiert, sondern organisationslos bleibt oder sich nur in Bünden, Vereinen und spontanen Protestbewegungen sozial gestaltet. Troeltschs Verhältnis zu diesem radikalen religiösen Individualismus ist 51 eigentümlich ambivalent. Einerseits wertet er ihn in seinen historischen Publikationen zu einem eigenen Sozialtypus von Religion auf, der seit dem späten 18. Jahrhundert, parallel zum kulturellen Plausibilitätsverlust des dogmatischen Kirchenchristentums, an religionspolitischer Relevanz gewonnen habe. Dabei interessiert ihn vor allem die von den diversen neumystischen, reformreligiösen Gruppen und Vereinen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts artikulierte 51 Vgl. dazu die instruktive Fallstudie von Gangolf Hübinger: Kulturkritik und Kulturpolitik des Eugen-Diederichs-Verlags im Wilhelminismus. Auswege aus der Krise der Moderne?, in: TS 4, S. 92–117.

Ernst Troeltsch. Kulturgeschichte des Christentums

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antikapitalistische Kulturkritik: Gegen die Prädominanz kapitalistischer Zweckrationalität, den Druck der institutionellen Zwangsgehäuse des modernen bürokratischen Anstaltsstaates, den liberalen Wertrelativismus und die zunehmende Ausdifferenzierung der einzelnen Kultursphären werde hier ein gesinnungsethisch motivierter Protest artikuliert, der auf eine neue gesamtgesellschaftliche Verbindlichkeit eines religiösen Brüderlichkeitsethos bzw. eine neue religiös fundierte Integration der Gesamtkultur ziele. Doch so sehr Troeltsch selbst eine kritische Sicht der wesentlich von kapitalistischer Zweckrationalität geprägten modernen Kultur vertritt, so skeptisch schätzt er andererseits die kulturpraktische Durchsetzungsfähigkeit der von den reformreligiösen Gruppen und Vereinen der Zeit vertretenen harmonistischen Wertethik ein: Eine rein individuelle, außerkirchliche Religiosität sei schon organisationssoziologisch gesehen zu schwach, um ihre brüderlichkeitsethischen Kulturideale gesamtgesellschaftlich durchsetzen zu können. So darf die für Troeltschs Kulturgeschichtsschreibung signifikante Offenheit gegenüber institutionell ungebundenen religiösen Kräften nicht im Sinne eines generellen Antiinstitutionalismus verstanden werden. Vielmehr sucht er, wie seine Auseinandersetzung mit der reformreligiösen Neumystik erkennen läßt, im Medium historischer Analyse eine neue Vermittlung von religiöser Institution und frommem Individuum als notwendig zu erweisen: Angesichts der harten Faktizitäten von Ökonomie und Politik habe Religion überhaupt nur in Gestalt kirchlicher Organisation noch Aussicht auf kulturpraktischen Erfolg. Von den bestehenden kirchlichen Institutionen verlangt Troeltsch deshalb, sich für die Pluralität außerkirchlicher Frömmigkeitsgestalten zu öffnen. Inwieweit Religion dann noch einmal zu einer Kraft kultureller Erneuerung zu werden vermag, die selbst die Eigengesetzlichkeiten so starker Kulturmächte wie des modernen Machtstaates und der kapitalistischen Ökonomie zu relativieren bzw. abzuschwächen vermag, läßt sich, wie Troeltsch betont hat, innerhalb historischer Analyse nicht mehr entscheiden.

Teil C: Konstellationen

Fachmenschenfreundschaft. Bemerkungen zu ‚Max Weber und Ernst Troeltsch‘ Ernst Troeltsch war einer der wenigen Menschen, die Max Weber mehrfach öf1 fentlich als „Freund“ bezeichnete. Umgekehrt bekannte sich auch Troeltsch zur 2 „Freundschaft“ mit Weber. Mit keinem anderen Heidelberger Universitätskollegen verband Weber eine so enge und dauerhafte Beziehung wie mit dem nur wenige Monate jüngeren Theologen. Desto mehr verdient es Beachtung, daß derzeit weder Korrespondenzen zwischen den Freunden bekannt noch irgendwelche Zeugnisse Webers im Druck überliefert sind, die über den Charakter seines langjährigen Verhältnisses zu Troeltsch näheren Aufschluß zu geben vermögen. Auch einige sekundäre Berichte – neben Marianne Webers „Lebensbild“ insbesondere 3 verschiedene Erinnerungen Paul Honigsheims – und zwei Nachrufe auf den 4 Freund, die Troeltsch wenige Tage nach dessen Tod veröffentlichte, vermitteln

1 Max Weber: „Kirchen“ und „Sekten“ in Nordamerika. Eine kirchen- und sozialpolitische Skizze, in: Die Christliche Welt 20 (1906), Sp. 558–562 und Sp. 577–583, hier Sp. 580; ders.: Antikritisches zum „Geist“ des Kapitalismus (1910), in: ders.: Die protestantische Ethik II. Kritiken und Antikritiken, hrsg. von Johannes Winckelmann, 3. Aufl., Gütersloh 1978, S. 149; ders.: [Diskussionsbeitrag zu:] Ernst Troeltsch: Das stoisch-christliche Naturrecht und das moderne profane Naturrecht, in: Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19.–22. Oktober 1910 in Frankfurt a. M., Tübingen 1911, S. 196, jetzt in: KGA 6, S. 753. 2 Ernst Troeltsch: Max Weber, in: Frankfurter Zeitung, Nr. 447, 20. Juni 1920, S. 2 (im folgenden abgekürzt als: FZ-Nachruf). 3 Marianne Weber: Max Weber. Ein Lebensbild, 2. Aufl., Tübingen 1926; Paul Honigsheim: Der Max-Weber-Kreis in Heidelberg, in: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie 5 (1926), S. 270–287; ders.: Wie man in Heidelberg für Simmels Berufung gekämpft hat (1957), in: Kurt Gassen, Michael Landmann (Hrsg.): Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie, Berlin 1958, S. 262–268; ders.: Max Weber in Heidelberg, in: René König, Johannes Winckelmann (Hrsg.): Max Weber zum Gedächtnis. Materialien und Dokumente zur Bewertung von Werk und Persönlichkeit (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 7), Köln, Opladen 1963, S. 161–269; ders.: Zur Hegelrenaissance im Vorkriegs-Heidelberg. Erkenntnissoziologische Beobachtungen, in: Hegel-Studien 2 (1963), S. 291–301. 4 Neben dem in Anm. 2 genannten Text, der – leicht gekürzt – auch in der „Gedächtnisschrift“ von König und Winckelmann nachgedruckt ist, publizierte Troeltsch noch einen zweiten Nachruf auf den Freund: Ernst Troeltsch: Max Weber als Gelehrter, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 290, 19. Juni 1920, S. 1 (im folgenden abgekürzt als: DAZ-Nachruf). Mit nur einer Ausnahme (vgl. Julius Jakob Schaaf: Geschichte und Begriff. Eine kritische Studie zur Geschichtsmethodologie von Ernst Troeltsch und Max Weber, Tübingen 1946) ist dieser für Troeltschs Einschätzung von Webers Werk bedeutsame Text bisher der Aufmerksamkeit sowohl der Weber- als auch der Troeltsch-Forschung entgangen. Nachzutragen ist er insbesondere auch bei: Constans Seyfarth, Gert Schmidt: Max Weber Bibliographie. Eine Dokumentation der Sekundärliteratur, Stuttgart 1977.

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Teil C: Konstellationen

nur ein unscharfes Bild ihrer persönlichen Beziehung. Die äußerst schmale Überlieferungsbasis stellte allerdings eine ideale Voraussetzung für Bemühungen dar, die Defizite unseres historischen Wissens durch psychologistische Intuition und tatsachentranszendente Werturteilskonstruktion auszugleichen. So fand beispielsweise Eduard Baumgarten in Troeltsch ein „Bedürfnis, mit Max Weber, vor allem öffentlich, nicht allzu viel zu tun zu haben“, weshalb die „Aggressionen Webers gegen Rachfahl vielleicht zum Teil auf ‚Objektverschiebungen‘“ beruhen 5 sollen. Und im aktuellen Streit der deutschen Weber-Fachleute verbindet den Anwalt des „Menschentums“ mit den Universalevolutionisten zumindest die Fähigkeit, bezüglich Troeltschs die Grenzen der historischen Vernunft überfliegen zu können. Wilhelm Hennis ist sich gewiß: Das Erscheinen der „Soziallehren“ 6 „muß Weber sehr gewurmt haben“, und in der Schule Friedrich Tenbrucks weiß man „ganz sicher“, daß Weber dem Freunde 1913 die ersten Partien der „Wirt7 schaftsethik der Weltreligionen“ vorgelesen hat . Da es für Vermutungen dieser Art keinen Beleg gibt, möchte ich – zwar in Sachen Weber ein Nichtfachmann, aber durch Troeltschs Kritik der historischen Vernunft fachlich belehrt – in einem 8 I. Teil zunächst die Grenzen dessen markieren, was man biographisch derzeit wissen kann. Teil II dient der exemplarischen Darstellung der komplexen Relationen zwischen den Werken Troeltschs und Webers. In einem kurzen III. Teil wird dann ein Vorschlag zu deren systematischer Deutung unterbreitet: die intensive Präsenz des jeweils anderen Werkes in der eigenen Arbeit ist Ausdruck und Folge einer interdisziplinären Kooperation zur Analyse der historischen „Lebensmacht“ von Religion. Die wechselseitige Wahrnehmung einer thematischen Interessenkonvergenz schließt aber zugleich das Wissen um tiefgreifende konstruktive Gegensätze ein, wie sie insbesondere in konkurrierenden Bestimmungen der aktuellen gesellschaftlichen Relevanz von Religion unter den Bedingungen des modernen okzidentalen Rationalismus zutage treten.

5 Eduard Baumgarten: Max Weber. Werk und Person, Tübingen 1964, S. 624. 6 Wilhelm Hennis: Max Webers Fragestellung, in: Zeitschrift für Politik 29 (1982), S. 241–281, hier S. 263. 7 Gottfried Küenzlen: Die Religionssoziologie Max Webers. Eine Darstellung ihrer Entwicklung, Berlin 1980, S. 61. Belegt ist bisher nur, daß Georg Lukács zu jenen „Freunden“ gehörte, denen Weber 1913 die ersten Partien der „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ vorlas. Vgl. Georg Lukács: Briefwechsel 1902–1917, hrsg. von Éva Karádi und Éva Fekete, Stuttgart 1982, S. 362. Insgesamt stellt Küenzlens Buch aber einen erheblichen Fortschritt im Bemühen um eine geistesgeschichtliche Kontextualisierung von Webers Religionssoziologie dar. Vgl. die ausführliche Rezension von Volker Drehsen, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 28 (1984), S. 233–237. 8 Zu hoffen ist, daß die Edition von Webers Briefwechsel auch seine Troeltsch-Relation präziser zu bestimmen erlaubt, als es derzeit möglich ist.

Fachmenschenfreundschaft. Bemerkungen zu ‚Max Weber und Ernst Troeltsch‘

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I 1. Bisher ist nichts darüber bekannt, wann Troeltsch und Weber sich erstmals begegneten. Über persönliche Beziehungen vor Webers Wechsel von Freiburg nach Heidelberg sind keine Zeugnisse überliefert. Schon vor diesem Zeitpunkt dürften Weber und Troeltsch aber als Mitarbeiter an Martin Rades „Christlicher Welt“ literarisch voneinander Notiz genommen und sich zumindest vom Hörensagen gekannt haben. Denn einige enge Freunde von Webers Vetter Otto Baumgarten waren zugleich mit Troeltsch nahe befreundet. Durch Baumgartens Vermittlung lernte Weber schon während des Studiums 9 die Theologen Eduard Grafe, Eduard Simons und Hans von Schubert kennen. Als Baumgarten im April 1887 zur Vorbereitung auf die theologische Lizentiatenpromotion seinem Freund Grafe nach Halle folgte und hier zusammen mit dem für Troeltschs theologische Entwicklung bedeutsamen Kirchenhistoriker Albert 10 Eichhorn eine Wohnung bezog, hielt Weber diverse Kontakte mit Baumgartens 11 „großem Bekanntenkreis“ durch Briefe und Besuche weiter aufrecht . Zu diesem Bekanntenkreis aber gehörte auch Troeltsch: Zwischen einer Gruppe Göttinger theologischer Doktoranden und Habilitanden, die von Troeltsch entscheidend mitgeprägt wurde, der später so genannten „Religionsgeschichtlichen Schule“, und den erwähnten hallischen Theologen gab es einen intensiven wissenschaftlichen und persönlichen Austausch. Gemeinsam verstand man sich als Avantgarde der Durchsetzung eines neuen, historisch-kritischen Theologiebegriffs, dessen

9 Max Weber: Jugendbriefe, Tübingen 1936, S. 57, S. 65, S. 117, S. 171 und S. 223 f. Vgl. Paul Honigsheim: Max Weber. His Religious and Ethical Background and Development, in: Church History 19 (1950), S. 219–239; Volker Drehsen: Religion und die Rationalisierung der modernen Welt: Max Weber (1864–1920), in: Karl-Wilhelm Dahm, Volker Drehsen, Günter Kehrer (Hrsg.): Das Jenseits der Gesellschaft. Religion im Prozeß sozialwissenschaftlicher Kritik, München 1975, S. 89–154, jetzt in: Volker Drehsen: Der Sozialwert der Religion. Aufsätze zur Religionssoziologie, hrsg. von Christian Albrecht, Hans Martin Dober und Birgit Weyel, Berlin, New York 2009, S. 41– 95; Johannes Weiß: Max Webers Grundlegung der Soziologie. Eine Einführung, München 1975, S. 105–133. Speziell zu Baumgarten: Friedrich Wilhelm Graf: Lex Christi und Eigengesetzlichkeit. Das Grundproblem der ethischen Theologie Otto Baumgartens, in: Wolfgang Steck (Hrsg.): Otto Baumgarten. Studien zu Leben und Werk, Neumünster 1986, S. 237–285, jetzt in: Friedrich Wilhelm Graf: Der heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik, Tübingen 2011, S. 161–209. 10 Hugo Greßmann: Albert Eichhorn und die Religionsgeschichtliche Schule, Göttingen 1914, S. 7–11; Otto Baumgarten: Meine Lebensgeschichte, Tübingen 1929, S. 81–92. An einem für Weber-Forscher eher entlegenen Orte hat eine bemerkenswert kompetente Autorin Baumgartens Autobiographie ausführlich gewürdigt: Marianne Weber: Otto Baumgarten als Theologe und Politiker, in: Die Christliche Welt 44 (1930), Sp. 161–165, in diesem Band unten, S. 404–410. 11 Max Weber: Jugendbriefe (wie Anm. 9), S. 268.

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Teil C: Konstellationen

systematische Struktur durch genau jenes empirische Interesse an religiöser Lebensführung konstituiert wird, das auch Webers Begriff der Religionssoziologie entscheidend bestimmt: Theologie ist nicht dogmatische Spekulation oder Verwaltung eines kirchlichen Glaubensschatzes, sondern eine „kulturgeschichtlich“ verfahrende Wissenschaft von der „lebendigen“ bzw. „gelebten Religion“, Beschreibung faktischer religiöser Praxis und Deutung der kulturpraktischen 12 Relevanz der Religion als einer „Lebensmacht“. Die Spannungen zwischen Religion und Kultur, die Versuche eines produktiven Ausgleichs solcher Spannungen, die lebenspraktische Bedeutung von „Frömmigkeit“ für den einzelnen wie die sozialen Wirkungen religiösen Gemeinschaftshandelns (Kult etc.) – seit der Mitte der achtziger Jahre waren dies die wichtigsten Themen jener Theologen, mit denen Weber verkehrte. Daß er im Kreise dieser „Jungritschlianer“ – Schülern des Göttinger Systematikers Albrecht Ritschl, die mit programmatischem Novitätspathos sich von dessen Dogmatik fort- und zur real existierenden Religion hinwendeten – Troeltsch kennenlernte, läßt sich derzeit zwar nicht direkt belegen, aber doch wahrscheinlich machen: Sowohl für Weber als auch für Troeltsch sind schon vor 1890 Besuche in 13 Grafes „gastfreiem Haus“ nachweisbar; als Troeltsch 1892 als Extraordinarius nach Bonn kam, wurden seine Verbindungen mit Bekannten Webers so eng, daß sie sich durch Vermittlung gemeinsamer Freunde begegnet sein dürften. Wie auch immer es um das Recht dieser Vermutung bestellt sein mag: Schon vor Heidelberg hatten Troeltsch und Weber einen gemeinsamen Erfahrungshintergrund, der wesentlich durch den Anspruch einer theoretisch zu begreifenden (Theologie als Religionsgeschichte) und praktisch zu gestaltenden sozialen Relevanz der Religion definiert wurde. 2. Innerhalb der Theologischen Fakultät isoliert, verkehrte Troeltsch in Heidelberg bevorzugt mit jüngeren Kollegen aus anderen Disziplinen. „Den meisten Umgang pflege ich außerhalb der Fakultät. Max Weber, Hensel, Carl Neumann 14 [. . .] sind mir sehr liebe Freunde.“ Daß sich neben Neumann, Hensel und Georg Jellinek „vor allem [. . .] Troeltsch [. . .] dem Ehepaar in naher Freundschaft

12 Das die „Jungritschlianer“ bzw. „Religionsgeschichtler“ bestimmende Verständnis von Religion ist dargestellt bei: Friedrich Wilhelm Graf: Der „Systematiker“ der „Kleinen Göttinger Fakultät“. Ernst Troeltschs Promotionsthesen und ihr Göttinger Kontext, in: TS 1, S. 235–290, in diesem Band oben, S. 153–213. 13 Hugo Greßmann: Albert Eichhorn und die Religionsgeschichtliche Schule (wie Anm. 10), S. 12; Max Weber: Jugendbriefe (wie Anm. 9), S. 223 f., sowie die zahlreichen Nachweise in den in Anm. 12 genannten Troeltsch-Studien, Band 1. 14 Brief Ernst Troeltschs an Wilhelm Bousset vom 5. August 1898, Niedersächsische Staatsund Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. W. Bousset 130, 41, zuerst abgedruckt in: Erika Dinkler-von Schubert (Hrsg.): Ernst Troeltsch. Briefe aus der Heidelberger Zeit an Wilhelm Bousset

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anschließt“, läßt sich jedoch inhaltlich derzeit nur vage beschreiben. Da Weber und Troeltsch gut 17 Jahre lang – für größere Zeitspannen nur durch Webers zahlreiche Reisen unterbrochen – in engem Kontakt standen, muß die schlechte Überlieferungslage aber primär als ein Reflex der Stabilität ihrer Beziehung gedeutet werden. Im Frühjahr 1910 zogen Marta und Ernst Troeltsch auf Einladung der Webers mit diesen zusammen in das alte Hausrathsche Haus am Neckar; Troeltschs spätere Bemerkung, er habe „jahrelang in täglichem Verkehr 16 die unendlich anregende Kraft“ Webers erfahren, dürfte sich primär auf diese Hausgemeinschaft beziehen. Briefe Troeltschs an Dritte dokumentieren sensible Anteilnahme an Webers 17 Krankheit und ein hohes Maß an Vertrautheit mit dessen Publikationsplänen. So wie Weber 1905 auf eine Publikation Troeltschs hinwies, die zum Zeitpunkt der Niederschrift von Webers Text noch nicht einmal im Manuskript fertigge18 stellt war, so zitierte auch Troeltsch mehrfach aus noch gar nicht erschienenen Weber-Texten; schon 1917 wies er auf Ergebnisse der erst postum publizier19 ten Musiksoziologie hin . Über Pläne zur Veröffentlichung des Nachlasses war 20 Troeltsch informiert.

1894–1914, in: Heidelberger Jahrbücher 20 (1976), S. 19–52, hier S. 32, demnächst in KGA 19. Diese früheste derzeit bekannte briefliche Äußerung Troeltschs über Weber läßt vermuten, daß dieser auch Bousset kein Unbekannter war. Mögliche Beziehungen dürften über den Evangelischsozialen Kongreß oder durch die gemeinsame Freundschaft mit Friedrich Naumann vermittelt worden sein. 15 Marianne Weber: Lebensbild (wie Anm. 3), S. 240. 16 FZ-Nachruf (wie Anm. 2). 17 Brief Ernst Troeltschs an Heinrich Rickert vom 10. März 1899, Heidelberg, Universitätsbibliothek, Hs. 2740, Erg. 93, 1.2, 1, demnächst in KGA 19; Brief Ernst Troeltschs an Carl Neumann vom 2. Januar 1906, Heidelberg, Universitätsbibliothek, Heid. Hs. 3791, Nr. 11; Brief Ernst Troeltschs an Karl Vossler vom 19. Mai 1913, Bayerische Staatsbibliothek München, Ana 350, 12 A. Hier heißt es: „Max Weber [. . .] schafft mehr als fünf Gesunde, ist aber nicht gesund. Augenblicklich redigiert u[nd] organisiert er das alte Handbuch der Nationalökonomie von Schönberg zu einem ganz neuen Werk [. . .]“. Diese und andere unpublizierte Briefe Troeltschs wurden (in Kopie) zunächst im Troeltsch-Archiv der Universität Augsburg gesammelt, das von Horst Renz zum Zwecke der Vorbereitung einer Edition gegründet worden ist. Für großzügige Hilfestellung bei der Auswertung des unpublizierten Materials bin ich Horst Renz zu herzlichem Dank verpflichtet. 18 Max Weber: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. II. Die Berufsidee des asketischen Protestantismus, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 21 (1905), S. 1–110, hier S. 3 f., Anm. 3, und S. 14, Anm. 20. 19 GS I, S. 120, Anm. 61; GS III, S. 369, S. 567 u. ö., jetzt: KGA 16, S. 596 f. und S. 851 f. 20 Daß er in seinem „Historismus“, dessen I. Teilband von Mohr Siebeck gleichzeitig mit Webers „Gesammelten Aufsätzen zur Wissenschaftslehre“ ausgeliefert wurde, diese Sammlung mit präziser Angabe der hier aufgenommenen Arbeiten Webers ankündigte (GS I, S. 369, Anm. 190, jetzt: KGA 16, S. 596, Anm. 190) und wohl mit Blick auf „Wissenschaft und Gegenwart“ prognostizier-

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Regelmäßig nahm Troeltsch am sonntäglichen Weber-Kreis teil; zu mehreren der hier sich versammelnden Jüngeren entwickelten sich eigenständige stabile Beziehungen, die Troeltsch auch nach dem Wechsel nach Berlin aufrecht 21 erhielt. Anders als Weber, der seit 1903 aller institutionellen Einflußmöglichkeiten innerhalb der Universität beraubt war, hatte Troeltsch einen erheblichen universitätspolitischen Einfluß – im März 1906 wurde er Prorektor, 1909–1914 vertrat er die Heidelberger Universität in der Badischen I. Kammer –, den er in zumindest einem Fall im Sinne Webers geltend machte: Massiv aber vergeblich kämpfte er für die Berufung des gemeinsamen Freundes Georg Simmel. 22 Erst Distanz verbessert die Überlieferungslage. Über die – für ca. 5 Wochen – gemeinsame USA-Reise Ende August 1904 ist Substantielleres bekannt als über 17 Jahre Heidelberger Alltags. Marianne Webers und Troeltschs Reiseberichte stimmen – bis in einzelne Formulierungen hinein (!) – insbesondere in der Metaphorik faszinierten Entsetzens über die sozial-kulturellen Folgewirkungen kapitalistischer Modernisierung überein. Obgleich von Weber „ununterbrochen aufs Interessanteste“ „belehrt“, steht Troeltsch Mariannes religiös inspirierter USA-Kritik – angesichts der „Millionen unter der Knute des Goldes“ beginnt sie an Freiheit und Unsterblichkeit zu zweifeln – näher als der Begeisterung ihres 23 Mannes, so daß es „theoretisch – [. . .] manchen Streit“ gibt. Entsprechendes berichtete auch der deutschstämmige Pastor Hans Haupt, den die Reisenden schon von Heidelberg aus um wissenschaftliche Hilfsdienste gebeten hatten: „They asked him to collect as much material as possible about American denominations and their moral teachings and attitudes, especially in relation to economic practices [. . .]. When his distinguished visitors arrived, they spent several days with him. In between an inspection of the town of Towanda and visits to nearby Niagara Falls, they talked and argued all the time. But they hardly asked for Haupt’s opinion and failed to inspect the material he had gathered,

te, Webers wissenschaftliche „Leistung“ werde sich erst nach der Publikation des Nachlasses erweisen, läßt zumindest auf einen Kontakt mit Marianne Weber in diesen Fragen schließen. Vom gemeinsamen Verleger Paul Siebeck wurde Troeltsch jedenfalls nicht über Pläne zur Publikation von Webers Nachlaß informiert. Troeltsch ließ Marianne Weber ein Exemplar seines „Historismus“Bandes vom Verlag aus zukommen (Brief Ernst Troeltschs an Oskar Siebeck vom 13. Dezember 1922, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachl. 488 [Verlagsarchiv Mohr Paul Siebeck], A 406). 21 Bisher ist bekannt, daß insbesondere Emil Lask und Paul Honigsheim enge Beziehungen zu Troeltsch unterhielten. Troeltsch vermittelte Honigsheim 1919 eine Assistentenstelle bei Max Scheler. 22 Troeltsch mußte die USA-Reise wegen eines Trauerfalls vorzeitig abbrechen. 23 Abschrift zweier Briefe Ernst Troeltschs an Marta Troeltsch vom 3. und 14.–16. September 1904, Privatsammlung, München, demnächst in KGA 19.

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but they took it with them. Haupt had the impression that the professors knew 24 all that could be known without having to weigh empirical evidence“. Daß die 25 Gäste sich sein Material aneigneten, spricht freilich eher für das Gegenteil. Obwohl mit prominenten Anhängern Friedrich Naumanns eng befreundet und mit diesem selbst zumindest gut bekannt, war Troeltsch kein Mitglied des Nationalsozialen Vereins, sondern optierte in den ersten Heidelberger Jahren für 26 die Nationalliberalen. Spätestens am 20. Januar 1905, beim „Amerikaabend“ der Heidelberger Nationalsozialen, trat er dann aber im Kontext der Anhänger Naumanns auf, den er, zusammen mit Adolf Deißmann, seitdem mehrfach öffentlich unterstützte. Weber soll von Troeltsch schon vor 1904 „aktive Beteiligung an der Politik“ verlangt, dieser dies aber „trotz vielfacher Sympathien mit dem Liberalismus“ abgelehnt haben, da sein Christentum eine exklusive Bindung 27 an allen doktrinalen Liberalismus verhindere. 1906 führte der fromme Skeptiker seine „Differenzen gegenüber Weber“ ausdrücklich auf den „Fortschritts28 optimismus“ des Freundes zurück. Umgekehrt deutete Weber in der Langfassung des Sektenaufsatzes „einige [. . .] Differenzpunkte“ gegenüber Troeltschs Breslauer ESK-Vortrag über „Politische Ethik und Christentum“ (1904) an, in dem Troeltsch, ein Demokrat nicht aus Gesinnung und Prinzip, sondern aus 29 historischer Verantwortung, alle religiöse Legitimation einer naturrechtlichen Demokratiedoktrin mit dem Argument negiert hatte, das christliche Ethos der 24 Wilhelm Pauck: Harnack and Troeltsch. Two Historical Theologians, New York 1968, S. 72. 25 Beachtung verdient, daß Haupt selbst mit einschlägigen Publikationen hervortrat: Hans Haupt: Die Eigenart der amerikanischen Predigt (Studien zur praktischen Theologie, Band 1, Heft 3), Gießen 1907; ders.: Staat und Kirche in den Vereinigten Saaten von Nordamerika (Studien zur praktischen Theologie, Band 3, Heft 3), Gießen 1909. 26 Vgl. Martin Dibelius: Ernst Troeltsch und die Heidelberger Theologie, in: Kölnische Zeitung, Nr. 321, 27. Juni 1936, Morgenblatt, Beilage. Daß Troeltschs „stark bürgerlichen Instinkten [. . .] die sozialen und demokratischen Ideale fremd“ waren (Marianne Weber: Lebensbild [wie Anm. 3], S. 240), ist angesichts der äußerst intensiven sozialpolitischen Tätigkeit Troeltschs innerhalb verschiedener „liberaler“ Kontexte des badischen Protestantismus zu bestreiten. Das von Marianne Weber gegebene Psychogramm Troeltschs (ebd.) unterliegt insofern erheblichen Zweifeln, als zahlreiche Nachrufe auf Troeltsch ein deutlich anderes Bild seiner Persönlichkeit bieten. Vgl. den Nachruf des mit Weber und Troeltsch bekannten Heidelberger Orientalisten Carl Heinrich Becker: Ernst Troeltsch. Ein Gedenkwort, in: Paul Kersten, Erwin R. Marschall (Hrsg.): Berliner Hochschul-Nachrichten, 9. Semester, Erstes Heft, Mai 1923, S. 4–5, jetzt in: TS 12, S. 482–483. 27 Zit. nach: Walther Köhler: Ernst Troeltsch, Tübingen 1941, S. 292. Köhlers Zitat (vermutlich aus einem Brief) ist bisher noch nicht verifiziert. 28 Brief Ernst Troeltschs an Carl Neumann vom 2. Januar 1906, Heidelberg, Universitätsbibliothek, Heid. Hs. 3791, Nr. 11. 29 Max Weber: „Kirchen“ und „Sekten“ in Nordamerika (wie Anm. 1), Sp. 580 f., Anm. [o. N.]. Zu Troeltschs Demokratie-Konzeption vgl. die präzise Bestimmung von Hartmut Ruddies: „Die Demokratie ist ein faktischer Imperativ, nicht aber ‚Erzeugnis der Doktrin‘; darum muß sie auf

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autonomen Persönlichkeit enthalte immer auch ein „konservatives“ Element der aristokratischen Erhebung des Individuums über die Masse. Indem Weber auf einer konstitutiven Differenz von „konservativ“ und „aristokratisch“ insistierte, klagte er beim Freunde primär mehr Kritik am Wilhelminischen Herrschaftssystem ein. Daß Troeltschs Eintreten für die Demokratisierung des Reiches und seine Kritik an der politischen Ausgrenzung der Sozialdemokratie sich vor dem Kriege zunehmend radikalisierten, dürfte auf den Einfluß Webers zurückzuführen sein. Umgekehrt gewährte dieser der wesentlich von Troeltsch geprägten Kirchenpolitik der liberalen Minorität innerhalb des deutschen Protestantismus 30 auch öffentlich seine Unterstützung. Die politische Biographie Troeltschs vor dem Weltkrieg ist aber noch viel zu wenig erforscht, um gleichwohl bleibende „politische und prinzipielle Differenzen“, auf die er den berühmt-berüchtigten 31 Lazarettkonflikt im Herbst 1914 zurückführte, präzise bestimmen zu können. Selbst Marianne Weber erwähnte 1926, der Disziplinaroffizier sei „sehr reiz32 bar“ gewesen. Auf dieser Linie von Webers Nervosität suchte auch Troeltsch den Konflikt zu verarbeiten: Berichtete er am 31. August 1914 an Paul Siebeck noch, Weber vertrage „die angespannte Arbeit“ eines 12–13-Stunden-Tages „über Erwarten gut“, so hieß es im ersten Brief aus Berlin, Weber sei „augenblicklich derart gereizt, daß unser Verhältnis einen schweren Stoß erlitten hat“: „Das hat 33 mir den Abschluß in Heidelberg sehr getrübt“. Nach Marianne Webers Darstellung wurden die „trotzigen Männer“ „erst 34 fünf Jahre später durch ihre Frauen wieder zusammengeführt“ – also irgenddem Weg einer historischen Reflexion als praktische Notwendigkeit durchsichtig gemacht werden, nicht aber auf der Basis einer Demokratie-Theorie bzw. -Doktrin mit Notwendigkeit begründet werden.“ Siehe: Soziale Demokratie und freier Protestantismus. Ernst Troeltsch in den Anfängen der Weimarer Republik, in: TS 3, S. 141–174, hier S. 161. 30 Vgl. dazu beispielsweise die wesentlich von Otto Baumgarten und Troeltsch beeinflußte Kritik liberaler protestantischer Professoren an der repressiven Politik des preußischen Kirchenregiments gegen den Pfarrer Carl Jatho: Erklärung der 40 Vertrauensmänner der Freunde der Christlichen Welt zum Fall Jatho, in: An die Freunde. Vertrauliche d. i. nicht für die Oeffentlichkeit bestimmte Mitteilungen 37 (1911), S. 411–412; und: Erklärung von 73 Universitätsprofessoren gegen das Spruchkollegium im Falle Jatho, in: Christliche Freiheit 27 (1911), Nr. 15, S. 229. Beide Erklärungen wurden von Weber öffentlich mitgetragen und sind insofern in der ausgezeichneten Bibliographie von Martin Riesebrodt nachzutragen: Bibliographie zur Max Weber Gesamtausgabe, in: Prospekt der Max Weber Gesamtausgabe, Tübingen 1981, S. 16–32. 31 Vgl. den Brief Ernst Troeltschs an Paul Honigsheim vom 12. Juni 1917, Bayerische Staatsbibliothek München, Deponat Max Weber, Ana 446 B, zit. bei: Eduard Baumgarten: Max Weber (wie Anm. 5), S. 489. 32 Marianne Weber: Lebensbild (wie Anm. 3), S. 528. 33 Brief Ernst Troeltschs an Paul Siebeck vom 17. April 1915, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachl. 488 (Verlagsarchiv Mohr Siebeck), A 367. 34 Marianne Weber: Lebensbild (wie Anm. 3), S. 532.

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wann im Jahre 1919. Genaueres ist bisher nicht bekannt. Allerdings nahm Weber schon im März 1916 an einem Vortrag Troeltschs in der „Deutschen Gesellschaft von 1914“ teil, und durch das dichte Kommunikationsnetz der antiannexionistischen Gelehrtenpolitiker dürfte es zumindest eine Reihe indirekter Kontakte gegeben haben. Trotz tiefgreifender Differenzen sowohl in der theoretischen Legitimation des Krieges als auch in den Demokratiekonzeptionen für die politische Neuordnung Nachkriegsdeutschlands lassen die gemeinsame Teilnahme an der Delbrück-Dernburg-Petition, Webers Unterstützung für den entscheidend von Troeltsch mitgeprägten „Volksbund für Freiheit und Vaterland“ und umgekehrt dessen Eintreten für die „Heidelberger Vereinigung“ auch gewichtige politischpraktische Gemeinsamkeiten erkennen, die die persönliche Wiederannäherung 35 erleichtern konnten. Zu vermuten ist, daß es im März oder April 1919 zur Versöhnung der Getrennten kam; angesichts der prominenten politischen Rolle Troeltschs – als Mitglied der Preußischen Landesversammlung war Troeltsch vom März 1919 bis zum Juli 1920 Unterstaatssekretär im Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung – und Webers sowie wegen des intensiven öffentlichen Engagements für die DDP – als deren Berliner Spitzenkandidat für die Wahl zur Preußischen Landesversammlung bestritt Troeltsch zahlreiche Parteiversammlungen – dürften schon praktische Zwänge die Beilegung des Konflikts nahegelegt haben. Die alltägliche Nähe der Ziegelhäuser Landstraße ließ sich freilich schon aus äußeren Gründen nicht mehr herstellen. Doch verdient Beachtung, daß Marianne Weber gerade Troeltsch darum bat, bei der Münchner Trauerfeier öffentlich Webers zu gedenken. In dieser „Grabrede“, 36 die nur aus äußeren Gründen nicht gehalten werden konnte, findet sich der einzige bisher bekannte Hinweis Troeltschs auf den Charakter seiner Freundschaft 35 Zur politischen Biographie Troeltschs vergleiche die ausführlichen Nachweise zahlreicher „neuer“ Texte, politischer Reden und Aufrufe in: Ernst Troeltsch Bibliographie, hrsg., eingeleitet und kommentiert von Friedrich Wilhelm Graf und Hartmut Ruddies, Tübingen 1982; sowie neben dem in Anm. 29 genannten wichtigen Beitrag von Hartmut Ruddies die Aufsätze von Bernd Sösemann: Das „neue Deutschland“. Ernst Troeltschs politisches Engagement im Ersten Weltkrieg, in: TS 3, S. 120–144, und Jonathan R. C. Wright: Ernst Troeltsch als parlamentarischer Unterstaatssekretär im preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, in: TS 3, S. 175–203. 36 „Die Witwe bat mich, an seinem Grabe zu sprechen. Überlastet mit dringenden Geschäften und selbst am Rande der Nervenkraft, wie ich augenblicklich bin, konnte ich dem Wunsche nicht entsprechen. So mag denn, was ich am Grabe hätte sagen können, ungefähr hier stehen [. . .]“ (FZ-Nachruf, wie Anm. 2). An der Aufrichtigkeit dieser Behauptung ist insofern nicht zu zweifeln, als Troeltsch sich als Unterstaatssekretär seit Mitte Juni gleichsam in Dauerkonferenzen zur Neuregelung der Verfassung der preußischen Landeskirche befand. Am 8. Juli konnte er die Resultate seiner Bemühungen im Parlament vertreten. Vgl.: Zweite und dritte Beratung des Gesetzentwurfs betreffend die Neuregelung der Verfassung der Evangelischen Landeskirche der älteren Provinzen

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mit Weber: „Eine stark gefühlsmäßige Freundschaft hat er m. W. nur mit Paul Göhre gehabt [. . .]. Alle seine sonstigen Beziehungen waren durch gemeinsame 37 sachliche Interessen in erster Linie vermittelt“.

II 1. Die genaue Bestimmung der Troeltsch und Weber verbindenden „sachlichen Interessen“ bereitet allerdings erhebliche Schwierigkeiten. Nicht nur die hohen Hürden einer hier wie dort gleichermaßen problematischen Rezeptionsgeschichte sind zu überwinden, sondern zugleich jene fachbornierten Vorurteile abzubauen, die auf beiden Seiten die Erkenntnis der inneren Komplexität des jeweils anderen Werkes behindern. Gewichtiger ist eine prinzipielle methodische Schwierigkeit. Aus der neueren Wissenschaftsgeschichte sind nur wenige Autoren von vergleichbarem Rang bekannt, deren Werk möglicherweise durch eine so intensive Kommunikationssituation wie die des fruchtbaren wissenschaftlichen 38 39 Austausches in „jahrelangem täglichen Verkehr“ geprägt wurde. Professionelle Verwalter des Klassikerranges des jeweiligen Fachhelden werden deshalb die Akzeptanz von Grenzen trainieren müssen: Weder ist eine letzte soziologische Aufklärung des kommunikativen Handelns in der Ziegelhäuser Landstraße 17 möglich, noch können die Theologen eine Offenbarung jenes Mysteriums in Szene setzen, als welches sich die durch dichte Tabakswolken verhüllten „be40 deutsame[n] wissenschaftliche[n] Gespräche“ des Genies mit seinen Freunden weithin noch darstellen. Solange nicht weitere Quellen über den gemeinsamen Lebenskontext – insbesondere über die Verhandlungen des Eranos-Kreises – erschlossen sind, läßt sich Troeltschs und Webers wissenschaftlicher Austausch nur von den wechselseitigen literarischen Bezügen her thematisieren. Nicht die zahlreichen mehr oder minder vagen thematischen Parallelen, wie sie im Bereich der Religionssoziologie zweifelsohne gegeben sind, sondern allein die expliziten Bezugnahmen – Zitate, Literaturverweise und sonstige philologisch belegbare Rekurse – auf Publikationen des jeweils anderen erlauben gesicherte Urteile über möglicherweise bestehende Wechselwirkungen zwischen beiden Werken. Dieses Mittel ist

Preußens – Drucksache Nr. 2546. Dritte Beratung, in: Sitzungsberichte der Verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung, Tagung 1919/21, Band 9, S. 11768–11770. 37 FZ-Nachruf (wie Anm. 2). 38 Marianne Weber: Lebensbild (wie Anm. 3), S. 240. 39 FZ-Nachruf (wie Anm. 2). 40 Marianne Weber: Lebensbild (wie Anm. 3), S. 371.

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zwar pedantisch – aber es dient der „Vermeidung von Konfusionen“, an denen 41 insbesondere in der Literatur zur Kirche-Sekte-Typologie kein Mangel herrscht. Weil zwischen Troeltschs und Webers Arbeiten – vor allem im Bereich der Reli42 gionssoziologie – „ein ungeheures Gewirr [. . .] gegenseitiger Beeinflussungen“ besteht, kann im folgenden nur eine Seite der komplexen „Kausalbeziehungen“ und auch diese nur an einem einzigen Beispiel dargestellt werden: an Webers Rezeption von Troeltsch-Texten in der „Protestantischen Ethik“ von 1904/05. 2. Die komplexe Geschichte der wechselseitigen literarischen Bezüge beginnt mit einem kurzen Hinweis Troeltschs auf den „Ersten Artikel“ des im 43 Oktober 1903 erschienenen Roscher-Knies-Aufsatzes. Umgekehrt verweist Weber erstmals in Teil I der „Protestantischen Ethik“ kurz auf eine Veröffentlichung Troeltschs – eine von diesem im Frühsommer 1900 geschriebene Rezension des 2. Bandes der Dogmengeschichte des lutherisch-konfessionalistischen, deutsch44 nationalen Theologen Reinhold Seeberg. Indem er den meisten „theologischen Schriftstellern“ das Defizit einer „noch nicht genügend klaren Analyse des Begrif45 fes der ‚lex naturae‘“ anlastet, knüpft Weber ausdrücklich an die von Troeltsch mit dem Argument geforderte differenzierte Erforschung des Naturrechtsbegriffes an, er sei das systematische Konzentrat des Interesses am kulturpraktischen Ausgleich religiöser Ideen mit der harten Widerständigkeit der faktischen Welt. In der Begründung der Forderung nach einer „theologische, juristische, nationalökono41 Umfassende Hinweise auf die kaum noch überschaubare einschlägige Literatur bieten Stephen D. Berger: Die Sekten und der Durchbruch in die moderne Welt. Zur zentralen Bedeutung der Sekten in Webers Protestantismus-These, in: Constans Seyfarth, Walter M. Sprondel (Hrsg.): Seminar: Religion und gesellschaftliche Entwicklung. Studien zur Protestantismus-KapitalismusThese Max Webers, Frankfurt a. M. 1973, S. 241–263; Theodore M. Steemann: Church, Sect, Mysticism, Denomination. Periodical Aspects of Troeltsch’s Types, in: Sociological Analysis 36 (1975), S. 188–204; William H. Swatos Jr.: Weber or Troeltsch?: Methodology, Syndrome, and the Development of Church-Sect Theory, in: Journal for the Scientific Study of Religion 15 (1976), S. 129–144; Helen Ralston: The Typologies of Weber and Troeltsch. A Case Study of a Catholic Religious Group in Atlantic Canada, in: Archives des Sciences Sociales des Religions 50/1 (1980), S. 111–127. 42 Max Weber: Die protestantische Ethik I. Eine Aufsatzsammlung, hrsg. von Johannes Winckelmann, 5. Aufl., Gütersloh 1979, S. 77. 43 Vgl. Ernst Troeltsch: Das Historische in Kants Religionsphilosophie. Zugleich ein Beitrag zu den Untersuchungen über Kants Philosophie der Geschichte, Berlin 1904, S. 109 f., jetzt in: KGA 6, S. 868–1072, hier S. 1032. 44 Ernst Troeltsch: [Rez.] Reinhold Seeberg: Lehrbuch der Dogmengeschichte, 2. Hälfte: Die Dogmengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit, Erlangen 1899, in: Göttingische gelehrte Anzeigen 163/1 (1901), S. 15–30; leicht gekürzter Wiederabdruck in: GS IV, S. 739–752, jetzt in: KGA 4, S. 89–111. 45 Max Weber: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. I. Das Problem, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 20 (1905), S. 1–54, hier S. 41, Anm. 1.

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mische und philosophische Kenntnisse vereinigenden“ integrativen Darstellung der Vielfalt heterogener Vermittlungen zwischen religiösen Ideen und sonstigen Kulturfaktoren skizzierte Troeltsch bereits zentrale systematische Grundelemente seiner später insbesondere in den „Soziallehren“ und ihren verschiedenen 46 Nachträgen ausgeführten Sicht der Religionsgeschichte des Christentums: die eschatologische Kulturdistanz des Urchristentums; den ihr spezifisch eigenen dualistischen Askesebegriff der mittelalterlichen Einheitskultur und die Kritik der quietistischen Indifferenz des Luthertums gegen „sozial-kulturelle Gestaltung“. Mehrfach wies Troeltsch deshalb später auf die Seeberg-Rezension als auf einen Nukleus des mit den „Soziallehren“ realisierten Programms hin – zumeist im Kontext von Bemühungen, seine Selbständigkeit gegenüber Weber zu profi47 lieren. In dem nach der USA-Reise geschriebenen II. Teil der „Protestantischen Ethik“ tritt Troeltsch dann ausdrücklich als „Fachmann“ für Theologie auf: Im Zusammenhang einer größeren Anmerkung zur Abhängigkeit seiner „Skizze“ (!) von der „intensive[n] und freisinnige[n] theologische[n] Arbeit vieler Jahrhunderte“ findet sich in Hinblick auf die akademische Theologie erstmals jenes eigentümliche Pathos fachwissenschaftlicher Bescheidenheit, das für Webers religionssoziologische Texte bis hin zur „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ in hohem Maße signifikant ist. Der Nichtfachmann arbeitet aus „‚zweite[r] Hand‘“; er kann „schlechterdings keinerlei ‚Originalität‘“ beanspruchen; und trotz eigenen, freilich behinderten Quellenstudiums muß er sich „ganz unvermeidlich“ durch theologische Sekundärliteratur „zum Verständnis der Quellen leiten [. . .] lassen“. Für den „mit der wichtigsten theologischen Literatur Vertrauten“, insbesondere den Fachmann kann die eigene Darstellung deshalb „‚Neues‘ [. . .] sicherlich nur insofern [enthalten], als natürlich Alles auf die für uns wichtigen Gesichtspunkte abgestellt ist, von denen manche für uns entscheidend 48 Bedeutsame [. . .] theologischen Darstellern naturgemäß ferner lagen“. Deutlicher konnte Weber die produktive Abhängigkeit von einer Fülle theologischer Literatur – „schon aus Raumgründen“ kann ja leider „nicht alles Mitbenutzte“ auch zitiert werden – nun wirklich nicht bekunden: Originalität beanspruchte er nur bezüglich der eigenen Fragestellung bzw. der von dieser her gewonnenen neuen systematischen Strukturierung bereits bekannten theologischen Materials. 46 Schon relativ bald nach dem Erscheinen der „Soziallehren“ begann Troeltsch die Arbeiten an einer umfassend erweiterten Zweitauflage; darüber hinaus publizierte er mehrere Texte, die ausdrücklich als Ergänzungen bzw. Erweiterungen der „Soziallehren“ bezeichnet wurden. Vgl. insbesondere: Ernst Troeltsch: Augustin, die christliche Antike und das Mittelalter. Im Anschluß an die Schrift „De Civitate Dei“, München 1915. 47 Vgl. insbesondere GS I, S. 950 f., Anm. 510. 48 Max Weber: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. II. (wie Anm. 18), S. 3 f., Anm. 3.

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Doch spielte Troeltsch dabei eine zumindest indirekte Rolle: „Manche andere Gesichtspunkte [. . .] sind hier auch um deswillen nur andeutungsweise behandelt, weil hoffentlich E. Tröltsch in seinem Beitrag zu dem Hinnebergschen Sammelwerke auf diese Dinge (lex naturae etc.), denen er, wie außer seinem ‚Gerhard und Melanchthon‘ besonders auch seine zahlreichen Rezensionen in den Gött. Gel. Anzeigen beweisen, seit Jahren nachgeht, eingehen und sie dann, als Fachmann, natürlich besser erledigen wird, als ich beim besten Willen könn49 te“. Bei diesem „Beitrag“ Troeltschs handelte es sich um eine im Januar 1906 erscheinende, gut 200 Druckseiten umfassende Gesamtdarstellung des neuzeitlichen Protestantismus; zugleich veröffentlichte Troeltsch in Hinnebergs „Kultur der Gegenwart“ eine kurze Skizze von Grundproblemen einer systematischen 50 „Religionswissenschaft“. Nachdem er am 24. Oktober 1904 die deutsche Fassung seines St.-Louis-Vortrages fertiggestellt hatte, arbeitete er, unterbrochen nur durch die Fertigstellung einiger thematisch einschlägiger Rezensionen und einen Beitrag zu der durch seine „Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte“ ausgelösten fundamentaltheologischen Kontroverse, an den beiden Hinneberg-Texten, terminus ad quem der Fertigstellung der großen Protestantismus-Darstellung, in deren Anmerkungsapparat mehrfach auf den I. Teil der „Protestantischen Ethik“ und ihren im Juni 1905 erscheinenden II. Teil verwiesen wird, war der 22. Oktober 1905. Insofern blieben Troeltsch einige Monate Zeit, den öffentlich bekundeten Hoffnungen des Freundes zu entsprechen. Daß dieser in seiner Darstellung des asketischen Protestantismus neben den eigenen „Gesichtspunkten“, die die perspektivische Differenz gegenüber der älteren fachtheologischen Literatur konstituieren, bestimmte an sich zu behandelnde „Gesichtspunkte“ mit Rücksicht auf Troeltschs Arbeit nur andeuten wollte, läßt aber zugleich auch eine umgekehrte Rückwirkung erkennen. Die im II. Teil der „Protestantischen Ethik“ ausdrücklich genannten Texte Troeltschs – neben seiner Dissertation „Vernunft und Offenbarung bei Johann Gerhard und Melanchthon. Untersuchung zur Geschichte der altprotestantischen Theologie“ (Göttingen 1891) und zahlreichen Rezensionen auch ein 1903 erschienener 51 großer Lexikonartikel über „Englische Moralisten“ – belegen in der Tat, daß 52 Troeltsch den von Weber genannten „Dingen“ „seit Jahren nachgeht“.

49 Ebd. 50 Ernst Troeltsch: Wesen der Religion und der Religionswissenschaft, in: Julius Wellhausen u. a.: Die christliche Religion mit Einschluß der israelitisch-jüdischen Religion (Die Kultur der Gegenwart, Teil 1, Abt. 4), Berlin, Leipzig 1906, S. 461–491. 51 Max Weber: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. II. (wie Anm. 18), S. 3, S. 3 f., Anm. 3, S. 5, S. 14, S. 31 und S. 37 f. 52 Sofern es sich bei dem von Weber gegebenen Hinweis auf die S. 15 f. behandelten „Din-

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Ein Vergleich der ersten Fassung der „Protestantischen Ethik“ mit diesen Texten zeigt zumindest eine Abhängigkeit Webers von Troeltsch: Er verdankt dem Freunde die Kenntnis des Großteils derjenigen theologiegeschichtlichen Literatur, auf deren Bearbeitung er seine Darstellung des asketischen Protestantismus dem historischen Material nach stützt. Schon zitationsstatistisch ist diese Abhängigkeit evident: Bei einem Großteil der von Weber verwendeten fachtheologischen Literatur handelt es sich um Arbeiten, die Troeltsch – jeweils in derselben Ausgabe (!) – für seine ethikgeschichtlichen Studien herangezogen und z. T. auch ausführlich kritisiert hatte. Dabei lassen sich nicht nur Parallelen bis in bestimmte zentrale Zitate hinein nachweisen. Vielmehr zeigen auch jene kritischen Kommentare, mit denen Weber, aller selbst auferlegten fachwissenschaftlichen Zurückhaltung zum Trotz, bestimmte theologische Literatur einführt, eine bemerkenswerte Nähe zu entsprechenden Urteilen Troeltschs. Ein dafür besonders signifikantes Beispiel ist Webers Umgang mit den dogmengeschichtlichen Arbeiten Albrecht Ritschls. Dieses zunächst trivial wirkende philologische Resultat – Troeltsch als Webers fachwissenschaftlicher Literaturberater – ist insofern von inhaltlicher Relevanz, als die von Weber angeführten Troeltsch-Texte ausnahmslos eine bemerkenswerte Nähe zu Themen und Thesen der frühen Fassung der „Protestantischen Ethik“ aufweisen. Bezüglich seiner theologiehistorischen Urteilsbildung über das Luthertum ist Weber von Troeltsch direkt und sehr viel stärker abhängig, als die kurzen Hinweise in Anmerkungen erkennen lassen. Aus dessen Dissertation, einer „kulturgeschichtlich“ orientierten Darstellung der lutherischen Theologie des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, übernimmt Weber jene kritische Sicht des historischen Luthertums, die eine der entscheidenden Bedingungen seiner Darstellung der spezifischen Kulturbedeutung des calvinistischen Protestantismus ist. Die für alle „altprotestantischen“ Lehrsysteme geltende prinzipientheoretische Zentralstellung des Gesetzesbegriffes, die Zurückführung der ethischen Differenzen der protestantischen Konfessionen auf konkurrierende Auslegungen von Gottes Gesetz, die in einer spezifischen Fassung der Gnadenlehre angelegte kulturpraktische Impotenz des Luthertums, die von der Gesetzeslehre Luthers abweichende, wesentlich durch Melanchthon inspirierte Rezeption naturrechtlicher Traditionen in der lutherischen Spätorthodoxie, die Absage an Ritschls religionspolitische Kritik der lutherischen Mystik und des Pietismus – alles dies waren nicht etwa, wie Webers Zitationspraxis zuweilen suggeriert, allgemein akzeptierte historische Urteile auch schon der älteren dogmengeschichtlichen Literatur, sondern – in Hinblick auf das Luthertum als den preußisch-deutschen ge“ ja nur um ein Beispiel handelt, läßt er allerdings eigentümlich unklar, worauf sich seine Rücksichtnahme auf die Arbeit Troeltschs sonst noch bezieht.

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Protestantismus durchaus auch politisch gemeinte – höchst provokante und individuelle Thesen, die – mit erheblicher kritischer Resonanz bei den Fachgenossen – erstmals in Troeltschs Dissertation vertreten worden waren. Diese beeinflußt darüber hinaus auch Webers Sprachgebrauch: Besonders deutlich zeigt dies die Übernahme des zwar nicht von Troeltsch gebildeten, aber von ihm erstmals im 53 Sinne einer Epochenbezeichnung verwendeten Altprotestantismusbegriffs. Zeitgenössische theologische Kritiker Webers sahen darin zu Recht eine – von ihnen 54 freilich als problematisch empfundene – Prägung durch den Einfluß Troeltschs. Bezüglich der anderen von Weber aufgeführten Troeltsch-Texte soll eine Abhängigkeit Webers von Troeltsch nicht behauptet werden; eine solche Behauptung wäre schon aus methodischen Gründen unzulässig. Zwar lassen alle diese Texte eine faszinierende begriffliche und sachliche Wahlverwandtschaft mit Webers Darstellung des asketischen Protestantismus erkennen. In einigen Anmerkungen des im Oktober 1903 erscheinenden ersten „Roscher und Knies“-Artikels findet sich wohl der früheste öffentliche Hinweis Webers auf Zusammenhänge zwischen der „‚Genesis des kapitalistischen Geistes‘“ und „puritanischen Vorstel55 lungen“. Im selben Jahr – ein genaueres Datum ist nicht bekannt – publizierte Troeltsch seine „Englischen Moralisten“. Mit ausdrücklichem Bezug auf jene theologische Literatur über den Calvinismus, auf der auch die „Protestantische Ethik“ basiert, beschrieb Troeltsch hier die „calvinistische Ethik“ in Begriffen, die ausnahmslos auch für Webers Darstellung grundlegend sind. Dies gilt nicht nur für die theologischen Bestimmungen des Calvinismus: „Bibliokratie“, religiöse Zentralstellung des „Prädestinationsgedankens“, innerer Zusammenhang von „Prädestinationsgnade“ und „Gesetzlichkeit“ (weil „sittliche Leistung [. . .] Kundmachung des Erwähltseins ist, [geht] [. . .] höchste Energie des Handelns [. . .] von dem Prädestinationsdogma aus“), „Kirche als [. . .] Heiligungsanstalt der Prädestinierten“ etc., sondern auch für die „kulturgeschichtliche“ Beschreibung der „reformierten Ethik“ als des „große[n] Knotenpunkt[es] der modernen geistigen Entwicklung“: In den „calvinistischen Länder[n] [. . .] herrscht eine freiere 53 Max Weber: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. I. (wie Anm. 45), S. 52. 54 Die zeitgenössische theologische Weber-Diskussion wurde sehr viel intensiver geführt, als die in Anm. 4 genannte Max Weber Bibliographie von Constans Seyfarth und Gert Schmidt erkennen läßt (vgl. aber auch die Einschränkungen ebd., S. V). Selbst in der Kirchenpresse stritt man um die „innerweltliche Askese“. Vgl. insbesondere: Liddy Stöcker: Die protestantische Ethik und der „Geist des Kapitalismus“, in: Christliche Freiheit 22 (1906), Nr. 11, Sp. 171–174; Hermann Leser: Das protestantische Christentum als Kulturfaktor, in: Jahrbuch für die evangelisch-lutherische Landeskirche Bayerns 8 (1908), S. 89–132. 55 Max Weber: Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Johannes Winckelmann, 3. Aufl., Tübingen 1968, S. 1–145, hier S. 32 f.

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Stellung zum wirtschaftlichen Verkehr und dem ihn befördernden Kapital. Im Gegensatz zu dem Patriarchalismus und naturalwirtschaftlichen Konservatismus der Lutheraner huldigen die Reformierten einem politischen und wirtschaftlichen Utilitarismus [. . .]; und diesen Utilitarismus unterstützen die christlichen Forderungen der Mäßigkeit, Rechtlichkeit und Arbeitsamkeit, in denen sich das Evangelium als auch dem materiellen Gedeihen förderlich erweist. So werden die reformierten Länder Träger der Kapitalwirtschaft, des Handels, der Industrie und eines christlich-temperierten Utilitarismus, der ihre Kulturtheorien wie ihre tatsächliche Kraft bedeutsam beeinflußt hat. Neben der modernen politischen Entwicklung ist auch die wirtschaftliche von ihr mächtig gefördert worden. Wer in der Prädestination seines Zieles und des Jenseits so unbedingt sicher ist, der kann die natürlichen Kräfte umso freier auf den natürlichen Zweck, den Erwerb, wenden und braucht keine übermäßige Liebe zum irdischen Gut dabei zu fürchten. Mit der reformierten Ethik konnten daher die rein profanen Theorien sich verbinden, die in Politik und Wirtschaft sich ausgebildet hatten, und aus der reformierten Ethik konnten kulturelle Bestandteile sich zu rein weltlichem 56 Betrieb verselbständigen“. Auch wenn Weber 1905 auf diesen Text verwies – daß seine Darstellung des asketischen Protestantismus von Troeltsch abhängig ist, wird man daraus nicht ableiten dürfen. Denn einerseits bekannten Troeltsch und Weber sich später beide dazu, von Jellineks „Menschenrechten“ für das Thema sensibilisiert wor57 den zu sein. Im Zusammenhang der indirekten Kritik einer 1906 von Troeltsch vertretenen Behauptung, Webers „kapitalistischer Geist“ sei auch durch den Sombarts beeinflußt, teilte Weber bekanntlich mit, das Thema der „Protestantischen Ethik“ schon 1898 im Kolleg behandelt zu haben. Daran zu zweifeln, ist derzeit durch nichts legitimiert. Denn die Wahlverwandtschaften zwischen vor 1904 erschienenen Texten Troeltschs und der „Protestantischen Ethik“ können auch Folge einer mündlichen Beeinflussung Troeltschs durch Weber sein. Aber auch in dieser Richtung läßt sich Abhängigkeit nicht begründen. Zwar gab es zwischen den Freunden spätestens zum Zeitpunkt von Webers Arbeit an der „Protestantischen Ethik“ einen intensiven – und d. h. wohl auch: einen nicht auf den 1904 gegründeten Eranos beschränkten – wissenschaftlichen Austausch. Dieser muß als eine Kooperation verstanden werden, die im 56 Ernst Troeltsch: Moralisten, englische, in: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 3. Aufl., 13. Band, Leipzig 1903, S. 436–461; leicht geänderter Wiederabdruck in: GS IV, S. 374–429, hier S. 391–393. 57 Vgl. neben der Jellinek-Rede Webers auch die von Troeltsch auf Bitte von Camilla Jellinek hin publizierte ausführliche Rezension der postum gesammelten Schriften Jellineks: [Rez.] Georg Jellinek: Ausgewählte Schriften und Reden, 2 Bände, Berlin 1911, in: Zeitschrift für das Privatund öffentliche Recht der Gegenwart 39 (1912), S. 273–278, jetzt in: KGA 4, S. 639–645.

