Goethe und die Jungen: Über die Grenzen der Poesie und vom Vorrang des wirklichen Lebens 9783110911435, 9783484320482


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German Pages 176 [180] Year 1989

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Table of contents :
I. Wallfahrten nach Weimar
II. Zudrang bei Schiller
III. Reserve der ,Alten‘ – Ehrgeiz der ‚Jungen‘
IV. Hölderlin und Schiller – ein Beispiel ambivalenter Einstellung
V. Verständigung Goethes und Schillers über die jungen Dichter
VI. Urteilsperspektiven Goethes
VII. Philosophische Überforderung der Poesie
VIII. Religiöse Grenzüberschreitung der Poesie
IX. Abfertigung der ‚Poesie des Schreckens‘
X. ,Für junge Dichter‘
Nachbemerkungen
Anmerkungen
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Goethe und die Jungen: Über die Grenzen der Poesie und vom Vorrang des wirklichen Lebens
 9783110911435, 9783484320482

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Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 48

Johannes Weber

Goethe und die Jungen Über die Grenzen der Poesie und vom Vorrang des wirklichen Lebens

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1989

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Weber, Johannes: Goethe und die Jungen : über die Grenzen der Poesie und vom Vorrang des wirklichen Lebens / Johannes Weber. - Tübingen : Niemeyer, 1989 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte ; Bd. 48) NE: GT ISBN 3-484-32048-6

ISSN 0083-4564

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1989 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt.

Inhalt

I.

Wallfahrten nach Weimar

1

Zudrang bei Schiller

8

III.

Reserve der .Alten' — Ehrgeiz der Jungen'

11

IV.

Hölderlin und Schiller — ein Beispiel ambivalenter Einstellung

17

II.

V.

Verständigung Goethes und Schillers über die jungen Dichter

20

Urteilsperspektiven Goethes

31

VII.

Philosophische Überforderung der Poesie

35

VIII.

Religiöse Grenzüberschreitung der Poesie

48

Abfertigung der .Poesie des Schreckens'

76

VI.

IX. X.

.Für junge Dichter'

102

Nachbemerkungen

116

Anmerkungen

125

V

Ich friere nicht gern draußen, warum soll ich mich denn in der Stube erkälten und noch dazu vor einem Kunstwerke.

Es sind nun schon bald zwanzig Jahre, daß die Deutschen sämmtlich transcendiren. Wenn sie es einmal gewahr werden, müssen sie sich wunderlich vorkommen.

Wie in Rom außer den Römern noch ein Volk von Statuen war, so ist außer dieser realen Welt noch eine Welt des Wahns, viel mächtiger beinahe, in der die meisten leben.

I Wallfahrten nach Weimar

Im altersweisen Rückblick der „Tag- und Jahreshefte" notiert Goethe unter den Begebenheiten und Erlebnissen des Jahres 1795: „Seit jener Epoche, wo man sich in Deutschland über den Mißbrauch der Genialität zu beklagen anfing, drängten sich freilich von Zeit zu Zeit auffallend verrückte Menschen heran. Da nun ihr Bestreben in einer dunkeln, düsteren Region versirte, und gewöhnlich die Energie des Handelns ein günstiges Vorurtheil und die Hoffnung erregt, sie werde sich von einiger Vernünftigkeit wenigstens im Verfolg doch leiten lassen, so versagte man solchen Personen seinen Antheil nicht, bis sie denn zuletzt entweder selbst verzweifelten oder uns zur Verzweiflung brachten." 1 Als Beispiel fur einen dergestalt bedenklichen „Strudelkopf" 2 erinnert Goethe die Erscheinung eines jungen Mannes namens „(...) von Bielefeld, der sich den Cimbrier nannte, eine physisch glühende Natur, mit einer gewissen Einbildungskraft begabt, die aber ganz in hohlen Räumen sich erging. Klopstocks Patriotismus und Messianismus hatten ihn ganz erfüllt, ihm Gestalten und Gesinnungen geliefert, mit denen er denn nach wilder und wüster Weise gutherzig gebahrte. Sein großes Geschäft war ein Gedicht vom jüngsten Tage, wo sich denn wohl begreifen läßt, daß ich solchen apokalyptischen Ereignissen, energumenisch vorgetragen, keinen besonderen Geschmack abgewinnen konnte. Ich suchte ihn abzulehnen, da er, jede Warnung ausschlagend, auf seinen seltsamen Wegen verharrte. So trieb er es in Jena eine Zeit lang zu Beängstigung guter vernünftiger Gesellen und wohlwollender Gönner, bis er endlich bei immer vermehrtem Wahnsinn, sich zum Fenster hinausstürzte und seinem unglücklichen Leben dadurch ein Ende machte." 3 Goethes Erzählung zeigt eine gewisse Gedächtnisschwäche. Der „Cimbrier" und gebürtige Kieler Detlef Friedrich Biel(e)feld, der 1794 in Jena den Doktor der Philosophie erwirbt und kurze Zeit als Privatdozent tätig ist, endet durchaus nicht frühzeitig durch Selbstmord, sondern stirbt erst nach einem 69 Jahre währenden Leben als wohlhabender Privatier in seiner Heimatstadt — 1835, also drei Jahre nach Goethe. Auch ist Bielefelds Hauptwerk nicht ein Gedicht über den „jüngsten Tag", sondern ein ,,Na-

1

tionalheldengedicht in zwanzig Gesängen" mit dem Titel „Thuiskon", verlegt zu Leipzig in den Jahren 1802 und 1805. Wohl aber beschreibt Goethe zutreffend das Schicksal eines anderen jungen Feuerkopfes, des Münsteraner Dichters Franz Anton Freiherrn von Sonnenberg. Seine Epopöie „Donatoa oder das Weltende" — in zwölf Gesängen mit insgesamt fast 20000 Hexametern — erschien 1805 und, posthum, 1806, nach dem Tod des Sechsundzwanzigjährigen. Goethe hatte das Werk, wohl in neckender Absicht, wenig später an Frau von Stein gesandt mit dem Aviso: „Donatoa wartet auf mit Bitte eine Lücke in Ihrer Bibliothek damit auszufüllen. G." 4 Den Dichter selbst scheint Goethe im Sommer 1804 während einer kurzen Audienz zu Gesicht bekommen zu haben. 5 Goethes Irrtum über Namen und Daten mag aus der Tiefe der Jahre erklärt werden. Doch ist er zugleich die subjektive, psychologisch zu deutende Pointe eines Vorgangs, der seit den 1790er Jahren Jena und vor allem Weimar zu einem besonderen Rang verhalf: beide Städte wurden Ziele poetischer Pilgerreisen. Aus allen vier Winden strömten junge, dichterisch ambitionierte junge Männer herbei, um den Häuptern des deutschen Literaturlebens zu huldigen, um sich in wohlwollendes Interesse zu setzen, um Rat und Förderung zu heischen, oder — um ihr eigenes Genie an den Celebritäten zu messen und zu reiben. Diese Wallfahrt der jüngeren, um 1770 geborenen Generation weist nicht nur auf den ideologischen Rang, den die Poesie gegen Ende des Jahrhunderts in Deutschland einzunehmen beginnt. 6 Sie hat für diejenigen, die sich anschicken oder wenigstens davon träumen, die Dichtung zu ihrem Metier zu machen, einen durchaus konkreten sozialen Sinnhorizont. Goethe und Schiller, Wieland und Herder haben es kraft ihrer Eigenschaft als Dichter zuwege gebracht, sich als Individuen bürgerlicher Herkunft über ihre Standesgenossen zu erheben und eine nicht mehr bloß lokale Berühmtheit zu erlangen, die bisher Regenten, Diplomaten und Militärs von adeliger Geburt vorbehalten war. Es verwundert somit nicht, wenn sich die ehrgeizige und enthusiastische, zumeist theologisch-schöngeistig geprägte Jugend danach drängt, vom weimarischen Olymp den Zuspruch der neuen .Götter' zu erfahren. Diese Ausdrucksweise ist am Platze. Vor allem die Art, in der man sich Goethe nähert, trägt oft die Züge mystisch-religiösen Affekts. „Göthen hab' ich gesprochen, Bruder!" ruft Hölderlin in einem Brief an Hegel im Januar 1795 aus: „Es ist der schönste Genuß unsers Lebens, so viel Menschlichkeit zu finden bei so viel Größe. Er unterhielt mich so sanft und freundlich, daß mir recht eigentlich das Herz lachte, u. noch lacht, wenn ich daran denke." 7 Der Freund Hölderlins, Siegfried Schmid aus Friedberg, legt der Ankündigung seines Besuchs einen Hymnus an den angebeteten Dichter bei, der mit folgenden Anrufungen schließt: „Aber laß mich doch auch einmal an so einem Geist hangen, Verhängniß, der dies Allmächtige mit Allmacht umfaßt, daß es sicht2

bar vor mir stehe. — Es brauchts das nicht; sieh nur seine Geschöpfe an, darin ist er. — Doch Verhängniß! Nur um die Erschütterung so einen allmächtigen schaffen zu sehen; er thut das, wenn er spricht. — Goethe, wo bist Du? — Ich glühe." 8 „(...) der heiligen Stadt Gottes, nach welcher er von Jugend auf wie nach einer Keblah seine Augen richtete" 9 , fiebert Jean Paul von Hofaus entgegen: ,,(...) das Schicksal zeigt spielend mir Weimar bald nah, bald fern, wie den Polarbewohnern die Sonne, die jeden Tag nur die Morgenröthe um 12 Uhr schikt, aber nicht kömt, bis sie am Ende über dem weiten Pol-Schnee aufglänzt." 10 Henrich Steffens erinnert sich seiner Gefühle, als er 1799 bei Goethe debütiert: „Ich mußte, als ich ihn zuerst erblickte, mich schnell abwenden, denn mir traten unwillkürlich Thränen in die Augen. Es war mir, als sähe ich Egmont, der sich als Oranien, Tasso, der sich als Antonio darstellte." 11 In ähnlicher Weise scheint, wie sein Biograph Rudolf Köpke berichtet, Tieck vor den „Altmeister der Poesie" getreten zu sein: „Diesen Augenblick (der Begegnung, J.W.) hatte er als Knabe geahnt, und ihn mit heißer Sehnsucht als Jüngling herbeigewünscht, darauf schien eine Seite seines Lebens angelegt. Jetzt endlich war er da! Goethe stand wirklich vor ihm. Das war er selbst, Götz, Faust, Tasso! Aber auch der Herrscher im Reiche der Poesie, in abgeschlossener Hoheit stand vor ihm. Ein gewaltiges, erschütterndes Gefühl erfüllte ihn beim ersten Anblicke." 12 Zacharias Werner schließlich meldet in enthusiastischem Ton an die Gräfin von Brühl über seinen Aufenthalt in Jena seit Ende 1807: „(...) dort war ich drittehalb Wochen und lernte den hochbegnadigten Goethe!!! kennen. Sie kennen diesen nie alternden Apollo von Belvedere, ich brauche Ihnen also nur zu sagen, daß dieser gesundeste aller femhinschauenden Titanen mich Kranken freundlich erträgt und — gelten läßt (...). Kurz, ich sehe den wahrhaft großen Goethe seit dem 2ten Dezember vorigen Jahres täglich fast. An jenem mir ewig denkwürdigen Tage lernte ich ihn in Jena kennen, wo ich drittehalb Wochen in seiner mich begeisternden Nähe war. Dann ging er hierher nach Weimar, und ich auch." 1 3 Diese prominenten Beispiele künden davon, welche Woge der Exaltation in jener Zeit auf Goethe einbrandete — auf ihn, der in mühsamer krisenhafter Entwicklung abgebraust und abgekühlt war und nun in der Würde gesetzten Mannesalters stand. Nicht, daß die enthusiastische Verehrung ihm nicht geschmeichelt haben wird. Doch ist seine Reaktion vorwiegend von starker Gehaltenheit. Skeptisch hält er mehr oder minder freundliche Distanz, die den heftigen Überschwang der Besucher oft rasch und wirkungsvoll dämpft. Nicht untypisch ist, wie Steffens den Verlauf seiner 3

ersten Aufwartung schildert. Gemeinsam mit einem Herrn von Stackelberg aus Liefland sei er Goethe vorgestellt worden: „Die Selbsttäuschung, als müßte Göthe eine Ahnung haben von alledem, was er mir geworden war, ist zu natürlich; er aber unterhielt sich den ganzen Abend mit dem Herrn von Stackelberg. Es gelang mir nicht einen Augenblick, die Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Göthe war noch in seinen besten Jahren. Die vornehme Ruhe, mit welcher er sich bewegte, fing an, mir beschwerlich zu fallen, ja mich zu erbittern; ich war stumm, verlegen und fühlte mich verletzt. Ich erinnerte mich der vielen Geschichten, die man von seinem Stolz und seiner kalten Herablassung erzählt hatte, und ging in einer Stimmung nach Hause, die unerträglich war (...). Ich verbarg glücklicher Weise meine Empfindlichkeit, und wiederholte, nach Hause gehend, fortdauernd Philinens Worte: ,Wenn ich Dich lieb habe, was geht es Dich an', aber was mich durchdrang, war ein vernichtendes Gefühl, ein schwarzer Schatten, der sich breit und finster über meine ganze Vergangenheit warf." 14 Steffens schmollt über einige Wochen hinweg, kommt aber schließlich doch noch zu seinem Glück: Goethe lädt ihn etwas später mit ausgesuchter Freundlichkeit ein und behält ihn einige Tage als Gast: „(...) es war ihm darum zu thun, junge Naturforscher für seine Ansichten zu gewinnen." 15 Junge Naturforscher, nicht junge Poeten! Wie sich Goethe und seine Bewunderer durch Jahrzehnte gleich geblieben sind (uns mag das je nach Stimmung komisch oder gespenstisch erscheinen), dokumentiert das Beispiel des immerhin schon fünfunddreissigjährigen Grillparzer. Labilen Selbstgefühls und zugleich mit hochgespannter Erwartung betritt er 1826 das Haus am Frauenplan, um es alsbald „mit einer höchst unangenehmen Empfindung" wieder zu verlassen: „Nicht als wäre meine Eitelkeit beleidigt gewesen. Göthe hatte mich im Gegenteile freundlicher und aufmerksamer behandelt als ich voraussetzte. Aber das Ideal meiner Jugend, den Dichter des Faust, Clavigo und Egmont als steifen Minister zu sehen, der seinen Gästen den Thee gesegnete, ließ mich aus all meinen Himmeln herabfallen. Wenn er mir Grobheiten gesagt und mich zur Thüre hinausgeworfen hätte, wäre es mir fast lieber gewesen. Ich bereute fast nach Weimar gegangen zu sein." 16 Grillparzer plant schon seine Abreise, da erhält er für den folgenden Tag eine Einladung zum Mittagsmahl: „Als ich im Zimmer vorschritt kam mir Göthe entgegen und war so liebenswürdig und warm, als er neulich steif und kalt gewesen war. Das Innerste meines Wesens begann sich zu bewegen. Als es aber zu Tische ging, und der Mann, der mir die Verkörperung der deutschen Poesie, der mir in der Entfernung und dem unermeßli-

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chen Abstände beinahe zu einer mythischen Person geworden war, meine Hand ergriff, um mich ins Speisezimmer zu führen, da kam auf einmal wieder der Knabe in mir zum Vorschein und ich brach in Thränen aus. Göthe gab sich alle Mühe um meine Albernheit zu maskieren." 17 Goethes steifes .geheimrätliches' Gebaren, seine „Vornehmthuerei und Egoisterei" 18 , die von vielen seiner enthusiastischen Besucher erkältend erfahren werden und sie in ein dramatisches Wechselbad der Gefühle stürzen, haben den Sinn persönlicher Verteidigungsmaßregeln. Sie dienen dem Selbstschutz und der Wahrung existentieller Unabhängigkeit, die bei einer derart exponierten und zudem psychisch reizbaren Persönlichkeit durch den gedankenlosen, manchmal dreisten Zugriff der Verehrergemeinde in Gefahr steht. Goethe selbst hat sich wiederholt dazu geäußert, wie sehr er der Abwehr äußeren Zudrangs bedurfte, um sich den Kopf frei zu halten fur die eigene konzentrierte produktive Tätigkeit. 19 In Sonderheit hat er immer wieder die Erwartung der herbeigeeilten Jünger enttäuscht, ein Wort über poetische Dinge, zumal seine eigenen, zu verlieren. Wenn überhaupt, so erwachte sein Interesse dagegen bei Profanem und Pragmatischem. Karl Heinrich (Ritter von) Lang hat diese Eigenart in seinen Lebenserinnerungen satirisch verdichtet. Bei seinem Besuch im Jahre 1826 sei ihm ein „langer, alter, eiskalter, steifer Reichsstadtsyndicus" im Schlafrocke entgegengetreten, habe ihm, „wie der steinerne Gast", gewunken, Platz zu nehmen, und sei daraufhin schweigend verharrt, „tonlos an allen Seiten (!), die ich bei ihm anschlagen wollte"/" Endlich bricht doch ein Funke hervor, und zwar in der Aufforderung, alles bis ins Kleinste über Organisation und Schadensregulierung der Brandversicherungsanstalt im Ansbacher Bezirk Langs mitzuteilen — am plastischen Exempel eines Totalverlustes: „Wollen wir", so Goethe, „wenn ich bitten darf, den Ort ganz und gar abbrennen lassen." Der Besucher bläst also sein Feuer an und läßt die Katastrophe in all ihren traurigen Folgen und Verwicklungen bis hin zu den Jahre später gewährten „Entschädigungssümmlein" ihren Lauf nehmen: „Das hörte der alte Faust mit an und sagte: ,Ich danke Ihnen.' " 2 1 Nachdem noch die Menschenzahl eines Rezatkreises erörtert worden ist („Ich sagte: .Etwas über 500 000 Seelen.' — ,So, so!' sprach er, ,hm! hm! das ist schon etwas.' "), wird Lang höflich verabschiedet und verläßt mit der Empfindung das Haus, „als wenn ich mich beim Feuerlöschen erkältet hätte." 2 2 Affektiertes Dekor der Exzellenz, Hochmut des reüssierten Bürgers, ängstlich bewahrte Souveränität des leicht irritierbaren Selbstgefühls, überspielte Verlegenheit 23 , Altersstarrheit — alle diese Charaktermerkmale mag man mit Recht argwöhnen; facettengleich, mit wechselndem Akzent, treten sie aus den überlieferten Begegnungen hervor und modellieren ein Erscheinungsbild des .offiziellen' Goethe, das uns wenig sympathisch anmutet und die tiefe Enttäuschung, ja selbst die erhebliche Wut

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mancher seiner enthusiastisch gestimmten Besucher verständlich erscheinen läßt. Sogar im Kreis der Weimarer Vertrauten war man von des Dichtergottes Reserviertheit peinlich berührt und hat sie als Zeichen schwer erträglicher, mitunter gar menschenverachtender Arroganz aufgefaßt. Luise von Knebel (geborene von Rudorff) berichtet in ihren Lebenserinnerungen über einen „Student(en) Namens Falk", der (im Jahre 1795) an sie mit der Bitte herangetreten sei, ein Büchlein seiner Feder an Wieland weiterzureichen und ihn auf diesem Wege auch Goethe zu empfehlen. Sie entspricht dem Anliegen, Wieland seinerseits verspricht, das Werk zu lesen; doch dann vergehen einige Wochen ohne jeden Bescheid. Als sie sich schließlich beklagt, beruhigt sie Wieland mit der Auskunft, er habe das Buch Goethe übergeben, um sein Urteil darüber zu hören. Wiederum nach ein paar Tagen lädt sie Goethe und Wieland zu einer Abendgesellschaft: „Nachdem der Thee getrunken war; fragte ich bei Wieland, wie es stehe; dieser wendete sich sogleich zum Göthe; und fragte Göthen, nun mein Freund wie hat Ihnen denn das kleine Buch gefallen? Ich habe Göthen oft in großem Verdruß und Aerger gesehen; aber nie so wie den Abend indem Göthe zu Wieland sagte; aber mein Freund, wie konnten sie meine Zeit auf solche weise in Anspruch nehmen; mir ein so fades abgeschmacktes buch zum lesen zu geben; Wieland antwortete ganz ruhig dem Göthe; das thue ihm sehr leid; er wolle es ihm aber nur gestehen; das er es gar nicht gelesen habe — mein Schreck war grenzenlos; wie ich das hörte; Wieland sagte, er hätte es nur seiner vortreflichen Rudel (d.i. L. von Rudorff, J.W.) zu Gefallen gethan es anzunehmen; und hätte aber gern etwas dafür thun mögen (...)". 24 Beide Herren sind nun begreiflicherweise indigniert, reden den ganzen Abend hin und wider, einigen sich endlich darauf, den jungen Mann vorerst zu vertrösten und ihm eine Antwort zu avisieren, sofern etwas zur Zufriedenheit über sein Buch gesagt werden könne, und halten damit die Sache für erledigt. Nicht so die Gastgeberin: „(...) ich machte denen beiden großen Geistern; einige starcke Vorwürfe; das sie grade; auf die ich so großes Vertrauen gesetzt hätte; mich so hinzuhalten mit einer solchen Antwort wofür ich gar keinen Ausdruck fände — ich könnte mich unmöglich entschliesen, den armen Menschen, solche Antwort zu schreiben, der sein ganzes Erden Glück, auf sie beide gesetzt hätte, ich konnte unmöglich damals begreifen, das man sich solche Antworten bediente, um die armen los zu werden — ... Nun sah ich mich so getäuscht — und zwar von solchen Männern; die ich und jedermann für halb Götter hielte? — Denn wenn man sie sprechen hörte mußte mann glauben; das sie blos darum auf der Welt wären; um mehr oder weniger; die

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ärmeren Menschen die so weit unter ihnen in der Gelehrsamkeit ständen auf zu helfen? — Aber das Gotterbarm — ich Iis aber meine Galle ornlich meine Meinung — b e i d e sagten zu mir. Mein liebes Rudelchen, empören sie sich nicht so über eine Sache, die es gar nicht werth ist; sie wissen das gar nicht; wie viel ganz erbärmliche Schriftsteller es in der Welt giebt (...)"· 25 Diese Anekdote beleuchtet im übrigen nicht nur das schlechte Omen vieler hochgemuter Hoffnungen, die man den .Halbgöttern' Wieland und Goethe entgegenbringt. Sie könnte ebensogut fur das Thema .Schiller und seine Verehrer' herangezogen werden. Davon sei nun berichtet.

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II Zudrang bei Schiller

Nachdem 1795 Schillers „Musenalmanach" und die „Hören" ans Licht der Öffentlichkeit getreten sind, gerät nicht nur das kritische Publikum in Wallung und setzt dem Herausgeber erheblich zu. Es entwikkelt sich auch eine beachtliche Kette von Anträgen, die den Dichter mit teils kuriosen, teils ärgerlichen, zumeist natürlich literarischen Anmutungen heimsuchen. Ihre krause Vielfalt ist ein Zeichen dafür, wie weit der Ruf Schillers bereits gedrungen ist. Da nähert sich eine „vaterlose Waise", der es an Mitteln gebricht, das Studium aufnehmen zu können: „Die Ausrüstung zur Universität, und der nothwendige Unterhalt an Kleidungsstücken (...) zwingt mich, zu edeldenkenden Freunden der Wissenschaften meine Zuflucht zu nehmen; und da kein Zweifel da ist, daß nicht Deutschlands erster Gelehrter und Schriftsteller zu dieser Classe gehören sollte, so wage ich diese Bitte um etliche Unterstützung, und ferneren Schutz an Sie höchstzuverehrender Herr Hofrath!" 2 6 Eine andere „vaterlose Waise", der unbesoldete „Gehülfsprediger" Lehmann aus Barby, fleht „Ew. Wohlgeb. als den berühmten Verfasser vieler vortreflicher Schriften" an, ihn, da er unvermögend sei, auch nur ein Buch zu kaufen, „mit einigen derselben bald gütigst zu beschenken." 27 In finanziellen Nöten befindet sich auch ein Christian Friedrich Gottlob Thon. Nach wortreichen Entschuldigungen des Tenors, er würde sich den folgenden Antrag nie verzeihen, „wenn nicht iedes Blatt Ihrer unübertreflichen Schriften den Beweiß Ihrer menschenfreundlichen Gesinnungen führte", kommt er zur Sache, wie seine „fürchterliche Lage" zu bannen sei: „Gegenwärtige Erzählung, die villeicht einige Spuren meines Fleisses trägt, so daß man mir schwerlich den Vorwurf der Fabrickenarbeit wird machen können, bestimme ich für die Hören, die gedruckt ongefähr 5 Bogen ausmachen wird. — Wollten Ew: Wohlgeb: diese Kleinigkeit, wenn sie einigen Beifall erhält, gegen 2 Luisd'or oder weniger annehmen? — Sie reißen mich aus einer schrecklichen Verlegenheit (...)." 28 Neben solch offenen Betteleien erreichen den „grose(n) Beförderer der Humanität unter den Deutschen" 29 Bitten um die Vermittlung von An8

Stellungen 30 , um freundliche öffentliche Rezension einer Erstlingsschrift , um Mitarbeit an neuen literarischen Projekten 32 , um einen Autographen „zum Andenken" 3 3 , um ein „kleines Gedicht über den Nahmen Heloise (...) so daß im Anfang von jeder ligne, einer der Buchstaben dieses Nahmens sich befindet, und in diesen paar Zeilen alles mögliche Schmeichelhafte zu sagen, und um einen günstigen Blick von Ihr zu bitten." 3 4 Selbst als Seelenarzt wird Schiller in Anspruch genommen. Ein gewisser Philip Horn leidet „an der Melancholie im höchsten Grade". Er schildert ausführlich die traumatischen Ursachen und den Verlauf seiner Depression und bittet den Dichter, umgehend seinen „weisen Rath und Mittel zur Abhelfung" des Übels mitzuteilen. 35 Das Gros der Zuschriften hat freilich, wie bemerkt, mit literarischen Ambitionen zu tun. Mit ungemeiner, unwandelbarer, größter, höchster, tiefster, ausgezeichnetester, vollkommenster, gefuhltester, lebhaftester, innigster, unbegrenzter, liebender, zartester, reiner Ehrfurcht, Verehrung und Hochachtung wendet man sich an den „ersten Priester der Musen in unse(rem) deutschen Vaterlande" 36 , an den Mann, „dessen Nähme auch von der vermeßensten Zunft der Gelehrtenrepublik mit Achtung und Ehrfurcht genannt" wird 3 7 , an ihn, „dem iede Minute ein Monument des Nachruhms setzt" 3 8 , an den Mann, „auf den Deutschland so viel Ursache hat, stolz zu sein" 39 , den „der gebildete Teil der Nation (als) seinen geistigen Wohlthäter verehrt" 4 0 , „auf den sein Zeitalter stolz ist" 4 1 , den „ersten Dichter Deutschlands" 42 , an den Mann, dessen „Verdienst (...) auf dem höchsten Gipfel der Vollkommenheit" steht, „auf welchen Teutschlands Genius der schönen Wissenschaften, stolz auf seine Riesengröße, triumphierend herniederblickt" 43 , an den Mann „auf dem höchsten Punkt unsere Deutschen Parnasses" 44 , an den „deutschen Sophokles" 45 , an den „Urquell deutscher Schönheit und deutscher Geistesgröße". 46 Es sind Pfarrer, Prediger und Kandidaten der Theologie, Lehrer und Hofmeister, Sekretäre, Advokaten und Notare, Ärzte, Apotheker, Kapellmeister und Offiziere, Professoren und Studenten der verschiedenen Fakultäten, Freiherrn und Barone, die sich in dieser Weise nähern. Sie alle haben Produkte ihrer Feder anzubieten, häufig Erstlingswerke, und hoffen auf ermunternde Kritik, auf ein Urteil, ob sie sich als Dichter betrachten dürfen, vor allem aber ersehnen sie die Aufnahme ihrer mannigfaltigen Werke und Werklein in die „Hören" oder den „Musenalmanach". Der Freund Seumes, Karl Ludwig Freiherr von Münchhausen, hat in einem Brief vom Mai 1798 den allgemeinen Wunsch pointiert, er freilich selbstbewußt und nicht ohne Ironie: „An Schiller Ist mein Gewand dir vornehm genug, so gönne dem Layen Auch ein Plätzchen am Tisch' in dem Hause des Herrn:

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Sey es bey Musen, bey Hören! wenn Götter auch Menschen noch dulden, Heißt man mich sitzen — wo nicht —, bleib' ich auch willig zu Haus." 47 Schiller hat dieser eleganten, doch leicht trotzigen Aufwartung kein Ohr und keine Erwiderung geschenkt. Aber auch die Vielzahl der unterwürfigbescheidenen Zuschriften scheint er kaum jemals einer Antwort für wert befunden zu haben. Die Kommentare zu diesen Briefen (in der Nationalausgabe oder bei Minor 48 ) vermerken ein ums andere Mal, ein Antwortschreiben sei nicht erfolgt oder unbekannt. Sinnfällig wird Schillers Schweigen in Nachfragen besonders hartnäckiger Einsender. Sie verhehlen ihre Enttäuschung oft höflich durch Vermutungen, ihre Briefe seien aufgrund postalischer Mißhelligkeiten untergegangen oder für den erhofften Abdruck zu spät eingelangt. 49 Auch die häufige, gelegentlich wiederholte Bitte um Rücksendung eingeschickter Arbeiten weist auf Schillers übliche Praxis der Nicht-Reaktion. 50 Die Einsender scheinen nicht über die exklusiven Anforderungen im Bilde gewesen zu sein, die Schiller vor die Ehre stellte, in seinen Zeitschriften zu erscheinen. Den elitären Anspruch des Dichters hat übrigens auch die chronische Not an brauchbaren Beiträgen, insbesondere für die „Hören", kaum herabzustimmen vermocht. 51 Sicherlich hängt Schillers Schweigen, das die sonst üblichen Formen einfacher Höflichkeit übergeht, auch mit diesen .aristokratischen' Prätensionen zusammen. Es wäre dennoch ungerecht, dem Vielumworbenen bloße Arroganz und nichts als Hochmut gegenüber mediokren Geistern und indiskutablen Schreiberlingen zu unterstellen. Man kann getrost annehmen, daß er, als einsamer Mann des Worts ohne einen Stab von Referenten und Sekretären, unter stetem Zwang zu eigener dichterischer Produktion, zugleich durch gesundheitliche Übelstände schwer belastet, peinlich haushälterisch mit seinen Kapazitäten zu wirtschaften hatte. Er dürfte also einfach damit überfordert gewesen sein, all diesen Bewerbern und Bittstellern formale Freundlichkeit oder gar kritische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Immerhin ist zu bemerken, daß einige wenige junge Poeten, die ihm vielversprechend erschienen, durchaus seinen Rat finden konnten. Goethe spricht Ende 1797, nicht ohne ironischen Zungenschlag, gar davon, daß Schiller „so gern von jungen Männern etwas hoffe(n)." 5 2 Darauf wird im einzelnen zurückzukommen sein.

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III Reserve der ,Alten' - Ehrgeiz der ,Jungen'

Trotz des Verständnisses, das man für die lebenspraktische Situation der beiden exponierten Dichterfürsten aufbringen muß, trotz der Annahme, daß ihre Unzugänglichkeit und Reserve als Mittel persönlichen Selbstschutzes vielfach zu rechtfertigen sind, bleibt ein erhebliches Unbehagen. Ist die geheim- oder hofrätliche Maske, trotz allen verständlichen Anlasses, nicht doch zu ehern den zutraulichen Enthusiasten entgegengewendet? Bedeutet sie am Ende vielleicht doch mehr und Unerfreulicheres als nur eine pragmatische Verlarvung? Müßte man annehmen, daß sie in Wirklichkeit ein Zeichen zweiter Natur ist, eine charakterliche Verfestigung zunächst taktisch eingesetzter hochmütiger Unnahbarkeit, so erhielte dies Unbehagen ein Gewicht, dem unsere Erklärung nicht gewachsen wäre. Nicht nur würde man sich dem Zorn und der Enttäuschung der abgewiesenen oder vernachlässigten Verehrer getrost anschließen. Mit Recht auch könnte man auf die abfertigenden Urteile der Olympier nicht mehr viel geben. Goethes Verdikt über die herandrängenden poetischen Strudelköpfe, denen zu raten nicht möglich gewesen sei, geriete seinerseits unter Pathologieverdacht; es wiese auf Züge menschlicher Empfindungslosigkeit und eines ignoranten Zynismus. Nun, Goethe und Schiller waren keine bösen oder unbedachtsamen Narren. Dieses (Apo-)Diktum sei erlaubt, den Rettern exzentrisch-enthusiastischer Dichter zum Trotz 5 3 — auch auf die Gefahr hin, damit trivial in die offene Tür einer mächtigen Tradition zu fallen, die die klassischen Dichterfürsten in allen ihren Lebensäußerungen zum Maß der Welt- und Menschensicht stilisierte. Ich behaupte, daß beider Skepsis gegenüber den emphatischen jungen Dichtern ihrer Zeit, die sich bis zu schroffer Ablehnung steigern konnte, gerechtfertigt, jedenfalls aber diskussionswürdig ist. Es geht nicht bloß darum, daß zwei Große keine anderen Götter neben sich dulden wollen. Es handelt sich auch nicht um einen Generationskonflikt allgemeiner Art, in dem die ,Väter' ihre ungeratenen, gar aufbegehrenden ,Söhne' ducken oder zur Raison bringen wollen. Wenn in dieser Metaphorik überhaupt gesprochen werden kann, dann nicht, ohne sogleich nach den biographisch (und damit historisch) bestimmten Erfahrungshorizonten, Maximen und Perspektiven zu fragen, die den Charakter dieser ,Vaterfiguren' und dieser ,Söhne' bezeichnen. Gefordert ist ein Urteil darüber,

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welche Haltung menschlich und historisch als .gerecht' betrachtet werden kann. Mitleid oder Bewunderung geben hierfür schlechten Rat; die Sensationen eines Literaturfreundes und der fachwissenschaftliche Eros mögen davon profitieren, daß Hölderlin trotz anderslautender Ratschläge Goethes sich nicht damit begnügt hat, „kleine Gedichte" zu machen, daß Kleist trotz seiner entmutigenden Erfahrungen mit Weimar an seiner Art festgehalten hat. Es reicht jedoch nicht hin, sich nur daran zu halten, daß exzentrische Erscheinungen wie Hölderlin oder Kleist sich als Poeten von eigenständigem Rang und gar als solche erwiesen haben, die in Dichtung zu fassen wußten, was Goethe und Schiller verschlossen oder unberührbar blieb. Vielmehr ist hervorzuheben, daß diese poetischen Errungenschaften offenbar mit einem Persönlichkeitstypus übereingehen, dessen Dispositionen sich in lebensgefährlicher, existenzzerstörerischer Weise gegen das Realitätsprinzip sperren. Ich frage also nach dem Verhältnis von Dichtung und Leben, nach den Bezügen zwischen bestimmten (sozial-)psychischen Prägungen und poetischen Konzepten, und vor allem nach dem Preis, den die jungen Dichter dieser Zeit zu entrichten haben, wenn sie für sich den Primat der Poesie proklamieren und rücksichtslos ihrem Dichterberuf — als Berufung — anhängen. Unter dieser Fragestellung untersuche ich das Verhältnis der jüngeren Dichtergeneration zu den großen Klassikern und prüfe, ob Goethes und Schillers vielfach ablehnende oder herabstimmende Haltung nicht — so paradox dies im ersten Moment auch klingen mag — in Wahrheit eine weise Geste bedeutet, die die Adressaten zu ihrem Schaden freilich nicht begreifen konnten oder wollten. Befassen wir uns darum zunächst genauer mit der Frage, wes Geistes Kind die jungen Poeten sind, die sich dem Dichterolymp nahen. Die Jungen' sind, wie demutsvoll sie sich auch den angebeteten Meistern zu nähern scheinen, keineswegs Kinder der Bescheidenheit. Ihr Ehrgeiz mißt sich an den großen Dichtern der Vergangenheit und Gegenwart. Young und Klopstock sind die Heroen des kaum achtzehnjährigen Hölderlin: „Euch zu folgen, Große! — Werd ichs können?" 5 4 Gegenüber der reißenden Ruhmbegierde haben Selbstzweifel keinen Bestand: „Ach Freunde! welcher Winkel der Erde kan Mich deken, daß ich ewig in Nacht gehüllt Dort weine? Ich erreich' ihn nie den Weltenumeilenden Flug der Großen. Doch nein! hinan den herrlichen Ehrenpfad! Hinan! hinan! im glühenden kühnen Traum Sie zu erreichen; muß ich einst auch Sterbend noch stammeln; vergeßt mich, Kinder!" 55 Der Freund Hölderlins, Siegfried Schmid aus Friedberg, trotzt hochfahrend den Parzen:

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In mir strebt es unendlich Immer hinauf, Und ringt nach dem Hohen. (...) Wo bin ich? An hoher Tafel schwelg' ich. Götterkost des Zerbrechlichen Nahrung, von Göttern gewährt! Aus ihrer Mitte, einer Wie sie, allmächtig Dünk' ich mich Schöpfer! (...) Weh! im heiligen Taumel Lassen den Menschen Die Hohen nicht lange. Des Tartarus Schauer Ohnmacht, Armuth, Dunkel Überfällt den Vermessenen, Der ihnen sich gleich dünkt; Doch es richtet Die treue, sorgsame Mutter Natur, Tausendfach wirksam, Den Sohn wieder auf. Und auch die Götter Sehen gerne, Wenn er es kühn wagt, Sich ihnen mit Selbstkraft Näher zu schwingen." 56 Schmid weist es von sich, „Helotenarbeit" zu verrichten, „um essen und trinken zu können" 5 7 , da er sich durch eine Art Erweckungserlebnis, eine „Geistesrevolution", zum Dichter berufen fühlt. 58 Mit „Helotenarbeit" meint er übrigens die Tätigkeit eines Professors der Poesie und Beredsamkeit. Notgedrungen hatte er sich dafür an der Universität Gießen beworben, unter Hinweis auf einige Gedichte, die Schiller günstig beurteilt und in den „Musenalmanach" aufgenommen hatte. Man lehnte ab. 59 Böhlendorff, ein anderer Freund Hölderlins, behauptet von sich, daß ihn „(...) der Sfären Harmonieen umschlangen / Und göttliche Gesänge in mich drangen." 60 Einer der Dramenhelden Böhlendorffs formuliert die Maxime: „Die Unvollkommenheit soll nicht bestehn!" 61 Das letzte Projekt des Schriftstellers, nach zwanzigjährigem Vagabundenleben, kurz vor seinem traurigen Ende im Jahre 1825, besteht darin, Schillers „Räuber" in edles Jambenmaß zu setzen. 62

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Franz von Sonnenberg sieht seinen Genius durch Homer, Milton, Shakespeare, Ossian, Petrarka und Tasso begeistert: „Ha! wie Dir hoch die Wang' aufglüht, o Jüngling! Stürmisch klopfet das Herz von Ehrbegierde! Ob mir Lorbern sprossen am Pindus? — Laß die Nachwelt entscheiden!" 63 Mit dem Epos „Donatoa" sucht Sonnenberg Klopstock zu übertreffen. Zugleich wendet er sich gegen diejenigen, die „die ewige Schöpfung eines Klopstock" verkleinern, „den Olimp der Dichter neu organisieren, und der Nazion ihren Gott vordekretiren wollten": „Nicht, als wenn ich den homerischen Genius, den Meister des Meisters, verläugnete, mit wärmster Bewunderung und Liebe seiner göttlichen Abkunft huldigend, und jedes Vortreffliche neuer Versuche dankbar anerkennend, erklär' ich mich nur gegen die allein kanonisirenden Dekrete des neupoetischen Papismus offen als Antichrist." 64 Von Heinrich von Kleist wird überliefert, daß er nur dem einen Ziel nachgestrebt habe, „der größte Dichter seiner Nation zu werden; und auch Goethe sollte ihn daran nicht hindern. (...) ,Ich werde ihm den Kranz von der Stirne reißen', war der Refrain seiner Selbstbekenntnisse wie seiner Träume." 65 Friedrich Schlegel bekennt 1793 emphatisch: „Es steht mir nur ein einziger Weg offen, und zwar kein andrer als ,die lichte Bahn des Ruhmes'. Doch gewiß! nicht Ehrbegierde führt mich zu der heiligen Kunst, sondern Liebe." 66 Es erscheint ihm unmöglich, sich „in ein bürgerliches Joch zu schmiegen, um einen dürftigen Lohn meinen Geist, das bessere Theil meines Lebens unwiederbringlich hinzuopfern ohne Ersatz, ja! ohne Linderung des harten Schicksals". 67 Die Reihe solcher Zeugnisse könnte fortgesetzt werden. Ich verzichte auf eine Amplifizierung. Der hochfahrende Gestus, der geradezu wütende Wille zur poetischen Gipfelstürmerei ist in dieser Generation junger Akademiker ein allgemeines Merkmal. Gering sind die Ausnahmen, die frühzeitig ihre eigenen Grenzen als .Dichter' wahrnehmen oder von der Vorstellung zurückkommen, daß der ,Dichterberuf' existenziell tragfähig sein könne. 68 Es verwundert nicht, daß die prätendierte Größe zu den erlesensten literarischen Gattungen drängt und gewaltige, nie gesehene ästhetische Konzepte verlangt. Man will sich nicht mit der nach geltendem Kanon niederrangigen Prosa begnügen, sondern strebt sogleich nach den hohen Formen des Epos und des Dramas, zumindest aber zu den vornehmsten Gebilden lyrischer Kunst, den Gesängen in Hymnen und Oden. Die Poesie soll als Medium des Schönen nicht länger ein Partialdasein neben den Sphären der Weltweisheit und des höheren Lebens führen, sondern als

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zentrale und universale Instanz der Weltdeutung die Dimensionen der Philosophie und Religion in sich aufnehmen und aufheben. Ich weise auf die ästhetischen Spekulationen Hölderlins, Novalis' und der Brüder Schlegel. Wie sehr diese ungeheuren Ansprüche durch die Leistungen Klopstocks und der Jenaer und Weimarer Klassiker allererst motiviert sein mögen und wie enthusiastisch deren Verehrung dementsprechend erscheint, so steckt doch in solchem massierten Ehrgeiz von vornherein das Potential der Revolte, des Aufbegehrens gegen die ,Meister'. Sonnenbergs und Kleists Äußerungen wiesen bereits darauf; die zwieschlächtige Haltung Kleists wird noch deutlicher, wenn man weiß, daß er Goethe, dem er doch den „Lorbeer" entreißen will, die „Penthesilea" auf „den Knien seines Herzens" darbringt. 69 Auch die Opposition der Jenaer Romantiker gegen Schiller gehört in diesen Zusammenhang, ebenso deren Trennung von Goethe in der Zeit nach 1 8 0 5 . Goethe selbst hat sich übrigens, traut man der Überlieferung Johannes Falks, im Jahre 1 8 0 8 in sarkastischer Laune über die despotischen Prätensionen und Usurpationen mokiert, die mit dem Auftreten vor allem Tiecks, Novalis' und der Brüder Schlegel an die Tagesordnung der .Gelehrtenrepublik' kamen: „Ich nehme mir die Freiheit, Schiller für einen Dichter und sogar für einen großen zu halten, wiewohl die neuesten Imperatoren und Dictatoren unserer Literatur versichert haben, er sei keiner. Auch den Wieland wollen sie nicht gelten lassen. (...) Kürzlich hat eine Gelehrtenzeitung (...) Friedrich Schlegel als den ersten deutschen Dichter und Imperator in der Gelehrtenrepublik förmlich ausgerufen. Gott erhalte Se. Majestät auf Ihrem neuen Throne und schenke Denenselben eine lange und glückliche Regierung! (...) Übrigens geht es in der deutschen Gelehrtenrepublik jetzt völlig so bunt zu wie beim Verfall des römischen Reiches, wo zuletzt Jeder herrschen wollte, und Keiner mehr wußte, wer eigentlich Kaiser war. (...) Wieland und Schiller sind bereits ihres Thrones verlustig erklärt. Wie lange mir mein alter Imperatormantel noch auf den Schultern sitzen wird, läßt sich nicht vorausbestimmen (...). Doch bin ich entschlossen, (...) meine Absetzung mit Geduld zu ertragen (...). J a , wovon sprachen wir doch gleich? Ha, von Imperatoren! Gut! Novalis war noch keiner; aber mit der Zeit hätte er auch einer werden können. Schade nur, daß er so jung gestorben ist, zumal, da er noch außerdem seiner Zeit den Gefallen gethan und katholisch geworden ist. Sind doch schon (...) Jungfrauen und Studenten rudelweise zu seinem Grabe gewallfahrtet und haben ihm mit vollen Händen Blumen gestreut. Das nenn' ich einen guten Anfang, und es läßt sich davon schon etwas für die Folge erwarten. (...) Tieck war auch eine Zeitlang Imperator; aber es währte nicht lange, so verlor er Scepter und Krone. Man sagt, es sei etwas zu Titus-

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axtiges in seiner Natur, er sei zu gütig, zu milde gewesen; das Reich aber fodere in seinem jetzigen Zustande Strenge, ja, man möchte wohl sagen, eine fast barbarische Größe. Nun kamen die Schlegel ans Regiment; da ging's besser! August Schlegel, seines Namens der Erste, und Friedrich Schlegel der Zweite — die beiden regierten mit dem gehörigen Nachdrucke. Es verging kein Tag, wo nicht irgend Jemand ins Exil geschickt, oder ein paar Executionen gehalten wurden. So ist's Recht. Von dergleichen ist das Volk seit undenklichen Zeiten ein großer Liebhaber gewesen." 70 Man erinnere sich: Diese Jünglinge der deutschen ,Poetenrepublik' waren im Alter des von Goethe bewunderten Bonaparte. Ihr Ehrgeiz zeigte in der Tat oft napoleonische Größe. Freilich, nicht nur ihnen, selbst einem Franz von Sonnenberg blieb die Kaiserwürde versagt: Er, ein pathologischer Grenzfall, doch nicht ohne Signifikanz, schwankte zuletzt im Wunsche, entweder als ein zweiter Klopstock oder als ein deutscher Widerpart und Überwinder des Korsen in die Geschichte einzugehen — ehe er sich aus dem Fenster stürzte. 71 Zurück in weniger kuriose, gleichwohl kaum weniger traurige Geleise!

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IV Hölderlin und Schiller: ein Beispiel ambivalenter

Einstellung

Katharina Mommsen hat in überzeugender Webe dargestellt, daß ein großer Teil des Werks Kleists als Ausdruck eines „agonalen Kampfes" mit dem zugleich verehrten und gehaßten Goethe interpretiert werden kann. 72 Ein anderes bemerkenswertes Beispiel für das labile Schwanken zwischen demutsvoller Anbetung und selbstgefühligem Widerstand finden wir in der Attitude, die Hölderlin gegenüber Schiller zeigt. Ihre Mixtur von kindlicher Treuherzigkeit und kaum verhohlenem Trotz ist derart frappant, daß sie bereits zu tiefschürfender psychoanalytischer Deutung Anlaß gegeben hat. 73 Hölderlin wendet sich so an Schiller: „Ich habe Muth und eignes Urtheil genug, um mich von anderen Kunstrichtern und Meistern unabhängig zu machen, und insofern mit der so nöthigen Ruhe meinen Gang zu gehen, aber von Ihnen dependir' ich unüberwindlich; und weil ich fühle, wie viel ein Wort von Ihnen über mich entscheidet, such' ich manchmal, Sie zu vergessen, um während einer Arbeit nicht ängstig zu werden." 74 „Sie zu vergessen" — das scheint Hölderlin zu seinem Schaden, wie sich zeigen wird, an sensibler Stelle allzu gut gelungen zu sein. 1796, im Jahre der Veröffentlichung der „Xenien", bittet er um den Abdruck einiger Gedichte im „Musenalmanach", worunter eines sich in der Metaphorik rüder Tyrannenschelte „An die klugen Rathgeber" wendet. Ich zitiere die vorletzte Strophe: „Jetzt blüht die neue Kunst, das Herz zu morden, Zum Todesdolch in meuchlerischer Hand Ist nun der Rath des klugen Manns geworden, Und furchtbar, wie ein Scherge, der Verstand; Bekehrt von euch zu feiger Ruhe, findet Der Geist der Jünglinge sein schmählich Grab, Ach ! ruhmlos in die Nebelnächte schwindet Aus heitrer Luft manch schöner Stern hinab." 75 Schiller bleibt die Anwort auf Hölderlins Ansinnen schuldig und reagiert zunächst auch nicht auf die Bitte, die Entwürfe zurückzusenden. Selbst die gemilderte und schon im Titel signifikant geänderte Fassung des Gedichts „Der Jüngling an die klugen Rathgeber" (1797) wird keine Gnade

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finden und unveröffentlicht bleiben. Immerhin scheint Schiller nicht von vornherein gänzlich unwillig gewesen zu sein. Unter den nachgelassenen Manuskripten Hölderlins findet sich die Handschrift der Erstfassung des Gedichts, mit derben Streichungen von Schillers Hand, die die besonders heftig ausschlagenden Verse tilgen, sowie mit einigen positiven Redaktionsvorschlägen. 76 Das bedeutet, daß Schiller zunächst eine Veröffentlichung durchaus in Betracht gezogen haben kann. Seine Praxis massiver redaktioneller Eingriffe betraf eine ganze Reihe von Beiträgen für den Musenalmanach, stellte also auch in diesem Fall nichts Ungewöhnliches dar. 77 Goethe erinnert sich noch 1830 in heiter lobender Weise, daß Schiller als Streicher „besonders groß" gewesen sei.78 Gewöhnliches Verfahren war es auch, Beiträge, die anfänglich für eine Aufnahme in den Almanach vorgesehen waren, fallen zu lassen, sobald passendere einlangten. 79 Freilich ging es dabei nicht immer ohne manipulative Kniffe zu. Schiller erbittet etwa im August 1797 — noch nach dem persönlichen Bruch mit den Brüdern Schlegel — von dem älteren August Wilhelm eine Ballade mit der Begründung: „Ich habe (...) gern einen Vorwand bey mir selbst, manche überlästige Herren, die sich im Almanach aufpakten, wieder herauszuwerfen. Die Zudringlichkeit dieser Herren ist über alle Begriffe." 80 Man muß dieses Diktum nicht auf Hölderlin beziehen, wenngleich der zeitliche Konnex hierfür einen gewissen Anhaltspunkt geben könnte. Hölderlins Überarbeitung „Der Jüngling an die klugen Rathgeber" war zusammen mit dem gekürzten Gedicht „Diotima" Ende Juli bei Schiller angekommen, und zwar mit folgendem Anschreiben: „(...) Ich danke Ihnen innigst für Ihre gütige Aufnahme des Wanderers in die Hören. Glauben Sie, daß ich diese Ehre zu schäzen weiß! Auch freut es mich äußerst, daß Sie den Aether Ihres Allmanachs würdig gefunden haben. Ihrer Erlaubniß gemäß, schik' ich Ihnen das Gedicht an die klugen Rathgeber. Ich hab' es gemildert und gefeilt, so gut ich konnte. Ich habe einen bestimmteren Ton hineinzubringen gesucht, so viel es der Karakter des Gedichts leiden wollte. Ich lege Ihnen noch ein Lied bei. Es ist das umgearbeitete und abgekürzte Lied an Diotima, das Sie schon von mir besizen. Ich nähre die Hoffnung, daß es in dieser Gestalt wohl eine Stelle in Ihrem Allmanache finden dürfte. Sie sagen, ich sollte Ihnen näher seyn, so würden Sie mir sich ganz verständlich machen können; von Ihnen bedeutet mir ein solches Wort so viel! Aber glauben Sie, daß ich denn doch mir sagen muß, daß Ihre Nähe mir nicht erlaubt ist? Wirklich, Sie beleben mich zu sehr, wenn ich um Sie bin. Ich weiß es noch ganz gut, wie Ihre Gegenwart mich immer entzündete, daß ich den ganzen andern Tag zu keinem Gedanken kommen konnte. So lang ich vor Ihnen war, war mir das

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Herz fast zu klein, und wenn ich weg war, könnt' ich es gar nicht mehr zusammenhalten. Ich bin vor Ihnen, wie eine Pflanze, die man erst in den Boden gesezt hat. Man muß sie zudeken um Mittag. Sie mögen über mich lachen; aber ich spreche Wahrheit." 81 Hölderlin scheint sein Verhalten nicht als widersprüchlich oder peinlich, schon gar nicht als provokant empfunden zu haben. 82 Willentlich kann es ihm kaum darum gegangen sein, Schiller, den er als geistigen Mentor aufrichtig verehrte und als Herausgeber seiner Gedichte zu gewinnen trachtete, unmutig zu stimmen. Eher handelt es sich um eine Art von kindlichem Zutrauen, das mit Selbstverständlichkeit darauf baut, daß ihm nichts übel genommen wird: weder die seelische Entblößung noch das Widerlöcken, noch die seltsame Mischung aus beidem. Es ist ein Appell an eine Weitherzigkeit und Verständnisbereitschaft, die allenfalls in intimen Freundschafts- oder Familienbeziehungen ihren Ort hat — oder in poetischen Phantasien. Hölderlin scheint Schiller in solcher Weise verkannt zu haben. Das Projekt des olympischen Gerichts, das ihn über die Gesinnung Schillers in realistischem Sinn hätte belehren können, die „Xenien" also, die eben zu dieser Zeit Gestalt annahmen, waren ihm noch nicht bekannt. Sie haben ihm wohl auch späterhin nicht zu denken gegeben: Bis 1799 setzt er in dringlich werbender Weise seine Versuche fort, Schiller von seiner beständigen und tiefen Verehrung zu überzeugen und seine Unterstützung wiederzugewinnen — freilich ohne Erfolg. 83 Jenseits des besonderen psychologischen Falles: Hölderlin kann vor allem nicht wissen, daß eben in jener Zeit eine Verständigung zwischen Schiller und Goethe über den Charakter und die literarischen Qualitäten von jungen Poeten seines Schlages stattgefunden hat, die die Ablehnung besiegelt. Im Briefwechsel der Dioskuren aus den Jahren 1795 bis 1798 finden sich die Pointen dieser Diskussion. Sie sei nunmehr referiert, im Zusammenhang der Begegnungen und Begebnisse, die ihren kritischen Gang auslösen.

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ν Verständigung Goethes und Schillers über die jungen Dichter

Am 10. Juni 1795 — er leidet gerade schwer an einem ,tumor maxillaris' und sieht nach des bissigen Böttiger Wort aus wie eine ,, Krop fgans" 84 — läßt Goethe, gleichwohl heiter gestimmt, an Schiller eine Sendung abgehen mit dem Aviso: „Hierbey ein Tragelaph von der ersten Sorte. 5 Schiller ist so erfreut über den „Bockshirsch", daß er umgehend meldet: „Das ist ein prächtiger Patron der Hesperus, den Sie mir neulich schickten. Er gehört ganz zum TragelaphenGeschlecht, ist aber dabey gar nicht ohne Imagination und Laune und hat manchmal einen recht tollen Einfall, so daß er eine lustige Lecture für die langen Nächte ist." 86 Goethe wiederum antwortet: „Es ist mir angenehm, daß Ihnen der neue Tragelaph nicht ganz zuwider ist; es ist wirklich schade für den Menschen, er scheint sehr isolirt zu leben und kann deswegen bey manchen guten Parthieen seiner Individualität nicht zu Reinigung seines Geschmacks kommen. Es scheint leider, daß er selbst die beste Gesellschaft ist, mit der er umgeht. Sie erhalten noch zwey Bände dieses wunderlichen Werks." Im Dezember 1795 registrieren die Dioskuren mit großer Aufmerksamkeit und mit einer Ironie, die auf Betroffenheit schließen läßt, das Glück, das der „Hesperus" in der Öffentlichkeit macht. Goethe bemerkt, gegenwärtig seien „die Hundsposttage das Werk, worauf unser feineres Publikum seinen Überfluß von Beyfall ergießt" ; mitleidig-herablassend fügt er hinzu: „(··.) ich wünschte daß der arme Teufel in Hof bey diesen traurigen Wintertagen etwas angenehmes davon empfände." 8 Schiller antwortet: ..Daß in Weimar jetzt die Hundsposttage graßieren, ist mir ordentlich psychologisch merkwürdig; denn man sollte sich nicht träumen laßen, daß derselbe Geschmack so ganz heterogene Massen vertragen könnte, als diese Produktion und Clara du Plessis ist. Nicht leicht ist mir ein solches Beyspiel von Characterlosigkeit bei einer ganzen Societaet vorgekommen." 89

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Goethes ironische, Schillers unwirsche Reaktion ist nicht unerklärlich, bedenkt man die Schwierigkeiten und das nicht gerade üppige Verständnis, unter denen zur gleichen Zeit die eigenen Projekte, sonderlich die „Hören", leiden. 90 Auf Einladung Charlottes von Kalb trifft „Richter aus Hof, der allzu bekannte Verfasser des Hesperus" (so Goethe an Meyer 91 ), im Juni des folgenden Jahres in Weimar ein. Er findet sich mehr als freundlich, ja begeistert aufgenommen und wird sogleich in der Gesellschaft herumgereicht. Im Konflikt zwischen Herder und den Herausgebern der „Hören" (Herder möchte sie wegen des Abdrucks der .Römischen Elegien' als „Huren" bezeichnet wissen) suchen beide Seiten den neuen Dichterstern für sich zu gewinnen. Goethe meint: „Es ist ein sehr guter und vorzüglicher Mensch, dem eine frühere Ausbildung wäre zu gönnen gewesen, ich müßte mich sehr irren, wenn er nicht noch könnte zu den unsrigen gerechnet werden." 92 Schiller möge ihn empfangen, um sich seinerseits ein Urteil zu bilden: „Richter ist ein so complicirtes Wesen, daß ich mir die Zeit nicht nehmen kann Ihnen meine Meinung über ihn zu sagen. Sie müssen und werden ihn sehen, und wir werden uns gern über ihn unterhalten. Hier scheint es ihm übrigens wie seinen Schriften zu gehn, man schätzt ihn bald zu hoch, bald zu tief, und niemand weiß das wunderliche Wesen recht anzufassen." 93 Nach der Begegnung mit Schiller sieht dieser die gemeinsamen Vorurteile und Zweifel bestätigt: „Ich habe ihn ziemlich gefunden, wie ich ihn erwartete; fremd wie einer der aus dem Mond gefallen ist, voll guten Willens und herzlich geneigt, die Dinge ausser sich zu sehen, nur nicht mit dem Organ, womit man sieht." Nachdem ein weiterer Besuch Jean Pauls bei Goethe dessen ursprüngliche Hoffnungen, einen Proselyten zu machen, bereits verringert hat 9 5 , verdirbt es sich der in die Provinz Zurückgekehrte vollends, als er zu erkennen gibt, daß ihm eine moralischkämpferische Haltung näher steht als die Weise eines „deutschen Properz": Herders Art scheint endgültig über Goethe und Schiller triumphiert zu haben. 96 Unverzüglich hebt Goethe die epigrammatische Faust; sie ist durch die „Xenien" in diesem Jahr gut in Übung. Im „Musenalmanach" für das Jahr 1797 erscheint, was Schiller „die wahre Abfertigung fur dieses Volk" 97 nennt: Der Chinese in Rom Einen Chinesen sah ich in Rom, die gesammten Gebäude Alter und neuerer Zeit, schienen ihm lästig und schwer. Ach! so seufzt* er, die Armen! ich hoffe, sie sollen begreifen, Wie einst Säulchen von Holz tragen des Daches Gezelt, Daß an Latten und Pappen, und Schnitzwerk und bunter Vergoldung Sich des gebildeten Aug's feinerer Sinn nur erfreut. — 21

Siehe, da glaubt' ich, im Bilde, so manchen Schwärmer zu schauen, Der sein luftig Gespinnst mit der soliden Natur Ewigen Teppich vergleicht, den ächten, reinen Gesunden Krank nennt, daß j a nur er heiße, der Kranke, gesund.98 In diesen Versen erscheint zum ersten Mal das ebenso berühmte wie berüchtigte Begriffspaar, dessen sich Goethe in den folgenden Jahrzehnten bedienen wird, um künstlerisch Wünschenswertes von Unfüglichem, vor allem aber einen weltzugewandten Charakter von einem versponnenen Dichterphantasten zu unterscheiden. Davon wird noch ausführlich die Rede sein. Ein Jahr nach Jean Pauls Debut in Weimar, im Juli 1797, meldet Schiller an Goethe: „Ich sende Ihnen hier zu Ihrer Recreation ein ganz neues Opus zu, welches die deutsche Industrie auf eine ganz neue Weise documentiert. Solch eine Erscheinung der Nullität, Absurdität und Frechheit ist doch wirklich nur in den neusten Zeiten unserer Litteratur möglich, wo der schnelle Wechsel von Ideen und Formen das Mein und Dein nicht mehr zu bestimmen Zeit läßt. Ich habe unter anderm ganze halbe Seiten lange Stellen aus meinen aesthetischen Abhandlungen, ohne Citation, hier abgedruckt gefunden und mich nicht wenig verwundert, meine ipsissima verba mir aus dem königlichen Munde entgegen schallen zu hören. Dafür hat sich aber auch in diesen Tagen ein neuer Poet gemeldet, der endlich einmal etwas beßeres verspricht. Er sitzt zu Friedberg bey Francfurt, heißt Schmidt und wie ich aus seinem ganzen Habitus schließe, muß er recht in der wilden Einsamkeit und vielleicht in einer niedern Condition leben. Aus einigen Proben die ich beilege werden Sie sehen, daß an dem Menschen etwas ist, und daß aus einer rauhen harten Sprache ächte tiefe Empfindung und ein gewißer Schwung des Geistes herausblickt. Wenn dieser Halbwilde seine Sprache und den Vers recht in der Gewalt haben und sich eine äussre Anmuth zu einem innern Gehalte verschafft haben wird, so hoffe ich für die künftigen Almanache eine Acquisition an ihm zu machen." 99 Die „Nullität", mit der Schiller Goethe zu erfrischen gedenkt, ist das Schauspiel „Gustav III. Tod, ein psychologisch-moralisches Gemälde der Verirrungen des Enthusiasmus und der Leidenschaften" (Leipzig 1797). Sein Verfasser, der dreißigjährige Lindheimer Pfarrer Georg Konrad Horst, hatte es Schiller in „unbegränzte(r) Verehrung" zugesandt mit der Bitte, daß es „Ew. Hochwohlgebohren (...) in einer verlohrnen Stunde gefallen möge, dasselbe zu durchblättern". 100 Schiller hat sich, wir haben es gehört, diesem Anliegen nicht versagt und die Stunde in der Tat verloren gefunden. Seine Hoffnungen setzt er dagegen auf den dreiundzwanzigjährigen

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Siegfried Schmid, Sohn eines Friedberger Honoratioren und Kaufmanns. Schmid hat 1792 bis 1795 in Gießen und Jena studiert, nominell Theologie, wie es bei seiner Herkunft damals üblich war, realiter freilich quer durch alle Fakultäten. In Jena hörte er bei Reinhold und Fichte, beim Philologen Schütz, beim Historiker Heinrich, beim Staatsrechtler Gottlieb Hufeland, wohl auch beim Mediziner Christoph Wilhelm Hufeland, beim Anatomen Lederer und beim Mathematiker Johann Heinrich Voigt. 101 Mit seinen Landsleuten Isaak von Sinclair und Jakob Zwilling, den späteren Mitgliedern des ,Homburger Freundeskreises', trat er in freundschaftliche Beziehungen, ohne allerdings hier schon die Bekanntschaft Hölderlins zu machen. Nach dem ,triennium academicum' kehrte Schmid in seine Heimatstadt zurück und privatisierte unter dem Dach seines wohlhabenden Vaters. In dieser Zeit scheint er seine Neigung zur Poesie entdeckt zu haben. 102 Wir haben gesehen, daß vielerlei junge Dichter ihre ,Berufung' durch das Urteil des .Meisters' Schiller testiert wissen wollten, doch ihr Ziel nicht erreichten. Siegfried Schmid ist einer der wenigen Glücklichen, der sich — ohne persönliche Empfehlung, als ein völlig Unbekannter — mit seinen poetischen Erstlingen an Schiller wendet und freundliche Resonanz findet: „Unter den vielen Gedichten, die der Fleiß der deutschen Musen täglich zeugt und für die Almanache einschickt, ist die Erscheinung eines Mannes von achtem Beruf und Talent eine eben so seltene als erfreuliche Erscheinung. Das waren mir Ihre Gedichte, Werthester; ich erkenne darin das Gepräge wahrer Empfindung und die Grazie eines schönen Gefühls (...)." 3 So lobt Schiller den Einsender in seinem Antwortbrief, freilich erst, nachdem Goethe sich wohlwollend geäußert hat: „Der neue Dichter ist recht brav, und es wäre mir angenehm ihn kennen zu lernen, Sie verbessern vielleicht noch hie und da eine Kleinigkeit, nur um der Klarheit willen, seine Einsamkeit und Enge sieht man ihm freylich an." 1 0 4 Bei den Proben, mit denen der junge Poet gefällt, handelt es sich um vier Gedichte: ein liedhaftes Idyll („Sängers Einsamkeit"), einen hymnischen Versuch („Götterhilfe") und zwei Gedichte in Distichenform („Frühlingsspaziergang", „Täuschung"). Deutlich regiert Schillers Muse Formgebung und Gedankenführung. Die Natur, durchseelt von klassisch-griechischen Gottheiten, grundiert und bewegt die Empfindungen des jungen lyrischen Ich, das ehrfürchtig (im „Frühlingsspaziergang") oder elegisch (in „Täuschung") aus Herzensnöten zur Ruhe kommt; die Idee Schillers vom Wesen der naiven Anmut, die nicht erzwungen werden kann, sondern dem Genie von den Göttern geschenkt werde, ist das Thema im Hymnus „Götterhilfe". 105

