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German Pages 88 Year 1956
STUDIEN DER LUTHER-AKADEMIE Herausgegeben im Auftrage des Vorstandes von Carl Stange, Göttingen
NEUE FOLGE / HEFT 4
G E S C H I C H T E ALS O F F E N B A R U N G von Erich Fiilling
19 5 6 V E R L A G A L F R E D T Ö P E L M A N N / B E R L I N W 35
GESCHICHTE ALS OFFENBARUNG Studien zur Frage Historismus und Glaube von Herder bis Troeltsch von Erich Fülling
1956 V E R L A G A L F R E D T Ö P E L M A N N / B E R L I N W 35
D r u c k : T h o r m a n n & Goetsch, B e r l i n - N e u k ö l l n
Inhalt Seite 7
Einleitung I. H e r d e r s Idee d e r Geschichte
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a) Die geschichtsphilosophische F r ü h s c h r i f t b) Die geschichtsphilosophische Hauptschrift
13 16
1. N a t u r u n d Geschichte 2. Die r e a l e H u m a n i t ä t und die k o n k r e t e W e l t - M y s t i k 3. Die h u m a n i t ä r e R e l i g i o n als G r u n d l a g e und Ziel d e r Geschidite II. H e g e l s a b s o l u t e Geschichte a) Hegels r e a l e K o n s t r u k t i o n mystisdier Charakter
17 19 23 27
der
Weltgesdiichte
und
ihr
profan-
b) „ F r e i h e i t " als G r u n d l a g e und Sinn der Weltgeschichte c) B e u r t e i l u n g
31 33 35
III. D i l t h e y s geisteswissenschaftliche Philosophie des Lebens und die F r a g e d e r geschichtlichen R e l a t i v i t ä t a) Die V o r a u s s e t z u n g e n b) Die G r u n d l a g e n der geschichtlichen Lebensphilosophie 1. Geschichtlichkeit und Leben in der K r i t i k der historischen V e r n u n f t 2. V e r s t e h e n und S t r u k t u r 3. Die W e l t a n s c h a u u n g s t y p e n c) Die geschichtliche R e l a t i v i t ä t und Versuche zu i h r e r Ü b e r w i n d u n g d) Der n e u e A n s a t z und seine B e u r t e i l u n g
36 36 44 44 48 49 50 54
IV. Die F r a g e des H i s t o r i s m u s bei Troeltsch a) Der A u s g a n g s p u n k t '. . . . b) Die P r o b l e m e des Historismus 1. Die G r u n d l a g e d e r Geschidite 2. I n d i v i d u a l i t ä t und E n t w i c k l u n g 3. Die z w e i A r t e n des Historismus c) Die Versuche zur Ü b e r w i n d u n g des Historism;·., 1. K u l t u r s y n t h e s e und Universalgeschichte 2. Das W a g n i s des Glaubens und die R e c h t f e r t i g u n g d e r K u l t u r . . d) G e s a m t b e u r t e i l u n g und W e i t e r b i l d u n g
61 61 65 65 67 70 72 72 74 77
E r g e b n i s und Ausblick
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Einleitung*) Daß die Antike kein lebendiges Verhältnis zum Geschichtlichen gehabt hat, wird oft behauptet. Den antiken Denker beschäftigte mehr die Frage nach der Beziehung von Natur und Idee oder die des einzelnen zum kreisförmig-periodenhaft vorgestellten Geschehen, als die nach dem Sinn und Ziel der menschlichen Geschichte. Mit Redit hebt man gewöhnlich hervor, daß erst die christliche Religion für solches Denken die Voraussetzung geschaffen habe. Die Offenbarung, die sich an bestimmten Punkten der Geschichte kundtut, und die damit gegebene Ausrichtung des Menschen auf das kommende Gericht und das Reich Gottes läßt das Vergangene als etwas Einmaliges, als eine zu verantwortende Größe erscheinen und zugleich auf die „Zeichen der Zeit" im Hinblick auf das Kommende achten, weldie der Gegenwart das Gewicht der Entscheidung verleihen. Erst so wird geschichtliches Denken und Empfinden möglich. Augustine Buch über den Gottesstaat gilt darum oft als die erste bedeutende Geschichtsphilosophie. Freilidi ist damit nur etwas über den historischen Ursprung moderner Geschichtsbetrachtung, nichts über ihr Wesen gesagt. Der Gottesstaat Augustine ist doch nichts anderes als „eine dogmatische Auslegung des christlichen Glaubens im Bereich der Weltgeschichte" 1 ), wobei allerdings der Gedanke einer das gesamte Menschengeschlecht umfassenden Geschichte bereits in der Bibel vorliegt. Darüber hinaus gestattet die biblische Offenbarung und Eschatologie nicht, die Weltgeschichte, die hier nichts anderes als Endgeschichte ist, weiter auszuführen, d. h. in besondere Entfaltungsstufen zu zerlegen und mit entsprechenden Inhalten und eigenmächtig entworfenen Zielen zu erfüllen ). *) Den folgenden Ausführungen liegen 2 Vorlesungen zugrunde, die bei den Tagungen der Luther-Akademie in Goslar in den Jahren 1953 und 1955 gehalten worden sind. Der innere E r t r a g der dort vorgetragenen Gedanken über den Historismus wurde unter dem Titel „Der Historismus in christlicher Sicht" veröffentlicht in der „Zeitschrift für systematische Theologie" 1953, 3. Heft, S. 2 7 4 — 2 9 9 . 1) K a r l L ö w i t h , Weltgeschichte und Heilsgeschehen, in: Anteile, Martin Heidegger zum 60. Geburtstag, 1950, S. 133. — Ders.: Weltgesdiichte und Heilsgeschehen, 1953, S. 148 ff. 2 ) Vgl. Löwith, Christentum und Geschichte, in „Merkur", I V / 1 2 (1950), S. 1 2 4 6 : „Die Weltgesdiichte drang, vom Neuen Testament aus gesehen, in dessen unweltliche Botschaft nur insoweit ein, als die ersten Generationen nach Christus noch in dieser Welt lebten, ohne jedoch von ihr zu sein." Ähnlich W . Κ a m 1 a h , Christentum und Geschichtlichkeit 3 , 1951, S. 20.
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Dies geschah trotz aller vorbereitenden Ansätze, die sich bereits im Mittelalter aufzeigen lassen, erst im verweltlichten Denken der Renaissance, allerdings damals noch sehr unbestimmt, manchmal unter dem Aufbegehren gegen christliche Vorstellungen, wiederum audi unter Anlehnung an christliche Formeln, welche sich mit Gedanken verbanden, die der Antike entstammen, ausgeprägter und bestimmter jedoch erst im Zeitalter des Rationalismus, der ein System autonomer Werte ausbildete, die für alle Menschen einleuchtend und verbindlich seien. Ernst Troeltsch und andere zeigten, wie der Gedanke des „Naturrechts" in Moral und Gesellschaft auf antikes Gut zurückweist, das sich mit christlichen Vorstellungen verschmolzen hat. So entwickelte sich das Naturrecht zum bedeutsamen Beitrag der Neuzeit. Gleichwohl hat erst die Auflösung dieses Gedankenkreises, den man besonders in Deutschland als drückendes und starres Joch empfand — Antoni sagt: Der Aufstand wider die Vernunft. So der Titel seines fesselnd und mit romanischer Klarheit geschriebenen kenntnisreichen Buches, 1950 —, die Kräfte befreit, die das Geschichtliche aus der Randstellung in den Mittelpunkt rücken. Nicht das biblische Christentum der Anfangszeit oder das kirchliche des Mittelalters einschließlich Reformation und Gegenreformation, aber auch nicht die das Alte verwerfenden Mächte der Renaissance und des Rationalismus haben dem Strom des Geschichtlichen die Bahn gebrochen, der gerade im Gegensatz zu letztgenanntem sich durchsetzen mußte. Und damit sind wir schon beim historischen und systematischen Ursprung des Historismus angelangt, dessen Kern nach Meinecke „in der Ersetzung einer generalisierenden Betrachtung geschichtlich-menschlichcr Kräfte durch eine individualisierende" besteht 3 ). Wir nehmen diese Definition des Altmeisters der deutschen schichtswissenschaft zunächst entgegen, ohne uns zu verbergen, sie umstritten ist. Loewith merkt an, daß Meinecke „gar nicht den Hegel entsprungenen Historismus, sondern die Individualisierung Lebensauffassung zum Thema macht" 4 ). Meinecke hat sich gegen
Gedaß aus der den
3 ) F. Meinecke, die Entstehung des Historismus 2 , 1946, S. 2. — P r e l l e r , Rationalismus und Historismus, Hist. Zeitschrift 126 (1922), S. 207 ff. hält diesen f ü r einen „integrierenden Bestandteil" der Aufklärung, die beide den Menschen vom Alpdruck des Gewesenen befreien wollten (S. 234, 227). — Das gemeinsame Anliegen schließt aber dodi tiefe Verschiedenheit nicht aus; Meinecke selbst geht übrigens auf französische und englische Denker der Aufklärungszeit zurück. 4 ) Von Hegel zu Nietzsche, Zürich 1941, S. 302, Anm. 79. 5 ) Vom geschichtlichen Sinn und vom Sinn der Geschichte 5 , 1951, S. 97/98. — Vgl. die ausführliche Besprechung des Historismus-Buches von E. S e e b e r g in Hist. Zeitschrift 157 (1938), S. 241—266; S. 263: Goethe deshalb so ausführlich be-
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Vorwurf verteidigt, daß er audi Goethe, über den man gewöhnlich anders urteilt, zu den großen Vertretern des Historismus rechne 5 ). Er betont, dieser sei ihm nicht nur Wissenschaftsprinzip, sondern „Lebensprinzip". In diesem Anliegen berührt er sich mit Karl Mannheim, der ihn geradezu f ü r das Lebensprinzip unserer Tage hält. Historismus ist f ü r Mannheim „Weltanschauung", er spricht sogar von der „historischen Weltanschauung", von der unser ganzes Denken beherrscht sei6) und der allein imstande sei, nach der unvermeidlichen Preisgabe des statischen Absolutheitsdenkens materiale Maßstäbe f ü r das Handeln in der Gegenwart zu liefern 7 ). Er ist mehr als nur eine Erkenntnismethode, sondern im Grunde ein notwendiger und echter Ersatz der Metaphysik 8 ). Der Soziologe Mannheim und der geistesgeschichtliche Historiker Meinecke gehen in der Bestimmung des Historismus wesentlich weiter als die Neukantianer der sog. südwestdeutschen Richtung, denen es bei der Erfassung des Geschichtlichen in der Hauptsache auf die logische und wertmäßige Klärung des Geschichtlichen als eines Individuellen ankam. Beide würden erst recht das nicht gelten lassen, was Heussi unter Historismus verstehen will, nämlich die besondere Art der Geschichtsschreibung um 1900 9 ), die durch neue Fragestellungen nur zu bereichern und zu vertiefen wäre. Wie man audi im einzelnen den Historismus sehen und beurteilen mag, so wagt heute kaum jemand zu bestreiten, daß in ihm, der unter Herder einst so zukunftsgläubig und verheißungsvoll begann und Jahrzehnte hindurch befreiend wirkte, eine große Not liegt. Diese Geisteshaltung hat ja ganz wesentlich dazu beigetragen, den philosophischen, den Relativismus überhaupt hervorzurufen, mindestens stark zu befördern. Mit Selbstverständlichkeit beurteilen wir heute alles, auch das, was den Anspruch erhebt, etwas Festes zu sein, wie Religion, Wissenschaft, Ethik, als „geschichtlich", also als zunächst nur aus der besonderen Lage verständlich, wobei im Hintergrund die leise, aber bange Frage steht, ob diese Größen in irgendeiner Weise auch f ü r immer verbindlich seien. Der bedeutende spanische Denker Ortega handelt, um trotz „relativierenden W e l t v e r s t ä n d n i s " nicht „die l e t z t e K r a f t q u e l l e zu verlieren, die aus d e m Glauben an absolute W e r t e im L e b e n entspringt". 6 ) A r t i k e l : Historismus — im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 52. Bd., 1924, S. 3. 7
) ebd. S. 59/60.
8
) ebd. S. 53.
9
)
D i e Krisis des Historiums, 1932, S. 20.
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y. Gasset, der mit dem deutschen Geistesleben so eng verbunden ist, scheint aus der Not nur eine Tugend zu machen, wenn er gleichsam triumphierend meint: Der Historismus weckt und stärkt in uns das Bewußtsein, „daß das Wesen des Menschen in all seinen Richtungen Veränderung ist und daß nichts Konkretes in ihm stabil sein kann" 10 ). Immerhin sind damit zwei Weisen der Beurteilung des Historismus zu erkennen, die zu einer gewissen Klärung über sein Wesen führen können. Der spanische Philosoph und deutsche Denker bejahen die radikale Auffassung vom geschichtlichen Sein im Sinne eines nie ruhenden Stromes, was auf den Betrachter und Handelnden eine gewisse rauschhafte Wirkung hervorzurufen vermag, während andere sich gerade deshalb besorgt zeigen, obwohl auch sie den reißenden Fluß des Geschehens, der alle Werte und Normen mit sich nimmt, nicht abstreiten können und wollen. Troeltsch erklärte kurz vor seinem Tode, „das Verhältnis zwischen der endlosen Bewegtheit des geschichtlichen Lebensstromes und dem Bedürfnis des menschlichen Geistes, ihn durch feste Normen zu begrenzen und zu gestalten" 11 ), sei sein wichtigstes Thema. Bereits im Jahre 1896 hatte er in Eisenach in der Aussprache nach einem Vortrag über die Logoslehre seinen theologischen Freunden das drastische Wort: Es wackelt alles! zugerufen. Wie Troeltsch das Historismus-Problem lösen wollte, wird in einem besonderen Kapitel gezeigt werden. Wir halten zunächst nur fest, daß der Historismus im unheimlich dahinfließenden Geschichtsstrom anscheinend alles Feste relativiert und verflüchtigt. Schon aus dem Worte „Historismus" lassen sich Urteile über den ursprünglichen Sinn dieses Begriffes gewinnen. Wie der Soziologismus die gesellschaftlichen Verhältnisse, der Naturalismus die Gesetze der Natur bis zur Überbetonung hervorheben, so stellt der Historismus die Geschichte als fließende und fortschreitende Zeit in den Mittelpunkt und sucht ihre Gesichtspunkte: Veränderung, Entwicklung verbunden mit Individualität, überall hinzutragen. Historismus liegt nadi Rudolf Stadelmann vor, wenn „die Geschichte dominierend geworden ist und andere Triebkräfte — religiöse, ästhetische, ethische -— verdrängt hat" 12 ). Ist der Historismus nun etwa ein moderner Mythos, eine Ideologie? 1 0 ) Geschichte als System, 1943, S. 68. Vgl. audi: das Wesen geschichtlicher Krisen 2 , 1951, S. 125, „Unser Motto muß eein: Mobiiis in mobili". u) Der Historismus und seine Überwindung, 1924, S. 1. So lautet die Überschrift von 5 Vortragen, die erst nach Troeltschs Tode unter diesem Titel erschienen. Heussi a.a.O. S. 14, Anm. 1, bezweifelt, daß dieser von ihm selbst stammt. — Vgl. auch Troeltsch, die Krisis des Historismus in: Neue Rundschau 23 (1922) S. 573. 12 ) Der historische Sinn bei Herder, 1928, S. 13.
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Weil wir heute nach den Erschütterungen der beiden Weltkriege nicht mehr so wissenschaftsgläubig sind, wie es die Generation um 1900 war, und vor allem den Ideologien gegenüber, die allzu deutlich den Charakter einer Ersatz-Religion tragen, zurückhaltend geworden sind, trauen wir der Geschichte nicht mehr das zu, was man in früheren Jahrzehnten wohl von ihr erwartete. Nachdem das Bewußtsein der Grenzen eines Fachgebietes stärker geworden ist, dürfte es wohl wenig Widerspruch finden, wenn Loewith meint: „das Problem der Geschichte als soldier und im ganzen ist innerhalb ihres eigenen Horizonts nicht zu lösen" 13 ). Daß der Glaube an die „voraussetzungslose Wissenschaft", für die man um 1900 noch so wacker stritt, heute in dieser Weise kaum noch existiert, ist noch deutlicher. Meinecke bekennt, ihm sei die weltanschauliche Beziehung seiner wissenschaftlichen Arbeit heute selbstverständlich 14 ). Im folgenden handelt es sich darum, bei solchen Denkern, die für die Frage des Historismus von Bedeutung sind, das hervorzuheben und zu prüfen, was die letzte Gewißheit oder Ungewißheit ihrer Anschauungen ausmacht, wieweit christlicher Glaube als säkularisiertes Christentum im Hintergrund steht. Wir beabsichtigen also keineswegs die Breite und Tiefe ihrer geschichtsphilosophischen Anschauungen, ζ. B. die üblichen Fragen, ob ideelle oder materielle, persönliche oder überpersönliche Antriebskräfte das Geschehen beherrschen, darzustellen und zu klären, sondern bewegen uns gleichsam nur in der tiefsten und letzten Schicht ihres Denkens. Weil aber das Denken über Geschichte wie diese selbst sich besonders sinnfällig in Personen darstellt, möchten wir nicht systematisch-problemgeschichtlich verfahren, sondern an Hand einiger Hauptgestalten die Frage Historismus und Glauben zur Sprache bringen; wir sind uns darüber klar, daß wir nicht alle, über die sich Ergebnisse gewinnen ließen, heranziehen und daß manches klärungsbedürftig bleibt. Während hinsichtlich der Betrachtung und Beurteilung des dichterischen Schrifttums schon manches Wesentliche über dessen Verhältnis zum christlichen Glauben gesagt worden ist, liegt die entsprechende Arbeit auf dem Gebiet der Geschichte zum großen Teil noch vor uns. Gewiß gibt es bereits eine Reihe von Vor13)
im „Merkur", a.a.O. S. 1241. Straßburg, Freiburg, Berlin 1 9 0 1 — 1 9 1 0 . Erinnerungen 1949, S. 12/13. — W a l t e r Η o f e r weist in seinem ein wenig breit (552 Seiten!), aber gründlich gesAriebenen Buch: Geschichtsschreibung und Weltanschauung. Betrachtungen zum W e r k Friedrich Meineckes, 1950 — nach, daß dieser den Weg vom „objektiven" zum „dualistischen Idealismus" durchlaufen habe. 14 )
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arbeiten, jedoch stehen die Nachweise im einzelnen noch aus 15 ). Unsere Studie hat es nicht mit einzelnen Fragen der Geschichte und ihrem Verhältnis zum Glauben, sondern mit dessen Beziehung zum Wesen der Geschichte überhaupt zu tun.
15 ) Wertvolle Arbeiten in dieser Hinsicht ζ. B. sind R. W i t t r a m , Nationalismus und Säkularisation. Beiträge zur Geschichte und Problematik des Nationalgeistes, 1949. H. U 11 m a η η , der Weg des 19. Jahrhunderts. Am Abgrund der Ersatzreligionen, 1949.
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I. Herders Idee der Geschichte a) Die geschichtsphilosophische
Frühschrift
N e b e n der A u f k l ä r u n g , die H e r d e r b e s o n d e r s in der G e s t a l t eines Montesquieu u n d Rousseau e n t g e g e n t r a t , u n d i h r e m eigenwilligen Bestreiter Hamann h a b e n auf den j u n g e n P r e d i g e r b e s o n d e r s der ästhetische Neuplatonismus eines Shaftesbury und auch Shakespeare gew i r k t 1 ) . Mit allen diesen E i n f l ü s s e n v e r b a n d sich eine V o r l i e b e f ü r ursprüngliche P o e s i e und das im einfachen V o l k Gewachsene. Entscheidend w u r d e , daß bei H e r d e r der G e d a n k e der Entwicklung, welcher der A u f k l ä r u n g im S i n n e einer a u f s t e i g e n d e n o d e r seit R o u s s e a u auch einer a b s t e i g e n d e n L i n i e k e i n e s w e g s f r e m d w a r , auch d e m n e u p l a t o n i s c h e n D e n k e n nicht f e h l t , wo er allerdings im S i n n e einer s t u f e n f ö r m i g e n E n t f a l t u n g g e f a ß t w u r d e , sich zum B e g r i f f der Individualität durchrang. F e s t z u h a l t e n ist auch, daß H e r d e r von der O r t h o d o x i e und d e m religiösen R a t i o n a l i s m u s i m m e r gleich weit entf e r n t war und sich schon in seiner R i g a e r Zeit die G r u n d z ü g e einer a u t o n o m e n , a b e r i r r a t i o n a l e n Geschichtsbetrachtung a u f z e i g e n l a s s e n 2 ) . Sein F ü h l e n u n d D e n k e n w i r d gleichsam z u s a m m e n g e h a l t e n durch die d a u e r n d e B e s c h ä f t i g u n g mit der Sprache. V o n ihr m u ß seine Philos o p h i e v e r s t a n d e n w e r d e n , z u m a l sie ihn auch zu d e m G e d a n k e n dei N a t i o n f ü h r t e ; diese w a r ihm freilich m e h r eine k u l t u r e l l e als staatliche A n g e l e g e n h e i t , wie Antoni in seinem schon g e n a n n t e n W e r k b e t o n t . G e g e n den als starr und unlebendig e m p f u n d e n e n Geist der d a s L e b e n in R e g e l n und N o r m e n zwingenden A u f k l ä r u n g lehnte sich der j u n g e H e r d e r als ein V e r t r e t e r einer neuen G e n e r a t i o n a u f , unter B e r u f u n g auf G e f ü h l ( S p r a c h e ! ) , G o t t , V o l k u n d I n d i v i d u a l i t ä t . In dem B ü c h l e i n : Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit — 1 7 7 4 — erteilt er V o l t a i r e seine h e r a u s f o r d e r n d e A n t w o r t . S t o ß a r t i g , „ i m echten Sturm- u n d Drangstil- abgerissenen S ä t z e n , fliegenden A u s r u f e n , dunklen A n d e u t u n g e n und ahnungsvollen Ausblicken, h i n g e w o r f e n mit großer G e b ä r d e u n d gewollter H e r a u s ') Im einzelnen s. Meinecke, Historismus S. 382 ff. ) Martin D o m e , die Religion in Herders Geschichtsphilosophie, S. 53 ff. 2
1927.
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forderung der Leser" 3 ) ist es geschrieben und kann heute noch als das Zeugnis eines lebendigen Geistes auf den Betrachter wirken. Theodor Litt nennt es das „Grunddokument des werdenden Historismus" 4 ), und Stadelmann bezeichnet diese kleine Schrift als dessen großes „Grundbuch" 5 ). Worin ist die Geschichte nach der Auffassung des ersten großen Vertreters des deutschen Historismus gegründet? Im Gegensatz zu dem in der Aufklärung gewöhnlich vertretenen Standpunkt behauptet Herder, die erste Zeit der Menschen sei friedlich und glücklich verlaufen, einen Gedanken, den er auch in seiner großen Geschichtsphilosophie 15 Jahre später festhielt. Zwar habe damals nicht das absolute Glück geherrscht, an das Rousseau geglaubt hat. Herder sieht die Schattenseiten des patriarchalischen Despotismus, der ersten Staatsform der Menschheit. Gewiß war „die Furcht die Triebfeder dieses Regiments", aber es handelt sich doch um eine Zeit, in welcher der Mensch nicht ohne feste Autorität leben kann und will (Herders Werke 5, S.482; nach der kritischen Ausgabe von Suphan wird im folgenden zitiert, freilich in unserer Rechtschreibung). Der Kindheitsstufe der Menschheit, führt er aus, entspricht diese Regierungsweise, welche die „Worte des Fachphilosophen der Aufklärung" (Voltaire) nicht anerkennen wollen (ebd.). Die Geschichte wird verglichen mit einem Menschenleben, in welchem die Kindheit uns bei den orientalischen Völkern, das Knabenalter bei dem Künstlerfleiß der Ägypter und der Regsamkeit der Phönizier begegnen, während die Jünglingszeit in den die Freiheit über alles liebenden Griechen und das Mannesalter in den Römern uns gegenübertreten. Jede Epoche, jedes Volk —• wir würden heute sagen: Völkergruppe — haben ihre in sich geschlossene Eigenart am Baume der Menschheit und damit die Möglichkeit einer relativen Vollkommenheit. Das bedeutet, daß in gewisser Weise „jede menschliche Vollkommenheit national, säkular, und am genauesten betrachtet individuell" ist; „Zeit, Klima, Bedürfnis, Welt, Schicksal" (5, S. 505) bilden die betreffenden Stufen im einzelnen aus. Die positive Beurteilung der verschiedenen Menschheitsstufen, die Herdersche Entdeckung, stellt eine wesentliche Grundlage der späteren „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" dar. Es ist aber keineswegs eine moderne Milieutheorie, der Herder das Wort redet. Hinter diesen realen Faktoren steht das Göttliche, das sich nur durch sie kundtun kann, was 3)
Eugen K ü h n e m a n n , Herder 3 , 1927, S. 227. Die Befreiung der g e s d i i A t l i A e n Welt durdi J . G . H e r d e r , 1942, S. 83. 5 ) a.a.O. S. 28. 4)
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der „Deismus der Menschenfreundschaft" (5, S. 520) oft verkenne. Die Natur der Gottheit handelt nicht „anders als durch Natur" (5, S. 521). Ja, „die Religion soll nichts als Zwecke durch Menschen und für Menschen" (ebd.) bewirken (ebd.). Dieser nicht abstrakten, sondern sehr konkreten Auffassung vom Menschen entspricht es, wenn jedes Alter „den Mittelpunkt seiner Glückseligkeit in sich selbst" habe (5, S. 512), da alles „im ganzen Reiche Gottes" — man beachte das Ineinssetzen von Menschen- und Gottesreich — „ a l l e i n Mittel — alles Mittel und Zweck zugleich" sei (5, S. 527). Man soll darum das Gute in der Weltgeschichte nicht an einem starren Ideal messen: „Ist nicht das Gute auf der Erde ausgestreut? Weil eine Gestalt der Menschheit und ein Erdstrich es nicht fassen konnte, ward's verteilt in tausend Gestalten, wandelt — ein ewiger Proteus! durch alle Weltteile und Jahrhunderte hin" (5, S. 511). Dem Kampf gegen die alles besser wissende Aufklärung, den Herder führt, entspricht es, wenn er zugleich an die Grenzen des Menschen erinnert. Dieser ist dem göttlichen Ganzen gegenüber nur „kleine Laubfaser" am Baum der Weltgeschichte, „kleines Komma oder Strichlein im Buche aller Welten" (5, S. 561). Das unübersehbare Ganze ist dem Menschen ein „Labyrinth", „mit hundert Pforten verschlossen", ein „Palast Gottes zu seiner Allerfüllung" (5, S. 560). Aus diesen und anderen Stellen hat man geschlossen, daß Herder in seiner Bückeburger Zeit für die Religion der menschlichen Demut und göttlichen Offenbarung besonders offen war 6 ). Gewiß gewann er durch die irrationalistische Betrachtung des Geschehens ein sehr lebendiges Verständnis für den Zufall, für die rohe Kraft und scheinbar blinde Macht des wirklichen Geschichtsverlaufs; denn „ein stiller Fortgang des menschlichen Geistes" ist nichts „anderes als Phantom unserer Köpfe" (5, S. 532). Aber Undurchsichtigkeit im einzelnen bedeutet nicht, daß der Plan Gottes in der Geschichte im ganzen immer unerkennbar bleiben müßte. Wenn der „eigennützige Spieler" Mensch zwar das Ganze nicht überschaut, so kann doch „der Zuschauer im rechten Gesichtspunkte und in ruhiger Abwartung des Folgeganzen" ihn wohl einsehen (5, S. 559). Der Mensch in der Geschichte ist also Handelnder und doch auch Zuschauer in einem bestimmten Sinne, der das Ziel zum mindesten ahnt. Herder schließt darum bezeichnender Weise mit einer optimistischen Aufforderung zur Tat: „Lasset uns, meine Brüder, mit mutigem, fröhlichem Herzen auch mitten unter der Wolke arbeiten: denn wir arbeiten zu einer großen Zukunft" e)
So Dome, a.a.O. S. 47. Zur Kritik vgl. Stadelmann, a.a.O. S. 58,141. 15
(5, S. 580) 7 ). Im Ziel deckt sich H e r d e r s A u f f a s s u n g anscheinend mit dem der A u f k l ä r u n g , n u r der A u s g a n g s p u n k t u n d Weg sind verschieden 8 ). Die realen F a k t o r e n K l i m a u n d U m w e l t sind mit d e r Menschlichkeit, welche I n h a l t , G r u n d l a g e u n d Ziel der Geschichte abgibt, enger v e r b u n d e n , als es das A u f k l ä r u n g s d e n k e n zuließ, was w i e d e r u m n u r dadurch möglich ist, d a ß h i n t e r jenen die G o t t h e i t steht, die sich zwar nicht dem r a t i o n a l e n D e n k e n , welches ü b e r solche Gegebenheiten hinweggeht, wohl aber dem emotionalen k u n d t u t . I n dieser „religiösen" P e r i o d e seines Lebens h ü t e t sich H e r d e r ganz besonders, G o t t u n d Mensch allzu n a h e zu rücken. Ist aber bis dahin der Schritt wirklich noch weit, nachdem er bereits b e h a u p t e t e , die einzelnen S t u f e n der Entwicklung des Menschengeschlechts ließen deutlich das W a l t e n Gottes erkennen, weil —• nicht obwohl in ihnen samt den R e a l i t ä t e n das G u t e „ a u s g e s t r e u t " sei? W e n n sich dieser G e d a n k e mit dem in der kleinen geschichtsphilosophischen Studie bereits vorausgesetzten der H u m a n i t ä t v e r b i n d e t , ist der i n n e r e Übergang zu der g r o ß e n Darstellung in den „ I d e e n " trotz allem stimmungsmäßigen Unterschied sehr wohl möglich 9 ). b) Die geschichtsphilosophische
Hauptschrift
Das große W e r k „ I d e e n zur Philosophie der Geschichte d e r Menschheit 1784 — 91, im klassischen J a h r z e h n t Weimars nach Ü b e r w i n d u n g des „ S t u r m u n d D r a n g " erschienen, ist sehr entgegengesetzt beurteilt w o r d e n . O f t sind sich theologische u n d nichttheologische K r i t i k e r d a r i n einig, d a ß es gegen d e n Geist der frischen Ursprünglichkeit der Schrift v o n 1774 ein Rückschritt, ja Rückfall in die G e d a n k e n der A u f k l ä r u n g b e d e u t e ; Litt hält es f ü r einen solchen „in bereits überw u n d e n e I r r t ü m e r " 1 0 ) . D ö r n e rügt, daß das „religiöse M o t i v " in ihm keine entscheidende Rolle m e h r spiele 1 1 ). Einem F u e t e r dagegen ist es n o d i zu religiös u n d theologisch 1 2 ). Die meisten B e u r t e i l e r heben die H e r a u s a r b e i t u n g des B e g r i f f s der H u m a n i t ä t h e r v o r , betonen 7 ) Vgl. Meinecke, Historismus, S. 422: „Sein junger Historismus w a r von vornherein w u r z e l h a f t v e r b u n d e n mit d e m D r a n g e nach schöpferischer Kulturarbeit". 8 ) Joh. T h y s s e n , Geschichte der Geschiditsphilosophie, 1936, S. 51: „trotz der H e r a u s s t e l l u n g des Eigenrechts der vergangenen Gestaltungen gibt es auch f ü r H e r d e r den ü b e r g r e i f e n d e n Sinn des Geschichtsaufstiegs". 9
) Vgl. G a d a m e r , ) a.a.O. S. 83.