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Modell unmittelbarer und einseitiger Dependenz sich nicht zureichend erfassen läßt. Denn Troeltsch beriet Weber nicht nur „technisch“ über die für das religiöse Profil des asketischen Protestantismus einschlägige fachtheologische Literatur. Vielmehr stellte Weber thematische Reichweite und Anlage seiner Arbeit ausdrücklich auf die – zumindest einige Monate lang – zeitlich parallele Arbeit Troeltschs an einem eng verwandten Gegenstand ein. In Teil II der „Protestantischen Ethik“ verdichtete die Hoffnung von Seite 4, Troeltsch werde darstellen, was „hier auch um deswillen nur andeutungsweise behandelt“ werde, sich jedenfalls schon zur Annahme: „Die große Wichtigkeit des calvinistischen Gedankens von der [. . .] Heilsnotwendigkeit der Aufnahme in eine den göttlichen Vorschriften entsprechende Gemeinschaft für den sozialen Charakter des reformierten Christentums wird, wie ich annehme, E. Tröltsch in seinem schon früher erwähnten Aufsatz entwickeln. – Für unsere speziellen Gesichtspunkte liegt aber der 58 Schwerpunkt des Problems etwas anders“.

III Sowohl für Troeltsch als auch für Weber war die wichtigste Bedingung ihrer Kooperation die Anerkenntnis einer jeweils selbst reklamierten und zugleich auch dem anderen ausdrücklich zugestandenen Selbständigkeit. Beide legten diese Selbständigkeit primär formal, über disziplinenspezifische Differenzen der von ihnen jeweils repräsentierten Fächer aus. Weber und Troeltsch begriffen ihre Kooperation als Vollzug einer interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen autonomen Wissenschaften, die den besonderen Gegenstand ihrer Erkenntnis jeweils selbständig definieren, aber im konkreten Erkenntnisvollzug auf Aneignung und Verarbeitung von Resultaten des anderen Faches bzw. auf Austausch angewiesen sind. Solche Interdisziplinarität ist gleichsam ein faktischer Imperativ: Angesichts der kulturellen Komplexität der Vermittlungen von Religion und Gesellschaft können weder eine theologieabstinente Soziologie noch eine soziologieresistente Theologie ihren spezifischen Erkenntnisansprüchen gerecht werden. Beiderseits galt Vertretern des eigenen Faches, die solcher Interdisziplinarität sich verweigerten, vehemente Kritik. Zugleich wurden die Grenzen des eigenen Faches deutlich markiert: So wie Troeltsch es 1906 beispielsweise bedauerte, daß in seinem – anstelle des Freundes gehaltenen – Vortrag über „Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt“ „die politisch-wirtschaftlich-sozialen Partien des Themas [. . .] keine fachmännische 58 Max Weber: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. II. (wie Anm. 18), S. 14, Anm. 21.

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Erledigung finden können“, so betonte Weber mehrfach, Teile des von ihm in den Schlußpartien der „Protestantischen Ethik“ skizzierten religionssoziologischen Arbeitsprogramms seien von Troeltsch inzwischen „in einer Art“ erledigt 60 worden, „wie ich als Nicht-Theologe es nicht gekonnt hätte“ . Daß Troeltsch und Weber das Verhältnis ihrer Arbeit primär nicht materialiter – über gemeinsame thematische Interessen etc. –, sondern im Modell der Interdisziplinarität formal definierten, bedeutet nicht, daß zwischen ihren Werken nicht auch zahlreiche thematische Entsprechungen bestünden. Dies gilt insbesondere für die Einsicht, daß soziale Realität von Religion entscheidend mitgeprägt wird. Das gemeinsame Interesse an einer analytischen Erschließung der „Lebensmacht“ Religion stellte für Troeltsch und Weber aber insofern keine zureichende bzw. tragfähige Basis zur Definition des Verhältnisses zwischen ihren Theorieprogrammen dar, als diese ihren konstruktiven Zielen nach zugleich auch erhebliche Differenzen aufwiesen. Im Horizont der formalen Auslegung des Verhältnisses ihrer Arbeiten zueinander konnten Weber und Troeltsch diese Differenzen sowohl wahrnehmen als auch produktiv begrenzen. So abstrakt die Deutung ihrer Kooperation als Vollzug von Interdisziplinarität auch scheint – gerade die Formalität dieser Figur erlaubte Troeltsch und Weber einerseits pragmatische Kooperation, ohne sich andererseits gravierende inhaltliche Differenzen verbergen zu müssen. Auch diese Differenzen beziehen sich primär auf die Lebensmacht Religion: Unbeschadet einer genetischen Relevanz des asketischen Protestantismus für die Durchsetzung des modernen Betriebskapitalismus vermochte Weber religiösen Wertorientierungen keine aktuelle gesamtgesellschaftliche Funktion mehr zuzuerkennen. Demgegenüber suchte Troeltsch ethische Bestände des Christentums auf moderne gesellschaftliche Problemlagen hin zu reformulieren: Angesichts der destruktiven Folgen kapitalistischer Modernisierung sollen so die gesellschaftlichen Potenzen der Religion (wieder) zugunsten humaner Sozialgestaltung wirksam werden können. Wie sehr aufgrund des gemeinsamen Interesses an der „Lebensmacht“ Religion Webers religionssoziologische Forschung durch die Arbeit Troeltschs beeinflußt wurde, läßt sich werkgeschichtlich vor allem an den gravierenden Modifikationen seines ursprünglichen Arbeitsprogrammes zeigen. Daß Weber 1910 Felix Rachfahls Versuch zurückwies, Troeltsch und ihn „als Kollektivität zu behandeln“, und „nachdrücklich“ feststellte, „daß überhaupt keinerlei, auch keine 59 Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt. Vortrag, gehalten auf der IX. Versammlung deutscher Historiker zu Stuttgart am 21. April 1906, Sonderabdruck aus der Historischen Zeitschrift, München, Berlin 1906, S. 1, Anm. 1, jetzt in: KGA 8, S. 199–316, hier S. 201. 60 Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 1. Band, Tübingen 1920, S. 206, Anm. 1, und die in Anm. 49 genannten Belege.

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latente, Kollektiv-Arbeit vorliegt“, bedeutet nicht, daß zwischen seinem religionssoziologischen Œuvre und Publikationen Troeltschs kein relevanter innerer Zusammenhang bestünde. Von 1908 bis 1919/20 betonte Weber mehrfach, zentrale, in der ersten Fassung der „Protestantischen Ethik“ nur angeschnittene Probleme seien von Troeltsch inzwischen „in glücklichster Weise von seinem Gedankenkreis aus aufgegriffen“ und mit „weitaus größere[r] Sachkunde“ be62 handelt worden; sowohl die Überarbeitung der „Protestantischen Ethik“ und des Sektenaufsatzes als auch die Ausweitung seiner Fragestellung auf die universalgeschichtlichen Vermittlungen von Religion und Gesellschaft hin sind zu einem gewichtigen Teile als Reflex der Rezeption von Publikationen Troeltschs 63 zu deuten – insbesondere der „Soziallehren“, deren Entstehung Weber mit Ratschlägen zu wirtschaftsgeschichtlichen Problemen, Literaturhinweisen und

61 Max Weber: Die protestantische Ethik II. (wie Anm. 1), S. 149 f. Obgleich auch er es ablehnte, von Rachfahl nur als Teilhaber einer „gemeinsame[n] wissenschaftlichen Firma“ behandelt zu werden, maß Troeltsch der „besonders glücklich sich ergänzende[n] Arbeitsgemeinschaft“ Heidelberger Gelehrter ein größeres Gewicht als Weber bei: „[. . .] der persönliche Austausch der Gedanken und die Zufälligkeit der persönlichen Nähe [hat] eine gewisse Bedeutung, die denn auch in den Arbeiten selbst erkennbar wird“ (ebd., S. 188 f.). 62 Ebd., S. 54; vgl. hier auch S. 151 und S. 345, sowie Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 1. Band (wie Anm. 60), S. 18 und S. 206, Anm. 1. 63 Weber arbeitete 1920 von Troeltsch im „Hinneberg“-Text und in den „Soziallehren“ präsentierte Zitate, die als Bestätigung der ersten Fassung der „Protestantischen Ethik“ gelesen werden konnten, in den Text ein; von den inhaltlichen Änderungen – deren Ausmaß und Gewicht in der Weber-Forschung umstritten ist – muß insbesondere die gegenüber dieser Fassung neue Profilierung der Differenz von Askese und Mystik als Ausdruck einer durch Troeltsch veranlaßten Präzisierung (nicht: Korrektur) seiner ursprünglichen Position begriffen werden. – Ein differenzierter Vergleich zwischen den zwei frühen und der späten Fassung des Sektenaufsatzes steht noch aus. Die „Umarbeitung“ war „dadurch motiviert, daß der von mir entwickelte Sektenbegriff [. . .] inzwischen von Troeltsch in seinen ‚Soziallehren [. . .]‘ zu meiner Freude übernommen und eingehend behandelt worden ist“, weshalb die „begrifflichen Erörterungen hier [. . .] fortfallen können“ (Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 1. Band [wie Anm. 60], S. 207, Anm. 1; vgl. S. 153, Anm. 1). Tatsächlich hatte Troeltsch in den „Soziallehren“ aber eine gegenüber Weber durchaus auch kritisch gemeinte Differenzierung der Kirche-Sekte-Typologie entwickelt (GS I, S. 293, Anm. 499, S. 391, Anm. 164, S. 877 f., Anm. 480, und S. 906 f., Anm. 495); insoweit dürfte die „Umarbeitung“ des Sektenaufsatzes als Auseinandersetzung mit dem neuen, durch Troeltsch definierten Diskussionsstand zu verstehen sein. Dem entspricht, daß Weber in seinem ausführlichen Diskussionsvotum zu Troeltschs Vortrag „Das stoisch-christliche Naturrecht und das profane Naturrecht“ auf dem 1. Soziologentag die von diesem hier referierte Kirche-Sekte-MystikTypologie sich zumindest indirekt zu eigen machte (vgl. Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19.–22. Oktober 1910 in Frankfurt a. M. Reden und Vorträge, Tübingen 1911, S. 199 f., jetzt in: KGA 6, S. 753–759, hier S. 755–758) und – auf der Basis eines gegen Ferdinand Tönnies gerichteten ökonomismuskritischen Konsenses – nur Werturteile Troeltschs über eine religionspolitische Prävalenz der Kirche gegenüber der Sekte zurückwies (ebd., S. 201 f.,

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kritischen Kommentaren begleitet hatte . Bei der Bestimmung des Einflusses der „Soziallehren“ und anderer religionsgeschichtlicher Arbeiten Troeltschs auf Kategorialität und materialen Gehalt von Webers später Religionssoziologie ist allerdings der fragmentarische Charakter der „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ in Rechnung zu stellen: Da Weber den geplanten Schlußband des Ganzen über das „Christentum des Occidents“ nicht mehr ausarbeiten konnte, läßt seine Sicht der inhaltlichen Differenzen zu Troeltschs „Universalgeschichte der Ethik des 65 okzidentalen Christentums“ sich nur indirekt erschließen; zu vermuten ist, daß in diesem IV. Band der „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ angesichts enger thematischer Überschneidungen und methodischer Parallelen – Weber kündigte die Religionssoziologie von „Wirtschaft und Gesellschaft“ Paul Siebeck im Dezember 1913 ausdrücklich mit Bezug auf Troeltsch an: „[. . .] Soziologie der Erlösungslehren und der religiösen Ethiken, – was Troeltsch gemacht hat, jetzt für

KGA 6, S. 758 f.). – Zu Troeltschs Bedeutung für die Modifikationen von Webers religionssoziologischem Forschungsprogramm vgl. die Hinweise von Wolfgang Schluchter: Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Gesellschaftsgeschichte, Tübingen 1979, S. 216 ff., S. 232, S. 243 f. und S. 249. Das für die Rekonstruktion der Werkgeschichte von Webers Religionssoziologie zu berücksichtigende „Arbeitsprogramm von Troeltsch“ (ebd., S. 216, Anm. 47) war allerdings sehr viel umfangreicher, als Schluchter vermutet. 64 Daß Weber am komplizierten, mehrjährigen Entstehungsprozeß der „Soziallehren“ kontinuierlich Anteil nahm, läßt sich aus deren umfangreichem Anmerkungsteil belegen. Schon während der Niederschrift der Teile des Textes, die zunächst im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ erschienen, wurde Troeltsch von Weber beraten (vgl. die schon in der „Archiv“-Fassung publizierten Hinweise in GS I, S. 251, Anm. 114a, und S. 406, Anm. 186); nach der „Archiv“Veröffentlichung teilte Weber Troeltsch dann noch Korrekturen und Ergänzungen mit, die dieser für die Umarbeitung und ausführliche Erweiterung der Erstfassung verwertete. Dies ist nicht nur durch GS I, S. 20, Anm. 12, und S. 79 f., Anm. 36d – sehr zum Leidwesen seines Verlegers fügte Troeltsch noch während des Korrekturprozesses in Fahne und Umbruch zahlreiche mit Buchstaben notierte neue Anmerkungen ein – belegt, sondern auch durch einen Brief Ernst Troeltschs an Paul Siebeck vom 29. Dezember 1907, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachl. 488 (Verlagsarchiv Mohr Siebeck), A 240. Die Ankündigung, die zunächst im „Archiv“ erscheinenden Aufsätze für die spätere „Separatausgabe“ überarbeiten zu wollen, begründete er ausdrücklich mit Bezug auf Weber: „ich hätte hier unter Anregung von Max Weber noch einige Bemerkungen zu machen“. Dies bezieht sich auf die ersten zwei Drittel der „Soziallehren“; das letzte Drittel des Textbestandes der Buchfassung der „Soziallehren“ – also auch die Darstellung des Calvinismus! – wurde im „Archiv“ noch nicht publiziert. – Troeltsch ließ seinem Freunde eines der ihm zustehenden Freiexemplare der „Soziallehren“ unmittelbar nach Erscheinen durch den Verlag zukommen. 65 So charakterisierte Weber die „Soziallehren“ 1919/20; vgl. Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 1. Band (wie Anm. 60), S. 17 f., Anm. 1. Über den Plan zur Vollendung der „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ durch einen vierten Band über das okzidentale Christentum vgl. einen im Herbst 1919 geschriebenen Brief Webers, den Wolfgang Schluchter: Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus (wie Anm. 63), S. 6 f., Anm. 18, mitgeteilt hat.

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alle Religionen [. . .]“ – eine zu den zahlreichen Weber-Bezügen der „Sozialleh67 ren“ komplementäre Abgrenzung von Troeltsch fällig gewesen wäre. Troeltschs Sicht der positionellen Gegensätze zu Weber ist demgegenüber in zahlreichen soziologisch inspirierten Texten zur Religionsgeschichte des Christentums und insbesondere in diversen Fragmenten seines geschichtsphilosophischen Spät68 werkes relativ breit dokumentiert. Diese Gegensätze finden ihren zusammenfassenden Ausdruck in konkurrierenden systematischen Bestimmungen der aktuellen historischen Relationierung von okzidentaler Rationalität, Ethik und Christentum. Auf der Basis eines weitreichenden Konsenses über die freiheitsdestruktiven, krisenhaften Folgen kapitalistischer Modernisierung – durch umfassende Bürokratisierung und die Erstarrung gesellschaftlicher Institutionen werden individuelle Handlungsspielräume zunehmend eingeengt, so daß sich die in der Aufklärung des späten 17. und 18. Jahrhunderts formulierten normativen Leitvorstellungen der kulturellen Moderne faktisch als Schein erweisen – ging Troeltsch zu Weber in Hinblick auf die kulturpraktischen bzw. ethischen Konsequenzen der Einsicht in den krisenhaften Charakter der primär ökonomisch gesteuerten umfassenden Rationalisierungsprozesse auf Distanz. Differenzen zwischen ihren Theorieprogrammen beziehen sich nicht auf den kritischen Gehalt der jeweiligen Zeitanalytik: Webers 69 Diagnose der mit dem „Hochkapitalismus“ gegebenen Bedrohung individueller 66 Zit. nach: Wolfgang Schluchter: Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus (wie Anm. 63), S. 123. 67 Was für die Register der alten Weber-Ausgaben gilt, trifft sehr viel stärker noch für die TroeltschEditionen zu: nur ein Teil der expliziten Bezüge auf andere Autoren sind hier jeweils registriert. Auch in GS I setzte Troeltsch sich mit Weber sehr viel intensiver auseinander, als das Register erkennen läßt; es lassen sich mehr als fünfzig zum Teil sehr ausführliche Weber-Bezüge nachweisen. 68 Zahlreiche an häufig weit entlegenen Orten publizierte, bisher unbeachtet gebliebene Texte des späten Troeltsch sind in der in Anm. 35 genannten Troeltsch-Bibliographie nachgewiesen. Für Troeltschs systematische Weber-Kritik müssen neben dem in Anm. 4 genannten DAZ-Nachruf und ausführlichen Auseinandersetzungen mit Kritikern Webers vor allem die verschiedenen Texte berücksichtigt werden, die dann, zum Teil erheblich überarbeitet, in GS III eingingen; über die hier im Register genannten Weber-Bezüge hinaus vgl. noch ebd., S. 43, Anm. 19, S. 59, Anm. 24, S. 307, Anm. 150, S. 313, Anm. 152, S. 432, Anm. 223, S. 706, Anm. 374, und S. 758 f., Anm. 413, jetzt: KGA 16, S. 215, Anm. 19, S. 233, Anm. 24, S. 528, Anm. 150, S. 536, Anm. 152, S. 667, Anm. 223, S. 1023 f., Anm. 374, und S. 1083 f., Anm. 413. 69 Max Weber: Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland, in: ders.: Gesammelte politische Schriften, hrsg. von Johannes Winckelmann, 4. Aufl., Tübingen 1980, S. 33–68, hier S. 63 f., jetzt in: MWG I/10, S. 86–279, hier S. 270. Dieser Text wurde von Troeltsch zustimmend rezipiert. Vgl. insbesondere: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (wie Anm. 59), S. 65 f., und die stark erweiterte Zweitauflage dieses Textes: München, Berlin 1911, S. 102 f., jetzt in: KGA 8, S. 314 ff.

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Freiheit wurde von Troeltsch geteilt und in gleichsam apokalyptischen Szenarien des „Unterganges des Individuums“ zum Teil noch radikalisiert. Deshalb machte er sich notwendig auch die dieser Diagnose entspringende Frage danach zu eigen, ob es aus dem „stahlharten Gehäuse“ überhaupt noch einen Ausweg geben könne. Doch war Troeltschs Antwort in einem bestimmten Sinne komplexer strukturiert als die Webers. Im Unterschied zu allen geschichtsphilosophischen Evolutionstheorien, die mittels einer nur eindimensionalen dogmatischen Begrifflichkeit für die okzidentale Moderne ein definitives Ende der Religion unterstellten, bezog Troeltsch in seine Analysen ausdrücklich Religion als einen möglicherweise aktuell relevanten Faktor der Sozialgestaltung ein; dabei konzentrierte sich seine theoretische Aufmerksamkeit vor allem darauf, ob auch unter den Bedingungen des realisierten Kapitalismus Religion als eine Potenz zur kontrafaktischen Stärkung individueller Freiheit gestaltet werden könne. Nicht daß seine Antwort auf die Frage, wie es „angesichts der Übermacht der Tendenz zur Bürokratisierung überhaupt noch möglich“ sein solle, „irgend welche Reste einer in irgendeinem Sinn ‚indivi70 dualistischen‘ Bewegungsfreiheit zu retten“, eindeutiger oder optimistischer als die Webers ausgefallen wäre. Troeltschs Analysen der tatsächlichen „religiösen Lage“ waren zu kritisch – die real existierende Religion in Deutschland galt ihm weithin nur als ein Instrument der Klassenherrschaft, und das preußische Luthertum bezeichnete er wegen seiner feudal-patriarchalischen, illiberalen 71 Wertorientierungen als „Religion einer Herrenschicht“ –, als daß er Webers 72 „heroisch[em] Skeptizismus“ einfach fromme Gutgläubigkeit hätte entgegenstellen können. Doch war er zutiefst davon überzeugt, daß es Gesellschaften ohne Religion nicht gibt. Säkularisierung begriff Troeltsch nicht als progressiven Religionsverlust, sondern als kulturellen Gestalt- und sozialen Funktionswandel von Religion. Bezüglich der Frage nach Möglichkeiten der Relativierung einer bürokratischen Gleichschaltung der „Seele“ mußten deshalb notwendig auch die Ressourcen der Religion thematisch werden: Wenn es einen „Rest des Men-

70 Max Weber: Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland. Zur politischen Kritik des Beamtentums und Parteiwesens, in: ders.: Gesammelte politische Schriften (wie Anm. 69), S. 306–443, hier S. 333, jetzt in: MWG I/15, S. 432–596, hier S. 465 f. Vgl. die weiteren Belege in der immer noch grundlegenden Arbeit von Wolfgang J. Mommsen: Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920, 2. Aufl., Tübingen 1974, S. 17, S. 94 und S. 175 ff. 71 „Insbesondere das preußische Luthertum ist zur Religion einer Herrenschicht geworden und trägt die Züge einer Herrenreligion“ (Ernst Troeltsch: Luther und das soziale Problem, in: März 11/4 [1917], S. 983–990, hier S. 990) – ein bemerkenswerter Kommentar zum Lutherjubiläum. 72 GS III, S. 569, jetzt: KGA 16, S. 853; FZ-Nachruf (wie Anm. 2). Vgl. Wolfgang J. Mommsen: Die antinomische Struktur des politischen Denkens Max Webers, in: Historische Zeitschrift 233 (1981), S. 35–64, hier S. 38.

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schentums“ von der „Parzellierung der Seele“ freizuhalten gilt, dann wäre es absurd, dabei gerade von jener Bewußtseinsgestalt zu abstrahieren, die ihrem besonderen Begriffe nach auf Transzendenz zielt und insofern einen Repräsentationsort von Individualität einerseits und offener Sozialität andererseits darstellt. Denn so wenig für Troeltsch Gesellschaften ohne Religion existieren, so wenig gibt es – in seiner Perspektive einer auch sozialwissenschaftlich informierten Religionstheorie – subjektive Religion bzw. Frömmigkeit, die nicht institutionell sich objektivierte oder die sozial irrelevant bliebe. Es sind insbesondere zwei Leistungen von Religion, aufgrund derer sie als ein möglicher Evolutionsfaktor auch moderner Gesellschaften gelten kann. In zahlreichen Programmskizzen und Vorstudien zu einer umfassenden „Systematischen Religionswissenschaft“ bzw. „Religionsphilosophie“ – von Troeltsch zu74 sammen mit einer materialen Ethik als sein „Hauptwerk“ geplant – explizierte Troeltsch zum einen eine spezifische Individualitätsfunktion religiösen Bewußtseins. Dieses galt ihm, wie schon dem „klassischen“ – von Weber bekanntlich wenig geschätzten – Repräsentanten der Theorie einer modernitätsfähigen Reli75 giosität, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, als ein exemplarischer Repräsentationsort von Individualität. Denn Religion ist Verkehr der Seele mit Gott, Beziehung des endlichen Bewußtseins auf eine letzte Allgemeinheit, die alles überindividuell Allgemeine in der Welt (Staat, Gesellschaft etc.) transzendiert und darin auch relativiert, oder Selbsterfassung der individuellen Subjektivität in einem transzendenten Grund der Freiheit. Das Vorstellungsmaterial der Religion stellt für den einzelnen ein Potential der Selbstunterscheidung von der tatsächlichen Allgemeinheit der Welt bereit. Insofern vermag sie personale Identität – von Troeltsch in der Sprache seiner Zeit als „Persönlichkeit“ bestimmt – zu stabilisieren bzw. individuelles Autonomiebewußtsein zu stärken. Religion vermittelt

73 Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, hrsg. von Marianne Weber, Tübingen 1924, S. 413. 74 In der neueren Troeltsch-Diskussion – allein in den letzten zehn Jahren sind mehr als dreißig Monographien erschienen! – hat die Zentralstellung der religionsphilosophischen Programmentwürfe endlich die ihr gebührende Aufmerksamkeit gefunden. Vgl. neben Gaathe Willem Reitsema: Ernst Troeltsch als godsdienstwijsgeer (Philosophia Religionis 15), Assen 1974; Michael Pye: Troeltsch and the Science of Religion, in: Ernst Troeltsch: Writings on Theology and Religion, translated and edited by Robert Morgan and Michael Pye, London 1977, S. 234–252; Karl-Ernst Apfelbacher: Frömmigkeit und Wissenschaft. Ernst Troeltsch und sein theologisches Programm, München, Paderborn, Wien 1978, bes. S. 129–160; Gerhold Becker: Neuzeitliche Subjektivität und Religiosität. Die religionsphilosophische Bedeutung von Heraufkunft und Wesen der Neuzeit im Denken von Ernst Troeltsch, Regensburg 1982, bes. S. 298–344. 75 Vgl. Walter E. Wyman, Jr.: The Concept of Glaubenslehre. Ernst Troeltsch and the Theological Heritage of Schleiermacher, Chico, California 1983.

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also eine Sicht des Menschen, die zu den gesellschaftlich produzierten Erfahrungen der Nichtigkeit des Individuums in einer unaufhebbaren Spannung steht: Werden hier instrumentelle Verfügung des Allgemeinen über das Besondere und funktionalistische Reduktion des einzelnen exekutiert, so wird dort ein „unendlicher Wert der Menschenseele“ symbolisiert. Diese Symbolisierungsleistung ist als solche aber selbst sozial relevant. Mit der Darstellung des Antagonismus von Individuum und Gesellschaft – für Troeltsch sind, wie für Weber und andere Zeigenossen, alle Sozialverhältnisse Herrschaftsverhältnisse – wird zugleich das Wissen um die reale Konfliktträchtigkeit der Gesellschaft präsent gehalten und darin die Fähigkeit bzw. Bereitschaft des einzelnen zum Austragen von 76 Konflikten gestärkt. Zum anderen aber eignet Religion auch eine Sozialitätsfunktion: Insbesondere die objektive Religion, d. h. die kulturellen Institutionen der Religion (religiöses Gemeinschaftshandeln, Kult etc.) stellen Potentiale gesellschaftlicher Integration bereit. Die inhaltliche Bestimmung bzw. Materialisierung dieser Integrationsleistung der Religion bereitete Troeltsch allerdings sehr viel größere Schwierigkeiten als die Explikation ihrer Individualitätsfunktion. Dies ist nicht nur ein Ausdruck des konkreten politischen Gehalts seiner Religionstheorie, die ausdrücklich auf die besonderen politisch-sozialen Bedingungen der deutschen Gesellschaft des Kaiserreichs und der frühen Weimarer Republik hin formuliert wurde: einer Gesellschaft also, die nicht nur durch Klassenantagonismen, sondern auch durch tiefgreifende religionspolitische Gegensätze (wie die konfessionelle Zersplitterung oder auch die Konkurrenz diverser, zumeist dezidiert christentumskritischer neuer Bildungsreligionen mit den Kirchen) geprägt wurde, welche integrative Wirkungen der Religion stark behinderten. Vielmehr war Troeltsch sich des prinzipiellen Dilemmas bewußt, vor das alle Integrationstheorien gestellt sind. Um der Integration willen müssen Bestände materialer Rationalität als konsensfähig ausgewiesen werden. Doch stellt die Fixierung inhaltlich bestimmter Rationalitätsprinzipien, etwa von „Werten“, für die man Allgemeingültigkeit reklamiert, selbst eine Bedrohung individueller Freiheit dar. Aufgrund der stark aufklärerisch-rationalen Prägung seines Denkens teilte Troeltsch Webers kritische Sensibilität für die aller Hypostasierung von Allgemeinheit immanenten Gefahren. Webers Lösung des „Werteproblems“ aber – ein ausschließlich formales Rationalitätsverständnis, Bestreitung der Universalisierungsfähigkeit materialer Rationalitätsprinzipien, deshalb Plädoyer für den permanenten politischen Kampf subjektiver Wertsetzungen – wurde von Troeltsch nicht geteilt. Denn

76 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Religion und Individualität. Bemerkungen zu einem Grundproblem der Religionstheorie Ernst Troeltschs, in: TS 3, S. 207–230, in diesem Band oben, S. 215–240.

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auch Weber könne – so Troeltsch – durch das „Polytheismus“-Konzept den freiheitsbedrohenden Gefahren einer Verabsolutierung des nur Partikularen nicht entgehen. Der Theologe beschritt deshalb den genau umgekehrten Weg: Weil Politik nicht nur als Kampf, sondern auch als Anstrengung zu gemeinsamer Willensbildung begriffen werden muß, suchte Troeltsch – aufgrund einer theoretisch ausgewiesenen Bereitschaft zum Kompromiß sehr viel politikfähiger als Weber – die Kommunikationspotentiale der Religion für offene Integration zu aktivieren. Er begab sich dazu auf eine geschichtsphilosophische Gratwanderung, von der er freilich wußte, daß die Gefahr des Absturzes sehr viel größer als die Aussicht auf das Erreichen des Zieles war. Durch eine religiös inspirierte Rekonstruktion der okzidentalen Geschichte sollen materiale, politisch-praktisch relevante Konsensprinzipien mit Geltung für den europäisch-amerikanischen Kulturkreis gewonnen werden. Im Interesse der Freiheit ist aber zugleich das Wissen um die faktische Relativität bzw. Überbietbarkeit jedes inhaltlich fixierten Konsenses präsent zu halten. Daß Troeltsch beiden Erkenntnissen zugleich gerecht zu werden vermochte, ist angesichts des fragmentarischen Charakters seines Œuvres zu bestreiten. Aber solche Unabgeschlossenheit verstand er selbst als notwendigen Ausdruck der geschichtlichen Grenzen aller Bestimmung von Allgemeinheit. Den Antinomien seiner Geschichtsphilosophie erkannte er gleichsam eine theologische Qualität zu: Sie drücken das Wissen darum aus, daß das Absolute der Religion innergeschichtlich nicht positivierbar ist. Weder lassen sich dauerhaft gültige Ordnungen institutionalisieren, noch gibt es ewige Normen und letzte Werte. So groß die Gegensätze zwischen Webers Kritizismus und Troeltschs religiöser Metaphysik auch sind – die differente Grundstruktur ihrer Theorieprogramme drückt offenkundig auch ein gemeinsames Interesse daran aus, die Positivierung von Freiheit zu verhindern.

Puritanische Sektenfreiheit versus lutherische Volkskirche. Zum Einfluß Georg Jellineks auf religionsdiagnostische Deutungsmuster Max Webers und Ernst Troeltschs 1

I. Heidelberg um 1900, oder: ein Laboratorium krisenhafter Modernitätserfahrungen Im November 1890 erteilt der Kultusminister des Großherzogtums Baden dem in Basel lehrenden Staatsrechtler Georg Jellinek einen Ruf auf den Lehrstuhl für Staatsrecht, Völkerrecht und Politik an der Universität Heidelberg. Der aus einer jüdischen Familie stammende Gelehrte ist stolz darauf, in der deutschen Gelehrtenwelt endlich die lang ersehnte Anerkennung gefunden zu haben. Euphorisch nimmt der damals 39jährige Jellinek den Ruf schnell an. Schon Ende April 1891 zieht er mit seiner Familie nach Heidelberg, wo er im Sommersemester 1891 2 seine Lehrtätigkeit beginnt. 3 Heidelberg ist damals eine relativ kleine Stadt mit ca. 28 000 Einwohnern. Die traditionsreiche Universität gilt als liberal und weltoffen. Viele Professoren unterhalten Kontakte zu ausländischen Gelehrten, die häufig an den Neckar reisen. Auch studieren zahlreiche junge Nicht-Deutsche, vor allem Russen, in 4 Heidelberg. Darüber hinaus kommen seit den neunziger Jahren verstärkt Stu-

1 Der vorliegende Text wurde in einer gekürzten englischen Fassung am 16. Mai 2000 als Eröffnungsvortrag bei einem internationalen Kolloquium der Seigakuin University in Tokyo vorgetragen. Die Vortragsform und die mit Blick auf das internationale Publikum geforderten rhetorischen Verknappungen begrifflicher Komplexität wurden beibehalten. Im Prozeß der Drucklegung erschien das große Werk Guenther Roths zur Familiengeschichte der Webers, das auch für das Heidelberger Intellektuellenmilieu um 1900 faszinierende neue Einblicke eröffnet: Guenther Roth: Max Webers deutsch-englische Familiengeschichte 1800–1950, mit Briefen und Dokumenten, Tübingen 2001. 2 Vgl. zur intellektuellen Biographie Jellineks: Klaus Kempter: Die Jellineks 1820–1955. Eine familienbiographische Studie zum deutsch-jüdischen Bildungsbürgertum, Düsseldorf 1998; Jens Kersten: Georg Jellinek und die klassische Staatslehre, Tübingen 2000; Stanley L. Paulson, Martin Schulte (Hrsg.): Georg Jellinek. Beiträge zu Leben und Werk, Tübingen 2000. 3 Vgl. Hubert Treiber, Karol Sauerland (Hrsg.): Heidelberg im Schnittpunkt intellektueller Kreise. Zur Topographie der „geistigen Geselligkeit“ eines „Weltdorfes“, 1850–1950, Opladen 1995. Aus der älteren Literatur grundlegend: Helene Tompert: Lebensformen und Denkweisen der akademischen Welt Heidelbergs im Wilhelminischen Zeitalter, vornehmlich im Spiegel zeitgenössischer Selbstzeugnisse, Lübeck, Hamburg 1969. 4 Vgl. die Studie von Willy Birkenmaier: Das russische Heidelberg. Zur Geschichte deutsch-

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denten und Doktoranden aus Übersee nach Heidelberg, vor allem aus den USA und aus Japan. In relativ kurzer Zeit gelingt es der Universität und den badischen Kultusbehörden, junge innovative Gelehrte für Heidelberg zu gewinnen. 1894 beginnt der damals gerade erst 29jährige Ernst Troeltsch seine Lehrtätigkeit als Ordinarius für Systematische Theologie in der Theologischen Fakultät. Zur selben Zeit nimmt der Kunsthistoriker Henry Thode einen Ruf nach Heidelberg an. 1896 kommt Karl von Lilienthal als Strafrechtler an die Universität. Im selben Jahr folgt Max Weber, bis dahin Ordinarius in Freiburg, einem Ruf auf den Heidelberger Lehrstuhl für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft; er ist damals 32 Jahre alt. Von 1900 bis 1903 werden dann noch der Nationalökonom Karl Rathgen, der Neuhistoriker Erich Marcks, der einflußreiche Philosoph Wilhelm Windelband, der klassische Philologe Albrecht Dieterich und der Nationalökonom Eberhard Gothein an die Heidelberger Universität berufen. Schnell gewinnt Heidelberg nun den Ruf einer „heimlichen Hauptstadt des geistigen Deutschlands“. Dazu tragen bald auch junge Heidelberger Privatdozenten bei, die später erfolgreich Karriere machen – etwa der Philosoph Emil Lask, der Orientalist Carl Heinrich Becker, der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers. Das Heidelberg der klassischen Moderne wird zudem durch expressionistisch radikale junge 5 Intellektuelle wie beispielsweise Georg Lukács und Ernst Bloch mitgeprägt. Das geistige Klima in Universität und Stadt ist in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts durch einen schnellen Wandel geprägt. Die kulturstolze bürgerliche Sekurität, die für den „Geheimratsliberalismus“ der älteren Professorengeneration kennzeichnend war, wird bei den Jüngeren durch Verunsicherung über den schnellen gesellschaftlichen Wandel abgelöst. Erfahrungen einer tiefen Krise der modernen Gesellschaft führen zur Suche nach Auswegen und neuen Antworten. Seit der Jahrhundertwende läßt sich Heidelbergs intellektuelle Signatur als ein Laboratorium der Moderne beschreiben. Auf vielen Feldern geistigen Lebens wird experimentiert. Unter dem Eindruck der schnellen Durchsetzung des modernen Kapitalismus und der Entstehung einer pluralistischen Massengesellschaft gewinnen soziologische Fragestellungen an großer Bedeutung. Max Weber und Ernst Troeltsch beginnen damit, über die Ursprünge und Antriebskräf6 te des modernen okzidentalen Rationalismus nachzudenken. Intensiv werden

russischer Beziehungen im 19. Jahrhundert, Heidelberg 1995. Birkenmaier zeigt, daß Heidelberg in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts „ein geistiges Zentrum für die Russen im Ausland war“ (S. 5). 5 Vgl. Karol Sauerland: Heidelberg als intellektuelles Zentrum, in: Hubert Treiber, Karol Sauerland (Hrsg.): Heidelberg im Schnittpunkt intellektueller Kreise (wie Anm. 3), S. 12–31. 6 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Fachmenschenfreundschaft. Bemerkungen zu ‚Max Weber und Ernst Troeltsch‘, in: Wolfgang J. Mommsen, Wolfgang Schwentker (Hrsg.): Max Weber und seine

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Fragen der politischen Modernisierung, d. h. vor allem Parlamentarisierung und Demokratisierung, des autoritär verfaßten deutschen Kaiserreichs diskutiert. Die Integration der sozialdemokratischen Arbeiterschaft durch liberale Sozialreform, die Emanzipation der Frau aus alten Abhängigkeiten, größere Toleranz gegenüber Andersdenkenden und neue Wege sexueller Selbstbestimmung (etwa im Sinne der „freien Liebe“) sind wichtige Themen. Marianne Weber, Camilla Jellinek, Marie Luise Gothein und andere Professorengattinnen engagieren sich in der bürgerlichen Frauenbewegung. Als Frauen „neuen Typs“ tragen sie dazu bei, 7 ein Klima kultureller Modernität mitzuprägen. Bunt und widersprüchlich sind auch die ästhetischen Szenen der Neckar8 stadt. Um den wohlhabenden Henry Thode sammeln sich begeisterte Anhänger Richard Wagners. Der Dichter Stefan George bildet seit Beginn der 1890er Jahren einen Kreis, in dem mit überkommenen katholischen Symbolen ein neuer bindender Mythos beschworen und kunstreligiös die Flucht aus der als seelenlos und kalt erlittenen Moderne inszeniert wird. Auch in anderen Heidelberger Zirkeln sind Kunst, Religion und Fundamentalpolitisches eng verknüpft. Junge Ostjuden kämpfen für eine sozialistische Revolution oder geben sich als Anarchisten. Orthodoxe Russen wollen die von okzidentaler Zweckrationalität erzeugte Sinnleere mit Hilfe eines neuen, theosophisch gedeuteten Messias überwinden. Der Pluralität im Geistigen und Ästhetischen korrespondiert eine – bisher kaum erforschte – große religiöse Vielfalt. Liberale Kulturprotestanten feiern auf ihren Kanzeln die Freiheit des einzelnen, den zentralen bürgerlichen Kulturwert, als legitime Folge der reformatorischen Überlieferung; exemplarisch genannt sei nur der Stadtpfarrer Otto Frommel, ein Schüler Ernst Troeltschs und Freund Marianne Webers, der für zahlreiche kulturprotestantische Familien im Universitätsmilieu die Rolle des Hausgeistlichen übernimmt – er tauft am 25. Oktober Zeitgenossen, Göttingen, Zürich 1988, S. 313–336, in diesem Band oben, S. 269–293; Heinz Eduard Tödt: Max Weber und Ernst Troeltsch in Heidelberg, in: Wilhelm Doerr (Hrsg.): Semper Apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386–1986. Festschrift in sechs Bänden, Band 3, Berlin u. a. 1985, S. 215–258. 7 Vgl. Ingrid Gilcher-Holtey: Modelle „moderner“ Weiblichkeit. Diskussionen im akademischen Milieu Heidelbergs um 1900, in: M. Rainer Lepsius (Hrsg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil 3: Lebensführung und ständische Vergesellschaftung, Stuttgart 1992, S. 176–205. Zu Marianne Weber und ihrer Ehe mit Max siehe: Christa Krüger: Max & Marianne Weber. Tag- und Nachtansichten einer Ehe, Zürich, München 2001. 8 Vgl. Stefan Breuer: Das Syndikat der Seelen. Stefan George und sein Kreis, in: Hubert Treiber, Karol Sauerland (Hrsg.): Heidelberg im Schnittpunkt intellektueller Kreise (wie Anm. 3), S. 328–377. Zu George und dem George-Kreis siehe auch: Wolfgang Braungart: Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur (Communicatio 15), Tübingen 1997; Reiner Kolk: Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises 1890–1945 (Communicatio 17), Tübingen 1998, bes. S. 337–348.

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1913 etwa Ernst und Marta Troeltschs Sohn Ernst Eberhard in der Ziegelhäuser Landstraße 17, wobei Max Weber als Taufpate fungiert, und beerdigt den 1910 zum Protestantismus konvertierten Georg Jellinek auf dem Heidelberger 9 Bergfriedhof. Im entschiedenen Gegensatz zu den Kulturidealen der liberalen Kulturprotestanten sehen sozialkonservative Lutheraner wie der 1891 nach Heidelberg berufene Systematische Theologe Ludwig Lemme im bourgeoisen Individualismus nur Sünde; die konservativen Kulturlutheraner beschwören deshalb Gemeinschaftswerte und wollen einen starken, autoritären Staat herbeipredigen, der im engen Bündnis mit der Kirche alle Staatsbürger wieder auf eine einheitliche, bindende christliche Moral verpflichten soll. Daneben existieren in Heidelberg mehrere religiöse Gesprächszirkel für sinnsuchende Bildungsbürger, eine jüdische Gemeinde, eine Untergrundszene russischer Juden und – für das Universitätsmilieu aber kaum prägend – römisch-katholische Kirchengemeinden. Dieser neue Pluralismus der Denk- und Lebensstile steht in scharfem Kontrast zu den Wertorientierungen der alten Konservativen, die es in Heidelberg um 1900 auch gibt. Bei den Reichstagswahlen 1898 wählen immerhin 22 Prozent die antisemitische Partei, und auch unter den Professoren finden sich einige wenige radikal konservative Kritiker bürgerlicher Liberalität, in der Theologischen Fakultät vor allem der schon genannte Antipode Ernst Troeltschs Ludwig Lemme. Widersprüchliche Vielfalt wird dadurch nur gesteigert: Avantgardistische Künstler neben den Anhängern Richard Wagners, revolutionstrunkene Jungsozialisten neben nationalliberalen Großordinarien, protestantische Jurastudenten in schlagenden Verbindungen neben ihren jüdischen Kommilitonen aus Osteuropa, junge Homosexuelle neben Predigern alter familiy values. Zur gelebten Pluralität tragen schließlich auch die vielen ausländischen Studenten bei. Für die damals in Heidelberg Studierenden sei exemplarisch der japanische Theologe Seiichi Hatano (1877–1950) genannt, der von 1904 bis 1906 in Berlin und Heidelberg evangelische Theologie und Philosophie studierte. An der Heidelberger Universität besuchte er Lehrveranstaltungen des Philosophen Wilhelm Windelband sowie Vorlesungen der Theologieprofessoren Adolf Deißmann, Johannes Weiß und Ernst Troeltsch. Gerade von Adolf Harnack, den er in Berlin gehört hatte, und von Ernst Troeltsch, an dessen Seminaren er teilnahm, scheint Hatano vielfältige Anregungen für seine historisch-kritische Theologie empfangen zu haben. Sein großes Buch „Vom Ursprung des Christentums“, das auf 1907 in Tokyo gehaltene Vorlesungen zurückgeht, läßt jedenfalls deutlich die Rezeption 10 deutscher historisch-kritischer Theologie erkennen. 9 Dazu siehe: Otto Frommel: Erinnerungen an Ernst Troeltsch, Heidelberger Tageblatt, Nr. 32, 7. Februar 1923, S. 3 f., jetzt in: TS 12, S. 294–298. 10 Vgl. Charles Hugh Germany: Protestant Theologies in Modern Japan, Tokio 1965; Friedrich

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Kulturelle Widersprüche können intellektuell stimulierend wirken. Verlieren überkommene Selbstverständlichkeiten an Plausibilität, muß man sich neu orientieren. Es bedarf dann neuer Verbindlichkeiten und Regeln des Zusammenlebens. „Kultur“ ist in den Heidelberger Diskussionen um 1900 deshalb ein zentraler Begriff. Intellektuellen wie Jellinek, Troeltsch und Weber ging es darum, in einer Zeit extrem schnellen sozialen Wandels Bilanz zu ziehen und neue tragfähige Orientierungen zu gewinnen. Dies zeigt sich zunächst in ihren historischen Arbeiten. Sie wollten nicht alte Gedächtnisgehalte konservieren oder Erinnerungsspeicher mit toten Stoffen füllen. Vielmehr fragten sie konsequent nach der „Kulturbedeutung“ geschichtlicher Überlieferungen und überkommener Institutionen. Dieser Begriff „Kulturbedeutung“ ist für die südwestdeutsche Schule des Neukantianismus in hohem Maße repräsentativ. Philosophisch wurde diese Schule vor allem durch Jellineks engen Studienfreund Wilhelm Windelband und durch Heinrich Rickert, einen Freiburger Freund Webers und später auch Freund Troeltschs, repräsentiert. Die beiden Philosophen bearbeiteten im Kern dieselbe Fragestellung wie Jellinek, Troeltsch und Weber: Was können die „Geisteswissenschaften“ oder „Kulturwissenschaften“ zur Bewältigung der Krise 11 der modernen Kultur beitragen? Diese Krise der Moderne war von den historisch arbeitenden Geisteswissenschaften mit erzeugt worden. Denn dem modernen historischen Bewußtsein galten alle überkommenen ethischen Normen als geschichtlich relativ und kulturell partikular. Durch historische Forschung hatten die Geisteswissenschaften feste Bestände unterminiert und jene „Krise des Historismus“ heraufgeführt, für die der Philosoph Wilhelm Dilthey 1903 die Formel von der „Anarchie der 12 Überzeugungen“ prägte. Die entscheidende Frage lautete deshalb: Können die Kulturwissenschaften neue „Kulturwerte“ begründen? Können sie neue verbindliche Normen mit überindividuell verbindlicher Geltungskraft festschreiben? Diese Frage stand im Zentrum der vielfältigen Diskussionen, die im Heidelberger Gelehrtenmilieu der Jahrhundertwende geführt wurden.

Wilhelm Graf: Max Weber und Ernst Troeltsch, in: Wolfgang J. Mommsen, Wolfgang Schwentker (Hrsg.): Max Weber und das moderne Japan, Göttingen 1999, S. 469–480, in diesem Band unten, S. 323–333; Friedrich Wilhelm Graf: Mehr Demokratie wagen – mit Troeltsch. Der Theologe der Kultur und seine Wirkung: Japans Kulturprotestanten erinnern sich ihrer Heidelberger Wurzeln, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 284, 6. Dezember 2000, S. N6. 11 Vgl. Guy Oakes: Die Grenzen kulturwissenschaftlicher Begriffsbildung, Frankfurt a. M. 1990. 12 Vgl. Wilhelm Dilthey: Rede zum siebzigsten Geburtstag (1903), in: ders.: Gesammelte Schriften, Band 5, hrsg. von Georg Misch, Leipzig, Berlin 1924, S. 7–9. Zu den Historismus-Diskursen in den deutschen Kulturwissenschaften um 1900 grundlegend: Otto Gerhard Oexle: Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne, Göttingen 1996.

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Kontroversen über die moderne okzidentale Kultur prägten um 1900 die Intellektuellendiskurse in allen europäischen Gesellschaften. Trotz des engen Austausches über nationalstaatliche Grenzen hinweg waren diese Debatten durch je besondere, zumeist lokale intellektuelle Konfigurationen geprägt. Für die Diskussionslage im Heidelberger Milieu sind vier Strukturelemente kennzeichnend. Erstens: Die Debatten über den okzidentalen Rationalismus, den modernen Historismus und die Suche nach neuen „Kulturwerten“ wurden hier mit einem entschiedenen Willen zu neuer interdisziplinärer Forschung geführt. Die innere Einheit der „Geistes-“ oder „Kulturwissenschaften“ blieb kein abstraktes akademisches Ideal, sondern prägte das intellektuelle Selbstverständnis der Beteiligten bis in den akademischen Alltag hinein. Gewiß verstanden sich Jellinek, Weber, Troeltsch und ihre Kollegen jeweils als Fachgelehrte und Spezialisten. Sie lehrten in unterschiedlichen Fakultäten und schrieben ihre wissenschaftlichen Werke jeweils für disziplinenspezifische Öffentlichkeiten. Immer betonten sie, daß der 13 moderne Wissenschaftler ein „Fachmensch“ und „Spezialist“ sein müsse. Aber das Pathos der hingebungsvollen Spezialisierung verbanden sie mit dem Mut zur interdisziplinären Problemstellung und Begriffsbildung. Intensiv nahmen sie die Arbeiten der jeweils anderen wahr und erschlossen sich so den Zugang zu den Fragen, Lösungen und Denkmustern anderer Fächer. Denn allen war die Komplexität der Frage nach der Entstehung und Entwicklung des modernen okzidentalen Rationalismus bewußt. Auch sahen sie, daß sich die umstrittene Frage wissenschaftlich begründeter Geltung von Kulturwerten nicht von einer Disziplin allein beantworten läßt. Deshalb begaben sie sich gemeinsam in das damals offene, noch nicht im Sinne einer bestimmten Disziplin abgegrenzte Feld der „Sozialwissenschaften“, „Soziallehre“, „Sozialethik“ oder „Soziologie“. Zweitens: Für das Heidelberger Diskussionsklima und die südwestdeutsche Schule des Neukantianismus war ein – im weiten Sinne des Begriffs – neoidealistischer Denkstil kennzeichnend. Positivistische Denktraditionen lehnte man ab. In vielen Details wurden gegensätzliche Meinungen vertreten, und auch auf die zentrale Frage nach der wissenschaftlichen Begründbarkeit von Kulturwerten gaben etwa Jellinek, Troeltsch und Weber unterschiedliche Antworten. Aber die Heidelberger liberalen Gelehrten stimmten darin überein, daß Immanuel Kant 13 Die klassischen Formulierungen finden sich bei Max Weber in „Wissenschaft als Beruf“: „In der heutigen Zeit ist die innere Lage gegenüber dem Betrieb der Wissenschaft als Beruf bedingt zunächst dadurch, daß die Wissenschaft in ein Stadium der Spezialisierung eingetreten ist, wie es früher unbekannt war, und daß dies in alle Zukunft so bleiben wird. Nicht nur äußerlich, nein, gerade innerlich liegt die Sache so: daß der einzelne das sichere Bewußtsein, etwas wirklich ganz Vollkommenes auf wissenschaftlichem Gebiet zu leisten, nur im Falle strengster Spezialisierung sich verschaffen kann. [. . .] Eine wirklich endgültige und tüchtige Leistung ist heute stets: eine spezialistische Leistung“ (MWG I/17, S. 71–111, hier S. 80).

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zu lesen wichtiger als Comte-Lektüre sei. Darin sollte man keinen deutschen Provinzialismus sehen, denn für das Heidelberger Diskussionsklima war gerade eine prononcierte Internationalität kennzeichnend. Drittens: Intensiv diskutierten die Heidelberger Intellektuellen über die „Kulturbedeutung“ der Religion. Dies hängt eng zusammen mit ihrer intellektuellen Frontstellung gegen „Materialismus“ und „Positivismus“. In den positivistischen Denktraditionen, vor allem Frankreichs, war alter religiöser Glaube als irrational verworfen worden. Viele französische Intellektuelle konstruierten, etwa im Sinne von Comtes Dreistadiengesetz, Überwindungsmodelle: In der Moderne werde religiöser Glaube durch die Vernunft ersetzt, die nun selbst zur Religion werden müsse und dann das Fundament von Moral und politischer Gemeinschaft bilde. Auch die marxistisch inspirierten Theoretiker des „Historischen Materialismus“ wollten Religion kritisch destruieren. Sie sahen in ihr eine Ideologie, mit der die jeweils Herrschenden ihre Herrschaft zu legitimieren und stabilisieren versuchten. Religion sollte als ideologischer Reflex ökonomischer Verhältnisse entlarvt oder als „Überbau“ aus der „Basis“ der ökonomisch determinierten Klassenverhältnisse hergeleitet werden. Demgegenüber insistierten die Heidelberger Kulturwissenschaftler auf einer relativen Autonomie der Religion als einer „Kulturpotenz“ sui generis. Religiöser Glaube entfalte auch unter modernen Bedingungen starke Prägekräfte. Er bestimme die Lebensführung von Menschen, präge ihren Habitus und wirke auch auf Sphären der Kultur ein, die vom Religiösen im engeren Sinne weit entfernt lägen. Deshalb fragten die Heidelberger nach möglichen Wechselwirkungen zwischen dem christlichen Personalismus (oder bestimmten konfessionellen Ausprägungen des Christentums) und dem okzidentalen Rationalismus, untersuchten die Lage der Religion in der Gegenwart und dachten über die Zukunft der Religion im weiteren Fortgang gesellschaftlicher Modernisierung nach. Vor allem Max Weber dramatisierte die Spannungen zwischen einer religiös begründeten „Gesinnungsethik“ und den „Eigengesetzlichkeiten“ anderer Kultursphären, wohingegen Troeltsch – der die häufig auf Weber zurückgeführte begriffliche Opposition von „Gesinnungsethik“ und „Verantwortungsethik“ schon vor dem Freunde entfaltete! – im Medium von Analysen der Geschichte des christlichen Ethos nach Potentialen der Vermittelbarkeit von religiöser Ethik und moderner Kultur suchte. Intensiv las man die russischen Heiligen eines unbedingten, tendenziell weltflüchtigen bzw. akosmi14 stischen Radikalglaubens, vor allem Tolstoi und Dostojewski.

14 Viele autobiographische Erinnerungen zu den Religionsdiskursen seiner Heidelberger Lehrer hat der Historiker und Soziologe Paul Honigsheim, ein gemeinsamer Schüler Jellineks, Troeltschs und Webers, kurz vor seinem Tode aufgezeichnet. Mehrfach betont er die große Rolle, die die

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Auch wurden die neuen Propheten antibürgerlicher Subjektivität wie Søren Kierkegaard, Friedrich Nietzsche und Franz Overbeck immer wieder studiert. Seit spätestens 1909 begannen Troeltsch und Weber, sich intensiv auch mit der „Kulturbedeutung“ des antiken Judentums zu beschäftigen. Unter dem Eindruck der modernen Religionswissenschaften gewann die Frage nach der normativen Geltungskraft des Christentums gegenüber den anderen Weltreligionen eigenes Gewicht. Die großen Religionen wurden auf die ihnen immanenten Ethosformen und Potentiale zur Rationalisierung der Lebensführung hin analysiert. Besondere Aufmerksamkeit galt neben dem Christentum dabei dem antiken Judentum, in dessen Propheten man exemplarische Repräsentanten eines hoch elaborierten Ideals autonomer Persönlichkeit sah. Bei einigen Heidelbergern war das starke Interesse an der gesellschaftlichen Rolle der Religion auch von subjektiven religiösen Hintergrundgewißheiten mitgeprägt. Die meisten kamen aus liberalprotestantischen Lebenswelten und orientierten sich an den sozialmora15 lischen Normen des deutschen Kulturprotestantismus. Andere, wie Jellinek, kamen aus der jüdischen Religionsgemeinschaft, mit der sie teils sich sehr stark identifizierten, teils aber – so jedenfalls Georg Jellinek – nicht mehr viel identitätsverbürgenden Lebenssinn zu verbinden vermochten. Aber es ist sehr schwer zu sagen, ob und wie die individuellen religiösen Herkunftsgeschichten die wissenschaftliche Wahrnehmung von Religion mitprägten. Einig waren sich liberale Protestanten und liberale Reformjuden in der prononcierten Ablehnung autoritärer Formen der Religion: So duldete man keine Katholiken unter sich, weil man den römisch-katholischen Klerikalismus von vornherein für restaurativ und unmodern hielt. Auch die konservativen Protestanten lehnte man ab. Viertens: Wer um 1900 über moderne Kultur, okzidentalen Rationalismus, kapitalistische Industrialisierung und religiösen Glauben nachdachte, thematisierte (zumindest implizit) immer auch Grundprobleme der politischen Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft. Weber, Troeltsch, Jellinek und anderen liberalen Heidelbergern war diese fundamentalpolitische Dimension ihrer Fragestellungen bewußt. Sie redeten viel über Politisches und griffen bei allen möglichen gesellschaftlichen Streitfragen gern zur Feder. Einige übernahmen politische VerLektüre Dostojewskis und Tolstois für das Christentumsverständnis Webers und Troeltschs gespielt habe: Paul Honigsheim: Erinnerungen an Max Weber, in: René König, Johannes Winckelmann (Hrsg.): Max Weber zum Gedächtnis. Materialien und Dokumente zur Bewertung von Werk und Persönlichkeit, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 7 (1963), S. 161–271, bes. S. 238 u. ö. 15 Dazu siehe: Friedrich Wilhelm Graf: Kulturprotestantismus. Zur Begriffsgeschichte einer theologiepolitischen Chiffre, in: Archiv für Begriffsgeschichte 28 (1984), S. 214–268; Gangolf Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland, Tübingen 1994.