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Es versteht sich, daß Schiller von einem solchen Schüler angetan sein konnte, zumal er sich, was schon Waas als Argument angeführt hat 1 0 6 , weitab von literarischen und politischen Sansculottismen hielt. Neben der Zusage, die Gedichte in den „Musenalmanach" aufzunehmen 1 0 7 , ergeht an Schmid die Aufforderung, Goethe bei dessen Aufenthalt in Frankfurt (im August 1797) aufzusuchen. Am gleichen Tag noch meldet Schiller an Goethe: „Ich habe meinen neuen Friedberger Poeten Schmidt und auch Hölderlin von Ihrer nahen Ankunft in Francfurt Nachricht gegeben, es kommt nun darauf an, ob die Leutchen sich Muth faßen werden, vor Sie zu kommen. Es wäre mir sehr lieb und auch Ihnen würden diese poetischen Gestalten in dem prosaischen Francfurt vielleicht nicht unwillkommen seyn." 108 Schiller hat das Selbstbewußtsein des jungen Mannes etwas unterschätzt. Schmid kündigt am 7. August von Friedberg aus seine Aufwartung beim Geheimen Rat für den kommenden Tag an, und zwar mit einem Schreiben folgenden Inhalts: „Was sich nur fühlen läßt. Gut so! — Hier preßt es mich doch nicht mehr, wie in Eurer engen Ringmauer dort unten. Luft muß ich haben, reinere, ausgedehntere, oder Euere Mauern, oder meine Brust zersprang. Thore! — Ja wie weislich Ihr doch ohnbedacht fur die strömenden Seelen gesorgt habt. Es hätte auch Noth sonst für Eure steinernen Zäune, wenn jene sich in Wolkenbrüchen-Strömen durchwühlen wollen, wenn ihnen Alles zu eng ist. — Wohl, daß Ihr die Oefnungen in den Mauern ließt. Euch sind sie zwar wahrhaftig nichts weiter, als Fuchslöcher, um Aas für das Eurige in den Bau zu schleppen. Wir verstehen uns nicht. — Gottlob! Doch freie Aussicht hier. Aber — Die Last des kräftigen Tempelbaus in Eurer Stadt wollte auf mich, wie ich so drum her ging, und dran hinauf sah. Hinaus! Draus ist's weit. Nichts zu befürchten von erdrücken. Meint ihr? — Wenn nicht die Berge dort auf mich ein wollten und die Wälder bis zu ihnen hin, und jeder Baum, und die Wiesen und jede Blume mit Grashälmchenbegleitungen. — Auf die Berge! Die halbe Welt liegt da! Alles eben! Es engt nichts. So? Hört Ihr nicht dort die brüllenden Gewässer? — Ihr habt recht; nur noch über diese Berge emporgehoben, die sie aufkochen, gedrängter Geist. — Mag ich mich selbst so täuschen? Oben, meinst Du, Unendlicher, füllt Dich's aus? Siehst Du denn nicht, je höher, je weiter; je kleiner, je eingeschrumpfter? Der mächtige Tempel, die Stadt, die Berge, der Ozean, die Welt. Von einem zum andern, schwindet immer das erste zusammen. Was füllt Dich aus? — O gebt dem Unendlichen, Unendliches; dem Lebendigen, Lebendiges! — Natur! — Kunst! — Ideale! — Seine Welt! — Du schwimmst ja schon in diesen, drum

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eben dies Gefühl. Alles ist in ihnen umfaßt, Alles Unendliche, Alles Lebendige, was vor Jahrtausenden und nach Jahrtausenden diesselbst war, und ist, und seyn wird, und es umfassen wollte, und es umfaßte, und es umfassen wird. Es ist ein höherer Genius, wem diese Allmacht kein Erliegen droht. — Aber laß mich doch auch einmal an so einem Geist hangen, Verhängniß, der dies Allmächtige mit Allmacht umfaßt, daß es sichtbar vor mir stehe. — Es brauchte das nicht; sieh nur seine Geschöpfe an, darin ist er. — Doch Verhängniß! Nur um die Erschütterung so einen allmächtigen schaffen zu sehen; er thut das, wenn er spricht. — Göthe, wo bist du? — Ich glühe. Entschuldigt, die von Herrn Hofrath Schiller mitgetheilte Nachricht von der Anwesenheit Euer Hochwohlgebohren in Frankfurt, und der Rath, dort mich um Ihre persönliche Bekanntschaft zu bemühen, die Kühnheit dieses Blattes? Ich hoffe die bejahende Antwort darüber, morgen persönlich von Ihnen zu hören. Euer Hochwohlgebohren ergebenster Diener Siegfried Schmid Friedberg, den 7. August 1797" 109 Es mag ein Glück für den gefesselten Prometheus gewesen sein, daß dieses Elaborat erst nach seiner Vorsprache bei Goethe eintraf. Goethe sendet es als Beilage zu seinem Bericht über Schmids Besuch an Schiller mit der lakonischen Bemerkung: „Dieser Brief sollte mir Herrn Schmid anmelden, ich erhielt ihn aber zwei Tage zu spät und lege ihn hierbei, damit Sie einen Blick weiter in das Innere jener Natur tun, deren äußere Erscheinung ich Ihnen beschrieben habe." 110 Goethes Schilderung seines Besuchers ist ein Musterstück physiognomischer Betrachtung: „Schmidt von Friedberg ist bey mir gewesen, es war keine unangenehme aber auch keine wohlthätige Erscheinung. Im ganzen ein hübscher junger Mensch, ein kleiner Kopf auf mäßigen Schultern, treffliche Schenkel und Füße, knapp, reinlich, anständig nach hiesiger Art gekleidet. Die Gesichtszüge klein und eng beysammen, kleine schwarze Augen, schwarze Haare nahe am Kopf sanscülottisch abgeschnitten. Aber um die Stirne schmiedete ihm ein ehernes Band der Vater der Götter. Mit dem Munde macht er wunderliche Verzerrungen als wenn er dem was er sagte noch einen gewissen eigenthümlichen Ausdruck geben wollte. Er ist der Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns, der ihn zum Prediger bestimmte. Dadurch ist der Mensch ganz aus seinem Wege gerückt worden, ich

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glaube daß er, zu einem beschränkten Handel und Lebenswandel angeführt, recht gut gewesen wäre, da er Energie und eine gewisse Innigkeit zu haben scheint; unter einer Nationalgarde sähe ich ihn am allerliebsten. Die Folge mag es zeigen, aber ich fürchte es ist nicht viel Freude an ihm zu erleben. Voraus also gesetzt, daß es kein gedrückter Mensch ist, sondern einer der, nach seiner Aussage, seiner Gestalt, seiner Kleidung in mäßigem Wohlbehagen lebt, so ist es ein böses Zeichen, daß sich keine Spur von Streben, Liberalität, Liebe, Zutrauen an ihm offenbart. Er stellte sich mir in dem philisterhaften Egoismus eines Exstudenten dar. Dabey aber auch keine Spur von Roheit, nichts schiefes in seinem Betragen außer der Mundverzerrung." 111 Unbehaglich also die Erscheinung des jungen Mannes — nicht weniger unerfreulich und unersprießlich hat Goethe die Unterhaltung mit ihm empfunden. Entgegen seiner Erwartung (da doch Schiller ihn empfohlen habe) sei „gar nichts Allgemeines noch Besonderes angeklungen": „Überhaupt konnte ich nichts bedeutendes von ihm herauslocken als daß er, seit einem Jahre, gewisse besondere Ansichten der Welt gewonnen habe, wodurch er sich zur Poesie geneigt fühle (das denn ganz gut seyn möchte), daß er aber auch überzeugt sey, nur in einer gewissen Verbindung der Philosophie und Poesie bestehe die wahre Bildung. Wogegen ich nichts zu sagen habe, wenn ich es nur nicht von einem jungen Menschen hören müßte. Übrigens ging er weg wie er gekommen war, ehe doch auch nur irgend ein Gespräch sich eingeleitet hatte, und war mir für diesen kurzen Moment bedeutend genug. Der zurückgezogenen Art nach erinnerte er mich an Hölderlin, ob er gleich größer und besser gebildet ist; sobald ich diesen gesehen habe, werde ich mit einer nähern Parallele aufwarten." 1 1 Daß der Besuch trotz seiner Kürze für Goethe „bedeutend genug" war und ihn lebhaft beschäftigte, geht schon aus der Breite seines Berichtes hervor. Zudem: Goethe wäre nicht Goethe, erinnerte ihn nicht das besondere Phänomen an ein Allgemeines. In unserem Fall bewegt ihn die Erscheinung des Siegfried Schmid als Exempel eines Typus, der ihm aus langer lebensgeschichtlicher Erfahrung ebenso vertraut wie bedenklich ist: „Da auf meinem Lebensgange besonders in früheren Zeiten mir mehrere Naturen dieser Art begegnet sind und ich erfahren habe wo es eigentlich mit ihnen hinausgeht, so will ich noch ein allgemeines Wort hinzufügen: Menschen, die aus dem Kaufmannsstamm zur Litteratur und besonders zur Poesie übergehen, haben und behalten eine eigene Tournüre. Es läßt sich an einigen ein gewisser Ernst und Innigkeit bemerken, ein gewisses Haften und 26

Festhalten, bei andern ein lebhaftes thätiges Bemühen, allein sie scheinen mir keiner Erhebung fähig, so wenig als des Begriffs, worauf es eigentlich ankommt. Vielleicht thue ich dieser Kaste unrecht und es sind viele aus andern Stämmen, denen es nicht besser geht." 113 Goethes Spekulation, die er Schiller zur Diskussion stellt, ist zweifellos durch das aktuelle Ambiente getönt, durch die Atmosphäre der Handelsmetropole Frankfurt. Im gleichen Schreiben, vor seinen Einlassungen über den Kaufmannssohn Schmid, hatte er über das „Publikum" der grossen Stadt geklagt, es lebe „in einem beständigen Taumel von Erwerben und Verzehren" und suche, im Theater, in der wütenden Lektüre von Journalen und Romanen, nichts als „Zerstreuung" und Zerstreuung von der Zerstreuung. 114 „Stimmung" sei hier nicht zu erwarten, selbst eine „Art von Scheu gegen poetische Produktionen" zeige sich, was unter den obwaltenden Verhältnissen nicht verwundere; denn: Die Poesie verlangt, ja sie gebietet Sammlung, sie isolirt den Menschen wider seinen Willen, sie drängt sich wiederholt auf und ist in der breiten Welt (um nicht zu sagen in der großen) so unbequem wie eine treue Liebhaberinn." 115 In solchem Wahrnehmungs- und Reflexionszusammenhang gewinnt Goethes Kritik der Dichter aus dem .Kaufmannsstamm' im allgemeinen, seine ironische Schilderung des ebenso gespreizten wie unkonturierten Geistes Schmid im besonderen, den Charakter eines milieutheoretischen Urteils. Schiller, der stets bemühte und angestrengte Denker, nimmt in seiner Antwort Goethes Gedankengänge zustimmend auf, differenziert und modifiziert sie und baut sie zu einer regelrechten .Wirkungsästhetik' und zu einer .Soziologie' der gegenwärtig erscheinenden Poeten aus. Sein Programm einer Ästhetik der Provokation, geeignet, ein urban-prosaisches, blasiertes Publikum aus seiner „Behaglichkeit" aufzustören und aus der Sphäre der „gemeinen Empirie" zu erheben, steht hier nicht zur Diskussion. 116 Wohl aber seine .Dichtersoziologie', entwickelt am Beispiel seines „Protégés", mit dem er bei Goethe leider so „wenig Ehre" eingelegt hat: „Herr Schmidt, so wie er jetzt ist, ist freilich nur die entgegengesetzte Carricatur von der Francfurter empirischen Welt, und so wie diese nicht Zeit hat, in sich hinein zu gehen, so kann dieser und seinesgleichen gar nicht aus sich selbst herausgehen. Hier möchte ich sagen, sehen wir Empfindung genug aber keinen Gegenstand dazu, dort den nakten leeren Gegenstand ohne Empfindung. Und so sind überal nur die Materialien zum Menschen da, wie der Poet ihn braucht, aber sie sind zerstreut und haben sich nicht ergriffen." 117 Auch Schiller sieht Schmid nicht als Einzelfall, leitet jedoch, anders als

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Goethe, den Typus nicht strikt aus dem Milieu des .Kaufmannes' ab, sondern allgemeiner aus einem „gewissen Stand" wenig liberaler, eingeschränkter und isolierter bürgerlicher Existenz. 118 Er kann darum die Fälle, die er über Schmid hinaus vor Augen hat, ungeachtet ihrer differenten Herkunft und Lebensweise, folgendermaßen summieren: „Ich möchte wißen, ob diese Schmidt, diese Richter, diese Hölderlins absolut und unter allen Umständen so subjectivisch, so überspannt, so einseitig geblieben wären, ob es an etwas primitivem liegt, oder ob nur der Mangel einer aesthetischen Nahrung und Einwirkung von aussen und die Opposition der empirischen Welt in der sie leben gegen ihren idealischen Hang diese unglückliche Wirkung hervorgebracht hat. Ich bin sehr geneigt das letztere zu glauben, und wenn gleich ein mächtiges und glückliches Naturell über alles siegt, so däucht mir doch, daß manches brave Talent auf diese Weise verloren geht." 119 Man wird nicht fehlgehen in der Vermutung, daß Schiller angesichts seiner eigenen Herkunft und Entwicklung mit solchen Zweifeln und Schlußfolgerungen auch pro domo spricht. Darauf weist jedenfalls eine Episode, die zum Zeitpunkt dieser Anmerkungen erst wenige Wochen zurückliegt. Ende Juni 1797 hatte Schiller Goethe um sein Urteil über zwei Gedichte eines zunächst ungenannten Verfassers gebeten. Goethe hatte sich „nicht ganz ungünstig" geäußert und immerhin die Aufnahme in den „Musenalmanach" bzw. die „Hören" empfohlen, doch zugleich moniert, die Gedichte seien „mehr naturhistorisch als poetisch" und „weder durch sinnliches noch durch inneres Anschauen gemahlt." 120 Schiller wiederum mochte das „Tadelnswürdige" in der Arbeit seines „Freunde(s) und Schutzbefohlenen" nicht in Abrede stellen, bekannte jedoch zugleich: „Aufrichtig, ich fand in diesen Gedichten viel von meiner eigenen sonstigen Gestalt, und es ist nicht das erstemal, daß mich der Verfaßer an mich mahnte. Er hat eine heftige Subjectivität und verbindet damit einen gewißen philosophischen Geist und Tiefsinn. Sein Zustand ist gefährlich, da solchen Naturen so gar schwer beyzukommen ist. Indeßen finde ich in diesen neuen Stücken doch den Anfang einer gewißen Verbeßerung, wenn ich sie gegen seine vormaligen Arbeiten halte; denn kurz es ist Hölderlin, den Sie vor etlichen Jahren bei mir gesehen haben. Ich würde ihn nicht aufgeben, wenn ich nur eine Möglichkeit wüßte, ihn aus seiner eigenen Gesellschaft zu bringen und einem wohltätigen und fortdaurenden Einfluß von außen zu öfnen. Er lebt jetzt als Hofmeister in einem KaufmannsHause zu Francfurth, und ist also in Sachen des Geschmacks und der Poesie bloß auf sich selber eingeschränkt und wird in dieser Lage immer mehr in sich selbst hineingetrieben." 121 Aus dieser verständnisvoll mentoralen Haltung, die einen jungen Artge-

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nossen wittert und seine subjektiv klagwürdige Lebenslage einfühlsam notiert, wird begreiflich, weswegen Schiller auch jetzt noch, nach der Diskussion mit Goethe über die unglücklichen Erscheinungen vom Schlage Schmid und Hölderlin, an seinen Schützlingen festhalten will: „(...) ich will solange das Beste hoffen, biß ich nicht mehr kann. Ich bin einmal in dem verzweifelten Fall, daß mir daran liegen muß, ob andere Leute etwas taugen, und ob etwas aus ihnen werden kann; daher werde ich diese Hölderlin und Schmidt so spät als möglich aufgeben." 122 Diese Willensbekundung verhehlt ihrem ganzen Duktus nach freilich auch nicht, daß Schiller inzwischen von seiner ursprünglichen Zuversicht zurückgekommen und in eine Position der hinhaltenden Verteidigung übergewechselt ist: die Neigung zum Rückzug ist unverkennbar. Nicht zu übersehen auch, daß Goethes Urteil für diesen Standortwechsel ausschlaggebend ist. Wir bemerken nicht allein ein unsicheres Schwanken in der Urteilskraft Schillers, das an und für sich als Zeichen schätzbarer intellektueller Beweglichkeit und Offenheit aufzufassen wäre. Vielmehr liegt hier ein hohes Maß an Abhängigkeit von den Meinungen des Älteren vor. Das betrifft die literarische Kritik ebenso wie die Beurteilung von Charakteren: Werke wie Personen werden Goethe, wie wir gesehen haben, zur schlüssigen Begutachtung vorgeführt. Was das Urteil über Menschen anbelangt, so erklärt Schiller selbst seine gelegentlich wankelmütige, mitunter jäh von Wohlwollen zu Schroffheit umschlagende Stimmung aus seinem Defizit an Menschenkenntnis. Es verführe ihn dazu, zunächst große Erwartungen in die rationale und moralische Souveränität, damit Beiehrbarkeit und Perfektibilität von Charakteren zu setzen, wobei im Falle einer Enttäuschung der Zorn naturgemäß desto größer sei. Schiller bemerkt dies anläßlich einer Kant-Polemik Johann Georg Schlossers, die ihn geradezu „angeeckelt" habe, da sie „einen gegen lautere Überzeugung verstockten Sinn, eine incorrigible Gemüthsverhärtung, Blindheit wenigsten, wenn keine vorsetzliche Verblendung" zeige: „Sie (Goethe, J.W.), der den Menschen beßer kennt, erklären Sich vielleicht richtiger und natürlicher durch eine unwillkührliche Beschränktheit, was ich, der die Menschen gerne verständiger annimmt als sie sind, mir nur durch eine moralische Unart erklären kann." 123 Nach alledem ist davon auszugehen, daß Schiller auch bei den jungen Poeten Schmid und Hölderlin zunächst die Erwartung gehegt hat, ihre „Unarten" seien nicht charakterlich konstitutive Eigentümlichkeiten und darum mittels Einreden korrigibel. Durch die Verständigung mit Goethe war die Abkehr von dieser Auffassungsweise theoretisch vorgezeichnet. Hölderlins Sendung von Mitte August 1797, mit dem Gedicht an die „klugen Rathgeber" und mit dem Beischreiben, das im voraufgehenden

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Kapitel angeführt und besprochen wurde, war wohl diejenige Zumutung, die Schillers Geduld überforderte und seine Verhärtung praktisch besiegelte. Die Wirrnis von ausgesprochener Unterwürfigkeit („Ihr Brief wird mir unvergeßlich seyn, edler Man! Er hat mir ein neues Leben gegeben. Ich fühle tief, wie treffend Sie meine wahrsten Bedürfnisse beurtheilt haben und ich folge um so freiwilliger Ihrem Rath, weil ich wirklich schon eine Richtung nach dem Wege genommen hatte, den Sie mir weisen") und geheimem Widerlöcken („Wirklich, Sie beleben mich zu sehr, wenn ich um Sie bin"), die gequälte Seelenexhibition („Ich bin vor Ihnen, wie eine Pflanze, die man erst in den Boden gesetzt hat" 1 2 4 ), scheinen Schiller bestätigt zu haben, daß man es hier nicht mit einem Charaker von beeinflußbarer, ,corrigibler' Natur zu hatte, sondern mit einer Erscheinung „unwillkührliche(r) Beschränktheit", der mit gutgemeintem Rat nicht beizukommen war. Auch der Bericht Goethes, der etwa eine Woche nach jener Herzensepistel Hölderlins bei Schiller eintraf, war sicher nicht geeignet, Schillers Mißbehagen noch einmal zu dämpfen. Im Gegenteil: Goethes Ton freundlich herablassender Reserve dürfte seinen Unmut zuungunsten seines „Schutzbefohlenen" eher erhöht haben: „Gestern ist auch Hölterlein bey mir gewesen, er sieht etwas gedrückt und kränklich aus, aber er ist wirklich liebenswürdig und mit Bescheidenheit, ja mit Ängstlichkeit offen. Er ging auf verschiedene Materien auf eine Weise ein, die Ihre Schule verrieth, manche Hauptideen hatte er sich recht gut zu eigen gemacht, so daß er manches auch wieder leicht aufnehmen konnte. Ich habe ihm besonders gerathen kleine Gedichte zu machen und sich zu jedem einen menschlich interessanten Gegenstand zu wählen. Er schien noch einige Neigung zu den mittlem Zeiten zu haben in der ich ihn nicht bestärken konnte." 1 2 5 Von diesem Zeitpunkt an scheint es keine Bereitschaft mehr gegeben zu haben, die ,Schmid' und ,Hölderlin' weiterhin zu patronieren. Von beiden zog man sich schweigend zurück. Die Hoffnung, sich mit Charakteren dieser Art zu verständigen und junge poetische Mitstreiter zu gewinnen, war aufgegeben. Die enttäuschende Erfahrung setzte allgemeine Maßstäbe: in Zukunft galten die ,Schmid' und .Hölderlin' als verkörperte Schreckbilder einer zeitgenössischen Tendenz, der nicht abzuhelfen war. Junge Dichter, die in späteren Jahren in den Gesichtskreis der ,Alten' traten, waren darum mit einer ernsten, wenngleich, wie wir sehen werden, nicht ohne weiteres ungerechten Hypothek belastet. Unvermeidlich wurden sie aus einer Perspektive betrachtet, die sich in den einstigen Begegnungen entwickelt und geschärft hatte.

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VI Urteilsperspektiven

Goethes

Unsere Rekonstruktion hat gezeigt, daß die klassizistischen Olympier sich keineswegs hermetisch gegen die Annäherung junger poetischer Talente sperrten. Der Verdacht einer phobischen Abwehr von .Imperatoren' in spe, einer furchtsam-brutalen Abfertigung von Nebenbuhlern um die Herrschaft im Reiche der deutschen Dichtkunst (sie hatten manche Zeitgenossen schon anläßlich des .Xenienstreits' unterstellt), läßt sich nicht erhärten. Nicht nur waren Goethe und Schiller imstande, bei der Menge des ihnen Zugetragenen und Zudringenden die bemerkenswerteren poetischen Begabungen recht sicheren Blicks herauszufinden — selbst wenn es sich um Erscheinungen handelte, die sich nach ihrem Geschmack exzentrisch gebärdeten. Vielmehr bestand zunächst auch die Bereitschaft, sich mit derlei, offenbar gar nicht alle Tage auftretenden, vielversprechenden jungen Dichteraspiranten wohlwollend einzulassen und, wenngleich mitunter herb einredend, auseinanderzusetzen. Vor allem Schiller scheint es in seiner Eigenschaft als Zeitschriftenherausgeber als Aufgabe empfunden zu haben, Talente zu entdecken und zu lancieren. Aber auch Goethe neigte nicht von vornherein dazu, die Jungen strikt abzulehnen, selbst wenn sie sich in strudelköpfiger Manier nahten. Wir müssen die Aufrichtigkeit seiner Äußerung nicht bezweifeln, daß er solchen Erscheinungen seinen „Anteil" nicht versagte und die Hoffnung hegte, sie würden sich „von einiger Vernünftigkeit wenigstens im Verfolg doch leiten lassen". An dieser Stelle freilich gilt es einzuhalten und nachzufragen, was es denn mit jener Goetheschen „Vernünftigkeit" auf sich hat, welche Art von Vernunft sich da verbindlich setzt und weswegen die Jungen nicht bereit oder in der Lage waren, dieser Vernunft zu folgen — worauf sie denn „zuletzt entweder selbst verzweifelten oder uns zur Verzweiflung brachten". Im voraufgehenden Kapitel wurde der äußere Ablauf derjenigen Begebenheiten dokumentiert, die mir für die resignative Wendung Goethes und Schillers der Schlüssel zu sein scheinen und die zugleich die Haltung präformieren, die vor allem Goethe in Zukunft gegenüber den meisten ähnlichen Meteoren und Kometen am deutschen Dichterhimmel einnehmen wird. Will man die innere Logik dieser Abwendung, die Struktur der geforderten und verweigerten „Vernünftigkeit", zureichend interpretieren, so ist der Horizont einiger Begriffe auszuschreiten, die in der refe-

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rierten Verständigung Goethes und Schillers über „diese Schmid, diese Richter, diese Hölderlins" wiederholt erscheinen und das Urteil leiten. Der erste gemeinsame Zug, der diese — aus unserer Perspektive doch sehr verschiedenartigen — Poetengestalten verbindet und ihnen in den Augen der Klassiker zum Nachteil gereicht, ist ihre ,Provinzialität'. Sie kann wörtlich, im geographischen Sinn gemeint sein, so, wenn Goethe von Jean Paul als dem „arme(n) Teufel in Hof" spricht, oder wenn Schiller über den Friedberger Schmid mutmaßt, er scheine „recht in der wilden Einsamkeit" zu leben. Hier handelt es sich allerdings um eine objektive historisch-politische Bedingung, die für die Mehrheit der deutschen Schriftsteller im 18. Jahrhundert gilt. Goethe hat diese Tatsache sehr wohl erwogen (kein Wunder, auch Weimar war nicht der Nabel der Welt!) und sie in seiner Polemik gegen den literarischen Sansculottismus' gar als Argument angeführt, um allzu vermessene Ansprüche an eine deutsche (klassische) Nationalliteratur zurückzuweisen: ,,(...) der deutschen Nation darf es nicht zum Vorwurfe gereichen, daß ihre geographische Lage sie eng zusammenhält, indem ihre politische sie zerstückelt. (...) Man sehe unsere Lage wie sie war und ist; man betrachte die individuellen Verhältnisse, in denen sich deutsche Schriftsteller bildeten, so wird man auch den Standpunct, aus dem sie zu beurtheilen sind, leicht finden. Nirgends in Deutschland ist ein Mittelpunct gesellschaftlicher Lebensbildung, wo sich Schriftsteller zusammenfänden und nach Einer Art, in Einem Sinne, jeder in seinem Fache sich ausbilden könnten. Zerstreut geboren, höchst verschieden erzogen, meist nur sich selbst und den Eindrücken ganz verschiedener Verhältnisse überlassen, von der Vorliebe für dieses oder jenes Beispiel einheimischer oder fremder Literatur hingerissen; zu allerlei Versuchen, ja Pfuschereien genötigt, um ohne Anleitung seine eigenen Kräfte zu prüfen (,..)". 126 Gravierende Folge der geographischen Zersplitterung und der politischen Zerrissenheit ist also die .soziale Provinzialisierung', die Isolierung der Individuen, die auf sich selbst zurückgeworfen sind, anstatt in einer funktionsfähigen Gelehrtenrepublik Beistand und Aufmunterung, Kritik und Anleitung, gesellschaftliche Integration und freie Identität zu finden. Hierzu fügen sich Goethes bedauernde Worte über Jean Paul, es sei „wirklich schade für den Menschen", er scheine „sehr isolirt zu leben"; leider sei wohl „die beste Gesellschaft", mit der er umgehe, seine eigene. Schiller wiederum benennt, im Hinblick auf Schmid und Hölderlin, die standesmäßigen Ursachen ihrer Isolation, die einer Art .vertikaler Provinzialisierung' gleichkommt: jener lebe offenbar „in einer niedern Condition", dieser als „Hofmeister in einem KaufmannsHause", was dazu führe, daß er „in Sachen des Geschmacks und der Poesie auf sich

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selbst eingeschränkt" sei und „in dieser Lage immer mehr in sich selbst hineingetrieben" werde. Aus der Vereinzelung erwächst Introversion und Introspektion, ein einseitiger, überspannter Subjektivismus, „Empfindung ohne Gegenstand", Trübung des „Organs, womit man sieht". Dieser Zustand verschärft sich zirkelhaft dadurch, daß die Realität, die die Isolation verursacht, verständlicherweise gehaßt wird, und solche „Opposition" gegen die „empirische Welt" wirft die betroffenen Individuen noch weiter auf sich selbst zurück. Sie lassen die Grenzen der widrigen äußeren Realität hinter sich, bilden eine künstliche Welt im Kopf und erscheinen daher „fremd wie einer, der aus dem Mond gefallen ist". 127 Goethe hat für diesen Typus des Künstlers den Begriff des „Imaginanten" geprägt, und zwar in dem novellistischen Briefessay „Der Sammler und die Seinigen" von 1798/99, der in vielerlei Hinsicht den ästhetischen Diskurs mit Schiller pointiert. Während der vollendete Künstler Subjektivität und Objektivität, Nachahmung und Erfindung, Begriff und Traumbild, Spiel und Ernst in harmonischer Weise verbinde, litten die „Imaginanten" unter einer „Einseitigkeit", die mit „vielen wunderlichen Namen" eingeschwärzt worden sei: „Man nannte sie Scheintnänner, weil sie so gern dem Scheine nachstreben, der Einbildungskraft etwas vorzuspielen suchen, ohne sich zu bekümmern in wie fern dem Anschauen genug geschieht. Sie wurden Phantomisten genannt, weil ein hohles Gespensterwesen sie anzieht, Phantasmisten, weil traumartige Verzerrungen und InCohärenzen nicht ausbleiben, Nebulisten, weil sie der Wolken nicht entbehren können, um ihren Luftbildern einen würdigen Boden zu verschaffen. Ja zuletzt wollte man nach deutscher Reimund Klangweise sie als Schwebler und Nebler abfertigen. Man behauptete, sie seien ohne Realität, hätten nie und nirgends ein Dasein, und ihnen fehle Kunstwahrheit als schöne Wirklichkeit." Phantasie und die Fähigkeit, neue imaginäre Welten zu schaffen, seien zwar Bedingungen des Genies, erwiesen sich jedoch als höchst verderblich, „wenn sie sich als einzeln, selbständig und unabhängig" erklärten: „(...) der Imaginant (...) schadet der Kunst unendlich, weil er sie über alle ihre Gränzen hinausjagt, und es bedürfte des größten Genies sie aus ihrer Unbestimmtheit und Unbedingtheit gegen ihren wahren Mittelpunct, in ihren eigentlichen, angewiesenen Umkreis zurück zu führen." 128 Im Alter wird Goethe die Klasse der „Imaginanten" darum ironisch als die „Transzendierer" titulieren. In den „Maximen und Reflexionen über Literatur und Ethik" bemerkt er lakonisch: „Es ist nun schon bald zwanzig Jahre, daß die Deutschen sämmtlich transcendiren. Wenn sie es ein-

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mal gewahr werden, müssen sie sich wunderlich vorkommen". 1 2 9 In den „Annalen" für das Jahr 1 8 2 0 wird Alessandro Manzoni, obgleich „wegen theatralischer Ortsverletzung von seinen Landsleuten des Romanticismus angeklagt", als wünschbares Gegen- und Vorbild gepriesen: „Unsere guten deutschen Jünglinge könnten an ihm ein Beispiel sehen, wie man in einfacher Größe natürlich waltet; vielleicht dürfte sie das von dem durchaus falschen Transcendiren zurückbringen." 1 3 0 Daß es sich dabei um eine ziemlich verzweifelte Hoffnung handelt, klingt in einem Brief an den Freund Zelter vom August 1 8 2 3 an: „(...) dem redlich denkenden Einsichtigen (...) bleibt es gräßlich, eine ganze, nicht zu verachtende Generation unwiederbringlich im Verderben zu sehen. Die Älteren merken es schon, können aber weder sich selbst retten, noch mögen sie die andern warnen." 1 3 1 Worin erblickt Goethe im einzelnen den verderblichen Irrgang der jüngeren Künstlergeneration? Wohin sieht er die jungen Poeten gelangen, wenn sie, nach seiner Überzeugung in unschicklicher, j a verhängnisvoller Weise, die Grenzen der Kunst überschreiten? Drei Sphären sind es, die die ,Transzendierer' vor allem locken und ihnen eine neue Heimat versprechen — freilich nicht einer lebensnahen Weltkunst, sondern einer abstrakten Kunst- und Scheinwelt: die philosophische Spekulation und Abstraktion, der religiöse Obskurantismus und die teils mystische, teils gewaltsame Phantastik des Seelenlebens. Diese Räume wiederum sind nicht immer streng voneinander geschieden, sondern oszillieren häufig in abenteuerlicher Weise, wie es dem Subjektivismus und dem Drang nach Synthese eben gefällt.

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VII Philosophische

Überforderung

der

Poesie

Die Rede sei zunächst von dem Ehrgeiz, die Poesie philosophisch zu transzendieren. Wir haben gesehen, mit welcher Skepsis Goethe den Versuchen Hölderlins begegnet; wie er tadelt, daß im Gedicht „Der Wanderer" die „Afrikanische Wüste und der Nordpol weder durch sinnliches noch durch inneres Anschauen gemahlt, vielmehr (...) beide durch Negationen dargestellt" seien; wie er „das andere Gedicht (,An den Äther', J.W.) mehr naturhistorisch als poetisch", ähnlich einer Ikone des Paradieses vor dem Sündenfall, findet. Goethes Rezept gegen solche Ungegenständlichkeit und Unsinnlichkeit, das zugleich seine Hauptmaxime zur Aufgabe der Poesie wiedergibt, lautete: „Vielleicht thäte er am besten, wenn er einmal ein ganz einfaches Idyllisches Factum wählte und es darstellte, so könnte man eher sehen wie es ihm mit der Menschenmahlerey gelänge, worauf doch am Ende alles ankommt." 1 3 2 Nachdem Schiller, gleichsam entschuldigend, auf den „philosophischen Geist und Tiefsinn" des jungen Dichters gewiesen und bekannt hatte, er finde in diesen Gedichten viel von seiner „eigenen sonstigen Gestalt", replizierte Goethe behutsam und sichtlich bemüht, seinen „sentimentalischen" Antipoden und Freund nicht zu verletzen: „Ich will Ihnen nur auch gestehen daß mir etwas von Ihrer Art und Weise aus den Gedichten entgegensprach, eine ähnliche Richtung ist wohl nicht zu verkennen, allein sie haben weder die Fülle, noch die Stärke, noch die Tiefe Ihrer Arbeiten. Indessen recommandirt diese Gedichte (...) eine gewisse Lieblichkeit, Innigkeit und Mäßigkeit und der Verfasser verdient wohl, besonders da Sie frühere Verhältnisse zu ihm haben, daß Sie das mögliche thun, um ihn zu lenken und zu leiten." 1 3 3 Was hätte Goethe wohl geäußert, wäre ihm das ein Jahr zuvor von den Freunden Hegel, Hölderlin und Schelling entworfene Manifest einer „neuen Mythologie" (das sogenannte „älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus") bekannt gewesen, das die Aufhebung der Religion und Philosophie in einer .höheren' Poesie postulierte — und zwar mit sozialrevolutionärem, menschheitserlösendem Anspruch? Man kann es vorläufig ermessen aus seiner ironischen Reaktion auf des Hölderlin-Freundes Siegfried Schmid Äußerung, „nur in einer gewissen Verbindung der Philosophie und Poesie bestehe die wahre Bildung" :

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„Wogegen ich nichts zu sagen habe, wenn ich es nur nicht von einem jungen Menschen hören müßte." Vollends deutlich wird Goethes Widerstand gegen eine bombastische Aufblähung der Poesie aus einer Bemerkung über den dichtenden Pastor Ludwig Gotthard (Theobul) Kosegarten. Sie fällt vier Tage nach dem Besuch Schmids und bezieht sich auf Kosegartens öffentliche Ankündigung seiner „Poesien": „Äußerst fratzenhaft erscheint der arme Kosegarten, der, nachdem er nun zeitlebens gesungen und gezwitschert hat, wie ihm von der lieben Natur die Kehle gebildet und der Schnabel gewachsen war, seine Individualität durch die Folterschrauben der neuen philosophischen Forderungen selbst auszurecken bemüht ist, und seine Bettleijacke auf der Erde nachschleift, um zu versichern, daß er doch auch ohngefähr so einen Königsmantel in der Garderobe führe." 134 Schiller bestätigt das Verdikt in eben dem Brief, in dem er sich zuvor über die überspannten „Schmid", „Richter" und „Hölderlins" geäußert hatte. Dieses „Anzeigeblatt", so meint er derb, könne „nur ein Verrückter geschrieben haben". Hatte Goethe auf den beschränkten Schmid seine Metapher aus der Iphigenie (Prosafassung, I, 3) gemünzt, so gibt sie Schiller nunmehr fur Kosegarten zurück: „Gewißen Menschen ist nicht zu helfen, und dem da besonders hat Gott ein ehern Band um die Stirne geschmiedet." 135 Kosegarten hatte in seiner Selbstanzeige kosmisch orakelt: „Der Stoff seiner Dichtungen ist dasjenige, was dem Menschen das Heiligste und Theuerste ist: die Gottheit, die Natur, die Tugend, die Vorzeit und die Zukunft. Ihr Charakter, wenn er anders sich selbst nicht täuscht, ist das Streben nach dem Unbedingten. Seine Oden erfliegen das Unendliche. Seine Idyllen schmachten nach verlorener Unschuld. Seine Liebesgesänge ermangeln nie, von dem begränzten Gegenstande zu dem Ideale sich emporzuschwingen, und seine Elegien verschmähen, um etwas Geringeres zu trauern, als um den Verlust des Unvermittelten und Reinen. Zwar sind die Wahrheit und die Sittlichkeit nicht der nächste Zweck des Dichters. Sein Zweck ist die Schönheit. In sofern aber die Schönheit nichts anders ist als die anmuthige Erscheinung des Guten, in sofern opfert der Priester der Schönheit auf dem Altar der Wahrheit und der Tugend." 136 Goethes mitleidiges Urteil über diesen verstiegenen Schwulst mündet in eine skeptisch-sarkastische summa, die den emphatischen jungen Poeten jener Zeit wie ein Donnerschlag und Henkerspruch geklungen haben dürfte — hätten sie solches nur vernommen: „Indessen sind diese Menschen, die sich noch denken können daß das Nichts unserer Kunst alles sey, noch besser dran als wir andern,

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die wir doch mehr oder weniger überzeugt sind: daß das Alles unserer Kunst nichts ist." 137 Nicht mehr und nicht weniger wird hier ausgesprochen als die Einsicht, daß Kunst keine Instanz weltbewegender Art sei, daß sie keine Geschichtsmächtigkeit besitze und sich nicht dazu eigne, durch Realitätserfahrung gesättigte Weltweisheit und prosaisch-praktische Tätigkeit zu ersetzen. Kunst ist Akzidenz, nicht Substanz des Lebens; Ausdruck kultivierter Existenz und heiteres Geistesspiel, ohne die Kraft lebenspraktisch vernünftiger Orientierung und Führung. Der Meister der „Kunstperiode" begrenzt in dieser Weise sein eigenes Reich zu einem Zeitpunkt, als die jungen idealistischen und romantischen Schwärmer den Anbrach der absoluten Herrschaft der Poesie proklamieren und auf die .ästhetische Revolution' die Erwartung eines neuen goldenen Zeitalters gründen. 138 Erst ein knappes Jahrzehnt später wird Hegel, erwachsener geworden, zur Historisierung der Kunst übergehen — kontrovers zum einstigen Freund Schelling, der damit fortfährt, das Absolute nicht im Begriff, sondern in poetischer Esoterik zu suchen, um schließlich in katholischer Mystik sein Ende zu finden.139 Nun wissen wir freilich, daß Schiller wie Goethe jahrelang engen ,symphilosophierenden' Umgang mit Schelling pflogen, nachdem sie 1797/98 energisch seine Berufung nach Jena betrieben hatten. Diese Tatsache wirft jedoch kaum ein anderes Licht auf die Fundamentalien ihrer ,antiromantischen' Haltung. Goethe protegiert Schelling zunächst weniger aufgrund prinzipieller Übereinstimmung und Geistesverwandtschaft denn in der Absicht, einen profunden Diskussionspartner zu gewinnen, und in der Hoffnung, daß mit dem jungen, halbwegs weltgewandten Philosophen frischer Wind in die ansässige Gelehrtenrepublik fahre: „(...) es wäre für ihn und uns zu wünschen, daß er herbeygezogen würde; für ihn, damit er bald in eine thätige und strebende Gesellschaft komme, da er in Leipzig jetzt ziemlich isolirt lebt, damit er auf Erfahrung und Versuche und ein eifriges Studium der Natur hingeleitet werde, um seine schönen Geistestalente recht zweckmäßig anzuwenden. Für uns würde seine Gegenwart gleichfalls vortheilhaft seyn, die Thätigkeit des jenaischen Kreises würde, durch die Gegenwart eines so wackern Gliedes, um ein ansehnliches vermehrt werden (...). Er hat mir persönlich in dem kurzen Umgang sehr wohl gefallen; man sieht, daß er in der Welt nicht fremd ist, die Tübinger Bildung giebt überhaupt etwas ernsthaftes und gesetztes und er scheint, als Führer von ein paar jungen Edelleuten selbst gefälliger und geselliger geworden zu seyn als diejenigen zu seyn pflegen die sich, in der Einsamkeit, aus Büchern und durch eigenes Nachdenken, cultiviren." 140 Ein Talent mit schönen Anlagen soll gefördert, aus seiner Isolation erlöst,

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auf dem Weg des geselligen Austausches vorangebracht und auf „Erfahrung" und empirische Tätigkeit hingeleitet werden. Wir haben gesehen, daß solche Argumente in der Diskussion Goethes und Schillers über die „Jungen" immer wieder erscheinen; der dreiundzwanzigjährige Schelling wird also nicht auf einen besonderen Sockel gestellt. Der Naturforscher Goethe begleitet des Philosophen Versuche mit wachem Interesse, doch mit ebensoviel Distanz, einer Distanz, die auf Erfahrung und Lebenspraxis dringt: Das Buch „von der Weltseele" enthalte „sehr schöne Ansichten" und errege „nur lebhafter den Wunsch, daß der Verfasser sich mit dem Detail der Erfahrung immer mehr und mehr bekannt machen möge." 141 Nach der Lektüre der „Ideen zu einer Philosophie der Natur" kommt Goethe zum Schluß, „von den neuern Philosophen (sei) wenig Hülfe zu hoffen". 1 4 2 Man tue wohl daran, die Künstlichkeit idealistischer Distinktionen zu meiden und sich ,naiv' zu geben, also „(...) in dem philosophischen Naturstande (Schellings Ideen, pag. XVI) zu bleiben und von seiner ungetrennten Existenz den besten möglichen Gebrauch zu machen, bis die Philosophen einmal übereinkommen, wie das, was sie nun einmal getrennt haben wieder zu vereinigen seyn möchte." 1 4 3 Unüberhörbar ironisch reagiert der weltzugewandte Pragmatiker auf die Prätentiosität und die sublimsten Spekulationen der neuen Weltweisen. Er betrachtet sie als anregende Gesprächspartner zu eigener Gedankenbewegung; ihre Ideen behandelt er als geistigen Vorrat, dem er entnimmt, was ihm für seine Zwecke brauchbar erscheint, ohne dabei den Boden der praktischen Lebenserfahrung zu verlassen und sich in ein abstraktes Luftreich zu verlieren. Über die phantastisch-spekulativen „Beiträge zur Elementar-Phisiologie" (1797) des jungen Franz von Baader bemerkt er beispielsweise: „Baders Schrift habe ich mit Vergnügen durchgelesen, ob sie uns gleich aus Regionen etwas erzählt in die ich mich niemals versteige. Könnte er jemals zu mir herunter auf den Grund und Boden kommen, auf dem ich zu Hause bin, so würde ich eher im Stande seyn, aus der Anwendung seiner Principien, die Principien selbst zu beurtheilen. Indessen habe ich den Versuch gemacht sie nach meiner Art und Weise zu brauchen und es scheint mir sehr viel schönes und passendes aus denselben entgegen." 144 Mystischen Lichtwelten also mißtraut Goethe; die Erwartung der jungen Schwarmgeister, im clair-obscure einer philosophischen Poesie (oder einer poetisierenden Philosophie) auf den Stein der Weisen zu stoßen, teilt er durchaus nicht. Wohl aber weiß er, ein solider .Grundbesitzer', die Königreiche des Gedankens, auch wo sie ins Phantastische wuchern, geschickt zu nutzen, um seinen eigenen irdisch-poetischen Garten zu meliorieren. So ist es auch zu verstehen, daß Goethe, während er eine „völ-

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lige Vereinigung" mit Schelling wünscht und sich durch den jungen Jenenser Professor Niethammer ins „System des transcendentalen Idealismus" einführen läßt 1 4 5 , zugleich in den komisch-selbstironischen Stoßseufzer ausbrechen kann: „Wohin sich die arme Poesie zuletzt noch flüchten soll weiß ich nicht, hier ist sie abermals in Gefahr von Philosophen, Naturforschern und Consorten sehr in die Enge getrieben zu werden. Zwar kann ich nicht läugnen daß ich die Herren selbst einlade und auffordere, und der bösen Gewohnheit des Theoretisirens aus freyem Willen nachhänge, und also kann ich niemand anklagen als mich selbst. Indessen werden recht gute Dinge auf recht gute Weise in gebracht, so daß ich meine Zeit vergnügt genug hinbrinSchiller resümiert Goethes pragmatische Fähigkeit im Umgang mit den Gebäuden der abstrakten Ideen folgendermaßen: „Es ist eine sehr intereßante Erscheinung, wie sich Ihre anschauende Natur mit der Philosophie so gut verträgt und immer dadurch belebt und gestärkt wird (...). Sie nehmen Sich von seinen (Schellings, J.W.) Ideen nur das, was Ihren Anschauungen zusagt, und das übrige beunruhigt Sie nicht, da Ihnen am Ende doch das Objekt als eine festere Autorität dasteht als die Speculation, solange diese mit jenem nicht zusammentrift." 147 Goethe also versteht es, sublime Gedankenentwürfe für poetische Taten auszubeuten — Schillers Beschreibung würdigt nicht nur die produktive Verfahrensweise des „naiven" Dichters, sie markiert auch, wenn nicht Kritik, so doch Abstand. Dem hochgespannt theoretisierenden, „sentimentalischen" Freund und Widerpart muß derlei unbekümmertes Wählen und Packen äußerst fremd erscheinen: als eklektische Manier, die seinen Anforderungen an einen idealen Dichter strikt zuwiderläuft. Immerhin hatte Schiller postuliert, daß die „objective Kraft" eines Dichtwerkes auf dem „Ideellen" zu beruhen habe, daß „Totalität des Ausdrucks" gefordert sei, daß der „vollkommene Dichter" das „Ganze der Menschheit" aussprechen müsse.148 Das war die Position dessen, der dazu neigte, von der „Idee des Höchsten" auszugehen, um von dort zur Objektenwelt herabzuschreiten. Wohl war sich Schiller der kaum überwindbaren Schwierigkeiten bewußt, die einem .deduktiven' dichterischen Verfahren — von der „Idee" zum poetischen Elaborat — entgegenstanden. Nicht umsonst sprach er von dem „niemals beizulegenden Streit" zwischen jenen, die sich „auf dem vagen Gebiete des Absoluten" aufhalten, ohne zur poetischen Realisation zu finden, und den subjektiven Pragmatikern, die „etwas Gutes und Charakteristisches hervorbringen", doch die „hohe(n) Foderungen" des „Ideellen" nicht erreichen. Letztere hätten jedenfalls „die Tat für sich, die zwar beschränkt, doch reell sei", denn: „Aus der

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Idee (...) kann ohne die Tat gar nichts werden." 1 4 9 Trotz solcher praktischen Konzilianz bleibt für Schiller aber zweifellos das Desiderat gültig, daß der Poet im emphatischen Sinn von der „Totalidee" auszugehen habe. Goethe war diesem gewaltigen Anspruch an das Verfahren des poetischen Geistes, das seines eben nicht war, mit der höflichen Formel begegnet, er sei nicht allein der Meinung Schillers, sondern er gehe sogar noch weiter: Das Genie handele grundsätzlich unbewußt; es könne sich zwar auch „nach gepflogener Überlegung, aus Überzeugung" verhalten, doch das geschehe „nur so nebenher". Kein Werk des Genies könne „durch Reflexion und ihre nächsten Folgen verbessert, von seinen Fehlern befreyt werden", wohl aber sei es dem Genie möglich, „sich durch Reflexion und Tat nach und nach dergestalt hinauf(zu)heben, daß es endlich musterhafte Werke" hervorbringe. 150 Mit dieser raffinierten rhetorischen Überbietung war freilich Schillers Postulat des .deduktiven' Weges schon bedeutend zerrüttet. Es wird vollends ins Gegenteil verkehrt, wenn Goethe Schillers etwas herablassende Rede von der zwar beschränkten, doch reellen poetischen Tat aufnimmt — und geradehin zu ihrer Apologie schreitet: „Was die großen Anforderungen betrifft die man jetzt an den Dichter macht, so glaube ich auch daß sie nicht leicht einen Dichter hervorbringen werden. Die Dichtkunst verlangt im Subject, das sie ausüben soll, eine gewisse gutmüthige, ins Reale verliebte Beschränktheit, hinter welcher das Absolute verborgen liegt. Die Forderungen von oben herein zerstören jenen unschuldigen productiven Zustand und setzen, für lauter Poesie, an die Stelle der Poesie etwas das nun ein für allemal nicht Poesie ist. Wie wir in unsern Tagen leider gewahr werden und so verhält es sich mit den verwandten Künsten, j a mit der Kunst im weitsten Sinne. Dieß ist mein Glaubensbekenntniß, welches übrigens keine weitere Ansprüche macht." 1 5 1 Man kann diese Erklärung als neckende Widerrede lesen, schwebend zwischen Moquerie, Selbstironie und überlegener Selbstgewißheit. Im Kern freilich ist sie hart, nichts anderes als eine definitive Abfertigung des .absoluten' Schiller. Es scheint, als sei es Goethe leid gewesen, die Diskussion über das von seinem Juniorpartner konstruierte Begriffspaar des „Sentimentalischen" und „Naiven" fortzusetzen und sich stets erneut Anspielungen darauf gefallen zu lassen, daß er den — doch theoretisch zu bekrittelnden — Typus des „naiven Dichters" verkörpere. Mit der trotzig-ironischen Bekräftigung, daß der echte Dichter eine gewisse „gutmütige, ins Reale verliebte Beschränktheit" zur produktiven Basis habe, und mit der abschließenden Bemerkung, daß dieses sein persönliches, keineswegs allgemeinverbindli-

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ches Prinzip sei, endigt Goethe den Disput, indem er sich sozusagen bequem in der Schillerschen Schublade einrichtet. Eckermann läßt später den alten Goethe in dürren Worten aussprechen, daß er Schillers spekulative Versuche nicht allein für unfruchtbar, sondern gar für der Dichtkunst abträglich befunden habe: „Ich kann nicht umhin zu glauben, daß Schillers philosophische Richtung seiner Poesie geschadet hat; denn durch sie kam er dahin, die Idee höher zu halten als alle Natur, ja die Natur dadurch zu vernichten. (...) Es ist betrübend (...), wenn man sieht, wie ein so außerordentlich begabter Mensch sich mit philosophischen Denkweisen herumquälte, die ihm nichts helfen konnten. Humboldt hat mir Briefe mitgebracht, die Schiller in der unseligen Zeit jener Spekulationen an ihn geschrieben. Man sieht daraus, wie er sich damals mit der Intention plagte, die sentimentale Poesie von der naiven ganz frei zu machen. Aber nun konnte er für jene Dichtart keinen Boden finden, und dies brachte ihn in unsägliche Verwirrung. Und als ob (...) die sentimentale Poesie ohne einen naiven Grund, aus welchem sie gleichsam hervorwächst, nur irgend bestehen könnte." 1 5 2 Während Goethe Schillers ästhetisch-philosophische Anstrengungen als schädliche Irrwege beklagt, rühmt er andererseits sein poetisch-praktisches Genie, vor allem das des Bühnendichters. Selbst die wilden frühen Stücke, „jene drei gewaltsamen Erstlinge" 153 , erfahren da noch Lob, sonderlich im Vergleich mit den „schwachen, weichen, forcierten und unnatürlichen Stücke(n) einiger unserer neuesten Tragiker", wie Eckermann 1827 festhält: „Schiller mochte sich stellen, wie er wollte, er konnte gar nichts machen, was nicht immer bei weitem größer herauskam als das Beste dieser Neuern; ja wenn Schiller sich die Nägel beschnitt, war er größer als diese Herren." 154 Es mag scheinen, als habe uns dieser Exkurs über die internen Differenzen zwischen den Häuptern der deutschen Klassik etwas vom Weg der Untersuchung abgeführt, die doch die Konflikte zwischen den .Großen' und den Jungen' darzulegen versprach. In Wirklichkeit sind wir in doppelter Hinsicht beim Thema verblieben. Zum einen zeigt sich, daß das Verhältnis zwischen Goethe und Schiller in nuce demjenigen gleicht, das nach außen hin zwischen den beiden klassizistischen Großmeistern und den nachdrängenden Jungdichtern vorliegt. Zumindest aus der Perspektive des alten Goethe erscheint der nur zehn Jahre nachgeborene Schiller als einer ganz anderen Generation zugehörig — bemerkenswerterweise der der frühen Romantiker: „(...) daß Schiller so viel jünger war und im frischesten Streben begriffen, da ich an der Welt müde zu werden begann, ingleichen daß

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die Gebrüder von Humboldt und Schlegel unter meinen Augen aufzutreten anfingen, war von der größten Wichtigkeit. Es sind mir daher unnennbare Vortheile entstanden." 155 Zwar dankt Goethe dem ,viel jüngeren' Schiller die Hinführung „an eine Sprache, die mir völlig fremd gewesen" — gemeint ist die Begrifflichkeit der Kantischen Philosophie 156 —, zugleich aber hat der Ältere den Ideologen' Schiller als konkurrierenden Widerpart zu verkraften: „Ich hatte in der Poesie die Maxime des objectiven Verfahrens, und wollte nur dieses gelten lassen. Schiller aber, der ganz subjectiv wirkte, hielt seine Art für die rechte, und um sich gegen mich zu wehren, schrieb er den Aufsatz über naive und sentimentale Dichtung." 157 „Beide Dichtungsweisen sollten sich bequemen einander gegenüberstehend sich wechselweise gleichen Rang zu vergönnen. 5 Hans Mayer hat, entgegen harmonisierenden Darstellungen in der traditionellen Literaturgeschichtsschreibung, den ,Freundschaftsbund' zwischen Goethe und Schiller im Jahre 1794 als Zweckallianz, als „Bündnis des Mangels mit dem Mangel" charakterisiert. 159 Von selten des alternden, doch noch mächtig gärenden, an Vereinsamung und relativ geringer Popularität leidenden Goethe sei es der Versuch gewesen, den fulminant erfolgreichen Dramatiker Schiller trotz aller Fremdheit der Naturen und des Wesens an sich zu binden, sich der „mächtigen Konkurrenzgestalt" zu erwehren, indem man sie in Freundschaft neutralisierte. Umgekehrt liege Schillers Werbung eine einfache, beinahe zynische Rechnung zugrunde: „Eine abweisende Reaktion bedeutete nichts: derlei war man gewohnt, besonders von dieser Seite. Der Gewinn war überwältigend: Gleichberechtigung mit dem Größten und Unerreichbaren."16® Mayer hält fest, daß im Verlauf der Entwicklung des Bundes Goethe immerhin aus der Not eine menschliche Tugend gemacht habe. 161 Schiller dagegen habe aus der Anerkennung zwar Selbstbewußtsein und das Gefühl der Ebenbürtigkeit bezogen, sei aber weit davon entfernt geblieben, seine einstige rechenhafte Kühle nun durch herzliche Zuneigung wettzumachen. Zwar nenne er (in einem Brief an die Goethe-Kritikerin Charlotte von Schimmelmann Ende des Jahres 1800) Goethe den ersten Dichter nach Shakespeare, würdige seine Leistungen als Naturforscher, und lobe seinen aufrechten Charakter. Doch er könne sich nicht enthalten, im selben Zusammenhang hochmütig über die bedenklichen privaten Verhältnisse des Älteren zu moralisieren, dessen Haltung als „zu schwach und zu weichherzig" zu finden. Dies sei, dritten gegenüber geäußert, kaum ein Zeichen von Freundesliebe. 162 So akzentuieren Mayers Beobachtungen unsere These, daß Schiller in einer ähnlichen Mischung von Eifersucht und Bewunderung, von Arroganz und faszinierter Abhängig-

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keit an Goethe gebunden war, wie wir das im Verhältnis der wiederum ein bis zwei Jahrzehnte jüngeren Dichtergeneration zu beiden Meistern, in der Schiller-Verehrung Hölderlins oder in der Haßliebe Kleists zu Goethe, festgestellt haben. Die Digression über die konfliktträchtige Beziehung zwischen Goethe und Schiller ist noch in einer zweiten Hinsicht für unser Thema fruchtbar. Im historischen Rückblick auf die Literaturentwicklung seit Ende des 18. Jahrhunderts wird der alte Goethe wiederholt darauf weisen, daß die unselige Neigung der jüngeren deutschen Dichter zum „durchaus falschen Transcendiren" — in der Ausprägung der philosophischen Überhöhung — maßgeblich durch das Beispiel Schillers ausgelöst worden sei. 1820 veröffentlicht Goethe den autobiographischen Abriß über die „Einwirkung der neuern Philosophie" auf seine eigene Entwicklung. Darin heißt es, in streng objektiv stilisierender Weise, Schiller habe mit den Aufsätzen „über naive und sentimentale Poesie" den „ersten Grund zur ganzen neuen Ästhetik" gelegt: ,,(...) denn hellenisch und romantisch und was sonst noch für Synonymen mochten aufgefunden werden, lassen sich alle dorthin zurückführen, wo vom Übergewicht reeller oder ideeller Behandlung zuerst die Rede war." 1 6 3 Das ist die sachliche Würdigung einer poetologischen Pionierleistung, eine Wertung scheint hier nicht ausgesprochen. Schon manchem mit den Weimarer Meinungen vertrauten Zeitgenossen mögen dennoch die Ohren geklungen haben, wenn er den Schiller'schen Begriff des Sentimentalen' so unmittelbar mit dem .Romantischen' ineinsgesetzt vernahm. Da war doch unlängst, 1817, unter der Autorschaft Heinrich Meyers, des Vertrauten Goethes, das Pamphlet „Neudeutsche religios-patriotische Kunst" ins Publikum geworfen worden, das die romantische Richtung dieser Tage in Grund und Boden stampfte. Wer mochte schon annehmen, daß Goethe hieran keinen Anteil hatte? 1 6 4 Doch erst nach dem Tode Goethes, durch Eckermann und die Veröffentlichungen aus dem Nachlaß in den 1830er Jahren, erfuhr man Bestimmteres darüber, wie Goethe über das Thema .Schiller und die Folgen' dachte. In den 1 8 3 6 erschienenen „Gesprächen" verzeichnet Eckermann unter dem Datum vom 21. März 1830 die Bemerkung Goethes, daß Schiller der Urheber dessen sei, was, von den Brüdern Schlegel weitergetrieben, als „Klassizismus und Romantizismus" sich nun „über die ganze Welt" verbreitet habe. 1 6 5 1837 schließlich wurde eine Skizze Goethes publiziert, die bereits 1812 entstanden, doch zurückgehalten worden war: sichtlich in dem Bemühen, den ,Freundschaftsbund' nach außen hin weiter als fruchtbares, glückliches Verhältnis gelten zu lassen und Schiller nicht noch nachträglich bei der inzwischen vehement ausgebrochenen Auseinandersetzung mit den Schlegels desavouierend in die

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Diskussion zu bringen. In jenem Entwurf mit dem Titel „Epoche der forcirten Talente" hieß es: „Entsprang aus der philosophischen. Höhere theoretische Ansichten wurden klar und allgemeiner. Die Nothwendigkeit eines entschiedenen Gehaltes, man nenne ihn Idee oder Begriff, ward allgemein anerkannt, daher konnte der Verstand sich in die Erfindung mischen und, wenn er den Gegenstand klug entwickelte, sich dünken, er dichte wirklich. Hiezu gaben den ersten theoretischen Anstoß Schillers ästhetische Briefe in den Hören, seine Abhandlung über naive und sentimentale Dichtkunst, kritisch und folglich practisch seine Recension über Bürger in der allgemeinen Literaturzeitung. Die Gebrüder Schlegel theoretisirten und kritisirten im ähnlichen Sinne: denn auch ihre Lehre, so wie ihr Streben, trat aus der Kantischen Philosophie hervor." 1 6 6 Das sei, so Goethe, „die Ableitung dieser Epoche, was den Gehalt betrifft". Zeitlich parallel seien erhebliche Fortschritte in der formalen Technik der Poesie erzielt worden; Voß habe die „Rhythmik" verbessert, durch die Nachahmung romanischer Vers- und Strophenformen habe man einen großen Zugewinn an handwerklicher Sauberkeit erreicht. Damit seien die „beiden Enden der Dichtkunst" gegeben gewesen: „entschiedener Gehalt dem Verstände, Technik dem Geschmack". In dieser Situation sei nun „das sonderbare Phänomen" aufgetreten, „daß Jedermann glaubte, diesen Zwischenraum ausfüllen und also Poet sein zu können." Die Philosophen hätten diesen „Irrtum" begünstigt: „(...) denn nachdem sie der Kunst einen so hohen Rang angewiesen, daß sie sogar die Philosophie unter die Kunst gesetzt, so wollten sie wenigstens persönlich jenes Vorrangs nicht entbehren und behaupteten, Jedermann, wenigstens der Philosoph, müsse Poet seyn können, wenn er nur wolle. (...) Selbst Schiller, der ein wahrhaft poetisches Naturell hatte, dessen Geist sich aber zur Reflexion stark hinneigte und manches, was beym Dichter unbewußt und freywillig entspringen soll, durch die Gewalt des Nachdenkens zwang, zog viele junge Leute auf seinem Weg mit fort, die aber eigentlich nur seine Sprache ihm nachlernen konnten." 1 6 7 Unmißverständlich also erscheint Schiller hier als der Stifter der unglückseligen Tradition der „Reflexionspoesie", als Verführer der Jugend zum „Transzendieren". Zwar ist nicht von einem subjektiven Verschulden Schillers die Rede, wohl aber von seiner historisch-generativen Verantwortlichkeit. Aus dieser Sichtweise ist es eigentlich nur folgerichtig, daß einstige Erzfeinde, die Brüder Schlegel und Schiller, als nahe Verwandte erscheinen. Der alte Goethe hat übrigens diese poetologische Ähnlichkeit

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mit den Persönlichkeitsstrukturen ihrer Träger in unauflösbaren Zusammenhang gestellt, und zwar unter dem Signum gleichgerichteten Pathologieverdachts. .Überspannung der Natur' sei die Ursache sowohl hier wie dort: Die Gebrüder Schlegel seien „bey so viel schönen Gaben unglückliche Menschen ihr Leben lang", da sie mehr vorstellen wollten, „als ihnen von Natur gegönnt war und mehr wirken als sie vermochten" 1 6 8 ; Schiller wiederum habe sich dadurch ruiniert, daß er die „Idee der ideellen Freiheit" allzu heftig ergriffen und über sein Schaffen gestellt habe: „(...) ich möchte fast sagen, daß diese Idee ihn getötet hat; denn er machte dadurch Anforderungen an seine physische Natur, die für seine Kräfte zu gewaltsam waren." 1 6 9 Was den alten Goethe so sprechen läßt, ist nicht der Hochmut des Überlebenden. Es ist ernstes Bedauern über den Irr- und Untergang hochbegabter Individuen, die Opfer eines falschen Ehrgeizes geworden sind: des Ehrgeizes, die Grenzen ihrer eigenen Natur und die der Poesie durch die Anstrengung idealistischer Spekulation zu übersteigen. Natürlich ist dieses Urteil nur demjenigen möglich, der überlebt hat und so Zeuge beim Scheitern der Anderen werden konnte. Doch läßt sich daraus ebensowenig ein Vorwurf konstruieren wie aus der vielleicht durchscheinenden Genugtuung, letzten Endes recht behalten zu haben mit seinen einstigen Mahnungen und Warnungen. Denn die hatte er j a seinerzeit, als das Konzept einer „sentimentalischen" Poesie entwickelt wurde und auszustrahlen begann, unüberhörbar geäußert. Wir erinnern uns an seinen skeptischen Einwand gegen Schillers Postulat, der Dichter müsse von der „Idee des Höchsten" ausgehen: „Die Forderungen von oben zerstören jenen unschuldigen produktiven Zustand und setzen, für lauter Poesie, an die Stelle der Poesie etwas, das nun ein für allemal nicht Poesie ist. Wie wir in unsern Tagen leider gewahr werden (...)". Wir erinnern uns an die Erscheinungen, die in jener Zeit Anlaß zu solcher Einrede gaben, an den „fratzenhaften" Philosophaster Kosegarten, an Hölderlin, der die „Schul e " Schillers zeige, an den armen Schiller-Epigonen Siegfried Schmid und sein hochgestochen-verschwommenes Bildungsprogramm, das Poesie und Philosophie verbunden wissen wollte. In Goethes Verständigung mit Schiller über dessen junge ,Protégés' stand unterschwellig stets auch die spekulative Poetik des Mentors zur Diskussion, ungeachtet der Tatsache, daß man im praktischen Urteil über die jungen Enthusiasten dann doch übereinstimmte. Daß Schiller, durch das Vor-Urteil Goethes bewogen, den „idealischen Hang" der „Schmid", „Richter" und „Hölderlin" in ziemlich rücksichtsloser Schärfe als „subjectivisch", „überspannt" und „einseitig" abtun konnte, schadete übrigens seiner theoretischen Position keineswegs; immerhin hatte er selbst anderthalb Jahre vor diesem Urteil die gegenstandslose „Überspanntheit" als die Hauptgefahr des sentimentalischen Dichters beschrieben. 170 Seine eigene Person sah er freilich gegen diese Gefahr gefeit, konnte und wollte wohl deshalb Goethes Einwendungen nicht auf sich beziehen. Goethes späte Äußerungen lassen

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Schiller dagegen als eine Art Zauberlehrling erscheinen, der die Flut des „Sentimentalischen" nicht nur in Bewegung gesetzt habe, sondern selbst von ihr ereilt worden sei. Wir haben weiterhin gesehen, daß Goethe nicht allein in der internen Auseinandersetzung mit Schiller vor der spekulativen Überanstrengung der Poesie warnt, sondern auch nach außen hin in gleicher Richtung mahnt und den dichtenden Nachwuchs von allzu hochgespannten Prätensionen zurückzuholen sucht. Während er für sich selbst, kraft Alters und Erfahrung, in Anspruch nimmt, die Philosophie seiner Zeit zu produktivem Nutzen zu brauchen, traut er dies den jungen Enthusiasten nicht zu; darum sein Satz über Siegfried Schmids Programm: „Wogegen ich nichts zu sagen habe, wenn ich es nur nicht von einem jungen Menschen hören müßte." Goethe also rät, ein junger Mensch' (etwa Hölderlin) solle, ehe er sich an große Würfe wagt, seine Fähigkeiten an einfachen, menschlich naheliegenden Themen schulen und in kleinen Formen erproben. Vor allem aber soll er, ehe er seine Sache oder gar seine gesamte Existenz auf die Poesie (also auf „Nichts", wenn wir Goethes radikale Äußerung anläßlich der Kritik Kosegartens im Ohr behalten) stellt, praktische Lebenserfahrungen sammeln und sich eine tüchtige beruflich tragfähige Realienbildung aneignen. Goethe hat diese Maxime nicht ohne Herbheit in einem Brief an den zwanzigjährigen Studenten und Nachwuchsdichter Johann Erichson formuliert. Erichson, Mitglied der elitären, von Fichte patronierten Jenaer „Gesellschaft der freien Männer", hatte Goethe im März 1797 Proben seiner Kunst zugesandt und um einen Rat gebeten, ob er „in Hoffung einer lohnenden Erndte" sein „geliebtes Feld (der Poesie, J.W.) noch ferner bebauen, oder durch strenges Studium der Mathematik und Philosophie" seine „Phantasie zügeln und so auf einem anderen Weg zu einem rühmlichen Ziele vordringen sollte." 1 7 1 Goethe war von den vorgelegten Produkten sichtlich nicht erbaut. Ohne sich damit aufzuhalten, kam er sofort zu Grundsätzlichem: „Indem ich die mir anvertrauten Gedichte zurückschicke, füge ich nach Ihrem Wunsch einige Betrachtungen bey. Sie scheinen mir in dem Irrthum zu stehen, den ich schon bey mehrern Jünglingen bemerkt habe, daß man einer Neigung zur Poesie, die man fühlt, sich ausschließlich überlassen müsse, da doch selbst dem Dichter, den die Natur entschieden dazu bestimmt haben mag, erst Leben und Wissenschaft den Stoff geben, ohne welchen seine Arbeiten immer leer bleiben müßten. Nach meiner Einsicht versäumen Sie vielmehr gar nichts, wenn Sie sich dem thätigen Leben oder den Wissenschaften widmen, denn erst alsdann wenn Sie in einem dieser Kreise eine weite Bahn durchlaufen haben, werden Sie Ihres Talents gewiß werden. Bemächtigt es sich aller Erfahrungen und Kenntnisse die Sie gesammelt haben mit Gewalt, weiß es alle die fremdesten Ele-