Volk
und Geschichte
im D e n k e n
Herders,
1942,
S. 10.
10
» ) a.a.O. S. 133 ff. ) Geschichte der n e u e r e n Historiographie, 1911, S. 409. Seine v o m Geschichtspositivismus g e l e i t e t e Kritik erscheint unzulänglich. I2
16
jedoch audi, daß die Gedanken keineswegs immer klar hervortreten. Das hängt einmal mit der langen Entstehungszeit des Werkes zusammen, zum andern auch mit der persönlichen und schriftstellerischen Eigenart Herders, der gern von einem zum andern Gedanken bei einem stark persönlich und gefühlvoll gehaltenen Stil übersprang. Wie beurteilt der Dichter-Philosoph in dem Werk, das ihn auf der Höhe seines Schaffens zeigt, das Verhältnis von Natur und Geschichte? Welche Stellung nimmt der Mensch in ihr ein, wie ist demnach die Humanität zu verstehen? Worin besteht der religiöse Ertrag dieser Schrift? 1. Natur
und
Geschichte
Der in dieser Zeit besonders engen Freundschaft mit Goethe ist zu verdanken, daß in den ersten Büchern der Astronomie, Geologie, kurz der Naturwissenschaft ein breiter R a u m gegönnt ist. Herders eigene Neigung für alles, was naturhaft und gewachsen war, k a m dem entgegen. Da damals die Geschichtswissenschaft noch sehr in ihren Anfängen steckte, dachte der Gebildete mehr über die Dinge der Natur als über die Menschenwelt nach. F ü r die deutsche Aufklärung stand es ja damals im ganzen noch fest, daß von der Natur der Schluß auf Gott nicht nur möglich, sondern auch geboten sei. Es sind aber keineswegs nur persönliche Gründe oder gar Gesichtspunkte einer geschickten Anknüpfung, wenn Herder von der Gesetzmäßigkeit der Natur ausgeht, welche er hier im Gegensatz zu seiner Sturm- und Drang-Schrift stark betont. Auf die Kontinuität kommt es ihm an. Schon in. der „ V o r r e d e " behauptet er in der F o r m der F r a g e : „ D e r Gott, der in der Natur alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet, der danach das Wesen der Dinge, ihre Gestalt und ihre Verknüpfung, ihren Lauf und ihre Erhaltung eingerichtet hat, so daß vom großen Weltgebäude bis zum Staubkorn, von der K r a f t , die Erden und Sonnen hält, bis zum Faden eines Spinngewebes nur Eine Weisheit, Güte und Macht herrscht, Er, der auch im menschlichen K ö r p e r und in den K r ä f t e n der menschlichen Seele alles so wunderbar und göttlich überdacht hat wie, sprach ich zu mir, dieser Gott sollte in der Bestimmung und Einrichtung unseres Geschlechts im ganzen von seiner Weisheit und Güte ablassen und hier keinen Plan h a b e n " (13, S. 7). Daß sich in solchen Gedanken ein innerstes Anliegen, verbunden mit religiöser Ergriffenheit, die immer wieder durchdringt, ausspricht, zeigen folgende pathetischen Sätze, die mit lebendigen Ansdiauungsbildern geladen sind: „Ich beuge mich vor diesem hohen Entwurf der allgemeinen Naturweisheit über das Ganze meines Ge2 Fülling, Gesdiidite als Offenbarung
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schlechte, um so williger, da idi sehe, daß er der Plan der gesamten Natur ist. Die Regel, die Weltsysteme erhält und jeden Kristall, jedes Würmchen, jede Schneeflocke bildet, bildete und erhält auch mein Geschlecht: sie machte seine eigene Natur zum Grunde der Dauer und Fortwirkung desselben, solange Menschen sein werden" (14, S. 249/50). Von hier aus wagte Herder, die skeptische und naive Zurückhaltung der Aufklärung gegen die Geschichte überwindend, den Satz: „Ist indessen ein Gott in der Natur: so ist er auch in der Geschichte" (14, S. 207. — Vgl. 14, 244: „Der Gott, den idi in der Geschichte suche, muß derselbe sein, der in der Natur ist"). Genauer gesagt, wirkt Gott die Harmonie in der Natur dadurch, daß sich die entgegengerichteten Kräfte im großen All und kleinsten Bezirk gegenseitig beschränken und so ein „Maximum" von Dauer entstehen kann (14, S. 245). Eine solche Ordnung hat auch Bedeutung für die menschliche geschichtliche Welt. Herder ruft aus: „Mit diesem Leitfaden durchwandere idi das Labyrinth der Geschichte und sehe allenthalben harmonische göttliche Ordnung: denn was irgend geschehen kann, geschieht; was wirken kann, wirket" (14, S. 250) 13 ). Herder überwindet die Befangenheit der deutschen Aufklärung der Geschichte gegenüber dadurch, daß er ihr innerstes Motiv vertieft und erweitert, wenn nach ihm die vernünftige Ordnung der Dinge, durch die Gott in der Natur sich kundtut, auch für die Menschenwelt gilt. In ihr vernimmt der Mensch als das „Bild der Gottheit die Sprache Gottes in der Schöpfung d. i. er sucht die Regel der Ordnung, nach welcher die Dinge zusammenhängend auf ihr Wesen gegründet sind" (14, S. 245). Verstößt der Mensch gegen sie, so wird ihn die Natur selbst zur Ordnung rufen (14, S. 246) 14 ). Gott offenbart sich in Natur und Geschichte. So unternimmt er den Versuch, den naturphilosophischen mit dem geschichtsphilosophischen Idealismus auszugleidien. Es besteht demnach ein keiner Mittlerschaft bedürftiges Verhältnis von Natur und Menschenwelt zu Gott. Karl Barth sagt in seinem Bericht über Herder mit Redit, daß die Existenz des Menschen die „Teilnahme an Gottes Offenbarung zweifellos so direkt wie nur möglich in sich" schließe, wie entsprechend „die Natur in ihrer geschichtlichen Bewegung" „Handlanger und Spruch der Gottheit" sei 15 ). Nicht nur Gott 13 ) Der letzte Satz enthielt in der früheren Ausgabe den deistiedien Zusatz: „Selbst ein Gott könnte es nidit ändern, ohne daß er dies Wesen der Dinge mithin sich selbst zerstört", ebd. Anmerkung 1. 1 4 ) Zu der nahezu a u t o m a t i s é wirkenden Nemesis der Natur vgl. mann a.a.O. S. 38 ff. 15 ) Die protestantisdie Theologie im 19. Jahrhundert, 1947, S. 295.
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Stadel-
und Natur, sondern audi Gott und Geschichte gehören nach Herder „zuhaufe" 16 ). 2. Die reale Humanität und die konkrete Welt-Mystik Welche Stellung nimmt genauer der Mensch in diesem Kosmos ein? Herder beruft sich auf Leibniz, für den „die Seele ein Spiegel des Weltalls sei", so daß die Kräfte des Universums in ihr verborgen seien, die durch eine „Reihe von Organisationen" in Tätigkeit gesetzt werden können (13, S. 199). Umgekehrt verbürgt der Bau des Weltgebäudes „den Kern meines Daseins, mein inneres Leben, auf Ewigkeit hin" (13, S. 16), wodurch also ein enges, direktes Verhältnis von Mensch und Kosmos gegeben ist. Im Menschen erwachen die Kräfte der Vernunft und Ordnung, die bis zu dieser Stufe nach göttlichem Plan unbewußt das All regierten, zu bewußtem Leben. Dem Menschen wird dadurch eine bestimmte Verantwortung übertragen. An dieser Stelle liegt der Ursprung dessen, was Humanität ist. Herder definiert zunächst: „Humanität ist der Zweck der Menschennatur". Daß hier aber mehr und anderes als nur die Imago-Dei-Auffassung der Bibel, die das verantwortliche Menschsein als Gabe Gottes und Aufgabe des Menschen in inniger Verbindung versteht, gemeint ist, zeigt der zweite Teil des Satzes: „Gott hat unserem Geschlecht mit diesem Zweck sein eigenes Schicksal in die Hände gegeben" (14, S.207; von Herder als Überschrift gesperrt). Der Mensch ist selbständiger Mitarbeiter Gottes, nicht am Werke der Erlösung — Herder sieht in Jesus Christus nur den Verkündiger der Humanität —, sondern· am Weltprozeß, ja Fortsetzer Gottes geworden. Vernunft und Freiheit, feinere Sinne und entsprechende Triebe befähigen ihn zur Ausübung seiner Herrscherstellung vor der übrigen Kreatur. Gerade sie umschreiben die Humanität (13, S. 144ff., 154ff.). Mißbrauch der Freiheit und Vernunft rächt die geschichtliche Nemesis! Der optimistische Humanitätsgedanke beherrschte bekanntlich das 18. Jahrhundert; die aus ihm sich ergebende Ablehnung der Lehre vom radikal Bösen teilte Herder mit Goethe. Gleichwohl enthält der Herdersche Gedanke der Humanität wesentlich neue Elemente, die ihn die Aufklärung überwinden ließen, dem modernen Geschichtsdenken die Bahn brachen und schließlich zu einer neuen Religiosität jenseits von Bibel, Orthodoxie und Rationalismus geführt haben. An der Beurteilung der Paradieserzählung und der Anfänge der Menschheitsgeschichte durch Herder mag es noch einmal deutlich werden. le)
2·
ebd. S. 291.
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Sie ist für Herder natürlich Sage, wenn auch keineswegs eine irrige Vorstellung. In ihr ist die Erinnerung daran aufbewahrt, daß der Mensch in seinem Ursprung kein Wilder mit Raubtiereigenschaften gewesen sei. Die Tradition vom Paradiesgarten zeige an, „daß der Mensch nicht zur Wildheit, sondern zum sanften Leben geschaffen sei" (13, S. 430) ; denn „die älteste Tradition der frühesten Weltvölker weiß nicht von jenen Waldungeheuern, die als natürliche Unmenschen Jahrtausende lang mordend umhergestreift und dadurch ihren ursprünglichen Beruf erfüllt hätten". Erst „das Blut der Tiere" habe den Menschen wild gemacht, auch die „Bedrängnisse der bürgerlichen Gesellschaft" hätten dazu beigetragen (13, S.431), sagt er in einer Weise, die an Rousseau erinnert, dessen abstraktes Pathos er freilich, ablehnt. Der Friede ist nach ihm der eigentliche Naturzustand des Menschengeschlechts (13, S. 322). Kriege sind lästige Gleichgewichtsstörungen. Aber „nach unfehlbaren Gesetzen der Natur" drängt diese das Störende zurück und läßt „eine Art Gleichgewicht und Harmonie" entstehen (14, S.227) 1 7 ). Die „Friedlichkeit, nicht räuberische Mordverwüstung" ist das erste Merkmal der Humanität (13, S. 155). Daß es sich beim Menschen nicht um ein moralisches Sollen, sondern um eine echte Möglichkeit, die Realität werden kann, handelt, zeigt die Anordnung von Muskeln und Gliedmaßen, die mehr auf die Verteidigung als auf den Angriff angelegt sind. Für die körperliche Verfassung des Menschen sind entscheidend der aufrechte Gang, die beiden Hände und das überblickende Auge. Der Mensch kann so sein eigener Mittelpunkt sein, ein Gedanke, der für die Überwindung des starren Entwicklungs- und Fortschrittsschemas nicht ohne Bedeutung ist. Er ist „selbst Gewicht" auf der Waage (13, S. 146). Den „ersten Freigelassenen der Schöpfung" (ebenda) nennt ihn Herder, der imstande ist, Vernunft und Freiheit zu gebrauchen. Der Geschlechtstrieb, welcher in der Tierwelt sich durchweg sehr ungezügelt betätigt, wird durch die freiwillige Bindung der Ehe auf den rechten Weg gewiesen. Sie setzt bereits die den Tieren unbekannte Sprache voraus, welche nicht nur Mitteilungen äußerer Art, sondern die Gefühle der menschlichen· Seele hervorbringt, daß solche zu Tönen werden, die Bilder und Empfindungen ausdrücken, welche andere Menschen zutiefst verstehen. Daß tatsächlich „ein bewegter Lufthauch das einzige, wenigstens das beste Mittel unserer Gedanken n ) Vgl. Meinecke, Historismus, S. 446—448; dort audi Kritik an dieser ein wenig gewaltsamen Lösung Herders, die dessen eigene Entdeckung der Individualität zu gefährden sdieint. Die Gleichgewiditslehre „entsprang mehr einem nadi rascher Befriedigung dürstenden ethischen Bedürfnisse als dem Streben nadi reinster Erkenntnis' 1 (S. 448).
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und Empfindungen sein sollte" (13, S. 356), erhebt den Menschen zu einer ganz besonderen Würde und ist eine wichtige reale Grundlage der Humanität. Erst die Sprache ermöglicht Kunst und Wissenschaft. So tragen reale Faktoren zur Ausbildung der Humanität bei. Kein Zufall, daß aller europäische Fleiß nicht ausreicht, um einen tropischen Erdteil zu einem Kulturgebiet umzugestalten. Die dort im Körperlichen und Seelischen herrschende Frühreife verhindert ein wirkliches Aufreifen des Charakters und ein lebendiges geistiges Wachstum (13, S. 286). Mag auch das Klima auf diese Weise die Einheit des Menschengeschlechts verhindern, so beweist es ebenso in anderer Hinsicht seine „genetische Macht", welche wiederum die Humanität fördert. Schon vor Herder hatten andere, besonders auch Montesquieu, auf den starken Einfluß der klimatischen Gegebenheiten hingewiesen. Was aber Herder von ihnen unterscheidet, ist, daß bei ihm der Mensch und die Fülle der Kräfte, welche von Erde, Flora und Fauna ausgehen, eine größere Einheit im Sinne einer wechselseitigen Beziehung darstellen (13, S. 272) 18 ). Jedes Lebewesen hat in diesem Sinne sein „eigenes Klima", weil es dem „Klima" nach eigener Weise begegnet (13, S. 277). An diesem Punkt kann besonders deutlich werden, wie die realen Faktoren dem Menschen, der sich ihrer zu bedienen weiß, dazu dienen müssen und können, ihm zu seiner Individualität und Sittlichkeit zu verhelfen. In der Vermählung mit der Materie spiegelt sich in jedem Wesen „das strahlende Bild Gottes" (13, S. 274, Entwurf). Neben diese aus dem anorganischen und organischen Leben sich ergebenden Faktoren treten noch eine Reihe von Mächten und Wirklichkeiten, die dem menschlichen Miteinander entstammen. Solche sind ζ. B. Tradition, Gewohnheiten, denen die Aufklärung zutiefst mißtrauisch gegenüberstand. Liebe, Familienglück, Volk, Freundschaft sind Gegebenheiten, die Hintergrund und Voraussetzung der Humanität bilden. Gerade die individuelle Glückseligkeit ist nur auf dieser Grundlage möglich. Daß jene ganz wesentlich die Humanität ausmacht, ist einem Herder selbstverständlich (14, S.252; 13, 341, 383, 350). Sie sind nach Stadelmann geradezu Wechselbegriffe. Er hält sie für ein verweltlichtes: Deo frui 19 ). Von der Mystik führt ein Strom zum 18. Jahrhundert, das nur äußerlich geurteilt unmystisch ist 20 ). Herder steht durchaus in dieser 1β )
Vgl. Meinecke, Historismus, S. 452—54. Stadelmann, a.a.O. S. 93—96. a.a.O. S. 30, vgl. S. 112. 20 ) Für Lessing und Pestalozzi haben das L e i s e g a n g und D e l e k a t in „Lessings Weltanschauung", 1931, bzw. „Johann Heinrich Pestalozzi", 1928, nadigewiesen. 19 )
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Linie, gibt jedoch der Glückseligkeit und Humanität einen vom Konkreten gesättigten Inhalt, zu welcher die Realitäten, die uns dauernd umgeben, den Weg weisen. Moderner Realismus hat dies gerade an dem Dichter-Philosophen gerühmt, jedoch übersehen, daß seine realen Größen ihm nur deshalb so wichtig sind, weil sie uns anleiten sollen, den Schwerpunkt und die innere Mitte des Menschen in der innigen Verbindung der innersten menschlichen Existenz mit den konkreten geschichtlichen Gegebenheiten zu suchen, so daß aller dualistische abstrakte Idealismus vermieden wird. Die Beziehung auf die in Natur und Geschichte uns begegnenden Wirklichkeiten, die ein Teil unseres Selbst sind und werden können, ist bei Herder aber nur darum möglich und geboten, weil in diesen sich zugleich unmittelbar göttliche Offenbarung kundtut und vernehmen läßt, wie wir sahen. Wenn wir unter Mystik hier das Ineinanderfließen von Göttlichem und Menschlichem verstehen, so liegt Herders Humanitätsbegriff eine Mystik des Konkreten zugrunde. Wie bei der Mystik überhaupt bedarf eine solche audi keiner besonderen Offenbarung, da die Geschichte selbst dazu geworden ist. Sie wird mit Offenbarung gleichgesetzt und ersetzt sie. Der Glaube an die Geschichte hat hier eine seiner Wurzeln 21 ). Daß Herders Geschichtsdenken von einer zum Weltlichen gewandten konkreten Mystik getragen ist, mag an seinem Versuch gezeigt werden, die zerstörerischen Mächte mit der auf die Einheit des Alls angelegten Weltanschauung in Beziehung zu setzen. Sein realistischer Blick sieht jene durchaus. Er ist damit vor der Gefahr bewahrt, in bodenlose Skepsis zu verfallen, wenn böse Gewalten und rätselhafte Vorgänge ihre Übermacht zeigen 22 ). Herder weist zunächst auf Tatsachen hin und meint, in der Geschichte würden „wsit weniger Zerstörer als Erhalter" geboren, dementsprechend seien auch die „sanfteren Feldherrn" oder „stillen friedlichen Monarchen" zahlreicher als die Sulla und Alexander (14, S. 215/16). Daß ihm diese Behauptung, die uns heute ein wenig harmlos klingen mag, wesentlich ist, zeigt der bald folgende Satz: „Der Verfolg der Geschichte zeigt, daß mit dem Wachstum wahrer Humanität auch der zerstörerischen Dämonen des Menschengeschlechts wirklich weniger geworden sei; und zwar nach inneren Naturgesetzen einer sich aufklärenden Vernunft und Staatskunst" (14, S. 217). Er verweist auf die Tatsache der verkürzten Kriege und ihre Humanisierung, die sich nicht bestreiten ließen, wenn man sie mit den langen und grausamen des Altertums vergleiche. Tatsächlich zeichneten sich ja die Kriege des 18. Jahrhunderts, als dessen Kind Herder 21) 22 )
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Vgl. R. N i e b u h r , Glaube und Gesdiidite, 1951, S. 15. Hinweis auf Voltaire bei Meinecke, Historismus, S. 94.
hier redet, im Gegensatz zu früheren und späteren durch eine gewisse auf gegenseitiger Achtung beruhenden Milde aus. Auch in der Wohnweise sei ein Fortschritt vom Höhlenbewohner zum Kulturmenschen unverkennbar, ebenso sei der Unterschied vom ersten Floß zum europäischen Schiff nicht zu bestreiten. Auch hier wiederum helfen reale Erlebnisse und Begebenheiten die Humanität befördern, wenn ζ. B. der Handel die Völker auch in anderer Hinsicht näher bringt, der Ackerbau „das Menschen- und Eichelnfressen" aufhören läßt, das zunehmende Seßhaftwerden in Staaten dem Fremdling gesetzlichen Schutz gewährt (14, S. 242). Natürliche Triebe sind gerade Antrieb und Mittel der Humanität: „Das Bedürfnis nadi Nahrung sollte ihn (den Menschen) zur Arbeit, zur Gesellschaft, zum Gehorsam gegen Gesetze und Einrichtungen erwecken und ihn unter ein heilsames, der Erde unentbehrliches Joch fesseln." Dahinter steht die Absicht der Natur, an deren Stelle wir nach Herders „Vorrede" auch Gott setzen dürfen, die irdischen Bedürfnisse die Mutterhülle sein zu lassen, „in der ein Keim der Humanität sproßte" (13, S. 191). Diese irdisch gesättigte Humanität führt zu der aus einer entsprechenden Einsidit gewonnenen Forderung, daß es keine schönere Würde und kein besseres Glück für den Menschen gebe als in diesem höheren Sinne zu wirken (14, S. 244). Ein solcher Mensch darf gewiß sein, daß alle zerstörenden Mächte und Kräfte schließlich nicht nur unterliegen, sondern sogar noch dazu beitragen, das Reich der Humanität zu erreichen. In der Natur stellt diese oder Gott das zerstörte Gleidigewicht wieder her, wie wir sahen, in der Geschichte, der Menschenwelt, ist der Mensch bei seiner Begabung mit Vernunft und Freiheit aufgerufen, das Entsprechende zu tun. Dabei bewirken dieselben realen Bedürfnisse und Umstände, die zunächst herabziehend, zerstörerisch und verführend sind, die Herbeiführung der Humanität: Eine nachchristliche Abwandlung des Satzes, daß auch Teufel und Dämonen ungewollt letztlich Gott dienen müssen. Freilich ist es nun der eigenmächtige Mensch, der die Realitäten, in denen sich Gott kundtut, für sich arbeiten läßt. Daß der Mensch, eben auf Grund der Freiheit, die ihn zum absolut falschen Gebrauch verführen kann, diese mißbraucht und dadurch die direkte Beziehung zum Schöpfer des Alls verlieren kann, wird in der Mystik des Konkreten nicht bedacht; es wäre audi unmystisch. 3. Die humanitäre Religion als Grundlage und Ziel der Geschichte Vielleicht erscheint die vorausgegangene Skizzierung der Herderschen Gedanken über das Verhältnis von Gott — Natur — Mensch — Geschichte nicht ganz dem keineswegs in Begriffen, sondern in Emo23
tionen denkenden Herder gerecht zu werden. Mit Recht ist gesagt worden, Herders Humanitätsidee sei keine Abstraktion, sondern „eine von Gefühlen getragene Anschauung" 23 ). Hinter allem, was er über Natur und Geschichte schreibt, steht die religiöse Not und Frage, wie sich die neuen Erkenntnisse auf diesen Gebieten zur überkommenen christlichen Religion verhalten und ob diese nicht einem inneren Wandel unterworfen werden muß. Wir wenden uns dem Verhältnis von Religion und realer Humanität zu. Eine einfache Formel bietet sich zunächst an: Die Krönung der Humanität und ihr Inbegriff ist die Religion. Sie ist die „höchste Humanität" und als solche die „erhabenste Blüte der menschlichen Seele" (13, S. 161 u. 163). Erleichtert wurde Herder diese Anschauung durch den schon erwähnten Glauben, Jesus sei in seinem Leben und Lehren der Verkündiger der „echtesten Humanität" gewesen (14, S. 290) 2 4 ). Er unterscheidet dabei wie viele Aufklärer zwischen dessen Religion und der Religion an ihn, die das Werk der Späteren sei (14, S. 291). Zum Fortschritt und Sieg der christlichen Religion haben neben ihrer religiösen Geistigkeit auch wiederum reale Faktoren wie die hellenische Welt und die besondere Verfassung des Römertums beigetragen. Herder beklagt es aber, daß es bereits im Altertum bei der Verbreitung der christlichen Religion nicht immer milde zugegangen sei. Möndhtum und Kreuzzüge sind ihm vom humanitären Standpunkt eine Verirrung. Wird Herder mit dieser räsonierenden Kritik seinem Programm der realen Humanität untreu? Er hat gewiß nichts mit Hegels realer Dialektik in der Geschichtsbetrachtung gemeinsam; doch verstehen wir es nun, warum man gerade in den letzten Büchern seiner „Ideen" einen Rückfall in die „ungeschichtlich" denkende Aufklärung oder auch Spuren langsamen Alterns und Merkmale rechthaberischer Denkweise gesehen hat. Die sehr moralisch gefaßte Idee der Humanität scheint die Geschichte zu erdrücken 25 ). Aber trotz allem bleibt bestehen, daß sie mit ihren Strukturen wie Individualisierung, Fakten, Tradition überhaupt erst die Wichtigkeit gewinnen konnte, die sie in. der Folgezeit einnahm. Die Ausbreitung des Reiches der Humanität ermöglicht erst die autonome Geschichte der Menschheit. Beides hängt so eng zusammen, wie die mechanisch verstandene Naturbetrachtung das Aufkommen des autonomen Menschen bedingt und voraussetzt. Aus diesen inneren Gründen ist es kein Zufall, daß für Herder die Geschichte in den Mittelpunkt rückt; denn sie war ihm, 23)
R. Lehmann, H e r d e r s Humanitätsbegriff, in Kant-Studien 24 (1920), S. 243. Vgl. Lehmann, a.a.O. S. 244. 25 ) So Dorne, a.a. 0 . S. 148.
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wie Karl Barth sagt, nichts anderes als ein „makrokosmisch universal verstandenes Erlebnis" 2 6 ). Eine bestimmte auf religiöse Wurzeln zurückgehende Ergriffenheit von einem gewaltigen Geschehen, das sich in der Seele des Betrachters spiegelt, steht fraglos hinter Herders Erleben und Begreifen von Geschichte. Welche Religion? Gewiß nicht die hochmütige Bildungsreligion seiner Zeit, auch nicht die heilsgeschichtliche Betrachtung, wie sie sich aus der Bibel ergibt und in der Orthodoxie schematisiert wurde, sondern die Geschichte der Völker selbst wurde zur heiligen Geschichte. Die Nation — besser und zutreffender: Die Völkergruppe als kulturgeschichtliche Einheit — wurde dabei „in eine universale Ordnung eingereiht" 2 7 ). Folgerichtig wurde auch die heilsgeschichtliche Eschatologie, die von der Bewahrung des Volkes Gottes und der Besiegung der widergöttlichen Mächte handelt, aufgelöst, da das Volk Gottes sich zur in „Nationen" gegliederten Menschheit ausweitet und die Weltgeschichte nicht zum Weltgericht, sondern zum Schauplatz der Beförderung der Humanität wird. Eine besondere Offenbarung ist überflüssig, da, wie gezeigt, die Geschichte trotz allem Moralisieren, das sich bei Herder immer wieder geltend macht, selbst Offenbarung, keineswegs nur Stätte der Offenbarung geworden ist. An die Stelle des Heiles, das Gott den Menschen bringt, tritt dann der Glaube an die Geschichte, die wir selbst gestalten; das Wort: Ich bin zutiefst geschichtsgläubig!, das Goebbels einige Monate vor dem deutschen Zusammenbruch dem Volk, das damals gerade an der Geschichte irre wurde, als pathetisches Trostwort zurief, dürfte trotz allen Wandlungen, die der Geschichtsbegriff von der Bestimmung durch die Humanität über die Nation bis zum Gesellschafts-, Rasse- und Führer-Mythos durchlief, hier eine seiner Wurzeln haben. Die Behauptung Albert Schweitzers, der knappe Formeln liebt, Herder führe als der Erbe Shaftesburys die optimistisch-ethische Naturphilosophie „in eine entsprechende Geschichtsphilosophie" über 2 8 ), ist gewiß nicht falsch. Sie bedarf aber der Ergänzung und Vertiefung durch den Hinweis auf andere Hintergründe: 2 «)
a.a.O. S. 291. Antoni a.a.O. S. 264. Das Wort „Nationalismus" habe Herder geformt, ebd. S. 274. — Vgl. audi S r b i k , Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart, I 1950, S. 143: „Transzendente Teleologie ist mit dem Irdischen in der Gesdiidite, gesetzlicher Ablauf mit dem Einmaligen, unberechenbaren Besonderen verklammert". 27 )
28 ) Kultur und Ethik 2 , 1925, S. 88. — Zum Einfluß Shaftesburys auf Herders Humanitätsbegriff vgl. audi Lehmann a.a.O. S. 252 ff.
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Herders weltliche Mystik — „platonisch-neuplatonisch, christlichprotestantisch durchwärmter Weltglauben", sagt Meinecke 29 ) — weist gewiß in die Nähe des Pantheismus. Daß Herder in den Streit um Lessings angeblichen oder wirklichen Pantheismus, welchen Jakobi entfachte und aus dem sich innerhalb der gebildeten Welt im damaligen Deutschland ein Kampf um Spinoza entwickelte, mit seinem Buch „Gott" eingriff, ist bekannt. Er trat in ihm für den großen Philosophen ein, ohne ihm jedoch in allem zu folgen. Die Schrift „Gott" bestätigt das aus den Ideen gewonnene Bild (16, besonders S. 545/46, 561 ff., 568—571). In der „Vorrede" bekennt er sich zu dem Dreigestirn Spinoza, Shaftesbury und Leibniz und legt ein entsprechendes philosophisches Glaubensbekenntnis ab. Die Welt ist ein Gefüge ewiger, aber lebendig tätiger Kräfte, in dem sich Gott spiegelt. Nicht nur im allgemeinen Sein, sondern gerade auch in dem Besonderen zeigt er sich. Spinozas Gedankengänge werden so mit Hilfe von Leibniz flüssiger gestaltet. Wie die Monaden das ganze Universum widerspiegeln, so sei überall der Zugang zu Gott möglich, der das Ganze erfüllte. Dabei möchte Herder den Gedanken der Persönlichkeit Gottes festhalten. Wir können darum bei Herder nicht ohne Einschränkung von Pantheismus reden 30 ). Stadelmann spricht richtiger und der Herderschen Eigenart angemessener von einem „pantheistischen Gefühl", weil Herder nicht zu einer begrifflich klaren Antwort in dieser Frage gelangt sei 31 ). Ob es sich nun um einen mehr emotionalen oder auch gedanklich zu fassenden „Pantheismus" handelt, möge auf sich beruhen. Wesentlicher für unsern Zusammenhang ist die Feststellung, daß bei Herder Gott in die Welt der konkreten und individuellen Gegebenheiten geradezu hineingeschoben erscheint, aber so, daß er nicht in sie eingeht im Sinne des Wortes, das Fleisch wurde und unter uns 29 )
Historismus S. 468. Trotzdem ist F. J. S c h m i d t , Herders pantheistische Weltanschauung, Beri. Diss. 1888, noch immer wertvoll, weil sie in k l a r e r Darlegung und Gedankenführung, die überall Diltheys Einfluß erkennen läßt, die Einflüsse Shaftesburys und des mit Hilfe von Leibniz fortentwickelten Spinoza darlegt. — Man spridit besser von Panentheismus. Unter ihm versteht ζ. Β. Κ o r f f die Auffassung, nach der die endliche Welt das Gefäß oder die wandelbare Gestalt ist, durdi die Gott in unendlichen Verwandlungen hindurdigeht. D i l t h e y nennt die geistesgeschichtliche Linie, die von Herder über die Romantik bis zu ihm ein neues Verhältnis zu Gott, Natur und Geschichte sucht, den „entwicklungsgesdiichtlichen Pantheismus". Wenn man unter Pantheismus das Absehen von deistischen Gedanken und vom heilsgeschichtlichen Theismus versteht, bleibt für Herders Gottesbegriff kaum eine andere Bezeichnung übrig. Man darf aber diesen Begriff nicht pressen. 31 ) a.a.O. S. 58. 30 )
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sein Zelt aufschlug, sondern in ihnen eher aufgeht. Das scheint, auf eine knappe Formel gebracht, der Sinn von Herders „Weltglauben" zu sein. Die Weltgeschichte wird Hoilsgeschichte, nicht die Heilsgeschichte tritt in das Weltgeschehen hinein! Daß bei einer solchen Verflüchtigung des zweiten und dritten Artikels — darauf möchten wir besonders hinweisen, um über die bloße Behauptung hinauszuführen, der Idealismus habe an die Stelle Gottes den Menschen gesetzt! — der lebendigen christlichen Religion Abbruch geschieht, dürfte klar sein. Trotz aller irrationalistischen Grundhaltung entfernt Herder aus der Welt das Geheimnis (Mysterium), von dem jene lebt. „Wunder", „Begnadungen" und „Durchbrüche" sind nicht mehr nötig und möglich, wenn Gott nicht nur zum allgemeinen Natur- und Moralgesetz verflüchtigt wird, was schon bei Spinoza geschah, sondern auch da, wo sich Gott im konkreten und individuellen Geschehen so unmittelbar mitteilt, daß vom eigenen Mittelpunkt des Menschen jederzeit der Aufblick und Zugang zum All und zu Gott trotz zugestandener Umgrenzung durch das Umgreifende möglich ist 32 ). Die Generation nach Herder hat durchweg noch weniger Hemmungen gehabt, die von der Endlichkeit her gebotenen Schranken zu beachten. Eine eigene Ironie ist es, daß die großen Vertreter des deutschen Idealismus in der nachkantischen Philosophie nicht so sehr bei Herder einsetzten, sondern Kants „Idee", die doch gerade das endliche Bewußtsein voraussetzt, zum Ich und Absoluten umgestalteten. Die Geschichte trat dabei in Fichtes Denken vor der Ethik und bei Schelling vor der Kunst und Natur zurück, wenn auch beide über die Geschichte zu spekulativen Erkenntnissen zu gelangen sich bemühten. Bezeichnenderweise spielt sie aber bei den Dichtern und Denkern, die vom Sprachlichen ausgehen, eine größere Rolle; A. W. Schlegel und W. v. Humboldt bilden Herders Gedanken weiter. Unter den Philosophen hat erst Hegel ihr eine zentrale Bedeutung gegeben. Sie sollte aber nicht mehr so ungesichert dastehen, wie es bei Herder anscheinend der Fall war.