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antwortung, indem sie in eine Partei eintraten, in öffentlichen Versammlungen sprachen oder sich – wie beispielsweise Troeltsch – in den Heidelberger Stadtrat wählen und in den Vorstand der badischen Nationalliberalen kooptieren ließen. In vielen politischen Fragen waren Jellinek, Weber, Troeltsch und andere Vertreter des Heidelberger Gelehrtenmilieus unterschiedlicher Meinung. Troeltsch und Jellinek urteilten bezüglich der Parlamentarisierung des Reiches, d. h. mit Blick auf die konsequente Verantwortung der Reichsregierung gegenüber dem Reichstag, sehr viel behutsamer, monarchischer als Weber. Aber sie konnten ihre Gegensätze im Rahmen eines elementaren Grundkonsenses austragen: Man war kulturliberal, setzte auf eine (im einzelnen dann kontrovers diskutierte) freiheitliche Modernisierung der autoritären Verfassungsordnung des Kaiserreiches, trat für internationale Verständigung ein und wollte die politisch ausgegrenzte Sozialdemokratie integrieren. Dabei gewann die Auseinandersetzung mit der „westlichen“ politischen Theorie Großbritanniens und der USA großes Gewicht. Wilhelm Windelband hat Georg Jellinek und seine Freunde als „Virtuosen 16 der Wechselwirkung“ charakterisiert. Diese Formulierung ist gerade für den engen freundschaftlichen Austausch zwischen Weber, Troeltsch und Jellinek kennzeichnend. Natürlich waren an ihren Gesprächen häufig noch andere Gelehrte beteiligt, teils Heidelberger Kollegen, teils aus anderen Universitätsstädten kommende Freunde und Kollegen wie etwa Heinrich Rickert, Georg Simmel, Hermann Graf Keyserling oder Martin Buber. Auch konnten die Heidelberger bei mehreren großen internationalen Kongressen, die zwischen 1900 und 1914 in der Neckarstadt stattfanden, zahlreiche Kontakte zu prominenten Gelehrten aus dem europäischen Ausland und aus den USA knüpfen. Unter der Leitung Wilhelm Windelbands fand im Heidelberger „Weltdorf“ (Camilla Jellinek) 1908 beispielsweise der „III. Internationale Kongreß für Philosophie“ statt, der erste internationale philosophische Kongreß auf deutschem Boden. Troeltsch, der als Exprorektor ebenso wie Marianne Weber – sie war für das Frauenprogramm verantwortlich – dem Organisationskomitee angehörte, begrüßte in Vertretung des erkrankten Jellinek die ausländischen Gäste, zu denen so einflußreiche Philo17 sophen wie Josiah Royce, Benedetto Croce und Émile Boutroux gehörten. Auch empfingen Heidelbergs liberale Gelehrte immer wieder jüngere Intellektuelle aus diversen europäischen Ländern.

16 Wilhelm Windelband: Zum Geleit, in: Georg Jellinek: Ausgewählte Schriften und Reden, Band 1, Berlin 1911, S. V–XII, hier S. VI. 17 Siehe: Ansprache des Exprorektors Geh. Kirchenrates Professor Dr. Troeltsch, in: Theodor Elsenhans (Hrsg.): Bericht über den III. Internationalen Kongreß für Philosophie zu Heidelberg 1. bis 5. September 1908, Heidelberg 1909, S. 42 f.

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Aber es macht aus methodischen Gründen guten Sinn, in den komplexen Interaktionsnetzen des Heidelberger Gelehrtenmilieus Jellinek, Weber und Troeltsch idealtypisch zu isolieren. Denn ihr intellektueller Austausch war besonders intensiv. Die Auseinandersetzung mit den USA, dem Land der protestantischen Sekten, der liberalen Demokratie und des modernen Kapitalismus, spielte dabei eine entscheidende Rolle.

II. Georg Jellinek, oder: die religiösen Wurzeln der modernen Menschenrechte 1892 veröffentlichte Georg Jellinek im Freiburger Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) sein erstes großes Hauptwerk, das „System der subjektiven öffentlichen 18 Rechte“. Sein „Lieblingsbuch“ beinhaltete implizit ein politisches Reformpro19 gramm. Die konservative Mehrheit der deutschen Staatsrechtslehrer hatte, häufig mit Bezug auf die Ständeethiken des deutschen Luthertums, Modelle eines starken Staates entworfen. Je mehr sie die Autorität des Monarchen betonten und eine Eigenwürde staatlicher Institutionen feierten, desto weniger konnten sie subjektive Rechtsansprüche der Bürger gegenüber dem Staat denken. Entweder definierten sie solche Rechtsansprüche ganz minimalistisch, oder sie lehnten sie im Einzelfall überhaupt ab. Jellinek wollte demgegenüber die Position des Bürgers gegenüber dem Staat stärken. Er dehnte den Geltungsbereich subjektiver öffentlicher Rechte gegenüber der konservativen Überlieferung des Faches aus und verband dies mit einer freiheitlichen Zukunftserwartung. Dies ist eine klassisch liberale Utopie: Historischer Fortschritt wird als Expansion rechtlich garantierter Freiheitschancen des einzelnen imaginiert. Dieser Fortschritt ist gemeineuropäisch und tendenziell menschheitlich gedacht. Es gehört für Jellinek zur besonderen Signatur der Moderne, daß der einst zu passivem Gehorsam verurteilte Untertan vom Staat als freier und partizipationsfähiger Bürger anerkannt wird. Dank seiner Herkunft aus der Welt des gebildeten Reformjudentums war Georg Jellinek philosophisch ungleich gebildeter als viele andere Staatsrechtler der Zeit. Hochreflektiert nahm er die Folgeprobleme der historistischen Denkrevolution wahr. Der Inhaber eines „Lehrstuhls für Staatsrecht, Völkerrecht und Politik“ konnte subjektive öffentliche Rechte nicht einfach einklagen, er mußte sie begründen. Traditionell hatten Aufklärer und Liberale dies geleistet, indem

18 Georg Jellinek: System der subjektiven öffentlichen Rechte, Freiburg i. Br. 1892. 19 Vgl. Klaus Kempter: Die Jellineks 1820–1955 (wie Anm. 2), S. 309 f.

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sie dem Menschen eine vorstaatliche Rechtssubjektivität (oder Würde) zuerkannten und den Staat als Produkt eines Gesellschaftsvertrages freier Individuen dachten. Jellinek konnte sich diese Form der Begründung individueller Freiheitsrechte nicht zu eigen machen. Denn als reflektierter Historist wußte er, daß die von den Aufklärern und Frühliberalen behauptete zeitlose Geltung des Naturrechts nur Schein ist. Denn auch die vermeintlich ewige Vernunft unterliegt den Bedingungen geschichtlicher Relativität. Sie bleibt an Ort und Zeit gebunden und gilt nicht allgemein, sondern nur relativ, in bestimmten kulturellen Zusammenhängen. Wie lassen sich starke Freiheitsrechte des einzelnen dann überhaupt begründen? Aus staatlich positiver Rechtssetzung konnte Jellinek sie nicht zureichend herleiten. Zwischen der Scylla eines Naturrechtsdogmatismus und der Charybdis eines Rechtspositivismus suchte er einen Mittelweg zu gehen, der seinen historistischen Grundeinsichten entsprach: Er wollte die Geltung subjektiver öffentlicher Rechte stärken, indem er ihre Genesis rekonstruierte. Die Freiheitsrechte des einzelnen sollten durch Vergegenwärtigung ihrer Geschichte Plausibilität gewinnen. Nach dem unerwartet frühen Tode Jellineks am 12. Januar 1911 gab sein Sohn Walter noch im selben Jahr zwei stattliche Bände mit „Ausgewählten Schrif20 ten und Reden“ des Vaters heraus. Camilla Jellinek bat Ernst Troeltsch als 21 „Freund“ darum, in der von Carl Samuel Grünhut (einem alten Wiener Freunde Georg Jellineks) herausgegebenen „Zeitschrift für das Privat- und Öffentliche Recht der Gegenwart“ die beiden Bände zu besprechen und dabei ein „Gesamt22 bild der wissenschaftlichen und menschlichen Persönlichkeit“ zu entwerfen . Camilla Jellineks Bitte verdankte sich nicht nur der freundschaftlichen Sympathie Troeltschs mit dem vierzehn Jahre älteren Gelehrten, sondern spiegelt auch die starke Stellung, die sich der Theologe im „akademischen Feld“ (Pierre Bourdieu) über die Grenzen seiner Fakultät und der Heidelberger Universität hinaus erworben hatte. Schon unmittelbar nach dem Tode ihres Mannes äußerte

20 Georg Jellinek: Ausgewählte Schriften und Reden, 2 Bände, Berlin 1911. 21 Ernst Troeltsch sprach Jellinek in einem der wenigen überlieferten Briefe als „Freund“ an. Vgl. den Brief Troeltschs an den schwer erkrankten, vom Schlaganfall gezeichneten Jellinek vom 1. Januar 1910: „Lieber Freund! Sie sind mir zuvorgekommen, als ich dann die Feder ansetzen wollte, Ihnen zu schreiben, Sie können sich ja denken, daß meine Gedanken u[nd] Wünsche viel bei Ihnen sind u[nd] Ihnen von der Ruhe u[nd] Sonnigkeit des Südens gründliche Besserung erhoffen. Ich habe Ihre Kinder mehrmals auf der Straße getroffen u[nd] gefragt u[nd] dabei im Ganzen zunehmend günstige Nachrichten erhalten“ (Bundesarchiv Koblenz, NL 1136, Nachlaß Georg Jellinek, Nr. 34, „Nicht identifizierte Briefe [unleserliche Handschrift]“). 22 Ernst Troeltsch: [Rez.] Georg Jellinek: Ausgewählte Schriften und Reden, 2 Bände, Berlin 1911, in: Zeitschrift für das Privat- und Öffentliche Recht der Gegenwart 39 (1912), S. 273–278, hier S. 273, jetzt in: KGA 4, S. 639–645, hier S. 639.

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Camilla Jellinek gegenüber dem Pharmakologen Rudolf Gottlieb den Wunsch, nur dann einer akademischen Trauerfeier für Georg Jellinek zustimmen zu wol23 len, wenn Troeltsch die Gedenkrede halte. Dazu kam es allerdings nicht, weil der Kirchenhistoriker Hans von Schubert als Prorektor einer Trauerfeier mit dem Argument skeptisch gegenüberstand, sie sei unüblich; obendrein werde die Wahl 24 Troeltschs als Redner zu Verstimmungen bei den Juristen führen. Doch belegt der Vorgang zweierlei: Camilla Jellinek und ihre Kinder begegneten Troeltsch mit großem Vertrauen. Sie sahen nicht in Wilhelm Windelband, mit dem Georg Jellinek schon seit den gemeinsamen Studententagen befreundet war, sondern in dem Systematischen Theologen den geeigneten Deuter von Leben und Werk des Staatsrechtlers. Auch Troeltsch betonte in der Besprechung der beiden Bände von Jellineks „Ausgewählten Schriften und Reden“ seine Nähe zum älteren Freunde: Er habe in „langjährigem freundschaftlichem Verkehr mit dem unvergeßlichen Manne 25 manchen Einblick in sein geistiges Wesen getan“. Dank intimer Kenntnis von Jellineks Werken konnte er den inneren Zusammenhang von Jellineks juristischen Publikationen, historischen Arbeiten, philosophischen Texten und populärwissenschaftlichen Vorträgen ungleich präziser als andere Verfasser von Nachrufen auf Jellinek sichtbar machen. Der Staatsrechtler, so Troeltsch, sei

23 Dies geht aus einem Brief Rudolf Gottliebs an Camilla Jellinek vom 13. Januar 1911 hervor, in dem er der Freundin von einem entsprechenden Gespräch mit dem Kirchenhistoriker Hans von Schubert berichtet; Hans von Schubert hatte damals das Amt des Prorektors inne: „Ich fand Schubert zu meiner Freude Ihrem Gedanken, Troeltsch um die Würdigung Ihres Mannes in einer Gedenkrede zu bitten, nicht abgeneigt, nur meinte er, daß man Mißverständnisse über die Haltung Ihres Mannes zu seiner Fakultät vorzubeugen, dann auch noch einen Juristen als zweiten Redner haben müßte“ (Bundesarchiv Koblenz, NL 1136, Nachlaß Georg Jellinek, Nr. 9, Korrespondenz G). 24 Auf dem Briefpapier der Universität schrieb Hans von Schubert am 18. Januar 1911 an Camilla Jellinek: „Wenn ich richtig informiert bin, entspricht an sich eine solche Nachfeier Ihren Gefühlen nicht, Sie würden sich aber dem Usus, falls dieser sie verlangt, fügen, nur dass Sie dann am liebsten sähen, wenn Troeltsch gebeten würde“. Dann bringt von Schubert mehrere Gründe gegen eine solche akademische Trauerfeier vor, obgleich er selbst ursprünglich an einen Erinnerungsakt gedacht hatte: Eine Trauerfeier sei an der Heidelberger Universität ein seltener Brauch, und viele Kollegen hätten Jellinek bereits in ihren Vorlesungen gewürdigt. „Es würde unmöglich sein (ohne gegen den Usus, dem Sie doch gern folgen möchten, direkt zu handeln), den eigentlichen Fachvertreter Fleiner zu umgehen und sogar zu einer anderen Fakultät zu greifen. Es würde zweifellos einen unerwünschten Eindruck hinterlassen – zumal Fleiner die staatsrechtliche Vorlesung Ihres Gatten weiterführt. Es würde auch schwierig sein, Fleiner das Juristische, Troeltsch das Philosophische zu übergeben, da beides untrennbar zusammenhängt, ganz abgesehen davon, dass es ohne Kränkung von Windelband leider nicht wohl möglich wäre, die philosophische Würdigung nicht ihm, sondern Troeltsch anzuvertrauen“ (Bundesarchiv Koblenz, NL 1136, Nachlaß Georg Jellinek, Nr. 25, Korrespondenz S). 25 Ernst Troeltsch: [Rez.] Georg Jellinek (wie Anm. 22), S. 273, jetzt in: KGA 4, S. 639.

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in philosophische Reflexionen und historische Forschungen hineingetrieben worden, weil er gesehen habe, daß sich die Geltung juristischer Normen nicht allein mit den Mitteln der juristischen Vernunft begründen lasse. Er habe die „rechtliche Geltung als nicht bloß positive und tatsächliche, sondern als wirklich innerlich notwendige und aus dem Wesen des Menschen fließende [. . .] begreifen“ wollen. „In dieser Hinsicht war er der Grundtendenz des Naturrechts verwandt, das er nach der andern Seite hin sowohl historisch als juristisch in seiner völligen Unmöglichkeit erkannte. Er strebte nach einer einheitlichen, der modernen Kultur entsprechenden und mit ihr positiv geschichtlich begründeten, aber doch zugleich eine Vernunftforderung der historischen Lage erfüllenden 26 Rechtsauffassung.“ An genau diesem Punkte habe Jellinek, so Troeltsch, systematische Jurisprudenz in historische Forschung überführen müssen: „Er hat im Fluß des historischen Werdens und aus dem Historisch-Gewordenen heraus das 27 Normative auf rechtlichem Gebiet zu entwickeln gestrebt“. Um die subjektiven Rechte der einzelnen gegenüber staatlicher Souveränität zu stärken, mußte die Genesis des modernen politischen Individualismus und seiner verfassungsrechtlichen Wirkungen rekonstruiert werden. Jellineks 1895 veröffentlichtes berühmtes Büchlein über „Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte“ erfüllte nun genau diese Aufgabe und stellt somit die notwendige Konsequenz des „Systems der subjektiven öffentlichen 28 Rechte“ dar. In den verfassungshistorischen Debatten des 19. Jahrhunderts waren die modernen Menschenrechte immer auf die Déclaration des droits de l’homme et du citoyen der revolutionären Constituante von 1789 zurückgeführt worden. Als deren prägender ideengeschichtlicher Hintergrund galten die radikale französische Aufklärungsphilosophie und Rousseaus „Contrat social“. Jellinek hielt dies für falsch, sah er in Rousseaus Lehre von der Volkssouveränität doch keine Quelle des modernen Individualismus, sondern, genau umgekehrt, nur die Rechtfertigung eines absolut gesetzten Volkswillens, der keine prinzipielle Selbständigkeit des einzelnen anerkennen könne. Der Heidelberger Verfassungshistoriker führte die Erklärungen der französischen Revolutionäre vielmehr auf deren, so Jellinek, unmittelbare juristische Vorläufer, die Menschenrechtsdeklarationen der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung und hier insbesondere die Bill of Rights

26 Ebd., S. 274, jetzt in: KGA 4, S. 640. 27 Ebd., S. 278, jetzt in: KGA 4, S. 644. 28 Georg Jellinek: Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte (Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen 1,3), Leipzig 1895. Im folgenden wird nach der Neuausgabe zitiert: Georg Jellinek: Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte, Schutterwald/Baden 1996.

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des Staates Virginia, zurück. Durch subtile Textanalysen suchte er zunächst die Abhängigkeit der französischen Erklärungen von den nordamerikanischen Urkunden zu beweisen. Die selbst gestellte Aufgabe, mit Blick auf die Genesis des modernen Rechtsindividualismus dessen Geltungskraft zu stärken, war damit jedoch erst unzureichend erfüllt. Wie hatten die amerikanischen Revolutionäre den Willen gewonnen, ewige Rechte des einzelnen zum positiven Recht des Staates zu machen? Jellinek führte dies wiederum auf die heftigen religionspolitischen Auseinandersetzungen zurück, die seit den Pilgrim Fathers die Gründung und Entwicklung der Kolonien entscheidend geprägt hatten: den Streit um die Sicherung der Religionsfreiheit. Jellinek erklärte die Freiheit des religiösen Gewissens zum Ursprung und Kernbestand aller Menschenrechte. Dieses Ur-Grundrecht hätten vor allem jene Puritaner erkämpft, die England wegen der dortigen religiösen Intoleranz einst verlassen hatten. Jellinek faßte seine Doppelthese – die amerikanischen Verfassungen als Modell für Frankreich; und: religiöse Freiheit als Quelle politischer Freiheitsrechte – in einer inzwischen berühmten Formulierung zusammen: „Die Idee, unveräußerliche, angeborene, geheiligte Rechte des Individuums gesetzlich festzustellen, ist nicht politischen, sondern religiösen Ursprungs. Was man bisher für ein Werk der Revolution ge30 halten hat, ist in Wahrheit eine Frucht der Reformation und ihrer Kämpfe.“ Der Sohn eines liberalen Rabbiners hatte im kulturprotestantisch dominierten Heidelberg die politisch-kulturelle Produktivkraft der reformatorischen libertas christiana entdeckt. Im Schlußteil seiner Abhandlung bot er dafür noch eine andere, politisch-historische Begrifflichkeit an. Die Stärke von Freiheitstraditionen in Großbritannien führte er darauf zurück, daß auf der Insel „das römische Recht“ alte „germanische Rechtstraditionen“ weniger stark überlagert habe als auf dem Kontinent. England erschien so als ein Hort der germanisch geschichtlichen (und nicht: römisch naturrechtlichen, abstrakten) Rechtsanschauung. In der römischen Tradition werde „der gesamte Rechtskreis des Individuums (als) Produkt staatlicher Gewährung und Erlaubnis“ gedacht. Im germanischen Rechtskreis aber gelte: Der Staat „beläßt dem Individuum jenes Maß von Freiheit, das er im Gesamtinteresse nicht benötigt. Diese Freiheit aber schafft er 31 nicht, sondern er erkennt sie nur an.“ Spätestens jetzt konnten die Heidelberger nationalliberalen Kulturprotestanten Jellinek als einen der ihren feiern. Seine Geschichtssicht war milieukonform: Wahre Freiheit stammt aus tiefen germanischen Quellen und wird von Protestanten zur Grundlage des Verfassungsrechts

29 Vgl. Georg Jellinek: Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (wie Anm. 28, Neuausgabe), S. 74 f. 30 Ebd., S. 90. 31 Ebd., S. 110.

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gemacht. Politisch gelesen bedeuteten Jellineks historische Ableitungen, sich für die Liberalisierung des Kaiserreichs nicht am Vorbild der französischen Dritten Republik, sondern an genuin „germanischen“ deutschen Traditionen zu orientieren, wie sie in Großbritannien und den USA gepflegt worden seien. Der Kunsthistoriker Carl Neumann, ein Schüler Jacob Burckhardts, der von 1894 bis 1903 als Privatdozent und Extraordinarius sowie von 1911 bis 1929 als Ordinarius in Heidelberg Kunstgeschichte lehrte und sehr eng mit Ernst Troeltsch befreundet war, brachte in einem Nachruf auf Troeltsch Jellineks Beitrag zur Heidelberger Diskussionslage um 1900 auf die Formel: „Da hatte Jellinek durch seine Entdeckung der Priorität der independentistischen Neu-Englandstaaten in der Prägung der Menschenrechte eine übereinkömmliche Fabel gallischen 32 Stolzes zerstört“.

III. Max Weber, oder: die Faszinationskraft des amerikanischen Kapitalismus Jellineks Thesen provozierten heftige literarische Debatten und führten zu scharfer Kritik vor allem von Seiten französischer Gelehrter, die die heiligen Ge33 schichtsbilder revolutionsfrommer Laizisten bestürmt sahen. Diese Debatte ist hier nicht darzustellen. Es geht um die Frage, wie Jellineks Thesen von Troeltsch und Weber aufgenommen wurden. Beide setzten sich sehr intensiv mit der sogenannten „Jellinek-These“ auseinander und gaben dem älteren Freund zumindest partiell recht. Die beiden Jüngeren ließen sich dazu inspirieren, sich stärker noch als bisher schon mit den politischen und sonstigen kulturellen Folgewirkungen von Reformation und Protestantismus auseinanderzusetzen. Die religiösen und intellektuellen Traditionen Großbritanniens und der USA spielten dabei eine 34 wichtige Rolle. Wenige Wochen nach Jellineks Tod fand am 21. März 1911 die Hochzeit seiner Tochter Dr. Dora Busch statt. Bei der Familienfeier ergriff Max Weber das Wort zu einer Tischrede, in der er sensibel den verstorbenen Freund charakterisierte. Dankbar bekannte Weber sich hier zu den „wesentlichste[n] Anregungen“, die er aus Jellineks „großen Arbeiten“ erhalten habe. „Um nur einige Einzelheiten zu berühren: die Scheidung naturalistischen und dogmatischen Denkens 32 Carl Neumann: Zum Tode von Ernst Troeltsch, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1 (1923), S. 161–171, jetzt in: TS 12, S. 465–473. 33 Vgl. z. B. Émile Boutmy: La Déclaration des droits de l’homme et du citoyen et M. Jellinek (1902), in: ders.: Études politiques, Paris 1907, S. 119–182. 34 Vgl. dazu Friedrich Wilhelm Graf: Fachmenschenfreundschaft (wie Anm. 6), S. 328, in diesem Band oben, S. 284.

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im ‚System der subjektiven öffentlichen Rechte‘ für methodische Probleme, die Prägung des Begriffs der ‚sozialen Staatslehre‘ für die Klärung der verschwimmenden Aufgabe der Soziologie, der Nachweis religiöser Einschläge in der Genesis der ‚Menschenrechte‘ für die Untersuchung der Tragweite des Religiösen 35 überhaupt auf Gebieten, wo man sie zunächst nicht sucht.“ Diese triadische Formulierung ist von großer Aussagekraft. Sie läßt erkennen, daß Jellinek sowohl Webers methodologische Schriften als auch seine Politische Soziologie und seine Religionssoziologie mitbeeinflußt hat. Gangolf Hübinger, ein intimer Kenner des Heidelberger Gelehrtenmilieus, hat vor einiger Zeit gezeigt, daß sich Weber in seiner sogenannten „Staatssoziologie“ sehr viel stärker auf Jellineks 36 Begrifflichkeit bezogen hat, als bis dahin bekannt war. Aus dem zweiten Buch von Jellineks 1900 erschienener „Allgemeiner Staatslehre“, der „Allgemeinen Soziallehre des Staates“, übernimmt Weber den Begriff des „Idealtypus“, den er dann mit neuem Gehalt füllt. Auch macht er sich andere Begriffe und Grundunterscheidungen Jellineks zu eigen. Für unser Thema ist entscheidend, daß Jellinek Max Weber zudem den Zugang zur britischen und amerikanischen political science vermittelte, auch durch das Ausleihen zahlreicher Bücher aus seiner 37 großen Privatbibliothek. Jellinek versuchte Weber zudem Kontakte zu amerikanischen Politikwissenschaftlern zu vermitteln, die ihn in Heidelberg besuchten. Auch die USA-Reise, die Max Weber gemeinsam mit seiner Frau Marianne, dem Philosophen Paul Hensel und Ernst Troeltsch im Sommer 1904 unternahm und die ihn unter anderem zu seinem berühmten Aufsatz über „Kirchen und Sekten“ 38 inspirierte, verdankt sich entscheidend der Förderung durch Jellinek. Aufgrund seiner schweren Krankheit hatte Weber 1903 seinen Lehrstuhl aufgeben müssen. Auch glaubte er zunächst, die Strapazen einer Reise zum großen internationalen „Congress of Arts and Sciences“ in St. Louis nicht auf sich nehmen zu können. Jellinek sorgte im Juli 1903 dafür, daß Weber, der inzwischen wieder

35 Max Webers Tischrede bei der Hochzeitsfeier von Dora Jellinek findet sich in: Marianne Weber: Max Weber. Ein Lebensbild, Tübingen 1926, S. 481–486, hier S. 484. 36 Vgl. Gangolf Hübinger: Staatstheorie und Politik als Wissenschaft im Kaiserreich: Georg Jellinek, Otto Hintze, Max Weber, in: Hans Maier u. a. (Hrsg.): Politik, Philosophie, Praxis. Festschrift für Wilhelm Hennis, Stuttgart 1998, S. 143–161. 37 Darauf hat Johannes Winckelmann hingewiesen: Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Erläuterungsband von Johannes Winckelmann, 5., rev. Aufl., Tübingen 1976, S. 236. 38 Max Weber: „Kirchen“ und „Sekten“ in Nordamerika. Eine kirchen- und sozialpolitische Skizze, in: Die Christliche Welt 20 (1906), S. 558–562 und S. 577–583, wiederveröffentlicht unter dem Titel: Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 1. Band, Tübingen 1988, S. 207–236.

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„arbeitskräftig“ war, nach St. Louis eingeladen wurde. Mit großer Begeisterung und Tatkraft nahm Weber die Strapazen der Reise auf sich. Seine intensiven, widersprüchlichen Reiseeindrücke bündelten sich in der Einsicht, daß die USA das Land der radikalen Modernität repräsentierten, die im Vergleich zu den europäischen Gesellschaften und insbesondere Deutschland ungleich entwicklungsfähigere, freiheitlichere Gesellschaft, die ihre Kraft und Dynamik zu einem erheblichen Teil aus ihrem religiösen Pluralismus beziehe. Für Webers Sicht der anglo-amerikanischen Kultur wurde neben den vielfäl40 tigen Kontakten nach Großbritannien und den Primärerfahrungen der großen USA-Reise noch eine weitere Anregung bestimmend: Seine Lektüre von Jellineks Büchlein über die Menschenrechte gehört in die Vorgeschichte der Arbeit an 41 der Abhandlung „Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus“. Dabei geht es weniger um Einzelheiten des Geschichtsbildes als vielmehr um das methodische Programm: So wie Jellinek ungewollte politische Wirkungen einer religiösen Freiheitsidee zeigte, wollte Weber für die Genese kapitalistischer Zweckrationalität, also für das Gebiet ökonomischer Mentalität, religiöse Wurzeln identifizieren. In einer faszinierend komplexen psycho- oder mentalitätshistorischen Analyse suchte er den Nachweis zu führen, daß jener Habitus, der ursprüngliche Kapitalakkumulation provoziert habe, dank der „innerweltlichen Askese“ puritanischer Berufsmenschen entstanden und diese Haltung strengster Askese wiederum aus spezifisch calvinistischen religiös-theologischen Motiven gebildet worden war. Trotz der enormen historischen Forschungen, die Weber – und später auch Troeltsch – unternahmen, um sich die religiöse Gedankenwelt des Calvinismus und insbesondere Puritanismus zu erschließen, ging es in der Rekonstruktion der religiösen Wurzeln des „Geistes des Kapitalismus“ nicht bloß um Geschichtsschreibung. Die Konstruktion historischer Idealtypen diente immer auch der Gegenwartsanalyse: Weber sah im okzidentalen Kapitalismus die entscheidende Macht der Gegenwart, die das Leben moderner Fachmenschen bis in die letzten Winkel ihrer Seele hinein bestimme. Die USA faszinierten ihn, weil hier der Kapitalismus schon ungleich fortgeschrittener 39 Brief Georg Jellineks an Hugo Münsterberg vom 27. Juli 1903 (Boston Public Library, Hugo Münsterberg Papers, Ms. Acc. 2499 B). 40 Dazu siehe: Guenther Roth: Weber the Would-Be Englishman: Anglophilia and Family History, in: Hartmut Lehmann, Guenther Roth (Hrsg.): Weber’s „Protestant Ethic“. Origins, Evidence, Contexts (Publications of the German Historical Institute, Washington, D. C.), Cambridge, New York, Melbourne 1993, S. 83–121. 41 Max Weber: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus (1904/05), in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 1. Band (wie Anm. 38), S. 17–205; vgl. dazu: Stefan Breuer: Georg Jellinek und Max Weber. Von der sozialen zur soziologischen Staatslehre, BadenBaden 1999.

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war als in Deutschland (und anderen europäischen Gesellschaften) und sich im boomenden Konkurrenzkapitalismus Nordamerikas die Widersprüchlichkeiten kapitalistischer Modernisierung viel greller als in Europa zeigten: Freisetzung des kreativen einzelnen aus traditionalen Bindungen, Steigerung von Freiheitschancen durch offene Märkte und ungeheure Entwicklungsdynamik (mit immer neuer Zerstörung des Überkommenen), aber auch die unerbittlich harten Zwänge der unbedingten Herrschaft ökonomischer Zweckrationalität, die den einzelnen, 42 wie Weber in einem berühmten Bild sagte, in „stahlharte Gehäuse“ einkerkere. Das vor allem an den USA gewonnene Bild des Kapitalismus als der „Schicksalsmacht“ der Moderne war von Jellineks eher harmonischer, altliberaler Sicht weit entfernt. Jellinek hatte mit Blick auf die Menschenrechte die USA zum religiösen Mutterland moderner politischer Freiheit stilisiert. Weber sah in den puritanischen Berufsmenschen Repräsentanten eines religiösen Habitus, dessen welthistorische Folgen sich völlig gegenüber den ursprünglichen religiösen Motiven verselbständigt hatten. Seine Puritaner waren Heroen der Askese, rationale Antihedonisten mit einer extrem großen Bereitschaft zur Triebunterdrückung. Die neuere Forschung hat gezeigt, daß Webers Bild dieser bürgerlichen Leistungsmenschen entscheidend auch durch Thomas Carlyles Konzept des heros mitgeprägt ist, der Arbeit und Leistung zu unbedingt bindenden religiösen Letzt43 werten steigert. Wichtige Begriffe seiner Kulturdiagnosen verdankte er darüber hinaus der intensiven Lektüre Jacob Burckhardts, den Weber, Troeltsch und Jellinek bewunderten; Georg Jellinek hatte als Basler Ordinarius Burckhardt noch persönlich kennengelernt. Burckhardts kritische Diagnose des traurigen Schicksals des freien Menschen in einer kulturell zunehmend verflachenden, hedonistisch trivialisierten Moderne dürfte Max Webers Konzept heroisch autonomer Subjektivität stärker beeinflußt haben, als in der Weber-Forschung bisher wahrgenommen wurde.

IV. Ernst Troeltsch, oder: die Unterscheidung von Luthertum und Calvinismus Als Ernst Troeltsch 1894 nach Heidelberg kam, lernte er relativ schnell auch 44 Jellinek kennen. Der junge, erst 29 Jahre alte Systematische Theologe arbeitete damals an Problemen, die sehr eng mit Jellineks Grundthema, der Begründung der Geltung juristischer Normen, zusammenhingen. Eine große sachliche Nähe 42 Max Weber: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus (wie Anm. 41), S. 203. 43 Vgl. Gangolf Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik (wie Anm. 15), S. 180. 44 Vgl. Klaus Kempter: Die Jellineks 1820–1955 (wie Anm. 2), S. 276.

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zu Jellineks Forschungen ergab sich auch auf kulturhistorischem Gebiete. Mitte der neunziger Jahre beschäftigte sich Troeltsch intensiv mit der europäischen Aufklärung und hier speziell britischen Aufklärungsdiskursen. Er las die Deisten und begann, sich mit den Besonderheiten der englischen Praktischen Philosophie und moral sciences vertraut zu machen. Schon in seiner Dissertation hatte Troeltsch die Geschichte protestantischer Ethik erforscht und programmatisch den Anspruch erhoben, die Theologie müsse sich konsequent an den Metho45 denstandards der anderen Geistes- oder Kulturwissenschaften orientieren. Der praktischen Wirksamkeit religiöser Ethik, ihrer Bedeutung für die Lebensführung des Individuums und die unterschiedlichen Handlungssphären menschlicher Kultur, galt seine besondere Aufmerksamkeit. Deshalb richteten sich seine Interessen auch auf die komplexen Beziehungen zwischen Religion, Ethik, Moral und Recht. Seit den späten neunziger Jahren begann Troeltsch damit, die heterogenen Traditionen des europäischen Naturrechts von der Antike bis zur Aufklärung zu erkunden. Der Begriff des „Naturrechts“ wurde zu einem Schlüsselbegriff seiner großen religions- und kulturhistorischen Werke. In seinen ethischen Publikationen wollte Troeltsch Traditionen der „Güterethik“ rehabilitieren, also, in anderer Begrifflichkeit formuliert, die eigene ethische Rationalität von Institutionen begründen. Als er 1906 das Amt des Prorektors der Heidelberger Universität antrat, sprach er über die „Trennung von Staat und Kirche“, also 46 über ein Thema, das auch in den Kompetenzbereich des Staatsrechtlers gehört. 47 Im Eranos-Kreis, einem von dem Neutestamentler Adolf Deißmann inspirierten religionshistorischen Arbeitskreis Heidelberger Gelehrter, dem auch Troeltsch, 48 Weber und Jellinek angehörten, antwortete Jellinek mit einem Vortrag, der 49 ebenfalls „Die Trennung von Staat und Kirche“ zum Gegenstand hatte . Mit großer internationaler Beachtung hielt Jellinek regelmäßig eine große Vorlesung über die „Geschichte der sozialen und politischen Theorien“, in der er vorrangig die Traditionen des europäischen Naturrechtsdenkens behandelte. Auch in 45 Ernst Troeltsch: Vernunft und Offenbarung bei Johann Gerhard und Melanchthon. Untersuchung zur Geschichte der altprotestantischen Theologie, Göttingen 1891, jetzt in: KGA 1, S. 81– 338. 46 Ernst Troeltsch: Die Trennung von Staat und Kirche, der staatliche Religionsunterricht und die theologischen Fakultäten, Tübingen 1907, jetzt in: KGA 6, S. 342–447. 47 Zu Deißmann und seiner Stellung im Heidelberger Gelehrtenmilieu siehe jetzt die Hinweise bei: Christian Nottmeier: Ein unbekannter Brief Max Webers an Adolf Deißmann, in: Mitteilungen der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft 13 (2000), S. 99–131. 48 Vgl. M. Rainer Lepsius: Der Eranos-Kreis Heidelberger Gelehrter 1904–1908. Ein Stück Heidelberger Wissenschaftsgeschichte anhand der neu aufgefundenen Protokollbücher des Eranos, in: Jahrbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaften für das Jahr 1983, Heidelberg 1984, S. 46–48. 49 Vgl. Klaus Kempter: Die Jellineks 1820–1955 (wie Anm. 2), S. 278.

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Troeltschs ethischen Vorlesungen und theoriegeschichtlichen Studien zur religiösen Ethosbildung standen schöpfungstheologische Begründungen der lex naturae-Traditionen sowie deren Transformation ins moderne rationale Naturrecht im Zentrum. Sowohl historisch als auch systematisch gab es zwischen den Forschungen des Juristen und den Problem- und Themenfeldern Troeltschs somit große Nähe und Überschneidungssphären. 50 Nach Beginn seiner Heidelberger Lehrtätigkeit begann Troeltsch damit, Jellineks Publikationen zu lesen. Seit 1895 finden sich in seinen Werken Spuren der Rezeption von Jellineks Aufsätzen und Büchern. In Jellinek sah er den Juristen der südwestdeutschen Schule des Neukantianismus. Aber er hielt Jellineks methodologische Erwägungen und Begriffsbildung auch für grundsätzlich bedeutsam. In der Auseinandersetzung mit der Geschichtsphilosophie Heinrich Rickerts machte er sich den Begriff des „Typus“ zu eigen, den Jellinek in seiner „Allgemeinen Staatslehre“ 1900 entfaltet hatte. Jellinek wurde für Troeltsch vor allem deshalb wichtig, weil der Jurist mit Blick auf die Geltung juristischer Normen das strukturell selbe Problem zu bearbeiten hatte, das sich dem Systematischen Theologen als Grundproblem seiner Wissenschaft unter den Bedingungen der Moderne stellte: Wie lassen sich religiöse Überlieferungsbestände, etwa bestimmte religiöse „Werte“ bzw. „Kulturwerte“ sowie ethische Normen trotz der Einsicht in ihre geschichtliche Partikularität oder Relativität bewahren und begründen? Im „Fluß des historischen Werdens und aus dem Historisch-Gewordenen heraus“ rechtliche Normativität zu gewinnen, sei Jellineks „überaus schwierige“ Lebensaufgabe gewesen, schrieb Troeltsch nach Jellineks Tod und fügte hinzu: „Da ich an ähnlichen Fragen auf dem Gebiete des religiösen Lebens arbeite und von ähnlichen Vordersätzen aus zu ähnlichen methodischen Ergebnissen kam, 51 haben wir uns so gut verstanden.“ Solche Begründungen zu leisten, sei die „von der Gegenwart geforderte Aufgabe“: „Es ist die Aufgabe, die auf allen Le52 bensgebieten für die Selbstverständigung unserer Kultur besteht.“ Troeltsch wies 1911 aber zugleich auf eine entscheidende Differenz in Jellineks und seinen eigenen Versuchen zur Lösung dieser Aufgabe hin: Um die relativistischen Folgewirkungen des Historismus zu begrenzen, wollte der Theologe stärker als der Jurist bestimmte metaphysische Begriffe der europäischen Denktraditionen 53 reformulieren. Jellinek blieb demgegenüber strenger kantianisch orientiert. Den

50 Nach dem Abschluß des Manuskripts ist nach langer Ankündigung nun erschienen: TS 2. Der Band bietet zahlreiche Einblicke in Troeltschs Heidelberger Lehrtätigkeit. 51 Ernst Troeltsch: [Rez.] Georg Jellinek (wie Anm. 22), S. 278, jetzt in: KGA 4, S. 644. 52 Ebd., S. 278, jetzt in: KGA 4, S. 644. 53 Ebd., S. 278, jetzt in: KGA 4, S. 644 f.

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„Zwiespalt“ zwischen individueller Wertsetzung und überindividueller Geltung von Normen konnte er nach Troeltschs Ansicht nicht überwinden. Gleichwohl gilt: Im Theorieprogramm standen sich Troeltsch und Jellinek näher als Troeltsch und Weber und auch Weber und Jellinek. Jellinek nimmt insoweit eine widersprüchliche Mittelposition zwischen den beiden Jüngeren ein, aber keine Position der Vermittlung. Er mußte als Jurist überindividuell gültige (Rechts-)Normen begründen, rekurrierte als Philosoph dazu auf ein „ethisches Minimum“ an kulturellen Verbindlichkeiten und erkannte dank seiner historisch-philosophischen Bildung doch zunehmend, daß sich Geltung jenseits individueller Wertwahl nur schwer begründen läßt. „Damit wurde aber [. . .] die Konstruktion des Vernunftgehaltes im Historisch-Gewordenen und TatsächlichGeltenden immer schwieriger und immer mehr eine Sache subjektiver Überzeugung, die sich getraut, im jedesmal zufällig Geschichtlich-Gegebenen die 54 ihm entsprechende Vernunfttendenz herauszufinden und zu bejahen.“ Da Jellinek, so Troeltsch, weder auf Hegels absolute Vernunft setzte (im Unterschied zu Wilhelm Windelband, der sich seit der Jahrhundertwende zunehmend um 55 eine Erneuerung des Hegelianismus bemühte), noch „einem mehr oder minder skeptischen Relativismus verfallen wollte“ (im Unterschied zu Max Weber), 56 „blieb ihm nichts als das Pathos der Subjektivität“ . Troeltschs Beschreibungen der inneren Aporien von Jellineks Versuch, aus der Geschichte Normen aktueller Gegenwartsgestaltung zu gewinnen, lassen tiefe Sympathie mit dem Freunde erkennen. Der Theologe weiß, daß er sich an denselben Problemen abarbeitet. Auch Troeltsch wurde beim Versuch, trotz des modernen Historismus nicht in relativistische Skepsis zu verfallen, von systematischen Studien zunehmend in historische Forschungen getrieben. Auch vom Historiker Jellinek fühlte sich Troeltsch inspiriert, ging aber, trotz seiner hohen Wertschätzung von Jellineks

54 Ebd., S. 276, jetzt in: KGA 4, S. 643. 55 Vgl. dazu vor allem Windelbands programmatische Rede vor der 1909 gegründeten Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Wilhelm Windelband: Die Erneuerung des Hegelianismus. Festrede, in: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, PhilosophischHistorische Klasse, Jahrgang 1910, 10. Abhandlung, Heidelberg 1910, S. 1–15. Diese Rede wurde gemeinsam mit einem 1913 von Windelband gehaltenen Heidelberger Akademie-Vortrag „Über Sinn und Wert des Phänomenalismus“ von Ernst Troeltsch rezensiert: Theologische Literaturzeitung 38 (1913), S. 147 f., jetzt in: KGA 4, S. 676 f. Zur Gründung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und den damit verbundenen Kontroversen innerhalb des Heidelberger Gelehrtenmilieus ist grundlegend: Udo Wennemuth: Wissenschaftsorganisation und Wissenschaftsförderung in Baden. Die Heidelberger Akademie der Wissenschaften 1909–1949, Supplemente zu den Sitzungsberichten der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Band 8, Jahrgang 1994, Heidelberg 1994. 56 Ernst Troeltsch: [Rez.] Georg Jellinek (wie Anm. 22), S. 276, jetzt in: KGA 4, S. 643.

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rechtshistorischen Arbeiten, zu dessen Geschichtsbild zunehmend auf Distanz. In seinen kulturhistorischen Studien über die Geschichte des modernen Protestantismus und in seinen großen Arbeiten über die Geschichte der christlichen „Sozialphilosophie“ bzw. „Soziallehren“ entwickelte Troeltsch insbesondere ein signifikant anderes Bild der englischen und nordamerikanischen freiheitlichen Traditionen. Kommen wir zunächst zu den Anregungen. Schon in der Wahl des Titels für sein bekanntestes historisches Werk, „Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“ (GS I), dürfte Troeltsch (auch) durch Jellineks „Soziallehre des Staates“ beeinflußt worden sein. Wichtig wurde zudem die Auseinandersetzung mit Jellineks einflußreichem Büchlein über „Die Erklärung der Menschen- und 57 Bürgerrechte“. Troeltsch hat es seit 1897 mehrfach zitiert. Neben einigen kleineren Publikationen und den großen juristischen Hauptwerken des Freundes nahm Troeltsch auch die zahlreichen polemischen Streitschriften und historischen Abhandlungen genau zur Kenntnis, die gegen Jellineks Thesen gerichtet waren. Seine eigene Haltung zu Jellineks Herleitung ist von der Tendenz zunehmender Differenzierung geprägt. Zunächst zitierte er ihn zustimmend, in seinem bekannten Vortrag über „Die Bedeutung des Protestantismus für die 58 Entstehung der modernen Welt“ und in den „Soziallehren“ dann eher kritisch. Er unterstützte Jellineks erste These, daß nicht die französischen Deklarationen, sondern die nordamerikanischen Verfassungen die entscheidende Quelle für die juristische Positivierung von Menschenrechten waren. „In der Tat ist 59 im allgemeinen Jellineks Darlegung eine wirkliche erleuchtende Entdeckung.“ Troeltsch plädierte dann aber für eine entscheidende Modifikation von Jellineks Rückführung der nordamerikanischen Verfassungen auf den „Geist des Puritanismus“. Der „Vater“ des Menschenrechtsgedanken sei keineswegs „der Puritanismus“ gewesen. „Dieser ‚Puritanismus‘ nämlich ist nicht calvinistisch, sondern ein mit der alten calvinistischen Idee von der Unantastbarkeit der göttlichen Majestätsrechte verschmolzener Inbegriff täuferisch-freikirchlicher und 60 spiritualistisch-subjektivistischer Ideen“. Mit dieser eher beiläufig klingenden Formulierung macht Troeltsch eine ganz andere religiöse Quelle des angelsächsischen Menschenrechtsdenkens geltend als Jellinek. Nicht der Calvinismus bzw. 57 Vgl. z. B. Ernst Troeltsch: Aufklärung, in: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 3. Aufl., Leipzig 1897, S. 225–241, hier S. 227. 58 Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt. Vortrag, gehalten auf der IX. Versammlung deutscher Historiker zu Stuttgart am 21. April 1906, Sonderabdruck aus der Historischen Zeitschrift, München, Berlin 1906, jetzt in: KGA 8, S. 199– 316. 59 KGA 8, S. 266. 60 Ebd., S. 266.

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der Puritanismus, sondern die Baptisten und Quäker waren aus Gründen ihres Glaubens die Vorkämpfer der Gewissensfreiheit. „Der Vater der Menschenrechte ist [. . .] nicht der eigentliche kirchliche Protestantismus, sondern das von ihm 61 gehaßte und in die Neue Welt vertriebene Sektentum und der Spiritualismus“. Troeltsch versuchte mit Blick auf die amerikanische Geschichte zu zeigen, daß die Puritaner in ihren Staaten Gewissensfreiheit gerade als eine „gottlose Skepsis“ verwarfen und die Freiheit des Gewissens nur im baptistischen Rhode Island und im Quäkerstaat Pennsylvania institutionalisiert wurde. Nicht die USA insgesamt waren für Troeltsch das Mutterland moderner Freiheit. Die juristische Positivierung religiös erschlossener Freiheitsrechte schrieb er allein den protestantischen Sekten zu. Für sein Bild der Entstehung der modernen Welt ist dies grundlegend: Nicht das kirchliche Christentum, auch nicht der westeuropäische kirchliche Calvinismus, sondern allein die kirchlich verfolgten und ausgegrenzten radikalen „täuferischen“ Gruppen und „Sekten“ sind Träger der Modernisierung. In seiner Dissertation hatte sich Troeltsch mit der Ethik des deutschen Luthertums beschäftigt. Seit der Jahrhundertwende traten in seinen historischen Arbeiten die Differenzen zwischen Calvinismus und Luthertum in den Vordergrund. Auch unter dem Einfluß Max Webers, aber primär dank seiner eigenen extensiven Forschungen zur Religionsgeschichte der westeuropäischen und nordamerikanischen Protestantismen und der britischen Geistesgeschichte wurde die von den unterschiedlichen konfessionellen Sondertraditionen im Protestantismus jeweils entscheidend mitgeprägte Eigenart der calvinistisch-westeuropäischen politischen Kultur einerseits und der dominant lutherisch geprägten deutschen politischen Kultur andererseits zu einem entscheidenden Thema seiner großen kulturhistorischen Arbeiten. Neben dem berühmten Vortrag über „Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt“, einer großen Gesamtdarstellung „Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit“ (KGA 7) und den „Soziallehren“ sind auch zahlreiche kleinere Essays über den 62 Calvinismus zu erwähnen. Trotz seiner bisweilen sehr harten Kritik des deut63 schen Luthertums, das er auch als eine „Herrenreligion“ bezeichnen konnte, hat Troeltsch die Differenz zwischen Calvinismus und Luthertum niemals so konstruiert, daß der Calvinismus bzw. die von ihm repräsentierte politische Kultur einfach zum normativen Modell bzw. Vorbild für Deutschland stilisiert werden

61 Ebd., S. 267. 62 Troeltschs diverse kleinere Schriften und Abhandlungen über die Kulturbedeutung des Protestantismus liegen in KGA 8 kritisch ediert vor. 63 Ernst Troeltsch: Luther und das soziale Problem, in: März 11/4 (1917), S. 983–990, hier S. 990.

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kann. Die intensive Auseinandersetzung mit anglo-amerikanischen Traditionen diente Troeltsch dazu, durch Unterscheidung ein präziseres Bild der eigenen, deutschen religiösen und politischen Kultur zu gewinnen. Er gestand der westeuropäischen Welt aufgrund ihrer calvinistisch geprägten Herkunftsgeschichte größere Potentiale individueller Freiheit zu, sah umgekehrt aber im deutschen und skandinavischen Luthertum mehr Potentiale an sozialer Verantwortung, Solidarität und Gemeinschaftlichkeit. Hier wie dort erblickte er in den theologischen Ideen und religiösen Triebkräften entscheidende, aber niemals: die allein bestimmenden Quellen der politischen Kultur und ökonomischen Formation. Für beide protestantischen Konfessionskulturen wollte er ein differenziertes Bild der jeweils religiös mitgeprägten Zuordnung von Individuum und Gemeinschaft, Freiheit und sozialer Bindung zeichnen. Dies gilt selbst noch für Troeltschs Schriften aus dem Ersten Weltkrieg, in denen er die alten Differenzbestimmungen von „Luthertum“ und „Calvinismus“ nun als Gegensatz von „Deutschem Geist und 64 Westeuropa“ reformulierte. Die Deutschen haben dank lutherischer Tradition eine eigene, sozial gebundene Idee der Freiheit. Die angelsächsische Verbindung von Individualismus und Utilitarismus ist ihnen fremd. Deshalb lehnte Troeltsch im Ersten Weltkrieg den Anspruch der Amerikaner und Briten ab, sie allein kämpften für Freiheit und Demokratie. Die religiösen wie politischen Differenzen von Calvinismus und Luthertum spielen im Werk Georg Jellineks keine relevante Rolle. Bei Max Weber ist dies ganz anders. Aufgrund seiner Puritanismus-Forschungen, aber auch unter dem Einfluß Troeltschs faßte er den innerprotestantischen Gegensatz zwischen Calvinismus und Luthertum politisch sehr viel radikaler als sein Freund aus der Theologischen Fakultät. Am 5. Februar 1906 schrieb er an den Berliner Kirchenhistoriker Adolf Harnack, der sich als ein liberaler lutherischer Kulturprotestant verstand: „[. . .] das Luthertum ist für mich, ich leugne es nicht, in seinen historischen Erscheinungsformen der schrecklichste der Schrecken und selbst in der Idealform, in welcher es sich in Ihren Hoffnungen für die Zukunftsentwicklung darstellt, ist es mir, für uns Deutsche, ein Gebilde, von dem ich nicht unbedingt sicher bin, wie viel Kraft zur Durchdringung des Lebens von ihm ausgehen könnte. Es ist eine innerlich schwierige und tragische Situation: Niemand von uns könnte selbst ‚Sekten‘-Mensch, Quäker, Baptist etc. sein. Jeder von uns muß die Überlegenheit des – im Grunde doch – Anstalts-Kirchentums, gemessen an nicht-ethischen und nicht-religiösen Werthen, auf den ersten Blick bemerken. [. . .] Aber daß unsre Nation die Schule des harten Asketismus niemals, in keiner Form, durchgemacht hat, ist, auf der andren Seite der Quell 64 Ernst Troeltsch: Deutscher Geist und Westeuropa. Gesammelte kulturphilosophische Aufsätze und Reden, hrsg. von Hans Baron, Tübingen 1925.

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alles Desjenigen, was ich an ihr (wie an mir selbst) hassenswerth finde, und vollends bei religiöser Wertung steht eben – darüber hilft mir nichts hinweg – der Durchschnitts-Sektenmensch der Amerikaner ebenso hoch über dem landeskirchlichen ‚Christen‘ bei uns, – wie, als religiöse Persönlichkeit, Luther über 65 Calvin, Fox e tutti quanti steht.“ Weber war vom amerikanischen Sektenwesen fasziniert, weil dessen Frömmigkeit ethisch ungleich größere Folgen hat als die Frömmigkeitspraxis in der kirchlichen Anstalt der Lutheraner. Er litt darunter, daß von der im deutschen Bürgertum herrschenden lutherischen Frömmigkeit zu wenig „Kraft zur Durchdringung des Lebens“ ausgeht. Aber er schätzte sie als religiösen Glauben ungleich höher als die Religiosität der amerikanischen Sekten. Darin liegt ein tragischer Zwiespalt: Die USA galten ihm wegen ihrer Sektenkultur ethisch als ein Modell, das religiös doch immer nur als defizitär erlebt werden kann. In seiner Anglophilie und Amerikabegeisterung zeichnete Weber ein Bild der religiösen Lage, das entscheidend durch das Leiden am deutschen Bürgertum, also an den Bürgerlichkeitsdefiziten der deutschen politischen Kultur geprägt war. In Gestalt des puritanischen Leistungsathleten stellte er dem allzu traditionell, mystisch-quietistischen, feudalisiert und hedonistisch trägen deutschen Bürger das Ideal stolzer Bürgerhelden gegenüber, die sich durch Arbeit an sich selbst eine unbedingte Souveränität gegenüber der Welt erzeugt haben – aber um den Preis, daß sie die wahre, tiefe Religiosität der Lutheraner entbehren müssen.

V. Die Heidelberger Klassiker lesen, oder: die Suche nach ihrer „Kulturbedeutung“ Die im Heidelberger liberalen Gelehrtenmilieu seit 1900 interdisziplinär geführten Religionsdiskurse lassen sich in unterschiedlichen Deutungshorizonten rekonstruieren. Man kann die damaligen Debatten über Staat und Kirche als einen primär politisch motivierten Reformdiskurs entschlüsseln. Der Streit über die historische Genese der modernen Menschenrechte läßt sich als ein Beitrag zur Suche nach spezifisch deutschen, protestantischen Legitimitätsgrundlagen für die Stärkung von Bürgerfreiheiten und für die Parlamentarisierung des Deutschen Reiches deuten. Das prononcierte Interesse an den Differenzen zwischen Luthertum und Calvinismus läßt sich zurückführen auf das Leiden der Heidelberger Liberalen an den autoritär repressiven Strukturen im politischen System des Kaiserreichs: Im Bild des Luthertums sollen elementare sozialmoralische Prägekräfte der deutschen politischen Kultur erfaßt werden. Dazu analog läßt sich die 65 Brief Max Webers an Adolf Harnack vom 5. Februar 1906, in: MWG II/5, S. 32 f.

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hohe Aufmerksamkeit für die religiöse Kultur der USA als Reflex des Interesses an Gestaltungen des Protestantismus verstehen, die ein kapitalismuskompatibles starkes Leistungsethos erzeugen. Mit Blick auf die religionskulturelle Lage der USA geht es den Heidelberger „Kulturbedeutungs“-Analytikern immer um eine durch Außenperspektiven vermittelte Selbstthematisierung der deutschen religiösen Kultur. In seinem bekannten Essay „Die Religion im deutschen Staate“ behauptete Ernst Troeltsch 1912, daß „eine klarere Beurteilung der eigenen Heimatswelt [. . .] doch immer erst durch die Wahrnehmung der Kontraste einer fremden Welt möglich“ sei. „In diesem Sinne hat denn auch die Kenntnisnahme von den großen angelsächsischen Völkern stets auf uns Deutsche gewirkt. Sie ist neben der Vergleichung mit den Völkern romanischer Kultur die wichtigste Quelle unserer Selbsterkenntnis. Dabei erscheinen England und die Union trotz der außerordentlichen zwischen ihnen bestehenden Unterschiede doch in einer Aehnlichkeit, die nicht bloß durch die Gemeinsamkeit der Sprache vorgetäuscht wird, sondern die in gewissen gemeinsamen Kontrasten gegen unser Leben begründet ist. Versuchen wir diese Kontraste herauszuheben, so liegen sie vor allem an der ganz anderen Stellung der Religion im gesellschaftlichen und staatlichen Leben. [. . .] Das ist die viel stärkere gesellschaftliche Rolle des religiösen Elements, die in tausend Dingen der Sitte und öffentlichen Ordnung sichtbar wird, die in dem mächtig entwickelten Missionswerk sich darstellt, die neben den gefestigten und ihre Anhänger sehr fest anfassenden Kirchen immer neue 66 Erweckungsbewegungen und Sektenbildungen mit sich bringt.“ Auch diese Polyvalenz religiöser Symbolsprachen bzw., in der Sprache Pierre Bourdieus formuliert, die offenen, fließenden Grenzen des „religiösen Feldes“ und dessen mögliche Ausgriffe ins politische Feld und andere soziale Felder waren bereits ein wichtiges Thema der Heidelberger Religionsdiskurse. In einem Essay über „Religion“, dem Beitrag zu einem weit verbreiteten populären „Gesamtbild der Kulturentwicklung“, schrieb Troeltsch im Jahre 1913: „Das ‚Rein-Religiöse‘ existiert nur für den Theoretiker und für wenige innerlich tief empfindende Seelen. Auf dem Markt des Lebens gibt es kein Interesse, das nicht durch Verkoppelung mit der Religion geschützt und gestärkt würde, und wenig Religionshaß, der nicht in der Religion eigentlich andre, von ihr wirklich oder 67 angeblich geschützte Dinge haßte.“ Trotz dieser Vieldeutigkeit des Religiösen ist jedoch zugleich die von den Heidelberger liberalen Religionskulturanalytikern intensiv diskutierte Einsicht

66 Ernst Troeltsch: Die Religion im deutschen Staate (Aus: Patria, Band XIII, 1912), in: GS II, S. 68–90, hier S. 68. 67 Ernst Troeltsch: Religion, in: David Sarason (Hrsg.): Das Jahr 1913. Ein Gesamtbild der Kulturentwicklung, Leipzig, Berlin 1913, S. 533–549, hier S. 534.

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zu berücksichtigen, daß Religion immer auch als eine autonome Sinnprovinz bzw. „Potenz“ (Jacob Burckhardt) eigener Art zu sehen ist, die niemals in ihren Funktionen für anderes, etwa politische Interessen oder sozialkulturelle Vergemeinschaftungsprogramme, differenzlos aufgeht. Die im Heidelberger Gelehrtenmilieu geführten Religionsdiskurse sollten deshalb vorrangig in speziell religionsanalytischen Perspektiven rekonstruiert werden. Besondere Aufmerksamkeit verdienen dann all jene Fragen, die aus den Spannungen zwischen überlieferter Religion und moderner okzidentaler Rationalität resultieren. Das analytische Interesse sollte sich zunächst auf die unterschiedlichen Formen religiöser Vergesellschaftung oder Vergemeinschaftung sowie die mit ihnen jeweils verbundenen habitusformierenden oder -prägenden Kräfte richten. Denn in den Heidelberger Debatten über „Kirche“ und „Sekten“, bzw. dann, aufgrund von Troeltschs Erweiterung der Weberschen Kirche-Sekte-Unterscheidung um einen 68 „dritten Typus“, über „Kirche-Sekte-Mystik“ wurde keineswegs nur um Vergangenes gestritten oder ein zeitenthobener Gelehrtendisput über Begriffsbildung und reine Typen inszeniert. Jellinek, Weber und Troeltsch wollten mit ihren – im einzelnen unterschiedlich konzipierten – Idealtypen und religionsanalytischen Konzepten nicht nur Begriffe zur Erschließung der „Kulturbedeutsamkeit“ historischer Phänomene und Prozesse entwickeln, sondern immer auch das Schicksal der Religion in der Moderne und die möglichen kulturellen Gestaltungschancen bzw. Prägekräfte des Religiösen in einer als krisenhaft erlittenen Moderne erkunden. Man muß ihr elementares Interesse an der möglichen aktuellen „Kulturbedeutung“ der Religion bzw. bestimmter positiver Religionen und an den konfessionellen Gestalten des Christentums zum hermeneutischen Prinzip der kritischen Lektüre ihrer Religionsdiagnosen machen: Jellinek lesen, Weber studieren, Troeltsch bearbeiten – dies ist vor allem deshalb geboten, weil wir mit Hilfe ihrer Fragen, Begriffe und Idealtypen unsere analytische Kompetenz zur Deutung der dramatischen religiösen Wandlungsprozesse unserer Gegenwart stärken können. Man muß sich dazu nur reflexiv verhalten und, wie einst Jellinek, Weber und Troeltsch, die Klassiker nicht heroisieren, auf irgendeinen akademischen Sockel stellen, sondern konsequent in der Perspektive der eigenen Fragestellungen lesen. In der Sprache der Heidelberger Religionskulturdiagnostiker um 68 Zu Troeltschs Differenzierung von Max Webers Kirche-Sekte-Typologie und deren Erweiterung um den Mystik-Typus, mit dem vor allem die kulturprotestantisch freie moderne Bildungsreligiosität und deren neureligiöse Substitutgestalten erfaßt werden sollten, siehe die Analyse von: Arie L. Molendijk: Zwischen Theologie und Soziologie. Ernst Troeltschs Typen der christlichen Gemeinschaftsbildung: Kirche, Sekte, Mystik (TS 9), Gütersloh 1996, sowie mit prägnantem Blick auf Troeltschs Simmel-Rezeption: Friedemann Voigt: „Die Tragödie des Reiches Gottes“? Ernst Troeltsch als Leser Georg Simmels (TS 10), Gütersloh 1998.