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mente in eine Einheit zu verbinden, so ist das Phänomen da, welches Sie zu wünschen scheinen, das aber auf keinem andern Wege hervorgebracht werden kann. Sollte sich im Gegentheil zeigen, daß diese Neigung zur Dichtkunst jene Probe nicht aushielte, so würden Sie doch den andern Gewinn rein besitzen. Auch kann es niemand gereuen, selbst wenn er zu ganz andern Dingen bestimmt ist, sich wenigstens mit den äußern Formen der Dichtkunst bekannt gemacht zu haben. Der ich recht wohl zu leben wünsche." 1 7 2 Daß ein Leben nicht auf die Poesie zu bauen sei, daß vielmehr ein Dichter erst umgekehrt durch praktische Bewährung und aus profunder Lebensklugheit, durch Sammlung von Welterfahrung und vielerlei profanen Kenntnissen, erwachsen könne — das ist eine Hauptmaxime Goethes, an der er unverrückbar festhält und die unermüdlich zu wiederholen er sich nicht scheut. Wenn ein Talent, selbstverschuldet oder unfreiwillig, in Einsamkeit und sozialer Isolation verharrt, wenn es in subjektivistischer Eitelkeit um sich selber kreist, wenn es sich weigert, die eigene beschränkte Individualität der profanen Wirklichkeit auszusetzen und seine Phantasietätigkeit durch Wissen über die Dinge der Außenwelt zurechtrücken zu lassen, dann wird es, ebenso selbstzerstörerisch wie der Poesie verderblich, im „durchaus falschen Transcendiren" enden, in der leeren Phantasmagorie: „Wenn einer singen lernen will (...), sind ihm alle diejenigen Töne, die in seiner Kehle liegen, natürlich und leicht; die andern aber, die nicht in seiner Kehle liegen, sind ihm anfänglich äußerst schwer. Um aber ein Sänger zu werden, muß er sie überwinden, denn sie müssen ihm alle zu Gebote stehen. Ebenso ist es mit einem Dichter. Solange er bloß seine wenigen subjektiven Empfindungen ausspricht, ist er noch keiner zu nennen; aber sobald er die Welt sich anzueignen und auszusprechen weiß, ist er ein Poet. Und dann ist er unerschöpflich und kann immer neu sein, wogegen aber eine subjektive Natur ihr Bischen Inneres bald ausgesprochen hat und zuletzt in Manier zu Grunde geht." 1 7 3

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Vili Religiose Grenzüberschreitung der Poesie

Goethe führt die Neigung der jungen Dichter zur abstrakten Spekulation und zur inadäquaten Überschreitung der poetischen Grenzen ideengeschichtlich auf die Wirkungen der hochidealistischen Philosophie zurück. Eine .philosophierende Poesie' , die am Leitseil von „Idee" oder „Begriff", ausgehend also von theoretischer Abstraktion, ihren Gegenstand dichterisch zu entwickeln sucht, erscheint ihm als Widerspruch in sich. Schillers Vorbild wird dafür verantwortlich gemacht, daß viele, doch weniger begabte „junge Leute" zuerst in die Irrbahn der ,Reflexionspoesie' gelangt seien. Entsprechend unfruchtbar und epigonal hätten sich ihre dichterischen Versuche erwiesen: Sie konnten „eigentlich nur seine Sprache ihm (Schiller, J.W.) nachlernen". So hieß es, wir erinnern uns, in der Skizze über die „Epoche der forcirten Talente" aus dem Jahre 1812. 174 Im übrigen habe man, so Schloß Goethe seine Ausführungen, „jene große Kluft (...) zwischen dem gewählten Gegenstande und der letzten technischen Ausführung" (gemeint sind die zuvor genannten beiden Enden der Dichtkunst', der ideelle Gehalt und der erreichte technische Hochstand, J.W.) auf „mancherlei Weise auszufüllen" versucht: „1. Durch religiöse Gesinnungen: a) christliche, pietistische und katholische. b) heidnische, den Schicksalsbegriff. c) romantische schlossen sich an a an. 2. Durch Kunstgegenstände und Gesinnungen : a) heidnische b) christliche. Die letztern nehmen überhand; Poesie und bildende Kunst verderben einander wechselweise." 175 Goethe faßt in diesem Schema die Haupttendenzen zusammen, die ihm der Entwicklungsgang der jüngeren Poeten- und Künstlergeneration im verflossenen Jahrzehnt geboten hat. Das idealistisch-philosophische ,Transzendieren' scheint durch das ,religiöse Transzendieren' abgelöst. Daß diese Verschiebung eine innere Konsequenz zeige, bemerkte Goethe schon 1808 in einer Notiz über das „moderne Christenwesen" Zacharias Werners: 48

„Daß die deutsche Dichtkunst diese Richtung nahm, war unaufhaltsam; und wenn etwas daran zu tadeln ist, so tragen die Philosophen auch ein Theil der Schuld. Die gemeinen Stoffe, die das Talent gewöhnlich ergreift, um sie zu behandeln, waren erschöpft, und verächtlich gemacht. Schiller hatte sich noch an das Edle gehalten; um ihn zu überbieten mußte man nach dem Heiligen greifen, das in der ideellen Philosophie gleich bey der Hand lag." 1 Die Anfange dieser Entwicklung hatte Goethe noch halbwegs scherzend begleitet. Schelling berichtet Ende 1801 an August Wilhelm Schlegel über einen heiteren Abend bei Goethe, wobei die Rede auch auf den neuen Schlegel-Tieckschen „Musenalmanach" (für das Jahr 1802) gekommen sei. Dieser, so habe Goethe wohlwollend geäußert, „schleicht sich überall gut ein. (...) Nur zu viel Blut und Wunden seien für ihn darin. Das Heidenthum stecke ihm zu fest in den Gliedern." 177 Die spaßig Abstand nehmende Bemerkung bezog sich sichtlich auf des Novalis „Geistliche Lieder", ihre Opfertod- und Transsubstantiationsmystik, die in gigantesken kannibalischen Verschmelzungsphantasien schwelgte — einigermaßen profanen Gemütern wohl einst wie jetzt völlig ungenießbar.178 Andere Stiftungstexte der christlichen Romantik, Wackenroders „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders" aus dem Jahre 1797 und Tiecks „Sternbald", hatte Goethe seinerzeit zwar zur Kenntnis genommen, doch darüber kein lautes Wort verloren. Es war damals wohl nicht abzusehen, daß diese Richtung Epoche machen sollte. 179 Im Rückblick der „Annalen" heißt es denn auch über den „Klosterbruder": „Indem wir (die .Weimarischen Kunstfreunde', J.W.) nun aber uns auf jede Weise bemühten, dasjenige in Ausübung zu bringen und zu erhalten, was der bildenden Kunst als allein gemäß und vortheilhaft schon längst anerkannt worden, vernahmen wir in unseren Sälen: daß ein neues Büchlein vorhanden sei, welches vielen Eindruck mache; es bezog sich auf Kunst, und wollte die Frömmigkeit als alleiniges Fundament derselben festsetzen. Von dieser Nachricht waren wir wenig gerührt, denn wie sollte auch eine Schlußfolge gelten, eine Schlußfolge wie diese: einige Mönche waren Künstler, deßhalb sollen alle Künstler Mönche sein." 1 8 0 Als freilich seit 1803 die Brüder Schlegel, voran der jüngere Friedrich, die klosterbrüderliche christliche Kunstschwärmerei aufnehmen und das Programm des Nazarenismus entwickeln 181 , wird Goethes Humor zusehends grimmiger. Daß die altdeutsche Malerei gegen den von Goethe patronierten französischen Klassizismus auf den Schild gehoben, daß die frühraffaelitische Naivität über das Renaissancewerk des reifen Meisters gestellt, daß die Malerei zum Medium der Gotterfahrung schlichthin erklärt wurde: das war nicht nur eine Manifestation gegen die Kunstüberzeugungen der „Propyläen", des Sprachrohrs der Weimarer Klassizisten. Es war eine

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fundamentale Provokation der säkularen, im weiteren weltanschaulichen Sinn protestantischen' — also aufklärerischen — Haltung Goethes. Hier machten nicht nur begabte und kecke junge Konkurrenten dem .Imperator' der deutschen Poesie die Krone streitig, hier erhoben vielmehr der alte Aberglauben und ein düster-mystischer Schamanismus das Haupt. 1805, nach August Wilhelm Schlegels öffentlicher und direkter Adresse, des „Schreiben(s) an Goethe über einige Arbeiten in Rom lebender Künstler", kündigt Goethe darum seine bisherige Zurückhaltung auf: „Es ist Zeit, daß man sich erklärt, wie man über diese Narrenspossen ( das ,neu-katholische Künstlerwesen', J.W.) denkt, denn bey einem Frieden mit solchen Leuten kommt doch nichts heraus, sie greifen nur desto unverschämter um sich." 1 8 2 Goethe reagiert freilich zunächst, ohne die Brüder Schlegel unmittelbar anzugreifen. In Heinrich Meyers Abhandlung „Über Polygnots Gemählde" vom gleichen Jahr rückt er folgendes Zitat aus einer Schrift der jugendlichen Brüder Riepenhausen ein, das ihre Hinwendung zum Nazarenismus anzeigte: „Niemals (...) war der Grieche zu der Erfindung eines solchen Kunstwerks gelangt, in welcher sich der Geist der ganzen Welt mit allem seinem Glänze, allen seinen Verborgenheiten und seiner entzückenden herrlichen Hoheit offenbart; diese lag außerhalb des Umfangs seiner Möglichkeit und war späteren Zeiten vorbehalten, in welchen eine andere, göttlichere, geheimnißvollere Religion eine andere, durch sie wiedergeborene Welt mit neuer Vortrefflichkeit überströmen sollte." 1 8 3 Goethes Kommentar lautet: „Wem ist in diesen Phrasen die neukatholische Sentimentalität nicht bemerklich, das klosterbrudrisirende, sternbaldisirende Unwesen, von welchem der bildenden Kunst mehr Gefahr bevorsteht als von allen Wirklichkeit fodernden Calibanen?" 1 8 4 Mit diesem Hieb gegen die minder berühmten Proselyten der neuen Schule war selbstverständlich auch ihren Führern die öffentliche Fehde erklärt. Während August Wilhelm Schlegels ,katholische Wende' im Ästhetischen verharrt, zieht sein Bruder Friedrich im April 1808 die existentielle Konsequenz aus seiner längst offenbaren Neigung und tritt förmlich zum Katholizismus über. Dieser endgültige Akt scheint Goethe aufs Äusserste beunruhigt und erbost zu haben. Dafür spricht, daß seine erste nachweisbare Reaktion einer Sorge familiärer Art gilt. Am 3. Juni, kaum vier Wochen, nachdem ihm Schlegels Konversion bekannt geworden ist, schreibt er an seinen Sohn, der in Heidelberg ein Jurastudium aufgenommen hat und sich seinem Fach durch historische Arbeit nähert:

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„Daß Du deiner eignen Natur nach auf diesem Wege bleiben wirst ist mir sehr erfreulich, da ich nicht zu befürchten habe, daß Du Dich auf die philosophischen und religiösen Fratzen einlassen möchtest, welche jetzt in Deutschland sogar manchen guten Kopf verwirren und doch zuletzt auf nichts als auf einen abstrusen Selbstdünkel hinausführen." 1 8 5 Ausführlich und unmittelbar zu Person und Sache äußert sich Goethe am 22. Juni in zwei Briefen an Zelter und Carl Friedrich von Reinhard. An Zelter ergeht die Empfehlung, er möge doch ja Schlegels Buch „Über die Sprache und Weisheit der Indier" lesen und dabei bewundern, „wie er ein ganz crudes christ-katholisches Glaubensbekenntnis mit den herrlichsten Ansichten über Welt- Menschen und Culturgeschichte zu verweben gewußt hat." Man könne, so fährt Goethe fort, „dieses Büchlein also auch fur eine Declaration seines Übertritts zur alleinseligmachenden Kirche ansehen." 1 8 6 Reinhard bekommt Deutlicheres zu hören: Sämtliche Gegenstände, die Schlegel behandle, brauche er eigentlich nur als „Vehikel", um „gewisse Gesinnungen nach und nach ins Publicum zu bringen und sich mit einem gewissen ehrenvollen Schein als Apostel einer veralteten Lehre darzustellen." Mit Bezug auf eine Stelle in der Indier-Abhandlung, an der Schlegel die „Ewigkeit der Höllenstrafen" nicht bloß als mit dem „System der Emanation" vereinbar, sondern vielmehr als einen „wesentlichen Bestandteil desselben" erklärt hatte 1 8 7 , schreibt Goethe weiter: ,,(...) meine Einsicht aber ward vollkommen, als ich S. 97 des indischen Büchleins den leidigen Teufel und seine Großmutter mit allem ewigen Gestanksgefolge auf eine sehr geschickte Weise wieder in den Kreis der guten Gesellschaft hereingeschwärzt sah. Ich werde nun eine Zeitlang, was ich von ihm habhaft werden kann, mit Aufmerksamkeit lesen, um zu sehen wie ein Mann dieser Art nach und nach immer derber auftritt, ja was sag* ich nach und nach! — Er hat alles schon so vorbereitet, daß er nächstens in seinem Apostolat vor der Welt, die ohnehin niemals weiß, was sie sieht und was sie will, ganz ungescheut auftreten darf." 1 8 8 Wenn Goethe fortfährt, er habe vernommen, daß Schlegel nach Wien gehen wolle, wobei zu wünschen sei, daß er dort „einigen zeitlichen Vorteil finden möge", so betont er damit noch in anderer Weise den Verdacht, daß Schlegels katholische Erweckung durchaus irdischere Gründe habe als ein paulinisches Damaskus-Erlebnis. In wahrscheinlich unangemessenem aufklärerischem Optimismus mutmaßt — oder h o f f t — Goethe zugleich, daß sich solches Spiel nicht lohne: „Übrigens ist in den österreichischen Staaten jetzt ein Proselyt wenig geachtet. Die Verstandesgährung, welche Joseph der Zweyte hervorgebracht, wirkt noch immer im Stillen fort. Sich dem Prote-

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stantismus zu nähern ist die Tendenz aller derer, die sich vom Pöbel unterscheiden wollen (...)." 189 Nach wie vor denkwürdig ist die historische und psychologische Problemstellung, die Goethe am Fall „dieses neuen Augustinus" formuliert: „Durchaus ist aber diese Schlegelsche Conversion sehr der Mühe werth, daß man ihr Schritt vor Schritt folge, sowohl weil sie ein Zeichen der Zeit ist, als auch weil vielleicht in keiner Zeit ein so merkwürdiger Fall eintrat, daß im höchsten Lichte der Vernunft, des Verstandes, der Weltübersicht ein vorzügliches und höchstausgebildetes Talent verleitet wird sich zu verhüllen, den Popanz zu spielen, oder wenn Sie ein ander Gleichniß wollen, so viel wie möglich durch Läden und Vorhänge das Licht aus dem Gemeindehause auszuschließen, einen recht dunklen Raum hervorzubringen, um nachher durch das foramen minimum so viel Licht, als zum hocus pocus nöthig ist, hereinzulassen." 190 Man sieht aus diesen Worten, wie sehr Goethe Schlegel hochgeschätzt hat, wie sehr er, da dessen mystische Wendung doch offenkundig und besiegelt ist, immer noch von zorniger Verblüffung geschüttelt wird: so, als habe sich ein unglaubliches, unsinniges Wunder ereignet — und dies, obwohl doch die .Zeichen der Zeit' längst nicht mehr zu verkennen waren. Immerhin hatte sich Fritz Stolberg, der „gräfliche Saalbader" 191 , wie Goethe bereits 1795 vorausahnend bemerkte, im Jahre 1800 der alleinseligmachenden Kirche zugewandt, Adam Müller war ihm 1805 auf diesem Wege gefolgt, die Neigungen der Heidelberger Romantiker waren Goethe nicht verborgen geblieben. Und schließlich verkehrte Goethe seit einem halben Jahr in vertrauter Weise mit Zacharias Werner, der ihm geradezu als Studienobjekt des modernen christlichen Prophetenwesens diente. Doch scheint die Faszination am exzentrischen Charisma dieses „Talsohns" und die Wertschätzung seines praktisch-dramatischen Talents die Aversionen Goethes zunächst überlagert zu haben. So jedenfalls hatte er sich im Januar 1808 in einem Brief an Jacobi geäußert: ,,(...) besonders hat Werner, der Sohn des Tals (...) uns durch sein Wesen, sowie durch seine Werke unterhalten und aufgeregt. Es kommt mir, einem alten Heiden, ganz wunderlich vor, das Kreuz auf meinem eignen Grund und Boden aufgepflanzt zu sehen, und Christi Blut und Wunden poetisch predigen zu hören, ohne daß es mir gerade zuwider ist." 192 Goethe fügte als weitere Rechtfertigung noch hinzu: man sei „dieses doch dem höheren Standpuncte schuldig, auf den uns die Philosophie gehoben hat. Wir haben das Ideelle zu schätzen gelernt, es mag sich auch in den wunderlichsten Formen darstellen." Zwei Monate später — Werners „Wanda" ist mit großem Beifall über die Weimarer Bühne gegangen und Goethe hat sie theatergerechter ge-

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funden als selbst Schillers „Jungfrau" 1 9 3 — lobt ihn Goethe als „vorzügliches Talent" und entschuldigt seine Jüngerschaft des „modernen Christenwesens" mit „seinem Geburtsorte, seinem Bildungskreise und seiner Zeit". 1 9 4 In diesem Zusammenhang fällt dann das eingangs dieses Kapitels zitierte Argument, die Neigung der jüngeren Dichter zum „Heiligen" sei durch die Postulate der „ideellen Philosophie" verursacht. Wohl teilt Goethe des ernst-frommen Friedrich Jacobi Auffassung, daß „die neue Schule" den „Parnaß zu einem Redoutensaale" mache , ja er weitert diese Wahrnehmung ins Ästhetisch-Prinzipielle: „Bei den Alten, in ihrer besten Zeit, entsprang das Heilige aus dem sinnlich faßlichen Schönen. Zeus wurde erst durch das olympische Bild vollendet. Das Moderne ruht auf dem sittlich Schönen, dem, wenn man will, das sinnliche entgegensteht; und ich verarge dir's gar nicht, wenn Du das verkoppeln und verkuppeln des Heiligen mit dem Schönen oder vielmehr Angenehmen und Reizenden nicht vertragen magst: denn es entsteht daraus, wie uns selbst die Wernerschen Sachen den Beweis geben, eine lüsterne Redoutenund HalbBordellwirtschaft, die nach und nach noch schlimmer werden wird." 1 9 6 Zugleich jedoch müht sich Goethe aufrichtig um ein Verständnis der Phänomene vom Schlage Werners. Überraschend einfühlsam versetzt er sich in die soziale und psychische Lage der zeitgenössischen jungen Künstler: „Ebenso folgerecht (...) ist auch die Sucht, daß ein Mann von Talent nicht allein sein Werk bewundert, sondern auch seine Person geliebt, verehrt haben will, und sich deshalb zu einer Art von Lehrer und Propheten aufwirft. Doch kann ich ihnen auch das keineswegs verargen. Der Schauspieler, Musicus, Maler, Dichter, ja der Gelehrte selbst erscheinen mit ihrem wunderlichen, halbideellen halbsinnlichen Wesen jener ganzen Masse der aus dem Reellen entsprungenen und an das Reelle gebundenen Weltmenschen wie eine Art von Narren, wo nicht gar wie Halb Verbrecher, wie Menschen die an einer levis notae macula laborieren. Sollen denn also unter dieser desavantagirten Caste nicht auch gescheute Leute entstehen, die begreifen, daß gar kein Weg ist, um aus dieser Verlegenheit zu kommen, als sich zum Braminen, wo nicht gar zum Brama aufzuwerfen?" 1 9 7 In mephistophelischer Laune bekräftigt Goethe schließlich, daß der Künstler nicht nur gezwungen sei, den Scharlatan zu spielen, um geachtet zu werden, sondern daß ebensogut die Welt betrogen sein wolle. Er selbst habe mit dem Versuch, das „Cophtische Wesen" und seine „platten Resultate" in einer „lustigen Comödie" zu entlarven, seinerzeit nur Schimpf geerntet: „Wie hätten sie mich dagegen nicht angefreundet und

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geliebt, wenn ich mir hätte die Mühe geben wollen, ein Schelm oder Halbschelm zu seyn und sie zum besten zu haben." 1 9 8 Da erscheint ihm Werner geradezu als später Rächer seiner fehlgegangenen aufklärerischen Absicht. Es mache „Spaß", zu sehen, „(...) wie er die Weiblein mit leidlich ausgedachten und artig aufgestutzten Theorieen von Liebe, Vereinigung zweyer prädestinirten Hälften, Meisterschaft, Jüngerschaft, verastralisirten Mignons zu berücken weiß; die Männer mit ineinander geschachtelten Mönchsund Rittergraden, mit nächtlichen Kirchen und Capellen, Särgen, Fallthüren, teuflischen Baffometesköpfen, Geheimnisse mehr versprechenden als verbergenden Vorhängen, so künstlich als listig anzuregen, ihre Neugierde zu hetzen, ihr eignes dunkles Geheimnißreiches noch mehr zu trüben und zu verwirren, und sie dadurch sämmtlich für sich zu interessiren versteht. Dem ich denn allem bestens Vorschub thue, um einen so vorzüglichen Mann zu fördern und die Menschen dabey glücklich zu machen." 1 9 9 Zuletzt kehrt Goethe freilich zum ernsten Ton zurück, wiederholt, daß er Werner für ein „sehr schönes Talent" halte und daß ihm nichts daran gelegen sei, dessen „Tendenz" zu ändern: „Er ist ein Sohn der Zeit und muß mit ihr leben und untergehen; und was von ihm übrigbleibt, ist allenfalls auch nicht schlecht." Gegenüber dem phantasiebegabten und schlitzohrigen Zacharias Werner also gelingt es Goethe noch, sarkastische Duldung zu bewahren, wie abgeschmackt auch immer ihm dessen Koketterie mit dem ,Heiligen' dünkt. Selbst zu Scherzen, freilich höchst bedenklichen, scheint er in diesem Fall noch aufgelegt gewesen zu sein. Nach der glücklichen Aufführung der „Wanda", so wird überliefert, habe man sich zu einem Mahle vereint, bei dem ein wilder Schweinskopf mit einem großen Kranz von Lorbeerblättern die Tafel zierte. Goethe habe, diesen Schmuck erblikkend, mächtig seine Stimme erhoben und dem „bekanntlich sehr zynischen und nicht immer sauber gewaschenen Werner" zugerufen: „Zwei gekrönte Häupter an einer Tafel? Das geht nicht?" Und er habe dem wilden Schweinskopf seinen Kranz genommen und ihn dem Dichter der „Wanda" auf den Kopf gesetzt. 200 Ende März 1 8 0 8 scheidet Werner in bestem Einvernehmen mit „Helios-Apollon" von Weimar. 201 Man sollte meinen, daß Goethe nach all diesem der Konversion Schlegels, von der er sechs Wochen später erfährt, gefaßter und gelassener hätte gegenüberstehen können. Daß das nicht der Fall war, dürfte einmal damit zusammenhängen, daß Werner zu jener Zeit sich immerhin noch als .protestantischer Heiliger' gebärdete — für Goethe offenbar ein erheblicher Unterschied zum Rückgang auf den ,alten Aberglauben'. Zum zweiten scheint Goethe Werner zwar als einen pfiffigen Kopf und ein amüsantes Original angesehen zu haben, doch keineswegs als ein derart „höchstausgebildetes", ernstzunehmendes und einflußrei-

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ches „Talent", wie er es in Friedrich Schlegel erblickte. Und, gewichtiger vielleicht noch: mit Schlegel hatte man viele Jahre in fruchtbarer Weise zusammengewirkt, sich von dessen Studien und Gelehrsamkeit anregen lassen, gegen Anfeindungen von außen, etwa den Lieblingsfeind Kotzebue, zusammengestanden und sich im ganzen als gegenseitig nützliches Concilium, wenn nicht gar als wehr- und lehrfähige .Partei' verstanden. Das klingt auch noch an, wenn Goethe in eben dem Brief an Reinhard, in dem er Schlegel als mystischen „Popanz" verabschiedet, zunächst ohne jeden Abtrag und bar der Ironie seine ungewöhnliche ästhetische Urteilsfähigkeit betont. Er schreibt über die Besprechung seiner eigenen Werke durch Schlegel, die in den „Heidelbergischen Jahrbüchern" erschienen war: „Die Recension meiner vier ersten Bände hatte ich kurz vorher gelesen, das erste was mir seit langer Zeit von ihm zu Gesicht gekommen war. Sie hatte mir viel Vergnügen gemacht: denn ob ich gleich selbst am besten wissen muß, wo im meinem Stall die Zäume hängen, so ist es doch immer sehr interessant sich mit einem verständigen und einsichtsvollen Mann über sich selbst zu unterhalten, und ein scharfsichtiger Fremder, der in ein Haus tritt, bemerkt o f t gleich, was der Hausherr aus Nachsicht, Gewohnheit oder Gutmüt i g k e i t übersieht oder ignorirt." 2 0 2 Bei solch einer Wertschätzung verwundert nicht mehr, daß Goethe vom Himmelsturz Schlegels in viel schmerzlicherer Weise getroffen sein mußte als durch die fromme Scharlatanerie eines Zacharias Werner. Diese scheint zwar den Blickwinkel und den Ton vorgebildet zu haben, womit Goethe nun Schlegels neues .Apostolat' bedenkt: als ,,hocus pocus" eines Schamanen. Das Problem jedoch bleibt, wie es dazu kommt, daß ein so „vorzügliches und höchstausgebildetes Talent" gleich minderen Geistern den „Zeichen der Zeit" anheimfällt und „aus dem höchsten Licht der Vern u n f t " ins Dunkel längst überwunden geglaubten Pfaffentums zurücktaucht. Goethe hat dies, wie wir gesehen haben, geradezu als wissenschaftliche Fragestellung formuliert. Seine eigenen Erklärungsversuche werden freilich kärglich bleiben, sich auf der Ebene moralischen Vorwurfs oder eines nicht näher spezifizierten Pathologieverdachts bewegen. Der Affekt gegenüber den Renegaten der Vernunft hat Goethe nie verlassen und sichtlich die Frage nach möglichen objektiven Ursachen polemisch überlagert. Sulpiz Boisserée zeichnet für Mai 1826 ein Gespräch auf, in dem Goethe „etwas Unredliches in den übertriebenen Ansichten und Vorstellungen" der Brüder Schlegel vermutet. 2 0 3 Diese Äußerung knüpft offenbar an den einstigen Vorwurf des „hocus pocus" an, der absichtsvoll berechnenden Attitude, „sich mit einem gewissen ehrenvollen Schein als Apostel einer veralteten Lehre darzustellen." In der Auseinandersetzung mit der „Neudeutsche(n) religios-patriotische(n) Kunst" der Nazarener

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1816/17 hatte das Argument der „falschen Frömmelei", also der Schwindelhaftigkeit der romantischen Religiosität, zentralen polemischen Rang eingenommen. 204 Das bekannte späte, bereits im vorigen Kapitel zitierte Urteil Goethes, die Gebrüder Schlegel hätten durch eitle Prätensionen ihre natürlichen Fähigkeiten überfordert und seien darum „unglückliche Menschen ihr Leben lang", setzt nur insofern einen neuen Akzent, als es nunmehr die einst hochgepriesenen Talente niedriger anschlägt und eher krankhafte Züge attestiert. Das „Unheil", das Goethe durch ihre Art in Kunst und Literatur angerichtet sieht, wird nicht auf seine Genese hin befragt, sondern nur wegen seiner Folgen beklagt: „Von ihren falschen Lehren in der bildenden Kunst, welche den Egoismus, mit Schwäche verbunden, präcanonisirten, lehrten und ausbreiteten, haben sich die deutschen Künstler und Liebhaber noch nicht erholt; sogar muß man diesen den Irrthum auf eine Weile gönnen: sie würden verzweifeln, wenn ihnen die Augen aufgingen." 205 Was besonders Friedrich Schlegel betrifft, so konstatiert Goethe nur noch einen pathologischen Zusammenhang: Dieser sei ,,(...) am Wiederkäuen sittlicher und religiöser Absurditäten (erstickt), die er auf seinem unbehaglichen Lebensgange gern mitgetheilt und ausgebreitet hätte; deshalb er sich in den Katholicismus flüchtete und bey seinem Untergang ein recht hübsches, aber falsch gesteigertes Talent, Adam Müller, nach sich zog." 206 Das ist keine kausale, sondern eine konsekutive Argumentation; aus grosser äußerer und innerer Entfernung eines Chronisten, der den Gang der Tatsachen (,So war es, so kam es') für entscheidend hält, den Motive eher kalt lassen. Der Zusammenhang erscheint als ausgemachte Sache: kränkelnde Charaktere und Biographien finden ihren angemessenen Ort im Katholizismus. Bedenkenswert ist dieses Urteil dennoch, und zwar in zweifacher Hinsicht. Erstens trifft es historisch nicht zu, daß Schlegel Adam Müller „bei seinem Untergang" mitgerissen hat — nach der Chronologie der jeweiligen Konversionen müßte es gerade umgekehrt gewesen sein. Goethes Versehen deutet einmal mehr darauf, daß ihm Schlegels Übertritt eine Art Schlüsselerlebnis gewesen ist, das noch in spätester Rückerinnerung die einstigen Vorgänge perspektiviert. Zum zweiten verblüfft, bei allem bitteren Affekt, der hier vorausgesetzt werden kann, daß Goethe ohne alle Umstände und wie selbstverständlich vom „Untergang" Schlegels spricht. Gemessen an der äußeren Karriere Schlegels ist das zweifellos ein Paradoxon: Die Konversion und die Übersiedelung nach Wien sind die Voraussetzungen dafür, daß er wenige Jahre später als „ordensgeschmückter, adeliger, hoher, katholischer, österreichischer Diplomat" erstmals auf seinem Lebensgang eine gesicherte und offiziell geachtete Position

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gefunden hat — nach zwei Jahrzehnten vergeblichen Kampfes um eine tragfähige Existenz als freier Schriftsteller. 208 Während Goethe stets davor warnt, die Poesie zum Beruf erheben zu wollen 209 , während er andererseits praktische Lebenstüchtigkeit ausnehmend hoch schätzt, so hoch, daß er gelegentlich auch weniger integre Erscheinungen dieser Art toleriert 210 , bleibt Schlegels Wende (oder auch: Wendigkeit) für ihn ein Merkmal endgültigen Scheiterns. Der habsburgisch-metternichsche Diplomat, der Propagandist eines antinapoleonischen, später restaurativen christlichen Konservatismus ist für ihn im Zenit seiner äußeren Karriere als zurechnungsfähige Persönlichkeit abgeschieden und verabschiedet. Friedrich Schlegel selbst hat in einem Rückblick aus dem Jahre 1817 seine Wandlung so erklärt: „In meinem Leben und philosophischen Lehrjahren ist ein beständiges Suchen nach der ewigen Einheit (in der Wissenschaft und in der Liebe) und ein Anschließen an ein äußeres, historisch Reales oder ideal Gegebenes (zuerst Idee der Schule und einer neuen Religion der Ideen) — dann Anschließen an den Orient, an das Deutsche, an die Freiheit der Poesie, endlich an die Kirche, da sonst überall das Suchen nach Freiheit und Einheit vergeblich war. — War jenes Anschließen nicht ein Suchen nach Schutz, nach einem festen Fundamente?" 211 Die Suche nach Freiheit und Einheit: sie kennzeichnet nicht zufällig das 1772 geborene Individuum Friedrich Schlegel, sie ist vielmehr ein Generationenmerkmal der deutschen Intellektuellen, die sich zum Zeitpunkt der Französischen Revolution im Stadium der Adoleszenz befinden. Von der Revolution vernehmen sie, während sie selbst im Begriffe stehen, aus der pfahlbürgerlichen Enge und der patriarchalischen Ordnung ihrer Familien und Bildungsanstalten hinauszutreten und sich persönlicher Freiheit und Individualität zu versichern. Die französische Umwälzung erscheint in dieser biographischen Phase als historisches Signal und als menschheitliche Garantie der eigenen subjektiven Identitätsfindung. Aufgrund der Prägung dieser Generation, die im allgemeinen politikfern und stark theologisch orientiert ist, auch infolge jugendlicher Erfahrungsarmut und einer psychischen Not, die auf unmittelbare Erlösung drängt, wird die Revolution nicht als realpolitischer Vorgang von begrenzter gesellschaftlicher Reichweite aufgefaßt. Sie weckt vielmehr die Hoffnung auf eine fundamentale Zeitenwende, auf einen qualitativen Sprung ins Reich subjektiver Freiheit und sozialer Harmonie. Der Erwartungshorizont dieser Jünglinge ist also heilsgeschichtlich, abstrakt-utopisch und entsprechend illusionär. 212 Er wird von außen her noch dadurch bestärkt, daß in Deutschland die sozialen Bedingungen einer revolutionären Bewegung gleich der französischen nicht vorhanden sind. Die unruhige junge Avantgarde findet sich deshalb politisch und gesellschaftlich isoliert, Perspektiven praktischen politischen Handelns bieten sich nicht. So

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kompensieren chiliastische Phantasmagorien eines „ganz Anderen" die Ohnmacht gegenüber der widrigen Realität. Nach dem Ende der ersten Phase der Revolution, als die Politik — nun unter bürgerlichem Vorzeichen — ihren unheiligen Fortgang nimmt und der Schein eines bevorstehenden arkadischen Zeitalters gründlich zernichtet ist, wendet sich der Blick der meisten deutschen Intellektuellen schaudernd vom tatsächlichen Ort und den Phänomenen des revolutionären Prozesses. Die einst gepflegten Hoffnungen auf eine Endzeit in Freiheit und Harmonie werden zugleich ideell konserviert. Sie finden ein Asyl in den Stuben und Köpfen der Poeten und Philosophen. Dort wird nunmehr simuliert, was die französische Revolution zwar versprochen, doch nicht eingelöst hat: die Aufhebung des Widerspruchs von Herren und Knechten, von Individuum und Gesellschaft, von subjektiver Freiheit und sozialer Integration, von sinnlichem Bedürfnis und disziplinierender Vernunft. Dieser aus dem Politisch-Praktischen ins Ideelle abgeglittenen „Suche nach Freiheit und Einheit" verdanken sich die Formen der spätidealistischen ,Vereinigungsphilosophie' 213 ebenso wie die romantischen Konzepte einer wechselweisen harmonischen Durchdringung von Poesie, Philosophie, Wissenschaft, Religion und Leben. Friedrich Schlegel etwa notiert 1 7 9 8 Imperativisch: „Das gesamte Leben und die gesamte Poesie sollen in Contact gesetzt werden; die ganze Poesie soll popularisirt werden und das ganze Leben poetisirt." 2 1 4 Im gleichen Jahr formuliert er in den „Athenäums-Fragmenten" die berühmte Definition der romantischen Poesie als einer „progressive(n) Universalpoesie", die die Poetisierung von Leben und Gesellschaft zuwege bringen soll. 2 1 5 Die rhetorische Emphase dieses Programms hält der Nebelhaftigkeit seiner Rezeptierung die Waage. Vollends ins Reich der politischen Magie und Alchimie weist ein anderer berühmter Posaunenstoß Schlegels: „Die Französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre, und Goethes Meister sind die größten Tendenzen des Zeitalters." 2 1 6 Solche gewaltige Synästhesie war dem Auguren selbst als interpretationsbedürftig erschienen, freilich nicht aufgrund eigener Zweifel, sondern im Blick auf das Niveau seines Publikums: „Wer an dieser Zusammenstellung Anstoß nimmt, wem keine Revolution wichtig scheinen kann, die nicht laut und materiell ist, der hat sich noch nicht auf den hohen weiten Standpunkt der Geschichte der Menschheit erhoben. Selbst in unsern dürftigen Kulturgeschichten, die meistens einer mit fortlaufendem Kommentar begleiteten Variantensammlung, wozu der klassische Text verloren ging, gleichen, spielt manches kleine Buch, von dem die lärmende Menge zu seiner Zeit nicht viel Notiz nahm, eine größere Rolle, als alles, was diese trieb." 2 1 7 Daß in Wirklichkeit die lachhafte Maus ein Gebirge gebäre, daß im Grunde Kunst und Philosophie die Geschichte bewegten und nicht die ,mate-

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rielle' Politik — auf diesen Ansichten besteht Schlegel auch noch zwei Jahre später, als er seinen einstigen Aphorismus gegen Mißverständnisse in der öffentlichen Aufnahme verteidigt. Ein „bekannter Jakobiner" aus Leipzig habe „sogar demokratische Gesinnungen" darin finden wollen. Dagegen bleibe er, Schlegel, bei seiner — zwar „äußerst subjektiven" — Auffassung, daß die Kunst der „Kern der Menschheit" sei und die Französische Revolution „eine vortreffliche Allegorie auf das System des transzendentalen Idealismus". 218 Die europäische Politik der folgenden Jahre scherte sich allerdings keinen Deut um den „hohen weiten Standpunkt der Geschichte der Menschheit", von dem herab Friedrich Schlegel seine Dekrete ausgehen ließ. Schließlich wurde unabweisbar, daß die Zeitläufte nicht dem Willen des Dichters und der Wirkung eines „kleinen Buches" gehorchten; ja nicht einmal die eigene Existenz war in der Wirklichkeit durch die poetische Produktion zu befestigen. Wenn sich Schlegel endlich vom romantischen Ästhetizismus, dem Programm einer „neuen Religion der Ideen", abwendet und zum altehrwürdigen positiven Glauben einkehrt, so ist dies im ersten Schritt ein Akt kluger Selbstkritik, dem freilich sogleich Regression und intellektuelle Korruption folgten. Lobenswert desillusioniert stellt Schlegel 1808, wenig vor seiner Konversion, fest, was die früheren .revolutionären' Versuche in Wirklichkeit gewesen sind: „leere(s) Formelnspiel in der Kunst wie in der Philosophie". 219 Zutreffend denunziert er exklusive ästhetizistische Haltungen, die sich der Täuschung hingaben, eine ganz neue Welt zu schaffen: „Die ästhetische Ansicht ist eine in dem Geist des Menschen wesentlich begründete, aber ausschließend allein herrschend wird sie spielende Träumerei." 220 Und mit Recht, vom Standpunkt desjenigen, der weiterhin auf die Zustände der schlechten Realität einwirken will, nun aber ohne phantastisch versponnene Ideen, fordert Schlegel also: „Diese ästhetische Träumerei, dieser unmännliche pantheistische Schwindel, diese Formenspielerei müssen aufhören." 2 2 1 Wer in derart entschlossener Weise seine alten Überzeugungen und seine gelebte Vergangenheit annihiliert, droht, so könnte man vermuten, in ein existentielles Vakuum zu geraten. Man könnte weiter annehmen, daß die Furcht vor dem Sturz ins heimatlose Ungewisse in der Situation eines offenbar radikalen biographischen Bruchs einen psychischen Rettungsmechanismus auslöst: dergestalt, daß mit einer Art .Übersprung' in eine neue Identität gewechselt wird, und zwar in eine solche, die sich nun mit dem einst Bekämpften und Verlachten gemein macht. Der romantische Revolutionär Schlegel, der ein ganz Neues suchte und damit scheiterte, fiele demnach mit seiner .realistischen Wendung', die an sich beachtlich ist, aus Angst vor dem Nichts dem ganz Alten anheim: der Offenbarungsreligion und der habsburgischen Monarchie. 222 Als Außenfaktoren, die diesen Umschwung erleichtern, wenn nicht gar befördern, könnte man die aktuellen politischen und sozialen Erfah-

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rungen Schlegels benennen: Napoleons imperiale Politik bewegt seinerzeit nicht nur ihn, sondern eine Vielzahl ehemaliger Revolutionsschwärmer, zu nationalen Hoffnungen ihre Zuflucht zu nehmen und die wahre Revolution nun von der ,deutschen Bewegung' zu erwarten. 223 In den rheinischen Katholiken Sulpiz und Melchior Boisserée, Bertram und Wallraf, hatte Schlegel zudem erstmals Freunde gefunden, die sich für ihn wohltuend von dem „wahre(n) Zigeunergesindel" seiner früheren Bekannten („kalvinistische, lutherische, herrenhutische, theistische und idealistische mit eingerechnet") zu unterscheiden und echte soziale Geborgenheit zu bieten schienen. 224 Trotz solcher günstig motivierenden äußeren Faktoren bleibt zu bedenken, daß ein .Übersprung', wie ihn Schlegel vollzieht, nur dann ohne den Preis heilloser psychischer Zerrüttung geschehen kann, wenn die Ufer der alten und der neuen Position zumindest subjektiv auf einigermaßen gleicher Höhe liegen. Wir haben schon gesehen, daß Schlegel im Rückblick von 1817 seine Entwicklung nicht als gebrochene, sondern als Kontinuum „des beständigen Suchens nach der ewigen Einheit" und einem „festen Fundamente" beschreibt. Die Stationen der „neuen Religion der Ideen", der „Freiheit der Poesie", der orientalischen Forschungen und des Patriotismus formieren sich für ihn zu einer biographisch-experimentellen Sequenz, die endlich, mit dem Anschluß an die „Kirche" und den gewachsenen katholischen Ständestaat, zum Erfolg führt. Bei allen Vorbehalten, die einer Selbstdeutung a posteriori stets und so auch in diesem Fall entgegenzubringen sind, scheint Schlegels Harmonisierung unter folgendem Betracht nicht grundlos: Bereits das frühromantische Programm einer universellen Revolution mit dem Ziel eines versöhnten, goldenen Zeitalters war seiner Struktur nach so beschaffen, daß es zu seiner Einlösung einer höheren Instanz, eines .Erlösers' bedurft hätte: In hyperemphatischem Reflex auf die Französische Revolution und ihren konfliktreich explodierenden Verlauf klagte es geschichtlich unvermittelt den Himmel auf Erden ein. Wie blasphemisch auch die „neue Religion der Ideen" zu den traditionalen Religionen stehen mochte, so blieb sie doch, als radikale Negation der platten Realität, jenseits jeder weltlichen Praktikabilität. Sie konnte zwar das Heil erhoffen und verkünden 225 , doch nicht selbst herbeiführen, war also auf das Erscheinen eines .Gottes' angewiesen und erfüllte damit in der Tat immer noch den Begriff der „Religion". Mit Recht hat darum schon Walter Benjamin diese Geistesrichtung als „romantischen Messianismus" bezeichnet. 226 Schlegels Aufenthalt in Paris in den Jahren 1802 bis 1804 scheint nicht geeignet gewesen zu sein, ihn davon zu überzeugen, daß es sich womöglich beim ersten Consul und späteren Kaiser um den „Weltgeist", den Stifter einer universalistischen Versöhnung in Europa handeln könne. 227 Im Gegenteil: Schlegels Spekulationen richten sich nun darauf, daß die „wahre Revolution" aus Asien kommen müsse, der Wiege aller höheren

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Kultur. 228 Die Beschäftigung mit der „Weisheit der Indier", das Studium Jakob Böhmes und die Entdeckung der christlichen Kunst des Mittelalters in den Jahren bis 1808 sind Varianten bei der Suche nach der „ewigen Einheit". An ihrem Ende steht die Einsicht, daß es der menschlichen Vernunft verwehrt sei, aus eigenen Kräften ein universalistisches Prinzip (die „transcendente Idee") zu finden.229 Schlegel zieht nicht die theoretisch mögliche Konsequenz, den Anspruch auf Universalität aufzugeben. Das verwundert wenig, da ein solcher Verzicht in Wahrheit einen (psychisch wohl unerträglichen) grundlegenden weltanschaulichen und biographischen Bruch erfordert hätte: den Abschied vom „Snobismus des Absoluten" 230 und von der existentiell verankerten Sehnsucht nach allgemeiner Versöhnung. Es lag darum näher, die zweite mögliche Konsequenz zu ziehen: Sie bestand darin, den religiösen Kern der älteren Utopie nun positiv anzunehmen und sich auf Gedeih und Verderb der Hoffnung auf .Offenbarung des Ganzen' zu überantworten. Da war der Übertritt zum Katholizismus nur noch ein weiterer logischer Schritt. In der Vorrede zur klerikal-restaurativen Zeitschrift „Concordia", erschienen 1820 bis 1823, erhob Schlegel schließlich die Rückkehr auf den Boden des positiven Christentums in den Rang eines politisch verbindlichen Programms. Nur dadurch sei die zeitgenössische .neue Unübersichtlichkeit' der weltanschaulichen Spekulationen zu bewältigen: „Es ist nichts so nothwendig in dieser vielfach beunruhigten und irre gelockten Zeit, als daß die Gutgesinnten auf einem sichern Grund und Boden des ewig Guten zusammentreten und mit ausdauernder Liebe zusammenhalten; und daß unerschütterlich feste Anhalts- und Stützpunkte der Wahrheit und der Gerechtigkeit aufgestellt werden in dieser chaotischen Fluth von Meinungen und Anarchie vorüberschimmernder Ideen; damit alle geistigen Kräfte, die auf das Feste, Gute und Wahre gerichtet sind, sich mehr und mehr um ihren gemeinsamen Mittelpunkt versammeln und daran anschließen mögen." 231 Wer sich, nebenbei sei dies festgehalten, angesichts der gegenwärtigen Diskussion über die aufklärerische Vernunft, ihre vorgebliche Antiquiertheit und .verdrängte Nachtseite', Rat von den deutschen Romantikern verspricht und in ihren Ideenexperimenten einen Fundus ungehobener Utopie und neuer intellektueller Orientierung zu finden vermeint, der möge auch die geistige und politische Biographie eines Friedrich Schlegel im Auge behalten. 232 Sie ist, so meine ich, untrennbar mit der Kette seiner Ideen verbunden. Paul Michael Lützeler hat neuerdings die Entwicklung Schlegels als repräsentativ fur die deutschen Romantiker beschrieben und ihre ideengeschichtliche Logik folgendermaßen zusammengefaßt: „Die Preisgabe aufklärerisch-kritischer Rationalität und die Faszination durch Universalitätssysteme — das eine bedingt das ande-

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re — führt die meisten Romantiker in den Bannkreis jener Mächte, die ihre Kosmologie seit langem gegen die Angriffe der Aufklärung verteidigten, die ein Organismus- und Einheitsdenken konserviert hatten, das auf Entwicklungsstufen des europäischen Denkens angesiedelt ist, über die die Aufklärung bereits hinweggegangen war. Friedrich Schlegel — wie stets Avantgardist der romantischen Bewegung — ist einer der ersten seiner Generation, der diesen Konkretisierungsschritt der Ganzheitsgläubigen von der Utopie in die institutionalisierte katholische Religion unternimmt." 233 Schlegels ,österreichische Wendung' erfolgte übrigens ebenso konsequent. Die habsburgische Monarchie erschien ihm, im Gegensatz zum französischen Empire, als die Erbin des „wahren Kaisertums". Zum Ziele einer Wiedervereinigung Europas galt es, diese „germanisch freie und ständisch gesetzliche christliche Universalmonarchie" zu restituieren. 234 Daß Schlegel einer ständisch-patristischen Ordnung das Wort reden konnte, bedeutet ebensowenig eine prinzipielle Abkehr von den einstigen utopischen Vorstellungen wie der Akt der Konversion. Die frühromantische Konzeption eines idealen Staates, wie sie Schlegel oder auch Novalis dachten, war keineswegs „demokratisch" im modernen Sinn konstruiert. Die bürgerliche Furcht vor der „Pöbelherrschaft" — in Paris hatte man sie vor Augen gehabt — wie das persönliche Selbstgefühl dieser jungen aufstrebenden Herren führten vielmehr dazu, einem Herrschaftsmodell den Vorzug zu geben, in dem die gebildete Elite dominiert. Schlegels Definition im Athenäums-Fragment 214 lautete: „Die vollkommene Republik müßte nicht bloß demokratisch, sondern zugleich auch aristokratisch und monarchisch sein; innerhalb der Gesetzgebung der Freiheit und Gleichheit müßte das Gebildete das Ungebildete überwiegen und leiten, und alles sich zu einem absoluten Ganzen organisieren." 235 Von der Vorstellung einer „Republik" unter geistesaristokratischer Führung, also einer oligarchischen Ordnung, war die Rückwendung zum gewachsenen aristokratischen Ständestaat kein gar so großer Schritt, zumal, wenn man selbst Aufnahme in die Reihen der Noblesse fand. 236 Hinzu kam, daß Schlegel sein Bild der Aristokratie ebenso wie das des „wahren Kaisertums" nicht plan aus dem faktischen Bestand der österreichischen Zustände ableitete. Gewonnen aus einer mystifizierten .germanischen' Vergangenheit, verhielt es sich zur sozialen und politischen Wirklichkeit eher als moralisches Postulat, trug demnach ähnlich abstrakt-utopische Züge wie die frühere Phantasie der .Gelehrtenrepublik'. 237 Doch wiederum wollte die Wirklichkeit diesem neuen genialen Entwurf Schlegels nicht folgen. Metternich trieb Machtpolitik nach dem Maß gegenwärtiger Interessen und Verhältnisse. Propagandisten des Katholizismus und der ständischen Hierarchie kamen ihm dabei zupaß, ihre sub-

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jektiven Motive und spekulativen Ziele waren ihm gleichgültig. Der universalistische .Revolutionär' Schlegel endete darum als böser Don Quijotte, der die schlechte Wirklichkeit befestigen half, während er doch ausgezogen war, sie von Grund aus umzustürzen. Nach diesem Stand heute möglicher Erkenntnis sind also Goethes lakonische Worte aus dem Jahre 1831 über den unglücklichen Lebensweg und die absurde Gedankenwelt eines Friedrich Schlegel nur zu unterstreichen. Im übrigen scheint es, als sei dem .konservativen' Skeptiker Goethe das universalistisch-utopische Denken der Frühromantiker derart fremd gewesen, daß er ihr Treiben von vornherein nur als das wahrnahm, was es faktisch war und historisch blieb: als ästhetische Kampagne ehrgeiziger junger Talente. In Anlehnung an einen Vers Heinrich Heines könnte man sagen, er hat die (der Absicht nach) welterschütternde „Flamme" ignoriert, die in den Herzen dieser .Revolutionäre' loderte, und ihre Ambitionen bloß als „Poesie" genommen. 238 Darum konnte ihm Schlegels Übertritt nicht als existentiell konsequenter Akt erscheinen, sondern allenfalls als — im Grunde freilich doch ganz unverständlicher und beunruhigender — Ausdruck eines unredlichen und opportunistischen Schamanismus. Wäre Goethe von dem Vorgang weniger betroffen gewesen, als das offenkundig der Fall war, er hätte sich beträchtlich über das sonderbare Phänomen moquieren können, daß mit Schlegel nicht nur ein vorzügliches Talent, wie ein vorübergehendes Meteor, aus dem Lichte der Vernunft verschwand, sondern daß dieses gleichsam an ihm, Goethe, vorbeistürzte: Während Novalis die „Lehrjahre" des Geheimen Rates einst als eine „Wallfahrt nach dem Adelsdiplom" 239 ironisiert hatte, während Goethe in der Tat stets der Rücksicht auf die gesellschaftlichen Wirklichkeiten das Wort redete, während er die Perfektibilität der Menschheit bezweifelte und darum allen sansculottischen Strebungen und revolutionären Schwärmereien abhold war — während also Goethe als Repräsentant eines .aufgeklärten Konservatismus' gelten konnte, da geschah es, daß sich an ihm vorbei ein ehemaliger Revolutionär' zum Apologeten reaktionärer Finsternis wandelte, belohnt mit der Nobilitierung und dem päpstlichen Christusorden. Wir bezeichnen heute in politischem Jargon einen solchen Vorgang, der uns seit jener Epoche vielfach vertraut geworden ist, als ,Rechts-Überholen'. Wer .überholt' wird, steht, wie gemässigt oder .konservativ' seine Position auch sein mag, zuletzt relativ gerechtfertigt da. Auch wenn Goethe in dieser Begrifflichkeit nicht gedacht hat, so ist doch davon auszugehen, daß ihn die katholische Wendung des Romantikers Schlegel in seiner eigenen aufgeklärt-klassizistischen Kunstund Weltanschauung bestärkte. Dafür sprechen mancherlei Indizien. Aus Riemers Aufzeichnungen über den Karlsbader Aufenthalt im August 1808 läßt sich rekonstruieren, welche Überlegungen Goethe nach dem Schock des unlängst erlebten Skandalons bewegen. Einmal rekapituliert er den Zusammenhang von Weltlosigkeit, idealisch-subjektiver Überhitzung und Schwärmerei, den er

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gut zehn Jahre zuvor gemeinsam mit Schiller an den Erscheinungen der „Schmid", „Hölderlin" und „Richter" wahrgenommen hatte: „Das Ideale im Menschen, wenn diesem die Objekte genommen oder verkümmert werden, zieht sich in sich, feinert und steigert sich, daß es sich gleichsam übertrumpft. Die meisten Menschen im Norden haben viel mehr Ideales in sich, als sie brauchen können, als sie verarbeiten können; daher die sonderbaren Erscheinungen von Sentimentalität, Religiosität, Mystizismus e t c . " 2 4 0 Eine andere, auf den ersten Blick unscheinbare Notiz vom 22. August weist indirekt darauf, wie Goethe den Faden seiner Mutmaßungen über mystische und heiligmäßige Neigungen weiterspinnt. Riemer verzeichnet, er habe „Goethen zu einer Legende vom Heiligen Neri (mit der Prüfung der Eitelkeit und der wundertätigen Nonne) ermuntert". 2 4 1 Die Gestalt des Filippo Neri (1515 — 1595) hatte Goethe schon seit langen Jahren beschäftigt, j a er trug sich sogar mit dem Plan, „das Leben desselben zu schreiben, als Gegenstück zu Benvenuto Cellini." 2 4 2 Dieses Vorhaben unterblieb zwar, doch hat Goethe seinem, dem „humoristische(n) Heiligen", im zweiten und im dritten Band der „Italiänischen Reise" ein Denkmal gesetzt. 243 Neri erscheint da als ein Mann von wundersam ekstatischer Frömmigkeit, der jedoch zugleich von „klarstem Menschenverstand" und tätiger Nächstenliebe beseelt war. Nichts sei ihm so sehr zuwider gewesen als „Eitelkeit, Schein, Anmaßung, gegen die er auch immer, als gegen die größten Hindernisse eines wahren gottseligen Lebens, kräftig wirkte, und zwar, wie uns manche Geschichte überliefert, immer mit gutem Humor." 2 4 4 Dies erweise sich etwa in der Art — und nun erzählt Goethe die Anekdote, auf die Riemer anspielt —, wie Neri den päpstlichen Auftrag erfüllt habe, die Heiligmäßigkeit einer wundertätigen Nonne zu prüfen. Neri sei bei schlimmstem Wetter in das Kloster geeilt: „Die geforderte Nonne tritt ein, und er, ohne sie weiter zu begrüßen, reicht ihr den kothigen Stiefel hin, mit dem Ansinnen, daß sie ihn ausziehen solle. Die heilige reinliche Jungfrau tritt erschrocken zurück und gibt ihre Entrüstung über dieses Zumuthen mit heftigen Worten zu erkennen." Unverzüglich sei Neri zum Papst zurückgekehrt, um das Ergebnis seiner Prüfung bekanntzugeben: „Sie ist keine Heilige! ruft er aus, Sie thut keine Wunder! denn die Haupteigenschaft fehlt ihr, die Demuth." 2 4 5 Vier Tage, nachdem Goethe und Riemer dergestalt auf falsche Heilige und ihre eitlen Anmaßungen zu sprechen gekommen sind, notiert das Riemersche Tagebuch lakonisch: „Allerlei über der Menschen Art und Weise. Über Werners und Schlegels Pfiffigkeit." 2 4 6 Und wiederum zwei Tage später, Goethe feiert seinen sechzigsten Geburtstag, erfolgt eine Abendunterhaltung, in der Goethe ausführlich den Gegensatz zwischen dem „antike(n) Tragischen" und dem „Romantischen" umreißt — zum

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ersten Mal mit einer Schärfe und mit Begriffen, die fürderhin sein Urteil leiten werden: „Das antike Tragische ist das menschlich Tragierte. Das Romantische ist kein Natürliches, Ursprüngliches, sondern ein Gemachtes, ein Gesuchtes, Gesteigertes, Übertriebenes, Bizarres, bis ins Fratzenhafte und Karikaturartige. Kommt vor wie ein Redoutenwesen, eine Maskerade, grelle Lichter-Beleuchtung. (...) Das Antike ist noch bedingt (wahrscheinlich, menschlich), das Moderne willkürlich, unmöglich. Das antike Magische und Zauberische hat Stil, das moderne nicht. Das antike Magische ist Natur menschlich betrachtet, das moderne dagegen ein bloß Gedachtes, Phantastisches. Das Antike ist nüchtern, modest, gemäßigt, das Moderne ganz zügellos, betrunken. (...) Das Antike ist plastisch, wahr und reell; das Romantische täuschend wie die Bilder einer Zauberlaterne, wie ein prismatisches Farbenbild, wie die atmosphärischen Farben. Nämlich eine ganz gemeine Unterlage erhält durch die romantische Behandlung einen seltsamen wunderbaren Anstrich, wo der Anstrich eben alles ist und die Unterlage nichts.(...) Die sogenannte romantische Poesie zieht besonders unsere jungen Leute an, weil sie der Willkür, der Sinnlichkeit, dem Hange nach Ungebundenheit, kurz der Neigung der Jugend schmeichelt. Mit Gewalt setzt man alles durch. Seinem Gegner bietet man Trotz. Die Weiber werden angebetet: alles wie es die Jugend macht." 2 4 7 Goethes Urteile knüpfen merklich an die Äußerungen an, die er im Frühling über das „Redoutenwesen" der Wernerschen Schauspiele getan hatte. Doch ist die mephistophelische Schutzrede nunmehr zur grimmigen Schelte umgeschlagen, und zur niederreißenden Philippika gegen das romantische ,Fratzenwesen' überhaupt. Dieser Stimmungsumschwung ist nicht anders zu erklären als durch die Erschütterung infolge des Schlegelschen Akts: Er rückte mit einem Schlage die romantischen .Bizarrerien' in den Ruch heiliger Weihen. Damit wurde diese ganze Richtung zum weltanschaulich wirkmächtigen Verbündeten der gegenaufklärerischen Reaktion und zu einem gefährlichen Feind des eigenen .heidnischen' Klassizismus. Ende Oktober 1808 wiederholt Goethe in einem Brief an den Freund Zelter seine Feststellung, daß die Neigung zu romantischem Blendwerk Eigenschaft einer unfertigen, irregehenden Jugend sei: Es bringe ihn „(...) ein halb Dutzend jüngere poetische Talente zur Verzweiflung, die bey außerordentlichen Naturanlagen schwerlich viel machen werden was mich erfreuen kann. Werner, öhlenschläger, Ar-

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nim, Brentano und andere arbeiten und treibens immerfort; aber alles geht durchaus ins form- und charakterlose." 248 Als Zacharias Werner im Dezember wieder in Weimar eintrifft, wird er zwar zunächst freundlich aufgenommen, doch läßt der Ausbruch des Unmuts, der sich bei Goethe inzwischen angesammelt hat, nicht lange auf sich warten. An Sylvester 1808 kommt es an Goethes Tafel zu einem Eklat, so unerhört, daß man sich bemühte, ihn nicht nach außen dringen zu lassen. 249 Das scheint nicht sonderlich gut gelungen zu sein; noch drei Monate später erfährt Wilhelm Grimm, eben erst in Weimar angekommen, von dieser Begebenheit. 250 Sie wird, sachlich übereinstimmend, von Steffens 251 und Wilhelm von Humboldt überliefert. Humboldt schreibt am Neujahrstag 1809 an seine Frau, er habe Werners neuestes Stück, „Attila", gelesen: ..Alles ist locker, ohne Motive, nicht reelle Personen, sondern bloß Burattini. Zuletzt wieder die Sakramente und das mystische Wesen. Gegen das letzte hat Goethe einen Haß, von dem man sich keinen Begriff machen kann, und der arme Werner hat gestern sehr dafür leiden müssen. Er aß bei Goethe, wie er mir erzählt hat, und wollte etwas vorlesen. Obgleich Goethes Frau ihm gesagt hatte, daß das Mystische Goethen unerträglich sei, so ließ er sich beigehn, ein Sonett auf Genua, wo er kürzlich gewesen, vorzubringen, in welchem die Scheibe des Vollmonds zur Hostie gemacht wird. Wie dies Goethe gehört hat, ist er, wie er selbst sagt, saugrob ( im Wunderhorn heißt es sauhöflich) geworden. Werner hat sich zurückziehen müssen, und obgleich er die Versöhnung durch die Frau versucht hat, mit der er gestern abend auf dem Ball gewalzt hat, so kommt sie so leicht gewiß nicht zustande. Goethe ist seitdem so wild geworden, daß er Carolinen (von Wolzogen) und mir noch heute im Eifer versicherte, auch jede gemalte Madonna sei nur eine Amme, der man die Milch verderben möchte (höchsteigene Worte), und die Raffaelschen stäken im gleichen Unglück. Er treibt jetzt den Haß so weit, daß er nicht einmal mehr leiden will, daß eine irdische Frau ihr Kind selbst im Arm haben soll. Ist das nicht komisch? Aber es ist auch wirklich wahr, daß der Mystizismus so schrecklich getrieben wird, daß man auf solche Übertreibungen fast in halbem Ernst kommen kann." 252 Ein Zorn, der so kuriose Blüten treibt, muß sehr tief sitzen. Es ist darum kein Wunder, daß sich Goethe selbst noch nach zwei Jahrzehnten jener Affaire erinnert: Werner sei ein „schönes Talent" gewesen und er habe sich seiner „(...) von Herzen angenommen und ihn redlich zu fördern gesucht, auf alle Weise! Aber wie er nachher aus Italien zurückkam, da las er uns gleich am ersten Abend ein Sonett vor, worin er den aufge-

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henden Mond mit einer Hostie verglich. Da hatt' ich genug und ließ ihn laufen." 253 Wieder, wie im späten Rückblick auf die Konversion Schlegels und Müllers, unterliegt Goethe allerdings einem chronologischen Irrtum ; wieder scheint es sich hier um ein Schlüsselerlebnis gehandelt zu haben, das den tatsächlichen Zeitablauf seines Bruchs mit Werner zugunsten innerer Geschichte verschob. Noch ließ nämlich Goethe, im Jahre 1809, Werner nicht laufen, sondern es kam vorerst zu einem gegenseitigen Arrangement. Werner war bereit, sich „vor ähnlichen Äußerungen in der Zukunft (zu) hüten , um weiterhin im Lichte seines „Helios" 255 geduldet zu werden; Goethe suchte, zunächst offenbar mit einiger Wirkung, den Dichter zu klassizistischer Strenge anzuhalten. Der Prototyp der Schicksalstragödie, der „Vierundzwanzigste Februar", fand Goethes Beifall und ging Anfang 1810 mit großem Erfolg über die Weimarer Bühne. 256 Im April 1811 konvertiert Werner in Rom. Davon setzt er den „hochverehrtein), Innigst und ewiggeliebte(n) Herr(n) Geheime(n) Rath", das „vollkommenste menschliche Ebenbild Gottes des Vaters" 257 , sogleich in Kenntnis. Wie wir aus solcher Adresse schon erahnen können, ist sein Aviso ein Meisterstück ebenso übergeschnappt schmeichlerischer und exhibitionistischer wie rabulistischer Briefkunst. Dessen Pointe besteht darin, daß er Ottiliens Entsagung in den „Wahlverwandtschaften" sein Damaskus-Erlebnis nennt, das ihn von den „schändlichsten Irrwegen" zurückgebracht habe. 258 Nun erst hat Goethe endgültig genug. Friedrich Schubart erinnert sich: „Der (...) äußeren Trennung Werners von Goethe und von Weimar folgte die bedeutsamere innere, indem nachmals Goethen poetische Produktionen Werners zu Gesichte kamen, in welchen die sogenannte christliche Romantik sein großes Mißfallen erregte. (...) Am tieffsten aber wurde der innere Zwiespalt, als die Nachricht einlief, daß Werner zum Katholizismus übergetreten sei. Ich erinnere mich, daß mir Goethes Sohn diese Nachricht mitteilte und hinzufügte, sein Vater habe beschlossen, ihn, wenn Werner nach Weimar zurückkehre, demselben einige Stationen entgegenzuschikken und ihm sagen zu lassen, daß er seine Schwelle nicht wieder betreten möge." In einer unveröffentlicht gebliebenen „Invektive" vom Februar 1814, als Werner in den Chor der deutsch-christlichen Patrioten einstimmt, die die Niederwerfung Napoleons bejubeln, macht sich Goethes Zorn über den neuen Heiligen gehörig Luft: „Herr Werner ein abstruser Dichter Dazu vom sinnlichsten Gelichter Verläugnete sein schändlich Lieben

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Die Unzucht die er stets getrieben, Nun sucht er neue Lasterspur; Da laicht er denn mit Münch- und Nonnen Und glaubt, er habe viel gewonnen Daß, was er fleischlich sonst vollführt, Den Leichnam er geistlich nun branlirt. Nun will der Kerl sich mit den treuen Keusch-siegesfrommen Deutschen freuen, Da doch der Papst, der Antichrist, Ärger als Türk' und Franzosen ist." 260 Nicht zu unrecht weist Goethe immer wieder auf die trübe Melange von Erotischem und Christlich-Mystischem in der jungen Literatur'. Er deutet diese Vermischung einerseits als heuchlerische Strategie des Weiberfangs, andererseits als Phänomen gestörten Trieblebens. Wir erinnern uns an sein ironisches Bedauern über den frühen Tod von Novalis, der doch alle Anlagen eines „Imperators" der Poesie besessen habe und zuletzt sogar noch „katholisch" geworden sei: „Sind doch schon (...) Jungfrauen und Studenten rudelweise zu seinem Grabe gewallfahrtet und haben ihm mit vollen Händen Blumen gestreut." 261 Karl von Holtei und Heinrich Laube überliefern — sachlich übereinstimmend — eine launige Bemerkung des greisen Goethe über die mißglückte Ehe der Sophie Mereau mit Clemens Brentano und ihre mystischen Folgen. Ich zitiere nach dem Bericht Holteis: „Man hatte die Schriftstellerin Sophie Mereau, nachherige Brentano genannt. Goethe lobte sie sehr bedingt und gedachte sogleich ihres Gatten. Ja, sagte er, spöttisch lächelnd, der Brentano, das war auch so Einer, der gern für einen ganzen Kerl gegolten hätte. Er stieg vor Sophiens Wohnung am Weinspalier bis an's Fenster hinauf, bei nächtlicher Weile, um die Leute glauben zu machen, es wäre viel dahinter. Aber es war und wurde nichts! Zuletzt warf er sich in die Frömmigkeit. Wie denn überhaupt alle die von Natur Verschnittenen, nachher gern überfromm werden, wenn sie endlich eingesehen haben, daß sie anderswo zu kurz kamen und daß es mit dem Leben nicht geht. Da lob ich mir meine alten, ehemaligen Kapuziner: die fraßen Stockfisch und in einer Nacht." 26 In diesem Zusammenhang bietet es sich an, etwas ausführlicher auf den verrückten „Strudelkopf" Franz von Sonnenberg zurückzukommen, den der Chronist Goethe als Repräsentanten der emphatischen Jungdichter seit der Epoche der .Genialität' im Gedächtnis behalten hatte. Wir wissen nicht, ob Goethe in näherer Weise, als dies in den „Annalen" zum Ausdruck kommt, mit den Personalien Sonnenbergs vertraut war — ein Indiz dawider wäre Goethes Irrtum über den Namen („Bielefeld") und den Zeitpunkt seines Auftretens in Jena. Aus unserer Kenntnis ist jedenfalls