II. Hegels absolute Geschichte Wenn wir im folgenden versuchen, die Beziehung von Herders Idee der Geschichte, die im Gedanken der realen Humanität gipfelt und von „pantheistischem Gefühl", das sich auch als Mystik des Konkreten beschreiben läßt, erfüllt ist, zum dialektischen Begriff des Hegeischen objektiven Geistes aufzuzeigen, welcher in der absolut gesetzten Ge32 )
Vgl. dazu Dörne a.a.O. S. 138.
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schichte und der „Vergöttlichung" des Staates seine Krönung e m p f ä n g t , so handelt es sich auch hier nicht um die Klärung geschichtsphilosophischer Einzelfragen, auch nicht um die ausführliche Interpretation bestimmter B e g r i f f e in Auseinandersetzung mit der umfangreichen Literatur. Unserer Absicht gemäß wollen wir lediglich Hegels absoluten Begriff der Geschichte oder metaphysischen Historismus 1 ) als Versuch einer gewaltigen Vollendung dessen, was Herder unbestimmt ließ, erklären und ihn mit dem christlichen Glauben, aus dem er zu einem Teil hervorgegangen ist und zu dem er hinführen möchte, in Auseinandersetzung treten lassen. Die Zeit Goethes, die man auch die der „deutschen B e w e g u n g " genannt hat, versuchte das Universale und Individuelle in der geschichtlichen Wirklichkeit miteinander zu verbinden, das Ideale mit dem Empirischen zu versöhnen 2 ). Neben der Kunst war darum gerade die Geschichte der Gegenstand des Bemühens. Es dürfte darum kein Zufall sein, daß Hegel auf den Spuren Herders weiterschreiten konnte 3 ). Freilich genügte einem Hegel die nach F o r m und Inhalt sehr lockere Darstellung der Herderschen Ideen nicht 4 ). Das hindert nicht, setzt sogar voraus, daß Ausgangspunkt und Anliegen beider gleich sind oder zu sein scheinen. Auch Hegel betont, daß Gott nicht nur in der Natur erkannt wird, sondern entgegen falscher religiöser Demut „vornehmlich auf dem Theater der Weltgeschichte" (Philosophie der Geschichte I. Ausgabe Lassons, 1920, nach der im fortlaufenden T e x t zitiert wird: Ph. G., S. 18). An Herder erinnert der Satz: „ I n der Pflanze und im Insekt ist sie (göttliche Weisheit) die gleiche wie in den Schicksalen ganzer Völker und Reiche, und wir müssen Gott nicht für zu schwach halten, seine Weisheit aufs Große anzuwenden" (Ph. G., S. 19). Vernunft, Gott, Weisheit setzen beide Denker gleich, mögen auch gewiß sehr verschiedene Vorstellungen damit verbunden sein. Die Übereinstimmung geht zunächst nodi weiter, da sie nicht nur im Ansatz, sondern auch im Ziel besteht. Wenn Herder den Gang Gottes in der Geschichte darlegen möchte, so spricht Vgl. Löwith, Von Hegel bis Nietzsche S. 289. ) Vgl. audi Theodor S t e i n b ü c h e l , Ranke und Hegel, Große Gesthiditsdenker, 1949, S. 176. 3 ) Litt, die Befreiung des geschichtlichen Bewußtseins durch J . G. Herder, S. 181. 4) T r o e l t s c h » vielleicht zu hartes Urteil: Hegels „ V e r n u n f t " wollte über Herders „unerträgliche Konfusionen von Gesetzen sensualistischer Anpassung, von vorsehungsmäßiger Weltleitung, rationalistischem Moralisieren, individueller Gestaltung und pantheistischer Zusammenschmelzung hinauskommen", der Historismus und seine Probleme, 1922 = Bd. 3 der Ges. Schriften, S. 246. 2
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Hegel in den bekannten Schlußworten seiner Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte von ihr als der „wahrhaften Theodizee", der Rechtfertigung Gottes in der Geschichte. Kein Zufall, daß sich Hegel ausdrücklich auf den auch von Herder sehr geschätzten Leibniz beruft. Gewiß leitet Hegel seine Vorlesung mit der Forderung ein, daß die „Vernunft" allein Voraussetzung sei, nämlich der Gedanke, daß es „auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen ist". Aber das bedeutet keineswegs einen Rückschritt hinter Herder zum Rationalismus hin, dem beide vorwerfen, daß dessen Vernunftbegriff zu abstrakt und lebensfern sei. Handelt es sich bei Herder eben um reale Humanität, so kommt es Hegel auf eine reale Vernunft an, die nicht auf dem Wege abstrakten, normenhaften Denkens, sondern auf dialektischem gewonnen wird und sich in der Geschichte dauernd aktualisiert 5 ) . Erst an dieser Stelle tut sich in der uns beschäftigenden Frage die erste bedeutsame Kluft zwischen beiden auf. Hegel hat bekanntlich geglaubt, mit seiner dialektischen Methode die besonderen Wahrheiten der christlichen Religion sicherstellen zu können. Von der relativen Zurückhaltung gegen das Absolute, die nicht nur in Herders Frühschrift immer wieder durchdringt, ist Hegel weit entfernt. Offenbarung bedeutet für ihn in überspitzter, wenn auch logischer Formulierung, daß der Geist Gottes „keine Dunkelheit, keine Färbung" mehr zuläßt 6 ). Absoluter Geist ist darum hier nichts anderes als die dialektische Synthese vom Vater als Schöpfer und dem Sohn als „konkrete Einzelheit" 7 ). Diese Konkretheit wird in der Durchführung der Philosophie des Geistes immer mehr entfaltet. So versöhnt sich schließlich das Reich des Geistes mit der Weltlichkeit im Wirklichen 8 ). Göttlicher sich offenbarender Geist, Geist der Welt und Geist überhaupt fallen schließlich zusammen. Ganz folgerichtig in diesem Sinne betont Hegel bei der Grundlegung seiner Geschichtsphilosophie, daß in der christlichen Religion, in der sich Gott „den Menschen zu erkennen gegeben" hat, „er nicht mehr ein Verschlossenes, Geheimnis" sei, was zugleich heiße, daß den in Mysterien Gottes eingeweihten Christen „der Schlüssel zur Weltgeschichte gegeben" ist (Ph. G., S. 22,23). Der Weltglaube, der bei 5 ) Vgl. Meinecke, die Idee der Staatsraison in der neueren Geschichte, 1924, S. 434: Hegel hat den Vernunftbegriff „flüssig" gemacht. 6 ) Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, Ausgabe von Glockner XII, S. 228. ') § 467 Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, Ausgabe von Glockner VI. S. 306. 8 ) Phil, der Religion, a.a.O. S. 340 ff.
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Herder noch stark emotional bestimmt und nicht immer bis zur letzten Folgerichtigkeit durchgeführt wurde, nimmt bei Hegel diese geschlossene Form an, eine Haltung, die Luthers Anschauung, daß Gott sich in seiner Offenbarung nur sicut pro nobis kundtut, preisgegeben hat. Aber gerade an dieser Stelle gilt es zu beachten, daß die geschichtliche Dialektik der weltgeschichtlichen Betrachtung keineswegs ein unlebendiges Schema aufzwingt, sondern ihr geradezu den Charakter ausgesprochen realer Dynamik verleiht, die Herders Geschichtsphilosophie an Gehalt und Einsichten bei weitem übertrifft. Hegel bestreitet es, die Geschichtsschreibung vergewaltigen zu wollen, sein Sinn ist gerade auf das Konkrete gerichtet: „Die Geschichte hat nur das rein aufzufassen, was ist, was gewesen ist, die Begebenheiten und Taten. Sie ist um so wahrer, je mehr sie sich nur an das Gegebene hält und . . . je mehr sie dabei nur das Geschehene zum Zweck hat " (Ph. G., S. 3) 9 ). Darum darf Hegel sagen, das Merkmal des objektiven Geistes, der die Geschichte konstituiert, ist seine Individualität 1 0 ). Diese ist „tätig, schlechterdings lebendig", so daß sie „sidi selbst zum Gegenstand" haben kann (Ph. G., S. 31). Weil dies der Fall ist, ist sie „wirklich". Der berühmte Satz in der Rechtsphilosophie: „Was vernünftig ist, ist wirklich, und was wirklich ist, ist vernünftig" will ja sagen, daß nicht alles Vorhandene schon „wirklich" sei. Dies kann für den Philosophen oft nichts anderes als ein „ F a u l e s " sein, sondern von Wirklichkeit kann nur die Rede sein, wenn die Idee sich vernehmbar macht, also dem Geist bewußt und damit real wird. (Ph. G., S. 55, 5 6 ) u ) . Die Natur ist für den „Geist", das ist den bewußt lebenden Menschen nicht mehr inneres Gesetz, das im Menschen nur verantwortungsvoll hingenommen wird, wie Herder noch das Verhältnis des Menschen zur Natur beschreibt. Der „Geist" kennt darum auch eine andere Zeit als die Natur. Die Natur begnügt sich mit dem Wechsel des einzelnen, bei dem die Gattung bleibt, während in der geistigen Welt eine „Veränderung nicht bloß an der Oberfläche, sondern im B e g r i f f " vor sich geht (Ph. G., S. 134). Die Geschichte ist die Auslegung und das Zu9 ) Vgl. hierzu S i m o n , Ranke und Hegel, 1928 = Beiheft 15 der Hist. Zeitschrift S. 126, der hier mit Redit „die dichteste Annäherung an R a n k e " feststellt. 10 ) Deshalb rechnet ihn Meinecke zu den Vertretern des deutschen Historismus; Staatsraison S. 449/50, 453. u ) Vgl. K u r t L e e s e , die Geschichtsphilosophie Hegels auf Grund der neu erschlossenen Quellen untersucht und dargestellt, 1922. S. 44. — Leese, der mit anderen, z. B. Troeltsch a.a.O. S. 243—277, den dialektischen Charakter der Hegeischen Philosophie gut herausarbeitet, bietet im ganzen ein gründliches R e f e r a t der Hegeischen Geschichtsphilosophie.
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sich-selbst-Kommen in der Zeit. Sie hat darum dialektischen Charakter. Gewiß bestreitet Hegel nicht, daß die Völker auch „Naturwesen" sind (ebenda 134). Er weiß sehr viel über geographische und andere Bedingtheiten zu sagen, warnt jedoch vor Überschätzung des Klimas (Ph. G., S. 180). Der dialektische Prozeß der Geschichte selbst ist ihm wichtiger als konkrete Gegebenheiten dieser Art, in denen ein Herder die notwendigen Hüllen und Voraussetzungen der Humanität erblickte. Trotzdem entwirft Hegel ein viel realeres und lebendigeres Bild von der Weltgeschichte. Offenbar'hat er mit der Hervorhebung des Staates und mit der Aufzeigung des dialektischen Charakters alles Geschichtlichen etwas ganz Wesenhaftes getroffen. a) Hegels
reale
Konstruktion der Weltgeschichte und ihr profanmystischer Charakter Auch an dieser Stelle scheint zunächst eine Abhängigkeit von Herder vorzuliegen. Er übernimmt dessen Schema Kindheit —· Jüngling —• Mann — Greis, das er auf die Weltgeschichte, soweit sie „wirklich" ist, anwendet. Als Grundlage dient ihm aber nicht die Humanität, sondern sein Leitgedanke ist die Freiheit. Den einzelnen Volksgeistern weist er die Aufgabe zu, diese Stufenhaft in. der Weltgeschichte zu entfalten. Ohne die Schwierigkeiten einer umfassenden Auslegung des Begriffs „Volksgeist" zu verkennen, begnügen wir uns hier mit dem Hinweis, daß Hegel ihn als ein Individuum faßt, das zwar „allgemeiner Natur" ist, aber ein bestimmtes, „d. h. ein Volk überhaupt" und als solches mit Bewußtsein, das ist Wissen um sich selbst ausgestattet ist (Ph. G. S. 36). Freiheit hängt also mit Bewußtsein von sich und seinen Aufgaben in der Welt, in der Geschichte zusammen. So leitet der objektive Geist eines Volksgeistes, unter dem Hegel mit Herder eine Völkergruppe versteht, aber diesen im Gegensatz zu ihm auch politisch-staatlich geformt sieht, zur Weltgeschichte über, welche die besondere Stätte des Weltgeistes ist. In Auseinandersetzung der einzelnen Volksgeister untereinander, im dialektischen Gegeneinander, im realen Kampf und Streit verwirklicht der Weltgeist seine Ziele. Damit fällt das letzte Starre und Moralisierende, das nodi der Herderschen „Humanität" anhaftete. Die Weltgeschichte ist nun nicht mehr nur leider auch, sondern notwendigerweise Kampfplatz geworden, und nur so kann sich der Weltgeist betätigen. Die großen Persönlichkeiten, die, äußerlich gesehen, so viel Unglück über die Völker gebracht haben, konnten so als Werkzeuge der „List der Weltvernunft" zugleich Vollstrecker und Verkörperer des Weltgeistes sein·. 3L
Hegel ist aber weit davon entfernt, im Sinne eines modernen „Realismus", also einer bloß vordergründigen Betrachtung der Tatsachen, die Macht um jeden Preis anzuerkennen, obwohl man behauptet hat, er habe die Handhabe dazu gegeben. Es kommt ihm vielmehr darauf an, den Weltgeist mit dem göttlichen, absoluten Geist zu verbinden, zu identifizieren. Dazu dient ihm u. a. auch der Gedanke der Allgegenwart Gottes: „Insofern Gott allgegenwärtig ist, ist er bei jedem Menschen, erscheint im Bewußtsein eines jeden", dann heißt es sofort: „und dies ist der Weltgeist" (Ph. G., S. 37). Er ist also die Naht, die Gott, das Absolute, mit den Völkern, die in der Geschichte notwendigerweise miteinander ringen, ganz eng verbindet, ja er wirkt unmittelbar in ihnen und durch sie, um in diesem dialektischen Prozeß zu sich selbst zu kommen. Den besonderen Ausdruck verschafft sich der Weltgeist, der am Absoluten teilhat, im Staat. In ihm verwirklicht sich die höchste Stufe des objektiven Geistes, da bereits der absolute in ihn hineinragt und ihn entscheidend bestimmt. Denn es ist gerade die Religion, die dem Volk das Bewußtsein von dem gibt, was es ist (Ph. G., S. 105). Der Staat muß darum auf der Religion beruhen, was bedeutet: „Das Prinzip des S t a a t e s . . . wird gewußt als Absolutes, als Bestimmung des göttlichen Wesens selbst" (Ph. G., S. 107). In dieser Vergöttlichung des Staates, wie man gesagt hat, ist die Religion wesentlich mehr und umgreifender als die Krönung der Humanität, die schließlich fehlen könnte. Sie ist die „Substanz" des Staates 12 ). In der Betonung der konkreten Staaten, welche über Herder und die Aufklärung hinausführt, und dem Nachweis, daß diese die Geschichte ausmachen und vorwärtstreiben, liegt, wie wir wissen, die große Bedeutung der Hegeischen Geschichtsphilosophie, die als solche bis heute —, nicht nur in totalitären Staatsanschauungen, nodi nachwirkt. Der Machtstreit der Staaten und Völker, der als der eigentliche Inhalt der Weltgeschichte gilt, scheint durch jene besonders gerechtfertigt zu sein, was Hegel in dieser Form gewiß nicht gewünscht hat 13 ). Die Geschichte der Völker und Staaten, die W eltgeschichte, ihm die wichtige Stelle erhalten, weil sie der Schnittpunkt
hat bei des abso-
12 ) Franz R o s e n z w e i g , Hegel und der Staat, 1920, S. 182, macht auf die gleiche Gliederung der Religions- und Weltgeschichte in Hegels System aufmerksam. — Dieser Staatsgedianke hat audi „heidnische" Wurzeln, die bis in Hegels Anfänge zurückreichen (Meinecke Staatsraison, S. 437 ff). 13 ) Er möchte eher die Unabhängigkeit der Staaten durch Verträge und Rechtsgründe bestimmt sehen, vgl. Ph. G. S. 127. — Auseinandersetzung braucht nicht immer Krieg und gewissenlose Diplomatie zu heißen.
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luten, göttlichen Geistes mit dem objektiven, menschlichen Geiste ist, wobei in dem dialektisch vorgestellten und ablaufenden Geschichtsprozeß das Ineinander-verwoben-sein beider auf ein bestimmtes Ziel hinführt. Oder soll man sagen, daß das Absolute der Prozeß selbst sei 1 4 ); das würde zugleich den metaphysischen Historismus verdeutlichen. Lebendige Anschaulichkeit und konkrete Erfüllung gewinnt der Weltgeist erst durch die Welt-Geschichte, indem er gestaltend zuschaut und zuschauend gestaltet, aber jedesmal ganz in das Getriebe des Weltgeschehens eingespannt ist. Das Absolute kann sich nur in der Weltgeschichte realisieren, wie diese durch ihren Ablauf selbst schon das Absolute im Staate und der Weltgeschichte der Erfüllung näher bringt. Hegel konnte so die „Verbindung von rücksichtslosem Realismus in der Anerkennung der Wirklichkeit und transzendierender Betrachtung alles Lebens von höchstem metaphysischen Punkte aus" vornehmen 1 5 ). Die Verbindung beider scheinbar entgegengesetzter Mächte gibt die Weltgeschichte ab, die zum absoluten eine direkte Beziehung hat und bei Hegel geradezu profan-mystischen Charakter erhält. b) „ F r e i h e i t " als Grundlage
und Sinn der
Weltgeschichte
Daß Hegel unter Freiheit nicht das meint, was wir heute unter religiöser Freiheit verstehen, bedarf nach dem Erörterten keiner besonderen Betonung; ebenso ist es klar, daß seine Freiheit nichts mit den politischen Programmen heutiger Parteien und Kontinentprogramme zu tun hat. Freiheit trägt bei ihm metaphysischen Charakter, ihr Begriff ist dialektisch geprägt. Schon die nähere Ausführung des berühmten Satzes: „Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der F r e i h e i t . . . , den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben", zeigt in seine* Anwendung auf die Orientalen, bei denen nur einer frei sei, die antike Welt, in der nur einige frei seien, und die abendländisch-christliche Welt, in der alle frei sind (Ph. G., S. 40), deutet darauf hin, daß das Wesentliche nicht im Äußeren zu suchen ist. Während die Natur keinen Mittelpunkt kenne, sondern nur Notwendigkeit und Zufall zeige 16 ), ist es ein wesentliches Merkmal des Geistes, daß er den Mittelpunkt in sich trägt; darum ist die Freiheit „die Substanz" des Geistes (Ph. G., S. 32). Der Mensch kann sich darum im Gegensatz zur Tierwelt über seine Triebe er14
) So S i m o n , a.a.O. S. 156.
15
) M e i n e t k e , S t a a t s r a i s o n , a.a.O. S. 458.
le
) E n z y k l o p ä d i e § 1 9 3 , a.a.O. S. 147.
3 Fülling, Geschichte als Offenbarung
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heben (Ph. G., S. 34). Freiheit heißt nichts anderes als sich in Übereinstimmung mit der inneren Forderung befinden (Ph. G., S. 51). Sie ist darum auch etwas anderes als Herders Humanität, weil sie die Glückseligkeit verachtet. Das „Wissen" und „Hervorbringen" des Geistes ist „das höchste Gebot", also eine Pflicht, jedoch kein abstraktes Sollen in Kantischer Weise. Die Erfüllung des Gebotenen wird erst dadurch sinnvoll und möglich, daß Staat, Volk und Weltgeschichte die notwendigen Voraussetzungen zur Realisierung des Absoluten sind: „Die Weltgeschichte ist die Darstellung des göttlichen, absoluten Prozesses des Geistes. . . die Gestaltungen dieser Stufen sind die welthistorischen Volksgeister, die Bestimmtheiten ihres sittlichen Lebens, ihrer Verfassung, ihrer Kunst, Religion und Wissenschaft" (Ph. G., S. 52). Hegel überwindet durch die unbedingte Einordnung des Menschen in die vom Geist hervorgebrachten Formen des Zusammenlebens in Staat und Geschichte den Gedanken vom allgemeinen Menschentum dadurch, daß er das Göttliche ganz in die konkrete Menschlichkeit eingehen läßt, so daß -weder Raum für allgemein Menschliches noch für eine besondere Offenbarung Gottes bleibt. Im dialektischen Prozeß sind Göttliches und Menschliches, Absolutes und Bedingtes, Weltgeschichte und Volksgeschichte so ineinander geschachtelt, daß man das eine aus dem andern und umgekehrt ableiten kann. Obwohl Hegel ganz gewiß gegen die Linkshegelianer Einspruch erhoben hätte, als sie des Meisters angeblich abstrakten Gebilde mit neuem konkreten Inhalt füllten, den sie z. T. aus den Forderungen des Tages ableiteten, hat er durch seinen „Weltgeist", der keine echte Offenbarung zuläßt, welche unsere Welt in Frage stellt, die Möglichkeit dazu geboten 17 ). Die von Hegel erhobene Forderung nach „Konkretheit" richtete sich nunmehr gegen ihn selbst. Tatsächlich ist ja für das Bewußtsein der heutigen Menschen das „abstrakt", was Hegel „konkret" nennt, nämlich die Geist-Gefülltheit der Wirklichkeit. Aber der „Geist" ist als solcher bereits bei Hegel nicht mehr zu erkennen, da er ganz in die „Wirklichkeiten" eingegangen ist. Kann man von einem Ruge etwas anderes erwarten, daß ihm die politisch-soziale Sphäre die einzige Wirklichkeit ist, da bereits Hegel die Lektüre der Zeitung, die uns jeden Tag über das Neueste auf diesem Gebiet unterrichtet, als „politischen Morgensegen" bezeichnet hat. In einer solchen metaphysischen Nacht, in der nur noch die „Realitäten" leuchten, stirbt der Glaube, wenn die Nacht weicht und nur sie dann noch greifbar sind. " ) V g l . H. Τ h i e 1 i c k e , Theologische E t h i k I, 1951, S. 293 (§ 863).
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c)
Beurteilung
Wir wiesen wiederholt darauf hin, daß Hegels dialektische Geschichtsbetrachtung auf jeden Fall nicht die Geschichte vergewaltigen, sondern konstruierend darstellen wollte 18 ). Ferner meinten wir sagen zu können, daß seine Geschichtsdarstellung die Herders an Wirklichkeitssinn und Realitätsbewußtsein weit überragt. Um so mehr muß es uns überraschen, daß die folgenden Generationen einem Hegel die spekulative und angeblich unrealistische Art seiner Dialektik zum Vorwurf machten. An den Wandel der Zeit, den Goethes und Hegels Tod bedeutet, und das neue Realitätsbewußtsein erinnerten wir gerade. Nicht nur Ruge, sondern auch Marx und Feuerbach kam es auf „wirkliche Existenz" im Gegensatz zu der dialektischen, angeblich nur gedachten „Wirklichkeit" Hegels an 19 ). War es nur die dialektische Methode des Meisters, welche die Waffen zum Kampf gegen diesen lieferte? Nach dem bereits Ausgeführten liegen die Gründe dafür, daß die Hegeische Linke das Erbe des Philosophen an sich riß und dessen Motiv ins Gegenteil verkehrte, in der Sache selbst begründet. Da im Hegelianismus jeder echte Abstand zu Gott und jede lebendige Offenbarung fehlten, da diese restlos in die Geschichte eingegangen sind und die Weltgeschichte selbst Offenbarung geworden ist, war es unter dem fordernden Drudi, der von der sich wandelnden politischen, sozialgesellschaftlichen und menschlichen Welt ausging, verhältnismäßig einfach, auf jene metaphysischen Größen, die der Meister mit seiner Kunst der Dialektik noch sicherstellen wollte, ebenso dialektisch zu verzichten. So hat Hegels geistvoller Wirklichkeitsbegriff (und Herders Weltglauben) das Aufkommen des modernen glaubenslosen Realismus geradezu ermöglicht und gerechtfertigt. Als einige Jahrzehnte später die Metaphysik noch fragwürdiger wurde, blieb von Hegels Geschichtsbegriff eigentlich nur nodi der Glaube an den Sinn der Geschichte ganz allgemein zurück als Religions- und Philosophie-Ersatz 20 ). Er ist freilich nur noch ein matter Abglanz von der Fülle des 18 ) Fueters maßlose Polemik ist ohne tieferes Verständnis, Gerechter urteilt Srbik, a.a.O. S. 185 ff.
a.a.O.
S. 431 ff.
19 ) Im einzelnen zeigt das gründlich Löwith in seinem schon genannten Werk „Von Hegel bis Nietzsche", das endlich eine große Lücke in der deutschen Philosophie- und Geistesgesciiichte schließt. 20 ) Vgl. Löwith, a.a.O. S. 289: „denn was ist billiger als zu glauben, daß in der langen Zeit der Geschichte alles was irgend einmal geschah und folgenreich war, einen Sinn und einen Zweck haben müsse! Auch wer gar nichts von Hegel weiß, denkt nodi heute in seinem Geist, sofern er nur überhaupt seine Bewunderung f ü r die Macht der Gesdiichte teilt und sich über die Forderungen und Miseren des Alltags ,welthistorisch' hinwegsetzt".
8·
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Lichtes, mit der Hegels profan-mystische Geschichtsphilosophie einstmals das Weltgeschehen zu erhellen versucht hat! Wir meinen schließlich, daß es wenig Ertrag verspricht, dies Versagen Hegels von seinem logisch-dialektischen „Pantheismus" abzuleiten. Der Name sagt hier wie im Falle Herders recht wenig, wichtiger wäre es schon nach den Hintergründen eines solchen Vorwurfs zu fragen. Daß bei Hegel die Heilsgeschichte zur Weltgeschichte wird oder umgekehrt letztere sie ersetzt, ist bei ihm ebenso deutlich wie bei Herder; da der persönliche Gott überflüssig wird, redet man von „Pantheismus", obwohl beide letzteren verwerfen. Im Unterschied zu Herder bemüht sich aber Hegel, die Offenbarung, die im zweiten und dritten Artikel uns gegeben ist, mehr zu sichern, als es bei jenem der Fall ist. Gerade weil ihm die Absolutheit des Christentums wesentlich ist, läßt er den Geschichtsverlauf in ihm gipfeln. Wenn ihm dabei unter der Hand die eschatologische Heilszeit und Endzeit zur Weltgeschichte wurde, ist nicht einmal das am meisten zu bemängeln, daß er Kommendes und Zukünftiges in die Gegenwart der horizontalen Weltgeschichte verlegt hat. Ist doch die biblische und christliche Enderwartung schon selbst in der Gegenwart spürbar! Die „Zeichen der Zeit" und die Tatsache des Vorhandenseins des „Volkes Gottes", die Gemeinde, deuten darauf hin, beweisen es! In Hegels verweltlichter Eschatologie wird aber die Gemeinde zur profan-mystischen Weltgeschichte ausgeweitet, d. h. entwertet, und die „Zeichen" werden entsprechend zu Stufen des Weltgeistes in den Volksgeistern, die zusammen wiederum die Weltgeschichte ausmachen. In dieser Weltgeschichte gibt es keinen Kampf mehr zwischen Gottes- und Weltreich, weil dies das Gottesreich „aufgehoben", d. h. doch hier beseitigt hat. Schließlich hat man gesagt, es sei kein Zufall, daß Hegel die Weltgeschichte im Präsens erzähle. Sie ist ihm in der Tat erfüllte Zeit, Gegenwart, Gipfelung der Vergangenheit, was zugleich bedeutet, daß der Entscheidungsruf im Hier und Jetzt der christlichen Botschaft wiederum uferlos ausgeweitet und damit gegenstandslos wird. Solche Gesichtspunkte erscheinen uns wichtiger als Betrachtungen über Hegels sogenannten Pantheismus.