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1900 formuliert: Georg Jellinek, Max Weber und Ernst Troeltsch sind auf ihre „Kulturbedeutung“ hin zu befragen. Der enorme philologische Aufwand, mit dem deutsche Sozialwissenschaftler, Historiker und protestantische Theologen derzeit die Werke Max Webers und Ernst Troeltschs in kritischen Gesamtausgaben neu präsentieren, kann jedenfalls nur dann als gerechtfertigt gelten, wenn diese Texte uns etwas über uns und unsere krisenhaften politisch-religiösen Gegenwartserfahrungen zu sagen haben.

Max Weber und Ernst Troeltsch Äußerungen über die persönlichen Beziehungen zwischen Max Weber und Ernst Troeltsch sind derzeit nur eingeschränkt möglich. Es haben sich bisher keine Briefe auffinden lassen, die zwischen ihnen ausgetauscht worden wären. So ist der Wissenschaftshistoriker auf andere Quellen angewiesen: auf Bemerkungen der beiden Heidelberger Gelehrten in Briefen an Dritte, auf literarische Bezüge in ihren Publikationen, auf Berichte von Dritten. Die Quellenlage ist dabei sehr einseitig: Derzeit ist kein Text Max Webers bekannt, in dem er sich ausführlicher über sein Verhältnis zu Troeltsch geäußert hätte. In den 1990 veröffentlichten Briefen Webers aus den Jahren 1906 bis 1 1908 taucht Troeltsch nur am Rande auf. Auch hat Weber in seinen wissenschaftlichen Veröffentlichungen nur relativ selten auf Publikationen Troeltschs 2 direkt Bezug genommen. Auf der Seite Troeltschs ist die Überlieferungslage sehr viel günstiger. Troeltsch hat in seinen historischen und religionssoziologischen Veröffentlichungen relativ häufig auf Arbeiten Webers, insbesondere auf die „Protestantische Ethik“, Bezug genommen, in seinem 1922 erschienenen fragmentarischen Spätwerk „Der Historismus und seine Probleme“ Webers Geschichtsverständnis kritisch skizziert und in zwei instruktiven Nachrufen den einstigen Freund als Gelehrten und Politiker charakterisiert. Neben diesen gedruckten Quellen haben sich zudem einige Briefe auffinden lassen, in denen Troeltsch über sein Verhältnis zu Weber Auskunft gibt. Neben einzelnen Bemerkungen in Troeltschs 3 Briefen an Heinrich Rickert und seinen Briefen von der gemeinsam mit Max 4 und Marianne Weber unternommenen USA-Reise sind ein Kondolenzbrief an Marianne Weber vom 18. Februar 1920 sowie ein ausführlicher Brief an den Bonner Nationalökonomen Heinrich Dietzel aufschlußreich, in dem Troeltsch die Brüder Max und Alfred Weber miteinander vergleicht.

1 Siehe: MWG II/5. 2 Vgl. die Nachweise in Friedrich Wilhelm Graf: Friendship between Experts. Notes on Weber and Troeltsch, in: Wolfgang J. Mommsen, Jürgen Osterhammel (Hrsg.): Max Weber and His Contemporaries, London, Boston, Sydney 1987, S. 215–233, sowie die ausgezeichnete Studie von Mark D. Chapman: Polytheism and Personality. Aspects of the Intellectual Relationship between Weber and Troeltsch, in: History of the Human Sciences 6 (1993), S. 1–33. 3 Ernst Troeltschs Briefe an Heinrich Rickert, eingeleitet und hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf, in: METG 6 (1991), S. 108–128. Vgl. auch METG 7 (1993), S. 272–276. 4 Dazu grundlegend: Hans Rollmann: „Meet me in St. Louis“. Troeltsch and Weber in America, in: Hartmut Lehmann, Guenther Roth (Hrsg.): Weber’s Protestant Ethic. Origins, Evidence, Contexts (Publications of the German Historical Institute, Washington, D. C.) Cambridge, New York, Melbourne 1993, S. 357–383.

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Die einseitige Quellenlage nötigt zur methodischen Behutsamkeit. WeberForscher sind am Thema „Weber und Troeltsch“ primär um Webers willen interessiert. Auch gilt es ihnen als ausgemacht, daß Weber der ungleich bedeutendere Kulturwissenschaftler gewesen ist. Denn Webers Werk zeichne sich im Verhältnis zu Troeltschs Œuvre durch mindestens vier Vorzüge aus: erstens durch eine deutlich präzisere Begrifflichkeit, zweitens eine sehr viel größere Weite des thematischen Spektrums, drittens eine höhere ideologiekritische Kompetenz (deshalb auch: eine radikalere Analyse der politischen Kultur des Kaiserreichs) sowie viertens durch ein kritisch restringiertes (an kantianischen Traditionen orientiertes) Verständnis der Möglichkeiten von Kulturwissenschaft, d. h. den Verzicht darauf, im Medium kulturwissenschaftlicher Begriffsbildung allgemeinverbindliche „Kulturwerte“ normativ begründen zu können. Ich teile diese Sicht insoweit, als auch ich Weber für den analytisch präziseren und existentiell konsequenteren Analytiker der Moderne und ihrer Widersprüche halte. Gleichwohl wäre es methodisch gesehen falsch, das Thema „Weber und Troeltsch“ vorrangig in der Perspektive Webers zu behandeln. Max Weber hat aufgrund der starken Prägungen durch seine Familie und durch die enge Einbindung in verschiedene kulturprotestantische Diskursmilieus die deutschsprachige protestantische 5 Theologie der Zeit mit erstaunlicher Intensität wahrgenommen und rezipiert. Doch wissen wir bisher erst relativ wenig über das Heidelberger intellektuelle Milieu und die Diskurse, die Weber hier geprägt haben, etwa die religionswissenschaftlichen Verhandlungen innerhalb des Eranos-Kreises, in dem Weber und Troeltsch 1904 bis 1908 insgesamt dreißigmal mit so bedeutenden Gelehrten wie dem Neutestamentler Adolf Deißmann, dem Juristen Georg Jellinek, dem Altphilologen Albrecht Dieterich, dem Althistoriker Alfred von Domaszewski, dem Archäologen Friedrich von Duhn, dem Neuhistoriker Erich Marcks, dem Nationalökonomen Karl Rathgen, dem Philosophen Wilhelm Windelband und dem Kulturhistoriker Eberhard Gothein zum interdisziplinären Austausch über 6 religionswissenschaftliche Probleme zusammengekommen sind. Auch in Hinblick auf Webers Beziehungen zu Troeltsch gibt es derzeit noch zahlreiche offene

5 Friedrich Wilhelm Graf: Max Weber und die protestantische Theologie seiner Zeit, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 39 (1987), S. 122–147, in diesem Band oben, S. 83–110; sowie meine wissenschaftsgeschichtliche Fallstudie zu den theologischen Quellen der ersten Fassung der „Protestantischen Ethik“: The German Theological Sources and Protestant Church Politics, in: Hartmut Lehmann, Guenther Roth (Hrsg.): Weber’s Protestant Ethic (wie Anm. 4), S. 27–49. 6 Vgl. M. Rainer Lepsius: Der Eranos-Kreis Heidelberger Gelehrter 1904–1908. Ein Stück Heidelberger Wissenschaftsgeschichte anhand der neu aufgefundenen Protokollbücher des Eranos, in: Jahrbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaften für das Jahr 1983, Heidelberg 1984, S. 46–48.

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Fragen: Was hat Max Weber an dem nahezu gleichaltrigen Ernst Troeltsch fasziniert? Warum haben Marianne und Max Weber Ernst Troeltsch und seine Frau Marta 1910 eingeladen, mit in das alte Fallensteinsche Haus in der Ziegelhäuser Landstraße 17 zu ziehen? Wie hat Max Weber den späteren Konflikt mit dem 1915 in die Philosophische Fakultät der Universität Berlin wechselnden Troeltsch beurteilt? Die zu Webers Biographie bisher veröffentlichten Quellen 7 und Marianne Webers „Lebensbild“ erlauben noch keine zureichenden Antworten auf diese Fragen. Angesichts der einseitigen Quellenlage soll deshalb das Thema „Troeltsch und Weber“ Vorrang haben. Wie hat Ernst Troeltsch Max Weber, den Menschen und sein wissenschaftliches Werk, wahrgenommen?

I Religionssoziologen haben Troeltsch und Weber gern zu Klassikern ihrer Disziplin stilisiert, die in der „Protestantischen Ethik“ und in den „Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“ ein weithin identisches Forschungsprogramm, die Analyse der „Kulturbedeutung“ protestantischer Frömmigkeit, in Angriff genommen hätten. Dabei haben sie zwar auf Differenzen zwischen Webers und Troeltschs religionssoziologischen „Ansätzen“ hingewiesen. So ist vor allem Troeltschs Versuch viel diskutiert worden, Webers Kirche-Sekte-Typologie um den Typus der „Mystik“ als einer relativ selbständigen Gestalt religiöser 8 Vergemeinschaftung zu erweitern. Doch hat das Gemeinsame, Verbindende zwischen den religionswissenschaftlichen Forschungsprogrammen der beiden Freunde in der religionssoziologischen Literatur immer im Vordergrund gestanden. In besonderem Maße gilt dies für die englischsprachige Literatur. Hier dürfte der Einfluß von Troeltschs Berliner Schüler Karl Mannheim eine wichtige Rolle gespielt haben. An prominentem Orte, in der „Encyclopaedia of the Social Sciences“, hat Karl Mannheim 1935 über Troeltsch erklärt: „In a certain sense his most significant sociological empirical investigation ‚Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen‘ [. . .] may be considered a supplement to the 9 works of Max Weber“. Auch in den wissenschaftsgeschichtlichen Forschungen über das Hei10 delberger Intellektuellenmilieu der Jahrhundertwende stehen Gemeinsamkeiten zwischen Troeltsch und Weber im Vordergrund: die Prägung durch 7 Marianne Weber: Max Weber. Ein Lebensbild, Tübingen 1926. 8 Vgl. dazu die werkgeschichtlichen Analysen in TS 6. 9 Karl Mannheim: Troeltsch, Ernst, in: Edwin R. A. Seligman u. a. (Hrsg.): Encyclopaedia of the Social Sciences, Band 15, New York 1935, S. 106–107, hier S. 106. 10 Vgl. etwa Heinz Eduard Tödt: Max Weber und Ernst Troeltsch in Heidelberg, in: Wilhelm Doerr

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kulturprotestantisch-nationalliberale Wertvorstellungen, das Leiden am Untergang freier Persönlichkeit in den „stahlharten Gehäusen“ industriekapitalistischer, bürokratischer Zweckrationalität, der Kampf gegen ein politisch traditionalistisches, konfessionalistisches Luthertum und die damit verbundene Beschwörung der höheren Modernitätsoffenheit des reformierten bzw. „asketischen Protestantismus“ des Westens, die intensive kritische Auseinandersetzung mit den diversen lebensreformerischen Bewegungen der Zeit sowie schließlich eine bildungsbürgerlich-elitäre Grundorientierung, wie sie sich etwa im Glauben an die geschichtsgestaltende Macht politischer „Führer“ spiegelt. Für diese Gemeinsamkeiten der Wertorientierungen gibt es vielfältige Belege. Darüber dürfen aber die tiefen Gegensätze in den Persönlichkeitsstrukturen Webers und Troeltschs, die Unterschiedlichkeit ihrer Rollenverständnisse als Gelehrter bzw. Intellektueller sowie die elementaren Differenzen im Verständnis von Aufgabe und Methode der Kulturwissenschaften nicht übersehen werden. Troeltschs Veröffentlichungen und erst recht seine späten Briefe lassen erkennen: Ernst Troeltsch hat den methodischen Differenzen zwischen Max Webers Wissenschaftskonzept und seinem eigenen Verständnis der Aufgabe der Kulturwissenschaften größeres Gewicht als den Gemeinsamkeiten beigemessen. Zudem hat er betont, wie unterschiedlich Weber und er in Charakter und akademischem Selbstverständnis seien. Den „furchtbaren Krach“ des Herbstes 1914, der das Ende der freundschaftlichen Beziehungen bewirkte, hat Troeltsch als Ausbruch 11 „alte[r] Differenzen“ gedeutet. An seinen Schüler Paul Honigsheim schreibt er am 12. Juni 1917 aus Berlin: „Max Weber hat sich im Kriege zu einem derartigen Radikalismus entwickelt und beurteilt die ganze Lage derartig pessimistisch und feindseelig, daß er sich total isolirt hat und mit den meisten Leuten verkracht hat, unter anderem auch mit mir. Ältere politische und prinzipielle Differenzen brachen bei ihm durch, sodaß er ohne besonderen Anlaß aufs schroffste mit mir gebrochen hat. Sein Leben ist im Grund ein fortwährendes Duell mit allem, was er als Korruption ansieht, und vor allem mit der Person des Kaisers, den er für das Meiste verantwortlich macht. Da ist ein Streit unmöglich. Daß es mir sehr 12 leid tut und sehr gegen meinen Wunsch erfolgt ist, können Sie sich denken“. Vier Monate später erklärt er gegenüber Heinrich Dietzel: „Er [sc. Weber] hält 13 mich für einen flauen Kompromißmenschen und politischen Kretin“. (Hrsg.): Semper Apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386–1986. Festschrift in sechs Bänden, Band 3: Das zwanzigste Jahrhundert 1918–1985, Berlin u. a. 1985, S. 215–258. 11 Brief Ernst Troeltschs an Heinrich Dietzel vom 22. Oktober 1917, Privatsammlung, München. 12 Brief Ernst Troeltschs an Paul Honigsheim vom 12. Juni 1917, Bayerische Staatsbibliothek München, Deponat Max Weber, Ana 446 B. 13 Brief Ernst Troeltschs an Heinrich Dietzel vom 22. Oktober 1917, Privatsammlung, München.

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II Mehrfach hat Troeltsch seinen hohen Respekt vor Webers außerordentlicher Begabung und wissenschaftlicher Leistungskraft bekundet und anerkannt, daß der Heidelberger Freund der Genialere, Gebendere gewesen sei. Doch aufgrund der persönlichen Nähe hat er Weber immer auch als ein krankes Genie gesehen. In Briefen aus seiner Berliner Zeit schildert Troeltsch den ehemaligen Freund als eine zerrissene, von tiefen Widersprüchen geprägte, unbeherrscht aufbrausende, aber auch hochmoralische Persönlichkeit, die Gefühl und Intellekt, politische Leidenschaft und wissenschaftliche Sachlichkeit nicht vermitteln könne und in den Spannungen zwischen den heterogenen Wertsphären des Moralischen und Politischen unfähig zu pragmatischen Kompromissen sei. Als im Oktober 1917 einige Bonner Gelehrte erwägen, Max oder Alfred Weber auf einen nationalökonomischen Lehrstuhl nach Bonn zu berufen, schreibt Troeltsch an seinen alten Bonner Kollegen Dietzel: „Er [sc. Max Weber] hält sich [. . .] selbst jetzt für vollkommen gesund und sucht wieder öffentliche Betätigung. Er ist im Kreise des Verlegers Diederichs in Lauenstein und dann auf einem Volkshochschulkurs in Heppenheim äußerst anerkannt hervorgetreten. Die Teilnehmer berichten von überschäumender Kraft und Geistesfülle, allerdings auch von leidenschaftlicher Maßlosigkeit. [. . .] Im übrigen ist er mir im letzten Grund vielfach problematisch und undurchsichtig. Seine letzten gedanklichen Hintergründe kenne ich nicht. Es ist nur ein Schein, wenn er wie ein naturrechtlicher Demokrat erscheint. Wie er überall auf die Seite der ‚Verfolgten‘ tritt, so tritt er maßlos heftig auf diese Seite. Ein elementarer Haß gegen das preußische System und die Person des gegenwärtigen Monarchen ist dabei mit im Spiel. Seine Begründungen für die Demokratie etc sind aber stets historisch-nationalistisch und praktisch. Ich habe den Eindruck, daß in Wahrheit die praktische Politik sein Element ist und daß es nur seine riesige Begabung ist, die ihm daneben gestattet auch noch ein glänzender Gelehrter zu sein. Der praktische Politiker braucht keine letzten Grundsätze, aber die Kenntnis der Situation und ihrer Möglichkeiten. Wie sich mit diesem Relativismus seine moralische Intransigenz, die mit Vorliebe fremden Leuten das Gewissen macht, innerlich verträgt, ist mir niemals klar geworden. Sie kehrt sich am schärfsten gegen seine Freunde und gegen das herrschende Systen, gegen alles, was offiziell, gesättigt und in der Herrschaft befindlich ist oder scheint und giebt sich als Gerechtigkeit gegen die Verkannten und Unterdrückten. Sobald aber dieser Koller ausgetobt ist, hat er sofort wieder die sachlichste, relativistischste und klügste Beurteilung der Sachfragen und [. . .] [ein Wort unleserlich] seine Schützlinge genau so wie er seine Gegner verurteilt. Dann ist er der überlegene Gewaltmensch, der alles seinen politisch-nationalen Zielen unterwirft und nach Personen rechts und links nicht fragt. Die größte

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persönliche Uneigennützigkeit und die denkbar anständigste Gesinnung verstehen sich dabei von selbst. Immerhin gehöre ich auch in dieser Hinsicht zu den 14 gebrannten Kindern, die das Feuer scheuen“.

III Dieser Brief Troeltschs ist keineswegs nur von biographischem Interesse, etwa als Zeugnis für Troeltschs Verletztheit. Er benennt implizit die entscheidende Differenz der von den einstigen Freunden vertretenen Konzepte von Kulturwissenschaft: Webers Position im Werturteilsstreit, daß Kulturwissenschaft keine überindividuell verbindlichen „Werte“ formulieren könne, lehnt Troeltsch als „Relativismus“ ab. Sein eigenes Interesse richtet sich darauf, im Medium einer geschichtsphilosophischen Rekonstruktion von „Grundkräften“ der okzidentalen Geistesgeschichte „europäische Kulturwerte“ identifizieren zu können, die auch jenseits historistischer Infragestellung noch eine relativ allgemeine, für den europäischen „Kulturkreis“ (d. h. für Troeltsch: Europa einschließlich der USA und Rußlands) plausible Geltung sollen beanspruchen können. Je mehr Troeltsch die deutsche Gesellschaft als zersplittert und fragmentiert erfährt, desto stärker sucht er nach zukunftsfähigen kulturellen Gemeinsamkeiten, die politische Konsensbildung befördern können. Dieses Interesse an neuer werthafter Integration, das Troeltsch vor allem in den Anfangsjahren der Weimarer Republik betont, prägt auch seine Sicht von Webers Theorie: Im aristokratischen Individualismus des ehemaligen Freundes sieht er eine Werthaltung, die gesellschaftliche Konflikte gezielt verschärft, ohne eine zureichende Antwort auf die Frage nach den Bedingungen geben zu können, die den friedlichen Austrag der Gruppenkämpfe sicherstellen. Sehr viel deutlicher als andere Zeitgenossen hat Troeltsch die dezisionistischen Elemente in Webers politischer Theorie gesehen und kritisiert. Doch ist seine eigene Geschichtsphilosophie des Europäismus selbst stark von dezisionistischen Momenten geprägt.

IV Die Differenzen zwischen Webers und Troeltschs Konzeptionen von Kulturwissenschaft spiegeln ein Stück weit auch die unterschiedlichen akademischen und gelehrtenpolitischen Rollenverständnisse. Max Weber hat nach seiner Erkrankung und dem Rückzug aus der Heidelberger Universität das Leben eines 14 Ebd.

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freien kritischen Intellektuellen geführt, mit nur geringer Einbindung in akademische Institutionen und Organisationen. Demgegenüber hat Troeltsch als Heidelberger und Berliner Gelehrtenpolitiker in zahlreichen akademischen und kulturpolitischen Organisationen sowie in politischen und kirchlichen Institutionen Politik mitgestalten können; den Zentren politischer Macht ist er sehr viel näher gewesen als Weber. Dies gilt zunächst für die akademische Welt. Sowohl in der Heidelberger Universität als auch in diversen anderen akademischen Gremien hat Troeltsch einen sehr viel größeren institutionellen Einfluß als Weber auszuüben vermocht: Troeltsch, Ehrendoktor dreier Fakultäten, Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Akademien und seit dem Wintersemester 1909/10 als Ordinarius in der Theologischen Fakultät auch Mitglied der Philosophischen Fakultät, ist während der gemeinsamen Heidelberger Jahre dreimal Dekan der Theologischen Fakultät (1. Oktober 1898 bis 30. September 1899; 1. Oktober 1904 bis 30. September 1905; 1. Oktober 1910 bis 30. September 1911) und vom 15. März 1906 bis zum 14. März 1907 Prorektor (d. h. faktisch: der Rektor) der Universität gewesen. Als Nachfolger Wilhelm Windelbands hat er die Heidelberger Universität 1909 bis zu seinem Weggang nach Berlin im März 1915 in der Badischen I. Kammer vertreten. Seit der Zeit seines Rektorats hat er enge Kontakte zu hohen Ministerialbeamten unterhalten. Als prominentes Kammermitglied ist er in den Vorstand der Nationalliberalen Partei Badens kooptiert worden. 1912 bis 1915 ist er zudem Mitglied des Heidelberger Stadtrates gewesen. Seine enge Einbindung ins liberale Establishment Badens zeigt sich schließlich darin, daß der 1906 zum Geheimen Kirchenrat ernannte Troeltsch dem Vorstand mehrerer liberalprotestantischer Vereinigungen angehört hat und er vom Großherzog 1914 zum Mitglied der Badischen Generalsynode ernannt worden ist. Als Troeltsch Ende März 1915 Heidelberg verläßt und in die Reichshauptstadt umzieht, veranstaltet ein Ausschuß prominenter Heidelberger Bürger ihm zu Ehren ein großes öffentliches Abschiedsfest, an dem mehrere hundert Menschen, unter ihnen zahlreiche lokale Honoratioren, teilnehmen. Seit Beginn des Krieges, insbesondere nach dem Wechsel an die Berliner Universität im Frühjahr 1915, hat Troeltsch sein gelehrtenpolitisches Engagement noch einmal verstärkt. Er hat in der Abteilung für Kriegspropaganda des Auswärtigen Amtes mitgewirkt, wichtige Beraterfunktionen für die Reichskanzler Bethmann Hollweg und Max von Baden übernommen sowie die Politik mehrerer politischer Vereinigungen an prominenter Stelle mitbestimmt. Er hat den „Volksbund für Freiheit und Vaterland“ mitbegründet und im Vorstand dieser 1917/18 bedeutenden Vereinigung einen erheblichen Anteil an der Vorbereitung der späteren Weimarer Koalition aus Zentrum, DDP und SPD gehabt. Nach der Revolution ist Troeltsch in der Reichshauptstadt Berlin Spitzenkandidat der

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linksliberalen „Deutschen Demokratischen Partei“ für die Preußische Landesversammlung gewesen. Als DDP-Abgeordneter hat er vom März 1919 bis Juli 1920 dann das einflußreiche Amt des Unterstaatssekretärs im Preußischen Kultusministerium übernommen und an den Beratungen zur Weimarer Reichsverfassung mitgewirkt. Durch zahllose Vorträge, die Wahl zum Ehrenvorsitzenden der KantGesellschaft, die Übernahme der Präsidentschaft der Erlanger „Philosophischen Akademie“ und eine breite publizistische Tätigkeit dürfte er damals einer größeren Öffentlichkeit bekannt geworden sein als Max Weber. Meine These ist: In der Untersuchung der Beziehungen zwischen Troeltsch und Weber müssen wir diesen Differenzen ihrer öffentlichen Rollen sehr viel mehr Beachtung als bisher schenken. Troeltschs deutlich größere Nähe zu den Zentren politischer Macht dürfte jedenfalls ein (aber gewiß nicht: der einzige) Erklärungsgrund dafür sein, daß er nicht nur in seiner gelehrtenpolitischen Praxis, sondern auch in seiner Theorie die Unumgänglichkeit von Kompromißbildung betont hat. In seinen Publikationen zur Ethik ist „Kompromiß“ ein zentraler Begriff, und seine institutionenorientierte „Wert- und Güterethik“ dient der ethischen Rechtfertigung pragmatischer Verständigungsrationalität. Wo Weber einen unüberbrückbaren Hiatus zwischen den heterogenen Wertsphären von Politik, Ethik und Religion behauptet und dem Gelehrten, im Gegensatz 15 zum Politiker, das Recht bestreitet, Kompromisse zu schließen, ist Troeltsch um die theoretische Ermöglichung von Vermittlung bemüht – auch wenn er als Theologe zugleich betont hat, daß die Wahrheit der christlichen Religion in solchen Vermittlungen niemals aufgeht.

V Seit den späten zwanziger Jahren sind zahlreiche Schriften Ernst Troeltschs 16 ins Japanische übersetzt worden. 1980 bis 1988 haben die protestantischen Theologen Katsuhiko Kondô und Satô Toshio zusammen mit dem Soziologen Sumiya Kazuhiko dann eine zehnbändige japanische Ausgabe von Werken Ernst Troeltschs veröffentlicht, die neben zahlreichen kleineren Texten zur Theologie, Religionsphilosophie, Ethik und Kulturgeschichte des Protestantismus erstmals auch eine vollständige Übersetzung von „Der Historismus und seine Proble-

15 Vgl. Max Webers bekannten Brief an Carl Petersen vom 14. April 1920, zit. bei: Wolfgang J. Mommsen: Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920, 2. Aufl., Tübingen 1974, S. 333 f., jetzt in: MWG II/10, S. 985–989. 16 Einen ersten bibliographischen Überblick bietet Toshimasa Yasukata: Veröffentlichungen von Ernst Troeltsch in japanischer Sprache, in: METG 2 (1983), S. 91–94.

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me“ enthält. Im Juni 1989 ist in Tokyo dann eine japanische Ernst-TroeltschGesellschaft gegründet worden. Auch haben japanische Theologen, Historiker und Sozialwissenschaftler in den letzten Jahren diverse Monographien und zahlreiche Aufsätze über Ernst Troeltsch veröffentlicht. Warum betreiben japanische Intellektuelle eine so eindrucksvoll intensive Rezeption deutscher oder europäischer Theoretiker der „klassischen Moderne“? Für die Troeltsch-Rezeption japanischer protestantischer Theologen hat vor allem der am Tôkyô-Union-Theological-Seminary lehrende Ethiker Kondô Katsuhiko eine Antwort auf diese Frage zu geben versucht. Kondô hat darauf hingewiesen, daß die japanische Gesellschaft als eine kapitalistische Gesellschaft verstanden werden müsse, die zwar demokratische Institutionen, aber eine erst defizitär entwickelte demokratische politische Kultur habe. Die japanische Gesellschaft sei vom Ideal einer liberalen Zivilgesellschaft noch weit entfernt. Eine solche liberale Zivilgesellschaft lasse sich nur entwickeln, wenn es intermediäre gesellschaftliche Institutionen und Organisationen gebe, die die Bildung eines demokratischen Bewußtseins und liberaler Tugenden wie Toleranz, politische Partizipationsbereitschaft und Gemeinsinn förderten. Eine besondere Aufgabe käme dabei den religiösen Institutionen einer Gesellschaft zu. Eine liberale politische Kultur bzw. eine Zivilgesellschaft könne sich nur auf der Basis liberalitätsfördernder religiöser Traditionen bilden. In dieser Perspektive einer Theorie der Zivilgesellschaft ist deutlich, warum sich protestantische Theologen in Japan nach Wellen der Rezeption der tendenziell antiliberalen Theologien Karl Barths und Paul Tillichs nun verstärkt für die Kulturtheologie Ernst Troeltschs interessieren. Sie sehen in Troeltsch einen Theoretiker liberaler Religion und nehmen ihn für eine zivilgesellschaftliche Transformation der japanischen Gesellschaft sowie eine Liberalisierung des japanischen Christentums in Anspruch. Die theologische Troeltsch-Rezeption in Japan kon18 zentriert sich deshalb auf „Troeltschs Theologie der Demokratie“. Dazu hat Kondô Katsuhiko 1989 erklärt: „Japan gehört heute zu jenen Staaten, die sich das liberal-demokratische Verständnis des Politischen zu eigen gemacht haben. Doch obgleich Japan der Verfassung nach eine parlamentarische Demokratie ist, hat die japanische Gesellschaft das dafür erforderliche Ethos geschichtlich nicht selbst entwickeln können. Im Hinblick auf die Etablierung einer demokratischen politischen Kultur gibt es in Japan noch vielfältige Defizite. So scheint es uns wichtig, vom westeuropäisch-puritanischen Hintergrund der modernen Demo17 Einen deutschsprachigen Überblick über Aufbau und Inhalt der japanischen Werkausgabe bietet Katsuhiko Kondô: Die japanische Ausgabe der Werke Ernst Troeltschs und die japanische Ernst-Troeltsch-Gesellschaft, in: METG 5 (1990), S. 20–26. 18 Ebd., S. 25.

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kratie zu lernen und die der Demokratie zugrundeliegenden Leitideen für den japanischen Kontext fortzuentwickeln. Die theologischen Entwürfe Karl Barths und Paul Tillichs vermitteln dabei nur sehr wenig produktive Anregungen. Denn aufgrund ihrer Orientierung an sozialistischen Traditionen bzw. bei Tillich an Klassikern des Marxismus haben sie dem anglo-amerikanischen historischen Hintergrund der Demokratie wesentlich geringere Beachtung geschenkt als Troeltsch. Gerade mit Blick auf die faszinierenden demokratischen Bewegungen in den ehemals sozialistischen Ländern des östlichen Europa stellt sich heute mit besonderer Dringlichkeit die Frage, ob für die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Verantwortung von Theologie und Kirche eher eine sozialistische Tradition oder Troeltschs Theologie der Demokratie orientierungskräftig ist. Wir sind überzeugt, daß die Orientierungen und Anregungen, die Troeltsch zu vermitteln vermag, 19 bisher noch nicht zureichend aufgenommen worden sind.“ Diesem Interesse an einer eigenen japanischen Inkulturation eines liberalen Christentums kommt entgegen, daß Troeltsch in seinen Publikationen zur Frage der „Absolutheit des Christentums“ die historische Partikularität und kulturelle Relativität der okzidentalen Christentümer betont und neue Synthesen von Christentum und Kultur bzw. neue Inkulturationen christlicher Traditionsbestände für theologisch legitim erklärt hat. Insoweit hat die theologische Troeltsch-Rezeption in Japan ein hohes Maß an innerer Plausibilität: Durch eine kritische Auseinandersetzung mit Troeltschs Theorie des „Europäismus“ und mit seiner Einschränkung der Geltungskraft des Christlichen auf den europäischamerikanischen Kulturkreis sollen Möglichkeiten einer eigenständigen „Kultursynthese“ von liberaler Christlichkeit und japanischer Tradition erschlossen werden. Demgegenüber fällt es deutlich schwerer, plausible Erklärungen für die äußerst intensive Weber-Rezeption in Japan zu finden. Die Ausdifferenzierung der Soziologie als einer relativ autonomen Kulturwissenschaft ist in den europäischen Gesellschaften des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, vor allem in Frankreich, zumeist mit dem aufklärerischen Anspruch verbunden gewesen, religiöse Heteronomie zugunsten einer neuen sozialen Selbstbestimmung des Menschen als eines Gesellschaftswesens abzulösen. Solche Programme, in denen die Soziologie sich gleichermaßen als Erbin wie als Überbieterin der christlichen Überlieferung und des in ihr traditionell repräsentierten Heils- und Orientierungswissens darstellt, wirken heute, unter den Bedingungen einer zunehmend sich selbst historisierenden Soziologie, nurmehr als fossile Gestalten eines bürgerlichen Fortschrittsglaubens, der nicht weniger der Vergangenheit angehört

19 Ebd., S. 25.

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als viele der von ihm einst verabschiedeten religiösen Bewußtseinsgestalten. Der Umgang vieler Soziologen mit den Gründungsvätern der Disziplin stellt sich bisweilen als eine Art Ahnenkult im Klassiker-Pantheon bzw. als eine neue Art von Heiligenverehrung dar. Prägen solche Tendenzen zur Sakralisierung der „Klassiker“ der Soziologie auch die mit eindrucksvoll hohem Aufwand betriebene japanische Weber-Forschung? Dringender als ein japanisch-deutscher Austausch über einzelne philologische oder biographische Probleme der Weber-Forschung bzw. die Klärung noch offener werkgeschichtlicher Fragen dürfte auf Dauer ein Gespräch über die Frage nach den kulturpraktischen Zielen sein, die sich mit der intensiven Rezeption Webers in Japan verbunden haben und möglicherweise noch verbinden. Warum ist gerade Max Weber als der Klassiker der Moderne nach Japan transportiert worden? Verbinden sich mit der Weber-Rezeption allein historische Erkenntnisinteressen wie insbesondere die Absicht, mit Kategorien der Weberschen Religionssoziologie genauere Aufschlüsse über die spezifische Genese des japanischen Kapitalismus zu erlangen? Oder verbinden japanische Intellektuelle mit ihrer Weber-Rezeption weitergehende kulturpraktische oder politische Interessen? Mit welchen praktischen Wertorientierungen ist ihre Weber-Lektüre verbunden? Dient ihnen die kritische Aneignung der Schriften Max Webers dazu, Orientierungswissen darüber zu gewinnen, wie der besonders schnelle und erfolgreiche japanische Weg in die kulturelle Moderne in Zukunft fortgesetzt werden soll? Solche Fragen gewinnen besonderes Gewicht angesichts der einschneidenden politischen Umbrüche in Japan. Wer sich an Max Weber und Ernst Troeltsch orientiert, wird diesen Fragen in einem japanisch-deutschen kulturwissenschaftlichen Dialog über Theoretiker der „klassischen Moderne“ des frühen 20. Jahrhunderts nicht ausweichen dürfen. Weber und Troeltsch haben zwar unterschiedlich darüber geurteilt, ob Kulturwissenschaftler den Anspruch erheben sollen bzw. können, allgemein verbindliche Kulturwerte zu begründen bzw. der Gesellschaft oder einzelnen sozialen Gruppen praktische Orientierungen zu vermitteln. Trotz ihrer unterschiedlichen Positionen im Werturteilsstreit sind sich die beiden Heidelberger Freunde aber darin einig gewesen, daß Kulturwissenschaft dem einzelnen dazu verhelfen kann, ein klareres Wissen über die Implikationen und möglichen Folgen seines Handelns zu gewinnen.

Distanz aus Nähe. Einige Anmerkungen zum „Weber-Paradigma“ in Perspektiven der neueren Troeltsch-Forschung In der Einladung zu dieser Tagung haben Gert Albert, Agathe Bienfait, Steffen Sigmund und Claus Wendt ihr Konzept des „Weber-Paradigmas“ mit dem Hinweis darauf erläutert, daß die spezifische „Fruchtbarkeit der Weberschen Programmatik“ auch aus „ihre[r] Interdisziplinarität“ resultiere. „Als Jurist, Ökonom und Historiker hat Max Weber die soziologische Problemstellung so skizziert, daß sie auf die Überwindung der Fragmentierungen innerhalb der Kultur- und Sozialwissenschaften zielte. Die unproduktive Selbstbeschränkung der formal spezialisierten Disziplinen sollte durch das Vertrauen in die Potenziale eines fächerübergreifenden Diskurses aufgegeben werden.“ Im programmatischen Einladungstext haben die Veranstalter zudem betont, daß „Webers Denken individualistisch“ sei, „ohne deshalb der voluntaristischen Fiktion reiner Selbsterschaffung zu folgen“. Der Systematische Theologe hat diese Formulierung mit professionsspezifischer Nachdenklichkeit gelesen: Als ein kulturprotestantischer Kantianer, der auch von Max Weber zu lernen bemüht gewesen ist, war ich erleichtert zu sehen, daß die jüngeren Heidelberger „Weber-Paradigma“-Experten im Mentor ihrer intellektuellen Bemühungen noch keinen Theorieproduzenten mit nahezu gottgleicher Kreationskompetenz erblicken. „Reine Selbsterschaffung“ – das war ursprünglich eine Reflexionsfigur der aristotelisch inspirierten Metaphysik und der christlichen Gotteslehre, speziell der Trinitätslehre. Es macht gerade unter kritizistischen, an Kants Dekonstruktion traditioneller Metaphysik orientierten Denkbedingungen keinerlei Sinn, einem denkenden Menschen zuzumuten, daß er seine Gedanken bzw. seine Theorie durch „reine Selbsterschaffung“ erzeugt habe. Der emphatische methodische Individualismus, der Max Webers Theorie sozialen Handelns prägt, sollte deshalb nicht abstrakt, in Reflexionsfiguren reiner Selbstbezüglichkeit gelesen werden. Im Einladungstext erteilen die Einladenden den Vortragenden einen klaren Arbeitsauftrag: „Vortrag und Diskussion stehen unter der Prämisse einer weitergehenden Konsolidierung des Weber-Paradigmas und sollten von den Teilnehmern vorrangig vor dem Hintergrund der übergreifenden programmatischen Fragestellung dieses Kolloquiums betrachtet werden.“ Dieser Arbeitsauftrag setzt ein Wissen um die differentia specifica zwischen dem „Weber-Paradigma“ und anderen Theorieprogrammen der Sozialwissenschaften voraus. Wie auch immer es um die Plausibilität der Rede von einem Weber-Paradigma bestellt sein mag – bei mir hat diese Formulierung eine Art Lockescher Ideenassoziation provoziert. Für meine wissenschaftshistorischen Studien zur Geschichte der konfessionel-

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len Theologien im 20. Jahrhundert habe ich von M. Rainer Lepsius’ Arbeiten zur Geschichte der deutschsprachigen Soziologie in der Zwischenkriegszeit zu 1 lernen versucht. Lepsius operiert dort mit dem Begriff „Paradigmenkämpfe“, die in der Soziologie wie in jeder anderen sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplin geführt worden seien. Sein Konzept der „Paradigmenkämpfe“ hat mir dabei geholfen, die harten Grundlagenkontroversen und Methodenstreitigkeiten innerhalb der protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts besser zu verstehen. Dies bedeutet aber auch: Es gibt Gründe rationaler Bescheidenheit, sich zur Aufforderung, nun mit den Heidelberger Vordenkern des „Weber-Paradigmas“ in die Paradigmenkämpfe der Soziologen zu ziehen, kritisch distanziert zu verhalten. Gerade angesichts der Faszinationskraft, die Max Weber als Intellektueller insbesondere in seinen religionssoziologischen und vor allem methodologischen Arbeiten auf mich ausübt, scheint es mir klüger, nicht die Rolle eines embedded theologian in den aktuellen Paradigmenkämpfen der deutschen Soziologie zu übernehmen. Ich beschränke mich vielmehr auf einige Hinweise zur Erforschung des Heidelberger liberalen Gelehrtenmilieus um 1900.

I. Paradigm lost, oder: Heidelberger Konstellationen kulturwissenschaftlichen Denkens Als Ernst Troeltsch zum Sommersemester 1894 nach Heidelberg kam, knüpfte der damals erst 29 Jahre alte Ordinarius bald freundschaftliche Kontakte zu gleichaltrigen Kollegen aus anderen Fakultäten. Seine Briefe aus den ersten Heidelberger Jahren lassen erkennen, daß er die zumeist deutlich älteren Kollegen in der Theologischen Fakultät als langweilig, eitel, herablassend und theologisch altmodisch erlebte, mit Ausnahme nur des Praktischen Theologen Heinrich Bassermann. Die „Signatur der Fakultät“ sei „Kirchhofsfrieden“, schrieb Troeltsch im April 1897 an den Marburger liberalprotestantischen Neutestamentler Adolf 2 Jülicher. Desto wichtiger war für ihn der tägliche freundschaftliche Austausch mit den ebenfalls noch vergleichsweise jungen Kollegen aus anderen Fakultäten. Erst als Adolf Deißmann zum Wintersemester 1897/98 dem Ruf auf den Lehrstuhl für Neutestamentliche Exegese und Kritik Folge leistete, hatte Troeltsch in

1 Siehe: M. Rainer Lepsius: Die Soziologie in der Zwischenkriegszeit. Entwicklungstendenzen und Beurteilungskriterien, in: ders. (Hrsg.): Soziologie in Deutschland und Österreich 1918–1945, Opladen 1981, S. 7–23. 2 Brief Ernst Troeltschs an Adolf Jülicher vom 17. April 1897, Universitätsbibliothek Marburg, Nachlaß Adolf Jülicher, Hs. 695, 1135, demnächst in KGA 19.

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seiner Fakultät „endlich wieder wissenschaftliche Anregung u[nd] Aussprache“ . Die persönlich wie wissenschaftlich wichtigsten Gespräche führte er jedoch mit Freunden aus anderen Fakultäten. „Den meisten Umgang pflege ich außerhalb der Fakultät. Max Weber, Hensel, Carl Neumann u[nd] mehrere andere sind mir sehr liebe Freunde. [. . .] An Anregung u[nd] Austausch fehlt es nicht“, schrieb 4 Troeltsch am 5. August 1898 an seinen alten Studienfreund Wilhelm Bousset, einen Göttinger religionsgeschichtlich arbeitenden Neutestamentler, dessen Texte auch von Max Weber intensiv gelesen wurden. Auch in späteren Briefen und anderen biographischen Zeugnissen betonte Troeltsch immer wieder, wie wichtig ihm die Gespräche mit seinen Freunden aus anderen Fakultäten geworden seien. Sein Schüler Otto Frommel, der seit 1907 in Heidelberg als Stadtpfarrer und Hauptlehrer am Praktisch-Theologischen Seminar der Universität wirkte und mit Marianne Weber befreundet war, teilte in einem Nachruf für das „Heidelberger Tageblatt“ Erinnerungen an eine Unterredung mit Troeltsch im September 1922 mit. „Noch im vergangenen Herbste sprach er es bei einem kurzen Besuch mir gegenüber aus: hier habe er die entscheidenden Jahre durchlebt, hier die für 5 sein Leben wichtigsten Verbindungen geknüpft.“ Diese „Verbindungen“ spiegeln sich intensiv auch in Troeltschs Publikationen aus den Heidelberger Jahren. Exemplarisch genannt seien die 122 Rezensionen und Essays zu Neuerschei6 nungen, die Ernst Troeltsch zwischen 1901 und 1914 schrieb. Die zu einem großen Teil kaum bekannten Texte bieten auch faszinierende neue Einblicke in die damals in Heidelberg geführten kulturwissenschaftlichen Debatten. Einige der von Troeltsch veröffentlichten Besprechungen stehen in einem sehr engen Zusammenhang mit den intensiven Diskussionen um eine kritische Methodologie der Kulturwissenschaften, wie sie von den Südwestdeutschen Neukantianern und ihren Schülern seit den späten 1890er Jahren geführt wurden. Auch sind Troeltschs Buchbesprechungen seit 1900 stark geprägt von den Heidelberger Diskussionen um die „Kulturbedeutung“ von Religion und Christentum sowie dem Streit über die Genese des modernen okzidentalen Betriebskapitalismus aus dem puritanischen Geist innerweltlicher Askese. Troeltschs Rezensionen lassen erkennen: Sowohl in diesen methodologischen Debatten als auch in der Suche nach den genetischen Wurzeln der kapitalistischen Moderne ging es den Heidelberger Kulturdeutern um eine präzisere Diagnose ihrer Gegenwart. Methodendiskurs, kulturhistorische Forschung und Deutung der Moderne waren eng 3 Brief Ernst Troeltschs an Wilhelm Bousset vom 5. August 1898, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. Bousset 130, 41, demnächst in KGA 19. 4 Ebd. 5 Otto Frommel: Erinnerungen an Ernst Troeltsch, in: Heidelberger Tageblatt, Nr. 32, 7. Februar 1923, S. 3 f., jetzt in: TS 12, S. 294–298, hier S. 297. 6 Vgl. KGA 4.

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verknüpft mit normativen Geltungsfragen und der Begründung von „Kulturwerten“. Auch diese normative Dimension der Frage nach der „Kulturbedeutung“ spielte in Troeltschs Rezensionen eine wichtige Rolle. Sie lassen sich insoweit auch als Texte lesen, die einen anderen, eben durch seine spezifischen Perspektiven und Interessen geprägten Blick auf die Heidelberger kulturwissenschaftliche Diskussionslage um 1900 ermöglichen. Trotz des Booms an Weber-Forschung sind die produktiven „Konstellationen“ des Denkens, die sich aus der kontingenten Begegnung von weithin gleichaltrigen Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen im Heidelberg der klassischen Moderne um 1900 ergaben, erst annäherungsweise erforscht. Die in zahlreichen intellektualgeschichtlichen Heidelberg-Studien zu beobachtende Fixierung auf die heroisierte übermächtige Gestalt Max Webers hat zu vielfältigen Verengungen der Wahrnehmungsperspektiven geführt. Die Etablierung einer eigenen transnational expandierenden Weber-Deutungsindustrie hat auch Tendenzen einer Entkontextualisierung Webers Vorschub geleistet, die Deutungshorizonte zu verengen droht. Gegenüber den in manchen neueren Produkten der Weber-Forschung zu beobachtenden Verfahren, Weber rein immanent zu deuten und die von ihm entworfenen, faszinierend reichen und vielschichtigen Deutungswelten auf die genialische Zeugungskraft eines isolierten großen einzelnen zurückzuführen, schlage ich vor, stärker die Heidelberger Gesprächskonstellationen um 1900 in den Blick zu nehmen. Dazu ist es hilfreich, sich an Methoden der philosophiehistorischen „Konstellationsforschung“ zu orientieren. „Konstellationsforschung“ läßt sich mit Dieter Henrich als der produktive Versuch beschreiben, sich in der Rekonstruktion von Theorien nicht am einzelnen Denker und seinem mehr oder minder artifiziell, jedenfalls durch Dezision und systematische Konstruktion isolierten Werk zu orientieren, sondern vorrangig jenes diskursive „Kraftfeld“ dichter mündlicher Kommunikation und engen literarischen Austauschs in den Blick zu nehmen, das den einzelnen Konzep7 tionen immer schon vorausliegt. Auch ein solches „Kraftfeld“ verdankt sich konstruktiven Akten und Selektionsentscheidungen des Ideenhistorikers oder eines systematisch orientierten Wissenschaftlers, der sich historische Theorien mit Blick auf ihren aktuellen systematischen Gehalt bzw. um ihrer analytischen Leistungs- oder Erschließungskraft willen anzueignen sucht. Zu konstruieren sind beispielsweise die Grenzen des Kraftfeldes, die möglichen Machtstrukturen des Diskurses und die zentralen Themen. Auch ist zu entscheiden, welche Denker als Akteure innerhalb der „Konstellation“ zu berücksichtigen sind.

7 Vgl. Dieter Henrich: Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789–1795), Stuttgart 1991.

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Dieter Henrich hat sein Konzept der „Konstellationsforschung“ vor allem für die Konstellation nachkantisch idealistischen Symphilosophierens entwickelt. Seine methodologischen Erwägungen zur „Konstellationsanalyse“ lassen sich für die Heidelberger Gesprächskonstellation um 1900 fruchtbar machen. „Trotz der großen Bedeutung persönlicher und freundschaftlicher Verständigungen für den Gang des Denkens in dieser Zeit waren zwar die philosophischen Konzeptionen immer Leistungen von einzelnen. Innerhalb dieser Konzeptionen wirken sich aber viele Faktoren aus, die nur in Beziehung auf das gegenüber den Konzeptionen vorgängige Kraftfeld eine Erklärung finden können. Zu ihnen gehören etwa: die Dringlichkeit, die einzelnen Problemen und Perspektiven zuerkannt ist, eine Bereitschaft zur Umorganisation des eigenen Standpunktes, die sich von Kraftlinien innerhalb jenes jedermann vertrauten Feldes herleitet, Aussichten auf die synthetische Behandlung von Problemlinien, die sich aus der Verfassung des 8 Feldes heraus öffnen.“ Für die ideenhistorische Forschung bedeutet dies „eine 9 Umorientierung der Perspektive auf den einzelnen Autor“. Das Werk des einzelnen Autors darf nicht mehr in fiktionalen Konstruktionsmustern immanenter Genese – als ob der Autor sich rein aus sich und dank eigener Einsicht weiterentwickelt habe – gedeutet, sondern muß mit Blick auf die kommunikativen Prozesse im theorierelevanten Kraftfeld wahrgenommen werden. Zusammenhänge zwischen Troeltschs Rezensionstätigkeit und den Konstellationen kulturwissenschaftlichen Denkens im Heidelberg des frühen 20. Jahrhunderts lassen sich zunächst daran erkennen, daß er mehrfach Arbeiten von Heidelberger Freunden und Kollegen in theologischen Zeitschriften anzeigte. Dies gilt auch für einige Werke, die die Autoren ihm mit einer Widmung geschenkt hatten; ein naheliegendes Motiv fürs Rezensieren, das Interesse am Besitz des Buches, schied hier aus. Troeltsch besprach darüber hinaus Publikationen Heinrich Rickerts und seiner Schüler, die zum Teil aus Freiburg nach Heidelberg zu Wilhelm Windelband kamen und auch den Kontakt zu Troeltsch suchten. Mehrere von ihm rezensierte Bücher wurden auch von anderen Heidelberger Kulturdeutern intensiv gelesen; wahrscheinlich machte man sich wechselseitig auf interessante Neuerscheinungen aufmerksam. Zusammenhänge zwischen Troeltschs Rezensionstätigkeit und dem Dauergespräch mit den Heidelberger Freunden zeigen sich auch auf begrifflicher Ebene. Troeltsch benutzte in seinen Buchbesprechungen immer wieder Begriffe, die er bei anderen Heidelberger Autoren entlehnt haben dürfte; zugleich läßt sich auch ein Begriffstransfer aus Arbeiten Troeltschs in Texte Max Webers und anderer Heidelberger beobachten.

8 Ebd., S. 12. 9 Ebd., S. 12.

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Die intellektuellen „Konstellationen“, die für Troeltsch in Heidelberg prägend waren, gewannen zum Teil in regelmäßig zusammenkommenden Gesprächskreisen feste Gestalt. Troeltsch gehörte mehreren dieser Kreise an. Neben diesen Zirkeln und später dem berühmten sonntäglichen Jour der Webers, an dem Troeltsch in aller Regel teilnahm, wurde die Gesprächslage durch die zum Teil emotional dichten Freundschaftsbeziehungen geprägt. Hier sprachen Tag für Tag hochgebildete Menschen über existentielle Grundprobleme ihrer „Lebensführung“ und über eine angemessene Diagnose ihrer Gegenwart miteinander. Allerdings läßt sich der geistige Austausch unter Intellektuellen nur sehr schwer rekonstruieren, findet er eben weithin mündlich statt. Gerade dadurch gewinnen Troeltschs Rezensionen zu Heidelberger Arbeiten ihr besonderes Gewicht. In ihnen reflektieren sich Spuren von Intersubjektivität und Mündlichkeit stärker als in anderen Textgattungen, weil hier die kommunikativen Prozesse der Auseinandersetzung mit den Thesen der Freunde und die Erarbeitung einer individuellen Position im Rahmen der „Konstellation“ literarischen Ausdruck gewinnt. Die neuere Troeltsch-Forschung wird weithin von Theologen und Kultur- bzw. Ideenhistorikern betrieben. Sozialwissenschaftler und Soziologen haben sich bisher nur am Rande für die neueren Entwicklungen der Troeltsch-Forschung interessiert; Wolfgang Schluchter nimmt mit seinem Versuch, nun Troeltschs bekannte „Absolutheitsschrift“ in die „Rekonstruktion“ von Webers religionsso10 ziologischen Studien einzubeziehen, eine rühmliche Ausnahmestellung ein. Geht man hypothetisch einmal davon aus, daß innerhalb der Heidelberger „Konstellation“ die „Fachmenschenfreundschaft“ zwischen Max Weber und Ernst Troeltsch eine intellektuell besonders produktive, für beide folgenreiche „Figuration“ repräsentierte, so zwingt „Konstellationsforschung“ auch dazu, überkommene Kommunikationsbarrieren zwischen der community der Troeltsch-Forscher und der sehr viel größeren und disziplinär ungleich weiter differenzierten WeberForschung zu überwinden. Blickt man in Perspektiven der neueren TroeltschForschung auf das Heidelberger diskursive „Kraftfeld“, so lassen sich diskursive Strukturen erschließen, die möglicherweise auch neue Blicke auf Webers Werk ermöglichen. In Troeltsch-Perspektiven stellt sich sein Heidelberg vor 1914 als ein Denklaboratorium dar, in dem vor allem eine gegenüber konkurrierenden Konzepten der Kulturgeschichtsschreibung – etwa der in den Augen vieler Heidelberger methodisch naiven „Kulturgeschichte“ Karl Lamprechts – eigenständige „kulturgeschichtliche Methode“ zu entwickeln versucht wurde. Dafür sei nur ein Beispiel genannt: Im Frühsommer 1913 schickte der Romanist Karl Vossler, der sich 1899 in Heidelberg habilitiert hatte und hier vom Wintersemester 10 Wolfgang Schluchter: Die Entstehung des modernen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Entwicklungsgeschichte des Okzidents, Frankfurt a. M. 1998, S. 28–31.

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1902/03 bis zum Wintersemester 1908/09 als außerordentlicher Professor lehrte, Troeltsch ein Widmungsexemplar seines Buches „Frankreichs Kultur im Spiegel seiner Sprachentwicklung“ (1913) zu. In seinem Dankesbrief kam Troeltsch auch auf den spezifischen Stil kulturhistorischer Forschung der Heidelberger zu sprechen. „Die Durchführung einer kulturgeschichtlichen und darum großen Teils soziologischen Betrachtung auf dem Gebiete der Sprachwissenschaft liegt in der Richtung historischer Anschauung, die auch mir mutatis mutandis auf meinem Gebiete vorschwebt. Dabei fallen dann auch sehr schöne u[nd] lehrreiche litteratur- und kulturgeschichtliche Bilder ab [. . .]. Mir ist Ihr Buch ein erfreuliches Zeichen der Fruchtbarkeit der hier in Heidelberg vertretenen kulturgeschichtlichen Methoden u[nd] insoferne ein Helfer gegen all die vielen Leute, die darüber schimpfen u[nd] sich nur an die naturgemäß unvermeidlichen Stellen der Konstruktion u[nd] Intuition halten, die exakt historisch noch nicht bewiesen sind u[nd] vielleicht es nie werden können oder sich bei genauerer Detailkenntnis erhebliche Modifikationen gefallen lassen müssen. Insoferne ist 11 mir Ihr Buch ein Zeichen dauernder Geistesgemeinschaft.“ Orientiert man sich an Troeltsch, so wurde diese Geistesgemeinschaft entscheidend von Gelehrten mitgeprägt, die in der Weber-Forschung bisher nicht oder nur am Rande Erwähnung finden. Exemplarisch genannt sei neben dem Philosophen Paul Hensel, der über Grundlagenprobleme der Ethik arbeitete, der Kunsthistoriker Carl Neumann, der seit seiner Habilitation von 1894 bis 1903 und wieder seit 1911 in Heidelberg lehrte. Neumann war ein Schüler Jacob Burckhardts, über den er seit den späten 1890er Jahren zahlreiche Essays und kleinere Studien publizierte. Troeltsch verdankte seine Begeisterung für Burckhardt den Anregungen seines engen Freundes Neumann. Darf man Vergleichbares auch für Weber vermuten? Die Schlußpassagen von „Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus“ lassen sich auch als Zeugnis einer an Burckhardt orientierten kulturskeptischen Sicht der Moderne lesen.