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festzuhalten, daß Sonnenberg ein besonders traurig-groteskes Exempel von erotischer Verwirrung und mystischer Verirrung bildet, das zugleich Goethes Gedanken über Werner und Brentano illustriert und bestätigt. Goethe hatte, wir erinnern uns, Sonnenberg als „physisch glühende", mit einer „gewissen Einbildungskraft" begabte Natur beschrieben, die sich „in hohlen Räumen erging." Daß ihn „Klopstocks Patriotismus und Messianismus" ganz erfüllten, daß er nach dessen Muster ein „Gedicht vom jüngsten Tage" verfassen wollte, das waren für Goethe genug Indizien, den jungen Mann für äußerst gefährdet zu halten, ja schon in den Wahnsinn hinüberstrebend — der denn auch nicht ausblieb, und, „immer vermehrt", schließlich zum Selbstmord führte. Goethe argumentierte insofern nicht besonders originell, als bereits Schiller den Verdacht ausgesprochen hatte, daß ein treugläubiger Anschluß an Klopstock, den Inbegriff des ,sentimentalischen' Dichters, höchst verderbliche Folgen zeitigen könne. Kein deutscher Dichter, so ist bei Schiller zu lesen, eigne sich weniger „zum Liebling und zum Begleiter durchs Leben" als Klopstock, „der uns immer nur aus dem Leben herausfuhrt": „Keusch, überirdisch, unkörperlich, heilig wie seine Religion ist seine dichterische Muse, und man muß mit Bewunderung gestehen, daß er, wiewohl zuweilen in diesen Höhen verirret, doch niemals davon herabgesunken ist. Ich bekenne daher unverhohlen, daß mir fur den Kopf desjenigen etwas bange ist, der wirklich und ohne Affektation diesen Dichter zu seinem Lieblingsbuche machen kann; (...) auch, dächte ich, hätte man in Deutschland Früchte genug von seiner gefährlichen Herrschaft gesehen. Nur in gewissen exaltierten Stimmungen kann er gesucht und empfunden werden; deswegen ist er auch der Abgott der Jugend (...). Die Jugend, die immer über das Leben hinausstrebt, die alle Form fliehet, und jede Grenze zu enge findet, ergeht sich mit Liebe und Lust in den endlosen Räumen, die ihr von diesem Dichter aufgethan werden." 263 Kein Zweifel, daß Schiller mit diesen Sätzen dem Feind allen .falschen Transzendierens' aus dem Herzen sprach, daß Goethe den armen Sonnenberg, der Klopstock gar noch apokalyptisch zu überbieten trachtete, als vollends verzweifelte Schreckgeburt jener „gefährlichen Herrschaft" denkwürdig fand. In Wirklichkeit war es natürlich nicht Klopstock, der ein Opfer suchte und fand; vielmehr fand Sonnenberg Klopstock nach seiner vorhandenen Charakterprägung. Von den „mosaischen Gesichtern bigotter Erzieher geschreckt, in hohlem Geformel eines klösterlich düstern Katholicismus" aufwachsend — nämlich im Jesuitengymnasium zu Münster —, soll, nach seinem Biographen Johann Gottfried Gruber, schon der Knabe während des Unterrichts mitunter in religiöse Ekstase verfallen sein. 264 Im Alter von vierzehn Jahren liest er die Apokalypse und die Propheten, wenig später entwirft er den Plan zu der religiösen Epopöe „Das Weltende". 5 Dieses

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Projekt wird sein „großes Geschäft", wie Goethe formuliert. Nach einem Studium der Rechte in Münster und Jena, einer Reise nach Wien, Genf und Paris, nach dem gescheiterten Versuch, 1802 in den preußischen Staatsdienst aufgenommen zu werden, nach einer mißlungenen Liebeswerbung, nach literarisch unersprießlicher Bekanntschaft mit Garlieb Merkel und Karl Miichler, nach einem erneuten Studium in Göttingen (nunmehr der Beredsamkeit und der militärischen Taktik und Strategie) läßt sich Sonnenberg schließlich in Drakenburg bei Jena nieder, um sein opus magnum auszuarbeiten: „Donatoa", nahezu 20000 Hexameter stark, entsteht in fieberhafter Arbeitswut, zuletzt bei gewaltsamem Schlafentzug, von Frühjahr 1803 bis Herbst 1805, also im Verlauf von wenig mehr als zwei Jahren. 266 Zum Vergleich: Klopstocks „Messias" hatte seinen Verfasser mehrere Jahrzehnte in Anspruch genommen. Sonnenbergs Werk von A bis Ζ zu lesen, mag sich zutrauen, wem um seinen eigenen Kopf nicht bange ist. 267 Um nur annähernd einen Begriff davon zu haben, stelle man sich ein Drehbuch für einen Katastrophenfilm im Genre der ,Fantasy' mit 150 Folgen vor. Gut und Böse, sublunar wie translunar, liegen im Endkampf. Auf Erden wüten die Heere der Schlechten gegen ein letztes Aufgebot edler Menschen; zugleich toben die Armeen der Hölle wider diese und die himmlischen Geister. Als das letzte gute Menschenpaar stirbt, verkündet Jehova das Ende des Universums, seine Engel vollziehen das Gericht. Aus dem Chaos aber erhebt sich eine neue Schöpfung, die durch das Band der Liebe geeint ist und in der das Böse keinen Platz mehr hat. Eingefugt in den Ablauf des apokalyptischen Geschehens sind mehrere idyllische Episoden mit retardierender Wirkung. Sie bieten Gelegenheit, die Liebesgeschichte zwischen dem Tugendhelden Heroal und der reinen Jungfrau Herkla zu entwickeln. Heroal trägt die Züge eines phantastischen Anti-Napoleon, als welchen Sonnenberg selbst sich geträumt hat. 268 Herkla vereinigt madonnenhafte und seraphische Qualitäten mit den durchaus irdischen Eigenschaften einer tüchtigen Hausfrau und einer üppigen Schönheit: Über viele hundert Hexameter, in mindestens zwanzigfacher Nennung, wogt ihr Schwanenbusen dem Geliebten entgegen, höher und höher, bis endlich der Schutzengel Dälion sich genötigt sieht, vom nahen ragenden Felsen mit Donnerwort dem zusehends erhitzten Tun der Liebenden Einhalt zu gebieten. 269 Der hehren Jungfrau, die der Lichtsphäre angehört und deren Wirkungskreis die ländliche Idylle ist, stehen die losen Dirnen in der „Hauptstadt" des neronisch-napoleonischen Tyrannen gegenüber. Dort jagen sie unschuldige Jünglinge in einer Weise, wie sie nur der Phantasie einer Mönchszelle entquellen kann. 270 Das gespaltene Frauenbild der engelgleichen Jungfrau und der triebhaften Hure ist selbstverständlich keine originelle Invention des jungen Dichters Sonnenberg. Es gehört zum normativen Grundbestand patriarchalischer und bürgerlicher Sozialordnungen, ist sozialpsychisch fixiert und in der literarischen Tradition zu einem Topos geronnen. Gleichwohl

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reproduzieren sich solche Topoi nicht formelhaft und automatisch; sie werden vielmehr nur dann aufgenommen, wenn sie die Zustimmung des Reproduzenten besitzen, also mit seiner individualpsychischen Prägung übereingehen. Die extreme Weise, in der Sonnenberg die topische Figur ausarbeitet, dergestalt, daß sie jedenfalls für den heutigen Leser ans Hochkomische grenzt, weist darauf, daß er als Individuum ihr widerstandsloses Objekt ist. Der biographische Befund bestätigt diesen Sachverhalt. Freund Gruber bucht Sonnenbergs auffallend zwieschlächtiges Verhältnis zu den Frauen: „Besonders fiel er im Umgang mit dem weiblichen Geschlecht aus Extrem in Extrem, denn entweder stürmte er hier mit aller Glut seiner Phantasie und seines Herzens, oder er ward komisch, und nun in dieser Laune unbekümmert, ob er die zarte Linie des Schicklichen in Ausdruck und Wendungen überspringe, und durch grelle Ausmalung des wirklichen Lebens das weibliche Zartgefühl beleidige." 271 Oft habe Sonnenberg den Namen „Charlotte Corday" mit Entzücken ausgesprochen; sonst habe kein Weib aus Fleisch und Blut seinem Ideal genügen können. In Augenblicken des Unmuts habe er sich darum der „Weiberverachtung" für berechtigt erachtet: „Er schätzte (...) die Weiber um so geringer, je größer und würdiger stets seine Ideen von der Weiblichkeit waren." 272 Gruber mutmaßt, daß jenes Wesen, das ihn hätte zufriedenstellen können, nichts anderes hätte sein müssen, als ein „weiblicher Sonnenberg". 273 Sonnenberg selbst äußert sich in langen Tagebuchaufzeichnungen, wie er sich die Liebe vorstellt. Ihre höchste Form sei die „Vereinigung der Seelen" 274 , die reine Geistesliebe: „Auch das Charakteristische hat diese Liebe an sich, daß man in der Nähe, in der Gegenwart des Geliebten von keinen sinnlichen Trieben beunruhiget wird, kaum daß einmal der Gedanke eines Kusses aufkeimt. Wenigstens, wenn die Liebe ihre höchste Stufe ersteigt, wenn die heiligen Liebenden nur die Verkörperung hindert, um ganz vereint zu werden, schlummert selbst der Gedanke an diese Niedrigkeit, dann leben, dann athmen nur die Seelengefühle, die Sinnengefuhle sind todt, und mit ihnen hört jeder sinnliche Gedanke auf, jede ihrer Wirkungen, und also auch die Sprache." 275 Es sei dahingestellt, bei welchem Kirchenvater oder christlichen Mystiker Sonnenberg derlei aufgeschnappt haben mag. Jedenfalls war es ihm mit solchen Überspanntheiten todernst. In der Aufzeichnung von Gesprächen mit Wieland, den er in Tiefurt aufgesucht hatte, und der sich seiner einige Tage mit väterlicher Güte und Geduld annahm, berichtet Sonnenberg:

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„Ich mußte ihm nun über meine Art zu lieben erzählen. ,Sie sind ein wunderbares Wesen — rief er aus, — sind Sie ein Gott, oder wer sind Sie?' S.: ,Sinnlichkeit wüthet heiß in mir.' ,Dadurch bekennen Sie, daß Sie Mensch sind.' S.: ,Aber ich kämpfe gegen sie, — ich verachte sie.' ,Und der Kampf wird immer schrecklicher werden, je länger Sie kämpfen. Halten Sie sich doch morgen am Tage noch eine Maitresse.' S.: ,Und wenn er denn auch immer schrecklicher würde! Wird die dagegen wirkende Kraft doch auch immer mächtiger! Keine Danae, und wenn sie mich auch bis zur wiithendsten Leidenschaft entflammt hätte, könnte mich zu einem Schritt verleiten, der meinem ganzen Menschen widersprechen, der mich, nach meiner Natur, zum — Selbstmörder machen würde.' " 2 7 6 Angesichts so entschiedener Grundsätze scheint Wieland das Vertrauen verloren zu haben, den jungen Feuerkopf auf ein vernünftiges Maß irdischer Zuträglichkeit zurückbringen zu können. Als sich Sonnenberg wenig später noch einmal an ihn wandte, in einem weitläufigen exhibitionistischen Schreiben und mit einer „Begeisterung, die sehr oft die Grenzen des cestro poetico streifte" 277 , war es um Wielands Duldsamkeit vollends geschehen. Er antwortete mit einem letzten harschen Anruf: „(...) es wogt und wirbelt in Ihrem Busen, und — ,der Tag wird kommen (sagen Sie) wo ich wie ein wiithender Vesuv herumwandle und wirken oder sterben muß' pp. Nein, lieber Baron Sonnenberg, sterben sollen Sie nicht, so lang noch Hoffnung ist, daß ihr Leben durch eine beträchtliche Herabstimmung Ihrer überspannten Phantasie, Sich und andern noch wohlthätig werden könnte! Aber ein in Europa und Asia herumwandelnder wüthender Vesuv ist etwas so schreckliches, daß ich lieber glaube, es sey in allen diesen ungeheuren Excentricitäten deren Sie sich bewußt zu seyn glauben, ein großer Theil Selbsttäuschung, und — soll und muß ich es denn heraussagen? — allem dem Unheil, womit Sie in solchen Fieberstürmen die Welt und Sich Selbst bedrohen; könnte auf einmahl abgeholfen werden, wenn Sie Sich — zu der heroisch tugendhaften That meines Combabus entschließen könnten." 2 7 8 Wieland hat später bedauert, daß er sich zu solcher Grobheit fortreißen ließ. 279 Sie war sicher nicht geeignet, den gefährlich exaltierten jungen Mann auf bessere Wege zu leiten. Dieser warf sich jetzt mit Heftigkeit auf die Fertigstellung des „Donatoa". Verblüffenderweise verband sich damit aber nun doch eine weltliche Idee — wenngleich eine, die in Wirklichkeit wiederum nichts anderes war als eine fixe: Sonnenberg hatte kurz zuvor die jüngste Tochter Herders, Luise, zu Gesicht bekommen und damit begonnen, um sie zu werben. Luises Mutter, die resolute Karo-

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line, verhielt sich entschieden ablehnend, was nicht weiter verwundert. 280 Sonnenberg scheint der festen Überzeugung gewesen zu sein, der künftige Ruhm seines „Donatoa" würde jenen Widerstand beseitigen. Nach Erscheinen des ersten Teils des Werkes gingen zwei Exemplare an Mutter und Tochter, zusammen mit einem dringlich werbenden Begleitschreiben. Die endgültige Abweisung hat Sonnenberg nicht mehr erleben müssen; seine Verwirrung war inzwischen offen zum Ausbruch gekommen, im Fieberwahn hatte er sich in den Tod gestürzt. Ohne Zweifel handelt es sich bei der Figur des Franz von Sonnenberg um einen pathologischen Extremfall, was die Furiosität seiner Affekte und den letalen Verlaufseiner Biographie betrifft. Immerhin aber teilt er, wie wir gesehen haben, wesentliche Züge seines Denkens und Empfindens mit den lebensgeschichtlich minder katastrophalen Charakteren seiner Generation: die fundamentale Oppositionswut gegen die in der Tat bedrückende Misere der Wirklichkeit, den Größenwahn des erfahrungsarmen jungen Intellektuellen, dem die Geste des selbsternannten Propheten entspricht, schließlich die mystisch-apokalyptischen Neigungen, die ein Phänomen sozialer und politischer Orientierungslosigkeit ebenso sind wie Sublimationen zwanghaft gestauter vitaler Regungen. Goethe hat durchaus eine glückliche Hand bewiesen, wenn er im Lebensrückblick diesen unglücklichen Jüngling als Exempel und Warnbild der „energumenischen" Bewegung junger Dichter seit Ende des .aufgeklärten' Jahrhunderts stilisierte. Jenem war zu seiner Zeit gewiß nicht zu helfen, weder durch Derbheiten Wieland'scher Art noch durch freundlichen Zuspruch; er hätte eines Seelenarztes bedurft, wie es ihn damals noch nicht gab. Gewiß wäre hier auch das listige Remedium fruchtlos geblieben, das Goethe durch seinen .humoristischen Heiligen' Filippo Neri gegen exstatische mystische Phantasmagorien, sonderlich solche mit erotischer Färbung, empfahl: „Bedeutend (...) ist, wie er gegen seine Schüler verfährt, die ihn von seligen Erscheinungen, womit sie von der Mutter Gottes und andern Heiligen beglückt worden, mit Entzücken benachrichtigen. Er, wohl wissend, daß aus dergleichen Einbildungen ein geistlicher Dünkel, der schlimmste und hartnäckigste von allen, gewöhnlich entspringe, versichert sie deßhalb, daß hinter dieser himmlischen Klarheit und Schönheit gewiß eine teuflische häßliche Finsterniß verborgen liege. Dieses zu erproben gebietet er ihnen: bei der Wiederkehr einer so holdseligen Jungfrau ihr gerade in's Gesicht zu speien; sie gehorchen, und der Erfolg bewährt sich, indem auf der Stelle eine Teufelslarve hervortritt." Daß Goethe, ohne in diesem Punkt gerade Sonnenberg im Auge haben zu müssen, derlei Einsichten in die psychischen Zusammenhänge erotischmystischer Sensationen besaß, ist nicht weiter erstaunlich. Seit Wackenroders „Herzensergießungen", seit den „Geistlichen Liedern" des Novalis

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gab es hinreichendes Anschauungsmaterial der Spielarten klosterbrüderlicher Madonnenphantasien, die den Ruch der Heiligkeit prätendierten, ohne doch ihre geheimen fleischlichen Gelüste recht zu verbergen. 282 Goethes geradezu idiosynkratischer Zorn gegen den nazarenischen Jungfrauen- und Marienkult macht ihn denn auch scharfsichtig für dessen Phänomene, wo sie zunächst nicht ohne weiteres zu erwarten waren. 1807 urteilt er — nach der Überlieferung Riemers — über Kleists „neuen mystischen Amphitryon" 283 : „Das Stück enthält nichts Geringeres als eine Deutung der Fabel ins Christliche, in die Überschattung der Maria vom heiligen Geiste. So ist's in der Szene zwischen Zeus und Alkmene.1,284 Das war gut getroffen: Adam Müller hatte bereits einige Wochen früher in einem Schreiben an Gentz den „Amphitryon" mit dem Hinweis gepriesen, er handle „von der unbefleckten Empfängnis der heiligen Jungfrau." 2 8 5 Er hielt in dem Stück für gelungen, was der christlichen Romantik als Ziel vorschwebte: die Verschmelzung der Antike mit der christlichen .Moderne' im Zeichen der „Einheit allen Glaubens". 286 Das war für Goethe zu jener Zeit natürlich nichts anderes als ein besonderes Ärgernis aus der Sphäre des grassierenden .neukatholischen' Unfugs. Kein Wunder, daß er dem „Amphitryon" die Auffuhrung auf der Weimarer Bühne verwehrte. Ein gleiches Schicksal traf Werners frömmelnde Dramen „Das Kreuz an der Ostsee" und „Das Licht des Osterlandes". Goethe soll dazu geäußert haben: „Könnt ihr das Kreuz und das Licht des Osterlandes durchsetzen, so setzt es durch, nur mutet mir nicht zu, daß ich euch das Licht dazu halten soll. Mich dauern nur (...) meine Enkel, daß sie solch verfluchtes Zeug lesen sollen." 287 „Ich rieche schon das Christentum" war schließlich Goethes Sentenz, wenn ihm neue Stücke religiösen oder biblischen Inhalts zur Aufführung vorgelegt wurden. Er lehnte sie ab. 288 Ist Goethe in späten Jahren milder geworden, hat er einen Sinneswandel vollzogen, als er den zweiten Teil des „Faust" vollendete? Hatte er da die Empfindlichkeiten gegenüber den nazarenischen Madonnen abgelegt und zu seiner eigenen Maxime gemacht, was ihm einst in sarkastischer Abrechnung als Merkmal .romantischer' Jugend erschienen war: „Die Weiber werden angebetet"? Oder ist etwa die Apotheose des Faust unter dem Schirm der .Mater gloriosa' eine vertrackte Gabe aus jenem geheimnisvollen „Walpurgissack", den Goethe zu seinen Lebzeiten verschlossen hielt und dessen „stygische Plagegeister" erst die Nachwelt heimsuchen und verwirren sollten? 289 Sind es vielleicht fromme, nun längst abgeschiedene Romantiker, die als himmlische Choristen „Faustens Unsterbliches" nach oben tragen? Welchen Geistes ist der mystisch „entzückte" „Doctor Marianus", der seiner Königin huldigt:

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„Blicket auf zum Retterblick, Alle reuig Zarten, Euch zu seligem Geschick Dankend umzuarten. Werde jeder beßre Sinn Dir zum Dienst erbötig; Jungfrau, Mutter, Königin, Göttin bleibe gnädig!" Zum .dunkeln' Sinn seines ersten Faust hatte Goethe gespaßt: „Dreißig Jahre haben sie sich nun fast mit den Besenstielen des Blocksberges und den Katzengesprächen in der Hexenküche, die im ,Faust' vorkommen, herumgeplagt, und es hat mit dem Interpretiren und dem Allegorisiren dieses dramatisch-humoristischen Unsinns nie so recht fortgewollt. Wahrlich, man sollte sich in seiner Jugend öfter den Spaß machen und ihnen solche Brocken, wie den Brocken, hinwerfen. Nahm doch selbst die geistreiche Frau v. Stael es übel, daß ich in dem Engelgesang, Gott Vater gegenüber, den Teufel so gutmüthig gehalten hätte; sie wollte ihn durchaus grimmiger. Was soll es nun werden, wenn sie ihm auf einer noch höheren Staffel und vielleicht gar einmal im Himmel wieder begegnet?" 290 Wer so mit den Mächten der Hölle seine Scherze treibt, dem ist schwerlich zu trauen bei heiligen Engelschören. Wäre es blasphemisch oder würde es nicht weit besser der heiteren Ironie, der Weltklugheit und den Erfahrungen Goethes mit den frommen Poeten von einst entsprechen, wenn man sich das Ende des zweiten Faust als Finaltableau einer romanschen opera buffa dächte, oder genauer: als Kehraus christlich-romantischen Schwulstes in der ironischen Geste romantischen Gesanges selbst?

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IX Abfertigung

der,Poesie

des

Schreckens'

Als Heinrich Heine im Herbst 1824 bei Goethe vorspricht, ist er von der körperlichen Verfassung des .Olympiers' zutiefst erschüttert:,,(...) das Gesicht gelb und mumienhaft, der zahnlose Mund in ängstlicher Bewegung, die ganze Gestalt ein Bild menschlicher Hinfälligkeit". Dennoch: „In vielen Zügen erkannte ich den Göthe, dem das Leben, die Verschönerung und Erhaltung desselben, so wie das eigentlich praktische Uberhaupt, das Höchste ist. Da fühlte ich erst ganz klar den Contrast dieser Natur mit der meinigen, welcher alles Praktische unerquiklich ist, die das Leben im Grunde gringschätzt und es trotzig hingeben möchte für die Idee. Das ist ja eben der Zwiespalt in mir daß meine Vernunft in beständigem Kampf steht mit meiner angeborenen Neigung zur Schwärmerey." 291 Noch ist der junge Heine befangen in jenem „frierend mageren Spiritualismus", den er wenige Jahre später zugunsten der sozialemanzipatorischen Utopie des „Sensualismus" verabschiedet; noch reibt sich sein idealistischer Affekt an jener .hellenischen' Weltlichkeit, die er 1833 in der Kritik der .romantischen Schule' zu seinem eigenen Programm erheben wird — und zwar mit einem provokant hochstilisierten Schutzpatron Goethe: „Seine äußere Erscheinung war eben so bedeutsam wie das Wort das in seinen Schriften lebte; auch seine Gestalt war harmonisch, klar, freudig, edel gemessen, und man konnte griechische Kunst an ihm studiren, wie an einer Antique. Dieser würdevolle Leib war nie gekrümmt von christlicher Wurmdemuth; die Züge dieses Antlitzes waren nicht verzerrt von christlicher Zerknirschung, diese Augen waren nicht christlich sünderhaft scheu, nicht andächtelnd und himmelnd, nicht flimmernd bewegt: — nein, seine Augen waren ruhig wie die eines Gottes." 292 Heine ist damit ein gelehriger und legitimer Schüler Goethes geworden, sowohl nach der Seite der Weltauffassung, die den sinnenfeindlichen Nazarenismus verabscheut, als auch in der Art der literarischen Präsentation, die sich dem Naturalistisch-Häßlichen verweigert, ja sich nicht scheut, den empirischen Befund im Interesse einer Apologie des Leiblichen verschwinden zu lassen.

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Denn es war Goethe, der zunächst, als Anwalt ungedrückter Sinnlichkeit und eines vollen Lebens, heidnisch-griechische Schönheit und Weltimmanenz gegen die Tradition jüdisch-christlicher Absurditäten und Perversionen ausgespielt hatte: „Unter allen Völkerschaften haben die Griechen den Traum des Lebens am schönsten geträumt." 293 Es war Goethe und nicht erst Heine, der feststellte: „Beim erneuten Studium Homers empfinde ich erst ganz, welches unnennbare Unheil der jüdische Praß (= Wust, Plunder, J.W.) uns zugefugt hat. Hätten wir die Sodomitereien und ägyptisch-babylonischen Grillen (?) nie kennen lernen, und wäre Homer unsere Bibel geblieben, welch' eine ganz andere Gestalt würde die Menschheit dadurch gewonnen haben!" 294 Und weiterhin ist nicht Heine der Pionier einer Kunstauffassung, die den vitalen Ansprüchen von Individuen im Hier und Jetzt gerecht werden will und darum ein irdisch-sinnliches „dritte(s) neue(s) Testament" 295 verkündet. Heines Satz, daß „der Tod (...) nicht poetischer als das Leben" sei 296 , gerichtet gegen August Wilhelm Schlegels Verklärung der altdeutsch-christlichen Kunst, bewegt sich vielmehr ganz im Geiste der ästhetischen Prinzipien Goethes. Es sei eine Mißkennung der Aufgaben der Poesie, so hatte dieser an bedeutender Stelle seines Werkes betont, nur den „düsteren Überdruß des Lebens" zu zeigen: „Die wahre Poesie kündet sich dadurch an, daß sie, als ein weltliches Evangelium, durch innere Heiterheit, durch äußeres Behagen, uns von den irdischen Lasten zu befreien weiß, die auf uns drükken." 297 In den „Noten und Abhandlungen" zum „West-östlichen Divan", jenem Werk, dem Heine eine Lobeshymne singt und das er geradezu als Manifest des „Sensualismus" bestimmt 2 9 8 , hatte Goethe „Heiterkeit und Bewußtsein" als die Gaben des echten Dichters genannt: „Bewußtsein, daß er vor dem Furchtbaren nicht erschrecke, Heiterheit, daß er alles erfreulich darzustellen wisse." 299 Freilich ist nicht in Abrede zu stellen, daß Heines ,epikuräische' Poetik einer Funktionsbestimmung unterworfen wird, die in grundlegender Weise von deijenigen Goethes abweicht: Heines .sensualistische' Poesie sucht gesamtgesellschaftlich einzuklagen, was bei Goethe auf den Horizont individueller Emanzipation eingegrenzt ist. Insofern Goethe die Perfektibilität der Menschheit bezweifelt, verharrt er, politisch gesehen, auf einer quietistischen Position. Sie meint Heine, wenn er die Goethesche „Kunstperiode schilt, ihr „egoistisch isoliertes Kunstleben" und ihre „kümmerliche(r) Privatbegeisterung". 300 Gewiß auch ist Heines Toleranzschwelle weitaus niedriger, was die Zulässigkeit von empirisch Häßlichem und Schrecklichem in der poetischen Darstellung betrifft. Als .operativer' Dichter kann er auf die Mittel der Karikatur, des Grotesken, des Skanda-

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Ions, der psychischen Provokation und des Realitätschocks, also ¡auf alles das, was Dissonanz und Unruhe hervorruft, schwerlich verzichten. Goethe dagegen mag derlei im — gleichwohl weltlichen — Tempel der Poesie nicht dulden. Zwar soll, wie wir gesehen haben, der Dichter in der Lage sein, dem „Furchtbaren" ins Auge zu blicken. Keineswegs darf er seine Existenz leugnen, doch muß er der Versuchung widerstehen, sich davon übermächtigen zu lassen und seine Fratze ungemildert in der Dichtung abzubilden. „Ernst ist das Leben, heiter sei die Kunst" — in dieser bedeutsamen Weise hat Goethe den berühmten Satz Schillers modifiziert 301 und zu seinem Leitspruch erhoben. Anders als etwa Heine oder einst Schiller glaubt Goethe nicht an eine tiefer gehende, menschen- und weltverändernde Wirkung der Kunst: „Hat nun der Dichter an seiner Stelle seine Pflicht erfüllt, einen Knoten bedeutend geknüpft und würdig gelös't, so wird dann dasselbe in dem Geiste des Zuschauers vorgehen; die Verwicklung wird ihn verwirren, die Auflösung aufklären, er aber um nichts gebessert nach Hause gehen: er würde vielmehr, wenn er ascetischaufmerksam genug wäre, sich über sich selbst verwundern, daß er eben so leichtsinnig als hartnäckig, eben so heftig als schwach, eben so liebevoll als lieblos sich wieder in seiner Wohnung findet wie er hinausgegangen." 302 „Die Musik (...) so wenig als irgend eine Kunst, vermag auf Moralität zu wirken, und immer ist es falsch, wenn man solche Leistungen von ihnen verlangt. Philosophie und Religion vermögen dieß allein; Pietät und Pflicht müssen aufgeregt werden, und solche Erweckungen werden die Künste nur zufällig veranlassen." 303 Die gesellschaftliche Leistung der Künste bestehe, so Goethe, allenfalls darin, Umeangsformen zu kultivieren, „eine Milderung roher Sitten" zu bewirken. 3 Wenn die Reichweite der Kunst derart begrenzt ist, daß sie bloß der geselligen Politur dienen kann, wenn „Alles unserer Kunst nichts ist" und nichts in Bewegung setzen kann in der Sphäre der „Moralität" und der praktischen Realität, dann allerdings wäre es geradezu unsinnig, die Schrecken und Absurditäten des empirischen Lebens durch ästhetische Reproduktion auch noch zu verdoppeln. Vom Standpunkt Goethes aus hat man die vorgegebene Zuständlichkeit der Welt und der Menschen, ihre Konflikte, Unzuträglichkeiten und pathologischen Phänomene, mit dem Instrumentarium zu bearbeiten, das empirische Erfahrung und praktische Vernunft bereitstellen. Dieser Überzeugung entspringt der Ehrgeiz, den der Meister der deutschen Poesie im Felde der Natur- und Realienwissenschaften wie in seiner amtlichen Tätigkeit an den Tag gelegt hat. Sie ist auch Ursache, daß er sich weigert, eine Hierarchie menschlicher Tätigkeiten zu konstruieren und der Arbeit des Dichters einen besonders exponierten Rang einzuräumen. 305

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Die Theorie zweier, durch eine unüberwindliche Kluft getrennter Reiche von Leben und Kunst gestattet emphatische Harmonie in der Gestaltung des Kunstschönen. Goethes ,sensualistische* Poesie ist darum radikaler und vitalistischer, als es etwa Heines Muse zuläßt, die doch stets heftig von der .gemeinen Prosa des Lebens' bedrängt wird: Wenn die Kunst nichts Grundsätzliches im Leben der Menschen zu bessern vermag, ist sie frei von der Verantwortung fur die Leiden innerer (psychischer) und äußerer Realität; sie unterliegt nicht der Pflicht zur „Gerechtigkeit" 3 0 6 , Euphemismen sind ihr erlaubt. Zugleich aber ist sie — nicht nur aus logischen Gründen — unfrei, was die Darstellung des empirisch „Furchtbaren" und Verworrenen betrifft. Denn wenn Kunst zwar nicht die Kraft besitzt, aus sich heraus das Leben zum Besseren zu leiten, so kann sie, als Produkt menschlicher Phantasie, sehr wohl Übles bewirken, wofern beiden, der Einbildungskraft wie ihrem künstlerischen Ausdruck, nicht frühzeitig vernünftige Grenzen gesetzt werden. Beim Anblick der Parkanlagen in den Spiegelbergen, einem „Tummelplatz häßlicher Creaturen", eines versteinerten „abscheulic h e ^ ) Zwergengeschlecht(s)" und lauernder „Mißgeburten jeder Art", kommentiert Goethe: „Da fiel es denn recht auf, wie nöthig es sei in der Erziehung die Einbildungskraft nicht zu beseitigen sondern zu regeln, ihr durch zeitig vorgeführte edle Bilder Lust am Schönen, Bedürfniß des Vortrefflichen zu geben. Was hilft es die Sinnlichkeit zu zähmen, den Verstand zu bilden, der Vernunft ihre Herrschaft zu sichern, die Einbildungskraft lauert als der mächtigste Feind, sie hat von Natur einen unwiderstehlichen Trieb zum Absurden, der selbst in gebildeten Menschen mächtig wirkt und gegen alle Cultur die angestammte Rohheit fratzenliebender Wilden mitten in der anständigsten Welt wieder zum Vorschein bringt." 307 In gleichem Sinn wendet sich Goethe, nach der Überlieferung Eckermanns, gegen die Tendenz, Stoffe aus der „altdeutschen düsteren Zeit" zum poetischen Gegenstand zu wählen, wie dies Fouqué mit dem „Sängerkrieg auf der Wartburg" unternommen habe. Daraus, so lautet sein Urteil, sei „ebensowenig für uns zu holen, als wir aus den serbischen Liedern und ähnlichen barbarischen Volkspoesien gewonnen haben": „Der Mensch wird überhaupt genug durch seine Leidenschaften und Schicksale verdüstert, als daß er nötig hätte, dieses noch durch die Dunkelheiten einer barbarischen Vorzeit zu tun. Er bedarf der Klarheit und der Aufheiterung, und es tut ihm not, daß er sich zu solchen Kunst- und Literaturepochen wende, in denen vorzügliche Menschen zu vollendeter Bildung gelangten, so daß es ihnen selber wohl war, und sie die Seligkeit ihrer Kultur wieder auf Andere auszugießen imstande sind."

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Gewiß hat Goethes Abneigung gegen das Düstere, Absurde und Pathologische auch einen Erfahrungsfond sehr subjektiver Art. Sie weist auf einen Charakter, dem Anfechtungen jener Art höchst vertraut sind und der erhebliche Mühe aufzuwenden hat, der eigenen Labilität Herr zu bleiben. Hinzu tritt ein Sachverhalt, der nach der Auffassung Goethes dem Dichterberuf wesenseigentümlich ist und die Gefährdung des Dichters noch objektiv verstärkt: Ihm gilt als ausgemacht, daß die „Poesie (...) doch eigentlich auf die Darstellung des empirisch pathologischen Zustandes des Menschen gegründet" ist. 309 Diese Äußerung bezieht sich zunächst auf die Gattung der Tragödie, sie fällt während des Gedankenaustausches mit Schiller über die Arbeit am „Wallenstein". Der Vernunftmensch Schiller repliziert, daß ihm eben diese Tatsache große Schwierigkeiten bereite: „(...) das pathologische Interesse der Natur an einer solchen Dichterarbeit hat viel angreifendes für mich." 310 Daraufhin bekennt Goethe für seine Person: „Ich kann mir den Zustand Ihres Arbeitens recht gut denken. Ohne ein lebhaftes pathologisches Interesse ist es auch mir niemals gelungen irgend eine tragische Situation zu bearbeiten, und ich habe sie daher lieber vermieden als aufgesucht. (...) Ich kenne mich zwar nicht selbst genug um zu wissen, ob ich eine wahre Tragödie schreiben könnte, ich erschrecke aber blos vor dem Unternehmen und bin beynahe überzeugt, daß ich mich durch den bloßen Versuch zerstören könnte." 3 1 1 Goethe und Schiller stimmen darin überein, daß es — im Unterschied zur klaren und ruhevollen epischen Dichtung — ein notwendiger Wesenszug der Tragödie sei, „Erwartung, Ungeduld, pathologisches Interesse" zu wecken. 312 Um ein Produkt mit dramatischer Wirkung hervorbringen zu können, muß der Dichter diesen bedenklich aufwühlenden Zuständen Eingang in seinen eigenen Seelenhaushalt gewähren. Anders als Schiller verweigert jedoch Goethe für seine Person ein derartiges Experiment. Auf der einen Seite hat das unentrinnbar Tragische für ihn ohnehin gar keinen Sitz im aufgeklärten Leben. Schicksalsverhängnisse sind für ihn, den Welt-Mann, Mystifikationen menschlicher Verirrungen, Folgen von Maßlosigkeit, fehlender Geduld und überbordender Leidenschaft. 313 Andererseits geht er, um der Diätetik seiner Seele willen, selbst dem Versuch aus dem Wege, einen tragischen Konflikt bloß poetisch zu simulieren. Es ist die ausgesprochene Scheu davor, daß der Versuch zur Versuchung werde und die düstere Verwirrung, mag sie zunächst auch nur künstlich angezettelt sein, Eigenmacht gewönne und ihren Urheber gleich dem Zauberlehrling überwältigte. Wir wissen, daß Goethe der Aufforderung Schillers nicht gefolgt ist, als Tragödiendichter tätig zu werden — sieht man davon ab, daß er den „Faust", dieses Schauspiel über das (irdische) Theater, als „Tragödie" bezeichnet hat. Es trifft wohl zu, was Schiller vermutet hatte:

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„Wenigstens finde ich (in) Ihnen alle poetischen Eigenschaften des Tragödiendichters im reichlichsten Maaß, und wenn Sie wirklich dennoch keine ganz wahre Tragödie sollten schreiben können, so müßte der Grund in den nicht poetischen Erfodernißen liegen." 314 Mit dem Grund, sich selbst vor hypochondrischen Anfechtungen zu bewahren, verbindet sich bei Goethe das Motiv pädagogischer Fürsorge. Wenn er, bei aller übrigen Selbstsicherheit, tragische Situationen und ihre Gestaltung schon fur seine Person als meidenswert erachtet, so ist erst recht das Publikum, sonderlich das jugendliche, zu schonen und zu schützen; denn: „Wer (...) auf dem Wege einer wahrhaft sittlichen inneren Ausbildung fortschreitet, wird empfinden und gestehen, daß Tragödien und tragische Romane den Geist keineswegs beschwichtigen, sondern das Gemüth und das, was wir das Herz nennen, in Unruhe versetzen und einem vagen unbestimmten Zustande entgegenführen; diesen liebt die Jugend und ist daher fur solche Productionen leidenschaftlich eingenommen." 315 Diese Anschauung geht zu einem Teil wohl auf Erfahrungen mit dem Weimarer Theater zurück. In einem Gespräch mit Eckermann ist die Rede davon, daß „unsere jungen Leute, besonders unsere Studenten" die „trefflichsten" und „reifsten" Schauspiele mieden, während sie das Haus füllten, wenn etwa die „gewaltsamen Erstlinge" Schillers, die „Räuber" und der „Fiesko", zur Auffuhrung kämen. 316 Zu einem anderen Teil, was den ,tragischen Roman' betrifft, dürfte Goethe die eigene große Jugendsünde' im Sinn haben: den „Werther" und seinen ebenso furiosen wie hysterisch-skandalträchtigen Erfolg. Fünfzig Jahre nach Erscheinen des Werkes, das seinen Ruhm begründete, äußert er in einer Mischung von ängstlicher Unbehaglichkeit und selbstironisch scherzender Koketterie: „Das ist auch so ein Geschöpf (...), das ich gleich dem Pelikan mit dem Blut meines eigenen Herzens gefuttert habe. (...) Übrigens habe ich das Buch, wie ich schon öfter gesagt, seit seinem Erscheinen nur ein einziges Mal wieder gelesen und mich gehütet, es abermals zu tun. Es sind lauter Brandraketen! — Es wird mir unheimlich dabei, und ich furchte, den pathologischen Zustand wieder durchzuempfinden, aus dem es hervorging." 317 In der abwehrenden Haltung Goethes ist etwas von der Furcht spürbar, es möchte ihn, trotz der zeitlichen und lebensgeschichtlichen Ferne vom „kranken jugendlichen Wahn" 318 der Wertherzeit, spät noch das Schicksal eines .Reiters über den Bodensee' ereilen. Im dreizehnten Buch von „Dichtung und Wahrheit" erfahren wir, welche „Anstrengung" seinerzeit vonnöten war, den peinvollen, in Selbstmordphantasien schwelgenden „Trübsinn" und „unmuthige(n) Ubermuth" jener Tage hinter sich

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zu lassen. 319 Das Mittel der glücklichen Errettung aus dem „stürmischen Elemente" sei für ihn die poetische Objektivation gewesen: „Ich fühlte mich, wie nach einer Generalbeichte, wieder froh und frei, und zu einem neuen Leben berechtigt." 320 Während er selbst auf diese Weise dem bedrohlich hypochondrischen Zustand entronnen sei, habe sein „Werklein" gleich dem „Zündkraut" einer Mine im Publikum die Krankheit erst explosiv zum Ausbruch gebracht: „Wie ich mich nun aber dadurch erleichtert und aufgeklärt fühlte, die Wirklichkeit in Poesie verwandelt zu haben, so verwirrten sich meine Freunde daran, indem sie glaubten, man müsse die Poesie in Wirklichkeit verwandeln, einen solchen Roman nachspielen und sich allenfalls selbst erschießen: und was hier im Anfang unter wenigen vorging, ereignete sich nachher im großen Publicum und dieses Büchlein, was mir so viel genützt hatte, ward als höchst schädlich verrufen." 321 Zwar sucht Goethe die Verantwortung für das verderbliche ,Wertherfieber' abzulehnen, und dies mit guten Argumenten: Der Roman habe „genau in die rechte Zeit" getroffen, die Explosion im Publikum sei deshalb so mächtig gewesen, „weil die junge Welt sich schon selbst untergraben hatte, und die Erschütterung deßwegen so groß, weil ein jeder mit seinen übertriebenen Forderungen, unbefriedigten Leidenschaften und eingebildeten Leiden zum Ausbruch kam." 322 Doch scheint er dieser auch heute noch durchaus plausiblen, geradezu soziologischen und materialistischen Erklärung des Erfolges eines poetischen Textes insofern selbst nicht getraut zu haben, als er sich hütete, dem Publikum späterhin noch einmal etwas Vergleichbares vorzusetzen. Gewisse Schuldgefühle dürften doch eine Rolle gespielt haben, vielleicht auch die Erinnerung an die biblische Weisheit: „Es muß ja Ärgernis kommen, aber wehe dem, durch den Ärgernis kommt." Jedenfalls scheint es nicht zufällig, daß Goethes Bestimmung der „wahren Poesie" als eines heiteren „weltlichen Evangeliums" inmitten seiner Bekenntnisse über die düster verworrene Wertherzeit erfolgt. Und weiterhin ist es wohl auch kein Zufall, daß Goethe im Anschluß an die Schilderung seiner eigenen glücklichen Rettung und Selbstheilung, zu Beginn des vierzehnten Buches von „Dichtung und Wahrheit", auf Erscheinung und Charakter eines Freundes zu sprechen kommt, dem es nicht gelang, sich von der „Zeitgesinnung" zu lösen, „welche durch die Schilderung Werthers abgeschlossen sein sollte" 323 : „Lenz (...), als ein vorübergehendes Meteor, zog nur augenblicklich über den Horizont der deutschen Literatur hin und verschwand plötzlich, ohne im Leben eine Spur zurückzulassen". 324 „Aus wahrhafter Tiefe, aus unerschöpflicher Produktivität" sei sein Talent hervorgegangen, „in welchem Zartheit, Beweglichkeit und Spitzfindigkeit mit einander wetteiferten, das aber, bei aller seiner Schönheit, durchaus kränkelte". 325 Als Ursachen für Len-

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zens Pathologie nennt Goethe die Wertherische „Selbstquälerei", die aus der Paarung von „strengsten sittlichen Forderungen an sich und andere" und der „größten Fahrlässigkeit im T h u n " entsprungen sei, ferner den Hang zu eigensinniger „Selbstbeobachtung", welche im ewigen Streit über die Zulässigkeit innerer Regungen befangen bleibe, schließlich die Neigung zu subjektivistischen Paradoxien und ziellos-absurden psychischen Experimenten: „Er hatte nämlich einen entschiedenen Hang zur Intrigue, und zwar zur Intrigue an sich, ohne daß er eigentliche Zwecke, verständige, selbstische, erreichbare Zwecke dabei gehabt hätte; vielmehr pflegte er sich immer etwas Fratzenhaftes vorzusetzen, und eben deßwegen diente es ihm zur beständigen Unterhaltung. Auf diese Weise war er Zeitlebens ein Schelm in der Einbildung, seine Liebe wie sein Haß waren imaginär, mit seinen Vorstellungen und Gefühlen verfuhr er willkürlich, damit er immerfort etwas zu thun haben möchte." 3 2 6 Die Konsequenzen eines solchen gegenstandslosen intellektuellen Umtriebs hätten in der völligen Wirkungslosigkeit nach außen hin und in der beständig erneuerten Inszenierung von Selbstquälerei bestanden: ,,(...) so hat er niemanden den er liebte, jemals genützt, niemanden den er haßte, jemals geschadet, und im Ganzen schien er nur zu sündigen, um sich strafen, nur zu intriguiren, um eine neue Fabel auf eine alte pfropfen zu können." 3 2 7 Leo Kreutzer hat dieses Urteil als ,Vernichtung' Lenzens durch Goethe bezeichnet. Lenz sei der erste .kranke' Künstler gewesen, „der Goethes Lebensweg gekreuzt und den der Meister durch ein derartiges Urteil für die lernfähige Nachwelt stigmatisiert" habe. 3 2 8 Kreutzer übersieht, daß der erste .kranke' Künstler in Goethes Biographie der Dichter des Werther selbst gewesen sein dürfte. Ich habe versucht, zu zeigen, daß sich Goethe im Rückblick dieser Tatsache sehr wohl bewußt ist und daß er seine Gesundung als durchaus individuellen und glücklichen Vorgang auffaßt. Es ist darum auch diskussionsbedürftig, was Kreutzer zusammenfassend bemerkt: „Goethe, in seinem Urteil über Lenz, scheint ohne alle Ahnung zu sein, daß er selbst der eine ist, der durchkam, wie tatsächlich immer einer durchkommt, wo angeblich alle den Marschallstab im Tornister tragen. Er scheint nicht einmal zu ahnen, daß er mit .Dichtung und Wahrheit' das Märchen der bürgerlichen Gesellschaft schreibt, das Märchen von der freien und allseitigen Entwicklung des Individuums, während Lenz' Scheitern sehr früh deren Realität repräsentiert, den brutalen Fakt, daß sie das Individuum durchaus an seiner Entfaltung hindert."329 Zunächst sei bestritten, daß Goethes Autobiographie die allgemeinen

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Entwicklungschancen des Individuums in der bürgerlichen Gesellschaft märchenhaft verkläre. Weitaus näher liegt der Eindruck, daß „Dichtung und Wahrheit" jene Anstrengungen, Listen und Versagungen, aber auch jene glücklichen Umstände verzeichnet, die notwendig sind, um gegen den übermächtigen Druck der Realität zu einem schließlich doch noch gelingenden Leben zu kommen. Zum zweiten sei in Abrede gestellt, daß Goethe ohne „alle Ahnung" über die Bedingtheit der eigenen glücklichen' Laufbahn ist. Kreutzer selbst hat an anderer Stelle die umwerfend eisklare Bemerkung des greisen Meisters über die materiellen Voraussetzungen seiner Bildung wiedergegeben: „Man muß alt werden (...) und Geld genug haben, seine Erfahrungen bezahlen zu können. Jedes Bonmot das ich sage, kostet mir eine Börse voll Gold; eine halbe Million meines Privatvermögens ist durch meine Hände gegangen, um das zu lernen was ich jetzt weiß, nicht allein das ganze Vermögen meines Vaters, sondern auch mein Gehalt und mein bedeutendes literarisches Einkommen seit mehr als fünfzig Jahren. (...) Es ist nicht genug, daß man Talent habe, es gehört mehr dazu, um gescheit zu werden; man muß auch in grossen Verhältnissen leben und Gelegenheit haben, den spielenden Figuren der Zeit in die Karten zu sehen und selber zu Gewinn und Verlust mitzuspielen." 330 Es ist schier unbegreiflich, wie angesichts eines derart trockenen Wirklichkeitssinnes davon die Rede sein kann, Goethe sei den Fundamentalien bürgerlicher Persönlichkeitsentfaltung „ahnungslos" gegenüber gestanden. Zutreffend wäre es, von seiner vollkommenen Illusionsbsigkeit im Hinblick auf die Macht der bestehenden Verhältnisse zu sprechen, vor allem aber von seiner Einsicht, daß diesem Objektivum kein Subjekt gewachsen sein kann, das in Klagen und Anklagen, in moralischem Protest oder solipsistischer Phantastik verharrt. 331 Keineswegs also behauptet Goethe, daß „alle den Marschallstab im Tornister" trügen. Freilich mag er andererseits auch nicht glauben, daß jedem der Weg, zum Guten oder zum Schlechten, schon genau bezeichnet sei. Diesen Fatalismus nicht besessen zu haben, wird ihm zum Vorwurf gemacht, wenn Kreutzer Lenzens Scheitern als die „Realität" der bürgerlichen Gesellschaft schlichthin bestimmt. Dagegen ist einzuwenden, daß junge Männer vom sozialen Rang und der Bildung eines Lenz in jener Zeit zu den vergleichsweise privilegierten Mitgliedern der „bürgerlichen Gesellschaft" gehörten. Sie waren durchaus nicht als willen- und hoffnungslose Opfer prädestiniert. Weitaus einleuchtender wäre es gewesen, die völlige Aussichtslosigkeit der Lebenslage eines „Strumpfwürkker(s) in Apolda" als die brutale Tatsache frühbürgerlicher Gesellschaft zu nennen — ein Wissen, das wiederum dem Verfasser der „Iphigenie" nicht fehlte. 332 Wenn Goethe Lenz als einen Charakter darstellt, dem es nicht gelingt, 84

sich aus der psychischen und sozialen Düsternis der Wertherzeit zu lösen, so ist das keine „Vernichtung" : weder die eines beharrlich radikalen Opponenten bürgerlicher Realität, noch die eines Schriftstellers, dem nach dem Diktum Kreutzers anders als Goethe „die Zuversicht abging, man könne die Welt ins reine schreiben."313 Wir haben bereits versucht zu zeigen, daß Goethe, gerade im Gegensatz zu den meisten seiner Zeitgenossen, der gesellschaftlichen und politischen Wirkung des poetischen Wortes mit völliger Skepsis gedenkt. Historisch streng objektivierend schildert Goethe mit Lenz vielmehr die Erscheinung eines praxis- und folgenlosen Intellektualismus und eines sinnlosen Martyriums. Daß beides aus radikaler subjektiver Opposition gegen die schlechte Wirklichkeit entsprungen ist, wird von Goethe nicht geleugnet; über die Quellen der Werther-Stimmung hat er sich deutlich geäußert. 334 Den Historiographen Goethe bewegen jedoch nicht die Verständlichkeit oder die Dignität subjektiver Motive. Er beschreibt, jenseits moralischen Klagens über die (immer schon vorauszusetzende) Bosheit der Welt und die entsprechende Not des Individuums, die objektiv gewordenen geschichtlichen und persönlichen Konsequenzen eines bestimmten Verhaltens zur Wirklichkeit — eines Verhaltens, das schließlich zum ,Unsinn' geführt hat. Selbst wenn Lenz aufgrund einer nicht durch ihn zu verantwortenden Prägung nicht anders gekonnt hätte, wenn er also ein ,Opfer' im Sinne Kreutzers gewesen wäre, so ergäbe es ausschließlich einen moralisch-affektiven und keinen historisch-politischen Sinn, seine Erscheinung gegen die Darstellungsweise Goethes zu rehabilitieren. Der Zorn darüber, daß die „bürgerliche Gesellschaft" radikale Querköpfe nicht duldet, ist ebenso wohlfeil, wie diese Tatsache an sich selbstverständlich ist. Auf dem Wege zum Umsturz einer strukturell inhumanen Gesellschaftsform ist durch bloß trauernde Identifikation mit ihren Opfern kein Schritt vorwärts getan. Und vom Charakter und der Art eines Lenz ist positiv nur zu lernen, wie man wiederum mit Gewißheit zum Opfer wird. Dies ist der nach wie vor gültige Kern der Botschaft Goethes — eine Wahrheit, die auch durch einen Hinweis auf das ,Anpasserische' und politisch Konservative des .Geheimen Raths' nicht kleiner wird. Im Zusammenhang der historisch-biographischen Reflexionen von „Dichtung und Wahrheit" steht Lenz nicht nur fur das gefährdete und endlich scheiternde ,alter ego' Goethes in der Werther-Periode. Angesichts der Bemühungen Goethes, mit einem Einzelfall stets auch Repräsentatives darzustellen, sind bei der Schilderung der Erscheinung Lenzens all jene „Strudelköpfe" und .kranken' Charaktere mitzudenken, die seit der Epoche der „Genialiät" in Goethes Wahrnehmungshorizont gerieten und ähnlich unglückliche Neigungen und Schicksale wiesen. Es sind, bis hin zu E. T. A. Hoffmann und Heinrich von Kleist, all diejenigen jungen Dichter, die sich die dritte Spielart des .falschen Transzendierens' zu eigen gemacht haben: die Vorliebe für das krude Naturalistische, das sadi-

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stisch Gewalttätige, das selbstquälerisch Hypochondrische, das triebhaft Unterirdische, das düster Gespenstische und das regellos Verworrene. Wir haben gesehen, daß Goethe einerseits als Präzeptor eines unmündigen, psychisch leicht affizierbaren Publikums das poetische Vagieren in den Schattenzonen des Lebens ablehnt, wobei die Selbsterfahrung eigener seelischer Labilität den Hintergrund abgibt. Andererseits trennt Goethe nicht zwischen Person und Werk: Es ist ihm deshalb um die psychische Gesundheit, ja die Existenz derjenigen bange, die solche „Lazarettpoesie" zu ihrem Metier machen; umgekehrt erblickt er in trüben oder gewaltsamen ästhetischen Produkten Anzeichen für bedenkliche Charakterzüge ihrer Urheber. Eine Anekdote Eckermanns bietet die eher humoristische Variante dieser Auffassung. Bei der Betrachtung einiger Radierungen des „berühmten Tiermalers Roos" („lauter Schafe, und diese Tiere in allen ihren Lagen und Zuständen. Das Einfältige der Physiognomien, das Häßliche, Struppige der Haare, alles mit der äußersten Wahrheit, als wäre es die Natur selber") habe Goethe geäußert: „Mir wird immer bange (...), wenn ich diese Tiere ansehe. Das Beschränkte, Dumpfe, Träumende, Gähnende ihres Zustandes zieht mich in das Mitgefühl desselben hinein; man fürchtet, zum Tier zu werden, und möchte fast glauben, der Künstler sei selber eins gewesen. Auf jeden Fall bleibt es im hohen Grade erstaunenswürdig, wie er sich in die Seelen dieser Geschöpfe hat hineindenken und hineinempfinden können, um den innern Charakter in der äußern Hülle mit solcher Wahrheit durchblicken zu lassen. Man sieht aber, was ein großes Talent machen kann, wenn es bei Gegenständen bleibt, die seiner Natur analog sind." 335 In einem Gespräch über die nazarenischen „Symboliker" sucht Sulpiz Boisserée den Zorn Goethes über diese „Kerls" mit dem Einwand zu dämpfen, es sei doch nicht zu billigen, „daß man wegen Verschiedenheit der Meinungen die Personen verketzere und verleumde, wie Voß es getan." Da sei, so Boisserée, Goethe so weit gegangen, zu behaupten: „Personen ließen sich nicht von der Sache trennen." 336 Unter Hinweis auf die mannigfaltigen Bearbeitungen der „Iphigenie" äußert Goethe: „(.·.) jeder sieht und stellt die Sachen anders, eben nach seiner Weise."337 Stets sei das „Ganze", das der Künstler bilde, „Frucht seines eigenen Geistes". 338 Goethes wiederholt ausgesprochene Erfahrung, daß der Vorgang poetischer Hervorbringung nicht durch ein rationales Kalkül provoziert und kontrolliert werde, sondern daß er eher halbbewußt und unwillkürlich geschehe 339 , rückt den Dichter und sein Produkt in geradezu tiefenpsychologischer Weise zu einer wechselseitig deutbaren Einheit zusammen. Aus diesem Grund sind Goethes Urteile über die Spielarten des .Unschönen' in der Kunst nicht nur Derivate einer einmal gesetzten ästhetischen (.klassizistischen') Norm. Sie sind immer

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auch Grammatiken der Charaktere, die dieses ,Unschöne' dichten, malen, komponieren. Selbst der einstige Freund und Weggenosse Schiller muß es sich nach dieser Sichtweise gefallen lassen, vom späten Goethe als „ein wunderlicher großer Mensch" 340 apostrophiert zu werden. Es war bereits die Rede davon, daß Goethe die „gewaltsamen Erstlinge" Schillers und ihre „Roheiten" entwicklungsgeschichtlich als Phänomene einer unreifen, noch wenig kultivierten Jugendepoche betrachtet. 341 Jedoch habe Schiller auch später nie gänzlich von gewalttätigen Neigungen lassen können: „Schillers Talent war recht fürs Theater geschaffen. Mit jedem Stück schritt er vor und ward er vollendeter; doch war es wunderlich, daß ihm noch von den Räubern her ein gewisser Sinn fur das Grausame anklebte, der selbst in seiner schönsten Zeit ihn nie ganz verlassen wollte. So erinnere ich mich noch recht wohl, daß er im Egmont in der Gefängnisszene, wo diesem das Urteil vorgelesen wird, den Alba in einer Maske und in einen Mantel gehüllt im Hintergrund erscheinen ließ, um sich an dem Effekt zu weiden, den das Todes-Urtheil auf Egmont haben würde. Hiedurch sollte sich der Alba als unersättlich in Rache und Schadenfreude darstellen. Ich protestierte jedoch und die Figur blieb weg." 342 Dieses Urteil ist durchaus ein charakterologisches; es ist von anderer Qualität als jene Einwände, die Goethe im übrigen gegen die dramaturgischen Gewalttätigkeiten Schillers hegt. 343 Daß Goethe Schillers „Sinn für das Grausame" als pathologisches Phänomen betrachtet, geht aus seiner Zustimmung zu den Bemerkungen Tiecks über den „Wallenstein" hervor. Tieck hatte in den „Dramaturgischen Blättern" die letzten Szenen von „Wallensteins Tod" mit merklichem Bedauern so rezensiert: „(...) sein (Wallensteins, J.W.) dunkles Vorgefühl, die Unzufriedenheit, ja Verstörtheit seines Gemüthes sind trefflich geschildert; aber dieselbe Mattigkeit, von der Wallenstein niedergedrückt wird, an welcher Gordon zu sichtlich leidet, theilt sich auch dem Zuschauer mit, und tiefe Wehmuth, Ueberdruß des Lebens, Verachtung seiner Herrlichkeit, Zweifel an aller Größe und Kraft des Charakters ist es, was uns am Schlüsse beherrscht und stimmt. Und gewiß sollte eine Tragödie, die sich diesen großen Vorwurf gewählt hat, die mit so trefflicher Kraft ausgestattet ist, nicht mit diesen Empfindungen schließen." 344 Insonderheit die zweite Szene des fünften Aktes sei, so Tieck, „des grossen Werkes unwürdig". Die Art, in der die Anstiftung zum Morde an Wallenstein geschehe, verletze „zu herbe"; anders als in Shakespeares „Richard III" vermöge bei Schiller die „Roheit und ein gewisser Blödsinn" der Verschwörer nur zu beleidigen. 345

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Goethe beruft sich nun darauf, daß er der Entstehung des „Wallenstein" von Anfang an beigewohnt habe und notiert: „Die meisten Stellen, an welchen Tieck etwas auszusetzen hat, finde ich Ursache als pathologische zu betrachten. Hätte Schiller nicht an einer langsam tödtenden Krankheit gelitten, so sähe das alles ganz anders aus." 346 Und Goethe fährt fort, indem er seine Hypothese des Zusammenhangs von poetischer Düsternis und Grausamkeit mit dem Siechtum Schillers geradezu ästhetiktheoretisch und anthropologisch generalisiert: „Unsere Correspondenz (der Goethe-Schiller-Briefwechsel, J.W.), welche die Umstände, unter welchen Wallenstein geschrieben worden, a u f s deutlichste vorlegt, wird hierüber den wahrhaft Denkenden zu den würdigsten Betrachtungen veranlassen und unsere Ästhetik immer inniger mit Physiologie, Pathologie und Physik vereinigen, um die Bedingungen zu erkennen, welchen einzelne Menschen sowohl als ganze Nationen, die allgemeinsten Weltepochen so gut als der heutige Tag unterworfen sind." 347 Es ist dies das Resümee eines (in der Weimarer Sophien-Ausgabe) nur vier Seiten umfassenden Aufsatzes, in dem neben Tiecks Verdiensten um die Deutung Schillers und seine Bemühungen um werkgetreue Inszenierungen Shakespeares allein ein weiterer Beitrag der „Dramaturgischen Blätter" besonders gewürdigt wird: die „Rettung" eines Dichters, dem es seinerzeit nicht gelungen war, bei Goethe sein Glück zu machen. Tieck hatte Heinrich von Kleists „Prinz von Homburg" und das „Käthchen von Heilbronn" ins Pantheon der „vorzüglichsten Werke" der neueren Zeit erhoben, freilich nicht ohne die Exzentrizität und grelle Umschlägigkeit des ersten und den krausen Supranaturalismus des anderen Stückes zu tadeln. 348 Tieck bestand darauf, daß Kleist trotz dieser Mängel zu den großen „verkannten" Dichtern des Vaterlandes zähle 349 , dessen trauriges Schicksal durch eben die Tatsache der Nichtachtung besiegelt worden sei: „Gewiß, er wandelte noch unter uns, und hätte sein treffliches Talent höher ausgebildet, wenn ihm nur einige Anerkenntnis geworden wäre, wenn er nicht so bitter an sich selbst hätte verzweifeln müssen." 350 Goethe also antwortet auf diesen Vorstoß Tiecks, der zweifellos auch als gewichtiger Anwurf gegen die einstige barsche Abfertigung des „Kleistischen Unfug(s)" 351 durch den Weimarer Kunstrichter zu lesen war, in gemessen versöhnlicher Weise: „Seine (Tiecks, J.W.) Pietät gegen Kleist zeigt sich höchst liebenswürdig. Mir erregte dieser Dichter, bei dem reinsten Vorsatz einer aufrichtigen Theilnahme, immer Schauder und Abscheu, wie ein von der Natur schön intentionirter Körper, der von einer unheilbaren Krankheit ergriffen wäre. Tieck wendet es um: er betrachtet das Treffliche, was von dem Natürlichen noch übrig blieb ; die Ent-

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Stellung läßt er bey Seite, entschuldigt mehr, als daß er tadelte; denn eigentlich ist jener talentvolle Mann auch nur zu bedauern, und darin kommen wir denn beide zuletzt überein." 352 Gründlicher noch als in den Bemerkungen zur Pathologie Schillers und des „Wallenstein" sind in diesem Urteil die Grenzen zwischen dem Dichter und seinem Werk verwischt. Dabei ist festzuhalten, daß Goethe Kleist höchstwahrscheinlich nie persönlich kennengelernt hat. 353 Das bedeutet, daß er in diesem Fall von Zügen des Werks auf seinen Produzenten schließt — allerdings natürlich in Kenntnis seiner gewaltsam endenden Biographie. In einem bedeutenden Strang deutscher Literaturgeschichtsschreibung ist Goethes empfindliche, in früheren Jahren noch weitaus schroffere Ablehnung Kleists als eines .kranken' Poeten mit Unverständnis oder gar mit vehementer Polemik quittiert worden. 354 Ein Beispiel aus der jüngeren Forschungsgeschichte bietet der sonst so feinsinnig interpretierende Peter Szondi. Er geht gar so weit, Goethes Urteilsweise einem Traditionskonstrukt einzuverleiben, das die .Ästhetik der Natur' eines Winkkelmann und Herder zur Quelle autoritärer und faschistischer Gewalttätigkeit macht: „Krankheit, Unnatur: das sind Urteile, die übers Ästhetische weit hinausgreifen, und nicht bloß ein Kunstwerk als schlechtes verwerfen, sondern den Weg bahnen zu einem Verdikt, von dem das Lebensrecht des Künstlers selbst ereilt wird. Wie starr die Regeln der Ästhetik im Barock und in der Aufklärung auch sein mochten, demgegenüber hatten sie einen humanen Zug, während die Berufung der mit Herder neuentstandenen Konzeption auf die Natur, in deren Namen man bald zu sprechen meint, alle Härte zu legitimieren scheint. Das beginnt mit der Verdammung der französischen Klassik als naturferner Kunst, führt zu Goethes Urteil über die Kleistsche Dichtung als Zeichen von Krankheit, von Hypochondrie, und mündet in die Barbarei, in der, was der eigenen Vorstellung vom Gesunden sich nicht fügte, als entartet verfolgt wird: die Kunst ebenso wie der Künstler, die eine wird verbrannt, der andere, im besten Fall, mit Berufsverbot belegt." 355 Szondi hätte seine kühne Konstruktion durch eine Anekdote Ernst Christian Wilhelm Webers effektvoll pointieren können. Dieser erzählt: „Als Goethe das Kleistsche Kätchen von Heilbronn, was ihm sein treuer Sekretär Kräuter zubrachte, da es in Weimar viele entzückte, unter andern Falk und Schulz, und viele es auf der Bühne zu sehen wünschten, gelesen hatte, sagte er: Ein wunderbares Gemisch von Sinn und Unsinn! Die verfluchte Unnatur! und warf es in das lodernde Feuer des Ofens mit den Worten: Das führe ich nicht auf, wenn es auch halb Weimar verlangt." 356

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Da wäre denn Goethe nicht bloß als geistiger Urahn des Kunstmords, sondern als dessen leibhaftiges Vorbild in Wort und Tat dingfest gemacht. Doch selbst eine solche makabre Zuspitzung vermöchte Szondis Art der Traditionserfindung nicht zu retten, sie bliebe nicht weniger wohlfeil und einäugig. Gehörte denn Kleist zu den von den Nazis verbrannten Dichtern? Und wenn man schon die faschistische Berufung auf das .gesunde Volksempfinden' mit dem Naturbegriff des Klassizismus in einen Zusammenhang zwingt: wäre es da nicht ebenso einleuchtend, Kleists Gewalttätigkeiten, seine sado-masochistischen Neigungen und allermeist letal verlaufenden Inszenierungen, seine häufig ausweglos nihilistisch mündenden Konstellationen, seine mitunter furchtbaren Helden als Quellenmaterial faschistischer Mentalität namhaft zu machen? Solche Gebilde aus geschwinden Verbindungen des historisch weit Auseinanderliegenden vermögen also nur rhetorisch und im ersten Augenblick zu überzeugen. Wie souverän und suggestiv sie zunächst auch wirken, in Wirklichkeit eröffnen sie jeder willkürlichen Spekulation und Polemik Tür und Tor. Kühne Griffe sind sie darum nur im Stile eines schlechten Feuilletons, nicht aber im Prozeß nüchterner historischer Erkundung. Diese bedarf gemessener und gesicherter Schritte, und zwar zuerst einmal innerhalb des Horizonts, der die Erfahrungen, Auffassungsweisen und Ziele der geschichtlichen Akteure umfaßt. Unter dieser Voraussetzung ist festzuhalten, daß Goethes Begriffe von „Natur" und „Unnatur", von „Gesundheit" und „Krankheit", soweit sie in Urteilen über bestimmte Dichter und ihre Poesien erscheinen, keineswegs schon das dogmatische Gebäude einer klassizistischen „Ästhetik der Natur" signalisieren. Spätere Theoretiker, deren Gesichtskreis auf einen vorgeblich abstrakten Gang der Ästhetikgeschichte beschränkt war und die allen Äußerungen Goethes eine kategoriale Bedeutung in diesem Sinn zu verleihen trachteten, mögen das so gesehen haben. Dabei handelt es sich allerdings um eine Interpretation, die den bestimmten lebenspraktischen Zusammenhang jener Urteile ebenso außer Acht läßt wie die Tatsache, daß es sich Goethe grundsätzlich verbeten haben würde, als Vollzugsorgan einer dogmatischen und über die Lebenswirklichkeit gestellten .ästhetischen Ästhetik' aufgefaßt zu werden. 357 Wenn also Szondi behauptet, „Goethes Urteil über die Kleistsche Dichtung als Zeichen von Krankheit" treffe das „Lebensrecht des Künstlers" im Kern, so ist dies eine Unterstellung, die an den Maßstäben und am Horizont der Urteilsweise Goethes völlig vorbeigeht: man könnte sogar sagen, es handle sich um eine Entstellung ins Gegenteil. Ich rufe einen Teil jener ausführlichen Äußerungen Goethes ins Gedächtnis, auf die sich Szondis Folgerungen offenbar stützen. Sie sind von Johann Daniel Falk überliefert und fallen ins Jahr 1809, also zwei Jahre vor Kleists Selbstmord: „Einst kam das Gespräch auf Kleist und dessen Käthchen von Heilbronn. Goethe tadelt an ihm die nordische Schärfe des Hypochon90

ders; es sei einem gereiften Verstände unmöglich, in die Gewaltsamkeit solcher Motive, wie er sich ihrer als Dichter bediene, mit Vergnügen einzugehen. Auch in seinem Kohlhaas, artig erzählt und geistreich zusammengestellt, wie er sei, komme doch Alles gar zu ungefiig. Es gehöre ein großer Geist des Widerspruches dazu, um einen so einzelnen Fall mit so durchgeführter, gründlicher Hypochondrie im Weltlaufe geltend zu machen. Es gebe ein Unschönes in der Natur, ein Beängstigendes, mit dem sich die Dichtkunst bei noch so kunstreicher Behandlung weder befassen, noch aussöhnen könne." 358 Wir sehen: Es sind psychisch extreme und bedrohliche Erscheinungsformen der Natur, welchen Goethe keinen Ort in der Poesie anweisen mag. Goethe hängt also nicht einer naiven Vorstellung von ,Natur' an, der unvermittelt eine ,krankhafte Unnatur' zuwiderlaufe. Es versteht sich für ihn, den Naturforscher, von selbst, und er formuliert dies ausdrücklich im Jahre 1807, daß psychische Störungen ebenso wie physische Krankheiten Phänomene sind, die das Widerspiel von Naturkräften anzeigen: „Die sublimierten Gefühle der Liebe ausgesprochen, erregen den Widerspruch aller nicht so Gesinnten. Das ist Überspannung, krankhaftes Wesen — heißt es da. Als wenn Überspannung, Krankheit nicht auch ein Zustand der Natur wäre! Die sogenannte Gesundheit kann nur im Gleichgewicht entgegengesetzter Kräfte bestehen, wie das Aufheben derselben entsteht und besteht nur aus einem Vorwalten der einen über die andern (...)." 359 Außer Frage steht freilich, daß das „Gleichgewicht", also die „sogenannte Gesundheit", der erstrebenswerte Zustand ist. Wo Instabilität fortherrscht oder gar zunimmt, droht dagegen große Gefahr für Geist und Leben. Sie erblickt Goethe im Falle Kleist: „Ich habe ein Recht (...), Kleist zu tadeln, weil ich ihn geliebt und gehoben habe; aber sei es nun, daß seine Ausbildung, wie es jetzt bei Vielen der Fall ist, durch die Zeit gestört wurde, oder was sonst für eine Ursache zum Grunde liege; genug, er hält nicht, was er zugesagt. Sein Hypochonder ist gar zu arg; er richtet ihn als Menschen und Dichter zu Grunde." Hier geht es keineswegs um das abstrakte „Lebensrecht" eines Künstlers, der klassizistische Normen überschreitet und das „Beängstigende" zum Thema der Poesie macht, hier spricht Goethe von weitaus Ernsterem und eigentlich Entscheidendem: vom Leben und Überleben eines Individuums, von der Gefahr existenzieller Selbstvernichtung, die dem droht, der zu tief ins Reich des Ungefügen und Gewaltsamen verstrickt ist. Nicht von einer zum .Dichter' reduzierten Erscheinung, der — ephemer — auch noch die Person Kleist angehört, ist die Rede, sondern von dem sterblichen Menschen Kleist, der im Begriffe steht, sein Leben zu ruinieren.