III. Diltheys geisteswissenschaftliche Philosophie des Lebens und die Frage der geschichtlichen Relativität a) Die Voraussetzungen Kurz nach Hegels und Goethes Tod wurde im Jahre 1833 Wilhelm Dilthey geboren. Während das System des großen Philosophen von 36
den Schülern zersetzt wurde und das Unternehmen der absoluten Philosophie selbst in eine Krise geriet, die bis heute noch anhält, so hatten die Gedanken des Lebensphilosophen Dilthey das entgegengesetzte Schicksal. Sie wurden von treueren Schülern gewiß weitergebildet, aber doch besser aufbewahrt als Hegels geistige Welt. Die Grundsätze dieses Denkers, den Ortega y Gasset für den bedeutendsten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hält 1 ), wirken sich erst heute mehr und ganz aus, wozu erheblich das vertiefte und in mancher Hinsicht andersartige Bild beigetragen hat, das man durch die Herausgabe des Diltheyschen Nachlasses gewann 2 ). Galt einer früheren Betrachtung Dilthey als der Antipode seines großen Zeitgenossen Nietzsche, dessen Verachtung der Historie man Diltheys scheinbar nur nach rückwärts gewandten Historismus gegenüberstellte 3 ), so betonen neuere Untersuchungen die Gemeinsamkeit beider Philosophen, die vom „Leben" ausgehen und ihm dienen wollen 4 ). Dilthey selbst spricht von Nietzsche als dem „tiefsten Philosophen der Gegenwart" (8, S. 227. Im fortlaufenden Text zitieren wir Dilthey selbst nach der großen Ausgabe seiner Gesammelten Schriften, in welche auch die wichtigsten, bis dahin unveröffentlichten Entwürfe aufgenommen sind). Mit ihm stellt er die Forderung nach radikalem Wirklichkeitssinn und solcher Diesseitigkeit, die der damaligen Zeit das Gepräge gaben. Er zitierte in einer Vorlesung „System der Philosophie" Goethes Faust: Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt; Tor, wer dorthin die Augen blinzelnd richtet, Sich über Wolken Seinesgleichen dichtet! Er stehe fest und sehe sich hier um, Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm. 1)
a.a.O. S. 67. Vgl. Srbik II, 1951, a.a.O. S. 250/51. 3 ) Auch nodi H. H. S c h r e y Existenz und Offenbarung. Ein Beitrag zum diristlichen Verständnis der Existenz, 1947, S. 13 ff., der bei allen trefflichen Analysen im einzelnen von der „musealen Verfehlung der Zeitlichkeit des Menschen" bei Dilthey spricht. 2)
4 ) Z. B. A r t h u r L i e b e r t , Wilhelm Dilthey. Eine Würdigung des Werkes zum 100. Geburtstag des Philosophen, 1933. — 0 . F. B o l l n o y , Dilthey. Eine Einführung in seine Philosophie, 1936. — Hans R. G. G ü n t h e r , Wilhelm Diltheys Weltanschauungslehre, in: Festschrift f ü r Eduard Spranger, 1942, S. 1 7 1 — 1 8 3 . — G. M a s u r , Wilhelm Dilthey und die europäische Geistesgeschichte in: Deutsche Vierteljahresschrift f ü r Literatur und Geistesgeschichte 1 2 (1934), S. 479—503, betont Diltheys Streben zur Universalgeschichte. -— Hinter diesen Arbeiten scheint zugleich das Bemühen zu stehen, Dilthey vor Nietzsche, der sich in den 30er Jahren besonderer Wertschätzung in Deutschland erfreute, nicht zurücktreten zu lassen. — Kritischer A n t o n i , Vom Historismus zur
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Unter Berufung auf die Fortschritte in der Wissenschaft und das Schwinden des Glaubens an absolute Ordnungen ermahnt er seine Studenten um die Jahrhundertwende, sich „mit diesem Wirklichkeitssinn" ganz durchdringen zu lassen (8, S. 197 u. vorher). Dabei ist er wie Nietzsche in seiner Beschwörung: Brüder, bleibt der Erde treu! genau so wenig von der Idee des unbedingten Fortschritts überzeugt. Wie Nietzsche, der die „Heraufkunft" des Nihilismus spürt, sieht Dilthey die Gefahr einer bodenlosen Skepsis, die zur „Anarchie des Denkens" führen kann (ebenda, S. 198). In der Lösung dieser Krise unterscheiden sie sich allerdings beträchtlich. Dilthey warf Nietzsche vor, er habe das Individuum inhaltlich entleert und von der Geschichte isoliert: „Die alten Götter müssen wir mitnehmen in jede neue Heimat. Nur der lebt sich aus, der sich dahingibt... Umsonst suchte Nietzsche in einsamer Selbstbetrachtung die ursprüngliche Natur, sein geschichtsloses Wesen. Eine Haut nach der andern zog er ab. Und was blieb übrig? Doch nur ein geschichtlich Bedingtes: Die Züge des Machtmenschen der Renaissance". Es folgen die bedeutsamen Sätze, die Diltheys ganzes Programm enthalten: „Was der Mensch sei, sagt ihm nur seine Geschichte" (8, 224, von uns gesperrt) 5 ). Damit gibt Dilthey den entscheidenden Grundgedanken seiner Lebensphilosophie an, den Gedanken der Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins. Er setzt diese natürlich nicht in dem Sinne absolut, wie es Hegel getan hat. Die Abneigung gegen alles konstruierende Denken verbindet ihn wiederum mit Nietzsche. Man hat gesagt, er habe Hegels Philosophie und Geschichte des Geistes zur Geistesgeschichte umgestaltet, die etwas ganz anderes ist als die erstgenannte Größe 6 ). Dabei bleibt die Hegeische Fragestellung, wie innere Entwicklung in der Geschichte möglich sei, bei Dilthey bestehen, ist ja auch heute nodi lebendig, nur die definitive Antwort ist fraglich geworden, wie der historische Relativismus zeigt, mit dem Dilthey und besonders Troeltsch schwer gerungen haben 7 ). Zwischen Hegel und Dilthey steht zunächst der Positivismus und der vordergründige Realismus des 19. Jahrhunderts. Dilthey und Nietzsche sind durch ihn gegangen und auch von ihm bestimmt worden. Das 19. Jahrhundert steht ja geistesgeschichtlich unter dem Soziologie, 1951, S. 13. — Besprechung der Literatur über Dilthey und Würdigung seiner Philosophie v. H. H. Schrey: Leben, Geschichte, Existenz. In: Theol. Rundschau 16 (1944) 1/3 S. 20—37. 5 ) Bollnow zum Verhältnis Dilthey—Nietzsche, a.a.O. S. 197—199. ·) Löwith, Von Hegel bis Nietzsche, S. 87. 7 ) G. K r ü g e r , Die Geschichte im Denken der Gegenwart, 1947, S. 27. 38
Zeichen der Auseinandersetzung des Positivismus mit dem Idealismus, was sich ganz besonders bei Dilthey auswirkte, der in vieler Hinsicht typisch für das vorige Jahrhundert ist. Aber man hat wohl die Beeinflussung Diltheys durch den Positivismus übertrieben 8 ). Unser Philosoph ist viel mehr geformt worden durch den deutschen Idealismus, besonders durch dessen Dichtung, der immer seine ganze Liebe und ein Teil seiner Beschäftigung gegolten hat. Auch die Romantik hat natürlich auf ihn gewirkt. Seine Tätigkeit in Basel begann er im Jahre 1867 mit einem Bekenntnis zur „dichterischen und philosophischen Bewegung in Deutschland 1770—1800" (Antrittsvorlesung = 5, S. 12—27), und an seinem 70. Geburtstag im Jahre 1903 betonte er erneut, was in seinem Werden neben dem philosophischen Lehrer Trendelenburg ihm Humboldt, Savigny und Grimm bedeutet haben (5, S. 7). Selbstverständlich wurden diese Eindrücke (schon sehr früh) durch das moderne Wirklichkeitsbewußtsein erheblich umgeformt. Er schrieb damals in sein Tagebuch: „Kein anderer ist der Gedanke, der unserer Epoche aufgeprägt ist, als die Durchdringung der empirischen Wissenschaften und der Philosophie" 9 ). Philosophisch gesehen dienten ihm Kant, genauer die schüchternen Anfänge einer Neubesinnung auf den Kritizismus des Königsberger Philosophen, die sich später zu den strengen und geschlossenen Schulen des Neukantianismus entwickeln, dazu, sich gegen den vom Westen eindringenden Geist des Positivismus (und den deutschen Materialismus) zu behaupten. Gegen Comte und Mill betonte er Kants Verdienst um das Zustandekommen einer verbindlichen Ethik (1864 in der Habilitationsschrift „Versuch einer Analyse des moralischen Bewußtseins", 6, S. 17), kann sich jedoch mit dessen Anschauung von der Wirklichkeit und Zeit als einer „bloßen Erscheinung" nicht einverstanden erklären, was ihn wiederum mit den Positivisten verbindet (5, S. 5). Es gibt für ihn auch nur eine Wirklichkeit. Ihren besonderen Bereich in der Geschichte zu bestimmen, zu verteidigen und abzugrenzen einmal gegen den naturwissenschaftlichen und soziologischen Positivismus, aber auch gegen alte und neue metaphysische Spekulation, ist sein großes Anliegen. Als solcher ist Dilthey besonders bekannt geworden, und als Erkenntnistheoretiker der Geschichte gilt er heute noch durchweg. Das ist jedoch nur eine, wenn auch bedeutsame Seite seines Bemühens gewesen, gibt jedoch keineswegs schon alles wieder, wie wir noch darlegen werden. 8)
Z. B. Troeltsch, Historismus und seine Probleme, 3, S. 5 1 2 ff. Der junge Dilthey. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern 1 8 5 2 — 1 8 7 0 , von K l a r a Misch, 1933, S. 81. 9)
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Bezeichnend ist, daß er in seiner berühmten „Einleitung in die Geisteswissenschaften" die positivistische Soziologie mit denselben Gründen bekämpft wie alle „Philosophie der Geschichte", wobei er u. a. Lessing, Herder, Humboldt und Hegel nennt (1, S. 90). Der moderne Wirklichkeitssinn protestiert gegen beide Richtungen, „welche in der Darstellung des Singularen einen bloßen Rohstoff für ihre Abstraktionen erblicken" (ebenda, S. 91). Das Individuelle, das für die genannten Denker bereits von großer Bedeutung war, will er offenbar von den metaphysischen Hüllen und Schlacken befreien, da eine unbedingte Haltung einzunehmen das geschichtliche Bewußtsein verbietet; denn ein „letztes und einfaches Wort der Geschichte, das ihren Sinn ausspräche", gibt es in ihr ebenso wenig wie in der Natur (ebenda, S. 92). Dem idealistischen Konstruieren gegenüber gilt es, die radikale Wirklichkeit zu betonen, während das positivistische Systematisieren sich an die im Geschichtlichen gegebene Vielfältigkeit erinnern lassen muß. Dilthey, einem evangelischen Pfarrhaus entstammend, hat nicht nur während seines Studiums, sondern sein ganzes Leben hindurch fleißig Kirchen- und Dogmengeschichte getrieben. Er weiß darum, daß bei den idealistischen Systemdenkern die abgewandelte Idee der göttlichen Vorsehung den Hintergrund abgibt (1, S. 98). Bezeichnend ist aber, wie er schon sehr früh persönlich zur christlichen Geschichtstheologie stand. Er schrieb 1861 in sein Tagebuch: „Aber ich ringe vergebens, diesem fremden Stoff inneres Leben abzugewinnen; ich weiß nicht, ob ich je den Geist jener Zeit (der Kirchenväter) in mir lebendig zu erneuern imstande sein werde. Dieses Mißtrauen gegen die menschliche Natur in ihrer gesunden Ruhe . . . diese Hast nach dem Jenseits 1 0 )." In seiner innerweltlichen Gesinnung, die ihn sein ganzes Leben begleitet hat, bekennt er später in einem Brief, er sei „eben keine religiöse Natur" 1 1 ). Er brach sehr früh mit der positiven Christlichkeit im Sinne eines lebendigen Glaubens an die Offenbarung — hat er ihn jemals besessen? — wie mit dem Glauben an die Idee der Vernunft als Leitgedanke der Geschichtsbetrachtung. Er wurde aber dabei weder Atheist noch satter Agnostiker. An die Stelle des christlichen Glaubens und der Vernunft Hegels traten das „Leben in seiner Totalität", die „Macht des Irrationalen", auch „der historische Lebenszusammenhang" (7, S. 151). Immer nur von der Geschichte erreicht er Zugang zu den letzten Fragen des Lebens. Darum gewinnt beson10 )
ebd. S. 152. ebd. S. 279. — Vgl. dazu H e i n e m a n n , 1929, S. 187. u)
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Neue Wege der Philosophie,
ders die nach der erkenntnistheoretischen Möglichkeit der Geschichtswissenschaft für ihn zunächst die große Wichtigkeit (7, 152). Es dürfte darum interessieren, wie er zu großen Historikern seiner Zeit gestanden hat. Dilthey selbst hat niemals Bedeutendes über politische Geschichte geschrieben, obwohl er sie keineswegs gering schätzte, er ist aber Meister in der kultur- und geistesgeschichtlichen Darstellung und in der Biographie. Mit Ranke teilt er weniger das sachliche Interessengebiet, wohl aber hat er mit ihm manchen grundsätzlichen Ausgangspunkt gemeinsam. Beide lehnen Hegels metaphysische Geschichtskonstruktion ab. Bei Dilthey ist, wie wir sahen, dabei sein Begriff von Wirklichkeit entscheidend. Rankes Motiv ist mehr religiöser Natur. Er rügt an Hegel, die Geschichte werde bei ihm zu einem „logischen Prozeß" und die Menschheit zu einem „werdenden Gott", welcher „sich durch einen geistigen Prozeß, der in seiner Natur liegt, selbst gebiert" 1 2 ). Aus demselben Grunde vermag er nicht einzusehen, daß der Wert einer Generation nur darin bestehen soll, Vorstufe der anderen zu sein. An dieser Stelle steht das berühmte Wort: „Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem eigenen Selbst." Wichtig sind im Hinblick auf Dilthey die gleich folgenden Sätze: „Dadurch bekommt die Betrachtung der Historie, und zwar des individuellen Lebens in der Historie einen ganz eigentümlichen Reiz, indem nun jede Epoche als etwas für sich Gültiges angesehen werden muß und der Betrachtung höchst würdig erscheint 1 3 )." Dahinter steht die Auffassung, daß vor Gott, der, ohne an die menschliche Zeit gebunden zu sein, die „historische Menschheit in ihrer Gesamtheit überschaut", darum alle Generationen gleichwertig sind 14 ). An gleicher Stelle verwarf Ranke audi den Gedanken eines allgemeinen Fortschritts in kultureller und moralischer Hinsicht, während er ihn in äußerer, materieller Hinsicht für möglich hält. Er streitet dabei keineswegs ab, daß „Ideen" die Geschichte beherrschen, sie sind ihm vornehmlich „die herrschenden Tendenzen in jedem Jahrhundert" 1 5 ). Der Historiker hat diese zu untersuchen, darf aber nicht ver12 ) Epochen der neueren gabe Dove 1888, S. 7. 13 )
ebd. S. 5.
14 )
ebd. S . 6 .
Geschichte, 9 Bd.
der Weltgeschichte,
2 Abt.
Aue-
, 5 ) ebd. S. 7. ·— M. R i t t e r , die Entwicklung der Geschichtswissenschaft 1919, S. 367 ff., zeigt, daß neben anderen Fassungen des Begriffs Idee „Ranke darunter in der Hauptsache religiöse und politische Anschauungen einer Zeit verstand, die
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gessen, daß „vom Standpunkt der göttlichen I d e e . . . die Menschheit eine unendliche Mannigfaltigkeit von Entwicklungen in sich birgt, welche nach und nach zum Vorschein kommen, und zwar nach Gesetzen, die uns unbekannt sind, geheimnisvoll und größer, als man denkt" 1 6 ). Infolge des Festhaltens an der Vorstellung vom persönlichen Gott ist bei Ranke die Geschichte vor dem Abgleiten in vordergründigen Realismus bewahrt, der Gedanke des: unmittelbar zu Gott und die Annahme des rätselhaften Ursprungs der Ideen und Entwicklungen bewahren den Historiker vor dem die Geschichte voreilig vergewaltigenden Konstruieren 1 7 ). Ohne sich mit dem religiösen Hintergrund der Rankeschen Auffassung direkt auseinanderzusetzen, rühmte Dilthey an Ranke, er habe „nicht ohne Einwirkung Hegels, aber vor allem doch in Gegensatz zu ihm" den Reichtum des geschichtlichen Geschehens in einen objektiven Zusammenhang gebracht: „Hierin offenbart sich uns der eigenste Grundzug seiner Geschichtsschreibung"; nur mit diesem „Wirklichkeitssinn" kann man den „Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften schaffen" (7, S. 103). Im Gegensatz zu Humboldts und auch Gervinus Geschichtsanschauung, die noch sehr stark die Ideen in der „transzendentalen Allgemeingültigkeit der Menschennatur" verwurzelt sein lassen mit einer göttlichen Weltregierung als letzten Grund, hebt Dilthey an Ranke hervor, trotz nicht abzustreitender Verwandtschaft mit solcher Haltung werde die geschichtliche Bewegung von ihm „weit lebendiger und wahrer" erfaßt (ebenda, S. 113/14). Immerhin glaubt sich Dilthey doch ein wenig gegen Ranke, den er sonst hoch schätzt, distanzieren zu müssen. Die „Idee" soll auf keinen Fall der Geschichtsdarstellung Fesseln auferlegen und der Fülle des geschichtlichen Lebens und Erlebens Abbruch tun. Daß Ranke sie — bei seiner theistischen Religiosität — in der Geschichte fand, nicht in sie hineinlegte und in jeder Epoche den eigenen Mittelpunkt suchte, was an Herders entsprechende Ausführungen in der geschichtsphilosophischen Frühschrift erinnert, stimmte mit dem von Dilthey selbst Erstrebten überein. Härter ist sein Urteil über die spezifisch politische Geschichtsschreibung. Einem Droysen wirft er freilich nicht vor, daß er politische Gedanken bestimmter Tendenz in den Mittelpunkt rückt. Er hält aber keimhaft von Gott in die Menschen gelegt sind, welche der Mensch entfalten soll". — So wird sein mehr platonisches Christentum (413 ff.) fruchtbar für seine Gesdiiditsanschauung. l e ) R a n k e , a.a.O. S. 7. " ) Vgl. Simon, a.a.O. S. 193.
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manches bei ihm für einen Riickfall in Spekulation, geboren aus teleologischem Denken, das den wirklichen historischen Zusammenhang nicht herstellen könne. Der „wirkliche Wehlauf" gestatte es nicht, die geschichtliche Welt der sittlichen Ordnung der Dinge zu unterwerfen; dahinter könne nur der Glaube an Gott stehen, in dem die Dinge der Welt ihren „idealen Zusammenhang" haben (7, S. 114). Tatsächlich vertrat Droysen in seiner „Historik" den Gedanken, daß in der Geschichte sittliche Mächte miteinander ringen. Seine Jugend fällt noch in die große Zeit Hegels, von dem er selbst nicht unbeeinflußt war. Er rang sich aber zu einer mehr ethisch bestimmten Auffassung von der Geschichte durch, die er aber nicht an diese herantrug. Von Kräften, die „in rastloser und unendlich gegliederter Beweglichkeit miteinander ringend und sich kreuzend aneinander ihre Kritik vollziehen" 18 ) sprach er. Das bedeutet nicht, daß wir mit dieser Einsicht den Schlüssel zum Weltgeschehen haben, der alle Kammern öffnet. In gläubigem Ahnen kann man nur sagen, daß die Ethik das Gesetz der Geschichte sei 19 ). Der geschichtliche Mensch als sittlich handelnder braucht aber keineswegs ungeborgen zu leben 20 ). Hervorzuheben wäre, wie bei Droysen ein nicht rigoroses, sondern real begründetes Sollen sich mit Hilfe Hegelscher Dialektik zum realistischen Empfinden des 19. Jahrhunderts den Weg sucht und ihn findçt. Kant und Hegel werden bejaht und überwunden, auf der anderen Seite wird der geschichtliche Realismus durch von jenen empfangene Impulse vertieft und so davor bewahrt, in Machtbejahung um jeden Preis oder positivistische Geschichtsauffassung auszumünden. Dilthey dagegen, der zu Hegel in einem größeren Gegensatz steht, stellt die Verbindung von modernem Realismus zu Kant nicht auf dem Gebiete der Moral her, sondern der große Antimetaphysiker, als der er der Nach- und Mitwelt galt, geht auf Kants Vernunftkritik zurück, die er vollenden möchte. Nicht die spekulative („reine", theoretische), audi nicht die moralische („praktische"), sondern die Kritik der geschichtlichen Vernunft ist es, deren Sinn, Möglichkeit und Grenzen er aufzeigen wollte und die sein großes Thema werden sollte. Daß es bei diesem Unternehmen der Kritik der historischen Vernunft keineswegs nur um die erkenntnistheoretische Grundlegung einer Wissenschaft von Geschichte und Gesellschaft ging, ihre Abgrenzung gegen falsche Spekulation und nicht gerechtfertigte Ansprüche der mechanischen 18 ) Historik, Ausgabe 1937, S. 241. — Vgl. Besprechung durch Meinecke, Vom geschichtlichen Sinn und vom Sinn der Geschichte, S. 40—46. 19 ) Historik, S. 270/71. 20 ) Vgl. zur „Historik" auch Srbik I, 374—376. H. Heimsoeth, Geschichtephilosophie, 1948, S. 637.
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Naturwissenschaft und positivistischen Soziologie, als welche äußerlich geurteilt Diltheys Lebenswerk seiner Generation erschien, der es auf formale Wissenschaftlichkeit besonders ankam, von welchem Geist Dilthey selbst keineswegs ausgenommen ist, sondern — genau wie Kant — um eine nicht nur anders geartete, sondern auch anders zu begründende Anschauung von Welt und Leben, zeigt ein Satz aus einem Fragment seines Nachlasses: „Das historische Bewußtsein von der Endlichkeit jeder geschichtlichen Erscheinung, jedes menschlichen oder gesellschaftlichen Zustandes, von der Relativität jeder Art von Glauben ist der letzte Schritt zur Befreiung des Menschen" (7, S. 290). b) Die Grundlagen 1. Geschichtlichkeit
der geschichtlichen
und Leben in der Kritik
Lebensphilosophie der historischen
Vernunft
Der Graf Yorck von Wartenburg, der Diltheys ursprüngliche Absichten in der Einsamkeit seines schlesischen Landsitzes zuweilen besser verstand als der Freund selbst, bezeichnet es als beider „gemeinsame Interesse Geschichtlichkeit zu verstehen" 2 1 ). In diesem Sinne betonte er, Geschichtserkenntnis wende sich „von der eigenen Lebendigkeit" zur Vergangenheit und bleibe dadurch selbst vor dem „Antiquarischen" bewahrt: „Nur was der K r a f t nach gegenwärtig, in der Gegenwart aufzeigbar ist, gehört zum Bereich der Geschichte" 22 ). Dieses an Nietzsches in „Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" erinnernde Wort: „Nur aus der höchsten Kraft der Gegenwart dürft ihr das Vergangene deuten"23) steht Diltheys Anschauung also keineswegs fern. In den nachgelassenen Entwürfen zur Kritik der historischen Vernunft beschreibt er als den Sinn des Wortes „Entwicklung" in den Geisteswissenschaften, Gegenwart sei Erfüllung der Vergangenheit und Träger der Zukunft (7, S. 232). Man ist versucht, dabei an Goethes von Meinecke gern herangezogenes Wort zu denken, das der große Dichter einmal gesagt hat: „Ein. Gefühl aber, das bei mir gewaltig überhandnahm und sich nicht wundersam genug äußern konnte, war die Empfindung der Vergangenheit und Gegenwart in 21 ) Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg 1877—1897, Halle 1923, S. 185. — Vgl. dazu Heideggers Würdigung, 8 Sein und Zeit , S. 397—407. Aus dem Briefwechsel hat Fritz Kaufmann Yorcks eigene Philosophie rekonstruiert: Die Philosophie des Grafen Yorck von Wartenburg = Jahrbuch f ü r Philosophie und phänomenologische Forschung, 9 Bd. (1928), S. 1—235. 2Z ) Yorck im Briefwechsel, S. 167. 23 ) Kröner-Ausgabe, S. 51.
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Eins" (14. Buch von „Dichtung und Wahrheit") 2 4 ). Dilthey dient jedoch die In-eins-Setzung von gegenwärtiger und vergangener Zeit, die Ausblicke auf die Möglichkeiten der Zukunft gestattet, nicht dazu, über die Geschichte zu spekulieren, sondern ihm kommt es bei dem soeben hervorgehobenen Verständnis von Zeit, in welchem die drei Zeitformen zusammengefaßt erscheinen, darauf an, die Entwicklung als Zeitform übergreifende „Gestaltung" des „Lebens" zu erfassen (7, S. 232/33). Der Begriff höherer Zweck ist aber abzulehnen. Dilthey streitet indes nicht ab, daß in der Geschichte die „Setzungen eines Unbedingten, als Wert, Norm oder Gut", die religiös oder transzendentalphilosophisch begründet werden können, eine erhebliche Rolle spielen, betont jedoch, daß die „geschichtliche Erfahrung" über ihre Allgemeingültigkeit nichts aussagen könne, während umgekehrt die falsche Verabsolutierung „nur durch Einschränkung des Horizonts der Zeit möglich wurde" (7, S. 173). Ähnlich wie sich Kant durch die Widersprüche der metaphysischen Behauptungen und Systeme gedrängt fühlte, sich auf die Welt der naturwissenschaftlich gegebenen Erfahrung zu beschränken und sie als „Erscheinung" zu beschreiben, so soll sich auch nach Dilthey der Historiker aller Spekulationen enthalten, da er versuchen soll, „Geschichte aus ihr selbst zu verstehen" (ebd.). An die Stelle der endlichen Erscheinung Kants tritt aber das „Leben". Es ist das eigentliche Problem, der eigentliche Gegenstand der Kritik der historischen Vernunft 2 5 ). Im nachgelassenen Werk formuliert er stichwortartig ihr Thema: „Aus dem Leben ergibt sich der Wertbegriff. Der Maßstab für jedes Urteil usw. ist in den relativen Wert-, Bedeutungs- und Zweckbegriffen von Nation und Zeitalter gegeben" (7, S. 290). Analog Kant darf diese geschichtlich relative Erfahrung sich nicht zu einer absoluten Betrachtung erheben wollen. Da nur die „Immanenz" der Erfahrung die einzig sichere Grundlage ist, müssen alle „als unbedingt auftretende Werte und Normen" auf das „geschichtliche Bewußtsein" zurückgeführt werden (ebd.). Man sieht, wie eng Geschichte und Leben zusammengehören, wie sehr sie sich einfach weitgehend decken 26 ). Darf man sagen, „das Streben nach einer immanenten Interpretation des Lebens" sei „das Dil2 4 ) Vgl. dazu Meinecke, V o m geschichtlichen Sinn und vom Sinn der Geschichte, S. 9 im Aufsatz: Geschichte und Gegenwart. 2 5 ) Vgl. dazu D. B i s c h o f , 1935, S. 6 ff. 2e
Wilhelm Diltheye geschichtliche Lebensphilosophie,
) Vgl. Bollnow, a.a.O. S. 35, 36.
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t h e y s d i e U r m o t i v " 2 7 ) . B e v o r d a s endgültig beurteilt w e r d e n k a n n , bedarf es n o d i w e i t e r e r A u s f ü h r u n g e n über Diltheys L e b e n s b e g r i f f . In seiner A b h a n d l u n g „ I d e e n über eine b e s c h r e i b e n d e und zerglied e r n d e P s y c h o l o g i e " 1 8 9 4 f ü h r t er aus, im G e g e n s a t z zur A n n a h m e der A s s o z i a t i o n s p s y c h o l o g i e herrsche eine „psychische L e b e n d i g k e i t " zwischen d e m S u b j e k t und d e m G e g e n s t a n d ; s o g a r hinter einer K a u s a l gleichung stehe dieser Z u s a m m e n h a n g als V o r a u s s e t z u n g . H i n t e r diese Wirklichkeit k ö n n e und d ü r f e das D e n k e n a b e r nicht zurückgehen. D a r u m ist ihm auch die „ F r a g e v o m U r s p r u n g u n s e r e s G l a u b e n s an die R e a l i t ä t der A u ß e n w e l t " nicht unwichtig ( A k a d e m i e - A b h a n d l u n g = 5, S. 9 0 — 1 3 8 ) . I m G e g e n s a t z zu K a n t ist ihm j e n e Wirklichkeit nicht Erscheinung, s o n d e r n das L e b e n selbst in j e d e r Hinsicht. So g e l a n g t e Dilthey zu d e m b e d e u t u n g s v o l l e n S a t z : „ h i n t e r d a s L e b e n k a n n d a s D e n k e n nicht z u r ü c k g e h e n " . E r selbst sieht, wie er an dieser Stelle, die aus d e m E n t w u r f der „ V o r r e d e " 1 9 1 1 zu seinen W e r k e n s t a m m t , ausdrücklich b e m e r k t , in dem H i n w e i s , daß k e i n „ Z e i t l o s e s " und „ A n t e z e d e n z " , d a s nur ein „ S c h a t t e n r e i c h " wäre, d a s L e b e n erdrückt, den eigenen wertvollen B e i t r a g zur zeitgenössischen P h i l o s o p h i e (5, S. 5). D e n n es steht ihm f e s t , daß „jeder Versuch, hinter diese Gegebenheiten zurückzugehen und sie in rationale Verhältnisse aufzulösen" zu „immanenten Antinomien" führe (8, S. 1 8 6 ) . F r a g e n wir nun, wie Dilthey das Leben, d a s er g e g e n positivistisches V e r s t ä n d n i s , d a s verflachend wirkt, und s p e k u l a t i v e V e r g e w a l t i g u n g schützen will, inhaltlich g e n a u e r b e s t i m m t , so w e r d e n wir zunächst enttäuscht. E s wird uns im S i n n e seiner geisteswissenschaftlichen Erk e n n t n i s t h e o r i e versichert, L e b e n enthalte „ d i e Beziehung zwischen den Individuen und dem Ganzen als dynamisches V e r h ä l t n i s " (Äußerung k u r z vor d e m T o d e , bei Misch im „ V o r b e r i c h t " zu B d . 5, S . L I I I ) . I n seiner allerletzten nur F r a g m e n t gebliebenen Schrift ü b e r „ d a s P r o b l e m der R e l i g i o n " ist L e b e n „ W i r k e n s z u s a m m e n h a n g , d e r zwischen d e m S e l b s t und seinem Milieu b e s t e h t " , in d e m die „ T o t a l i t ä t des S e e l e n l e b e n s " w i r k s a m ist (6, S. 3 0 4 ) . A u ß e n w e l t u n d S e l b s t , All und Ich sind also im T o t a l z u s a m m e n h a n g des L e b e n s als E i n h e i t vorh a n d e n . D e r dialektische S p r u n g , den H e g e l hier v o m s u b j e k t i v e n Geist in seiner V e r e i n z e l u n g mit H i l f e der o b j e k t i v e n Geschichte zum a b s o l u t e n Geist v o r n i m m t , ist Dilthey i n f o l g e der a u f g e z e i g t e n Vora u s s e t z u n g e n seines D e n k e n s g e n a u so wenig g e s t a t t e t wie H e r d e r s G l a u b e an den a b s o l u t e n ( h u m a n e n ) Sinn der Geschichte u n t e r Abw a n d l u n g der L e h r e von der L e i b n i z s c h e n M o n a d e . W ä h r e n d die gro2?
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) Heinemann, a.a.O. S. 198 Heideggers Dilthey-Verständnis so wiedergebend.
ßen Idealisten im Fluß des Lebens das Göttliche sich spiegeln sahen, erinnert Dilthey an dessen „Korruptibilität" (7, S. 229). Weil wir als Menschen der Gegenwart diese mit der Vergangenheit dauernd in Beziehung setzen, werden wir uns der Hinfälligkeit bewußt (7, S.72). Die Macht des Zufalls, die Zerbrechlichkeit „von allem, was wir besitzen, lieben oder auch hassen und fürchten" und die „beständige Gegenwart des Todes, der allgewaltig für jeden von uns Bedeutung und Sinn des Lebens bestimmt" (8, S. 79) sind kennzeichnend für das Gesetz und den Inhalt des Lebens im ganzen. Solche Sätze, die bei Dilthey gewiß nicht zahlreich sind, aber das Leben inhaltlich begrenzen, muten wie eine gewisse Vorwegnähme der entsprechenden Analysen in Heideggers „Sein und Zeit" an, wo sie freilich im Gegensatz zu Dilthey die Grundlage bilden. Dilthey weiß auch um die Rätselhaftigkeit des Lebens. Zeugung, Geburt, Entwicklung und Tod gehören früher und heute zu den „Unverständlichkeiten" und dem „Fremdartigen", ja „Furchtbaren" des Daseins (8, S. 80 u. 81). Dilthey ist also keineswegs der harmlose, genießende Lebensphilosoph, der mit seiner Gabe des Einfühlens in den Geist der Vergangenheit den Wandel der Zeit lediglich betrachtet, ohne das Bedürfnis nach einer geschlossenen, ernsten Anschauung von der Welt zu verspüren. So mag ihn die Karikatur sehen! In Wirklichkeit besaß er ein tiefes Verständnis für die „Mehrseitigkeit" des Lebens, „welche eben als Rätsel, als ein höchst Widerspruchsvolles sich darstellt" (8, S.143). Angesichts des Zufalls, mit dem wir niemals fertig werden (7, S. 74), und des Todes ist die irdische Sicherheit, in der wir meistens leben, nur scheinbar (8, S.45) 2 8 ). Kann man diese auf dem Bewußtsein der umgrenzenden Zeit und der Endlichkeit beruhende Bestimmung des Lebens mit dem „unbekannten Gott" der Philosophen in Beziehung setzen? 2 9 ) Gewiß will Dilthey dem „Leben" keinen naturalistisch-biologischen Charakter zusprechen, auch vertritt er keineswegs einen geistesgeschichtlichen Positivismus oder Agnostizismus. Sein entwicklungsgeschichtlicher Pantheismus, der überall im Hintergrund steht, freilich der größten Abwandlung fähig ist 30 ) würde dies schon verbieten. Er hat zwar nie direkt über seine persönliche Religion sich geäußert, wohl aber, besonders in der letzten Zeit seines Lebens Ausführungen über seine religionsphilosophischen und religionsgeschichtlichen Anschauungen 28 ) Vgl. Bollnow, a.a.O. S. 55—57, 91—94 weitere Belege. Vgl. Schrey, Theol. Rundschau 16, 1944, S. 24/25. 29 ) Vgl. D e g e η e r , Dilthey und das Problem der Metaphysik, 1933, S. 105. s °) Bollnow, S. 34, 167.
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gemacht. Der Weg dahin führt bezeichnenderweise über die „beschreibende Psychologie". 2. Verstehen
und
Struktur
Da das Leben einen wenn auch immer nur begrenzt zu überblickenden Zusammenhang bietet, kann die verstehende („beschreibende") Psychologie nichts anderes sein als „die Darstellung der in jedem entwickelten menschlichen Seelenleben gleichförmig auftretenden Bestandteile und Zusammenhänge, wie sie in einem einzigen Zusammenhang verbunden sind, der nicht hinzugedacht oder verschlossen, sondern erlebt ist" (5, S. 152). Die Beziehung vom Subjekt zur Umwelt hat zur Voraussetzung, daß es aus der „Fülle eigener Erlebnisse" durch eine entsprechende Umsetzung, „Transposition" sagt Dilthey, also durch Verstehen, „in die fremden Lebensäußerungen" eindringt; Dilthey spricht sogar von „Einbohren" (7, S. 118). Auf diese Weise kann der einzelne den „objektiven Geist" begreifen, der in der Geschichte seinen Niederschlag fand. Die Antriebe zum Verstehen des Selbst gehen von der Gegenwart aus, aber um im vollen Sinne zu sich selbst zu kommen, bedarf es der Versenkung in die Vergangenheit, in die Geschichte; Briefe, frühere Urteile über uns sind Mittel dazu. Wir verstehen nur andere und uns, wenn wir „unser erlebtes Leben hineintragen in jede Art von Ausdruck eigenen und fremden Lebens". Durch den „Zusammenhang von Erleben, Ausdruck und Verstehen" wird die Welt der Menschen — nur um diese handelt es sich — Gegenstand geisteswissenschaftlicher Betrachtung (7, S. 87). Immer wieder scheint es Dilthey nur auf wissenschaftliche Begründung seiner Gedanken, die erkenntnistheoretische Grundlegung des geschichtlichen Verstehens anzukommen. In seiner Wissenschaftsgläubigkeit ist er mit dem Suchen nach der richtigen Methode ein ausgesprochener Vertreter des 18. und 19. Jahrhunderts 31 ). Und es läßt sich nidit bestreiten, daß sich gerade Dilthey in dem Aufzeigen der Möglichkeit einer Verstehenspsychologie dauernde Verdienste erworben hat; der Gedanke des Typus und der Struktur hat sich trotz aller Kritik im einzelnen, die sich auf die Aufteilung: und Abgrenzung der Typen bezieht, bis heute als fruchtbar erwiesen. Die objektive Struktur bewahrt das Verstehen vor allzu subjektiven, einseitigen Schlüssen und Ergebnissen. In ihr sind die psychischen Tatsachen aufeinander bezogen, da sie nur Teile eines inneren Zusammenhange sind (7, S. 15). In aristotelisdier Weise scheut sich der Schüler Trendelen3 1 ) Vgl. Antoni a.a.O. S. 13: „Sein Glaube von einem Zweifel getrübt".