II. „Troeltschchen“, der „liebste Freund“, oder: Die ewigen Gespräche erschöpfen Max Für Konstellationsforschung zentral ist die differenzierte Erschließung der Lektürepensen der beteiligten Denker. Zugleich ist die jeweilige literarische Produktion zeitlich präzise zu bestimmen, um klären zu können, wer wann was gelesen hat

11 Brief Ernst Troeltschs an Karl Vossler vom 19. Mai 1913, Bayerische Staatsbibliothek München, Ana 350, 12 A.

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oder hat lesen können. Mit Blick auf Troeltsch und Weber lassen sich für einzelne Produktionsphasen sehr dichte und enge Konstellationen des Austauschs nachweisen. Ein erheblicher Teil der Literatur, die Max Weber in der ersten Fassung der „Protestantischen Ethik“ verarbeitete, ist zu diesem Zeitpunkt bereits in Texten Troeltschs nachweisbar. Darf man daraus folgern, daß Troeltsch den um seine Genesung und die Wiedererlangung seiner vollen Arbeitskraft ringenden Freund bei der Literatursuche und -beschaffung für die „Protestantische Ethik“ beriet? Ich halte es für unwahrscheinlich, daß zwei Intellektuellen-Freunde, die nahezu täglich miteinander reden und von denen der eine der „Fachmann“ fürs Religiöse und Theologische ist, sich dann nicht auch über die theologische Literatur austauschen, die der Nicht-Fachmann für seine Protestantismus-Studien jeweils liest bzw. noch zu lesen hat. Diese Vermutung gewinnt dadurch an Gewicht, daß Ernst Troeltsch zu der Zeit, als Weber an der „Protestantischen Ethik“ schrieb, die im November 1904 und Juni 1905 erschien, selbst an einer großen Studie über die Kulturbedeutung des modernen Protestantismus arbeitete. Es ist nichts darüber bekannt, wann genau Troeltsch mit der Niederschrift seiner über 200 Seiten umfassenden Studie „Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit“ begann. Den Vertrag zur Mitarbeit an Paul Hinnebergs großer Enzyklopädie „Die Kultur der Gegenwart“, in der seine Studie erschien, un12 terzeichnete Troeltsch im September 1902. Das Manuskript seines Beitrages schickte Troeltsch spätestens im April 1905 an den Verlag. Einen Separatdruck von „Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit“ gab er auch Max Weber; er wird in der Max-Weber-Arbeitsstelle der Bayerischen Akademie der Wissenschaften verwahrt. Dies bedeutet: Zumindest während Max Webers Arbeit am zweiten Teil der „Protestantischen Ethik“ – möglicherweise auch schon bei der Arbeit am ersten Teil – war auch Ernst Troeltsch mit kulturgeschichtlichen Protestantismus-Studien befaßt. Erkennbar sind vielfältige intertextuelle Bezüge zwischen den damals geschriebenen Protestantismus-Studien der beiden Freunde. So wie Weber in der Erstfassung der „Protestantischen Ethik“ sich auf Texte Troeltschs stützte, so nahm Troeltsch in seiner großen Hinneberg-Studie mehrfach auf Weber Bezug. Die damals gegebene hohe Übereinstimmung der Interessen spiegelt sich schließlich auch in dem bekannten Vortrag über „Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt“, den Ernst Troeltsch am 21. April 1906 in Stuttgart vor dem IX. Deutschen Historikertag hielt. Bekanntlich hatte Georg von Below, der Präsident des Kongresses, ursprünglich Max Weber eingeladen, dieser dann aber seinen Freund empfohlen. Webers Begründung gegenüber von Below, der beim VII. Deutschen Historikertag

12 Vgl. hierzu und im folgenden den Editorischen Bericht in KGA 7, S. 39–80.

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in Heidelberg 1903 ein Referat über „Die Entstehung des modernen Kapitalismus“ gehalten hatte, an das sich eine kontroverse Debatte über Sombarts Thesen 13 zur Genese des modernen Kapitalismus anschloß, läßt neben dem hohen Respekt vor der theologischen Fachmenschenkompetenz Troeltschs auch Momente von Konkurrenz und Prioritätseifersüchtelei erkennen. Ausdrücklich bat Weber von Below, „Tröltsch nicht zu schreiben, dass ich ihn in Vorschlag gebracht habe“. Sein Zurücktreten hinter Troeltsch begründete Weber so: „Tr.’s vortreffliche Leistung (bei Hinneberg) mag in sehr vielen Punkten auf Anregung aus unseren Gesprächen und meine Aufsätze zurückgehen, (vielleicht noch mehr, als er weiss) – aber er ist der theologische Fachmann und beherrscht damit das Entscheidende: die massgebende Idee. Hat nun der Fachmann eine umfassende Leistung vorgelegt, so soll er sie m. E. vor der Oeffentlichkeit vertreten. Es würde sich sonderbar ausnehmen, wenn ich das jetzt täte. Zudem hat Tr. natürlich eine Fülle von Dingen geleistet, (Analyse Luthers, Calvins), die ich so absolut garnicht hätte leisten können, weil mir die Kenntnisse dazu fehlen. Also ist er der Berufenere, und ich denke, er wird sich sehr gern dazu bereit finden lassen, wenn ich ihm ausrede, dass ich ihm ein ‚Opfer‘ durch mein Zurücktreten 14 bringe.“ Troeltsch dürfte zu diesem Zeitpunkt bereits gewußt haben, daß von Below Weber um den Vortrag gebeten hatte. Denn nur so läßt sich Webers Bitte verstehen, von Below solle Troeltsch nichts davon berichten, daß er, Weber, den Freund vorgeschlagen habe. Daß er dem Freund „ausreden“ will, ein Opfer gebracht zu haben, setzt jedenfalls ein Wissen Troeltschs um die Einladung an Weber voraus. Einige wichtige Hinweise auf den phasenweise äußerst intensiven mündlichen Austausch zwischen den Freunden finden sich in den Briefen Marianne Webers an Helene Weber. Sie bieten vor allem für die frühen Jahre der Freundschaft Einblicke in die äußerst komplexe und vielschichtige Verbundenheit von emotional dichter Freundschaft und wissenschaftlichem Austausch. Zumindest in den Jahren 1898 bis 1900 waren die Beziehungen zwischen Max und Ernst auch emotional sehr eng. Dazu trug bei, daß auch Marianne Ernst „lieb gewon-

13 Siehe: Friedrich Wilhelm Graf: Die „kompetentesten“ Gesprächspartner? Implizite theologische Werturteile in Max Webers „Protestantischer Ethik“, in: Volkhard Krech, Hartmann Tyrell (Hrsg.): Religionssoziologie um 1900 (Religion in der Gesellschaft, Band 1), Würzburg 1995, S. 209–248, hier S. 221, in diesem Band oben, S. 111–149, hier S. 125. 14 Brief Max Webers an Georg von Below vom 23. September 1905, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin, VI. HA, Nachlaß Max Weber, Nr. 30, Band 4. Auszüge des Briefes sind abgedruckt in der maschinenschriftlichen Dissertation von Hans Cymorek: Georg von Below. Politische Geschichtswissenschaft in einer Zeit des Umbruchs (1858–1927), Diss. masch. HU Berlin, 1995. Die Passage wurde in die gedruckte Fassung der Dissertation „Georg von Below und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900“, Stuttgart 1998, nicht übernommen.

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Teil C: Konstellationen

nen“ hatte und der damals noch unverheiratete Theologe mit der „Freundin“ viele intime Gespräche über seine Beziehungen zu Frauen führte und mit ihr über „die moderne Frauenfrage“ stritt. Marianne Weber zeichnet in ihren Briefen an Helene Weber ein Bild von Troeltsch, in dem dieser als der damals engste Freund von Max erscheint. Sie beschreibt Troeltsch als den Freund, mit dem Max immer wieder lange wissenschaftliche Gespräche führt, und schätzt den Theologenfreund als den für Max wichtigsten, nahezu kongenialen Gesprächspartner. Näherer Erläuterung bedarf dieses „nahezu“. In den Briefen finden sich immer wieder Formeln, in denen Marianne gegenüber ihrer Schwiegermutter die unvergleichliche Kompetenz, Leistungskraft und Darstellungsgabe ihres Mannes rühmt. So gut wie Max könne es kein anderer, heißt es etwa mit Blick auf Vorträge vor den Frauen. Vor allem in den späten 1890er Jahren und während der Krankheit pflegten Ernst und Max eine äußerst enge Beziehung. Am 9. Februar 1899 berichtete Marianne über eine Rede, die Troeltsch aus Anlaß des 100. Geburtstages des kulturprotestantischen Theologen Richard Rothe am 28. Januar 1899 vormittags in Anwesenheit des Großherzogs und zahlreicher hoher badischer Politiker und Vertreter aller deutschen evangelisch-theologischen Fakultäten gehalten hatte. „Tröltschs Rede heute war sehr schön, die ganze Universität ist seines Lobes voll u. stolz auf ihn. Sobald sie im Druck erscheint, sollst Du sie haben. [. . .] Tröltsch besucht uns fast täglich – er ist ein furchtbar lieber treuer Freund, da er immer nur 1/4 Stündchen bleibt, freut Max sich auch jedes Mal über sein Kommen, während ihn Hensel’s papierner Rat [Lesart unsicher] sehr schnell strapaziert – sodaß ich immer auf Kohlen sitze. Wir haben jetzt aber ausgemacht, daß ich außer Tröltsch alle Freunde in meinem Zimmer empfange, dann kann 15 Max 10 Minuten erscheinen oder auch nicht.“ In den Zeiten der Krankheit war Troeltsch also der einzige der Heidelberger Kollegenfreunde, der unmittelbaren Zugang zu Max hatte. Desto mehr fällt auf, daß bisher keinerlei Briefe Ernst Troeltschs an Max Weber bekannt geworden sind. Es scheint wenig wahrscheinlich, daß Troeltsch in den langen Zeiten, in denen Max und Marianne auf Reisen waren, dem Freunde niemals schrieb. Als Georg Jellinek nach seinem Schlaganfall zur Kur weilte, erkundigte sich Troeltsch jedenfalls bei ihm nach seinem Wohlergehen. Zu vermuten ist insoweit, daß Troeltsch auch zu Max Kontakt hielt, als dieser aufgrund der Krankheit sei es mit Marianne, sei es allein gen Süden reiste. Hier besteht mit Blick auf die biographische Forschung noch Aufklärungsbedarf. Am 16. März 1898 berichtete Marianne ihrer Schwiegermutter davon, daß Max nun glücklicherweise eine Berlin-Reise abgesagt habe. „Er war gestern 15 Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 9. Februar 1899, Deponat.

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abend nach einem Spaziergang mit Tröltsch u. obligaten, angeregten wissenschaftlichen Gespräch u. auch vorgestern, als wir T. zum Abendessen hier hatten u. trotzdem wir ihn schon um 11 Uhr ‚hinauswarfen‘ wieder so massiv angespannt, daß ich ihn angefleht habe, diese Berliner Sache zu unterlassen, denn ich sehe ganz deutlich, daß jede intensive wissenschaftliche u. sonst angeregte 16 Unterhaltung ihm jetzt schädlich ist.“ Stellen dieser Art finden sich mehrfach. Insoweit stellt sich methodisch die Frage, inwieweit es im Rahmen der „Konstellationsforschung“ überhaupt möglich ist, überprüfbare Aussagen über mögliche Inhalte der vielen mündlichen Gespräche zu machen. Die generelle These, dies sei angesichts nicht vorhandener Quellen nun einmal nicht möglich, ist zu problematisieren. Mit Blick auf Dieter Henrichs Jena-Studien wird man hypothetisch sagen können, daß schriftliche Quellen zumindest einige Rückschlüsse auf mündlichen Austausch erlauben. Bei behutsamer Lektüre der Quellen und präziser Bezeichnung der jeweils zu gehenden methodischen Schritte läßt sich mehr über die Gespräche zwischen Ernst und Max sagen, als man zunächst vermutet. Dafür ein Beispiel: Im Rahmen der von Marianne Weber 1897 gegründeten Heidelberger Sektion des Vereins „Frauenstudium – Frauenbildung“, deren Vorsitz sie auch übernahm, hielt Ernst ab November 1898 mehrere Vorträge zur Ethik. Im Juli 1898 schrieb Marianne an Helene: „zu meiner großen Freude hat mir Tröltsch 6 Vorträge über Prinzipienfragen der Ethik versprochen, dann Max, wenn er gesund ist, über die ‚Entstehung der Familie‘ u. Hensel will alle 17 14 Tage seminaristische Übungen zur Einführung in Kant abhalten“. Unmittelbar nach Troeltschs erstem Vortrag berichtete sie am 17. November nach Berlin: „Eben komme ich aus dem ersten Vortrag – Tröltsch – zurück u. bin noch ganz glücklich über den guten Anfang. Denke, es waren etwa 70–80 Frauen da, u. an Geld nahmen wir über 1000 Mk ein im ganzen! [. . .] Tröltschchen war übrigens ganz aufgeregt, er hat aber seine Sache sehr gut gemacht – so gut wie Max 18 versteht’s freilich Keiner – u. ich glaube, es macht ihm nun auch Spaß.“ Vier Wochen später schrieb sie: „mir waren nun allwöchentlich die Tröltsch-Vorträge ein inneres Erlebnis – er gab sein Bestes u. er hat viel zu geben – ich wünschte, du hättest ihn hören können, du würdest sehr viel davon gehabt haben. Die andern Frauen sind auch alle sehr dankbar – er hat alle gepackt – der Stoff u. 19 seine Probleme liegen ja auch jedem Menschen nahe.“

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Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 16. März 1898, Deponat. Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 17. Juli 1898, Deponat. Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 17. November 1898, Deponat. Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 22. Dezember 1898, Deponat.

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Wie lassen sich solche Briefe in konstellationsanalytischen Perspektiven lesen? Welche Rückschlüsse auf die Gespräche zwischen Max und Ernst erlauben sie? Dazu sind zunächst bestimmte methodische Annahmen zu erläutern: Unter der Voraussetzung, daß sich Troeltschs Konzept der Ethik zwischen Dezember 1898 und dem Sommer 1901 nicht tiefgreifend änderte, scheint es legitim zu unterstellen, daß die vor Mariannes Frauen gehaltenen Vorträge der Substanz nach dem Entwurf einer Güterethik entsprachen, den Troeltsch in der kritischen Auseinandersetzung mit der Ethik des Marburger theologischen Neukantianers Wilhelm Herrmann entfaltete; unter dem Titel „Grundprobleme der Ethik“ erschien sie 1902 in der bei J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) verlegten „Zeitschrift für Theologie und Kirche“. Zu unterstellen ist weiterhin, daß Marianne und Max über Troeltschs Vorträge sprachen und möglicherweise auch Ernst und Max. Dann lassen sich Troeltschs „Grundprobleme der Ethik“ auch als ein Text lesen, der Einblicke bietet in die Ethik-Diskurse, die die gleichaltrigen Heidelberger Kulturwissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen damals führten. Besondere Beachtung verdient die teils kantianische, teils dezidiert kant-kritische Begrifflichkeit, in der Troeltsch seine Sicht ethischer Begründungprobleme entfaltete. Er sprach beispielsweise von „Gesinnungsethik“ oder von „Ethik des Erfolgs“. Damit soll nicht unterstellt werden, daß Troeltsch diese Begriffe prägte und Weber sie dann aufnahm. Vielmehr geht es um die grundlegendere Frage nach möglichen Quellen von Troeltschs und Webers Begrifflichkeiten. Manche der in der Weber-Forschung häufig für originäre Schöpfungen Webers gehaltenen Begriffe oder Formeln stammen nicht von ihm, sondern wurden von ihm im Austausch mit den Freunden aufgenommen und dann seinen individuellen Intentionen gemäß entfaltet bzw. systematisch konzeptualisiert. Für den wohl von Georg Jellinek geprägten Begriff „Idealtypus“ ist dies bereits mehrfach detailliert 20 gezeigt worden. Aber auch andere gern mit Max Weber assoziierte Begriffe sind eher als Gemeinbesitz der Heidelberger Kulturwissenschaftler um 1900 denn als Maxens Privateigentum zu deuten. Exemplarisch genannt sei der Begriff „Gesinnungsethik“. Er dürfte ebenso wie der Begriff „Erfolgsethik“ von dem Philosophen Paul Hensel geprägt worden sein, der von 1898 bis 1902 in Heidelberg lehrte, aber häufig nach Heidelberg zurückkehrte und sowohl mit Troeltsch als auch mit

20 Vgl. Gangolf Hübinger: Staatstheorie und Politik als Wissenschaft im Kaiserreich: Georg Jellinek, Otto Hintze, Max Weber, in: Hans Maier u. a. (Hrsg.): Politik, Philosophie, Praxis. Festschrift für Wilhelm Hennis, Stuttgart 1988, S. 143–161; sowie Friedrich Wilhelm Graf: Puritanische Sektenfreiheit versus lutherische Volkskirche. Zum Einfluß Georg Jellineks auf religionsdiagnostische Deutungsmuster Max Webers und Ernst Troeltschs, in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte / Journal for the History of Modern Theology 9 (2002), S. 42–69, in diesem Band oben, S. 295–322.

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den Webers eng befreundet war. Mit solchen begriffshistorischen Hinweisen werden die hohe systematische Kraft Webers und insbesondere seine Fähigkeit zu prägnanter und präziser Begriffsbestimmung keineswegs relativiert oder gar negiert. Indem der Austausch von Begriffen innerhalb des Heidelberger Freundeskreises erschlossen wird, zeigt sich, genau umgekehrt, gerade die spezifische Leistungskraft Webers in der Konzeptualisierung von Begriffen. Das Beispiel erlaubt es, einige Charakteristika von Konstellationsforschung zu bezeichnen. Erstens: Indem Konstellationen des Denkens zu (re-)konstruieren versucht werden, wird jeder einzelne in diese Konstellation eingebundene Denker zunächst relativiert. Im Blick auf die Konstellation scheint die Originalität des einzelnen verloren zu gehen. In der Tat werden mögliche Problemlagen, Fragestellungen, Lösungsstrategien, Deutungsmuster und Begriffe sichtbar, die eine Konstellation des Denkens prägen und an denen jeder einzelne partizipiert – aber auf seine individuelle Weise. Einen Denker von Rang in einem diskursiven Kraftfeld zu verorten, kann insoweit auch zur präziseren Wahrnehmung seiner Eigenständigkeit bzw. Originalität führen. Nun kann genauer gezeigt werden, wie er Begriffe bestimmt, die innerhalb der Konstellation eine wichtige Rolle spielen, und welche Wege er in entschiedener Abgrenzung von jenen geht, mit denen er durch einen Austausch und Arbeit an gemeinsamen Problemen verbunden ist. Konstellationsanalytische Perspektiven tragen damit dazu bei, Formen eines akademischen Klassikerkults zu wehren, in dem der Theorieheilige unkritisch heroisiert und seine Sicht der Dinge dogmatisiert wird. Über Konstellationsforschung wird tendenziell immer auch eine „Entzauberung“ des großen einzelnen betrieben. Der Monomythos des einsamen Denkers, der in rastloser Begriffsarbeit sich seinen literarischen Kosmos schafft, wird abgelöst von Bildern kulturellen Handelns des Wissenschaftlers, in denen wechselseitige Mitteilung, gemeinsame Suche, semantische Transfers und, im modischen Gegenwartsjargon formuliert, Trans- und Interdisziplinarität im Vordergrund stehen. Zweitens: In konstellationsdiagnostischen Perspektiven läßt sich eine kritische Distanz zu den Selbstdeutungen des individuellen Wissenschaftlers gewinnen. Klassikerdeutung ist in allen Kulturwissenschaften mit der Schwierigkeit konfrontiert, sich zum besseren Verständnis von Texten und Werkgeschichten auf Selbstdeutungen des jeweiligen Theoriehelden stützen zu müssen. Häufig werden Selbstdeutungen als unmittelbar authentische Interpretationsangebote gelesen. Aus der modernen Wissenschaftsgeschichte sind jedoch vielfältige 21 Vgl. Paul Hensel: Hauptprobleme der Ethik. Sieben Vorträge, Leipzig 1903, hier 4. Vortrag: Die Gesinnungsethik, S. 43–56. Vgl. darüber hinaus auch Hensels Habilitationsschrift „Ethisches Wissen und ethisches Handeln. Ein Beitrag zur Methodenlehre der Ethik“, Freiburg i. Br. 1889.

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Beispiele dafür bekannt, daß zwischen einem bestimmten Werk und dessen sekundärer Selbstdeutung durch den Autor erhebliche Inkongruenzen bestehen. Im Rückblick werden Leben und Werk immer neu synchronisiert, ein Jugendwerk zum Keim des Späteren verklärt oder Entwicklungslinien gezeichnet, die die oft durch tastende Suche, mangelnde Orientierung und lockende Abwege geprägten kurvenreichen Wege der Theorieproduktion als in sich folgerichtig, gerade und zielgerichtet erscheinen lassen. Insofern steht der Interpret vor der schwierigen Aufgabe, Selbstaussagen des Klassikers über sein Werk (oder einzelne seiner Werke) einerseits ernst zu nehmen, ohne sie andererseits unkritisch als verbindlichen Deutungshorizont zu affirmieren. Sehe ich recht, so stellt sich dieses Problem auch mit Blick auf Weber. In der Literatur zur „Protestantischen Ethik“ werden immer wieder die Mitteilungen Webers darüber zitiert, daß er 22 bereits 1898 mit der Arbeit am Thema begonnen habe. Solange aber nicht die von Weber damals geschriebenen Briefe und mögliche andere Ego-Dokumente zugänglich sind, läßt sich nicht zureichend entscheiden, inwieweit seine spätere Darstellung dem tatsächlichen Arbeitsprozeß entspricht. Denn sekundäre Selbstdeutungen sind häufig von Tendenzen der Selbststilisierung geprägt. Jeder von uns weiß aus eigener Anschauung, daß wir Täuschungen über die Gewinnung unserer Einsichten und verschriftlichten Erkenntnisse unterliegen, ältere Texte nicht mehr genau datieren können und bisweilen schlicht vergessen, wann wir ein Buch gelesen oder von wem wir bestimmte Begriffe übernommen haben. In konstellationsanalytischen Perspektiven lassen sich hier kritische Wahrnehmungspotentiale aufbauen. Durch Konstellationsforschung können im gelungenen Fall Zeugnisse erschlossen werden, die die Selbstdeutung des einzelnen mit Blick auf die Diskussionszusammenhänge kritisch zu lesen erlauben. Drittens: Dieter Henrich hat in seinen philosophiehistorischen Studien nachdrücklich betont, daß sich Konstellationen des Denkens wandeln. Am Beispiel Hölderlins hat er gezeigt, wie ein Denker in eine bestimmte Konstellation eintritt. Diese Denkfigur des Eintritts in eine Konstellation scheint mir gerade mit Blick auf die Heidelberger Konstellation fruchtbar gemacht werden zu können. In der Weber-Literatur wird das diskursive Umfeld Webers (wenn überhaupt) in aller Regel von Weber her wahrgenommen und darin implizit immer die Vorstellung affirmiert, daß Weber sich seine Fragestellungen und ihn interessierenden Themen weithin autonom wählte. Experimentell und spielerisch könnte man aber auch einmal fragen, ob sich ihm nicht Themen dank der diskursiven Prozesse innerhalb einer Konstellation aufdrängten. Für Webers Ort innerhalb des Hei-

22 Max Weber: Antikritisches zum „Geist“ des Kapitalismus, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 30 (1910), S. 176–202, hier S. 177.

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delberger Milieus ist jedenfalls wichtig zu sehen, daß er 1897 insoweit in eine Konstellation eintrat, als andere schon vor seiner Ankunft am Orte intensiv über die Themenfelder Kulturbedeutung der Religion, Protestantismus und moderne Kultur sowie die sozialmoralischen Differenzen zwischen Calvinismus und Luthertum nachdachten. Zugespitzt formuliert: Jellinek und Troeltsch sprachen und schrieben bereits intensiv über die Ethik des westeuropäischen reformierten Protestantismus, als Weber noch in Freiburg lehrte. Dies legt es nahe, auch einmal die Frage aufzuwerfen, inwieweit seine Hinwendung zum Themenfeld der „Protestantischen Ethik“ auch durch den Eintritt in die Heidelberger kulturwissenschaftliche Konstellation verstärkt wurde.

III. Distanzierter Blick, oder: Max Weber in der Sicht des Berliner Troeltsch Auch nach dem Bruch der Freundschaft blieb Max Weber für Troeltsch ein wichtiger Gesprächspartner. In den Berliner Jahren nahm Troeltsch weiter mit großer Intensität Max’ Publikationen zur Kenntnis. Der Übergang aus Heidelberg nach Berlin bedeutete für Troeltsch den Abschied aus einer Konstellation des Denkens, die sich in ersten Annäherungen als Suche nach tragfähigen Grundlagen einer Kulturwissenschaft mit den begrifflichen Mitteln der Südwestdeutschen Schule des Neukantianismus bestimmen läßt. Der Wechsel nach Berlin bedeutete für Troeltsch zugleich, definitiv die Theologische Fakultät hinter sich zu lassen. Nun rückte die Gewinnung einer konstruktiven Lösung der kulturethischen Probleme in den Vordergrund, die aus der sogenannten „Krisis des Historismus“ und der mit ihr verbundenen „Anarchie der Werte“ resultierten. Im Rahmen dieser Historismus-Studien nahm Troeltsch immer wieder auf Max Weber Bezug. Man muß aber den radikal neuen Charakter der theoretischen Bezüge betonen: Die nun eingetretene räumliche Distanz und der emotionale Abstand zwangen Troeltsch verstärkt dazu, die tiefgreifenden kulturtheoretischen Differenzen zum Freund zu bestimmen. Neben den beiden Nachrufen, die Troeltsch unmittelbar unter dem Eindruck von Max Webers Tod schrieb, einigen Briefen und zahlreichen Weber-Bezügen in kleineren teils kulturanalytischen, teils politischen Texten ist für das Weber-Bild des Berliner Troeltsch vor allem die kritische Darstellung aufschlußreich, die er in „Der Historismus und seine Probleme“ entfaltete. Die Weber-Passagen des „Historismus“-Bandes lassen sich experimentell auch als Versuch lesen, eine Gesamtdeutung der theoretischen Leistungen Webers zu präsentieren. Troeltsch wirft hier einen summierenden Blick auf die Arbeit des Freundes und gibt öffentlich Rechenschaft über bleibende Gemeinsamkeiten und elementare sachliche

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Differenzen. Dabei setzt er eine wissenschaftliche Öffentlichkeit voraus, die über die enge persönliche Beziehung während der Heidelberger Jahre informiert ist. Drei Punkte verdienen besondere Beachtung: Erstens: Die Weber-Passagen im „Historismus“ lassen den dichten Austausch während der Heidelberger Jahre erkennen. Troeltsch betonte nach dem Tode 23 Webers noch einmal seine enge Verbundenheit mit ihm. Wo er auf Weber zu sprechen kommt, finden sich Hinweise auf den intensiven persönlichen Austausch; er weist etwa darauf hin, daß ein verhandelter Sachverhalt ein „Thema“ 24 sei, „über das ich mit Max Weber viel diskutiert habe“. Suchte er die Leser daran zu erinnern, daß er über die literarischen Texte hinaus ein intimer Kenner von Webers Gedanken und Intentionen war? Wollte er indirekt den Anspruch erheben, ein besonders kompetenter oder gar der kompetenteste Interpret des fragmentarischen Œuvres des Freundes zu sein? Eine Antwort fällt nicht leicht. Doch kann man sagen, daß die Hinweise auf die Gespräche auch ein Zeugnis bleibender intellektueller Verbundenheit mit dem verstorbenen Freunde sind. Die Formeln klingen bisweilen wie wehmütige Erinnerungen an eine Zeit gemeinsamen Redens und Denkens, die definitiv vorbei ist. Auch wenn man den projektiven Charakter des Erinnerns berücksichtigt und kritisch sehen muß, daß Troeltschs Bezugnahme auf die vielen Gespräche mit dem Freunde von Elementen der Selbststilisierung geprägt sein mögen, so sind die entsprechenden Hinweise für konstellationsanalytische Forschungen zum Heidelberger liberalen Kulturwissenschaftler-Milieu um 1900 doch von hohem Reiz. Zweitens: Der Autor des „Historismus“-Bandes präsentiert seinen Weber der wissenschaftlichen Öffentlichkeit mit Pathosformeln höchsten Respekts. Dabei betont er insbesondere die hohe Bedeutung, die Weber im deutschen politischen Diskurs gewonnen habe. So sei er „einer der mächtigsten deutschen Menschen und der umfassendsten, zugleich methodisch strengsten Gelehrten des Zeital25 ters“. Drittens: Intensiv führt Troeltsch in „Der Historismus und seine Probleme“ seine schon 1897/98 beginnende Auseinandersetzung mit Heinrich Rickert fort. Im Rahmen seiner teils kritischen, teils konstruktiven Rickert-Rezeption zeichnet Troeltsch ein Bild Webers als eines Denkers, der im Gespräch mit Rickert 26 entscheidende Anstöße erhalten habe. Die spannungsreiche Beziehung zwischen Troeltsch und Weber, die sich bis in Einzelausführungen des „Historismus“ verfolgen läßt, prägte auch schon

23 24 25 26

Vgl. GS III, etwa S. 65, jetzt: KGA 16, S. 239. Ebd., S. 658, Anm. 348, jetzt: KGA 16, S. 966, Anm. 348. Ebd., S. 565, jetzt: KGA 16, S. 849 f. Vgl. ebd., S. 566 und S. 569, jetzt: KGA 16, S. 850 und S. 853.

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ihre Stellung innerhalb der zeitgenössischen Debattenlage. Bereits 1903 stellte Marianne Weber fest, daß „bei den Führenden“ sie „immer nur den einen Gedanken“ gehabt habe: „‚ach dürfte doch Max wieder einmal d’rein fahren u. ihnen ans Herz greifen‘, so wie er kann’s doch Keiner. Tröltsch kommt ihm noch am nächsten – u. ich kann den Wunsch nicht begraben, daß er einmal wieder von 27 dieser Gabe Gebrauch machen darf.“

27 Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 7. August 1903, Deponat.

Wertkonflikt oder Kultursynthese? „Troeltsch und Weber“, Intellektualosmose oder Ideenkonkurrenz, „Wertkonflikt oder Kultursynthese“: Die suggestiven Symmetriefiguren evozieren das Mythenbild vom Heidelberger Gleichgewicht genialer Geisteskräfte. Doch wer schreibend über „Troeltsch und Weber“ nachdenkt, wer intellektuelle Parallelbiographien konstruiert und gleichermaßen geistesmagnetische Anziehungskräfte wie emotionale Abwehrreflexe zu deuten versucht, hat vor aller exegetischen Präzisionsarbeit zunächst die asymmetrische Quellenlage in Rechnung zu stellen, die er vorfindet. So wird im folgenden zunächst knapp die Überlieferungssituation in ihrer spezifischen Problematik skizziert, bevor am Beispiel von zwei exponierten Beiträgen Troeltschs zur Protestantismus-Diskussion die Erkenntnischancen präziser werkgenetischer Rekonstruktion vorzuführen sind. Überlegungen zu Fragen des systematischen Theorievergleichs beschließen den Beitrag dann in einem dritten Abschnitt.*

I Ernst Troeltsch fixierte seine Sicht Max Webers, die keineswegs statische Wahrnehmung des Kollegen und Freundes, Mitstreiters, Weggefährten und Konkurrenten, Hausgenossen und wütenden Widerparts in Texten ganz unterschiedlichen 1 Genres: Zwei Nachrufe sind überliefert, die unter dem Oberflächenglanz der Nekrologrhetorik subtil codierte Abgrenzung und mühsam erkämpfte Selbstbehauptung festschreiben; die „Soziallehren“ wie auch „Der Historismus und seine Probleme“ lassen sich über weite Strecken als buchgewordene Dauerreflexion einer selbstbewußt-konstruktiven Auseinandersetzung mit Thesen Webers lesen; hinzu kommen Briefe von ungewöhnlich prägnanter Profilierungskunst: Das 2 Kondolenzschreiben an Marianne Weber ist hier zu nennen, vor allem aber das 1917 für Heinrich Dietzel entworfene fulminante Doppel-Psychogramm der Brü3 der Max und Alfred Weber, dessen schonungslos pointierte Charakterzeichnung * Für die Publikation wurde die Vortragsform beibehalten und der Anmerkungsapparat bewußt karg gestaltet. 1 Ernst Troeltsch: Max Weber als Gelehrter, in: Deutsche Allgemeine Zeitung/Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 290, 19. Juni 1920, Abendausgabe, S. 1; ders.: Max Weber, in: Frankfurter Zeitung, Nr. 447, 20. Juni 1920, Erstes Morgenblatt, S. 1–2. 2 Brief Ernst Troeltschs an Marianne Weber, 18. Juni 1920, Deponat (für die freundlich erteilte Genehmigung zur Einsichtnahme danke ich Herrn Prof. Dr. Peter Weber-Schäfer, Bochum). 3 Brief Ernst Troeltschs an Heinrich Dietzel, 22. Oktober 1917, Privatsammlung, München, ediert und kommentiert von Friedrich Wilhelm Graf in: Andreas Bernard, Ulrich Raulff (Hrsg.): Briefe

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Teil C: Konstellationen

sich einer Hellsichtigkeit verdankt, wie sie nur im komplexen Zusammenspiel von intensiv gelebter Sympathie und Abneigung entstehen kann. All diese Vergegenwärtigungstexte nun durchzieht geradezu leitmotivisch ein mehr als nur konventionellen Dankbarkeitserwartungen geschuldeter Bekenntniston: Er läßt erkennen, daß Max Weber ganz unabhängig von entstehender und sich verlierender persönlicher Nähe für Ernst Troeltsch über zwei Jahrzehnte hin eine außerordentliche intellektuelle Herausforderung gewesen ist. Immer wieder hat Troeltsch anerkannt, von Weber mehr als von jedem anderen Gelehrten seiner Generation gelernt zu haben und ohne „das Gefühl der Schülerhaftigkeit“ in diesem Austausch „sehr viel mehr der Empfangende als der Gebende“ gewesen 4 zu sein: „Ich bin ein anderer durch ihn geworden, als ich vorher war“. Genauso deutlich aber benannte Troeltsch den entscheidenden, tief in das Zentrum ihrer Individualitätsstruktur und geistigen Existenz hinabreichenden Dissens, den die komplizierte menschliche Verbundenheit zu keiner Zeit überbrücken konnte. Nach dieser dichten Bilanz überrascht es, wie spärlich dagegen die persönlichen Spuren Ernst Troeltschs sind, die sich im Werk Max Webers noch auffinden lassen. Wer die bisher erschienenen Briefbände mustert, wird jedenfalls in dieser Hinsicht enttäuscht. Nur ab und zu kommt Troeltsch einmal vor, 5 wenn ein gemeinsamer Museumsbesuch geplant oder eine Zufallsbegegnung 6 7 am Bahnhof notiert wird, der Freund einen Schüler vorstellt, die Webers zu 8 Ehren von Georg Lukács auch ihren Hausgenossen zum Tee „herunterbitten“ 9 oder Fakultäts-Interna und Akademie-Angelegenheiten verhandelt werden . Doch bleiben die Troeltsch-Bezüge in den veröffentlichten Briefen marginal. Einige Hinweise auf den „Freund“ begegnen in Publikationen Webers, etwa in der „Pro10 testantischen Ethik“ und ihrer Verteidigung gegen die Kritik Felix Rachfahls, und lassen die intellektuelle Vehemenz der gemeinsamen Ideentestläufe auf Heidelberger Geisteshöhenwegen immerhin erahnen. Aber wir kennen keinen

aus dem 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2004, S. 47–52; in englischer Übersetzung: Friedrich Wilhelm Graf: Ernst Troeltsch’s Evaluation of Max and Alfred Weber, in: Max Weber Studies 4, 1 (2004), S. 101–108, hier S. 104 f. 4 Brief Ernst Troeltschs an Marianne Weber, 18. Juli 1920 (wie Anm. 2). 5 Brief Max Webers an Marianne Weber, 17. September 1912, in: MWG II/7, S. 672. 6 Brief Max Webers an Marianne Weber, 5. August 1908, in: MWG II/5, S. 622. 7 Brief Max Webers an Marianne Weber, 6. Mai 1910, in: MWG II/6, S. 495. 8 Brief Max Webers an Georg von Lukács, 29. Januar 1913, in: MWG II/8, S. 63. 9 Vgl. Brief Max Webers an Heinrich Rickert, 1. April 1908, in: MWG II/5, S. 492 f. (zur gescheiterten Berufung Georg Simmels und Troeltschs „(theologisch motivierte[r]) Antipathie gegen S“, die „Jedermann bekannt war“); Brief Max Webers an Marianne Weber, 1. Juli 1909, in: MWG II/6, S.165–166, hier S. 165 (zur Heidelberger Akademie der Wissenschaften). 10 Zusammengestellt in der Einleitung zu KGA 8, S. 1–52, bes. S. 31–46.

Wertkonflikt oder Kultursynthese?

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akademischen oder tagespublizistischen Text, in dem Weber sein Verhältnis zu Troeltsch eingehend reflektiert, eine Charakterskizze des Heidelberger Weggefährten zu zeichnen oder Werk und Rang des anderen in Übereinstimmung und Widerspruch zum eigenen Wissenschaftsentwurf kritisch auszumessen versucht hätte. Weit irritierender noch ist die klaffende Überlieferungslücke in der Gelehrtenkorrespondenz. Kein einziger Brief Ernst Troeltschs an Max Weber scheint sich erhalten zu haben, und kein einziger Brief Max Webers an Ernst Troeltsch ist bislang bekannt. Eine sinnvolle Erklärung für dieses geradezu dröhnende Schweigen wird – fern aller verschwörungstheoretischen Versuchungen und Konstrukte – nur ein mutiger Exkurs in die hermetische Welt der Witwenpsychologie liefern können. Viel spricht dafür, daß sich Marianne Weber und Marta Troeltsch, die trotz des Streits der Ehemänner und latenter eigener Animositäten ein re11 lativ gutes Verhältnis aufrechterhielten, nach dem Tod der beiden Gelehrten entschlossen, die über zwanzig Jahre hin angesammelten Briefe zu vernichten. Gewiß, im Heidelberger Alltag bestand – zumal nachdem man 1910 unter dem Dach der Ziegelhäuser Landstraße 17 zusammengezogen war – wenig Anlaß für verschriftlichten Ideentransfer. Doch weiß jeder Leser der Weber-Briefedition um die nahezu zwanghafte Reisewut insbesondere des kranken Max Weber. Über sehr lange Zeiträume lebte der Getriebene fern von Heidelberg. Sollte von keiner dieser alljährlich zelebrierten Fahrten jemals ein Kartengruß an den Daheimgebliebenen geschickt worden sein? Sollte nicht zumindest Marianne den nahen Freund über das Wohlergehen von Max informiert haben? Auch ist bekannt, daß Troeltsch Briefe gerade auch dann schrieb, wenn Aufmunterung und Trost zu spenden waren – es sei als Beispielfall nur Georg Jellinek erwähnt, der nach einem Herzinfarkt in den Süden reiste und von Troeltsch regelmäßig teilnehmend nach seinem Ergehen befragt wurde. Sollte der seelenkundig-sensible Theologe Webers vielfältige Leiden nicht gleichfalls aus der Ferne mit freundlichen Worten zu mildern versucht haben? Gerade weil diese Nahbeziehung zwischen zwei reizbar-feinnervigen, ihre Verwundbarkeit mit je eigenen Camouflage-Strategien schützenden Intellektuellen eben auch eine menschlich sehr enge und dichte Verbindung war, gewinnt die ‚Säuberungshypothese‘ an Plausibilität. In den Nachlässen wäre schwerlich gezielt aufgeräumt worden, wenn die Korrespondenz lediglich die enervierenden Mühseligkeiten des akademischen Tagesbetriebs gespiegelt hätte und in den Briefen nicht auch hochkomplizierte, möglicherweise traumatisch besetzte Lebensfragen zur Sprache gekommen wären. Für die kalkulierte Herstellung 11 Vgl. etwa den Kondolenzbrief Marta Troeltschs an Marianne Weber, 17. Juni 1920, in diesem Band unten, S. 383.

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von Überlieferungslücken spricht auch, daß Marianne Weber im „Lebensbild“ keine Briefe Webers an Troeltsch oder Troeltschs an Weber zitiert und an wichtigen Stellen bewußt nicht erwähnt, daß sie von Troeltsch spricht, obwohl er 12 – beispielsweise im Bericht über das Zerwürfnis zu Beginn des Weltkriegs – zweifelsfrei gemeint ist. Im Nachlaß Marianne Webers haben sich einige ihrer Briefe an ihre Schwiegermutter erhalten, in denen sie die Max-und-Ernst-Freundschaft kommentiert und die zeigen, daß ihr Troeltsch trotz der Entfremdung der beiden Männer emotional nahegeblieben war. Dieses Konvolut enthält ein Dokument, das sich auch professioneller, in diesem Fall: psychoanalytischer Deutungskompetenz nicht leicht erschließt, brisante biographische Problemdimensionen aber zumindest andeutet. Im Januar 1913 erfuhr Marianne Weber von der späten Schwangerschaft der nur wenig jüngeren Marta Troeltsch, die nach über elfjähriger Ehe ihr erstes Kind erwartete. Das Ehepaar Weber hatte Ernst Troeltsch seinerzeit nach13 drücklich von der Heirat abgeraten, wohl auch, weil es um die Hintergründe der nach nur drei Monaten gescheiterten Verlobung des Theologen mit Marie 14 Bassermann, der Tochter eines Heidelberger Fakultätskollegen, wußte. Nimmt man hinzu, daß Troeltsch sich als Verbindungsstudent in einen jungen Freund verliebt hatte und er auch als Heidelberger Ordinarius immer wieder schöne junge Männer um sich versammelte, bezieht man zudem die in Gesprächen und Begegnungen gewonnene Kenntnis der Webers von Troeltschs wenig glücklicher 15 Ehe mit ein, so komplettiert sich das Szenario des Verdachts, in dem Marianne Weber ihre Andeutungen plazierte. „Noch etwas merkwürdiges!! Frau Tröltsch ist in ‚guter Hoffnung‘!!! Durch welches Wunder der Schöpfung wissen wir nicht – er tut so, als sei das garnichts Erstaunliches u. auf natürliche Weise verursacht – obwohl er sich noch vor Monaten im Sommer als sie so krank war, in einem 16 anders zu deutenden Sinne geäußert hat“. Weitere Briefe belegen, wie schwer sich die Verfechterin der „Gefährten-Ehe“ mit der so unerwartet veränderten Situation im Stockwerk über ihr abfand. Doch bleibt wohl für immer ungewiß, zu welchen Teilen sich in den kryptischen Bemerkungen Vermutung, Wissen und

12 Vgl. Marianne Weber: Max Weber. Ein Lebensbild, Tübingen 1926, S. 532. 13 Brief Marianne Webers an Helene Weber, 11. Juli 1901; zuvor bereits grundsätzlich zur EheProblematik: 23. Februar 1900, 8. März 1900, Deponat. 14 Vgl. dazu Horst Renz: Auf der alten Brücke. Beobachtungen zu Ernst Troeltschs Heidelberger Jahren 1894–1915, in: TS 2, S. 9–87, hier S. 22 f. und S. 26. 15 Vgl. z. B. den Tagebucheintrag Marianne Webers vom 11. Januar 1911, Deponat: „Nachmittags noch Tröltsch eine Stunde, im Bedürfnis sich ein wenig über den beständigen Kummer mit M[arta] auszusprechen. Wie stark müssen seine Nerven sein, um das angespannte Leben auf einem Vulkan – in der Nähe eines Wesens, das er psychisch ruiniert trotz aller Liebe, auszuhalten.“ 16 Brief Marianne Webers an Helene Weber, 25. Januar 1913, Deponat.

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schlichte Projektionsphantasien miteinander vermischt haben. Ignorieren lassen sich Mariannes Briefe freilich nicht. Sie sind ernst zu nehmen als bizarrer Reflex einer durchaus abgründigen biographischen Konstellation, und sie deuten an, daß es plausible Motive gegeben haben mag, den Briefwechsel zwischen Max und Ernst nicht dem Entschlüsselungsfuror stilisierungsskeptischer Editoren zu überlassen.

II Kritische Editionen eröffnen die Chance, differenziertere werkhistorische Perspektiven zu gewinnen und fiktionsfeindliche Fragen im Dialog der Disziplinen präziser stellen zu können. Erst nach dem Abschied von allzu übersichtlichwohlgeordneten Deutungsmustern erschließt sich den „vergangenen Gegenwarten“ komplexer diskursiver Milieus ein angemessen offener Wahrnehmungshorizont. Das zeigen exemplarisch auch die Heidelberger Diskussionen der Protestantismus-Thematik, in denen Weber und Troeltsch gleichsam als intellektuelle ‚Ideal-Konkurrenten‘ agierten. „Je mehr ich mich von den Gebieten der Geistesgeschichte, wo ich heimisch bin, und also im Grund nichts von Problemen weiss, zu solchen wende, wo ich zu lernen, Stoff zu ‚durchgeisten‘ habe, also Probleme vorfinde, desto deutlicher sehe ich, dass ich mich nicht auf ‚Literatur‘, ‚Poesie‘ etc. zu beschränken habe, sondern dass alles von denselben Lebenskräften Zeugnis ablegt, und zwar wird dadurch die Sache nicht verwickelter, sondern einfacher: für das Reformationszeitalter ist nun die führende, daher symbolischste Leistung und Tendenz keine literarische, sondern theologische, und ich muss mich wohl oder übel mit Dogmengeschichte abgeben . . . Gnadenwahl, freier Wille, Beweis des Geistes und der Kraft und dgl. Unschätzbare Helfer sind mir dabei die Reformationsgeschichte des einzigen Ranke, und Gespräche mit Max Weber, der nicht nur diesen ganzen Stoff stofflich spielend beherrscht, sondern auch – je näher ich ihn verstehe, desto heller wird mirs – die ganzen Konflikte und letzten Leiden und Willen des Protestantismus, das was Alfred Weber ‚Kulturprobleme‚‘ nennt, intensiver und umfassender durchdringt als sonst ein heutiger wissenschaftlicher Mensch . . . Ich kann hier an der Quelle 17 schöpfen“. Friedrich Gundolf, wohlgeübt in der Kunst des Rühmens, läßt 1911 in seinem Brief an Leonie Gräfin Keyserling mehr erkennen als nur das stets huldigungsfreudige, begeisterungsbereite Temperament eines enthusiastischen 17 Brief Friedrich Gundolfs an Leonie Gräfin Keyserling, 29. Mai 1911, in: Gundolf Briefe, Neue Folge, hrsg. von Lothar Helbing und Claus Victor Bock, 2. Aufl., Amsterdam 1965, S. 78–82, hier S. 80.

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Lesers. Denn eindringlich zeigt das Weber-Lob vor allem dies: Das, was den Protestantismus ausmacht, seine „Konflikte“, seine „letzten Leiden“, all das war im gelehrten Heidelberg vor 1914 von existentieller Relevanz – auch für Max Weber. Erst vor diesem Hintergrund erscheint es jenseits positivistischer Quisquilienlust sinnvoll, den Entstehungsprozeß von Hauptschriften der ProtestantismusDebatte einmal gleichsam unter dem werkgeschichtlichen Mikroskop zu betrachten. Dank günstiger Quellenlage läßt sich dann beispielsweise minutiös und datendicht nachvollziehen, wie Ernst Troeltsch 1902 als Autor für eines der ambitioniertesten Publikationsprojekte des Wissenschaftsbetriebs im Kaiserreich gewonnen wurde und aus diesem Engagement sein erster großer religionsgeschichtlicher Syntheseversuch „Protestantisches Christentum und Kirche in der 18 Neuzeit“ hervorging. Der Heidelberger Theologe beteiligte sich mit seinem Beitrag an einem enzyklopädischen Monumentalbau: „Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwickelung und ihre Ziele“ war zunächst der Versuch, „eine Geschichte der geistigen Kultur“, „eine geschichtlich fundierte Betrachtung unseres heutigen 19 geistigen Kultur-Zustandes“ für ein großes ‚gebildetes Publikum‘ zu entwerfen. Der Initiator des Vorhabens war Alfred Giesecke, der Chef des Leipziger Wissenschaftsverlags B. G. Teubner. Tief beeindruckt von der großen historischen Linienführung in Adolf Harnacks „Wesen des Christentums“ wollte er „kein Sammelsurium von Thatsachen ohne Geist, sondern geistigen Extrakt aus den Thatsachen“ bieten und hoffte dafür „auf Mitwirkung ordentlicher Leute“. Als Koordinator, Herausgeber und unermüdlich kreativen Antreiber des Projekts gewann er den vielseitig-alerten Historiker Paul Hinneberg, einst Mitarbeiter des greisen Leopold von Ranke und seit 1892 Redakteur, später Schriftleiter der „Deutschen Literaturzeitung“, die er auf hohem wissenschaftlichen Niveau als auch international vielbeachtetes Rezensionsorgan etablierte. Dem umtriebigen Meisterorganisator und bald schon einflußreichsten Wissenschaftsvermittler des Kaiserreichs gelang es nun überraschend schnell, das zunächst eher an Buchhandelsperspektiven und Absatzzahlen orientierte Verlagsvorhaben zu einem wissenschaftspolitisch hochrangigen nationalen Prestigeprojekt aufsteigen zu lassen. Friedrich Althoff zeigte als Stratege der preußischen Wissenschaftspolitik zur freudigen Verblüffung des Verlages rasch ein sehr „weitgehendes und lebhaftes“ Interesse an der „Kultur der Gegenwart“ und bewegte überdies Wilhelm II. dazu, durch Annahme der Widmung höchstselbst als Protektor des Sammel-

18 Die Einzelheiten sind jetzt dokumentiert im Editorischen Bericht zu KGA 7, S. 39–75. 19 Briefe Alfred Gieseckes an Paul Hinneberg, 12. Juli 1901 und 16. Juli 1901, Archiv der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften Berlin, Bestand Deutsche Literaturzeitung, Nr. 1.

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werks zu fungieren. Deutsche Wissenschaftskultur, so die Botschaft, stand nicht nur in Weltgeltung auf der Höhe der Zeit, sondern erwies sich im Spiegel einer gelehrten Syntheseleistung großen Stils als repräsentativ für den „deutschen Geist“ überhaupt. Sollte diese Gleichsetzung mehr sein als bloß auratisch unscharfe Pathosphrase, mußten als Mitarbeiter wirklich „ordentliche Leute“ gewonnen werden. Damit begann Hinneberg im Sommer 1902 – und hatte auf seinen Werbefahrten durch die Universitätsstädte des Reiches beachtlichen Erfolg: Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Adolf Harnack, Julius Wellhausen, Adolf Jülicher, Rudolph Sohm und andere Koryphäen ihrer Fachgebiete sagten umgehend ihre Unterstützung als Autoren zu. Auf Initiative Harnacks nahm Hinneberg am 12. September 1902 dann auch Kontakt mit Troeltsch auf, um ihn zunächst für den „systematischen Abschnitt“ der Religions-Abteilung – „Die moderne wis20 senschaftliche Theologie in Methode und Aufgaben“ – zu engagieren. „Wie wir bisher von keiner noch so exklusiver Stelle eine Ablehnung erfahren haben, so möchten Harnack und ich ganz besonders gern auch auf Ihre gütige Zusage hoffen dürfen. Ich hege diesen Wunsch um so sehnlicher, als Niemand in Deutschland, wie mir Harnack erklärte, den Gegenstand mit größerer wissenschaftlicher Meisterschaft zu erschöpfen vermöchte als Sie“. Als Kenner komplexer Gelehrtenpsyche fügte der Werbende freilich auch ohne falsche Dezenz den Hinweis auf die zu erwartende hohe Auflage, die noch höheren buchhändlerischen Erwartungen und das „Bogen-Honorar von 200 M.“ an: „die Bewertung wissenschaftlicher Arbeit“ übersteige in diesem Fall „das in Deutschland übliche 21 Maaß weit“. Troeltsch sagte zu – und sah sich eine Woche später mit der Anfrage Hinnebergs konfrontiert, nun auch „die Darstellung der Kirchengeschichte der Neuzeit“ zu übernehmen, für die zunächst der protestantische Tübinger Kirchenhistoriker Karl Müller „in Vorschlag gebracht worden [war]. Harnack meinte nun gestern, Müller werde die mannigfachen Berührungen der neueren Kirchen- und Dogmengeschichte mit der Philosophie, die mit dem Ausgange des Mittelalters und der Entstehung der Reformation an Komplikation wie an Bedeutung immer mehr zunehme, in ihrer ganzen Tragweite nicht genügend herausbringen, weil ihm eine tiefere Kenntnis der Philosophie der letzten Jahrhunderte fehle. [. . .] Der Einzige, der dies Problem adäquat behandeln könne, auch besser als er, H., selber, seien Sie, und er läßt Sie deshalb herzlichst bitten, ein Gesuch, dem ich mich natürlich aus innerster Seele anschließe, doch freundlichst auch diesen 20 In der Tektonik des Gesamtplans: Teil I, 4. Abt., 1. Hälfte: Geschichte der christlichen Religion. 21 Brief Paul Hinnebergs an Ernst Troeltsch, 12. September 1902, Privatsammlung, München, demnächst in KGA 19.

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Abschnitt zu übernehmen, der (entsprechend der von ihm gewünschten Umnennung des vorhergehenden Artikels) definitiv heissen soll: Christentum und Kirche Westeuropas von Beginn der Neuzeit bis zur Gegenwart b) Protestantis22 mus.“ Generös bot Hinneberg dem Umworbenen gleich auch eine Erweiterung des Artikelumfangs an, denn in Troeltschs Beitrag sei „natürlich unendlich viel mehr zu berücksichtigen, als in dem über den Katholizismus der Neuzeit“. Im Inhaltsverzeichnis werde dies nur deshalb noch nicht ausgewiesen, weil sonst der katholische Bearbeiter, Franz Xaver Funk, „mit Paritätsschmerzen herausrückt“ – 23 in der akademischen Welt herrschte auch 1902 noch massiver „Kulturkampf“. Am 29. September 1902 unterzeichnete Troeltsch den Verlagsvertrag für das „Protestantismus“-Kapitel und verpflichtete sich damit, bis Januar 1905 das Manuskript abzuschließen. Nach der Rekonstruktion der Druckgeschichte läßt sich feststellen, daß der Autor trotz zahlreicher anderer Aufgaben durchaus Termindisziplin wahrte: Mitte April 1905 begann die Drucklegung. Wie lange Troeltsch an seiner 400-Seiten-Monographie schrieb, läßt sich nicht mehr exakt bestimmen. Ein höflich drängender, leider undatierter Mahnbrief Hinnebergs, der auf Troeltschs Rückkehr aus den USA Anfang Oktober 1904 anspielt, läßt sogar die Deutung zu, Troeltsch habe erst im Herbst 1904 mit dem eigentlichen Schreibprozeß begonnen. Daraus ergäbe sich eine hochbedeutsame Folgerung: „Protestantisches Christentum und Kirche“ wäre dann zu einer Zeit entstanden, 24 als Weber zumindest am zweiten Teil der „Protestantischen Ethik“ schrieb. Hätte Troeltsch, wie es die wohl doch plausiblere Entstehungsvariante nahelegt, schon vor der USA-Reise an seinem Beitrag gearbeitet, so wäre dieser bereits parallel zu Webers Arbeit am ersten Teil der „Protestantischen Ethik“ konzipiert worden. Auch ohne daß sich die Textgenese von Schreibtischtag zu Schreibtischtag nachzeichnen ließe, zeigt der werkgeschichtliche Exkurs mithin eines sehr deutlich: Weber und Troeltsch erkundeten zeitgleich schreibend das Themengebiet Protestantismus. Abhängigkeitserklärungen und Prioritätsvermutungen, 25 wie sie die ältere Literatur durchziehen, sind damit hinfällig geworden.

22 Brief Paul Hinnebergs an Ernst Troeltsch, 18. September 1902, Privatsammlung, München, demnächst in KGA 19. 23 Troeltschs Beitrag wurde dann tatsächlich doppelt so lang wie sein Pendant über den Katholizismus. 24 Zur Entstehungsgeschichte der „Protestantischen Ethik“ und ihrer lebensgeschichtlichen Dimension vgl. Hartmut Lehmann: Max Webers „Protestantische Ethik“. Beiträge aus der Sicht eines Historikers, Göttingen 1996, bes. S. 109–127 und S. 147–153 („Max Webers ‚Protestantische Ethik‘ als Selbstzeugnis“). 25 Dazu Peter Ghosh: Max Weber’s Idea of ‚Puritanism‘: a case study in the empirical construction of the Protestant Ethic, in: History of European Ideas 29 (2003), S. 183–221, jetzt in: ders.: A

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An ihre Stelle tritt das indiziengerahmte Bild einer dichten diskursiven Konstellation: Schon im zweiten Teil der „Protestantischen Ethik“, der im Juni 1905 ausgeliefert wurde, hatte Weber an mehreren Stellen vorab auf Troeltschs Hinneberg-Beitrag Bezug genommen. Am 23. September 1905 wies er dann Georg von Below auf das soeben abgeschlossene Werk des Kollegen hin – mit einer Wendung, die etwas ahnen läßt von der konfliktuösen Brisanz gelehrter Rivalität um Erstformulierungsruhm: „Tr.s vortreffliche Leistung (bei Hinneberg) mag in sehr vielen Punkten auf Anregung aus unseren Gesprächen und meine Aufsätze zurückgehen (vielleicht noch mehr als er weiß) – aber er ist der theologische 26 Fachmann und beherrscht damit das Entscheidende: die massgebende Idee.“ Der Separatdruck von „Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit“ war zu diesem Zeitpunkt noch nicht verschickt worden, so daß Webers prägnantes Werturteil nur als die Kenntnis eines Eingeweihten zu deuten ist, gestützt wohl auf Manuskriptlektüre und / oder Einsicht in die Druckfahnen, in jedem Fall aber auf intensive Gespräche. Ein weiteres diskursarchäologisches Detail fällt beim Blick in Webers Bibliothek ins Auge. Hier hat sich ein Exemplar 27 der Sonderausgabe von Troeltschs Text erhalten – doch ohne jede persönliche Bemerkung des Verfassers und ohne eine einzige Anstreichung von Webers Hand. Dem rituellen Schriftentausch brauchte offenkundig keine Lektüre mehr zu folgen, weil der Inhalt nach langen Diskussionen keine Geheimnisse mehr bergen konnte. Der Problemhorizont freilich blieb offen. Noch war der Religionsband nicht erschienen, da trug sich Troeltsch über all seinen anderen Buchprojekten bereits mit Plänen für die Umarbeitung und Erweiterung. An Carl Neumann sandte er die Abhandlung im Januar 1906 mit dem Kommentar: „Es ist der Ertrag langer Studien, freilich noch sehr ergänzungsbedürftig, u[nd] schon möchte ich am liebsten alles umschreiben. Aber es ist doch, wie ich glaube, ein begründetes u[nd] detaillirtes Programm für Kirchen, religions- u[nd] kulturgeschichtliche Forschungen über die Neuzeit, von dem ich lebhaft wünschte, daß es ihm gelingen Historian Reads Max Weber. Essays on the Protestant Ethic (Kultur- und sozialwissenschaftliche Studien / Studies in Cultural and Social Sciences, Band/Volume 1), Wiesbaden 2008, S. 5–49. 26 Brief Max Webers an Georg von Below, 23. September 1905, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin, VI. HA, Nachlaß Max Weber, Nr. 30, Band 4. 27 Das Erscheinungsdatum ist bislang nicht exakt zu ermitteln gewesen; am 12. Oktober 1905 schrieb Troeltsch an Friedrich Meinecke, seine „Darstellung des Protestantismus“ müsse nun „in der ‚Cultur der Gegenwart‘ jeden Augenblick erscheinen“. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin, VI. HA, Nachlaß Friedrich Meinecke, Nr. 324. Vor Weihnachten 1905 waren dann Separatdrucke vom Verlag an „einflußreiche Leser“ verschickt worden, vgl. Brief Friedrich Paulsens an Paul Hinneberg, 24. Dezember 1905, Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften Berlin, Bestand Deutsche Literaturzeitung, Nr. 8; Brief Gustav Schmollers an Paul Hinneberg, 25. Dezember 1905, ebd., Nr. 5.

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möge, die Forschung zu beeinflussen.“ Hinter den konventionellen Formeln der Gelehrtenrhetorik wird hier ein signifikanter intellektueller Gestus erkennbar: Nichts Geschriebenes hat Bestand, kaum ist etwas literarisch fixiert, will man es umschreiben, umarbeiten, immer ist alles im Fluß. Auch Max Weber teilte diese habituelle Veränderungsbereitschaft, verweigerte sich dem schlichten Autorenglück des Schlußstrichs und nutzte die spezifischen Möglichkeiten Heidelberger Dauerreflexion für den niemals abgeschlossenen Ausbau des eigenen Werks. Immer wurde wechselseitig Neues rezipiert und mitgeteilt, gewann eben Formuliertes einen Gesprächsmoment später dramatisch an Präzisionsbedarf, setzten Paralleldenker vertraute Fragen fremden Problemspiegelungen aus. Diskussionsimpulse, Kritiken, Antikritiken bestimmten auch Troeltschs weitere Mitarbeit an Hinnebergs „Kultur“-Monument: Schon im Dezember 1907 schrieb der Vielbeschäftigte seinen „Protestantismus“-Beitrag für die zweite Auflage um, integrierte Passagen aus anderen seiner Schriften zum Protestantis29 mus und erweiterte ihn dadurch erheblich. Die Sonderdrucke dieser zweiten Auflage sind auf das Jahr 1909 datiert. Wiederum erhielt Max Weber ein Exemplar – erneut ohne Widmung, und auch dieses Mal war ihm der Text offenbar schon vertraut. Kein Zeichen weist auf Lektüre hin. Werkgeschichtliche Detailanalyse kann dazu beitragen, prekäre Kanonisierungen aufzuheben. So zeigen die Rezensionen zu Troeltschs Hinneberg-Beitrag ganz nebenbei auch, daß es methodisch falsch wäre, die Debatte um Webers „Protestantische Ethik“ auf die im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ erschienenen Kritiken zu beschränken. Arbeitsgebiete und Interessensphären, Denkwege und Schreibprozesse der Heidelberger Fachmenschenfreunde überschnitten sich derart vielschichtig, daß nachgeborene Distinktionsdenker den Wunsch nach klarer Ideenparzellierung besser begraben sollten. Welch unübersichtliche Konstellationen zwischen stimulierendem Ideenaustausch, uneingestandener Konkurrenzaggression und subtilen Distanzsignalen statt dessen zu rekonstruieren sind, zeigt die Entstehungsgeschichte eines zweiten bedeutenden „Protestantismus“-Textes von Ernst Troeltsch. Am 21. April 1906 sprach der Heidelberger Theologieprofessor vor der neunten Versammlung Deutscher Historiker in Stuttgart über „Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt“. Georg von Below, der federführende Organisator des Kongresses, hatte ihn eingeladen, sich jedoch mit der Bitte um einen Redebeitrag zunächst an Max Weber gewandt. Dieser brachte dann den Freund als „theologische[n] Fachmann“ und damit „Berufenere[n]“ ins prestigeträchtige Vortragsspiel und legte Below zugleich nahe, den 28 Brief Ernst Troeltschs an Carl Neumann, 2. Januar 1906, UB Heidelberg, Heid. Hs. 3791, Nr. 11. 29 Die entsprechenden Texte sind ediert in KGA 8.

