Kunstthematik und Diskurskritik: Das poetische Werk des jungen Arnim und die eschatologische Wirklichkeit der »Kronenwächter« 9783110942132, 9783484320567


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German Pages 252 Year 1990

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Table of contents :
Einleitung: Die geistige Physiognomie
Urteile der Zeitgenossen
Der Brief vom Winter 1801/1802
Trauer und Schwermut
Ästhetik des Elegischen
Ungeduld des Veränderungswillens
Das »Uebergreifen des Idealen«
Allidee und Kunstthematik im »Hollin«
Das »changeant Taft«
Das Lebensopfer für die Kunst
›Catena aurea‹ und All-Leben
Walpurgisnacht-Szene
Der »verratene Sohn« des Kosmos
»Ariel’s Offenbarungen«
Die biographische Relation
Das geschichtsmythologische Konzept: Zeitalter der Kunst
Die Sprach- und Vorstellungswelt
Mythische und historische Zeit
Exilierung des Idealen und Versuch neuer »Gründung«
Geschwisterinzest
Die mythologische Tradition
Die All-Liebe Freyas und das Zeitalter der Kunst
Aufbau, Figuren, Szenen
Sprache und Figuren lyrischer Symbolik
Freya und Herrmann: Das Scheitern der neuen »Gründung«
Kunst als Versöhnung
Heymars Dichterschule
Das Sängerfest auf Wartburg
Arnims Romanprojekt »Ariel’s Offenbarungen«
Ariel und Phantasus: Konzept eines romantischen Universalromans
Luftgeist und Tänzer Ariel
»Erzählungen von Schauspielen«
Tanz und Kunstutopie
Kritik und Satire
Das Konzept des »reisenden Tänzers« und das Ende des Romanprojekts
»Aloys und Rose«
»Der Wintergarten«: Kunstthematik und Diskurskritik
Die Gestalten der Rahmenhandlung
Allegorisches Umspielen der Thematik
Kritik der Diskurse und Fragwürdigkeit der Kunst
Die Hoffnung der Liebe
Der Wintergarten der Kunst
Der Geschichtsroman als Realitätsmodell – Die eschatologische Wirklichkeit der »Kronenwächter«
Einleitung
Offenheit und Vielstimmigkeit der Motive und Themen
Das antihistoristische Modell: Der Geschichtsroman
Philologischer Exkurs zur Entstehung
Die kritische Kontrastierung der beiden Leben
Motive der Selbstmächtigkeit im »zweiten Leben«
Schatz, Messer, Blut und Kapital
Die politische und historische Ebene
Der Ideenzusammenhang der »Kronenwächter«
Resümierendes Schlußwort
Anmerkungen
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Kunstthematik und Diskurskritik: Das poetische Werk des jungen Arnim und die eschatologische Wirklichkeit der »Kronenwächter«
 9783110942132, 9783484320567

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Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 56

ULFERT RICKLEFS

Kunstthematik und Diskurskritik Das poetische Werk des jungen Arnim und die eschatologische Wirklichkeit der »Kronenwächter«

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1990

QP-Titelaufhahme der Deutschen Bibliothek Ricklefs, Ulfert: Kunstthematik und Diskurskritik : das poetische Werk des jungen Arnim und die eschatologische Wirklichkeit der »Kronenwächter« / Ulfert Ricklefs. - Tübingen : Niemeyer, 1990 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte ; Bd. 56) NE: GT ISBN 3-484-32056-7

ISSN 0083-4564

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1990 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: Bernhard Walter, Lustnau Druck: Guide Druck GmbH, Tübingen Einband: Heinr. Koch, Tübingen

Vorbemerkung

Das Frühwerk Arnims ist mit seinen apokryphen thematischen und symbolischen Textstrukturen schwer zugänglich und wurde bisher nicht adäquat analysiert und interpretiert. Eine Darstellung der Verhältnisse kann die Sprachfügungen und Sprachbilder nicht durch Gemeinbegriffe ersetzen. Sie muß die unkonventionellen und radikalen, dabei verdeckten und polyphonen poetischen Sprachstrukturen, die auch für Arnimkenner bisher nicht sichtbar waren, aus dem Text heraus evident machen. Die einleitenden Ausführungen »Die geistige Physiognomie« wollen unter Heranziehung meist unberücksichtigten Materials vor allem ein Komplement und Gegengewicht zu überlieferten Auffassungen geben, eine Gesamtsicht war nicht intendiert. Den Mitherausgebern und Bandbearbeitern der »Erzählungen« und »Schriften« der Arnim-Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags habe ich das Typoskript, dessen Niederschrift im April 1989 abgeschlossen war, zugänglich gemacht, so daß sie die Ergebnisse, soweit gleiche Texte betroffen waren, bei der Kommentierung berücksichtigen konnten. Für meinen Band »Lyrik und Dramen« im Rahmen jener Ausgabe beziehe ich Resultate der Analyse von »Ariel's Offenbarungen« ein. Die Edition der »Kronenwächter« lief mit der Niederschrift meiner Untersuchung, die gegenüber der vorliegenden Forschung weitgehend auf eine Umwertung und Neuinterpretation hinausläuft, parallel und zeigt offensichtlich wenig Berührungen. Bei der Untersuchung konnte ich auf meine früheren Arbeiten zur »Päpstin Johanna« und zur Poetologie Arnims (Buchausgabe Palaestra 285. Göttingen 1990) und auf das Buch »Arnims lyrisches Werk. Register der Handschriften und Drucke« bei Max Niemeyer, Tübingen 1980, zurückgreifen.

V

Inhaltsübersicht

Einleitung: Die geistige Physiognomie

1

Urteile der Zeitgenossen

1

Der Brief vom Winter 1801/1802

1

Trauer und Schwermut

5

Ästhetik des Elegischen

6

Ungeduld des Veränderungswillens

8

Das »Uebergreifen des Idealen«

9

Allidee und Kunstthematik im » H o l l i n «

13

Das »changeant Taft«

13

Das Lebensopfer für die Kunst

16

>Catena aurea< und All-Leben

18

Walpurgisnacht-Szene

20

Der »verratene Sohn« des Kosmos

22

»Ariel's O f f e n b a r u n g e n « Die biographische Relation

27 27

Das geschichtsmythologische Konzept: Zeitalter der Kunst

29

Die Sprach- und Vorstellungswelt

30

Mythische und historische Zeit

31

Exilierung des Idealen und Versuch neuer »Gründung«

33

Geschwisterinzest

35

Die mythologische Tradition

37

Die All-Liebe Freyas und das Zeitalter der Kunst

40

Aufbau, Figuren, Szenen

41

Sprache und Figuren lyrischer Symbolik

45

Freya und Herrmann: Das Scheitern der neuen »Gründung«

46

Kunst als Versöhnung

51

Heymar's Dichterschule

52

Das Sängerfest auf Wartburg

56 ΥΠ

Arnims Romanprojekt »Ariel's Offenbarungen« Ariel und Phantasus: Konzept eines romantischen Universalromans Luftgeist und Tänzer Ariel »Erzählungen von Schauspielen«

59 61 65 71

Tanz und Kunstutopie

72

Kritik und Satire Das Konzept des »reisenden Tänzers« und das Ende des Romanprojekts

77 78

»Aloys und Rose«

81

»Der Wintergarten«: Kunstthematik und Diskurskritik

89

Die Gestalten der Rahmenhandlung Allegorisches Umspielen der Thematik Kritik der Diskurse und Fragwürdigkeit der Kunst Die Hoffnung der Liebe Der Wintergarten der Kunst

89 97 103 115 118

Der Geschichtsroman als Realitätsmodell - Die eschatologische Wirklichkeit der »Kronenwächter« 127 Einleitung Offenheit und Vielstimmigkeit der Motive und Themen Das antihistoristische Modell: Der Geschichtsroman Philologischer Exkurs zur Entstehung Die kritische Kontrastierung der beiden Leben Motive der Selbstmächtigkeit im »zweiten Leben« Schatz, Messer, Blut und Kapital Die politische und historische Ebene Der Ideenzusammenhang der »Kronenwächter«

127 130 133 137 152 161 169 176 184

Resümierendes Schlußwort

213

Anmerkungen

215

vm

Einleitung: Die geistige Physiognomie

Urteile der Zeitgenossen Einen Dichter, »der der sprödeste und weichste zugleich war, den Deutschland trug«, hat ein engagierter Kenner der romantischen Literatur Arnim fünf Jahre nach dessen Tod 1836 genannt,1 und er war, entgegen der Vorstellung der meisten von ihm, in seiner Jugend einer der problematischsten sowie Zeit seines Lebens in der Hingebung, ja Obsession an wenige große Themenkomplexe - dies trotz der großen Vielfalt der poetischen Realisationen und des weiten Horizonts der sachlichen Interessen - einer der geistig gespanntesten und problematisch intensivsten Autoren der jüngeren Romantik. Eichendorffs Porträt zeichnet vor allem die männlich ernste und entschieden tätige Außenseite, kennzeichnet daneben die transzendente Spannung und das Rätselhafte seiner scheinbar offenen Texte: »Kein Dichter giebt einen fertigen Himmel; er stellt die Himmelsleiter auf von der schönen Erde. Wer, zu träge und unlustig, nicht den Muth verspürt, die losen, goldenen Sprossen zu besteigen, dem bleibt der geheimnißvolle Buchstabe doch ewig todt«. 2 Heines Charakterisierung Arnims als Dichter des Phantastischen, der grauenhaften Gespenster, ja des Leichenhaften und des Todes folgt tatsächlich mehr Interessen der französischen Romantik, weiß aber auch von einem Autor, »dessen Phantasie von weltumfassender Weite, dessen Gemüt von schauerlichster Tiefe und dessen Darstellungsgabe so unübertrefflich war«, von der »Arnimsche(n) Grazie, die über jede dieser Dichtungen verbreitet ist, wie das Lächeln eines Kindes, aber eines toten Kindes«. 3

Der Brief vom Winter 1801/1802 Der junge Autor, der von dem »Lebenswahnsinn« seines Trauerspiels »Ariel's Offenbarungen« spricht und dessen »Hollin« wie später die

1

Giinderode-Figur der »Frühlingsfeier« eine schreckliche Seligkeit »nur im Tode« findet und als Künstler-Prometheus auf der »öden Felsenspitze, gefesselt« das kosmische Gewitter auf sich herabzieht,4 schreibt auf der Bildungsreise im Winter 1801/02 einen düsteren Brief,5 welcher geeignet ist, die dunkel abgründige Folie wahrnehmbar zu machen, über der sich in dieser frühen Zeit der Ausgriff auf ein Transzendentes, Ewiges und Ganzes erhebt. »Daß keine gar keine Wahrheit in dem dunklen Leben«, »daß dunkel alle Wahrheit« glaubt er mit den Göttinger Freunden einig zu erfahren;6 der Grund liegt unerwartet in der Sinnlosigkeit alles Vereinzelten, der Aufdringlichkeit der alltäglichen Phänomene und der Ungreifbarkeit eines Ganzen, Allgemeinen, Einen und Absoluten, das in einer unbestimmten Weise zwar anwesend ist bzw. vorausgesetzt wird, aber unfaßbar bleibt, so sehr es allein Sinn zu versprechen scheint. »Sieh ich kann etwas nichts begreifen, daß es doch Etwas in der Welt giebt, da es doch einzeln alles in Nichts aufgeht, wenn man es nur gehörig aus einander legt«. 7 Der Wissenschaft entzieht sich dieses Ganze, weil sie in ihren Analysen wie bei durchschnittenen Insekten nicht einmal das kurzzeitige Fortleben des Ganzheitsscheins zu erklären vermag. »Und was ist gar die Kunst die nicht einmal Rath schaffen kann, wenn alle Welt Kunstwerk geworden, alle Berge zu Statuen ausgehauen alle Metalle zu Saiten verbraucht wären, alle Pflanzen zur schönen Gartenkunst alle Thiere zur schönen Jagdkunst, die mir immer noch die liebste von allen schönen Künsten ist weil sie den Frieden und Krieg so recht brüderlig vereinigt«.8 Die in grotesker Weise totalitäre Kunstutopie einer völlig in Kunst verwandelten Welt offenbart die Unfähigkeit der Kunst zum Allgemeinen, die Versteinerung der Transzendenz, die Entzogenheit des Sinns, des geahnten Einen. Der Zugriff auf das Einzelne des individuellen Kunstwerks oder auf das quantitative Ganze einer zu Kunst erstarrten Welt vermögen so wenig wie »Revoluzionen«, »die ewige Einheit wiederherzustellen«; 9 sie künden indirekt jedoch davon, daß das geahnte, vorausgesetzte und gesuchte Allgemeine, daß das Ewige und Eine nicht in der Weise des Objektivierens und Fixierens, ja überhaupt intentional nicht erreichbar ist. Einer der tiefsinnigsten und erstaunlichsten Sätze des jungen Arnim, überliefert im frühen englischen Taschenbuch, 10 rührt dagegen an das »Andere der Vernunft« und erhellt eine Uberzeugung und Position, die zeitlebens dann sein Denken und seine poetologische Theorie bestimmen wird: »Alle Erklärung ist unendlich oder sie ruht bey 2

etwas Wunderbarem. Das Unerklärte ist oft der Grund von allem kann also kein Gegensatz seyn, sonst wäre es erklärt. Demnach kann keine endliche Erklärung die Welt umfassen, eben so wenig das Unerklärte. Wir haben demnach die Welt in keiner Philosophie allein zu suchen sondern indem uns von ihr in das Unerklärte treiben lassen und von diesem Standpunkt sie selbst übersehen«. Hat die Philosophie so die universale wie begrenzte Funktion, »in das Unerklärte (zu) treiben«, so lebt die Poesie und wahres Denken aus dem »unerklärten Grund« und »ruht bey etwas Wunderbarem«. Während »Fichte ... an ein- und einen halben Gedanken die ganze Welt verloren gibt, und Schleiermacher in dialektischen Mitteln ersäuft«, ja »im historischen Studium« mit der täuschenden »Lehre von den Gegensätzen« Arnim selbst »zuweilen die Lust daran so (packte), daß (er) fünftausend Jahr Weltgeschichte in einer halben Stunde todt gemacht hatte«, 11 weist die frühe Einsicht im englischen Notizbuch auf das »Gegebene« als das »Andere« der Vernunft und auf die Grenze jeder Intentionalität und allen Verfügens. Ähnliches begegnet auf vielen Gebieten, nicht nur in der »getäuschten Täuschung« 12 der Poesie. »Nichts ist unser Eigenthum, alles gehört der Welt, wir selbst, unsre Gedanken wie unsre Thaten, wer in Thaten für sich nur wirkt nennt man eigennützig. Wie soll ich den nennen, der für sich nur sinnt und schreibt, eigensinnig?«. 13 Gerade auch in der Religion solle man keinem trauen, meint Arnim 1816, der »mit der Religion etwas will«: »mit dem die Religion etwas will, der vollbringt es wissenlos und staunt über sich selbst, daß es nicht sein gewesen«. 14 Die Welt soll nicht beherrscht werden und ist nicht zu beherrschen, sie ist »gegeben« wie der »Hausschatz« in den »Kronenwächtern«: »Der Zins ist nicht hart, ... ist doch dem Menschen unter gleicher Bedingnis die Erde geschenkt, er nimmt nichts von ihr in jene Welt, als die Einsicht und den Glauben, den er auf ihr gewonnen«. 15 Von daher konnte Arnim über die Konstruktionen der Philosophie spotten, »worüber sich jetzt Fichte und Schelling streiten«: »Jener sagt: Ich = Alles, Dieser Alles = Ich; mathematisch ist das einerlei. Schelling aber, der sich auf seine Productionskraft etwas einbildet, sagt, er stehe dabei auf dem Standpuncte der Production, Fichte auf dem Standpuncte der Reflexion. Fichte soll schon ein ältlicher Mann sein, man kann ihm das wohl glauben«. 16 In gleichem Sinne fordert der gereifte Arnim 1808 dazu auf, »die geistige Größe alles Wirklichen fühlen und achten« zu lernen, von dem der Mensch »sich doch nicht 3

losreißen kann, mit dem er aber noch immer wie ein Kind spielen möchte«; ehe der Mensch »nicht dieses Wirkliche ... achten lernt, wird er auch im Schönsten und Größten endlich nur Ueberdruß finden«.17 Deshalb ist für ihn die Zeit »das Subjektivste in der Welt«,18 das individualisierende Prinzip aus dem Grund des »Unerklärten«, des »Wunders«, und deshalb vermag die Poesie, was die Philosophie nicht kann: »Wasser in Wein umwandeln«, »und doch thut das jeder Weinstock das ist nun einmal so und was giebt es höheres in der Welt als das ist so«.19 Noch zehn Jahre nach dem Brief vom Winter 1801/02 erscheint ähnliche Problematik und Erfahrung in Begriffen des KörperGeist-Dualismus ausgesprochen: Körper und Geist, so heißt es, sind auf gespenstische Weise nicht unterscheidbar, sind »dasselbe Wesen, ... / Das Körper greift, wenn es den Geist will fassen, / Zu Geist verflüchtigt, wo die Körper passen, / Ein Wahrheitsfinden, wo es täuschen will, / Und leere Täuschung in der Wahrheit Hüll, / Ein ewges Deuten und nichts offenbar ...«. 20 In dem anfangs zitierten Brief, der hinter den Positionen der Taschenbuchnotiz, in der jene Arnim zeitlebens begleitende Lösung aufleuchtet, zurückbleibt, versagen nicht nur Wissenschaft und Kunst, sondern - wegen der Unverfügbarkeit, die seine Unbeständigkeit ist - auch der Glaube; er würde das Vereinzelte und Ganze »wohl versöhnen können, wenn ich nur glauben könnte daß ich Morgen abend das glauben könnte, was ich der Nacht glaube«.21 Auch die eigene Lust verspricht keine Ewigkeit, »weil die Speculation sagt, daß endlig keine andere Wollust bleibt als der Tod«.22 Und spielen mag er nicht, weil der Gewinn ein Einzelnes ist: »ich doch nicht die ganze Welt gewinnen kann« - »ich wünsche mir weder Zufallglück noch Planglück, sie können mir beyde nicht genug glücken«.23 Wir würden so ausführlich nicht bei dem Brief verweilt haben, wenn hier in sprachspielerischer Virtuosität, die Verzweiflung überdeckt, nicht ein Grundschema und -problem Arnimscher Geistigkeit und Existenz an einem frühen Beispiel überaus deutlich würde, nämlich die Ausrichtung und quasi neurotische Fixierung auf ein Allgemeines, ein Eines und Absolutes, welche das scharf umrissene und analytisch vereinzelte Dingliche wie Psychische, das entschieden Wirkliche seiner Dichtungen transzendiert. Man darf wohl den mythisierenden Entwurf einer St. Georg-Novelle24 in dem Kontext der All-Fixiertheit lesen, wo St. Georg »mit seinem Knappen, der nachher zum Ritter geschlagen wird, auszieht das ungeheure Alltier, 4

den Lindwurm zu erstechen, in dem sie nach ihrer Meinung selbst wohnen und worin die Welten nur Blutkugeln sind«. 25

Trauer und Schwermut Entgegen einem offenbar schwer überwindbaren Ruf des Gesunden, Vaterländischen, Bodenständigen und was der törichten Etikettierungen mehr sind, der durch unverständige Rezeption im nationalliberalen Kontext entstehen konnte, 26 ist Arnims Werk an seinem Grund von einer geistigen Trauer und Schwermut geprägt, die letztlich Signatur der idealistischen Spannung seines Denkens und Fühlens, zunächst und in der Jugend besonders jedoch bei allen bezeugten adligen und männlichen Zügen eine Grundstimmung seines Wesens war, die auch in den erhaltenen Porträts erkennbar wird. Daneben kennzeichnet diesen Autor die ungemeine, geistig klare und überbewußte, zugleich traumhaft phantastische und surreale, sprachlich assoziative und unbewußt »fortrollende« 27 Beweglichkeit und Unfestigkeit des Geistes, die die feste Welt in ein unendliches Kaleidoskop von Ansichten, Brechungen und Einzelheiten auflöst, wie es vor der Romantik nicht möglich war. »Ich habe oft so recht fest und tief in einen Wassersturz geblickt, und ich glaubte mich zu begreifen; ich weiß wahrlich nichts von mir, ob ich Wasser oder Dunst oder Eis oder ein Stück des glühenden Regenbogens bin. ... Wenn ich ein Buch lese,... so drängen und stoßen sich die Bösewichter mit den edlen Seelen, in jedem erkenne ich mich, ich muß endlich verzweiflungsvoll daran zweifeln, mich selbst zu finden; ich muß mich darin ergeben, daß ich nicht mehr lebe, daß ich wie im Traum über die Menschen hinlaufe, worin die Gegenwart mit ihrer zweiten Natur erscheint... wer in der Welt kann einen Traum fest machen! « 2S »Wenn nur nicht alle Gedanken in der Sprache untergingen«. 29 Die Trauer und Schwermut bis zum »Lebenswahnsinn« und zur lähmenden Selbstversunkenheit in »wahnen Träumen« begegnet in dem kaum rezipierten »Heldenlied von Herrmann und seinen Kindern« 30 des Einundzwanzigjährigen mit seiner Todesmüdigkeit und den Zer- und Ver-Vorsilben der Verben des Vergehens und Fallens darin. Als Elementargeist, Engels- und Muttergestalt erscheint die »Melancholia« als höchst bedeutsame Figur 1813 in der »Päpstin Johanna«, Arnim gestaltet wundervoll poetische Stellen der Begegnung Johannas mit 5

ihr.31 »Ein trauerndes Weib nach Dürer« hat Arnim als Kupferstich eingetauscht Anfang 1808, »nie ist Traurigkeit so gemalt worden, die müßte am Himmel wie Abends der Mond dastehen, daß sich die Menschen daran gewöhnten, sie zu sehen«.32 Brentano bemerkt 1813, daß »eine persönliche, wunderbare, bange Schwermuth« »als eine stete, wiederkehrende Empfindung« ihm die »Lektüre aller Deiner Arbeiten, ja der Umgang mit Dir, der Gedanke an Dich, Deine Briefe, Deine Nähe, alles von Dir« aufdränge.33 Es ist wenig sinnvoll, nach Gründen für Trauer und Melancholie zu fragen, doch gibt es den Schatten einer Existenzschuld bei Arnim, dessen Mutter bei seiner Geburt starb: »Durchwache eine trübe Nacht, träume du hättest deine Mutter ermordet um geboren zu werden«, schreibt er 1804, und in dem Entwurf zu der Briefstelle heißt es: »Um zu erblicken die Sonne zerschlug ich die Form in die ich gegossen das Riesenkind berstet den Leib der menschligen Mutter, also auch schloß sich ihr Aug, als ich das meine erhob«. 34

Ästhetik des Elegischen Arnim zum Melancholiker stempeln zu wollen, wäre zweifellos abwegig, obwohl die Beziehungen zwischen Kunst und Melancholie spätestens seit der Epoche des Manierismus evident sind. Doch elegisch in dem umfassenden Sinn, wie Schiller in seiner Abhandlung »Über naive und sentimentalische Dichtung« den Begriff faßt,35 damit idealistisch in einer Weise, die auf die Einheit des Disparaten von Natur und Geist restitutiv wie utopisch zielt, doch das Übersteigen des Wirklichen in einer gleichsam eschatologischen Kunst- und Existenzform nie aussetzt, ist Arnims Dichtung zweifellos. Andererseits steht dem jederzeit die helle Präsenz eines überlegenen geistigen Lichts, in dem die Dinge erscheinen und das auf der realistischen Ebene die scharfen Konturen ermöglicht - hierin liegt das Geheimnis des Arnimschen >Realismus< verborgen - als stärkeres Gegengewicht gegenüber. Die Gegensätze des Weltflüchtigen, fernhin Ausgreifenden, Elegischen (als partielles Moment im Werk) und des Präsentischen, Hellen, Gewissen (als generelle Bestimmung des Stils) konvergieren darin, daß Geist auch in seiner vollen Präsenz durch einen Zug des Eschatologischen und Utopischen, durch die Unverfügbarkeit eines AnwesendAbwesenden, eine Ungreifbarkeit des Lichts gekennzeichnet ist. Wie 6

die Ahndungen ist er »Licht ... (und) Auge zugleich«, und darum »nicht zu erkennen und zu begreifen mit der Vernunft«. 36 Ja wie die Ahndungen transzendiert der Geist jeden Moment gegenwärtig-positiven Daseins, der dadurch zur »leeren Gegenwart« wird, durch sein Ubersteigen und seinen »Uberfluß«, so wie »mit wechselnder Schnelligkeit ... überfließend der Eimer des neuen Lebens« (d.h. des neuen Augenblicks) sich hebt, »daß sein herabfallender Uberfluß im Brunnen uns erst hörbar wird, wenn der geleerte Eimer schon in leerer Gegenwart schwankend niedersinkt«. 37 »Der elegische Dichter sucht die Natur, aber als eine Idee und in einer Vollkommenheit, in der sie nie existiert hat, wenn er sie gleich als etwas Dagewesenes und nun Verlorenes beweint«, lautet Schillers Bestimmung. 38 Arnim selbst kann sich die Ausarbeitung einer Ästhetik nur unter dem Vorzeichen des Elegischen vorstellen; zieht er doch die Parallele zwischen der »Restaurazion« in Hallers Staatswissenschaft und einer möglichen »elegischen« Ästhetik: »was an Hallers Restaurazion der Staatswissenschaft gut zu sein scheint ... findet bei der Aesthetik noch mehr Anwendung, und schon vor ein paar Jahren machte ich mir einen Plan, eine Aesthetik nach Hölderlins Hyperion auszuarbeiten, denn elegisch wird sie ihrer Natur nach, und diese herrlichste aller Elegieen giebt dazu mannigfaltigsten Anlaß«. 39 »Die Trauer um vergangene Herrlichkeit« nennt er »den würdigsten Gedanken, das herrlichste Bild, (den) letzten Schatz« des »armen Menschen« und er flucht jener Kunst, die phantastisch ihm dieses entreißt, »um ihn in die Wolken hineinzuschaukeln, bis es sich im Kopfe dreht und im Magen dehnt«. 40 Das Elegische mag die Form des Melancholischen und seiner Kunstaffinität im Zeitalter des Idealismus sein. Das Elegische als Transzendieren des Gegenwärtigen bestimmt nicht nur strukturellthematisch Arnims Werke, auch die schönsten prosalyrischen Stellen in seinen Dichtungen haben den unverwechselbaren Ton Arnimscher Elegie. Die Reisestationen des an der Liebe Verzweifelten, die »Sprache eines tiefgekränkten Herzens« in der Dolores, 41 die Gedanken auf dem verhagelten Feld und die »Bilder der Ausreise und der Rückreise«, 42 die unvergleichliche Traugott-Episode, 43 der »Tod auf den Höhen der Welt« , 44 die »unsichtbare Sonne« der »herrlichen Gedanken« als Strahlen von Gottes Liebe, »Gottsöhne vom Heiligen Geiste empfangen« als eine der elegisch-transzendierenden Reflexionen, 45 aber vor allem die großen Naturbilder in den »Kronenwächtern«, 46 von der Erde, »wenn sie in den Winterhimmel tritt, der alle ihre Saaten 7

verschüttet« (765) und von den Ahndungen, den »Sternzeichen in der unerschöpflichen Tiefe unsres Herzens«, die das Licht und das Auge zugleich sind: »Das Herrlichste erkennt sich erst, wenn es vorbei...« (1025). Am Schluß der »Kronenwächter« steht die Engführung von elegischer Hoffnung und irdischer Vergeblichkeit in Bertholds Sterbeworten (778).

Ungeduld des Veränderungswillens Komplement zur Allfixiertheit und Transzendierungslust, die im Konkreten sich zur Verantwortlichkeit gegenüber dem politisch, gesellschaftlich und menschlich Allgemeinen wandeln und manifestieren kann - »die geistige Größe alles Wirklichen fühlen und achten« lernen, von dem man sich »doch nicht losreißen kann« - , 4 7 ist eine leicht ungeduldige Reformierungssucht, dem seine poetischen Lebenspläne48, auch wohl das »Wunderhorn« entstammen: »Du siehst also daß ich mit der Welt in keiner Rücksicht zufrieden, daß ich sie recht aus dem Grunde bekehren möchte und daß ist es worauf ich dunkler oder klarer ohne es zu wissen von je an hinsteuerte«.49 So will er »den jungen Völkern« »die göttligen Gedanken« zuführen, »zu dem Pöbel gehe um dich vom Pöbel zu befreyen, gebe ihnen Aussicht und Hoffnung«, »zeige ihnen wie sie die Erde das edelste Hausthier pflegen, daß sie wohlig alle ihre kleinen Menscheninsecten trägt«, ja »segle mit den All-Lebensbildern des Herkules und der Venus in die Wüsten der Erde, führe ihnen ein zweyt(er) Prometheus den Himmelsfunken zu«. 50 Kosmische Dimensionen und prophetischer Ton kennzeichnen solche Erneuerungsutopien: »Dann entweichen die Harpyien, die an den Wurzelfasern der ewigen Eiche nagen, die ewige Quelle fließt über die Erde, die Himmelsbrücke, Regenbogen genannt, ist nicht mehr bewacht, es steigen die guten Götter aus der Zerstörung hinunter ...«; »die Töne werden sich da zu einem höheren Gesänge verbinden, es wird eine Fülle des Schaffens werden«.51 Dann aber siegen auch wieder der konkrete »Unwille« über die realen Weltzustände und auf der anderen Seite das planende Ausgreifen auf Verbesserungen, beides ein Spiegel der idealistischen Gespanntheit der Epoche: »Selbst mein Unwille wird mir oft dramatisch, so wie meine unselige Planmacherei - beides ist eine eigenthümliche Krankheit des Zeitalters«.52 8

Das »Uebergreifen des Idealen

Es gibt Autoren, »bey welchen Seele und Wirklichkeit ganz gleich wiegen, wie bey Goethe«: »es kann aber auch gefühlt werden, daß die Welt, die der Mensch in seiner Wirklichkeit über diese baut und webt, stets reicher sey als alle Gegenwart, daß er eine Fülle von Lebensgeistern aus sich erzeuge, die alle Stoffe der Wirklichkeit, indem sie durchhingehen, vermehren und vervielfältigen und sammt ihm selbst überbieten. Dieß unerschöpfliche Uebergreifen des Geistes wußte Arnim in einigen seiner Dichtungen ganz unmittelbar zu machen; die Spur davon tragen sie alle«.53 Diese Worte sind 1836 von Gustav Adolf Schöll, dem späteren Professor der Archäologie in Halle, Direktor der Kunstanstalten in Weimar und Leiter der Großherzoglichen Bibliotheken in seinem vergessenen Eichendorff-Essay niedergeschrieben einer Abhandlung über die Romantik, in der vielleicht das Treffendste zu Arnim gesagt wurde, was im 19. Jahrhundert und vielleicht bis heute laut geworden ist.54 Das »Uebergreifen des Idealen« ist es, was nach Schöll die Eigentümlichkeit Arnims bezeichnet, »dieser Ueberschuß des Geistes mitten im Begreifen und reichsten Erklären, dieses ewige Geheimniß mitten im gegenwärtigen Verständniß« als »die wahre Mystik«, wobei »der Geist, obwohl die Wahrheit jedes Verhältnisses, und in jedem begreiflich und begreifend, doch wiederum, wegen der Auflösbarkeit, Fortsetzbarkeit, Punktuation eines jeden derselben, immer über jedes Verhältniß und jede Summe von Verhältnissen im Ueberschuß bleibe«.55 Eine Doppelfunktion des Geistes und damit das Geheimnis der Verbindung von hellster Rationalität und schärfstem »Realismus« mit dem transzendierenden, »überschießenden« Licht surrealer Idealität bei Arnim erkennt Schöll und darin auch den Sinn jenes »Verachten(s) aller Form«, denn »warum ist doch immer das Einzelne so wahr, so sichtbar, oft so wunderbar fein empfunden, oft bis zum Erschrecken getroffen?«.56 »Wie er ... vom reichsten Gemälde ab in die engsten Räume des Denkens einbiegt, in die verworrensten Winkel des Gemüths hinabsteigt, und unangegriffen zur muntersten Humoristik übergeht, und unzerstreut wieder dem innigsten Schmerz, der schlichtesten Anmuth die klarsten Blicke und wahrsten Namen gibt. ... Ich finde einen Scharfblick für die incommensurabelsten Verhältnisse mit dem offenen Sinn für das einfachste Gute wunderbar gepaart«.57 9

Die >Formlosigkeit< der Dichtungen Arnims, die unter dem Maßstab romantikfremder Ästhetik so oft gerügt wurde, wird von Schöll mit Recht aus diesem Apriori des übergreifenden Geistes in seiner Notwendigkeit abgeleitet: »Aus diesem Prinzip wird auch das Abgebrochene, was er im Einzelnen oft hat, das scheinbar willkürliche Einführen neuer Elemente klar. Dieß eben ist die Form dieser Dichtung, darzustellen, wie die Wirklichkeit, indem sie die Selbstunterbrechung und Behinderung des Geistes ist, zu einem Messer 58 seiner Tiefen und Breiten, seiner Ausreichbarkeit im Großen und seiner schmiegsamsten, multiplicirenden Geschäftigkeit im Kleinsten werde, wie ihm keine Gränze seine letzte, kein Zusammenhang sein Abschluß sey, wie jede Erfüllung und Entwicklung eines Gesetzten nicht nur inhaltreicher, theilbarer, complicirter, als der Anfang ahnen ließ, sondern auch in jedem Ende Production neuer Aufgaben und Verhältnisse sey«. 59 Er trifft damit genau, was Arnim immer gegen die uneinsichtigen Einwürfe der Freunde etwa wegen der Öffnung der Geschlossenheit und »Begränzung« 60 einzuwenden hatte, aber doch nicht so prinzipiell ausführen konnte und wollte. Ein weiterer Grund allerdings, den Schöll nicht nennt, liegt in dem symbolischen Kunstcharakter der Dichtungen Arnims und in der Unterordnung der Plausibilität der Realebene unter die symbolischen Figurationen. Es kommt so, wie Schöll es wendet, »daß an den verknüpften Gedanken selbst immer auch solche Seiten sich andeuteten, zeigten, aussprachen, nach welchen sie aus der Verknüpfung sich befreyten. Aus gleichem Grunde ist nur in der Musik die Dissonanz doppelter Wohllaut und die Pause Gegenwart aller Töne; weil da ... der Geist der Musik schon durch wirkliche Melodien heraufbeschworen ist aus seinen Tiefen ... und wie die wirkliche Musik Transcendenz der Töne in Harmonie ist, so ist diese Pause Transcendenz der Harmonie ins Unendliche«. 61 Deshalb regieren nicht die Medien der Künste - nicht der Stoff - , sondern der Geist: »die Schönheit ist nicht Farbe, nicht Gedanke, nicht Stein: sie ist der Geist, der sich in sich selbst versinken sieht. Freyheit des Geistes ist das Ende der Poesie, und ist die Manier Arnim's«. 62 »Die Vervielfältigung und Verwicklung der Wirklichkeit (ist es), wodurch das Uebergreifen des Geistes als stets verjüngtes Geheimniß erfahren wird«, »der Geist (tritt) als das jedesmalige Andere unter dem Vorgestellten hervor und ihm gegenüber;... Der wachsende Gegensatz ... ist eine dialektische Aufhebung des Einzelnen, überraschend, erschütternd, stärkend« 10

Noch heute unerreicht sind die Einsichten Schölls zum Prosastil, zum Vermeiden der Beschreibung und Verachten der Illusion wie zur Spontaneität objektiver Poesie bei Arnim: »wenn ihn die Leichtigkeit, mit welcher er in die Eigenheit jedes Dinges einging, für den Leser nicht selten aphoristisch und hart erscheinen läßt, so ist es gerade dieses gänzliche Begeben aller Illusion, wodurch er sich am meisten des Glaubens bemächtigt, es ist das reine Verzichten, durch regelmäßige, harmonische Ausmalung die Sache zu heben, wodurch die Bilder, die doch so unwiderleglich gedacht, so sicher gefühlt sind, erst recht durch sich selber zu leben scheinen« und die Phantasie damit »den Schein (abthut), als sollte sie irgend dem Mechanismus einer eigenen Aufgabe folgen«.64 So gibt »der Dichtergeist« - ins Innere des »Zeitentraums« mit der reinsten Hingebung eingehend - diesem »die letzte Wahrheit, ... und auflösend all die schimmernden Verkleidungen und seufzenden Bethörungen der Weltseele, fortleitend all ihre blutigen Anstöße und unblutigen Leiden, an ihren eigenen Räthselzügen sie zurückspinnt in das einige Herz, von wo aus all ihre Lust und Unlust sich schied, wohin jeder Trieb und jedes Ermüden strebt, ... in den Mittelpunkt der Welt«.65 Was Schöll hier in der Sprache des Spätidealismus aus dem Gehalt der zur spirituellen Transparenz gesteigerten Romantik sagt und was ich, so sehr es mit meinen Uberzeugungen übereinstimmt, nicht ins Moderne übersetzen, sondern in seiner historischen Farbe belassen möchte, dem gilt es in den vernachlässigten, aber radikalen Frühwerken Arnims und in einem Ausblick auf sein größtes Werk, »Die Kronenwächter«, nachzugehen.