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an die Wissenschaft war
niemals
burgs nicht, gegen die in der damaligen Naturwissenschaft übliche mechanische Betrachtung von einem „subjektiv immanent teleologischen Charakter" des psychischen Strukturzusammenhangs zu sprechen (7, S. 8). Es handelt sich also um immanente Teleologie in der Psychologie! Das wird ganz deutlich, wenn die Struktur als „Zweckzusammenhang" bestimmt wird, der sich durch Triebbefriedigung, Streben nach Glück, Abwehr von Schmerzen zunächst konstituiert (5, S. 207). Darüber hinaus sind es aber „Lebenswerte", die zu entwickeln, festzuhalten und zu steigern man sich bemüht (5, S. 217). Eine wichtige Kategorie des Lebens ist darum die des Bedeutungsbezuges (7, S. 73). Die Selbstbiographie ist ihr höchster Ausdruck (7, S. 74). Entsprechend gilt als Gipfel dessen, was im Menschenleben als Struktur sich beschreiben läßt, die Individualität. In ihr wirkt ein „Prinzip der Einheit, welche die Kräfte dem Zweckzusammenhang unterwirft" (5, S. 232). An dieser und anderen Stellen grenzt sich Dilthey gegen Humboldts und Schleiermachers Auffassung ab, welche die Individualität aus der „Idee" und „göttlichen Vernunft" ableiten wollen. Dies sei „eine "· beweisbare metaphysische Ausdeutung", eine der „metaphysisch Konzeptionen, welche die Grenzen des Erfahrbaren hinter sich lassen'' (5, S. 228). Wir sehen die Kritik der historischen Vernunft am Werke, wie sie Typus und Struktur nur innerhalb des „Lebens" zuläßt, in diesem immanenten Bezirk aber die Möglichkeit sichern möchte, zum objektiven Verstehen der geschichtlich gegebenen Umwelt zu gelangen. 3. Die Weltanschauungstypen Vom Typus gelangt Dilthey zur Weltanschauung, zunächst und klarer zu den Weltanschauungstypen. Wir haben daher kurz seine verstehende Psychologie dargestellt, die ihren Sitz ja im Leben hat, um den Weg zur Weltanschauung zu finden32). Somit ist die letzte Wurzel der Weltanschauung wiederum das „Leben" (8, S. 78). Auf eine allerdings auch nur Bruchstück gebliebene Weltanschauungslehre, eine „Philosophie der Philosophie", ist das Bestreben des alten Dilthey gerichtet. In dem 1896 erschienenen Beitrag über die Individualität beschreibt er den Typus, in dem „mehrere Merkmale, Teile und Funktionen regelmäßig miteinander verbunden" sind. So kommt es in schon erörterter Weise zur Individuation (5, S. 270). In der Kunst und Wissenschaft sucht er diesen Gedanken im einzelnen nachzuweisen und durchzuführen. Zehn Jahre später dehnt er den Typus auch auf die Weltanschauung im engeren Sinne aus. Noch immer begründet er ihn 32)
V g l . L i e b e r t , a . a . O . S. 6 9 .
4 Fiilling, Geschichte als Offenbarung
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aus der Psychologie. D e n Materialismus u n d Positivismus könne man auf d a s Ü b e r w i e g e n des V e r s t a n d e s , d e n objektiven Idealismus, Pantheismus u n d P a n e n t h e i s m u s auf eine „ V e r h a l t u n g s w e i s e des G e f ü h l s l e b e n s " u n d den Idealismus der Freiheit auf V o r h e r r s c h e n von Willensv e r h a l t e n z u r ü c k f ü h r e n (5, S. 4 0 0 f f . ) 3 3 ) . D a ß alle drei a n sich möglichen H a l t u n g e n nicht m i t e i n a n d e r zu v e r e i n e n sind, zeigt w i e d e r einmal — K r i t i k der historischen V e r n u n f t ! — die U n m ö g l i c h k e i t verbindlicher M e t a p h y s i k , die n i e m a l s wissenschaftlich sein k a n n ( e b e n d a , S. 4 0 5 ) . Zurück bleibt i m m e r n u r d a s „geschichtliche B e w u ß t s e i n " . U n d doch soll die „ R e l a t i v i t ä t " nicht d a s letzte W o r t des Geistes sein, der alle Weltanschauungen d u r c h l a u f e n h a t , s o n d e r n — es f o l g t ein S p r u n g , der zu einer n e u a r t i g e n M e t a p h y s i k des Geschichtlichen f ü h r e n k a n n — " die S o u v e r ä n i t ä t des G e i s t e s g e g e n ü b e r einer j e d e r einzelnen von ihnen und zugleich d a s p o s i t i v e B e w u ß t s e i n d a v o n , wie in den verschiedenen V e r h a l t u n g s w e i s e n des G e i s t e s die eine R e a l i t ä t d e r Welt für uns i s t " (ebenda, S . 4 0 6 ) . c) Die geschichtliche
Relativität
und Versuche
zu ihrer
Überwindung
E r s t nachdem Dilthey sein eigentliches L e b e n s w e r k , die S t r u k t u r psychologie und die D a r s t e l l u n g e n zur Geistesgeschichte des Abendlandes, geleistet h a t t e und seine B e d e u t u n g l a n g s a m , a b e r stetig wuchs, stieß er mit i m m e r g r ö ß e r e m E r n s t auf die F r a g e der geschichtlichen R e l a t i v i t ä t . S i e b e s c h ä f t i g t den a l t g e w o r d e n e n F o r s c h e r i m B e r e i c h des G e i s t e s sehr, wie die letzten Schriften u n d die erst vor etwa 2 0 J a h r e n b e k a n n t g e w o r d e n e n A u f z e i c h n u n g e n u n d E n t w ü r f e aus der letzten L e b e n s z e i t zeigen. D a s geschichtliche B e w u ß t s e i n , a u f g e b a u t auf der K r i t i k der historischen V e r n u n f t , geriet i n seine eigene K r i s e . D i e F ü l l e der geschichtlichen S y s t e m e , die eich gegenseitig b e k ä m p f e n , k ö n n e „ A n a r c h i e " des philosophischen D e n k e n s a u s d r ü c k e n : „Zwischen d e m geschichtlichen B e w u ß t s e i n von der grenzenlosen M a n n i g f a l t i g k e i t d e r s e l b e n u n d d e m A n s p r u d i eines j e d e n v o n ihnen auf Allgemein33 ) Noch ausführlicher stellt Dilthey die Typen in einer 1911 erschienenen Abhandlung dar, wo es ihm nicht so sehr auf die psychologischen Wurzeln, sondern auf historischen Vergleich ankommt (8, S. 99 ff.). — Zur Vorgeschichte seiner Typenlehre vgl. Groetuysen im Vorbericht 8, S. III. — Zu welchen bedenklichen Folgerungen und Anwendungen die Lehre von nur formal bestimmten Weltansdiauungstypen führen kann, zeigt B i s c h o f in seinem sonst sehr verständigen schon genannten Buch, wenn er meint, im ersten „Blut und Boden", im zweiten „Sinnhaftigkeit im Zusammenhang aller Geschichte" und im dritten den „Appell, mitzuschaffen an dem großen Werk des Neuaufbaus von Volk und S t a a t " im Sinne der damale geltenden „Weltanschauung" sehen zu können (S. 38). Nicht gegen den Verfasser, sondern gegen Diltheys Typenlehre selbst, die keine wirkliche Verpflichtung kennt, sei das gesagt!
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gültigkeit besteht ein Widerspruch" (8, S. 75, vgl. S. 3). Im handschriftlichen Zusatz zu diesm Thema heißt es weiter, daß gerade die „Ausbildung des geschichtlichen Bewußtseins" noch gründlicher als nur ein bloßer Überblick über die Systeme den Glauben an ihre Allgemeingültigkeit zerstört habe (8, S. 121). Die „Anarchie" und die Skepsis sind also nicht zufällige Ergebnisse eines nur aus oberflächlichem Vergleichen und Urteilen geborenen Nachdenkens, sondern ihr integrierender Bestandteil. Hegel glaubte noch die widerspruchsvolle Geschichte der Philosophie in seiner eigenen „aufheben" zu können, Dilthey hat daran weder geglaubt noch gedacht. Bereits in seiner schon erwähnten um 1900 gehaltenen Vorlesung, in welcher er die Studenten ermahnt, sich mit Wirklichkeitsgeist zu erfüllen, sind die Nebentöne der Resignation unverkennbar: „Die Anarchie des Denkens" erstrecke sich „in unserer Zeit auf immer mehr Voraussetzungen unseres Denkens und Handelns". Im menschlichen Erkenntnisstreben liege „etwas Tragisches". Eine „Leere des Bewußtseins" mache sich geltend, „da alle Maßstäbe aufgehoben worden sind, alles Feste -ist schwankend geworden", die schrankenlose Freiheit mit dem Spiel unendlicher Möglichkeiten täusche nicht über den „Schmerz seiner Inhaltslosigkeit", über den „Schmerz der Leere, dies Bewußtsein der Anarchie in allen tieferen Überzeugungen, diese Unsicherheit über die Werte und Ziele des Lebens" hinweg (8, S. 198) ; kurz, Dilthey verleiht, wie Troeltsch zu dieser Stelle bemerkt, dem „geheimen Grundgefühl unserer Zeit" Ausdruck 34 ). Bezeichnenderweise erwartet Dilthey an dieser Stelle eine Klärung und gewisse Lösung nicht so sehr von einer neuen Philosophie, sondern von „Dichtung und Literatur". Diese, besonders die deutsche Klassik, hatte für ihn immer so etwas wie eine Mitte bedeutet. Misch, der Dilthey besonders nahesteht, sagt uns, der Relativismus werde durch den dauernden Rückgriff auf den „deutschen Geist" abgeschwächt und gemildert (Vorbericht 5, C X f f . ) . Dilthey schließt die Abhandlung über die „Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen" wohl nicht nur des klangvollen Abschlusses wegen mit den Versen eines Goethe: „Was wäre ein Gott, der nur von außen stieße, Im Kreis das All am Finger laufen ließe! Ihm ziemt's, die Welt im Innern zu bewegen, Natur in sich, sich in Natur zu hegen, So daß, was in ihm lebt und webt und ist, Nie seine Kraft, nie seinen Geist vermißt!" 34 )
4·
Troeltsch, Ges. Schriften 2, S. 678. 51
Wenn er auch einschränkend sagt, der objektive Idealismus (Pantheismus) drücke nur eine „Seelenverfassung" aus, so liegen doch seine Sympathien fraglos bei diesem Typus, wie Diltheys ganze Entwicklung zeigt 35 ). Allerdings verwirft er eine einseitige Stellungnahme. Im „Traum" ( = Entwurf zur Rede an seinem 70. Geburtstag), in welchem er die verschiedenen Philosophen aufmarschieren läßt, entwickelt er den Gedanken, jede Weltanschauung gebe eine Seite des Universums wieder, von denen jede wahr und einseitig zugleich sei. Wahrheit wäre also in allen gegenwärtig. Jeder soll in seiner diese suchen und verehren (8, S. 222 u. 223, 271). Solche Versuche, den Relativismus durch die perspektivisch erscheinende Wahrheit zu überwinden, sind bei Dilthey selten. In dieser Richtung entschlossen weiterzugehen, blieb seinen Schülern, besonders Spranger, vorbehalten. Gewöhnlich bleibt bei Dilthey der Grundton eine milde Skepsis, ausgelöst durch das historische Bewußtsein. Der Schleiermacher-Biograph und Sohn eines evangelischen Pfarrhauses weiß infolge seiner Gabe der lebendigen Einfühlung in Menschen, Weltanschauungen und Religionen gewiß um den Wert und die überwindende Kraft der Geborgenheit, die vom christlichen Glauben ausgeht. Einmal hat er aufgezeichnet: „Lange saß ich an meinem Fenster, das Auge auf die Transzendenz der Sternenwelt gerichtet, die Seele von der Jenseitigkeit in der Seele meines Freundes (Yorck) 36 ) ganz erfüllt. Ist mein eigener historischer Gesichtspunkt nicht unfruchtbarer Skeptizismus, wenn ich an einem solchen Leben messe? Wir müssen diese Welt leiden und besiegen, wir müssen auf sie handeln: wie siegreich tut das mein Freund: wo ist in meiner Weltanschauung eine gleiche Kraft?" Wir können hier gleidisam einen Blick tun in die sehnsuchtsvolle, aber ungeborgene Seele des Philosophen. Zwiespältig fährt er fort: „Da aber erhob sidi in mir mein Wille, auch nicht in die Seligkeit durch einen Glauben kommen zu wollen, der vor dem Denken nicht standhielte. Ich erwog wie so oft und seit langem von neuem meine Gründe. Ich kann nur in völliger Objektivität des Denkens leben . . . In mir war immer der Durst nach gegenständlicher Wahrheit das stärkste Bedürfnis" (8, S. 231). Die sogenannte intellektuelle Redlichkeit, von der Nietzsche sprach und die einen Lessing verzehrte, überhaupt die Weise, wie das 18. und 19. Jahrhundert sich als die Zeit der Wissenschaft und Objektivität verstand, verlegte einem Dilthey den Weg zum Glauben trotz aller Verehrung, die er dem Christentum als geschichtlicher Macht zollte. Soweit wir sehen, hat er 35 ) 36 )
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Vgl. Liebert, S. 72/73. Kaufmann, a.a.O. S. 77.
diesen Standpunkt, der wohl als typisch für die Anschauung eines großen Teiles der deutschen Bildungsschicht um 1900 gelten kann, bis an sein Lebensende festgehalten. In dem schon erwähnten Fragment „das Problem der Religion" (6, S. 288—305), das wenige Wochen vor seinem Tode entstand, definiert er diese immer noch als „seelischen Zusammenhang", der sich wie Kunst und Wissenschaft in den Individuen objektiviere. Audi hier wieder Hervorhebung der diesseitigen Autonomie, welche die Religion ins Gedränge gebracht habe. Während bereits Kant und Lessing in der Religion Christi den Idealismus der Freiheit entdeckten, wird erst in der deutschen Transzendentalphilosophie (Fichte, Schelling) die Trennung von Gott und Seele überwunden, wobei es Dilthey nicht unterläßt, auf die Mystik (Spinozas) und die entsprechende weltbejahende Religionsauffassung Schleiermachers hinzuweisen, die zur Individualität geführt habe. Er ist ihm der „Verkünder einer neuen Religiosität". — Ergebnis dieses Torso gebliebenen Aufsatzes: „Die Probleme der Religionsgeschichte sind nur lösbar in einem allgemein wissenschaftlichen Zusammenhang", der „aber objektiv gültige Erkenntnis sein" muß, „die über allen unbeweisbaren Weltanschauungen steht, sonach nicht im alten Sinne metaphysisch" ist (ebenda, S.303). Trotz des bruchstückhaften Aufsatzes, der nach dieser Einleitung bald abbricht, kann man sich kaum vorstellen, daß er noch wesentliche Gedanken bringen solle, die über die schon dargelegten hinausführen. Sonderbar, wie der Greis Dilthey noch einmal Gedanken seiner Jugend aufnimmt, als der 27jährige schrieb: „Mein. Beruf ist, das Innerste des religiösen Lebens in der Historie zu erfassen" 37 ). Nicht die Bekämpfung und Auflösung der christlichen Religion, wie es bei Nietzsche der Fall ist, schwebt Dilthey als Ziel vor. Er ist aber, darin ist Heinemann recht zu geben, ein Beispiel für die Tragödie des modernen Menschen, der nach dem Verlust des lebendigen Gottes diesen zunächst in der pantheistisch vorgestellten Natur sucht und nach deren Entgötterung in die „Geschichte" flüchtet38). Es bleibt allerdings zu bedenken, daß über dieser als Teil des „Lebens" ein Resthauch von natürlicher Religion liegen bleibt, der aus dem entwicklungsgeschichtlichen Pantheismus und dem Gedankengut der deutschen Klassik gespeist wird. Aber wir fragen uns, ob diese beiden an sich schon sehr dünnen Grundlagen das als Geschichte verstandene Leben noch lange und wirklich zu tragen imstande sind, da sie ja selbst der metaphysischen Inhalte, die Dilthey für sich und seine Zeit nicht mehr anerkennt, beraubt sind. Während Herder und Hegel das Absolute in 37 ) 38 )
Der junge Dilthey, S. 140. — Vgl. Mischs Vorbericht 5, S. XXIII. Heinemann, a.a.O. S. 180, vgl. S. 186, 191. 53
die Geschichte hereinholten, wobei sich a b e r u n t e r der H a n d diese selbst absolut setzte und dadurch in eine u n g e b o r g e n e L e e r e g e r ä t , sucht Dilthey auf G r u n d seines m o d e r n e n R e a l i t ä t s e m p f i n d e n s d a s Unb e d i n g t e aus der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt zu e n t f e r n e n , nicht dadurch, daß er es v e r w i r f t , s o n d e r n historisiert. D a s Geschichtliche steht nun a u d i g a n z ungesichert da. D i e F o l g e ist der geschichtliche R e l a t i v i s m u s , zu welcher Geistesrichtung Dilthey erheblich beig e t r a g e n h a t , ohne es eigentlich gewollt zu h a b e n 3 9 ) . Sein B e m ü h e n w a r d a r a u f gerichtet, die Welt des Geistes und die B e z i e h u n g von S e l b s t u n d Wirklichkeit, die im Wechselverhältnis stehen, auf eine sichere G r u n d l a g e zu s t e l l e n 4 0 ) . Freilich h a t er b e i d i e s e m U n t e r n e h m e n den R e s t des deutschen I d e a l i s m u s eingesetzt und in „ G e s c h i c h t e " u n d „ L e b e n " u m z u m ü n z e n versucht. Ist Dilthey der E p i g o n e des deutschen I d e a l i s m u s , dessen „geschichtliches B e w u ß t s e i n " j e n e n zu G r a b e t r ä g t ? d) Der neue Ansatz
und seine
Beurteilung
D e r j u n g e Dilthey schreibt 1 8 6 6 : „ W i r sind eben durchaus nicht, wie m a n uns einreden möchte, E p i g o n e n j e n e r großen Zeit, s o n d e r n unser A u g e ist u n v e r w a n d t der Z u k u n f t entgegengerichtet, den ung e h e u r e n intellektuellen, politischen und sozialen B e g e b e n h e i t e n entgegen, zu denen alles h i n d r ä n g t " (11, S. 1 9 5 ) 4 1 ) . A b e r a u d i der alte Dilthey h a t sich k e i n e s w e g s als E p i g o n e g e f ü h l t . Wir wiesen schon d a r a u f hin, daß nach ihm die durch d a s geschichtliche B e w u ß t s e i n erzeugte R e l a t i v i t ä t den T r ä g e r f r e i und u n a b h ä n g i g mache. Solche Äußerungen w i e d e r h o l e n sich in ähnlichen Z u s a m m e n h ä n g e n . „ D a s M e s s e r " , sagt er in· einem S e l b s t g e s p r ä c h , „ d e s historischen Relativismus, welches alle M e t a p h y s i k u n d R e l i g i o n gleichsam zerschnitten h a t , muß auch die H e i l u n g h e r b e i f ü h r e n " (8, S. 2 3 2 ) . A n d e r s e l b e n Stelle im „ T r a u m " , wo die F r a g e nach der W a h r h e i t anscheinend im perspektivistischen S i n n e gelöst w e r d e n soll, g e l a n g t er nach der Feststellung der A n t i n o m i e n , zu denen alle W e l t a n s c h a u u n g s s y s t e m e hinf ü h r e n , s o f e r n sie sich a b s o l u t setzen, zu d e m S a t z : „ D a s historische B e w u ß t s e i n zerbricht die letzten K e t t e n , die P h i l o s o p h i e u n d N a t u r forschung nicht zerreißen k o n n t e n . D e r Mensch steht nun g a n z f r e i d a " ( e b e n d a , S. 2 2 3 ) . D i e Frucht und F o l g e dieser B e f r e i u n g sieht er in der 39 ) E s scheint mir darum zweifelhaft, ob man ihn einfach den Vertreter des „sublimisten Historismus" nennen soll, wie es Thyssen a.a.O. S. 125 tut, Einschränkung S. 126. 40 ) Ob man das „dialektischen Universalismus" (Liebert) nennen soll, ist zu fragen. 41) W e n i g e r sieht in solchen Änderungen Diltheys einen Beweis gegen dessen (angeblich) resignierenden Historismus, Vorberidit zu 11, S. XIII.
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Rettung der Einheit des seelischen Gefiiges (ebenda, S. 271). Dilthey bestreitet, daß der Blick in die Vergangenheit den menschlichen Geist kraftlos werden lasse. Man muß nur „die Relativitäten" „mit der Allgemeingültigkeit in einen tieferen Zusammenhang" bringen (8, S. 167, im handschriftlichen Zusatz zur Typenlehre). Er denkt dabei an eine Verbindung des Geistes der Aufklärung, die nach seiner Anschauung keineswegs so ungeschichtlich dachte, wie ihr vorgeworfen wird (3, S. 209), mit dem geschichtlichen Bewußtsein der eigenen Zeit. Die Erkenntnis der Verschiedenheit der Naturvölker und die dadurch bedingte Relativität unserer eigenen Anschauung mache das geschichtliche Bewußtsein frei „gegenüber allen Vergangenheiten" und setzt es in den Stand, sich „einem einheitlichen Ziele menschlicher Kultur" zuzuwenden (8, S. 167). Dem geschichtlichen Bewußtsein sei es darum zu verdanken, wenn das Leben ausgerichtet werde auf den „Zusammenhang des Menschengeschlechtes", d. h. auf entsprechende Ziele, die als gemeinsame Aufgabe zugleich einen neuen Maßstab für Erreichbares und ein vertieftes Ideal des Lebens seien (ebenda). In einer solchen durch das historische Bewußtsein vermittelten „Freiheit" fällt weitgehend das Reale und Ideale, um welche Pole das Denken der letzten 200 Jahre sich bewegte, zusammen. Was bei Herder in dieser Hinsicht die Humanität, bei Hegel der Geist übernehmen, leistet bei Dilthey das geschichtliche Leben. So wird die Mitarbeit des Menschen am Kulturleben möglich und sinnvoll, worauf es Dilthey sehr ankommt 42 ). Das Leben ist also geschichtlich und befreit zugleich von der Geschichte. Die souveräne Überlegenheit, die der Mensch nach Dilthey auf Grund der Einsicht in die Endlichkeit und Relativität jeder geschichtlichen Erscheinung gewinnt, läßt ihn dahin gelangen, „jedem Erlebnis seinen Gehalt abzugewinnen, sich ihm ganz hinzugeben, unbefangen, als wäre kein System von Philosophie oder Glauben, das Menschen 42 ) Vgl. hierzu die Ausführungen von W. Ε χ 1 e b e η , Erlebnis, Verstehen und geschichtliche Wahrheit. Untersuchungen über die geschichtliche Stellung von Wilhelm Diltheys Grundlegung der Geisteswissenschaften, 1937, S. 109—117. — Wenn nach unseren Darlegungen deutlich werden sollte, daß Dilthey hier an die kulturellen und politischen Ziele seiner im ganzen liberalen Zeit denkt, vermögen wir nidit einzusehen, daß seinem „Freiheitsbegriff eine k l a r bestimmte Beziehung zu den geschichtlichen Kräften" fehle, S. 116. Exleben selbst versteht ihn als Vertreter des gebildeten Bürgertums, S. 72 — Dilthey tat in seinem „geschichtlichen Bewußtsein" damals nichts anderes, was Exleben — mutatis mutandis — tut, wenn er im J a h r e 1937 „Einsatz" für das Volk, audi für „Kameradschaft", „Führung und Rasse" (184 ff.) fordert! Wiederum ein Beweis, zu welchen Folgerungen das „geschichtliche Bewußtsein" führen kann, wenn ihm jede höhere vertikale Autorität fehlt!
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'•'nden könnte" (7, S. 291) 43 ). Alle guten und schlechten, schönen und ' ".liehen Seiten werden als Realitäten hingenommen. Kein Weg führt von der Welt zur Anschauung vom Leben, wie ihn die Metaphysik alten Stils zu beschreiten versuchte. Wohl aber kann sich im geschichtlich verstandenen Menschsein eine Möglichkeit zur relativen Sinnerfüllung auftun: „Wir tragen keinen Sinn von Welt in das Leben. Wir sind der Möglichkeit offen, daß Sinn und Bedeutung erst im Menschen und seiner Geschichte entstehen... denn der Mensch ist ein Geschichtliches" (ebenda). Neuere Darsteller der Diltheyschen Lebensphilosophie wie Liebert, Bollnow, besonders Degener sind sich durchwegs darüber einig, daß von dem Ansatz „Leben" in seiner Geschichtlichkeit sich bei Dilthey von einer systematischen Philosophie sprechen lasse, wenn man die einzelnen Züge, die bei ihm verstreut liegen, zusammentrage 44 ). In solchem Verständnis ist dann das „Leben" die letzte Gegebenheit, wie dem Mittelalter Gott, dem „natürlichen System" die Vernunft und Natur, Hegel der Geist, Heidegger die Existenz Größen sind, die in ihrem letzten Sein unfaßbar sind und hinter die man nicht zurückgehen soll 45 ). Da es offenbar in Diltheys Begriff vom „Leben" wirklich um Letztes geht, haben wir das Recht zur Frage: Welche theologischen, religiösen Voraussetzungen enthält dieser zentrale B e g r i f f vom „Leben"? Seine mehrfach hervorgehobene Charakterisierung als etwas Rätselhaftes, Dunkles, Unergründliches verbietet, ihn idealistisch im monistischen Sinne zu nehmen, was bei Hegels Geist eher möglidbi wäre. Dilthey rückt ja gerade von den Systemdenkern dieser Art ab, weil die „Ideen" der vielfältigen Gestalt des „Lebens" nicht gerecht werden, ihm Gewalt antun. Trotz seines „entwicklungsgeschichtlichen Pantheismus", der bei Dilthey mehr die Tradition und die Herkunft seines Denkens als den Inhalt selbst angibt, steht er nicht einfach in der Linie des sogenannten Neuidealismus, da er weder absolute Werte noch Inhalte dieser Art kennt. Da sich bei ihm das „Leben" in ewiger Spannung zwischen dem 43 ) Vgl. Anmerkung 42. — Kritisch könnte man sagen, daß er an dieser Stelle alles und nichts fordert. Zur Frage nach der Gewinnung von Normen bei Dilthey vgl. L. L a n d g r e b e , Wilhelm Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften, in: Jahrbuch für Philosophie und phän. Forschung, 9. Bd. (1928), S. 349/50. " ) Degener a.a.O.: „Lebensphilosophie als Metaphysik des Lebens", S. 56, in welcher die metaphysische Substanz in der Wirklichkeit des Lebens enthalten ist. — Für Bollnow ist Dilthey besonders der Philosoph des geschichtlichen Lebens, der, im Gegensatz zu Nietzsche, der Lebensphilosophie durch wissenschaftliche Arbeit einen sicheren Ausgangspunkt gegeben habe. 4ä ) Degener, a.a.O. S. 56.
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S e l b s t u n d d e m U m g r e i f e n d e n befindet und dieses k ä m p f e r i s c h e Wechselspiel sein einziges G e s e t z ist, k ö n n t e m a n a n n e h m e n , daß wir eine m o d e r n e dualistische F a s s u n g des Idealismus v o r uns h a b e n . Dilthey h ä t t e d a n n die U r g e g e n s ä t z e G u t — B ö s e in d a s „ L e b e n " v e r l e g t , d a s b e i d e z u s a m m e n mit noch a n d e r e n G e g e n s a t z p a a r e n bilden. D a s w ü r d e freilich b e d e u t e n , daß — wie bei allem p l a t o n i s i e r e n d e n und dualistischen D e n k e n — d a s a u s f a l l e n müßte, w a s g e r a d e d a s E n t s c h e i d e n d e ist, d a s Geschichtliche. — Dilthey f ü h r t im zweiten Buch seiner „ G e i s t e s w i s s e n s c h a f t e n " aus, also im geschichtlichen T e i l der „ E i n l e i t u n g " , d a s C h r i s t e n t u m h a b e erst „das geschichtliche Bewußtsein"' erzeugt. D a alle f r ü h e r e n O f f e n b a r u n g e n als „ V o r s t u f e n " der einzigen b e g r i f f e n w ü r d e n , g e s t a l t e sich der „ i n sich geschlossene S u b s t a n z b e g r i f f " G o t t e s zur „geschichtlichen" L e b e n d i g k e i t um. E r s t v o n der E r f a h r u n g eines lebendigen G o t t e s w ä r e n nämlich in e i n e m Blick geschichtliche Verg a n g e n h e i t und G e g e n w a r t z u s a m m e n g e g e n w ä r t i g und die Weltgeschichte sei erst j e t z t d e n k b a r (1, S. 2 5 4 , 2 5 3 ) . D i e s e r G e d a n k e , verb u n d e n mit d e m der S e l b s t b e s i n n u n g eines A u g u s t i n u s , bilde die Vora u s s e t z u n g des „ L e b e n s " , d a s dieser als „ G e g e n s t a n d der Selbstgewißh e i t " v e r s t e h t , w a s d a n n den A u s g a n g s p u n k t einer neuen M e t a p h y s i k a b g i b t ( e b e n d a , S. 2 5 9 f f . ) . F ü r u n s e r n Z u s a m m e n h a n g ist hervorzuheben, daß D i l t h e y d a s Geschichtliche u n d die B e s i n n u n g auf die eigene E x i s t e n z , welche b e i d e wichtige B e s t a n d t e i l e seiner A u f f a s s u n g v o m „ L e b e n " sind, auf die christliche R e l i g i o n z u r ü c k f ü h r t . E r steht also nicht nur in einer idealistischen T r a d i t i o n , nicht nur auf der Grundl a g e realistischer D a s e i n s b e t r a c h t u n g , s o n d e r n ist a u d i von einem zug e s t a n d e n e n christlichen U r s p r u n g seines D e n k e n s zu b e g r e i f e n . Diltheys eigene i n n e r e Entwicklung, die wie die H e g e l s v o m theologischen S t u d i u m ihren A u s g a n g n a h m , b e s t ä t i g t es o b e n d r e i n .
Offenbarung des D a ß echte „Geschichtlichkeit" mit der realen C h r i s t e n t u m s steht und f ä l l t , h a t w i e d e r u m einmal sein lutherischer F r e u n d Yorck von Wartenburg b e s s e r und deutlicher g e s e h e n . E r schreibt an Dilthey a m 15. D e z e m b e r 1 8 9 2 : „ D i e d o g m a t i s c h e n Beg r i f f e , welche S i e mit der rationalistischen K r i t i k erwähnen, sind alle, weil C h r i s t e n t u m L e b e n ist, der T i e f e der natürlichen L e b e n d i g k e i t e n t n o m m e n " . E r f ä h r t bezeichnenderweise f o r t : Ohne den S ü h n e t o d Christi und die dadurch g e g e b e n e „ v i r t u e l l e Z u r e d i n u n g und K r a f t ü b e r t r a g u n g gibt es ü b e r h a u p t k e i n e G e s c h i c h t e " 4 6 ) . Y o r c k v e r t r i t t 46 ) Briefwechsel, S. 155. — Zu Yorcks Christlichkeit vgl. Kaufmann, a.a.O. S. 46 ff., besonders Abschnitt: Christentum als geschichtliches Leben, S. 56 ff., wo Yorcks Geschichtsbegriff von seiner luth. Überzeugung deutlich gemacht wird. — Ebenso derselbe im Aufsatz: Yorcks Geschichtsbegriff = Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 8. Jahrg. (1930), S. 306—323.