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Einladungsumweg Troeltsch gegenüber nicht aufzudecken. Diese Fiktion einer ‚Erstwahl Troeltsch‘ aber ließ sich nicht durchhalten. Viel spricht dafür, daß der Redner bereits frühzeitig vom Vorspiel seines Auftritts wußte und er diesen selbst als Freundschaftsdienst verstand. Gerade Troeltsch mußte klar sein, daß Max Weber schon aus Gesundheitsgründen nicht im Stande war, sich den Belastungen einer großen Vortragsverpflichtung auszusetzen. So selbstverständlich wie nobel vermerkt die Druckfassung der Stuttgarter Rede, daß ursprünglich Max Weber, „der in jeder Hinsicht dazu hervorragend berufen gewesen wäre“, das Thema hatte behandeln sollen, jedoch „leider durch anderweitige Arbeiten 31 dann an der Ausführung dieses Vorhabens verhindert war“. Doch auch bereits auf dem Historikertag hatte sich Troeltsch ausdrücklich als Vertreter Webers zu erkennen gegeben. Die „Vossische Zeitung“ berichtete, der Vortragende habe sich zunächst dafür entschuldigt, „daß er gewissermaßen nur als Ersatzmann für seinen Freund Prof. Dr. Max Weber eingetreten sei, durch den natürlich der 32 Stoff etwas anders gestaltet worden wäre.“ Beiden Seiten – Weber, der ganz dezidiert den „Theologen“ empfahl, und Troeltsch, der gleich in der Vorrede die differierende Art der Stoffbehandlung ansprach – war also höchst bewußt, daß sie zwar das Interesse an kulturwissenschaftlicher Religionsanalyse in seiner ‚existentiellen‘ Dimension teilten, in der konkreten Problemdeutung und 33 Akzentuierung allerdings ebenso unverkennbar voneinander abwichen. Ganz abgesehen vom erzwungenen eigenen Verzicht lag Weber offenkundig viel daran, daß ein deutungsmächtiges Historiker-Forum gerade mit Troeltschs provokativer Geschichtsbildkonstruktion konfrontiert wurde. Gegenüber Georg von Below argumentierte er themenbezogen: „Hat nun der Fachmann eine umfassende Leistung vorgelegt, so soll er sie m. E. vor der Öffentlichkeit vertreten. Es würde sich sonderbar ausnehmen, wenn ich das jetzt täte. Zudem hat Tr. natürlich eine Fülle von Dingen geleistet (Analyse Luthers, Calvins), die ich so absolut gar 34 nicht hätte leisten können, weil mir die Kenntnisse dazu fehlen.“

30 Brief Max Webers an Georg von Below, 23. September 1905 (wie Anm. 26). 31 Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt. Vortrag, gehalten auf der IX. Versammlung deutscher Historiker zu Stuttgart am 21. April 1906, in: Historische Zeitschrift 97 (1906), S. 1–66, auch als Sonderabdruck: München, Berlin 1906, [2. Aufl.] (Historische Bibliothek, 24. Band), München, Berlin 1911, jetzt in: KGA 8, S. 199–316, hier S. 201. 32 Vossische Zeitung, Nr. 191, 25. April 1906, Abendausgabe. 33 Vgl. dazu Friedemann Voigt: Vorbilder und Gegenbilder. Zur Konzeptualisierung der Kulturbedeutung der Religion bei Gothein, Sombart, Simmel, Jellinek, Weber und Troeltsch, in: Wolfgang Schluchter, Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.): Asketischer Protestantismus und der „Geist“ des modernen Kapitalismus. Max Weber und Ernst Troeltsch, Tübingen 2005, S. 155–184. 34 Brief Max Webers an Georg von Below, 23. September 1905 (wie Anm. 26).

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Daß in Stuttgart dann kein ‚Ersatzmann‘, sondern tatsächlich ein rhetorisch brillanter ‚Beherrscher‘ der „massgebenden Idee“ agierte, zeigte sich rasch: Troeltsch gelang ein fulminanter Auftritt. „Im Tempo des Wildbaches rauschte die Rede an uns vorüber, in ihrem Tatsachenmaterial und in ihren Gedanken 35 eine Fülle schwerster Steinblöcke mit sich führend“ – Karl Müllers ad hocKommentar und „ungewöhnlich starker Beifall“ drückten spontane Begeisterung über eine glanzvolle rhetorische Leistung aus, doch durchaus nicht die inhaltliche Zustimmung der Historikerzunft. Der Widerspruch konnte sich indes erst mit Verzögerung artikulieren, denn die traumatisierende Erfahrung der hochaggressiv geführten Redeschlachten nach Werner Sombarts „Kapitalismus“-Vortrag auf dem Heidelberger Historikertag 1903 war noch lebendig genug gewesen, um die Veranstalter in Stuttgart jede Aussprache über Troeltschs Thesen vorsorglich vermeiden zu lassen. Georg von Below und andere Hörer hatten sich 36 jedoch während des Vortrags bereits kritische Notizen gemacht, und Friedrich Loofs konnte sich den Beifall nur als Folge eines Feuerwerkseffekts erklären: „geblendete Augen können zunächst das Einzelne nicht scharf sehen, geschweige 37 denn prüfen“ . Als die Prüfung dann einsetzte, entwickelte sich bald ein lebhafter ‚Historikerstreit‘, der aber – zumal in der „Historischen Zeitschrift“ – gar nicht primär das Problemfeld ‚protestantische Ethik‘, ‚Weber-These‘ oder ‚WeberTroeltsch-These‘ umkreiste. Kern dieser extrem polarisierenden Selbstdeutung und geistige Traditionsfundamente des Kaiserreichs tangierenden Debatte war vielmehr ein religionspolitisch-normatives Thema: die Frage nach dem wahren Ursprung der Moderne. Lag dieser in der Reformation? Oder öffnete sich erst mit der Aufklärung der Weg in die moderne Welt? Troeltsch führte die ideenpolitische Auseinandersetzung offensiv und mit den Methoden klug kalkulierter Rezeptionssteuerung. Gleich für das Juli/August-Heft der „Historischen Zeitschrift“ hatte sich Friedrich Meinecke den Vortrag gesichert; der Oldenbourg-Verlag druckte zusätzliche Exemplare dieser Ausgabe und verschickte sie als gezielte Werbeaktion „direct per Kreuzband an ca. 2000 Adressen der grössten Bibliotheken Oesterreichs, der Schweiz, Frankreichs, Englands, der Ver. Staaten von Nord-Amerika, Hollands, Belgiens und Skandinaviens; ferner an die persönlichen Adressen der Professoren und Lehrer der Geschichte an Universitäten, Gymnasien und Realgymnasien in Deutschland, Oesterreich, der Schweiz, Holland, Dänemark,

35 [Richard Schwemer]: IX. Versammlung deutscher Historiker. III., in: Frankfurter Zeitung, Nr. 115, 27. April 1906, 1. Morgenblatt – wörtliche Wiedergabe einer Stellungnahme Karl Müllers. 36 Vgl. Georg von Below: Die Ursachen der Reformation. Mit einer Beilage: Die Reformation und der Beginn der Neuzeit, München 1917, S. 13 f., Anm. 1. 37 Friedrich Loofs: Luthers Stellung zum Mittelalter und zur Neuzeit, Halle 1907, S. 5 f.

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Schweden und Norwegen“. Anfang Juli 1906 ließ der Verlag dann flankierend 39 noch eine Separatausgabe des Textes folgen. Der Blick auf diese effiziente, hochdynamische und präzis berechnete Publikationsstrategie legt die Vermutung nahe, daß Weber und Troeltsch mit ihrer Arbeit am Problemzusammenhang ‚Protestantismus‘ unterschiedliche Öffentlichkeiten bedienten. Webers „Protestantische Ethik“ erreichte im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ 1904 und 1905 eher ein fachspezifisches Kollegenpublikum; Troeltsch erschloß sich dagegen mit der Beteiligung an Hinnebergs professionell vermarkteter „Kultur der Gegenwart“ weite Leserkreise des allgemeinen Bildungsbürgertums und mit Hilfe der „Historischen Zeitschrift“ die Öffentlichkeit der internationalen Historikergemeinschaft. Manche der diffusen Animositäten, die zwischen Troeltsch und Weber im Verlauf der ProtestantismusDiskussion entstanden, hingen vielleicht auch mit dieser ganz unterschiedlichen Rezeptionsreichweite zusammen. In die bereits 1909 vom Verlag in Aussicht gestellte Neuauflage des Stuttgarter Vortrags gingen dann ergänzende Studien Troeltschs zu Luthertum und Calvinismus ein und auch manche Anregung aus der kontroversen Diskussion mit Fachhistorikern. Wiederum spielte im Vorfeld der Publikation Max Weber eine wichtige Rolle. Am 21. Oktober 1910 hatte Troeltsch auf der ersten Tagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Frankfurt am Main über „Das stoisch-christliche Naturrecht und das moderne profane Naturrecht“ gesprochen und schon vorab Webers grundsätzliche Zustimmung zu einem möglichen späteren Abdruck als Aufsatz parallel zur Protokollfassung eingeholt. Als sich jedoch eine Exklusivveröffentlichung in Friedrich Meineckes „Historischer Zeitschrift“ abzeichnete und Webers ‚Hausverleger‘ Siebeck dagegen Einspruch erhob, um den hochkarätigen Beitrag für den Tagungsband zu retten, mußte Weber bei Friedrich Meinecke intervenieren. Seinen Hinweis auf ein „schweres Versehen“ von Troeltsch verband er mit beredter Werbung für eine Doppelpublikation: „Es ist ausgeschlossen, daß Ihrer Zeitschrift ideell oder sonstwie das zum Schaden gereicht, wenn der Vortrag an beiden Orten erscheint. Ich bitte Sie herzlich, Tröltsch doch keine Schwierigkeiten zu machen, der den Hergang, an den ich ihn erst wieder detailliert erinnern mußte, offenbar gänzlich vergessen hatte, –

38 Brief Rudolf August von Oldenbourgs an den Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 31. März 1906, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachl. 488 (Verlagsarchiv Mohr Siebeck), A 220. 39 Die Auflagenhöhe ist nicht mehr exakt zu ermitteln; die zweite Auflage taxierte der Verleger auf „1000 bis 1200“ Exemplare; Brief Rudolf August von Oldenbourgs an Ernst Troeltsch, 14. Mai 1909, IHK-Wirtschaftsarchiv München, F 5, v 57.

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wie es zuweilen seine Art ist.“ Im Gegenzug forderte Meineckes Verleger Oldenbourg dann allerdings seinerseits Entgegenkommen von Troeltsch ein: Das „längst versprochene Manuskript zur 2. Auflage“ von „Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt“, über das seit Mai 1909 zwischen Autor und Verleger so zäh wie ergebnislos korrespondiert worden war, möge Troeltsch doch nun endlich „in nicht allzu langer Zeit zur Verfügung 41 stell[en]“. Acht Monate später, am 18. September 1911, wurde dieser Wunsch dann auch tatsächlich erfüllt. Lakonisch-vielsagend kommentierte der Autor die Übersendung des Manuskripts: „Eine gewisse Vermehrung ließ sich natürlich 42 nicht vermeiden.“ Aus 66 Seiten waren 103 geworden, und so bestätigt auch die Nahsicht auf Ernst Troeltschs zweiten großen Protestantismus-Text den früheren Befund reflektierter Abschlußverweigerung, ja Vollendungsphobie. Das zum Druck freigegebene Manuskript bot nicht mehr als die Momentaufnahme eines problemgeschichtlichen Deutungsversuchs mit offenem Ende. Texte entstanden, pointiert gesagt, um permanent fortgeschrieben werden zu können. Gerade die berufsspezifische Ordnungsliebe der späten Diskursarchäologen droht daher mit der Konstruktion säuberlich unterschiedener Phasen das Geheimnis, die faszinierende Binnenstruktur des Heidelberger Dauergesprächs zu verfehlen. Weber und Troeltsch absolvierten keinen kulturwissenschaftlichen Problemparcours mit scharf umrissenen Konflikt-Etappen, sondern waren mit ihren Reden, Schriften und Kommentaren Teil eines einzigen großen und relativ einheitlichen Diskussionszusammenhangs. In diesem Kontext spielten für Troeltsch auch Rezensionen eine zentrale Rolle. Ein Beispiel nur: Georg Klingenburg legte 1912 an der Universität Bonn eine theologische Dissertation über „Das Verhältnis Calvins zu Butzer untersucht auf Grund der wirtschaftsethischen Bedeutung beider Reformatoren“ vor. Der Rezensent Troeltsch las sie als einen Beitrag zu der „Kontroverse über Kapitalismus und Calvinismus“, die Felix Rachfahl mit seinem Angriff auf „die von 43 Weber und mir behauptete These“ eröffnet hatte. Klingenburgs Hinweis, „die Stellung des alten Protestantismus, also auch die Calvins, zu den Gütern der

40 Brief Max Webers an Friedrich Meinecke, o. D., Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin, VI. HA, Nachlaß Friedrich Meinecke, Nr. 312. 41 Brief Rudolf August von Oldenbourgs an Friedrich Meinecke, 28. Janaur 1911, IHK-Wirtschaftsarchiv München, F 5 / 230. 42 Brief Ernst Troeltschs an den Verlag R. Oldenbourg, 18. September 1911, IHK-Wirtschaftsarchiv München, F 5 / 230. 43 Ernst Troeltsch: [Rez.] Georg Klingenburg: Das Verhältnis Calvins zu Butzer untersucht auf Grund der wirtschaftsethischen Bedeutung beider Reformatoren, Bonn 1912, in: Theologische Literaturzeitung 38 (1913), Sp. 563–565, hier Sp. 564, jetzt in: KGA 4, S. 733–738, hier S. 733.

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Welt“ sei von Troeltsch „als ‚innerweltliche Askese‘ bezeichnet“ worden, nahm der zustimmend Zitierte gerne auf. Auch ohne graphische Hervorhebung gewann dabei das Possessivpronomen ein besonderes Gewicht: „Mein Begriff der ‚innerweltlichen Askese‘“, so Troeltsch, sei durch die Calvin-Exegese Klingenburgs nun erneut in seiner heuristischen Qualität bestätigt worden. Verständlich wird damit zugleich, daß Max Weber jetzt noch intensiver überlegte, wie über das, 45 „was Tröltsch gemacht hat“, hinauszugelangen sei, und 1920 dann gleichsam auch als Interpret in eigener Sache nachzog, indem er in die zweite Fassung der „Protestantischen Ethik“ Bezüge auf Jellinek und Troeltsch aufnahm. Von einem gewissen Zeitpunkt der Debatte an trugen die Gelehrten ihre „Prioritätseifersüchtelei“ (W. Hennis) eben auch öffentlich aus. Teil dieser Öffentlichkeit waren in Heidelberg nicht nur jene Ordinarien, die 46 sich im geisteselitären Eranos-Kreis trafen, sondern das Intellektuellensoziotop am Neckar gewann sein prägnantes Profil gerade auch durch die Präsenz einer sehr eindrucksvollen Kohorte von vergleichsweise jungen Privatdozenten und Extraordinarien. Einer dieser Extraordinarien, den weder Troeltsch noch Weber leiden konnten, war der Nationalökonom Hermann Levy, ein Schüler Lujo Brentanos. Dem italienischen Modernisten Graf Stefano Jacini, der Levy am Lago di Como in einem Fünf-Sterne-Hotel kennengelernt hatte, schrieb Troeltsch im August 1910, seine Abneigung nur halbherzig rhetorisch veredelnd: „Herr Prof. Levy ist mein hiesiger Kollege und mir wohl bekannt. Doch will ich nicht verbergen, dass 47 ich gerade ein näheres Verhältnis zu ihm nicht habe.“ Levy, Sproß einer jüdischen Bankiersfamilie, kultivierte ostentativ einen großbürgerlich-hedonistischen Lebensstil, der ihm aus Ordinarienperspektive einfach nicht zustand, und weckte dadurch fraglos bei Troeltsch wie Weber professoralen Sozialneid. Bei allem Ressentiment gegen den praktizierenden Anti-Asketen aber mußten sie ihn doch immerhin lesen. Denn Levy veröffentlichte 1912 ein Buch über „Die Grundlagen des ökonomischen Liberalismus in der Geschichte der englischen Volkswirtschaft“, das er seinem Münchener Lehrer Brentano „in Verehrung und Dankbar-

44 Georg Klingenburg: Das Verhältnis Calvins zu Butzer untersucht auf Grund der wirtschaftsethischen Bedeutung beider Reformatoren, Bonn 1912, S. 50. 45 Brief Max Webers an Paul Siebeck, 30. Dezember 1913, in: MWG II/8, S. 449 f.: Plan einer „Soziologie der Erlösungslehren und der religiösen Ethiken – was Tröltsch gemacht hat, jetzt für alle Religionen, nur wesentlich knapper“. 46 Vgl. dazu Hubert Treiber: Der „Eranos“ – Das Glanzstück im Heidelberger Mythenkranz?, in: Wolfgang Schluchter, Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.): Asketischer Protestantismus und der „Geist“ des modernen Kapitalismus (wie Anm. 33), S. 75–153. 47 Brief Ernst Troeltschs an Stefano Conte Jacini, 2. August 1910, Casalbuttano, Archivio Jacini, abgedruckt in: Giovanni Moretto: Ernst Troeltsch e il modernismo, in: Nuovi studi di filosofia della religione, Padua 1982, S. 133–180, hier S. 178.

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keit“ widmete. Darin betonte er zwar mit Sombart auch jüdische Wurzeln des modernen kapitalistischen Geistes, unterstützte aber vor allem die von Weber und Troeltsch vertretene Sicht „protestantischer Berufsethik“. Levy zitierte Georg Jellineks Studie über „Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“, machte sich die Deutung der klassischen britischen Philosophie in Windelbands „Die Geschichte der neueren Philosophie“ zu eigen und ergriff gegen Rachfahls „blin48 den Eifer“ die Partei Max Webers und Ernst Troeltschs. Webers Aufsätze zur „Protestantischen Ethik“ erwähnte er an vier Stellen, Troeltschs „Soziallehren“ insgesamt neunmal. Zumeist folgte Levy Troeltschs historischer Konstruktion, auch übernahm er die Argumente, mit denen Troeltsch in den „Soziallehren“ Weber und sich selbst gegen Rachfahl verteidigt hatte, wahrte aber zugleich Distanz. Troeltsch seinerseits las und rezensierte Levys Liberalismusstudien, als seien sie ein exklusiver Beitrag zur Diskussion um seine „Soziallehren“. Der Schlußsatz seiner Rezension lautet: „Ich bin dem Buche Levys teils für Bestätigungen teils für Berichtigungen und Erweiterungen meiner Darstellung in den 49 ‚Soziallehren‘ zu großem Danke verbunden.“ Ende 1912 hielt Troeltsch es offenkundig nicht mehr für nötig, Webers „Protestantische Ethik“ in der Besprechung eines Buches, das sich mit den religiösen Voraussetzungen des kapitalistischen Wirtschaftsprinzips auseinandersetzt, auch nur zu erwähnen.

III Die problematischen Leerstellen der Überlieferung und das komplexe werkgeschichtliche Wurzelgeflecht scheinbar vertrauter, ja kanonisierter Texte bleiben auch im systematischen Theorievergleich gegenwärtig. Zu bedenken sind hier vor allem drei Grundfragen: Vertraten Weber und Troeltsch einen analogen Denkstil? Daran lassen sich zumindest Zweifel anmelden. Zweitens ist konzentrierter darüber nachzudenken, wie sich der vielbestaunte Begriffstransfer im Heidelberger Welterklärungslabor konkret vollzog; diese semantischen Verdichtungs-, Innovations- und Übertragungsprozesse aber können, drittens, nur dann erfolgreich entschlüsselt werden, wenn die hochdifferenzierten diskursiven und disziplinären Kontexte von einst mit der gebotenen Sensibilität wahrgenommen und ohne allzu devote Rücksicht auf die Schablonen und Konjunkturen post-

48 Hermann Levy: Die Grundlagen des ökonomischen Liberalismus in der Geschichte der englischen Volkswirtschaft, Jena 1912, S. 64. 49 Ernst Troeltsch: [Rez.] Hermann Levy: Die Grundlagen des ökonomischen Liberalismus in der Geschichte der englischen Volkswirtschaft, Jena 1912, in: Theologische Literaturzeitung 38 (1913), Sp. 689 f., hier Sp. 690, jetzt in: KGA 4, S. 747–751, hier S. 749.

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moderner Wissenschaftsentwürfe befragt werden. Wo diese Behutsamkeit fehlt, droht die Interessenkonstellation unserer Gegenwart mehr noch als im erkenntnistheoretisch ohnehin unvermeidlichen Maße das wissenschaftsgeschichtliche Bild zu verzeichnen. So spielt beispielsweise in der Beschäftigung mit Ernst Troeltsch derzeit der Heidelberger Systematische Theologe, der er knapp zwei Jahrzehnte lang war, kaum eine forschungsstimulierende Rolle. Interesse finden Troeltschs kulturhistorische Arbeiten oder sein Auftritt auf dem Soziologentag. Als Hauptgeschäft in den Heidelberger Jahren aber trieb Troeltsch seinem Lehrauftrag gemäß Systematische Theologie, ausgerichtet auf einen viersemestrigen Vorlesungszyklus: zwei Semester „Glaubenslehre“, dann ein Semester „Allgemeine Ethik“, anschließend ein Semester „Praktische christliche Ethik“ und so ad infinitum, das hätte heißen können bis zur Emeritierung, endete aber bekanntlich 1915 mit der Berufung nach Berlin und dem Fakultätswechsel. Gerät dieser ‚theologische‘ Troeltsch intensiver in das Blickfeld der Retrospektion, der Autor von Systematikartikeln für „Religion in Geschichte und Gegenwart“, der Verfasser von Texten zu ethischen Fragen, dann schwindet auch die Kluft, die sich zuweilen zwischen seinen Heidelberger und den Berliner Jahren gewaltig zu öffnen scheint, und gewinnen die Kontinuitäten stärkeres Gewicht. Der ‚Kulturhistoriker‘ braucht deshalb nicht die Bühne des aktuellen Wissenschaftsbetriebs zu verlassen. Nur gilt es zu bedenken, daß man kulturhistorisch miteinander arbeiten und parallele Historiken entwickeln konnte, ohne mit den Ergebnissen historischer Rekonstruktion notwendig dasselbe zu wollen. Troeltsch, dessen konstruktivistisches Verständnis von Geschichte kaum zu bestreiten sein wird, 50 visierte mit seinen kulturhistorischen Arbeiten andere Ziele an als Max Weber. „Daß Persönlichkeit und Werk sich trotzdem nicht immer vollkommen deckten, daß er die moderne Neigung, von dem Werk auf die eigene Persönlichkeit zurückzugehen, nicht immer völlig vermieden hat, daß er in der Betonung des persönlichen Elementes unter Umständen etwas dem Pathos verfallen konnte und umgekehrt – namentlich in späteren Jahren – dem Werke, wo es rein wissenschaftlich auf sich selber stand, manchen relativistisch-skeptischen Zug gab, das geht auch aus den hier gesammelten Äußerungen, ja gerade aus ihnen, gelegentlich unverkennbar hervor. Ich glaube mich mit der Beobachtung nicht zu irren, daß die geschlossene Einheit beider Momente [. . .] in späteren Jahren einer leisen, aber bemerkbaren Trennung der persönlichen Überzeugung und der dem historisch-relativen Tatbestand sich anschmiegenden, etwas skeptischen Wissenschaftlichkeit Platz gemacht hat. In wissenschaftlichen Gesprächen konn50 Vgl. dazu im einzelnen Gangolf Hübinger: Troeltschs Heidelberg Historik, in: Wolfgang Schluchter, Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.): Asketischer Protestantismus und der „Geist“ des modernen Kapitalismus (wie Anm. 33), S. 185–199.

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te man oft auf einen erstaunlichen Wechsel starker Gefühlsüberzeugung und eines höchst relativistischen Geschichtspositivismus stoßen. Es ist der Zwiespalt, der durch unser aller heutiges Denken geht und den zu überwinden auch sein 51 Denken nicht imstande gewesen ist.“ Nicht von Max Weber ist hier die Rede, sondern von Georg Jellinek: Ernst Troeltsch widmete dem verehrten Heidelberger Kollegen einen glanzvollen Nachruf fern aller Nekrologroutine und portraitierte sich dabei, wie sollte es anders sein, auch selbst. Den „Zwiespalt, der durch unser aller heutiges Denken geht“, überwinden – das konnte „auch“ Jellinek nicht, der geniale, philosophisch hochgebildete Jurist, von dem „alle Geisteswissen52 schaften lernen“ können. Der ‚normative‘ Troeltsch, der Jellineks Lebenswerk zu würdigen suchte, legte großen Wert auf das unscheinbare ‚auch‘; er beanspruchte für sich selbst gerade nicht eine dem Zeitzusammenhang enthobene Position, sondern sah sich mit allen Problemdenkern gemeinsam in derselben Aporie befangen und mit demselben Zwiespalt konfrontiert. „Damit ist aber auch jenes Schwanken zwischen Tatsache und Vernunft, zwischen absoluten und relativen Forderungen, zwischen Positivismus und innerer Vernünftigkeit der Geltung gegeben. Ein solches Schwanken ist die natürliche Folge, wenn die Vernunft nicht aus einer absoluten Vernunft deduziert, sondern erst aus der tatsächlichen Entwicklung herausdestilliert und auf ihrer Grundlage 53 bloß nach Möglichkeit organisiert wird.“ Das sei Jellinek selbst immer schärfer bewußt geworden. „Damit wurde aber natürlich die Konstruktion des Vernunftgehaltes im Historisch-Gewordenen und Tatsächlich-Geltenden immer schwieriger und immer mehr eine Sache subjektiver Überzeugung, die sich getraut, im jedesmal zufällig Geschichtlich-Gegebenen die ihm entsprechende Vernunfttendenz herauszufinden und zu bejahen. Dieses Vertrauen zu einem der jeweiligen Lage entsprechenden, in ihr enthaltenen Vernunftgehalt und zu dem eigenen, ihn herausziehenden und systematisierenden Urteil mußte entscheidend werden, da die naturrechtlichen Positionen eines a priori deduzierbaren und das positive Recht sicher normierenden Vernunftrechtes, die der alte Kantianismus vertreten hatte, für Jellinek nicht mehr existierten“. Dieser habe sich damit faktisch der „Hegelschen Lehre“ wieder genähert, „wie er denn diesen großen Denker immer höher schätzen lernte, aber auch daß er, sobald er das nicht wollte, einem mehr oder minder skeptischen Relativismus verfallen mußte. Sobald er aber eines wie das andere vermeiden wollte, blieb ihm nichts als das Pathos der Subjektivität,

51 Ernst Troeltsch: [Rez.] Georg Jellinek: Ausgewählte Schriften und Reden, 2 Bände, Berlin 1911, in: Zeitschrift für das Privat- und Öffentliche Recht der Gegenwart 39 (1912), S. 273–278, hier S. 274 f., jetzt in: KGA 4, S. 639–645, hier S. 640 f. 52 Ebd., S. 278, jetzt in: KGA 4, S. 645. 53 Ebd., S. 276, jetzt in: KGA 4, S. 642.

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wobei ihn aber doch die immer wache und kontrollierende wissenschaftliche Skepsis nicht allzu bestimmt werden ließ. Immerhin aber kommt doch gerade in dieser Subjektivität das Eigentlichste und Edelste seiner Persönlichkeit zutage, eine Verbindung tiefen Respektes vor der Geschichte mit der ethischen Forderung der Freiheit und gerechten Beteiligung des Individuums sowie mit der grundlegenden Anschauung von der Majestät des alles Recht erst hervorbringenden 54 souveränen Staatswillens.“ Dann führte Troeltsch den für ihn selbst so bedeutsamen Synthese-Begriff ein, dessen Herkunft noch nicht präzise bestimmbar ist, auch wenn Spuren zum späten Wilhelm Windelband und zu Heinrich Rickert führen: Jellineks „subjektive Überzeugung“ zielte, so sein kongenialer Interpret, auf „eine Synthese der antiken und humanistischen Souveränetätslehre mit der prophetisch-christlich-naturrechtlichen Schätzung des Individuums und mit der spezifisch juristischen Anerkennung des formalen gegebenen Rechtes als der 55 Garantie jeder sozialen Entwicklungsmöglichkeit“. Jellinek habe „auf Grund seiner entwicklungsgeschichtlichen Einsicht in die Stufen der europäischen Kulturgeschichte die Eigentümlichkeiten der modernen Welt zu erfassen und die ihr entsprechende Staats- und Rechtsidee im Unterschied vom antiken, vom mittelalterlichen, vom absolutistischen und vom naturrechtlichen Staatsbegriff zu konstruieren versucht.“ Er habe sich „ferner auf Grund soziologischer Einsicht in das Werden menschlicher Willensbeziehungen“ bemüht, „die spezifisch juristische Bindung und Normierung des Gemeinwillens zu begreifen und in ihrem Übergang aus dem sozialen, vorjuristischen Stadium ins juristische zu verdeutlichen und in ihrer unentbehrlichen Kulturfunktion zu begründen“ Er habe schließlich – eine ganz wichtige Formulierung – „im Fluß des historischen Werdens und aus dem Historisch-Gewordenen heraus das Normative auf rechtlichem Gebiet zu entwickeln gestrebt, eine überaus schwierige, aber die von der Gegenwart geforderte Aufgabe. Da ich an ähnlichen Fragen auf dem Gebiete des religiösen Lebens arbeite und von ähnlichen Vordersätzen aus zu ähnlichen methodischen Ergebnissen kam, haben wir uns so gut verstanden. Es ist die Aufgabe, die auf allen Lebensgebieten für die Selbstverständigung unserer Kultur besteht. Wenn ich für ihre Lösung auf festere metaphysische Begriffe hindrängte, so hat mir freilich darin Jellinek nie zustimmen wollen. Er glaubte an den Geist 56 ohne eine Metaphysik des Geistes.“ Das ausführliche Zitat aus Troeltschs Jellinek-Nachruf, der sich – bezeichnend genug – als Rezension ausgibt, sollte verdeutlichen, daß auch diese beiden Heidelberger Gelehrten sich sehr bewußt als Arbeiter an ein und demselben 54 Ebd., S. 276 f., jetzt in: KGA 4, S. 642 f. 55 Ebd., S. 277, jetzt in: KGA 4, S. 643. 56 Ebd., S. 278, jetzt in: KGA 4, S. 644 f.

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Problem verstanden. Der Theologe und der Jurist kämpften mit denselben Aporien. Zu deren Überwindung aber setzte schon der Heidelberger Troeltsch ganz dezidiert auf das, was er Metaphysik des Geistes nannte. Verließ 1915 ein Neukantianer Heidelberg, um dann nur Tage später als halber Neo-Hegelianer in Berlin anzukommen? Keineswegs. Vielmehr läßt der Blick auf Troeltschs Arbeit zumal an der Historismusthematik ausgeprägte Kontinuität erkennen. Bereits in seinem ersten Brief an Heinrich Rickert betonte Troeltsch 1899 sehr deut57 lich, daß er – so sehr ihn Rickerts Denkwege faszinierten – von einer „rein erkenntnistheoretisch-logischen“ Theorie nicht überzeugt sei, und entwickelte 58 dann bestimmte metaphysische Reflexionsfiguren . Entscheidend für eine adäquate Erschließung dieser bislang allzu pauschal registrierten Diskussionslage scheint die differenzbewußte Wahrnehmung der unterschiedlichen, jeweils disziplinär bedingten Herausforderungen zu sein. Ein Jurist mußte (und muß) sich zur Normativität verhalten. Max Weber dagegen war im Unterschied zu Jellinek befreit von diesem Zwang, Jura lehren und ein juristisch codiertes Weltverhältnis aufrechterhalten zu müssen. Troeltsch wiederum agierte vor einer ganz anderen Erwartungskulisse: Als Systematischer Theologe mußte er angesichts des Chaos der Religionsgeschichte normative Positionen im Hinblick auf Religionen entwickeln können. An der aktuellen Kulturpotenz der Religionen in konstruktiver Weise interessiert, ging es ihm um die Vereinbarkeit von christlicher Tradition und moderner Gegenwartskultur. Diese Vereinbarkeit war nun ihrerseits eine Funktion des Interesses, die depersonifizierenden Tendenzen der Moderne zu begrenzen, also Potentiale starker Individualisierung, vitaler Individualität zu erschließen. Troeltsch versuchte, sich diesem eindeutig normativen Ziel durch ein Erinnerungsprogramm anzunähern, das markante Ähnlichkeiten mit heutigen Debatten über das „kulturelle Gedächtnis“ aufweist. Die Grenze dieses ambitionierten Grenzüberschreitungsentwurfs war wohl entscheidend dadurch bestimmt, daß sein Konstrukteur ihn trotz aller Fülle des materialen Gehalts, stupender Orientierungskraft und kulturwissenschaftlich geweiteter Perspektiven letztlich auf bestimmte Traditionen restringiert hatte. Troeltsch kam gar nicht auf die Idee, beispielsweise das Judentum jenseits seiner Analyse der antiken Konstellationen, die er gleichsam professionell im Blick hatte, in aktive Erinnerungsarbeit einzubeziehen. Der Gerechtigkeit halber ist freilich auch zu betonen, daß der Berliner Troeltsch seinen Projekthorizont in der ihm verblei-

57 Vgl. Troeltschs monumentale Rickert-Rezension unter dem Titel „Moderne Geschichtsphilosophie“, in: Theologische Rundschau 6 (1903), S. 3–28, S. 57–72 und S. 103–117; überarbeitet in: GS II, S. 673–728. 58 Vgl. Brief Ernst Troeltschs an Heinrich Rickert, 10. März 1899, UB Heidelberg, Hs. 2740, Erg. 93, 1.2, 1, demnächst in KGA 19.

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benden Zeit durchaus weiter öffnete und seine Theorie der Kulturwerte, das Programm der Umschmelzung des historischen Besitzes, des Aufbaus eines europäischen Gedächtnisses auch über das Christentum hinaus definierte, das nun nur noch eines der konstruktiven oder tragenden Elemente der europäischen Kultursynthese sein sollte. Man kann dieses Europäismus-Konzept, wenn man es in eine andere Sprache übersetzt, als den Versuch begreifen, sozialmoralische Ressourcen für die Verständigung zwischen den europäischen Nationen und zwischen den verfeindeten Gruppen der deutschen Gesellschaft der frühen 20er Jahre bereitzustellen. Die Leitbegriffe und Kategorien, die Troeltsch gleichsam als Wegmarkierung in unübersichtlichem Theorietestgelände und Politikterrain verwendete, zielten auf pragmatisch-funktionale Orientierung, auf Konsensbildungsprozesse. Der Begriff ‚Kompromiß‘ wurde zur Schlüsselvokabel, und die Prägung ‚Gemeingeist‘ verriet nicht etwa Übereste organologischer Denkmuster, sondern wollte inmitten der deutschen Dauerkrise die chaosbannende Notwendigkeit, Verständigungspotentiale zu erschließen, in das öffentliche Bewußtsein heben. Max Weber folgte anderen, konträren Leitmotiven politischer Semantik. Daß eine Theorie des Polytheismus der Werte und die Praxis gezielten Dramatisierens von Wertkonflikten imstande sein könnte, stabile politische Verbände zu bauen, hielt Troeltsch dagegen für ausgeschlossen. Er ahnte jedoch auch, daß sein Eintreten für das Ideal einer aus sozialmoralischen Überzeugungsquellen gespeisten parlamentarischen Demokratie ihn in Webers Augen zum „flauen 59 Kompromißmenschen u[nd] politischen Kretin“ werden ließ. Am Ende hatten sie einfach Unterschiedliches im Blick. Das galt in politicis, eröffnet aber als Hintergrunderkenntnis auch einen Weg zum Verständnis der tiefen Differenzen zwischen den Theorieprogrammen von Troeltsch und Weber. Der Gleichklang der Interessen hob die Trennung der Zielperspektiven nicht auf. Den entscheidenden Vorbehalt jedes Deutungsversuchs aber formulierte Ernst Troeltsch selbst, drei Jahre nach dem „furchtbaren Krach“ mit Weber, der die einstigen Weggefährten endgültig entzweit hatte: „Im letzten Grund“ sei der andere ihm „vielfach problematisch u[nd] undurchsichtig“ geblieben. „Seine letzten gedanklichen 60 Hintergründe kenne ich nicht.“

59 Brief Ernst Troeltschs an Heinrich Dietzel, 22. Oktober 1917 (wie Anm. 3). 60 Ebd.

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Abschiedsfeier für Ernst Troeltsch in Heidelberg Abschiedsfeier für Herrn Professor Ernst Troeltsch Quelle: Heidelberger Tageblatt, General-Anzeiger, Nr. 64, Mittwoch, 17. März 1915, S. 5. Mitbürger! Am Ende dieses Monats wird Herr Professor Ernst Troeltsch unsere Stadt verlassen, um einem höchst ehrenvollen Rufe nach Berlin Folge zu leisten und seinen bisherigen Wirkungskreis mit einem so viel größeren, seinen reichen Kräften angemessenen Felde der Betätigung, zu vertauschen. Es ist hier weder der Ort noch die Gelegenheit, die hervorragenden Verdienste, die er sich als Theologe und Philosoph um seine Fachwissenschaft erworben hat, zu beleuchten oder etwa der ersprießlichen Leistungen zu gedenken, womit er als Vertreter der Heidelberger Universität in der Ersten Badischen Kammer hervortrat. Heute, kurz vor seinem Abschiede von uns Allen, seinen Mitbürgern, gilt es vielmehr, uns nochmals zum Bewußtsein zu bringen, was diese kraft- und geistvolle Persönlichkeit der gesamten Einwohnerschaft Heidelbergs bedeutet hat und wir in ihm verlieren. Erst der Krieg, der um uns tobt, und so viele bis dahin verborgene Eigenschaften unserer Volksseele aufgerührt und geoffenbart hat, vermochte auch die unvergleichlichen Vorzüge des teuren Mannes in ein weithin strahlendes Licht zu setzen. Wer von uns Allen, die wir die großen und bangen Tage nach der Erklärung der Mobilmachung erlebten, könnte jemals die Rede Ernst Troeltsch’s vom 2. August 1914 vergessen? Es war eine jener höchsten rhetorischen Leistungen, die mit ehernen Lettern in die Tafeln der Geschichte unsrer Stadt eingegraben sind, an Leuchtkraft und allgemeiner Wirkung vergleichbar nur jener elementaren Kundgebung Heinrichs von Treitschke, dessen edles Pathos und glühender Patriotismus den Auszug der Studenten im siebziger Kriege weihte und ihre Waffen segnete. Auch bei Troeltsch waren es keine bloßen Worte mehr, sondern eine fruchtbare Tat. Was der von seinem Genius geleitete, von seinem Gott erfüllte Redner für seine sprühenden Worte erflehte, ward ihm gewährt: sie wuchsen zu Waffen die uns Alle schirmten und stählten. Der große Moment hatte, wie dereinst in Fichte und Schleiermacher, hier, in unsrer Mitte – so dürfen wir stolz und laut vor aller Welt bekennen – seinen großen Sprecher gefunden. Der tiefe Sinn der erschütternden und erhebenden Stunde erhielt seinen geistbeschwingten, seinen geistbeschwingten, seinen religiösen Ausdruck, unsere dürstenden

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fragenden Herzen die tröstliche Losung der Tapferkeit und Zuversicht, und mit dem ehrfürchtigen Ruf des erleuchteten Redners stieg in frommer Inbrunst das Gebet der entflammten Gemeinde empor zum Throne der ewigen Gerechtigkeit: Mit Gott für Kaiser und Reich! Damals erst ward Ernst Troeltsch der vaterländische Prediger, ganz der Unsrige. Damals erst erkannte die Mehrheit, daß die Brust, das lebendige Gefühl, diesen Redner mache, daß er keiner von jenen, die ihr Wissen mit dem Herzen bezahlen, sondern einer der wahrhaft Gottbegnadeten sei, dem es gegeben war, zwischen uns und dem Höchsten zu vermitteln und dem Edelsten Ausdruck und Dauer zu verleihen, das nur als dunkle Empfindung in unserm Innern wogte. Seit jener Stunde auch ist es uns zur Pflicht geworden, ihm die Versicherung zu geben, daß die Welle der Begeisterung, die ihm damals so stürmisch entgegenschlug, nicht spurlos zerronnen ist, daß er, auch räumlich noch so entfernt, der Unsere bleiben müsse, daß wir in einer unlöslichen Dankesschuld, in fortwährender Liebe und Verehrung ihm verbunden sind. Dieses Gelöbnis ihm zu erteilen, wollen wir uns nochmals mit ihm vereinigen, nicht in einer, dem tiefen Ernste dieser Tage wenig geziemenden geräuschvollen Feier, sondern in herzlicher Verbrüderung, ohne Unterschied von Rang und Stand, lediglich als die Mitbürger und Volksgenossen, die er damals anrief, und in der freudig-wehmutsvollen Erwartung, in der Abschiedsstunde nochmals den ganzen Eindruck seiner feurigen, urwüchsigen Persönlichkeit in uns aufzunehmen, nochmals dem hellen männlichen Klang seiner Stimme und den geisterfüllten Worten dieses beredten Mundes zu lauschen. Das einfache Bankett wird am Samstag, den 20. März, abends 8 1/2 Uhr in der Turnhalle (Klingenteich) stattfinden. Die Galerie ist auch für Damen geöffnet. Der Heidelberger Sängerverband hat in dankenswertester Bereitwilligkeit seine Mitwirkung zugesagt. Der vorbereitende Ausschuß: Hermann Engelhard. Hans Hassemer. Karl Hörning. Otto Petters. Otto Sauter. Ernst Traumann. Ernst Walz.

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Abschiedsfeier Quelle: Heidelberger Tageblatt, Generalanzeiger, Montag, 22. März 1915. In der Turnhalle am Klingenteich hatten sich am Samstag abend die Bürger und Bürgerinnen unserer Stadt mit den Kollegen des Geh. Kirchenrats Prof. Dr. Troeltsch versammelt, um dem von hier scheidenden Dozenten ein letztes „Lebewohl“ zu sagen. Die gesangliche Unterhaltung hatte der Heidelberger Sängerverband unter Leitung seines Chormeisters Hugo Lutz übernommen. Oberbürgermeister Prof. Dr. Walz, der mit mehreren Stadträten und den Vertretern der einzelnen Bürgerausschußfraktionen an der Feier teilnahm, gedachte in seiner Abschiedsrede des Verlustes, den unsere Universität und die Bürgerschaft durch die Uebersiedlung des Gelehrten nach Berlin erleidet. In den herben Abschiedsschmerz mische sich aber die Erkenntnis, daß die neuen Kämpfe bei der Lösung neuer Probleme nach dem Kriege ihre Führer verlangen. In seiner Erwiderung dankte Geh. Rat Troeltsch für die außerordentliche Ehrung, die ihm von der Heidelberger Bürgerschaft nach 21jähriger Wirksamkeit bereitet wurde, und deren Außerordentlichkeit sicher mit unserer außerordentlichen Zeit zusammenhänge, die uns alle näher aneinander schließe und uns mit Freuden einem Zusammensein zueilen lasse. Im weiteren Verlauf seiner Rede beschäftigte sich Geh. Rat Troeltsch mit den Friedensmöglichkeiten der Zukunft, und mit den Kräften, mit denen wir die Zukunft neu bauen wollen. In längeren sehr interessanten Ausführungen schilderte der Redner die Lage im Osten und Westen, in der Türkei, die Ursachen des Unterseebootskrieges und dessen Wirkungen. In das rein militärische mische sich jetzt schon in einer ganz außerordentlichen Weise das diplomatische Moment. Im Mittelpunkt der ganzen Operationen gegen Deutschland stehe der Hungerkrieg, dessen Folgen unsere Gegner in ihren Berichten schon vorausnehmen. Mit vollem Bewußtsein unseres Handelns und Tuns, mit einer ganz besonderen Besonnenheit, mit vollkommener Ruhe, Sicherheit und Klarheit müßten wir zu Hause die Folgen dieses beabsichtigten Hungerkrieges tragen, ohne dabei in Sorge und Angst zu sein. Heidelberg habe seit Ausbruch des Krieges Wunderbares geleistet und sich hervorragend ausgezeichnet. Von den Rückschlägen des Krieges werde Heidelberg mit seiner Fremdenindustrie immerhin nicht unerheblich getroffen werden. In dieser Beziehung wünschte der Redner der schönen Stadt Heidelberg ein Ueberwinden des Krieges und seiner Fährlichkeiten, einen starken Anteil an den Kräften des neuen Deutschlands, einen freiheitlichen Ausgleich in allen Stücken, Einheitlichkeit der Führung, Gehorsam und Sinn für Unterordnung. Im weiteren Verlauf des Abends brachte Herr Buchhändler Petters ein Hoch auf die Gemahlin von Geh. Rat Troeltsch und Herr Geh. Rat Waag auf den Scheidenden aus, der ein voller, ganzer Mensch sei.

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Teil D: Anhang

Heidelberg, 22. März Quelle: Pfälzer Bote für Stadt und Land, Nr. 67, Montag, 22. März 1915. Die Abschiedsfeier für Herrn Geh. Kirchenrat Professor Dr. Troeltsch, von der Bürgerschaft Heidelbergs in der Turnhalle im Klingenteich am Samstag Abend veranstaltet, war, wie zu erwarten, stark besucht. Als erster Redner führte Oberbürgermeister Dr. Walz aus, daß es das erstemal sei, daß die Bürgerschaft einem Mitglied unserer Hochschule eine Abschiedsfeier gebe. Die Feier gelte auch nicht dem Hochschulprofessor, sondern dem Mitbürger, wie sich der Scheidende in einer früheren Rede selbst bezeichnet habe, dessen Verlust von der Bürgerschaft schmerzlich empfunden werde. Ein weit größeres Arbeitsfeld und die Lösung neuer Probleme harre des Scheidenden in Berlin. Die Glückwünsche der Versammlung begleiten ihn dahin. Herr Professor Troeltsch dankte für die Ehrung. Was sein Herz bewege, könne er nicht in viele Worte kleiden, er wolle nur fragen, daß in seiner 21jährigen Tätigkeit im öffentlichen Leben Heidelbergs die Abschiedsfeier zu seinen erhebendsten Stunden gehöre. Mit Dankbarkeit werde er an diese zurückdenken. Die weiteren Ausführungen des Redners betrafen den Krieg und einen endlichen Frieden. Herr Troeltsch wünschte der Stadt ferneres Gedeihen und brachte auf sie ein Hoch aus. Es sprachen noch die Herren Buchhändler Petters und Hofrat Waag. Der Abend wurde verschönt durch ein Violinsolo des Herr Seminarmusiklehrers Hugo Lutz, den seine Tochter am Klavier begleitete, und durch eine Reihe schöner Gesänge, vom Heidelberger Sängerverband vorgetragen.

Kondolenzschreiben zum Tode von Max Weber Quelle: Bayerische Staatsbibliothek München, Deponat Max Weber-Schäfer, Ana 446 C, Schachtel 10.

Brief Rudolf und Lilli Wielands an Marianne Weber, 16. Juni 1920

Liebe, gute und arme Frau Weber! Soeben wird mir die Zeitung mit der Todesnachricht herübergebracht. Ich gehöre zu den Erschütterten. So mitten aus der Bahn! Nun war Ihr lieber Mann wieder in seine lang entbehrte akademische Tätigkeit zurückgekehrt, mit alter Kraft, die er so lange schmerzlich vermißt und zurückgesehnt hatte, – und nun ist er als Held gefallen. Ein viel viel schönerer Lebensabschluß, so rasch, so kraftvoll, als ein langes Leben mit notwendiger Untätigkeit. Und er hat der geistigen Welt viel geben dürfen. Das bleibt seine Habe. Die akademische Jugend und viele Andere werden ihn freilich sehr vermissen. Wir wissen oder ahnen, was er Ihnen, was Sie beide einander bedeutet haben. Da dürfen wir Ihnen nichts weiter sagen oder wünschen. Nur eines: Sie sind doch glücklich zu preisen und dürfen und müssen tief dankbar sein, – vielleicht sollte das das einzige, bleibende Gefühl werden –, daß Sie beide einander haben haben dürfen. Unsere Treue und Dankbarkeit jedenfalls aber wird Sie nun erst recht begleiten. 16. Juni Ihr Rudolf Wielandt [auf der Rückseite des Kondolenzschreibens, ohne Ort und Datum] Meine liebe, arme Marianne, ich habe die Zeitung lange in der Hand gehalten – sie wird mir, da ich von der Operation noch recht schwach bin, morgens im Bett gebracht – und dachte darüber nach, wie Euch in diesem letzten halben Jahr ein Keulenschlag nach dem andren traf – bis zu diesem letzten – für Dich schwersten. Aber siegreich traten wie eine Vision gleich die alten, stolzen Worte meines Goethe vor mich hin: „Nun schmückt er sich die schöne Gartenzinne, von wannen er der Sterne Wort vernahm, Das dem gleich ew’gen, gleich lebend’gen Sinne Geheimnis voll

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Teil D: Anhang

und klar entgegen kam – Ihr kanntet ihn, wie er mit Riesenschritte – Den Kreis des Wollens, des Vollbringens maß, Durch Zeit und Land der Völker Sinn und Sitte, Das dunkle Buch mit heiterm Blicke las.“ Du kanntest ihn, Marianne, mög dies stolze Wort Dir die Kraft geben, die Du jetzt brauchst und die Dir aufs innigste erfleht Deine Lilli.

Kondolenzschreiben zum Tode von Max Weber

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Brief Marta Troeltschs an Marianne Weber, 17. Juni 1920 [Gedruckter Briefkopf, Ortskürzel und Datum mit Abstand handschriftlich darunter gesetzt] Prof. Dr. Troeltsch Berlin-Charlottenburg Reichskanzlerplatz 4I Tel. Wilhelm 2054 Ch. 17. Juni 20. Meine liebe Frau Weber, mit wahrem Entsetzen ergriff uns die Trauernachricht, die uns aus Ihren Händen zukam! – den geliebten Mann verlieren zu müssen, ist wohl das schmerzlichste, bitterste Herzeleid, das eine Frau hienieden treffen kann – keine Worte können darüber hinweghelfen, das weiß ich. Ich möchte Ihnen auch nur sagen, daß ich von Herzen an Sie denke und mit Ihnen fühle. Möge Ihnen Gott die Kraft schenken, einen so schweren Verlust zu tragen. Sie haben ein so reiches und schönes Leben an Ihres Mannes Seite geführt, haben so sehr auf der Höhe des Lebens stehen dürfen – die Erinnerung daran wird Ihnen leuchtend sein u. ein Trost in dunklen Stunden. Sie werden nun auch tapfer sein, wie Sie es immer gewesen sind, das wissen wir, aber doch denken wir in schwerer Sorge an Sie. Frau Jaffé wird vielleicht bei Ihnen sein und es giebt auch dort Menschen, die Sie lieb haben? Es hat uns arg betrübt, daß mein Mann nicht zu Ihnen eilen konnte, um Ihnen zur Seite zu stehen; Sie dürfen uns glauben, daß wir in Gedanken mit Ihnen an der Bahre gestanden haben in heißem Schmerz um den Freund, der dahinging. Gott behüte Sie! Von Herzen Ihre M. Troeltsch.

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Brief Hans von Schuberts an Marianne Weber, 18. Juni 1920 Heidelberg 18. VI. 20. Sehr verehrte Frau Professor! Es ist keine Phrase, wenn ich sage, dass ich von dieser jähen Trauerkunde aufs Tiefste bewegt worden bin. In denselben Stunden, da sich dies Leben zum Ende neigte, sprach ich mit Ihrem Schwager Alfred über Ihren Mann, er war völlig ahnungslos. Es ist schwer zu denken, dass Max Weber tot sei. Er gehörte auch mir zu den ganz Lebendigen und zu denen, von denen man das Grösste noch erwartete. Politisch nicht immer seiner Meinung, beklage ich doch gerade seinen Verlust als Politiker. Denn er und er fast allein war der Mann seiner eigenen Art auch darin: unsere Zeit schreit aber nach furchtlosen und innerlich völlig selbständigen Kämpfern. Er war eine Herrennatur, die in die von ihm vertretene „Demokratie“ gar nicht hineinpaßte; deswegen durchbrach er das rechts und links und machte sich überall Gegner. Gerade in den Tagen nach dem Zusammenbruch, da er voll überzeugt war, wir seien ganz verschiedener Meinung, habe ich meine helle Freunde an seinen Aufsätzen u. Reden gehabt, nicht nur an seinem prachtvollen lodernden nationalen Zorn, sondern auch an seinen Forderungen positiver Art. Ich hatte es darum bedauert, dass er dem politischen Leben noch fernblieb und seine Zeit abwartete, bis „die Menschen wieder zu Vernunft kämen“, wie er bei jenem schönen Heidelberger Abschiedsabend in seiner Rede sagte. Umsomehr durften wir hoffen, dass die andere grosse Seite in diesem reichen Menschen nun zu neuer und ganzer Entfaltung komme, die wissenschaftliche – auch zu ganz zusammenfassenden Arbeiten. Und nun dieser Abbruch. Hier sehe ich schlechterdings keinen Ersatz und traure besonders um das nun unwiderbringlich Verlorene, Nichtgeschriebene, Nichtvollendete. Auch wir Theologen haben von ihm und seinen Fragestellungen mitgelebt und werden nun zu dem Torso die fehlenden Glieder suchen müssen. Wie sollen wir sie finden und sehen, ohne die Voraussetzungen seines phänomenalen Wissens (erinnern Sie sich des Vortrags über die Musik im Eranos?) – wie sollen wir die Lösungen für diese verwickeltsten aller Fragen finden, ohne das Gespinnst wie er zu durchdringen, das sich aus feinsten und gröbsten Stoffen zusammenwebt; von innerstem religiösen Individualismus zur brutalen sozialen Massenerscheinung zeigte er die Fäden, hatte sie in der Hand und liess sie durch unsere gleiten. Immer stand doch auch hier der Mensch dahinter, den die letzten ethischen und religiösen Fragen leidenschaftlich bewegten. Als ich ihn kennen lernte als Heidelberger Alemannen, der sich schon damals mit Freund und Feind herumschlug, sass er über dem Spinoza. Er ist sich auch

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in seinen letzten Interessen treugeblieben. Den ethischen Fanatismus seiner Fallensteinschen Erbschaft habe ich ihm nie nachgerechnet. Wie wird erst die kommende Zeit diese Ganzen brauchen! Ich erhielt die Nachricht unmittelbar vor meinen Übungen. Ich habe den jungen Leuten von Ihrem Toten erzählt und ihnen seine Lebensarbeit eindrücklich zu machen versucht, so gut ichs konnte. Das war dann mein Totenkranz und mein Abschied von einem Menschen, den ich fast 40 Jahre gekannt, dem ich gewiss nie viel war, von dem ich innerlich mehr hatte, als er wusste und dem meine tiefe Achtung und aufrichtige Bewunderung übers Grab folgt. Meine Frau sendet Ihnen mit mir den Ausdruck ihrer innigen Teilnahme. Sagen Sie bitte Eduard, der Ihnen gewiss treu beigestanden hat, vorläufigen Gruss. Ich wollte ihm auch noch schreiben, muss aber abbrechen. Ihnen aber drückt warm die Hand in treuer Erinnerung Ihr Hans v Schubert

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Teil D: Anhang

Brief Otto Frommels an Marianne Weber, 19. Juni 1920 Verehrte gnädige Frau. Es ist mir Bedürfnis, Ihnen zu sagen, wie sehr mich der Heimgang Ihres von mir hochverehrten Gatten erschüttert hat. Ich habe noch neulich – bei der Bestattung Ihrer Schwägerin – als er in meinem Hause war u wir zusammen auf den Friedhof fuhren, einen tiefen u starken Eindruck seiner Persönlichkeit empfangen. Es lag eine ganz besondre Güte über dem, was er sprach u wie er war: – ich fühlte wohl auch das Leid, das ihn bewegte als der Sarg der Schwester in die Tiefe sank. Wie vieles ist mit ihm – nicht nur für die engeren Kreise seiner Angehörigen, Schüler, Berufsgenossen – nein, auch für Deutschland dahin gegangen, in einer Stunde, da solche Männer dem Vaterland unersetzlich sind. Mit Entzücken erinnere ich mich noch seines von Geist sprühenden Vortrags über Amerika, den er hier im Frühjahr 18 im Klingenteich hielt. Eine Welt wurde in seinem Wort lebendig u eine Fülle von Humor, Witz, Kritik sprühte darüber hin. Nach Naumann hat die Demokratie ihren zweiten großen geistigen Führer an ihm verloren. Welcher Kraft werden Sie bedürfen, verehrte Frau um dieses Schicksals Herr zu bleiben. Möge Ihnen diese Kraft in vollem Maße verliehen sein. In aufrichtiger Ergebenheit der Ihrige Otto Frommel. Heidelberg 19.VI.20.

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Brief Otto Maags an Marianne Weber, 19. Juni 1920 St. Gallen 19. Juni 1920 Verehrte, liebe Frau Professor! 1

Eine beliebige auf meinem Schreibtisch wie jeden Morgen liegende Zeitung bringt mir ganz beiläufig die Kunde, dass Max Weber tot ist. Ich hab das nicht begreifen wollen, ich bin herumgelaufen, habe mir bei der Redaktion der hiesigen Blätter die Quelle der Nachricht und somit die Gewissheit geholt. Das jetzt! – wo wir ihn alle so bitter nötig hatten, die Freunde, die Nation, die Schüler – und wer war nicht Schüler, gemessen an ihm – und nicht stolz, wenn er es sein durfte. Meine Frau und ich sind beieinanderge[se]ssen und haben es nicht wahr haben wollen und könnens heute noch nicht begreifen. Was mögen Sie leiden – trotz des von Ihnen selbst so schön ausgesprochenen Trostgedankens, der so in erster Linie für Sie selbst gilt, dass er Ihnen gehört und Sie lieb gehabt hat. Wir waren so ahnungslos – ich habe Ihnen noch vor ein paar Tagen eine Karte und ein Paketchen geschickt. Wir wussten ja gar nicht dass er krank war – war ers überhaupt. Er ist wohl an der Überspannung seiner Kräfte in diesen Jahren zusammengebrochen. Man ist so hilflos diesem Schlag gegenüber, so ganz und gar fassungslos. Was werden Sie tun? Liebe Frau Professor, darf ich und mit mir meine Frau Ihnen, die sich uns allen jetzt gesund und spannkräftig erhalten muss, als Freunde einen Vorschlag machen. Meine Frau geht in 14 Tagen etwa (Anfang Juli) ins Bündner Land, in ein wunderschönes stilles Dörflein – Bergün – weil sie auch ausruhen und Kräfte sammeln will – Kind und Mädchen nimmt sie mit. Wir haben oben einige Zimmer u. Küche in einem alten schönen Bündnerhaus gemietet. Sie hält dort selbst eigene Wirtschaft – dabei spielt (rein äusserlich gesprochen –) einer mehr keine Rolle. Wenn Sie sich entschliessen könnten – Sie hätten alle Ruhe und Stille dort, die Sie wollten – für die Erholung auch des Körpers ist durch die gute Ernährungsmöglichkeit ja ohnehin neben der Höhenluft gesorgt. Wie glücklich wir wären – vor allem meine Frau – Sie bei sich zu wissen, ist unnötig zu sagen. Wäre das nicht eine innerlich begründete Möglichkeit für Sie – jetzt. – 1 Im Original sind einige Hauptwörter des Briefes klein geschrieben. Dies ist hier zugunsten einheitlicher Großschreibung nicht wiedergegeben.