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Allidee und Kunstthematik im »Hollin«

Das »changeant Taft« Der kleine Briefroman mit dem programmatischen Schlüsselwort »Liebeleben«66 im Titel, den der zwanzigjährige Arnim nach dem siebensemestrigen Studium in Halle und Göttingen in den Herbstmonaten vor dem Aufbruch zur großen Kavalierstour auf Gut Zernikow niederschrieb, ist ein aufschlußreiches Dokument hinsichtlich der Ideen und Vorstellungen, der Welt- und Lebensauffassung, der wissenschaftlichen und künstlerischen Uberzeugungen des jungen Autors. Als Frühwerk besticht es besonders durch die Sättigung mit unmittelbar durchscheinenden Zeugnissen authentischer Erfahrungs-, Denk- und Gefühlsweisen der frühen Jahre. Der Forschung67 ist es weithin ein Rätsel geblieben, weil man zwar die Opposition von Hollinhandlung und Saussure-Biographie, nicht aber das dichte Motivgeflecht und die Thematisierung von Phantasie und Kunst in Beziehung zu Leben und Wirklichkeit und die Begründung beider Bereiche in dem enthusiastisch wie naturphilosophisch gefeierten All-Leben der Natur gesehen hat. Auf die auch schon in diesem Erstwerk hervortretende, für Arnim typische Poetik des Erzählens in der Vermeidung der Subjektivität auktorialer oder anderweitig autoritativ setzender Darstellung - die satirischen Seitenhiebe auf eine Poetik des Beschreibens, der künstlichen, formalistischen und subjektiv-anmaßenden Nachahmung der lebendigen Wirklichkeit von Natur und Schöpfung im »Hollin« thematisieren dies sogar - müßte in einer getrennten Untersuchung eingegangen werden. Arnim hat das im weiten Sinne »Autobiographische« des Erstlings betont: »was mir an meinem Roman gefiel, und ich könnte ihn zuweilen abgöttisch verehren, das ist nur für mich darin«. »Für mich werde ich nie etwas Besseres schreiben, für andere nie etwas Schlechteres«.68 Das motivisch Durchgearbeitete und die Mehrschichtigkeit der Ebenen betont Arnims Eigenurteil: »An dem Roman habe ich Talent verschwendet 13

wie ein Weber, der künstlich ein changent Taft aus verschiedenem Aufzuge und Einschlage gemacht, aber es so hinlegt, daß es nur von einer Seite, also nur in einer Farbe gesehen werden kann. Das ist mein Urtheil über meinen Roman ...«. 6 9 Solche Machart appelliert an eine Hermeneutik, die Handlungsvehikel und Bedeutungsebenen zu unterscheiden weiß. In keinem Werk Arnims gewinnt die Natur - als Umgebung und als symbolischer und stimmungshafter Raum, als Ursprungsbereich der Bilder und Gleichnisse, als Bezugspunkt der Gespräche wie als Gegenstand naturwissenschaftlicher Beobachtung und Erörterung, schließlich in einem umfassenden naturphilosophischen Sinn - eine solche Bedeutung wie in »Hollin's Liebeleben«. Das spätere Werk des Dichters ist geradezu gekennzeichnet durch das Vermeiden der nur im Medium der >Beschreibung< konkretisierbaren Natursphäre wie auch jeder Art von Mythisierung der Natur, aber auch durch die Abwesenheit des Privaten und Inneren - nicht allerdings des Psychologischen. Ein auffälliges Uberwiegen der öffentlichen Gesellschaftssphäre, des gesellschaftlich und geschichtlich »Allgemeinen« prägt zunehmend seine poetische Welt. Darin liegt Erbe des 18. Jahrhunderts, aber auch die früh ausgesprochene politische und poetologische Uberzeugung der Bedeutung von Öffentlichkeit und »der hohen Würde alles Gemeinsamen« und des »Allgemeinen in unsrer Zeit«. 70 Schauplatz des Geschehens ist neben Göttingen und Halle 71 das Harzgebirge mit den auch symbolisch eingesetzten Stätten Goslar (poetisches Mittelalter mit Ritterwesen, Freiheit, Liebe), der Brocken (Höhe, Anbetung, Sonne, Schöpfung), die Bielshöhle (Tiefe, Nacht, Organ der Lebenskraft, Verirren, böser Feind, tote Natur), das Tal der Roßtrappe (paradiesischer Ort der Vereinigung, Lebenszentrum, Überwinden der Menschengesetze, Wunder der Natur), WalpurgisNacht in der Waldhütte (inneres Leben bei äußerem Sturm der Welt, ewige Glut der höheren Phantasie, Schau der kosmischen Harmonie, die Wirklichkeit als Schattenbild dagegen, Offenbarung des höheren Lichts, Maria als Inkorporation des Wunderlichts, das in die Hütte einzieht, das innere Ich als der ewige Quell und das ewige Öl der Flamme, die nicht verzehrt, Liebe als Prinzip des All). Bereits die Zusammenstellung der Bilder, Motive und Bedeutungen weist auf den höheren Sinn der Gebirgsreise zum Herzen der Geliebten; die Frauengestalt ist wie die »Aurora« im J. Böhme Gedicht des »Wintergarten« Figur des höchsten Lichts, Idee, Muse, Sophia. Vorgänge und 14

Motive der Erzählung deuten sich poetisch, philosophisch, mystisch, zugleich konkret als Phänomene der Natur, ja als Erkenntnisse einer (stets auch naturphilosophisch sich begreifenden) romantischen Naturwissenschaft, sie sind gespeist aus mannigfachen alten und bedeutenden Bild- und Motivtraditionen, eben »ein changeant Taft«, das allein »von einer Seite, also nur in einer Farbe« angesehen nur oberflächlich betrachtet würde. Unmittelbar nach dem Doppelhöhepunkt der Szenen im Tal der Roßtrappe und in der Walpurgisnacht-Hütte wird von Arnim der Wendepunkt gesetzt: nach der freien Vereinigung der Liebenden im »Toben freier Natur im Tale«, doch entgegengesetzt dem durch das »Stoßen des Eisenhammers« symbolisierten »gesetzten Wirken(s) der Menschen« mit ihrem »traurigen Leben ... in den festen Schranken der eignen sinnlosen Qual der Gesetze« (40), soll die Integration der Liebe ins bürgerliche Leben, in die Gesellschaft erfolgen. Auf der realistischen Motivierungsebene ist solch bürgerliche Sicherung und Kontinuierung der Liebe zwar begreiflich, widerspricht aber ohne eine Vermittlung und Übergang den bisher geäußerten Ideen und Überzeugungen. Tatsächlich werden an dieser Gelenkstelle, im Brief vom 8. Mai an Odoardo, und im Folgenden Text und Handlung ausgesprochen vieldeutig; die Realebene mit ihren eigenen Motivationen wird notdürftig durchgehalten, die Formulierungen aber deuten auf die ideellen Zusammenhänge und Probleme. »Alle Phantasie muß jetzt zum Leben werden«, lautet programmatisch die Devise, das idealistische Problem der Vermittlung von Geist und Realität, von Unbedingtem und Bedingtem wird als Folie erkennbar; zugefügt jedoch schon hier der theodizeehafte Zweifel: »wozu sonst die volle Kraft dazu?« (42). Entsprechend der Dialektik von Wesen und Erscheinung, die Eugeniens Hervortreten in der Öffentlichkeit in Goethes »Natürlicher Tochter« bestimmt, ist es in Arnims Dichtung nun Hollins Ziel, Mariens Namen mit dem seinen »öffentlich vereint zu sehen« (42). Dies geschieht im scheinbaren Widerruf der bisher so enthusiastisch beschworenen Ideale: »Die leeren Wünsche, das Umherirren des Gefühls, die Lebensschwärmerei hört auf, so bald sie ihren Himmel erreicht hat« - allerdings mit der nicht nur für die Handlungsebene des Romans, sondern für die involvierte idealistische Problematik hintergründigen Fortsetzung: »den meisten erst im Tode, glücklich wer ihn im Leben fand«, doch: »alles gelingt in der Liebe« (42). Man darf nur 15

das Werk E.T.A. Hoffmanns ansehen, um die bekannte Konstellation wiederzufinden: Tod, Wahnsinn oder poetische Utopie verbürgen allein Realisierung und Kontinuierung des Idealen angesichts der in der Wirklichkeit herrschenden »Disproportionalität«. In diesem Kontext wird die Funktion der Verdopplung des Höhepunkts in der Walpurgisnacht-Szene verständlich: der mystisch-platonische Offenbarungsenthusiamus der Szene entrealisiert und utopisiert die Vereinigungsszene, zeigt vor allem aber auch das (transzendentalpoetische) Ich und die Macht der Phantasie als den solipsistisch-narzistischen Ort des wirklichen Geschehens.

Das Lebensopfer für die Kunst Von der >Gelenkstelle> aus scheint es für die ideelle Thematik nur zwei Wege zu geben; den Weg der gesellschaftlichen Integration als den Weg der Versöhnung - den Weg des Bildungsromans - , oder den Weg in Scheitern und Tod, die Transzendierung des Idealen in ein Jenseits. Indem Arnim den letzteren zu gehen scheint, findet er tatsächlich einen dritten, den Tod auf der Bühne, die Kontamination von Kunst, Tod und Leben, die Transzendierung des Idealen in die Kunst. Denn diesen Stellenwert hat das so eigentümlich melodramatische Motiv, Hollin als Mortimer in Schillers gerade erst erschienenem Bühnenstück »Maria Stuart« durch eigene Hand sterben zu lassen, real, nicht mit Pappdolch, und zu Füßen der angebeteten Maria Stuart, die von seiner Maria, dem »Wunderlicht« 72 der Offenbarungsszene, dargestellt wird. Kunst- und Theatermetaphern und -motive häufen sich seit jenem Abschied, jener Gelenkstelle der Trennung von Maria, und sie kulminieren in der Szene, in der existenzielles Leben für eine bis dato unerhörte Wahrheit der Kunstdarstellung sorgt und wo in der Kunst - und nur in der Kunst - die Wirklichkeit des Idealen erreichbar wird. »Der Stoff war gut«, urteilt Arnim darüber trotz seiner Kritik. 73 In der Tat fügen sich das Tragödienkonzept der »Maria Stuart« und auch Schillers Kunsttheorie zu der Arnimschen Transzendierung des Idealen in das Reich der Kunst. Das »der Liebe Leben ewig« (76) mit allem Lebenspathos einer pantheistischen Naturphilosophie und -mystik findet keinen Ort auf der Erde, es sei denn in der Kunst, und dafür muß das Leben geopfert werden, wird der Künstler zum Märtyrer: »er ist ein wahrer Märtyrer und Eremit, er betet und 16

kasteiet sich für andre, damit sie das Leben haben, er ist der demüthige Petrus, der die Himmelsschlüssel hat und an der Thür sitzt, um andre hinein zu lassen und andern den Weg zu weisen, aber selbst nicht eintritt. Dieses freiwillige Cölibat, diese freie Entfernung vom Himmelreiche erfordert die Aufopferung des Regulus, der aus dem Schooße der Liebe zu den wilden Feinden seiner Ruhe zurückkehrt«, so schreibt Arnim am 9.7.1802 in seinem »großen Lebensplan«. 74 Arnims Künstleridee ist in der Frühzeit nicht selten durch Selbstopfervorstellungen und Märtyrermotivik geprägt. In solchem Kontext erscheint auch die Entgegensetzung von Hollin-Drama und Saussure-Biographie in einem anderen Licht. Letztere ist die ernsthafteste Würdigung eines im idealen Sinne vorbildlichen Natur-Wissenschaftlers und das Allgemeine bedenkenden Mannes und Politikers. Die Gestalt steht im Romankontext für die Realisierbarkeit eines Bezugs auf das Natur-Ganze, auf die »Allnatur« (in einem weniger enthusiastischen, aber realerem Sinne als bei Hollin) und auf das Ganze und »Allgemeine« von Menschenleben, Staat und Gesellschaft. Arnim war selbst ein erfolgreicher und ernsthafter Naturwissenschaftler gewesen. Die Saussure-Biographie zeigt eine zum Ganzen gerundete Möglichkeit seines eigenen Lebens. Auch nach seiner Entscheidung für die Dichtkunst blieb dies Teil seiner Existenz und bewies sich in der entschiedenen Gesinnung und der allseitig interessierten wissenschaftlichen, publizistischen und politisch-reformerischen Tätigkeit zeit seines Lebens. In dieser Hinsicht konnte die Saussure-Biographie Maßstab und Vorbild bleiben. Dennoch hatte Arnim die Dichtkunst mit all ihren auf das Weltund Lebensganze, das Ideale und Innere, Philosophische, Mystische und Kritische bezogenen Richtungen und Forderungen gewählt, und er gestaltet in dem universalen »Liebe Leben« Hollins und seinem tragischen Untergang in der Kunst Gefahr, Würde, Ziel und Hoffnung der eigenen noch schwankenden künstlerischen Existenz. »Ernst ist das Leben, heiter die Kunst«, die Worte Schillers läßt er Hollin »unter einem gemalten Schmetterling«, dem Symbol der Seele, vor der Katastrophe notieren (71); »Schaffen zeigt sich im Verwandeln, / Ernst verwandelt sich in Spiel, / Dieses ist der Worte Ziel, / Doch des Lebens Ziel ist Handeln«, so nehmen noch die Schlußworte von »Halle und Jerusalem« das Thema auf; 75 und mit den Worten: »Du bist ernst? O mein Freund Du scheinst mir ein neuer Herkules am Scheidewege hier die Heiterkeit mit der Poesie und dort der Ernst mit der Politik. 17

Kannst Du wählen? Bleibe heiter«76, reagiert der Freund August Winkelmann auf die polare (doch nicht ausschließende) Struktur des »Hollin« wie auf die Entscheidungssituation seines Autors, und das hat, wie dieser schreibt, »mich aufgemuntert und mir viel genutzt«.77 Auch in seinem zweiten Werk, »Ariel's Offenbarungen«, wird die Kunst wiederum zentrales Thema sein.

>Catena aurea< und All-Leben Im Mittelpunkt der Vorstellungen von der Ganzheit der Natur steht neben der Berufung auf das goethezeitlich bedeutsame SpinozaMotto »Alles in Eins und Eins in Allem« (40) das ehrwürdige Motiv von der Kette und dem Band der Natur, das auf Homer zurückgeht und im Denken des 18. Jahrhunderts eine große Rolle spielte.78 Die Idee der Kette bestimmt bereits den ersten Brief Hollins unter der Perspektive des naturimmanenten Drangs zum Höheren, »nach Licht und Freiheit« (12), der seinen Höhepunkt im Menschen findet, denn dieser befindet sich auf der »höchsten Sprosse der Stufenleiter aller Wesen, auf welche die bildende Natur in der Anspannung aller Organisation uns hob« (13). Hollins »Liebe Leben« ist die enthusiastische Verwirklichung dieser höchsten Bestimmung und erhält von daher kosmische Rechtfertigung. Der Parole von der Freiheit als höchster Naturbestimmung entspricht im ersten Brief eine Gesellschaftsutopie im Spiegel der freien Studentengesellschaft: »alle Grenzscheidung, alle Verkrüppelung, alle Schäden der Staaten und ihrer Verfassungen waren geheilt, gleiche Redefreiheit ...« (13), auch die Grenzen der sozialen Schichten und der Geschlechter werden überwunden im Zeichen alles umfassender Liebe und Sympathie. Darüber hinaus ist die Idee der Steigerung bezogen auf Hollins Berufung zur Poesie; das Motiv der Lebensentscheidung des Jünglings zwischen Leben, Wissenschaft, Kriegsdienst (Tat), Politik 79 , Kunst usw., das im Werk Arnims häufig anzutreffen ist - als Hauptthema in der allegorischen Erzählung »Juvenis« - , begegnet im »Hollin« zum ersten Mal und ist auch an dieser Stelle mit der für ihn topischen Spiel/Scherz - Ernst/ Leben Devise für die Poesie konnotiert: »Wissenschaft und wechselnd Leben buhlten um mich, da traten Philosophie und Poesie herbei, und Wissenschaft und Leben war verschwunden, mit Blüten bekränzt war ernsthaft der Scherz und der Ernst Scherz geworden«

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Maria, deren Sprache sie bereits als vollkommene Erscheinung der Natur kennzeichnet: »Welche wunderbare Sprache, ohne Doppelsinn, ohne Deutung der einzige vollkommene Ausdruck« (29), wird durch Magnetisieren als Glied und Kulminationspunkt des kosmischen geistigen Bandes herausgehoben; sie spricht unter der magnetischen Einwirkung »wie eine Verklärte« Anschauungen vom Ganzen aus, die nicht allein von ihr selbst stammen können; auch für sie selbst scheint dies »darin zu liegen, daß unser Wesen nur in gewissem Sinne auf die Grenzen des Körpers eingeschränkt sei, daß es durch die ganze unendliche Kette seiner Bedingungen mit einem Körper verbunden in allen verteilt ... das Verbinden des Getrennten, das Bild der Vereinigung alles Lebens erkennt« (32). Auf der ideellen Diskursebene, zu der die All-Einheits-Motivik und die Künstler-Thematik gehören, ist Maria Figur und Medium der Idealität: Muse, Sophia, Licht- und Wundergestalt. In satirischer Kontrastierung werden die akademischrationalistischen Naturerklärungen in den Reden ihres Vaters, des Rats, entgegengesetzt, während Hollin den (mit Novalisschen Ideen verwandten) Gedanken einer magisch-spirituellen Herrschaft der geistigen Menschheit über die mächtigsten Erscheinungen der Natur träumt: »ob wohl je alle unsere Künste des Lebens dahin führen könnten!« (34). Dies ist allerdings noch ein in der Vereinigungsszene gipfelnder Traum von den Künsten und Möglichkeiten des Lebens, nicht der spätere, ersatzweise, Traum vom Reich der Kunst und Dichtung, der allein noch der aus dem Natur- und Lebensparadies vertriebenen Menschheit bleibt. Schon im »Hollin« also betont Arnim Vorrang und Apriori der Allnatur und des Lebens vor der Kunst und Poesie. Bereits hier wie später im mythischen »Heldenlied von Herrmann und seinen Kindern« wird deutlich, daß das Zeitalter von Kunst und Poesie die Epoche nach dem Verlust des (Lebens-)Paradieses darstellt, wo die Künste Heils-, Erlösungs-, und Versöhnungsfunktionen übernehmen, die von Ersatzbildungen nicht immer zu trennen sind. In der Walpurgisnacht und in den letzten Aufzeichungen Hollins vor seinem Tode begegnet das Motiv der Hypostase der Maria81 erneut, gleichfalls - auf eine Symbolkette der Sprache bezogen - in der Vereinigungsszene: hier im Zusammenhang des wiederholt anklingenden Unsagbarkeitstopos, wie er dem neuplatonisch-mystischen Gehalt der Szene entspricht. Dadurch manifestiert sich in fast unmerklichem Übergang und in mystischer Transparenz das höchste All-Eine 19

als spirituelle Bedeutung der Person und Liebe Mariens bzw. der Liebes Vereinigung mit ihr. Hollin an Odoardo: »Ich vermag es nicht auszusprechen, alle Herrlichkeit, alle Seligkeit; sei Dir mein Wort das Schönste, Heiligste Deiner Gefühle und dieses nur Symbol des Höchsten, was Du ahndest, und so in unendlicher Reihe fort alles nur Symbol, Andeutung des Höhern, vielleicht geläng es Dir, den Himmel ihrer Liebe unkräftig so Dir vorzubilden« und - die Psychagogik zum Höchsten für den Angeredeten steigernd - »doch daß des Bildes Geist sich mit Dir eint, Du ganz in ihm, er ganz in Dir wird neugeboren, vermagst Du nur im Doppelleben ihrer Liebe, wenn alle Einheit schwindet, zu erringen«. Der hier vorgezeichnete, gleichsam neuplatonische, Mysterienweg mündet denn auch in das bereits zitierte Spinozawort: »Alles in Eins und Eins in Allem« (40). In der Tat waren ja Poesie und Philosophie die neuen Götter Hollins bei seiner Lebensentscheidung (13). Trotz der sonst distanzierten Haltung Arnims gegenüber der Philosophie und ihren Systemen findet diese schwesterliche Verbindung in dem philosophisch-poetischen Konzept des Jugendwerks ihren deutlichen Ausdruck.

Walpurgisnacht-Szene Die mystisch-philosophischen Bilder und Konzepte der Walpurgisnacht-Szene mit der verstärkten Apotheose der Lichtgestalt der Geliebten müssen sowohl als Steigerung und Wiederholung wie auch als Krisis der bisher ungebrochenen natur- und lebensphilosophischen Konzeption begriffen werden. Denn an die Stelle des Lebens tritt nun die Kunst. In der Walpurgisnacht ereignet sich unter dem Aufruhr der Natur eine Götterdämmerung82 und zugleich damit die Transformation der kosmisch idealen Lebenswelt in die Idealität der Kunstwelt.83. Als »Maler Zeleuco« erfährt Hollin in der von der grandiosen Natur abgeschirmten Hütte - also nicht mehr im freien Lebensraum der Natur - eine Veränderung des Weltzustands, wie sie radikaler von Arnim nicht gestaltet werden konnte und in der man zugleich die Spiegelung einer Kantkrise erblicken mag, nämlich den Wechsel von der ontologischen Objektivität der Dinge, dem mythisch-metaphysischen Zeitalter, zu einer Welt, in der das Ich, die Subjektivität des Menschen und Künstlers, die Wirklichkeit aus sich heraus erschaffen muß und dessen fähig ist, dem Zeitalter des Transzendentalismus und 20

seiner Kunstreligion. Dies bedeutet eine Transposition der kosmischen Real- und Außenerfahrung in »das innere Leben, die ewige Glut« (41). Der Übergang geschieht in einer der erstaunlichsten Passagen innerhalb des ganzen Jugendwerks mit dramatischer Bewegung: »noch weilst D u süßes Leben der Natur, D u kennst Deine Allmacht!« (41) - das sind gleichsam die Abschiedsworte an die entschwindende Welt der Götter, der objektiven Ordnungen. Der nächste Satz bereits spricht von einer anderen Wirklichkeit: »Ist's nicht ein andres Leben, was das Herz mir regt, den Busen hebt mit helleren Gefühlen ...«.84 Den kosmischen, katastrophenartigen Charakter des Wechsels illustriert das Schwanken des symbolisch eingesetzten »Hauses«: » E s schwankt das Haus, emporgetragen, das neue Licht zu schaun ...«. Die ekstatische Subjektivitätserfahrung, in der die Wirklichkeit nun Produkt des Subjekts, des transzendentalen Ich, wird, setzt die Objektivität von Raum und Zeit außer kraft: »Trennt mich ein Raum noch von dem Schönsten, ist's nicht in mir, bin ich nicht ganz in ihm, gibt's noch der Zeiten Dauer, ist's nicht ein Augenblick, ist's Ewigkeit?« 8 5 Die transzendentale Selbstermächtigung des Ich gipfelt in der Ersetzung des All durch das Ich: »ich steig auf deinen Thron erhabne Harmonie, allseitig strahlt mir Licht entgegen ...«, und mit der neuplatonischen Metapher der Quelle des Seins, die hier das Ich ist, erfährt der Visionär Hollin sich als das Licht, von dem alles ausgeht: »Ich bin der ew'ge Quell, das ew'ge Ö l der holden Flamme, in der ich nicht verbrenne, nicht vergehe, in deren Licht ich reingebrannt des Kampfes Wonne schmecke«. In dem transzendentalen Licht seines Ich ist ihm nun »geeinigt ... die Natur, in allem Wandel steht ein ewig dauernd Leben fest«. Hollin verläßt die (Außen)-Welt, die zum Schattenbild »der höhern Harmonien« geworden ist, und findet durch transzendentale Selbstermächtigung einen unmittelbaren Zugang: ich steig »auf deinen Thron erhabne Harmonie«. Indem motivisch signifikant Blüten die Früchte ersetzen, der »Götterkelch« der Knospen sich dem »Licht« entgegenneigt, wandelt sich das Motiv der Kette des Seienden (»tausendfach strebt alles Leben in ew'ger Kette wirkend fort«) ästhetisch zum (Blumen)Kranz der Kränze, deren Licht heller und deren Liebe noch höher ist »in den wunderbar verschlungnen Kreisen« (der Kunst). Deren Liebe ist jetzt »in Allem«, aber - da nicht >wirklich< - doch »in Keinem«: »nicht mehr ist Liebe nur dem Einen, in Allem ist sie und in Keinem« (41). Dieser letzte Satz der Walpurgisnacht-Vision deutet die 21

Konsequenz des Weltenwandels an; als Prinzip transzendentaler Subjektivität existiert Liebe nicht mehr vereinzelt konkret in ontologischer Qualität, sondern ist »in Allem«, weil alles nun vom Licht des transzendentalpoetischen Ich erleuchtet ist, und sie ist objektiv und ontologisch dennoch »in Keinem«. Der Enthusiasmus dieser Erfahrung wie auch das Aushalten der Erfahrung entspricht dem Enthusiasmus und Leiden des vom »Nordwind auf die öde Felsenspitze« geworfenen, »gefesselten« Künstlers. Es sind abgründige Einsichten in die utopischen Möglichkeiten und tragischen Voraussetzungen des Künstlerdaseins um 1800, die Arnim in diesem Werk gestaltet: »Für mich werde ich nie etwas Besseres schreiben, für andere nie etwas Schlechteres«, so beurteilt er selbst Ergebnis und Anspruch einer Epochendiagnose im Gewand eines Liebesromans.86 Der »verratene Sohn« des Kosmos Die Schwierigkeit in dem Folgenden bestand für Arnim darin, in die »erdichtete Geschichte allerlei wahre Scenen einzuflechten«, das heißt, die bürgerliche Liebesgeschichte mit den philosophisch-poetischen Gehalten87 in Einklang zu bringen, worauf er sein ganzes »poetisches Talent« verwendete.88 Vor allem aber mußte es darum gehen, die Sphäre der Kunst in dem Vorgang des enthusiastischen Liebestodes glaubhaft transparent werden zu lassen und damit auch Schillers transzendent-transzendentale Freiheitstragödie mit dem eigenen Kunstkonzept zu vermitteln. Die Kunstmotivik führt er nach dem folgenlosen »Maler Zeleuco«Motiv in mehreren Strängen fort, zunächst - eher kritisch die Differenz von Kunst und Natur betonend - auf der Theaterebene in der die Medea repräsentierenden Schauspielerin Hermine und in der komplexen Vauxhall-Szenerie, die sonst weiter keine Funktion hat, mit ihrer Entgegensetzung von »Lebensbühne« (47) und Theater, kosmischem Licht und Theaterlicht usf. Kritisch wirkt auch die Charakterisierung diverser Dichtertypen in ihrer Relation zu Natur und Lebenswirklichkeit, positiver dann aber die Musikmotivik: zentral Haydns »Schöpfung«, wo, ähnlich wie in der Schöpfungsdichtung der »Päpstin Johanna«, Kunst und Welt-All exemplarisch vermittelt erscheinen, ebenfalls das Memnon-Motiv, wo durch die »leuchtende Liebe« in der »kalten« Statue »das heilige Reich der Töne« erweckt wird (51), schließlich die Hommage an J. Fr. Reichardt in der Gestalt des »poli22

tischen Schriftstellers« Poleni 89 und die bedeutsame Einlage, die von der Transzendenz der Töne über Leben und Natur handelt (53). Hier zuletzt vor allem mehren sich die Hinweise auf Tod und Abschied von der Natur, auf den Liebenden bzw. den Künstler als den Unbehausten, den »verratenen Sohn« des Kosmos, den »vertriebenen Bräutigam«, der ruhelos umhergetrieben über die Erde wandelt. 90 Dies alles ist auf der Realebene nicht begründet, da die Intrige erst später einsetzt. Statt in ewiger Glut zu brennen - so wird das Feuer/ Licht-Motiv fortgeführt - droht er im Erdenelend des Alltags zu verschlacken. »Nur im Tode ist Freiheit und jeder Tod ist für die Freiheit« (52), das scheint die Konsequenz, und die verhallenden Töne sind »nur Trauer des verlorenen Paradieses«, »im fernen Süden tönt schon des letzten Schwanes Gesang der höhern Heimat nahe!«. Das Wahnsinnsmotiv sowie das (wie Arnim später bedauert 91 ) gestrichene »Lied der drei rasenden Sänger« zielen auf »das Schreckliche der vernünftigen Zwischenzeit« für einen irdisch heimatlos gewordenen Menschen. Gefängnis-, Sarg- und Gittermetaphern 92 betonen die Verschlossenheit der Wirklichkeit angesichts der aufbrechenden Transzendenz von Kunst und Tod, wo »die Verdammnis in Erlösung sich wandelt« (53). Die dramatisch lyrische Todesvision mit dem Äthertrunk und der Vereinigung mit der Himmelsgestalt der Geliebten »Luft, Luft, ... freudig Erbeben, seliges Leben, ewiges Licht« - eröffnet als Befreiungswunder die Pforten des Jenseits und führt zur Transzendenz. Signifikantes Bild für die Ausgesetztheit des Künstlers ist das an zwei Stellen verwendete Felsenmotiv: ausgeschlossen von Leben und Natur hängt der Künstler an der Felsenspitze zwischen Himmel und Erde: »Alle Tropfen, die in der Höhe getrennt auf Erde und Meer zerfließen«, die Spuren wirklichen Lebens, »alle trinkt begierig das All, aber ich hänge an der Felsenspitze und netze sie nicht« (mit Tränen des Lebens), »ich seh in die herrliche strudelnde ahnungsvolle Tiefe und vermag nicht zu ihr herabzusinken und die Sonne erhebt mich nicht und bildet in mir nur andern den bunten Regenbogen, den sie angaffen und vergessen, ob er ihnen auch willig die herrlichen Strahlen sende« (54). Regenbogen ist auch bei Goethe Symbol der Kunst, gleichfalls der Schleier, der auch in der Walpurgisnacht die Gestalt Mariens kennzeichnet (42).93 Noch wechseln solche Visionen, die das Märtyrermotiv variieren, mit Gefühlen der Geborgenheit in der Natur: »In deinen weichen 23

Armen ruhe ich noch, Natur ...« (54), wie überhaupt der Epochenwechsel der Walpurgisnachtszene und die Unentschiedenheit der Künstlerthematik in den darauf folgenden Szenen in gewisser Spannung zueinander stehen. Erst in der Abschiedsnotiz, Schillers Spruch von der Heiterkeit der Kunst unter dem gemalten Schmetterling folgend, kommt, mit Verwendung sowohl des ontologischen Kettenmotivs wie des Felsenmotivs, die tödliche Endgültigkeit des Künstlergeschicks zum dramatischen Ausdruck. Der Tod und Liebe verschränkende, zweifach zitierte Spruch: »Soll durch den Tod sich Liebe lohnen, soll/wird Liebe in dem Tode wohnen«, der erst mit Frage-, dann mit Ausrufezeichen versehen ist, 94 bildet die Klammer: muß Liebe das Opfer des Todes bringen? wird nur im Tod die Wahrheit kosmischer Liebe offenbar? Der Künstler wird zum Helden in »der Welten Kreisbahn« (71) stilisiert, durch dessen Opfer die Brüder auf der kosmischen Bühne ihr Leben erhalten. Dieses Opfer, das biographisch Arnims Entscheidung zur Kunst mythisiert, fordert hier ewigen Abschied. Dem universalen Rahmen entsprechend verlockt das Leben als catena aurea: »noch einmal streb ich, fest mich an den Ring der Kette anzuschließen, der mit dem ew'gen Zauber an sich reißt, das heil'ge Band der Allnatur, das Band des Lebens und des Todes zu erfassen« (71). Indem er dramatisch den Ring, der mit dem Leben verbindet, zerspringen läßt, setzt der junge Autor befremdliche Worte ein: der Ring zerspringt, »es klingt der laute Beifallsjubel der künstlerischen Freunde, Verzweiflung packt ihn, Wut reißt geißelnd ihn durch Meer und Flut. Ha Kunst du hast gesiegt! Jetzt wirft ihn Nordwind auf die öde Felsenspitze, gefesselt liegt er ...« (71). Bildet dies vordergründig den Kommentar zum wirklichen Bühnentod in der »Maria Stuart«-Aufführung, so weist es mit dem Pathos der mythischen Stilisierung nicht nur auf das allgemeine Künstlerschicksal, sondern auf die offenbar auch grauenhafte Erfahrung, welche die Lebensentscheidung zur Kunst, die absolute Hingabe an die Stellvertreterfunktion und vermeintliche Lebensabsage für Arnim bedeutet haben mag, während der Beifall der Freunde, nicht zuletzt August Winkelmanns und Clemens Brentanos, sein Lebensopfer in fast greller Groteske bejubelt. 95 Innerhalb der Szene folgt eine Mythologie des künstlerischen Schaffens. Der Held liegt gefesselt »und kann nichts erfassen«, ist vom realen Leben getrennt, »es schimmern über ihn die Nebel und die Gestaltung all ist fern« (71 f.), doch die Schöpferkraft des gefesselten 24

Prometheus gibt liebevoll »den wolkigen Gestalten Namen, schließt Freundschaft, Bündnis«, und in einer kosmisch mythologischen Szene kämpft er liebend mit einer sich unaufhaltsam durch das Weltall verbreitenden »schwarzen Wolkenschaar«, die ihn »mit prasselndem Gedonner« begrüßt, die aber, als er sie »liebevoll umfangen« will, »des Blitzstrahls zackig drohende Schlangen auf ihn herab« schleudert (72). Ganymed- und Prometheusmythos 96 vereinen sich in dieser symbolischen Gipfelszene des Werkes zu einer Aussage über die »Mittelposition« des Künstlers: er ist liebender Ganymed und duldender Prometheus 97 : »Liebe füllt ihn«, doch die Intention der Vereinigung mit dem All - das wäre Erlösung, Verbindung mit dem Absoluten bzw. die transzendentale Schöpfung des All aus dem »ew'gen Quell« (41) des Ich, die titanische Leistung des Künstler-Ich - schlägt auf ihn zurück mit kosmischem Schrecken: »Er lebt nicht mehr als auf dem Felsen«, und »im Widerhall« ertönt der Spruch von der Liebe, die nur im Tode wohnt (72). Die gesellschaftliche Funktion der Künstlertätigkeit indessen ist unbestritten; der Künstler lenkt die Schlangen der kosmischen Blitze auf sich herab, während das Volk »in ihren Kirchen« die Vatergüte preist »für die urgnädig abgeleitete Gefahr« (72). So bildet der Künstler in der Ekstase seines ständigen liebenden Transzendierens und Sterbens »den bunten Regenbogen«, den das Volk angafft, das nicht fragt, »ob er ihnen auch willig die herrlichen Strahlen sende« (54). Sarkastisch reagiert Arnim acht Jahre später (mit Worten des Grafen der Dolores-Fassung des »Hollin«) auf das Unverständnis, das der Roman in seinem wesentlichen Thema erfahren hatte: »Es ist ja so klar: er (Hollin) zeigt durch den verhängnisvollen schwarzen Gewitterring die neue unechte Verbindung an, die zwischen ihm und Maria im Schauspiele dargestellt wird«. 98 Künstlerexistenz und die Funktion der Kunst werden von Arnim später (besonders nach 1811) anders gesehen, doch bleibt bis hin zur »Einsamkeit der Dichtung« für »die Arbeit des Geistes auf seinem unsichtbaren Felde« in der Kronenwächtereinleitung" ein vernehmbarer Grundton von Entsagung, Opfer, Kampf, Stellvertretung, aber auch Liebe.

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»Ariel's O f f e n b a r u n g e n «

Die biographische Relation Die Kunstthematik beherrscht auch Arnims Hauptwerk der frühen Zeit »Ariel's Offenbarungen«, das im Jahr 1802 zwischen dem Wiener Frühjahr und dem Genfer Spätherbst und mit Umgestaltungen offenbar bis in den Herbst 1803 entstand. Seine Intentionen blieben der Kritik und Forschung ebenfalls weithin ein Rätsel. 100 Das im Sinne erfahrener Wirklichkeit Autobiographische, das in allen drei Frühwerken atmosphärisch stark prägend ist und vor allem Naturerfahrung und intimere Menschenbegegnung einschließt, bezieht sich hier auf die Vorfrühlingstage auf dem Kahlenberg bei Wien, in einem Detail auch auf das ebenfalls im »Hollin« anklingende Erlebnis, daß Arnim in Frankfurt, nur durch dünne Wand getrennt, den großmütig eigensinnigen Streit der Bettine Brentano und Karoline von Günderode um ihre Verliebtheit in Arnim mit anhören mußte.101 »Wie schrecklich verderbt sind hier die unteren Klassen der Stadtbewohner, wie reich an Geist und Frohsinn die Landbewohner! Paradiesische Tage lebte ich mit Heyer auf dem Kahlenberge, da tönte alles von dem Gesänge der Mädchen, auf der Orgel der Klosterkirche Haydns Schöpfung«. 102 »Luther nennt seine Wartburg die Vögelburg, so lebe auch ich hier unter den erwachenden Gesängen der Vögel. Wien und alle seine ausströmenden Vorstädte liegen unter mir, und die Donau hinab in allen ihren Waldkrümmen ziehen dunkle Nebelwolken, wie die Berge des Himmels. Hagel und Sonnenschein liebäugeln mit einander, und ich trinke beide im wallenden Schatten der Flockenknospen«. 103 Die hymnisch-elegische Sprache der »Zueignung an die Sänger der Nacht«, die in den Lobpreis Goethes mündet, 104 reflektiert die Briefe an Brentano vom März und April 1802, ebenso die Verkündigungen »aus dem Munde der tiefsinnigen, kindischen Alten« die Gestalt des »stillen, sinnenden, alten Hauswirth(s)« auf dem Kahlenberg (147f.): »Vier Frauen von poetischem Gemüthe machen den 27

ersten Theil meiner Gesellschaft aus. Dann kommt ein alter Mann, der kindisch geworden, denn so muß sich jedes ruhig glückliche Leben schließen. Er liebt die Vögel; stirbt einer, dann weint er und will zum Abendmahl gehen«. 105 Sprachskepsis und Verherrlichung der Urstimme der Natur begegnen hier wie in den Briefen: »Ich habe hier viel gedichtet, und ein Trauerspiel schreckt mich oft mit seinem Lebenswahnsinn auf aus dem Schlafe, wenn nur nicht alle Gedanken in der Sprache untergingen! Es ist mir jetzt ernster geworden mit der Poesie, ich habe ihren Zauberklang gehört, aus ihrem Becher getrunken, und ich tanze nun wie es das unendliche Schicksal will, gut oder schlecht, meinen Reihen herunter«. 106 Laßt euch von den kindischen Alten sagen, »was der Frühling ist, meine Sprache hat für ihn keine Worte, und meine Zunge keine Töne; die Sprache lehrt nur ihr ewiges Einerley, und welche Zunge erreichte den Urgesang der herrlichen Natur, ich tanze herab ihren lebenvollesten Reihen, gut oder schlecht, wie das allgewaltige Schicksal aufspielt, und so treu, wie das Lärmen der regsamen Welt ihn zu hören gestattet.... mein Leben ist frisch und flammend, und meine Worte sind Flammenzüge, die mir in der Nacht leuchten« (147f.). Solche reflexiv-intuitive Verbindung von Tageserfahrung und poetischer Einsicht, die Briefe und Dichtungen auswechselbar macht, besitzt aphoristisch-tagebuchartigen Charakter im Sinne unkonventioneller, problematisierender, originaler Hermeneutik des Realen; sie bildet einen Aspekt der Modernität Arnims. Der Dichter ist sich der Zusammenhänge bewußt. »Ich hatte«, so schreibt er, »den glücklichen Einfall, mir die bedeutendsten Stellen aus meinen Briefen abzuschreiben, sie rufen mir leicht das Uebrige zurück ... Und nun sitze ich und sehe, ob nicht einzelne Verse aus dem Trauerspiele mit Aeußerungen meiner Briefe sich zusammenfügen lassen. Das macht mir Freude wie die Entdeckung eines neuen Welttheils in mir«. 107 Unmittelbar aus der autobiographisch bedeutenden, erlebnisreichen Atmosphäre der Kahlenberger Tage sprechen nur zwei Prosatexte: neben der »Zueignung an die Sänger der Nacht« (die Brentano rühmt: sie ist »hinreißend, sie ist Du selbst, wie man Dich liebt« 108 ) der Brief der Malerin Kryoline an die Musikerin Kyane 109 vom Kahlenberg mit beigefügten poetischen Manuskripten des Dichters und Tänzers Ariel und einer Erklärung des Trauerspiels (»einige derbe Gelehrsamkeit«, 205), die in kunsttheoretische Bekenntnisse mündet. Sie bilden die Realebene des »Romans«. 28

Das Manuskriptkonvolut, das nach der Fiktion des Romans der Dichter Ariel für die unbezahlte Wirtsrechnung zurückgelassen hat (204), enthält drei in sich geschlossene dichterische Texte: erstens das Trauerspiel »Das Heldenlied von Herrmann und seinen Kindern in zwey Gesängen«, zweitens »Heymar's Dichterschule« in zwei Gesängen: »Unterricht nach Gemählden und Erzählungen« und »Anwendung zu Gemählden und Erzählungen von seinen Schülern«, und drittens »Das Sängerfest auf Wartburg. Der lustigen Vögel Nachspiel zur ersten Aufführung von Herrmann und seinen Kindern am Weihnachtabend. Schlußgedicht zu Heymar's Dichterschule«.