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unseres Erachtens gegen Dilthey die echtere, radikale, d. h. ursprüngliche Form der „Geschichtlichkeit". Während er von Luther aus denkt, mit dem Dilthey im Grunde wenig anzufangen weiß, und „Geschichtlichkeit" als „Anteilhabe" an Christus begreift, die als mitgeteilte Kraft in den Gläubigen gestaltend wirkt, steht Dilthey in letzter Abhängigkeit zu Leibniz, was bedeutet, „die Phänomene verlieren an geschichtlicher Tiefe", weil sie letztlich dodi wieder nur „geschichtliche Darstellungen" der immer selben Menschennatur sind 4 7 ). Bei der Würdigung Herders und Hegels prüften wir bereits deren Geschichtsauffassung am Begriff der christlichen Offenbarung und gewannen die Überzeugung, daß der „Weltglauben" jedesmal die Neigung hat, die Geschichte selbst zur Offenbarung zu erheben. Diltheys geschichtliches „Leben" scheint erst recht keiner besonderen Offenbarung zu bedürfen, was um so mehr verwundern müßte, als die Wurzel des „Geschichtlichen" zugestandenermaßen der christliche Glaube ist. Dilthey hat aber nicht nur das statisch oder dialektisch gegebene „Absolute", sondern auch gerade alle christliche Offenbarung und Religion historisiert. Ein verbindliches „Dogma" erkennt er auch in seinem Gehalt nicht mehr an. Er ist insofern ein Vertreter der auch heute noch nicht erledigten Auffassung, daß es ein Christentum ohne Dogma geben könne und dies erst die wahre religiöse Freiheit bedeute 4 8 ) ; das geschichtliche Bewußtsein befreit ja von der Last der Vergangenheit. Auch hier ist wiederum der parallele Gegensatz zu Luther bemerkenswert. Für den Reformator heißt „Freiheit des Christenmenschen" Befreiung von der Macht der zur Sünde reizenden „Welt", was zugleich zum hingebungsvollen Dienst am Nächsten in der Welt geschickt macht. Dilthey möchte den geschichtlich verstandenen Menschen von der Last und Qual der Relativität, die der Anblick der Vergangenheit auferlegt, durch das geschichtliche Bewußtsein selbst befreien und dadurch den Menschen zur freudigen Mitarbeit an der Kultur bereit machen. Die höhere Mitte und der Auftraggeber sind jedesmal verschiedene Mächte. Im ersten Falle ist es Gott, der in und durch Christus die Welt versöhnt, im andern — wiederum nur das als Geschichte verstandene „Leben", hinter welches nicht zurückgegangen werden k a n n ! Trotz dieses tiefen Gegensatzes ist Diltheys Haltung nicht ohne Luther und christliche Hintergründe denkbar. Dilthey kann nämlich den der Antike in dieser Form ganz fremden Freiheits- und Geschichtsgedanken nur fassen, weil eine Entscheidung auf ein aus der Ge4?)
48 )
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Kaufmann, Yorcks Philosophie, S. 59. Vgl. Antoni, a.a.O. S. 51/52.
schichte als der Fülle der Möglichkeiten entnommenes Ziel vorausgesetzt wird. Im christlichen Glauben ist es das Kommen des Reiches Gottes, die Seligkeit des einzelnen, bei Dilthey werden Freiheit und Ziel in der Aufforderung erblickt, im Leben eine neue Stufe zu betreten, eine neue Möglichkeit zu ergreifen. Ein greifbareres Ziel kann das „Leben", das als solches der unbekannte Gott bleibt, nicht bieten. In beiden Fällen kommt aber wiederum dem Hier und Jetzt eine große Bedeutung zu. Die entsprechende christliche Entscheidung ist jedoch im „Jenseits" dieser Weltzeit verankert mit der Verheißung von Gnade und der Forderung nach Erfüllung der Gebote, wodurch sie gerade in diese Weltzeit wieder hineinwirkt. Da dieser Hintergrund bei Dilthey, der nur eine Wirklichkeit anerkennt, fortfällt, kann die „Freiheit", welche ganz auf sich selbst in den immanenten Raum des „Lebens" sich gestellt sieht, eine nahezu absolute Rolle spielen. In Diltheys Lebensphilosophie ist also nicht nur der Gottesgedanke verweltlicht im Sinne des „Lebens", was wenig besagt. Viel wichtiger scheint uns die Feststellung zu sein, daß an die Stelle des Kommens des Gottesreiches und der entsprechenden Entscheidung des Menschen die eigenmächtige Freiheit des Menschen auf dem Hintergrund des „Lebens" getreten ist. Es handelt sich bei Dilthey nicht nur um säkularisierten Gottesglauben, sondern audi um nachchristliche Parusie und Eschatologie des „Lebens". Ohne metaphysische und verbindliche religiöse Hintergründe, wenn auch unter dauernder Besinnug auf die Geschichte schafft der Mensch sich im aktuellen Leben nach Dilthey seine Existenz, nachdem ihn die Einsicht in die Relativität alles Bisherigen für die Zukunft freigemacht hat. Man braucht keineswegs zur Verdeutlichung an Sartre zu denken, bei dem noch ganz wesentlich andere Momente, z. B. Nietzsches Atheismus, moderner Sturm und Drang gegen überkommende Traditionen und Vorstellungen sowie gegen die erdrückende Apparatur des heutigen Lebens mitwirken, was mit Diltheys „Geschichtlichkeit" wenig zu tun hat. Um den neuen absoluten Entscheidungsbegriff herauszustellen, setzen wir an diese Stelle ein Zitat eines Denkers der Gegenwart, der offensichtlich von Dilthey herkommt: Das Absolute ist „nichts anderes als der jeweils im Augenblick geschichtlich gewordene Anspruch des Seins, dem wir uns stellen müssen, wenn wir unser Dasein gewinnen wollen" 49 ). Der Akt der Entscheidung und des Entschiedenwerdens gewinnt eine zentrale Bedeutung auf dem 49 ) L. L a n d g r e b e , Vom geisteswissenschaftlichen Verstehen, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, II, 1 (1951) S. 16.
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Hintergrund des geschichtlich verstandenen Seins, das Dilthey das „Leben" nennt. Solche Erkenntnisse haben für die Sprache und Begriffswelt der neueren Theologie Bedeutung gewonnen, in welcher das Erbe Diltheys zu erkennen ist. Nicht nur über Heidegger, der den Diltheyschen Begriff „Geschichtlichkeit" radikalisierte, aber gewiß durch ihn in ganz besonderer Weise, ist dieser durch Vermittlung Bultmanns in jene eingegangen. Für ihn ist „Geschichtlichkeit" ein „Sein Können" des Lebens, das „durch Entscheidungen geht, in denen der Mensch nicht je etwas für sich wählt, sondern sich selbst als seine Möglichkeitwobei allerdings — die Umformung des Begriffs durch die Theologie wird deutlich — „das Sein des Menschen seiner Verfügung entnommen ist" 50 ). Der Begriff der „Geschichtlichkeit" als „Sein Können" des menschlichen Daseins scheint sich theologisch als fruchtbar zu erweisen. Wir erinnern uns daran, daß schon vor fast 1900 Jahren der heidnische Logos-Begriff einen Dienst der christlichen Kirche erwies. In unserem Zusammenhang gilt es aber immer zu bedenken, daß „Geschichtlichkeit" christlichen Ursprungs ist. Dadurch wird die Klärung des Begriffs, der auch von Nichtchristen gebraucht wird, erschwert, ermöglicht aber auch mit diesen ein Gespräch, das etwa von der Aufzeigung des „Nachchristlichen" in ihm seinen Ausgang nehmen könnte. Besonders reichhaltig sind die Anregungen Diltheys für die Philosophie selbst gewesen. Von den Versuchen seiner Schüler, z. B. von der historischen Schule her für dessen Gedanken eine noch überzeugendere und breitere Grundlage in der „konkreten Substanzialität" zu schaffen (Erich Rothacker), von einer strengeren Durchführung der Methode (Theodor Litt) und von dem Bemühen, im perspektivistischen Sinn Diltheys Versuche zur Überwindung des Relativismus fortzusetzen, wobei dann Goethe und der deutsche Idealismus, religiöser und aktueller gef aßt, eine neue Bedeutung erhielten (EduardSpranger), von den bei Dilthey selbst anknüpfenden Bestrebungen, seine Lebensphilosophie zu vertiefen und zugleich gegen Heidegger abzugrenzen (Georg Misch), wollen wir jetzt nicht reden, da das jedesmal eine besondere Auseinandersetzung erfordern würde. In allen Fällen ist das Bestreben unverkennbar, über die gesdiiditliche Relativität hinauszukommen. 50 ) Β u 11 m a η η , Glaube und Verstehen, 1933, S. 118. Solche und ähnliche Definitionen kann man heute überall lesen, sie haben schon ihren Weg in die populäre Literatur gefunden, z. B. H. J. Β a d e η , der Sinn der Geschieht«, 1948, Η. H. W a l z , Sinn und Unsinn der Weltgeschichte, 1947.
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Und es ist kein Zufall, daß sich letztere erst der Generation um 1900 in so unausweichlicher Schärfe gestellt hat. Auch frühere Generationen haben schon über die geschichtlich und menschlich bedingte Relativität der Religionen und Weltanschauungen nachgedacht, wie die Ringparabel beweist, die ja nicht Lessing erfunden hat, sondern schon vorfand. Freilich war damals das christliche Weltbild im ganzen nodi intakt, und selbst in der Periode, als der deutsche Idealismus es entscheidend umzugestalten suchte, stand es weiter im Hintergrund, war zum mindesten Gegenstand ernsthafter Auseinandersetzung. Herder und Hegel boten nodi einmal eine Synthese an, in- welcher Gott und seine Offenbarung sich direkt in der Individualität der Völker spiegelten. Daß diese Synthese der ersten Stufe des Historismus allgemein unglaubwürdig wurde, ist das „Verdienst" Diltheys gewesen, dessen neuer Historismus nicht mehr mit der Weltvernunft rechnet. Erst jetzt wird die Krise des geschichtlichen Bewußtseins als bedrohlich empfunden 51 ). Wenn auch Dilthey selbst noch glaubte, in neu errungener „Freiheit" dieser Not Herr werden zu können, so zeigt das die Zwiespältigkeit des „historisdien Bewußtseins", das einmal erdrückend wirkt und zugleich befreien soll und jede Dialektik zur Überwindung dieses Gegensatzes ablehnt, da sie das Leben vergewaltige. Unser Bild und Urteil über Dilthey bleibt darum auch zwiespältig, wie es dem Charakter seiner geschichtlichen Lebensphilosophie selbst am besten entspricht.
IV. Die Frage des Historismus bei Troeltsch a) Der
Ausgangspunkt
Erst nach der Entfremdung von der natürlichen Theologie des Mittelalters, deren Wurzeln bis ins Altertum reichen, sowie von der auf Offenbarung gegründeten Theologie gewann das Geschichtliche die große Bedeutung und ist fast unsere ausschließliche Sorge geworden 1 ). Kein Zufall war es darum, wenn bei dem Denker, der sich wie kaum ein anderer um die Erforschung des naturrechtlichen Denkens in Philosophie, Theologie und Geistesgeschichte sowie um die Frage der Absolutheit des Christentums kritisch bemüht hat, die geschichtliche Welt und ihre Probleme in den Mittelpunkt rückten. In Troeltsch wurde der moderne Historismus sich geradezu seiner selbst bewußt, 51 ) Vgl. zu letzterem H a n s B a r t h , Wahrheit und Ideologie, 1945, S. 291 ff. — S. 2 9 2 : „Wae den Historismus des späten neunzehnten Jahrhunderts radikal abhebt von seinen Vorläufern, ist der Verlust der Beziehung auf die transzendente E i n h e i t " .
' ) Vgl. Löwith, Natur und Gesdiichte, in: Die neue Rundschau 1951/1, S. 79.
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aber audi zugleich in solcher Gestalt, daß er in einem bestimmten Sinn überwunden werden mußte. Letzteres geschah bei Troeltsch wiederum durch einen Rückgriff auf die Geschichte selbst, verbunden mit bestimmten Anschauungen überkommener Metaphysik. Liebe zur Geschichte und Metaphysik hatten bereits den jungen Troeltsch nach einigem Schwanken zum Studium der Theologie veranlaßt, da in den 80er Jahren diese Wissenschaft in hohem Maße geschichtlich eingestellt war und zugleich in der damaligen Zeitlage „so ziemlich den einzigen Zugang zur Metaphysik zu bieten schien", wie er selbst in einem Rückblick am Ende seines unvollendet gebliebenen Lebens sagt. (Meine Bücher 4, S. 4. Im laufenden Text zitiert nach den Gesammelten Schriften.) Die historische Welt sollte dabei nur das Mittel bilden, um „in den Kern des religiös-metaphysischen Bewußtseins" einzudringen (4, S. 5). Ihm konnte darum noch weniger als zuletzt auch einem Dilthey das Spiel der Geschichte, das anscheinend im bloßen Werden und Vergehen besteht, genügen. Er strebte von vornherein nach einem festen Punkt, ohne jedoch die Geschichte verfestigen und dogmatisieren zu wollen. Im Gegenteil, beide Denker sind von der relativen Eigengesetzlichkeit ihres Fließens überzeugt. Der Unterschied zu Dilthey besteht darin, daß der eine Generation jüngere Troeltsch dessen historischen „Psychologismus", durch den er sich zunächst bereichern ließ, in seiner ganzen Problematik viel umfassender und früher empfand, dann aber auch als Theologe, der den christlichen Theismus niemals preisgab, sich ganz anders vor die Frage nach der Wahrheit überhaupt gestellt sah als Dilthey, bei dem ein lebendiges persönliches Verhältnis zum christlichen Glauben nicht zu erkennen ist. Die vergleichende Religionsgeschichte, die ihn über den theologischen Ausgangspunkt bei Ritschi hinausführte, ist es zunächst, die Troeltsch nach der umstrittenen „Absolutheit" des Christentums fragen läßt. Er lehnte in der betreffenden 1902 zum erstenmal erschienenen Schrift natürlich die Antwort der altgläubigen Dogmatik ab, deren Gedanke von der übernatürlichen Begründung des Christentums und der Kirche und des damit im Zusammenhang stehenden Wunderglaubens in der modernen Zeit seine Überzeugungskraft eingebüßt habe. Ebenso verschmäht er es aber auch, das „Wesen des Christentums" als Gipfel einer idealistisch verstandenen Religionsentwicklung zu begreifen 2 ). Wohl kann man bestimmte Typen aufzeigen — hier zeigt sich Diltheys Einfluß —, sie beschreiben und vergleichen, um ein gewisses Ergebnis zu gewinnen. Obwohl Troeltsch immer wieder *) Vgl. zu diesem W. K ö h l e r , Ernst Troeltsdi, 1941, S. 85 ff. 62
den geschichtlich b e d i n g t e n C h a r a k t e r des C h r i s t e n t u m s b e t o n t e und alle christlichen Erscheinungen in der Geschichte auf l e t z t e r e ganz z u r ü c k f ü h r t e , glaubt er doch in der christlichen R e l i g i o n eine gewisse Ü b e r l e g e n h e i t vor den übrigen Weltreligionen zeigen zu k ö n n e n . A l s personalistische R e l i g i o n gibt sie, so m e i n t er, d e m S e h n e n nach Erl ö s u n g die b e s s e r e A n t w o r t . D i e s e Ü b e r l e g e n h e i t des C h r i s t e n t u m s ist jedoch, wie er selbst zugibt, n u r relativ, da sie streng wissenschaftlich nicht zu b e w e i s e n ist, nur in einer freilich d u r d i die geschichtliche Betrachtung h i n d u r c h g e g a n g e n e n Selbstgewißheit ihren R ü c k h a l t h a t und lediglich bis j e t z t die höchste O f f e n b a r u n g sei. I m m e r h i n g e n ü g t das, u m d e m christlichen G l a u b e n zunächst e i n m a l angesichts der d a m a l s b e i den G e b i l d e t e n v e r b r e i t e t e n S k e p s i s und im Hinblick auf die Relat i v i e r u n g der christlichen R e l i g i o n , welche die religionsgeschichtliche Schule v o r n a h m , als d e r e n S y s t e m a t i k e r T r o e l t s c h galt, einen geschützten H a f e n zu bieten, den der Alt- und N e u p r o t e s t a n t i s m u s nicht m e h r zeigen k o n n t e . A l l e r d i n g s h a b e n die A n r e g u n g e n , die v o m südwestdeutschen Neukantianismus ihm z u s t r ö m t e n , dahin g e f ü h r t , daß er diese S t e l l u n g f e s t e r u n t e r b a u t e . D i e B e t o n u n g der G e l t u n g und G ü l t i g k e i t der sog. W e r t u r t e i l e , u n a b h ä n g i g v o n psychologischen W u r z e l n u n d geschichtlicher H e r k u n f t , w a r es, die ihn in dieser philosophischen Richtung w e r t v o l l e G e d a n k e n , die als S t ü t z e f ü r die eigene R e l i g i o n s t h e o r i e dienen k o n n t e n , erblicken ließ (4, S. 9 u. 1 0 ) 3 ) . E s entging ihm aber nicht, daß der gegenstandsgleichgültige A p r i o r i s m u s der neukantischen Schule das suchende u n d e r k e n n e n d e S u b j e k t nicht zu den R e a l i t ä t e n selbst f ü h r e (4, S. 1 0 ) . W e n n m a n aus der Geschichte verbindliche, o b j e k t i v e N o r m e n gewinnen will, b e d ü r f e n sie einer t i e f e r e n B e g r ü n d u n g , die ohne M e t a p h y s i k nicht a u s k o m m t . So k a m Troeltsch w i e d e r u m , bereichert durch Psychologie u n d W e r t l e h r e , auf s e i n e n A u s g a n g s p u n k t M e t a p h y s i k u n d Geschichte zurück u n d g e l a n g t e von der F r a g e nach d e r Absolutheit des Christentums ü b e r die rein geschichtliche und t y p i s i e r e n d e B e t r a c h t u n g h i n w e g zur F r a g e nach der Geschichtephilosophie ü b e r h a u p t , zum P r o b l e m des Geschichtlichen schlechthin, zu d e m „ H i s t o r i s m u s und seinen P r o b l e m e n " . Als dessen eigentliches gibt er an, „ w i e von d e m Historisch-Relativen der Weg zu g e l t e n d e n K u l t u r w e r t e n zu finden s e i " , wobei er h i n z u f ü g t , daß so 3 ) Vgl. zum Einfluß des Neukantianismus F. J . v o n R i n t e l e n , der Versuch einer Überwindung des Historismus bei Ernst Troeltsch, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeediidite, 8. Bd. (1930), S. 333 ff. — W. B r a c h m a n n , Ernst Troeltsdis historische Weltanschauung, 1940, S. 14ff. — F. K a u f m a n n , Geschichtsphilosophie der Gegenwart = Philos. Forschung«berichte 10 (1931), S. 57.
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d a s alte P r o b l e m der A b s o l u t h e i t des C h r i s t e n t u m s , d a s er zunächst nur auf „ d i e r e l i g i ö s e P o s i t i o n " a n w a n d t e , in A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit der W e r t l e h r e , die Richtung „ a u f ein G a n z e s der K u l t u r w e r t e " eingeschlagen h a b e (4, S. 1 4 ) 4 ) . Die B e g e g n u n g mit Max Weber h a t s e i n e m R i n g e n u m Geschichte u n d Geschichtsphilosophie eine w e i t e r e V e r t i e f u n g und noch g r ö ß e r e A u s w e i t u n g g e g e b e n . D i e bis d a h i n m e h r ideal b e s t i m m t e F r a g e und A n t w o r t nach den R e a l i t ä t e n der Geschichte w u r d e nun erst w a h r h a f t real g e s e h e n . D e r M a r x i s m u s , mit welchem sich Dilthey k a u m beschäftigt h a t t e , obwohl j e n e r wie k a u m eine a n d e r e I d e o l o g i e die Geschichtlichkeit des D a s e i n s zur G r u n d l a g e h a t , t r a t in den Gesichtskreis Troeltschs, w o b e i die U n t e r b a u - Ü b e r b a u l e h r e seine b e s o n d e r e A u f m e r k s a m k e i t e r r e g t e : „nicht als ob ich sie ohne w e i t e r e s f ü r richtig gehalten h ä t t e , aber sie enthält j e d e n f a l l s eine niemals zu u m g e h e n d e , wenn auch in j e d e m E i n z e l f a l l b e s o n d e r s zu b e a n t w o r t e n d e F r a g e stellung wie weit ist E n t s t e h u n g , E n t w i c k l u n g , A b ä n d e r u n g , m o d e r n e S t a u u n g des C h r i s t e n t u m s soziologisch b e d i n g t u n d dieses selbst etwa ein a k t i v g e s t a l t e n d e s soziologisches P r i n z i p " (4, S. 1 1 ) . In den „ S o z i a l l e h r e n der christlichen K i r c h e " 1912 zeigt er, daß die christliche R e l i g i o n , deren soziale D a r s t e l l u n g er an den einzelnen T y p e n a u f z e i g t , n o t w e n d i g e r w e i s e mit der Welt K o m p r o m i s s e schließen muß, w e n n und da j e n e j a i n die Welt der Geschichte e i n g e h t 5 ) . E i n rein geistiges C h r i s t e n t u m ist u n f r u d i t b a r u n d geschichtslos, k a n n also n i e m a l s Geschichte b e w e g e n u n d gestalten. B e s o n d e r s im Mittelalter ist nach T r o e l t s c h die V e r b i n d u n g u n d E i n h e i t von W e l t und Kirche erreicht w o r d e n . D e r dogmengeschichtlichen D a r s t e l l u n g eines Harnack, der ähnliche M o t i v e zu G r u n d e l a g e n , ist in den „ S o z i a l l e h r e n " eine entsprechend soziologisch-realistische zur S e i t e g e s t e l l t 6 ) , w o b e i die V e r b i n d u n g d a s ,, N a t u r r e c h t " herstellt (4, S. 1 2 8 ) . T r o t z dieser s t a r k e n V e r o b j e k t i v i e r u n g des geschichtlichen sich in T y p e n n u n m e h r d a r s t e l l e n d e n C h r i s t e n t u m s wollte T r o e l t s c h n i e m a l s in der rein o b j e k t i v e n B e t r a c h t u n g stehen bleiben o d e r sie auf sich b e r u h e n l a s s e n . H i e r i n unterscheidet er sich von M a x W e b e r , der die 4 ) Brachmann, a . a . O . : „ a u s der mehr a p o l o g e t i s c h beeinflußten F r a g e nach der A b s o l u t h e i t des C h r i s t e n t u m s " w u r d e „die schlechthin geschichtsphilosophische Frage nach Normen a n g e s i c h t s d e r R e l a t i v i t ä t a l l e s b l o ß H i s t o r i s c h e n " , S. 17. 5 ) Für A n t o n i ist Troeltsch der typische Vertreter der Notwendigkeit des Kompromisses: „Man kann sagen, daß wenn für Heraklit und für Hegel der Kampf der Vater aller Dinge war, für ihn derselbe K a m p f ein Kompromiß wurde", a.a.O. S. 66.
·) Vgl. Köhler, a.a.O. S. 269 ff. — Antoni S. 89 ff., 92 ff.
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rein sachliche Betrachtung von der Entscheidung, welche die Gegenwart etwa in der Politik forderte, trennte. Troeltsch bleibt audi gerade an dieser Stelle Metaphysiker, dem es auf die innere Kontinuität des vordergründigen Geschehens mit dem Grund des Alls ankommt. Da aber Metaphysik alter Richtung und die einfache Berufung auf die Offenbarung wie auf die Vernunft nicht mehr möglich sind, muß die Geschichte selbst diese Rolle übernehmen 7 ). Die geschichtliche Betrachtung, die zunächst das Absolute in der Geschichte in Frage stellt, findet es in dem Prozeß wieder, ja empfängt sogar Antriebe für das ethische Handeln, aus ihr 8 ). Um eine solche nicht nur formale, sondern materiale Geschichtsphilosophie, die so etwas leisten könne, hat Troeltsch in seiner Berliner Zeit bis zuletzt gerungen. I n seinem letzten großen Werk „der Historismus und seine P r o b l e m e " 1922, einer großangelegten Sammlung von Aufsätzen zu dieser Frage (Ges. Schriften 3) legte er freilich nur ihren „formalen" Charakter dar und bietet vornehmlich einen geschichtlichen Aufriß, der bezeichnenderweise fast zwei Drittel des Buches umfaßt. Wenn er auch den systematischen Teil schuldig geblieben ist, so sind doch die Richtung und z. T . der Inhalt der materialen Geschichtsphilosophie im ganzen bereits zu erkennen, zumal sich das Formale und Materiale bei einem so auf das Konkrete und Individuelle eingestellten Denker wie Troeltsch überhaupt nicht trennen lassen. b) Die Probleme 1. Die Grundlage
des der
Historismus Geschichte
Immer wieder hat Troeltsch bei der Darstellung des modernen Geistes, dessen Ursprung er bekanntlich trotz allen in der Reformationszeit zugegebenen Vorläufern nicht in dieser Epoche, sondern in der Aufklärungszeit sah, auf die Notwendigkeit und Berechtigung historischer Kritik hingewiesen. Die heute überall geltende Methode, die ihr Kausalverständnis, das zur Beurteilung vergangener Geschehnisse dient, aus der Analogie der Gegenwart gewinnt, bildet die Voraussetzung, um zu einer wirklich universalen Betrachtung der Geschichte zu gelangen. Es mag uns heute ein wenig übermütig klingen, wenn Troeltsch meint, das wirkliche Geschehen könne nur erkannt werden, „wenn alles Geschehen aller Zeiten als gleichartig in den gleichen psychologischen Grundgesetzen begründet ist, wenn alles Vergangene nach der Analogie des Gegenwärtigen beurteilt werden d a r f " 7)
Vgl. Brachmann, a.a.O. S. 21.
8)
Vgl. Antoni, a.a.O. S. 7 3 , 65.
5 Fülling, Geschichte als Offenbarung
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(4, S. 316). Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, daß die Historie nur „rein erfahrungsimmanent" vorgehen darf, um die geschichtlichen Mächte zu erkennen und nach einzelnen Kulturtypen zu beschreiben 9 ). Kausalität, Immanenz und Analogie, die Troeltsch mit Selbstverständlichkeit bejaht, scheinen indes im Gegensatz zu jedem Absolutheitsanspruch zu stehen 10 ). Selbstverständlich ist Troeltsch niemals ein Vertreter des selbstgenügsamen Geschichts-Positivismus gewesen. Sein Bemühen geht immer dahin, trotz „Immanenz" zu einer Anschauung von der Geschichte zu gelangen, die über diese hinausführt, auf metaphysische Wurzeln und Hintergründe weist. Er hat auch niemals eine „neutrale", blasse, unbeteiligte Objektivität gefordert. In. Abgrenzung gegen den mechanischen Entwicklungsgedanken betont er, der Historiker sei ohne vertraute Beziehung zu seinem Gegenstand nicht denkbar. Bei genauer Betrachtung zeige sich sogar, daß dessen Kategorien irgendeiner Philosophie entstammen (3, 669/70). Es erhebt sich die Frage, wie bei diesem Unternehmen Wahrheit erkannt werden kann, ohne Gefahr zu laufen, subjektiver Willkür zu erliegen. Aber gerade von der Standortsgebundenheit der historischen Erkenntnis unternimmt Troeltsch die Überwindung der drohenden Gefahr des Historismus, indem er auf die innere Verbindung von Subjekt und Geschichtsprozeß hinweist, in dem die konkreten Werte gegeben seien, welche ersteres in letzterem finde und zu verwirklichen suche11). Metaphysisch unterbaut wird dies durch einen Rückgriff auf die Leibnizsche Monade. Das so vorgestellte Ich „partizipiert" dann „vermöge des Unbewußten" oder der Identität mit dem „Allbewußtsein am Gesamtgehalte des Wirklichen" (3, S.675). Das Fremdseelische, um dessen Erkenntnis sich das geschichtliche Bewußtsein bemüht, kann nur dadurch von uns aufgehellt werden, daß „unter gewissen Bedingungen die vom individuellen Bewußtsein erlebten Ausschnitte des Alls als eigene Erlebnis- und Erfahrungswirklichkeit auf das eigene Ich" bezogen werden. Gerade die Leibnizsche Monade eigne sich dazu, weil sie bei aller grundsätzlichen Identität des endlichen und unendlichen Geistes die tatsächliche Endlichkeit der menschlichen Individualität aufrecht erhalte (ebd.). Neben Leibniz kann Malebranche noch dazu verhelfen, die Möglichkeit des Verständnisses für das Fremdseelische als „Erkenntnis in Gott" zu begreifen (3, S. 676). Nur auf e ) Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, 1911, S. 7. 10 ) H. Thielicke, Theologische Ethik I, S. 41 (§ 115). " ) K. Mannheim, a.a.O. S. 25.
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dieser metaphysischen Grundlage kann man erst und wirklich zum geschichtlichen Verstehen gelangen, betont Troeltsch (3, S. 6 7 9 ) . Das Fremdseelische empfinden wir dann „wie unser eigenes Leben, indem wir es dodi zugleich als ein fremdes, einer eigenen Monade angehöriges empfinden" (3, S. 684),. In seinen autobiographischen Bemerkungen sagt er zusammenfassend, er sähe die Lösung der geschichtsphilosophischen Problematik „in der Richtung Malebranche, Leibniz und Hegel" (4, S. 10). Diltheys geisteswissenschaftliches Verstehen wird metaphysisch vertieft und begründet! Es sind also keineswegs nur hingeworfene Gedanken, sondern sie drücken Troeltschs letzte Überzeugung aus 1 2 ). Das Gespenst des Relativismus glaubte Troeltsch dadurch bannen zu können, daß er die Immanenz auf die Transzendenz, Menschliches auf Göttliches, Geschichtliches auf Übergeschichtliches in direkter Linie bezog. E r meinte dabei seinem christlichen Theismus treu bleiben zu können. Seiner in der „Glaubenslehre" dargelegten Überzeugung entsprach es, daß sich der göttliche Geist, der überall gegenwärtige Allgeist nicht vom Weltgeschehen trennen lasse, ja daß er sich im weltgeschichtlichen Prozeß besser wahrnehmen läßt als in besonderen Wundern und Offenbarungen 1 3 ). Es ist eigentümlich, wie in einer anscheinend so spirituellen Religionsauffassung, die vor jeder sichtbaren Offenbarung zurückscheut, die von uns wahrgenommene und erlebte Geschichte selbst zur Offenbarung wurde. Sie ist als ganze nicht nur Ausdruck göttlichen Schaffens und Handelns, sondern auch seines Kundtuns. Diese Voraussetzung, der ein noch zu klärender „Glaube" zu Grunde liegt, ist wesentlich für seine Geschichtsphilosophie. 2. Individualität
und
Entwicklung
Kein Zufall dürfte es sein, wenn Troeltsch bei der Darstellung des Individualitätsbegriffes auf die Romantik zurückgriff. Sie hat dem 12 ) Vgl. Brachmann, a.a.O. S. 2 5 f f . — 3 0 : „ D a s i s t T r o e l t s c h s eigene metaphysische Grundkonzeption, die alle Teile seines Werkes zusammenschließt". — Vgl. Köhler a.a.O. 367 ff. — Ο. H i η t ζ e , Troeltsch und die Probleme des Historismus, Hist. Zeitschrift 135 (1927), S. 1 8 8 — 2 3 9 vermag ihm nicht zu folgen. — S. 2 3 3 : Es muß zwischen dem schöpferischen Lebensprinzip in Natur und Geschichte einerseits und der Gottesidee im menschlichen Geist mehr und grundsätzlicher unbeschieden werden. — Theol. K r i t i k z. B . bei G o g a r t e n , Ich glaube an den dreieinigen Gott. Eine Untersuchung über Glauben und Geschichte 1926, S. 32/33. — H. H. Schrey, E r n s t Troeltsch und sein W e r k , Theologische Rundschau, Neue Folge 12 (1940), S. 155. l s ) Vgl. K ö h l e r , a.a.O. S. 165, 176, 1 8 3 ; 1 9 1 : „Troeltsch hört den Mantel Gottes durch die Geschichte rauschen, spürt die göttliche Allmacht und unendliche Fülle des göttlichen L e b e n s " .