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Wir sind beide bei Ihnen in dieser schweren Zeit als Ihre immer getreuen und dankbaren Freunde. Otto Maag.

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Brief Oskar Siebecks an Marianne Weber, 20. Juni 1920 [Gedruckter Briefkopf, Datum handschriftlich] Dr. Oskar Siebeck Verlagsbuchhändler Amt Wilhelm 4712 Charlottenburg Suarezstrasse 21 20.6.20 Hochverehrte, gnädige Frau, eben komme ich von Herrn Geheimrat Troeltsch, der seinen neuesten literarischen Plan mit mir besprechen wollte. Sie werden sich denken können, mit welcher Dankbarkeit er dabei gerade heute dessen gedachte, was für ihn der geistige Verkehr mit ihrem unvergesslichen Gatten immer bedeutet hat. Das ist ganz die rechte Stunde, wo auch ich in aller Bescheidenheit aussprechen darf, wie von Herzen ich den viel zu frühen Tod dieses einzigen Mannes beklage, der in unserm Volke noch so Vielen, Alt und Jung, das hätte geben können, was sie heute am meisten brauchen. Was unser Verlag an ihm verloren hat, wird mein Vater Ihnen in diesen Tagen schon gesagt haben. Aber auch ich darf heute dessen gedenken. Verdanke ich doch die einzig schönen Stunden, die ich in anregendster Unterhaltung mit Ihrem Herrn Gemahl verbringen durfte, gerade der Arbeit im Dienste des väterlichen Unternehmens. Ich erinnere mich noch wie heute eines herrlichen Sommernachmittags. Wir saßen selbander auf dem Balcon an der Ziegelhäuser Landstrasse, den Blick aufs Heidelberger Schloss und Ihr Gatte ließ sich von mir mit einem beglückenden Interesse und Verständnis alles erzählen, was ich damals an teilweise reichlich jugendlichen Verlagsplänen ausgeheckt hatte. Solche Unterredungen können ein Gewinn fürs ganze Leben werden; was ich davon hatte, werde ich in einem treuen und dankbaren Herzen bewahren, solange es mir vergönnt ist, meinem schönen Berufe zu leben. In dankbarer Verehrung bin ich stets Ihr sehr ergebener O. Siebeck.

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Brief Martin Rades an Marianne Weber, 22. Juni 1920 [Gedruckter Briefkopf, Datum handschriftlich] Preußische Landesversammlung Berlin SW 11, Prinz-Albrecht-Str. 5, den 22.6.20 Verehrte Frau, Endlich komme ich dazu Ihnen zu schreiben. Sie werden unter der Fülle der Briefe meinen nicht vermißt haben. Aber bekommen müssen Sie ihn. Denn es ist mir ein großer persönlicher Schmerz, daß wir Ihren Mann nicht mehr haben. Nicht nur um vieler Begegnungen willen, die ich mit ihm haben durfte (das letzte ergiebige Mal in Heppenheim!), und um des Zusammenstehns u. Zusammenarbeitens willen, das mir zuweilen wohl mit ihm vergönnt war. So nahe, wie ich wahrlich gerne gemocht hätte, bin ich ihm nie gekommen. Er war ein großer Geist, und ich gehöre zu den kleinen. Nein, all mein persönlicher Schmerz heftet sich immer wieder daran, daß wir ihn für die Oeffentlichkeit, daß wir ihn für unser Volk und seine Geschichte nicht mehr haben. Er ist mir mit allem, was er schrieb, immer Führer gewesen, und ich hätte nichts lieber gewollt, als daß er noch ganz anders führend dagestanden hätte in unsrer Mitte. War nicht jetzt eben wieder mehr Hoffnung darauf? Es hat nicht sein sollen. Aber es ist schwer sich darein zu ergeben. Wie viel haben nun gar Sie verloren. Sie haben seine große öffentliche Bedeutung zu schätzen gewußt, und er war Ihr Gatte! Sie haben seine Krankheit mit durchlitten und sein Wiederaufkommen erlebt! Möchten Sie nun nicht ohne Trost sein, da er von uns gegangen ist. Wer denkt nicht, da wir ihm Valet sagen, auch an seine Mutter. Wie rasch ist er ihr gefolgt. Meine Frau, herzkrank in Bad Nauheim, ist mit mir voll Teilnahme. In großer Traurigkeit Ihr ergebener Rade

Martin Rade: Max Weber. Ein Lebensbild von Marianne Weber Quelle: Max Weber. Ein Lebensbild von Marianne Weber. Tübingen, J. C. B. Mohr 1926. 727 S. 11 Tafeln, 2 Faksimiles. 24 M., geb. 27 und 33 M., in: Die Christliche Welt 40 (1926), Nr. 7, 8. April 1926, Sp. 349. Erst 200 Seiten habe ich gelesen und kann mir nicht wehren, das Buch von Marianne Weber schon heute den Lesern anzuzeigen. Sie müssen alle wissen, daß es da ist und eine Gabe von ungemeinem Werte für uns bedeutet. Wenn ein Mensch zu früh aus dieser Welt scheidet, was kann ihm Schöneres geschehn, als daß seine „Werke“ ihm nachfolgen und seinem Lebensgang ein Denkmal gesetzt wird wie hier! Das ist irdische Unsterblichkeit. Das ist wirkliche Fortsetzung des Lebens und Wirkens über den Tod hinaus. Ich kann mich wahrlich nicht rühmen, dem Manne näher gestanden zu haben. Ich fühlte mich immer in seiner Nähe sehr klein. Aber das war eben das Erhebende, daß man so zu ihm aufschauen konnte. Manchmal habe ich gedacht, ob er nicht doch der bedeutendste Mensch war, dem ich in meinem Leben begegnen durfte. Das ist immerhin viel gesagt. Und nun kommt seine Persönlichkeit prachtvoll heraus in dem Buche. Zwar, eigentlich hat das Buch zwei Helden: ihn und eine Heldin, seine Mutter. Das war auch eine Frau, die zu kennen etwas wert war. (Wiederum ohne daß man ihr darum eigentlich nahe stehen mußte: „eine heilige Frau“ nennt sie die Schwiegertochter unwillkürlich einmal.) Von ganz anderm Schlage als der Sohn. Aber das ist ja nun eben der Reiz des Buches, der einen sofort gefangen nimmt, wo nur erst von den Vorfahren die Rede ist, wie diese Menschen alle mit sicherer Hand herausgearbeitet werden, und wie es um sie alle lohnt. Meisterhaft versteht die Verfasserin, sie zu Wort und Geltung kommen zu lassen. Mit großer Offenheit und zugleich mit großem Takt. Ihr Tun und Lassen hineinzeichnend in die Probleme ihrer Zeit, in die ewigen Probleme. Wie sie die Mitteilungen aus den Briefen auswählt, was sie hinzufügt – nicht zu viel, nicht zu wenig, genau das Rechte, in gedrungenem, immer etwas besagenden Stil – das macht das Buch zu einer stolzen Sache: will sagen, zu einer Sache, auf die der Leser stolz ist. So viel für heute. Mag das Ganze ein Andrer beurteilen. Wir sind ja auch den gesammelten Werken Max Webers eine Anzeige schuldig geblieben. Troeltsch hatte sie uns zugesagt; er hat den Auftrag mit ins Grab genommen. Martin Rade

Otto Baumgarten: Max Weber. Ein Lebensbild von Marianne Weber Quelle: Max Weber. Ein Lebensbild von Marianne Weber. Tübingen, J. C. B. Mohr 1926. 712 S., 11 Tafeln und 2 Facsimiles. 25 M., in: Die Christliche Welt 40 (1926), Nr. 12, 24. Juni 1926, Sp. 582–587. Niemand, der diese große Zeit mit offenen Sinnen durchlebt hat, wird ihre Spiegelung in einem so großen Verstand und Herzen ohne Bewegung und Gewinn nacherleben. Die Witwe, die „Gefährtin“ dieses unsagbar reichen Lebens, die es mit durchkämpft und mit durchlitten hat, zieht hier seine Summe mit völlig kongenialer Weite und Tiefe der Gedanken- und Gefühlskraft. Sie hat die natürliche Scheu, ihr bestes und heiligstes Erlebnis und das mancher anderen Seele, die auf dies Leben Einfluß gewann oder zu seiner Reife beitrug, der weiteren Öffentlichkeit preiszugeben, überwunden durch eine doppelte Erwägung. Einmal: Alles, was zum Verständnis einer Persönlichkeit beiträgt, die wohl mit Recht als Exponent einer großen Zeit aufgefaßt werden kann, gehört der Gesamtheit. Und sodann: die Bildungswerte, welche in dem Reifwerden und Sichausleben einer solchen genialen Denk- und Willensenergie, in ihrem tragischen und doch sieghaften Kampf beschlossen liegen, dürfen einer Nation nicht vorenthalten werden, die kaum durch Politik und Wirtschaft allein, sondern vielmehr durch beherrschte Innerlichkeit den Aufstieg gewinnen kann. Nahestehende haben sich des Öfteren gefragt, ob die Enthüllung dieses oder jenes persönlichen Geheimnisses nötig war zur Erfassung des Werdens und Wachsens dieser geistigen Gestalt; aber sie mußten schließlich still werden vor dem geschlossenen Ganzen dieses Kunstwerkes, das im Sinne der aus der Tiefe nachschaffenden Darstellerin mit innerer Notwendigkeit alles Einzelne zur Einheit eines schicksalvollen Dramas verbindet. Die Leser der Christlichen Welt, die 1906 einen sehr charakteristischen Beitrag Max Webers über „die protestantischen Sekten und der Geist des Protestantismus“ veröffentlichen durfte, sind der Verfasserin deshalb noch besonders verpflichtet, weil der innerste Aufzug des vielartigen Gewebes die fortgehende Auseinandersetzung des kompliziertesten modernen Kulturmenschen mit der freien Religiosität der Großmutter und Tante, vor allem aber der Mutter ist, die alle drei durch ihre intensive, ins soziale Leben und Wirken übertragene Frömmigkeit mit ihren hochgebildeten, keineswegs bloß weltförmigen, aber schwachreligiösen Gatten mehr und mehr in tragischen Konflikt kommen. Und dabei gelingt es der Künstlerin, nie in abstrakte oder psychologische Deduktionen zu verfallen, sondern die persönliche Problematik aus dem Zusammenweben wundervoller

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Briefzeugnisse ihres Helden (und ihrer selbst) erwachsen zu lassen, der gerade in seinen Briefen und in denen seiner „Gefährtin“, der restlos in sein Innenleben und Kämpfen eingegangenen Gattin, mit einer Plastik und Schlichtheit sich gibt, die seinen gelehrten Werken leider um ihrer Formlosigkeit und verschlungenen Perioden willen abgehen.

1 Es bietet gewiß nicht bloß uns Nächstverwandten einen seltenen Genuß, Erbauung und Erschütterung, die Lebensbilder der so eigenartigen Männer und Frauen zu verfolgen, die auf Max Webers innerste Entwicklung einwirkten. Zwar läßt sein Wesen sich nicht einfach ableiten aus dem Produkt dieser starken Faktoren; denn die Genialität liegt in der urwüchsigen Vereinigung der gleich zwingenden Faktoren, die auf die Männer und Frauen der Familie verteilt sind. Aber das Bild des Lützower Jägers, des willensstarken und charaktervollen Großvaters Fallenstein und seiner zarten, feingliedrigen, restlos gütigen Frau, der Erbin eines hugenottischen Geschlechts, das Bild des Straßburger Onkels, dessen ebenso historische wie politische Denkrichtung dem Schüler die verwandten Geistesanlagen erweckte und disziplinierte, und seiner ganz dem religiösen und sittlich-caritativen Leben zugewandten Frau, vor allem aber das Bild der von Marianne mit Andacht und Ehrfurcht dargestellten Mutter, die mit dem Heranwachsen der Söhne in die innerlichste Mutterschaft immer mehr hineinwuchs, diese teils unbewußt, teils bewußt aufgefaßten Bilder prägten die reiche Anlage Max Webers von früh auf. Vor allem aber – und daß sie das so meisterhaft herausgearbeitet hat, erhebt diese Biographie zum Rang eines Kunstwerks – die Tragik dieser um die letzten Beziehungen zur wissenschaftlichen, politischen und religiösen Wirklichkeit miteinander ringenden Ehen zieht als Unterstrom durch das nach allen genannten Seiten ausgreifende Seelenleben und sichert es gegen die Einseitigkeiten und billigen Kompromisse des regelrechten deutschen Gelehrten. Die Art aber, wie die Gefährtin aus den Erzählungen und Briefen ihres Geliebten diese schmerzvollen Konflikte zumal zwischen Vater und Mutter, Vater und Sohn, ohne alle Bitterkeit oder Parteilichkeit, als zwangsläufige Folge der großen Spannungen vor uns aufleben läßt, nimmt deren Enthüllung alles Verletzende. Es will uns scheinen, daß eben diese Partien der Lebensgeschichte von großem erziehlichem Wert für alle Erzieher unserer heutigen, in diese Zwiespälte hineingeborenen Jugend sein müssen. Wie die leidenschaftlich protestantische, stets um religiöse Wahrhaftigkeit und die Wirklichkeit frommer Nächstenliebe kämpfende Mutter in den Kinder-, Knaben- und Jünglingsjahren ihrer starkgeisti-

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gen „Löwenjungen“ nie zu dem heiß begehrten positiven Einfluß gelangen kann, dann aber den selbständig, reif gewordenen Söhnen der Inbegriff der ehrfürchtig und beglückt bejahten Ideale wird, ist für uns Alle, die wir unter der unendlich schweren Aufgabe der religiösen Erziehung frei gerichteter Protestanten seufzen, ein herzstärkendes Nacherleben. Und was der Mutter am Ende den vollen Sieg gibt, ist die Treue in der Selbstbehauptung der religiösen Position im Kampf mit der zur Selbsthingabe drängenden Liebe; dann kann zuerst Gerechtigkeit, dann warme Liebe das Bild des Geliebten ihrer Jugend wieder herstellen. Wesentlich für den Eindruck der frommen Gestalten auf das innerste Triebleben des Helden ist aber noch das, was sie – ich möchte sagen: in bester calvinischer Tradition – zu christlichem Sozialismus, zur Verwirklichung im geselligen und caritativen Leben drängt, zu Mitarbeiterinnen Friedrich Naumanns vorausbestimmt. Immer mehr wächst dieser christliche Sozialismus aus der bloßen Karität gegen die Enterbten, gegen die Opfer der Kultur – das Dorf im Odenwald, die Hausarmen in Straßburg, die Sorgenkinder der „Frau Stadtrat“, der in den Gemeinderat hereingezogenen Hauspflegerin hinein in die für die Menschenrechte und Menschenwürde des fünften Standes, für die Gleichheitsrechte der Frauen sich leidenschaftlich einsetzende soziale Gerechtigkeit. Die Freunde des Evangelisch-Sozialen Kongresses werden hier die treibenden Kräfte seiner längst nicht erfüllten großen Aufgabe in ursprünglicher, zwingender Stärke wiederfinden. Max Weber gehörte nicht zufällig zu den jüngsten, für die Fassung des Programms mitverantwortlichen Vätern des Kongresses. Aber das Bild der in ihm weiter schaffenden Erbtümer wäre einseitig, wenn nicht der Einschlag der väterlichen Familie und der Firma der Örlinghäuser Leinenweberei, in der „der Geist des Kapitalismus“, seine protestantische Charakterart, die Werte schaffende, im großen Zuge unternehmende Energie verkörpert ist, beachtet würde. Die Einseitigkeit der voreingenommenen Sympathie mit den im arbeitsteiligen Leben benachteiligten, wie sie den Frauen der Souchayschen Herkunft nahe lag, fand ein gesundes Gegengewicht an dem Erlebnis der Tüchtigkeit und Wichtigkeit eines kapitalkräftigen, schaffensfreudigen, der steigenden nationalen wie der Familienwohlhabenheit dienenden Unternehmertums, dessen Gedeihen zugleich einer reichen und warmen Kultur stiller Werte die Voraussetzungen schuf. Der durch die Herkunft der Gefährtin aus diesem selben Stamm verstärkte Einfluß dieses frühen Anschauungsunterrichts von dem Segen des verfehmten Kapitalismus darf nicht unterschätzt werden.

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2 Aber erwuchs nun aus den genannten Erbgütern und Antrieben eine wesentlich religiöse, religiös-soziale Persönlichkeit? Wohl die vollste Antwort auf diese Frage gibt Weber selbst in einem Brief (S. 339): „Ich bin zwar religiös absolut unmusikalisch und habe weder Bedürfnis noch Fähigkeit, irgendwelche seelischen Bauwerke religiösen Charakters in mir zu errichten. Aber ich bin nach genauer Selbstprüfung weder antireligiös noch irreligiös.“ Und die ihm gerade in religiösem Agnostizismus nächstverwandte Gefährtin interpretiert dies Selbstbekenntnis wohl richtig: „Für Weber blieb es dabei, daß die nüchterne empirische Betrachtung jener Sachverhalte zur Anerkennung der ‚Vielgötterei‘ als der einzigen ihr gemäßen Metaphysik führt: es ist wie in der alten noch nicht von ihren Göttern und Dämonen entzauberten Welt, nur in anderem Sinn. Wie der Hellene einmal der Aphrodite opferte und dann dem Apollon und vor allem jeder den Göttern seiner Stadt, so ist es entzaubert und entkleidet der mythischen, aber innerlich wahren Plastik jenes Verhaltens noch heute. Und über diesen Göttern und ihrem Kampf waltet das Schicksal, aber ganz gewiß keine Wissenschaft.“ Mit dem Vetter, dem Sohn der seelisch nächstverwandten Tante, verband mich in der Jugend und reiferen Manneszeit auch das tiefe religiöse und religiös betonte soziale Interesse, das bei uns beiden aus der Anschauung edelster protestantischer Religiosität erwachsen war. Aber immer mehr wurde mir bewußt, daß die unendliche Vielseitigkeit seiner Interessen und Bedürfnisse, die Universalität seiner Bildung, die Eigengesetzlichkeit seiner wissenschaftlich-philosophischen, seiner ästhetischen wie machtpolitischen, nach Goethes Wort „weitstrahlsinnigen“ Lebenstriebe, denen er Gehorsam schuldig war, dem Primat der religiösen Beziehung, der schlechthinnigen Abhängigkeit von einem auch den kategorischen Imperativen der Pflicht und seelischen Reinheit noch übergeordneten „ganz Anderen“ den Weg verlegte. Es fehlte Max Weber das Postulat des „Einen, was Not tut“ bei aller tiefen Hochachtung und zarten Nachempfindung religiöser Werte; denn jenes Postulat führt zu einer unleugbaren Exklusivität, die diesem Universalgenie unerreichbar, ja verboten war. Es fehlte ihm aber durchaus nicht die Einfühlungsfähigkeit gegenüber solchen, die jenes Postulat empfinden und befolgen. Ihm selbst tritt die höchste, die Erlösungsreligiosität, wie Marianne überzeugend dartut, in grundsätzlichste und bewußteste Spannung zu dem Reich denkenden Erkennens. Es dürfte gründlich nachzudenken sein über die folgenden Sätze: Die fortschreitende empirische Erkenntnis widerspricht dem entscheidenden religiösen Anspruch, daß die Welt von Gott geschaffen und deshalb ein ethisch sinnvoll geordneter Kosmos sei. Sie hat die Entgottung der Welt durch ihre Verwandlung in einen kausalen Mechanismus endgültig vollzogen. – So stehen die letzten Formungen des Weltbildes, durch die Religion

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einerseits und die empirische Wissenschaft anderseits, auf Gegenpolen. Die Religion beansprucht nicht ein letztes intellektuelles Wissen über das Seiende oder normativ Geltende, sondern eine letzte Stellungnahme zur Welt kraft Erfassen ihres Sinnes, was sich nicht durch den Verstand vollzieht, sondern durch Erleuchtung. Dagegen wird die Wissenschaft in allen Unternehmungen der Philosophie (und der Theologie), jenen letzten Sinn und die ihn erfassende Stellungnahme demonstrabel zu machen, nichts als das Bestreben des Intellekts, seiner Eigengesetzlichkeit zu entrinnen. – Und schließlich tritt die Erlösungsreligiosität nicht nur zu den einzelnen Wertsphären innerweltlicher Kultur in Spannung, sondern sie lehnt die Welt als Ganzes ab. Sie lehnt die Welt ab, die den sittlichen Anspruch auf gerechten Ausgleich unerfüllt läßt und in der die Menschen nicht nur zu ungerechtem Leiden und sinnlosem Sterben verurteilt, sondern offenbar auch zum Sündigen geschaffen sind. Die ethische Entwertung der Welt steigert sich aufs äußerste durch die Einsicht, daß alle höchsten Kulturgüter spezifisch schuldbeladen sind, da sie sämtlich mit der Brüderlichkeitsforderung unvereinbare Daseinsformen voraussetzen. Schwere religiöse Schuld erscheint als unlöslicher Bestandteil aller Kultur, alles Handelns in einer Kulturwelt, alles geformten Handelns überhaupt.

So rückt allerdings Weber „unbarmherzig ins Helle, was die meisten modernen Christen nicht sehen wollen.“ Die Sinnzusammenhänge konsequent zu Ende denkend, deckt er ihren Konflikt mit den realen Lebensordnungen auf und lebt „mitten in der zunehmenden Kollision der Wertsphären, die ein einheitliches Weltbild ausschließt“. Er verwehrt zwar Niemandem einen Standpunkt, von dem aus jene Konflikte als aufgehoben gelten können; sich selber aber kann er solche „seelischen Bauwerke religiösen Charakters“ nicht gestatten. Sein Relativismus, den er aber als dem Wesen religiöser Gewißheit konträr erkennt, findet seine Schranke an der sittlichen Würde, wie denn „Würdelosigkeit“, Verleugnung der überpersönlichen Sachlichkeit und des gerechten Edelsinns, seine leidenschaftlichen Proteste hervorruft. Aber eine Überwältigung durch Verkörperung religiöser Sinndeutung, aus der schlechthinnige Gebundenheit an diese höhere Welt folgen würde, finden wir nirgends in seinem Leben. Es kann hier nur angedeutet werden, daß auch in seinem unsagbar schweren, zeitweilig erschütternd, nein, quälend tragischen Leben die Religion als Gewißheit göttlicher Allwirksamkeit und kreatürlicher Unterordnung nicht die entscheidende, lösende oder tröstende Rolle spielt. Es ist heilsam für alle Leser, die Furchtbarkeit der lange währenden, bis zuletzt hinschleichenden Krisis einer heroischen Lebenskraft zu durchleben, die Folge dessen, daß der auf Universalität veranlagte Geist im vollen Reifen die Kerze an beiden Enden anzündete und die Eigengesetzlichkeit der leiblichen Bedingungen und die Grenzen der Reizmittel verkannte. Wie da die Gefährtin aller schulmeisternden, erziehenden Beeinflussung entsagend, dem Gesetz seines dämonischen und titanischen Wesens einfach folgt und mittragend wohltut, wie der Gefolterte aber, so viel an ihm liegt, alles aufbietet, um seinen Rauch selbst zu verzehren, ist von er-

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greifender Seelengröße. Die Zartheit, ja Weichheit, die gerade in dieser Wüste zerstörter Schöpferkraft seiner Gattin und Mutter begegnet, wird nur noch überboten durch die mit Selbstanklage gepaarte selbstlose Zartsinnigkeit im Verkehr mit der Erstgeliebten. Die Briefe an diese sind neben denen an die Mutter, die Gattin, die Schwestern wohl den edelsten Perlen deutscher Briefliteratur beizuzählen. Daß einem weiteren Kreise der Tiefe und Reinheit des persönlichen Lebens suchenden Zeitgenossen diese Einblicke in ein ebenso zartes wie starkes Gemütsleben und seine Kämpfe mit der Tücke des Objekts zugänglich gemacht sind, lernen auch zunächst dadurch Befremdete immer mehr als ein Verdienst achten. Wie weit in der unbewußten Tiefe die Nachwirkungen echter, die seelische Empfindlichkeit, die Fühlfäden für Anderer tiefstes Empfinden steigernder Religiosität auf diese Persönlichkeit gewirkt haben? Sie scheint doch mehr, als durch das Titanische ihrer Ansprüche an eigene Bewältigung der schicksalhaften Lebenstriebe, durch die lyrische, apollinische Feinheit ihrer Reaktion auf Anderer Seelenleiden, mehr als durch die Wanderungen auf den höchsten Gedankenhöhen mit den anspruchsvollsten Geistern seiner Zeit durch die Hingabe an Kleine im Geist und die Prozesse für verirrte Seelen charakterisiert. Aber in den schwersten Zeiten seines Lebens, das müssen wir offen gestehen, begegnen uns überraschend wenig Spuren von der richtenden und aufrichtenden, selbst grausamen Geschicken geahnten Sinn unterlegenden, tröstenden Kraft der Religion. Auch dies Erlebnis an einem religiös so vielseitig beeinflußten und interessierten Zeitgenossen soll uns zu denken geben. Deuten wir uns den mangelnden religiösen Konstruktionsmut und die mangelnde religiöse Beseligungskraft dieses Erben stärkster religiöser Ingredienzien nicht weg! Rückhaltlose Entzauberung der spannungsreichen Gegenwart ist das herbe Grundgesetz dieses Lebens.

3 Aber es widerspräche der strengen Sachlichkeit unseres Helden, wenn wir uns nicht schließlich noch nach den Früchten seines Lebensbaums umsähen. Daß Max Weber wesentlich als wissenschaftlicher Denker und Lehrer wirken würde, war keineswegs von vornherein klar. Er schwankte lange zwischen der akademischen und der praktisch-politischen Laufbahn, und als die ihn erschütternde Schmach und Not des zusammengebrochenen Reichs nach starken Führern geradezu schrie, begegnete seiner Frau und Anderer Anruf an seine staatsmännische Einsicht und Führerkraft bei ihm keineswegs einer grundsätzlichen Ablehnung. Ein ungemeines Pathos für ein machtvolles, Wirtschaft wie Kultur förderndes

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aber auch frei sich entwickeln lassendes Staatswesen, von dem auch die sozialen Gerechtigkeitsforderungen erst realisiert werden könnten, das reife Erbe der nationalliberalen Glanzzeit, die ihm am Tische des Vaters früh entgegentrat, erhielt sich, ja verdoppelte sich in dem durch den verlorenen Weltkrieg und die Revolution tief erschütterten Mann. Das Weberbuch hat darum auch den Wert eines Querschnittes durch die von Zeit und Schicksal geleiteten politischen Instinkte der führenden Geister. In seiner Antrittsvorlesung ringt dieser Instinkt mit dem sozial-ethischen Reformdrang siegreich um die Palme. Dem Nationalsozialismus seiner Freunde Göhre und Naumann stand er darum lange skeptisch gegenüber, und seinem Einfluß verdankte der Bahnbrecher des den Unterdrückten zugewandten Sozialismus die nationale und machtpolitische Ernüchterung. Daß Weber, der die Probleme der neuen Staatsform und der Wertfolge von Außenund Innenpolitik, von Macht und sozialer Gerechtigkeit längst zu Ende gedacht, auch in der Frankfurter Zeitung für die deutsche Reichsverfassung zum Teil maßgebend gelöst hatte, der in Versailles unter der Entmündigung der Nation namenlos gelitten und die Denkschrift gegen die Schuldlüge entscheidend beeinflußt hatte, daß der so vorbereitete Mann den ihm zuerst zugedachten ersten Platz auf der Frankfurter Wahlliste zum Verfassunggebenden Reichstag wieder entzogen bekam und von der Nation nicht zur Führerschaft in den verworrenen Anfangszeiten des neuen Reiches berufen ward, darüber mußte er sich hinwegtrösten mit der Selbsterinnerung an seine gebrochene Handlungskraft. Aber erst jetzt erfahren Viele, mit welchem genialen Eindringen Weber auf ästhetischem, speziell musikalischem Gebiet begabt war, wie er in kühnem Wurfe eine Soziologie der Musik entwarf, wie er den Kern der im Stefan Georgeschen Kreise ventilierten Problematik des Kunsttriebs als das Leben formender Ausdruckskultur erfaßte, ihn doch in seinem Übermaß vom ethischen Standpunkt aus kritisierend. Wenn wir also doch wohl sagen müssen, daß das Zentrum seines Berufs in der Begründung einer neuen Disziplin der Soziologie der Geisteskultur lag, so schließt diese Begrenzung die ganze Universalität seines Genies ein. Marianne hat in dem meines Erachtens besonders wertvollen Kapitel: „Die neue Phase der Produktion“ „den Versuch unternommen, wissenschaftlichen Laien einiges aus Webers Gedankenwelt darzubieten, was vielleicht eine Vorstellung seines Geistes gibt und vor allem die Kenntnis seiner Persönlichkeit erweitert“. Es ist kaum möglich, aus diesem für die meisten Leser des Lebensbildes doch noch zu schwierigen Extrakt wieder einen Extrakt zu bieten. Das Wichtigste dürfte sein, daß der Unterschied der geistes- von der naturwissenschaftlichen Methode, der Unterschied der Soziologie, die auf alle Wertung der dem Verstehen zugänglich gemachten Prozesse verzichtet, Idealtypen der sozialen Gestaltung schafft, von aller dogmatischen Systembildung juristischer, sozialpolitischer, theologischer Art, daß dieser auf einer ungeheuren logischen Selbstzucht und

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Entäußerung beruhende Unterschied klar erfaßt und mit staunender Bewunderung betrachtet werde. Es liegt darin, gerade auch in der Entzauberung der Religionssoziologie von aller nach Werten ordnenden Systematik, mit der charakteristischer Weise die ganze soziologische Lebensarbeit einsetzte, das ganze Ethos dieses Gelehrten, dem im handelnden Leben die Wertung der Wirklichkeit mit stärksten Prädikaten Naturdrang war. Die Reinlichkeit und Sachlichkeit lediglich verstehender, nicht würdigender Wissenschaftlichkeit wird gerade auf die Gebiete zuerst angewandt, in denen die Werturteile und Sinndeutungen zu Hause sind. Mit der konsequenten Auseinanderhaltung der beiden geistigen Funktionen, der theoretischen Wertbeziehung und des praktischen Werturteils, des Erkennens und Wollens überhaupt, hat der auf beiden Gebieten gleich stark veranlagte Denker ein Forscherideal aufgestellt, dessen voller Verwirklichung die Einheit der Persönlichkeit widerstrebt, da „sich auch im Akt des Erkennens der kontemplative Mensch schwer vom handelnden trennt“. Wenn man die alle großen Religionen mit gleicher Hingabe und Einfühlung umspannende Religionssoziologie überschaut, vollendet sich das Gesamtbild eines heroischen, universal die Welt der Erscheinungen dem innersten Gesetz unterwerfenden Geistes. Verbindet sich nun mit dem Bilde des Helden, dem „der Gang der Menschheitsschicksale erschütternd an die Brust brandet“, und des Denkers, dem die unendliche Fülle der Erscheinungen zu übersehbaren Idealtypen sich ordnet, das Bild des das Schöne in allen Welt- und Kultursphären dankbar genießenden Schauenden, so ist der unglaubliche Reichtum dieses ebenso viel nehmenden wie gebenden Lebens umschrieben. Es wird aber aufgefangen von dem reinen Spiegel einer völlig geeinten Seele, der nicht selten Stimmungsbilder gelingen wie das, mit dem ich schließen möchte (S. 481): „Die Ruine grüßt geisterhaft aus dem Schleier der Nacht. Erdenschwere ist aufgelöst. Das Weltgeheimnis flüstert in den Seelen, die um die Ewigkeit alles Großen und Schönen bangen, sich nach eigener Ewigkeit sehnen. Aber man kann es nicht fassen. . . . Ach, warum ihr Götter ist unendlich Alles, Alles, endlich unser Glück nur!“ Kiel Otto Baumgarten

Otto Baumgarten: Das Dennoch des Glaubens. Ein Briefwechsel Quelle: Schleswig-Holsteinisches Kirchenblatt (Neue Folge), 22. (der neuen Folge 1.) Jahrgang, Nr. 26, Sonntag, 17. Oktober 1926, Sp. 225–228. Ich erhielt dieser Tage folgende Gewissensfrage: „Bei wiederholtem Lesen ihres Artikels über Marianne Webers Lebensgeschichte von Max Weber in der „Christlichen Welt“ Nr. 12 verstärkte sich in mir eine mich nicht mehr loslassende Frage, die ich kurz zu formulieren versuchen will. Sie sagen: Weber sei ein Mensch ‚von ganz großem Verstand und Herzen‘ gewesen, habe eine ‚Weite und Tiefe der Gedanken- und Gefühlskraft‘ wie wenige besessen und sei erfüllt gewesen von einem ‚tiefen religiösen und religiös betonten sozialen Interesse‘. Dann aber führen Sie aus, dieser seltene Mann sehe und empfinde mit schmerzhafter Helle, ‚wie die Welt den sittlichen Anspruch auf gerechten Ausgleich unerfüllt lässt, wie in ihr die Menschen nicht nur zu ungerechtem Leiden und sinnlosem Sterben verurteilt, sondern offenbar auch zum Sündigen geschaffen sind‘. ‚Alle höchsten Kulturgüter sind spezifisch schuldbeladen, da sie sämtlich mit der Brüderlichkeitsforderung unvereinbare Daseinsformen voraussetzen‘. Dadurch, fahren Sie fort, trete die Erlösungsreligiosität in grundsätzliche und bewußteste Spannung zu dem Reich denkenden Erkennens. Eine ungeheure Tragik scheint mir nur darin zu liegen, daß nach Ihrer Darstellung dieser Mensch voll zartesten und feinsten Empfindens eben um dieses Empfindens willen die tröstende Beseligungskraft der Religion sich nicht erhalten kann. Ist nun Ihre Meinung, verehrter Herr Geheimrat, daß sich Weber trotz dieses schmerzhaft hellen Erkennens den ‚religiösen Konstruktionsmut‘, den Mut des ‚dennoch‘ hätte bewahren können? Hat er sich selbst den Weg verlegt oder war er ihm versagt? Mich quält in meinen bescheidenen Grenzen oft ähnliches Denken wie Weber, so daß es mir immer wieder schwer wird, den Glauben an einen gütigen und allmächtigen oder aber an einen allmächtigen und gütigen Gott festzuhalten“. Hierauf kann ich nur Folgendes erwidern: Der jeden christlichen Leser der Weber-Biographie am meisten ergreifende Tatbestand ist zweifellos der, daß hier ein Mann von stärkster Reaktion gegenüber allen Erfahrungen einer irrationalen, geheimnisvollen Ueberwelt, der Erbe eines besonders reichen und wirksamen Glaubenslebens, der Entdecker der viel

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verschlungenen Zusammenhänge religiöser Wertung mit realen, wirtschaftlichen, sozialen Faktoren sich am Ende doch unfähig erweist, zu jener religiösen Gewißheit zu kommen, die das entscheidende Merkmal eines religiösen Charakters ist. Gewiß ist Weber weder irreligiös zu nennen noch auch nicht christlich, vielmehr bildete Reizbarkeit für religiöse Werte und Einfühlungskraft in religiöse Erlebnisse einen Wesensbestandteil seines wissenschaftlichen und persönlichen Lebensberufs. Wohl aber ist mir im Laufe unserer langen und tiefen Berührungen immer wieder zu Bewußtsein gekommen, daß ihm mein Bedürfnis und Vermögen, bestimmte Aussagen zu wagen über jene höhere Welt, gar eine Eigenschaftslehre von Gott zu vertreten, die allem relativen, agnostischen Verzicht gegenüber das „Trotzdem“ positiver Bejahung festhält, innerlich fremd war. Und bei der großen inneren Wahrhaftigkeit, die ihn auszeichnete, bei dem in jedem Augenblick sich aufdringenden Eindruck seines innerlich gezwungenen, notwendigen Verhaltens, konnte ich mir nicht gestatten, in diesem mangelnden religiösen Konstruktionsmut eine persönliche Schuld, Nachwirkung eines fehlenden guten Willens zu vermuten. Wer in der akademischen Welt zu Hause ist, wer mit den Denknötigungen der zu vielseitiger Orientierung genötigten Forscher vertraut ist, wird es sich versagen müssen, da Schuld zu sehen, wo psychologische Verkettung, Schicksal, innerer Zwang zu Tage tritt. Die Frage, ob sich Weber trotz seines schmerzhaft hellen Erkennens den religiösen Konstruktionsmut, den Mut des „Dennoch“ hätte bewahren können?, vermag ich nicht zu bejahen. Wer kann überhaupt entscheiden darüber, was einem Andern nach seiner Veranlagung möglich und erreichbar und was ihm versagt ist? Es ist gewiß denkbar, daß durch eine größere Selbstbescheidung, durch Zurückdrängung zuströmender, komplizierender Momente die Einfachheit und Konzentration zu erreichen gewesen wäre, in der die Religion als das Eine, das not tut, gedeiht; Weber mag in der Tat durch Reichtum, durch die Fülle innerer Gesichte sich den Weg zur schlichten Religiosität, zur Gewissheit göttlicher Alleinwirksamkeit verlegt haben. Aber wer will sagen, daß er das nicht in Gehorsam gegen seine reiche Anlage und deren wahrheitsgemäße Ausbeutung tat? Dürfen wir überhaupt heute noch Unglauben als Sünde und Schuld beurteilen, gar behaupten: der Unglaube ist die Sünde? Müssen wir nicht angesicht der unauflösbaren Rätsel des Lebens uns damit begnügen, den Mut zu glauben und eine Welt des Glaubens sich aufzubauen als ein Gnadengeschenk zu bezeichnen und den mit tiefer Sympathie zu begleiten, dem dieser Mut versagt ist? Sie bezeichnen selbst sehr treffend den Punkt, an dem für den Wirklichkeitsmenschen die größte Schwierigkeit des Glaubens liegt: die Vereinigung von Güte und Allmacht in der Weltleitung. Mir machte schon auf dem Gymnasium der Gedanke an das Kind einer Dirne viel zu schaffen: ist Gott allwirksam, so ist

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er verantwortlich für das Hineingeborenwerden eines Menschen in eine Lage, in der er nahezu notwendig in tiefe Unsittlichkeit verstrickt wird: wo bleibt da die Güte? Auch die theologische Erörterung des Apostels Paulus Röm. Kap. 9–11 löst das Rätsel wahrlich nicht, indem es die Verstockung der Einen und die Begnadung der Andern als Ausfluß des Willkürwillens Gottes achten lehrt. Und wenn nun Mennicke Recht behält mit dem Nachweis der Zwangsläufigkeit des Atheismus bei dem nicht geradezu heroischen Angehörigen des Proletariats, weil er in dem zermürbenden Kampf um ein Existenzminimum nirgends dem Gott begegnete, der uns reichlich und täglich versorgt? Ich kann hier nur hindeuten auf das weite Gebiet der ungelösten Probleme einer allmächtigen und gütigen Weltleitung. Wenn wir als Jünger Christi es dennoch wagen, den Glauben an einen allgütigen und allmächtigen Gott zu verkünden, tun wir es teils um seiner Offenbarung in Christus willen, die seine Barmherzigkeit und Gnade so übermächtig werden lässt, daß wir in ihrem Lichte alle Erdenrätsel erleuchtet finden –, wie sollte Er uns mit ihm nicht alles schenken? –, teils um der christlichen Hoffnung willen, die gerade auch unter dem Kreuze Christi zur seligen Gewissheit sich erhebt. Es ist mir von jeher unklar gewesen, wie man eine Theodizee, eine Rechtfertigung der Güte und Allmacht Gottes im Weltregiment, fertig bringen will ohne eine starke Anleihe bei dem Jenseits, das man mit gewisser Hoffnung umfasst. Denn was Max bezw. Marianne Weber von den tragischen Unstimmigkeiten der Weltordnung sagt, läßt sich nicht leugnen und auch durch den Hinweis auf den überfließenden Reichtum der göttlichen Gnade nicht beseitigen, da eben Unzählige von diesem Reichtum nichts erfahren. Die Rätsel lassen sich innerzeitlich und innerweltlich nicht lösen. Gott wohnet in einem Licht, das hier niemand zukommen kann, er bleibt ein deus absconditus dieser deus caritatis, wie es Björnson in „Ueber die Kraft“ ergreifend ausführt. Wir aber, die wir von Christi Gottesgemeinschaft ergriffen sind, sehen über seinem Kreuz den Himmel offen, in dem wir erst merken werden, wie die scheinbar verworrensten und abwegigsten Wege doch zum endlichen Licht führen. Sollte nicht auch der Gedanke in solche Hoffnung eingeschlossen sein, daß Gott für solche, deren Lebensproblem so angeschrieben ist, daß es hier keine positive Lösung finden kann, in einer Weiterentwickelung neue Möglichkeiten bereit hat, sie zum Ziele führen? Das aber, dies ganze Land der Hoffnung, das uns durch Christus Gewißheit geworden ist, vermochte Max Weber nicht zu betreten: es erschien ihm wie fast allen Renaissancemenschen als bloßes Traum- und Wunschland, das für einen ernsthaften Wirklichkeitsmenschen nur Phantasie-, nicht Wahrheitswert hat. „Was ich tue, wißt ihr jetzt nicht; ihr werdet es aber hernach mals erfahren“. Ach, daß so vielen Zeitgenossen dies Land der Hoffnung, ohne die es keine Gewissheit göttlicher Weltordnung gibt, verschlossen ist! Wer möchte über sie urteilen? wer

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möchte nicht vielmehr es als eine große Gnade empfinden, daß ihm in solcher Hoffnung zwar nicht ein phantastischer religiöser Konstruktionsmut, wohl aber eine stille und klare Vertagung der letzten Lösungen auf die Ewigkeit ermöglicht ist, da öffentlich erscheint, wie alle Seine Wege zur Erfüllung seiner Schöpfung mit Gedanken der Liebe führen? Ob wohl diese Anleihe meines Verlangens nach Klarheit und Licht bei der Hoffnung auf das Schauen seines Angesichts auch Ihre immer wieder aufsteigenden Zweifel an der Vereinbarkeit von Güte und Allmacht in den Frieden der Ewigkeit untergehn lassen kann? Otto Baumgarten.

Marianne Weber: Otto Baumgarten als Theologe und Politiker Quelle: Otto Baumgarten als Theologe und Politiker. Otto Baumgarten: Meine Lebensgeschichte. J. C. B. Mohr, Tübingen 1929, in: Die Christliche Welt 44 (1930), Nr. 4, 15. Februar 1930, Sp. 161–165. Baumgartens Lebensgeschichte ist das Selbstzeugnis einer überaus reich veranlagten, ausgreifenden und zugreifenden Persönlichkeit, eines repräsentativen Deutschen – weltoffen, kulturgefüllt, ausgestattet mit einer fein verästelten, auch künstlerischen Fühlsamkeit und dabei so genuin religiös, daß er sich gedrängt fühlte seine Gaben in den Dienst der evangelischen Kirche zu stellen. Er ist beseelt von der ebenso großartigen wie problematischen Leitidee, eine Brücke zu schlagen: nicht nur zwischen Religion und Kultur überhaupt, sondern zwischen der spezifisch christlichen Religion und unserer modernen historischnaturwissenschaftlich unterbauten Kultur. Baumgarten bejaht also die „Welt“ wie sie nun einmal ist als Gottes Schöpfung, und die innerweltliche Kultur: freie Wissenschaft, Kunst, Machtstaat und humanistische Persönlichkeit als Gottgewollt. Und indem er sich die Aufgabe stellte, diese verschiedenen Wertsphären miteinander zu durchdringen, konnte er auch die verschiedenen in ihm selbst angelegten Wesensrichtungen zu fruchtbarem Wirken vereinigen. So fühlte er als seinen besonderen Auftrag: „nicht Selbstbescheidung der christlich-religiösen Persönlichkeit auf das Wirken für ein Gottesreich im Inneren der Seele“, sondern das Bemühen, die gegebene Welt auf allen Gebieten geistig zu durchdringen, sie besser und menschenwürdiger zu gestalten, in dem Sinn wie z. B. Carlyle und andere große religiöse Persönlichkeiten anglo-amerikanischer Abkunft ihre Aufgabe erfaßt hatten. Die für solche Zielsetzung notwendige Weiträumigkeit der eigenen Struktur wurde ihm schon durch Abkunft und Umwelt vermittelt. Überreiche geistige Einflüsse aus den verschiedenen Sphären strömten in ihn ein: von der einen Seite die tiefe im Kampf errungene Religiosität, die heroische Sittlichkeit und der franziskanische Selbstentäußerungsdrang seiner bedeutenden Mutter, der Tante Max Webers, die auch auf dessen seelische Entwicklung starken Einfluß gewann. Von der andern Seite der Vater: der ihn mit seinem wissenschaftlichen und politischen Ethos ebenso stark prägende bedeutende Historiker und leidenschaftliche Patriot Hermann Baumgarten, der die Einigung Deutschlands unter Preußens Führung mit vorbereitet hatte. Beide Eltern im Austausch mit hervorragenden Gelehrten und Politikern ihrer Zeit – einem Kreise durchgeformter repräsentativer Menschen, wie sie unser Zeitalter, namentlich in der politischen

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Sphäre, nur sehr vereinzelt aufweist. Die religiöse Luft des Hauses war gefüllt mit den humanistisch geweiteten Gedankengebildeten angelsächsischen Theologen (Channing, Parker, Robertson). Im Mittelpunkt der politischen Bewegtheit stand die stete Auseinandersetzung mit dem Genius Bismarcks, der zunächst vom Vater rückhaltlos bewundert und heroisiert, dann allmählich mit zunehmendem Abstand kritisiert wurde. Dazu traten noch die Bildungseindrücke einer andern Gesellschaftsschicht als die häusliche: die jahrelange Erziehungsgemeinschaft mit einem für den badischen Thronfolger ausgesuchten Kameradenkreis, dessen Entwicklung sich unter den Augen des echte Vornehmheit mit Güte und Schlichtheit vereinenden, badischen Herrscherpaares vollzog. Diese „Prinzenschule“ übermittelte dem Knaben außer den humanistischen Bildungsgütern die Sicherheit der gesellschaftlichen Form, der freien Bewegung in jedem Kreis, dann aber auch das Interesse am „Dabeisein“, wenn Geschichte gemacht wird. Der badische Staatsminister Jolly, sein Onkel, war aktiv daran beteiligt. Das Miterleben des erfolgreichen Kriegs und der Reichsgründung überglänzte die Knabenjahre; persönliche Berührungen mit Wilhelm I. und dem Kronprinzen begeisterten für Kaiser und Reich. Daß dieser überreich mit Eindrücken und Bildungsgütern begabte Professorensohn sich entschloß, Theologie zu studieren, und zwar um Pfarrer zu werden, wurde von den Eltern verstanden, aber von den gelehrten Freunden des Hauses staunend mißbilligt. Sie warnten und rieten ab. Jedoch an diesem Widerstand stärkte sich sein Gefühl „weniger einer mystischen als einer ethischen Berufung“, und der junge Mann erarbeitete sich während der Studienjahre den Glauben an die schlichten Grundwahrheiten eines völlig dogmenfreien, allein „an der ganz menschlich verstandenen Gestalt Jesu“ verankerten Christentums. An ein Christentum, das sich stets mit neuen Einsichten verbindet und vor allem die idealistischen Humanitäts- und Kulturideale nicht abstößt, sondern sich anschmilzt und sich folglich ebensowenig an seinen ursprünglichen Charakter als weltverneinende chiliastische Erlösungsreligiosität gebunden fühlen kann, wie etwa an ein Luthertum, das ebenfalls grundsätzlich die Welt als widergöttlich, den Menschen nur als Sünder beurteilt. So durfte Baumgarten sich das Ziel setzen, „Führer zu werden zu der unserem Volk so hochnötigen Einheit von Religion und Kultur, von Volkskirche und höherer Bildung“. Der jugendliche Pfarrer mit der seelisch und körperlich zarten Konstitution und seiner überaus fein verästelten intensiven Geistigkeit und Gemütskultur fand volles Genüge als Prediger, Seelsorger und Jugendbildner in einer kleinen badischen Diasporagemeinde. Die ersten schweren Berufsjahre waren durch das kurze Glück der Vereinigung mit einer ebenbürtigen Frau übersonnt, deren geistige und religiöse Begabung schon dem Werdenden Entscheidendes bedeutet hatte. Nach ihrem Verlust strömte er seine expansive Liebeskraft an zahllose

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über die Lande verstreute Schützlinge aus und fand bis in sein Alter Gelegenheit, sich im erweiterten Familienkreis helfend, ja aufopfernd einzusetzen. Diese strömende und aktive Güte, dieses Dabeisein wo immer es zu helfen galt, dies teilnehmende Verstehen machte ihn zahllosen Menschen bedeutsam, die abseits von seinen sonstigen Berufsleistungen standen. Er besaß zweifellos das besondere Charisma des Predigers, Seelsorgers und der „Brüderlichkeit“ gegenüber dem Einzelnen. Daß er trotzdem nach dem Wunsch seines Vaters in die akademische Laufbahn eintrat, konnte ihm deshalb in später Rückschau als ein tragischer Verzicht auf seinen eigentlichen Beruf erscheinen. Denn nun stellte sich heraus, daß er bei hoher Geistigkeit doch keine kontemplative, gelehrte und auf wissenschaftlichem Gebiet schöpferische Natur war, sondern durch und durch ein Täter. Forschung und geistige Durchdringung des Geschehens hatte nur soviel Bedeutung für ihn, als er sie im Dienst lebendiger Seelen- und Umwelt-Gestaltung einsetzen konnte. Jedoch indem er im Nebenamt Universitätsprediger und Seelsorger an den Kranken wurde und als Vertreter der „praktischen Theologie“ künftige Pfarrer zu bilden hatte, fand er ebenfalls einen seinen Gaben gemäßen Wirkungskreis und für seine eigene Entwicklung den Anstoß zur Wissensausweitung und universalen Humanität, die ihm der stärker bindende primäre Beruf wohl kaum geboten hätte. Er vertiefte sich jahrelang in Herders Persönlichkeit als christlichen Prediger – denn dessen Auseinandersetzung mit der humanistisch gebildeten Welt und der Weltanschauung unserer Klassiker war auch die seinige. In einer späteren Epoche drang er in Bismarcks Religiosität ein und suchte an dessen Gestalt das Verhältnis von Politik und Moral, von staatsmännischer und personaler Ethik zu ergründen. Baumgarten vertrat von Anfang an eine „dogmenfreie überkonfessionelle Reduktion des Christentums auf die einfachsten Elemente synoptischer Jesusreligion“, behielt aber anderseits ein so tiefes Verständnis für die traditionsgebundene „positive“ Gläubigkeit, daß Bodelschwingh, Wichern und die Kreise der Inneren Mission gute Freundschaft mit ihm hielten. In Jena, wo er zuerst vom Katheder herab wirkte, wurde er Mitglied einer Medizinisch-Naturwissenschaftlichen Gesellschaft, deren Mittelpunkt Häckel war. Dieser feierte ihn als theologus naturae studiosus rara avis und bat ihn um die Trauung seiner Tochter. Der Anatom Fürbringer hielt ihm beim Scheiden von dort die Abschiedsrede. Dabei war er doch gar nicht „sanftlebig“, sondern wie Friedrich Fallensteins Abkömmlinge, leidenschaftlich erregbar und ein temperamentvoller Kämpfer, der sich häufig gedrungen fühlte auch im Kreis der Gesinnungsgenossen gegen den Strom zu schwimmen. In Kiel, wo Baumgarten 32 Jahre zu wirken bestimmt war, erweiterten sich

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sein Arbeitsfeld und seine menschlichen Beziehungen ins fast Unübersehbare. Neben seinen vielseitigen Amtspflichten pflegte er noch einer erweiterten akademischen Gemeinde Vorlesungen zu halten, bei denen es sich stets um das Verhältnis von Christentum und Kultur, um die Durchdringung klassischer und moderner Dichter oder auch politischer Gestalten wie Bismarck handelte. Seine eindringende Beschäftigung mit Bismarck und Treitschke und persönliche Einsichten in die Eigengesetzlichkeit des politischen Handelns verdichteten sich dann während des Kriegs zu einem Werk über Bismarcks Glauben, und ferner zu einer Vorlesungsreihe über Politik und Moral. Sie ist ein bedeutsamer Beitrag zur Klärung dieser Problematik und war damals im Krieg ein charaktervolles Dokument seines aufrechten Wahrheitsmutes. In der von ihm geschaffenen und redigierten Monatsschrift „Evangelische Freiheit“ bot Baumgarten eine laufende Chronik der inneren Geschichte des evangelischen Kirchenlebens im Zusammenhang mit der allgemeinen Kultur und politischen Geschichte. Dies ganze ausgebreitete Wirken stand, wie einst der Entschluß des jungen Mannes, Theologe zu werden, unter der Leitidee: Kirche und Christentum und sich selbst als religiöse Persönlichkeit mitten in den Strom modernen Geschehens und Denkens zu stellen, die dynamischen Kräfte im protestantisch-evangelischen Christentum von ihrer Fesselung durch die statischen zu befreien und die Kirche dadurch von dem Überlebt-Sein zu retten. So versuchte er u. a. den Religionsunterricht von der Verpflichtung, sich des Katechismus und sonstiger unlebendiger Methoden zu bedienen, und die Lehrerschaft vom Zwang zum Religionsunterricht zu befreien; so setzte er sich mit aller Energie gegen die Amtsenthebung von Jatho und Traub ein, obwohl er deren religiösen Standpunkt nicht teilte. Als dies dennoch geschah, begannen er und seine Freunde auf die Überwindung des herrschenden Staatskirchentums hinzuarbeiten. Gewissermaßen zum „Beruf“, als eine Form des Austauschs mit allen Schichten, gehörte auch seine ausgebreitete Geselligkeit, für die er humorvolle Heiterkeit mitbrachte. Dieser in seiner Erscheinung durch sein Amt unverkennbar geprägte Mann hielt mit den Kieler Marineoffizieren und Flottenchefs gute Freundschaft, und sie fühlten sich ihrerseits so zu ihm hingezogen, daß sie ihn zu Manövern und Übungsfahrten einluden und öfters baten, Gottesdienst an Bord zu halten. Daß er diese Begegnungen zu den Höhepunkten seiner Freizeit rechnen konnte, zeigt ihn in der Tat als den Brückenbauer zwischen verschiedenen Lebensgebieten. Also die „Welt“ nahm ihn an und war für seine freie und doch fromme Geistigkeit und seine strömende Güte empfänglich. In der Kieler Gesellschaft war er zeitweilig ein populärer Mann. Dagegen drängte die Schleswig-holsteinische „Kirche“ bald zum offenen Kampf gegen seine Bemühungen Bekenntnis- und Lehrfreiheit in ihrem Rahmen durchzusetzen. Und die

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Kieler Theologische Fakultät verhielt sich zwar tolerant, aber weithin unempfänglich gegen seine Versuche, zwischen Theologie und den andern Wissenschaften zu vermitteln. Schon 1902 verlangte eine energische Minorität der schleswigholsteinischen Geistlichen Baumgartens Absetzung. Zur Antwort darauf wählten ihn die Kieler Kollegen, also vornehmlich die von den andern Fakultäten, außer der Reihe zum Rektor der Universität. Als er dann „die Freunde evangelischer Freiheit“ zu einer Kampftruppe für freie Weiterbildung des Protestantismus zusammenschloß, verschärfte sich der Widerstand der Landesgeistlichen. Er galt Vielen nunmehr als Feind der Kirche. – Dabei lag es ihm ja fern, die „positive“ Richtung verdrängen zu wollen, vielmehr wollte er nur die Anerkennung einer Richtung erreichen, die an neue Offenbarungen Gottes in der Geschichte und an die zeitliche Gebundenheit jeder Offenbarung glaubt, für die deshalb die Verpflichtung auf Urchristentum und Reformationstheologie, wie überhaupt auf formulierte Bekenntnisse „Knechtung“ bedeutet. Baumgarten ist ganz radikal in seinem Freiheitsanspruch: Auch der Diener der Kirche muß ein Suchender sein dürfen, „der alle Zweifel bis zu dem Ende durchkämpft, das sich ihm bei ebenso unbedingtem Wahrheitsmut wie bei völliger Gottergebenheit zeigt“. Als Weltkrieg und Revolution die Fundamente der Kirche erschütterten und die überlieferten Bindungen lockerten, wurden manche der vom freien Protestantismus erstrebten Ziele leichter erreichbar, aber Baumgartens kirchlichtheologische Führerschaft war trotzdem bedrohter als je. Diesmal durch seine politischen Entscheidungen. Der Krieg hatte seine ohnehin so starken politischen Lebenstriebe aktiviert, was ihm schon an sich von Seiten vieler Theologen als nicht seines Amts verdacht wurde. Vor allem aber bekannte er sich im „Gehorsam gegen die Wirklichkeit“ – eine der Hauptkategorien seiner Weltorientierung – zu weitgehendem politischen Gesinnungswandel. Aus dem national-liberalen Monarchisten und Bewunderer des Militärs, der freilich zugleich von Naumanns Sozialethik tief berührt war, aber z. B. Max Webers entschlossenes Eintreten für Demokratisierung der politischen Apparate nicht mitgemacht hatte, wurde nun ein demokratischer Republikaner, der sich im Rahmen der neuen Partei am Wiederaufbau Deutschlands beteiligte. Aus dem Vertreter unserer Welt- und expansiven Flottenpolitik, der den Krieg als höchste Bewährungsprobe der Nation stets bejaht hatte, wurde ein ehrlicher Anhänger der Friedensbewegung und der Völkerbundspolitik. Schon diese Umschaltung trug ihm den Verlust seiner Gefolgschaft in Hörsaal und Kirche und gesellschaftliche Vereinsamung ein. Die Kieler Studenten lehnten ihn, den Universitätsprediger, ab als Redner zum Gedächtnis ihrer Gefallenen, und die Fakultät gab diesem Ansinnen nach. Als er sich dann auch noch öffentlich aus politischer Überzeugung gegen Hindenburg für die Wahl des Katholiken Marx zum Reichspräsidenten einsetzte,

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wich auch die Mehrheit seiner akademischen Kollegen von ihm zurück, und das Landeskirchenamt erklärte dies Verhalten für unvereinbar mit seiner Stellung als Lehrer. Auch nahe Freunde konnten dieses Maß politischer Objektivität nicht mehr verstehen. So erfuhr er in den letzten Jahren vor seiner Emeritierung noch mannigfache schmerzhafte Rückstöße, die er als schwere Niederlage in einem Prinzipienkampf um geistige Freiheitsgüter empfand. Als dann auch noch im Bereich des protestantischen Christentums eine „Lutherrenaissance“ aufkam und die „dialektische Theologie“ sich erneut an Luthers grundsätzliche Weltund Kulturablehnung band, mußte ihm wohl zeitweilig seine ganze Lebensarbeit als gescheitert erscheinen. Ob dem so ist, d. h. ob die tiefsten Strömungen des Protestantismus sich aufs neue von der Welt zurückziehen in eine Innerlichkeit, deren Haltung allein bestimmt wird durch die Lehre von der radikalen Sündhaftigkeit des Menschen, der Wiedergöttlichkeit der „Welt“ und ihrer Erlösbarkeit ausschließlich durch Gnade, ist heute nicht abzusehen, aber nicht wahrscheinlich, so lange die evangelische Kirche noch den Anspruch erhebt, mehr zu sein, als der „kleine Haufe“, der – durchaus anders als Luther selbst – auf Wirken in der Welt verzichtet. Baumgarten stellt in seiner Lebensgeschichte die Frage nach dem Erfolg oder Mißerfolg seines Tuns noch von einem andern Gesichtspunkt aus: War die Doppelseitigkeit seiner Veranlagung zu religiöser und politischer Aktivität, die Unmöglichkeit auch in wichtigen Momenten seine Lebenstriebe einem alles beherrschenden Einheitsprinzip unterzuordnen, ein Mangel der Anlage, wohl gar „Charakterschwäche“? Wer Baumgarten persönlich kennt, wird das unbedingt verneinen, denn niemals kostete ihm sein breit ausgreifendes Wirken die religiöse und sittliche Substanz seines Wesens, niemals verlor er trotz des leidenschaftlichen Eifers für die eigene Sache Duldsamkeit und Verständnis für anders Orientierte, niemals suchte er sich aus persönlichem Machttrieb durchzusetzen. Wenn Irgendjemand in voller Lauterkeit und Treue gegen sein ursprüngliches Ethos innerweltlich gewirkt hat, so ist er es. Aber freilich, der Erfolg seiner theologischen und kirchenpolitischen Bestrebungen mußte wohl Schranken finden eben an der auch auf staatspolitisches Gebiet übergreifenden Aktivität seines Wesens. Führerschaft in mehreren gegeneinander gespannten Wertsphären scheint unmöglich. Nicht deshalb, weil der Handelnde selbst dadurch in seiner inneren Einheit bedroht wird – das ist nicht notwendig – sondern weil die Nachfolge der Anderen nur gewährleistet ist, wenn der Führer sich ausschließlich für das Soll einer Sphäre entscheidet. Aus dieser Erfahrung verzichtete z. B. Naumann auf theologische Wirksamkeit, als er politische Führerschaft erstrebte, und umgekehrt verschmähte es Max Weber trotz seiner politischen Leidenschaft, sich selbst als Politiker durchzusetzen, weil er sich weder als überragender Denker noch als heroisch-ethische Persönlichkeit der Methoden politischen Aufstiegs in-

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nerhalb der Parteien bedienen konnte. Die evangelischen Kirchenkreise mußten wohl Ärgernis nehmen sowohl an Baumgartens politischem Gesinnungswechsel als vor allem an diesem Maß von politischem „Objektivismus“, das nur für ihn, nicht aber für sie aus der Einsicht in die Eigengesetzlichkeit der politischen Sphäre folgte. Vom Standpunkt des innerweltlichen Erfolgs aus wurde in der Tat Otto Baumgartens doppelseitige Veranlagung ihm zum tragischen Schicksal: nicht aber für seinen Wesenskern. Heidelberg

Marianne Weber

Marianne Weber: Otto Baumgartens Lebensbild Quelle: Otto Baumgartens Lebensbild [als Fußnote: Mein Lebensbild, J. C. B. Mohr, Tübingen. 1929.] Von Marianne Weber, in: Die Hilfe. Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst 36 (1930), Nr. 6, 8. Februar 1930, S. 147–150, Nr. 7, 15. Februar 1930, S. 181–183.