Das geschichtsmythologische Konzept: Zeitalter der Kunst Das Trauerspiel ist ein genial-expressives Werk des jugendlichen Dichters, voll Enthusiasmus und Naturmystik und auf der anderen Seite Todesverfallenheit, Lebenswahn und Untergangsvision; als ein in mehreren Bedeutungsebenen vielschichtiges und abgründiges poetisches Gebilde stellt es auf der höchsten Ebene ein mythologisches, Weltzeitalter umgreifendes Drama von Götterdämmerung und neuer Zeit dar. »Das Ganze ist ein ewig wechselndes Liederspiel«, schreibt der Autor 110 und charakterisiert es unter der ironischen Fiktion, daß es wohl altgermanisches Lied sei, als opernhafte Phantasmagorie: »Alle Poesien wurden und werden noch unter jenen Hirtenvölkern abgesungen, darum scheint das ganze Heldenspiel für die musikalische Begleitung gedichtet, also ungefähr das zu seyn, was gewöhnlich eine Oper genannt wird« (207). Zentrales Motiv im weltmythischen Spiel ist die Einsetzung des Kindes Aslauga als Fürstin über das Reich der ehemals verfeindeten Stämme des Herrmann und des Inkar (126ff.). Aslauga ist der Überlieferung nach die Tochter Sigurds und Brynhilds, die als einzig Überlebende von Heimir in der Harfe gerettet wird. 111 Arnim zitiert Κ. V. von Bonstetten mit der Lodbrogsage: »Rührend ist Aslauga's Geschichte, da sie kaum ein Jahr alt war, ward ihre ganze Familie gemordet. Heymar, ein Freund ihres Vaters, rettete das Kind mit königlichen Juwelen in einer großen Zither, die er mit sich trug. Wenn das Kind weinte, tönte lauter die Zither und das Kind schwieg«. 112 Indem Arnim Heymar zum Sänger des Fürsten Inkar macht, erhebt er

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Aslauga, das Kind in »einer großen Laute ... verborgen« wie gleichfalls die »sich in eine leuchtende Harfe« verwandelnde Irmensäule am Schluß der Dichtung (138) zum Poesiesymbol·. »Hier ruht sie wie im Mutterschooß, / Doch hat oft Schmerz das Kind bekümmert, / Als ließe Traum die Wahrheit los, / Und schauerlich sie Worte wimmert. / Dann tönt der Laute Trauerklang, / Sie fühlet mit des Kindes Weinen / Des Mitleids Trost aus Saitenklang, / Schien sanft im Sturme aufzukeimen« (53). Das geschichtsmythologische Konzept ist deutlich: dem Widerstreit und Niedergang des kräftig vollen Lebens folgt das Zeitalter der Kunst. Die poetische Identität von Heymar und Ariel schlägt den Bogen von der mythischen Vergangenheit zur Gegenwart um 1800.

Die Sprach- und Vorstellungswelt Auf mehreren Ebenen läßt sich das Trauerspiel, das im Titel als »Heldenlied« bezeichnet ist, lesen. Auf der unmittelbaren Ebene von Sprache und Vorstellung ist es als alle Konventionen zurücklassende lyrische Expression, als Text eines Einundzwanzigjährigen, in seinem »Lebenswahnsinn«113 ein eigentlich bestürzendes, fast pathologisches Buch. Der Todessog, das lebensmüde und wahnhaft geistesabwesende Verströmen, die immer wiederholten Vorstellungen des Niedersinkens, Verschwebens, Zerrinnnens, Niederlaufens, Verschwimmens, Zerfließens, Ziehens, Entfliegens, Verfliegens, Vertreibens, Verrauschens, Fortziehens, Fallens, Verblühens, Welkens, Verwehens, Wähnens, Sinnens, Träumens, Verbleichens, Verklagens, Ertrinkens, Fliehens, Verödens, Verderbens, des Aushauchens, Singens, Schweigens, des Schwellens, der Trauer, Vergeblichkeit, der Tiefe, Höhle, des Mutterschoßes, des Todes, des Schlafs mit der Intensität aller Verben und der sich dehnenden, abstürzenden Vorgänge machen den Text zu einem manieristischen Gebilde des Weltzerfalls, das in der Nähe Wiens nicht schlecht beheimatet ist. Eine Höhle, in der Vögel zuhause sind und Eintretende von tödlichem Hauch betäubt in die Tiefe fallen, ist als Zentrum der Vorstellungen zugleich Durchlaß und Grenze zwischen diesseitiger und jenseitiger Welt. Druidenhöhle wird sie nach den sagenhaften keltischen Priestern (die in den »Barden« fortleben) und ihren Opferritualen genannt. In dem Doppeldrama »Halle und Jerusalem« wird das Heilige Grab als »Mittelpunkt der Welt«114 eine 30

strukturell ähnliche Funktion einnehmen. Den poetischen Reichtum der unkonventionellen und unangepaßten, darin radikalen, in der Eigentümlichkeit eigensinnigen, in der Abweichung von glatter ästhetischer Norm bewußt gewagten und anfechtbaren lyrischen Sprache und Bilderwelt, die zudem meist vieldeutig in mehreren Ebenen funktioniert, auszuschöpfen, dazu bedürfte es einer ausführlichen Interpretation und für ungeübte Leser einer Einzelkommentierung. Hier kann im Folgenden nur in Umrissen die Gesamtkonstruktion gegeben werden, wobei die Textzitate bei der Fülle der poetischen Vorstellungen und Bilder meist nur exemplarischen Charakter haben können. Ein Beispiel und Ideal lyrischer Sprachunmittelbarkeit und -radikalität findet Arnim denn auch 1803 in England in der Sprache der gerade erschienenen Sammlung schottischer Romanzen und Balladen »Minstrelsy of the Scottish Border« von Walter Scott. Er setzt diese Sprache der poetischen Armut der Engländer entgegen, denen »die Zeitungen ... die einzigen lebenden Poesien« sind: aus ihr will er »ein Englisch lernen, das kein Mensch verstehen soll, damit ich mich an den Engländern räche und ihnen beweise, daß sie eigentlich gar keine Sprache reden«. 115 In Arnims lyrischem Drama begegnen die »Charaktere« mit einer durchaus differenzierten Sprache und Bilderwelt entsprechend der symbolischen Position der Figuren in dem mythologischen Ganzen. Untergangswahn und Zerfallpathos bestimmen zunächst nur die Monologe und Dialoge des Odin, färben aber zum Schluß hin auch die Sprache der Kinder, die sämtlich dem Todesbereich der Höhle anheimfallen. Sogar die das Leben symbolisierende Freya wird zuletzt von dem Sog ergriffen. »Das Leben muß verschwinden, / Die Liebe muß verschweben, / Es werden meine Sünden / Wohl nimmer mir vergeben. / Das Herz steht mir in Flammen, / Es geißelt mich mit Ruthen, / Es schlägt die Fluth zusammen, / Das Blut gesteht in Gluthen« (120f.). Denn »Nur der Tod / Endet deine tiefe Noth: / Du siehst die Höhle der Druiden, / Nur sie erfrischt, sie stärkt den Müden, / Und nur dort / Ist der ruhig sich're Ort«. 116

Mythische und historische Zeit Arnim transponiert den Mythos in eine historisch-reale Gegenwart, wenn er die »Götter«gestalten Odin, Heymdal und Freya und schließ31

lieh auch den Heldensohn Herrmann zu Hauptfiguren eines »historischen« Dramas macht und sie in Anlehnung an das mythologische Motiv der Götterdämmerung den Tod in jener Höhle finden oder suchen läßt, die mit vielfachen Assoziationen bis zu Mutterschoß und Grab Christi 117 symbolisch denotiert ist. Arnims originelles Konzept ist durch eine eigentümliche Vertauschung der Zeiten gekennzeichnet: die (germanische) Götterdämmerung vollzieht sich in christlich-historischer Zeit unter den bereits christianisierten Nachkommen des Befreiers Germaniens Hermann (Arminius), der 9 n. Chr. die Römer besiegte. 118 Wie bei der Arielfigur erlaubt der Name Armin eine unterschwellige logogriphische Identifikation mit Arnim. Solch Kontamination von mythischer Zeit und historischer Zeit, die poetisch durch die Handlungskonstruktion der Vertreibung und Isolierung des Odin-Herrmann-Geschlechts in einer einsam-wilden Schäferwelt und durch den Namenwechsel von Herrmann in Odin realisiert wird, folgt der Tendenz mythischen Denkens, vorzeitliche und ewige Verhältnisse in geschichtlichen Vorgängen abzubilden. »Mythische Zeit ist die Gewohnheit der Menschen, was sie allgemein geltend fühlen, doch im einzelnen anschauen zu wollen, sowohl in Zeiten wie in Namen«, schreibt er in Anlehnung an eine Formulierung A. Neanders den Grimm Brüdern. 119 Die Zeitverschiebung und das somit gleichsam phantasmagorische Erscheinen der germanischen Götter - die Lebens- und Naturformen symbolisieren, aber auch das geschichtsmächtige Ereignis einer Zeitenwende abbilden - , resultieren aus dem triadisch gegliederten Geschichtsverlauf und der geschichtlichen Krise der mittleren Zeit, die Arnim darstellen will. Auf die lebenskräftige Heldenzeit folgt die antagonistische, durch den Völkerzwist des Inkar- und Herrmannstammes charakterisierte Mittelzeit, die in Inzest- und Wahnhaltung und todes- und jenseitssüchtiger Resignation, in »Götterdämmerung« endet, und darauf die neue kunst- und geistbestimmte Periode der Menschheit, die durch die in der Laute gerettete Aslauga, den Dichter Heymar und die zur leuchtenden Harfe verwandelte Irmensäule symbolisiert wird. Dadurch, daß bei Arnim die Götter nicht als Naturmächte ungebrochenen Lebens, sondern - was ihrem Ursprung in der traumhaften Idealität mythenbildender Phantasie der Menschheit eher entspricht — als sublime und endzeitliche Geistwesen und Geistergestalten begriffen sind, erscheinen sie nicht am Anfang der Geschichte angesiedelt, sondern treten in einer relativen Spätzeit in 32

Erscheinung. In der Nachbemerkung entschuldigt Arnim diesen Umstand gleichsam durch den Hinweis auf das mythische Motiv der Menschwerdung von Göttern: »sie hielten die Perioden ihrer Menschwerdung, wie in den andern Religionen die hohen Wesen« (142). Uber den genealogischen Ubergang von Heldenzeit und Götterwelt schreibt Arnim auch an Jacob Grimm von dem »Unwiderstehlichen« für die Völker, daß sie ihre Mythen »an ihre Königsstämme als Wurzel annagelten«. 120

Exilierung des Idealen und Versuch neuer »Gründung« Auch in der universalgeschichtlichen Spekulation am Anfang der »Päpstin Johanna« entwickelt sich »das geistige Paradies der Wissenschaften und Künste« aus der vitalen Minderung des Lebens, aus der »von der Welt zurückgetriebenen Sinnenkraft und Frömmigkeit« unter der »Gewalt der alles zerstörenden Kälte« und der Erschöpfung durch »blutige(n) Kriege«. 121 Im »Heldenlied von Herrmann und seinen Kindern« war das Schlüsselmotiv in der Entwicklung der Konzeption für Arnim offensichtlich die - vielleicht durch die Aslauga-Sage angeregte - Figur des (infolge von Bruderkämpfen benachbarter Stämme) exilierten Herrschers, der an den Rand der Welt und des Lebens gedrängt wird, zusammen mit dem Bild des von Alterswahn gequälten Greises. In der daran anknüpfenden Vision werden die Götter als die ins Geistige, Phantastische, Unbewußte, Wahnhafte, Ideale gedrängten Herrscher aufgefaßt. Die Herrscher als Repräsentanten des Lebens verblassen durch im Leben selbst liegende Antagonismen - dies ist der Sinn des Kriegsmotivs - zu abgeleiteten, ideellen Figuren, zu Göttern. Die Exilsituation symbolisiert die Trennung des Geistes, des Idealen, der Phantasie vom Leben; das spiegelt sich zugleich in dem Motiv des isolierten Hirtendaseins der »Götter« gegenüber dem kriegerisch bestimmten Leben der Völker. In solcher Randlage und Lebensferne ist konnotiert zugleich ein Aufbrechen von Transzendenz, eine Verflüchtigung des Lebens hin zum Jenseitigen wie auch zur Todesnähe. In solchem Kontext kann die Höhle, Todessymbol als »Höhle alter Trauer« (18), zugleich zur Grenzscheide zum jenseitigen Bereich und damit zum zentralen Symbolmotiv werden. Der Einbruch der Lebenswelt der Völker in die weitabgewandte Sphäre der Odinfamilie, die Ankunft des jungen Herrmann mit seinen 33

Kriegern ist entsprechend nicht nur dramatisch erregendes Moment, sondern bezeichnet den entscheidenden ideellen Konflikt in der universalgeschichtlichen und mythologischen Konzeption. Er führt zur dramatischen und geistigen Krisis, weil Sinn und Intention des Vorgangs auf nichts geringeres als auf den Versuch einer neuen Gründung, einer neuen Einheit zwischen Geist und Leben, Himmel und Erde zielen. Das Inzestmotiv in seiner Verdopplung, da auch der Krieger Herrmann erkennen muß, daß er - wie der Göttersohn Heimdal - in der umworbenen Freya seiner Halbschwester begegnet, zeigt jedoch an, daß solche Einheit nur traumhaft und utopisch, als Phantasie- und Nachtexistenz, möglich wäre. So wird die angestrebte Hochzeit, das Symbol der Versöhnung, Vermittlung und Gründung, zum zweiten Hauptmotiv, und zwar im Gegensatz zu dem der Höhle, welche nicht Einheit, sondern Riß, nicht Frieden im Wirklichen, sondern Trennung zwischen Leben und transzendentem Bereich anzeigt. Weil die Hochzeit scheitert, gibt Herrmann seine irdische Herrschaft ab, und zwar in symbolischer Figuration an das in der Laute gerettete Kind, das von Heymar, dem Sänger, begleitet wird. Die Kunst wird es sein, die in einer neuen Periode der Menschheit (142) in ihrer Weise symbolisch, stellvertretend und eschatologisch die Gegensätze überbrückt, die im Wirklichen nicht zu einer Einheit fanden. Eine sehr ähnliche thematische und motivische Konstellation unter Verwendung der Schwanenrittersage bildet Arnim zehn Jahre später in der mythologischen Kantate »Frühlingsfest«. 122 Auch hier geht es um eine versuchte Gründung auf der »Frühlingsinsel« im Rhein, um Liebe, Ehe und die Realisierung des Idealen im Wirklichen; auch hier führt der Einbruch der kriegerischen Scharen in die Welt der Jungfrauen zur Milderung des kriegsgesinnten Anführers, zur Liebe, aber nicht zur Hochzeit und Erfüllung in der Ehe, denn der Frühlingsgott, der »Gott des Lebens« 123 in der Gestalt des im Schiff von Schwänen gezogenen singenden Jünglings mit der Laute und den Symbolen des Rebdaches und der Nachtigall, erweckt die ins Transzendente und Absolute gerichtete Sehnsuchtsliebe der Protagonistin Beata. Auch hier gelingt keine Gründung, denn der Frühlingsgott wird von der »Todeslust« 124 der Schwäne (des Apoll) ins Unendliche und Ferne gezogen, der Sehnsuchtsliebe der Frau bleibt nur die »Seligkeit... im Tod«, 125 sie stirbt - Figur der Karoline von Günderode - im Schwert durch eigene Hand. 126 Wird in der »Päpstin Johanna« dieser Mythos des »Frühlingsfestes« durch das reich kolorierte Tableau der Hochzeit 34

am Ende der Dichtung aufgehoben, 127 so bezeichnet der entsprechende Mythos im »Trauerspiel« von »Ariel's Offenbarungen« eine endgültige Position. Das durch Kunst vermittelte Leben, die ausgehaltene, nur durch die Kunst symbolisch und eschatologisch-antizipierend überbrückte Differenz von Himmel und Erde tritt an die Stelle der Versöhnung im Wirklichen.

Geschwisterinzest Die Isoliertheit und Introversion der mythischen Randexistenz der Odin-Familie in ossianischer Landschaft und Atmosphäre wird bei den Kindern Freya und Heymdal durch das Inzestmotiv zum Ausdruck gebracht. Geschwisterinzest ist zumindest als literarisches Motiv spätestens seit der Romantik und bis hin zu Thomas Mann, Georg Trakl und Robert Musil Ausdruck einer tendenziellen oder ausgeprägten Sublimierung, Ästhetisierung, Spiritualisierung und des Narzißmus, der Seelenbegegnung und Selbstbegegnung. Auch Ubergang, Kontamination oder Verwechslung von seelisch-ästhetischer Sphäre bzw. Kunstbereich und Leb ens Wirklichkeit gehören offensichtlich zu dem Motiv, das, gelegentlich auch mit alchimistischer Symbolik, zum Aussprechen mystischer und höchster Vereinigungen dienen kann. Werk und Leben Trakls und der Roman Musils sind beredte Beispiele, für die ästhetizistische Haltung Th. Manns »Wälsungenblut«. Dem Motiv scheint manchmal etwas wie ein Triumph über die Sexualität anzuhaften, manchmal auch eine bestimmtem Bedürfnis entsprechende Verbindung und wechselseitige Steigerung von Seelenreinheit und Sündenbewußtsein. Im Idealismus generell und bei Arnim unübersehbar gibt es ganze Motivkomplexe, die die Sehnsucht nach Sublimierung des Körperlichen, Sexuellen und allgemein des Irdischen anzeigen oder auf entsprechenden seelischen, ins Traumatische reichenden Urerfahrungen und kollektiven psychologischen Konstellationen beruhen. Im poetischen Diskurs unseres Textes wird die Problematik der Inzestbeziehung offen nur mit den topologischen Begriffen von Sündenbewußtsein und Schuld berührt, das Motiv bezeichnet aber hervorragend die spirituelle Inversion des Wirklichen in dem abgegrenzten Bereich. Leiden an der scharfen Helligkeit und Gesetzbestimmtheit des Tages, der Wirklichkeit, und die Verherrlichung der Nacht, in 35

welcher Freiheit, Liebe, Unschuld herrschen, charakterisieren bereits im ersten Monolog die Gestalt Heymdals, verbunden mit der Sehnsucht nach einem utopischen Nachtreich: »O gold'nes Leben, wenn kein Tag / Zur Sklaverey die Menschen je vereinte, / Wenn kein Gesetz und kein Vertrag / Wenn ... Unschuld ganz in Höh' und Tiefe, / Durch alle Wesen frey und endlos liefe, / Zur Liebe alles Sehnen riefe, / Kein inn'rer Vorwurf träumend schliefe« (9). Das Sündengefühl erscheint hier als Ausdruck der gesetzhaften Sklaverei des Tages, der Bild für das Prinzip des Getrennten, Vereinzelten und damit auch Opposition zum Wesen Freyas, der all-liebenden, ist. Das Epimetheische der Figur des Heymdal ist unübersehbar. 128 Sündenbewußtsein dient daneben bei allen Figuren rein dramaturgisch als Movens für das endzeitliche Gefälle der Götterhandlung; schon deshalb, aber auch wegen der eindeutigeren Ausrichtung auf Transzendenz, mußten christliche Motive untergemischt werden. Noch in weiteren Momenten ist das Inzestmotiv im poetischen Zusammenhang verankert. Arnim ist an dem Motiv nicht im moralischen Sinne oder im Sinne eines Schicksals- und Tragödienmotivs, wie es häufig im Drama oder Trivialroman verwendet wird, interessiert. 129 Vielmehr begründet es einmal, was in einem lyrisch irrational konnotierten Wort »Blutschuld« genannt wird und auf jene »Existenzschuld« deutet, die in dem Faktum der Getrenntheit, Vereinzelung, Verfremdung, Trübung des Einzelnen gegenüber der Reinheit des Jenseitigen, All-Einen, Idealen und Seelisch-Geistigen liegt. »Blutschuld« sollte der Titel des »Trauerspiels« zunächst lauten. 130 Inzest ist ein ambivalentes Motiv. Es bedeutet die »unerlaubte«, »phantastisch« liebende Antizipation des Seelisch-Geistigen, der »Nacht«-Existenz bereits im Irdischen und offenbart als »Blutschuld«, mit der darin enthaltenen moralischen Verurteilung, zugleich die Faktizität irdischer Bedingtheiten. Das Tagesgesetz zensiert die Wünsche der Nacht, die unter den Bedingungen des Tages, nämlich als realisierte Einheit von Himmel und Erde, nicht als innerlich-phantastische Antizipation einer transzendenten Aufhebung der Gegensätze, zugelassen wären. Der Nacht-Tag-Gegensatz zur Bezeichnung des ungeschlichteten Widerstreits zwischen geistig-phantastischer und irdisch realer Existenz, zwischen Traum und Gegenwart, der später auch in den »Majoratsherren« strukturbestimmend ist, begegnet also, kombiniert mit dem Inzestmotiv (das symbolisch verschlüsselt ebenfalls in der Beziehung des Majoratsherren zur »Mutter« und zu deren Eben36

bild Esther enthalten ist) früh schon bei Arnim. Zugeordnet ist das Motiv des Urstreits im Irdischen, das hier in dem mythischen Kampf der verwandten Völker des Inkar und des Herrmann realisiert wird und das ebenfalls mannigfach bei Arnim bezeugt ist - so in dem Streit zwischen Alt- und Neugleichen im »Gleichen«-Drama, in dem Bruderstreit beim Bau des Straßburger Münsters und im Kampf zwischen Staufer und Weifen in den »Kronenwächtern«. Blutschuld als Existenzschuld des Daseins führt in der träum- und wahnhaften Inversion der einseitig fixierten Nacht-, Phantasie- und Geist-Welt zu Verfall und »Götterdämmerung«. Eine dritte Bedeutung des Inzestmotivs weist auf die mythologische Signatur der Gestalten, vor allem Freyas. Ihre unschuldige und unwissende Liebe, wie sie sich nicht nur einem einzigen Geliebten, dem Bruder, sondern in gleicher, schwesterlicher Neigung auch Herrmann und potentiell in Alliebe vielen zuwendet, kennzeichnet die Gestalt als »die höchste Zuneigung, (die) Göttinn der Liebe« (142), als Verkörperung der freien, unbegrenzten Luft, der »Ariel«-Figur darin verwandt, und als Signatur einer Wirklichkeit, die auf Erden nur als Innenwelt, »Inzest«, nicht als realisiertes Allgemeines bestehen kann.

Die mythologische Tradition Obwohl Arnims Dichtung nach Konzept, Thematik und Atmosphäre eigentümlich und einzigartig dasteht, befindet er sich in der Zuwendung zur nationalen Mythologie und möglicherweise in der Auffassung der germanischen Götterwelt als Geistermythologie doch in der Nachfolge von Herder, Klopstock, Michael Denis, dem OssianUbersetzer, und Kretschmann, bei denen auch die Gestalt des Hermann bereits eine Schlüsselrolle spielt.131 Unmittelbare Anregungen empfing Arnim wohl durch David Friedrich Gräter,132 den er später in Schwäbisch-Hall aufsuchte,133 und vielleicht durch Steffens, den Freund Brentanos und Schwiegersohn Reichardts, dem er persönlich wahrscheinlich auch erst später begegnete.134 Odin, Freya und Heymdal, vielleicht Herta, sind in Arnims Gedicht die einzigen Gestalten mit Götternamen. Arnim wählt Odin, den obersten Gott der Germanen, um an seinem Untergang Weltgeschick, nicht etwa ein peripheres Ereignis, zu illustrieren. Die Gestalt Odins hat nach germanischer Mythologie starke 37

Beziehung auf Weisheit, Vernunft, Zukunftswissen, Dichtkunst und Seher- und Zauberkunst. 135 Der Name Ryno, des Mannes, der OdinHerrmann aus dem Kerker befreite, stammt aus dem ossianischen Sagenkreis und weist damit auf die entsprechende poetische Tradition und Stimmung. 136 »Die Edda ist eigenthiimlich, die Berührungen mit Ossianischen Liedern in so ganz verschiednem Zusammenhange und Styl sind überraschend ... Die Masse der Leser wird ... zuhören, ohne die furchtbare Ferne zu beachten, in der diese Welt von uns liegt, ungeachtet sie auch zu uns gehört und sich auch wohl in Zeiten der Noth bei uns vorübergehend erregt«, schreibt Arnim den Grimms 1816 nach seiner lebensgefährlichen Erkrankung. 137 Freya, die Liebesgöttin, bei den Sachsen »Göttin der freundschaftlichen Liebe, des Friedens und der Einigkeit«, 138 nach einem neueren Lexikon »die schöne und mächtige Göttin der Fruchtbarkeit, der Liebe, der Zärtlichkeit«, 139 wurde nicht selten mit der Göttermutter Frigg verwechselt, 140 die über den römischen »dies Veneris«, den »Tag der Frija« 141 ebenfalls mit Liebe und bereits ursprünglich mit Ehe verbunden war. 142 Heimdal, einer der Söhne Odins, ist ein rätselhafter und wunderbarer Gott, anscheinend dem Licht zugeordnet, Todfeind des Loki beim Weltenende, Wächter der Götter bei der Himmelsburg und Götterbrücke; er bringt das der Freya von Loki gestohlene Halsband zurück, was Müllenhoff als Mythos der Morgenröte in Opposition zur Abendröte deutet. 143 »Heimdal, ein wunderthätiger Künstler und Wächter der Himmelsbrücke ... Freia, die Liebesgöttin« heißt es auch in der Vorbemerkung zur nordischen Götterlehre im 1802 erschienenen »Thuiskon. Ein Heldengedicht« von Detlef Friedrich Bielfeld. 144 Freya wird Inzest mit ihrem Bruder Freyr nachgesagt, und sie soll »mit einem jeden (ge)buhlt(e)« haben. 145 Nach Vulpius 146 ist die sonst in Handbüchern selten erwähnte Hertha viel verehrte Göttin der mütterlichen Erde. Aslaug ist beziehungsreich Tochter des Sigurd (Siegfried) mit der Brynhild und wird zur Stammmutter der Wölsungen und der norwegischen Könige: Die Wölsungen-Saga erzählt diese nordische Version der Nibelungensage. 147 Heimir, der Schwager Brynhilds, birgt Aslaug zusammen mit dem Goldschatz in der Harfe und durchzieht mit ihr die Lande. 148 »Die Seele des Harfenklanges ist weiblich, und die Stimme des Wassers, des Alls tönt aus ihm wieder. Der Sänger, Dichter verschenkt sein Herz im Liede, Herzklang ist seiner Harfe Ton. Das Lied Odins, des 38

Dichter- und Sängergottes« singt er, so liest man bei Ninck. 149 Daß Heimir - der bei Arnim zu Heymar wird und nebenbei damit auch wieder den Anklang ar- (Arnim) erhält - selbst Dichter ist, wird durch die Quellen offensichtlich nicht bezeugt, aber durch das Harfenmotiv nahegelegt. Auch Fouqué hat später in »Aslauga«, dem dritten Teil seiner Sigurd-Trilogie »Der Held des Nordens« (1808/10), die Sage verwendet, ebenso wie Carl Orff in der Oper »Die Kluge«. 150 Nur Weniges aus der Mythologie konnte Arnim unmittelbar und konkret verwenden, und dennoch sind die aus der Uberlieferung entwickelten Beziehungen reichhaltig. Uberraschend ist die Verwendung der im Uberlieferungsrahmen eher beiläufigen Einzelheiten: Heymdal gilt als Sohn Odins; Freya hatte ein Liebesverhältnis mit ihrem Bruder; Heymdal erhält durch das Halsband eine Beziehung auf Freya; Odins Bezug zu Sehertum, Dichtung, Geist ist überliefert. Symbolisch bedeutsamer sind die Konstellationen, die sich dadurch ergeben, daß: erstens Herta als mythologische Figur der mütterlichen Erde in der Verbindung mit Odin das topische Motiv der Hochzeit von Himmel und Erde abbildet; jenes bei Arnim vielfach verwendete Motiv der »irdischen« (Pflege-)Mutter 151 erscheint hier erstmals, so wie die dualistische Spannung bei den Kindern Freya und Heymdal durch solche Herkunft vorgeprägt ist; daß zweitens die Aslaugageschichte eine Kunstsymbolik geradezu provoziert, indem durch das Kind in der Harfe (Laute), das zum Begründer eines neuen Königsgeschlechts wird, und durch die Gestalt des »Sängers« Heymar eine neue Menschheitsepoche der Kunst symbolisch darstellbar wird; daß drittens in der Rettung der Aslauga das Motiv der Vertreibung, Verfolgung und damit die Motive des Kriegs (>UrstreitTröste dich, / Der Tag ist bald versunken, / Auf Rosen liege ich.Physik der GeisterweltKehreWintergarten< hieß es: »Vor lustigem Zugreifen blieb mir keine Zeit zum Zusehen; es mag recht schön gewesen sein, wenn ich's nur nicht zu löschen brauchte; so viel verliert man bei jeder interessanten Zeit in der Weltgeschichte, wenn man sie selbst erleben muß« (160). Doch wird auch 1818 im >Juvenis< wie 1809 im »Wintergarten« der Frühling der Worte relativiert durch den Frühling des Lebens: alles sieht draußen aus wie im Treibhaus, nur »waren die himmlischen Fenster heller, ... die Blumen reicher und der Baum mit den Maikirschen ... voller und glänzender«. 313 Juvenis aber bleibt »in der Gewalt der zärtlichen Stimme, bald wie ein Nachtwandler auf Bergspitzen, bald wie ein träumender Bergmann in den Tiefen unbekannter, verlassener, flimmernder Gänge«. 314 So geht es fort in einem Feuerwerk hübscher und tiefsinniger Allegorien, bis zum Schluß der Glaube, der Bezug zur 95

Transzendenz, der zugleich Wirklichkeit in ihrem Ernst erschließt, die Konflikte löst: »mein Vater, der Glaube-, mit ihm sind ausgesöhnt meine Mutter: die Wissenschaft und meine Schwester: die Kunst«, dazu bezeichnend die Pflegemutter auf Erden, die Liebe. Die Qual der wechselseitigen Verstrickungen sollte auch hier fast »ein gewaltsamer Tod« enden, nachdem Juvenis unbewußt in sündiger Leidenschaft mit Mutter und Schwester durch »die Welt schwärmte und sie nicht dafür erkennen wollte«; doch der »Glaube« rettet vor dem Selbstmord: »die Wahrheit ward mir in seinem Worte verliehen; dem Ewigen war ich unterworfen«.315 Es sind doch wohl autobiographische Abgründe, die sich in der Motivkonstanz der krisenhaften Situation von der biographischen Ariel- zur Juvenis-Geschichte auftun. Auch Ariel geht es um »alle Wissenschaften und Künste«, er möchte andere damit durchdringen, knüpft »reisend mit Unzähligen an«, sie »hoffen auf eine schöne Zeit für Deutschland«, vor allem sollte alles »wie ein wunderbarer allseitiger Spiegel die Welt vereinigen«; das ist universalpoetisch und philosophisch gedacht, doch der Welt-Spiegel zerspringt durch den Krieg, der poetische Traum zerschellt an der Bedingtheit und am Ernst des Faktischen. Das poetische Reich überlebt als kritisch betrachtete poetische Immanenz: deren Symbole sind der traumgewobene Poetenmantel316, der »mit vielen Büchern in den Taschen bepackt ist« (241), und jene silberne Studierlampe, die aus dem Orient, dem Land der Poesie, stammt und eine Replik von Jakob Böhmes Schusterlampe mit deren gesamter Aurora- und Lichtsymbolik darstellt (351ff.), nach vollzogenem Silberedikt jedoch nur als zerbrochene (Diogenes-)Laterne dem Träumer auf dem Brandenburger Tor bleibt, in ihrem Licht seine Dichtungen, »ein paar feurige Tropfen aus dem Mohnkopfe« niederzuschreiben, die er am Morgen wieder zerreißt (241f.). »Die Welt war mein« (345) bezeichnet jetzt nicht mehr den Welt-Spiegel, sondern privatistisch den Weltbesitz des Habenichts und vagabundierenden Traumpoeten. Selbst die Tränenströme wenden sich ihm nach innen, er klagt - eine lakonische Vorwegnahme der Zweifel der Kronenwächter-Einleitung - , daß alles angesammelte innere Gute so vergebens untergehen müsse, und er will sich und die Stadt mit einem Pulvermagazin in die Luft sprengen, als auch hier der Glaube ihm die Wirklichkeit zeigt und ihn auf eine »übersinnliche Gemeine« vertrauen läßt (346).