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Diese Haltung Goethes mag schelten, wer die katastrophale Biographie Kleists für den zu vernachlässigenden Preis seiner Dichterexistenz erachtet. Das scheint in jener Art der Rezeption der Fall zu sein, die Kleist als Wegbereiter der .Moderne' über Goethe stellt und unter .Moderne' einerseits die rückhaltlose Aufhebung des Lebens in der Poesie meint, andererseits das Vagieren im psychisch Extremen, im Ungewissen, am Rande des nihil. Ein Leben, das zerbricht, doch poetisch leuchtet, erscheint unter solchem Vorzeichen höher und edler als eine lange weilende, pfahlbürgerlich gehaltene Existenzweise, wie sie Goethe (vorgeblich) repräsentiert. Daß es vergebene Mühe gewesen sein mag, Kleist „zu tadeln", ist einzuräumen — Goethes Äußerungen haben einen Beiton des Bedauerns und der Resignation, der vermuten läßt, er selbst sei sich dessen bewußt gewesen. Dennoch: den Tadel gänzlich zu unterdrücken, hätte bedeutet, junge Dichter vom Schlage Kleists zynisch, das heißt, gleichgültigen Auges, in ihrem absehbar ruinösen Tun gewähren zu lassen. Und war denn wirklich schon mit letzter Gewißheit zu sagen, daß eine Wendung zum Vernünftigen außer jeder Hoffnung stand? Alle bisher angeführten Äußerungen Goethes über Kleist sind im übrigen privater Natur gewesen. 361 Es lag also sehr bewußt nicht in der Absicht Goethes, Kleist nach außen hin zu desavouieren. Man muß es ernst nehmen, wenn Goethe sein „Recht", „Kleist zu tadeln", mit dem Wohlwollen begründet, das er ihm entgegengebracht habe. Der Vorgang, auf den Goethe mit diesem Satz gegenüber Falk (1809) anspielt, lag ein Jahr zurück. Im Januar 1808 hatte Kleist das erste Stück des „Phoebus" mit dem Penthesilea-Fragment an Goethe übersandt. Wenig zuvor war der „Zerbrochene Krug" für das Weimarer Theater angenommen worden, und zwar trotz der Bedenken, die Goethe hinsichtlich seiner Bühnenfähigkeit hegte. Das Widmungsschreiben Kleists war in einer sonderbaren Mischung von feierlicher Devotion und erkennbar trotzigem Beharren auf der eigenen dramatischen Konzeption gehalten: „Es (das Fragment der ,Penthesilea') ist übrigens ebensowenig für die Bühne geschrieben, als jenes frühere Drama: der Zerbrochne Krug, und ich kann es nur Ew. Exzellenz gutem Willen zuschreiben, mich aufzumuntern, wenn dies letztere gleichwohl in Weimar gegeben wird. Unsre übrigen Bühnen sind weder vor noch hinter dem Vorhang so beschaffen, daß ich auf diese Auszeichnung rechnen dürfte, und so sehr ich auch sonst in jedem Sinne gern dem Augenblick angehörte, so muß ich doch in diesem Fall auf die Zukunft hinaussehen, weil die Rücksichten gar zu niederschlagend wären." 362 Es wurde bereits darauf gewiesen, daß Goethe zu dieser Zeit dringend nach poetischen Talenten suchte, welche die Lücke zu schließen versprachen, die mit dem Tode des großen Bühnenpraktikers Schiller für das Weimarer Theater entstanden war. Der Versuch mit Zacharias Werner fiel

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in eben jene Tage; die gelungene Aufführung der „Wanda" fand am 30. Januar 1808 statt. 363 Zwei Tage später, also, wie wir annehmen können, noch unter dem unmittelbaren Eindruck dieses Erfolges, beantwortete Goethe den Brief Kleists. Dem Lob der „prosaischen Aufsätze" im „Phoebus" folgte die bekannte höflich-dilatorische, in der Substanz ironisch ablehnende Anmerkung: „Mit der Penthesilea kann ich mich noch nicht befreunden. Sie ist aus einem so wunderbaren Geschlecht und bewegt sich in einer so fremden Region daß ich mir Zeit nehmen muß mich in beyde zu finden."364 Daran Schloß Goethe einen Rat allgemeiner und pragmatischer Art, der ausdrücklich eine harsche Einrede gegen Kleists Tendenz zum vorerst noch „unsichtbaren Theater" 365 formulierte: „Auch erlauben Sie mir zu sagen (denn wenn man nicht aufrichtig seyn sollte, so wäre es besser, man schwiege gar), daß es mich immer betrübt und bekümmert, wenn ich junge Männer von Geist und Talent sehe, die auf ein Theater warten, welches da kommen soll. Ein Jude der auf den Messias, ein Christ der aufs neue Jerusalem, und ein Portugiese der auf den Don Sebastian wartet, machen mir kein größeres Misbehagen. Vor jedem Brettergerüste möchte ich dem wahrhaft theatralischen Genie sagen: hic Rhodus, hic salta! Auf jedem Jahrmarkt getraue ich mir, auf Bohlen über Fässer geschichtet, mit Calderone Stücken, mutatis mutandis, der gebildeten und ungebildeten Masse das höchste Vergnügen zu machen. Verzeihen Sie mir mein Geradezu: es zeugt von meinem aufrichtigen Wohlwollen. Dergleichen Dinge lassen sich freylich mit freundlichem Tournüren und gefälliger sagen. Ich bin jetzt schon zufrieden, wenn ich nur etwas vom Herzen habe. Nächstens mehr." 366 Katharina Mommsen hat den weiteren Zusammenhang rekonstruiert, durch den dieser unverblümt herbe Ton Goethes noch verständlicher wird: die dubiose, zwieschlächtige Taktik der Herausgeber des „Phoebus, den „göttlichen" Dichter 367 als Mitarbeiter und für ihre Ziele zu gewinnen, zugleich aber seine .Entthronung' zu betreiben. 368 Allein, auch ohne diesen unguten Hintergrund, der Goethes Empfindlichkeit gesteigert haben mag, kann die Rauheit seiner Mahnung kaum erstaunen. Schließlich war eben durch das Stück Werners, dem Goethe durchaus nicht ohne Skepsis gegenüberstand 369 , bewiesen worden, daß auch ein .junger Mann' sehr wohl imstande war, dem vorhandenen „Brettergerüst" erfolgreich zu genügen. Da mußte Kleists Intransigenz geradezu als absurd erscheinen. Unter diesem Gesichtspunkt ist Goethes Brief keineswegs ein Dokument vernichtender Schelte, sondern — bei aller Schärfe, womöglich sogar erst durch die unverhohlene Derbheit — ein Zeugnis herzlicher Anteilnahme. Daß Kleist ganz andere Absichten in seinem dramatischen Schaffen verfolgte, als einem beliebigen Publikum Vergnügen zu bereiten, daß er,

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von seinen Freunden noch gestachelt, den Ehrgeiz besaß, alle lebenden und toten Dichter zu übertrumpfen 3 7 0 , daß er geradezu seine Existenz auf dieses Ziel stellte, daß er groteskerweise bei seinem vermeintlichen Hauptkonkurrenten Anerkennung suchte, daß er darum durch Goethes Rückruf grausam getroffen sein mußte — all das war zu jenem Zeitpunkt für Goethe noch verborgen. Hätte er eine Ahnung davon besessen, so wäre ihm in der Tat nichts anderes übrig geblieben, als zu schweigen: gegen solche Ansprüche mußten Einwände eines weltlich-nüchternen Verstandes sinnlos verhallen. Erst nach dem von beiden Seiten zu verantwortenden Mißerfolg des „Zerbrochenen Krugs" 3 7 1 und den folgenden wütenden Ausfällen Kleists 372 scheint Goethe zu der Einsicht gelangt zu sein, daß er es hier mit einem Charakter zu tun hatte, der keine Hoffnung bot, sich von irdischer „Vernünftigkeit" leiten zu lassen. „Nächstens mehr" blieb darum schließlich das letzte Wort, das er unmittelbar an Kleist richtete. Wiederum zeigt sich eine Konstellation, wie wir sie schon in den Episoden Goethe — Hölderlin, Goethe — Friedrich Schlegel und Goethe — Sonnenberg (bzw. Bielefeld) bemerken konnten: Goethes lebenspraktische — um nicht zu sagen nationalistische' — Klugheit und seine Einsicht in den minderen Rang der Dichtung in der Welt liegen so fern ab von den Formen des ästhetischen Titanismus der Jungen und ihren poetischen (Selbst-)Erlösungsphantasien, so fern ab schon davon, mit solchen Einstellungen überhaupt zu rechnen, daß seine Ratschläge zum Bescheidenen und Pragmatischen in objektiv komischen Kontrast geraten zu jenen großartigen Prätensionen und Entwürfen. Nur wenn man von den unerfreulichen Lebensschicksalen der jungen absoluten Dichter absieht, wird man freilich in diesem fundamentalen Mißverhältnis einen Anlaß finden, Goethes Standpunkt als überholt und philiströs zu bespötteln. Und nur wer anachronistischen Absurditäten anhängt, kann meinen, daß Goethe durch seinen trocken realistischen Rückruf solcher verstiegener Charaktere .versagt' habe — vielleicht gar noch schuldhaft: das Amt des Therapeuten war noch nicht erfunden. Hätte es dergleichen seinerzeit schon gegeben, so wäre es im übrigen keinesfalls das Amt Goethes, dieser zugleich geliebten und gehaßten Autorität, gewesen. 373 Der gewaltsame letale Ausgang der Biographie Kleists mußte Goethe in der Auffassung bestärken, daß die Urteilsweise berechtigt war, von hypochondrischen', pathologischen Zügen in einem poetischen Werk auf den Charakter seines Urhebers zu schließen. Wir haben gesehen, daß Goethe die Eisenköpfigkeit des Kleist'schen Novellenhelden Kohlhaas als einen „Fall (...) durchgeführter, gründlicher Hypochondrie" indizierte und die Idee, „einen so einzelnen Fall (...) im Weltlauf geltend zu machen", als Ausdruck der „Schärfe des Hypochonders" Kleist interpretierte. 374 Goethes Maxime, daß „unbedingte Tätigkeit, von welcher Art sie sei, (...) zuletzt bankerott" mache 3 7 5 , könnte darum sowohl von der Person Kleist als auch von seinem poetischen Helden abgezogen sein.

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Von Goethes biographisch genährter Ablehnung des Tragischen, die freilich zugleich im besten Sinn aufklärerisch ist, war bereits die Rede. 376 Ihr fällt folgerichtig auch Kleists „Penthesilea" anheim. In der kuriosen Formulierung Goethes, sie sei aus einem so „wunderbaren Geschlecht", daß er Mühe habe, sich darein zu finden, dürfte neben der ironischen Distanz von der Sache wiederum ein auf die Person Kleist hin Auslegbares mitschwingen: derart, daß nicht allein sein Geschöpf, sondern vor allem er als sein Stammvater Anlaß zur Befremdung gebe, daß der „Penthesilea" Geblüt in Wahrheit eine Ausgeburt seines, Kleists, Gemüts sei. Diese Vermutung wird jedenfalls unabweisbar, wofern man sich an Goethes verallgemeinernde rhetorische Frage erinnert: „Was sind Tragödien anders als versificirte Passionen solcher Leute, die sich aus den äußern Dingen ich weiß nicht was machen?" 377 Und in diesem Zusammenhang liegt es auch nahe, Goethes im Gespräch mit Falk geäußerte Kritik an der „Penthesilea" nicht nur als dramaturgisch-ästhetischen Einwand, sondern zugleich als Rede über die besondere Art der „Hypochondrie" Kleists aufzufassen: „Die Tragödie grenzt in einigen Stellen völlig an das Hochkomische, ζ. B. wo die Amazone mit Einer Brust auf dem Theater erscheint und das Publicum versichert, daß alle ihre Gefühle sich in die zweite, noch übriggebliebene Hälfte geflüchtet hätten; ein Motiv, das auf einem neapolitanischen Volkstheater im Munde einer Colombine, einem ausgelassenen Polichinell gegenüber, keine üble Wirkung auf das Publicum hervorbringen müßte, wofern ein solcher Witz nicht auch dort durch das ihm beigesellte widerwärtige Bild Gefahr liefe, sich einem allgemeinen Mißfallen auszusetzen." 378 Es widerstrebt nicht nur der klassizistischen Norm, Erhabenes mit Lächerlichem, Grausiges mit Zartem, Edles mit Niedrigem, Sinn mit Unsinn zusammenzuzwingen. Vielmehr ist es für Goethe ausgemacht, daß eine solche Form von Gewaltsamkeit nur einer in hohem Maß gefährdeten Persönlichkeit entspringen könne. Das äußert er, nach der Uberlieferung Boisserees, ausdrücklich im Jahre 1811 angesichts des Gemäldes „Die Tageszeiten" von Philipp Otto Runge. Sein Urteil entzündet sich, wie bei der „Penthesilea", an der ästhetischen Fallhöhe des Werkes: „In dem Musiksaal hingen Runges Arabesken, oder symbolisch allegorische Darstellungen von Morgen, Mittag, Abend und Nacht. Goethe merkte, daß ich sie aufmerksam betrachtete, griff mich in den Arm und sagte: Was, kennen Sie das noch nicht? Da sehen Sie einmal, was das für Zeug ist! Zum Rasendwerden, schön und toll zugleich. Ich antwortete: Ja, ganz wie die Beethovensche Musik (...), wie unsere ganze Zeit. Freilich, sagte er, das will immer alles umfassen und verliert sich darüber immer ins Elementarische, doch noch mit unendlichen Schönheiten im einzelnen. Da sehen

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Sie nur, was für Teufelszeug, und hier wieder, was da der Kerl für Anmut und Herrlichkeit hervorgebracht, aber der arme Teufel hat's auch nicht ausgehalten, er ist schon hin, es ist nicht anders möglich, wer so auf der Kippe steht, muß sterben oder verrückt werden, da ist keine G n a d e . " 3 ' 9 Auch hier zeigt sich noch einmal, daß Goethe keineswegs unempfindlich ist fur künstlerische Talente und Leistungen, die sich jenseits klassizistischer Maßstäbe bewegen. Seine Ablehnung ist allein geleitet durch die Rücksicht auf die menschlich destruktiven Tendenzen, die er in diesen .romantischen' Erzeugnissen wahrzunehmen meint. Dabei ist Goethe sehr wohl bewußt, daß es, wie wir heute sagen würden, sozialgeschichtliche und sozialpsychologische Faktoren sind, die die Künstler auf ihre gefährlichen Wege drängen. Was Kleist anbelangt, so mutmaßt er, wie wir gesehen haben, daß dessen „Ausbildung, wie es jetzt bei Vielen der Fall ist, durch die Zeit gestört wurde" 3 8 0 ; bereits einige Jahre zuvor hatte er Jean Paul als das „personifizierte Alpdrücken der Z e i t " 3 8 1 bezeichnet. Später, im Jahre 1824 und noch einmal 1 8 3 0 , wird er gegenüber Eckermann das expandierende, klatschsüchtige „Zeitungswesen", die damit verbundene „Halbkultur" 3 8 2 und den sensationslüsternen „Geschmack des Tages" 3 8 3 für die frühzeitige Verderbnis junger Talente verantwortlich machen. Während jedoch bis heute die zutreffende, doch in ihrer Abstraktheit ebenso flache wie aporetische Einsicht, jeder sei das Kind seiner Zeit und nur so krank, wie die Gesellschaft ihn mache, dazu herhalten muß, „problematische Naturen" (wie etwa Kleist 3 8 4 ) pauschal ins Recht zu setzen, mag es Goethe bei einem solchen fatalistischen Schluß und der entsprechenden Larmoyanz nicht bewenden lassen. Da es zu seiner Grundüberzeugung gehört, daß das Individuum bei aller Abhängigkeit von der Macht der Verhältnisse Spielraum genug besitze, sich als Subjekt zu entscheiden und zu bewähren, gilt es ihm auch als unverrückbares moralisches Postulat, daß jeder nach Kräften danach strebe, durch die innere und äußere Wirrnis auf den Weg der Vernunft zu gelangen: einer Vernunft, die eingedenk ihrer eigenen bescheidenen Reichweite und angesichts der üblen äußeren Realität dennoch nicht in Selbstmitleid und Selbstquälerei verfällt. Es ist darum zunächst eine moralische Kritik, die sich erst im weiteren Verlauf mit seinen ästhetischen Fundamentalien verbindet, wenn Goethe in dem berühmten Diktum von 1827 die .romantische' Poesie als eine „Lazarettpoesie" qualifiziert: „Die Poeten schreiben alle, als wären sie krank und die ganze Welt ein Lazarett. Alle sprechen sie von dem Leiden und dem Jammer der Erde und von den Freuden des Jenseit, und unzufrieden, wie schon alle sind, hetzt einer den andern in noch größere Unzufriedenheit hinein. Das ist ein wahrer Mißbrauch der Poesie, die uns doch eigentlich gegeben ist, um die kleinen Zwiste des Lebens auszugleichen und den Menschen mit der Welt und seinem Zustand

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zufrieden zu machen. Aber die jetzige Generation fürchtet sich vor aller echten Kraft, und nur bei der Schwäche ist es ihr gemütlich und poetisch zu Sinne. Ich habe ein gutes Wort gefunden (...), um diese Herren zu ärgern. Ich will ihre Poesie die Lazarett-Poesie nennen; dagegen die echt Tyrtäische diejenige, die nicht bloß Schlachtlieder singt, sondern auch den Menschen mit Mut ausrüstet, die Kämpfe des Lebens zu bestehen." 385 Über die ,quietistische' Haltung Goethes, die in dieser Bemerkung erneut zum Ausdruck kommt, über ihren Zusammenhang mit seiner eher pessimistischen Geschichtsauffassung und über seine folgerichtige Bestimmung der Poesie als Palliativum wurde zu Beginn dieses Kapitels gehandelt. Dabei wurde aber auch darauf gewiesen, daß — jenseits der weltanschaulichen Perspektive — Goethes .euphemistische' Poetologie mit dem sensualistischen Programm Heines übereinkommt, jenes Dichters also, dessen sozialkritische und politisch streitbare Poesien einen Höhepunkt der operativen Gattung im 19. Jahrhundert erreichen. Und so überrascht es nur im ersten Augenblick, daß Heines Spott über die Leidseligkeit romantischer Dichtung bis in die Metaphorik hinein mit Goethes Wort von der „Lazarettpoesie" übereinstimmt. Mehr noch: nicht Goethe kann eigentlich das Recht für sich beanspruchen, diesen Terminus als erster gefunden zu haben. Vielmehr ist das eine frühe und selbständige Leistung Heines. In einem erst 1978 veröffentlichten Brief Heines an den ehemaligen Kommilitonen August Meyer, verfaßt am 23. Februar 1824 in Göttingen — also drei Jahre vor Goethes Gespräch mit Eckermann —, heißt es: „Lebe froh und heiter, wie es Deinem Verdienst und Deiner Natur gemäß ist. Wirf die Fratzenbilder weg, woran Du, wie ich mit Leidwesen bemerkte, Gefallen findest. Das Reine, Heitere, Idealische, Lebenslustige paßt weit mehr für Dich. Die Natur hat Dir den Ariost, den Shakspear, den Goldsmid, den Hölty u. a. zu Freunden bestimmt, nicht den Hoffman mit seinem Gemüthshzareth oder den Byron mit seinem Lebenskatzenjammer. Und bedenke, es ist Heine der so spricht, und mit jenen Worten auch sich selbst den Stab gebrochen. (...) Ich gehe oft nach der Bibliothek um mich am Anblick der m. Venus zu erfrischen. O diese edlen, idealischen Formen predigen mir das Griechentum und nächstens bin ich bekehrt und Adieu Romantik." 386 Als Rat an den nichts weniger als .romantisch' gestimmten Meyer ausstaffiert, ist das Ganze in Wirklichkeit ein Selbsterziehungsprogramm des jungen Heine. 387 Goethe hätte daran seine Freude gehabt. Bemerkenswert ist weiterhin, daß Goethe wie Heine die Schöpfungen E. T. A. Hoffmanns als repräsentativ für die .krankhafte' und lebensfeindliche literarische Zeitströmung aufgefaßt haben. Heines Formulierung vom „Hoffman mit seinem Gemüthslazareth" ist pars pro toto, sie

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weist auf einen Typus und setzt seine zeitgenössische Geläufigkeit voraus; Goethe wiederum hat eben um die Zeit, als er das Wort von der „Lazarettpoesie" prägte, am Beispiel der Person und des Werks Hoffmanns noch einmal die Bestimmungen und die Bedenken zusammengefaßt, die er mit jenem Spott- und Scheltwort zu treffen trachtete — ohne allerdings in diesem Zusammenhang den Begriff ausdrücklich zu verwenden. In einer aus dem Nachlaß veröffentlichten Besprechung eines Aufsatzes von Walter Scott aus dem Jahre 1827, der am Beispiel Hoffmanns „On the Supernatural in Fictitious Compositions" handelte, Schloß sich Goethe, lange Passagen der Abhandlung zitierend, der heftigen Kritik des Verfassers zur Gänze an. 388 Scott hatte Hoffmanns „Phantasiestücke" nicht als „Gesichte eines poetischen Geistes" gelten lassen wollen, sondern ihren Ursprung auf „fieberhafte Träume" und auf „Einbildungen" zurückgeführt, „die ein unmäßiger Gebrauch des Opiums hervorbringt und welche mehr den Beistand des Arztes als des Kritikers fordern möchten." Seine Werke „dürften nicht als Muster der Nachahmung aufzustellen sein, vielmehr als Warnungstafeln, die uns anschaulich machen, wie die fruchtbarste Einbildungskraft erschöpft werden kann durch einen leichtsinnigen Verschwendungstrieb des Besitzers." 389 Goethe kommentierte: „Wir können den reichen Inhalt dieses Artikels unsern Lesern nicht genugsam empfehlen: denn welcher treue, für Nationalbildung besorgte Teilnehmer hat nicht mit Trauer gesehen, daß die krankhaften Werke jenes leidenden Mannes lange Jahre in Deutschland wirksam gewesen und solche Verirrungen als bedeutend fördernde Neuigkeiten gesunden Gemütern eingeimpft worden." 390 Vom besonderen Falle Hoffmann ins Grundsätzliche ausgreifend, verwahrte sich Goethe zwar dagegen, poetische Hervorbringungen einer dogmatischen Zensur zu unterwerfen: „keine Art der Produktion" könne und solle „aus dem Reiche der Literatur" ausgeschlossen werden. Er selbst habe im übrigen mit der „Neuen Melusine" zu beweisen getrachtet, daß „eine gewisse Anmut aus der Verbindung des Unmöglichen mit dem Gemeinen, des Unerhörten mit dem Gewöhnlichen entspringen könne". Doch habe er es schließlich bei diesem einen Versuch belassen, „weil das Unternehmen schwieriger ist, als man denkt." Allermeist jedoch trete „das immerfort sich wiederholende Unheil" ein, daß einerseits ein Verfasser, der sich durch „irgend eine Art von wunderlicher Komposition" hervorgetan habe, von dem „einmal betretenen Pfade" nicht mehr weichen wolle, und daß andererseits und zum Schlimmsten „gar viele mit mehr oder weniger Talent begabte Zeitgenossen" auf diesem Wege mitgerissen würden. Wiederum ist es Goethe nicht um die Alleinherrschaft klassizistischer Ästhetik zu tun, sondern, im Blick auf den poetischen Produzenten wie auf das Publikum, um die Meidung intellektuell verödender Einseitigkeit

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und psychischer Verirrung. Und so überrascht es kaum, daß er abschliessend, als Elexier gegen die Anfechtungen romantischer Geisterseherei, ein „Kindermärchen" empfiehlt — das Grimm'sche Märchen „Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen", „(...) wo der naturfeste Bauernjunge, der immer von Schaudern (Griesein) hört und, höchst neugierig, was denn das eigentlich für eine Empfindung sei, die gespensterhaftesten Abenteuer mit realistischer Gemüthsruhe besteht und durch eine Reihe der fürchterlichsten Zustände hindurch, bei welchen dem Leser wirklich schaudert, seinen reinen Prosaismus bewährt, einen Todten- und Teufelsspuk als ganz etwas Gemeines behandelt und im höchsten Glück sich nicht beruhigen kann, daß ihm eine solche Erfahrung nicht hat werden wollen, bis er endlich durch einen absurden Weiberspaß belehrt wird, was denn eigentlich Schaudern sei. Der Gegensatz von Äußerem und Innerem, von Einbildungskraft und Derbheit, von unverwüstlichem gesundem Sinn gegen alle Ansprüche der Phantasie kann nicht besser dargestellt werden. Ja daß er zuletzt nur auf eine ganz reale Weise zu beruhigen ist, finden wir meisterhaft erfunden, und so platt die Auflösung scheinen mag, getrauen wir uns doch, sie als höchst geistreich anzurühmen." 391 In ähnlicher Weise versteht Goethe das „Märchen von Turandot" 3 9 2 und die „fröhlich bedeutsame Lebensbetrachtung" der Novellen Boccaccios 393 als Remedia gegen „den Kleistischen Unfug und alles verwandte Unheil." 394 Und noch einmal kehren die Hauptargumente seiner Ablehnung der „Lazarettpoesie" in den Jahren 1830/31 wieder, als er auf die jungen Autoren der „allerneueste(n) ultra-romantische(n) Richtung" 395 in Frankreich stößt. Einerseits sieht er sich durch die Einblicke in die Werke von „St. Beuve, Ballanche, Victor Hugo, Balzac, Alfred de Vigny, Jules Janin und Anderen" erfreulich angeregt: „Die jungen Dichter beschäftigen mich nun schon die ganze Woche und gewähren mir durch die frischen Eindrücke, die ich von ihnen empfange, ein neues Leben." 396 Andererseits fühlt er sich durch manche Erscheinungen dieser Richtung alsbald an die zurückliegenden Tendenzen der deutschen Romantik erinnert und in einem noch weitaus höherem Maße als einst abgestoßen: „Das Romantische ist schon in seinen Abgrund verlaufen; das Gräßlichste der neuern Productionen ist kaum noch gesunkener zu denken." 397 Das notiert er in den aus dem Nachlaß veröffentlichten sogenannten „Maximen und Reflexionen über Literatur und Ethik", und zwar in unmittelbarer Nähe seines berühmten Diktums: „Klassisch ist das Gesunde, romantisch das Kranke." 398 In einem Brief an den Freund Zelter beklagt er sich schließlich, er sei durch „Strudeltagsgelese" in die „gränzenlosen Schrecknisse der neusten französischen Romanliteratur (...) hineingeschleppt worden", in diese „Literatur der Verzweiflung", die das „Häß-

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liehe, das Abscheuliche, das Grausame, das Nichtswürdige" zu ihrem „satanische(n) Geschäft" mache. 3 9 9 Gegenüber Eckermann setzt Goethe zu einem beachtlichen literatursoziologischen Erklärungsversuch darüber an, weswegen selbst „entschiedene Talente" und „geistreiche vorzügliche Männer" sich genötigt sähen, in derlei „Abominationen" 4 0 0 zu verfallen: „Die Darstellung edler Gesinnungen und Thaten fängt man an für langweilig zu erklären, und man versucht sich in Behandlung von allerlei Verruchtheiten. An die Stelle des schönen Inhalts griechischer Mythologie treten Teufel, Hexen und Vampire, und die erhabenen Helden der Vorzeit müssen Gaunern und Galeerensklaven Platz machen. Dergleichen ist pikant! das wirkt! — Nachdem aber das Publikum diese stark gepfefferte Speise einmal gekostet und sich daran gewöhnt hat, wird es nur immer nach Mehrerem und Stärkerem begierig. Ein junges Talent, das wirken und anerkannt sein will, und nicht groß genug ist, auf eigenem Wege zu gehen, muß sich dem Geschmack des Tages bequemen, j a es muß seine Vorgänger im Schreck- und Schauerlichen noch zu überbieten suchen. In diesem Jagen nach äußeren Effektmitteln aber wird jedes tiefere Studium und jedes stufenweise gründliche Entwickeln des Talentes und Menschen von Innen heraus ganz außer Acht gelassen. Das ist aber der größte Schaden, der dem Talent begegnen kann, wiewohl die Literatur im Allgemeinen bei dieser augenblicklichen Richtung gewinnen wird." 4 0 1 Einmal mehr ist es, wie wir sehen, nicht der abstrakte Fortschritt der Literatur und der Ästhetik, der Goethe am Herzen liegt. Im Gegenteil: es sind gerade die dabei entstehenden menschlichen, vielmehr: unmenschlichen Kosten, die er bedenkt und die zu rechtfertigen er sich weigert. Erneut ist unverkennbar, daß Goethe der Kunst keine rücksichtslose Autonomie und Selbstherrschaft zubilligt, sondern sie in dienender Funktion festgehalten wissen will, als ein Medium schöner und allseitiger Menschenbildung. In dem Augenblick, in dem Kunstproduktion diese instrumentale Bestimmung zu ,transzendieren' droht, in dem sie das unschöne Negative distanzlos zu ihrem Gegenstand erhebt und den Künstler in dessen Sog reißt, ihn also seiner Würde als selbstbestimmtes Subjekt entkleidet, ist für Goethe die Grenze dessen erreicht, was im Feld des Ästhetischen geduldet werden kann. In der Weigerung, die Kunst als eine souveräne Instanz höchsten Ranges zu akzeptieren und den Künstler zum bloßen Vollzugsorgan dessen, was ihn oder wozu ihn der Zeitgeist treibt, herabzustufen, erweist sich Goethe als radikaler Aufklärer: denn jene andere Auffassung, die die Kunst für das Höchste hält und den Künstler fur ihren rückhaltlos ergebenen Diener, eine solche Auffassung hat sich im Grunde nicht vom alten Aberglauben der Gottesknechtschaft gelöst, sondern ist nur zu einem neuen Götzen übergelaufen. Damit aber ist sie

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hinter das aufklärerische Postulat vom Recht und von der Pflicht zu freier Selbstbestimmung zurückgefallen.

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χ ,Für junge Dichter'

An dieser Stelle — und damit nähere ich mich zugleich dem Resümee meiner Untersuchung — ist daran zu erinnern, daß manch einer der jugendlichen Verehrer Goethes, die zu Beginn der Darstellung zu Wort gekommen sind, vom Meister als einem „Tasso" träumt, bis er ihn in Wirklichkeit als einen „Antonio" erblickt. 402 In der phantastischen Erwartung der Jungen' drückt sich aus, was sie sich unter einem .wahren Dichter' vorstellen: ein Geschöpf, das sein Leben auf Gedeih und Verderb der Poesie unterworfen hat: „Wenn ich nicht sinnen oder dichten soll, So ist das Leben mir kein Leben mehr. Verbiete du dem Seidenwurm zu spinnen, Wenn er sich schon dem Tode näher spinnt. Das köstliche Geweb' entwickelt er Aus seinem Innersten, und läßt nicht ab, Bis er in seinen Sarg sich eingeschlossen. O geb' ein guter Gott uns auch dereinst Das Schicksal des beneidenswerthen Wurms Im neuen Sonnenthal die Flügel rasch Und freudig zu entfalten!" 40 * Und es scheint: sie, die diesen verwegen mit Tod und Verklärung spielenden Charakter 404 als Identifikationsfigur betrachten, sind nicht zur Wahrnehmung befähigt, daß Goethe die Haltung eines solchen ,absoluten' Dichters als fatal erachtet und daß es eine mahnende Maxime Goethes ist, die durch den Mund des Fürsten tönt: „Dich führet alles, was du sinnst und treibst, Tief in dich selbst. Es liegt um uns herum gar mancher Abgrund, den das Schicksal grub; Doch hier in unserm Herzen ist der tieffste, Und reizend ist es sich hinab zu stürzen. Ich bitte dich, entreiße dich dir selbst! Der Mensch gewinnt, was der Poet verliert." 405 Goethe hatte die Gestalt des „Tasso" und die Widerrede gegen dessen gefährliche Charakterneigung zu Beginn seiner klassizistischen' Wendung aus kritischer selbstbiographischer Reflexion und aus Erfahrungen mit

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mancherlei Dichtergenossen seiner Jugendzeit verdichtet. 406 Zu jenem Zeitpunkt war nicht absehbar, daß .absolute', in ihrer Grundstruktur mystisch-religiös geprägte Dichterexistenzen, wie sie der „Tasso" poetisch simulierte, eine bemerkenswerte, ja geradezu epidemische sozialgeschichtliche Karriere machen würden. Nach mehreren Jahrzehnten, in deren Verlauf stets erneut „energumenische" junge Männer auftraten, die den irdischen Ort der Poesie in verschiedene Richtungen zu „transzendieren" trachteten und dabei allzu oft existenziell scheiterten, ist Goethes schroffe Absage an diesen Typus umso begreiflicher. Extreme Kunstleistungen, die vielleicht aus solchem absoluten Einsatz entspringen, sind ihren Preis — den der psychischen Balance oder gar des Lebens — nicht wert: das ist das humane Anliegen Goethes, dem nur Unverstand oder pfäffische Absicht widersprechen mögen. Zur seelischen und geistigen Gefährdung derjenigen, die sich der Poesie als ,professio' ergeben, tritt die Aussichtslosigkeit, die ,professio' ihrer praktischen Seite nach, als Beruf, zu realisieren und als Dichter zu sozialem Ansehen, zu Amt und Brot zu gelangen. Auch dies ist mit der Gestalt des „Tasso" literaturgeschichtlich vorgebildet, ehe es als realgeschichtliches Problem erfahren wird. Bekanntlich macht „Tasso" eben nicht nur Prätensionen auf den ideellen Dichterlorbeer, wie es nach seinem schön vorgetragenen Gleichnis vom Seidenwurm erscheinen mag, tatsächlich vielmehr erwartet er aufgrund seiner opfervollen Leistung ein durchaus handfestes Äquivalent, den Verdienst fiir das Verdienst. In seinem Fall ist es die Verleihung des ,Dichteradels', die ihn seine Augen zur Prinzessin aufschlagen läßt. Es sei ins Gedächtnis gerufen, daß sich auch der arme Franz von Sonnenberg von seinem monströsen Epos „Donatoa" versprach, es werde seine Werbung um Louise Herder begünstigen. Er erhielt freilich in der Wirklichkeit die gleiche Abfuhr wie lange vor ihm „Tasso" im poetischen Spiel. Goethe war durch seine Erfahrungen am Weimarer Hof zu der realistischen Einsicht gelangt, daß es ein Trugbild sei, allein schon durch die Weihe des Poeten gesellschaftliche Anerkennung, immaterielle und materielle Ehrung zu erwarten. Vielen Dichtern der jüngeren Generation stand diese bittere Einsicht noch bevor, und zwar in weitaus herberer Weise, da sie anders als Goethe wirklich existenziell davon betroffen waren. Wir erinnern uns, daß Friedrich Schlegel anderthalb Jahrzehnte lang erfolglos versuchte, als Berufsschriftsteller Fuß zu fassen, um sich schließlich wieder auf eine Rolle als Informator zurückgeworfen zu sehen; wir erinnern uns weiter, daß Hölderlin nach dem Scheitern seiner literarischen Projekte Deutschland den Rücken kehrte und als Hauslehrer nach Bordeaux ging — nicht ohne gegenüber dem Freund Böhlendorff bewegte Klage zu führen: „(...) es hat mich bittre Thränen gekostet, da ich mich entschloß, mein Vaterland noch jezt zu verlassen, vieleicht auf immer. Denn

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was hab' ich lieberes auf der Welt? Aber sie können mich nicht brauchen." 407 Jener Kasimir Ulrich Böhlendorff wird übrigens wenige Jahre später in Bremen und Berlin gesellschaftlich und als Dichter scheitern und das noch folgende Vierteljahrhundert seines Lebens als Vagabund im Kurländischen umherstreifen. 408 Wiederum also konnte Goethe erleben, wie ein wesentliches Merkmal des „Tasso" — die realitätswidrige Phantasmagorie, daß radikale poetische Autonomie nicht allein gesellschaftlicher Anerkennung nicht widerspreche, sondern sie im Gegenteil bewirke — zur realgeschichtlichen Inkarnation kam. Im Rückblick bezog Goethe dieses Phänomen vor allem auf die Bewegung der Romantik. Im privaten Gespräch ironisierte er ihre überspannten, jedenfalls aber wirklichkeitsblinden Ansprüche folgendermaßen: „Wer sich befähigt und berufen fühlt, der möge das Ungewöhnliche erfinden und ungewöhnlich färben; es wird manchen herausheben aus seinem gedrückten Zustande. Nur verbinde sich nicht die Prä tension mit dieser Willkür! Die freie Kunst darf nie an andere Prätensionen machen. Darin lag das Fehlerhafte der sogenannten Romantiker, besonders Tiecks, der für romantische Possen eine Anstellung bei der Nation haben möchte. Wir sind der Nation gegenüber alle Dilettanten, die kein Entreegeld verlangen dürfen. Dies Unromantische der Romantik hat sie sehr zurückgebracht." 409 Tieck, der aus ganz kleinen Verhältnissen stammte, war nur in den Jahren finanziell unabhängig, während derer er für den Literaturmanager und Großverleger Nicolai als Übersetzer, Bearbeiter und Vielschreiber arbeitete. Deshalb ist es nicht verwunderlich, daß er, der notgedrungen mangels anderer Ausbildung als Berufsschriftsteller zu existieren gezwungen war, unter dem „öffentliche(n) Undank für seine Kunst" 410 litt und daß zugleich sein Anspruch auf Anerkennung ins Große wuchs. Immerhin erwies er sich als Person nicht weniger geschmeidig denn als Dichter und so gelang es ihm, einen Zeitraum von zwanzig Jahren, zwar nicht als Pensionär der Nation, so doch als Geldnehmer adeliger Mäzene, bessergestellter Freunde und Verwandten, seiner Schwester, schließlich seiner adeligen Geliebten, in .freier' Weise zu überleben. 411 Derlei parasitäres Talent, das in der Dichtergeneration Tiecks allenfalls noch übertroffen wurde durch den erfolgreichen Hochstapler und literaturgeschichtlich nicht unbedeutenden Schauerromancier Carl Grosse (alias Marquis Grosse alias Edouard Romeo Graf von Vargas- Bedemar 412 ), eine solche wendige und charakterlich bedenkliche Glücksritterei war freilich die Ausnahme, zumal der ,Adel des Charakters' bei den emphatischen jungen Dichtern gewöhnlich als Konstitutivum ihres Selbstbildes galt. Sowohl mit Tieck als auch mit dem falschen Grafen Vargas hat Goethe übrigens

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späterhin einen Umgang in Wertschätzung gepflegt 413 — beide hatten sich in seinen Augen, so darf man annehmen, immerhin als lebenstüchtige Persönlichkeiten erwiesen. Das dürfte auch für Goethes spätere freundschaftliche Beziehung zu jenem „Studenten Namens Falk" ausschlaggebend gewesen sein, dessen literarisches Debut um ein Haar, wie zu Beginn berichtet 4 1 4 , der sarkastischen Abwehr durch die Weimarer Geistesgrößen zum Opfer gefallen wäre. Nachdem sich Johannes Falk, von Wieland doch noch protegiert, in Weimar niedergelassen hatte, stand er, zunächst als scharfer adelskritischer Satiriker, später als Frondeur gegen Napoleon, über viele Jahre hinweg mit Goethe in einem gespannten Verhältnis. Dieser beantragte im Jahre 1803 sogar seine Ausweisung aus dem Großherzogtum; 1806 erwirkte er ein Schreibverbot für den Napoleon-Hasser. 415 Erst als sich Falk während der französischen Besetzung Weimars durch Mut und praktische Umsicht bewährte, als er seine literarische Tätigkeit einstellte und schließlich, im Jahre 1813, ein Erziehungsheim für verlassene und verwahrloste Jugendliche gründete, gewann er das Vertrauen und den wohlwollenden Umgang Goethes: „Darum soll Falk gelobt werden, der sich dieser Anstalt mit ganzer Seele widmet und seine Schriftstellerei ganz aufgegeben hat." 4 1 6 Diesseits solcher Ausnahmeerscheinungen blickt Goethe auf die Vielzahl derjenigen, die während seiner Lebenszeit gleich einem vorübergehenden Meteor am Horizont der Literatur aufstiegen und fielen — und erst recht wohl auf jene, die zwar die Absicht hatten, poetische Sterne zu werden, doch nicht einmal über den Rand des Horizonts hinausgelangten. In Rücksicht auf diese traurigen Erfahrungen erweisen sich Goethes späteste Anmerkungen zum Thema ,Kunst und Leben' als alles andere denn eine altersbedingte Verknöcherung klassizistischer Theorie. Ich spreche von dem Text, der in der Forschung, Verblasen und zutreffend zugleich, als sein „ästhetisches Testament" bezeichnet worden ist. 417 Er entstand am 19. Januar 1832 und wurde von den .Weimarer Kunstfreunden' unter der Überschrift „Für junge Dichter" posthum veröffentlicht. Ursprünglich war er einem freundlich aufmunternden Antwortschreiben an den einundzwanzigjährigen Bauernsohn und Schelling-Schüler Melchior Meyr beigegeben. Dieser hatte — der Vorgang ist vertraut — dem „vollendeten Geist" des Meisters seine Erstlingspoesien zugesandt, seine Biographie und seinen Dichterwunsch ausgebreitet und um Urteil und Rat gebeten. 418 Aus Goethes Feder stammte darum die originale Überschrift „Wohlgemeinte Erwiderung". Die Bezeichung als „ästhetisches Testament" ist darum unfüglich, weil sie suggeriert, Goethe habe im Bewußtsein seines wenige Monate später eintretenden Todes eilends noch ein wichtiges Vermächtnis formuliert. Ungeachtet dieses mythischen Konstrukts trifft allerdings zu, daß Goethe hier noch einmal zusammenfassend seine Erfahrungen mit der Poesie und mit denjenigen zu Papier bringt, die, am Beginn ihres Lebens stehend, sie zu ihrem Metier machen wollen. Es handelt sich, wie

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Goethe selbst schreibt, um eine „Herzenssergießung", gleichermaßen aber auch um eine pädagogische ,summa'. Ich gebe, da es sich um einen assoziativ und metaphorisch sehr kompakten Text handelt, eine interpretierende Paraphrase und zitiere die Kernstellen. Zu Beginn verweist Goethe auf die Vielzahl von Einsendungen junger Männer, die darum bäten, ihre Gedichte, vor allem aber ihre grundsätzliche Befähigung zum „eigentlichen dichterischen Beruf" zu beurteilen. Diesem Zutrauen im einzelnen zu genügen, sei schon im mündlichen Austausch ungemein schwierig, schriftlich sei es oft unmöglich. Immerhin zeige sich jedoch in den Zuschriften ein Maß an Gemeinsamkeiten, das einige allgemeine Anmerkungen zulasse. Die deutsche Sprache habe „einen so hohen Grad der Ausbildung" erreicht, daß sich jeder literarisch einigermaßen Gebildete nicht nur in der Lage, sondern geradezu aufgefordert sähe, „seine Gedanken und Urtheile, sein Erkennen und Fühlen mit einer gewissen Leichtigkeit auszusprechen". Daher komme es, daß in „einzelnen Gedichten junger Männer" einerseits das Subjektive („alles, was im Innern vorgeht, alles, was sich auf die Person selbst bezieht"), andererseits das „Allgemeine" („das höchste Wesen wie das Vaterland, die gränzenlose Natur so wie ihre einzelnen unschätzbaren Erscheinungen"), eine überraschend lobenswürdige Gestaltung fänden. In diesem hohen Entwicklungsstand der Poesie liege aber auch das „Bedenkliche": „(...) denn viele, die auf demselben Wege gehn, werden sich zusammen gesellen und eine freudige Wanderung zusammen antreten, ohne sich zu prüfen, ob nicht ihr Ziel allzu fern im Blauen liege." Ein „wohlwollender Beobachter" habe jedoch zu bemerken, daß der von vielen ebenso wohlgemut wie unbedacht und in naivem Vertrauen auf Sie Gemeinschaft der Gleichgesinnten eingeschlagene Weg alsbald in die poetische Verödung und menschliche Vereinsamung führe, „(...) daß ein inneres jugendliches Behagen auf einmal abnimmt, Trauer über verschwundene Freuden, Schmachten nach dem Verlornen, Sehnsucht nach dem Ungekannten, Unerreichbaren, Mißmuth, Invectiven gegen Hindernisse jeder Art, Kampf gegen Mißgunst, Neid und Verfolgung die klare Quelle trübt, und die heitere Gesellschaft vereinzelt und zerstreut (sich) in misanthropische Eremiten." 419 Für den lebenserfahrenen Goethe ist es ausgemacht, daß im Prozeß der Alterung, gleich einem Naturgesetz, die jugendlichen Illusionen über die eigenen Fähigkeiten und über die Gutmütigkeit der Menschen und der Welt enttäuscht werden. War, wie zuvor vermerkt, die Muse der jungen Talente eine subjektive, die in jenen realitätsfernen Träumen des unerfahrenen Ich ihr Fundament hatte, so muß, ebenso natürlich, diese Muse

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unter dem unvermeidlichen Anprall der Lebenswirklichkeit ihre Kraft einbüßen: „Wenn wir bei'm Eintritt in das thätige und kräftige, mitunter unerfreuliche Leben, wo wir uns alle, wie wir sind, als abhängig von einem großen Ganzen (also: der objektiven Realität, J.W.) empfinden müssen, alle früheren Träume, Wünsche, Hoffnungen und die Behaglichkeiten früherer Mährchen zurückfordern, da entfernt sich die Muse (...)·" Nur wer es verwinde, daß das Leben nicht subjektiven poetischen Blütenträumen folge, wer es also aufgebe, die Poesie als Leitstern seiner Existenz zu betrachten und wer sich in die Grenzen der Realität und seiner selbst zu finden wisse, dem kehre die Muse wieder und suche, nun als unverlierbarer Planet, „(...) die Gesellschaft des heiter Entsagenden, sich leicht Wiederherstellenden auf, der jeder Jahrszeit etwas abzugewinnen weiß, der Eisbahn wie dem Rosengarten die gehörige Zeit gönnt, seine eignen Leiden beschwichtigt und um sich her recht emsig forscht, wo er irgendein Leiden zu lindern, Freude zu fördern Gelegenheit findet." Goethe verkennt nicht, wie schwierig es sei, „dem Talente jeder Art und jeden Grades" begreiflich zu machen, daß die Poesie einem befriedigenden Lebensgang keine Richte geben, sondern ihn nur schmücken könne. Dennoch — oder gerade darum — schließt er mit dem Mahnwort: „Jüngling, merke dir in Zeiten, Wo sich Geist und Sinn erhöht: Daß die Muse zu begleiten, Doch zu leiten nicht versteht." 420 Im achtzehnten Buch der autobiographischen Konstruktion von „Dichtung und Wahrheit", dessen Überarbeitung zum Zeitpunkt der „Wohlgemeinten Erwiderung" kaum ein halbes Jahr zurücklag, hatte Goethe seine eigene Einsicht in dieses Verhältnis von Kunst und Leben weit über ein halbes Jahrhundert zurückdatiert. Vor Antritt der „Schweizerreise" im Frühsommer 1775 mit Haugwitz und den Stolbergen habe ihn, so erzählt Goethe, Merck „mephistophelisch querblickend" vor diesen „Burschen" gewarnt. Dabei sei ein „merkwürdige(s) Wort" gefallen, das er „mir später wiederholte, das ich mir selbst wiederholte und oft im Leben bedeutend fand" : „Dein Bestreben, sagte er, deine unablenkbare Richtung ist, dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben, die andern suchen das sogenannte Poetische, das Imaginative zu verwirklichen, und das gibt nichts wie dummes Zeug." Es entspricht dem entwicklungsgeschichtlichen Konzept seiner Autobio-

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graphie, daß Goethe die eigene Trennung von dem verkehrten Verhältnis zwischen Poesie und Realität bereits für jenen Zeitpunkt markiert, zu dem dieses Verhältnis historisch erstmals hervortrat: in der Epoche der „Genialität". Wir wissen nicht, ob Mercks Ausspruch in „Wahrheit" seinerzeit überhaupt und so gefallen ist, wie ihn Goethe erinnert. Die Frage nach seiner Authentizität ist freilich auch von sekundärem Rang: „Bedeutend" — und zwar derart bedeutend, daß Goethe das Bonmot in der Rückerinnerung lokalisiert — wird es jedenfalls erst dadurch, daß in den Jahrzehnten bis zur Abfassung von „Dichtung und Wahrheit" ein Heer von „Imaginanten" aufgetreten war, das die Realität mit dem Rüstzeug der Poesie zu bewältigen trachtete. Und in der Rückschau erwies sich in aller Klarheit, womit der Angriff der waghalsigen jungen Dichter auf die Wirklichkeit geendet hatte: zu überblicken war eine wüste ,Schädelstätte der Poesie'. Und da immer neue Opfer herbeizudrängen schienen, galt es, mit Nachdruck zu mahnen oder gar drastisch abzuschrecken. Wenn, wie wir zu Beginn gesehen haben, Goethes trockene Reserve und prosaische Gehaltenheit auf manch einen der emphatischen jungen Poeten wie ein Guß kalten Wassers wirkte, so darf man annehmen, daß dieser Effekt nicht jenseits des Kalküls von Goethe lag — und zwar nicht aus selbstsüchtigem Interesse, sondern in der bewußten Absicht, diese poetischen Gemüter erheblich herabzustimmen und zu ernüchtern. Es wäre dies auch die Konsequenz einer selbstkritischen Überlegung, die sich, geht man von der eingewurzelten Auffassung aus, Goethe habe junge Dichter aus angeborenem Egoismus abgelehnt, überraschend in folgender Weise äußert: „Leichtsinnige leidenschaftliche Begünstigung problematischer Talente war ein Fehler meiner frühern Jahre, den ich niemals ganz ablegen konnte." 4 2 2 Als „problematisch" bezeichnete Goethe solche Charaktere, „die keiner Lage gewachsen sind, in der sie sich befinden, und denen keine genug thut. Daraus entsteht der ungeheure Widerstreit, der das Leben ohne Genuß verzehrt." 423 Beide Reflexionen fallen in den engeren Zeitraum, während dessen Goethe die „Campagne in Frankreich" ausarbeitet, also in die Jahre um 1820. 424 In der „Campagne" selbst tritt ein besonders denkwürdiges Exemplar eines „problematischen" Talentes auf. Auf dem Rückweg von Frankreich, so berichtet Goethe 1822, habe er im November 1792 zu Duisburg einen alten Bekannten, den Professor Plessing, aufgesucht. Mit diesem sei er 1777, also wiederum fünfzehn Jahre zuvor, in ein „sentimental-romanhaftes Verhältniß" getreten. 425 Plessing habe sich damals, wie es in jenen Tagen der Entdeckung des Individuums nicht unüblich gewesen sei, zunächst schriftlich an ihn gewandt, und zwar als ein Leidender, der sich vom Dichter des „Werther" Zuspruch erhoffte. Er, Goethe, habe aus dem Schreiben einen schwierigen Charakter gewittert und sich trotz geweckten Interesses schweigend und abwartend verhalten. Eine weitere Ursache für seine Hemmung sei

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gewesen, daß er sich bereits in Weimar „eine Zahl von jungen Männern (gemeint sein dürften u. a. Lenz und Klinger, J.W.) aufgebürdet (hatte), die, anstatt mit mir auf meinem Wege einer reineren höheren Bildung entgegen zu gehen, auf dem ihrigen verharrend, sich nicht besser befanden, und mich in meinen Fortschritten hinderten." 426 Schließlich aber habe er während seiner Harzreise im Winter 1777 in Wernigerode ein Treffen mit Plessing herbeigeführt, da dem jungen Mann „Achtung" und „Teilnahme" denn doch nicht zu versagen gewesen seien. 427 Allerdings habe er, incognito reisend, seinen Namen nicht preisgegeben; vielmehr sei er Plessing als der Landschaftsmaler Weber aus Gotha gegenübergetreten. Im Gespräch sei ihm „der bedauernswürdige Zustand dieses jungen Mannes immer deutlicher geworden" : „(...) er hatte nämlich von der Außenwelt niemals Kenntniß genommen, dagegen sich durch Leetüre mannichfaltig ausgebildet, alle seine Kraft und Neigung aber nach innen gewendet und sich auf diese Weise, da er in der Tiefe seines Lebens kein productives Talent fand, so gut als zu Grunde gerichtet." 428 Um nun diesem leidvollen Zustand abzuhelfen, habe er sich eines Heilmittels erinnert, das er zuvor schon an sich selbst und an andern mit glücklichem Ausgang erprobt habe: „eine gläubige Wendung gegen die Natur und ihre Mannigfaltigkeit". Seine Rede sei darum folgende gewesen: „(...) man werde sich aus einem schmerzlichen, selbstquälerischen, düstern Seelenzustande nur durch Naturbeschauung und herzliche Theilnahme an der äußern Welt retten und befreien. Schon die allgemeinste Bekanntschaft mit der Natur, gleichviel von welcher Seite, ein thätiges Eingreifen, sei es als Gärtner oder Landbebauer, als Jäger oder Bergmann, ziehe uns von uns selbst ab; die Richtung geistiger Kräfte auf wirkliche, wahrhafte Erscheinungen gebe nach und nach das größte Behagen, Klarheit und Belehrung: wie denn der Künstler, der sich treu an der Natur halte und zugleich sein Inneres auszubilden suche, gewiß am besten fahren werde." 429 Plessing habe diese Äußerung mit Ungeduld und vollendetem Unverständnis aufgenommen, derart, daß er, Goethe, mehr aus Verlegenheit und „ohne sonderliche Hoffnung eines glücklichen Erfolgs", einfach fortgeredet habe. Um ein Beispiel seines eigenen künstlerischen Verhältnisses zur Natur zu geben, habe er mit „malerischer Poesie" die bisherigen Stationen und Impressionen seiner „notgedrungene(n) Winterreise" geschildert. Das sei nicht nur ohne jede positive Resonanz geblieben, vielmehr sei Plessing, als die Sprache auf die „Baumannshöhle" kam, herausgebrochen und habe versichert: „der kurze Weg, den er daran gewendet gereue ihn ganz eigentlich; sie habe keineswegs dem Bilde sich gleich gestellt, das er in seiner Phantasie entworfen." Auf die Frage, wie

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er sich die Höhle denn vorgestellt habe, sei Plessing zu einer Beschreibung geschritten, „wie kaum der kühnste Theatermaler den Vorhof des Plutonischen Reiches darzustellen gewagt hätte." 4 3 0 Solche „krankhafte(n) Symptome" seien nun zwar, so erzählt Goethe weiter, keine besondere Überraschung für ihn gewesen: „denn wie oft hatte ich erfahren müssen, daß der Mensch den Werth einer klaren Wirklichkeit gegen ein trübes Phantom seiner düstern Einbildungskraft von sich ablehnt." Schließlich aber habe ihn Plessing, nach weiteren fruchtlosen „propädeutische(n) Wendungen", so entschieden mit der Versicherung abgewiesen, „es könne und solle ihm nichts in dieser Welt genügen", „daß mein Innerstes sich zuschloß und ich mein Gewissen, durch den beschwerlichen Weg, im Bewußtsein des besten Willens, völlig befreit und mich gegen ihn von jeder weiteren Pflicht entbunden glaubte." 431 Durch seine Abreise sei er einer weiteren unerfreulichen Begegnung aus dem Weg gegangen. Bei einem späteren Besuch Plessings in Weimar habe man sich „friedlich und freundlich" vertragen, auch wenn er, Goethe, des anderen „heftiges Begehren nach leidenschaftlicher Freundschaft und innigster Verbindung" nicht habe erwidern können. Das Treffen im Jahre der „Campagne" sei ebenfalls im „besten Vernehmen" verlaufen. Plessing sei es gelungen, sich im Verlauf der Zeit den „Rang eines geachteten Schriftstellers zu erwerben", freilich mit einem Unmaß an geistiger Anstrengung, wodurch seine physische Gesundheit zerrüttet worden sei. Auch habe „sich das düstere jugendliche Treiben nicht ganz ausgleichen können; noch immer schien er einem Unerreichbaren nachzustreben." 432 Kurt Robert Eissler hat die „Plessing-Episode" an den Beginn seiner monumentalen (wenn nicht monströsen) psychoanalytischen Studie über Goethe gestellt. 433 Das Zusammentreffen von Goethe und Plessing schien ihm besonders dazu geeignet, methodisch und didaktisch in die Fundamentalien des „Unbewußten" bei Goethe einzuführen. 434 Eisslers These lautete, daß Goethes Verhalten gegenüber Plessing durch Ambivalenz gekennzeichnet sei: durch die „angemessene Wahrnehmung des Problems (d. i. der „Introversion" Plessings, J.W.) und sein abgrundtiefes Versagen im Helfen." 435 Goethe habe den jungen Mann als „Versuchstier" seiner physiognomischen „Lieblingstheorien" gebraucht, anstatt „ihm näherzukommen", und damit den Kontakt zerstört, „der für ein helfendes Handeln notwendig gewesen wäre." 436 Als Befund hielt Eissler fest, daß Goethes „direkte und spontane Gefühlsbeziehung zu Plessing (...) gestört" gewesen sei.437 Die Ursache für seine „Gefühlsstörung in der direkten Objektbeziehung" 438 habe in der angstvollen Abwehr der Empfindung gelegen, in Plessing — wie zuvor schon in Lenz — „einem Menschen zu begegnen, der potentiell sein Spiegelbild war." 439 Goethe habe diese .Spiegelbilder' zurückgewiesen, um nicht selbst in den Sog ihrer Pathologien zu geraten. 440 Eisslers Analyse wäre einleuchtend, hätte er sich auf Quellen stützen

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können, die den Vorgang aus zeitlich unmittelbarer Nähe beleuchteten. Die Probleme, die sich daraus ergaben, daß es sich bei der Grundlage seiner Interpretation um ein Memorandum des fast fünfundvierzig Jahre älteren Goethe handelt, waren Eissler durchaus bewußt. Er legte darum Wert auf die Feststellung, daß die .Plessing-Episode' nicht poetisch fingiert worden sei, sondern wirklich statthatte. 441 Strittig blieb freilich immer noch, ob sich Goethe ihrer in .authentischer' Weise erinnerte. Dies schien Eissler damit beweisbar, daß der alte Goethe des Jahres 1822 das Treffen von 1777 vorgeblich unmotiviert in die Schilderung der „Campagne" von 1792 eingesprengt habe: „grundlos, wenn man den Zusammenhang betrachtet." 442 Unter dem Gesichtspunkt „moderne(r) Psychologie" sei dieser Sachverhalt so zu deuten, daß Goethe, von Schuldgefühlen beunruhigt, „in seinen alten Tagen auf das Abenteuer seiner Jugendjahre zurückkam": „Offenbar gab es das Bedürfnis, eine alte Rechnung zu begleichen; das war er seinem Gewissen schuldig. Auch war der Bericht über ein militärisches Unternehmen, bei dem er großem Leid ausgesetzt war, der geeignete Platz, sich selber zu versichern, daß seine frühe ambivalente Handlung wohlgemeint war und zu dem bestmöglichen Ergebnis geführt hatte." 4 4 3 Ein Schuldgefühl, das so stark ist, daß es dem alten Goethe, bei äußerst dürftiger sachlicher Motivierung im Textzusammenhang, die Feder führt, muß allerdings ein fundamentum in re haben. Unter der weiteren grundlegenden psychoanalytischen Prämisse, die von einer „Zeitlosigkeit des Unbewußten" 444 ausgeht, konnte Eissler damit zu dem Schluß kommen, daß der Goethe des Jahres 1822 das psychisch einschneidende Erlebnis des Jahres 1777 tatsächlich in eben der Weise erinnerte, wie es sich zugetragen hatte. Nun fällt es freilich prinzipiell nicht leicht, zu glauben, daß einem Schriftsteller vom Rang Goethes — und überdies nach einem halben Jahrhundert Schreibpraxis — das „Unbewußte" so schlicht das Handwerk zu legen vermag: derart, daß es ganz unstrategisch, spontan und an willkürlicher Stelle aus ihm heraus zu sprechen beginnt. Auch Goethes eigene Äußerung, daß das Genie grundsätzlich unbewußt handle, ist nicht geeignet, einen solchen Zweifel zu widerrufen; sie fiel, wir erinnern uns, in seiner Kritik an Schillers begrifflich-deduktiver Ästhetik-Theorie und trug in diesem Kontext deutlich die Farben der Ironie und Koketterie. 445 Die Überprüfung des historisch-philologischen Bestandes führt denn auch zu einem ganz anderen Bild. Bereits 1903 gab Alfred Dove in seiner Einfuhrung zur Edition der „Campagne" in der Cotta'schen Jubiläumsausgabe über die Entwicklungsgeschichte der ,Plessing-Episode' Auskunft: Bei den Vorarbeiten zur „Campagne" im Frühjahr 1820 habe Goethe das Treffen zunächst nur flüchtig abgetan. Dann sei er im November des Jahres durch einen Interpretationsversuch Karl Friedrich

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Kannegießers „Über Goethes Harzreise im Winter" dazu angeregt worden, selbst einen Kommentar zu dem dunklen Gedicht zu verfassen. 446 In diesem Kommentar beschreibt Goethe ein zentrales Motiv jener Reise und ihrer poetischen Verarbeitung: die Begegnung mit einem „einsamen, menschen- und lebensfeindlichen Jüngling 7 : „Als der Dichter den Werther geschrieben, um sich wenigstens persönlich von der damals herrschenden Empfindsamkeitskrankheit zu befreien, mußte er die große Unbequemlichkeit erleben, daß man ihn gerade diesen Gesinnungen günstig hielt. Er mußte manchen schriftlichen Andrang erdulden, worunter ihm besonders ein junger Mann auffiel, welcher schreibselig-beredt und dabei so ernstlich durchdrungen von Mißbehagen und selbstischer Qual sich zeigte, daß es unmöglich war, nur irgend eine Persönlichkeit zu denken, wozu diese Seel-Enthüllungen passen möchten. (...) Ich wollte den Jüngling sehen, aber unerkannt, und deßhalb hatte ich mich eigentlich auf den Weg begeben." 448 Mit dieser Niederschrift hielt Goethe das Erlebnis freilich noch nicht für erschöpfend gewürdigt und abgetan. Er bemerkte ausdrücklich: „In meinen biographischen Versuchen würde jene Epoche eine bedeutende Stelle einnehmen." 449 Da erwies es sich als glückliche Fügung, daß eben zu diesem Zeitpunkt die Schlußredaktion der „Campagne" anstand. Sie bot, in Anknüpfung an den Besuch in Duisburg im Jahre 1792, den Ort, relativ zwanglos auf das Abenteuer von 1777 zurückzukommen. Nach Goethes Tagebuch wurde die ,Plessing-Episode' am 6., 7. und 15. Februar 1822 ausgeführt 450 ; unter dem 23. Februar schließlich findet sich der Eintrag: „Plessings Angelegenheit durchdacht und revidiert." 451 Eissler ist, wie ich vermute, diese Entwicklungsgeschichte des Textes nicht bekannt gewesen. Sie zeigt, daß es Goethe weder an einem äußeren Anstoß (der Anregung durch Kannegießer) mangelte, um auf die Jugendepisode zurückzukommen, noch daß er in ihrer Ausführung einem spontanen und ungesteuerten Zwang gefolgt ist. Die Beschreibung des Treffens ist vielmehr sehr bewußt konzipiert und montiert. Sie amplifiziert die durchaus düstere Epoche der „Campagne" 452 historisch und psychologisch. Goethe steigt in den Schacht der Jahre, um mit dem Beispiel des trüben, die Welt verneinenden Charakters Plessings auf subjektive Quellen der gewaltigen objektiven Umwälzung Europas zu deuten. Für Goethe ist es nämlich, wie aus einem Urteil an anderer Stelle hervorgeht, unzweifelhaft, daß „ewig negieren, ewig in der Opposition sein" ein „alter Sauerteig" sei, der der „Revolutionszeit" angehöre. 453 In einer Bemerkung über Seumes Gedichte verwendet er die Begriffe „griesgrämisch, mißwollend, sansculottisch" als Synonyma. 454 Gewiß ist diese ,Revolutionstheorie' Goethes kein Ruhmesblatt. Sie verdeckt die historischen Ursachen der Revolution in kurzschlüssig psychologisierender Weise und zeigt uns einmal mehr den konservativen,

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geschichtstheoretisch wenig klarsichtigen (oder auch: desinteressierten) Goethe. Wie aber seine Wahrnehmungsschwäche gegenüber abstrakten, überindividuellen Prozessen nur die Kehrseite einer Denkweise ist, die stets vom einzelnen Subjekt ausgeht und dessen zeitliches Schicksal vor allem anderen besorgt, so bleibt sein Urteil in dieser — der subjektiven — Perspektive beherzigenswert. Im Bilde Plessings erscheint ja nicht nur und zuvörderst eine dogmatische Rollenfigur potentieller Revolution, sondern ein potentiell zu individuellem Glück befähigtes Wesen, das sich sein Leben in bedauernswerter Weise selbst vergällt. Plessing ist eine der Gestalten, aus denen Goethe das gewinnt, was Friedrich von Müller als seine „förmliche Theorie der Unzufriedenheit" bezeichnet. Goethe entwickelt sie gesprächsweise Anfang 1823, kaum ein Jahr nach Fertigstellung der „Campagne": „Was wir in uns nähren, das wächst; dies ist ein ewiges Naturgesetz. Es gibt ein Organ des Mißwollens, der Unzufriedenheit in uns, wie es eines der Opposition, der Zweifelsucht gibt. Je mehr wir ihm Nahrung zuführen, es üben, je mächtiger wird es, bis es sich zuletzt aus einem Organ in ein krankhaftes Geschwüre umwandelt und verderblich um sich frißt, alle guten Säfte aufzehrend und erstickend. Dann gesellt sich Reue, Vorwurf und andere Absurdität daran, wir werden ungerecht gegen andere und gegen uns selbst. Die Freude am fremden und eignen Gelingen und Vollbringen geht verloren; aus Verzweiflung suchen wir zuletzt den Grund alles Übels außer uns, statt es in unserer Verkehrtheit zu finden."455 Und wiederum, wie im Falle Plessings, empfiehlt Goethe als Remedium die vorurteilslose Zuwendung zu den gegebenen Objekten, zur äußeren Realität: „Man nehme doch jeden Menschen, jedes Ereignis in seinem eigentümlichen Sinne, gehe aus sich heraus, um desto freier wieder bei sich einzukehren." 456 Angesichts all dieser Zusammenhänge erweist sich Eisslers psychoanalytische Anstrengung, in der ,Plessing-Episode' nach der späten Wiederkehr latenter Schuldgefühle Goethes zu fahnden, als vollkommen verfehlt. Zwar ist Eisslers Hypothese nicht zu bestreiten (sie ist im übrigen nicht originell457 ), daß Goethe die Gestalt Plessings als negatives Spiegelbild seiner selbst empfunden hat: wie schon mit Lenz trat ihm hier ein Charakter entgegen, der von solchen gefährlichen Neigungen beherrscht wurde, die ihm selbst nur allzu vertraut waren und die zu bannen ihm mit Mühe und Glück gegeben war. Man hat jedoch davon auszugehen, daß die Erinnerung dieser Spiegelbilder in der späten autobiographischen Reflexion keine affektive Qualität mehr besitzt, die selbstbezogen ist. Als ,Historiograph' seines eigenen Lebens bewegt sich Goethe jenseits von Furcht und Mitleid. Die Summe seiner Erfahrungen breitet er in objektivierender Weise und in pädagogischer Absicht aus. Die Erscheinung des unglücklichen Plessing figuriert dabei als Warnbild, vergleichbar der Cha-

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rakterisierung Lenzens in „Dichtung und Wahrheit". 458 Daß es unverzichtbar war, solche Warnbilder aufzustellen, hatte sich im Verlauf der Jahrzehnte seit der Geniezeit erwiesen: eine Vielzahl „problematischer Naturen" gleich dem introvertierten, mißlaunigen und schrankenlos unzufriedenen Plessing war ans Licht gekommen, ja ihr Auftreten ließ, so meine ich, im Rückblick die Gestalt Plessings erst als so .bedeutend' erscheinen, daß sie zu erinnern von zeichenhaftem Wert war. Goethes Schilderung seines Gemütszustandes während der Abfassung der „Campagne" mag auch in dieser Hinsicht auszudeuten sein: „Es ward mir manchmal wirklich schwindlich, indem ich das Einzelne jener Tage und Stunden (des Jahres 1792, J.W.) in der Einbildungskraft wieder hervorrief und dabey die Gespenster, die sich dreyßig Jahre her dazwischen bewegt, nicht wegbannen konnte; sie liefen ein- und das anderemal wie ein böser Einschlag über jenen garstigen Zettel." 459 Wenn Goethe, wie schon notiert, zur gleichen Zeit selbstkritisch festhält, die „leidenschaftliche Begünstigung problematischer Talente" sei einer seiner nie ganz auszurottenden Fehler gewesen, so wirft er sich im übrigen gerade das Gegenteil dessen vor, was ihm Eissler zu unterstellen sucht. Er bezichtigt sich, aus unangemessener Gutmütigkeit und falscher Passion zu wenig Abstand von jenen schwierigen Charakteren gehalten und eben dadurch sich selbst und den Begünstigten mehr Schaden als Nutzen gebracht zu haben. Daraus spricht die Einsicht, daß es sich um Erscheinungen handelte, denen mit einer Einrede des prosaischen Verstandes in keiner Hinsicht beizukommen war, die vielmehr durch die geringste freundliche Zuwendung sich in ihrer Art noch bestärkt fühlten. Daß Goethe dennoch fortfuhr, zu warnen und zu mahnen, daß er in vielen Fällen stets erneut jungen Talenten, auch wenn sie ihm gefährlich und gefährdet erschienen, gutwilligen Zuspruch leistete — das bleibt ein praktischer Widerspruch zu jener schroffen Absage, der sympatisch anmutet. Wenn Goethe dabei nicht die Qualitäten eines modernen Seelenarztes zu entwickeln wußte, sondern auf der Stufe des .common sense' zu raten suchte, so ist ihm dies nur mit anachronistischer Unfüglichkeit vorzuwerfen. Nachzutragen ist an dieser Stelle, daß der Dichterjüngling Melchior Meyr, der den greisen Goethe dazu veranlaßte, seine Warnungen noch einmal zu pointieren, zu denjenigen zählt, die zunächst geneigt waren, der Einsicht des ,Meisters' zu folgen. Meyr stellte seine poetischen Ambitionen zurück und warf sich mit ernsten Absichten aufs Studium der Rechtswissenschaften. Seine Wendung zur Weltklugheit hielt freilich nicht vor; nach wenigen Semestern kehrte er zur Dichtkunst zurück. Hoffnungen auf eine Universitätsprofessur für Literatur und Ästhetik scheiterten, es folgten Jahre einer mühseligen Existenz als freier Schriftsteller unter beständigen materiellen und psychischen Beschwernissen.