I. Wer Otto Baumgarten bisher nur von seiner menschlichen Seite gekannt hat als einen überaus gütigen, teilnehmenden, stets hilfsbereiten, expansiv veranlagten Freund, muß überrascht sein von der ungewöhnlichen, weitausgreifenden sachlichen Leistung auf verschiedenen Gebieten, von denen seine Lebensgeschichte Zeugnis ablegt. Und er wird dankbar sein, daß es ihm nun erst möglich ist, den Umfang dieser Persönlichkeit zu würdigen und in ihr einen der repräsentativen Deutschen zu erkennen, auf die wir stolz sein dürfen. Baumgarten wurzelt in jenem Kreise eigenartiger, gleichermaßen religiösethisch wie sozial und politisch orientierter Theologen, Gelehrten, Beamten, die sich in der Vergangenheit zum Evangelisch-Sozialen Kongreß zusammenschlossen, dessen theologischer Mittelpunkt A. v. Harnack und die Freunde der christlichen Welt und dessen soziales Gewissen zunächst Stöcker, dann Friedrich Naumann war. Baumgarten fühlte sich mit letzterem lebenslänglich nah verbunden, obwohl er sich vor dem Krieg in die nationalliberale Partei eingereiht hatte. Allerdings wurde ihm sein soziales Verantwortungs- und Gerechtigkeitsgefühl nicht erst durch Naumann erweckt, sondern als einer der Stifter jenes Kreises brachte er es schon mit als Erbgut seiner Mutter und anderer Frauen aus der Familie Fallenstein. Auf der andern Seite war seine politische Haltung vor dem Krieg durch die innere Bindung an seinen Vater, den bedeutenden Historiker und liberalen Patrioten des Zeitalters der Reichsgründung, geprägt. – Schon in dieser Vereinigung von überlieferter nationalliberaler Gesinnung mit den im Bürgertum erwachten sozialen Idealen erfassen wir – wenn zunächst auch nur an der Peripherie – einen charakteristischen Zug seiner geistigen Struktur: nämlich, daß es ihm notwendig war, sich nicht nur in der Sphäre des Erkennens, sondern auch in der des Handelns gleichsam „dialektisch“ zu bewegen. Und diese innere Nötigung zur Doppelseitigkeit, zum Sichauswirken in verschiedenen, gegeneinander gespannten Gebieten, wurde sein Schicksal in dem Sinne, daß es ihm eine eigentümliche Universalität verlieh, aber zugleich dem äußeren Erfolg seiner Leistungen Schranken setzte. Mir scheint, gerade wenn wir sie von diesem tiefsten Ansatzpunkt aus betrachten, erscheint Baumgarten als bedeutende

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Figur eines schon vergangenen Zeitalters, das durch ein anderes abgelöst zu sein scheint, in dem die tiefen und ernsten Menschen aufs neue zu einseitigen Verankerungen drängen, einmal weil sie der chaotischen Destruktion einfachere Orientierungskonturen entgegensetzen wollen und weil andererseits die Not unserer Tage Persönlichkeiten mit freischwebender universaler Geistigkeit viel seltener aufkommen läßt als die Vergangenheit. Wo gibt es heute noch bürgerliche Familien wie die, in der Baumgarten und sein Vetter Max Weber aufwuchsen, in der die Väter als Politiker und Gelehrte die Atmosphäre bestimmten, die Kinder von früh an teilhatten an historischem Geschehen und am Austausch mit den besten Gelehrten und politischen Köpfen ihrer Epoche und in denen ebenso bedeutsam die religiösen und sittlichheroischen Persönlichkeiten der Mütter walteten. Symbolhaft ausgedrückt, lassen sich die beiden Brennpunkte dieser Lebenskreise als Jesus und Bismarck bezeichnen, und wenn auch in keiner von ihnen etwa der wirkliche Bismarck vergottet wurde, so war doch der von ihm geschaffene nationale Machtstaat für alle Familienglieder, einschließlich der Frauen, ein ebenso unbezweifelbares Gut wie für letztere die Brüderlichkeitsethik des Evangeliums. – Über diese Familieneinflüsse hinaus wurden Baumgarten zeitweilig auch noch diejenigen einer für den badischen Thronfolger ausgewählten Erziehungsgemeinschaft zuteil, am Hofe eines durch echte Vornehmheit und Güte ausgezeichneten Herrscherpaares. Er gewann dadurch Weltläufigkeit und die sichere Unbefangenheit der Bewegung in überbürgerlichen Kreisen. Es war eigentlich zuviel, was dem geistig überaus bewegten gemütstiefen Jüngling zugemutet wurde, und sein persönliches Erleben als ältester Sohn eines hochgearteten, aber zunehmend verschieden orientierten Elternpaares stellte Anforderungen an ihn, denen zeitweilig seine Nerven erlagen. Aber die Frucht dieser Problematik war: frühe menschliche Reife und eine überaus feinverästelte Fühlsamkeit für die Konflikte anderer, die ihn für seinen Beruf als Helfer und Seelsorger in besonderem Maße geeignet machte. Daß das mütterliche religiöse Erbe diesen überreich mit humanistischen Bildungsgütern gefüllten begabten Professorensohn bestimmte, Pfarrer zu werden, war den gelehrten Freunden des Hauses ein Ärgernis. Aber an ihrem Widerstand stärkte sich sein Gefühl „weniger einer mystischen als einer ethischen Berufung“, und er erarbeitete sich den Glauben an die schlichten Grundwahrheiten eines dogmenfreien, allein „an der ganz menschlich verstandenen Gestalt Jesu“ verankerten Christentums, an einen für die Verbindung mit neuen Einsichten bereiten Protestantismus, der vor allem die idealistischen Humanitäts- und Kulturideale in sich aufzunehmen bereit wäre. Der junge Mann entschied sich also für den liberalen Kulturprotestantismus, der – heute geschmäht – in der Mitte des vorigen Jahrhunderts eine großartige Bemühung bedeutete, die evangelische Kirche in den seit der Aufklärung hervorgebrochenen geistigen Entwicklungsstrom

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einzustellen und deshalb vom Bekenntniszwang des Reformationszeitalters zu befreien. Der junge Theologe stellt sich bewußt die Aufgabe, eine Brücke zu schlagen zwischen der spezifisch christlichen Religion und unserer modernen historisch und naturwissenschaftlich unterbauten Kultur, und nur indem er sich das Ziel setzte, diese verschiedenen Wertsphären miteinander zu durchdringen, konnte er die beiden in ihm selbst angelegten Wesensrichtungen: einerseits auf religiöse Innerlichkeit, andererseits auf weltweite Humanität, zu fruchtbarem Wirken vereinigen. Er bejaht also die Welt, wie sie nun einmal ist, als Gottes Schöpfung und Schauplatz seines Wirkens und bezeichnet als seinen besonderen Auftrag: „Nicht Selbstbescheidung der christlich-religiösen Persönlichkeit auf das Wirken für ein Gottesreich im Innern der Seelen“, sondern das Bemühen, die Realitäten geistig zu durchdringen und die Welt besser und menschenwürdiger zu gestalten, in dem Sinne, wie z. B. Carlyle und andere große religiöse Persönlichkeiten angloamerikanischer Abkunft ihre Aufgabe erfaßt hatten. Heute wird in protestantischen Kreisen die Problematik dieser Aufgabe aufs neue scharf betont. Damals glaubten die tiefsten und gebildetsten Menschen von ganzem Herzen an die Möglichkeit einer solchen Vereinigung, die sie in sich selbst ohne Bruch vollzogen. Baumgarten konnte sich deshalb aus voller innerer Überzeugung das Ziel setzen, „ein Führer zu werden zu der unserm Volk so hoch nötigen Einheit von Religion und Kultur, von Volkskirche und höherer Bildung“. Er wollte sich aber zunächst einfach als Prediger und Seelsorger auswirken und fand in der Arbeit an der Diasporagemeinde einer badischen Kleinstadt volle Befriedigung in diesem Beruf. Erst nach dem frühen Verlust seiner ihm ebenbürtigen, religiös kongenialen Frau ließ er sich vom Vater zum Eintritt in die akademische Laufbahn bestimmen. Er selbst beurteilt diesen Berufswechsel, vor dem seine Mutter gewarnt hatte, später als tragischen Irrtum. Denn nun stellte sich heraus, daß er bei hoher Geistigkeit doch keine kontemplative, gelehrte und auf wissenschaftlichem Gebiet schöpferische Natur war, sondern durch und durch ein „Täter“. Das heißt: wissenschaftliche Forschung und Durchdringung des Geschehens interessierten ihn im Grunde nicht als Eigenwert, sondern nur in ihrer Bedeutung für die Gestaltung von Menschen und Umwelt, also als Quellen persönlicher Kultur. Jedoch als Universitätsprediger und Seelsorger an den Kliniken, ferner als Bildner und Lehrer der künftigen Geistlichen und als Kirchenpolitiker fand er auch jetzt eine ihm gemäße Wirksamkeit. Und das neue Amt gab seiner eigenen Entwicklung den Anstoß zur Ausweitung und universalen Humanität, die ihm der stärker bindende Pfarrberuf wohl kaum geboten hätte. Allerdings setzte sich mit dem zunehmenden geistigen Umfang auch die Doppelgerichtetheit seiner Lebenstriebe in stärkeren Spannungen durch. Neben dem Drange zu religiös-geistlichem Wirken entfaltete sich ein ebenso starker Trieb, als Kirchen-, Staats- und Kulturpolitiker in der Welt zu handeln; neben

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die kontemplative Distanz zu menschlichem Geschehen trat – als Erbe des alten Lützowers Großvater Fallenstein – der unerschrockene Heroismus leidenschaftlichen Kämpfertums, das sich öfter – „eigensinnig“, wie er es nennt – auch gegen die eigenen Gesinnungsgenossen richtete. Und neben beiden hatte sich in der persönlichen Haltung von Mensch zu Mensch die christliche Brüderlichkeitsethik zu behaupten. Daß er sich in verschiedenen Lebensphasen eindringlich mit Herder als religiöser Persönlichkeit und christlichem Prediger inmitten einer von Goethe bestimmten Umwelt beschäftigte, geschah aus dem Untergrund seiner eigenen persönlichen Auseinandersetzung zwischen Humanitäts- und christlichen Idealen. Und hinter seinem Werk über Bismarcks Glauben mag wohl die Fragestellung stehen, ob der nationale Machtpolitiker zugleich ein echter Christ sein könne. Er fand sie – im Gegensatz zu Max Weber – in Bismarcks Gestalt bejaht. – Sein eigenes politisches Temperament drängte ihn zur Führerschaft derjenigen theologischen Kreise, die sich für die Rezeption aller, auch der bekenntnisfreiesten Richtungen im Rahmen der protestantischen Landeskirche einsetzen. So versuchte er, den Religionsunterricht von der Verpflichtung zu befreien, sich des Lutherischen Katechismus und sonstiger veralteter Methoden zu bedienen, so setzte er sich mit aller Energie gegen die Amtsenthebung von Jatho und Traub ein, obwohl er deren religiöse Standpunkte nicht teilte. Andrerseits behielt er aber ein so tiefes Verständnis für die traditionsgebundene „positive“ Gläubigkeit, daß Bodelschwingh, Wichern und die Kreise der inneren Mission gute Freundschaft mit ihm hielten. Er wollte ja auch diese Richtungen nicht aus der Kirche verdrängen, sondern nur die Anerkennung anderer Richtungen erreichen. Sein ganzer Kampf um die Befreiung der dynamischen Kräfte des Christentums von der Fesselung durch die statischen ist von der Hoffnung getragen, das protestantische Christentum vom „Überlebtsein“ zu retten. In der freiheitlichen Luft des protestantischen Südens wäre diesem Ringen vermutlich Erfolg beschieden worden. Er aber war bestimmt, zweiunddreißig Jahre lang in Kiel zu wirken und den härteren Boden der schleswig-holsteinischen Landeskirche zu bearbeiten. Er fand auch dort viele Gesinnungsgenossen und Freunde. Aber doch eine für seine Richtung im wesentlichen unempfängliche Atmosphäre, auch im Bereich seiner Kieler Fakultät. Schon im Jahre 1902 verlangte eine energische Minorität der schleswig-holsteinischen Geistlichen Baumgartens Absetzung als akademischer Lehrer – als Antwort darauf wählten ihn nun freilich die Kieler Kollegen außer der Reihe zum Rektor der Universität. Als er dann „die Freunde evangelischer Freiheit“ zur Kampftruppe zusammenschloß, verschärfte sich der landesgeistliche Widerstand, er wurde nun von vielen als Feind der Landeskirche bezeichnet. Dagegen nahm die „Welt“, derer, „die guten Willens sind“, Baumgarten an und war für seine freie und doch fromme Geistigkeit ebenso wie für seine Güte und

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seinen Humor empfänglich. Sein Arbeitsfeld und seine menschlichen Beziehungen erweiterten sich ins fast Unübersehbare, denn neben den vielseitigen Amtspflichten pflegte er auch noch einer größeren akademischen Gemeinde Vorlesungen literarischer und kulturhistorischer Art zu halten; neben der sich aus dem Lehramt ergebenden schriftstellerischen Eigenproduktion redigierte er eine von ihm geschaffene Monatsschrift, „Die evangelische Freiheit“, und bot darin als kirchlicher Chronist eine laufende Darstellung der inneren Geschichte des evangelischen Kirchenwesens im Zusammenhang mit der allgemeinen Kultur und politischen Geschichte. Als eine Form des Austauschs mit den verschiedenen Schichten pflegte er auch eine ausgebreitete Geselligkeit: mit diesem in seiner ganzen Erscheinung unverkennbar durch sein geistiges Amt geprägten Mann hielten die Kieler Marineoffiziere und Admirale gute Freundschaft, ja sie schätzten ihn so hoch, daß sie ihn zu mehreren Manövern und Übungsfahrten einluden und öfter veranlaßten, an Bord Gottesdienst zu halten. Er selbst zählt diese Begegnungen zu den Höhepunkten seiner Erholungen, hier erwies er sich wirklich als Brückenbauer zwischen verschiedenen Lebens- und Wertsphären. (Ein zweiter Artikel folgt.)

II. Als Weltkrieg und Revolution die Fundamente der Kirche erschütterten, wurden manche der vom freien Protestantismus erstrebten Ziele leichter erreichbar, aber Baumgartens Führerschaft im Bereich der Kirche war trotzdem mehr als je bedroht. Diesmal durch seine politischen Entscheidungen. Der Krieg hatte seine ohnehin starken politischen Triebe außerordentlich aktiviert, was ihm von seiten vieler Kirchenleute als nicht seines Amts verdacht wurde. In dieser Zeit verdichteten sich seine Beschäftigung mit Bismarck und Treitschke und seine eigenen Einsichten auch zu einer Vorlesungsreihe über Politik und Moral, in der er die Eigengesetzlichkeit des politischen Handels und der hinter ihr stehenden Wertsphäre und deren Gespanntheit gegen die Wertsphäre des Christentums rückhaltlos darzulegen suchte. Diese Anerkennung eines selbstverständlichen, unbezweifelbaren Rechts zu nationaler Selbstbehauptung, das nun einmal nicht an der christlichen Brüderlichkeitsethik orientiert werden kann, wurde von den christlichen Kirchenleuten, trotz ihrer eigenen Parteinahme für den Krieg und den nationalen Machtstaat, nicht ohne weiteres verstanden. Vor allem aber mußte es sie befremden, dass Baumgarten sich „im Gehorsam gegen die Wirklichkeit“ – eine der Hauptkategorien seiner Orientierung – zu weitgehendem politischen Gesinnungswandel bekannte. Er hatte zwar stets, wie schon gesagt, Naumanns soziale Gesinnung geteilt und sich z. B. im Hamburger Hafenarbeiter-

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streik öffentlich auf die Arbeiterseite gestellt, aber er hatte keine entsprechenden politischen Konsequenzen daraus gezogen und deshalb Naumanns und Max Webers entschlossenes Eintreten für Demokratisierung der politischen Apparate und Parlamentarisierung der Regierung abgelehnt. Als Anhänger einer expansiven Flottenpolitik und Bewunderer unseres militärischen Systems hatte er die furchtbaren Gefahren des „persönlichen Regiments“ übersehen. Nun erkannte er die neuen Realitäten und ihre Ursachen und wurde zum demokratischen Republikaner, der seine früheren Irrtümer offen zugab und sich im Rahmen der Demokratischen Partei am Wiederaufbau Deutschlands zu beteiligen suchte. Er blieb Bewunderer unserer Heeresmacht und ihrer Leistungen, aber aus einem Bejaher des Krieges, den er vor der Erfahrung als höchste sittliche Bewährungsprobe der Nation beurteilt hatte, wurde „unter dem Zwang der Verhältnisse“ ein entschlossener Anhänger der Friedensbewegung und der Völkerbundspolitik. Schon diese Umstellung trug ihm den Verlust seiner Gefolgschaft in Hörsaal und Kirche ein. Die Kieler Studentenschaft lehnte ihn, den Universitätsprediger, als Redner zum Gedächtnis der gefallenen Studenten ab, und seine Kollegen fanden das „verständlich“. Als er sich dann auch noch öffentlich für die Wahl des Katholiken Marx zum Reichspräsidenten einsetzte, erklärte das Landeskirchenamt dies Verhalten für unvereinbar mit seiner Stellung, und auch nahe theologische Freunde nahmen Ärgernis an diesem Maß politischer Objektivität. So erfuhr er in den letzten Jahren vor seiner Emeritierung noch mannigfache schmerzhafte Zurückweisungen und sah sich als kirchenpolitischer und geistiger Führer vereinsamt. Als dann im Bereich der protestantischen Frömmigkeit die „dialektische Theologie“ großen Einfluß gewann, die den Protestantismus aufs neue am Urchristentum orientiert und an Luthers grundsätzliche Welt- und Kulturablehnung zu binden trachtet, da mußte ihm wohl sein innerstes Wollen: die Verbindung von Christentum und Kultur, von überlieferten und neuen Wahrheiten, als an einer rückläufigen Bewegung gescheitert erscheinen. Ob dem so ist, d. h. ob der Protestantismus sich aufs neue von der Welt und der Bejahung humanistisch durchtränkter Kulturideale zurückzieht in ein Reich der Innerlichkeit, das allein von dem Dogma radikaler Sündhaftigkeit und ihrer Erlösbarkeit nur durch Gnade beherrscht wird, ist heute nicht abzusehen. Wahrscheinlich würde dann die Folge eine weitgehende Rückwanderung zum Katholizismus sein, der für die Vorstellung einer „von Gott durchwohnten Menschheit“ Raum gibt, oder aber die Begründung neuer Kultgemeinschaften zur Pflege religiösen Lebens für diejenigen zahllosen sich danach sehnenden Menschen, deren Gottesverehrung sich nicht mehr an einem überkommenen Dogma und keiner Offenbarung der Vergangenheit als „absoluter“ Wahrheit verankern kann. Auch die freie Jesusreligion Baumgartens und seines Kreises wäre dann nur noch eine unter andern der auf protestantischem Boden gewachsenen Formen religiöser Gemeinschaft.

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Die historische Bedeutung von Baumgartens Lebensarbeit ist gerade heute nicht zu beurteilen, wohl aber kann man mit ihm selbst die Frage nach dem Erfolg oder Mißerfolg seines Gegenwartwirkens stellen. Die Lebensgeschichte zeigt uns eine Persönlichkeit, die sich gedrungen fühlt, in polar gegeneinandergespannten Sphären mitzuarbeiten, und nicht nur dies, sondern sich in beiden Sphären kämpfend zu exponieren. Ja, es war ihm wie er sagt auch in wichtigen Momenten unmöglich, seine Lebenstriebe einem alles beherrschenden Einheitsprinzip, also etwa die politischen den religiösen, unterzuordnen. Er stellt sich selbst die Frage: War das ein Mangel der Anlage, wohl gar Charakterschwäche? Wer Baumgarten persönlich kennt, wird das unbedingt verneinen, denn niemals kostete ihm sein Weltwirken die religiöse und sittliche Substanz seines Wesens, seine Gemütstiefe und Hingabefähigkeit; niemals verlor er trotz leidenschaftlich aufbrodelnden Eifers für die eigene Sache Duldsamkeit und Rücksicht auf die anders Orientierten, niemals suchte er sich aus persönlichem Machttrieb durchzusetzen. Wenn irgend jemand in voller Lauterkeit und Treue gegen sein innerstes Selbst weltlich gewirkt hat, so ist er es. Aber freilich, sein Berufserfolg als Theologe und Kirchenpolitiker mußte wohl durch seine staatspolitische Aktivität beschränkt werden. Führerschaft auf derart gegeneinandergespannten Gebieten, wie christliche Religion und staatliche Machtpolitik es sind, erscheint unmöglich – nicht etwa weil daraus für den nach beiden Seiten Handelnden selbst notwendig unlösbare Konflikte entstehen müssen – das war bei Baumgarten eben nicht der Fall; seine innere Freiheit war nicht bedroht, sondern weil die Nachfolge der Gefährten nur dann gewährleistet ist, wenn sie ihrem Führer auch mit ihrem Verstehen folgen können, d. h. wenn er sich ausschließlich für die Führerschaft in einem für seine Gefolgschaft übersehbaren Gebiet entscheidet. Für ihn war die politische Objektivität inneres Gebot. Daß aber die protestantischen Kirchenkreise Ärgernis nahmen an gewissen öffentlichen Aktionen in dieser Sphäre, die ganz offenbar ihren Interessen zuwiderliefen, kann nicht verwundern. So hatte einst Naumann, als er politische Führerschaft erstrebte, den Theologen völlig abgestreift, um von seiner Gefolgschaft besser verstanden zu werden; so verzichtete Ernst Tröltsch auf die Zugehörigkeit zur theologischen Fakultät, als seine Entwicklung ihn zu freier philosophischer Durchdringung der Lebensprobleme nötigte; so verschmähte es Max Weber, trotz seiner staatsmännischen Leidenschaft, sich selbst als Politiker durchzusetzen, weil er sich weder als überragender Denker noch als heroisch-ethische Persönlichkeit im entscheidenden Augenblick der Methoden politischen Aufstiegs innerhalb der Partei bedienen konnte. – Vom Standpunkt seines Führererfolgs aus mußte Otto Baumgartens Doppelgerichtetheit wohl zum tragischen Schicksal werden, nicht aber für die Einheit seiner Person.

Abb. 1: Ernst Troeltsch, während seiner Reise nach Siebenbürgen, August 1899, Privatsammlung, München; vgl. KGA 1, S. 753–755.

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Abb. 2: Ernst und Marta Troeltsch, Hochzeitsphoto, 31. Mai 1901, Toitenwinkel, Privatsammlung, München.

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Abb. 3: Festbankett beim „International Congress of Arts and Sciences“, August 1904, History of the Louisiana Purchase Exposition, 1905, S. 691; 1) Ernst Troeltsch, 2) Max Weber.

Abb. 4: Friedrich I. von Baden mit Gattin Luise, Ernst Walz (Heidelberger Oberbürgermeister), Ernst Troeltsch mit Amtskette in der Zeit seines Prorektorats an der Heidelberger Universität im akademischen Jahr 1906/1907, Stadtarchiv Heidelberg, Nr. 8513114.

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Abb. 5: Marta und Ernst Eberhard Troeltsch, wohl bei der Taufe am 25. Oktober 1913, Privatsammlung, München.

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Abb. 6: Ernst und Ernst Eberhard Troeltsch, 1914, Privatsammlung, München.

Nachweise Einleitung, bisher unveröffentlicht. Max Weber und die protestantische Theologie seiner Zeit, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 39 (1987), S. 122–147. Die „kompetentesten“ Gesprächspartner? Implizite theologische Werturteile in Max Webers „Protestantischer Ethik“, in: Volkhard Krech, Hartmann Tyrell (Hrsg.): Religionssoziologie um 1900 (Religion in der Gesellschaft, Band 1), Würzburg 1995, S. 209–248. Der „Systematiker“ der „Kleinen Göttinger Fakultät“. Ernst Troeltschs Promotionsthesen und ihr Göttinger Kontext, in: Horst Renz, Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.): Untersuchungen zur Biographie und Werkgeschichte (Troeltsch-Studien, Band 1), Gütersloh 1982, 2. Aufl. 1985, S. 235–290. Religion und Individualität. Bemerkungen zu einem Grundproblem der Religionstheorie Ernst Troeltschs, in: Horst Renz, Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.): Protestantismus und Neuzeit (Troeltsch-Studien, Band 3), Gütersloh 1984, S. 207– 230. Ernst Troeltsch. Kulturgeschichte des Christentums, in: Notker Hammerstein (Hrsg.): Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Stuttgart 1988, S. 131–152. Fachmenschenfreundschaft. Bemerkungen zu ‚Max Weber und Ernst Troeltsch‘, in: Wolfgang J. Mommsen, Wolfgang Schwentker (Hrsg.): Max Weber und seine Zeitgenossen (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, Band 21 / Publications of the German Historical Institute London, Volume 21), Göttingen, Zürich 1988, S. 313–336. Puritanische Sektenfreiheit versus lutherische Volkskirche. Zum Einfluß Georg Jellineks auf religionsdiagnostische Deutungsmuster Max Webers und Ernst Troeltschs, in: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte / Journal for the History of Modern Theology 9 (2002), S. 42–69. Max Weber und Ernst Troeltsch, in: Wolfgang J. Mommsen, Wolfgang Schwentker (Hrsg.): Max Weber und das moderne Japan, Göttingen 1999, S. 469–480. Distanz aus Nähe. Einige Anmerkungen zum „Weber-Paradigma“ in Perspekti-

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Nachweise

ven der neueren Troeltsch-Forschung, in: Gert Albert u. a. (Hrsg.): Das WeberParadigma. Studien zur Weiterentwicklung von Max Webers Forschungsprogramm, Tübingen 2003, S. 234–251. Wertkonflikt oder Kultursynthese?, in: Wolfgang Schluchter, Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.): Asketischer Protestantismus und der ‚Geist‘ des modernen Kapitalismus. Max Weber und Ernst Troeltsch, Tübingen 2005, S. 257–279.

Personenregister Adenauer, Konrad 63 Albert, Gert 335 Albrecht, Christian 89, 236, 271 Aldenhoff, Rita 10, 89, 114 Althoff, Friedrich 24, 358 Apfelbacher, Karl-Ernst 67, 189, 216, 230, 291 Aristoteles 255 Ay, Karl-Ludwig 41 Babo, Hugo Freiherr von 9 Baist, Karl Gottfried 8 Baldensperger, Wilhelm 153, 180 Barbalet, Jack 10 Barnikol, Ernst 161 Baron, Hans 95, 107, 318 Barth, Karl 227, 331 f. Bassermann, Heinrich 2, 28, 336, 356 Bassermann, Helene 28 Bassermann, Marie 26, 28, 356 Bassi, Hasko von 112 Bauer, Emil 42 Bauer, Michael 37 Baumgarten, Eduard 113, 270, 276, 385 Baumgarten, Emmy 3 Baumgarten, Hermann 113, 393, 404, 406, 413 Baumgarten, Ida 112 f., 393, 404, 411, 413 Baumgarten, Otto 3 f., 34, 41, 68, 70, 75 f., 79, 84–91, 101, 108 f., 112– 114, 116–118, 186, 271, 276, 399, 403–417 Baur, Jörg 141, 145 Bautz, Friedrich Wilhelm 117 Bautz, Traugott 117 Baxter, Richard 2 Beck, Hermann 17 Becker, Carl Heinrich 13, 275, 296 Becker, Gerhold 230, 291 Beegle, Allan 62 Beer, Rüdiger Robert 215 Bell, George 61

Below, Georg von 7, 51–56, 125 f., 128, 220 f., 247, 251, 253, 256, 262, 342 f., 361–364 Bendix, Reinhard 125 Benedict, Philip 134 Berger, Stephen D. 279 Bernard, Andreas 353 Bernhard von Clairvaux 145 Bernheim, Ernst 256 Bernoulli, Carl Albrecht 141 Bethmann Hollweg, Theobald von 329 Biedermann, Alois Emanuel 85 Bienfait, Agathe 335 Birkenmaier, Willy 57, 295 f. Birkner, Hans-Joachim 15, 178 Bismarck, Otto von 141, 405–407, 412, 414 f. Björnson, Björnstjerne 402 Bloch, Ernst 13, 44, 59, 296 Bock, Claus Victor 357 Bodelschwingh, Friedrich von 406, 414 Bögeholz, Horst 241 Böhlau, Helene 28–30 Böhm, Franz 19, 48, 52, 64 Boeke, Rudolph 189 Bohrer, Karl Heinz 109 Boll, Franz 13 Borchardt, Knut 41 Bornhausen, Karl 154 Bourdieu, Pierre 305, 320 Bousset, Wilhelm 3 f., 25, 33 f., 36, 67, 86, 153, 156–161, 163, 165 f., 168– 171, 174, 176, 180, 182, 185–192, 194, 201–206, 212, 220, 222, 256, 272 f., 337 Boutmy, Émile 309 Boutroux, Émile 303 Brakelmann, Günter 58 f., 61, 112 Braune, Wilhelm 8 Braungart, Wolfgang 297 Braus, Hermann 49 Brenneke, Adolf 41 Brentano, Lujo 10, 23, 58, 367 Breuer, Stefan 72, 297, 311

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Personenregister

Breysig, Kurt 247 f. Bruch, Rüdiger vom 126 Buber, Martin 303 Bülow, Elfriede 28, 30 Bülow, Oskar von 28 Burckhardt, Jacob 44, 309, 312, 321, 341 Busch, Dora 72, 96, 309 f. Busch, Friedrich 72 Calvin, Johannes 6, 120, 143 f., 195, 319, 343, 363, 366 f. Carlyle, Thomas 127, 158, 312, 404, 413 Cartellieri, Alexander 68 Cassirer, Ernst 66 Chalcraft, David J. 12 Channing, William Ellery 112, 405 Chapman, Mark D. 323 Claß, Gustav 211 Clayton, John Powell 230 Cleve, Walter Theodor 79 Colpe, Carsten 155 Comte, Auguste 301 Correll, Ernst H. 56 f. Croce, Benedetto 303 Cser, Andreas 68 Cymorek, Hans 7, 52, 55, 343 Dahm, Karl-Wilhelm 236, 271 Dante Alighieri 129 Darwin, Charles 224 Dathe, Uwe 68 Daur, Rudolf 78 Deißmann, Adolf 8, 14, 21, 33, 113, 185, 275, 298, 313, 324, 336 Delbrück, Hans 277 Dernburg, Bernhard 277 Dibelius, Martin 78, 95, 275 Diederichs, Eugen 107, 215, 327 Diederichs, Ulf 215 Diestel, Ludwig 147 Dieterich, Albrecht 8, 13, 296, 324 Dietrich, Hermann 35, 40 Dietzel, Heinrich 15 f., 323, 326 f., 353, 373 Dilthey, Wilhelm 253, 299

Dinkler-von Schubert, Erika 185, 212, 220, 222, 256, 272 Dober, Hans Martin 89, 236, 271 Doerr, Wilhelm 297, 325 Domaszewski, Alfred von 324 Dostojewski, Fjodor 301 f. Drehsen, Volker 84, 87, 89, 236, 257, 262, 270 f. Drescher, Hans-Georg 67 Drews, Paul 193 f. Drüll, Dagmar 2 Duhm, Bernhard 166, 175, 206 Duhn, Friedrich von 66, 324 Dyson, Anthony Oakley 230 Ebler, Erich 48 Eden, Robert 126 Eger, Karl 144 Ehrenberg, Hans 13, 57–61 Ehrenberg, Richard 57 f. Ehrenberg, Victor 57 Eichhorn, Albert 86, 161, 165–167, 173, 178, 192, 201 f., 271 Eißfeldt, Otto 157 Elsenhans, Theodor 303 Engelhard, Hermann 48, 378 Erb, Wilhelm 33 Erdmannsdörffer, Frieda 49 Erkes, Eduard 158 Eulenburg, Franz 10, 17 Everling, Otto 153 Fabricius, Cajus 165, 195 f. Fallenstein, Emilie 392 f. Fallenstein, Georg Friedrich 393, 406, 414 Faulenbach, Heiner 211 Fekete, Éva 215, 270 Fichte, Johann Gottlieb 58, 377 Fick, Anna Caroline Friederike 21, 36 f. Fick, Ernst Gustav Georg Julius 36 f. Fick, Johann Ludwig Arnold 37 Firsching, Michael 19 Fischer, Dietrich 241 Fischer, H. Karl 9 Fischer, Karl August 209 Fischer, Kuno 27, 65

Personenregister

Fischer, Max 93 Fischer, Paul 169 Fischer-Appelt, Peter 196 Fleiner, Fritz 306 Fox, George 319 Frank, Franz Hermann Reinhold 176 Friedrich I., Großherzog von Baden 9 f., 19, 117, 420 Friedrich III., König von Preußen, Deutscher Kaiser 405 Fritz, Adolf 179 Frommel, Gerhard 74 Frommel, Otto 69, 71, 74 f., 128, 297 f., 337, 386 Frommel, Wolfgang 74 Fuchs, Carl Johannes 4 Fügen, Hans Norbert 119 Fürbringer, Max 406 Funk, Franz Xaver 360 Furtwängler, Adolf 21 Gassen, Kurt 65, 269 Geheeb, Paul 74 Gelpke, Ernst Friedrich 132 George, Stefan 60, 74, 297, 398 Gerber, Albrecht 14 Germany, Charles Hugh 298 Ghosh, Peter 6–9, 11, 19, 46, 69, 72, 360 Gierke, Otto 51, 62 Giesecke, Alfred 358 Gilcher-Holtey, Ingrid 297 Glaue, Paul 161 Göhre, Paul 86, 116, 278, 398 Goethe, Johann Wolfgang von 71, 75, 117, 127, 381, 395, 414 Goetz, Walter 62 Goldschmidt, Manuel R. 75 Gothein, Eberhard 6, 10, 17 f., 33, 45, 48 f., 54, 56, 61, 65, 68, 256, 296, 324, 363 Gothein, Marie Luise 68, 297 Gottl-Ottilienfeld, Friedrich Edler von 54 Gottlieb, Rudolf 306 Gottmann, Ernst 1 Gräßer, Erich 179 Grafe, Eduard 3, 44, 86, 271 f.

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Greschat, Martin 93, 163 Greßmann, Hugo 163, 166 f., 186, 202, 271 f. Grewel, Hans 172 Greyerz, Kaspar von 134 Groll, Wilfried 227 Grünhut, Carl Samuel 305 Guardini, Romano 77 Güder, Eduard 130, 133, 135 f. Günther, Felix 226, 247 Gundolf, Friedrich 357 Gunkel, Hermann 86, 91–93, 153 f., 158–161, 163, 167 f., 173, 180–182, 185, 192, 194, 196, 201–204, 206 Hackmann, Heinrich 158, 160, 163 f., 169, 176 f., 192, 201, 203 f. Haeckel, Ernst 113 Häckel, Johann Hinrich 406 Haering, Hermann 173 Häring, Theodor 173 Häusser, Ludwig 54 Hahn, Ferdinand 180 Hamilton, Alastair 10 Hampe, Karl 18, 49, 68 Hanke, Edith 41, 114 Harnack, Adolf von 3, 12, 21, 51, 94, 116, 119 f., 124, 166, 201, 216, 251, 298, 318 f., 358 f., 411 Harrington, Austin 12 Hartmann, Eduard von 90 Hassemer, Hans 48, 378 Hatano, Seiichi 298 Hauer, Jakob Wilhelm 77 Haupt, Hans 274 f. Hausrath, Adolf 13, 25 f., 42 f., 117 Hausrath, August 43 f., 51 Hausrath, Laura 43 f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 11, 58, 230, 315, 370 Heinrichs, Helmut 70 Heitmüller, Wilhelm 153, 157, 185, 189, 203 Helbing, Lothar 357 Hellpach, Willy 13 Hempel, Johannes 157, 202

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Personenregister

Hennis, Wilhelm 100, 112, 126, 128, 148, 270, 367 Henrich, Dieter 338, 345, 348 Hensel, Käthe 26 f. Hensel, Paul 4, 26 f., 29, 31, 45, 272, 310, 337, 341, 344–347 Herder, Johann Gottfried 232, 406, 414 Herrmann, Wilhelm 176, 178 f., 196, 346 Hertwig, Oscar 21 Hertz, Anselm 178 Herzfeld, Wolfgang D. 58 Heuss, Theodor 33 Hindenburg, Paul von 408 Hinneberg, Paul 127 f., 244, 281, 342 f., 358–362 Hintze, Otto 241 Hölderlin, Friedrich 74, 348 Hörning, Karl 48, 378 Holborn, Hajo 94 Holl, Karl 94 f., 262 Holtzmann, Heinrich Julius 9, 153 Honegger, Claudia 25 Honigsheim, Paul 24, 61–66, 70 f., 83, 89, 99, 113, 269, 271, 274, 276, 301 f., 326 Honnefelder, Ludger 6 Huch, Ricarda 77 Hübinger, Gangolf 11, 69, 106 f., 114, 119, 126, 264, 302, 310, 312, 346, 369 Hügel, Friedrich von 37, 67, 216 f. Hundeshagen, Karl Bernhard 131–133, 135, 137, 139 Husserl, Edmund 66 Iggers, Georg G. 241 Issel, Ernst 181 Ittel, Gerhard Wolfgang 156 f. Jacini, Stefano 367 Jaeger, Friedrich 123 Jaffé, Edgar 22, 31, 39 Jaffé, Else 22, 31, 49, 383 Jaffé, Friedel 22, 70 Jaffé, Hans 22 James, William 22 Jaspers, Karl 13, 46, 296

Jatho, Carl 115, 276, 407, 414 Jellinek, Adolf 70 Jellinek, Camilla 31, 59, 70–73, 284, 297, 303, 305 f. Jellinek, Georg 5, 13, 19, 31, 47, 56, 59, 61–65, 69–73, 96, 99, 124 f., 272, 284, 295, 298–316, 318, 321 f., 324, 344, 346, 349, 355, 363, 367 f., 370–372 Jellinek, Walter 305 Jolly, Julius 42, 405 Joseph II., Erzherzog von Österreich, König von Ungarn und Böhmen, Kaiser des Heiligen Römischen Reichs 54 Jülicher, Adolf 336, 359 Kähler, Martin 176 Kaftan, Julius 183 Kahlert, Heinrich 189 Kaiser, Marie 29 Kant, Immanuel 211, 232, 300, 335, 345 Karádi, Éva 215, 270 Kautzsch, Emil 203 Kehrer, Günter 236, 271 Kempter, Klaus 70–73, 295, 304, 312 f. Kersten, Jens 295 Kersten, Paul 275 Keutgen, Friedrich 51, 126 Keyserling, Hermann Graf 303 Keyserling, Leonie Gräfin 357 Kierkegaard, Søren 46, 77, 302 Kippenberg, Hans G. 121 f., 127 Kistjakowski, Bogdan 31, 57 Klatt, Werner 157–159, 163, 166, 202, 204, 207 Klingenburg, Georg 366 f. Knies, Carl 2 Knoke, Karl 211 Kocka, Jürgen 124 Köhler, Walther 32, 40 f., 275 Köhnke, Klaus Christian 64 König, René 24, 57, 83, 96, 269, 302 Königsberger, Leo 42 Kolk, Reiner 297 Kondô, Katsuhiko 330 f. Korsch, Dietrich 262 Kossel, Albecht 42

Personenregister

Kraatz, Martin 189 Krech, Volkhard 57, 343 Krüger, Christa 25, 297 Küenzlen, Gottfried 84, 90 f., 121, 270 Külpe, Oswald 66 Külz, Wilhelm 186 Kümmel, Werner Georg 156, 179 Kuenen, Abraham 90 f. Kuhlmann, Helga 141 Lagarde, Paul de 158, 166, 169, 201, 206 f., 209–211, 213 Lamprecht, Karl 2, 51, 54, 126, 225 f., 246–248, 251–253, 256, 340 Landmann, Michael 65, 269 Landsberg, Georg 22 Lang, Bernhard 94 Lask, Emil 59, 65 f., 274, 296 Lassmann, Peter 11 Le Fort, Gertrud von 15, 37 f., 46, 227 LeBosquet, John Edward 23 Lehmann, Hartmut 8, 10 f., 111, 116, 125, 134, 147, 311, 323 f., 360 Lemme, Ludwig 9, 185, 298 Lenger, Friedrich 125 f. Lenz, Max 24, 251, 262 Lepsius, M. Rainer 73, 127, 149, 297, 313, 324, 336 Leser, Hermann 72, 283 Leuze, Reinhard 206 Levy, Hermann 24, 367 f. Liebersohn, Harry 119 f., 138 Liebreich, Oscar 21 Lilienthal, Karl von 13, 72, 296 Lindt, Andreas 132 Lipsius, Richard Adelbert 176 Locke, John 335 Loofs, Friedrich 119, 364 Losito, Marta 112 Lotze, Hermann 207 Luchesi, Brigitte 127 Luckau, Alma 186 Ludendorff, Erich Friedrich Wilhelm 60 Lueken, Wilhelm 203 Luise, Prinzessin von Preußen, Großherzogin von Baden 9, 420

429

Lukács, Georg von 13, 44 f., 59, 215, 270, 296, 354 Luther, Martin 8, 120 f., 136, 140–146, 198, 262, 282, 319, 343, 363, 409, 416 Lutz, Hugo 379 f. Maag, Leonie Elisabeth 387 Maag, Otto 44, 388 Maas, Hermann 34, 78 Maier, Hans 310, 346 Maier, Heinrich 66 Mannheim, Karl 325 Marcks, Erich 54, 61, 262, 296, 324 Maria Theresia, Erzherzogin von Österreich, Königin von Ungarn und Böhmen 54 Marschall, Erwin R. 275 Marshall, Gordon 124 Martins, Herminio 11 Marx, Karl 53, 226 Marx, Wilhelm 408, 416 Maurer, Michael 68 Maximilian (Max), Prinz von Baden 33, 66, 329, 405 Mayer, Reinhold 59 Meier, Ernst von 62 Meinecke, Friedrich 45, 62, 220 f., 241, 251, 254, 256, 361, 364–366 Melanchthon, Philipp 198, 255, 282 Mennicke, August Carl 402 Merk, Otto 179 Merx, Adalbert 42 f., 113 Meurer, Bärbel 19, 21, 24 f., 27, 31, 38 f., 44, 47 f., 50, 67, 72, 76 Miller, Donald E. 226 Miller, Lucius Hopkins 23 Mirbt, Carl 161, 196, 203 Misch, Georg 299 Mittelstraß, Gustav 49 Moeller, Bernd 141 Molendijk, Arie L. 321 Moltmann, Jürgen 227 Mommsen, Clara 44, 106 Mommsen, Wolfgang J. 89, 106, 109, 112, 114, 120, 127, 148, 261, 290, 296, 299, 323, 330

430

Personenregister

Moretto, Giovanni 367 Morgan, Robert 230, 291 Müller, Hans-Peter 93 f., 163 Müller, Karl 220, 359, 364 Münsterberg, Hugo 125, 311 Müntzer, Thomas 262 Naumann, Friedrich 33 f., 57, 59 f., 75, 86, 116, 118, 273, 275, 386, 394, 398, 408 f., 411, 415–417 Neidhardt, Friedhelm 149 Neumann, Carl 4 f., 13, 31, 35, 44 f., 47 f., 54 f., 69, 272 f., 275, 309, 337, 341, 361 f. Neuner, Peter 67, 216 Niebergall, Friedrich 154, 193 Nietzsche, Friedrich 93, 126 f., 302 Nitzsch, Carl Immanuel 178 Nokk, Wilhelm 295 Nottmeier, Christian 14, 313 Novalis (Friedrich Freiherr von Hardenberg) 74 Oakes, Guy 148, 299 Oexle, Otto Gerhard 299 Oldenbourg, Rudolf August von 365 f. Olschki, Leonardo 13 Oncken, Hermann 18, 33, 43 Oncken, Margarete 43 Orth, Johannes 21 Osterhammel, Jürgen 112, 114, 323 Osthoff, Wolfgang 74 Otto, Rudolf 34, 173, 186, 189 f. Ouédraogo, Jean Martin 11 Overbeck, Franz 141, 302 Parker, Theodore 112, 405 Pauck, Wilhelm 275 Paulsen, Friedrich 361 Paulsen, Henning 155, 160, 184 Paulson, Stanley L. 295 Pautler, Stefan 9 Pelliciani, Luciano 148 Penner, Karl 27 Penner, Wilhelm 27 Petersen, Carl 330 Petters, Otto 48, 378–380

Peukert, Detlev J. K. 126 Pfleiderer, Otto 21, 85, 90, 112, 206 Philipp, Michael 75 Philippi, Friedrich Adolf 198 Piper, Otto 78 Platon 112 Plessner, Helmuth 13 Poggi, Gianfranco 124 Pohle, Richard 11 Prümm, Karl 156 Pye, Michael 230, 291 Rabenau, Konrad von 203 f. Rachfahl, Felix 24, 118, 128, 251, 262, 270, 286 f., 354, 366, 368 Radbruch, Gustav 69, 106 Rade, Martin 3, 9, 11, 14, 31–34, 99, 115 f., 118, 154, 157 f., 186, 271, 390 Radkau, Joachim 14, 26 Rahlfs, Alfred 159–161, 163, 169, 189, 192, 201, 203 f., 207 Ralston, Helen 279 Ranke, Leopold von 357 f. Rathenau, Walther 23 Rathgen, Emmy 31 Rathgen, Karl 13, 19, 31, 61, 296, 324 Rathje, Johannes 32, 34 Raulff, Ulrich 353 Rauschenbusch, Walter 201 Redeker, Martin 208 Reichert, Folker 18, 68 Reinhard, Wolfgang 134 Reischle, Max 153 f., 167, 183 Reitsema, Gaathe Willem 230, 291 Rendtorff, Trutz 223 f. Renz, Horst 36–38, 67, 161, 206, 273, 356 Richthofen, Friedrich Ernst Emil Ludwig Freiherr Praetorius von 70 Rickert, Heinrich 26, 55, 60, 64, 66, 105, 125, 247, 252 f., 273, 299, 303, 314, 323, 339, 350, 354, 371 f. Rieloff, Friedrich Carl 21 Riesebrodt, Martin 18, 100, 276 Ringer, Fritz 8

Personenregister

Ritschl, Albrecht 131, 138–148, 156, 164–166, 169, 171–186, 192, 194– 202, 204 f., 207–213, 262 f., 272, 282 Ritschl, Auguste 197 Ritschl, Dietrich 210 Ritschl, Otto 140, 143, 147, 165, 172, 196–199, 210 Robertson, Frederick William 405 Rössler, Dietrich 232 Rohrhurst, Rupert 42 Rollmann, Hans 116, 323 Rose, Johann Carl August 37 Rosenstock-Huessy, Margrit 59 Rosenzweig, Franz 58 f. Rosenzweig, Rafael 59 Roth, Guenther 3, 10, 21 f., 24 f., 111, 116, 125, 134, 295, 311, 323 f. Rothe, Richard 9, 117 f., 344 Rothenbücher, Karl 50 Rousseau, Jean-Jacques 307 Royce, Josiah 303 Rublack, Hans-Christoph 134 Rubner, Heinrich 89 Ruddies, Hartmut 215, 230, 241, 254, 275, 277 Rudolph, Kurt 206 Rühle, Inken 59 Sänger, Dieter 184 Sänger, Johanna 68 Salz, Arthur 44 Sarason, David 223, 243, 320 Satô, Tashio 330 Sattler, Martin J. 70 Sauerland, Karol 295–297 Sauter, Otto 48, 378 Scaff, Lawrence A. 20 f. Schaaf, Julius Jakob 269 Schäfer, Dietrich 74 Schäfer, Lili 44, 73–75 Schäfer, Rolf 156, 172 Schandau, Bertha 43, 70 Scheidemann, Philipp 186 Scheler, Max 63, 77, 274 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 58, 238

431

Schieder, Wolfgang 113 Schiele, Friedrich Michael 13, 93 Schiera, Pierangelo 112 Schiffer, Eugen 23 Schilling, Heinz 134 Schlatter, Adolf 193 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 74, 85, 112, 114, 122, 133, 135 f., 172, 179, 207 f., 230, 238, 291, 377 Schluchter, Wolfgang 7, 90, 100, 113, 120, 125, 127, 148, 288, 340, 363, 367, 369 Schmidt, Ferdinand Jakob 119 Schmidt, Gert 119, 269, 283 Schmidt, Gustav 241 Schmidt, Hans 202 Schmidt, Raymund 215 Schmiedel, Paul Wilhelm 185 Schmoller, Gustav 2, 361 Schmoller, Otto 181 f. Schnack, Ingeborg 189 Schnädelbach, Herbert 87 Schneckenburger, Matthias 130–139, 143 f., 147 f. Schneegans, Friedrich Eduard 42 Schön, Manfred 96 Schönberg, Gustav von 273 Schorn-Schütte, Luise 134 Schroeder, Richard 72 Schubert, Bertha von 385 Schubert, Franz 49 Schubert, Hans von 10, 13, 16, 33, 40, 72, 86, 271, 306, 385 Schubring, Wilhelm 119 Schücking, Walther 186 Schürer, Emil 180 Schütte, Hans-Walter 158, 189, 207, 209 Schulte, Martin 295 Schultz, Hermann 173, 197, 211 Schulze, Rolf 62 Schulze-Gaevernitz, Gerhart von 1 f., 13 Schuster, Hermann 166, 203 Schweitzer, Albert 179, 182 Schwemer, Richard 364

432

Personenregister

Schwentker, Wolfgang 89, 106, 261, 296, 299 Schwöbel, Christoph 119 Seeberg, Reinhold 279 f. Seligman, Edwin R. A. 325 Sellin, Ernst 166 Seyfarth, Constans 119, 269, 279, 283 Shields, Mary 12 Sica, Alan 63 Siebeck, Hermann 90 Siebeck, Oskar 9, 50, 274, 389 Siebeck, Paul 1, 12 f., 22, 27, 42, 45–47, 49, 100, 115, 210, 216 f., 220–222, 256, 274, 276, 288, 367 Sieveking, Heinrich 51, 54, 126 Sigmund, Steffen 335 Simmel, Georg 45, 57, 63–66, 224, 259, 274, 303, 321, 354, 363 Simons, Eduard 86, 271 Sösemann, Bernd 277 Sohm, Rudolph 94 f., 359 Sombart, Werner 8 f., 14 f., 26, 51–54, 125 f., 224, 284, 343, 363 f., 368 Specht, Karl Gustav 61 Speck, Joseph 254 Speer, Heino 95 Spinoza, Baruch de 384 Spitta, Friedrich 153 Spranger, Eduard 66 Sprondel, Walter M. 279 Stauth, Georg 126 Steck, Wolfgang 89 f., 112, 271 Steemann, Theodore M. 279 Steinbach, Matthias 68 Steinert, Heinz 24 Stephan, Horst 263 Steppuhn, Fedor 57 Stoecker, Adolf 411 Stöcker, Liddy 283 Strauß, David Friedrich 85 f., 112 Strecker, Georg 193 Sukale, Michael 13 Sumiya, Kazuhiko 330 Swatos Jr., William H. 279 Takebayashi, Shiro 2 Tanner, Klaus 6, 129

Tenbruck, Friedrich 84, 270 Thode, Henry 296 f. Tiele, Cornelius Peter 90 Tillich, Paul 218 f., 227 f., 237 f., 331 f. Titius, Arthur 116 Tödt, Heinz Eduard 297, 325 Tönnies, Ferdinand 45, 113, 287 Tolstoi, Leo N. 77, 114, 127, 301 f. Tommaselli, Rita 35 f. Tompert, Helene 295 Torp, Cornelius 37 Toshimasa, Yasukata 330 Traub, Friedrich 154 Traub, Gottfried 116, 119, 121, 407, 414 Traumann, Ernst 378 Treiber, Hubert 7, 57, 126, 144, 295– 297, 367 Treitschke, Heinrich von 377, 407, 415 Troeltsch, Ernst Eberhard 38, 48, 74, 128, 298, 421 f. Troeltsch, Marta 2, 15, 21, 26, 30 f., 34– 42, 44, 48–50, 67, 128, 227, 273 f., 298, 325, 355 f., 379, 383, 419, 421 Tschackert, Paul 255 f. Turner, Bryan S. 126 Turner, Stephen 10 Tyrell, Hartmann 19, 57, 113, 121, 127, 132, 343 Ulrich, Editha 68 Usener, Hermann 166 Velody, Irving 11 Verheule, Anthonie Frans 158 f., 180, 186 Vischer, Eberhard 173 Voigt, Friedemann 321, 363 Vossler, Karl 13, 129, 273, 340 f. Waag, Albert 379 f. Waechter, Kay 46 Wagenmann, Julius August 161 Wagner, Adolph 89 Wagner, Richard 297 f. Wagner, Sabine 12 Waldeyer-Hartz, Wilhelm von 21 Walz, Ernst 48, 378–380, 420

Personenregister

Weber, Alfred 16, 32, 65, 323, 327, 353, 384, 393 f. Weber, Helene 2–4, 6, 14, 19, 22, 25– 31, 38 f., 43 f., 50–52, 67 f., 70, 74–77, 111, 343–345, 351, 356, 392–395, 397 Weber, Marianne 1–6, 9, 11 f., 14–16, 18–22, 24–31, 33 f., 38–44, 46–52, 56 f., 59, 62 f., 67 f., 70, 72, 74–79, 95 f., 106, 108, 111 f., 114, 125, 269, 271, 273–278, 291, 297, 303, 310, 323, 325, 337, 343–346, 351, 353– 357, 381–383, 391–398, 400, 402, 410 Weber, Max (sen.) 393, 398 Weber, Otto 90 Weber-Schäfer, Peter 353 Wehler, Hans-Ulrich 241 Weinel, Heinrich 153 Weiß, Bernhard 3, 197, 204, 213 Weiß, Hansgerhard 197 Weiß, Johannes 3, 86, 153, 156, 160 f., 173, 179–186, 196 f., 200 f., 203 f., 298 Weiß, Johannes 11, 84, 149, 271 Wellhausen, Julius 91–93, 97, 127, 166, 244, 281, 359 Wendt, Claus 335 Wennemuth, Udo 315 Wernle, Paul 153, 157 Wertheim, Gustav 73 Wertheim, Wilhelmine 73 Weyel, Birgit 89, 236, 271 Wichelhaus, Manfred 132, 137, 147 Wichern, Johann Hinrich 406, 414

433

Wiefel, Wolfgang 193 Wielandt, Lily 67 f., 77, 382 Wielandt, Rudolf 42, 67 f., 232, 381 Wienert, Walter 12 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 359 Wilckens, Karl 42 Wilhelm I., König von Preußen, Deutscher Kaiser 405 Wilhelm II., König von Preußen, Deutscher Kaiser 60, 223, 326 f., 358 Winckelmann, Johannes 24, 57, 83, 96 f., 111, 119, 223, 269, 279, 283, 289, 302, 310 Windelband, Wilhelm 59, 61, 63–65, 72, 125, 216, 296, 298 f., 303, 306, 315, 324, 329, 339, 368, 371 Wobbe, Theresa 25 Wörishoffer, Marie 70 Wolf, Hugo 49 Wolfrum, Philipp 4 Wolgast, Eike 5, 18 Wrede, Adolf 192 Wrede, William 159–161, 165, 168, 174, 192–194, 197–199, 201–204, 212 Wright, Jonathan R. C. 277 Wust, Peter 78 f. Wyman Jr., Walter E. 14, 291 Wyss, Carl 132 Zaret, David 134 Zelger, Manuel 141 Zietz, Martha 76 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig Graf von 145 Zwingli, Huldreich 143 f.