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Allegorisches Umspielen der Thematik Die biographischen Allusionen sind in der Gesamtperspektive nicht mehr als nur der Rahmen für die illusionistische und transzendentalpoetische Thematik, die ihrerseits sich in vielfachen positiven (und negativen) Spiegelungen reich facettiert darbietet: positiv oft in verkündendem Ton und in mythologischen oder mystischen Gedichten, die selbst wieder Ausdruck der transzendentalen Träume der Menschheit sind. Uber das Verhältnis von Wort, Traum, Vergessen und die Offenbarung der Götter reflektiert das wie viele der hier zur Erörterung stehenden Texte nicht leicht verständliche »Träumer-Gedicht des Ariel (242ff.). Kunst und Kunstgeschmack sind nicht autonom, sondern geprägt von Götterglauben und Mythologie. So verehren die Anhänger des Wendengottes als Kunstausdruck, was dem Phidias als zufälliges Nebenprodukt und Abfall gilt, den die Kinder des Phidias in nachahmendem Spiel gebildet haben. Dem Phidias erscheint eine Göttin, Iris, die von der reinen Absolutheit der Kunst-Werke - welche Götter, aber nicht Menschen täuschen - geblendet ist, Kunstwerke, die in ihrem Glanz nach der Diskurslogik des Gedichts sogar die bedingte Idealität der Götter übertreffen, so daß sie in doppelter Spannung und Transzendenz zu menschlichem Leben und göttlichem Dasein stehen (242ff.). Nicht auf der Ebene träumender Kunst, sondern der mysterienhaften Weisheit belehrt das Jakob Böhme-Gedicht »Der Durchbruch der Weisheit« (35Iff.). Der von Ariel gesuchte Spiegel der Welt offenbart sich hier dem innerlich Reinen und Ernsten als signatura rerum, als die göttliche Morgenröte, die Erscheinung der Sonne in der Zinnschüssel. In der zu universaler Liebe gesteigerten menschlichen Liebe zu Aurora, der Tochter des Meisters, die »den Takt des Weltalls« fühlt (356) und die Zeichen aller Dinge versteht, wird der Zugang zum Kosmischen und Einen gefunden. In der Liebe zerreißt dem Adepten der »Schleier«, »der Erde Band« (358f.), der über dem Wirklichen liegt, und er gelangt zum Stein der Weisen, zum Paradies: zum »Durchbruch der Weisheit«. Wer diese einmal in der Aurora, in der Liebe gefunden hat, »Der findet sie auch überall, / In allem Sein ist sie gebunden, / Er löset nun den Geist vom All« (360). War die Kunst unbewußt und träumend in der Mythologie an das gebunden, was als »allgemein geltend« in einer Zeit und einer Gesellschaft anerkannt 97

wird,317 so ist Weisheit vermittelt durch den Glauben und führt zu einer Einheit von Vision und Leben, die der Kunst mangelt. Widersprechen »der Geist vom All« und die Signatur der Dinge in ihrer ontologischen Objektivität transzendentalpoetischen Denkformen, so versucht Arnim doch anzugleichen; so in der Strophe: »Der Mensch von allem trägt die Zeichen, / Darum versteht er alle Welt,/ Die Welt bemüht sich ihm zu gleichen, / So weitet sie der starke Held« (355). Ein dritter Gedichtzusammenhang, die Romanzenfolge »Nelson und Meduse« variiert das Arnimsche Urthema vom Künstler als Märtyrer, von der Bezahlung der Kunst mit der Substanz des Lebens, vom Tod als paradoxaler Erfüllung der Versprechungen der Kunst. Hinzu tritt die Opposition Künstler und Held und darin verborgen wiederum die von Kunst und Leben. Komplexe mythologische Beziehungen, die wie verwischt und von ungefähr angedeutet werden, mögen darüber hinaus im Spiel sein. Medusa, ursprünglich von hervorragender Schönheit, wird zum Schreckenshaupt, das lähmt und den Tod bringt. Poseidon, der Gott des Meeres, liebt sie; aus dem Blut ihres Hauptes entspringt das Musenpferd Pegasus. Arnim macht sie zum Inbegriff der betörenden, verzaubernden, knabenmordenden Kunst, zur Sängerin, die »wunderbar Sang und Tanz zu vereinigen wußte« (274), zur Amazone, die den Seehelden Nelson bekriegte. Als Sängerin spielt sie die Rolle der vom Gott der Unterwelt geraubten Proserpina, der Tochter der Ceres. Auf Brentano geht die Legende zurück, Arnim habe in der Figur die Sängerin Grassini porträtieren wollen, mit der er in London zusammentraf.318 Dies gäbe Sinn, wenn auch Napoleon unter dem Helden der Romanzen oder dem Walfisch der »Vorrede« gemeint wäre, denn »sie hat den kleinen Welteroberer Bonaparte in ihren Armen gehabt. Wenn sie ihn doch erwürgt hätte«, wie Arnim schreibt.319 Arnim dementiert, daß sein Verhältnis zu der Grassini dargestellt sei, »während gar nichts daraus genommen als die Aufführung der Oper Proserpina, und daß ich ihr dazu Blumen geschickt«.320 Er fügt an gleicher Stelle erklärende Worte zur »Vorrede« an, es sei darin »der miserable Zustand« der Gesellschaft, »das unwürdige Herabsetzen des Großen«, »die ganze elende Kunstproduction, die davon Folge«, dargestellt. Der gestrandete Wal symbolisiert das in der Gesellschaft nivellierte und zerfledderte Große, den Helden, dagegen der schwarze Elefant mit dem singenden Kind - ein Motiv aus Goethes Novelle vorwegnehmend - die Kunst.321 Das Historische an der Geschichte ist 98

viel eher das in ganz Europa viel beredete leidenschaftliche Liebesverhältnis Nelsons zu der berühmten Lady Hamilton, 3 2 2 die ihn in Neapel mit den Zeichen größter Erschütterung und Verwirrung empfing und mit ihm in London einzog. Emma Hamilton war weniger Tänzerin als Darstellerin hebender BilderGeist- und Machtstabilisierte< des öffentlichen Bewußtseins zielt. 106

Die zweite Schlüsselidee, von der Arnim hier wie in der Kronenwächtereinleitung spricht, ist die Vorstellung von der »geheimen Geschichte« einer jeden Zeit. Sie steht nur insofern in Opposition zur »öffentlichen« Geschichte, als diese faktisch durch die Bücher der durchschnittlichen Geschichtsschreibung etabliert ist. Die geheime Geschichte soll selbst öffentliches und wirksames Bewußtsein werden und die Entwicklung zum »erhöhten menschlichen Geschlechte« vorantreiben. Sie ist »Geschichte ganz als Memoiren« behandelt und überliefert die Zeit »nach aller Eigentümlichkeit« (303f.). Was wirklich gemeint ist, sagt die Einleitung »Dichtung und Geschichte« der >KronenwächterNachkriegsjugend< - als solche mußte sie 1809 erscheinen vorzuziehen war. Welches hier letzte Bewertungsinstanz ist, die Lebendigkeit oder die Realitätsangemessenheit der Diskurse, ist bei der transzendentalen Relativierung (und zugleich Bestätigung) aller Diskurse nur schwer auszumachen und wird in der leicht humoristischen Stillage offengelassen. Gelegentlich legt eine pointierte Formulierung wie »Wozu sind denn die falschen Eide in der Welt, wenn sie nicht sollten geschworen werden!« (die möglicherweise literarisches Zitat ist) eine ontologische Verselbständigung der Diskurse nahe. Nominalwert und Münzcourant der Worte und Reden sind schwer absolut zu bestimmen: »Heiliger Gott, warum muß es doch Prozente in der Welt geben, Papiere nach Nominalwert und Münzcourant? - Wozu sind denn die falschen Eide in der Welt, wenn sie nicht sollten geschworen werden?« (214). Vieles Sprachliche wird derart im »Wintergarten« auf seine Valuta abgehorcht und manches für leicht oder zweideutig befunden. Das fromme Wort »Gott ist groß und wacht über alles!« muß über manche Textstelle einen Segen geben, »der alles gut machen sollte« (239). 112

Doch lassen sich manche Diskrepanzen nicht auflösen. Das Schillersche Reiterlied aus »Wallensteins Lager«, das viele zum Tod bestimmte Soldaten auf den Lippen trugen, bringt - in bürgerlicher Stube von einem Mädchen am Klavier »hellaut abgesungen« - den Invaliden zum Fluchen und Weinen, »eine entsetzliche Erscheinung bei dem harten Manne«; ihm ist es »fürchterlicher Geisterchor« gefallener Kameraden (239). Wo Kunst sonst zum »Vergnügen« bestimmt ist, diente sie hier dazu, die »Sündflut« der Kollektivneurose Krieg, die er erst »für eine künstliche Wiesenwässerung« gehalten hatte, ansteigen zu lassen, bis Bekannte und Freunde sich an die Felsenspitze und an seine Brust klammerten: »Ich konnte keinen retten, von mir blieb ja selbst nur ein Stück übrig. Diese ganze Last von armen Seelen, die sich an dem Liede begeisterten und entgeisterten, die alle von mir gerissen wurden, die macht mich wasserscheu, liederscheu, kameradenscheu, reiterscheu, und um aller armen Menschen willen, die unnütz gestorben sind, singen Sie nicht weiter in diesem fürchterlichen Geisterchore« (239). Arnim hat selbst 1806 das Reiterlied Schillers in eigener Umdichtung an die Soldaten Blüchers verteilt. 353 Wie »Kohlendampf im Zimmer« verbreitet sich die beklemmende und benebelnde Wirkung dieser Kunstveranstaltung unter der Gesellschaft; jedoch auch Ariels Traumschriften waren »soviel als zum Einschlafen nötig, ein paar feurige Tropfen aus dem Mohnkopfe« (242). Aber auch in anderer Weise beweist sich an diesem Lied die Autonomie des Kunstdiskurses gegenüber der Realität einer von Sitte geprägen Gesellschaft: »wie fröhlich die jungen Mädchen von dem Sturme um Minnesold singen, wie würden sie schüchtern wegsehen, wenn alles beim rechten Namen genannt wäre« (239f.). So nimmt sich »manches in guten Worten ganz anders aus als es wirklich ist«, und der Invalide desavouiert zusätzlich die Herrschaft der poetischen Vorstellungen einer ästhetisch ideologisierten Bürgerkultur durch das Experiment eines winterlichen Biwaks im Freien, das motivisch die Auflösung des tropischen Wintergartens vorwegnimmt. 354 Auch der politische »Hoffnungsstern« des Traumdichters Ariel auf dem Brandenburger Tor an der Stelle der vom Feind geraubten realen Victoria erweist sich zunächst als sinkende »Sternschnuppe« (241). Der rechte Name, bei dem etwas genannt wird, und so zweideutige Phänomene wie Ruf und Alltags>mythen< werden ebenso wie der Wahnsinn Gegenstand des Gesprächs. Der angebliche Krieg mit anderen Mitteln gegen die feindliche Einquartierung (wie sie Berlin 113

gerade überstanden hatte) erweist sich - allein schon an der Liebe der Frau vom Hause zu dem französischen Offizier - als »so eine von den allgemeinen Mythen, wovon wir alle wissen, wie viel wahr ist« (214); und »welche wunderliche Gottheit ist der Ruf\« (348), der Menschen, Schriften, Ereignisse mit einer Aura versieht, die kollektiver poetischer Imagination soviel verdankt wie sie die Realität der Dinge verdeckt und mit falschem Glanz übertüncht. Andererseits wird sogar eine mögliche »geistige Modekrankheit« als geringeres Übel eingestuft gegenüber dem »Entsetzlichsten«, dem Negieren jeder poetischen Illusion, dem »allgemeinen Entadeln jedes Aufschwungs« und Enthusiamus »durch geistlosen Spott«; denn dort könne doch noch »eine allgemeine geistige Berührung« statthaben, und was in dem Prozeß nicht absterbe, werde doch endlich gesund werden (347). Derart bildet die Diskussion der Phänomene des öffentlichen Bewußtseins und deren Verhältnis zu Kunstproduktion, transzendentaler Konstitution und Illusionismus ein bedeutendes Element im Themenkreis des »Wintergarten«-Rahmens. Das entgegengesetzte Extrem, der »Wahnsinn« als die mit öffentlichem Wähnen unvermittelte und verabsolutierte Eigentümlichkeit wird an der Erscheinung Jakob Böhmes diskutiert (348), ebenso die Genialität (324f.) und das Unbegreifliche der »Gedankenlaunen«, die »immer wunderlich, außerordentlich und genial (bleiben) wie die Witterung« (324). Genialität ist ein »leerer Ausdruck«, der nicht mehr in die Zeit paßt, behauptet selbst die »Geniale«, denn seit Gott - so ein durchaus tiefgründiger Gedanke in dem spaßhaften Lied, das Arnim auch dem Vorbild der »Genialen«, Bettina, mitteilt 355 - im wirren Lauf der Zeitgeschichte selbst »genialisch« sich zeigt, ist subjektive Genialität abgeschmackt geworden. »Was der Pöbel Genialität nennt«, schreibt Arnim, das Apriori der Welt gegenüber der Subjektivität des »Genialen« festhaltend, an Bettina, das »heißt bei mir der Teufel; ich ehre alle Eigenthümlichkeit, aber ich bin ein Fels gegen jede, die sich über die Welt als ein Gesetz ausbreitet«. 356 Manch einer hält den Wahnsinn (der darin selbst zu einer nur poetischen Idee wird) »für die Matrize des wahren Talents« und dichtet derart allen einen »Seelenrausch« an, wie es ironisch heißt, »sich selbst aber den schönsten« (348). Der Erzähler bringt dagegen die Lebenswirklichkeit eines solchen Menschen (in einer ebenfalls prinzipiell aufzufassenden Argumentation) als Gradmesser der Wahrheit seiner eigentümlichen Ideen ins Spiel, denn: »ein falschglänzendes verkehrtes Talent kann sich 114

wohl in Schriften verstecken, aber ein heiliges Licht macht sich an dem reinen Glänze seines Lebens kenntlich« (348).

Die Hoffnung der Liebe »Wir sind alle verliebt«, sagt die herrliche Frau vom Hause, als der Erzähler zögert, seine erste Geschichte »Albert und Concordia« vor der Landhausgesellschaft vorzulesen, weil sie »etwas verliebt« sei (161). Arnim zitiert damit, was Goethe ihm zurief, als er in Weimar am 20. Dezember 1808 vor einer geistig erlauchten Gesellschaft seine Bearbeitung »Liebesgeschichte des Kanzler Schlick« vorlas.357 Die Liebe gehört zu den lebensbeherrschenden Obsessionen, ihre Phantasmata, die im Dialogischen an die Wirklichkeit eines Du zurückgebunden sind, ähneln am meisten den poetischen Imaginationen und bündeln all die Erscheinungen, die als geistige Entwürfe und Strukturen bisher begegneten; in der Thematisierung der Liebe gipfelt deshalb die transzendentale Kritik der Begeisterungen und Diskurse in der »Wintergarten-Dichtung. Die poetische Konstruktion des »Wintergarten«-Rahmens setzt die Spannung zweier unerfüllter, unglücklicher Lieben, die Liebe des Invaliden zur Frau des Hauses und deren Liebe zu einem längst fortgereisten französischen Offizier, der zur feindlichen Einquartierung gehörte. Indem die Frau sich langsam von ihrer Liebe löst - zuletzt durch das Kind, Symbol des Wirklichen wie des Neuen - und das irdisch Absurde tut, den Winter heiratet, der diesen Frühling der irdisch realisierten Liebe gemäß der allegorischen Logik nicht überleben kann, transzendiert sie in einer Verwandlung von Eros in Caritas das Irdische, den Winter, in ein Ewiges, das selige Lächeln auf dem Antlitz des Vergehenden.358 In dieser Seligkeit, in der eschatologisch paradox das Alter »dem schimmernden Traume der Jugend« gleicht,359 kommt die transzendentale Bewegung der Begeisterung der Liebe zu ihrem eigentlichen Ziel, der Ewigkeit und Unvergänglichkeit »aller schaffenden Kräfte« des Geistes, die wie die Wahrheit der Dichtungen »die irdisch entfremdete Welt zu ewiger Gemeinschaft« zurückführen. 360 Der Winter ist auch in seinem Lebensschicksal eine allegorische Figur. In Analogie zu Ariel, der durch Krieg und Kriegsfolgen bis auf die poetischen Bücher alles verloren hat, während der Mantel sein irdisches Haus wird, hat der Winter sein irdisches Haus, »das ihm 115

täglich viel kostete« und durch fremde Einquartierung nutzlos geworden war,361 selbst angezündet, wobei er aber den Kobold der entfremdeten Existenz nicht los wurde. Wie Ariel in der Poesie, so findet der Winter in der Liebe zur Frau des Hauses seine höhere Bestimmung (350). Die Vermutung, er möchte wahnsinnig sein, weist die Frau zurück: »Nichts von Wahnsinn, ist das Glück nur ein Wahnsinn, wer möchte vernünftig sein ... dies letzte Jahr seines Lebens soll ihm ein Vorschmack ewiger Seligkeit sein« (350). U m die Verankerung der höheren Liebe im Eschatologischen und Ewigen geht es bei der Figur des Winters. An dem Schicksal des Invaliden dagegen wird die ganze Verzweiflung der Liebe zwischen Illusion, innerer Wahrheit und ausbleibender Erfüllung und daran als Abschluß der poetischen Argumentationskette die Problematik der transzendentalen Imagination, die Signatur des Lebens ist, gezeigt. Von der Frau als femme fatale und der sirenenhaften Faszination des »entsetzlichen Geschlechts« (273) ist, vor allem im Fünften Winterabend und in vielen der vorgetragenen Erzählungen, genugsam die Rede, auch von den Amazonen der alten Fabelwelt, die »nach dem Genüsse mordete(n)« und der neuen Herrschaft der Weiber in Europa. 362 Die Krisis in der Beziehung des Invaliden zur Frau des Hauses vollendet sich als Zusammenbruch mit kosmischen Zeichen und dem widerhallenden Echo »Nichts« (368). Als Trostgesänge dienen jedoch zwei »Nachtstücke«, das erste schließt noch Gegenliebe ein und kann so das Schicksal des Invaliden nicht spiegeln, doch das zweite gibt rätselhaften Trost. 363 Die Frau will in ihrem Abschied dem Mann nicht jene »Freiheit des Lebens und der Hoffnung« rauben (368), die sich durch die Trennung doch zur leeren Richtung in ein Nichts wandelt. Problematisiert und erwogen werden Liebe und Leben ohne Intentionalität, als sich selbst tragender Vollzug: »Um meinetwillen leben Sie, doch nicht für mich« (368). Der Invalide antwortet mit einem äußersten Sarkasmus, das Zugemutete zu einer kosmischen Perspektive ausweitend, die den Schein der Möglichkeit aufbaut, um ihn mit einem Wort dann zu vernichten. Der Schein realer Hoffnung sei ihm versunken, denn zu diesem Haus - das Haus als Landhaus der »Frau vom Hause« dient ihm wie Ariel und dem Winter als Symbol irdischer Zuflucht - führe für ihn kein Weg mehr: »so bau ich mir in jenen Sternenräumen den neuen größern Tempel auf, was unerreichlich, ist sich alles gleich! Wer in der Liebe lebt, der lebt in Gott« (368). 116

Die scheinbar positive Antwort, der Aufschwung zur unerreichbaren und darin unzerstörbaren Transzendenz der eigenen Setzung bekommt zusätzliches Gewicht, wenn man beachtet, daß Arnims »Lieblingssatz aus der Bibel« darin enthalten ist, den er Bettina in einem Brief vom 22.12.1809 aufschreibt. 364 Er ist allerdings in entscheidender, verräterischer Verkürzung zitiert, denn er beginnt: »Gott ist die Liebe, und wer ...«. Und tatsächlich wird die verzweifelte Ironie einer Münchhausen-Position der Hoffnung und Liebe durch den Nachsatz des Invaliden offenkundig: »wer ungeliebt hier lebt, den holt der Teufel«. Es ist evident, daß für die Liebe nicht gelten kann und soll, was für alle anderen transzendentalen Setzungen des Lebens zutrifft, daß sie aus sich selbst und dem Grund des Lebens ihren Halt finden. Das Dialogische der Liebe schließt die Abhängigkeit von der unvorgreiflichen Faktizität der Gegebenheit des Du ein, wie sie sich auch hier ausgesprochen findet: »Es ist etwas Entsetzliches um die Wirklichkeit der Dinge, daß man gar nicht denken kann, es sei anders« (368). So bleibt hier das wiederholte »Nichts«, und >kosmische< Motive, die Freude über vorausgesagtes »Blutvergießen, Erdbeben« begleiten die Verzweiflung: »daß alles, was ich zu ihr hingedacht, zu nichts wird, mein ganzes Leben so vieler Jahre, das ich auf sie verwendet, alles zu nichts ... daß ihre Schönheit auch so vernichtet wird um nichts ... wer gibt mir auch nur einen Schein für meine Hoffnungen, die andern erfüllt sind, für meine Wünsche, die andern gewährt, für meine Dienste, die alle verloren, für meine Erfahrungen, die mir alle unnütz, für meine Zuneigungen, die außer Kurs gesetzt sind, die ganze Welt könnte mir das Kapital nicht verzinsen, viel weniger kann sie es mir wiederbezahlen!« (368f.). Diese letztzitierten Sätze stellen keine schnöde Rechnung und Bilanz auf, sondern bezeugen das schreckliche Prinzip des Faktischen wie das Ungleichgewicht, das selbst besteht, wenn die »ganze Welt« und Liebe gegeneinander gewogen werden. Man kann abstrakt so formulieren, daß das Realitätsprinzip, das auch sonst in der Arielbiographie wie in der Aufhebung der Wintergarten-Illusion die Tendenz der Dichtung entscheidend bestimmt, nach Arnim im Dialogischen der Liebe eines seiner kräftigsten Grundlagen hat. Auf weniger prinzipieller Ebene betont auch eine Briefstelle dies: Arnim wendet sich »gegen die Art Einbildungen, von denen die Leute nachher sagen: es war ein schöner Rausch, ich bin nun über die Liebe hinaus ... ich will einen Freund lieber für schlechter halten ... so lerne ich gewiß sein 117

bestimmtes besseres, wahres Dasein kennen, während ich dort nur meine Seifenblase immer weiter blase, bis er hineingreift und alles verloren«.365 Die Nachtgedichte, gedacht als »Unglücksgeschichten« zum Trost, unterscheiden sich nach dem Kommentar des Invaliden darin, daß im ersten »noch Gegenliebe« ist (371), welche im zweiten Gedicht (»Frühlingsnacht«) so offenbar nicht vorausgesetzt werden darf. Wird im ersteren beider Liebe erst nach dem Tod erkannt, so besingt das zweite die Vereinigung der Liebenden im Tod. Die Funktion im Kontext erfüllt letzteres nur, wenn man die geraubte Geliebte und das Mädchen, das aus dem Turme in seine Arme stürzt, als zwei Figuren ansieht, so daß die zwei liebenden Herzen wie die zwei einander überfliegenden Lerchen Liebende ohne Geliebte abbilden, die hier durch Schicksal, Blumensprache und vermittelnde Mondesstrahlen zu einer jenseitigen Liebe zusammengeführt werden, einer Liebe, welche dem Gesetz irdischer Faktizität nicht unterliegt und als »Hoffnungsstern« der Dichtung (241) symbolischen Charakter hat, ohne sich in die »Immanenz« des transzendentalen Entwurfs aufzulösen. Die zum Himmel sich aufschwingende Lerche hat auch bei Eichendorff eschatologischen Charakter,366 die Verdopplung bei Arnim macht sie zum Bild einer jenseitigen, dialogisch bestimmten Liebeshoffnung, die vielleicht nur im Medium der Kunst Gültigkeit hat. »Aus den Armen der Nacht steigt Morgenrot!«, schließt jedenfalls das »Frühlingsnacht«-Gedicht hoffnungsvoll, und tatsächlich ist der Invalide - sein irdisches Leben - »eingeschlafen, die Sonne ging eben prächtig auf« (372).

Der Wintergarten der Kunst Die gemalte Sonne eines fremden Erdteils geht dagegen in einem der Schlußtableaus des »Wintergarten« hinter dem Chimborasso auf und beleuchtet das »wohlgelungene Panorama«, die vollendete malerische Illusion einer fremdartigen Ebene, die sich in einer anderen künstlichen Illusion, dem tropischen Wintergarten des Landhauses fortsetzt (431 f.). Negative Konnotationen kennzeichnen das Fragwürdige dieser Kunstveranstaltung: Südpflanzen, die »keinen Winter dulden« stehen üppig als »eingewurzelte Schlangen«, und »der ganze vegetabilische Unsinn jener Zonen« wird nur unterbrochen von »jenen 118

wollüstigen Pflanzen«, die nichts als dicke, mit Stacheln bewaffnete Blätter sind, doch findet sich »heimlich versteckt dazwischen der ganze Reichtum unsrer duftenden Blumen«. Hier ist selbstherrlich und kunstbeherrschend »der Mensch noch der Tiere Gott«, doch zweifellos er selbst nicht mehr »Hausthier« jener ersten Herren, die »zum Olymp aufstiegen«; 367 hier erhebt sich »in prächtigem Morgenblau ... die Sonne empor, die uns verlassen«. Die Zerstörung dieses winterlosen, wirklichkeitsscheuen Kunstfrühlings in dem Bekenntnis zu einer radikaleren und härteren Kunst bedeutet die Lehre von Arnims Buch und spiegelt zugleich jene Bekehrung des träumenden Ariel von den »Gedanken« und »früheren goldenen Morgenwolken« zur »Wirklichkeit« (346). »Die Abende schlossen sich in Feuerwerken, Illuminationen, Bällen«, schreibt Arnim bereits Mai 1806 an Goethe, »als ich nach Hause fuhr weckten mich kalte Thautropfen, die mir von den Zweigen in die Augen spritzten, daß ich die Sonne sähe, es giebt doch eine Menge Kunst, welche sie nicht ertragen kann«. 368 Hier im »Wintergarten« wird diese Sonne der Wirklichkeit jedoch radikaler als »Höllenflammen unsres Weltteils« bezeichnet, denen nur eine neue, entschiedene Kunst begegnen könne: »Der Morgen, seht, der hinter jenen Bergen hinüber scheint, das sind die Höllenflammen unsres Weltteils, wie ist die Kunst zu schwach den Abgrund zu bedecken mit schönem Schein, doch diese Kunst ist schrecklich, die betrügt, die rechte Kunst ist wahr, sie heuchelt nie den Frieden, wo sie ihn doch nicht geben kann« (434). Arnims Dichtung hatte nie künstliche Paradiese geschaffen, war nie eine illusionistische Beschreibungs- und Darstellungskunst gewesen, sondern hatte sich seit je durch die Intellektualität und den Lakonismus einer zugleich symbolischen wie realistisch-abstrakten Kunstart ausgezeichnet. So ist es eher der Verlust der Gegenwart, ihr sehnsüchtiges Uberfliegen nach der Seite des Zukünftigen und Vergangenen hin, was in Stil, Thematik und Gesinnung die früheren Dichtungen der Wirklichkeit und Härte des Tages entzieht. Vielfach ist in Dichtungen und Briefen das Bewußtsein von der Ferne der Gegenwart und die Problematik der Kategorie Gegenwart bezeugt: »O wie selten wird uns die Gegenwart! Mitten in meiner Freude tönte meine Klage über verlorene Zeit«, ruft Graf Karl in der »Dolores« und spricht Verse von der Paradoxie intendierten Augenblicks, nachdem er soeben noch meinte »als lernte (er) jetzt erst sehen«. 369 Das Motiv der Reise 370 birgt bei Arnim oft jene Problematik, und das Elegische jeder 119

Kunst beweist sie. 371 Nicht allein der Imagination entrinnt die Gegenwart: »Es ist ein eigen Ding mit der Vernunft, die fast nur darum sich umsieht, das Vergangne zu bedauern, die Zukunft zu fürchten, für die Gegenwart aber keinen Rath weiß«. 372 In politischer Hinsicht kann dies Bewußtsein in der »Ahndung« bestehen, »daß in Europa noch ein paar Jahre 373 dieser wunderbare Zustand ohne Gegenwart dauern wird, der uns jetzt ängstigt« (301). Das entspricht auch der Ausgangslage in den »Majoratsherren«, wo das »Menschengeschlecht sich zu voreilig einer höheren Welt genahet« hat und »durch die Notdurft an die Gegenwart der Erde gebunden werden mußte«. 374 Bettina spricht von der Paradoxie von Haben und Sein, wenn sie schreibt: »Der Mensch ist nicht ganz, es sei denn, er habe sein Liebstes und sehne sich dennoch danach«. 375 Die realistische Wende, jene Kehre und Bekehrung von der Subjektivität zur Faktizität des Wirklichen wird noch viele Jahre eines der großen Themen Arnims sein; in seiner »Päpstin Johanna« macht er das Thema zum Mittelpunkt der Dichtung. Die Strophen »Wer nie mit wilder Faust« aus dem »Scherzenden Gemisch von der Nachahmung des Heiligen« in der Einsiedlerzeitung 376 handeln bereits davon und sprechen von ähnlicher Verzweiflung wie die Ariel-Passage im »Wintergarten« (346). »Glaube«, wie Arnim ihn versteht, scheint das Kennwort für die neue Wirklichkeitshaltung zu sein. Für Bettina schreibt er Mai 1809 die Prosaverse: »Hoffnung des Lebens, du gaukelnd Federflüchtige ... Nimmermehr schützt dein Flügel Zerschmetterte, was sie vergötterte, keiner mehr fühlet! Himmlische Taube, seliger Glaube, zeige den brechenden Augen, den stockenden Herzen« den Glanz bleibender Wirklichkeit.377 Und: »Es ist sehr leicht, in müßiger Zeit über vieles hinauszudenken zum scheinbar ungemeinen, wie der Schneidergesell, der an der Bohnenstange am blauen Montag in den Mond zu klettern glaubte; aber schwer und selten ist die That! Ich achte das echt Gemeine, das allen Menschen, allen Völkern eigen, denn darin ist Güte, Treue und Wahrheit«.378 Es ist deutlich, wie die Kunst- und Realismusthematik auf der einen Seite und die Illusionsthematik in der Diskurskritik des »Wintergartens« auf der anderen Seite hier zusammentreffen. »Das feste Bestehen ist doch einmal nicht möglich«, heißt es mit Anspielung auf den Historismus und Pluralismus in Europa, »wir stehen nun einmal gar nicht mehr auf der Erde wie die andern Weltteile, sondern, von diesen auf dünnem Seile in der Luft getragen« - das heißt von allen Mei120

nungen und Stimmen des Erdkreises beeinflußt - »sei es unser Bemühen wie gute Seiltänzer, wo wir der Menge unvermeidlich als fallend erscheinen, uns am höchsten auf dem Seile aufschnellen zu lassen« (135f.). Zwar versuchen die Meinungsvirtuosen, »jener müßige Troß reisender Beobachter, Weltkenner, Kritiker, Statistiker und Politiker ... Deutschland am Narrenseile ihres leeren Lobpreisens und ihrer schalen Verachtung« zu erwürgen (198), aber es gibt für Arnim ein »echt Gemeines«, ein noch fest Bestehendes, wenn auch nicht Absolutes, sondern kollektiv Akzeptiertes: »etwas sehr Großes in der Gewohnheit der Völker«, und nur sehr lebenskräftige Einwirkungen, »nur Begeisterung und Not sollen sie ändern dürfen« (347). Arnims Glaube an die Macht des Transsubjektiven, die sich auch in der Verehrung des von Goethe ihm gewidmeten Spruches »Nicht durch Menschen wird der Friede wiedergewonnen« (Consiliis hominum pax non reparatur in orbe) ausdrückt, 379 ist nicht Irrationalismus oder stupider Volks- und Nationalglaube, sondern Reaktion auf das prinzipiell Illusionäre jeder Bewußtseinssetzung, Sprach- und Erzählfügung, jeder >Poesie< und damit auf den prinzipiellen Relativismus der Diskurse, so wie es, offenbar tief erfahren, im »Wintergarten« thematisiert ist. Das Bild vom Seiltänzer begegnet nicht nur in der »Cosmus, der Seilspringer«-Erzählung, sondern auch an anderem Ort mit Bezug auf politische Pläne, die so unsicher wie poetische Setzungen sind. Aus Berlin schreibt Arnim an Bettina: »Nach einem Abend, wo ich mit der Pflugschar über eine ausgebrannte Stadt meiner Entwürfe hingefahren, denn wisse, sobald ich hier in diese unseligen Mauern komme, ergreift mich eine Lust zum Einrichten des Staats, die sich auf alle Art anbaut und sich an jede Möglichkeit schwalbenartig anhängt, 380 so hing ich auch mein Nest wieder an Humboldt, machte mich zu seinem geheimen Sekretär, endlich fand ich, daß mit dem allen doch nichts wär, und da sank ich in die Leere, wie ein Seiltänzer, der von einem Thurm zum andern sein Seil gespannt zu haben glaubt und findet, es ist nur ein Sonnenstrahl gewesen durch ein Thurmfenster«. 381 Daß es eine Vermittlung zwischen Vergangenheit und Gegenwart gibt, die nicht durch Sehnsucht und Erinnerung bestimmt ist, bezeugt die Aufnahme und Erneuerung alter poetischer Texte und die Mischung mit neuen Texten im »Wintergarten« selbst. Vor allem aber, als Symbol und Integral dessen, bezeugt dies das prächtige illuminierte Ritterbuch in kostbarem Maroquinband - als »Rückblick(e) auf 121

frühere Kraft und Herrlichkeit« - das dennoch in dem zarten Symbol der »Zeitenlose« gipfelt und vor allem eine menschlich belebte Paradieseslandschaft voll »Ruhe und Fülle« - das heißt in wahrer Gegenwart - abbildet, die sich in die Wirklichkeit des Rheinerlebnisses mit Clemens Brentano fortsetzt und so das eigentliche Gegenbild zur tropischen Kunstlandschaft des Wintergartens bildet. 382 Es finden sich in dem Buch, dem Kunstprogramm Arnims gemäß, nicht die originalen Miniaturen, sondern Bilder »auf echt alten, die wahrscheinlich verdorben waren durch Nichtachtung, mit erneueter Kunstfertigkeit und brennender Farbenpracht aufgemalt«: »es sah uns an wie ein Werk von heute, was alle Kunstforderungen unsrer Zeit erfüllte und tief verschlossen in sich die ganze Tiefe, Würde und Wahrheit alter Kunst trägt« (426). Künstlerische Probleme eines ästhetischen Historismus kümmern Arnim hier nicht, er glaubt in der Tat - eine Uberzeugung, die in der Dichtung leichter zu teilen ist als in der bildenden Kunst daß das modernisierte Alte »tief verschlossen« die Wahrheit des Alten in sich birgt. Die Wahrheit des Gehalts, die tiefe Bedeutung des »Zeitenlose«-Symbols, 383 und die objektive Ruhe und Fülle der Komposition mit der Anbindung an ein allgemeines Ganzes, die Welt, den Strom des Lebens, sind zweifellos in moderner Form transportierbar. Der historistisch flexible Genuß der klaren Fremdheit und ruhigen Objektivität in der Stimmung einer echten altdeutschen Malerei und das sentimentalische Begehren nach einer solchen versunkenen Welt könnten von Arnim durchaus als eine Form eben jener gegenwartsflüchtigen Sehnsucht gebrandmarkt worden sein. Das Einheitsbildende von Alt und Neu, kräftiger Vergangenheit und erfüllter Gegenwart ist hier die ewige Lebendigkeit des vollen Lebens, in deren Zeichen nicht nur alte und neue Kunst, sondern auch mittelalterliches Leben und blühende Gegenwart des Rheinerlebnisses mit Brentano nie habe ihn Natur so angerührt wie am Ostein 384 - , ja Kunst und Wirklichkeit, ineinanderfließen. Die Erinnerung an diese »schöne Welt« ist nicht eine der Sehnsucht, sondern der realen Entbehrung (428f.), wie auch die Menschen in dem Zuge auf dem illuminierten Pergament ruhig in ihre Welt eingelassen sind: »keiner von allen schaut in die Ferne, jeder hat da sein befriedigtes Leben, seinen Genuß und Vergnügen« (429); nicht sentimentalischer Traum und ästhetizistische Poesie herrschen, sondern Einheit von Poesie und Leben in der Teilhabe am Ganzen: »alles Glück dieser Welt ist da mit uns verbunden ..., auch zu uns strömt Leben aus den zackigen Urfesten der Erde, die das 122

Ende der Welt begrenzen, daher strömt unsre Luft, daher schmilzt der Felsensaft aus den ewigen rötlichen Eisbehältern des Himmels, kühlend stürzt er in die glühenden Adern der Erde! Sei mir gesegnet als friedlich wallender Strom der Ebene, du ferner Rhein«. Dort ereignet sich das Unwillkürliche als Zeichen der Einheit mit dem Ganzen: »Stunden in seliger Gedankenlosigkeit«, »gesprochen zufällige gefällige Worte« (428). Die Ästhetik des Elegischen, von der früher die Rede war, und dieses Konzept der Teilhabe sind vielleicht nicht völlig miteinander vermittelt. »Ei, Fluch aller Kunst, wenn sie nichts weiter kann, als dem armen Menschen den würdigsten Gedanken, das herrlichste Bild, seinen letzten Schatz, die Trauer um vergangene Herrlichkeit entreißen«, schreibt Arnim 1809, indem er sich gegen die phantastische Beliebigkeit der Diskurse in der Kunst wendet, wohl sei nicht »ein Tag wie der andre, aber das möchte ich doch beschwören, daß selbst ein Apriltag nicht in einer Viertelstunde einen Helden beweinen ..., die Welt für ein gutes Kind halten, mit dem Haupt in den Wolken wandeln kann«, die Kunst habe nicht den Zweck, den »armen Menschen« »in die Wolken hineinzuschaukeln, bis es sich im Kopfe dreht und im Magen dehnt«.385 Tatsächlich werden die Motive der Lebens-Teilhabe und der Gegenwart, der Anbindung an das Alte, der Vermittlung von Zeit und Ewigkeit, Tat und Kunst (Helden und Musen) im »Haus des Frühlings«, in der »Wintergarten«-Dichtung nicht zurückgenommen, sondern im Lied von der »Zeitenlose«, die Symbol der Liebe ist, in mannigfachen Motiwerschränkungen bestätigt und gefeiert (429ff.). Das Lied ist insofern der ideelle Höhepunkt der Dichtung, da die folgenden Motive und Tableaus: Taufe, Hochzeit, Aufwachen des Volkes, gerettetes Kind, Aufbruch zur Reise, seliger Tod des Winters, Zerstörung des Wintergartens, Erlöschen der sehnsüchtigen Leidenschaft zum französischen Offizier, Regenbogen und Gnadenbund, Ubergangs- und Zukunftscharakter oder sogar präsentisch-eschatologischen Sinn aufweisen. Doch in der Tat schließt die Dichtung nicht mit Erfüllungen, eher mit Entsagung und Hoffnungszeichen. Die verwitwete und kinderlose Frau vom Hause versagt dem Invaliden ihre Liebe, muß selbst aber ihren Liebesschmerz verwinden und reicht »aus reiner wohlwollender Überzeugung« in ethischer Liebe dem Winter, dem Greis ihre Hand. 386 Es handelt sich um eine Art Erlösung des Winters, die Worte »selig« und »Seligkeit« kehren mehrfach wieder, Worte wie »ewige Freude«, 123

»himmlische Frau« und eine Atmosphäre der tiefen inneren Rührung kennzeichnen das Geschehen. Dieser »Winter unseres Mißvergnügens« 387 ist mit zahlreichen Konnotationen besetzt; es ist der Winter der Lähmung nach388 den zwei Jahren französischer Besetzung Berlins 1806/08, der Winter einer lastenden und gespannten Zeitgeschichte, die nach berühmt-altem Vorbild aus den Gesprächen ausgeblendet wird, der Winter der Übellaunigkeit angesichts der Realität; das fördert Flucht in poetische Scheinwelten und aussichtslose Amouren. Der Schlüssel zur Konstruktion des Ganzen liegt so in der doppelten unerfüllten Liebe der Frau vom Hause und des Invaliden, in dem geheim gehaltenen üppigen Illusions- und Seelengarten der Frau und der schließlichen Ehe mit dem Winter, der in diesem Frühling, wie er prophezeit hat, allegorisch sich selbst überleben müßte, um weiter zu existieren. Die Uberwindung der illusionistischen Scheinwelten von Poesie und Sehnsuchtsliebe in einer ethischen Liebe, deren Symbol die Zeitenlose, und einer Selbstüberwindung, die mit dem Symbol der aufgehenden Sonne über dem eingeschlafenen Invaliden bezeichnet ist, oder, aufs Ganze bezogen, die Annahme der nördlichen, europäischen Realität in einer Lebenshaltung, die Ewigkeit und Tranzendenz statt Unendlichkeit und Sehnsucht kennt, sowie einer Kunst, »die nicht den Frieden heuchelt« und symbolisch statt illusionistisch orientiert ist, darin liegt in Umrissen die Konzeption des »Rahmens« der Dichtung. Eine Zeit/Ewigkeit Wintergarten-Symbolik begegnet auch bei Franz von Baader: »Und wenn diese Zeit nur der Winter der Ewigkeit ist, so vermag doch der Mensch, gleich einem verständigen Gärtner, auch mitten in diesem eisigen Winter wenigstens einzelne, wenn auch nur flüchtige und schnell sich wieder schließende Blüten der Ewigkeit hervorzurufen: jenen Paradieseszustand der Natur hiermit außer sich antizipierend, den er bereits in sich bleibender antizipierte« 389 Die Zuwendung zur Wirklichkeit des Winters mit Abwertung der Tropenblüten einer illusionistischen Kunst, aber Aufrichtung der Zeitenlosen als eschatologisches Symbol und Symbol einer »Wirklichkeitskunst« bei Arnim wird in Kontrast und Nähe zu Baader um so deutlicher. Ob die alten und neuen Erzählungen und Gedichte des »Wintergartens« als Lehrgang und Einübung in die neue Haltung dienen, wobei das illuminierte Ritterbuch den symbolischen Fluchtpunkt abgäbe, der »Rahmen« dagegen als Problematisierung der illusionistischen 124

Diskurse begriffen werden muß, das bedarf noch der eingehenderen Untersuchung. An der Stelle, wo Friedrich Schlegel in dem »Gespräch über die Poesie« im >Athenäum< von der »neuen Morgenröte der neuen Poesie« spricht, fügt er bei der Überarbeitung für die Werkausgabe 1823 einen Passus ein, der neben dem Bezug auf die gesellige Kleinkunst des späten 18. Jahrhunderts als Reflex auf Arnims Wintergarten-Dichtung verstanden werden kann. Amalia wirft nach dem Stichwort von der »Morgenröte der neuen Poesie« ein: »Den Winter haben wir wohl lange genug erlebt und sind alle darin aufgewachsen; wo man sich denn bei der rauhen Jahreszeit im geselligen, erwärmten Zimmer an den sparsamen Blumen erfreut, wie sie die künstliche Pflege sorgsam hervorzutreiben vermag. Wohl werden Sie also unsern Dank verdienen, wenn Sie uns einen neuen Frühling eröffnen und hinausführen in die freie, große Natur«. 390 So schaut bei Tauwettereinbruch das Kind des Gärtners aus dem Innenraum der Stube und der Märchen des Alten hinaus in die umwälzende Bewegung der Natur; Arnim gestaltet die Szene in einem expressiven Gedicht, das autobiographisch anklingt an seine leidenschaftlichen Verse391 in dem Weihnachtsbrief von 1803 und mit dem Bekenntnis schließt, daß Poesie nicht länger Winter- und Märchendichtung aus Menschenmund, 3,2 sondern Echo der Natur aus dem Mund des topisch-utopischen Kindes, Naturpoesie also sein solle und werde: »Der Alte schweigt, / Ihm Knospen zeigt, / Bald blühn im Tale / Die Märchen alle! / Das Kindlein singt nach / Der Schwalbe am Dach, / ... Den Alten nicht mißt, / Den Winter vergißt« (424).