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Erst in der Revolutionszeit von 1848 besserte sich seine Lage, als er, der Schelling-Schiiler, auf die Seite der christlich-politischen Reaktion trat und seine Feder in ihren Dienst stellte. 460 Der äußeren Biographie nach erscheint Meyr damit als ein Friedrich Schlegel redivivus; Goethes Warnung, daß ein Leben am Leitseil der Musen ins Ungemach oder in die Obskuranz fiihre, hatte sich einmal mehr als ebenso zutreffend wie vergeblich erwiesen. Diese Vergeblichkeit beruht, wie ich zu zeigen versucht habe, nicht auf einem anachronistischen Fehlverhalten Goethes, sondern sie ist das Signum eines epochalen Irrtums. Im Umbruch des alten Europa seit Ende des 18. Jahrhunderts gelang es der bürgerlichen deutschen Avantgarde nicht, sich auf dem Boden der sozialen und politischen Wirklichkeit zurechtzufinden und dort ihre Ansprüche auf ein gelungenes Leben geltend zu machen. In dieser Krisenlage wuchsen der Kunst und der Poesie alle Erwartungen auf Heil und Heilung zu. Im Kunstschönen erblickten die Jungen' nicht länger nur ein „weltliches Evangelium", das in den Stunden der Muße den Mut erneuere, sich den Härten der Realität wiederum zu stellen. Vielmehr transzendierten sie, mit dem Ziele eigener und allgemeiner Erlösung, die irdisch-rationalen Grenzen der Kunst in philosophische, mystische und seelisch-phantastische Sphären. Das führte zu ästhetisch-innovatorischen Leistungen, die als Grundlagen der Moderne gelten. Zugleich aber gewann die Kunst damit den Charakter eines neuen Mythos, der freilich keineswegs geeignet war, dem Gang der realen Geschichte ein Gewicht entgegenzusetzen. Vielen Jungen' war es nicht gegeben, diesen Sachverhalt einzusehen; die lebenspraktische Vernunft vermochte nicht, der Faszination durch die Kunst Einhalt zu gebieten. Dem alten Goethe, der Zeuge dieser im weiteren Sinne .romantischen' Überspannung der Kunst geworden war, erscheint darum schließlich die Kunst an sich als ein abgründiger Raum gefährlichen Sirenengesangs: Sie ist fur ihn, zumal er so viele ihr Leben auf dieses „Nichts" stellen und zugrunde gehen sah, nicht mehr nur das Reich der heiteren „Farben-Fülle" 461 ; sie dünkt ihm zuletzt eine jener ungeheuern Sphären, die neben der manifesten Lebenswelt existieren und über die gefährliche Macht gebieten, den Menschen fern von irdischer Vernünftigkeit in ihren Kreis zu bannen: „Wie in Rom außer den Römern noch ein Volk von Statuen war, so ist außer dieser realen Welt noch eine Welt des Wahns, viel mächtiger beinahe, in der die meisten leben." 462

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Nachbemerkungen

Unlängst hat der stunt-man der bundesdeutschen Wissenschaft 463 , Odo Marquard, einige Überlegungen formuliert, wie der Ursprung der „ästhetischen Kunst" (der „autonomen, sensiblen Geniekunst") und die gleichzeitige Entstehung der „philosophischen Ästhetik" in der sogenannten „Sattelzeit" nach der Mitte des 18. Jahrhunderts zu erklären und zu beurteilen seien. 464 Seine Kernthesen lauten: „die ästhetische Kunst kompensiert den eschatologischen Weltverlust" und: „die Genese der philosophischen Ästhetik und der ästhetischen Kunst ist Replik auf das mit dem Christentum weltwirksam gewordene Ende der Kunst". 465 Marquard leitet diese Machtsätze zunächst aus der „positiven Kompensationstheorie des Ästhetischen" seines Lehrers Joachim Ritter ab : „In der modernen Welt betreibt der — nicht etwa zu verneinende, sondern zu bejahende — Prozeß ihrer Versachlichung zugleich ihre Entzauberung; diese Entzauberung ist — malum — ein Verlust; aber dieser Verlust wird — bonum-durch-malum — wettgemacht durch die Ausbildung des Organs einer neuen Verzauberung, die zur prekären Entschädigung für den Verlust der alten wird: Das ist das spezifisch moderne Kompensationsorgan der ästhetischen Kunst." 466 Sodann weitet Marquard diese Gedankenfigur ins Große, indem er den historischen Prozeß der „Entzauberung der Welt" bereits mit dem Erscheinen des Christentum anheben läßt: mit dem „biblischen Heilsmonotheismus" komme der „eschatologische Satz vom Ende der Welt: von ihrer Aufhebung durch das Heil und für das Heil" in die Welt und behalte seine Gültigkeit auch für alle säkularisierten „Nachfolgeformationen der biblischen Eschatologie, auch für die sogenannte Geschichtsphilosophie, und auch für den Marxismus." Der „Satz vom Ende der Welt zugunsten des Heils in der Geschichte" bedeute die „negative Definition des Vorhandenen": „(...) alles Gegenwärtige wird definiert nurmehr als das Ensemble der Motive für die Unerträglichkeit des Fortbestands der Welt, für die Wünschbarkeit des Weltendes; als die Kollektion der Gründe fürs Schlußmachen mit der vorhandenen Welt. Die nächsten Dinge werden negiert durch die letzten; und dies — daß die nächsten Dinge dieserart als nicht heilsrelevant, nicht gesellschaftsrelevant ver-

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stoßen werden (...), meine ich mit der Rede vom eschatologischen Weltverlust." 467 Auch die Kunst gerate schließlich in den Sog dieses Denkens und trete in den „Dienst des Eschatons": dazu gehörten auch die Versuche, Kunst als Antizipationsform der Utopie zu definieren: durch Zukunft und „als Form der Verheißung des heilen ganz Anderen." Marquard schlägt vor, die „definitorische Angleichung der Kunst an die Utopie" zu beenden: „Wo durch die eschatologische Jetztweltvermiesung ,das, was ist', offiziell nur noch das Erbärmliche und Empörende und Nichtige sein darf, muß die Kunst — kompensatorisch — geltend machen, was an diesem offiziell Nichtigen nicht das Nichtige ist: die Erfahrung des Einzelnen, die nächste Wirklichkeit, die der Lebenswelt, in der wir hier und jetzt existieren, und das woraus wir existieren: das ist — horribile dictu — das Überkommene. Die Kunst ist nicht Utopie, sie kompensiert vielmehr die utopische Weltblindheit. (...) Diese — durch den eschatologischen Weltverlust nötig gewordene — Kompensationsfunktion der Kunst ist also eine konservierende und insofern konservative Funktion,"468 Marquard räumt ein, daß diese „antiutopische", positiv-kompensatorische Definition der Kunst gegenwärtig „unpopulär" sei. Er will sie freilich nicht als normative Schöpfung seines Eigensinns verstanden wissen, sondern als eine geschichtlich längst vollzogene: Gegen die eschatologischen Endsätze, zu denen der „Satz des Endes der Kunst" gehöre, habe sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts die Kunst als „autonome" bzw. „ästhetische" formiert; die ebenso neue Erscheinung einer „philosophischen Ästhetik" habe „diese autonome Leistung der Kunst philosophisch geltend" gemacht. Der späte Eintritt dieses Vorgangs — nach dem implizit seit dem Christentum vorhandenen eschatologischen Weltverlust — erkläre sich aus der radikalen Säkularisation im Zeitalter der Aufklärung, die mit dem Satz „vom Ende Gottes" und der beginnenden „utopisch revolutionären Geschichtsphilosophie" die Welt erstmals „unmittelbar und real" mit ihrem Ende konfrontiere. 469 Man mag Marquards Ausführungen entgegenhalten, sie gewönnen ihre Überzeugungskraft allein aus dem gewaltigen respektive gewaltsamen Grad philosophischer Abstraktion und historischer Reduktion. Immerhin wäre er damit nicht in schlechter Gesellschaft; Horkheimer und Adorno haben, in ganz anderer gesellschafts- und kunsttheoretischer Perspektive, die „Dialektik der Aufklärung" bekanntlich nicht erst im Christentum, sondern bereits im antiken Mythos am Werke gesehen. Man mag weiterhin einwenden, Marquard transportiere bloß seinen eigenen (vorwissenschaftlichen) Konservatismus in die Debatte, wenn er der Kunst eine „konservierende und insofern konservative Funktion" zu unterlegen sucht. Marquard äußert sich ja unverhohlen als konservativer Polemiker,

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wenn er in kühnem rhetorischem Griff die moderne Geschichtsphilosophie als strukturell „eschatologisch" abtut („Geschichtsphilosophie, speziell Marxismus ist Christentum minus Gnade" 4 7 0 ), wenn er gar von „eschatologischer Jetztweltvermiesung" spricht — so als sei es nicht die Empirie, sondern eine unbegründete subjektive Mißstimmung, die den gegenwärtigen globalen Zustand als unerträglich erscheinen läßt. Und schließlich, doch nicht mit dem geringsten Gewicht, könnte man darauf weisen, daß Marquards Thesen in einem wichtigen Punkt alles andere als originell sind: Seine Behauptung, daß die „autonome Kunst" der Moderne eine Erscheinung sei, die mit dem historischen Prozeß der Rationalisierung der Lebenswelt auftrete und Defizienzen dieses Prozesses diesseits religiöser Erlösungsideen auffange, gehört seit vielen Jahrzehnten zum Bestand soziologischer Theorie. Bereits 1916 hatte Max Weber formuliert, daß die „Entfaltung des Intellektualismus und die Rationalisierung des Lebens" zur Ablösung der Sphäre der Kunst von der „religiösen Ethik und Heilsuche" führe: „Die Kunst konstituiert sich nun als ein Kosmos immer bewußter erfaßter, selbständiger Eigenwerte. Sie übernimmt die Funktion einer, gleichviel wie gedeuteten, innerweltlichen Erlösung: vom Alltag und, vor allem, auch von dem zunehmenden Druck des theoretischen und praktischen Rationalismus. Mit diesem Anspruch aber tritt sie in direkte Konkurrenz zur Erlösungsreligion. Gegen diese innerweltliche irrationale Erlösung muß sich jede rationale religiöse Ethik wenden als gegen ein Reich des, von ihr aus gesehen, verantwortungslosen Genießens und: geheimer Lieblosigkeit." 471 Trotz all dieser Einwände, die zum Schluß führen könnten, bei Marquard handle es sich um einen wissenschaftlich weniger gewichtigen Popularphilosophen, lenken seine Überlegungen auf ein Problem, das in der gegenwärtigen ästhetiktheoretischen Diskussion von Bedeutung zu sein scheint und zugleich zu einem literaturgeschichtlichen Rückblick einlädt. Marquard entwickelt sein Postulat einer „positiv-kompensatorischen Funktion" der Kunst aus einer Auseinandersetzung mit der „politischen Ästhetik", die 1977 von Christian Enzensberger vorgelegt worden ist. 472 Enzensberger war in seiner „Grundlegung für eine materialistische Theorie des Kunstschönen", die hier nicht ausführlich referiert werden kann, zu der radikalen Konsequenz gelangt, die Kunst lüge, „sobald sie etwas sagt und muß lügen — oder aufhören, ästhetische Struktur und damit Kunst zu sein." Dabei wurde davon ausgegangen, daß im „Kunstschönen" stets die „konkrete Utopie" aufgehoben sei, und zwar weniger durch ihre Gegenstände als durch die Form, „die strukturelle Nachahmung der Utopie". Zugleich aber sei die Kunst — und vor allem die Literatur — gezwungen, „Inhalte" und die „Erfahrungswirklichkeit" als Material zu verwenden. Da jedoch „Erfahrungswirklichkeit" in einer „Klassengesellschaft" grundsätzlich nicht utopisch sein könne, folge daraus,

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daß die Kunst ihre Inhalte ästhetisch deformieren, „falsch abbilden, nämlich verschönen" müsse. 474 Damit kam Enzensberger zu den Kernsätzen: „Die ästhetische Deformierung der Wirklichkeit geschieht nicht durch irgendeine darübergelegte Sinnstruktur, sondern durch die utopische, die als produktionsbestimmte am Gegenpol des klassengesellschaftlich Bestehenden liegt. Die scheinbare Abwesenheit dieser Deformierung ist Täuschung, und die von der Kunst angeblich ausgehende Wirkung damit Selbsttäuschung der Kunst, ihrer Autoren wie ihrer Rezipienten. Dieses Wirkungsverhältnis ist umgekehrt zu denken: was als Folge der Kunst erscheint, ist vielmehr ihre Ursache. Das Utopiebedürfnis ist die Quelle sowohl des Sinnbedürfnisses wie der Kunst. Was im realen Widerspruch von Interesse und Sinn zur verändernden Praxis drängt, drängt gleichzeitig auch zu dessen symbolischer Behebung in der Kunst, das heißt zu ihrer Hervorbringung und Rezeption, aber r u f t dann den Praxisantrieb nicht wach, sondern absorbiert ihn." 4 7 5 Aufgrund des strukturellen Zwangs zur Harmonisierung falle die Kunst „immer und in jedem Fall (...) hinter die gleichzeitig mögliche politischtheoretische Gegenideologie" zurück, und zwar „sogar da noch, wo sie etwa dem Bürgertum (...) die eigene Abdankung vorschlägt": „(...) denn auch da wird eben nur ein solches Vorschlagen als eine letzte Möglichkeit für sinnkonsistente Lebenspraxis hingestellt, aber nie die wirkliche Abdankung. Das heißt aber: durch ihre Form wie ihre Funktion ist die Kunst immer reaktionär. Es gibt keine revolutionäre Kunst — oder sie ist keine mehr. Verschönung des Bestehenden bleibt ihr Gesetz, und Ideologie ihr unüberspringbarer Schatten." 4 7 6 Wie Marquard war also bereits Enzensberger, freilich auf völlig anderem analytischen Wege, zu dem Ergebnis gelangt, die Kunst (in allen ihren historischen Erscheinungsformen bis hin zu den avantgardistischen Experimenten ihrer „eigenen Vernichtung" 4 7 7 ) erfülle — soziologisch gesehen — eine bloß kompensatorische Funktion. Enzensberger hatte daraufhin, konsequent in der Tradition der kritischen Theorie der Gesellschaft, das „Ende einer Kunstperiode" 4 7 8 proklamiert: Literatur könne nicht länger „als wirklich abbildende oder praxisverändernde" gelesen werden ; Literaturwissenschaft als Bestandteil „gegeninteressierter Theorie" habe dazu überzugehen, der Literatur „nicht mehr ideologisch" nachzulaufen, sondern sie als Modell „zur Untersuchung und Herleitung scheinhafter Sinnlösungen" zu nutzen. 4 8 0 Allein mit dieser kritischen Wendung konnte sich der Konservative Marquard nicht anfreunden. Da ihm der Gang der Geschichte (mit der Begleiterscheinung des „eschatologischen Weltverlustes") offenkundig als ein objektiver Prozeß erscheint, in den weder eingegriffen werden kann

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noch soll, nimmt er zwar die Diagnose Enzensbergers zustimmend auf, zieht jedoch die entgegengesetzte Konsequenz: „(...) man muß ja nicht sagen: die Kunst ist, weil sie Kompensation ist, eine mißlungene Revolution; man kann ja auch sagen: die Kunst ist, weil sie Kompensation ist, eine geglückte Bewahrung (und die Revolution vielleicht eine mißglückte)." 481 Es ist interessant zu sehen und wohl ein Zeichen der Zeit, daß Marquards „positive Kompensationstheorie der Kunst" mit den Verlautbarungen eines prominenten Sängers im Chor der bundesdeutschen „Postmodernen" übereinkommt. Peter Sloterdijk hat jüngst einen „ästhetischen Versuch" vorgelegt, der ganz im Stil neuer Weltweisheit den koketten metaphorischen Haupttitel trägt: „Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung". 482 Damit überschreibt Sloterdijk eine geschichtsphilosophische und kunsttheoretische Konstruktion, die substantiell dem Modell Marquards entspricht, auch wenn sie in der historisch-genetischen Situierung ein anderes Datum setzt. Wie erwähnt, hatte Marquard den Beginn der „Moderne" (als dem Prozeß der Entzauberung und Versachlichung der Welt) bereits mit Christus anheben lassen; Sloterdijk sieht diesen Zeitpunkt erst mit der Kosmologie des Kopernikus gekommen: Die Entwertung der sinnlich gewissen Wahrnehmung vom Aufgang der Sonne durch die abstrakte physikalische Einsicht in die „Himmlischen Revolutionen" stehe am Beginn des objektiven und subjektiven Prozesses der „Moderne". Mit der „kopernikanischen Revolution" würden die alten menschlichen Orientierungsschemata, „Fokus, Pol, Evidenz und selbstbezügliche Mitte" aus den Angeln gehoben, die „traditionellen Kulturen" aufgelöst: „Die kopernikanische Revolution bedeutet die Mobilmachung der Welt und der Weltbilder, bis an den Punkt, auf dem alles möglich wird." 483 Die Dynamik des „Kopernikanismus" setze „das Unerträgliche in Form der strategischen, informatorischen, industriellen und kognitiven Weltverdampfung" frei; in der gegenwärtigen Situation werde damit „die kopernikanische Wahrheit unwahrer als die ptolemäische Illusion." 484 Sloterdijks Terminus der „Weltverdampfung" bezeichnet, so meine ich, nichts anderes als Marquards „eschatologischer Weltverlust". Und wenn Sloterdijk schließlich der „kopernikanischen Mobilmachung" die befriedende Strategie einer „ptolemäischen Abrüstung" entgegenhält, deren erste Schritte in der zeitgenössischen Kunst bereits vollzogen würden, so entspricht diese Wendung eben dem, was Marquard mit der „positiv kompensatorischen" Definition der Kunst vorschwebt. Es seien, so raunt Sloterdijk, die Künstler, „die früher als viele Zeitgenossen verspüren, was im Wahrheitshaushalt der Zivilisation vonnöten ist": „Wenn nicht alles trügt, so melden die Sinne der Künstler jetzt vor allem ptolemäische Impulse, sie sprechen vom alten Schweren, vom unerleichterten Leben, vom Unvorgestellten, Dichten, Schmerzli-

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chen, Singulären, von Sonnenaufgang und Erduntergang, von vergessenen Dingen." 485 Im Unterschied zu Marquard scheint Sloterdijk von der künstlerischen Rückkehr zum (bramarbasierend überhöhten ) sinnlich Einzelnen und alltäglich Selbstverständlichen allerdings auf längere Frist nicht bloß eine individuell kompensatorische Wirkung zu erwarten; vielmehr betrachtet er sie als Vorschein einer gesellschaftlichen Gegenbewegung zur „kopernikanischen Aufrüstung". Seit der „intellektuellen Romantik" sei „die Idee geläufig, daß jede Kunst die Vorschule einer anderen sei, bis sich die Kunst zur Grundbestimmung des Lebens schlechthin erhob", in allen „neu-metaphysischen Visionen ging es um Rettung aus Gefahr und Heilung von trostloser Verkehrung". Zwar sei die ruinöse Gefährlichkeit „neu-synthetischer Träumereien" erwiesen, doch zeige sich in ihnen nur „die Innenseite einer gewaltigeren, realeren Gefahr, die die romantischen Gemüter früh aufziehen sahen — die der großindustriellen und militärischen Liquidation von Mensch und Erde." An diesem Punkt freilich hält Sloterdijk inne und rät uns, „ins Freie" zu gehn und „etwas zu tun, was in keinem Glasperlenspiel vorkommt". 488 Sollte es sich dabei um eine Aufforderung zu gesellschaftlicher Praxis handeln, die über Sportliches oder dergleichen hinausreicht, so hat Sloterdijk dafür jedenfalls keinen Wegweiser zu bieten: sein imposant hochgreifender und metaphorisch subtiler Vortrag paart sich, wie schon zu bemerken war, mit einer antediluvianischen Begrifflichkeit, wo es um real Politisches und Gesellschaftliches geht. Wer in allgemeiner, nicht-explikativer Art vom „Entwicklungstaumel" der „Zivilisationsbürger", von „großindustrieller und militärischer Liquidation" der Menschheit, von einem „Wahrheitshaushalt der Zivilisation" spricht, wer mit solchen feuilletonistischen Nebelwörtern die gegenwärtige Realität adäquat zu bestimmen meint, wer der schlechten Wirklichkeit sodann mit Rezepten entgegentritt wie „Schule der Wahrnehmung, Lehre von Abrüstung, Anleitung zum Allgemeinen Komponieren, Kunst des Umgangs mit Kunst, Technik der Entbrutalisierung der Technik, ästhetische Ökonomie, Logik der Schonung, Wissenschaft vom Unterlassen" 489 — der bewegt sich gesellschaftskritisch auf dem Niveau eines Sonntagsredners. 490 Es versteht sich, daß der beklagte Zustand der Welt auf diese Weise nicht begriffen, schon gar nicht behoben, sondern nur melancholisch besungen — und damit noch einmal affirmiert — wird. Sloterdijks Vorschlag zur „ptolemäischen Abrüstung" erweist sich so als nicht anderes als denn als die poetische Abrüstung des kritischen Intellektuellen Sloterdijk. Marquards apriori quietistische Perspektive, wonach grundlegende gesellschaftliche Richtungsänderungen entfallen und auftretende Sinndefizite nur ästhetisch kompensiert werden sollen, ist demgegenüber ein Muster an Seriosität. In summa freilich ist nicht nur Sloterdijks rhetorischer Qualm über-

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flüssig; auch das philosophische Feuerwerk Marquards und Enzensbergers schafft einen entbehrlichen Schein des Spektakulären. Mit ungleich bescheidenerem Aufwand und mit dem Vorteil empirischer Evidenz wäre das Thema der „ästhetischen Kompensation" an der Stelle zu demonstrieren gewesen, wo es in der deutschen Literaturgeschichte zuerst auftritt: im Konflikt Goethes mit den ,transzendierenden'jungen Dichtern. (Leider kommt mein „kleines Buch" zu spät.) Marquard hätte seine „positive", Enzensberger seine „negative Kompensationstheorie" auf die Autorität Goethe stützen können; jener in unmittelbarer Nachfolge, Enzensberger im Hinweis auf das Scheitern der jungen ,Negativen', wie es etwa Friedrich Schlegel repräsentiert. Sloterdijk allerdings hätte zu erklären, wie denn seine Phantasie einer neuen ästhetischen Sensibilität von den einstigen romantischen Entwürfen unterschieden sei, um endlich in wünschenswerter Weise geschichtsmächtig zu werden. Wenn es zutrifft, daß das Problem der „ästhetischen Kompensation" in Wahrheit seit fast zwei Jahrhunderten ausgestanden ist, wenn aus der Konstellation Goethes und seiner ,romantischen' Antipoden überzeugend hervorgeht, daß die Kunst nur gesellschaftlich exterritoriales Fest, nur Kulturlack und individueller Trost, allenfalls ohnmächtiger Widerpart, nie aber movens oder Maßgabe der Realgeschichte sein kann, so verwundert Eines sehr: daß bis heute der Mythos von einer politischen oder sozialkritischen Macht der Kunst nicht abgestorben ist. Ein Grund, weswegen das ,Ende der Kunstperiode' beharrlich nicht zur Kenntnis genommen wurde und wird, mag darin liegen, daß die Künstler selbst die Phantasmagoric von der überragenden Fähigkeit ihrer Disziplin gepflegt haben, um Ansprüche auf einen bedeutenden moralischen und gesellschaftlichen Rang zu legitimieren. Gewichtiger scheint allerdings das Moment einer Selbsttäuschung unter Stillegung der Vernunft zu sein. Seit der Epoche der Französischen Revolution erwies sich zunehmend, daß das Ideal einer harmonischen Ordnung, wie es die bürgerlichen Gebildeten erhofft und poetisch erträumt hatten, in unvereinbarem Gegensatz zur wirklichen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft stand. Diese anzugreifen, mit den Mitteln radikalen politischen Handelns und mit dem Ziel des Ideals, stand freilich außerhalb der Vorstellungskraft eines bürgerlichen Kopfes: er hätte sonst seine eigenen Existenzbedingungen liquidieren müssen. Die Hoffnungen auf das Ideal blieben jedoch und fanden einen Ort, der es gestattete, die widrige Realität zu verwünschen, ohne sie im Ernst, nämlich praktisch, anzugreifen: dieser Ort war die .negative' Poesie. Die Verschiebung der Kritik und Utopie aus der Realität in die Kunst war zugleich mit einem Rückfall aus der weltlichen Vernunft in eine quasireligiöse Heilserwartung verbunden. Gleichsam durch einen Damaskuseffekt sollte die Kunst, zuletzt in ästhetischer Überbietung des empirisch Gräßlichen, die Menschen und die Welt auf einen besseren Weg bringen; gelang es ihr nicht: um so schlimmer für die Wirklichkeit. Damit hat sich der poetische Oppositionelle Dispens erteilt. Was ihm bis heute bleibt, ist die teils sadi-

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stische, teils masochistiche Lust am gelungenen ästhetischen Schrecken und die Freude über ebenso empfindsame wie unheilbare Lazarettpoeten in Geschichte und Gegenwart.

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Anmerkungen

1 Goethes Werke, hrsg. i. Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar, Weimar 1887 ff., I. Abt., Bd. 35, S. 61. - Zit. in der Folge als „WA" (= „Weimarer Ausgabe"). 2 Vergi. a.a.O., S. 39: „Mir wurden viele Sprudelköpfe zu Theil, welche fast den Ehrennamen eines Genies zu Spitznamen herabgebracht hätten." — „Sprudelköpfe" statt „Strudelköpfe" ist wohl ein Kopierversehen, vergi. a.a.O., S.287. — Vergi, auch Knebels Brief an seine Schwester, 16. 7. 1811: „Es sind jetzt so viele ganz verrückte Bücherschreiber, daß man es nicht denken sollte. Alle wollen Originale sein und was Außerordentliches sagen. Goethe seufzt darüber und sagt: ihr Talent bestehe in der Verrücktheit, und wenn man ihnen Diese nähme, so bleibe ihnen fast nichts übrig (...)." Zit. nach Wilhelm Bode: Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen. Auch eine Lebensgeschichte. Die Zeit Napoleons 1803-1816, Berlin 1921 (Nachdruck Bern 1969), S. 3 1 0 f. 3 A.a.O., S. 61f. - Über Detlef Friedrich B i e l e f e l d vergi. Karl Goedeke: Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung, 2. Aufl., Bd. 7, Dresden 1906, S. 380f. — Die Bezeichnung „energumenisch" stellt bei Goethe die ironische Variante des Begriffs des „Dämonischen" dar. 4 WA IV, 19, S. 2 5 7 . Über Franz von Sonnenberg vergi. Spiridon Wukadinovic: Franz von Sonnenberg, Halle 1927. 5 Vergi. Wukadinovic, a.a.O., S. 120. 6 Vergi, hierzu etwa Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 1, 3. Auflage, Frankfurt/Main 1977, S. 26 ff.; bes. S. 3 2 : „Das, wodurch sich diese (deutsche, J.W.) mittelständische Intelligenz des 18. Jahrhunderts legitimiert, was ihr Selbstbewußtsein, ihren Stolz begründet, liegt jenseits von Wirtschaft und Politik: in dem, was man gerade deswegen im Deutschen ,Das rein Geistige' nennt, in der Ebene des Buches, in Wissenschaft, Religion, Kunst, Philosophie und in der inneren Bereicherung, der .Bildung' des Einzelnen, vorwiegend durch das Medium des Buches, in der Persönlichkeit." 7 Hölderlin: Sämtliche Werke, hrsg. v. Friedrich Beißner (StA), Bd. 6, Stuttgart 1954, S. 155. 8 Zit. nach Christian Waas: Siegfried Schmid aus Friedberg in der Wetterau, der Freund Hölderlins (1774 - 1859), Darmstadt 1928, S. 72. 9 Jean Paul: Sämtliche Werke, hist.-krit. Ausgabe, 3. Abt., 2. Bd., hrsg. v. Eduard Berend, Berlin 1958, S. 209. - „Salomons Tempel" (a.a.O., S. 197) und das „längst ersehnte Eden" (a.a.O., S. 205) sind weitere Euphemismen Jean Pauls für Weimar. Goethe, Wieland und Herder imaginiert er als „die hohe Dreieinigkeit der drei (grössern) Weisen als j e aus dem Orient zogen." (a.a.O., S. 165) 10 A.a.O., S. 203.

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11 Henrich Steffens: Was ich erlebte. Aus der Erinnerung niedergeschrieben, Bd. 4, Breslau 1841, S. 95. 12 Rudolf Köpke: Ludwig Tieck. Erinnerungen aus dem Leben des Dichters nach dessen mündlichen und schriftlichen Mittheilungen, 1. Theil, Leipzig 1855, S. 259. 13 Zit. nach Wilhelm Bode: Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen, a.a.O., S. 144 f. 14 Steffens, a.a.O., S. 95f. 15 A.a.O., S. 102. 16 Franz Grillparzer: Sämtliche Werke, hrsg. v. August Sauer und Reinhold Backmann, 1. Abt., Bd. 16, Wien 1925, S. 194f. 17 A.a.O., S. 197. 18 Nach der Erinnerung Adam Oehlenschlägers gebraucht Steffens diese Begriffe. Vergi. Adam Oehlenschläger: Meine Lebens-Erinnerungen. Ein Nachlaß. Deutsche Originalausgabe, Bd. 2, Leipzig 1851, S. 12. — In der ersten Ausgabe der Autobiographie Oehlenschlägers, die unter dem Titel „Selbstbiographie des Verfassers bis zu seinem dreißigsten Jahre" (in: Adam Oehlenschläger's Schriften. Zum erstenmale gesammelt als Ausgabe letzter Hand, Breslau 1829, Bde. 1 u. 2) erschienen ist, fehlen die kritischen Bemerkungen Steffens' noch. 19 Vor seiner Abreise nach Frankfurt im Sommer 1797 etwa gibt Goethe seinen Bedenken Ausdruck, „wie viel Zeit der Dichter verliert, wenn er sich mit der Welt abgibt, besonders wenn es ihm an Stoff nicht fehlt. Es graut mir schon vor der empirischen Weltbreite." (WA IV, 12, S. 209) - Unter dem Eindruck der Urbanen Betriebsamkeit Frankfurts formuliert er: „Die Poesie verlangt, ja sie gebietet Sammlung, sie isolirt den Menschen wider seinen Willen, sie drängt sich wiederholt auf und ist in der breiten Welt (um nicht zu sagen in der großen) so unbequem wie eine treue Liebhaberinn." (WA IV, 12, S. 217) — Weitere Belege für den Zusammenhang von Produktivität und Einsamkeit beim alten Goethe sind zusammengestellt bei Lothar Giessler: Studien zum Lebensumkreis des späten Goethe. Riemer, Coudray, Soret und Vogel in Goethes mündlichen und schriftlichen Äußerungen, Kiel 1970, S. 30 passim. 20 Karl Heinrich Ritter von Lang: Memoiren. Skizzen aus meinem Leben und Wirken, meinen Reisen und meiner Zeit, 2. Theil, Braunschweig 1842, S. 343. 21 A.a.O., S. 343f. 22 A.a.O., S. 344. — In ähnlicher Weise ist der junge Willibald Alexis von der vornehmen, wenig gesprächigen Kühle des alten Goethe enttäuscht, immerhin aber auch gerecht genug, die Situation des berühmten Mannes angemessen zu würdigen: „Mein Goethe war dahin. Und gewiß mit großem Unrecht. Wie sollte der mit Besuchen überlaufene Dichter sich anders gegen zwei junge ihm wildfremde Männer äußern, die nur gekommen waren, ihre Neugier zu befriedigen, und von denen er nicht wußte, ob sie nicht im nächsten Morgen-, Abend- oder Mitternacht-Journal alle Vertraulichkeiten abdrucken ließen, falls er sich zu solchen bewogen gefühlt hätte." (Willibald Alexis: Erinnerungen, hrsg. v. Max Ewert, Berlin 1900, S. 292). - Vergi, ähnlich schon Johann Baptist Bertram, Brief an Sulpiz Boisserée, 15. 7. 1811: „Daß Der (Goethe, J.W.), welcher am mächtigsten auf seine Zeit gewirkt, in dem verödeten Gebiet der Poesie die Keime neuen Lebens aufgeregt und in den mannigfaltigsten Formen und Gestalten entwickelt hat, für das Bessere, was die Zeit in ihrem Fortschritte wirklich zu Tage gefördert, nicht

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ganz unempfänglich geblieben, Das hat er oft durch Wort und Tat bewiesen. Seine kalte, vornehme Zurückgezogenheit mögen Die ihm wenigstens nicht verargen, die, von revolutionärem Schwindelgeist ergriffen, den Widerspruch schonungslos auf die höchste Spitze trieben und, als die gute Sache Raum gewann, nur nach individuellen Absichten zu lenken und als die Verkündiger des neuen Evangeliums die Richterstühle über Israel für sich einzig in Anspruch zu nehmen bemüht waren. Was hat denn der Alte für Wahl gehabt? Stupide oder absichtliche Bewunderer und Narren und Extravaganten!" Zit. nach Bode: Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen, a.a.O., S. 310. — Der literarischen Legendenbildung gehört vermutlich bereits an, wie Johann Konrad Friederich sein angebliches Zusammentreffen mit Goethe im Jahre 1804 beschreibt: „Er (...) war von ziemlich hoher Statur, kam mir etwas breitschulterig vor, trug das Haupt hoch, und in seinen Mienen drückte sich ein mich abschreckender Ernst, ja sogar Strenge aus. Die ganze Figur kam mir steif und abgemessen vor, und vergeblich suchte ich in seinem Gesichte einen Zug, der mir den gemüthlichen Verfasser von Werthers Leiden oder Wilhelm Meisters Lehrjahren verrathen hätte. — Bei seinem Anblick erstarrte mir das Blut fast in den Adern und das Herz war mir, wie die Frankfurter sagen, so ziemlich in die Schuhe gefallen. Nur stotternd und stokkend konnte ich mein Anliegen (als angehender Schauspieler Unterstützung zu finden, J.W.) vorbringen, bei dem sein sich verfinsternder Blick mir eiskalt durch die Adern schauerte. (...) Gar zu gerne hätte ich Göthe gesagt: was sind Sie für ein hölzerner Patron, Sie können unmöglich Wilhelm Meisters Lehrjahre geschrieben haben, verschluckte es aber." ( K. F. Fröhlich, d. i. Johann Konrad Friederich: Vierzig Jahre aus dem Leben eines Todten, Band 1, Tübingen 1848, S. 175. Vergi. Goethe: Begegnungen und Gespräche, Bd. V, hrsg. v. Renate Grumach, Berlin u. New York 1985, S. 690 f.). 23 Grillparzer, a.a.O., S. 195, legt dem Kanzler Müller die Meinung in den Mund, „die Steifheit Göthes sei nichts als eigene Verlegenheit so oft er mit einem Fremden das erstemal zusammentreffe." 24 Luise von Knebel, Erinnerungen, zit. nach Goethe: Begegnungen und Gespräche, Bd. IV, 1980, S. 172 f. 25 A.a.O., S. 173. - Wieland übernimmt schließlich die Aufgabe, den jungen Satiriker Johannes Falk dem Publikum zu empfehlen. In den „Neuen Teutschen Merkur", Weimar 1775, Bd. 2, Stück 10, S. 205-212, rückt er zunächst einen Ausschnitt aus Falks „Die heiligen Gräber" ein; in Bd. 1, Stück 4, S. 362-383, des Jahrgangs 1796 folgt der Abdruck des satirischen Gedichts „Die Helden". Daran fügt Wieland eine kurze Rezension, in der er dem „genievollen Verfasser" den „Geist Juvenals" bescheinigt, zugleich jedoch zur Reinigung des poetischen Tons und zur Mäßigung der „nicht genug gebändigten Einbildungskraft" mahnt. 26 T. L. A. Hobein an Schiller, 30. 9. 1796. Zit. nach Schillers Werke, Nationalausgabe, Bd. 36/1, Weimar 1972, S. 332 f. (Zit. in der Folge als „SNA"). 27 W. Lehmann an Schüler, 6. 8. 1797; SNA, Bd. 37/1, S. 89. 28 F. Thon an Schiller, 1. 10. 1797; SNA, Bd. 37/1, S. 146. 29 F. Herrmann an Schiller, 7. 5 . 1 7 9 8 ; SNA, Bd. 37/1, S. 288. 30 SNA, Bd. 37/1, S. 289; SNA, Bd. 38/1, S. 305 f.; Jakob Minor: Briefe an Schiller, in: Euphorion, Zeitschrift für Litteraturgeschichte, 12. Bd., Wien und Leipzig 1905, S. 356 f.; S. 358; S. 360. 31 SNA, Bd. 37/1, S. 87. 32 SNA, Bd. 35, S. 146 f.; Minor, a.a.O., S. 347 f.

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33 SNA, Bd. 36/1, S. 153 f. 34 Otto Giintter: Zu Schillers Briefwechsel, in: Euphorion, 12. Bd., Wien und Leipzig 1905, S. 411 f. 35 Giintter, a.a.O., S. 412ff. — Dieses Beispiel zeigt deutlich, daß die Art, in der man sich Schiller nähert, nicht mehr der traditionellen unterwürfigen und enkomiastischen Konvention brieflicher Bittstellerei angehört, sondern zumindest zu einem Gutteil wirklich von Herzen kommt. 36 SNA, Bd. 35, S. 261. - Vergi, ähnlich SNA, Bd. 37/1, S. 302. 37 SNA, Bd. 36/1, S. 456. 38 SNA, Bd. 37/1, S. 146. 39 SNA, Bd. 37/1, S. 210. 40 SNA, Bd. 37/1, S. 301. 41 SNA, Bd. 37/1, S. 304. 42 SNA, Bd. 37/1, S. 357. - Vergi, auch Minor, a.a.O., S. 350 u. S. 355. 43 SNA, Bd. 38/1, S. 290. 44 Minor, a.a.O., S. 355. 45 Minor, a.a.O., S. 361. 46 Güntter, a.a.O., S. 410. 47 SNA, Bd. 37/1, S. 293. 48 SNA, Bd. 36/11; Minor, a.a.O., S. 735 - 785. 49 Vergi, etwa SNA, Bd. 37/1, S. 280 f., S. 298; Bd. 38/1, S. 71 f., S. 83. 50 Vergi, etwa SNA, Bd. 36/1, S. 79, S. 269; Bd. 37/1, S. 370 f. 51 Der Rückzug Schillers von den „Hören" und die schließliche Aufgabe des Projekts hängt auch mit dem MißVerhältnis zusammen, das zwischen Schillers Ansprüchen und der Qualität der tatsächlich eingehenden Beiträge bestand. Vergi. Paul Raabe: Die Hören. Einführung und Kommentar (zum Neudruck der „Hören"), Darmstadt 1959, S. 12 ff. 52 WA IV, 12, S. 375: „Ich lege einen Band Gedichte bey, von einem Menschen (Johann Heinrich Wilhelm Witschel, J.W.), aus dem vielleicht was geworden wäwäre, wenn er nicht in Nürnberg lebte, und die Dichtart zu finden wüßte, zu der er Talent hat. Manches dünkt mich hat ein humoristisches Verdienst, obgleich manches sehr mißlungen ist. Da Sie so gern von jungen Männern etwas hoffen und mancherley Beyträge nutzen können, so kommt es auf Sie an ob man mit ihm das Verhältniß fortsetzen und ihm einigen Muth machen soll?" 53 Es versteht sich, daß diese Tendenz vor allem bei den Liebhabern und Apologeten der .großen Gescheiterten' — Lenz, Hölderlin und Kleist — ausgeprägt ist. Martin Walser hat in seinem Versuch „Hölderlin zu entsprechen" (in: Der andere Hölderlin. Materialien zum ,Hölderlin'-Stück von Peter Weiss, hrsg. v. Thomas Beckermann und Volker Canaris, Frankfurt 1972, S. 101 -124) demonstriert, wie die Rettung der .exzentrischen Dichter' geradezu mit dem logischen Zwang verbunden sei, die .Etablierten' mit moralischer Schelte zu überziehen. Walser ironisierte den „Klassikgründer in Weimar" als eine „erfolgreich leidend(e) und zielstrebig Jahresringe ansetzen(de)" Gestalt (S. 111), stellte sie Hölderlin, als dem Repräsentanten einer .exzentrischen', sozial unangepaßten, darum ungeliebten und erfolglosen Poetenexistenz gegenüber und pointierte: „(...) man kann nicht Hölderlin rühmen und den Weimarer Goethe nicht schmähen." — Vergi, zur ent-

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sprechenden Rezeption des Verhältnisses von Goethe und Lenz S. 83 f. dieser Untersuchung, von Goethe und Kleist S. 89 f. - Unlängst hat Henning Boëtius (Der verlorene Lenz. Auf der Suche nach dem inneren Kontinent, Frankfurt 1985) aus der Gegenüberstellung von Goethe und Lenz und mit Hilfe eines phonologischen Minimalpaars eine grundlegende Dichtertypologie entwickelt: es gebe nur „pomadisierende" und „nomadisierende" Schriftsteller. (S. 5) Dieser Wortwitz vermag freilich die Unfuglichkeit seiner Dichotomie im Besonderen wie im Allgemeinen nicht aufzufangen. 54 „Der Lorbeer", StA, Bd. 1, S. 36. 55 Ebda. 56 Zit. nach Paul Böckmann: Hymnische Dichtung im Umkreis Hölderlins. Eine Anthologie, Tübingen 1965, S. 226 f. 57 Brief an Schiller vom 13. 8. 1800, zit. nach SNA, Bd. 38/1, S. 319. - Vergi, auch Waas: Siegfried Schmid, a.a.O., S. 105. 58 Waas, a.a.O., S. 63 u. 120. 59 Waas, a.a.O., S. 106 ff. 60 Casimir Ulrich Boehlendorff: Fernando oder Kunstweihe. Eine dramatische Idylle, Bremen 1802, Widmungssonett an Friedrich Muhrbeck, Verse 10 -11. 61 Boehlendorff, a.a.O., S. 83. - Vergi. Karl Freye: Casimir Ulrich Boehlendorff, der Freund Herbarts und Hölderlins, Langensalza 1913, S. 102. 62 Freye, a.a.O., S. 236 f. 63 Franz von Sonnenberg: Gedichte. Nach dessen Tode hrsg. v. J. G. Gruber, Rudolstadt 1808, S. 6. 64 Franz von Sonnenberg: Donatoa, 1. Theil, 1. Bd., Halle 1806, S. XIX f. 65 Nach der Überlieferung des Freundes Ernst von Pfuel; zit. nach Heinrich von Kleist. Dichter über ihre Dichtungen, hrsg. v. Helmut Sembdner, München 1969, S. 21 f. 66 Friedrich Schlegels Briefe an seinen Bruder August Wilhelm, hrsg. v. Oskar Walzel, Berlin 1890, S. 86. 67 A.a.O., S. 89. 68 Zu den bemerkenswerten Ausnahmen zählt etwa der zwanzigjährige Hamburger Johann Diederich Gries, der wie Boehlendorff dem elitären Jenaer „Bund der freien Männer" angehörte. Obgleich es Gries widerstrebt, sich einer Brotwissenschaft (dem Studium der Rechte) zu widmen oder gar, nach dem Wunsche seiner Familie, in die Handlung zu treten, verstellt ihm seine Begeisterung für die Poesie nicht den realistischen Blick auf seine eigenen Talente und auf die objektiven Mißlichkeiten, die demjenigen entgegenstehen, der die Dichtung zu seinem Metier zu machen strebt: „So gewiß ich glaube, daß diese Aufgabe, nämlich der harmonischen Bildung aller Kräfte, die Aufgabe der gesammten Menschheit im Allgemeinen ist, ebenso gewiß bin ich auch überzeugt, daß nicht alle Menschen sich zur Höhe des Genies schwingen können. Der Mensch wird gebildet, das Genie wird geboren. Es kann nicht lauter Homere und Shakespeare, Goethe und Schiller geben. Hier tritt die Natur ins Mittel und belebt mit sparsamer Hand in wenig Auserwählten den Funken, der zur Alles erleuchtenden Sonne werden soll. Die Welt sieht den herrlichen Strahl und freut sich der belebenden Wärme, aber nur wenn sie ihn sieht und fiihlt, verzeiht sie die Anmaßung, mehr sein zu wollen als sie. Und mit Recht, denn gibt es wol ein erbärmlicheres Ding unter der Sonne als einen mittelmäßigen Dichter? (...) Und so denke ich auch über das ,der Dicht-

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kunst leben'. Ich glaube nicht leicht, daß ein Mensch sich dies vornehmen kann, wenigstens kann ich es nicht. Wenn ich auch jetzt vielleicht etwas von jener lebendigen Quelle in mir zu fühlen glaubte, wer stände mir dafür, daß sie nicht mit der Zeit versiegte? oder wenn ich mich in diesem Gefühle geirrt hätte? schrecklicher Irrtum, wenn auf ihn dann das Glück meines Lebens gegründet wäre ! Übrigens gibt die Dichtkunst hier (in Dresden, J.W.) so wenig Brot wie in Hamburg. Und sie soll es auch nicht, denn sie soll nicht zum Gewerbe herabsinken. (...) Wäre hierauf also die Hoffnung der Anstellung in den sächsischen Staaten gegründet, so ruhte sie auf einem sehr schwachen Grunde. Selbst die großen Männer, welche in diesen Gegenden versammelt sind, können nicht als Beispiele für die entgegengesetzte Meinung angeführt werden. Goethe ist Wirklicher Geheimrath und Mitglied des Staatsraths, und wenn er auch diese Stelle seinem Genie verdankt, so ist er auch nicht allein der vollkommenste Dichter, sondern auch der vollkommenste Mensch, den ich kenne. Wieland hat seine kleine Pension als ehemaliger Prinzenerzieher und lebt eigentlich von seiner Hände Arbeit. Schiller war bisjetzt Professor extraord. Philosophiae und konnte ohne Hören und Almanach nicht leben. Herder ist nun vollends Generalsuperintendent und Oberconsistorial-Vicepräsident. Alle diese Herren haben aber ihre resp. Amter und Pensionen, quod bene notandum, erst erhalten, nachdem sie schon einen großen und berühmten Namen hatten, nicht aber umgekehrt, den Namen im Amte." (Zit. nach: Aus dem Leben von Johann Diederich Gries. Nach seinen eigenen und den Briefen seiner Zeitgenossen, o.O., 1855, S. 21 f.) 69 Brief an Goethe vom 24. 1. 1808; zit. nach: Briefe an Goethe (Hamburger Ausgabe), hrsg. V. Karl Robert Mandelkow, Bd. 1, München 1982, S. 496. 70 Johannes Falk: Goethe aus näherm persönlichen Umgange dargestellt, Leipzig 1832 (Neudruck Hildesheim 1977), S. 98 - 101. - Zum .Irrtum' Goethes über die Konversion von Novalis, zum literarisch-polemischen Kontext der Überlieferung und zur Glaubwürdigkeit Falks vergi. Hans-Joachim Mähl: Goethes Urteil über Novalis. Hin Beitrag zur Geschichte der Kritik an der deutschen Romantik, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, Tübingen 1967, S. 191 ff. — Zur Authentizität der Überlieferung Falks vergi, auch Goethes Brief an Jakobi vom 7. 3. 1808: „Nichts ist natürlicher, als daß mir bey diesem mythologischen Namen der neue Hercules Friedrich einfällt, der statt mit einer Keule mit einem Schlegel einherschreitet. Es ist mir sehr angenehm zu sehen, daß ihn auch einmal das Loos trifft, in die Reihe der Cäsaren und Alleinherrscher aufgenommen zu werden, und bin nur neugierig, wem er im nächsten Quartal wird weichen müssen. Da mich die Geschichte in dieser Serie doch auch auffuhren muß, so komm ich mir vor wie Diocletian in Spalatro, und sehe höchst geruhig zu, wie sich meine Nachfolger vertreiben und erwürgen. Übrigens bin ich nur zu sehr geehrt von dem was die Herren von mir sagen. Ein solches Lob hatte ich wohl zu verdienen gewünscht aber nicht gehofft, und es soll mir nunmehr höchst angenehm seyn, als letzter Heide zu leben und zu sterben." (WA, IV, 20, S. 25 f.) - Im gleichen Brief kommt Goethe anschließend auf den neuesten „Brama" Zacharias Werner zu sprechen, vergi. S. 53 f. dieser Darstellung. - Mit Recht hat Inge Hoffmann-Axthelm: „Geisterfamilie". Studien zur Geselligkeit der Frühromantik, Frankfurt/M. 1973, S. 207, hervorgehoben, daß die „Geselligkeit" der Jenenser Romantiker in Wirklichkeit die Qualität einer „Republik von lauter Despoten" besessen hat. 71 Franz von Sonnenbergs Held ,Heroal* im Epos ,Donatoa' trägt deutlich die Züge eines Anti-Napoleon, vergi. Wukadinovic, a.a.O., S. 105 ff. Sonnenberg selbst bewarb sich vergeblich um die Aufnahme in den preußischen Kriegsdienst. Wukadinovic, a.a.O., S. 105, kommentiert: „Es unterliegt keinem Zweifel, daß Son-

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nenberg, durch das Ausbleiben einer Antwort des Grafen Haugwitz keineswegs abgeschreckt, damals lang und oft den Gedanken erwogen hat, ob er nicht doch zu einer geschichtlichen Sendung in so kritischer Zeit berufen s e i . " Nachdem schließlich die Ablehnung Haugwitzens und auch des preußischen Königs eingetroffen war, warf sich Sonnenberg mit umso größerer Schaffenswut auf sein grosses Epos; vergi. J o h a n n Gottfried Gruber: Etwas über Franz von Sonnenbergs Leben und Charakter, Halle 1807, S. 162 ff. 7 2 Katharina Mommsen: Kleists K a m p f mit Goethe, Heidelberg 1974. 73 J e a n Laplanche: Hölderlin und die Suche nach dem Vater, Stuttgart-Bad Cannstatt 1 9 7 5 (franz. Erstausgabe Paris 1961), bes. Kapitel 1: Die Jenaer Depression, S. 2 5 - 75. — Momme Mommsen: Hölderlins Lösung von Schiller. Zu Hölderlins Gedichten ,An Herkules' und ,Die Eichbäume' und den Übersetzungen aus Ovid, Vergil und Euripides (in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 9. J g . , Stuttgart 1965, S. 203 - 244), hatte den Konflikt zwischen Hölderlin und Schiller noch in eher traditioneller geistesgeschichtlicher Weise als „ K a m p f der Geister" (S. 2 0 8 ) beschrieben, bei dem es „nicht sowohl um Persönliches geht, als um das Größte und Letzte: das Werk." (S. 210) — Zuletzt hat sich Eberhard Lämmert („Von Ihnen dependir' ich unüberwindlich". Über die Macht des Vorbildlichen in der Literaturgeschichte, in: Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik, hrsg. v. W. Barner, E. Lämmert, N. Oellers, Stuttgart 1984, S. 6 0 1 - 6 2 3 ) in einleuchtender Weise zum widersprüchlichen Verhalten Hölderlins gegenüber Schiller geäußert. Lämmert hält den Konflikt für literaturgeschichtlich repräsentativ: Hölderlin habe, wie später Kleist und die zunächst folgenden jungen deutschen Poeten, paradoxerweise das „fördernde Wort" der großen Vorbilder gebraucht, „ u m so frei in seinen Dispositionen zu werden, wie sie es waren." (S. 6 0 6 ) Das „neue Diktat der Originalliteratur" habe verlangt, „daß die Literatur der Nachkommenden sich merklich unterscheiden mußte vom Werk der Meister und ihnen doch gefallen mußte, damit sie die Hand reichten, sie zu fördern." Bei dieser „Gratwanderung" habe im Falle Hölderlins die Widerborstigkeit obsiegt: „ Unterwürfig nicht, aber eigensinnig ist Hölderlin geworden, und seiner Unbedingtheit dankt er und danken wir seine reifen Gedichte; doch dafür, daß ihm in seinen (!) Eigensinn in wenigen Jahren ein Opus von bleibender Unverwechselbarkeit gelang, hat er auch so ungewöhnlich gezahlt, wie er es ahnungsvoll in seiner Ode ,An die Parzen' vorankündigte." (S.607 f.) Mit solcher historisch-literatursoziologischen Objektivierung läuft Lämmert freilich Gefahr, die Literaturgeschichte und ihre Subjekte wiederum, und sozusagen über ihre gewaltigen Dissonanzen hinweg, zu harmonisieren. Das Unglück Hölderlins macht unser, der nachgeborenen Leser, Glück. Die Frage, ob der Hang zur existenziellen .Original-Poesie' nicht einem Wahn entspringt, einem pathologischen Effekt des Syndroms bürgerlicher Ideologie, wird nicht gestellt. 74 Brief an Schiller vom 20. 1. 1 7 9 7 ; S t A Bd. 6.1, S. 2 4 1 . 7 5 S t A Bd. 1, S. 224. 76 Vergi. Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke (Frankfurter Ausgabe), Bd. 2, hrsg. V. D. E. Sattler u. W. Groddeck, Frankfurt 1978, S. 2 5 3 ff. 77 Vergi. Wolfgang Seyffert: Schillers Musenalmanache, Berlin 1913, S. 57 ff. 78 J o h a n n Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hrsg. v. Heinz Schlaffer (= Bd. 19 der „Münchner Ausgabe"), München 1 9 8 6 , S. 6 7 3 : „Ich sah ihn einmal bei Gelegenheit seines Musenalmanachs ein pompöses Gedicht von zwei und zwanzig Strophen auf sieben reduzieren, und zwar hatte das Produkt durch diese furchtbare Operation keineswegs verloren,

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vielmehr enthielten diese sieben Strophen noch alle guten und wirksamen Gedanken jener zwei und zwanzig." (5. April 1830). — Vergi, auch die „Tag- und Jahreshefte" (1796); WA I, 35, S. 64. 79 Vergi. Seyffert, a.a.O., S. 54 f. 80 Brief an August Wilhelm Schlegel, 21. (?) 8.1797; SNA, Bd. 29, S. 121. 81 StA Bd. 6.1, S. 250 f. 82 D. E. Sattler: Friedrich Hölderlin. 144 fliegende Briefe, Bd. 2, Darmstadt und Neuwied 1981, S. 370 f., ist dagegen der Auffassung, daß Hölderlin die provokanten Verse mit voller Absicht und sozusagen ins Gesicht Schillers hinein formuliert habe: „Schließlich muß dem Redakteur oder Zensor (Schiller, J.W.) aufgegangen sein, daß der unerhörte Ton beabsichtigt, daß der Affront kalkuliert war, daß sich der zornige Einspruch geradewegs gegen die eigene, gerade waltende Maxime richtet, das Leidenschaftliche sei immer und überall auf den guten Ton herabzustimmen. Unüberhörbar der Vorwurf: Wurm, der Sekretär des Präsidenten, habe, wenn es nach Schillers Gesinnungswandel ginge, von nun an Ferdinand zu überwachen." Träfe Sattlers Meinung zu, so müßte man Hölderlins widersprüchliche Haltung als von vornherein jedem Vernunftmaßstab spottend qualifizieren. 83 Dabei ist festzuhalten, daß Schiller, als er Hölderlin nach langem Schweigen im August 1799 noch einmal antwortet, keineswegs den Ton freundlicher Verbindlichkeit fallen läßt. Hölderlin hatte wenig zuvor um Unterstützung seines Journalprojekts („Iduna") gebeten. Schiller lehnte mit plausibler Begründung ab und warnte grundsätzlich — und mit ebenso plausiblen Gründen — vor dem Unternehmen: „Gern, mein werthester Freund! würde ich Ihr Verlangen wegen der Beyträge zu Ihrer Zeitschrift erfüllen, wenn ich nicht so arm an Zeit und so eng an mein gegenwärtiges Geschäft gebunden wäre, daß ich selbst meinen Musenalmanach dieses Jahr ohne Beyträge lassen, oder doch sehr mager damit ausstatten werde, und ihn für die Zukunft vielleicht ganz aufgebe, weil ich mich von jedem Geschäfte, das sich mit meiner absoluten Unabhängigkeit nicht verträgt, lossagen muß. Die Erfahrungen, die ich als Herausgeber von periodischen Schriften seit 16 Jahren gemacht, da ich nicht weniger als 5 verschiedene Fahrzeuge auf das klippenvolle Meer der Literatur gefuhrt habe, sind so wenig tröstlich, daß ich Ihnen als ein aufrichtiger Freund nicht rathen kann, ein Aehnliches zu thun. (...) Auch selbst in Rücksicht auf das Lucrative, die wir als Poeten nicht umgehen können, ist der Weg periodischer Werke nur scheinbar vortheilhaft und bey einem unbedeutenden Anfänger von Verleger, ohne einen gewissen Rückhalt von eigenem Vermögen, der ihm verstattet, einen kleinen Stoß zu verschmerzen, ist es vollends nicht zu wagen. Wie sehr wünschte ich, daß ich Ihnen nicht blos meinen Rath ertheilen, sondern auch die Mittel erleichtern könnte, denselben auszuführen. Wenn Sie mich mit Ihrer jetzigen Lage bekannt machen wollen, so bin ich vielleicht eher im Stande etwas vorzuschlagen, was Ihren Wünschen gemäß ist. Leben Sie wohl, und seyen Sie von meiner treuen Ergebenheit versichert." (SNA, Bd. 30, S. 89). 84 Karl August Böttiger an Friedrich August Wolf, 11. 6. 1795; zit. nach: Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, hrsg. v. Siegfried Seidel, Bd. 3, München 1984, S. 49. 85 WA IV, 10, S. 265. 86 SNA, Bd. 27, S. 193. - Vergi, auch das Urteil Wielands, in: Karl August Böttiger: Literarische Zustände und Zeitgenossen, Bd. 2, Leipzig 1838 (Neudruck Frankfurt a. Main 1972), S. 167: „Den Jubelsenior habe ich mit ungefähr eben dem Vergnügen, Interesse, Wohlgefallen und Arger gelesen wie die Hundspostta-

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ge und den Armenadvocaten. Er würde mich stärker amusirt haben, wenn er mich weniger amusirt hätte, und hätte mich mehr amusirt, wenn er durch den unbegreiflichen Leichtsinn, womit er von den sublimsten Gedanken und rührendsten Gefühlen in die Hanswurst- und Sepperles-Laune Ubergeht, meine Galle nicht so oft reizte." 87

WA IV, 10, S. 269.

88

WA IV, 10, S. 347.

89

SNA, Bd. 28, S. 132 f.