5*
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historischen Gebilde die eigene Form gelassen, es zunächst nur nach eigenem Maßstab gemessen und sich gut in „fremde historische Sinntotalitäten" einfühlen können „unter Fernhaltung aller eigenen Wünsche und Ideale" (3, S. 119). Im Gegensatz zur in der Naturwissenschaft geltenden Methode gilt in der Geschichtsbetrachtung die Kategorie der individuellen Totalität (dazu und zum folgenden 3, S. 3 2 f f . ) 1 4 ) , wobei aber keineswegs an den einzelnen, sondern an „Kollektiv-Individualitäten" wie Völker, Staaten, Kulturtendenzen, Religionsgemeinschaften zu denken ist. Sie stellen alle etwas Ursprünliches und Einmaliges dar und sind Wert und Sinneinheiten. Die genaue inhaltliche Bestimmung dieser Einheiten zu klären, ist Aufgabe der materialen Geschichtsphilosophie, welche die Geschichte dauernd nach den in ihr geltenden Werten befragt. So verschlingen sich formale und materiale Geschichtsphilosophie, logische und ethische Betrachtung 15 ). In Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Wert- und Geltungslehre kommt es Troeltsch darauf an, die lebendige Beziehung von Faktischem und Idealem, von naturhaft Gegebenem und ethisch Aufgegebenem in der Individualität aufzuzeigen, ein gleiches Interesse, das wir schon bei Herder und Hegel feststellten. Den drei Denkern kam es dabei jedesmal auf eine im einzelnen allerdings sehr verschiedene metaphysische Begründung jener von Haus aus entgegengesetzten Größen an. Das Individuelle ist also bei Troeltsch nicht „bloße logische Kategorie", sondern „eine menschliche Schöpfung und metaphysische Realität", ein „Ineinander von Tatsache und Geist, von Natur und Ideal, von Notwendigkeit und Freiheit, von Allgemeinstem und Besonderem". Erst die Beziehung auf die Metaphysik verbürge, daß die Wertrelativität eben nicht nur Relativität anzeige: „Denn es ist ein Wille zum Schaffen und Formen, der in den endlichen Geistern zur Selbstgestaltung aus göttlichem Grund und Triebe wird" (3, S. 211 und 212). Weil der göttliche Urgrund im geschichtlichen Prozeß überall am Werke ist, sich überhaupt in ihm erst offenbart, ist es nach Troeltsch nicht möglich, den gewöhnlichen Entwicklungsgedanken in der Geschichte einfach anzuwenden, der in seiner kritizistisch-idealistischen Fassung (als unendlicher progressus bei Kant etwa) und in seiner naturalistisch-evolutionären Form entweder im deistischen bzw. atheistischen-agnostizistischen Verständnis das Fernsein oder Fehlen Gottes voraussetzt. Wenn sich der göttliche Allgeist jeder Zeit in der ge14)
Vgl. auch Heinemann, a.a.O. S. 2 2 1 / 2 2 .
" ) Hintzes Kritik, a.a.O. S. 205.
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schichtlichen Individualität ausspricht und kundtut, wie doch Troeltsch meint, kann es keine „Entwicklung" im angeführten Sinne geben, sondern nur Entfaltung und Fortschreiten in der rational-irrationalen Kontinuität von Individuum und All. Troeltsch läßt „Entwicklung" nur gelten, wenn es sich um die einer Zeit, Gruppe, Einheit, kurz um eine totale Individualität handelt. Nur mit solchen „Einzel-Entwicklungsk r e i s e n " hat es der Historiker zu tun, und der Weg zu einer Universalgeschichte, die auch Troeltschs Fernziel ist, darf nur mit großer Vorsicht beschritten werden 1 6 ). Eine entschiedenere Ablehnung des damals noch weit verbreiteten vulgären Fortschrittsgedankens läßt sich wohl kaum denken. Dabei sind bei Troeltsch keineswegs kulturpessimistische Gründe oder mangelndes Vertrauen auf die Wissenschaft die bestimmenden Antriebe. Kultur und Wissenschaft, denen er sein Leben widmete, hat er immer hoch geschätzt. Eine Ursache dürfte neben dem schon skizzierten Individualitätsbegriff, der keine Ausdehnung ins Unendliche zuließ, auch wiederum in seiner theistischen Metaphysik liegen, die er von Anfang an besaß als „indiskutable Voraussetzung" 1 7 ). Der damit verbundene, wohl niemals bezweifelte Jenseitsglaube legt dem Streben nach einer autonomen Geschichtskonstruktion und einheitlidien eigenmächtigen Menschheitskultur gewisse Schranken a u f : „Genug, daß jeder große Zusammenhang sein eigenes Leben und seine eigenen Ideale hat. Leiden wir unter deren Hemmung in tausendfacher Kleinheit und Gemeinheit, Verworrenheit und Sinnengebundenheit, dann ist es immer noch vernünftiger, an die Vollendung des Individuums, das dazu bestimmt und fähig ist, jenseits des Leibestodes zu denken, als sich mit einem Entwicklungsergebnis zu beruhigen, das die letzten Generationen genießen werden und das auch für sie nicht sehr wahrscheinlich i s t " (3, S. 188/89) 1 8 ). 1 6 ) Vgl. B r a d i m a n n , a.a.O. S. 23/24. — Hintze a.a.O. S. 209: „ T r o e l t s c h k e n n t eigentlich n u r e i n e F o r m der historischen Entwicklung, nämlich die, welche durch eine „ I d e e " , d. h. durch einen geistigen K u l t u r w e r t . . . beherrscht wird. D i e historische Entwicklung ist also d e r kontinuierliche W e r d e z u s a m m e n h a n g , in dem eine solche W e r t e i n h e i t zur V e r w i r k l i c h u n g g e l a n g t " . I n s o f e r n ist T r o e l t s c h keineswegs ohne w e i t e r e s ein „ h e r v o r r a g e n d e s B e i s p i e l " f ü r den E n t w i c k l u n g s g e d a n k e n , wie es H e i m s o e t h , Geschichtsphilosophie 1948, S. 599, d a g e g e n m e i n t . — Zur K r i t i k an Troeltsch vgl. auch H e i n e m a n n , a.a.O. S. 2 2 2 / 2 3 . 1 7 ) A n t o n i , a.a.O. S. 65: „ E s w a r ein T h e i s m u s , d e r N a t u r und G e i s t , Welt und ü b e r n a t ü r l i c h e Wirklichkeit, menschliches I n d i v i d u u m und Gott zugleich t r e n n t e und v e r e i n t e " . l e ) Vgl. der H i s t o r i s m u s und seine Ü b e r w i n d u n g , S. 6 0 : „ D i e Gesdiichte ist i n n e r h a l b ihrer selbst nicht zu t r a n s z e n d i e r e n und k e n n t k e i n e E r l ö s u n g a n d e r s als in G e s t a l t g l ä u b i g e r V o r w e g n a h m e des J e n s e i t s o d e r v e r k l ä r e n d e r S t e i g e r u n g e n p a r t i e l l e r E r l ö s u n g " . — V o n R i n t e l e n , a.a.O. S. 357, will in diesen letzten Vor-
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Die Geschichte zeigt also ein doppeltes Gesicht: Einmal ist sie die Stätte, in welcher sich Gott im Sinne einer zur Welt gewordenen revelatio generalis in den individuellen Totalitäten so offensichtlich bezeugt, daß man nicht nur auf wunderbare besondere Offenbarung, sondern auch auf idealistische und rationale Geschichtskonstruktionen verzichten kann; auch ist damit der „intellektuellen Redlichkeit" des 19. und 20. Jahrhunderts Genüge geleistet. Zum anderen ist aber nun erst recht die Geschichte voller Rätsel, Ungereimtheiten und Unvollkommenheiten; sie entspricht als solche ganz Diltheys „Leben". Für Troeltsch ergibt sich aus diesem Widerspruch von „transzendenter" und realistischer Immanenz der Sprung in den Glauben an die Überwelt des Jenseits. 3. Die zwei Arten
des
Historismus
Wie aus dem Dargelegten hervorgehen dürfte, hat Troeltsch unter Historismus zunächst eine Methode zur Erfassung des Geschichtlichen mit Hilfe des Gedankens der individuellen Totalität verstanden. Da aber diese immer mit Inhalten gefüllt ist, die auf eine Metaphysik hinweisen, ist Historismus zugleich eine Lebensanschauung 1 9 ). Als solche bejaht ihn· Troeltsch ganz besonders, zeigt er doch den Weg zu den wertvollen Realitäten der Vergangenheit und weist auch Wege in die Zukunft; denn die materiale Geschichtsphilosophie knüpft gerade an die „wertvollsten möglichen Tendenzen der Vergangenheit und Gegenwart", nicht einfach an „die stärksten tatsächlichen" (3, S. 77). Auf diese zur „Kultursynthese" hindrängenden Weise glaubte Troeltsch vor der Gefahr rein kontemplativer Haltung bewahrt zu sein und die Geschichte kulturphilosophisch gemeistert zu haben 2 0 ). Er weiß indes von dem „schlechten Nebensinn" des Wortes Historismus zu seiner Zeit, den auch er ablehnt. „Schlechter Historismus" ist es, wenn die Historie bedenkenlos an die Elemente, Gesetze und Notwendigkeiten der Naturwissenschaft anschließt (3, 67) 2 1 ). Aber darüber hinaus kann die Historie selbst zur Not werden, wenn sie nicht mehr imstande ist, über die ständig anwachsenden Stoffträgen ein Zurücktreten metaphysischer Gedankengänge finden; ähnlich Srbik, a.a.O. II. S. 278. Vgl. Liebert, Ernst Troeltsdi „Der Historismus und seine Überwindung", Kant-Studien 29 (1924), S. 359—364. — Sdirey a.a.O. S. 157. 19 ) Vgl. Hintze, a.a.O. S. 190. 2 0 ) Vgl. Antoni, S. 113. 21 ) Zum Unterschied der beiden Historismen bei Troeltsdi, vgl. Heussi, a.a.O. S. 13/14.
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massen hinweg einen klaren Blick für das Wesentliche zu bewahren, oder gar nur noch das Schauspiel sich bekämpfender Hypothesen bietet, sich in Streitigkeiten zur Quellenkritik erschöpft. Unter diesen Umständen wirkt sich das, was vor Jahrzehnten eine Quelle der Befreiung und Erhebung war, als „Last" und „Verwirrung" aus (3, S. 10). Mit solchen Hinweisen beginnt Troeltschs Werk über den Historismus. Sie bilden den wuchtigen Ausgangspunkt für die letzte Periode seines Lebens, während einem Dilthey ähnliche Gedanken bei oder nach dem Abschluß seines eigentlichen Lebenswerkes kamen. Dieser meinte durch die Aufzeigung der Relativität vergangener Dinge den ungehinderten Zugang zu den bewegenden Fragen und Aufgaben der Gegenwart zu haben, so daß er bei aller Resignation, die immer wieder über ihn kam, doch frohen Mutes und mit hoffnungsvollem Blick in seiner Zeit stand. Troeltsch dagegen gründete sein Vertrauen auf die Zukunft nicht mehr auf die befreiende Relativität, nachdem er den „schlechten" Historismus kennen gelernt hatte, sondern auf die materiale Geschichtsphilosophie, welche Vergangenheitswerte für Gegenwart und Zukunft in neuer „Synthese" fruchtbar machen soll. Dahinter steht sein Glaube an die Möglichkeit einer sinnvollen Verbindung von christlichem Theismus und Geschichte. Da er in der vergleichenden Religionsgeschichte die Anfechtung durch die Relativität glaubte bestanden zu haben, faßte er das ungleich größere Problem der geschichtlichen Relativität an, das der Historismus in sich barg. Wird es dem undogmatischen christlichen Theismus gelingen, die säkularen Kräfte des Geschichtlichen und seiner unruhigen Relativität zu bändigen? Troeltsch hat wohl wirklich gemeint, den Zeitgenossen eine befreiende Lösung, wenn auch nicht mehr so unbeschwert und sicher wie Dilthey, anbieten zu können. Das Bild des Troeltsch, der sich immer nur danach gesehnt hätte, das rettende Ufer aus dem Meer der uferlosen Geschichte zu erreichen, ist wohl pathetisch übertrieben! Am Ende seines Historismus-Werkes gibt er die Formel an, wenn er die „Idee des Aufbaus" dahingehend zusammenfaßt: Die Geschichte soll durch Geschichte überwunden und dadurch die Grundlage für neues Schaffen werden (3, S. 772) ! Die Fragwürdigkeit dieser Formel, die doch auch wieder an Diltheys Bemühen erinnert, das „geschichtliche Bewußtsein" durch die Relativität frei zu machen, wird uns noch beschäftigen. Vorher gilt es noch, die entscheidenden Punkte dieses Geschichtsglaubens aufzuzeigen, von dem sich der Unterstaatssekretär im preußischen Kultusministerium, 71
welches Amt Troeltsch nach der Revolution eine Zeitlang ausübte, gewiß eine neue Phase des kulturellen Lebens versprochen hat. c)
Die Versuche zur Überwindung 1. Kultursynthese
und
des
Historismus
Universalgeschichte
Weil es sich in der Geschichte um individuelle Gebilde handelt, muß man in ihr auf absolute Maßstäbe im Sinne von Allgemeingültigkeit und Zeitlosigkeit verzichten. Das bedeutet nicht, daß jede Apriorität und jede Gewißheit wegfallen. Die notwendigen Maßstäbe müssen aber „als individuelle Setzungen aus jeder großen Gesamtsituation heraus neu gebildet und gefunden werden" (3, S. 166). Eine solche Gültigkeit ist darum nicht ewig und unveränderlich, sondern bezieht sich immer nur auf einen jeweiligen Bestand und Ausschnitt des geschichtlichen Lebens. Vor dem Relativismus werden wir nur durch die Annahme bewahrt, daß hinter den Wandlungen der allgegenwärtige Gott steht (3, S. 183 und 184). Unter diesen Umständen können und müssen nicht nur der einfache Fortschrittsglaube und die einseitig verfahrende Universalgeschichte, sondern auch der bisherige Humanitätsgedanke aufgegeben werden (3, S. 184 ff.). Dafür aber gewinnen wir an Lebenstiefe, aus der heraus mit der inneren Beweglichkeit und Wandlung Gottes selber auch die Wandlung und Beweglichkeit der Wahrheit und des Ideals verständlich wird zusammen mit einer trotzdem verbleibenden Einstellung auf eine letzte Wahrheit und Einheit, die aber nur Gott selber weiß" (3, S. 184). Yon dieser „Metalogik" ist der Wandel der Ideale verständlich, aber auch die Überwindung des Relativismus möglich. Der denkende Mensch darf also annehmen, daß ihm in seiner jeweiligen Kultursphäre Gott, der Allgeist, begegnet, und zwar in ihr selber als ganzer Totalindividualität. Die Universalgeschichte beschränkt sich darum für uns auf das „Europäertum" (3, S. 704). Die Menschheit als ganze zeigt weder eine einheitliche Entwicklung noch ist sie eine geistige Einheit (zum „Europäismus", 3, S. 706 ff.). Alle Bemühungen der Historiker, sie dennoch aufzuzeigen, sind zum Scheitern verurteilt, da jeder in Wahrheit nur den eigenen Kulturkreis mit den ihm vertrauten Sinngehalten verstehen und beurteilen kann. Die Aufgabe des Europäers, wozu Troeltsch natürlich den Amerikaner und mit Einschränkung auch den Russen zählt, besteht darin, sein eigenes geistiges Werden erneut zu durchdenken und vom Standpunkt der Gegenwart unter Beziehung auf das Wertvolle der 72
Vergangenheit das Gewordene kritisch und schöpferisch weiterzubilden (3, S. 711). Troeltsch hat im Aufbau der abendländischen Kultur vier Elemente für wesentlich gehalten. Das erste entstammt zwar dem Orient, auf das aber der Kultursynthetiker und Theologe nicht verzichten will: der „hebräische Prophetismus und die hebräische Bibel" (3, S. 765 ff. zu diesem und dem folgenden). Mit antiken Vorstellungen vereinigt, bildete jenes sich zum Christentum weiter, das der Grundpfeiler des Abendlandes geworden ist. Dazu tritt das klassische Griechentum der Polis, dessen Kunst und Wissenschaft „treibende Kraft und zügelnde Form für das Abendland" geworden sind. Daneben steht der antike Imperialismus der Römer, der nicht nur in Recht und Verwaltung eine weitere Grundlage für die abendländische Welt abgegeben hat, sondern auch eine solche für den Großstaat überhaupt bedeutet und zugleich den Hintergrund für die Ausbildung des Christentums als Weltreligion darstellt. Als letztes nennt er das abendländische Mittelalter, dessen Geist der Innerlichkeit und des Unendlichkeitsdranges erst den reifen Europäismus ausbildete. An die Stelle eines starren Wertsystems, wie es der Neukantismus aufstellte, ist damit die geschichtliche Kultursynthese getreten 22 ). Neben der Kultursynthese steht als zweites Thema der materialen Geschichtsphilosophie die schon mehrfach erwähnte Universalgeschichte. Beide gehören natürlich eng zusammen und stehen im Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit, bilden ein notwendiges Zirkelverhältnis (3, S. 694). Aus der empirischen Geschichte läßt sich jene nicht gewinnen, da diese dem einzelnen Beobachter unübersehbar ist und man, wie gesagt, von Entwicklung im gewöhnlichen Verständnis nicht reden kann. Eine Universalgeschichte ist nur vom Standpunkt der europäischen Kultursynthese möglich. Sie ist dann lediglich herausgeholt „aus dem Entwicklungstrieb unseres geschichtlichen Lebenszusammenhangs" (3, S. 692). Eine solche Schau der Dinge muß das Gegebene zusammendrängen und erfordert „einen Zuschuß des Glaubens an eine im Gegebenen sich offenbarende göttliche Idee" (ebd.). Unter Ablehnung von Dichtung und apriorischem Konstruieren will sie „illusionslose kritische Tatsachenforschung" verbinden mit „einem Antrieb ethischen Entschlusses und religiösen Glaubens an die im Wirklichen durchdringenden Ideengehalte" (3, S. 693). 22 ) Vgl. zur Kultureynthese von Rintelen, a.a.O. S. 342 ff., Kaufmann, a.a.O. S. 59ff.; Ernst L a s l o w s k i , Probleme des Historismus. In: Historisches Jahrbuch (Görres-Gesellschaft) 62—69 (1949), S. 594/95.
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Wie sich in den einzelnen Zeiten die Kultursynthese jedesmal vollzieht, hängt ζ. B. ab von den „geographischen und biologischen Bedingungen des eigenen Lebenskreises" und anderen Umständen der bisherigen Entwicklung, kurz von der „historischen Individualität des eigenen Kulturkreises" 23 ). Die Stellungnahme kann und soll aber nicht mechanisch und -willkürlich gesehen, sie ist vielmehr „schöpferische Tat und Wagnis der an eine Zukunft Glaubenden" (3, S. 771). Genauer gesagt ist sie eine Siebung und Prüfung der Werte, die das Gewissen vornimmt 23 ). Nur eine solche auf dem persönlichen Gewissen beruhende Entscheidung ist „lebendige Tat und geschichtliche Leistung" 24 ). Angesichts der abendländischen christlich geformten Geistesgeschichte ist ein solcher Glaube der sittlichen Person nicht zu entbehren, wenn er audi nur Wahrheit „für uns" ist 25 ). An dieser Stelle wird noch einmal deutlich, wie sehr Troeltsch sich bemüht, die Relativität der geschichtlichen Größen mit Hilfe doch wieder audi nur aus der Geschichte geschöpfter Werte, die für uns unter bestimmten Umständen absoluten Charakter erhalten, zu überwinden; der Vergangenheit stehen wir in freiem Gehorsam gegenüber, aus welcher wir die Wegweisung für die Zukunft erlangen. 2. Das Wagnis des Glaubens
und die Rechtfertigung
der
Kultur
Mit Recht sagt man, daß erst in dem Gedanken der Kultursynthese Höhe und Ergebnis der Troeltschschen Geschichtsphilosophie vorliegen 26 ). Der Freund Meinecke fragt aber weiter, ob uns Troeltsch wirklich einen echten positiven Weg in die Zukunft habe weisen können. Groß, ja leidenschaftlich sei sein Drang gewesen, aus der bloßen Betrachtung und Beschreibung vergangenener Anschauungen herauszukommen. Aber es habe immer wieder zwischen deren Darstellung und dem Neuen ein sonderbares Mißverhältnis bestanden: „Seine Freunde, die ihm in Bewunderung und Liebe zugetan waren und eine der stärksten Lichtquellen ihres Lebens in ihm verloren haben, mußten sich doch oft, wenn sie untereinander ihre Eindrücke von ihm austauschten, gestehen, daß seine positiven Leitgedanken und Ziele in einem gewissen Mißverhältnis standen zu dem phänomenalen 23 )
Der Historismus und seine Überwindung, S. 39. ebd. S. 40; zur engen Verbindung von persönlichem Wagnis, Glauben und Kultursynthese, vgl. H. B e n k e r t , der Begriff der Entscheidung bei Ernst Troeltsch. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 12 (1931), S. 431, 432. 25 ) Überwindung S. 41. 2β ) Hintze, a.a.O. S. 226. 24 )
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R e i c h t u m sublimierter historischer Anschauungen, daß seine g e w a l t i g e R e d e o f t m e r k w ü r d i g v e r s a g t e , wenn es galt, am Schlüsse g r o ß a r t i g e r R e p r o d u k t i o n e n f r e m d e n L e b e n s u n d D e n k e n s f e s t , k l a r und unzweideutig d a s eigene Wollen u n d D e n k e n zu e n t w i c k e l n " 2 7 ) . E r h ä t t e also den H i s t o r i s m u s doch nicht ü b e r w u n d e n , s o n d e r n w ä r e von ihm b e s i e g t und h ä t t e sich v o n der F e s s e l der Geschichte doch nicht b e f r e i e n k ö n n e n ! Zu p r ü f e n ist, ob die K u l t u r s y n t h e s e wirklich die Ü b e r w i n d u n g des relativistischen H i s t o r i s m u s leisten k a n n . Antoni sagt h a r t : „ E s ist k l a r , daß er nichts anzubieten v e r m o c h t e " . T r o e l t s c h r a t e nämlich den Christen nichts a n d e r e s als „ a u c h weiterhin an d a s C h r i s t e n t u m zu glauben, weil es die v o m Schicksal g e g e b e n e O f f e n b a r u n g s e i " , d e m E u r o p ä e r l e g e er a u f , „ d e m I d e a l der a b e n d l ä n d i s c h e n K u l t u r t r e u zu bleiben, weil dieses I d e a l die v o m Schicksal a n g e w i e s e n e M a n i f e s t a t i o n des A b s o l u t e n s e i " 2 8 ) . D a s C h r i s t e n t u m soll sich aus d e m C h r i s t e n t u m e r n e u e r n d f o r t b i l d e n , d a s A b e n d l a n d durch B e s i n n u n g auf die e i g e n e T r a d i t i o n in kritischer B e s i n n u n g e r n e u e r n , u n d b e i d e sich d a r a u f besinnen, daß sie z u s a m m e n g e h ö r e n ! D a s m a g geschichtlich gesehen richtig sein, es ist a b e r a n z u n e h m e n , daß solch ein A p p e l l bei u n d trotz aller geschichtlichen Wucht u n d Schwere ins L e e r e u n d Unverbindliche stößt, weil eine solche ethisch-kultur-philosophische Anr e d e zu a l l g e m e i n ist. A n t o n i e r k e n n t d a b e i wohl richtig, daß die A u f f o r d e r u n g an den E u r o p ä e r , europäisch zu bleiben, weil dies sein u n a u f g e b b a r e r Standort in der Welt sei, „vielleicht ein g a n z f r e m d e s E d i o der lutherischen E t h i k von der B e r u f u n g ( B e r u f ? ) s e i " , b e z w e i f e l t a b e r , ob die T r o e l t s c h e „ P e d a n t e r i e , die etwas R ü h r e n d e s h a t . . . . ein I n v e n t a r a u f z u s t e l l e n , u m j e n e geschichtlichen K r ä f t e in einer neuen S y n t h e s e zu s a m m e l n " sich wirklich g a n z der großen geschichtlichen G e g e n s ä t z e , welche die Geistesgeschichte E u r o p a s h e r v o r g e b r a c h t h a t , bewußt i s t 2 9 ) . Wir b e t o n e n a b e r in E r i n n e r u n g an d a s im letzten Abschnitt Ges a g t e , daß es sich b e i T r o e l t s c h k e i n e s w e g s u m einen rein innerweltlichen K u l t u r g l a u b e n auf n u r geistesgeschichtlicher G r u n d l a g e h a n d e l t . Wir e r g r e i f e n zwar nach ihm d a s A b s o l u t e auf e i n e m K u l t u r g e b i e t , in einer K u l t u r s p h ä r e , d a s E r g r e i f e n selbst bleibt jedoch ein W a g n i s , d a s „ G l a u b e n " v o r a u s s e t z t . U n t e r B e r u f u n g auf R a n k e f ü h r t er a u s : „ D a s eigentliche W a g n i s alles nicht bloß f o r m a l e n D e n k e n s b e s t e h t 2 ') Ernst Troeltsch und das Problem des Historismus, in: Schaffender Spiegel. Studien zur deutschen Gesdiichtssdireibung und Geschichtsauffassung, 1948, S. 212. 28 ) a.a.O. S. 117. 2 9 ) ebd.
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darin, daß wir einen aufblitzenden Vernunftgedanken als Ausfluß der göttlichen Lebendigkeit betrachten, zu erfassen und durchzuführen wagen Ohne Wagnis, ohne Fehlgriff, ohne Martyrium gibt es kein Eingreifen von Wahrheiten und Werten" (3, S. 185). Trotz seiner grundsätzlichen Neben- und Hinordnung der menschlichen Geschichte zur „göttlichen Lebendigkeit", zu der eine direkte Linie führt, sieht Troeltsch darin geradezu den allgemeinsten Sinn dieses herrlichen protestantischen Grunddogmas „von der Rechtfertigung aus dem Glauben" (ebd.)! Daß es sich hier nicht um eine hingeworfene Bemerkung handelt, zeigen Sätze aus seinem für die Englandreise bestimmten Vortrag. Es heißt dort, der Mensch, welcher eine sittliche Entscheidung auf die Kultursynthese hin treffe, stehe im Glauben, der sie rechtfertigt, es sei darum kein Zufall, daß in der Lehre von der Rechtfertigung die gesamte religiöse Idee des Abendlandes gipfele 3 0 ). Als inhaltliche Bestimmung eines solchen abendländischen Glaubens, den z. B. der Ferne Osten nicht kenne und verstehe, gelten noch einmal „die Idee der Persönlichkeit", die als Moral des Gewissens und der Güterlehre auftrete 3 1 ). Troeltschs säkularisiertes Luthertum gestaltet also den Lutherischen Gedanken vom Ausharren in dem von Gott auferlegten Beruf und an dem Platz, an den Gott einen gestellt hat, zu dem Appell des neuen „synthetischen" Ergreifens des alten Europäismus um. Luthers Aufforderung ist damit nicht nur ins Ferne ausgeweitet, sondern auch im Kern umgewandelt worden. Das zeigt sich auch darin, daß an die Stelle des dem Sünder die Gnade schenkenden Gottes, der in Christus uns zum Du wird, der göttliche Allgeist getreten ist, dem der Mensch im Gewissen begegnet, wobei die Kultursphäre, der man gerade angehört, den Mittlerdienst leistet. Daß so die Lutherische „Freiheit des Christenmenschen" zur Freiheit des Werte anerkennenden und setzenden Menschen wird, ist eine weitere selbstverständliche Voraussetzung und Folge des Glaubens an das direkte und fast ungebrochene Vorhandensein des göttlichen Geistes in Kultur und Geschichte. Was bei Luther „Welt" als Bereich des „Fürsten dieser Welt" war, aus und in dem der Mensch für Christus und sein Reich gewonnen wird und in welchem er sich für ihn entscheidet und wo er für das Reich Gottes aufbewahrt wird, erscheint bei Troeltsch als Universalgeschichte mit positivem Vorzeichen, die von einer Kultursynthese zur anderen sich gestaltet. Troeltsch erwartet von diesem „Glauben", daß er den Men30 31
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) der Historismus und seine Uberwindung, S. 40/41. ) ebd. S. 41.
sehen über die Härten und Niederungen des Daseins hinwegtrage. Da er die Vorstellung vom überweltlichen Reich Gottes als Grund und Ziel der menschlichen Geschichte in der biblischen Form nicht mehr für verbindlich hält, glaubt er angesichts seines metaphysischen Welt-Glaubens an eine „im tiefsten Grunde des Geschehens wirkende Kontinuität", „die von Zufällen und Naturereignissen, von Torheit und Schwäche, von Frevel und Bosheit, von Überanstrengung und Neurasthenie oft genug verdeckt, zerrissen und verdünnt ist, die aber für den handelnden und glaubenden Willen der Gegenwart aus dem empirischen Geschehen herausgeholt und herausgeschaut werden kann" (3, S. 175). „Kontinuität" ist also für Troeltsch nichts anderes als die richtige Beziehung des Geschichtlichen zum Irrationalen mit Hilfe des „Glaubens" 32 ). Jedesmal ist im Gegensatz zur reformatischen Auffassung vom Menschen dieser in ungleich größerem Maße an der verantwortlichen Gestaltung des Welt- und Lebensprozesses — eigenmächtig — beteiligt. Troeltsch steht bei allen Abweichungen in der Linie des Herder-, Hegel-, Diltheyschen Welt- und Geschichtsglaubens33). Da der Mensch einen unmittelbaren Zugang zum göttlichen All hat und keineswegs der Versöhnung in Christus realiter bedarf, erhebt sich immer wieder nach dem Zusammenbruch des „natürlichen Systems" die menschliche Geschichte nicht nur einfach zur zweiten Offenbarungsquelle neben der Schrift, sondern sie ist in ihrer Gesamtheit Offenbarung selbst. Wenn sie als solche nidht immer empfunden wird, hängt das mit des Menschen wieder durch die Geschichte bedingter Endlichkeit zusammen, obwohl an seiner grundsätzlichen „Identität" d. h. hier direkten Beziehung zum Göttlichen nichts geändert wird. Die Wurzel dieser Anschauung weist auf Leibniz, den Herder, Hegel, Troeltsch und auch Dilthey überaus geschätzt haben. d) Gesamtbeurteilung
und
Weiterbildung
Wenn man nicht gerade der gewürzten Schärfe im Urteil Antonis ohne Einschränkung zustimmen möchte, Troeltsch sei der letzte in der geistigen Welt unseres Vaterlandes gewesen, „der den alten Göttern der christlichen Lebensordnung, der Kultur, dem freien Fortschritt, der Geschichte, der Zivilisation treu geblieben ist" 34 ), weil in einem solchen Satz die Achtung vor dem Ringen Troeltschs nicht genügend 32 ) Vgl. Köhler a.a.O. S.383; S. 397; „Die Entwicklung w a r bei Troeltsch Kontinuität, als rational irrationales Geschehen". 33 ) zum „Glauben" Troeltschs vgl. Köhler a.a.O. S. 377—379. — Meinecke, a.a.O. S. 225. M ) a.a.O. S. 60.