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Der Geschichtsroman als Realitätsmodell Die eschatologische Wirklichkeit der »Kronenwächter«

Einleitung In diesem knappen Entwurf, in dem Linien häufig nicht ausgezogen, sondern nur angedeutet sind, die Argumentation sich der Textstellen und Motive bedient, wodurch die Polyphonie und Vielschichtigkeit, ja Unabsehbarkeit dieses dichterischen Zusammenhangs gegenwärtig ist, ohne daß die Fluchtlinien immer im einzelnen benannt oder auf den Begriff gebracht sind, werde ich mich mit der Forschung nicht explizit, sondern nur implizit auseinandersetzen. Es ergeben sich zu vorliegenden Arbeiten relativ wenig Berührungs- und Vergleichspunkte. Die Offenheit und Polyphonie des Textes ermöglicht viele Ansätze, was nicht bedeuten kann, daß die Annäherung beliebig sei. Meine Absicht ist, einige symbolische Motivkomplexe und Motivstrukturen aufzuzeigen und Perspektiven zu eröffnen, die zu einer Umwertung, einem neuen Interpretationshorizont und neuer Einschätzung des Romans führen können. Man wird in dem Geschichtsroman vielleicht ein poetisches Vermächtnis mit sehr fundamentalem Konzept und umfassender geistiger Dimension zu sehen haben. Arnims Worte über die Bedeutung der Romaneinleitung »Dichtung und Geschichte«, gleichfalls seine Perspektivierung der politischen Aspekte auf das »Hausmärchen«, das unter anderem das Verhältnis von Dichtung, Staat und Wirklichkeit reflektiert, legen eine gewisse »philosophische« und poetologische Ausrichtung nahe.393 Bei weitem nicht alle wichtigen Aspekte des Romans kann ich in dieser Skizze berühren bzw. ausführen, doch glaube ich, daß sich in dem, was sich mir über Jahre im Umgang mit dem Text bewährt hat, Grundlinien der Konzeption zu erkennen geben. Als eine Argumentation in Figuren, Handlungen, Motiven und Symbolen wird der Roman sehr vielschichtig lesbar. Wie »das Politische des Buchs ... nicht so leicht von der Oberfläche geschöpft« ist, 394 so sind der geschichtliche Sinn wie der poetische und geistige Zusammenhang des 127

Romans offensichtlich etwas, was »nicht der Augenblick, sondern die Jahre gelehrt haben«. 395 Arnim wendet sich in einem Brief im Zusammenhang der »Kronenwächter« gegen Dogmatismus und Schematismus im geistigen Urteil wie in der poetischen Darstellung geschichtlicher und geistiger Verhältnisse, so gegen das Vernichten ganzer Geschichtsepochen durch Theorie, gegen den unseligen Hang der meisten, »das Bemühen ganzer Generazionen zu verachten, um irgend eine Zeit oder irgend etwas herauszuheben«; er meint aber, »daß eine Liebe, die nur auf diesem Wege den Werth des Geliebten erkennt, nicht die rechte sei und daß alle Geschichte allen Kenntnissen zum Trotz aufgehoben wird, wo die Theorie über sie herrscht. Es ist eine seltsame Zeit, wo keiner sein Haus zu finden meint, sondern es sich aus den Trümmern andrer Häuser zu bauen verpflichtet glaubt, und hat der Eine seinen Pallast mit aller Sorte Kritik und Theorie eben fertig, so hat ihm der andre schon wieder die Fundamentsteine untergraben, oder vielmehr, jener bemerkte nicht, daß er das Eigenthum eines andern mit hineingebaut hat.« 396 Diese Uberzeugung vom Wert des geistig und geschichtlich Wirklichen gegenüber dem Dogmatismus und Moralismus schematischer Konstruktionen, sei es vom Geschichtssinn oder von der Finalität menschlicher Geschicke in Roman und Wirklichkeit (das meint nicht die schwebenden Konstruktionen der Kunst), bestimmt sehr essentiell den Geschichtsroman »Die Kronenwächter«, und in diesem Geist wollte Arnim seinen Roman zweifellos aufgefaßt sehen. Eichendorffs höchst bedenkenswertes Wort über Arnims Dichtungen: »man möchte seine Poesie eine historische nennen, wo, fast ohne Raisonnement, nur die poetischen Thatsachen reden«, trifft den Sachverhalt sehr genau und ist Appell an die Interpreten. 397 Dies Werk fordert seine eigene Hermeneutik. Wenn ich in meinem Argumentationszusammenhang die komplizierte und wegen des Verluste der Dokumente und Handschriften nie völlig sicher aufhellbare Genese der Dichtung einbeziehe, in einem philologischen Exkurs die Entstehungstheorie umreiße und vor allem die innovierende Bedeutung des Motivs des doppelten Lebens und der Krankheit und Heilung Bertholds herausstelle, so soll das die Intentionen der Neuinterpretation stützen, sie nicht abhängig machen. Selbst wenn die Genesis des Romans sich anders darstellen sollte, die Sache bleibt substanziell die gleiche. Die Interpretation versucht den poetischen Zusammenhang der Endfassung zu begreifen, während die 128

genetische Theorie eher subsidiarische, illustrative und historisch konkretisierende Zwecke erfüllt. Die Forschung referiert verdienstvoll Paul Michael Lützeler, der auch den demnächst erscheinenden »Kronenwächter«-Band des Deutschen Klassiker-Verlags betreut.398 Darüber hinaus ist an neuerer Literatur zu nennen zur Motivik der bildenden Kunst: Roswitha Burwick, Kunst und Geschichte in Achim von Arnims Die Kronenwächter. In: Aurora 46 (1986), S. 129-146, und der Kronenwächterabschnitt im Buch derselben Verfasserin: Dichtung und Malerei bei Achim von Arnim. Berlin/New York 1989, S. 306ff. Daneben der politikwissenschaftliche Versuch von Paul Noack, Achim von Arnims »Kronenwächter« - Politik in der Spätromantik. In: Perspektiven der Romantik. Hg. von Reinhard Görisch. Bonn 1987, S. 63-76. Der Forschungsstand, der hier anders als bei den bisher interpretierten Werken der Frühzeit eine gewisse Kontinuität in den Fragestellungen und Ergebnissen aufweist, läßt an der Verlegenheit hinsichtlich der Gattungsbestimmung erkennen, wie ungewöhnlich Arnims Romankonzept sich im Rahmen der Geschichte der modernen Gattung des Romans und speziell des »historischen Romans« ausnimmt. Elchlepps399 Unterscheidung von zwei Ebenen in Geschichte und bildhafter Poetisierung der historischen Stofflichkeit, Riebes400 Differenzierung von kausal-psychologischer Handlungswirklichkeit und übernatürlicher, umfassender Wirklichkeit, Göres' und Hausteins 401 Herausstellung der Mythendichtung in Spannung zu historischer Begebenheit, Hemstedts 402 Ansatz der »Geschichtlichkeit«, verbunden mit der inhaltlichen Opposition von geschichtlicher Vereinzelung und »Totalitäts«bezogenheit, der Gegensatz von romantischem Gehalt und realistischer Form bei Best und Hatzfeldt, 403 die Formulierung W. Vordtriedes, in Berthold habe man den »ersten Antihelden der deutschen Literatur«404 vor sich, Gepperts 405 substanzielle und am meisten zur fruchtbaren Auseinandersetzung reizende Abhandlung mit der Bestimmung des »anderen«, zeitkritischen, historischen Romans, schließlich Lützelers406 These von der Poetisierung des Romans durch »Kunstsage« analog zum »Kunstmärchen« - all diese Forschungsansätze belegen die Irritation durch die Erkenntnis, daß die »Kronenwächter« eben mehr sind als der »historische Roman«, der sie zu sein scheinen.

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Offenheit und Vielstimmigkeit der Motive und Themen Arnims Roman gehört zu den vielstimmigsten der Epoche; in Symbolen, bedeutenden Handlungen, Gesten und Details, in Anspielungen, heiklen Vieldeutigkeiten und in der prinzipiellen Transparenz aller Vorgänge bei gleichzeitig realistischer Plausibilität, durch die offene Mehrstimmigkeit der anklingenden Bedeutungen und verknüpften Ebenen zählt er zu den am reichsten instrumentierten Büchern der romantischen Literatur und vielleicht des Jahrhunderts. »Eines der tiefstdurchdachten Kunstwerke«, notiert H. von Hofmannsthal, zeigt sich dennoch irritiert durch das eigentümliche Phänomen des »Fehlen(s) des eigentlichen Mittelpunkts«. 407 »Arnims >Kronenwächterwundervollen indirekten Charakteristik^ »die Figuren malen sich, indem sie in den schnell wechselnden Situationen sich ganz individuell verhalten«, von der Hofmannsthal spricht - erklärt sich aus der Vergeistigung, die die Dinge im traumscharfen Licht der schwer beschreibbaren, einzigartigen Arnimschen Spiritualität erhalten, wodurch, realistisch und überrealistisch zugleich, Vorläufigkeit der Dinge und Faktizität des Gegebenen zusammentreffen. Dieser Autor, »dessen Darstellungsgabe so unübertrefflich war«, wie Heine bemerkt, verwandelt die irdische Wirklichkeit der Welt in die geistige Wirklichkeit der Worte: »Ihr ganzes Wesen ruht auf den Worten«, so spricht Görres den Freund an anläßlich des Erscheinens des »Wintergarten«, »die doch alle aus der Allerweltsprache sind, wie ein ange132

hauchter Schein, und wie eine Seele auf dem Staub und Wasser ruht, in dem sie wie zur Miethe wohnt. Ihr leichter Schlittschuhschritt, der bisweilen so tief einschneidet, dass das Grundwasser durchbricht und den Leuten in die Augen spritzt, der zierliche Wurf, das scherzhafte Tanzen, das gefällige Cantabile, das freundliche Lachen, das wie Tageslicht durchs Ganze durchscheint ... Das sind wahre Geistererscheinungen an hellem Tage«. Es ist - so die Heinesche Diktion - die »Arnimsche Grazie, die über jede dieser Dichtungen verbreitet ist, wie das Lächeln eines Kindes, aber eines toten Kindes«. 411

D a s antihistoristische Modell: D e r Geschichtsroman Arnim schreibt anstelle eines Bildungsromans, eines Zeit- oder Gesellschaftsromans, eines transzendentalpoetischen Romans nach der Art des »Ofterdingen« oder eines episch-dramatisch vergegenwärtigenden historischen Romans à la Scott einen Geschichtsroman als Realitätsmodell. Darin liegt zuerst ein Bewußtsein von der Unteilbarkeit von Wirklichkeit, der Verbundenheit von erzählerischer Konstitution und faktischer Geschichtsbezogenheit bzw. Geschichtlichkeit. Wirklichkeit ist danach nur geschichtlich und als geschichtlicher Zusammenhang adäquat darstellbar, also weder privatisierbar als Bildungsgeschichte oder fiktionalisierbar als geschichtsenthobener Gesellschaftsroman. Das Bewußtsein der Unteilbarkeit schließt die fiktionalisierte Objektivierung einer isolierten historischen Zeit im »historischen Roman« ebenso aus wie die Reduzierung auf Ereignishaftes und Psychologisches, auf objektivierte Immanenz. In der Konsequenz liegt es weiterhin, die Grenzen des Fiktiven zum realen Geschichtsbewußtsein hin zu überschreiten. Wenn Geschichtsbewußtsein auf der einen und Bewußtsein der Geschichtlichkeit auf der anderen Seite das Wirklichkeitsschema bestimmen, dann sind Vorentscheidungen für die Struktur eines entsprechenden Romans und für die Art des Erzählens getroffen. Es gibt - real und literarisch - andere Wirklichkeitskonzepte, die ihre eigenen Strukturen und Erzählweisen provozieren. Es bezeugt einen hohen Grad von realer Offentlichkeitsorientierung und europäischer Weite des Bewußtseins (was bei einem Mann von altpreußischem Adel nicht konstruiert ist, sondern Lebenswirklichkeit darstellt), wenn Arnim in seinem Romankonzept, das tatsächlich vor der Entwicklung des seichteren historistischen Modells à 133

la Scott liegt, die Vermittlung solch öffentlich-geschichtlichen Wirklichkeitsverständnisses mit den literargeschichtlichen Konventionen des Romanschreibens, der »craft of fiction«, zu leisten versucht. Historismus und deskriptive Geschichtsillusion im Roman entsprechen einander. Arnim geht einen anderen Weg. Die ideellen und poetologischen Grundlagen werden in der über Jahre geführen prinzipiellen Auseinandersetzung mit Jacob Grimm am deutlichsten sichtbar.412 Vollständig zu begreifen ist Arnims Realitätsmodell erst, wenn man sieht, daß der geschichtliche Zusammenhang bei ihm nicht geschichtsphilosophisch linear, das heißt immanent und verabsolutiert verstanden wird, sondern in christlich-philosophischer Tradition für eine andere Dimension geöffnet ist, die als offene Vertikale die horizontalen Linien transzendiert. Die Spannung dieser Dimensionen bestimmt den Diskurs der Romaneinleitung »Dichtung und Geschichte«, der Arnim größten Wert zumaß. Das Zwei-Reiche-Modell und die Engführung von realem Geschichtsbewußtsein und literarischer Geschichtsfiktion garantieren die unteilbare Wirklichkeit in diesem Hauptwerk Arnims. Das Gegenwartsbewußtsein des Autors und Lesers wie das Bewußtsein der Menschen des 16. Jahrhunderts konvergieren ohne Zwang, und es bedarf keiner künstlich sentimentalischen Einstellung des zeitgenössischen Lesers und Autors auf die »alte Zeit«, denn sie ist Prototyp einer jedweden Gegenwart und zugleich unüberholbare Position im Geschichtsverlauf, gleichartig-gleichzeitig und singulär zugleich. Die Konsequenzen des Modells für den Kunstcharakter und das literarische Konstrukt liegen vor allem auf der Ebene der Erzählweise wie in der Verdichtung durch motivisch-allegorische Figuration. Vor einer Uberschätzung und Autonomisierung der Geschehensebene, der historisch-politischen Zusammenhänge und des psychologischen Nexus muß entsprechend gewarnt werden. Arnims Konzept des Geschichtsromans provoziert ein neues Erzählerbewußtsein, das sich dem normalen Geschichtsbewußtsein annähert und dadurch von der Subjektivität der fiktiven Illusionssetzung weitgehend befreit scheint. Ein derart entlasteter Erzähler unterliegt nicht mehr den Zwängen zur beglaubigenden Vergegenwärtigung, zum subjektiv verantworteten Imaginativen und Fiktiven, zur Überredung und Beschwörung durch imaginative Suggestion. In der Geschichte des Romans und der Erzählmethode nach dem »Wilhelm Meister« setzt dies eine entscheidende Zäsur. Hardenbergs »Heinrich von Ofterdingen« ist in diesem Sinne kein Geschichtsro134

man. Nach Arnims Vorstellung ist Geschichte das unübersehbar Ganze, aus dem Gegenwart herkommt, der zwar in Vorstellungen strukturierte und durch Gewußtes profilierte, aber alles zur einen unteilbaren Wirklichkeit synthetisierende Zeitstrom. Die Rückwendung des Erzählerbewußtseins auf diese Vergangenheit ist Einübung in die eigene Geschichtlichkeit. Es ist ein Eingeholtwerden eher als angestrengt fiktives Vergegenwärtigen entfernter und fremder Welt oder illusionär-subjektives Vermitteln einer anderen Gegenwart. Die Geschichte selbst ist gleichsam primäres Subjekt, ihr steht der Erzähler nicht auktorial und beherrschend, also subjektiv, sondern zitierend, überliefernd, referierend, übermittelnd und »personal« gegenüber. Wie das Geschichtsbewußtsein hat das Erzählen öffentlichen Charakter, ist nicht intim oder privat, selbst wo es sich um intime und private Sujets handelt; es beruft sich auf historisch Gewußtes und vermittelt Realität als gewußt-öffentliche, als ein »Allgemeines« im Gegensatz zum Subjektiv-Privaten. Persönliche Relationierung vollzieht sich stets durch ein »wir«, »uns«, nie durch ein »ich«, »mir«. Das Erfundene hat die Wahrheit des Gegebenen; die Geschichte, nicht der Erzähler beglaubigt. Die Strukturen des Geschichtsbewußtseins haben für den Erzähler Arnim außerordentliche Plausibilität, weil sie den poetologischen Uberzeugungen vollkommen entsprechen. Von einem bestimmten Blickpunkt aus erscheint so der Geschichtsroman als der einzig mögliche, der einzig ernste Realismus. Es ist ein Realismus, der die Dimensionen des geschichtlich Wirklichen und Gewußten einschließt und sie als Substanz, Rahmen und Bedingung akzeptiert. Da Geschichte für Arnim die wirkliche menschliche Form des Lebens darstellt, ist hier die Priorität des Lebens (der Naturpoesie, der Spontaneität) vor der Kunst (der Kunstpoesie, der Form) garantiert, so wie es die poetologischen Entwürfe Arnims skizzieren. Dennoch verschafft der Geschichtsroman dem Erzähler Freiheit und Distanz. Das unabsehbare Ganze der Geschichte relativiert jedes Einzelne und jede Bestrebung, läßt kaum Helden zu und ermöglicht den »negativen« Helden, das Vergebliche und das Scheitern. Es hebt andererseits die Gleichartigkeit selbst der antagonistischen menschlichen Bestrebungen hervor, erkennt sie in ihrer Herrlichkeit, ihrem Adel wie in ihrer Nichtigkeit und Torheit, akzentuiert das Geflecht der entgegenstehenden Interessen und Aktionen parteilos, aber mit ethischen und gesellschaftlichen Wertungen in nicht persönlicher, sondern sachlicher Andeutung. Nicht nur im Gegenzug zu dem 135

auktorialen Verfügen der Historiker über die Geschichte meidet Arnim das Grelle, Laute, die dramatischen und tragischen Ereignisse und Taten der Geschichte. Zwar strukturieren die großen und zu Mythen gewordenen Gestalten und Antagonismen wie Friedrich I., Staufer und Weifen, Maximilian, Luther, Herzog Ulrich, die Städte und der Adel das geschichtliche Feld, aber dies figuriert nur als Gewußtes, beiläufig Genanntes, aus zweiter Hand Erzähltes, als geistig-politisches Spannungsfeld. Dramatik gibt es nur in negativ gekennzeichneten Bereichen, vor allem in den Mordanschlägen des mythisch überhöhten Geheimbunds der gothic novels, der »Kronenwächter«. Arnim strukturiert durchaus großflächig, mit Hilfe jener aus der Geschichte überlieferten Figuren und politischen und ökonomischen Positionen, aber vor allem mit symbolischen Figurationen, die - wenn dies noch nötig wäre - deutlich machen, daß sein Interesse nicht dieser bestimmten Geschichte, sondern der Geschichtlichkeit und den Bedingungen und der Phänomenologie geschichtlichen menschlichen Daseins gelten. Zu diesen Bedingungen gehört die Ausrichtung auf Transzendenz, denn Geschichte ist bei Arnim kein immanenter Bereich. Aber die Ausrichtung auf Transzendenz erscheint verankert in den Bestrebungen, Hoffnungen, Wünschen, sittlichen Uberzeugungen, Träumen, Phantasmen des menschlichen Geistes in seiner Vergangenheitsgebundenheit und Zukunftsobsession und der Sehnsucht nach »Gegenwart«. So ist das Normale, Kleindimensionierte und Alltägliche mehr, als was die Gewohnheit darunter sehen lehrt, und das Große, Glänzende, Weitberühmte, wenn es in der Erzählgegenwart erscheint, erscheint menschlich und einfach, ist im übrigen den gleichen menschlichen Geistesbedürfnissen und -intentionen unterworfen. Solche Bestrebungen und all die damit verbundenen Geisteszustände sind gleichsam Figuren und Exponente der Geschichte selbst, und sie begegnen derart der - nie subjektiv ausgesprochenen, sondern stets objektiv realisierten - Neutralität, Achtung, Satire, Kritik, dem distanzierten Wohlwollen und der gleichmütigen Relativierung des Erzählerbewußtseins. Unter solchem geschichtsphänomenologischen Blick erhalten das Geschehen wie alle geistigen Intentionen paradigmatischen Sinn, mit Gleichmut ruht er auf den verkehrten, kurzsichtigen, hohen, phantastischen usf. Bestrebungen, die dennoch in einem durch symbolische Konstellationen bezeichneten Strukturraum geordnet und vorsichtig 136

gewertet sind. Dramatische Entwicklungen findet man in dem Roman nicht, aber die inneren Bewegungen ordnen sich zu thematisch und symbolisch bezeichneten Kapiteln, in denen sich in der Gelassenheit der Erscheinungen der Strukturraum bildet. Abschließende und endgültige Sinnfügungen kennt der Roman so wenig wie die Geschichte, deren Spiegel und Figur er ist. Wenn es im Erzählerbewußtsein einen Grund für jene Distanz gibt, die zwischen kritischem Illusionsbewußtsein und Lebensliebe die Mitte hält, dann ist er am ehsten verbunden mit dem eschatologischen Licht über allem Wirklichen in dem Roman, das - hier allerdings eine Spur zu weltflüchtig - aus den Worten des Einsiedlers Anno spricht, dem sich nach vielem Unglück »eine andre Freude und ein andres Leben eröffnet (habe) und er könne die Ereignisse dieser Welt von da an nur immer als Gleichnisreden zur Belehrung, aber nicht als etwas, das an sich bestehe, ansehen« (763). Es gibt zahlreiche Stellen in dem Roman, die von dieser eschatologischen Ambivalenz zwischen Haben und Nichthaben, 413 in der Welt sein und nicht von der Welt sein sprechen, die in lutherischer Tradition 414 auf das Pauluswort 415 und andere Schriftstellen bezogen ein großes Gewicht besaßen.

Philologischer E x k u r s z u r Entstehung Die Entstehungsgeschichte ist voller Rätsel, es gibt mehrere Konzepte und Fassungen, und die Genese scheint sich über ein Jahrzehnt zu erstrecken. Weitgehende Beschränkung auf die in der einschlägigen Forschung nicht oder in anderer Wertung berücksichtigten Texte, Motive und Zusammenhänge ist auch hier erforderlich. Wir beginnen mit dem Ende, der Ankündigung der Herausgabe in zwei Bänden und dem nicht eingelösten Versprechen bezüglich des zweiten Bandes, den Arnim gegenüber Goethe und Görres dennoch als fast fertig bezeichnet. 416 Auch ein von Heinz Härtl entdeckter Brief an Savigny vom September 1816 spricht vieldeutig: Arnim sendet den Anfang der Kronenwächter, damit Savigny ihn gelegentlich »als Probe einem Verleger« vorzeigen könne. »Die ältere Zeit, die dieser Anfang umfasst, ist gegen die Gewohnheit Ritterromane etwas ernst ausgefallen, das kann bey der Berührung mit Geschichte nicht vermieden werden, dennoch sagen die Zuhörer, er nicht langweilig. Darstellung der Qual etwas Untergegangenes, wie

der der sey die

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edle Zeit der Hohenstaufen, künstlich erhalten zu wollen war eine Hauptabsicht bey dem Buche. Mit der Reformazion, die alles das löst und löscht, werden die Ereignisse dem bürgerlichen Leben noch näher gerückt, das Lustige dämpft das Schrecklige, mehr noch der religiöse Sinn aller Bewegung. Es werden zwey Bände, den einen möchte ich zu Ostern, den andern zu Michaeli erscheinen lassen. D a jeder Band in eine Anzahl abgesonderter und doch verbundener Geschichten zerfällt, so glaube ich, daß sich auch der einzelne erste Band ohne die Auflösung im zweyten sein eignes Interesse hat.« 417

Arnims Publikationsabsicht entspringt einer Verlegenheit. Die Aufsplittung von Romanen in zwei Bände bei der Veröffentlichung ist bei dem kleinen oder relativ kleinen Format, in dem Romane üblicherweise erscheinen (ein Beispiel bieten die von Jean Paul), nicht selten, sondern fast üblich. Mir ist jedoch kein Fall bekannt, bei dem die Publikation eines zweibändigen Romans auf zwei Messen verteilt im Halbjahresabstand erfolgt wäre. Die Verlegenheit spiegelt sich auch in der doppelten Titelgebung: der gestochene Titel - Arnim spricht in diesem Brief nur erst von einer »Vignette auf dem Titel«, was normalerweise eine Kupfer- oder Holzschnittvignette auf dem normalen Drucktitel, auf normalem Papier, nicht auf Karton wie bei einem ganzseitig gestochenen Titel, bedeutet -, der gestochene Titel also lautet: »Die Kronenwächter. Erster Band«. Als gedruckten Separattitel für den ersten Band wählte Arnim dagegen »Berthold's erstes und zweites Leben. Ein Roman« - was als Leihbüchereititel wegen der zu vermutenden Privatgeschichte größeres Interesse wecken konnte als ein Titel »Die Kronenwächter« ohne »Roman«-Hinweis und mit Perspektive auf eine noch nicht eingeführte, für das Bewußtsein des literarischen Deutschland nicht existierende Gattung »historischer Roman«. Ich möchte annehmen, daß Arnim sich bereits zur Zeit des Briefes an Savigny nicht sicher war, ob er den zweiten Band werde abschließen können. Sonst würde es als höchst ungewöhnlich erscheinen, nur um einen Meßtermin (ein halbes Jahr) früher »auf dem Markt zu sein«, einen auf dem gestochenen Titel als »Erster Band« bezeichneten Roman gesondert herauszugeben. Der Haupttitel konnte für den normalen Leser die Trivial-Gattung »Ritterroman« assoziieren, worauf Arnim auch in dem Savignybrief - sich von dem Image dieser Gattung absetzend - anspielt, doch durfte man solcher Lesererwartung zweifellos nicht mit einem unvollendeten ersten Teil aufwarten. Tatsächlich fehlt bei allen Leihbibliotheksexemplaren der Erstaus138

gäbe, die mir zu Gesicht gekommen sind oder die in Katalogen auftauchten, der gestochene »Haupttitel«. Und unter dem Titel »Berthold's erstes und zweites Leben. Ein Roman« stellt das Buch, abgesehen von der Öffnung für eine Fortsetzung auf den letzten Seiten, tatsächlich einen geschlossenen Roman dar, der ein interessantes (weil doppeltes) Leben, ein Menschenschicksal von der Geburt bis zum Tod umgreift. Facit: Der neue - das Buch auf die Bertholdgeschichte eingrenzende - Drucktitel, der in der bei Henrici bezeugten Fassung auch noch nicht vorgesehen ist, ermöglichte es, daß trotz des grundlegend geänderten Konzepts und der mehr als problematischen Aussicht auf Anpassung der Antongeschichte an dieses neue Werk (das sich erst in einem späten Arbeitsprozeß herausgebildet hatte) die »Kronenwächter« doch der Öffentlichkeit übergeben werden konnten. Trotz allem ist natürlich davon auszugehen, daß Arnim die feste Absicht hegte, den Antonroman noch in das neue Ganze zu integrieren. Nach Erscheinen des Buches schreibt er im Bewußtsein der unausgeführten Perspektiven und offenen Motiv- und Handlungsstränge in diesem Sinne an Görres und Goethe: »Die Ubersicht seines Planes wird erst im folgenden Bande möglich.« 418 Wenn Arnim sich über den Freund und Schwager Savigny so früh schon um einen Verleger bemühte, mag das den Grund darin haben, daß er sich eine Stimulierung der Arbeit davon versprach und, auch nach seiner schweren Erkrankung, die ihn an den Rand des Todes gebracht hatte, nicht erneut ins Ungewisse hinein schreiben wollte, zumal ihm die ungelöste Problematik der beabsichtigten »Fortsetzung« im zweiten Bande im Unterbewußtsein vielleicht öfter präsent war, als er sich eingestehen wollte. 1813 war sein letztes größeres Werk, die »Päpstin Johanna« in der Notgeldzeit ungedruckt liegengeblieben. 419 Dem Erfolg der Bemühungen um einen Verlag des Buches vor Abschluß des zweiten Bandes haben wir vielleicht einerseits die forcierte Arbeit am Bertholdroman, andererseits aber möglicherweise auch das Unvollendetbleiben der »Kronenwächter« zu verdanken. Zum Verhältnis des Ersten Bandes der »Kronenwächter« zu der »Fortsetzung« im Zweiten Band habe ich bereits in der Göttinger Dissertation von 1966420 ausgeführt, was auch vom gegenwärtigen Forschungsstand nicht überholt bzw. nur annähernd erreicht ist, daß nämlich »nicht - wie allgemein angenommen 421 - der 2. Band der >Kronenwächter< eine zweite Hälfte des ursprünglichen Romans darstellt, der nur in seiner ersten Hälfte (>Kronenwächter IKronenwächter< die sehr früh anzusetzende Urfassung des gesamten Romans, ein historischer >Künstlerroman< mit dem Helden Anton - in der Nachfolge des >Sternbald< vielleicht - , dem nur noch die Jugendgeschichte des Findelkindes Anton in Waiblingen voraufging. Die Novelle >Isabella von Agypten< stammt aus dem Zusammenhang dieser Urfassung. Die Fortsetzungspläne am Ende des 2. Bandes gehören teils der alten und teils der neuen Fassung an. >Kronenwächter I< sind das Ergebnis einer völlig neuen Konzeption, in der die Jugendgeschichte Antons gleichsam zu einer Darstellung der städtisch-bürgerlichen Welt mit der Hauptfigur des Bürgermeisters Berthold ausgeweitet wurde. Die innere Konzeption, der Sinn der Kronenburg usf. hat sich gleichfalls vollkommen gewandelt... Die äußeren Unstimmigkeiten zwischen den beiden Teilen, der völlig veränderte Stil und die Schwierigkeit, die Arnim nicht bewältigte, nun den ursprünglichen Roman als Fortsetzung und zweiten Teil der neuen Konzeption anzugliedern, finden so ihre Erklärung.« Die Edition des Zweiten Bandes der »Kronenwächter« durch Bettina 1854 ist danach »ein Rückgriff auf die ursprüngliche Fassung des Gesamtromans, die nach vorn hin durch einen in mehreren Bearbeitungsstufen entstandenen, völlig selbständigen und ursprünglich nicht geplanten Teil, den heutigen Band I des Romans, erweitert wurde«. 422 W. Vordtriede sprach 1962 bezüglich des Bd. 2 von einem »Fortsetzungsfragment«: »Diese Fortsetzung aber scheint einer früheren Stufe als der fertiggestellte veröffentlichte Teil anzugehören. ... Es hat ja in Wirklichkeit nie einen solchen zweiten Teil gegeben. Was Bettina bot, ist teilweise ihr eigenes Werk; jedenfalls stammt die Zusammenstellung von ihr, vermutlich auch einige Ubergänge«. 423 - Auch H. V. Geppert schreibt noch 1979: was scheinbar als Fortsetzung 1854 herauskam, gehörte in Wirklichkeit viel früheren Werkstufen an; die Umarbeitung des 1. Bandes habe den 2. Teil nicht erreicht; man solle »den Zweyten Theil als die Vorgeschichte des Ersten Bandes lesen«. 424 Letzteres entspricht zwar der Chronologie der beiden Teile, beweist aber, da die Bertholdgeschichte, über die Figur des Bürgermeisters im 2. Band, der Antongeschichte vorgeschaltet wurde, daß Antons Abenteuer aus dem zweiten Band schon nach historisch-chronologischem Aspekt für eine Fortsetzung des Bertholdromans nicht mehr in Frage kamen. 140

Meine Auffassung geht wie schon 1966 dahin, daß man von einer »Umarbeitung« des 1. Bandes nicht sinnvoll sprechen kann, da der heutige 2. Teil, der Antonroman, ursprünglich den einzigen Band der »Kronenwächter« darstellte, einen historischen Künstler- und Picaroroman, an dem Arnim wahrscheinlich bis 1806 arbeitete. Der Bertholdroman ersetzt später den Antonroman, ist keine Umarbeitung einer in irgendeiner Form zur Zeit der Abfassung des Antonromans existierenden Fassung. Die Erzählung »Isabella von Ägypten« (1812) entstammt dem Stoff nach diesem frühen Arbeitskonzept, führte aber als Heils- und Erlösungsgeschichte (Rettung und Zurückführung eines Volks durch die unschuldig reine Erlöserfigur Isabella, Mißlingen der »Erlösung« jedoch bezüglich der europäischen Geschichte seit Karl V. und der seitdem herrschenden Geldwirtschaft und imperialen Politik) möglicherweise entscheidend auf die neuen und höheren ideellen Zusammenhänge, die Arnim zur Konzeption des Bertholdromans und zur Zurückstellung des obsolet gewordenen Antonromans veranlaßten. Daß er dabei die Künstlergestalt des Anton in neuer Weise in die Systematik der höheren ideellen Konzeption integrierte und daß diese Gestalt als Hoffnungsträger und Erlöser, als Träger der geistigen Krone eine Uberwindung der bürgerlichen und kapitalistischen Wirklichkeit der Habsburgepoche des ersten Bandes hätte leisten müssen und sollen, ist eine andere Sache. Wenn man die Zusammenhänge so sieht, wird die extreme Schwierigkeit der Fortsetzung deutlich. Sie mußte eine Uberwindung der im Bertholdroman bereits erreichten Positionen bedeuten, und das konnte Arnim im Ernst nicht wollen bzw. er konnte es, im Gegenzug zu dem »realistisch-eschatologischen« Konzept des Bertholdromans, nur utopisch und mythisch lösen, so wie es einige Fragmente aus dem »Nachtrag« zu Bd. 2 bereits skizzieren. Der Blick auf zeitgenössische Wirklichkeit (denn Arnims Roman ist als Geschichtsroman »Zeitroman«) und die Forderung der geschichtlichen Wahrheit und des »Realismus«, die Arnim an seinen Roman stellte, verboten aber utopistische bzw. postulathafte, idealistisch symbolische Lösungen, die wahrscheinlich auch den Gattungscharakter des Romans (man vergleiche das Auslaufen des »Ofterdingen« in Allegorie und Märchen) verändert hätten. Arnim hätte gegen die geschichtliche Wirklichkeit anschreiben müssen. Insofern konnte das Scheitern der Fortsetzungspläne durch die geschichtliche Lage Europas bedingt und ein Zeugnis der Wahrhaftigkeit des Autors Arnim sein. 141

Doch zurück zur entstehungsgeschichtlichen Argumentation: Aus Arnims realistischerer Sicht des 15./16. Jahrhunderts durch deutlichere Geschichtskenntnis und durch den Einfluß der späten, realistischen Handelsgeschichte Fischers, Hannover 1785/91, und anderer Werke (»Geschichte« im Teil II spielt dagegen in der magisch-abenteuerlichen Atmosphäre der frühen Volksbücher und der anekdotenhaften und mythischen Darstellung bei Crusius) resultiert die Entwicklung seit 1812, die - über die bei Henrici bezeugte Fassung - zur heutigen Gestalt des Bandes I der »Kronenwächter« führt. Dabei knüpft Arnim an die historische Bertholdgestalt an, die neben der zunächst faszinierenden abenteuerlichen Antongestalt an lokal entfernter Stelle ebenfalls in der Chronik des Martin Crusius enthalten war. Arnim identifiziert den noch namenlosen Bürgermeister aus der Vorgeschichte zum Antonroman (eine Nebenfigur nach dem ursprünglichen Konzept, der alte Mann einer sehr jungen Frau) mit dem Berthold der Chronik und gewinnt damit zugleich die symbolträchtigen Motive des Stauferpalastes, der Heiligen drei Könige und des Kaufs des kaiserlichen Palastes durch einen Bürger und seine Umwandlung zu einem Wohnhaus, die mit der an sich völlig unscheinbaren Bertholdgestalt der Chronik verknüpft sind. Zum ursprünglichen Konzept der »Kronenwächter« enthalten die letzten Seiten eines Taschenbuchs im Goethe- und Schiller-Archiv Weimar425 einige Notizen: »Eine heilige Frau lacht den Anton immer an, er sei nicht das Kind des N . . . gewesen, so nicht ihr Gesicht ...«. Auf der letzten Seite unter der Uberschrift »Zu den Kronenwächtern« findet sich die Eintragung: »Erscheinung des heil. Michael, als ob er sein flammendes Schwerdt einsteckt, als Zeichen, daß die Pest aufhört ...«. Es folgen Notizen über den »Milchbruder«, dem man nur sagen muß »so wahr ich deiner Mutter Brust getrunken«, »so fühlt sich jener verpflichtet es zu ...«. »Drey Trauben waren nach altem Recht jedem erlaubt zu brechen, wer mehr nahm wurde hart bestraft«. »Das ... war in alter Zeit sehr beschränkt, siehe Anton I 117«. 426 Historische N o tizen zur Einwanderung der Wenden folgen. Dann: » 1493 brachten die Lanzknechte ... aus Frankreich die Blattern nach Deutschland.« »Anton bekommt den Weisheitszahn, zwey Mädchen die sich um einen ... streiten. Die Feuerprobe ist das große Geheimnis der alten Maurerei, der heimliche Gruß, nämlich daß sie nur ein Schein sey, um das Vertrauen der Menschen zu ihrer Unschuld auf die Probe zu stellen.« »Die Restaurazion der von Anton zerstörten Bilder.« 142