90

Vergi, etwa Paul Raabe: Die Hören. Einführung und Kommentar (zum Neudruck der „Hören"), Darmstadt 1959, S. 12 ff. - Im September 1795 beklagt sich Schiller gegenüber Cotta, daß das Publikum „lieber die Waßersuppen in andern Journalen kosten als eine kräftige Speise in den Hören gemessen" wolle. Wenn alle Bemühungen um Mannigfaltigkeit, allgemeines Interesse und inneren Gehalt fehlschlügen, so müsse „die Unternehmung aufgegeben werden. Mir ist es unmöglich, mich lange gegen Stumpfsinnigkeit und Geschmacklosigkeit zu wehren, denn Lust und Zuversicht allein sind die Seele meines Wirkens." (SNA, Bd. 28, S. 39 f.)

91

WA IV, 11, S. 103.

92

Ebda. — Zur Verwicklung Jean Pauls in den Konflikt Herders mit Goethe und Schiller vergi, zuletzt Werner Fuld: Jean Paul und Weimar, in: Text & Kritik. Zeitschrift fur Literatur, hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold, Sonderband Jean Paul, 3. Auflage, München 1983, S. 169 ff.

93

WA IV, 11, S. 107.

94

SNA, Bd. 28, S. 234.

95

Brief an Schiller, 29. 6. 1796; WA IV, 11, S. 111 f.: „Es ist mir doch lieb daß Sie Richtern gesehen haben, seine Wahrheitsliebe und sein Wunsch etwas in sich aufzunehmen hat mich auch für ihn eingenommen. Doch der gesellige Mensch ist eine Art von theoretischem Menschen, und wenn ich es recht bedenke, so zweifle ich ob Richter im praktischen Sinne sich jemals uns nähern wird, ob er gleich im Theoretischen viele Anmuthung zu uns zu haben scheint."

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Vergi. Werner Fuld, a.a.O., S. 170 f.

97

SNA, Bd. 28, S. 281.

98

Musen-Almanach fur das Jahr 1797, Tübingen 1797, S. 110 f. - Überarbeitete Fassung: WA I, 2, S. 132. - Vergi, auch die Xenien 84 und 87 aus dem Nachl a ß . W A I , 5.1, S. 281.

99 100

SNA, Bd. 29, S. 108. SNA, Bd. 37/1, S. 57 f.

101

Vergi. Waas: Siegfried Schmid, a.a.O., S. 34 ff.

102

Waas, a.a.O., S. 62 passim.

103

SNA, Bd. 29, S. 110.

104

WA IV, 12, S. 205.

105

Abdruck der Gedichte bei Waas, a.a.O., S. 63 - 65, sowie bei Böckmann: Hymnische Dichtung im Umkreis Hölderlins, a.a.O., S. 221 ff.

106

Waas, a.a.O., S. 67.

107

Waas, a.a.O., S. 69 f.

133

108

SNA, Bd. 29, S. 111.

109

Zit. nach Waas, a.a.O., S. 71 f.

110

Zit. nach Waas, a.a.O., S. 79.

111

WA IV, 12, S. 219 f.

112

WA IV, 12, S. 220 f.

113

WA IV, 12, S. 221.

114

WA IV, 12, S. 217.

115

Ebda.

116

SNA, Bd. 29, S. 117.

117

SNA, Bd. 29, S. 118.

118

Ebda. — Im Gegensatz dazu zeigten Angehörige eines „liberalen Stande(s)", worunter Schiller die adelige Amalie Imhof rechnet, „eine gewiße Freiheit, Klarheit und Leichtigkeit aber wenig Ernst und Innigkeit." (S. 118 f.)

119

SNA, Bd. 29, S. 118.

120

Brief vom 28. Juni 1797; WA IV, 12, S. 171.

121

SNA, Bd. 29, S. 92 f.

122

SNA, Bd. 29, S. 118.

123

SNA, Bd. 29, S. 201.

124

Zitate aus dem Brief an Schiller vom August 1797; StA, Bd. 6.1, S. 249 ff.

125

Brief vom 23. 8. 1797; WA IV, 12, S. 262 f. - Der Besuch Hölderlins bei Goethe findet also ziemlich genau zwei Wochen nach dem Siegfried Schmids statt.

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WA 1,40, S. 199 f.

127

Vergi. Schillers Äußerung zu Goethe im Brief vom 14. 9. 1797; SNA, Bd. 29, S. 131: „Aus Verzweiflung, die empirische Natur, womit er umgeben ist, nicht auf eine aesthetische reducieren zu können, verläßt der neuere Künstler von lebhafter Phantasie und Geist, sie lieber ganz, und sucht bei der Imagination Hülfe gegen die Empirie, gegen die Wirklichkeit. Er legt einen poetischen Gehalt in sein Werk, das sonst leer und dürftig wäre, weil ihm derjenige Gehalt fehlt, der aus den Tiefen des Gegenstandes geschöpft werden muß." — Was die Konstellation Schiller - Jean Paul betrifft, so ist die Frage berechtigt, ob es nicht ironischerweise in Wirklichkeit die Schiller'sche Kunstproduktion ist, die der geforderten Welthaltigkeit ermangelt. Werner Fuld: Jean Paul und Weimar, a.a.O., S. 171, ist der Auffassung, daß man gegenüber der „realitätsbezogene(n) Dichtung" Jean Pauls „die eskapistische Künstlichkeit einer nachgedichteten Klassik" kaum als „solide Natur" bezeichnen könne. Daß die poetischen Sphären und die .heterogene' Schreibart Jean Pauls (die skurrile Winkelperspektive, der Wechsel von süßlichem Sentimentalismus und scharfsichtiger Satire bürgerlichen Kleinlebens mit der Tendenz zur Karikatur, die ausufernde Digression) die Welt treffender abbilden als es die synthetischen Konstruktionen des Klassizismus vermögen — diese These gilt freilich nur auf der Basis eines Realitätsbegriffes, der das Chaos zur Essenz hat. Dieser (bei aller Vorsicht: .postmoderne') Realitätsbegriff scheint zwar plausibel nach den Maßgaben des gegenwärtigen Zeitgeistes, der die Postulate der Objektivität und Totalität negiert und sich im Naturalismus des Heterogenen einrichtet. Hält man jedoch an einem Standpunkt nicht totalen, sondern — kritischer Theorie der Gesellschaft verpflichteten — partiellen Ideologieverdachts fest, so ist das klassizistische Prinzip, die

134

Wirklichkeit eingedenk ihres empirischen Befundes nach der Richte der Vernunft zu (re-)organisieren, weder verächtlich noch historisch überholt. Ein solcher Entwurf ,vernünftiger Realität' hat keinen besseren Ort als den der Poesie, die, als spielerisch-kommunikatives Medium und als Teil der Freizeitindustrie, ohnehin konstitutiv jenseits der lebenspraktischen Wirklichkeit angesiedelt ist und deren Strukturen, selbst wenn sie es ausdrücklich will, niemals in .realistischer' Weise gerecht werden kann — es sei denn, sie geht über in etwas, das nicht mehr Kunst ist, sondern Wissenschaft oder bloße Verdoppelung dessen, was alltäglich gesprochen wird. 128

WA I, 47, S. 196 f. - Hervorhebungen bei Goethe. - Vergi. Schiller an Goethe, 14. 9. 1797; SNA, Bd. 29, S. 130f.

129

WA 1,42.2, S. 151.

130

„Tag- und Jahreshefte" 1820; WA I, 36, S. 179f. - Vergi, auch den umfangreichen Aufsatz „Theilnahme Goethes an Manzoni" (in veränderter Form als Vorrede zur deutschen Werkausgabe Manzonis, 1827), WA I, 42.1, S. 135-181. 1825, also im gleichen Jahr, in dem Goethe die „Tag-und Jahreshefte" fertigstellt, bemerkt er zu Zelter: „(...) alles (...) ist jetzt ultra, alles transcendirt unaufhaltsam, im Denken wie im Thun. Niemand kennt sich mehr, niemand begreift das Element worin er schwebt und wirkt, niemand den Stoff den er bearbeitet. Von reiner Einfalt kann die Rede nicht sein; einfältiges Zeug gibt es genug. Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt und dann im Zeitstrudel fortgerissen; Reichthum und Schnelligkeit ist was die Welt bewundert und wornach jeder strebt; Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle möglichen Facilitäten der Communication sind es worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren. Und das ist ja auch das Resultat der Allgemeinheit, da£ eine mittlere Cultur gemein werde (...). Eigentlich ist es das Jahrhundert für die fähigen Köpfe, fur leichtfassende praktische Menschen, die, mit einer gewissen Gewandtheit ausgestattet, ihre Superiorität über die Menge fühlen, wenn sie gleich selbst nicht zum Höchsten begabt sind. Laß uns soviel als möglich an der Gesinnung halten in der wir herankamen, wir werden, mit vielleicht noch wenigen, die Letzten seyn einer Epoche die sobald nicht wiederkehrt." (WA IV, 39, S. 215 f.) Goethes Zeitklage enthält die Erkenntnis, daß es sich beim beständigen ,Transcendiren' um eine Folgeerscheinung der Dynamik der technisch-industriellen Entwicklung handele und daß damit auch das Ende der Möglichkeit eines selbstbestimmten, souveränen Subjekts in Aussicht stehe.

131

Brief an Zelter, 24. 8. 1823: WA IV, 37, S. 190. - Das Zitat resümiert einen Ausfall gegen den nazarenischen Maler Wilhelm Hensel: „Auch er, wie so manche andere, hat ein eingebornes Talent, was aber daraus werden kann, das weiß — nicht Gott, der sich um dergleichen schwerlich bekümmert — aber ich weiß es, der ich diesem Irrsal seit mehr als zwanzig Jahren zusehe. Auch er stickt in dem seichten Dilettantismus der Zeit, der in Alterthümeley und Vaterländeley einen falschen Grund, in Frömmeley ein schwächendes Element sucht, eine Atmosphäre, worin sich vornehme Weiber, halbkennende Gönner und unvermögende Versuchler so gerne begegnen; wo eine hohle Phrasensprache, die man sich gebildet, so süßlich klingt, ein Maximengewand, das man sich auf den kümmerlichen Leib zugeschnitten hat, so nobel kleidet, wo man täglich von der Auszehrung genagt an Unsicherheit kränkelt, (und) um nur zu leben und fortwebeln, sich a u f s schmählichste selbst belügen m u ß . " (Ebda.)

132

WA IV, 12, S. 171f.

133

WA IV, 12, S. 177.

135

134

Brief an Schiller, 12. 8. 1797; WA IV, 12, S. 230.

135

An Goethe, 17. 8, 1797; SNA, Bd. 29, S. 119.

136

Zit. nach Heinrich Diintzer: Schiller und Goethe. Übersichten und Erläuterungen zum Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, Stuttgart 1859, S. 138.

137

WA IV, 12, S. 230.

138

Vergi, die Ausführungen zu Friedrich Schlegel, S. 57 ff. dieser Untersuchung.

139

So schon Heinrich Heine: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, 1834/35, in: Heinrich Heine: Sämtliche Schriften, hrsg. v. Klaus Briegleb, Bd. 3, München 1971, S. 632 passim. - Vergi, auch Heinz Gockel: Mythos und Poesie. Zum Mythosbegriff in Aufklärung und Frühromantik, Frankfurt a. Main 1981, S. 327 passim.

140

Brief an Voigt, 21. 6. 1798, WA IV, 13, S. 188f. - Vergi, auch Brief an Voigt, 29. 5. 1798, WA IV, 13, S. 168. - Goethe hatte Schelling Ende Mai in Jena persönlich kennengelernt.

141 WA IV, 13, S. 189. 142

WA IV, 13, S. 19.

143 WA IV, 13, S. 11. — Vergi. Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur als Einleitung in das Studium dieser Wissenschaft, 1797, in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Schriften von 1794 - 1798, Darmstadt 1975 (= Nachdruck der Ausgabe bei Cotta, Stuttgart u. Augsburg, 1. Abt., Bde. 1 u. 2,1856 u. 1857), S. 336: „Wie eine Welt außer uns, wie eine Natur und mit ihr Erfahrung möglich sey, diese Frage verdanken wir der Philosophie, oder vielmehr mit dieser Frage entstand Philosophie. Vorher hatten die Menschen im (philosophischen) Naturstande gelebt. Damals war der Mensch noch einig mit sich selbst und der ihn umgebenden Welt." — Die weitere von Goethe angezogene Stelle lautet: „Wir wollten erklären, wie es komme, daß in uns Gegenstand und Vorstellung unzertrennlich vereinigt sind. Denn nur in dieser Vereinigung liegt die Realität unseres Wissens von äußeren Dingen. Und eben diese Realität soll die Philosophie darthun. Allein wenn die Dinge Ursachen der Vorstellungen sind, so gehen sie den Vorstellungen voran. Dadurch aber wird die Trennung zwischen beiden permanent. Wir aber wollten, nachdem wir Objekt und Vorstellung durch Freiheit getrennt hatten, beide wieder durch Freiheit vereinigen, wollten wissen, daß und warum zwischen beiden ursprünglich keine Trennung war." (A.a.O., S. 340; nach der Paginierung der Erstausgabe S. 16). — Vergi, auch Goethes Brief an Jacobi, 23. 11. 1801; WA IV, 15, S. 280f.: „Wie ich mich zur Philosophie verhalte kannst du leicht auch denken. Wenn sie sich vorzüglich aufs Trennende legt, so kann ich mit ihr nicht zurechte kommen und ich kann wohl sagen: sie hat mir mitunter geschadet, indem sie mich in meinem natürlichen Gang störte; wenn sie aber vereint, oder vielmehr wenn sie unsere ursprüngliche Empfindung als Seyen wir mit der Natur eins, erhöht, sichert und in ein tiefes, ruhiges Anschauen verwandelt, in dessen immerwährender synkrisis und diakrisis wir ein göttliches Leben fühlen, wenn uns ein solches zu führen auch nicht erlaubt ist, dann ist sie mir willkommen und du kannst meinen Antheil an deinen Arbeiten darnach berechnen." 144

Brief an Jacobi, 16. 12. 1796; WA IV, 11, S. 294f.

145

Brief an Schelling, 27. 9. 1800; WA IV, 15, S. 117.

146

Brief an Schiller, 18. 11. 1800; WA IV, 15, S. 146. - Vergi, auch Brief an Schiller, 19. 2. 1802; WA IV, 16, S. 42f.: „Mit Schelling habe ich einen sehr guten Abend zugebracht. Die große Klarheit, bey der großen Tiefe, ist immer

136

sehr erfreulich. Ich würde ihn öfters sehen, wenn ich nicht noch auf poetische Momente hoffte, und die Philosophie zerstört bey mir die Poesie und das wohl deßhalb, weil sie mich ins Object treibt. Indem ich mich nie rein speculativ »erhalten kann, sondern gleich zu jedem Satze eine Anschauung suchen muß und deBhalb gleich in die Natur hinaus fliehe." 147

Brief an Goethe, 20. 2 . 1 8 0 2 ; SNA, Bd. 31, S. 107.

148

Brief an Goethe, 27. 3 . 1 8 0 1 ; SNA, Bd. 31, S. 25. - Freilich räumt Schiller ein, daß die „Herrn Idealisten ihrer Ideen wegen allzuwenig Notiz von der Erfahrung nehmen, und in der Erfahrung fängt auch der Dichter nur mit dem Bewußtlosen an, ja er hat sich glücklich zu schätzen, wenn er durch das klarste Bewußtseyn seiner Operationen nur soweit kommt, um die erste dunkle Totalidee seines Werks in der vollendeten Arbeit ungeschwächt wieder zu finden. Ohne eine solche dunkle aber mächtige Totalidee die allem technischen vorhergeht, kann kein poetisches Werk entstehen (...)".

149

A.a.O., S. 25f. - Vergi, auch den Brief an Goethe vom 20. 1. 1802, anläßlich einer von Schellings Kunstphilosophie inspirierten Rezension der .Jungfrau von Orleans"; SNA, Bd. 31, S. 88: „Man sieht (...), daß die Philosophie und die Kunst sich noch gar nicht ergriffen und wechselseitig durchdrungen haben, und vermißt mehr als jemals ein Organon, wodurch beide vermittelt werden können. (...) unsere jungen Philosophen wollen von Ideen unmittelbar zur Wirklichkeit übergehen. So ist es denn nicht anders möglich, als daß das Allgemeingesagte hohl und leer und das Besondere platt und unbedeutend ausfällt."

150

Brief an Schiller, 3. oder 4. 4. 1801; WA IV, 15, S. 213.

151

A.a.O., S. 213 f. - Bereits in einem Brief Goethes an Schiller vom 2 5 . 1 1 . 1 7 9 7 , der über die zeitgenössische „Saalbaderey in Principien" Klage führt, wird ein Zusammenhang entwickelt, dessen Pointe einer verdeckten Ironie gegenüber Schiller sicherlich nicht entbehrt: „Die Poesie ist doch eigentlich auf die Darstellung des empirisch pathologischen Zustandes des Menschen gegründet, und wer gesteht denn das jetzt wohl unter unsern fürtrefflichen Kennern und sogenannten Poeten? Hat ein Mann wie Garve, der doch auch zeitlebens gedacht haben will, und fiir eine Art von Philosophen galt, denn nur die geringste Ahndung eines solchen Axioms? Hält er Sie nicht darum nur für einen würdigen Dichter, weil Sie sich den Spaß gemacht haben die Aussprüche der Vernunft mit dichterischem Munde vorzutragen, was wohl zu erlauben, aber nicht zu loben ist." (WA IV, 12, S. 361 f.).

152

Eckermann: Gespräche, 14. 11. 1823 ; Münchner Ausgabe, Bd. 19, S. 65f.

153

Eckermann: Gespräche, 17. 1. 1827; a.a.O., S. 188.

154

Ebda. - Vergi, auch Eckermann: Gespräche, 14. 4. 1824; a.a.O., S. 99: „Den Deutschen (...) ist im Ganzen die philosophische Spekulation hinderlich, die in ihren Styl oft ein unsinnliches, unfaßliches, breites und aufdröselndes Wesen hineinbringt. Je näher sie sich gewissen philosophischen Schulen hingegeben, desto schlechter schreiben sie. Diejenigen Deutschen aber, die als Geschäftsund Lebemenschen bloß aufs Praktische gehen, schreiben am besten. So ist Schillers Styl am prächtigsten und wirksamsten, sobald er nicht philosophiert, wie ich noch heute an seinen höchst bedeutenden Briefen gesehen, mit denen ich mich grade beschäftige."

155

Eckermann: Gespräche, 12. 5. 1825; a.a.O., S. 144f.

156

Vergi, den Aufsatz „Einwirkung der neuern Philosophie" aus dem Jahre 1820; WA II, 11, S. 52f.

137

157 Eckermann: Gespräche, 21. 3. 1830; a.a.O., S. 367. 158 WA II, 11, S. 52. - Das Zitat beschließt folgende Schilderung des Verhältnisses zu Schiller: „Unsere Gespräche waren durchaus productiv und theoretisch, gewöhnlich beides zugleich: er predigte das Evangelium der Freiheit, ich wollte die Rechte der Natur nicht verkürzt wissen. Aus freundschaftlicher Neigung gegen mich, vielleicht mehr als aus eigner Überzeugung, behandelte er in den ästhetischen Briefen die gute Mutter nicht mit jenen harten Ausdrücken, die mir den Aufsatz über Anmuth und Würde so verhaßt gemacht hatten. Weil ich aber, von meiner Seite hartnäckig und eigensinnig, die Vorzüge der griechischen Dichtungsart, der darauf gegründeten und von dort herkömmlichen Poesie nicht allein hervorhob, sondern sogar ausschließlich diese Weise für die einzig rechte und wünschenswerthe gelten ließ : so ward er zu schärferem Nachdenken genötigt, und eben diesem Conflict verdanken wir die Aufsätze über naive und sentimentale Poesie." 159

Hans Mayer: Goethe. Ein Versuch über den Erfolg, Frankfurt a. Main 1973, S. 62.

160 A.a.O., S. 63. 161 Ebda. — Mayer weist auf Goethes späte Anmerkung „Ferneres in Bezug auf mein Verhältniß zu Schiller": „Nun aber ist zu bedenken, daß ich so wenig als Schiller einer vollendeten Reife genoß, wie sie der Mann wohl wünschen sollte; deßhalb denn zu der Differenz unserer Individualitäten die Gährung sich gesellte, die ein jeder mit sich selbst zu verarbeiten hatte; weßwegen große liebe und Zutrauen, Bedürfniß und Treue im hohen Grad gefordert wurden um ein freundschaftliches Verhältniß ohne Störung immerfort zusammenwirken zu lassen." (WA I, 36, S. 253). 162 Mayer, a.a.O., S. 63 ff. — Karl-Heinz Hahn: Lesarten zum Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller. Beitrag zur Rezeptionsgeschichte der Korrespondenz, in: Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik, hrsg. v. W. Barner, E. Lämmert u. N. Oellers, Stuttgart 1984, S. 417, hält Mayer entgegen, der Brief an die Gräfin Schimmelmann sei „kein glücklich gewähltes Beispiel", um „Schillers anhaltend distanzierte und mitunter zwiespältige Haltung Goethe gegenüber" aufzuweisen. Dieser Brief zeige „Schillers Aversion gegen Goethe in sehr unangenehmem Licht", ziele in „ausgesprochen spießiger Weise auf Goethes private Lebensumstände" und lasse nicht auf die „besten Beweggründe" schließen. Es hätten sich, so Hahn, „gewiß andere, das Ansehen Schillers besser wahrende Beispiele geboten". Diese Formulierung legt nahe, daß Hahn, wiewohl er die älteren harmonisierenden Darstellungen der Beziehung zwischen Goethe und Schiller ins Reich der Mythenbildung verweist (S. 407), die unerfreuliche private Haltung Schillers nicht recht wahrhaben möchte, ohne sie freilich bestreiten zu können. Dabei verwirrt sich Hahns Kritik an Mayer: diesem ging es gerade darum, zu zeigen, daß Goethe, im Gegensatz zu Schiller, die „Liebe" gegen die „großen Vorzüge" des anderen eingesetzt, daß also Goethe in diesem Verhältnis menschliche Integrität bewiesen habe. Hahn dagegen ist der Auffassung, Mayers Darstellung leiste — zumindest indirekt — jenen Vorschub, „für die Goethe-Kritik als das wichtigste Kennzeichen progressiver, linker Literaturbetrachtung erscheint." (S. 418). Das aber läßt sich mit der angezogenen Passage bei Mayer nun wirklich nicht belegen. 163 WA II, 11, S. 52f. - Die Erstveröffentlichung erfolgte in den Heften „Zur Morphologie", I. Bd., 2. Heft. Der Entwurf des Textes geht bemerkenswerterweise auf das Jahr 1817 zurück; vergi, die Tagebuchnotizen Goethes vom 14. Mai und 8. -10. September 1817; WA III, 6, S. 48 und S. 105f.

138

164

WA I, 49.1, S. 23 - 59. - Zum Anteil Goethes an der Entstehung dieser Kampfschrift vergi. Katharina Mommsen: Der unbequeme Goethe, in: Publications of the English Goethe Society, New Series Vol. XXXVIII, Leeds 1968, S. 12 - 42. Vergi, auch Goethes Schema des Aufsatzes; WA I, 53, S. 403f.

165

Eckermann: Gespräche, 2. Teil, 21. 3 . 1 8 3 0 ; Münchner Ausg.; Bd. 19, S.367.

166

WA 1,42.2, S. 442.

167

A.a.O., S. 443.

168

Brief an Zelter, 20. 10. 1831 ; WA IV, 49, S. 118.

169

Eckermann: Gespräche, Teil 1, 21. 1. 1827; a.a.O., S. 196.

170

Vergi. „Über naive und sentimentalische Dichtung"; SNA, Bd. 20, S. 482: „Wenn man (...) an den Schöpfungen des naiven Genies zuweilen den Geist vermißt, so wird man bey den Geburten des sentimentalischen oft vergebens nach dem Gegenstande fragen. Beyde werden also, wiewohl auf ganz entgegengesetzte Weise in den Fehler der Leerheit verfallen; denn ein Gegenstand ohne Geist und ein Geistesspiel ohne Gegenstand sind beyde ein Nichts in dem ästhetischen Urtheil. (...) Die Vernunft zieht (im Falle des „zu einseitig aus der Gedankenwelt" schöpfenden Dichters, J.W.) bey ihren Schöpfungen die Grenzen der Sinnenwelt viel zu wenig zu Rath und der Gedanke wird immer weiter getrieben, als die Erfahrung ihm folgen kann. Wird er aber so weit getrieben, daß ihm nicht nur keine bestimmte Erfahrung mehr entsprechen kann, (denn bis dahin darf und muß das Idealschöne gehen) sondern daß er den Bedingungen aller möglichen Erfahrung überhaupt widerstreitet, und daß folglich, um ihn wirklich zu machen, die menschliche Natur ganz und gar verlassen werden müßte, dann ist es nicht mehr ein poetischer, sondern ein überspannter Gedanke (...)".

171

WA IV, 12, S. 413. - Zur „Gesellschaft der freien Männer" vergi. Willy Flitner: August Ludwig Hülsen und der Bund der freien Männer, Jena 1913;Paul Raabe: Das Protokollbuch der Gesellschaft der freien Männer in Jena 1794 - 1799, in: Festgabe für Eduard Berend, Weimar 1959, S. 336 - 383.

172

WA IV, 12, U l f . — Erichson hat sich seine Neigung zur Poesie nicht nehmen lassen. Es gelang ihm immerhin, sie mit einem bürgerlichen Brotberuf zu vereinen: er wurde Professor der Ästhetik in Greifswald.

173

Eckermann: Gespräche, 1. Teil, 29. 1. 1826; a.a.O., S. 155. - Goethe wendet den Gedankengang anschließend ins Zeitkritische und Dichtungstheoretische: „Alle im Rückschreiten und in der Auflösung begriffenen Epochen sind subjektiv, dagegen aber haben alle vorschreitenden Epochen eine objektive Richtung. Unsere ganze jetzige Zeit ist eine rückschreitende, denn sie ist eine subjektive. Dieses sehen Sie nicht bloß an der Poesie, sondern auch an der Malerei und vielem anderen. Jedes tüchtige Bestreben dagegen wendet sich aus dem Inneren hinaus auf die Welt, wie Sie an allen großen Epochen sehen, die wirklich im Streben und Vorschreiten begriffen und alle objektiver Natur waren." (S. 156). — Den Zusammenhang zwischen subjektiver Weltferne und überspannter Phantastik kennt schon Werther: „Gewiß, weil wir doch einmal so gemacht sind, daß wir alles mit uns und uns mit allem vergleichen, so liegt Glück oder Elend in den Gegenständen, womit wir uns zusammenhalten, und da ist nichts gefährlicher als die Einsamkeit. Unsere Einbildungskraft, durch ihre Natur gedrungen sich zu erheben, durch die phantastischen Bilder der Dichtkunst genährt, bildet sich eine Reihe Wesen hinauf, wo wir das unterste sind, und alles außer uns herrlicher erscheint, jeder andere vollkommner ist." ( WA I, 19, S. 89f.). — Vergi, weiterhin Eckermann: Gespräche, 1. Teil, 4. 1. 1827; a.a.O., S. 178:

139

„Ich lobe an den Franzosen (so Eckermann, J.W.), daß ihre Poesie nie den festen Boden der Realität verläßt. Man kann die Gedichte in Prosa übersetzen und ihr Wesentliches wird bleiben. Das kommt daher, sagte Goethe, die französischen Dichter haben Kenntnisse; dagegen denken die deutschen Narren, sie verlören ihr Talent, wenn sie sich um Kenntnisse bemühten, obgleich jedes Talent sich durch Kenntnisse nähren muß und nur dadurch erst zu Gebrauch seiner Kräfte gelangt.(...) Die vielen jungen Dichter, die jetzt ihr Wesen treiben, sind gar keine rechten Talente; sie beurkunden weiter nichts als ein Unvermögen, das durch die Höhe der deutschen Literatur zur Produktivität angereizt worden." — Auch im späten Selbstvergleich mit Schiller klingt diese Denkweise Goethes an: „Ich habe (...) niemals die Natur poetischer Zwecke wegen betrachtet. Aber weil mein früheres Landschaftszeichnen und dann mein späteres Naturforschen mich zu einem beständigen genauen Ansehen der natürlichen Gegenstände trieb, so habe ich die Natur bis in ihre kleinsten Details nach und nach auswendig gelernt, dergestalt, daß, wenn ich als Poet etwas brauche, es mir zu Gebote steht und ich nicht leicht gegen die Wahrheit fehle. In Schillern lag dieses Naturbetrachten nicht. Was in seinem Teil von Schweizerlokalität ist, habe ich ihm alles erzählt; aber er war ein so bewundernswürdiger Geist, daß er selbst nach solchen Erzählungen etwas machen konnte, das Realität hatte. (...) Schillers eigentliche Produktivität lag im Idealen, und es läßt sich sagen, daß er so wenig in der deutschen als einer andern Literatur seines Gleichen hat." (Eckermann: Gespräche, 1. Teil, 18. 1. 1827; a.a.O., S. 194). - Zu Goethes Postulat des ,Realismus' bzw. der empirischen Wirklichkeitswahrnehmung vergi, weiterhin WA II, 11, S. 263f.; WA IV, 49, S. 253f.; Goethes Gespräche, 2. Teil (= Bd. 23 der Artemis-Gedenkausgabe), Zürich 1950, S. 328; S. 391: „ Über den Hang der neuern Zeit zum Mystizism, weil man dabei weniger gründlich zu lernen habe." — Goethe wendet schließlich den notwendigen Zusammenhang von Realitätserfahrung und dichterischer Qualität bis ins Gattungstheoretische — ironisch, vielleicht auch selbstironisch, da ihm nicht entgangen sein dürfte, daß er einen großen Teil seines Ruhmes seinen Leistungen als Lyriker verdankte: „Die Sache ist sehr einfach (...). Um Prosa zu schreiben, muß man etwas zu sagen haben; wer aber nichts zu sagen hat, der kann doch Verse und Reime machen, wo denn ein Wort das andere gibt und zuletzt etwas herauskommt, das zwar nichts ist aber doch aussieht, als wäre es was." (Eckermann: Gespräche, 1. Teil, 29. 1. 1827; a.a.O., S. 205). 174

140

WA I, 42.2, S. 443. - Ein Beispiel: Am 11. 3. 1801 (WA IV, 15, S. 198) hatte Goethe an Schiller geschrieben: „Sie erhalten zugleich ein Trauerspiel, in welchem Sie mit Schrecken abermals, wie mich dünkt, aus einem sehr hohlen Fasse, den Nachklang des Wallenstein hören können." Es handelte sich um das Trauerspiel „Ugolino Gherardeska" des Hölderlin-Freundes Casimir Ulrich Boehlendorff, das dieser im Februar 1801 im Manuskript an Goethe übersandt hatte. Schillers Antwort lautete: „Von dem Stück, das Sie mir zugesendet, ist nichts gutes zu sagen, es ist abermals ein Beleg, wie sich die hohlsten Köpfe können einfallen laßen etwas scheinbares zu produciren wenn die Litteratur auf einer gewißen Höhe ist und eine Phraseologie sich daraus ziehen läßt." (SNA, Bd. 31, S. 15). — Dem Eindruck, daß es sich bei dem Stück Boehlendorffs um ein repräsentatives Produkt einer negativ zu bewertenden literarischen Strömung handele, trug Goethe im Jahre 1805 durch die öffentliche Rezension des „Ugolino" in der „Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung" Rechnung. Im Zentrum seiner Abfertigung stand erneut der Vorwurf leerer SchillerEpigonalität. (WA I, 40, S. 319-323). - Sachlich übereinstimmend mit Goethe (vergi, auch dessen über Anm. 167 zitierten Äußerungen) wird später auch Hen-

rich Steffens (Was ich erlebte, a.a.O., Bd. 4 , S. 3 8 3 f.) das Phänomen der jugendlichen Nachläufer der klassisch-romantischen Epoche beschreiben: „(...) eine Menge Künstler schlossen sich mir an, die mehr gemüthlich als geistig productiv durch die neuere Zeit angeregt waren. (...) Es war die Zeit, in welcher die neuen südlichen Dichtungsweisen durch die glücklichen Versuche der beiden Schlegel und Tiecks in Deutschland einheimisch wurden. Durch Voß und Goethe hatte man schon gelernt, die griechischen Hexameter mit immer größerer Sicherheit und Correctheit nachzubilden. Die J a m b e n waren, vorzüglich durch die Schillerschen Dramen, den jungen Dichtern fast natürlich geworden: jetzt versuchte man sich in Sonetten, Madrigalen und anderen schwierigen Formen. Es ist in der That merkwürdig, mit welcher überraschenden Leichtigkeit auch untergeordnete Naturen sich auf einer solchen einmal eröffneten Bahn zu bewegen vermögen. Es war mir seltsam, wenn ich nun Gedichte hörte, (denn die jungen Dichter versäumten nicht, wenn ihnen auch noch so mühsam ein Sonett gelungen war, es mir vorzutragen), welche aus der Ferne lieblich klangen und etwas Bedeutendes erwarten ließen. So oft ich auch getäuscht wurde, so klangen mir diese Gedichte doch beim Vorlesen inhaltsreich, obgleich ich mir von dem Gehalte durchaus keinen bestimmten Begriff zu bilden vermochte. Erst wenn ich ein solches Gedicht selbst durchlas und den mir bis dahin verschleierten Inhalt kennen lernen wollte, entdeckte ich, daß es gewöhnlich völlig inhaltsleer war. Es ist bekannt, wie im Anfange des Jahrhunderts dieses Geklingel von allen Seiten sich hören ließ. Die Gegner hatten nicht Unrecht, wenn sie auf die Bedeutungslosigkeit und Leerheit solcher Poesieen aufmerksam macht e n . " — Bezeichnenderweise kommt Steffens in diesem Zusammenhang auf einen jungen „ L i e f l ä n d e r " namens „ B . " zu sprechen, dessen Bekanntschaft er um 1800 in Dresden gemacht und dessen Erscheinung ihn besonders „schmerzlich" berührt habe. Bei diesem „ B . " handelt es sich zweifellos um Casimir Boehlendorff. Der Biograph Boehlendorffs, Karl Freye, hat aus den Dokumenten Boehlendorffs die Bekanntschaft des jungen Poeten mit Steffens seit dem Sommer 1800 nachgewiesen (Freye: Casimir Ulrich Boehlendorff, a.a.O., S. 89), ftihrt jedoch den Bericht Steffens nicht an. Steffens erinnert sich: „ B . besuchte mich hier (in Tharand bei Dresden, J.W.), und er wollte mit aller Gewalt ein Dichter sein. Er arbeitete in Dresden an einem tragischen Drama. Das Thema gehörte der modernen romantischen Poesie an. Es war aus der spanischen Geschichte, in J a m b e n bearbeitet und ganz in Schillerscher Manier (Steffens kontaminiert in der Erinnerung offensichtlich Boehlendorffs erstes Stück „Fernando oder Kunstweihe", das in Spanien spielt, mit dem zweiten Stück „Ugolino Gherardeska". Beide Stücke stellt Boehlendorff in Dresden fertig. J.W.). Wenn er einige Auftritte fertig hatte, eilte er zu mir, und war, wenn er sie vorlas, überglücklich. Und in der That, mir schienen sie höchst wohlklingend und gewandt. Im Anfange erwartete ich selbst etwas von diesem Gedicht; das Außerordentliche, Tiefe und Bedeutsame wird, dachte ich, schon kommen. Ich lebte in einer schmerzhaften Spannung freundschaftlicher Theilnahme. Allmälig wurde ein Akt nach dem andern fertig. Große Unglücksfälle häuften sich, heftige Gemüthserschütterungen drängten sich, alle Personen des Dramas gerieten in Verzweiflung, aber das Bedeutsame wollte nicht zum Vorschein kommen. Zuletzt war es mir, als wenn das Geistvolle, wahrhaft Tiefe, anstatt durch die poetische Form enthüllt zu werden, durch den Wohlklang der J a m b e n und durch die Glätte des sorgfältig polirten Metrums gefesselt würde, so daß es durchaus nicht zum Vorschein kommen konnte. J e weiter das Drama gedieh, desto entzückter war der Dichter, desto mehr verschwand von meiner Seite eine jede Hoffnung. Und als der arme B. mit einer grenzenlosen Freude mir den Schluß seiner Arbeit vortrug, erkannte ich leider, daß sie völlig bedeutungslos war. Ich aber

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wurde nun von einem vernichtenden Gefühle ergriffen. Die Personen des Dramas waren mir völlig gleichgültig geworden, aber desto mehr wuchs ein schmerzhaftes Mitleid mit dem armen Dichter. Die Natur schien mir grausam, die ein so leeres Streben mit einer so überwiegenden Gewalt in eine menschliche Seele hineinlegte. Eine jede Persönlichkeit hatte fur mich einen Werth, ich vermochte es nie, sie aufzugeben, oder als etwas Nichtiges zu betrachten, ja meine Theilnahme wuchs, hatte sie mich einmal angezogen, immer heftiger, je entschiedener eine frühere Erwartung zu verschwinden schien. Der junge Dichter war so überaus glücklich; der tieffste Geist konnte, wenn ihm das herrlichste Product gelungen war, keine größere Freude empfinden. Er fand sich gehoben, er glaubte, eine bedeutende Stelle unter den Dichtern erworben zu haben: und ich erkannte, wie alles leer und armselig war. Ich fühlte es wohl, daß es meine Pflicht wäre, ihm die Augen zu öffnen. Jetzt sollte ich ihm nun wirklich, und zwar aus echter Freundschaft so erscheinen, wie ich ihm in Jena aus der Ferne als ein Fremder abschreckend erschienen war (Boehlendorff hatte damals nicht gewagt, an Steffens heranzutreten, da er ihm „hart und absprechend" erschienen war, J.W.). Aber ich war zu schwach, ich vermochte es nicht. Allerdings konnte ich sein Entzücken nicht theilen, ja ich äußerte mich wohl zweifelhaft über Manches; aber der glückliche Dichter, in seine Freude versunken, übersah den milden Tadel, und ich habe es wohl selbst verschuldet, wenn es ihm gelang, diesen als Lob zu betrachten." (S.385 ff.) — Steffens unternimmt noch einen Versuch, sein eigenes Urteil zu relativieren und legt das Stück Tieck vor: „Aber Tiecks Urtheil war so hart, als das meine. Ich habe später gehört, daß der arme Mensch in eine psychische Krankheit verfiel, ich habe ihn nicht wieder gesehen. Aber ich fühle fortdauernde Gewissensbisse über eine Schwäche, die ich mir nicht hart genug vorwerfen zu können glaube, und ich habe den Entschluß gefaßt, dichterische Versuche, wenn sie nicht von einem durchaus entschiedenen Talente unterstützt werden, wo man mein Urtheil verlangt, schlechthin abzuweisen." (S. 388 f.). 175

WA I, 42.2, S. 443. - Vergi, auch „Klassiker und Romantiker in Italien, sich heftig bekämpfend" (1820); WA I, 41.1, S. 135 f.

176

Brief an Jacobi, 7. 3. 1808; WA IV, 20, S. 26 f.

177

F. W. J. Schelling: Briefe und Dokumente, Bd. 2, 1775-1803 (Zusatzband), hrsg. v. A. Fuhrmans, Bonn 1973, S. 359.

178

Ich weise vor allem auf die „Hymne", Nr. VII der „Geistlichen Lieder": „O! daß das Weltmeer / Schon errötete, / Und in duftiges Fleisch / Aufquölle der Fels! / Nie endet das süße Mahl, / Nie sättigt die Liebe sich. / Nicht innig, nicht eigen genug / Kann sie haben den Geliebten. / Von immer zärteren Lippen / Verwandelt wird das Genossene / Inniglicher und näher." (Verse 27 - 37). Bizarr bis an die Grenze des makaber Komischen, gewinnen solche Verse auch nicht, wenn man berücksichtigt, daß Novalis mit ihnen bewußt provokative Ideen zu poetisieren sucht: „In der Freundschaft ißt man in der Tat von seinem Freunde, oder lebt von ihm. Es ist ein echter Trope, den Körper für den Geist zu substituieren — und bei einem Gedächtnismahle eines Freundes in jedem Bissen mit kühner, übersinnlicher Einbildungskraft, sein Fleisch, und in jedem Trünke sein Blut zu genießen. Dem weichlichen Geschmack unserer Zeiten kommt dies freilich ganz barbarisch vor — aber wer heißt sie gleich an rohes, verwesliches Blut und Fleisch denken. Die körperliche Aneignung ist geheimnisvoll genug, um ein schönes Bild der geistigen Meinung zu sein — und sind denn Blut und Fleisch in der Tat etwas so Widriges und Unedles? Wahrlich, hier ist mehr, als Gold und Diamant und die Zeit ist nicht mehr fern, wo man höhere Begriffe vom organischen Körper haben wird." (Zitate nach Novalis: Schriften,

142

1. Bd., Das dichterische Werk, hrsg. v. P. Kluckhohn u. R. Samuel, Stuttgart 1960, S. 167 u. S. 179). 179

Während der Vorarbeiten zu den „Propyläen" scheint Goethe geplant zu haben, Tiecks „Sternbald" einer öffentlichen kritischen Würdigung zu unterziehen, vergi, seine Randglossen zu dem Roman in WA I, 47, S. 362. Anstößig war fur Goethe vor allem die „falsche Tendenz" (ebda.) zur Introversion und zum träumerischen, weltfernen Phantasiespiel, die Tieck in der Dedikation des Buches (Buch 2, Kapitel 1) ausdrücklich formuliert hatte: „Ich widme diese kleine unbedeutende Geschichte jenen jungen Seelen, die ihre Liebe noch mit sich selber beschäftigen, und sich noch nicht dem Strome der Weltbegebenheiten hingegeben haben, die sich noch mit Innigkeit an den Gestalten ihrer innern Phantasie ergötzen, und ungern durch die wirkliche Welt in ihren Träumen gestört werden." (Zit. nach Ludwig Tieck: Franz Sternbalds Wanderungen, in: Tieck und Wackenroder, hrsg. v. Jakob Minor, Berlin und Stuttgart o. J., = Bd. 145 von Joseph Kürschners Deutsche National-Litteratur, historisch-kritische Ausgabe, S. 172f.) — Im Aufsatz „Deutsche Sprache" von 1817 begründet Goethe, weswegen er seinerzeit schließlich doch geschwiegen habe. Aktueller Ajilaß fur seine Stellungnahme ist die öffentliche Reaktion auf die Kampfschrift „Neudeutsche religios-patriotische Kunst": „Einige jüngere Kunstgenossen", so schreibt Goethe, hätten bei der Lektüre dieser Schrift die Frage erhoben, „ob denn die Weimarer Kunstfreunde im Jahre 1797, als der Klosterbruder herausgegeben ward, schon derselben Meinung gewesen, ob sie schon damals die neue Richtung der deutschen Kunst mißbilligt? worauf denn nothwendig eine bejahende Antwort erfolgen mußte. Redliche junge Gemüther nahmen dieses Bekenntnis keineswegs gleichgültig auf, sondern wollten es für eine Gewissenssache halten, ja tadelhaft finden, daß man nicht gleich die strebenden Künstler, besonders die, mit welchen man enger verbunden, gewarnt, um so schädlich einschleichendem Übel vorzubeugen. Hierauf nun konnte man Verschiedenes erwidern. Es sei nämlich in allen solchen Fällen ein eben so gefährlich- als unnützes Unternehmen, verneinend, abrathend, widerstrebend zu Werke zu gehen, denn wenn junge gemüthvolle Talente einer allgemeinen Zeitrichtung folgen und auf diesem Wege ihrer Natur gemäß nicht ohne Glück zu wirken anfangen, so sei es schwer, j a fast unmöglich, sie zu überzeugen, daß hieraus für sie und andere in Zukunft Gefahr und Schaden entstehen werden. Man habe daher dieser Epoche stillschweigend zugesehn, wie sich denn auch der Gang derselben nur nach und nach entwickelt. Unthätig sei man aber nicht geblieben, sondern habe praktisch seine Gesinnung anzudeuten gesucht. Hievon bleibe ein unverwerfliches Zeugniß die siebenjährige Folge weimarischer Kunstausstellungen, bei welchen man durchaus nur solche Gegenstände als Aufgabe gewählt, wie sie uns die griechische Dichtkunst überliefert, oder worauf sie hindeutet, wodurch denn vielleicht auf einige Jahre der neue kränkelnde Kunsttrieb verspätet worden, ob man gleich zuletzt befürchten müssen, von dem Strome selbst hinab gezogen zu werden." (WA I, 41.1, S. 109f.). — Hierzu paßt auch die Anmerkung Henrich Steffens: „Wenn Göthe sich gegen die ,Herzens-Ergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders' und gegen ,Sternbalds Wanderungen' erklärt hat, so nahm er mehr Rücksicht auf die Folgen, die sich bei der Masse äußerten, als auf die ursprüngliche Tendenz dieser Schriften." (Was ich erlebte, Bd. 4, a.a.O., S. 389).

180

„Tag- und Jahreshefte", 1802; WA I, 35, S. 140 f.

181

Friedrich Schlegels Zeitschrift „Europa" von 1803 kennzeichnet den Beginn der christlichen Wende der Romantik. — Vergi. Ernst Behler: Nachwort zu: Europa. Eine Zeitschrift, hrsg. v. Fr. Schlegel, Frankfurt a. Main 1803, Neudruck Stuttgart 1963, S. 31 f.

143

182

Brief an J . H. Meyer, 22. 7. 1805; WA IV, 19, S. 26. - Schlegel war in seinem Aufsatz zwar einerseits Goethes Kritik an Canova und an der neuern französischen (.malerischen') Bildhauerei beigetreten, hatte jedoch andererseits am Beispiel eines Gemäldes des jungen Christian Gottlob Schick („Das Opfer Noahs") der nazarenischen Richtung das Wort geredet: „Ich kann nicht umhin, an diesem Beispiele die Vortrefflichkeit der biblischen und überhaupt der christlichen Gegenstände im Vorbeigehen zu berühren, die mir für die Malerei eben so ewig und unerschöpflich scheinen, als die der klassischen Mythologie es fur die Skulptur sind; ja in ihrer geheimnißvollen Heiligkeit noch unergründlicher." (Zit. nach A. W. Schlegel: Sämmtliche Werke, hrsg. v. E. Böcking, Bd. 9, Leipzig 1846, S. 254). — Solche Empfehlungen mußten von Goethe, zumal im Jahr der Veröffentlichung von „Winckelmann und sein Jahrhundert", als Provokation aufgefaßt werden.

183

WA I, 48, S. 121f. — Goethe zitiert nach: Erläuterung des polygnotischen Gemähides auf der rechten Seite der Lesche zu Delphi von Fr. und Joh. Riepenhausen. Erster Theil, Göttingen 1805, $ 14. (Wiederabdruck bei Richard Benz: Goethe und die romantische Kunst, München 1940, S. 114).

184

WA I, 48, S. 122. — In späterer Rückerinnerung an die „letzte Kunstausstellung" von 1805 in Weimar notierte Goethe melancholisch: ,^olygnots Lesche und sonstige alte Kunstwerke, von denen uns nur die Beschreibung übrig geblieben, wurden fleißig bedacht und im antiken Sinn nach mannigfaltiger Prüfung so gut als möglich wieder hergestellt. Hierbei verlor man die frühere Mitwirkung der Gebrüder Riepenhausen, deren schönes Talent sich mit andern der Legende und dem Mittelalter zugewendet hatte. Wenn die bisherigen Ausstellungen, sowohl den Künstlern als uns, gar manchen Vortheil brachten, so schieden wir nur ungern davon und zwar auch aus dem Grunde: weil eine durch Frömmelei ihr unverantwortliches Rückstreben beschönigende Kunst desto leichter überhand nahm, als süßliches Reden und schmeichelhafte Phrasen sich viel besser anhören und wiederholen, als ernste Forderungen auf die höchstmögliche Kunstthätigkeit menschlicher Natur gerichtet. Das Entgegengesetzte von unsern Wünschen und Bestrebungen thut sich hervor, bedeutende Männer wirken auf eine der Menge behagliche Weise; ihre Lehre und Beispiel schmeichelt den meisten; die Weimarischen Kunstfreunde, da sie Schiller verlassen hat, sehen einer großen Einsamkeit entgegen. Gemüth wird über Geist gesetzt, Naturell über Kunst, und so ist der Fähige wie der Unfähige gewonnen. Gemüth hat jedermann, Naturell mehrere; der Geist ist selten, die Kunst ist schwer. Das Gemüth hat einen Zug gegen die Religion, ein religiöses Gemüth mit Naturell zur Kunst, sich selbst überlassen, wird nur unvollkommene Werke hervorbringen; ein solcher Künstler verläßt sich auf das Sittlich-Hohe, welches die Kunstmängel ausgleichen soll. Eine Ahnung des Sittlich-Höchsten will sich durch Kunst ausdrükken, und man bedenkt nicht, daß nur das Sinnlich-Höchste das Element ist, worin sich jenes verkörpern kann." (WA I, Bd. 36, S. 265 ff.). — Die .nazarenische' Wendung der Brüder Riepenhausen, die durch ihre förmliche Konversion zum Katholizismus im Herbst 1804 besiegelt wurde, scheint die „Weimarischen Kunstfreunde" persönlich getroffen zu haben; sie gedenken ihrer in bedauerndironischem Ton auch in der Streitschrift „Neu-deutsche religios-patriotische Kunst". (WA I, 49.1, S. 42 f.). - Vergi, hierzu auch Hans-Joachim Mähl: Goethes Urteil über Novalis, a.a.O., S. 135 ff. (Vergi. Anm. 70).

185

WA IV, 20, S. 74. - 1810 bemerkt Goethe anläßlich Achim von Arnims „Armuth, Reichthum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores": „Wenn ich einen verlohrenen Sohn hätte, so wollte ich lieber, er hätte sich von den Bordellen bis zum Schweinkoben verirrt, als daß er in den Narrenwust dieser letzten Tage

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sich verfinge: denn ich fürchte sehr, aus dieser Hölle ist keine Erlösung." (Brief an Reinhard, 7. 10. 1810; WA IV, 21, S. 395). 186

WA IV, 20, S. 86.

187

Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe, Bd. 8, 1. Abt., hrsg. v. E. Behler u. U. Struc-Oppenberg, München, Paderborn, Wien 1975, S. 199. - WA IV, 20,S. 92.

188

WA IV, 20, S. 92f.

189

WA IV, 20, S. 93.

190

WA IV, 20, S. 93f. - Goethes Verdacht, Schlegels Wendung zum Übernatürlichen sei ein schamanenhafter Schwindel, mag aus der Erinnerung an einen vielen Jahre zurückliegenden Hinweis Schillers bestärkt worden sein. Dieser hatte anläßlich der Kant-Polemik des frommen Johann Georg Schlosser im Jahre 1797 die contradictio in adjecto eines .vernünftigen Vernunftgegners' logisch nur durch die Vermutung auflösen können, es seien bei einer solchen paradoxen Haltung subjektiv unredliche Absichten im Spiel: „Auch kann man, däucht mich, bey allen Streitigkeiten, wo der Supernaturalism von denkenden Köpfen gegen die Vernunft vertheidigt wird, in die Ehrlichkeit ein Mistrauen setzen, die Erfahrung ist gar zu alt und es läßt sich überdem auch gar wohl begreifen." (Brief an Goethe, 22. 9. 1797; SNA, Bd. 29, S. 137).

191

So bezeichnet Goethe Stolberg in einem Brief an Schiller bereits am 25. 11. 1795; WA IV, 10, S. 337. - Goethes Schimpf entzündete sich an der Vorrede zu „Auserlesene Gespräche des Piaton übersetzt von Fr. L. Graf zu Stolberg, Königsberg 1796-97"; vergi, den Brief an Humboldt, 3. 12. 1795; WA IV, 10, S. 344: „Haben Sie die monstrose Vorrede Stolberg's zu seinen Platonischen Gesprächen gesehen? Es ist recht schade, daß er kein Pfaff geworden ist, denn so eine Gemüthsart gehört dazu, ohne Scham und Scheu, vor der ganzen gebildeten Welt ein Stückchen Oblate als Gott zu eleviren und eine offenbare Persiflage, wie z. B. Ion ist, als ein kanonisches Buch zur Verehrung darzustellen." — Goethe sah sich also eigentlich bereits zu dieser Zeit vorgewarnt, ohne freilich eine solche Erscheinung als Vorboten des Zeitgeists ernst zu nehmen.

192

Brief an F. H. Jacobi, 11. 1. 1808; WA IV, 20, S. 5.

193

Vergi. Brief an N. Meyer, 1. 2. 1808; WA IV, 20, S. 14 f.: „Das Stück wird sich, seinen äußeren Forderungen nach, wohl auf allen Theatern geben lassen. Es verlangt kaum soviel Anstalten als die Jungfrau von Orleans." — Am gleichen Tag verfaßt Goethe den Absagebrief an Kleist und die „Penthesilea", vor allem mit dem Argument, daß das Stück unter den gegenwärtigen Bedingungen der Theaterpraxis nicht auffuhrbar sei; vergi. S. 93. — Karl von Holtei führt den Erfolg der „Wanda" auf die Theatersituation in Weimar und auf Goethes rigorose Herrschaft über das Publikum zurück: ,, Goethe in seiner Vornehmheit, (ich gebrauche diesen Ausdruck hier im besten Sinne), hatte sich von jeher viel zu sehr isolirt, um zu lernen oder nur lernen zu wollen, wie man mit einer großen beweglichen Masse umgehen soll. Auch als er das Weimarsche Theater führte, hatt' er kein Publikum vor sich, sondern lediglich eine Versammlung von Leuten, die entweder vom Hofe oder in geistiger Beziehung von ihm abhingen und die, auch wenn sie sich bei irgend einem Experimente in dramatischer Sphäre langweilten, ihrer Langweile höchstens durch mühsam verhaltenes Gähnen Luft machen durften. Deshalb könnt' er's mit einer Wernerschen ,Wanda', mit einem Schlegelschen ,Ion', ja mit noch kurioseren curiosis wagen. Litt er doch keine Rezensionen in auswärtigen Blättern, um wie viel weniger hätt' er den Ausbruch der Ungeduld im Parterre geduldet. Aus seiner Ansicht war er im vollkommensten Rechte. Denn er sagte: Sie wissen doch nicht was sie wollen und

145

so mögen sie mir's überlassen, für sie zu wählen." (Karl von Holtei: Vierzig Jahre, Bd. 5, Breslau 1845, S. 66). — Holtei dürfte aus späterer, zum Ikonographischen neigenden Sicht die ,Herrscherrolle' Goethes überschätzt haben. Goethe sah sich während der Zeit seiner Theaterleitung immerhin gezwungen, stets erneut auf publikumswirksame ,Boulevardstücke', selbst auf solche seines Lieblingsfeindes Kotzebue, zurückzugreifen. 194

Brief an Jacobi, 7. 3. 1808; WA IV, 20, S. 26.

195

Brief Jacobis an Goethe, 19. 2. 1808; zit. nach: Briefe an Goethe, Hamburger Ausgabe, Bd. 1, S. 501. Jacobi hatte Werner in diesem Zusammenhang folgendermaßen charakterisiert: „Werner, der Sohn des Tals, scheint mir auch zu der Gattung von Menschen zu gehören, in und an denen wissentlich und unwissentlich zugleich der Ernst zum Spaße, und der Spaß zum Ernst, die Grimasse zur Physiognomie und die Physiognomie zur Grimasse auf eine Art und Weise wird, wie es mir nicht behagt. Solches Spiel treiben und mit sich treiben lassen zerrüttet ohnfehlbar auch die vornehmsten Naturen."

196 WA IV, 20, S. 27. 197

A.a.O., S. 27f. — Man darf annehmen, daß Goethe mit diesen Formulierungen ironisch auf folgende „Ideen" Friedrich Schlegels in der Zeitschrift „Athenaeum" anspielt: „Alle Menschen sind etwas lächerlich und grotesk, bloß weil sie Menschen sind; und die Künstler sind wohl auch in dieser Rücksicht doppelte Menschen. So ist es, so war es, und so wird es seyn." — „Selbst in den äußerlichen Gebräuchen sollte sich die Lebensart der Künstler von der Lebensart der übrigen Menschen durchaus unterscheiden. Sie sind Braminen, eine höhere Kaste, aber nicht durch Geburt sondern durch freye Selbsteinweihung geadelt." (Zit. nach: Athenaeum. Eine Zeitschrift von A. W. Schlegel und F. Schlegel, 3. Bd., 1. Stück, Berlin 1800, Neudruck Stuttgart 1960, S. 31).

198 WA IV, 20, S. 29. 199 WA IV, 20, S. 28f. 200

Karl von Holtei: Vierzig Jahre, Bd. 5, Breslau 1845, S. 59f., beruft sich bei diesem Bericht auf eine Anekdote Adele Schopenhauers.

201 Vergi. Werners Brief an Goethe, 15. 4. 1808; Briefe an Goethe, Bd. 1, a.a.O., S. 512: „Wenn ich wenigstens nur ein Maler wäre, und Ew. Exzellenz mir malen könnte und den kurzen Abschied an der Treppe und wie Helios mit dem Strahlenblicke mich beim Schöpfe ergriff und sagte: Bald hätte ich das Nötigste vergessen! Und dann forteilte und meinem Danke entfloh! — nicht das was er mir in die Hand steckte — (wiewohl es weit, weit über mein Verdienst und Würdigkeit) — war der Segen, aber dies Anfassen bei dem Haupte war es — ein heidnischer Segen, eine Kunstweihe des Jüngers durch den ersten Meister, die auch nicht ohne Erfolg bleiben soll und wird! Halten Ew. Exzellenz mir mein Geschwätz zu Gnaden; ich möchte gern mein ganzes Gefühl ausströmen gegen Den, dem ich keinen Namen geben kann, als die biblischen ,Kraft, Rat, Ewigvater, Friedensfurst', gegen Helios-Apollon dessen Gedächtnisse so wie gegen dem Andenken an Carolina die Einzige, das letzte Sonett, unter den anliegend abgeschriebenen, geweiht ist." 202

Brief an Reinhard, 22. 6. 1808; WA IV, 20, S. 91f.

203 Tagebuch Boisserées, 25. 5. 1826; zit. nach: Goethes Gespräche, Bd. III/2, Zürich 1972, S. 44. (In der Artemis-Gedenkausgabe Bd. 23, S. 435). 204

146

Vergi. WA I, 49.1, S. 58: „Die echte, wahre (Religiosität, J.W.), die dem Deutschen so wohl ziemt, hat ihn zur schlimmsten Zeit aufrecht erhalten und mit-

ten unter dem Druck nicht allein seine Hoffnungen, sondern auch seine Thatkräfte genährt. Möge ein so würdiger EinfluB bei fortwährendem großen Drange der Begebenheiten der Nation niemals ermangeln; dagegen aber alle falsche Frömmelei aus Poesie, Prosa und Leben bald möglichst verschwinden und kräftigen heitern Aussichten Raum geben." 205

Brief an Zelter, 20. 10. 1831; WA IV, 49, S. 118.

206

Ebda.

207

Ernst Behler (Einleitung zu): Friedrich Schlegel, Kritische Ausgabe, Bd. 8, 1. Abt., München, Paderborn, Wien 1975, S. CXXX. - Nach Abschluß des Wiener Kongresses hatte der Papst Schlegel den Christusorden verliehen; Metternich hatte ihn zum Legationsrat der österreichischen Gesandtschaft am Frankfurter Bundestag ernannt.

208

Vergi. Günter Peters: Das tägliche Brot der Literatur. Friedrich Schlegel und die Situation des Schriftstellers in der Frühromantik. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 27. Jg., Stuttgart 1983, S. 235-282.

209

Vergi. Kapitel X, S. 103 ff.

210

Goethes Verhältnis zu Tieck in den späteren Jahren ist hierfür ein Beispiel; vergi. Kapitel X, S. 104 f.

211

Zit. nach: Friedrich Schlegel. Philosophische Vorlesungen aus den Jahren 18041806. Nebst Fragmenten vorzüglich philosophisch-theologischen Inhalts, hrsg. v. C. J. H. Windischmann, Bd. 2, Bonn 1837, S. 524. - Vergi. Fr. Schlegel, Krit. Ausgabe, Bd. 18., 2. Abt., München, Paderborn, Wien 1963, S. XIII.

212

Vergi, etwa Panajotis Kondylis: Die Entstehung der Dialektik. Eine Analyse der geistigen Entwicklung von Hölderlin, Schelling und Hegel bis 1802, Stuttgart 1979, S. 45ff. und S. 186ff. — Was hier am Beispiel der (ehemaligen) Tübinger Stiftler gezeigt wird, trifft im Wesentlichen auch auf die deutschen Frühromantiker zu.

213

Vergi. Kondylis, a.a.O., S. 283ff.

214

Fr. Schlegel, Krit. Ausg., Bd. 16, 2. Abt., 1981, S. 206. - Vergi, auch Bd. 2, 1. Abt., 1967, S. 161: „Die ganze Geschichte der modernen Poesie ist ein fortlaufender Kommentar zu dem kurzen Text der Philosophie: Alle Kunst soll Wissenschaft, und alle Wissenschaft soll Kunst werden; Poesie und Philosophie sollen vereinigt werden." (Lyceums-Fragment 115).

215

Fr. Schlegel, Krit. Ausg., Bd. 2, 1. Abt., 1967, S. 182.

216

A.a.O., S. 198.

217

A.a.O., S. 198f.

218

A.a.O., S. 366.

219

Fr. Schlegel, Krit. Ausg., Bd. 3 , 1 . Abt., 1975, S. 155.

220

A.a.O., S. 156.

221

Ebda.

222

So etwa Gisela Dischner in: Romantische Utopie. Utopische Romantik, hrsg. v. G. Dischner u. R. Faber, Hildesheim 1979, S. 283.

223

Vergi. Fr. Schlegel, Krit. Ausg., Bd. 3, 1. Abt., 1975, S. 156: „Unleugbar hat (...) die französische Revolution z. B. auf die Erregung und den Gang des deutschen Geistes einen sichtbaren und wesentlichen Einfluß gehabt. Sollte die große deutsche Revolution, die jetzt begonnen, nicht noch ganz anders wirken müssen? "

147

224

Zit. nach: Fr. Schlegel, Krit. Ausg., Bd. 8 , 1 . Abt., 1975, S. CXVI.

225

Vergi, die abschließenden Sätze aus der „Rede über die Mythologie" von 1799/ 1800; Fr. Schlegel, Krit. Ausg., Bd. 2, 1. Abt., 1967, S. 322: „Und so laßt uns denn, beim Licht und Leben! nicht länger zögern, sondern jeder nach seinem Sinn die große Entwicklung beschleunigen, zu der wir berufen sind. Seid der Größe des Zeitalters würdig, und der Nebel wird von Euren Augen sinken; es wird helle vor Euch werden. Alles Denken ist ein Divinieren, aber der Mensch fängt erst eben an, sich seiner divinatorischen Kraft bewußt zu werden. Welche unermeßliche Erweiterungen wird sie noch erfahren; und eben jetzt. Mich däucht wer das Zeitalter, das heißt jenen großen Prozeß allgemeiner Verjüngung, jene Prinzipien der ewigen Revolution verstünde, dem müßte es gelingen können, die Pole der Menschheit zu ergreifen und das Tun der ersten Menschen, wie den Charakter der goldnen Zeit die noch kommen wird, zu erkennen und zu wissen. Dann würde das Geschwätz aufhören, und der Mensch inne werden, was er ist, und würde die Erde verstehn und die Sonne." — Es blieb freilich bei derlei emphatisch-apokalyptischem Wortgeklingel.

226

Vergi. Benjamins Einleitung zu seiner Dissertation von 1919: „Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik", in: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, 1.1, hrsg. v. R. Tiedemann u. H. Schweppenhäuser, Frankfurt a. Main 1974, S. 12. — Benjamin zitiert in diesem Zusammenhang Schlegels AthenaeumFragment 222: „Der revolutionäre Wunsch, das Reich Gottes zu realisieren, ist der elastische Punkt der progressiven Bildung, und der Anfang der modernen Geschichte. Was in gar keiner Beziehung aufs Reich Gottes steht, ist in ihr nur Nebensache." (Vergi. Fr. Schlegel, Krit. Ausg., Bd. 2, 1967, S. 201).

227

Vergi. Klaus Peter: Friedrich Schlegel, Stuttgart 1978, S. 60f. - Vergi, auch Henri Chélin: Friedrich Schlegels Europa, Frankfurt a. Main 1981, bes. S. 108 passim.

228

Fr. Schlegel, Krit. Ausg., Bd. 7, 1. Abt., 1966, S. 76.

229

1805 notiert Schlegel: „Eine gründliche Kritik der V.(ernunft) dürfte grade auf das entgegengesezte Resultat fuhren als die Kantische; nicht daß die transcendente Idee ein Schein sei, der aus der Natur der menschl(ichen) Vernunft entspringe; sondern daß sie als über die menschl(iche) Vernunft hinausgehend, ihr durch Offenbarung mitgetheilt, von ihr aber sehr bald misverstanden ist." (Krit. Ausg., Bd. 19, 2. Abt., 1971, S. 46). - Vergi, auch Einleitung zu Krit. Ausg., Bd. 8, l.Abt., 1975, S. CXII.