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zum Ausdruck kommt, so bleibt doch der fatale Eindruck zurück, daß Troeltsch kein ursprünglicher Denker und Philosoph gewesen ist und auch wohl nicht sein wollte. Man hat ihn verglichen mit den großen Strategen des Weltkrieges, die trotz glänzender Siege im einzelnen doch verlieren 35 ). Denn daß Troeltsch den relativistischen Historismus keineswegs überwunden hat, dürfte aus dem bisher Ausgeführten hervorgegangen sein. Nicht daß er in die Metaphysik geflüchtet ist 36 ), können wir ihm zum Vorwurf machen. Hat diese doch eine lebendige Tradition im deutschen und europäischen Geistesleben aufzuweisen, warum sollte man sie nicht zur Lösung gegenwärtiger Nöte fruchtbar machen dürfen! Wir möchten vielmehr mit Heinemann sagen, nicht darin bestehe sein Ungenügen, daß das Absolute in die Geschichte eingeht, „sondern daß ein falsches Absolutes in falscher Weise erscheint" 37 ). Die Geschichte erhob er auf dem Hintergrund des göttlichen Allgeistes zum Absoluten, von ihr meinte er im „Wagnis" des Glaubens Offenbarungen und Weisungen, die zur Kultursynthese führen können, zu empfangen können. Die Geschichte wurde ihm wie Hegel zur direkten Offenbarung Gottes, zu einer absoluten Lebensmacht auch ohne die metaphysische Konstruktion der Hegeischen Weltvernunft und ohne dialektische Methode 38 ). Für das konkrete Handeln ist das Ergebnis dem Hegels ähnlich. Eine klare Weisung auf die Frage: Was sollen wir denn tun? wird nicht gegeben. Ist das Geschichtliche das oberste Gesetz geworden, kann man nämlich entweder alles, da sich ja alles „geschichtlich" begründen läßt, oder nichts tun, weil die „Geschichte" ihren Weg schon findet! Man kann aber auch ebenso mit jeder „geschichtsgestaltenden" Macht, die in der Gegenwart von sich reden macht, gesinnungslos paktieren! Die Geschichte der letzten 20 Jahre hat gezeigt, zu welchen bedenklichen Folgerungen das führt. Das Zustandekommen eines lebendigen, verpflichtenden Verhältnisses zum konkreten Du des Nächsten ist durch die bloße Berufung auf die „Geschichte" unmöglich geworden. Insofern hat Gogarten mit seiner Kritik an Troeltsch recht, wenn er meint, dessen „Geschichte" gelange niemals zum wirklichen Mitmenschen und den vom Du des andern begründeten Ordnungen, die als fordernde Macht und zwingende Verbindlichkeit uns entgegengetreten und keineswegs in 35 )
Heinemann, a.a.O. S. 210. So J. J. S c h a a f , Geschichte und Begriff. Eine kritische Studie zur Geschichtsmethodologie von Ernst Troeltsch und Max Weber, 1946, S. 33/34. 37 ) Heinemann, a.a.O. S. 228. 38 ) ebd. S. 217. 3e )
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idealistischer Weise unser Ich erfüllen und ins All ausweiten 39 ). Dieser neue Begriff „Geschichtlichkeit" hat allerdings mit dem Hegels und Troeltschs nichts mehr gemeinsam. Damit ist schon angedeutet, warum Troeltschs Geschichtsphilosophie ihn selbst nicht überlebt hat. Als er starb, begann gerade die neureformatorische („dialektische") Theologie sich zu regen und die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sie stand in einem radikalen Gegensatz zu aller Geschichtsphilosophie, besonders zu der halbmystisch - metaphysischen eines Ernst Troeltsch. In der Philosophie zog immer mehr die Ontologie eines Nicolai Hartmann die Aufmerksamkeit auf sich, die nur von dem Interesse, das die gesamte Welt heute an der Existenzial-Ontologie Heideggers nimmt, noch übertroffen wird. Im Unterschied zu Troeltsch fragen letztere zunächst nicht, was andere über den in Frage stehenden Gegenstand gedacht haben, um daran den eigenen Standpunkt zu entwickeln, sondern sie befragen den Gegenstand, etwa das Dasein, selbst, um so dessen Struktur und Schichten zu ergründen und Klarheit über sich selbst zu erlangen. Der göttliche Sinngehalt der Geschichte ist eben zutiefst fraglich geworden. Troeltschs Gedanken sind aber nicht einfach untergegangen. Wurden sie in der rein akademischen Welt audi weniger diskutiert, so lebten sie in der deutschen Bildungspolitik der 20er Jahre stärker fort. Neben Diltheys Anregungen steht hinter der preußischen Schulreform 1925 Troeltschs Vorstellung von der Kultursynthese, als man die höheren Schulen in den Kulturbereichen entsprechende Typen aufgliederte. Kritisch bemerkte damals jemand, was — mutatis mutandis — gegen Troeltsch selbst gesagt werden kann, die betreffenden „Richtlinien" 1925 seien wohl nicht die erhoffte Morgenröte einer neuen Periode, sondern die Abenddämmerung einer vergangenen! Wenn wir von der ganz selbständigen Weiterbildung Troeltscher Gedanken bei Tillich hier absehen 40 ), darf man wohl sagen, daß der 39 ) Gogarten a.a.O. S. 34/35, S. 83. Vgl. Schrey, a.a.O. S. 161/62. — Kaufmann, a.a.O. S. 69. 40 ) Im einzelnen K u r t H e r b e r g e r , Historismus und Kairos. Die Überwindung des Historismus bei Ernst Troeltsch und Paul Tillich. Leipziger Dissertation 1935 (In: Theol. Blättern 1935, Heft 6, 7, 8, abgedruckt). S. 25/26: „Während Troeltsch das Individuum mit seiner Synthese gegen das flutende Gesamtleben stellt, verankert Tillich die den Historismus überwindende normative Wahrheit in einem Moment des Individuums." Er trägt damit der Offenbarung besser Rechnung. — Geschichte als Offenbarung ist überwunden, wenn das Unbedingte nicht mehr nur Grund des Geisteslebens ist, wie bei Troeltsch, sondern vielmehr D u r c h b r u c h durch das letztere, vgl. Tillich in: Ernst Troeltsch, KantStudien 29 (1924), S. 353. Zum Verhältnis Troeltsch-Tillich Tgl. Schrey a.a.O. S. 159.
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Freund Meinecke am besten das Erbe Troeltschs verwaltet hat. Zunächst ist er in seinem Standardwerk „die Entstehung des Historismus" der Geschichtsschreiber dieser Geistesrichtung und Lebensanschauung geworden, dessen Werden er bis Goethe (und Ranke) verfolgte. Als sein besonderes Verdienst rühmt man die Aufzeigung des neuplatonischen Stromes, der das Ganze auslöst und bestimmt. Von Goethe, der in diese Entwicklung darum hineingehört, erwartet er die Heilung der Wunden, die der Relativismus verursacht hat 41 ). Er hofft dabei vom Denken in der Vertikalen und vom Gewissen her die Überwindung des Historismus im gewöhnlichen Sinne, wobei der Sinn der Geschichte im Ganzen des Universums dunkel bleibe 42 ). Sein Historiograph Walter Hofer hat Meinecke einen „säkularisierten Ranke" genannt, bei welchem an die Stelle der Rankeschen Religion „Philosophie, gleichsam als säkularisierte Religion" getreten sei 43 ). Goethe-Gemeinden sind Meineckes Hoffnung nach der deutschen Katastrophe des zweiten Weltkrieges 44 ) ! Das idealistische Denken scheint selbst da, wo es dem Realen Rechnung trägt und sogar „dualistisch" wird, über eine bestimmte Grenze nicht hinauszugelangen. Noch immer ist der Weg bis zum Ernstnehmen der Macht des Bösen und der Anerkennung der Erlösung weit. Diese beiden Größen sind allerdings nur der Offenbarung zugänglich, die in die Geschichte hineinragt und in sie einbricht, nicht aus ihr zu erkennen oder zu entwickeln ist. Trotz dem Reden von der „Vertikalen" und dem recht unklaren Begriff vom „Gewissen", das dodi nicht einfach Gottes Stimme in uns ist, kann darum eine Geschichtsauffassung, die im neuplatonisch-goethischen Individualitätsbegriff gipfelt, weder Grundlage noch Brücke zur christlichen Offenbarung werden. Des besonderen Nachdenkens wert ist es, daß Diltheys Auffassung von „Geschichtlichkeit" sich als brauchbares Element erwies zur Beschreibung und Klärung christlicher Existenz. Das muß um so mehr wundern·, da der Theologe Troeltsch von Haus aus eine größere Nähe zum christlichen Offenbarungsdenken besaß und sein Freund Meinecke sich dem christlichen Denken anscheinend genähert hat und uns ferner in mancher Hinsicht der problemgeladene Troeltsch näher steht als Dilthey, der ihm gegenüber als Vertreter der noch ungebrochenen 41 )
Vgl. Vom geschichtlichen Sinn und vom Sinn der Geschichte, S. 13, 18. ebd. S. 18, 20—23. — Vgl. dazu Srbik II, S. 290/91. — Die Geschichte als solche ist ihm „nidit Gott"; aber im „reinen Sittengesetz" und in der Kunst offenbare sidi das Absolute, Idee der Staatsraison, 1924, S. 542. 4S ) Hofer, a.a.O. S. 12/13. 44 ) Die Deutsche Katastrophe, 1947, S. 1 7 4 — 1 7 7 . 42 )
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Generation um 1890 erscheint. Man sieht, die Geschichte kann sehr verschlungene Pfade einschlagen! Auch das Nachdenken über Geschichte erfolgt nicht einfach in einer aufsteigenden, absteigenden und sich selbst verknüpfenden Linie. Weil der Philosoph Hegel die Offenbarung besser sichern wollte, rückte er vom Theologen Herder ab. (Daß er sie nicht bewahren konnte, haben wir zu zeigen versucht.) Das Weltkind Dilthey lieferte anscheinend für den theologischen Begriff „Geschichtlichkeit" bessere Bausteine als der Religionsphilosoph und Geschichtsdenker Troeltsch mit seiner fragwürdigen Kultursynthese. Sollte Karl Barth recht behalten, der schon vor 30 Jahren vor dem „distinktlosen Gebrauch" des Begriffs der Geschichte in der Theologie warnte 45 )? Freilich gilt ebenso, daß alle gegenwartsnahe Theologie durdi die großen Nöte, die der Historismus uns bereitet, hindurchgehen muß 46 ).
" ) Zwischen den Zeiten, 1926, S. 24. « ) Benckert, a.a.O. S. 422. 6 Fülling, Geschichte als Offenbarung
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Ergebnis und Ausblick Wir blicken noch einmal auf den zurückgelegten Weg zurück, an dessen E n d e Troeltschs Versuch der „ Ü b e r w i n d u n g " des H i s t o r i s m u s steht. Nach den B e m ü h u n g e n H e r k e r s , der im geschichtlichen P r o z e ß die u n m i t t e l b a r e S p i e g e l u n g der G o t t h e i t sah, durch welche die Geschichte ohne Schwierigkeiten zur a b s o l u t e n G r ö ß e w u r d e , zu welcher sie H e g e l s D i a l e k t i k grundsätzlich e r h o b , beobachteten wir den Rückzug der a b s o l u t e n Geschichte auf d a s „ L e b e n " bei Dilthey, d a s ein Troeltsch w i e d e r u m metaphysisch zu u n t e r b a u e n b e s t r e b t w a r . T r o t z dieses sehr g e w u n d e n e n w i d e r s p r u c h s v o l l e n und auch q u a l v o l l e n W e g e s d a r f m a n wohl mit Karl Barth b e h a u p t e n , daß ohne H e r d e r k e i n T r o e l t s c h möglich gewesen ist 1 ). Alle b e h a n d e l t e n Geschichtsd e n k e r v e r b i n d e t das eigene P a t h o s f ü r Geschichte. D a b e i ist auff ä l l i g , daß der T h e o l o g e Troeltsch in seinem u m f a n g r e i c h e n A u f r i ß zur Geschichte der Geschichtsphilosophie die eigentlich theologisch und religiös gerichtete f a s t mit Stillschweigen ü b e r g a n g e n h a t 2 ) . Tatsächlich ließen Dilthey u n d Troeltsch nur die a u t o n o m b e s t i m m t e L i n i e des Geschichtsdenkens gelten, was f ü r H e g e l und H e r d e r in noch erh ö h t e m M a ß e gilt. A l l e vier Geschichtsphilosophen zeichnen sich aus durch eine n a h e z u selbstverständliche Sicherheit in der S e t z u n g des Innerweltlichen als der einzigen W e i s e des D a s e i n s (Dilthey) bzw. des einzig möglichen A u s g a n g s p u n k t e s f ü r m e t a p h y s i s c h e Gedanken (Troeltsch, H e r d e r ) . D a s „Geschichtliche" ist entgegen der verbreiteten Anschauung, daß die großen V e r t r e t e r des H i s t o r i s m u s zu sehr den Blick auf die V e r g a n g e n h e i t gerichtet hielten, j e d e s m a l in einer F r a g e s t e l l u n g b e g r ü n d e t , die in der G e g e n w a r t lag. B e i H e r d e r ergibt sich d a s R i n g e n u m die Geschichte aus d e m B e s t r e b e n , den s t a r r e n Z w a n g der A u f k l ä r u n g abzuschütteln, T r o e l t s c h möchte den geschichtlichen R e l a t i v i s m u s , unter d e m die B e s t e n seiner Zeit leiden, überwinden, w ä h r e n d b e i Dilthey d a s P r o b l e m der B e f r e i u n g des geschichtlichen B e w u ß t s e i n s von der L a s t der V e r g a n g e n h e i t durch die H e r a u s a r b e i t u n g e b e n dieses B e w u ß t s e i n s den H i n t e r g r u n d seines D e n k e n s K a r l Barth, die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, S. 282. ) Joachim W a c h , die Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts Theologie der Geschichte, Hist. Zeitschrift 142 (1930), S. 1/2. 2
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und
die
bildet. Natürlich denkt keiner daran, Vergangenheit und Gegenwart als Größen, die sich ausschließen, gegenüberzustellen. Nicht nur Hegel, sondern auch die modernen Historismusdenker sind überzeugt, daß die Hauptkräfte zur Bewältigung der Gegenwart und Zukunft gerade in der Vergangenheit, in der Geschichte liegen. Bereits Nietzsche hatte dies bestritten, als er in seinem ÜberMenschen den neuen von der überkommenen Religion und bisherigen Tradition ganz befreiten Menschen als den Träger der Zukunft hinstellte. Dem Bruch mit der alten abendländischen Geisteshaltung, den der erste Weltkrieg und die ihm folgenden Jahre deutlich werden ließen, entsprach es, wenn, auch solche Denker, die nicht von Nietzsche herkamen, gegen das „historische Bewußtsein" Sturm liefen. In einem dafür bezeichnenden Werk heißt es kritisch: „Man glaubt also die Geschichte durch eigene Arbeit fortsetzen zu können. Die Wirklichkeit zeigt sich aber im historischen Bewußtsein in Geschichte verkehrt. Sie verläuft in einer Richtung, in der sie durch Anschauung des Ich gesehen wird. Die als kontinuierlich gefaßten Entwicklungslinien hofft man fortsetzen zu können" 3 ). Grisebach meint, die geschichtliche Orientierung ζ. B. in der Erziehung verbaue geradezu den Weg zu einer wirklichen Erziehung 4 ). Dieser Gesichtspunkt, der durch philosophische Erwägungen gewonnen wurde, scheint in hohem Maße dem in Theologie und kirchlicher Verkündigung betonten Hic et Nunc zu entsprechen. Die „konkrete Situation" als das „geschichtliche Jetzt" ist dann als der „fruchtbare Ort für jede Einsichtnahme in den Sinn der Geschichte" gekennzeichnet, zumal und wenn sie „notwendig in grundlegender Beziehung" zu einer unbedingten Forderung steht 5 ). Perfektum als erfüllte und Imperfektum als sich aktualisierende Zeit werden von ihr in gleicher Weise umfaßt 6 )). Das theologische Denken ist durch diese Fassung vor der Gefahr bewahrt, eine Zeitform gegen die andere auszuspielen, was fruchtlos wäre. Wenn wir Christus als die innere Mitte alles Geschehens und die höhere Beziehung für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Glauben erfassen und dies denkend zu begreifen uns bemühen, sind wir vor solchen Einseitigkeiten bewahrt und gewinnen 3)
Eb. G r i s e b a c h ,
4)
ebd. S. 418.
Gegenwart.
Eine kritische Ethik, 1928, S. 417.
5 ) H. T h i e l i c k e , Gesdiichte und Existenz. Grundlegung einer evangelischen Geschichtstheologie, 1935, S. 363. e)
6·
ebd. S. 364. 83
ein u m f a s s e n d e s , christliches E x i s t e n z v e r s t ä n d n i s , w i e u n s H . H . in „ E x i s t e n z u n d O f f e n b a r u n g " z e i g t 7 ) .
Schrey
T r o t z d e m ist d i e F r a g e nach d e m V e r h ä l t n i s d e r christlichen E x i s t e n z z u m Geschichtlichen noch nicht g e n ü g e n d b e a n t w o r t e t . D a s L e t z t e k ö n n t e vielleicht d e n E i n d r u c k h e r v o r r u f e n , als o b w i r n n s e i n e r b i l l i g e n S y n t h e s e g e n ä h e r t h ä t t e n , w a s a l l e r d i n g s nicht d e r F a l l i s t . U m zu e i n e m b e s t i m m t e n U r t e i l ü b e r d a s Geschichtliche z u g e l a n g e n , b e s i n n e n w i r u n s noch e i n m a l d a r a u f , d a ß nicht n u r H e r d e r u n d H e g e l , s o n d e r n auch die b e i d e n a n d e r e n b e h a n d e l t e n G e s c h i c h t s d e n k e r ein b e s t i m m t e s Ziel k e n n e n , d e m d i e M e n s c h h e i t in i h r e m geschichtlichen L e b e n auf w e n n auch g e w u n d e n e n u n d o f t v e r w i r r e n d e n P f a d e n entg e g e n g e h t . F ü r T r o e l t s c h ist es letztlich j e n s e i t i g , w i e w i r s a h e n , b e i D i l t h e y d a s L e b e n in d e r F ü l l e s e i n e r M ö g l i c h k e i t e n s e l b s t , w e l c h e d i e geschichtliche B e s i n n u n g e r s t erschließt. D a ß d e r G e d a n k e e i n e s Zieles ü b e r h a u p t d e m Christentum e n t s t a m m t , b e d a r f keines besonderen Hinweises. Der eigentümlich zwiespältige Charakter m o d e r n e r , d. h . nachchristlicher G e s c h i c h t s b e t r a c h t u n g b e s t e h t d a r i n , d a ß s i e sich, w i e Löwith f e s t s t e l l t , d e n G e d a n k e n „ e i n e s s i n n e r f ü l l e n d e n Z i e l e s zu eigen g e m a c h t " h a t u n d z u g l e i c h d e m es b e g r ü n d e n d e n G l a u b e n entf r e m d e t ist. D i e m o d e r n e W e l t „ ü b e r n i m m t v o m christlichen G l a u b e n die I d e e e i n e s nicht u m k e h r b a r e n F o r t s c h r i t t s v o m a l t e n z u m n e u e n T e s t a m e n t , aber ohne den G l a u b e n an einen absoluten A n f a n g und e i n a b s o l u t e s E n d e in S c h ö p f u n g u n d G e r i c h t " 8 ) . D e r G l a u b e a n d i e Geschichte, d i e Ü b e r b e t o n u n g d e s Geschichtlichen, d e r H i s t o r i s m u s ist also nicht ein e i n f a c h e r R ü c k f a l l ins „ H e i d e n t u m " , o b w o h l m o d e r n e Geschichtsphilosophie (Spenglers zyklenhaftes Denken) stellenweise auch solche Z ü g e a u f w e i s t . D e r Historismus ist w i e a l l e r I d e a l i s m u s , ü b e r h a u p t d a s s ä k u l a r i s i e r t e D e n k e n schlechthin e i n e christliche a l s o e i n e a u f christlichem B o d e n e r w a c h s e n e A n s c h a u u n g , Häresie, die v o n i h m g e n ä h r t w u r d e , a b e r b e s t i m m t e Z ü g e ü b e r b e t o n t u n d e i g e n m ä c h t i g v o r w ä r t s t r e i b t . D a ß Geschichte in u n s e r e m S i n n e e r s t d u r c h d a s C h r i s t u s e r e i g n i s m ö g l i c h w u r d e , z e i g t e schon k n a p p u n d eindrucksvoll der Nicht-Theologe Yorck von Wartenburg. F ü r den G e s p r ä c h s p a r t n e r D i l t h e y s o w i e f ü r T r o e l t s c h w u r d e j e n e s e l b s t zur Offenbarung, da beide O f f e n b a r u n g im Sinne Yorcks und Luthers nicht a n e r k a n n t e n . W e n n es ein c h a r a k t e r i s t i s c h e r Z u g e i n e r christlichen I r r l e h r e ist, d a ß sie o f t „ g e i s t l i c h " u n d „ w e l t l i c h " i n e i n a n d e r fließen l ä ß t u n d b e i d e v e r m i s c h t , so w i r d i n u n s e r e m F a l l e b e i H e r d e r 7 8
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) Vgl. S. 1 4 2 — 1 6 5 . ) In: Anteile, S. 148.
u n d Hegel die Welt- und Heilsgeschichte schwärmerisch in eins gesehen, bei Troeltsch ist die vom Menschen zu vollziehende Kultursyntheee der Ort der B e g e g n u n g von Gott und Mensch, und Dilthey steht vor dem „ L e b e n " als einer Art von u n b e k a n n t e m Gott. E s liegt j e d e s m a l ein säkularisiertes Mißverstehen des O f f e n b a r u n g s e r e i g n i s s e s vor, was F . K . Schumann f ü r ein bezeichnendes M e r k m a l des m o d e r n e n Historismus hält9). Dieser ist von seinem äußeren und inneren U r s p r u n g her gesehen, nicht ohne Beziehung auf die christliche O f f e n b a r u n g zu verstehen 1 0 ). U m seine eigenmächtige A r t zu veranschaulichen, sei zunächst an ein B e i s p i e l aus der Dichtung erinnert. Goethes Iphigenie ist nicht ohne die christliche A g a p e d e n k b a r , sie ist d a r u m in ihrem E m p f i n d e n und H a n d e l n ganz ungriechisch. Aber ebenso gilt, daß der G r u n d s a t z : Alle menschlichen Gebrechen heilet reine Menschlichkeit, den Goethe einmal als L e i t g e d a n k e n seiner Dichtung aussprach, bar j e d e r biblischen V e r k ü n d i g u n g ist; diese beschreibt die E r r e t t u n g des Menschen aus den F e s s e l n des B ö s e n als göttliche T a t , die in der hingebungsvollen Nächstenliebe, die nicht einfach mit „Menschlichkeit" gleichzusetzen ist, gleichsam fortgesetzt wird. Entsprechend ist der Historismus von H e r d e r bis Troeltsch in seinen verschiedenen A u s p r ä g u n g e n grundsätzlich von der A n t i k e und deren ziellosen Rhythmus-Denken gleich weit entfernt wie v o m christlichen Telos-Denken, das den G e d a n k e n v o m Ziel als das E n d e faßt, wodurch die Geschichte nach Christus in erhöhtem Maße Endgeschichte wird, die Gott h e r b e i f ü h r t . D a s „ethische P r o b l e m " ist d a r u m j e d e s m a l grundverschieden. Wie z. B . der seiner selbst mächtige Mensch Iphigenie sich und sein fluchbeladenes Geschlecht keineswegs durch ein echt antikes O p f e r oder durch resigniertes B e u g e n unter das Schicksal v o n dem Fluch b e f r e i t bzw. ihn als unvermeidlich hinnimmt, sondern eben die eigene „ r e i n e Menschlichkeit" sich auswirken läßt, so versucht der m o d e r n e Historism u s die von der Last der Geschichte verursachte K r a n k h e i t durch die Kräfte der Geschichte selbst zu heilen, indem er h o f f t , durch Besinnung auf sie von ihr Weisung f ü r die Z u k u n f t und H a l t in der Gegenw a r t zu e m p f a n g e n ; von der antiken wie der christlichen Antwort ist der m o d e r n e H i s t o r i s m u s j e d e s m a l gleich weit entfernt. Ist aber eine solche B e s i n n u n g nicht schon im L e b e n des einzelnen meistens eine sehr z w e i f e l h a f t e Angelegenheit? E r h a l t e ich wirklich ') F. K. Schumann, Zur Überwindung des Säkularismus in der Wissenschaft. In: Glaube und Forschung I, 1949, S. 36. — A. Miiller-Armack, Das Jahrhundert ohne Gott, 1948, S. 97. 10 ) ebd. S. 37.
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bei einer schweren Entscheidung in der G e g e n w a r t , die f ü r die Zuk u n f t wichtig ist, eine w e g w e i s e n d e und ü b e r z e u g e n d e A n t w o r t , w e n n idi die E r f a h r u n g e n und Möglichkeiten m e i n e r V e r g a n g e n h e i t nur s o r g f ä l t i g e r w ä g e ? Stellen G e g e n w a r t und die „ S o r g e " u m die Zuk u n f t sich nicht erst recht dann als etwas dar, das eigene V e r a n t w o r t u n g f o r d e r t und die erst so die „ e r e r b t e Möglichkeit" des Daseins in der V e r g a n g e n h e i t erschließt 1 1 ). Ohne diese P e r s p e k t i v e blickt mich die V e r g a n g e n h e i t d o d i n u r als ein dunkles R ä t s e l an, n a r r t mich mit den v i e l e n Möglichkeiten, die sehr verschieden sich e r f ü l l e n lassen, w e n n eine unbedingt g e b i e t e n d e F o r d e r u n g oder b e w a h r e n d e G n a d e nicht dahinterstehen. U n d gerade sie f e h l e n im m o d e r n e n Historismus, dem w i r gern zugeben, d a ß er v o n einem Interesse der G e g e n w a r t ausgeht und v o n Sorge f ü r die Z u k u n f t e r f ü l l t ist. Sie f e h l e n g e r a d e auch bei dem M e t a p h y s i k e r Troeltsch, bei welchem, w i e w i r sahen, die G o t t h e i t in den W a n d e l des Menschlichen h i n e i n g e z o g e n w i r d . Mit dem christlichen G l a u b e n scheint der alte und neue Historismus indes die Ablehnung geschichtlicher Gesetze im naturwissenschaftlichen Sinne gemeinsam zu haben, da j e n e r nicht zulassen k a n n , d a ß die Geschichte, die Gottes Gericht und G n a d e zum H i n t e r g r u n d hat, solchen v o n Menschen ausgesonnenen R e g e l n ausgeliefert w i r d , f e r n e r i m m e r den W e r t der v o n G o t t geschaffenen Menschenseele v e r t e i d i g t . Dieses A n l i e g e n hat sich der Historismus in dem G e d a n k e n der „ I n d i v i d u a l i t ä t " zueigen gemacht, w o b e i sich diese nicht n u r auf den einzelnen, sondern vornehmlich auf geschichtliche G e b i l d e bezieht. D i e dadurch gegebene K a m p f s t e l l u n g gegen den alten Positivismus und Rationalismus sowie g e g e n den h e u t i g e n K o l l e k t i v i s m u s darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die B e w e g g r ü n d e sehr verschieden sind. W i r betonen, daß die „ I n d i v i d u a l i t ä t " des Historismus schließlich in der V o r s t e l l u n g ihren U r s p r u n g hat, das Ich h a b e A n t e i l an der sich w a n d e l n d e n göttlichen Substanz, mit welcher es V e r ä n d e rungen u n t e r w o r f e n ist, durch die es zu sich k o m m t und geschichtsmächtig w i r d . D i e christliche P e r s o n und das V o l k Gottes als G e m e i n d e stehen dagegen dem göttlichen D u als dem sich k u n d t u e n d e n O f f e n barungsgeschehen gegenüber, das ihnen w e g w e i s e n d e F ü h r u n g und g n a d e n v o l l e s G e l e i t v e r m i t t e l t . A u c h hier d ü r f e n w i r sagen, d a ß , geistesgeschiditlich gesehen, b e i m Z u s t a n d e k o m m e n des G e d a n k e n s der I n d i v i d u a l i t ä t w e n i g e r der antike Idi- und MenschlichkeitsG e d a n k e , der statisch, pantheistisdi oder v o n der P o l i s b e s t i m m t ist, P a t e gestanden hat, sondern der christliche G e d a n k e der v o n G o t t auf " ) Vgl. Heidegger, Sein und Zeit«, S. 385. 86
ein Ziel hin geschaffenen Menschenseele ist zu der sich eigenmächtig entwickelnden Individualität säkularistisch weitergebildet. D a aber der m o d e r n e Historismus bei Dilthey die eschatologisch schon in unsere Welt hineinwirkende, aber zugleich noch ausstehende Welt Gottes mit unserer endlichen z u s a m m e n f a l l e n läßt, ist eine besondere K u n d g e b u n g des allmächtigen Gottes, ein Mittlerdienst durch ein Zeichen nicht m e h r sinnvoll, da es störend wirken würde. Christus ist dann bloßer P r e d i g e r einer I d e e ( H e r d e r ) oder auch deren Verk ö r p e r u n g (Hegel). Die weltgeschichtlichen P e r i o d e n des Weltgeistes sind ausgeweitete Zeichen des Gottes, der keiner besonderen Offenb a r u n g fähig ist, und Troeltschs K u l t u r s y n t h e s e als solche ist nicht nur Ort, sondern auch Inhalt einer solchen K u n d g e b u n g . E i n neues überindividuelles Gesetz ist damit über die Geschichte ausgesprochen, wie es am deutlichsten bei Hegel wird. Wenn sich der einzelne ihm beugt, m a g er den Eindruck einer Geborgenheit haben, die aber eigenmächtigen U r s p r u n g s ist. I m christlichen Glauben k a n n und darf es jedoch nicht zu einem solchen „ G e s e t z " k o m m e n , da nur Gott selbst H e r r der Geschichte ist, in welcher er sich in Gericht und G n a d e kundtut. E i n „ Z e i c h e n " k a n n wohl eine weltgeschichtliche P e r i o d e einleiten, sie selbst aber niemals darstellen. „ Z e i c h e n " ist nichts anderes als das Wunder der O f f e n b a r u n g , durch das der lebendige Gott, d. h. nicht der sich w a n d e l n d e des nachchristlichen Historismus oder der statische der antiken P h i l o s o p h i e in u n s e r e Welt der W a n d e l b a r k e i t und der d e m T o d e verfallenden Endlichkeit hineinwirkt. Wenn wir trotzdem v o n Ordnungen im Menschen-, Volks- und Völkerleben sprechen, die a u d i g e r a d e f ü r das geschichtliche L e b e n nicht unwichtig sind, j a es erst bedingen, so haben sie nicht eigenständige B e d e u t u n g , weil sie etwa metaphysisch gerechtfertigte Individualitäten oder solche überindividuelle G e b i l d e wären. Sie sind vielmehr nichts anderes als notwendige Erhaltungs- und G n a d e n o r d n u n g e n Gottes im Hinblick auf den letzten T a g . V o n hier aus gibt es auch f ü r den Christen Geschichte, m a n m a g von dieser Voraussetzung und bei dieser U m k l a m m e r u n g sogar von Individualität, Entwicklungen und Gesetz reden, zumal ein m o d e r n e r H i s t o r i k e r und Betrachter nicht ohne diese B e g r i f f e ausk o m m t . E s gilt hier das W o r t : Alles ist euer, ihr aber seid Christi ( l . K o r i n t h 3 , 2 3 ) . Dahinter steht die w a h r h a f t christliche Geschichtsbetrachtung, deren hintergründiges T h e m a der K a m p f zwischen Gottes- und Dämonenreich mit der Aussicht auf die H e i m k e h r des Gottesvolkes ist. 87
In diesem Sinne ist Geschichte ein sehr christlicher Begriff. Das „Geschichtliche" als Lebens- und Weltanschauung im Sinne des Historismus ist jedoch ein Ausdruck nachchristlicher Apostasie und hat in einer christlichen Geschichtsbetrachtung keinen legitimen Ort.
Geschichte Studien zur Frage Troeltsch.
als
Offenbarung
Historismus und
Glaube von Herder bis
Leitgedanken 1. Herders Idee von der in der Geschichte sich spiegelnden Gottheit führt zu der modernen Auffassung, daß die Geschichte selbst Offenbarung ist. 2. Hegels dialektische Philosophie hat der Geschichte als dem Schnittpunkt von absolutem und objektivem Geist eine unbedingte Stellung gegeben und damit die Anschauung ermöglicht, daß das geschichtliche Geschehen auf jeden Fall einen Sinn haben muß. 3. Dilthey versucht demgegenüber das „geschichtlichliche Bewußtsein" auf das letztlich rätselhafte „Leben" zurückzuführen, das unter Verzicht auf metaphysische Begründungen den Menschen von der Last der Geschichte durch Aufzeigung ihrer Relativität befreit. 4. Troeltschs großangelegter Versuch, den Historiemus durch einen Rückgriff auf Metaphysik zu überwinden, ist gescheitert. 5. Alle vier Geschichtsdenker haben das christliche Heils- und Offenbarungsgeschehen entweder schwärmerisch verflüchtigt oder weltgeschichtlich ausgeweitet. Dies „Nachchristliche" ist nicht einfach Rückfall ins „Heidentum", sondern der alte (Herder, Hegel) und der neue (Dilthey, Troeltsch) Historismus ist eine christliche Häresie, die auf dem Boden des Christentums gewachsen ist, eich aber eigenmächtig weiterentwickelt hat.
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