Ein anderes Konvolut427 enthält drei Stücke zu den »Kronenwächtern. Ein wichtiges Blatt zur Chronologie, beginnend: »1510 Augsburg. Berchtold der 50 Jahr, Anna sechzehn.« Aufgezählt sind die Jahresdaten bis 1524. Notizen dazu aber nur bei 1518: »Max. Abschied von Augsburg« und bei 1519: »Maximilian's Tod zu Wels«. - Zwei Blätter (2 Seiten) finden sich zur Szene mit Apollonia und den Vogtjungfern,428 woran in dieser Fassung die Szene mit dem Schneider Fingerling anschließt.429 - Ein Blatt enthält die (zugehörige?) Notiz: »Oder auch er giebt das Bild her für einen andern, der auch in der Verschwörung, weil er ihm jenes mit Verachtung zurückgewiesen. Er hat nie die Ursach vom Zorn des Grafen erfahren. Er hatte sein Bild die Treppe herabgestürzt und seinen Degen gegen den Unbewaffneten gezogen aber vor seiner Vermählung als ihm der ... von der seltsamen Neigung der Tochter etwas vertraut hatte. Gleichzeitig liebt er die Nonne und will den Bräutigam für sie ...«. Bedeutsamste, der Forschung bekannte, Quelle zu den »Kronenwächtern« ist Martin Crusius: Schwäbische Chronik. 2 Bde. Hg. von J. J. Moser. Frankfurt/M 1733. Es handelt sich dabei um die erste deutsche Übertragung - mit Fortsetzung bis 1733 - einer lateinischen Ausgabe, die zuerst 1593 erschienen war. Arnim besaß die Ausgabe von 1733 in seiner Bibliothek, die heute im Weimarer Schloß unter dem Dach separat aufgestellt ist. Wir zitieren stets nach der Ausgabe von 1738, die vermutlich mit der von 1733 seitengleich ist. Bd. II, S. 101 findet sich die berühmte Grabschrift der Hohenstaufen, deren bezeichnende Erweiterung durch Arnim oft übersehen wurde: »Daß ein Geschlecht vergehe, und das andere komme, und die Erde indessen unbeweglich bleibe, und alles unter dem Himmel seine Stunde habe, wird von dem Vortrefflichen Prediger der Hebraeer (Salomon. Predig. C.1,4.2,1.) bezeugt,... so gedencket man nicht, wie es zuvor gerathen ist, und deß, das hernach kommt, wird man nicht gedencken, bey denen, die hernach seyn werden, dann die kuenfftige Zeiten werden alles zugleich in Vergeß bringen. Damit aber zu dieser unserer boesen und letzten Zeit... «. Arnim ergänzt: »und ein jegliches Ding seine Zeit«, und vor allem die eschatologisch bestimmten Sätze: »...in Vergessen bringen, was wir aufzeichnen von der Vergangenheit und was wir schaffen in der Gegenwart, denn nichts erringen wir, als die Zukunft«.430 Die in der Forschung verbreitete Annahme, daß Wolfgang Zachers Waiblinger Chronik Arnims Quelle für die Gestalten des Anton und 143

des Berthold und für zahlreiche Motive und historische Details gewesen sei, kann kaum aufrechterhalten werden. Exakte Nachprüfung ergibt, daß die gesamte für Arnims Roman relevante Detailüberlieferung, soweit sie in Zachers Chronik enthalten ist, auch bei Crusius nachzuweisen ist und darüber hinaus vieles, was bei Zacher nicht vorkommt. Man hat in der Argumentation übersehen, daß Crusius bereits 1593 sein Werk veröffentlichte, und daß Zacher, ein an der Geschichte seiner Stadt interessierter Bürger, der 1666 seine nur handschriftlich überlieferte Chronik niederschrieb, vielmehr Crusius benutzt hat und sogar (gerade bei der Berthold-Notiz und dem DreiKönigs-Motiv, S. 155) auf ihn verweist. Zachers Chronik ist zwischen 1770 und 1780 in die Landesbibliothek Stuttgart gekommen. Sie ist also nicht mit der handschriftlichen Schwäbischen Chronik identisch, auf die Brentano Arnim hinweist,431 und es ist unwahrscheinlich, daß Arnim sie auf der Stuttgarter Bibliothek eingesehen haben sollte (falls sie überhaupt anders als im Akzeßbuch, Nr. 109, registriert war), nachdem er die detaillierte Darstellung der deutschen Ausgabe des Crusius von 1733 vorliegen hatte. Doch schon Karl Wagner bemerkt bezüglich der Hauptstellen bei Zacher (Anton- und Bertholdgestalt) gegenüber Wilhelm Hans, der Zachers Chronik als Quelle reklamiert hatte, trocken: »Zunächst zu den Nachrichten der Chronik; sie finden sich, vollständiger, auch bei Crusius«. 432 In positivistischer Logik könnte man die Keimzelle für die Konzeption des Anton-Romans durch folgende Konstruktion illustrieren: Arnim plante und laborierte lange an einem Wiedertäufer-Drama »Johann von Leiden«.433 Bei Crusius fand er nach dem Register in Bd.II, S. 239f. eine eindrucksvolle Darstellung zu diesem Dramensujet. Gleich auf der folgenden Seite befindet sich die ausführliche, anekdotenhafte Uberschrift zur Anton-Sixt-Geschichte (S. 240), die Erzählung selbst S. 241, bereits S. 239 wird über die Reformation in Waiblingen berichtet. Von dort aus fand er zum Kriegshelden Sebastian Schärtlin: »Sebastian Schertlins Gunst und Liebe zu Augspurg« lautet die Uberschrift (S. 243), und im gesamten Kontext begegnete überaus reiches stoffliches und motivisches Material, das er tatsächlich vielfach für den Anton-Roman verwendete. Daß Arnim Chroniken sammelte und aus Chroniken eine Geschichte Deutschlands zusammenstellen wollte, ist früh bezeugt. Anton war offenbar (als Mittelgestalt zwischen dem Verführer und »Teufel« Seger und dem guten Engel Susanna) Held und Mittelpunkt 144

der frühen Konzeption, so daß alles auf ihn und den Kreis seiner Waiblinger Zechkumpanen perspektiviert war und der namenlose Bürgermeister nur als städtische Autorität und älterer Gemahl der jungen Anna fungierte, die Anton später als verwitwete Frau heiratet. Anton ist Hohenstaufenabkömmling, ein Initialmotiv für den Roman war neben der Riesengestalt des Malers Anton Sixt (Crusius 11,242) das Motiv des falschen Kronprätendenten, hier des (falschen) Konradin bzw. Hohenstaufenabkömmlings, ein Sujet, das Arnim in Bezug auf die Brandenburgische Geschichte auch für sein Drama »Der echte und der falsche Waldemar« gereizt hat434 und das in der Dramenliteratur generell beliebt ist. Anton ist im 2. Band der »Kronenwächter« Sohn eines Grafen von Stock, dessen Stammvater wiederum ein unehelicher Sohn Konrads III. war, und einer Würzburger Schlossertochter. Crusius berichtet von einem Sticho oder Stock oder Stochilin, »so ein Schmied und bey Wurtzburg ... daheim war«, welcher von den Anhängern Konradins zum Anführer gewählt und in Deutschland für Konradin selbst gehalten wurde.435 Nur Anton, zusammen mit Susanne, ist in den Notizen des Nachtrags denn auch der Anwärter auf die wunderbare, mythische Krone. Bei Crusius findet sich übrigens auch die frühste Quelle und Anregung Arnims zur » I s a b e l l a von Ägypten«: »In eben selbigem Jahr 1418. kamen 14000 Zigeuner in die Schweitz, zwar elend bekleidet, doch zahlten sie alles baar aus: sie gaben vor, sie wären aus Aegypten ausgetrieben worden, und mueßten zur Busse sieben Jahr herum wandern; sie fuehrten sich als Christen auf, und kehrten nach sieben Jahren zurueck nach Hause: sie hatten eine Menge Gold und Geld bey sich. Unter ihrem Namen haben hernach viele schelmische Betrüger Rauberey getrieben.« 436 Von 14000 »Zeyginger« spricht auch eine Straßburger Quelle: »Sie sagten es mussten alle 7 jähr ein rott ausziehen und buss thun, dieweil sie Unser Liebe Frau nicht haben beherbergen wollen; sie waren aus Epiro, der gemein man nandts aus Egipten, die hatten gelds genug, zahlten alles, thaten niemandts kein leyd, zogen durch alle land. Ihr obristen nannte sich hertzog Michael«.437 Der Bürgermeister war im Anton-Roman offensichtlich nicht Hohenstaufe, auch kein Findelkind, sondern Angehöriger einer altehrwürdigen Bürgerfamilie, und er wird nicht in der Hohenstaufengruft von Lorch, sondern in der Bürgermeistergruft von Waiblingen beigesetzt, wo sämtliche Verstorbenen »dieses edlen Hauses« ruhen 145

(918). Auch ist das Bürgermeisterhaus offensichtlich nicht identisch mit dem Stauferpalast; Anton findet auf dem Boden des Hauses Fortunatusbeutel und Degen und »alte Pokale von des Bürgermeisters Ahnherren« (811). Die Konkurrenz in der Stauferabkunft zwischen Berthold, Anton und sogar Grünewald im 1. Band wirkt ohnehin nicht ganz originär. Abgesehen von den höheren leitenden Ideen, die von der Urfassung des Romans (Anton-Roman) zur Konzeption des Bertholdromans führten, bringen das Verlangen nach realistischerer Darstellung des bürgerlichen Zeitalters um 1500 und vor allem die Einbeziehung der bei Crusius gefundenen Bertholdgeschichte, die weitreichende symbolische Verhältnisse aufrief und das bisherige Konradin-Thema mit Hilfe des Palastmotivs als Stauferthematik in vielen symbolischen Fluchtlinien umfassender durchzuführen erlaubte, die neue Konzeption hervor: »In Wuertemberg haben die beede Gebrüder, Graf Ludwig und Ulrich am Donnerstag vor Fronleichnam an einen Burger zu Waiblingen, Nahmens Berchthold Mueßiggaenger (Aponus) dasjenige Hauß verkaufft, aus welchen der Kayser Fridericus Barbarossa entsprossen ware. Dieses Hauß stunde nahe bey dem Marckt zu Waiblingen, und hatte damahlen einen Garten und Scheuer hinter sich ... In diesem Hauß sollen die drey Leiber der Weisen aus Morgenland, welche das Christ-Kind beschenckt haben, ueber Nacht geblieben seyn, als sie aus der Stadt Mayland von dem Kayser Barbarossa in Teutschland geschickt worden.« 438 Der Berthold-Roman entsteht in der Übernahme einer großen Vielfalt bezeichnender und teilweise symbolisch ausstrahlender Motive aus Crusius und anderen Quellen und aus dem früheren Antonroman. Aus Barbarossapalast, Drei-Königs-Motiv (Kaisertum und Christentum), Bürger Berthold, der den Palast als bürgerliche Erwerbsbasis nutzt, aus der Adaption der in Schatz und Messer verwandelten Volksbuchmotive Fortunatussäcklein und Zauberdegen aus der Antongeschichte, daraus desgleichen in bedeutenderer Funktion die Faust-Gestalt, statt des Oswald der Einsiedler Anno als Namenspate für das Kind Bertholds, für den Sänger Güldenkamm den historisch beglaubigten Sänger Grünewald, dessen Geschichte aus dem »Rollwagenbüchlein« 1806 den Vorspann zum »Wunderhorn« bildete und die, in der Tuchweberstadt Augsburg spielend, zur Gestalt Fuggers und zur Tuchindustrie und politischen Bedeutung Augsburgs sich fügt: daraus und aus vielen anderen Einzelzügen, Adaptionen und Figuren bildet sich - wenn man überhaupt Konzeptionen nachzeich146

nen will - unter Zufügung der reich entfalteten Baumotivik, von der zu sprechen sein wird, der Maximiliangestalt mit der Martinswandsage, der Kronenburg unter Verwendung des Pfalzschloßliedes der »Päpstin Johanna« (die Pfalz erhöht z u m mythischen Motiv der gläsernen Burg 4 3 9 ) und des »Hausmärchens« in Entfaltung einer früheren Ballade Arnims »Staatsdichter« von Anfang 1806 4 4 0 der U m r i ß der neuen » Kronenwächter« -Erzählung. Die »Henrid-Fassung«.

Die Motive des doppelten Lebens und der

Heilung einer dreißigjährigen Krankheit und Schwäche durch Bluttransfusion sind mit großer Sicherheit erst in der endgültigen Fassung des Romans hinzugekommen. Eine bei Henrici 4 4 1 bezeugte Frühfassung des Bertholdromans kennt offensichtlich nicht das doppelte Leben und die ausgesparte Zwischenzeit der dreißigjährigen Krankheit. Die Ankündigung und zugehörige Handschriftenbeschreibung im Henrici-Katalog lautet: Die Kronenwächter. Eigh. Manuskript zu »Die Kronen wächter«. Es liegt hier, wie sich aus der Vergleichung der Handschrift mit dem gedruckten Werke ergiebt, der Urtext des Arnim'scben Romanes vor. Als Beweis dafür können die völligen Abweichungen dienen, die nicht nur die Titelüberschriften sondern die Darstellung der Ereignisse selbst, die Erzählungen, die Zwiegespräche, die eingestreuten Gedichte vor der Drucklegung eines späteren Manuskriptes gefunden haben. Wenn auch die Idee des Ganzen jederzeit aufrecht erhalten wurde, so sind doch zahlreiche Abänderungen und besonders Ausschaltungen der in kulturgeschichtlicher Richtung ursprünglich breiter angelegten Schilderungen in späterer Zeit vorgenommen. Verschiedene Aenderungen hat der Dichter durch Korrekturen und Streichungen bereits in diesem älteren Originaltexte angebracht. - Das ganze Manuskript umfaßt ca. 628 Seiten. Fol. (Lediglich 2 kleine Lücken sind zwischen Seite 274 und 275 sowie Seite 380-381 zu vermerken.) Die Kapitelgliederung dieser Fassung zeigt starke Abweichungen gegenüber Aufbau und Inhalt des vollendeten Romans. Sie lautet nach der Ankündigung im Katalog: Vorbereitung. - Weiblingen. - Erstes Buch. Erste Geschichte. Der Findling. - Zweyte Geschichte. Der Pallast des Barbarossa. - Dritte Geschichte. Die neugierigen Nonnen und die Gräfin. - Vierte Geschichte. Der Brunnen in Straßburg. - Fünfte Geschichte. Schloß Hohenstadt. - Einlage: Erklärung alter Glasgemälde in den Fenstern des großen Schloßsaales. Ein Mährchen. - Sechste Geschichte. Das Hausmährchen. - Zweytes Buch. Erste Geschichte (ohne Spezialtitel). - Es folgt: Dritte Geschichte. Herzog Ulrich. - Vierte Geschichte. Anton Seger. 147

Wir werden auf die Abweichungen im Fortgang der Überlegungen wiederholt zurückkommen. Zunächst aber zur Chronologie. Die Arbeitsphase um 1812 mit jener ersten Umarbeitung des Romans wahrscheinlich der Schritt vom Anton-Roman, den heutigen »Kronenwächter II«, zu der vorgeschalteten Berthold-Geschichte, der ersten Fassung des heutigen ersten Bandes der »Kronenwächter« - hat, wie zwei Briefe vom Juni 1812 andeuten, die kultur- und zeitgeschichtliche Ausweitung des Romanprojekts mit sich gebracht. 442 In der Endfassung wurde das Kulturgeschichtliche zugunsten der verstärkten Motiv- und Symbolstruktur und wegen der neuen Motive des doppelten Lebens und der Heilung durch Faust wieder eingeschränkt. Darauf verweist die Handschriftenbeschreibung bei Henrici ausdrücklich. Die Henrici-Fassung scheint die um 1812 entstandene erste Fassung des Bertholdromans zu sein. Daß es »sehr schwer bei einem Buche, das ich wie dieses eigentlich zweimal geschrieben habe«, sei, »aller Motive bewußt zu bleiben«, schreibt Arnim auch im Oktober 1817 an Wilhelm Grimm. 443 Er spielt damit auf die doppelte Niederschrift des Bertholdromans, zugleich auf die im Detail und in der knapp allusiven Manier tatsächlich komplizierte bis unübersichtliche Motivstruktur an, läßt also die vorgängige Niederschrift des Antonromans (die von dreifacher Genesis zu sprechen berechtigte) sogar unerwähnt. Die schwere, lebensbedrohende Krankheit des fünfunddreißigjährigen Arnim von April bis Mai 1816, die den Besuch der Freunde Wilhelm Grimm, Clemens Brentano und Friedrich Carl von Savigny veranlaßte, 444 kann Einfluß auf die Einführung des Krankheits- und Heilungsmotivs im Roman gehabt haben. Am Beginn der Genesung schreibt Arnim am 13.5.1816 an die Grimms, angeregt durch die Lektüre des Armen Heinrich, auch über Heilung und Reinigung durch Blut und sendet eine eigene Romanze über eine Blutheilung. 445 Die Todesnähe in der Krankheit bezeugt eine Eintragung in dem Frankfurter Taschenbuch, 446 die auch im Brief an Savigny vom 4.5.1816 anklingt: »An den Grenzen des Lebens verlassen uns die irdischen Sorgen milde, aber auch die irdischen Künste treten in Schatten«. 447 Den Freunden liest Arnim in Wiepersdorf aus dem Roman wohl in der ersten Juniwoche 1816 vor; 448 am 6.12.1816 teilt er den Grimms mit, daß er wieder an den »Kronenwächtern« schreibe, die im Februar 1817 in Satz gehen und im Juni 1817 erscheinen. 449 Mit dem undatierten Brief (nach Härtl vielleicht Sept. 1816) an Savigny, in dem Arnim um Vermittlung eines Verlegers für den Roman bittet, 148

sendet er »den Anfang« der »Kronenwächter«, »um ihn gelegentlich als Probe einem Verleger vorzuzeigen«. 4 5 0 Hier handelt es sich wohl um das »Erste Buch«, möglicherweise sogar noch in der bei Henrci bezeugten vorletzten Fassung: ernste Darstellung der älteren Zeit »gegen die Gewohnheit der Ritterromane«, erläutert der Brief. Die Einführung des Krankheits- und Heilungsmotivs und damit die Umstrukturierung des Romans hat Arnim also vielleicht erst im Herbst oder Winter 1816 vorgenommen. Die Andeutungen über den Inhalt des Romans in dem Brief an Savigny weisen nicht schlüssig auf die endgültige Fassung. Hier ist auch das erste und letzte Mal mit einer solchen (terminlichen) Bestimmtheit vom baldigen Erscheinen des zweiten Bandes die Rede. Die Henrici-Fassung, soweit sie vollendet war, hatte - abgesehen von der besonderen kosmischen Dimension der bedeutenden Eingangskapitel des ersten Buchs - eine bürgerliche Erfolgsgeschichte mit gleitender Integration des Bürgerhelden staufischer Abstammung in die politische und ritterliche Welt der Zeit realisiert. »Darstellung der Q u a l etwas Untergegangenes, wie die edle Zeit der Hohenstaufen, künstlich erhalten zu wollen, war eine Hauptabsicht bey dem Buche«, schreibt Arnim. »Mit der Reformazion, die alles das löst und löscht, werden die Ereignisse dem bürgerlichen Leben noch näher gerückt, das Lustige dämpft das Schrecklige, mehr noch der religiöse Sinn aller Bewegung«. Dies ist die offensichtlich noch nicht auf die End-, sondern auf die Henrici-Fassung bezogene einzige Charakterisierung des Romanplanes, die wir kennen. 451 Der zweite Band hätte nach diesem Konzept offenbar die Ablösung der Stauferherrlichkeit durch die säkularisierende und nivellierende Kraft der Reformation, »die alles das löst und löscht« (zugleich aber eine tiefe Religiosität stimuliert), samt Bildersturm, Bauernkrieg und anderem »Schreckligem« bringen sollen. Zur Konzeption des Bertholdromans vor der Einführung des Krankheitsmotivs und des doppelten Lebens gehörten wahrscheinlich bereits die folgenden Grundideen, die später modifiziert oder mit entgegengesetzter Wertung oder auch substanziell unverändert übernommen werden: 1. die Idee einer Darstellung der - bei aller » Q u a l « der Ablösung unabweisbaren »Kontinuität« von der Ritterzeit zum Bürgertum, vom Feudal- und Adelswesen zur Kapitalwirtschaft durch die Verwandlung des ideell-geistig konnotierten Stauferpalastes, der zudem die Leichname der Heiligen drei Könige 4 5 2 beherbergt hat, in eine der 149

Notdurft des Leibes dienende Tuchfabrik. Dieses Motiv, das Arnims, gerade auch unter dem Vorzeichen einer im christlich-protestantischen Sinn als säkularisiert begriffenen Welt gültigen, Idee der Verbindung von Geistigem und Wirklichem, von Himmel und Erde, Kirche und Staat und den theologisch-philosophischen Motiven der Inkarnation und der eschatologischen Präsenz sehr entgegenkam, fand er bereits in der Keimzelle des Bertholdromans, der Notiz bei Crusius II, S. 47: »In diesem Hauß (dem Barbarossa-Palast, den der Bürger Berthold kauft, U. R.) sollen die drey Leiber der Weisen aus Morgenland, welche das Christ-Kind beschenckt haben, ueber Nacht gebleiben seyn, als sie aus der Stadt Mayland von dem Kayser Barbarossa in Teutschland geschickt worden«. 453 2. die Adaption des Motivs der sowohl repressiv wie erzieherisch wirkenden Geheimgesellschaften und Freigerichte aus den Ritterromanen für die Gesellschaft der Kronen-Wächter. 3. die dualistische Ausdifferenzierung der Adels-, Kronenwächterund Kronenburgmotivik in politischer wie ideeller Hinsicht, wie sie in der Endstufe besonders deutlich in der Entgegensetzung von gläserner Kronenburg und Hohenstockebene gestaltet ist. Das führt tendenziell zu der (in der Endfassung gipfelnden) Transzendierung und Sinnausweitung des Symbolgehalts der Krone und erlaubt auf der anderen Seite, das irdisch-vitalistische Komplement zur Kronenburg in dem Naturparadies und dionysisch-teuflischen Lebenschaos des Hohenstockbereichs umso derber und sarkastischer darzustellen. Die hier repräsentierte Elementarebene wird wiederum durch die Glasfenster des Hausmärchens transzendiert. In der Henrici-Fassung, wo die kunstvollen Glasfenster (zweifellos ursprünglicher und einleuchtender) das positiv bewertete »Schloß Hohenstadt« (Annäherung von Adel und Bürgertum in Bertholds Erbe »Hohen«-«Stadt«?) zieren, ist die dualistische Polarisierung noch gemäßigt; vielleicht wird sogar auf politisch-gesellschaftlicher Realebene eine Vereinigung der Bereiche anvisiert. Man kann darüber spekulieren, ob das handlungsmäßig nur peripher und vielleicht erst sekundär integrierte Motiv der gläsernen Kronenburg bereits vorhanden war. Auf jeden Fall erwies sich die Übertragung der Glasfenstermotivik mit dem zentralen Hausmärchentext von dem Adelsschloß (Hohenstadt = Henrici-Fassung) auf den Bürgerbrunnen (»Bertholds erstes und zweites Leben«) als unabweisbare Konsequenz einer verstärkten Polarisierung der Bereiche. Das führte zugleich zur »Abwertung« von Hohenstadt zum irdisch150

naturhaften »Paradies« Hobenstock, in dem nicht zuletzt auch das Leben des Landadels karikiert ist. Ob der Brunnen in Straßburg bei Henrici schon mit den bösen Quellen und dem Brudermord bei Grundlegung des Münsters zu tun hat und wieweit die negativen Symbolimplikationen bei der Kirchengründung wie bei dem Brunnenbau in Waiblingen sich gegenseitig hervorgetrieben haben, darüber ist schwer etwas zu sagen, da nicht einmal der Sinn des Motivs »Der Brunnen in Straßburg« bekannt ist. Straßburg scheint stärker als heute auch Handlungszentrum im Roman gewesen zu sein. Aus Straßburg kommt mit dem Münsterbaumeister auch die »hohe Fremde«, Bertholds Mutter, nach Waiblingen. Vielleicht ist das hochgelegene ehemalige Stauferschloß Hohrappoltstein, bei Rappoltsweiler südlich von Straßburg an den Vogesen gelegen, ein ehemaliger Sitz der Herren von Rappoltstein, Vorbild von Hohenstadt bzw. Hohenstock. Der Name Graf Rappolt von Reichenthal in Bd. 2 (849), in Bd. 1 ebenfalls die Gestalt des Grafen Rappolt und die aus drei Schlössern bestehende Anlage (738) entsprechend den drei Ruinen über Rappoltsweiler (Hohrappoltstein, Ulrichsburg und Girsberg/Stein) könnten darauf verweisen. 4. Auch die Idee des Bauens, nicht ohne kritischen Bezug auf die Baumetaphorik der Freimauererbewegung, gehörte in begrenztem Rahmen sicher schon zum frühsten Konzept des Bertholdromans. Die Baumotivik hat im Roman ihren Ursprung in dem Umbau des Stauferpalastes zur Fabrikationsstätte bzw. zum bürgerlichen Wohnhaus. Dies ist im Kern bei Crusius enthalten. Arnim thematisiert dazu die gotische Bauweise454 und bezieht vielleicht bereits den schon in den überlieferten Quellen mythisierten Straßburger Münsterbau ein. Das Bauen bildet zusammen mit den anderen künstlerischen Tätigkeiten des Webens und Malens (Bertholds Vater, Anton) später ein mit der Kronensymbolik konkurrierendes Symbolgeflecht. Auch wohl erst in der Endfassung wird von Arnim zusätzlich ein Komplement und Kontrastmotiv zur babylonischen Bauidee im Motiv des »Sichanbauens« (Zuhause im Irdischen finden) und im Motiv der sinnlichästhetischen Gegenwart (Gestalt der hohen Fremden) zugefügt. Von da aus hätte der Roman in einen Künstlerroman einmünden können, der er unter weniger ambitioniert ideellem Konzept in seinem Ursprung (Anton-Roman) ja auch gewesen war. Hinzu tritt vielleicht ebenfalls bereits das in Arnims Dichtungen verbreitete dualistische Motiv der doppelten Mutter, der hohen bzw. 151

überirdischen Mutter und der irdischen Pflegemutter, ein Motiv, das wirkungsvoll mit dem Findlingsmotiv bzw. dem gnostisch gefärbten Aussetzungsmotiv verkoppelt ist. In der Gestalt der hohen Fremden wird dies in einen ideellen Gegensatz zur Baumeisterfigur gesetzt. Die Motivkonstellation verblaßt aber nach Erfüllung dieser Funktionen und nach der Wiedervereinigung von Mutter und Sohn völlig. Man tut im übrigen gut daran, sich vor Augen zu halten, in welch hohem Maße diese Vermutungen im einzelnen spekulativ sein können bzw. notwendig bleiben müssen, denn das Titelgerüst der Henrici-Fassung (ebenso wie die Titelfolge in der endgültigen Fassung) bildet in seinem Lakonismus nur einen sehr schwankenden Beweisgrund. So steht etwa keinesfalls fest, ob die Gestalt des Baumeisters überhaupt schon vorhanden war und ob man in der »Gräfin« in dieser Fassung schon Bertholds Mutter zu sehen hat. Arnims auffälliges Interesse für Straßburg (vgl. auch das später unterdrückte Kapitel »Der Brunnen in Straßburg«) und für gotische Baukunst455 um 1811 legt ersteres eher nahe.

Die kritische Kontrastierung der beiden Leben Der Roman bildet in der Endgestalt einen poetischen Argumentationszusammenhang höchst vielschichtiger und vieldeutiger Fügungen in Motiven, Bildern, Figuren, Szenen, Tableaus, Gedichten, Gesprächen und Erzählerreflexionen. Der Handlungs- und Geschehenszusammenhang dagegen ist einsträngig, einfach, biographisch. Wie sehr er selbst als Motiv- und Argumentationskomplex benutzt wird, beweist der höchst eigentümliche, gewaltsame, auch befremdliche und realistisch gesehen unzureichend motivierte Aufbau, der durch das Motiv des Ersten und zweiten Lebens geprägt ist. Der ersten Erzählphase, welche mit dem »Ersten Buch« die ersten fünfzehn Lebensjahre in einem knappen Drittel des Romans umgreift, folgt eine zweite, sich über zwei Drittel des Romans erstreckende Erzählphase, welche die zwei letzten Lebensjahre Bertholds, der etwa im 47. Lebensjahr stirbt, umfaßt. Auf die dreißig dazwischenliegenden Jahre der Schwäche und Krankheit Bertholds, in der er gleichwohl die höchste Ehrenstelle des Bürgermeisteramtes und mit dem wirtschaftlichen Erfolg seiner Tuchfabrik ein weithin wirkendes Ansehen der Stadt Waiblingen erreicht (604), wird auf wenigen Seiten in sparsamen 152

Rückblicken nur thematisch-motivisch reflektiert, ein Zeichen für das Uberwiegen und den Vorrang der Motivstruktur des Werks vor Kontinuitätsgesichtspunkten und dem Nexus psychologisch-realistischer Handlungszusammenhänge. Die Einführung des Krankheits- und Heilungsmotivs bewirkt die entscheidende Umstrukturierung des Romans und bringt durchgängige Zweideutigkeit und kritische Polyperspektivität in alles Geschehen und Handeln. Dies geschieht nicht subjektiv durch Erzählhaltung und Erzählerwertung, und so kommt es - entsprechend der poetischen Argumentation in Bildern und Motiven - zu der objektiven und realistisch ernsten, aber zugleich hintergründigen, objektiv-ironischen bis sarkastischen Darstellungsweise der >harten Fügungenzusammengedrängtüber die Erde hinausc in solch expressiven Darstellungen, metaphysisch-pathetischen Vokabeln und Metaphern, mit symbolischen Motivstrukturen inszeniert Arnim Eingang und Ausgang des Berthold-Lebens und die mythisch bedeutenden Ereignisse der Jugendgeschichte. Er kennzeichnet dadurch das Schicksal Bertholds weniger als Figur einer außerordentlichen apokalyptischen Geschichtsepoche als vielmehr als Typos der dramatisch akzentuierten Erdensituation des Menschen, der aus einem anderen Bereich herkommt und dahin zurückgeht und nur schwer seine wahre Bestimmung, die Krone, das ihm angemessene Haus und die ersehnte »Gegenwart« findet. Nicht zuletzt prägt sich die Bewegung des Ausgreifens in transzendenten Bereich in den Motivkonstellationen aus. Das Absolutheitsstreben des Münsterbaumeisters und in paradoxem Gegensatz dazu die nächtliche Entrücktheit der hohen Fremden, Bertholds Mutter, das Kunststreben des Vaters in den symbolischen Teppichen, die thematisierte Vorläufigkeit des Tuns in der Erziehungsphase des jungen Berthold und vor allem die geistige Uberwelt der Hohenstaufenburg und der Dreikönigsmotivik zeugen davon. Die Kunst spielt deshalb im Roman eine nicht untergeordnete Rolle; die Wahrheit erscheint in ihr in der Form der Entzogenheit und Abwesenheit bzw. der Utopie - dies entspricht der Ästhetik des Elegischen, wie wir früher sahen. Auch die zentralen Bildmotive, das gläserne Paradiesbild der phantasmagorisch entrückten, unsichtbar sichtbaren Kronenburg wie auch die Krone selbst, die »die Eigenschaft zu verschwinden (hat), wenn ein Böser sie tragen will« (1045) sind schon für sich selbst Symbole dieser abwesenden Anwesenheit bzw. eschatologischen Gegenwart. Im Medium der Kunst kommen die zentralen Symbole am intensivsten zur Erscheinung, so in den kunstvollen Teppichwebereien (mit Rückgriff auf Rungesche Motivik) des Vaters von Berthold, deren irdisches Komplement die industriellen Tuchwebereien des Sohnes darstellen; jedoch auch unmittelbar in den 188

Visionen einsamer Einzelner, auf der Jagd oder verstiegen in der Martinswand: »Die Zeit sich in Zorn verzehrt«, die »ewig zur Höhe suchet die Bahn«, »Sie findet für ihren Triumphwagen keine Straße, / Sie treibet rastlos umher in bitterm Hasse«, doch der Einzelne findet »den Fußsteig / Zum himmlischen Reich« - so wird unter Ablehnung von Geschichtsphilosophie der Widerstreit zwischen dem allgemeinen Gang der Geschichte und geistigen Intentionen des Einzelnen, etwa der »Arbeit des Geistes auf seinem unsichtbaren Felde« in der »Einsamkeit der Dichtung« (517f.), in der »Päpstin Johanna« ausgesprochen. 503 Die »Kronenwächter«-Einleitung handelt generell davon. Auch andere Motivkomplexe erscheinen in solch »metaphysischer« Dimensionierung. Schloß Hohenstock ist als irdisches »Natur«-Paradies gestaltet mit aller Fülle und Chaotik einer nur naturhaft-vegetativen Wirklichkeit, als eine irdische Welt im Kleinen, die aus einem unendlichen Sumpfe wie aus dem kosmischen Nichts emporsteigt und nur über einen Damm zugänglich ist, an dem der Teufel mitgebaut hat. Gut gnostisch ist das physische Sein eine äußerste Emanation aus der geistigen Substanz und wird vom Demiurgen oder Teufel beherrscht. Die irdische Behaglichkeit und der unwiderstehliche Reiz, sich dort anzusiedeln, »indem solche wunderbare Liebe für diesen wunderbarsten Fleck der Erde entstand, daß jeder ihn allein und einzig zu besitzen trachtete« (748), kennzeichnen Hohenstock als den irdischen Gegenpol zur geistigen Krone, wegen der ebenfalls alle »Brüder« in »Streit« geraten. Die Menschen sind in diesem »Paradies« (745) »wie die Kinder geblieben« (749), sie leben rein animalisch-naturhaft, aber in wunderbarer Ubereinstimmung mit Jahreszeiten und Natur: »das Jahr ist uns eine Tat, die uns vom Beginnen bis zum Schluß unter Arbeit und Festen an sich fesselt, als gehörten wir notwendig zur Welt, ja wir fühlen uns Mitschöpfer und Mitgeschaffene zugleich« (748). Die Immananz der Natur nivelliert die Distanz von Schöpfer und Geschöpf und verhindert eine geistige Haltung zur Welt als zu einem Gegebenen, von der der Mensch nichts mitnimmt »in jene Welt, als die Einsicht und den Glauben, den er auf ihr gewonnen« (549). M O T I V I K D E S B A U E N S , SICHANBAUENS, W O H N E N S . ZU d e n G r u n d -

lagen der Romankonzeption gehört neben dem politischen und ideellen Motiv der Krone, das in Richtung auf Höhe, Einheit, Transzendenz fungiert, das Motiv des historischen Stauferpalastes in der ehemaligen Hauptstadt der Staufer Waiblingen, der der Uberlieferung 189

nach die Reliquien der Heiligen drei Könige auf ihrer Überführung von Mailand nach Köln beherbergt haben soll, und seiner Umwandlung in eine industrielle Tuchweberei im Zeitalter des erstarkenden Bürgertums um die Wende zum 16. Jahrhundert. Dieser Motivkomplex um den historisch, genealogisch und religiös derart ausgezeichneten Palast und die Tuchweberei bzw. das Wohnhaus Bertholds fungiert einerseits im Gegensatz zum Kronenmotiv in Richtung auf irdische Befestigung, Wohnen, Geschichte und Wandel, andererseits mit seiner herrscherlichen und heiligen Aura in Konkurrenz und Ergänzung zum Kronenmotiv in Richtung auf Transzendenz, Uberwindung des Irdischen, ewige Dauer. In seiner ersten Sinnrichtung sind deshalb auch die Motive von Schatz und Messer, später das des Brunnens und das vermittelnde der Haus-Kapelle zugeordnet. Berthold führt, ebenfalls ein vermittelndes Motiv, seine wiedergefundene Mutter - die »hohe Fremde« - in sein sicheres Haus, »das er zu irdisch ewiger Dauer begründet und auferbaut habe« (589). Weitere Motive wie Ehe und Taufe, das religiös erhöhende Giebelbild der Madonna, die zugleich die Hausfrau abbildet, die Gabe des mythischen Barbarossa und Heiligen Königs der Weihnachtsgeschichte, die zugleich reales Unternehmenskapital ist, dazu fast alle Anstrengungen Bertholds und Vorgänge bei der Familiengründung und Befestigung des Familiären zielen in ihrem geistigen Sinn letztlich auf den Versuch einer Vermittlung zweier Bereiche, die man abkürzend als den idealen und den irdischen bezeichnen kann. In dem Gelingen einer solchen Vermittlung, auf die eine Hauptbewegung des Romans stets gerichtet ist, wenn »Alltägliches und Sonntägliches, Haus und Kirche aus einem Stück gebildet« und »das Himmlische ... noch nicht so weit der Erde entrückt« ist, vielmehr »vertraulich unter den Wahrhaften wohnt« (591), scheint das Heil zu liegen. Das Kronenmotiv hat darüber hinaus, eingeschlossen alle politischen und anthropologischen Sinnvalenzen, natürlich vielfach integrale Bedeutung und steht zuletzt für eine eschatologische »Einheit« bzw. neue Bezogenheit von Irdischem und Himmlischem, Zeitlichem und Ewigem. Die Bedeutung des Bau- und Hausmotivs für den Roman ist offensichtlich. Auch die Zeitgenossen haben dies bemerkt; so teilt Bettina am 18.6.1820 ihrem Mann launig mit, daß auch »Schinkel mir letzt gesagt hat, er sähe sich gezwungen es (Arnims Buch, U. R.) auch zu lesen, indem ihm die Leute sagen, daß seine ganze Basis auf der Architektur beruhe«. 504 Arnim bemüht sich schon nach dem fünf190

tägigen Straßburgaufenthalt im November 1811 um »ältere Bücher über Architektur und darin gothische Baupläne«, er habe aus einem Buch »merkwürdige Aufschlüsse über die Gesetze derselben entdeckt«, 505 und er besucht im Oktober 1811 den »Hundeshagenschen« Palast, der ihm dennoch »wenig Aufklärendes über die Bauart seiner Zeit« gewährt. 506 Allerdings stand sein Name bereits an 17. Stelle (Mai 1810; Freiherr von Arnim, zu Berlin, 1 Ex. extrafein) im Subskribentenverzeichnis des 1810 im Berliner »Pantheon« angekündigten, 507 aber erst 1814 erschienenen Werkes von Β. H . Hundeshagen: »Des großen Kaisers Friedrichs I. Barbarossa Palast in der Burg zu Gelnhausen. Eine architektonische Urkunde vom Adel der zu Hohenstaufen so wie von der schönen Bildung ihrer Zeit«. »Einzig, wie das Lied der Nibelungen, ohnegleichen wie Erwins von Steinbach Münsterthurm«, hatte es in der Ankündigung geheißen. Zwischen Palast und Krone gibt es mancherlei direkte und indirekte Motivkorrespondenz. Der Palast seines Romans war Kaiserpfalz und barg den Sarg der »drei hochehrwürdigen Männer mit Kronen«, der drei Weisen aus dem Morgenland (538). Die künstliche Weberei von Bertholds Vater bildet das geistige Reich von Kronenburg und Krone ab und hat antithetische Referenz auf Bertholds Tuchindustrie, die des Leibes Notdurft dient. Die mannigfache Symbolik des.Bauens, die menschliche Urtätigkeit beschreibt, zielt in einer Richtung auf das Hohe und Absolute, auf Transzendenz und Unendlichkeit; in dieser Hinsicht ist sie vor allem durch die (Frei)Maurerbewegung mit ihren Ideen vom »templum humanitatis«, 508 vom Weltgebäude, 509 der mittelalterlichen Dombaugenossenschaft, dem Motiv vom babylonischen Turm usf. ausgebildet. Sie zielt bei Arnim andererseits auf das irdische Haus, auf Wohnen, Sichanbauen, auf das Umschließende, auf Gewölbe und Kapelle, auch auf den Himmel als Gewölbe usf. Beide Symbolrichtungen verfolgt Arnim in dem Motiv des Münsterbaus und in der anachronistisch eingesetzten Gestalt des Baumeisters Erwin von Steinbach, ebenfalls in der Opposition von Gewölbe und hölzerner Flachdecke, in dem Palastmotiv und vor allem dem Umbau des Königs- und Adelspalastes zur bürgerlichen Tuchfabrik, in dem Motiv der Kapelle, die an dem O r t der »Verkündigung« seines Kindes von Berthold rechtzeitig zur Taufe errichtet wird, und in dem bedeutsamen, ja zentralen Kapellenmotiv im »Hausmärchen«. Hinter dem dreifachen Modell dieser Kapelle - dem »Bau vieler Bienen«, dem Naturbau der Ro191

senhiitte und dem steinernen Kirchenbau mit der Wölbung aus Granit 510 steht die Idee eines christlichen Staates und einer utopischen Vereinigung aller Bereiche zu einer Welt als Kirche: »eine wunderbare Kapelle ..., die aus hochstämmigen, weißblühenden Rosenbüschen geflochten, von Efeu umrankt, ein Kreuz über der Erde bildete« (698). Dem heldischen Erlöserkind des »Hausmärchens« zeigt der Einsiedler »früh, wie das Bestehen des Glaubens vom Wohl der Staaten abhänge, denn seit der allgemeinen Verwirrung sei kein Stein zum Bau der Kirche angefahren worden« (708). Nach dem Sieg über Attila (Napoleon) ist jedoch der ersehnte Zustand erreicht: »Das Land war frei, der König weise, die Kirche wurde vollendet« (709). In der »Päpstin Johanna« taucht das analoge Motiv in der Pfalzschloßballade auf, die verändert in die »Kronenwächter« übernommen ist. 511 Ebenso ist die Idee einer christlichen Welt in der Schlußapotheose der »Päpstin Johanna« durch die Versöhnung von Kaisertum und Papsttum und in der symbolisch gedeuteten Hochzeit der Johanna mit dem Pfalzgrafen ausgebildet, was seine Entsprechung in der Vereinigung von Stauferpalast und Dreikönigsmotiv in den »Kronenwächtern« findet. Neben der zentralen Symbolik des Kirchenbaus im »Hausmärchen« ist die Thematik des Bauens am anspruchsvollsten durchgeführt anhand der komplexen Motivik um den Bau des Straßburger Münsters, zu der Arnim viel ältere Literatur zu Rate zog. 512 Hierbei läßt sich in der Konstellation der Figuren des Baumeisters (Erwin von Steinbach) und der »hohen Fremden«, der unbekannten fürstlichen Mutter des ausgesetzten Findlings Berthold, eine sehr bedeutungsvolle thematische Antithetik erkennen, die wiederum - wie es scheint - auf niederer Ebene präludierend in dem Gegensatz von Baumeister (Maurer) und Zimmermann am Anfang der Szenenfolge antizipiert wird. Die Baumeister beschäftigen sich gern »mit weitaussehenden Dingen«, während sich die Zimmerleute, »brave, starke, entschlossene Leute«, mit »richtigem Augenmaß« und »Sicherheit«, nur mit dem abgeben, »was eben zu tun not ist«; »sie sind zu allen Zeiten gerecht, doch zornig befunden worden«. Das Werk der Zimmerleute ist für die Gegenwart gedacht, schnell angefangen und gerichtet und rasch vom Feuer zerstört, »denn das Feuer ist ihrer Werke unversöhnlicher Feind«. Sie wegen dieser »Vergänglichkeit« und Gegenwartsbezogenheit »ganz zu vertilgen«, daran arbeiten »wir Maurer«, »doch hat dies 192

große Hindernisse und wir müssen uns den Babylonischen Turm noch immer vorwerfen lassen« (561), so erklärt der Baumeister. Die Maurer arbeiten für die Ewigkeit und gegen die Zeit, ihre Werke sollen gegen »Feuerzerstörung« (Vergänglichkeit) unangreifbar dastehen, »wie der Himmel des Menschen Lästerung über sich hinziehen« läßt nach der alten, emblematischen Vorstellung. 513 Eine Art Transformation und Vollendung (600) der Erde und Wirklichkeit in Dauer, Unzerstörbarkeit, Zeitunabhängigkeit, Kunst ist die Idee der »Maurer«, dazu arbeiten sie »mit Erzeugnissen der ersten reinen Schöpfung, mit Steinen und gebrannten Erden«. Diese Arbeit, die kein einzelner (sondern gleichsam die Menschheit) tut, fordert Jahrhunderte, aber »dauert Jahrtausende«: »Wir lassen uns nicht durch die Erscheinungen des Tages irremachen« (561). In solcher Verachtung der Gegenwart, Geschichtlichkeit, Erscheinung - als »des farbigen Flitterstaats der vergänglichen Welt (69) - steht der ernst und wie durch eine Last gezwungen gezeichnete Baumeister gleichsam als figura nicht endender Auseinandersetzung mit den Zimmerern und ihren vergänglichen Werken. Aus dem gleichen Grunde steht er in einem ständigen Disput und Kampf mit der befreundeten und angebeteten »hohen Fremden«, deren Wesen und Auftreten Erscheinung, Glanz, Gegenwart, Güte bezeichnet und verwirklicht. In ihr ist - in ähnlich prinzipieller Weise wie in Goethes »Natürlicher Tochter« - das Thema Erscheinung und Erscheinen, der Glanz des Gegenwärtigen, der Verzicht auf das Verewigen, Befestigen, Sichern, auf den »Besitz« der Ewigkeit gestaltet. Das bedeutet zweifellos kein sinnliches Aufgehen im Augenblick, sondern hat etwas von dem eschatologischen Geist der Freiheit von Sorge, der in dem Wort von den Lilien auf dem Felde ausgesprochen ist. Daß solche Gegenwart bei allem Glanz und aller konkreten Augenblicksbezogenheit eine unverfügbare und, faktisch und vielleicht sogar prinzipiell, entzogene ist, darauf deutet das Motiv, daß die edle Frau den Tag meidet und nur nachts in all ihrer Präsenz und Feier da ist, weil sie ein Gelübde abgelegt hat, »das Antlitz der Sonne nie aus Absicht wieder zu sehen«, nachdem sie den Mann und den Sohn am gleichen Tage verloren habe (569) - »bis (sie ihren) Sohn wiederfinde« (582). Mit einem tiefsinnigen gnostischen Motiv wird »Neugier« - das »gierige« Herbeiziehen von Nähe und Gegenwart und das Entschleiern der »Geheimnisse«, die noch jetzt ihre »einzige Freude auf Erden« sind (569) - als der Grund genannt, weshalb sie das Unglück traf und 193

sie »dem Tageslicht entsagt(e)« (582). Es bereitet dem Baumeister, der betont ans Fenster tritt, »als ob er die Adspekten der Sterne belauern wollte«, ausgesprochene Verlegenheit, wie die Frau in silbernem Waschbecken mit wohlriechendem Wasser und Handtuch, das mit Spitzen besetzt war, Gegenwart und ästhetischen Glanz gleichsam zelebriert, wo er mit Jahrtausendwerken im Geiste beschäftigt ist und in Dimensionen der Sternkonstellationen lebt (570). Die Gegenwarts- und Augenblicksbezogenheit der Gräfin ist in ihrer Aufmerksamkeit auf die sinnlich-ästhetische Erscheinung der Menschen und Dinge ihrer Umgebung und in der gebieterischen Forderung nach ästhetischer Beschaffenheit und sogar kostbarem Glanz der sie umgebenden Welt ausführlich charakterisiert, sie hält die Mitte und lebt von der Mitte der sinnlichen Erscheinung, wo der Prior mit roten Augen »ins Himmelreich und ins Glas« schauend (571) sich in den Extremen von Sinnlichkeit und Geist bewegt. Daß ihr, obwohl der Phantasie nach von Rittern und Heldentaten »fabelnd«, »ein stiller Spinner und Weber« (572) als Mann zuteil wird, ein Künstler aus Hohenstaufengeschlecht, der in Teppichen idealische Motive verwebt, bezeugt die Affinität zu Kunst und Erscheinung bei dieser edlen Frau. Sein erster Teppich, von gleichsam Rungescher Erfindung, 514 umgreift in seiner wundersamen Symbolik das Wesen dieser Künstlerexistenz (573). Der zweite fügt das Motiv der Liebe hinzu und den Versuch, mit dieser Doppelheit von Kunst und Liebe die Krone (der Kronenburg) zu erwerben und damit seinen Frieden mit dem Kaiser, mit der wirklichen Welt, zu machen (574f.). Mit dieser Auszeichnung gelangt er in die Region der »hohen Luft«, der Weglosigkeit, der Sterne (576f.), »zwischen Himmel und Wasser« schwebend (577). Und tatsächlich ist er, der Künstler, als einziger in dem gesamten Roman gewürdigt, nicht nur die Wirklichkeit der transzendenten Sphäre der Kronenburg, sondern deren ganze Wahrheit in traumhaft symbolischen Bildern zu erfahren, nämlich als Paradieseswirklichkeit, bezeichnet unter anderem durch das Einheitssymbol der Sonne auf dem Wasser und dem Widerschein der Sterne im See, »ein freudiger, wundervoller Teppich, wie er ihn oft in seiner Weberei ersonnen und doch nicht ganz erreicht hatte« (577). Damit ist die Kronenburg (und Krone) unmißverständlich der Kunst und dem Künstler zugeordnet, jedenfalls wesentlicher und in solcher Ausdrücklichkeit eindeutiger als jedem anderen Bereich bzw. jeder anderen Person, von all denen, die wie der Kaiser oder die Brüder 194

Anton und Konrad, ihr nahegekommen sind 515 oder - auf welche Weise immer - auf ihr gelebt haben. Dies ist zweifellos ein Vorklang eines Zweiten Teils, der - zumindest dem lange durchgehaltenen Plan nach - den Künstler Anton als wahren geistigen Erben des kunstsinnigen Ritters der »hohen Fremden« und die Kunst oder ihre Inhalte als einen der Zugänge zu jenem Ideal der »Krone« offenbart hätte. Der »schmale Felsensteig« (578) erinnert an den »Fußsteig« des Einzelnen in dem symbolisch bedeutsamen Lied beim Abstieg vom Berge in der »Päpstin Johanna«, wo »die Zeit sich in Zorn verzehrt. / Sie findet für ihren Triumphwagen keine Straße, / Sie treibet rastlos umher in bitterm Hasse, / Wir aber finden den Fußsteig / Zum himmlischen Reich«. 516 Der Einzelne findet hier den Weg, den Zeit und Geschichte als ganze (die Gott zu einem ewigen, irdisch nicht erkennbaren Ziele lenkt, wie die Kronenwächtereinleitung bedeutet) nicht zu eröffnen vermögen. Das akzentuierte Motiv der schicksalhaften Wahl zwischen dem Kind und der Krone und die Entscheidung, vor jeder bewußten Wahl, gegen das Kind deuten zweifellos auf den unvermittelbaren Hiat zwischen Kunst und Leben, der das Defizit dieser Annäherung an die Krone bezeichnet. Natürlich gilt bei Arnim auch (und gerade) dem Künstler das Leben ungleich mehr als die Kunst, die dessen Derivat und Ausdruck ist. So hätte er »mit seinem Leben ... das Kind errettet, denn was war ihm die Krone?« (580). Entsprechend war seiner Braut, der »hohen Fremden«, in ihrer präsentischen Existenz »ein Blumenkranz, den er mir mitbrachte, ... lieber als die berühmte Krone« (581). Denn sie lebt einer Wirklichkeit, deren Behauptung den Baumeister »kränkt«: »Kein Werk ist zu niedrig, das mit Liebe getan wird, und die Magd, welche in emsiger Häuslichkeit den Stall reinigte, wo unser Herr geboren ward, tat ihm mehr zuliebe, als Fürsten und Völker jetzt vermögen, die ihm Kirchen zum Himmel erheben ....« (574). Die bedeutenden theologischen und philosophischen Implikationen dieses Satzes, die an die zentralen Worte der »Einleitung« gemahnen und die Vorstellung jener »neuen Kunst« assoziieren, die möglich wird, wenn »Alltägliches und Sonntägliches, ... Haus und Kirche aus einem Stück gebildet sein« werden (591), bedürfen nach dem Gesagten keiner weiteren Auslegung. Selbst die kapitalistische Erfolgsgeschichte Bertholds sieht die »hohe Fremde« prophezeiend in einer wundersamen Konkretheit und Bedeutung voraus: »Und dieser Johannes mit dem Lamm, will es scheren, um daraus Tücher für die ganze Welt zu verfertigen« (571). Dies 195

dementiert die Worte des Prior: »nur schade, daß all die schönen Säle (des Palastes) zu weltlichem Gerümpel dienen sollen, denn was ist das Kleid des Menschen wert, wenn er selbst nur ein Madensack 517 ist, Euer feinstes Tuch ist nur ein Ubersack des Madensacks« (563). Die Heirat mit dem Baumeister, die eine mögliche Vermittlung der so extrem geschiedenen Bereiche signalisiert hätte, wird von der Gräfin zurückgewiesen. Der wiedergefundene Sohn gibt die in die Nacht exilierte hohe Mutter dem Lichte (der tableauhaft feurig aufgehenden Sonne) wieder. Ihr Verständnis von Wirklichkeit als augenblickshafter Begegnung zwischen Erscheinung und Auge, Subjekt und Welt spricht aus den Worten, mit denen sie auf Knien die Sonne anruft: »Ich darf dich wieder sehen, du scheinst in zwei Augen, die ich zu deinem Licht geboren« (586). Eine Gesinnung jenseits jeden Besitzdenkens bezeugen die Worte, mit denen sie die Erbdiamanten dahingibt: sie besitze »Diamanten von reinerem Wasser in den Freudentränen, die (sie) weine« (587). Eine tiefsinnige Antwort des Baumeisters, nachdem sie ihn als den »Verstand« angeredet hat, der sie nun nicht mehr »ungütig« ansehen werde, kennzeichnet das Disparate wie zugleich die Berührung der extremen Welten und bezeugt seine Unterwerfung: »Der höchste Verstand ist die Güte; wo die mir noch fehlt, da bin ich ein unverständiger Geselle, diesmal aber meine ich doch etwas zusammengeführt zu haben mit Verstand, dessen sich die höchste Güte nicht zu schämen brauchte« (586). Nicht nur der Anklang an das Hohelied der Liebe 1. Kor. 13,1—25IS erhellt die Bedeutung der Rede wie die des Gegensatzes der beiden Figuren. Die Motive der komplementären Bezüglichkeit von Himmel und Erde, Sonne und Wasser in der Kronenburgvision und die Philosophie der Erscheinung in dem Leben der »hohen Fremden« verbinden sich in dem begeisterten Schlußtableau der »Fünften Geschichte«, die der Baukunst gewidmet ist. Im Gegensatz zur Geschlossenheit der antiken Flachdecke 519 scheint unter dem Steingewölbe »des Himmels Gewölbe mit Sternenglanz und Ätherschein sich erst zu erheben«, »und der Schall des Chors verklärte sich so wunderbar in dem Gewölbe, daß (die Äbtissin) erschrak, als ob noch ein andrer Chor von obenher einstimme. ... da riß Begeisterung die ungläubigen Scharen an den Haaren empor, daß sie zwischen Himmel und Erde schwebend, ein unerschöpfliches Gloria der heiligen Baukunst erschallen ließen« (566). Die umfassendste Bedeutung hat zweifellos das Bauen »nach oben« - im Sinne der absoluten Vervollkommnung des Irdischen und 196

Menschlichen - im Umfeld des Straßburger-Münster-Komplexes. Wir sahen bereits, daß die Intention des Baumeisters, die die Idee der »Maurer« repräsentiert, auf eine Transformation des Vergänglichen und Geschichtlichen in einen Status der Zeitunabhängigkeit und Unzerstörbarkeit, letztlich in die Zeitüberlegenheit und Ewigkeit der Kunst oder der Metaphysik zielt. Konkurriert schon dadurch die Motivik partiell mit dem Symbolbereich der Kronenburg, so verstärkt sich dies durch die Parallelität des Bruderstreit-Motivs: wo es um das Höchste, den umfassendsten Sinn, um das Heil des einzelnen Menschen und der Menschheit geht, da besteht keine Einigkeit. Auf verschiedenen Ebenen und in mannigfachen Zusammenhängen durchzieht dieses Streit- und Konkurrenz-Motiv den Roman. In Bezug auf das irdisch reiche »Paradies« Hohenstock pflanzte der Teufel »zur Mitgabe Zank und Streit in dieses Geschlecht ..., indem solche wunderbare Liebe für diesen wunderbarsten Fleck der Erde entstand, daß jeder ihn allein und einzig zu besitzen trachtete« (748), was unmittelbar in der unbeherrschten Streitsucht Konrads zum Ausdruck kommt. Berthold sieht sich durch Anton schließlich auch von »dem Mißgeschicke (seines) Stammes« ergriffen (775), der »seit Jahrhunderten zwischen der Hoffnung unerreichbarer Herrlichkeit und der Furcht eines gewaltsamen Sturzes ohne Boden, ohne Himmel schmachtet« (586), und erst in der Todesruhe der Hohenstaufengruft glaubt er Erlösung: »hier ist brüderliche Einigkeit, hier verfolgen sie die Ihren nicht mehr«, wobei sowohl die Universalität des brüderlichen Strebens und der paradoxe Antagonismus von Brüderlichkeit und konkurrierender Heilssuche wie die zentrale Ausrichtung auf das »Heil«, auf die »Krone« des Lebens hier deutlich zum Ausdruck gebracht ist, denn »freilich, alle Menschen sollen Brüder sein, wenn sie es nur wären«, doch »sie wollen gern alle beisammen sein jenseits der Erde, darum nur lassen sie den Ihren keine Ruhe auf Erden« (779). Auch die Konkurrenz des Hohenstaufen- und Weifenstammes hat jenseits der dualistischen Färbung dieses Widerstreits520 seinen Grund in der geschichtsbeherrschenden Agonistik der Menschheit auf allen Ebenen, gerade auch dort - angelegt so schon in Kains Brudermord 521 - wo es um die höchsten Ideen und Ziele geht. Auf Kain und Abel scheint angespielt, wenn das Fortstoßen »von der lieben Gnadenstelle«, wo der »heiige Arm« des Bischofs den Grundstein des Kirchenbaus gelegt hat, Ursache des Brudermordes 522 ist (598). Extremer Ausdruck der Agonistik ist unter anderem der Terror des Kronen197

wächterbundes mit seinen unbedenklichen Mitteln des Verrats, des Mords, der Drohung und der Verfolgung. Ausdruck der höchsten Ideen und Ziele ist neben der Krone und Kronenburg das himmelstürmende Bauwerk des Münsters. Auch der Mythos vom babylonischen Turm (567), den sich die Maurer »noch immer vorwerfen lassen« müssen (561), illustriert das Hybride des dennoch unabweislichen Strebens, den Streit der Sprachen 523 um das rechte Wort, den Zwist um den wahren Bau und die gemeinsame Tat sowie den Mangel an rechtem Fundament in der Zuordnung von Höhe und Tiefe, Erde und Himmel. »Es ist doch seltsam ..., daß bei allen großen Bauten immer große Streitigkeiten ausgebrochen sind«, räsonniert der Prior (567). Die Beziehung der »hohen Fremden« auf den Baumeister wird innerhalb komplexer symbolischer Konstellationen und Anspielungen noch einmal dadurch hervorgehoben, daß beide an demselben Tage sterben, die Gräfin mit Bezug auf den Fronleichnamstag als ihren Todestag, der Baumeister auf der einsamen Höhe des vollendeten Münsterturmes, wie er vor dem Marienbilde 524 auf der Spitze des Knopfes »die Hände rang und beten wollte, aber immer wieder die Hände rang, weil er sie nicht falten konnte« (600); dort sah er »am Morgen so grau aus vor dem Marienbilde, als wäre er auch von Stein, doch kniete er noch lange davor, und die Leute erzählten, er sei wohl (von den Blitzen, U.R.) zu Asche verbrannt. Allmählich hat ihn der Regen heruntergewaschen, es ist nichts mehr von ihm zu sehen« (602). Stellt sich das Ende des Baumeisters als schreckliches Gericht über sein ganzes Tun und die gesamten Meinungen seines Lebens dar, so ist die Mutter Bertholds, die sich einer »zeitraubenden Frömmigkeit« hingegeben und im Kloster gelebt hatte (603f.), offenbar im Segen der göttlichen Gnade gestorben. Der Baumeister hatte an jenem Tage die Spitze des rechten Münsterturms erstiegen und mit einer Fahne, die ein bisher verdecktes Marienbild umhüllte, unzählige Flugblätter mit einem vielstrophigen Gedicht vom Bau des Münsters, eine Rechenschaft seines Unterfangens und Eingeständnis seines Scheiterns, herabgeworfen. Die Vieldeutigkeit dieses Selbstgerichts, das ihn, der Dauer, Unzerstôrbarkéit und Ewigkeit erstrebte, zu Asche und stofflicher Anonymität, buchstäblich zu Nichts zernichtete, geht allein schon daraus hervor, daß die erreichte Vollendung als der Grund von Uberdruß und Scheitern bezeichnet wird. Und wie ein spätes Eingeständnis der Unterwerfung unter die längst erfahrene, wirklich 198

transzendente Instanz, stellt die verzweifelte Gebärde des Händeringens vor dem erst jetzt sichtbar gemachten Marienbild die menschliche Selbstbehauptung im Bauen, Verewigen, Erkennen und in der Kunst selbst in Frage und klagt die Uberheiligung »mit vollendeter, ewiger Bestimmung« (519) im Gegensatz zur Demut vor der eschatologischen Zeichenhaftigkeit der Welt vor sich selbst an. Tatsächlich scheint die Faustgestalt bei Arnim in zwei entgegengesetzte Figuren, den über alles Irdische hinausdrängenden Baumeister und den die irdischen Potenzen frevelhaft magisch benutzenden Quacksalber und Arzt, aufgespalten. Enttäuschende Vollendung, die nicht genügt, weil sie das Unrealisierbare in endlicher Weise realisiert hat und die stets transzendierende »Sehnsucht nicht mehr stillet« (599), das ist über den allgemeinen Charakter der Vorstellung hinaus romantische Position, wie sie hinsichtlich der Offenheit und Unabschließbarkeit des Wirklichen gerade auch in der Kunst und Ästhetik dem Vollendungsanspruch der Klassik gegenübergestellt wurde. Insofern fügen sich im Resultat dann doch die beiden Motive der Unvollendung und der Bescheidung vor dem Gegebenen zusammen und finden sich im Motiv der abwesenden Anwesenheit, dem Eschatologischen, wie es auch in der Muttergottesbild-Szene auf dem Münster indirekt oder paradox bedeutet ist. Prinzipiell jedoch kontrastiert Arnim die Haltung von Demut und Gebet mit der ins Vollendbare oder Unendliche ausgreifenden Haltung des Bauens und Erkennens, kontrastiert »Verstand« und »Güte« in den Figuren des Baumeisters und der Gräfin. So kann die »Krone« auch weder Ziel der Kunst noch Ziel der Politik sein. Nach den Notizen des Nachtrags bringt Anton »das Ideal des Muttergottesbildes hervor, das immer eine Kopflänge höher erscheint als der Beschauende« (1035). Anton »zerstört Hohenstaufen und die Kronenburg«, so wie der Baumeister Erwin von Steinbach die Zerstörung seines Werkes vom Himmel erbittet.525 Die Krone »hat die Eigenschaft zu verschwinden«, wenn ein Böser sie tragen will - sie zum Gegenstand bewußter und besitzergreifender Intention macht - , doch »im gesichtslosen Elend kommt (Anton) auf die Kronenburg«, er vermag, »was der Sehende nicht vermag, dem Volk vor den Füßen wegräumen, was es bedrängt« (1034). Nicht die Idee des Baumeisters, sondern die Uberzeugungen der Gräfin berührt das Gedicht im »Nachtrag«, das in lakonischer Form etwas wie eine Summe der Anschauungen Arnims formuliert: »Es spiegelt sich die Ewigkeit, / In 199

engster Gegenwart«; »Das Ewige will nicht zeitlich sein, / Das in der Zeit erblüht«. 526 Der nach Runge gearbeitete Holzschnittitel des Romans bezieht die Krone auf das Herz und das Herz auf die Spaten im Erdreich, die durch das Rankenwerk, das sich an den in Hellebarden endenden Spatenschäften emporwindet, zum Januskopf der Geschichte führen. In die Zukunft zugleich und ins Vergangene sieht wie der Roman selbst - das Doppelantlitz. Die nach Arnims Wunsch von Schinkel veränderte Zeichnungsvorlage Runges 527 macht deutlich, daß es in dem Buch, das der Stich als Titel ziert, um allgemeine und geistige, nicht primär um politische Verhältnisse geht. Dies haben wir bisher zu zeigen versucht. Arnim vertraut in diesem späten Werk nicht den Synthesen und ausgleichenden Konstruktionen der Kunst, vielmehr soll das Disharmonische und Vielstimmige dem poetischen Werk die Offenheit und Widersprüchlichkeit bewahren, die auch den Charakter des Wirklichen bestimmt. Die bedeutende Motivik des Kirchenbaus setzt er gegenläufig zur Baumotivik im Sinne der babylonischen Hybris und der Maureridee von der Verewigung des Irdischen. An vier Stellen des Romans ist sie durchgeführt: im Münsterbau, in der Wachs-, Rosenund Granitkapelle wie -kirche des »Hausmärchens«, im Kapellenbau in Bertholds Hausgarten 528 und in der geheimnisvollen Palastkapelle mit dem Sarg der Heiligen drei Könige, dazu in versteckter Weise in dem Hüttenmotiv mit der Geburt Christi und der Anbetung der Könige in der Einsiedlerrede vom Erntesegen. Auf eine enge Verbindung von Staat 529 und Kirchenbau, der zuletzt die Vorstellung zugrunde liegt, daß in der Erbauung von »Gottes Kirche« (596) die Schöpfung zu einem irdisch-geistlichen Raum erneuert und somit Staat und Kirche aufeinander bezogen werden, weisen zahlreiche Motivkonstellationen: die Anbetung der Könige, die Wachskapelle in Kreuzesform als der »Bau vieler Bienen« (der Bienenstock als altüberliefertes Staatssymbol) und die politische Allusion bei der Grundsteinlegung des Münsters, daß nicht nur »die Arbeitsleute« und »alle Geistlichen des Landes«, sondern auch »alle Zünfte ..., selbst die Herren edlen Standes« beim Graben beteiligt sind (597). Sogar eine gleichsam kosmische Variante des Schatz- und Geldmotivs und des kaiserlichen Worts vom Geld als dem »Blut des Staates« (657) taucht dabei auf, denn, so der poetische Diskurs, zu dem frommen Zweck der Erbauung von Gottes Kirche »treiben Gottes Sterne / Goldne Adern durchs Gebirge. / Seht mit diesem Goldgewinne ... Regen sie der 200

Menschen Sinne, / . . . Daß sie große Gaben schenken, / Zu der großen Münsterkirche« (596). Von höchster Signifikanz für den wahren Sinn des Umbildens (Bauens) der Erde zur idealen Kirche ist die Ersetzung bzw. Uberlagerung des Motivs des prächtigen Domes durch das Motiv der Hütte. Beim Münsterbau und parallel dazu beim Bau der Kirche im »Hausmärchen« bildet und antizipiert die Hütte - nicht der Palast oder der »Tempel alter Zeiten« (597)) - das Modell des Kirchengebäudes, und zwar die Hütte in der Gestalt des Stalls von Bethlehem - mit Christgeburt (Inkarnation) und Anbetung der Könige (Verhältnis Staat/Kirche bzw. Irdisches/Geistliches) - , wobei die Krippe mit dem Christuskind den Ort des Altars einnimmt. Theologisch sind solche Gedanken in dem Einsiedlergesang entfaltet (764f.). Bedeutsame ideelle Konzepte sind in dieser Theologie der Inkarnation, der »Einwohnung« des Wortes und Geistes im Irdischen, in der Theologie der eschatologischen »Einheit« von Himmel und Erde und in der Theologie der Humilitas, der Armut, Entäußerung und Demut als christliche Signa des Göttlichen sowie in der staatspolitischen Idee der >Gründung von untenvon unten< durch: »Soll sich Dauerndes bereiten, / Steigt es nur aus frommer Sitte« (597). Das Versteinernde und Verewigende des Bauens (»aus felsenfestem Kerne«) wird allein gerechtfertigt in der Weise des Umhüllens und »Behütens« des »heiigen Dienst(es)« entsprechend der kosmischen Gewölbemetapher von »des Himmels Gewölbe mit Sternenglanz und Erdenschein«, in dem das Gloria des Chors in der herrlichsten Gegenwart ekstatischer Erscheinung, »zwischen Himmel und Erde schwebend« erschallt (566). Schwer durchschaubar ist dagegen die Bedeutung der Motivik der »bösen Quellen« im Fundament des Münsterbaus (598), die sich später als »Arm des Rheins ... unterm Münster« erweisen (602), und des reinigenden und entsühnenden Selbstopfers des Brudermörders, der die Quellen bändigt - dies trotz der auffälligen Korrespondenz zu den Ereignissen und symbolischen Konstellationen beim Brunnenbau Bertholds. Der Baumeister bittet, daß er »zu (seinem) Heile« zum »Bau des Himmels« entrückt werde nach dem Scheitern seiner weit ausgreifenden Intentionen, die keine subjektiven Ziele, sondern. Bestrebungen der Menschheit und der Geschichte, das Ewige im Irdischen zu be201

gründen, repräsentieren (599). Daß der Rückzug in die himmlische Transzendenz nicht Arnims Wort ist, sondern daß er im Anbauen, dem Wohnen im Irdischen mit dem eschatologischen Bewußtsein der Vorläufigkeit der Erdendinge die Würde der geschichtlichen Existenz erblickt hat, ist aus vielem bereits Gesagten deutlich geworden. Das Schwalbenlied aus den »Majoratsherren« spricht dies am ergreifendsten aus. Die Schwalbe bedarf der Sonne beim Bauen, zum Trocknen ihres Nest-Anbaus, der dennoch so oft der Zerstörung anheim fällt und im Vergeblichen endet: »Und dennoch baut sie wie betört; / Die Sonne scheint so klar! / So süß und töricht ist der Sinn, / Der hier ein Haus sich baut; / Im hohen Flug ist kein Gewinn, / Der fern aus Lüften schaut, / Und ging es auch zur Ewigkeit« - , denn das Ausbrechen in die Ewigkeit erreicht niemals das Maß der eigentümlichen »Freudigkeit« des Lebens in der »Zeit«. 530 In gleicher Gesinnung vollbringt der Dichter die »Arbeit des Geistes auf seinem unsichtbaren Felde« (518), und auch das Schreiben des »Meistersängers« aus dem »Hausmärchen« exemplifiziert dies Leben in der Spannung zwischen Zeit und Ewigkeit und symbolisiert zugleich geschichtstheologisch die Spannung zwischen der Tendenz auf Vollendung und dem Unabschließbaren der Geschichte selbst. Der Alte hofft, seine »Arbeit bald zu enden«, das Heldenspiel abzuschließen, aber die Tochter löscht in märchenhafter Motivik »an jedem Abend alles wieder aus«, denn sie wußte die Gefahr, »daß er sich ihrer Liebe und der Welt entzöge« und zu seiner Frau im Himmel eingehe, wenn er die Arbeit »beendigt« habe. So schreibt der Vater begeistert und unermüdlich, des mangelnden konkreten Fortschritts nicht achtend: »Nur sein Werk ihm wohlgefällt«, das auch »immer schöner, aber nie fertig wurde«, weil jedes Wort »in den Strom (der Zeit) getrieben« erlöscht (701ff.). Die eschatologische Spiegelung der »Ewigkeit« »in engster Gegenwart« und jedem Tun der »Zeit« (1037) gehört zu den bevorzugten Vorstellungen und tiefsten Uberzeugungen des Dichters. GESCHICHTE. Niemals begreift Arnim Geschichte als Heilsgeschichte im Sinne einer göttlichen Gesetzlichkeit und Zielbestimmtheit, einer Uberheiligung oder Ontologisierung des Wirklichen. Allerdings sind seine besten Bücher Heils- und Erlösungsgeschichten, so die »Isabella von Ägypten«, »Die Majoratsherren« und eben auch der Welt- und Geschichtsroman »Die Kronenwächter«. Aber es sind durchweg mißglückende Heilsgeschichten oder - von Ferne von einem transzendenten Licht erhellte - Gemälde der Erlösungsbe202

dürftigkeit von Geschichte und menschlichem Dasein. Daß Erlösung und Heil utopisch bleiben, die faktische Geschichte sich äußerlich gesehen eher auf einem Weg des Abstiegs befindet 531 - zur Finanzund Wirtschaftsgeschichte seit Kaiser Karl V. (»Isabella«), zu Industrialisierung und Kapitalismus in der Auflösung des symbolisch verwendeten Majorats- und Lehnswesens (»Majoratsherren«), zur bürgerlichen Kultur und Wirtschaftsform nach dem Glanz der Staufenkaiser (»Kronenwächter«) - , das meint keine eindeutig negative Diagnose. Gerade die Transzendierung des Heils als eines Ausstehenden, Utopischen, Zukünftigen weist darauf, daß sein Ort nicht die Geschichte und Geschichtsentwicklung selbst ist, sondern die »transzendentale« Verwandlung der Menschen und Völker zur Weltfrömmigkeit und -Überlegenheit der Bürger zweier Reiche. Dies macht die »Krone« zu einem so zweideutigen Symbol, und von daher werden die zweideutigen Strukturen und Kräfteverhältnisse in der Romanwirklichkeit verständlich. Gerade dies ermöglicht allerdings ebenfalls die vorurteilslos säkulare und progressiv auf Erneuerung und Gegenwart gerichtete politische Haltung und das entsprechende Geschichtsverständnis bei Arnim, das allein deshalb zugleich konservativ ist, weil es der objektiven Vernunft dessen, was sich in längeren Zeiten bei Menschen bewährt hat, vor der subjektiven und wirklichkeitskonstruierenden Haltung der abstrakten Vernunft viel zutraut. Für die Romanstruktur der »Kronenwächter« bedeutet das ein nur auf den ersten Blick widersprüchliches - Nebeneinander von utopischen Symbolen und Signalen einer »Heils«geschichte, und einer als chaotisch, diplomatisch intrigenhaft, scheiternd, resignativ oder als nüchtern profan oder engagiert planend charakterisierten realgeschichtlichen und menschlichen Wirklichkeit. Erfolg und Mißerfolg der Politik Maximilians und die resignativen Züge darin werden in solcher Weise dargestellt, und nur einmal erhebt sich der Kaiser zu der transzendenten Sphäre der gläsernen Kronenburg, als er sich, wie in Politik und Leben, an der Martinswand »verstiegen« hat und ihm die Relativität der weltlichen Unternehmungen und Pläne bewußt wird. Die Linien sind nie ausgezogen in dem Roman, weil es auf eine intramundane Sinngebung und Erfüllung nicht ankommen kann. Wenn Bertholds politische Unternehmungen ebenfalls - fast wie die Kennzeichnung der irdisch-politischen Ebene im Barockdrama - in Fehleinschätzung, Bürgerferne, Eigeninteressen und Selbstüberschätzung, Mißverständnissen, absichtlicher Täuschung, Diplomatie, un203

bedachten Konsequenzen, Verwirrung und Chaotik, Verwechslung von Wollen und Geschehen, Absicht und Realisierung untergehen, so zeichnet das weniger ein pessimistisches Geschichtsbild als vielmehr die Wirklichkeit menschlichen (geschichtlichen) Handelns in der säkularen Relativität der Zwecke und Erfolge, zugleich die Diskrepanz zwischen transzendentaler (auch transzendenter) und geschichtlicher Ebene. Bertholds Geschichte endet scheinbar in einer völligen persönlichen und öffentlichen Katastrophe; doch vertraut er gegen die sichtbare Evidenz, trennt die innere Dimension von der der Geschichte, wo »Gott und die Z e i t . . . alles schlichten« wird, und erklärt das Widerstreitende der Verhältnisse mythologisch-metaphysisch aus dem »Mißgeschick meines Stammes«, aus den irdischen Daseinsbedingungen der Menschen, die alle »Brüder« sein möchten (779), so wie Maximilian das Scheitern seiner Politik halb mythisch aus dem Widerstand der »Kronenwächter« hergeleitet hatte. Auf sein Vertrauen pochend will Berthold »irren in der Dämmerung« (775), und er betet in diesem persönlichen Gethsemane in der eben zuende gebauten Hauskapelle (777), welche entsprechend der Bausymbolik Höhepunkt und Ziel der Bewegung zur Eintracht des Himmlischen und Irdischen darstellen sollte, hier aber noch tiefsinniger den eschatologischen Charakter dieses Heils, die Erhöhung in der Erniedrigung, die Diskrepanz zwischen Welt und Erlösung im Sinne der Zeichenhaftigkeit der Dinge bedeutet. Die Taufe als eschatologische Heiligung des Irdischen, mit der der Roman schließt, geschieht denn auch unter dem Namen und Tag des heiligen Anno (777f.), während Berthold am gleichen Tage im Glauben »an jenes Leben, das uns verheißen ist«, den irdischen Antagonismen entzogen wird; entzogen durch den Tod bei den »Gräbern der Hohenstaufen«, die (mit Hinweis auf jene andere Welt) für den Adel und die Gemeinschaft der Menschen stehen. So zeigt oder erfüllt sich die zu erreichende Gegenwart nur eschatologisch paradox, in der symbolischen Zeichenhaftigkeit und Vorläufigkeit der irdischen Dinge und Gaben, »denn« - mit der Zufügung Arnims zum historischen Grabspruch der Hohenstaufen - »nichts erringen wir als die Zukunft« (779). SATURNALIEN UND EINSIEDLERLEHRE. D e n e i g e n t l i c h e n u n d t h e -

matischen Abschluß des ersten Romanteils bilden jene Schlußkapitel und -szenen, die mit dem Auftakt des Herbstes und der Ernte einsetzend mit dem dionysischen Motiv der Traubenlese - beginnen und mit dem Rückblick auf die Lebensernte und das Lebensresultat 204

dieses ungewöhnlichen doppelten Lebens, das andererseits so normal und exemplarisch verläuft, den Abschied von der Erde und der irdischen Geschichte - den Tod - einläuten. In ihnen verbinden sich fast alle bisher enthaltenen Motive und Perspektiven noch einmal zu einem wundersamen Geflecht mit tiefsinnigem, weltüberlegenem Gehalt und Ton. Dagegen gehören die formal abschließenden kurzen Kapitel »Die Taufe« und »Der Kampf am Brunnen« abgesehen von wenigen Motivkorrespondenzen bereits zur Exposition des dann niemals ausgeführten Zweiten Teils: Anton steht im Mittelpunkt, und die wundervolle, ungewollte wie unbewußte Liebeszene, jene äußerlichinnere und von Annas Seite wie unfreiwillige erste Begegnung zwischen Anton und Anna präludiert die künftigen Entwicklungen (792f.). So bildet das Herbst- und Ernte-Kapitel »Traubenlese«, dem die Todeskapitel »Todaustreiben« und »Die Gräber der Hohenstaufen« folgen, zumindest auf der Sinnebene der Gegenwarts- und Lebens-Thematik Höhepunkt und Zentrum des 1. KronenwächterBandes von 1817. In sich kulminiert das Kapitel wiederum in dem Gesang des Einsiedlers Anno von Erntesegen und Geburt (Inkarnation) des Christus. In dem vielstrophigen Lied werden bedeutende Motive aufgerufen und in Korrespondenz mit dem Früheren variiert. Die Signifikanz des Kapitels, das ein dionysisches Weinlesefest an der Anhöhe des Berges und ein geistiges und frommes Weinlese- und Erntefest auf der Berghöhe des Einsiedlers kontrastiert, erhellt einerseits aus Struktur und Aufbau des Romans selbst. Sie ergibt sich andererseits aus einer höchst bedeutenden Parallele in dem weltanschaulich, philosophisch und mythologisch exzeptionellen Werk Arnims, der »Päpstin Johanna« von 1812/13. An anderer Stelle habe ich darüber ausführlich gehandelt. 532 An dem ideellen Höhepunkt des Werkes werden dort ebenfalls sowohl der Erntegesang als auch die Kontrastierung einer in diesem Fall sehr umfassend und prinzipiell ausgedeuteten dionysischen Naturfeier und einer christlich-idealistischen Auffassung und Begründung von Geist, Liebe und Wirklichkeit poetisch eingesetzt. Dies geschieht in dem Weltdrama - entsprechend dem universalen und kosmologischen Konzept dieser Arnimschen Faust-Dichtung, die von Subjektivismus und Titanismus des Strebens und ihrer Uberwindung in einer »symbolischen Wirklichkeit« und von der naturhaft-irdischen oder transzendentalen Begründung der geistigen Existenz handelt - ungleich spannungsreicher und umgreifender durch das Creuzersche Mythologem des doppelten Dionysos205

bechers, den Proserpina-Mythos und die Eleusinischen Mysterien. 533 Aber das Arnimsche Selbstzitat in den »Kronenwächtern« enthält doch den vollen Sinn der szenischen Kontrastierung und verknüpft die Motiworgaben mit der individuellen Motivkonstellation des Romans; die Varianten in den beiden Erntegesängen - Zufügung des Weihnachts- und Dreikönige-Motivs - wie ebenfalls die Prosaeinleitung belegen dies in aufschlußreicher Weise. Der kosmologischen Dimension in der »Päpstin Johanna« entspricht im Roman die »gnostische« Motivreihe, die in der Einsiedlerszene durch die Unterscheidung der Ebene und der Gebirgshöhe des Einsiedlers repräsentiert ist, wo die Menschen sich, entfernt von dem »niedrigen Erdenleben ... tief unter ihnen«, »dem Himmel näher« fühlen; 534 der Einsiedler erzählt, »wie er so lange im Dorfe unten gewohnt habe«, bis sich ihm »eine andre Freude und ein andres Leben eröffnet« habe (763). Daß die Erde im Roman in einem absoluten und mythischen Licht wie ein kosmischer Wohnplatz erscheint, als Erdenwohnung, die im Erdstoß »beben« kann als eine »treue Muttererde« (779), das bildet den eigentümlichen Stil der »Kronenwächter«. Die Ausgesetztheit auf dieser Erde durch die Geburt (Findlingsmotiv), das Schicksalhafte und metaphysisch Ungreifbare des Antagonismus der verfeindeten Brüder in ihr, das gnostisch-kosmologische »hier« in Sätzen wie den zitierten: »Hier bei den Meinen ... hier ist brüderliche Einigkeit, hier verfolgen sie die Ihren nicht mehr, sie wollen gern alle beisammen sein jenseits der Erde, darum nur lassen sie den Ihren keine Ruhe auf Erden« (335f.), solche Züge realisieren die apokalyptische Atmosphäre dieses theatrum mundi. In ähnliche Richtung wirkt das kosmische und apokalyptische Mitgerissensein der Ereignisse und Menschen in dem großen Natur- und Jahreszeitenumschwung der Erde: »Wie mag die Erde sich scheuen, wie möchte sie so gern den Lauf zurückwenden, wenn sie in den Winterhimmel tritt, der alle ihre Saaten verschüttet. Sie ringt vergebens gegen ihren eigenen Umschwung«, wobei das Versinken der Wasserlilien - »genügsam und ruhig in den Abgrund seliger Erinnerungen bis zur Wiedergeburt« eine transzendente Sphäre eröffnet; »die Erde selbst« erscheint in geheimer Korrespondenz mit den geschichtlichen Ereignissen als »zu ungewöhnlichen Unternehmungen geneigt«, »der Frost ... stieg immer noch, die ältesten Eichen spalteten sich«, als der edle Kaiser Maximilian starb usf. (766). Derart sind Zeit, Natur und Geschichte in einer unumkehrbaren mythischen Bewegung begriffen, die vor allem 206

die Jahreszeiten- und Lebenszeitenszenerie der letzten Romankapitel prägt; den Menschen jedoch hebt seine Bestimmung gerade hinaus über die Eingebundenheit in die mythische Natur- und Zeitenkette, durch den transzendental wie eschatologisch verstandenen Bezug auf die spirituelle Präsenz eines Jenseits - wie die Prosavers-Worte Bertholds unmittelbar vor seinem Tod es am wundersamsten aussprechen: » O wie so oft hab ich ein Zeichen erhofft, zogen Sterne den himmlischen Bogen durch die himmlische Leere, durch die himmlische Tiefe, daß ich der irdischen Schwere endlich auf immer entschliefe. Aber der Morgen löschte die Sterne aus, weckte die Sorgen, weckte des Herzens Haus, und des Alltäglichen Macht zwang die Ahndung der Nacht« (778). Antons im Rahmen der Saturnalien an später Stelle nachgeholte Erzählung von seiner Kronenburg-Jugend, die vor allem seine Version jener Martinswandepisode, die bereits vom Kaiser selbst vorgetragen wurde, enthält, verknüpft das höchste politische Motiv (Kaiseridee) mit dem letzten philosophischen, das auf der menschlich-transzendentalen Ebene liegt, mit »Treue und Liebe« (519) als der geschichtlichen Substanz, als Transzendenz in der Immanenz: Anton erblickt den Kaiser, der »sich verstiegen« hatte, und »sah ein mildes Antlitz im Gebet ergossen, in seinen Untergang ergeben, und doch voll Vertrauen zum Himmel. Solch einem Antlitz widerstehe, wer aus Felsen gehauen«, sagt in emblematisch deutbarer Symbolik der mit dem Mord des Kaisers beauftragte Jüngling (759f.). Die Szene leitet über zur Todesthematik der Schlußkapitel, die das gleiche Verhältnis von irdisch entfremdeter Geschichte, transzendentaler Gültigkeit von Hoffnung und Vertrauen und objektivem Scheitern des Lebens setzen und illustrieren. Tatsächlich durchzieht den Roman - in Vorwegnahme der Einsiedlerlehre von der eschatologischen Zeichenhaftigkeit der Erscheinungen dieser Welt - die auffällig thematisierte Diskrepanz zwischen dem fragwürdigen »an sich« der Dinge wie der Handlungen in Leben und Geschichte und der transzendentalen (oder illusionären) Intentionalität des Menschen, die ein objektiv Sinnvolles (»an sich«) zu erstreben und zu erreichen meint, wo die Faktizität der Intention, wo Glauben und Uberzeugung allein gilt und »bleibt«. Die Kronenwächtereinleitung expliziert in dieser Weise das Verhältnis von Geschichte und menschlicher Geistigkeit. »Vertrau dem Wort in deiner Seele, / Das dir nicht eigen, du bist sein« (789), das ist die Gegenmelodie zur 207

»trauervollen Wahrheit« angesichts des menschlichen Geschicks, so der Trauer, »daß wieder ein Mensch zu gleichem traurigen Geschicke in die Welt gesetzt und getauft werde«, zu dem das Leben Bertholds ein Paradigma bildete (788). Bereits der Knabe Berthold, den man mit Absicht »getäuscht« und ihm »eingebildet« hat, er sei von der Stadt als Unterschreiber angestellt, muß die Trauer im Durchschauen der Wahrheit erfahren: »Ich habe nun schon seit Jahren etwas zu tun vermeint, es war aber lauter Nichts und nur zu meiner Übung; wenn nun das alles, was ich hier treiben soll, auch nur zu meiner Prüfung und an sich zu nichts dient?« Die Bedeutung der Stelle unterstreicht die Erwiderung des Vaters, die zugibt, daß die Klage des Knaben »vielleicht« zu recht besteht: »zuweilen überkommt mich so eine tiefere Einsicht und sie erschreckt mich nicht mehr wie sonst, du aber bist ein Kind«, das noch an der Identität von innerem geglaubten Sinn und äußerer tatsächlicher Wahrheit festhält, »darum weine dich aus wie ein Kind, wirst immer noch früher wieder lachen als ich«, und an der Belohnung, »dem Kleid magst du erkennen, daß dennoch nichts vergebens ist, was der Mensch in gutem Willen tut« (535). Die Einsicht in den Illusionismus (oder Transzendentalismus) von Leben und Geschichte, den der Erwachsene zu ertragen vermag, wird beim Knaben überspielt von der je neuen Lust des Lebens, während die Alten sogar die Geisterfurcht überwinden könnten, gehen sie »doch lange schon als abgeschiedne Geister umher, wenn uns die Lebenden noch für mitlebend halten«. Führt Gott durch die innere Wirklichkeit »auf immer neuen Wegen zum Heil«, so ist »unser Leben ... wie ein Märchen, das eine liebe Mutter ihrem unruhigen Kinde erfindet« (539). Der »Zins« und die »Bedingnis«, unter der dem Menschen die Erde (wie Berthold der Schatz, mit dem er den Palast erwirbt) geschenkt ist, von der er nichts mitnimmt, »in jene Welt, als die Einsicht und den Glauben, den er auf ihr gewonnen«, sprechen von der gleichen Diskrepanz und welthaften Komplementarität (549), die aphoristisch zugespitzt in einem (dem Schreiber Berthold in den Mund gelegten) paradoxen Wort formuliert ist: »Wir glauben, was etwas ist, und wissen, was etwas nicht ist; wir wissen nichts, wir müssen alles glauben, aber der Glaube ist ohne Wissen nichts« (544). Innerweltlich wird dagegen die Relativität aller Ziele und Bestrebungen mit ihrer stets fortschreitenden Aufhebung als Mittel für neue Ziele an dem Unterschied der beiden Leben Bertholds demonstriert: »Was er damals errungen, schien ihm jetzt an sich nichtig, nur als 208

Mittel, seinen Durst nach Tat, Wirksamkeit und Einfluß auf die Geschicke zu befriedigen, konnte er es noch loben. - Er gedachte jener früheren, erwerbenden Zeit, wie ein lebenslustiger Sohn seines emsigen Vaters, er ist ihm dankbar, aber er mag nicht seinem Beispiele folgen, sondern lieber dem Gelde einen zweckmäßigen Abzug verschaffen« (751). Hier wird deutlich, daß das zweite Leben jene H o f f nungen und geistigen Intentionen irdisch versteht und zu realisieren sucht, die im ersten Leben als motivierende Phantasien auf Ehre und Minne und als Sehnsucht nach der verlorenen Apollonia (593) wie auf Unerfülltes und Unerreichtes gerichtet bleiben, so daß die tatsächlichen Erfolge ihm wie ein Haus, das »vollendet« ist und das Unendliche im Endlichen vernichtet, Überdruß bereiten (600). Erst die Lehren des Anno enthalten jene eschatologische Balance von Intention und Wirklichkeit, die das »an sich« zum »Zeichen« werden läßt, denn er »könne die Ereignisse dieser Welt... nur immer als Gleichnisreden zur Belehrung, aber nicht als etwas, das an sich bestehe, ansehen« (763). Die Korrespondenz der Szenen, der Bezug der Einsiedlerweisheit zur Rede des jungen Berthold nach der Entdeckung der Täuschung, daß alles »lauter Nichts« und nur zu seiner »Übung« und »Prüfung« gewesen sei (535), ist nicht zu verkennen. In dem Geschichts-Roman ist der dionysische Bereich trotz aller naturhaften Motive wie Rausch, Blut, Gährung des Mösts, geisterhafte Verwirrung der Sinne, türkischer Mohnsaft und Drachenmesser, trotz dionysischer Szenerie mit halbnackten Arbeitern - gleich Satyrn - , Kränzen von Weinlaub und nackten Knaben in der Butte zugleich politisch-geschichtlich und moralisch geprägt. Er steht für die Willkürherrschaft des furchtbaren Herzog Ulrich mit seinen politischen Abenteuern, Weiberhändeln, Morden und Ausschweifungen jeder Art und bildet darin die dämonische Verstricktheit der Menschen und die Verfallenheit der geschichtlichen Welt ab. Der verlorene Sohn unter den Schweinen wird als gleichsam gnostisch-mythologisches Urbild des natur- und geschichtsverfallenen Menschen apostrophiert (755), die wie in Hohenstock sinnliche Sphäre durch die Hunde des Herzogs, »die an ihm herumsprangen und seine feurige Nase berochen«, demonstriert (753). Wie beim Besuch des Venusbergs in der »Päpstin Johanna« steht »der Rückzug im grellsten Widerspiel mit der Pracht des Hinzugs«. 535 Mitten aus der Verworrenheit dieser Welt ragt als heller Kontrapunkt der Bericht Antons von dem Kaiser, der sich auf der Suche nach dem imaginären Bild der gläsernen Burg über die 209

Grenzen der Welt hinaus verstiegen hat und nun nicht wegen seiner geschichtlichen Taten, sondern durch »sein mildes Antlitz im Gebet ... voll Vertrauen zum Himmel« von dem Knaben, der ihn ermorden sollte, als von einem Engel gerettet wird.536 Im Erntelied feiert die Gesinnung des Einsiedlers ebenfalls die Uberwindung der Autonomie der Natur- und Geschichtsmächte durch die transzendentale Bestimmung des Menschen. Es sind die idealistisch gedeuteten christlich-theologischen Motive der Inkarnation, der Fleischwerdung des Wortes und Verbindung von Himmel und Erde (Geburt Christi), der Anbetung des geistlichen Reichs durch die weltlichen Mächte (Drei Könige) und der Verklärung der Naturelemente Getreide und Wein zu geistlichen Gaben (Abendmahl) im Sinne der christlich verstandenen Ernte als Himmels-Gabe, welche die transzendentale (nicht nur transzendente) Sphäre gegenüber der Autonomie des Naturhaften und Irdischen erscheinen lassen, in der die Dinge der Welt als Zeichen, die Elemente der Natur als »Seligkeit reicher Ernte ... in dem Reichtum himmlischer Gaben« und »die Ereignisse dieser Welt ... als Gleichnisreden zur Belehrung, ... nicht als etwas, was an sich bestehe« hervortreten (763). Derart wird eine symbolisch-transzendente Transparenz des Irdischen in den »Kronenwächtern« zur Grundlage von Gesinnung und poetischem Stil. Inkarnation, die »Geburt des Herrn«, bedeutet bei Arnim nicht in substanziellem Sinne Heiligung des Irdischen, so wie das Abendmahl nicht die Verwandlung von Brot und Wein, sondern zeichenhafte und eschatologische Transparenz des Irdischen auf das Höhere repräsentiert; es handelt sich also nicht um die Überwindung und Vermittlung eines Dualismus, wie häufig in der Forschung angenommen,537 sondern um ein eschatologisches Bewußtsein, das die Autonomie und Substanzialität der natürlichen und geschichtlichen Wirklichkeit transzendiert. Mit den Motiven der Arnimschen Lichtsymbolik ist es die Sonne, »die über den Nebel wie über ein Weizenfeld hinaufdrang«, der »Glanz« »hoch überm Gold der Ähren«, der »Segen«, in das die Ähren »eintauchen«, welche die transzendente, gleichwohl nicht vom Irdischen abgehobene Sphäre, die in solchem Sinne »erreichte Gegenwart« bezeichnen, von der auch das entrückte Lächeln der schlafenden Hirten spricht (764). In solch zentralem Text kann das Grundmotiv aus der »Einleitung« nicht fehlen: »Vertrauen, Liebe, Mühe« im Irdischen, die der Herr »im Erntesegen ... lohnt«, gibt Anwartschaft auf das höhere Reich, das 210

kantisch der Erkenntnis nicht zugänglich ist. In der Anbetung der Könige, worin das mit dem Stauferpalast verbundene Motiv aufgenommen wird, geschieht eine Umkehrung von »Hütte« und »Palast« als eine Art von Relativierung und Demut der Geschichte angesichts des Kindes, des Menschen, des »milden Antlitzes im Gebet ... voll Vertrauen zum Himmel« (759) und der Dimension des Ewigen darin. In solcher Weise entmythologisiert Arnim Geschichte in seinem Geschichtsroman, und vor allem deshalb handelt es sich bei den »Kronenwächtern« um ein eminent politisches, weil entideologisierendes Buch. Der Erntegesang repetiert auch das Motiv der Gottesnähe in den »ird'schen Zeichen« der gegebenen Wirklichkeit, das den Mittelpunkt der Einsiedlerlehre bildete, so wie er in der gesamten Motivfügung etwas wie eine Summe von »Berthold's erstem und zweitem Leben« zieht. Weil es nicht weltliche und geschichtliche Maßstäbe sind, die über das Gelingen des Lebens wie der Geschichte im Sinne der zeichenhaft entzogenen Gegenwart, der Transparenz des Irdischen und der eschatologischen Präsenz des Ewigen und des Heils befinden, gerade deshalb ist das Scheitern (und die Gnade) des doppelten Lebens des Helden im ersten Buch der »Kronenwächter« ein angemessener und würdiger Gegenstand für einen Roman, der auf seine Weise »Geschichte«, »Krone«, »Adel«, Bürgerlichkeit und Humanität zum Thema gemacht hat. Die durchaus ambivalente Bedeutung, in der für den späteren Arnim die Kunst und die möglichen Funktionen der Kunst erscheinen, weist auf den eigentlichen Grund der Nichtvollendung des Romanganzen. Arnim hatte gesagt, was er zu sagen hatte, und er vermochte der Kunst nicht mehr die erlösende und heilsstiftende Rolle zuzuschreiben, die mit dem - im »Nachtrag« gespiegelten - ursprünglichen Konzept der Antongestalt und der »geistigen« Krone verbunden war. So bietet der zweite Band der »Kronenwächter« nur noch den Einblick in die Keimzelle des gesamten Romanwerks, in die atmosphärisch wundervolle und stilistisch so ursprüngliche Welt des Historien-, Picaro- und Künstler-Romans, aus einem Stadium der Entstehung, als noch nicht abzusehen war, daß ihm einmal die so zweideutige bürgerliche Erfolgsgeschichte Bertholds vorgeschaltet werden würde, die auf mannigfachen Bedeutungsebenen den Roman zu einem universalen Spiegel des Wirklichen, den Geschichtsroman zum Realitätsmodell erheben sollte, in dem nicht mehr romantisch und noch nicht autonom realistisch der Glanz einer eschatologischen Wirklichkeit aufleuchtet. 211

Resümierendes Schlußwort

Kunst ist für den jungen Arnim im »Hollin« primär Lebensopfer und Ersetzung kosmischer Ordnung und All-Idee durch die stellvertretende Leistung und Setzung des Dichters. »Ästhetik des Elegischen« kennzeichnet den Lebens-Traum einer solchen Kunst. Sie tritt an die Stelle einer Realisierung der Idealität, des Lebensparadieses, der »versuchten Gründung«, und spiegelt diesen Verlust. So beginnt in »Ariel's Offenbarungen« das Zeitalter der Kunst nach der Exilierung der Götter und dem Scheitern der neuen Gründung, der Verbindung von Freya und Herrmann. Als utopisches Moment und entscheidendes (elegisches) Movens bleiben All-Idee des Lebens bzw. EinheitsIdee von Himmel und Erde oder Geist und Natur dennoch in der Kunst enthalten. Die in vielen Texten begegnende Gestalt des Tänzers und Dichters Ariel, Shakespearemotiv und alter ego Arnims, ist Integrationsfigur in einem geplanten romantischen Universalroman. Angesichts der Härte des Wirklichen, wie Arnim sie paradigmatisch in den politischen Verhältnissen der napoleonischen Ära in der Schweiz und in Preußen erfährt, mißt er zunehmend die verabsolutierte Kunstidee an der faktischen Wirklichkeit und sucht den Ausgleich. Daneben versucht er im Tanzmotiv noch einmal Leben und Kunst anthropologisch real zusammenzuschließen oder verwendet das Motiv poetisch als Einheitssignal. Doch führt die im Antagonismus von Kunstwelt und gesellschaftlicher Wirklichkeit provozierte Wirklichkeitsprobe im »Wintergarten« zur Absage an eine illusionistisch isolierte und gesteigerte Kunst. Denn jene täuscht Leben und Wahrheit nur vor, ist ihnen in Wirklichkeit nicht gewachsen. Vor allem aber weist hier die (auch transzendentale) Kritik der gesellschaftlichen, literarischen, poetischen und persönlichen Diskurse und der als Diskurse begriffenen Lebensvollzüge und Setzungen auf das Schwebende, Poetische und Scheinhafte von Literatur, Leben und Wissenschaft. Die neue Kunst, die sich dem kalten nördlichen Winter, der unversöhnten Wirklichkeit, der illusionslosen und nüchternen Härte des Realen 213

aussetzt, thematisiert in kritischer Reflexion zugleich Relativität, Legitimität und Logik der als Zusammenhang von Diskursen konstituierten Wirklichkeit. In Arnims Geschichtsroman werden die Postulate der neuen Kunst auf besondere Weise eingelöst: die eschatologische Wirklichkeit der »Kronenwächter« transzendiert sowohl den Versöhnungsanspruch der Kunst wie den Geschichtsutopismus der Konzepte von Universalgeschichte und narrativ sinnsetzender Geschichtsschreibung. In der Verdopplung des Bertholdlebens unterminiert der Roman biographische Einsinnigkeit und ungebrochen symbolische Referenz auf die Epochenstruktur. Arnims Roman diskutiert in vielfältigen motivischsymbolischen Figurationen elementare, wesentliche und höchste Bestrebungen der Menschen, Grundverhältnisse geschichtlicher Humanität. Die Ausschließung stringenter sinnhafter Zusammenhänge in Geschichte und Wirklichkeit und die Negierung ewiger Zwecke und Ziele der Geschichte wie die Ablehnung der Konstruktionen der Geschichtsschreibung und jedes finalen Geschichtssinns bergen Arnims umfassendste und radikalste Diskurskritik. Sie ist hier Komplement der eschatologisch-präsentischen Perspektive und des zeittranszendenten Postulats einer Ewigkeit von »Treue und Liebe«, eines geistigethischen Bezugs im geschichtlichen Handeln des Menschen. Die Vielstimmigkeit und Disparatheit der Motive, Konfigurationen und Elemente spiegelt die Offenheit und Unübersehbarkeit der geschichtlichen Wirklichkeit. Der Roman erscheint deshalb vollendet-unvollendet. Die Geschichte selbst in ihrer Offenheit und Unabgeschlossenheit schreibt ihn fort. Die »Krone« ist Symbol der Unvollendbarkeit im Wirklichen, sie ist anwesend und zugleich entzogen-unverfügbar in der eschatologisch-vorläufigen und paradox präsentischen Ewigkeit. Ein in den Fortsetzungsplänen bezeugtes früheres Konzept, das die geistige Krone durch Kunstutopie oder humanistisch-geistige Vervollkommnung errungen sieht, konnte den Roman nur in Allegorie und Utopie, als »Märchen« wie Novalis' Ofterdingen enden lassen. Das widerspricht jedoch der Vorstellung von der Unabschließbarkeit der Geschichte ebenso wie dem neuen Erzählerkonzept, dem antihistoristischen und reflektiert fiktionalen Erzählen aus realem Geschichtsbewußtsein.

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Anmerkungen

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Schöll 1836, S. 354. - Steig 11,269. Zitate aus »Hollins Liebeleben«, »Aloys und Rose«, »Der Wintergarten« und »Die Kronenwächter« nach der Ausgabe: Ludwig Achim von Arnim, Sämtliche Romane und Erzählungen. Auf Grund der Erstdrucke hg. von Walther Migge. München 1962-1965. Zitiert wird im Text mit Seitenzahlen in runden Klammern ohne Bandangabe (Hollin = Bd. II; Aloys und Rose = Bd. II; Wintergarten = Bd. II; Kronenwächter = Bd. I). In gleicher Form Zitate im Text aus »Ariels Offenbarungen« nach der Ausgabe: Ludwig Achim von Arnim, Ariel's Offenbarungen. Hg. von Jacob Minor. Weimar 1812 und aus »Erzählungen von Schauspielen« nach dem Erstdruck in: Europa. Eine Zeitschrift. Hg. von Friedrich Schlegel. Bd. 2. Frankfurt/M 1803, S. 140-192. In den Anmerkungen werden folgende Sigeln verwendet: SW mit Band und Seitenangabe in arabischen Ziffern für: Ludwig Achim von Arnim, Sämmtliche Werke. Hg. von Wilhelm Grimm. Bd. 1-22. Berlin u.a. 1839-1856. Steig / - / / / für: Reinhold Steig, Achim von Arnim und die ihm nahestanden. Hg. von Reinhold Steig und Herman Grimm. Stuttgart/Berlin 18941913. - Beutler für: Briefe aus dem Brentanokreis. Mitgeteilt von Ernst Beutler. In: Jahrbuch des Freien deutschen Hochstifts. Frankfurt/M 1934/35. Hoffmann, Arnim-Forschung für: Volker Hoffmann, Die Arnim-Forschung 1945-1972. DVjs Sonderheft Forschungsreferate 1973, S. 270-342. - Schöll 1836 für: Adolf Schöll, Joseph Freyherr von Eichendorff's Schriften. In: Jahrbücher der Literatur. Wien 1836. Abdruck in: Joseph von Eichendorff. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Hermann Kunisch und Helmut Koopmann. Bd.XVIII, 1 S. 3 0 2 ^ 1 2 . Stuttgart u.a. 1975. - Weiss 1986 für: Hermann F. Weiss, Unbekannte Briefe von und an Achim von Arnim aus der Sammlung Varnhagen und anderen Beständen. Berlin 1986. - Weiss 1987 für: Hermann F. Weiss, Unveröffentlichte Briefe Achim von Arnims aus den Beständen des Freien Deutschen Hochstifts und der Biblioteka Jagiellonska. In: Jahrbuch des Freien deutschen Hochstifts. Frankfurt/M 1987. - Burwick, Dichtung und Malerei für: Roswitha Burwick, Dichtung und Malerei bei Achim von Arnim. Berlin/New York 1989. Lyrik-Register für: Ulfert Ricklefs, Arnims lyrisches Werk. Register der Handschriften und Drucke. Tübingen 1980. - Ricklefs, Magie und Grenze für: Ulfert Ricklefs, Magie und Grenze. Arnims »Päpstin Johanna«-Dichtung. Mit einer Untersuchung zur poetologischen Theorie Arnims und einem Anhang unveröffentlichter Texte. (Palaestra Bd.285). Göttingen 1990. Eichendorff H K A Bd. IX, S. 342. H. Heine, Die romantische Schule, 3. Buch, cap.II. H. Heine, Werke, hg. von Paul Staff. Basel 1956. Bd. 4, S. 126. 215

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Steig I, S. 32. - Frühlingsfeier SW 19, S. 150ff., bes. S. 172; vgl. SW 5, S. 209ff.; vgl. auch das Kap. VIII in Ricklefs, Magie und Grenze, S. 219ff. - Migge II, S. 71. Weiss 1987, S. 263-265: Brief an Unbekannt. Entwurfsfragment. Dez. 1801/02. Weiss 1987, S. 264. Vgl. dort die Anm. 10. Weiss 1987, S. 265. Weiss 1987, S. 365. Weiss 1987, S. 264. Freies Deutsches Hochstift Frankfurt/M. Hs-B69, S. 125. Die Herausgabe der beiden Taschenbücher mit aphoristischen Aufzeichnungen Hs-B44 und Hs-B69 wird von Jürgen Knaack und mir vorbereitet. Die zitierte Notiz in der Transkription von Jürgen Knaack. Dem Direktor des Freien Deutschen Hochstifts, Herrn Professor Dr. Christoph Pereis, danke ich für die Erlaubnis zur Benutzung der Handschriften. - Arnim hielt sich von Anfang Juli 1803 bis zum August 1804 in Großbritannien auf. Den Zusammenhang mit der Ideenrichtung von Herder, Jacobi, Hamann und den Kontext der Spinozadebatte (vgl. unten Anm. 78) legen - dies gilt auch für die im Folgenden zitierten Sätze Arnims - die Formulierungen Jacobis nahe: »Nach meinem Urtheil ist das größte Verdienst des Forschers, Daseyn zu enthüllen, und zu offenbaren < . . . > Erklärung ist ihm Mittel, Weg zum Ziele, nächster - niemals letzter Zweck. Sein letzter Zweck ist, was sich nicht erklären läßt: das Unauflösliche, Unmittelbare, Einfache.« - »Das Denken ist nicht die Quelle der Substanz, sondern die Substanz ist die Quelle des Denkens. Also muß vor dem Denken etwas Nichtdenkendes als das Erste angenommen werden.« - »Jeder Erweis sezt etwas schon Erwiesenes voraus, dessen Principium Offenbarung ist.« (zitiert nach Jürgen Teller: Das Losungswort Spinoza. Zur Pantheismusdebatte zwischen 1780 und 1787. In: Debatten und Kontroversen. Literarische Auseinandersetzungen in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts. Hg. von H.-D. Dahnke u. B. Leistner. Berlin/Weimar 1989. Bd. I, S. 163 u. 167). Zur Taschenbuchnotiz Arnims vgl. auch die Notiz Franz Kafkas Prometheus im dritten Oktavheft (deren Schluß nur zitiert sei): »... Blieb das unerklärliche Felsengebirge. - Die Sage versucht das Unerklärliche zu erklären. Da sie aus einem Wahrheitsgrund kommt, muß sie wieder im Unerklärlichen enden.« (F. K., Ges. Werke. Hg. von Max Brod. TB-Ausgabe in 7 Bdn., Bd. 6, S. 74. Frankfurt/M 1976). Die Radikalität von Arnims Denken in jener frühen Zeit belegen auch die Positionen Arnims auf dem Gebiet der Naturwissenschaft, die Roswitha Burwick 1985 aufgewiesen und z. T. erst zugänglich gemacht hat: etwa wenn Arnim sich der Metaphorik bewußt ist, in der sich die Sprache der Physiker (und damit die Theorie, die dadurch aber zugleich unmöglich gemacht wird) bewegt, und wenn er von der »Vergleichung des Experiments im Glase mit dem Experimente im Kopfe« spricht; - »doch sind alle letzten Gesetze dieses Sichtbaren Wägbaren ein Räthsel, weil sie jenseits bestimmt sind«. R. Burwick, Achim von Arnim: Physiker und Poet. Literaturwiss. Jahrbuch 26 (1985), S. 212-150, hier S. 146f. u. 149. Arnim an Görres am 14.4.1811. J. von Görres, Gesammelte Briefe. 2. Bd. Freundesbriefe (1802-1821). Hg. von Franz Binder. München 1874, S. 196 u. 197. Vgl. das gleichlautende Kapitel 1,4 in Ricklefs, Magie und Grenze, S. 48ff.

Freies Deutsches Hochstift Frankfurt/M. Hs-B69, S. 38. Weiss 1987, S. 282. 15 Migge I, S. 45. Vgl. das »Kronenwächter«-Kapitel dieses Aufsatzes S. 171. 16 Steig I, S. 53. Vgl. Weiss 1986, S. 30. 17 Steig II, S. 101 (bezogen auf Cl. Brentano). 18 Dorothea Streller, Arnim und das Drama. Diss, (masch.) Göttingen 1956, S. 110 (Wiedergabe einer Aufzeichnung Arnims aus dem Handschriftenbestand des Goethe- und Schiller-Archivs Weimar). Vgl. Ricklefs, Magie und Grenze, S. 41, Anm. 117. D. Streller, a.a.O. S. 110. 20 SW 19, S. 383. Vgl. Ricklefs, Magie und Grenze, S. 273f. - Vgl. die Strophen in der Einsiedlerzeitung, Lyrik-Register Nr. 1741. 21 Weiss 1987, S. 265. 22 Weiss 1987, S. 265. 23 Weiss 1987, S. 265. 24 Arnim skizziert den Inhalt in einem Brief an Cl. Brentano vom 9. 7. 1802. Der Text ist nicht überliefert, und es ist fraglich, ob der Entwurf ausgeführt wurde. Ein Einleitungsfragment hat H. Kastinger Riley nach einer Handschrift im Freien deutschen Hochstift bekannt gemacht (Jb FDH 1980, S. 293-295), ein Anschlußfragment befindet sich nach freundlicher Mitteilung von Renate Moering ebenfalls im Hochstift (wird in Bd. III der Arnim-Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags publiziert). 25 Beutler, S. 384. Vgl. die Rede vom »Allthier Gott« in »Halle und Jerusalem«, SW 16, S. 179. 26 Hervorgerufen vor allem durch nationales Mißverständnis der Werke Des Knaben Wunderhorn, Die Kronenwächter, Teile der Lyrik und des dramatischen Werks wie der Lebensumstände: Gutsherrenexistenz, Adel usf. Vgl. dazu u. a. Volker Hoffmann, Die Arnim-Forschung. DVjs Sonderheft Forschungsreferate 1973, S. 288ff. 27 »Dieses bewußtlose Fortrollen in mancherlei Gedanken, was wir schreiben nennen«, so lautet eine der Formulierungen, die davon zeugt, wie bewußt Arnim diese Vorgänge waren (Steig II, S. 36). Fontane bemerkt in Aufzeichnungen zu den »Kronenwächtern« (vgl. unten S. 130), Arnims Erzählweise sei stellenweise so, »wie wenn man mit dem Psychographen schreibt und die Hand einfach laufen und Zeichen machen läßt ...«. Er spricht von Arnims »träumerisch-gedankenloser« Methode. Siehe HansHeinrich Reuter, Fontane, Bd. 2. München 1968, S. 966 u. 615. Vgl. auch Ricklefs, Vorwort zum Lyrik-Register, S. IX. 28 Steig 11,3. - Vgl. die Gedanken an der Regensburger Brücke, abgedruckt in: Helene Kastinger Riley, Ludwig Achim von Arnims Jugend- und Reisejahre. Bonn 1978, S. 64. Ebenfalls die Selbstreflexion Heymdals am Wasserfall und Odins »wahnes« Lied am Wasserfall in »Ariel's Offenbarungen«, S. 69 und S. 76ff. u. 75f. - Auch der Zustand der tief verstörten Johanna vor der Begegnung mit der Engelmutter Melancholia: »dieser Zweifel stürzte sie in tiefen Trübsinn, sie ging fast bewußtlos einem Wasserfalle zu ... Da sah sie mit Sehnsucht in die Strudel des schäumenden Wasserfalls, als rolle sich ihre Geschichte da ab« (SW 19,433). 29 Steig I, S. 32. 30 Erster Teil von »Ariel's Offenbarungen«. Göttingen 1804. 31 SW 19, S. 9ff; 392; 395f. - Vgl. Ricklefs, Magie und Grenze, Kap. X »Der geschichtsmythologische Rahmen«, S. 297-300. 15

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Steig II, S. 99. - Zweifellos handelt es sich um eine Kopie von einem Stecher der Sadeler-Familie nach Dürers »Melencolia I«. Steig I, S. 319. Achim von Arnim. Ausstellungskatalog. Freies Deutsches Hochstift Frankfurt. 1981. S. 10, Nr. 1 (Renate Moering). Handschriften U B Heidelberg. - Die Muttersymbolik spielt im Sinne eines Ausgreifens in eine transzendente Sphäre, als »idealistisches Syndrom«, eine sehr bedeutsame Rolle in Arnims Werk. Ein Aufsatz darüber ist in Vorbereitung. Besonders »Ariel's Offenbarungen«, »Die Majoratsherren«, »Halle und Jerusalem«, »Die Päpstin Johanna«, auch das Sterntalermotiv in den »Drei liebreichen Schwestern« sind geprägt durch die Muttersymbolik, und die mannigfach auftretende Verdopplung der Muttergestalt in eine hohe, abwesende, transzendente und eine irdische, sorgende (vgl. ζ. B. unten S. 151f. zu »Die Kronenwächter«) steht symptomatisch für einen dualistischen Hiat im Werk Arnims. Die Formulierung »Entstehung >des Gedankens des guten abwesenden Objektes aus der Frustrationstoleranz des trennungstraumatisierten KindesUebergreifen des Idealen