230

„Le snobisme de l'absolu" nennt Jacques Laurent (Les Bêtises, Paris 1971, S. 65) eine Haltung, die allein im Exzentrischen und Abenteuerlichen Befriedigung findet und darum stets die Alltagserfahrung und das Praktisch-Politische überspringt. — George L. Mosse (Die Nationalisierung der Massen. Politische Symbolik und Massenbewegungen in Deutschland von den Napoleonischen Kriegen bis zum Dritten Reich, Frankfurt a. Main 1976, S. 33 passim) konstatiert diese Haltung für viele bürgerliche Intellektuelle seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Sie wurzele in der religiösen (insbesondere pietistischen) und ästhetischen Uberformung des Politischen im Verlauf des vorhergehenden Dezenniums und führe in der jüngeren Vergangenheit „viele Intellektuelle in die Arme des Faschismus, wo sie ihren Helden nachspüren konnten und ein der alltäglichen Eintönigkeit bürgerlicher Existenz fernes Leben fanden. Diese Art von Snobismus wohnte aber auch der ,neuen Politik' inne und sprach die Massen wie auch Intellektuelle an, denn der Kult politisch aufgeladener Mythen und Symbole gründete sich auf ihre Ungewöhnlichkeit, auf die Tatsache, daß sie außerhalb des normalen Verlaufs der Geschichte lagen und eigentlich nur von

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denen verstanden werden konnten, die sie kämpferisch verteidigten. Das Verlangen nach Erlebnissen abseits vom täglichen Leben, Erlebnissen, die .erheben', liegt allen religiösen Kulten zugrunde und wird ständig auf die weltliche Religion der Politik übertragen. Sogar das Bürgertum liebte es, sein wohlgeordnetes Leben mit dem Ausgefallenen und Erhebenden anzuregen." 231

Concordia. Eine Zeitschrift, hrsg. v. Friedrich Schlegel, Wien 1823 (Neudruck Darmstadt 1967), S. lf. - Jürgen Habermas (Kleine Politische Schriften V: Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt a. Main 1985) hat mit dem Begriff „neue Unübersichtlichkeit" das gegenwärtige intellektuelle Krisenphänomen bezeichnet, das aus dem Verlust der „arbeitsgesellschaftlichen Utopie" (S. 146) und der Wahrnehmung eines umfassenden „Schreckenspanorama(s) der weltweiten Gefährdung allgemeiner Lebensinteressen" (S. 143) entspringe: Eine „forsch akzeptierte Ratlosigkeit (trete) mehr und mehr an die Stelle von zukunftsgerichteten Orientierungsversuchen." (S. 143) Bei den jüngeren (akademisch tätigen) Intellektuellen habe sich die Lebensperspektive so verdüstert, „dafl sich eine negativistische Stimmung ausgebreitet hat, die teilweise sogar in eine apokalyptische Erweckungsbereitschaft umschlägt." (S. 223) Eine „vermeintlich radikale Kritik" der Aufklärung und der Vernunft, die der „kognitiv-instrumentellen Vereinseitigung des modernen Begriffs der Rationalität" (S. 136) auf den Leim gehe, statt sie als „objektive Vereinseitigung einer kapitalistisch modernisierten Lebenswelt" zu begreifen, erzeuge „Gefühle der objektlosen Erwekkungsbereitschaft": „(...) das Ausharren vor den unbestimmt avisierten künftigen Wahrheiten läßt ein Vakuum entstehen, in das die unüberprüften Wahrheiten der Religion und der Metaphysik um so unbekümmerter einströmen können". (S. 135) In dieser Situation übernehme die neokonservative staatliche Kulturpolitik eine doppelte Aufgabe: „Sie soll einerseits die Intellektuellen als die zugleich machtbesessene und unproduktive Trägerschicht des Modernismus in Mißkredit bringen; denn postmaterielle Werte, vor allem die expressiven Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung und die kritischen Urteile einer universalistischen Aufklärungsmoral, gelten als Bedrohung für die motivationalen Grundlagen einer funktionierenden Arbeitsgesellschaft und der entpolitisierten Öffentlichkeit. Auf der anderen Seite soll die traditionelle Kultur, sollen die haltenden Mächte der konventionellen Sittlichkeit, des Patriotismus, der bürgerlichen Religion und der Volkskultur gepflegt werden" (S. 154). — Das Beispiel Friedrich Schlegels und seiner Gesinnungsgenossen deutet darauf, daß das Phänomen der sog. „neuen Unübersichtlichkeit" doch nicht so neu zu sein scheint. Möglicherweise unterscheidet sich die charakterliche Disposition der heutigen bürgerlichen Intellektuellen ihrer kryptoreligiösen Prägung nach nur wenig von der ihrer geschichtlichen Vorläufer; vielleicht muß man hier sogar mit einem ungebrochenen historisch-sozialpsychischen Kontinuum rechnen. Es wäre dann nicht verwunderlich, wenn in den periodisch wiederkehrenden Krisen der neuzeitlichen bürgerlichen Gesellschaft diese langlebige, zwischenzeitlich in der Latenz befindliche Disposition stets erneut hervorträte und sich in vergleichbaren Phänomenen und Tendenzen äußerte.

232

Der Rückgriff auf die deutsche Romantik um Schlegel und Novalis gehört zum Repertoire vieler sogenannter „Postmoderner". Peter Koslowski (Die Baustellen der Postmoderne — Wider den Vollendungszwang der Moderne, in: Moderne oder Postmoderne? Zur Signatur des gegenwärtigen Zeitalters, hrsg. v. P. Koslowski, R. Spaemann, R. Low, Weinheim 1986) stützt seine Definition der „Postmoderne" bezeichnenderweise auf ein Fragment Friedrich Schlegels aus dem Jahre 1800: „Die Postmoderne ist der Aufhalter dessen, was nach dem Scheitern der geschichtsphilosophischen Naherwartung des Utopismus der Mo-

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derne eigentlich eintreten müßte, — der Untergang. ,Die Bestimmung des Menschen ist sich selbst zu zerstören. Aber dazu muß er freilich erst würdig werden; noch ist ers nicht.' Die Epoche der Postmoderne ist die Zeit, die den Menschen bleibt, um des Untergangs würdig zu werden." (S. 8; Zitat im Zitat: Fr. Schlegel, Krit. Ausg., Bd. XVIII, 2. Abt., 1963, S. 174). - Die Aufgabe, die die Postmoderne zu lösen habe, beschreibt Koslowski folgendermaßen: „Wenn ein Problem der Moderne die Versöhnung von Herkunft und Zukunft war, muß die Postmoderne eine neue Synthese jenseits des Gegensatzes Rationalismus und Irrationalismus finden. Es geht um die Wiedergewinnung der gesamten geistigen Vermögen und Wissensformen des Menschen, die über die kommunikative Kompetenz und die analytische Vernunft hinausgehen. Ob die Überwindung des cartesianischen Gegensatzes von Geist und Materie und des Leib-Seele-Problems durch die Erweiterungen der menschlichen Bewußtseinsleistungen in der Mikroelektronik und das neue Paradigma des Maschine-Mensch-Kontinuums zu lösen ist, wie Lyotard und andere vorschlagen, muß offen bleiben. Vielleicht fuhrt der Gegensatz von hardware und software über den Gegensatz von Leib und Seele hinaus." (S. 8) — Die Versöhnung von Rationalismus und Irrationalismus, von Leib und Seele, war freilich bereits das Projekt der Frühromantiker oder auch Hölderlins, der eine .höhere Aufklärung' forderte. Daß eine Neuauflage dieses Projekts, nun mit Hilfe der Mikroelektronik, auf einen anderen Weg führen möge als auf den des reaktionären Unfugs von einst, muß tiefer, freilich geringer Hoffnung anheimgegeben werden. 233

Paul Michael Lützeler: Einleitung zu: Europa. Analysen und Visionen der Romantiker, Frankfurt am Main 1982, S. 36f.

234

Ernst Behler: Friedrich Schlegel in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg 1966, S. 107.

235

Friedrich Schlegel, Krit. Ausg., Bd. 2, 1. Abt., 1967, S. 198.

236

Vergi. Hanna Schnedl-Bubenicek: „Das Lächeln des Fluches". Betrachtungen und Bemerkungen zum Paradoxon Friedrich Schlegel. In: H. Schnedl-Bubenicek: Vormärz. Wendepunkt und Herausforderung. Beiträge zur Literaturwissenschaft und Kulturpolitik in Österreich, Wien und Salzburg 1983, S. 90.

237

A.a.O., S. 92f.

238

Vergi. Heinrich Heine, Gedicht XXXV aus dem Zyklus „Neuer Frühling"; Heine, Sämtl. Schriften, hrsg. v. K. Briegleb, Bd. 4, München 1971, S. 315.

239

Novalis: Schriften, Bd. 3, hrsg. v. R. Samuel in Zusammenarbeit mit H.-J. Mähl und G. Schulz, Stuttgart 1968, S. 646. - An gleicher Stelle finden sich die Bonmots: „Das ganze ist ein nobilitirter Roman." „W(ilhelm) M(eister) ist eigentlich ein Candide, gegen die Poesie gerichtet." Die Erläuterung dieser Sätze findet sich in folgenden Notizen: „Wilhelm Meisters Lehijahre sind gewissermaaßen durchaus prosaisch — und modern. Das Romantische geht darinn zu Grunde — auch die Naturpoesie, das Wunderbare — Er handelt blos von gewöhnlichen menschlichen Dingen — die Natur und der Mystizism sind ganz vergessen. Es ist eine poetisirte bürgerliche und häusliche Geschichte. Das Wunderbare darinn wird ausdrücklich, als Poesie und Schwärmerey, behandelt. Künstlerischer Atheismus ist der Geist des Buchs." (S. 639) — „Gegen Wilhelm Meisters Lehrjahre. Es ist im Grunde ein fatales und albernes Buch — so pretentiös und pretiös — undichterisch im höchsten Grade, was den Geist betrift — so poetisch auch die Darstellung ist. Es ist eine Satyre auf die Poesie, Religion, etc. Aus Stroh und Hobelspänen ein wolschmeckendes Gericht, ein Götterbild zusammengesezt. Hinten wird alles Farçe. Die Oeconomische Natur ist die Wahre —

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Übrig bleibende." (S. 646) - Vergi, auch den Brief an Tieck vom 23. 2. 1800; Bd. 4 , 1975, S. 3 2 1 . — Sieht man davon ab, daß Novalis die Wahrnehmung des (bürgerlichen) Realitätsprinzips mit dem Begriff der .Nobilitierung' zusammenwirft, so bleibt immerhin noch die allgemeine Überspanntheit seiner Denkart, die Goethe zum Vorwurf macht, was gerade die Leistung des „Meister" darstellt: sein strikt innerweltlicher .Realismus'. 240

Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang auf Grund der Ausgabe und des Nachlasses von Flodoard Freiherrn von Biedermann ergänzt und herausgegeben von Wolfgang Herwig, Bd. 2, Zürich und Stuttgart 1969, S. 326. (Zit. i. d. Folge als .Biedermann/Herwig').

241

A.a.O., S. 3 2 5 .

242

WA I, 32, S. 376f.

243

WA I, 31, S. 244-249; WA I, 32, S. 186-207. (Zitat nach I, 32, S. 186).

244

WA I, 31, S. 2 4 5 und S. 2 4 7 .

245

WA I, 31, S. 247f. - Ahnlich wiederholt in WA I, 32, S. 196f.

246

Biedermann/Herwig, Bd. 2, S. 326.

247

Biedermann/Herwig, Bd. 2, S. 328f.

248

Brief vom 30. 10. 1 8 0 8 ; WA IV, 20, S. 192. - Goethes Kritik spielt selbstverständlich auch auf das an, was er unter dem Begriff „Dilettantismus" zu erfassen sucht: die Herrschaft des Stoffes und des Gefühls über den Künstler, das „Fortgehn in's Unendliche"; vergi, etwa Hans-Joachim Mähl: Goethes Urteil über Novalis. Ein Beitrag zur Geschichte der Kritik an der deutschen Romantik, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, Tübingen 1967, S. 145 passim.

249

Vergi. Steffens: Was ich erlebte, a.a.O., Bd. 6 , 1 8 4 2 , S. 255 f.: „Als ich mich von ihm (Goethe, J.W.) trennte, wartete Riemer auf mich, er wünschte mich zu sprechen und führte mich in seine Wohnung. Hier fing er nun an, über den von mir erlebten Auftritt zu sprechen. ,Was sie gesehen haben', sagte er, ,ist in diesem Hause so selten, daß ich mich kaum erinnere, etwas Aehnliches erlebt zu haben.' Ich versicherte ihn, dafi ich, eilf Jahre früher, als ich Göthe, der damals noch so viel jünger war, oft sah, etwas Aehnliches nicht allein nicht gesehen, sondern auch nicht einmal für möglich gehalten hätte. Er fuhr fort: ,Sie wissen, wie man sich mit Göthe beschäftiget, wie seine Aeußerungen und Alles, selbst das Kleinste, was man von ihm erfährt, ein Gegenstand der Tagesblätter wird. Ich muß Sie nun recht sehr bitten, ein ähnliches Besprechen der heutigen Begebenheit in solchen Blättern nicht zu veranlassen.' Meine erste Empfindung war, ich gestehe es, eine Art von Entrüstung. ,Ich darf', sagte ich, .nicht voraussetzen, daß Sie j e Etwas von mir erfahren haben; wäre das der Fall gewesen, so würden sie diese Bitte als gänzlich überflüssig betrachten; so wichtig der heutige Tag mir auch persönlich ist, so lieb es mir gewesen ist, erlebt zu haben, in welchen großartigen Zorn der herrliche Mann gerathen kann, wenn er die widerwärtigen geistigen Krankheiten der Zeit entdeckt, so können Sie sich doch völlig beruhigen. Ich habe an dieser fliegenden Literatur nie Theil genommen, ich stehe mit keinem einzigen Blatt in irgend einer Verbindung, aber ich begreife Ihre Furcht und finde sie sehr natürlich.' "

250

Brief an J a c o b Grimm, 1 . 4 . 1 8 0 9 ; vergi. Biedermann/Herwig, Bd. 2, S. 4 0 8 .

251

Steffens, a.a.O., S. 2 5 3 ff.: „Werner fing (an der Tafel Goethes, J.W.) nun an, eine Unzahl von Sonetten uns auf seine abscheuliche Weise vorzudeklamiren. Endlich zog doch eines meine Aufmerksamkeit auf sich. Der Inhalt des Sonetts war der köstliche Anblick des vollen Mondes, wie er in dem klaren italienischen

151

Himmel schwamm. Er verglich ihn mit einer Hostie. Dieser schiefe Vergleich empörte mich, und auch auf Göthe machte er einen widerwärtigen Eindruck; er wandte sich an mich. ,Nun Steffens', fragte er, äußerlich ruhig, indem er einen geheimen Ingrimm zu verbergen suchte, ,was sagen Sie dazu?' .Herr Werner', antwortete ich, .hatte vor einigen Tagen die Güte, mir ein Sonett vorzulesen, in welchem er sich darüber beklagte, daß er zu spät, zu alt nach Italien gekommen wäre, ich glaube einzusehen, daß er Recht hat. Ich bin zu sehr Naturforscher, um eine solche Umtauschung zu wünschen. Das geheimnißvolle Symbol unserer Religion hat eben so viel durch einen solchen falschen Vergleich verloren, wie der Mond.' Göthe ließ sich nun völlig gehen, und sprach sich in eine Heftigkeit hinein, wie ich sie nie erlebt hatte. ,Ich hasse', rief er, ,diese schiefe Religiosität, glauben Sie nicht, daß ich sie irgendwie unterstützen werde; auf der Bühne soll sie sich, in welcher Gestalt sie auch erscheint, wenigstens hier, nie hören lassen.' Nachdem er auf diese Weise sich eine Zeit lang und immer lauter ausgesprochen hatte, beruhigte er sich. ,Sie haben mir meine Mahlzeit verdorben', sagte er ernsthaft, .Sie wissen ja, daß solche Ungereimtheiten mir unausstehlich sind; Sie haben mich verlockt zu vergessen, was ich den Damen schuldig bin.' — Er faßte sich nun ganz, wandte sich entschuldigend zu den Frauen, fing ein gleichgültiges Gespräch an, erhob sich aber bald, entfernte sich und man sähe es ihm wohl an, daß er tief verletzt war, und in der Einsamkeit Beruhigung suchte. Werner war wie vernichtet." 252

A.a.O., S. 409.

253

Nach Karl von Holtei: Vierzig Jahre, Bd. 5, Breslau 1845, S. 60.

254

Steffens, a.a.O., S. 257 f.: „Es war der letzte Tag im Jahre; in Weimar fand der gewöhnliche Ball (...) statt. (...) Diesmal erschien er (Goethe, J.W.) nicht, wohl aber seine Frau und Werner. Dieser konnte den Mittag nicht vergessen, er war noch immer sichtlich erschüttert, und ich war nicht wenig erstaunt, als ich erfuhr, welchen Eindruck Göthe's Zorn auf ihn, dessen Neigung zum Katholicismus schon damals Gegenstand des Gesprächs war, gemacht hatte. .Der Alte', sagte er mir, .hat doch recht, ich werde mich vor ähnlichen Aeußerungen in der Zukunft hüten.' ,Wie', rief ich überrascht, .Sie, der eifrige Christ, können so schnell umgewandelt werden, können den Aeußerungen des alten Heiden irgend eine Bedeutung geben?' "

255

So apostrophiert Werner Goethe im Brief vom 15. 4. 1808; Briefe an Goethe, Bd. 1, a.a.O., S. 512.

256

Vergi. Goethe und die Romantik. Briefe mit Erläuterungen, hrsg. v. C. Schüddekopf u. O. Walzel, Bd. 2 (= Schriften der Goethe-Gesellschaft, Bd. 14), Weimar 1899, S. XXVIIIff. - Nach einem Bericht F. Schubarts (Goethes Gespräche. Gesamtausgabe, hrsg. v. Flodoard Freiherr von Biedermann, 2. Aufl., Bd. 2, Leipzig 1909, S. 112) begegnete Goethe Einwänden gegen das .Entsetzliche' des Stücks mit dem Scherzwort: „(...) man trinkt ja nicht immer Wein, man trinkt auch einmal Branntwein."

257

Brief vom 23. 4. 1811; zit nach: Goethe und die Romantik, Bd. 2, a.a.O., S. 58f. - Goethe schreibt am 28. 12. 1811 (WA IV, 22, S. 229) an Knebel: „Werners Büste ist hier glücklicher als in Mecklenburg angekommen. Sie ist sehr schön gearbeitet und nimmt sich recht gut aus. Im Ganzen ist viel Übereinstimmung. das Scheinheilige aber ist darin nicht zu verkennen." — Auf seine Vergöttlichung durch Werner reagiert er folgendermaßen: „Was (...) Wemem betrifft, so könnte ich nicht sagen: dieß ist auch ein Sohn an dem ich Wohlgefallen habe; ein böser Genius hat sein herrliches Talent über die Grenzen hinaus geführt, innerhalb deren das Echte und Wahre ruht, er irret in dem Schattenrei-

152

che aus dem keine Rückkehr zu hoffen ist." (Brief an Schlosser, 26. 9. 1813; WA IV, 24, S. 10). 258

Goethe und die Romantik, Bd. 2, a.a.O., S. 62.

259

Goethes Gespräche, 2. Aufl., Bd. 2, a.a.O., S. 262.

260

WA I, 5.1, S. 195.

261

Vergi. Kap. III, S. 15. - Carl Bertuch: Tagebuch vom Wiener Kongreß, hrsg. v. Η. v. Egloffstein, Berlin 1916, zeichnet über Wemers Auftreten in Wien das Folgende auf: „Zuhause fand ich den Priester Werner, wohnt bei den Serviten, u. wird nächsten Sonntag predigen. — Spricht ganz unbefangen über seinen Schritt (die Priesterweihe, J.W.), zugleich als sorgenfreiere LebensCarriere." (S. 23) — „Des Morgens 9 Uhr zu der Kirche von 14 Nothelfem (...) wo Werner predigt, und wo sich viele Freunde einfinden. (...) Er packte und erschütterte sein Publikum. Er weinte, und die Wiener Frauen dazu. Er legt es auf den Volksredner an und will theoretisch und praktisch eine bedeutende Rolle spielen. Keineswegs macht er den heuchlerischen Katholiken äußerlich. Wie innerlich?" (S. 28f.) — Werner predigt heute wieder bey den Ursulinerinnen, wo es immer schrecklich voll. Er kömmt in die Mode, speißt oft bei Metternich, liest dort im eleganten Damen Cercle seine Kunigunde vor." (S. 74) — Selbst der Herausgeber der Tagebücher Werners, Oswald Floeck (Die Tagebücher des Dichters Zacharias Werner (Texte). Hrsg. u. erläutert von O. Floeck, Leipzig 1939, S. XVII - XXXIV), der den Dichter als „wackere(n) Kämpfer auf neuen Bahnen zu einem hehren Lebensziele" (S. XXXIV) fortschreiten sieht, ist gezwungen, sich ausfuhrlich mit den abwechselnd erotischen und mystischen Eskapaden Werners auseinanderzusetzen. Er polemisiert dabei, freilich alles andere als überzeugend, gegen Paul Hankamer, der schon 1920 die Auffassung vertreten hatte, Werners Konversion sei als eine Form der Selbstrettung zu begreifen, die seine anarchischen Triebregungen aufzufangen versprach. Werners Zugang zum Katholizismus sei darum über die deutsche Mystik erfolgt, deren „erotischer T o n " von ihm als „wesensverwandte Stimmung" aufgenommen wurde. Stärker noch habe ihn Novalis angezogen: ,,(...) in dem Glutmeer erotischer Religiosität, das in der ,Hymne' flutet, tauchte Werner unter, berauschte sich an den hysterischen Visionen sexuell überhitzten Fühlens. Von dieser Seite sah er den Katholizismus bei seiner Konversion." (Paul Hankamer: Zacharias Werner. Ein Beitrag zur Darstellung des Problems der Persönlichkeit in der Romantik, Bonn 1920, S. 245).

262

Karl von Holtei: Vierzig Jahre, Bd. 5, a.a.O., S. 58f. (Auslassung bei Holtei). Laubes Bericht (Goethes Gespräche. Gesamtausgabe, hrsg. v. Flodoard Freiherr von Biedermann, 2. Aufl., Bd. 4, Leipzig 1910, S. 416f.) lautet folgendermaßen: „Man sprach von dem düstern Hange zur Frömmigkeit, von den Pietisten, die so viel Sünde und Gefährliches in der Welt sehen und die Freude mit bedenklichem Kopfschütteln aufnehmen, man sprach hin und her und konnte sich nicht dareinfinden; da setzte der alte Herr sein Glas fest auf den Tisch und sprach in seiner nachdrücklichen Art: Diese Frommen sind alle verschnitten, wenn sie fromm werden; der Werner und wie sie weiter heißen, dachten nicht daran, so lange sie auf dem Zeuge waren. Da kroch zum Beispiel der Brentano beim Hause der Sophie Mereau am Spalier in die Höhe, damit es fein hitzig aussähe mit der Liebe — 's war eitel Komödie und sah schlimm genug dahinter aus. Die Welt ist ja nicht gemacht, damit sie zugeschlossen werde. Folgt, Kinder, eurer gesunden Neigung und sprecht mit dem persischen Dichter: Kaiser, du mußt die Welt mit meinen, nicht mit deinen Augen ansehen, wenn sie dir so gefallen soll wie mir. Danken wir Gott, daß wir so glückliche Augen haben, und lassen wir uns nichts vormachen." — Auch die katholische Wendung des Friedrich Leopold

153

von Stolberg bringt Goethe mit einem erotischen Verlust in Zusammenhang, mit dem Tode seiner .Göttin' und Ehegattin im Jahre 1788: „Die Göttliche eilt zu ihrem Ursprung zurück; Stolberg sucht nach einer verlorenen Stütze, und die Rebe schlingt sich zuletzt um's Kreuz." (WA I, 36, S. 286). 263

SNA, Bd. 20, S. 457.

264

Franz von Sonnenberg: Donatoa. Epopöie, Theil 1, Bd. 1, Halle 1806, S. VIII. Vergi, auch Johann Gottfried Gruber: Etwas über Franz von Sonnenbergs Leben und Charakter, Halle 1807, S. 7.

265

Vergi. Gruber, a.a.O., S. 17f.

266

Vergi. Spiridon Wukadinovic: Franz von Sonnenberg, Halle 1927, S. 128 und S. 175f. — Zum Arbeitsstil Sonnenbergs vergi. Heinrich Anschütz: Erinnerungen an dessen Leben und Wirken. Nach eigenhändigen Aufzeichnungen und mündlichen Mittheilungen, Wien 1866, S. 51: „Wer übrigens Sonnenberg's Lebensweise kannte, wurde von einer solchen Katastrophe (dem Selbstmord im Fieberwahn, J. W.) kaum überrascht. Er hatte weder Tages- noch Nachtordnung, denn der Unselige arbeitete größtentheils die Nächte hindurch, wobei er, um sich aufzuregen und wach zu erhalten, die entblößten Füße in kaltes Wasser stellte."

267

Vergi. Schiller („Über naive und sentimentalische Dichtung") zum zeitgenössischen Klopstock-Nachtrab; SNA, Bd. 20, S. 457f.: „Ich bekenne (...) unverhohlen, daß mir iur den Kopf desjenigen etwas bange ist, der wirklich und ohne Affektation diesen Dichter (Klopstock, J.W.) zu seinem Lieblingsbuche machen kann; zu einem Buche nehmlich, bey dem man zu jeder Lage sich stimmen, zu dem man aus jeder Lage zurückkehren kann; auch, dächte ich, hätte man in Deutschland Früchte genug von seiner gefährlichen Herrschaft gesehen. Nur in gewissen exaltirten Stimmungen des Gemüths kann er gesucht und empfunden werden; deswegen ist er auch der Abgott der Jugend, obgleich bey weitem nicht ihre glücklichste Wahl. Die Jugend, die immer über das Leben hinausstrebt, die alle Form fliehet, und jede Grenze zu enge findet, ergeht sich mit Liebe und Lust in den endlosen Räumen, die ihr von diesem Dichter aufgethan werden." — Die vernichtende Rezension des „Donatoa" in der „Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung" (Nr. 135 v. 9 . 6 . 1 8 0 6 , S. 466-472) setzt mit der Bemerkung ein, es sei „nun in Erfüllung gegangen, was Schiller in seiner Abhandlung über naive und sentimentalische Dichtung mit diesen Worten (es folgt der erste Satz des Zitates oben, J.W.) prophetisch vorher gesagt hat." — Der Versuch einer Inhaltsangabe des „Donatoa" bei Wukadinovic, a.a.O., S. 136-148.

268

Vergi. Wukadinovic, a.a.O., S. 155f.

269

„Donatoa", 4. und 5. Gesang.

270

„Donatoa", 6. Gesang, S. 474.

271

Gruber, a.a.O., S. 142f.

272

Gruber, a.a.O., S. 145.

273

Gruber, a.a.O., S. 146.

274

Gruber, a.a.O., S. 70.

275

Gruber, a.a.O., S. 74. — Hervorhebungen bei Sonnenberg.

276

Gruber, a.a.O., S. 155f. — Hervorhebung bei Sonnenberg.

277

Wieland im Brief an Sonnenberg, 4. 8. 1804; zit. nach Wukadinovic, a.a.O., S. 104.

154

278

Transkribiert und zitiert nach dem Faksimile des Briefes Wielands vom 4. 8. 1804, in: Christoph Martin Wieland. Geschildert von J . G. Gruber, 2. Theil, Leipzig und Altenburg 1816, nach S. 340.

279

Vergi. Weimarisches Jahrbuch für deutsche Sprache, Litteratur und Kunst, hrsg. ν. Η. v. Fallersleben u. O. Schade, Bd. 5, Hannover 1856, S. 188: „Wieland bereute es später einen Brief geschrieben zu haben, den er selbst als einen ,unbesonnenen, rohen Ausbruch einer unziemlichen Empfindlichkeit' bezeichnete." — Vergi. Wukadinovic, a.a.O., S. 205.

280

Vergi. Wukadinovic, a.a.O., S. 170ff.

281

WA I, 32, S. 199.

282

Vergi, etwa den Tagebucheintrag Z. Werners vom 18. 11. 1810, während seines römischen Aufenthalts: „Gebet, Gang zu Ostini, mit ihm nach St. Marcello, Communiciren daselbst und lesen in Novalis' geistlichen Liedern. Gang zu St. Peter, ich lasse mir eine Messe am Grabe der Apostel lesen und flehe andächtig, daß sie mich durch ihre Fürsprache vor Wollust retten mögen." ( Die Tagebücher des Dichters Zacharias Werner (Texte), a.a.O., S. 201).

283

Tagebucheintrag Goethes vom 15. 7. 1807; WA III, 3, S. 240.

284

Biedermann/Herwig, Bd. 2, S. 242.

285

Brief vom 25. 5. 1807; zit. nach: Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen, hrsg. v. Helmut Sembdner, 2. Aufl., Bremen 1957, S. 148.

286

Ebda. — Vergi, dagegen Goethes Schreiben an Adam Müller vom 28. 8. 1807; WA IV, 19, S. 4 0 2 : „Uber Amphitryon habe ich Manches mit Herrn von Gentz gesprochen; aber es ist durchaus schwer, genau das rechte Wort zu finden. Nach meiner Einsicht scheiden sich Antikes und Modernes auf diesem Wege mehr, als daß sie sich vereinigten. Wenn man die beyden entgegengesetzten Enden eines lebendigen Wesens durch Contorsion zusammenbringt, so giebt das noch keine neue Art von Organisation; es ist allenfalls nur ein wunderliches Symbol, wie die Schlange, die sich in den Schwanz beißt."

287

Nach Johannes Falk; Biedermann, 2. Aufl., Bd. 2, S. 386f.

288

Biedermann, 2. Aufl., Bd. 2, S. 3 8 7 .

289

Johannes Falk: Goethe aus näherm persönlichen Umgange dargestellt, a.a.O., S. 92.

290

Falk, a.a.O., S. 92f.

291

Brief an R. Christiani vom 26. 5. 1825; Heinrich Heine: Säkularausgabe, Bd. 20, Berlin u. Paris 1970, S. 199f.

292

Heine: Säkularausgabe, Bd. 8, 1972, S. 4 3 .

293

WAI, 4 2 . 2 , S. 149.

294

Zit. nach: Literarische Zustände und Zeitgenossen. In Schilderungen aus Karl August Böttiger's handschriftlichem Nachlasse, hrsg. v. K. W. Böttiger, Bd. 1, Leipzig 1838 (Neudruck Frankfurt a. Main 1972), S. 4 9 .

295

Zyklus „Verschiedene" in den „Neuen Gedichten", „Seraphine" Nr. 7; Heine: Säkurarausgabe, Bd. 2 , 1 9 7 9 , S. 29.

296

„Die romantische Schule", Buch 2, Kapitel I; Heine: Säkularausgabe, Bd. 8, 1972, S. 50.

297

Dieser programmatische Satz Goethes findet sich im Zusammenhang der Ab-

155

rechnung mit der WertHer-Stimmung in „Dichtung und Wahrheit", Teil 3, Buch 13; WA I, 28, S. 213. — Als plastisches Beispiel seiner .sensualistischen' Kunstauffassung ist etwa die Art seiner Kritik an den Bildern Caspar David Friedrichs, des Berliner Malers Karl Friedrich Lessing und der Düsseldorfer Schule der „Nazarener" anzuführen. Jederzeit lobt Goethe das Talent dieser jungen Künstler, desto schärfer aber verurteilt er zugleich ihre Neigung zu düsteren und lebensfeindlichen Motiven. Friedrich Förster berichtet: „Er (Goethe, J. W.) frug mich, ob ich die Steinzeichnungen im Vorzimmer angesehen habe; es waren Blätter nach Bildern der Düsseldorfer Schule, die auf der letzten Berliner Ausstellung gewesen waren. ,Die Bilder mögen recht gut gezeichnet und gemalt sein', sagte er, ,aber die ganze Richtung ist moros, traurig; ich verlange in der Kunst ein Reich der Freiheit, des Lebens, der Heiterkeit zu finden, und damit hapert's gewaltig.' — Ich erlaubte mir zu bemerken, wie doch nicht zu verkennen sei, daß die heranwachsende Künstleijugend sich von der beschränkten und befangenen Richtung, zu welcher Tieck und sein Klosterbruder geführt, ganz abgewendet, und daß namentlich Cornelius und Schadow selbst nicht in ihrer frühern, absichtlichen Dürftigkeit stehen geblieben wären. .Freilich', sagte er lebhaft, ,war dies eine wahre Cholera morbus für die Kunst. Aber etwas trüber Niederschlag ist noch zurückgeblieben. Was ist mir das fur eine frostige Jugend, die eine solche Winterlandschaft wie diese hier (sie war von Lessing) malt; ich höre viel Gutes von dem jungen Manne, er verrät Talent, aber mit seiner Winterlandschaft will ich nichts zu schaffen haben, und dabei noch Mönche und Begräbnis, lauter Negationen, die ich nicht statuiere. Erstens also zugegeben, daß es einen Winter gibt — eigentlich sollt' es gar keinen geben! — so lob' ich mir doch die holländischen Winterlandschaften; da wird Schlittschuh gelaufen, die Schlote rauchen, da ist Leben und Bewegung; aber hier ist nichts als Tod, oder Erstorbenheit — Sie haben vorhin das Wort gebraucht, ich hör' es zum ersten Mal, in meinem Wörterbuche steht es nicht, aber es ist gut. — Aber dem Herrn Lessing ist Schnee und Eis noch nicht kalt genug, er ruft sich noch weißbärtige Mönche zu Hülfe, und um noch ein paar Grade tiefer unter den Gefrierpunkt zu kommen, wird ein Begräbnis angeordnet; Tod, den statuier' ich nicht. Ich friere nicht gern draußen, warum soll ich mich denn in der Stube erkälten und noch dazu vor einem Kunstwerke. Solche Landschaften nenne ich subjektive; eine Landschaft aber muß nicht so ein Einfall sein. Man muß junge Künstler beizeiten warnen, sonst bleiben sie in solchen hohlen Wegen sitzen; dem guten Friedrich in Dresden ist's nicht anders ergangen." (Biedermann/Herwig, Bd. II1/2, S. 803 f.; vergi, ebda. S. 288 ff.). 298

„Die romantische Schule", Buch 1; Heine, Säkularausgabe, Bd. 8, 1972, S. 42; „Unbeschreiblich ist der Zauber dieses Buches (des „West-östlichen Divan", J.W.): es ist ein Selam, den der Occident dem Oriente geschickt hat, und es sind gar närrische Blumen darunter: sinnlich rothe Rosen, Hortensien wie weiße nackte Mädchenbusen, spaßhaftes Löwenmaul, Purpordigitalis wie lange Menschenfinger, verdrehte Krokosnasen, und in der Mitte, lauschend verborgen, stille deutsche Veilchen. Dieser Selam aber bedeutet, daß der Occident seines frierend mageren Spiritualismus überdrüssig geworden und an der gesunden Körperwelt des Orients sich wieder erlaben möchte. Goethe, nachdem er, im Faust, sein Mißbehagen an dem abstract Geistigen und sein Verlangen nach reellen Genüssen ausgesprochen, warf sich gleichsam mit dem Geiste selbst in die Arme des Sensualismus, indem er den West-östlichen Divan schrieb."

299

WA I, 7, S. 100.

300

„Französische Maler"; Heine; Säkularausgabe, Bd. 7, 1970, S. 49.

156

301

Ich beziehe mich auf die Redaktion, die Goethe, nach der Entdeckung von Jochen Golz, in seinem Regieexemplar des „Wallenstein" vorgenommen hat. Vergi. Anita und Jochen Golz: „Ernst ist das Leben, heiter sei die Kunst" — Goethe als Redakteur des Wallenstein-Prologs. In: Im Vorfeld der Literatur. Vom Wert archivalischer Überlieferung fur das Verständnis von Literatur und ihrer Geschichte. Hrsg. v. Karl-Heinz Hahn, Weimar (z. Zt. im Druck). — Nach freundlicher Mitteilung von Herrn Prof. Dr. Karl-Heinz Hahn, Weimar.

302

WA 1,41.2, S. 251.

303

WA 1,41.2, S. 250.

304

WA 1,41.2, S. 251.

305

Vergi. Eckermann: Gespräche, Teil 3, 11. 3. 1828; Münchner Ausgabe, Bd. 19, 1986, a.a.O., S. 606 und S. 607: „(...) man braucht nicht bloß Gedichte und Schauspiele zu machen, um produktiv zu sein, es gibt auch eine Produktivität der Taten, und die in manchen Fällen noch um ein Bedeutendes höher steht." — „Ob Einer sich in der Wissenschaft genial erweiset, wie Oken und Humboldt, oder im Krieg und der Staatsverwaltung, wie Friedrich, Peter der Große und Napoleon, oder ob Einer ein Lied macht wie Béranger, es ist Alles gleich und kommt bloß darauf an, ob der Gedanke, das Aperçu, die Tat lebendig sei und fortzuleben vermöge." - Vergi, auch Eckermann: Gespräche, Teil 2 , 1 2 . 2 . 1829; a.a.O., S. 283: „(...) wenn ein guter Mensch mit Talent begabt ist, so wird er immer zum Heil der Welt sittlich wirken, sei es als Künstler, Naturforscher, Dichter, oder was alles sonst." — Vergi, schließlich auch Eckermann: Gespräche, Teil 1, 6. 5. 1824; a.a.O., S. 106.

306

Vergi, etwa WA I, 49.1, S. 91 f.: „Die eigentliche Kraft und Wirksamkeit der Poesie, so wie der bildenden Kunst, liegt darin, daß sie Hauptfiguren schafft und alles was diese umgibt, selbst das Würdigste, untergeordnet darstellt. Hierdurch lockt sie den Blick auf eine Mitte, woher sich die Strahlen über das Ganze verbreiten, und so bewährt sich Glück und Weisheit der Erfindung so wie der Composition einer wahren alleinigen Dichtung. Die Geschichte dagegen handelt ganz anders. Von ihr erwartet man Gerechtigkeit; sie darf, ja sie soll den Glanz des Vorfechters eher dämpfen als erhöhen. Deßhalb vertheilt sie Licht und Schatten über alle; selbst den geringsten unter den Mitwirkenden zieht sie hervor, damit auch ihm seine gebührende Portion des Ruhms zugemessen werde. Fordert man aber, aus mißverstandener Wahrheitsliebe, von der Poesie, daß sie gerecht sein solle, so zerstört man sie alsobald (...)". — Der grundsätzliche Abstand der Kunst zur historisch-politischen Wahrheit begründet also ihre Freiheit und ihre besondere affektive Wirksamkeit. Umgekehrt bewirkt diese Distanz natürlich auch die prinzipielle Schwäche der Kunst, auf die politische und soziale Wirklichkeit Einfluß zu nehmen. Im Zusammenhang mit diesen Bestimmungen steht Goethes Einsicht, daß es ein fundamentaler Irrtum sei, Kunst als realitätsträchtig aufzufassen oder gar mit der Wirklichkeit zu verwechseln. Er selbst, so bekennt Goethe, habe viele Jahre damit verbracht, seine „nordische Natur", seine „deutsche Gemüthsart" zu beschwichtigen, „die aus der Hand des Poeten alles für baar Geld nahm, was doch eigentlich nur als Einlösung*- und Anticipations-Schein sollte angesehen werden." (WA I, 42.2, S. 468). — Vergi, auch Faust II, 1. Akt, Verse 5572 - 5605.

307

„Tag- und Jahreshefte", 1805; WA I, 35, S. 243 f.

308

Eckermann: Gespräche, Teil 2, 3. 10. 1828, a.a.O., S. 253 f. - Fouqués krause Ritterromane scheinen für Goethe übrigens relativ harmlose Varianten im Genre des Barbarisch-Düsteren dargestellt zu haben. So äußerte er sich kokett-iro-

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nisch: „Ich kenne den Zauberring nicht und werde ihn niemals lesen, denn das ist mir verboten von meinem Obern (...)". (Biedermann: Goethes Gespräche, 2. Aufl., Bd. 2, S. 297). 309

Brief an Schiller, 25. 11. 1797; WA IV, 12, S. 361.

310

Brief an Goethe, 8. 12. 1797; SNA, Bd. 29, S. 165.

311

Brief an Schiller, 9. 12. 1797; WA IV, 12, S. 373 f.

312

Schiller an Humboldt, 27. 6. 1798; SNA, Bd. 29, S. 246.

313

Vergi, hierzu die Belege bei Georg Gerster: Die leidigen Dichter. Goethes Auseinandersetzung mit dem Künstler, Zürich 1954, S. 212 ff.

314

Brief an Goethe, 12. 12. 1797; SNA, Bd. 29, S. 167. - Am 6. 12. 1797 hatte Goethe Schiller ermuntert, mit der Arbeit am „Wallenstein" fortzufahren. Er selbst werde wohl zunächst an seinen Faust gehen, „theils um diesen Tragelaphen (hier ist er wieder, der .Bockshirsch'! J.W.) los zu werden, theils um mich zu einer höhern und reinem Stimmung (...) vorzubereiten." (WA IV, 12, S. 372).

315

WA 1,41.2, S. 251.

316

Eckermann: Gespräche, Teil 1, 17. 1.1827, a.a.O., S. 188 f.

317

Eckermann: Gespräche, Teil 3, 2. 1. 1824, a.a.O., S. 489 f.

318

„Dichtung und Wahrheit", Buch 13; WA I, 28, S. 217. - Der aktuelle Anlaß dieser Distanzierung liegt einerseits in des Verlegers Weygand Projekt, eine Jubiläumsausgabe des „Werther" mit einer Vorrede des Dichters zu veranstalten, andererseits in der Aufregung durch die eben zurückliegende Marienbader Affaire Ulrike von Levetzow; vergi. Karl-Otto Conrady: Goethe. Leben und Werk, Bd. 2, Königstein/Ts. 1985, S. 465 f.

319

WA I, 28, S. 216 ff.

320

WA I, 28, S. 225.

321

WA I, 28, S. 225.

322

WA I, 28, S. 228. — Über die zeitgenössischen Reaktionen auf den „Werther" vergi, etwa Gustav Gugitz: Das Wertherfieber in Oesterreich, Wien 1908.

323

WA I, 28, S. 246.

324

WA I, 28, S. 252.

325

WA I, 28, S. 247.

326

WA I, 28, S. 246 f.

327

WA I, 28, S. 247.

328

Leo Kreutzer: Mein Gott Goethe. Essays, Reinbek 1980, S. 85.

329

Ebda. — Hervorhebungen bei Kreutzer.

330

Eckermann: Gespräche, Teil 2, 13. 2. 1829, a.a.O., S. 285. - Kreutzer hat diese Stelle a.a.O., S. 104, zitiert, allerdings ohne einen Zusammenhang mit der oben angeführten Polemik herzustellen. — Bereits 1787 hatte Goethe an seinen Verleger Göschen geschrieben: „Mit unsrer Nation soll der Schriftsteller nicht allein uneigennützig, er soll auch großmütig seyn. Sie würden dencken mir eine ungeheure Summe für ein Stück zu bezahlen, wenn sie mir nur meine baare Auslagen ersezten, die ich habe machen müßen um die Studien dazu zu sammeln." (Brief v. 15. 8. 1787; WA IV, 8, S. 247).

331

Vergi. Biedermann/Herwig, Bd. III/l, S. 436f.: „Hätte ich das Unglück, in der Opposition sein zu müssen, ich würde lieber Aufruhr und Revolution machen,

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als mich im finstern Kreise ewigen Tadels des Bestehenden herumzutreiben. Ich habe nie im Leben mich gegen den übermächtigen Strom der Menge oder des herrschenden Prinzips in feindliche, nutzlose Opposition stellen mögen; lieber habe ich mich in mein eignes Schneckenhaus zurückgezogen und da nach Belieben gehauset. Zu was das ewige Opponieren und übellaunige Kritisieren und Negieren führt, sehen wir an Knebeln; es hat ihn zum unzufriedensten, unglücklichsten Menschen gemacht, sein Inneres, gleich einem Krebs, ganz unterfressen; nicht zwei Tage kann man mit ihm in Frieden leben, weil er alles angreift, was einem lieb ist." — Vergi, auch Biedermann/Herwig, Bd. III/2, S. 52: „Als ich (F. v. Müller, J.W.) Riemers Witz über die Dreiheit des Ministeriums ihm mitteilte, wurde er ganz aufgebracht und zornig. Durch solche böswillige und indiskrete Dichteleien mache er sich nur Feinde und verbittre Laune und Existenz sich selbst." — Vergi, schließlich Goethe über Beethoven, Brief an Zelter, 2. 9. 1812; WA IV, 23, S. 89: „Beethoven habe ich in Töplitz kennen gelernt. Sein Talent hat mich in Erstaunen gesetzt; allein er ist leider eine ganz ungebändigte Persönlichkeit, die zwar gar nicht Unrecht hat, wenn sie die Welt detestabel findet, aber sie freylich dadurch weder für sich noch für andere genußreicher macht." — Goethes Urteil dürfte durch ein Begebnis bestärkt worden sein, über das Beethoven in einem Brief an Bettina von Arnim im August 1812 so berichtet haben soll: „Könige und Fürsten können wohl Professoren machen und Geheimräte und Titel und Ordensbänder umhängen, aber große Menschen können sie nicht machen, Geister, die über das Weltgeschmeiß hervorragen, das müssen sie wohl bleiben lassen zu machen, und damit muß man sie in Respekt haben, — wenn so zwei zusammenkommen wie ich und der Goethe, da müssen diese großen Herren merken, was bei unsereinem als groß gelten kann. Wir begegneten gestern auf dem Heimweg der ganzen kaiserlichen Familie, wir sahen sie von weitem kommen, und der Goethe machte sich von meinem Arme los, um sich an die Seite zu stellen, ich mochte sagen, was ich wollte, ich konnte ihn keinen Schritt weiter bringen, ich drückte meinen Hut auf den Kopf und knöpfte meinen Überrock zu und ging mit untergeschlagenen Armen mitten durch den dicksten Haufen — Fürsten und Schranzen haben Spalier gemacht, der Herzog Rudolf hat mir den Hut abgezogen, die Frau Kaiserin hat gegrüßt zuerst. — Die Herrschaften kennen mich. — Ich sah zu meinem wahren Spaß die Prozession an Goethe vorbeidefilieren — er stand mit abgezogenem Hut, tief gebückt, an der Seite. — Dann habe ich ihm den Kopf gewaschen, ich gab kein Pardon und habe ihm all' seine Sünden vorgeworfen (...)". (Zit. nach: Ludwig van Beethovens sämtliche Briefe. Nebst einer Auswahl von Briefen an Beethoven, hrsg. v. Emerich Kastner, Leipzig 1910, S. 256 f.). 332

Vergi. Brief an Frau von Stein, 6. 3. 1779; WA IV, 4, S. 18: „Hier will das Drama (.Iphigenie', J.W.) gar nicht fort, es ist verflucht, der König von Tauris soll reden als wenn kein Strumpfwürcker in Apolde hungerte." — Christa Bürger: Der Ursprung der bürgerlichen Institution Kunst. Literatursoziologische Untersuchungen zum klassischen Goethe, Frankfurt am Main 1977, S. 181, ist der Auffassung, daß diese Einsicht Goethes in den Widerspruch von Kunst und sozialer Realität auf das vorausweise, „was als Institution Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft sich langsam herauszubilden beginnt: deren Autonomie bedeutet auch die Versöhnung mit der schlechten Realität." Es fragt sich, ob die vorgängige sog. „bürgerlich-aufklärerische Institutionalisierung" der Kunst, wofern sie sich, wie Bürger festhält, sozialoperativ verstand, nicht in einer fundamentalen Illusion über die Wirkmächtigkeit der Kunst befangen war — in einer ideologischen Selbsttäuschung, mit der Goethe aufräumt, indem er die radikale „Trennung von Kunst und Lebenspraxis (Arbeit)" (Bürger, ebda.) akzeptiert und poetisch realisiert. Ungeachtet der sozialgeschichtlich eingetrete-

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nen eskapistischen Funktion der autonom-klassizistischen Kunst, die sich in bürgerlicher Rezeption im übrigen von selbst versteht, dürfte Goethes unbestreitbare Leistung also darin bestehen, mit seiner Kunstauffassung bewußt das „Ende der Kunstperiode" bezeichnet zu haben: in dem Sinne, daß Kunst schlichthin nicht mehr als Mittel der Realitätserkenntnis und als wirkmächtiges Medium sozialen und politischen Eingriffs, sondern nur noch als positive oder negative Kompensation der schlechten Realität aufgefaßt werden kann. (Vergi, hierzu auch die „Nachbemerkungen" dieser Untersuchung). 333

Kreutzer, a.a.O., S. 85.

334

„Dichtung und Wahrheit", Buch 13; WA I, 28, insbesondere S. 217 f.

335

Eckermann: Gespräche, Teil 1, 26. 2. 1824, a.a.O., S. 87.

336

Boisserée, Tagebuch, 19. 5. 1826; zit nach Biedermann/Herwig, Bd. III/2, S. 40. — Vergi, auch „Die guten Weiber", WA I, 18, S. 283: „Sie erinnern sich wohl, was ein Reisender von der Stadt Grätz erzählt: daß er darin so viele Hunde und so viele stumme, halb alberne Menschen gefunden habe. Sollte es nicht auch möglich sein, daß der habituelle Anblick von bellenden unvernünftigen Thieren auf die menschliche Generation einigen Einfluß haben könnte.?"

337

Eckermann: Gespräche, Teil 1, 18. 9. 1823, a.a.O., S. 46.

338

Eckermann: Gespräche, Teil 3, 18. 4. 1827; a.a.O., S. 560.

339

„Dichtung und Wahrheit", Buch 16; WA I, 29, S. 14: „Ich war dazu gelangt das mir inwohnende dichterische Talent ganz als Natur zu betrachten, um so mehr als ich darauf gewiesen war, die äußere Natur als den Gegenstand desselben anzusehen. Die Ausübung dieser Dichtergabe konnte zwar durch Veranlassung erregt und bestimmt werden; aber am freudigsten und reichlichsten trat sie unwillkürlich, ja wider Willen hervor." — Vergi, auch „Campagne in Frankreich"; WA I, 33, S. 31: „Denn es ging mir mit diesen Entwickelungen natürlicher Phänomene (des Optischen bzw. der Farbenlehre, J.W.) wie mit Gedichten, ich machte sie nicht, sondern sie machten mich."

340

Eckermann: Gespräche, Teil 1, 18. 1. 1825, a.a.O., S. 131.

341

Eckermann: Gespräche, Teil 1, 17. 1. 1827, a.a.O., S. 188 f. - Goethe merkt an dieser Stelle an, weswegen die frühen Stücke Schillers besonders bei der Jugend große Resonanz fänden: „Was ein junger Mensch geschrieben hat, wird auch wieder am besten von jungen Leuten genossen werden. Und dann denke man nicht, daß die Welt so sehr in der Kultur und gutem Geschmack vorschritte, daß selbst die Jugend schon über eine solche rohere Epoche hinaus wäre! Wenn auch die Welt im Ganzen vorschreitet, die Jugend muß doch immer wieder von vorne anfangen und als Individuum die Epochen der Welt-Kultur durchmachen."

342

Eckermann: Gespräche, Teil 1, 18. 1. 1825, a.a.O., S. 130 f.

343

Freilich sieht Goethe beide Arten der Gewaltsamkeit in einem gewissen Zusammenhang; vergi. Eckermann, Gespräche, Teil 1, 18. 1. 1825, a.a.O., S. 130: „Und wie er (Schiller, J.W.) überall kühn zu Werke ging, so war er auch nicht für vieles Motivieren. Ich weiß, was ich mit ihm beim Teil für Not hatte, wo er geradezu den Geßler einen Apfel vom Baum brechen und vom Kopf des Knaben schießen lassen wollte. Dies war nun ganz gegen meine Natur, und ich überredete ihn, diese Grausamkeit doch wenigstens dadurch zu motivieren, daß er Teils Knaben mit der Geschicklichkeit seines Vaters gegen den Landvogt groß tun lasse, indem er sagt, daß er wohl auf hundert Schritte einen Apfel vom Baum schieße. Schiller wollte anfänglich nicht daran, aber er gab doch endlich meinen

160

Vorstellungen und Bitten nach und machte es so wie ich ihm geraten." — Vergi, auch Eckermann: Gespräche, Teil 2, 19. 2. 1829, a.a.O., S. 290: „(...) Schiller hatte in seiner Natur etwas Gewaltsames; er handelte oft zu sehr nach einer vorgefaßten Idee, ohne hinlängliche Achtung vor dem Gegenstande, der zu behandeln war." 344

Ludwig Tieck: Kritische Schriften, Bd. 3 (= Dramaturgische Blätter, Teil 1), Leipzig 1852 (Nachdruck Berlin u. New York 1974), S. 49.

345

A.a.O., S. 59.

346

WA 1,40, S. 181.

347

A.a.O., S. 181 f.

348

Tieck, a.a.O., S. 9 f. und S. 84.

349

A.a.O., S . U .

350

A.a.O., S. 85.

351

Vergi. Goethes Tagebucheintragung vom 11. 7. 1827; WA III, 11, S. 83.

352

WA 1,40, S. 178 f.

353

Vergi. Katharina Mommsen: Kleists Kampf mit Goethe, a.a.O., S. 15.

354

Zu dieser Haltung in der älteren Forschung vergi, die Hinweise bei Bernhard Blume: Kleist und Goethe (1946), zuletzt in: Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays, hrsg. v. Walter Müller-Seidel, Darmstadt 1973, S. 131 unten. — In jüngerer Zeit erwies sich als besonders affektgeladen Günter Kunert: Pamphlet für K. (in: Sinn und Form, 27. Jg., Heft 5, Berlin 1975, S. 1091-1097), zuletzt in: Kleists Aktualität. Neue Aufsätze und Essays 1966 - 1978, hrsg. v. Walter Müller-Seidel, Darmstadt 1981, S. 223-231. — Im gleichen Sammelband findet sich unter dem Titel „Der Mythos um Heinrich von Kleist" (S. 232-250) ein Aufsatz Peter Goldammers, des Kontrahenten Kunerts. Goldammer fuhrt die Klassifizierung Kleists als eines „Romantikers", die noch Georg Lukacs' negatives Urteil bestimmt habe, auf die kritischen Begriffe Goethes zurück: „Fremde Region, Hypochondrie, Verwirrung des Gefühls, Unnatur: das alles sind Umschreibungen oder Synonyme für das, was Goethe unter dem Begriff des Romantischen und, nach seiner bekannten Gleichsetzung, des Kranken zusammenzufassen pflegte. Tatsächlich liegt hier eine der Hauptursachen dafür, daß Kleist literaturgeschichtlich häufig in die romantische Bewegung eingereiht wurde, obgleich ihn doch nur einzelne und ephemere Züge mit der eigentlichen deutschen Romantik verbinden." (S. 245). In Modifikation der Ableitung Goldammers lautet meine These, daß Goethe den Begriff des „Romantischen" als metaphorisch verallgemeinernde Bezeichnung für jene bedenklichen und lebensgefährlichen Eigenschaften der jungen Dichter seiner Zeit ohne Rücksicht auf die je spezielle dichterische Richtung verwendet hat: daß es ihm also in erster Linie um die gefährdeten Subjekte der jüngeren Generation, und allenfalls sekundär um ästhetische Klassifikationen zu tun war. Zu belegen ist dies einerseits dadurch, daß der ältere Goethe selbst Motive (wie in den „Wahlverwandtschaften"), Formen und poetische Figuren (wie in „Faust II") verarbeitet hat, die dem ästhetischen Dunstkreis der Romantik im engeren Sinne entstammen. Goethes Ablehnung des „Romantischen" war also keineswegs ästhetisch-absoluter Art. Dazu fugen sich denn auch seine maßvollen Bemerkungen von 1826/27 („Moderne Guelfen und Ghibellinen") über die je besonderen Verdienste und Gefahren, die der klassischen und romantischen Richtung in verschiedener Weise innewohnen: „Genau betrachtet dürfte hier kein Streit sein: denn die Alten haben ja auch unter bestimmten Formen das eigentlich Mensch-

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liehe dargebracht, welches immer zuletzt, wenn auch im höchsten Sinne, das Gemüthliche bleibt. Nur kömmt es darauf an, daß man das Gestalten der dichterischen Figuren vermannigfaltige und sich also dadurch der gerühmten Vortheile bediene, welche ein durch ein paar tausend Jahre erweiterter Gesichtskreis darbieten mag. — Hier wäre nun Raum zu wünschen für eine umständlichere Ausführung, um beiden Parteien ihre Vortheile nachzuweisen, endlich aber zu zeigen, wie eine gleich der andern Gefahr läuft, und zwar die Classiker, daß die Götter zur Phrase werden, die Romantiker, daß ihre Productionen zuletzt charakterlos erscheinen; wodurch sie sich denn beide im Nichtigen begegnen." (WA 1,41.2, S. 277). 355

Peter Szondi: Antike und Moderne in der Ästhetik der Goethezeit, in: P. Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie I, Frankfurt am Main 1974, S. 53.

356

Biedermann, 2. Aufl., Bd. 2, S. 387.

357

Vergi, etwa Eckermann: Gespräche, Teil 1, 11. 6. 1825, a.a.O., S. 147: „Wir sprachen darauf über Ästhetiker, welche das Wesen der Poesie und des Dichters durch abstrakte Definitionen auszudrücken sich abmühen, ohne jedoch zu einem klaren Resultat zu kommen. ,Was ist da viel zu definieren, sagte Goethe. Lebendiges Gefühl der Zustände und Fähigkeit es auszudrücken macht den Poeten.' "

358

Falk: Goethe aus näherm persönlichen Umgange dargestellt, a.a.O., S. 120 f.

359

Nach Riemers Aufzeichnung vom 6. 12. 1807; Biedermann, 2. Aufl., Bd. 1, S. 514.

360

Falk, a.a.O., S. 121 f. - Hervorhebung von mir.

361

Auch der angezogene Aufsatz „Ludwig Tiecks Dramaturgische Blätter" wurde erst 1833 aus dem Nachlaß veröffentlicht.

362

An Goethe, 24. 1. 1808; Briefe an Goethe, Bd. 1, a.a.O., S. 496 f. - Zum Anteil Kleists am Fehlschlag der Aufführung des „Zerbrochenen Krugs" durch die dramatisch ungebührliche Länge des vorletzten (12.) Auftritts vergi. Katharina Mommsen, Kleists Kampf mit Goethe, a.a.O., S. 38 f.

363

Vergi. Kapitel VIII, S. 52 f.

364

Brief an Kleist, 1. 2. 1808; WA IV, 20, S. 15.

365

Goethe an Adam Müller, 28. 8. 1807; WA IV, 19, S. 402 f.: „Der zerbrochene Krug hat außerordentliche Verdienste, und die ganze Darstellung dringt sich mit gewaltsamer Gegenwart auf. Nur schade, daß das Stück auch wieder dem unsichtbaren Theater angehört. Das Talent des Verfassers, so lebendig er auch darzustellen vermag, neigt sich doch mehr gegen das Dialektische hin; wie er es denn selbst in dieser stationären Proceßform auf das wunderbarste manifestirt hat. Könnte er mit eben dem Naturell und Geschick eine wirklich dramatische Aufgabe lösen und eine Handlung vor unsern Augen und Sinnen sich entfalten lassen, wie er hier eine vergangene sich nach und nach enthüllen läßt, so würde es fur das deutsche Theater ein großes Geschenk sein."

366

WA IV, 20, S. 15 f. - Ähnlich hatte sich Goethe bereits 1775 geäußert: „Wer übrigens eigentlich für die Bühne arbeiten will, studire die Bühne, Wirkung der Fernemahlerei, der Lichter, Schminke, Glanzleinewand und Flittern, lasse die Natur an ihrem Ort, und bedenke ja fleißig, nichts anzulegen, als was sich auf Brettern zwischen Latten, Pappendeckel und Leinewand durch Puppen, vor Kindern ausführen läßt." („Aus Goethes Brieftasche. Mercier-Wagner, Neuer Versuch über die Schauspielkunst", WA I, 37, S. 314).

162

367

Vergi. Mommsen, a.a.O., S. 76 und S. 79. - Goethe hat auf die .Vergöttlichung', die ihm nicht nur durch Kleist und Adam Müller, sondern auch durch die Brüder Schlegel und Zacharias Werner zuteil wurde, mit Zorn und Klarsicht reagiert. Riemer zeichnet für den 1. 2. 1808, also den Tag des Antwortschreibens an Kleist, auf: „Als man ihn einen göttlichen Mann nannte, sagte er: Ich habe den Teufel vom Göttlichen! Was hilft's mir, daß man mir nachsagt: Das ist ein göttlicher Mann, wenn man nur nach eigenem Willen tut und mich hintergeht. Göttlich heißt den Leuten nur der, der sie gewähren läßt, wie ein jeder Lust hat. Er drückte dies ein andermal so aus: Man hält niemanden für einen Gott, als daß man gegen seine Gesetze handeln will, weil man ihn zu betrügen hofft; weil er sich was gefallen läßt; weil er entweder von seiner Absolutheit soviel nachläßt, daß man auch absolut sein kann." (Biedermann, 2. Aufl., Bd. 1, S. 518).

368

Vergi. Mommsen, a.a.O., S. 76 ff.

369

Vergi. Kapitel VIII, S. 53 f.

370

Vergi. Mommsen, a.a.O., S. 14 ff. — Selbst Wieland scheint Kleist noch in dieser unglückseligen Tendenz bestärkt zu haben; vergi. Sembdner, Lebensspuren, a.a.O., S. 78: „Ich gestehe Ihnen (so schreibt Wieland am 10. 4. 1804 an Wedekind, J.W.), daß ich erstaunt war, und ich glaube nicht zu viel zu sagen, wenn ich Sie versichere: Wenn die Geister des Äschylus, Sophokles und Shakespeare sich vereinigten, eine Tragödie zu schaffen, so würde das sein, was Kleists Tod Guiscards des Normanns, sofern das Ganze demjenigen entspräche, was er mich damals hören ließ. Von diesem Augenblicke an war es bei mir entschieden, Kleist sei dazu geboren, die große Lücke auszufüllen, die (nach meiner Meinung wenigstens) selbst von Goethe und Schiller noch nicht ausgefüllt worden ist."

371

Vergi. Mommsen, a.a.O., S. 35 - 40.

372

Nach einer Mitteilung Goethes, die Falk (a.a.O., S. 122) überliefert, soll Kleist sogar mit dem Gedanken gespielt haben, Goethe eine Ausforderung zum Duell zukommen zu lassen.

373

Vergi, hierzu die Bemerkungen zu Eisslers Bewertung der sog. „Plessing-Episode", Kapitel X.

374

Falk, a.a.O., S. 120 f.

375

WA 1,42.2, S. 168.

376

Vergi. S. 80, über Anm. 313. - Vergi. Gerster: Die leidigen Dichter, a.a.O., S. 213: „Für Goethe gibt es kein objektives Verhängnis, immer ist es Schuld des Menschen — Folge aus Un- und Übermaß. Der tragisch verstrickte Mensch läßt es an der richtigen Haltung zur Mitwelt, zumal an der Erkenntnis der Grenzen fehlen (...)."

377

WAI, 42.2, S. 196.

378

Falk, a.a.O., S. 122 f.

379

Biedermann, 2. Aufl., Bd. 2, S. 122 f. - Runge war im Dezember 1810 nach längerem Siechtum an einem Brustleiden verstorben.

380

Falk, a.a.O., S. 121.

381

Biedermann/Herwig, Bd. II, S. 273.

382

Eckermann: Gespräche, Teil 3, 2. 1. 1824, a.a.O., S. 489.

383

Eckermann: Gespräche, Teil 3, 14. 3. 1830, a.a.O., S. 654.

163

384

Ein besonders ärgerliches Beispiel dieser Richtung bietet Günter Kunert: Pamphlet für K., a.a.O. — Henning Boëtius (Der verlorene Lenz. Auf der Suche nach dem inneren Kontinent, Frankfurt a. Main 1985) hat den Gemeinplatz in seiner Apologie des .verrückten' Lenz gar zu einer .Dialektik des Widerstands' emporstilisiert: „Wenn die Welt also wahnsinnig war, wie konnte man in ihr normal bleiben? Die Antwort lautet ungefähr: indem man den Wahnsinn wahnsinnigerweise nicht mitmachte, indem man sich dem Anpassungsdruck an die Tollhausregeln durch jene Flucht nach innen entzog, die die Zeitgenossen von Lenz als Irrsinn bezeichneten. (...) Es ist auffällig, wie oft Lenz mögliche Anstellungen ausgeschlagen hat. Auch wenn sie in der Regel minderwertig waren, ist dies keine Erklärung. Er hat sich offenbar aktiv jeglicher Anpassungsmöglichkeit entzogen. Wie ein Hungerkünstler. Er wollte nicht. Der Diffamierung seiner Person durch Verwandte und Freunde entspricht exakt die Verweigerung auf seiner Seite. Es ist dies die einzige Form der Gegenwehr. Jeder Kompromiß wäre absolut tödlich gewesen. (...) Lenz kommt nur dadurch über die Runden, daß er auf eine erstaunlich konsequente Weise tut, was er will, und sich antun läßt, was die anderen wollen. Zwar spaltet und zerreißt ihn das, bringt ihn letztlich um, aber durch das, was man insgesamt Verweigerung nennen kann, hält er sich auch so lange wie möglich irgendwie zusammen." (S. 197 f.). Wofern Boetius Lenzens Haltung zutreffend interpretiert, zeigt er damit die notwendigen Konsequenzen radikaler subjektiver Opposition: es wird die charakterliche Integrität des Opponenten gewahrt; zugleich gerät dieser in die Nachfolge Christi, was freilich die schlechte Wirklichkeit nicht beirrt. Politisch gesehen repräsentiert eine solche Haltung bloß eine Variante des heroischen Nihilismus. — Zum Begriff der „problematischen Natur" bei Goethe vergi. Kapitel X, S. 108 ff.

385

Eckermann: Gespräche, Teil 1, 24. 9. 1827, a.a.O., S. 242. - Was Goethe unter „echt Tyrtäische(r)" Poesie versteht, erfahren wir aus seinem Urteil über Béranger: „Sie wissen, ich bin im Ganzen kein Freund von sogenannten politischen Gedichten; allein solche, wie Béranger sie gemacht hat, lasse ich mir gefallen. Es ist bei ihm nichts aus der Luft gegriffen, nichts von bloß imaginierten oder imaginären Interessen, er schießt nie ins Blaue hinein, vielmehr hat er stets die entschiedensten und zwar immer bedeutende Gegenstände. Seine liebende Bewunderung Napoleons und das Zurückdenken an die großen Waffentaten, die unter ihm geschehen, und zwar zu einer Zeit, wo diese Erinnerung den etwas gedrückten Franzosen ein Trost war; dann sein Haß gegen die Herrschaft der Pfaffen und gegen die Verfinsterung, die mit den Jesuiten wieder einzubrechen droht: das sind denn doch Dinge, denen man wohl seine völlige Zustimmung nicht versagen kann. — Und wie meisterhaft ist bei ihm die jedesmalige Behandlung! Wie wälzt und rundet er den Gegenstand in seinem Innern, ehe er ihn ausspricht! Und dann, wenn Alles reif ist, welcher Witz, Geist, Ironie und Persiflage, und welche Herzlichkeit, Naivetät und Grazie werden nicht von ihm bei jedem Schritt entfaltet! Seine Lieder haben jahraus jahrein Millionen froher Menschen gemacht; sie sind durchaus mundgerecht auch für die arbeitende Klasse, während sie sich Uber das Niveau des Gewöhnlichen so sehr erheben, daß das Volk im Umgang mit diesen anmutigen Geistern gewöhnt und genötigt wird, selbst edler und besser zu denken. Was wollen Sie mehr? und was läßt sich überhaupt Besseres von einem Poeten rühmen?" (Eckermann: Gespräche, Teil 3, 14. 3. 1830, a.a.O., S. 656 f.).

386

Heinrich Heine: Säkularausgabe, Registerband 20 - 27, 1984, S. 294. - Erstveröffentlichung des Briefes durch Jürg Mathes, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Jg. 52, Heft 3, Stuttgart 1978, S. 470.

164

387 Vergi. Mathes, a.a.O., S. 473 ff. 388 WA I, 42.2, S. 86-90. 389 WA 1,42.2, S. 87 f. 390 WA 1,42.2, S. 88. 391 WA I, 42.2, S. 89 f. - Mit einem ähnlichen Argument nimmt Goethe Prosper Mérimées „Guzla" von seinem Verdikt gegenüber der „ultraromantischen" französischen Poesie des „Schreck- und Schauerlichen" aus: „Mérimée (...) hat diese (.abscheulichen', J.W.) Dinge ganz anders traktiert als seine Mitgesellen (gemeint ist insbesondere Victor Hugo, J.W.). Es fehlt freilich diesen Gedichten nicht an allerlei schauerlichen Motiven von Kirchhöfen, nächtlichen Kreuzwegen, Gespenstern und Vampyren; allein alle diese Widerwärtigkeiten berühren nicht das Innere des Dichters, er behandelt sie vielmehr aus einer gewissen objektiven Ferne und gleichsam mit Ironie." (Eckermann: Gespräche, Teil 3, 14. 3. 1830, a.a.O., S. 655). 392 Vergi, hierzu K. Mommsen, Kleists Kampf mit Goethe, a.a.O., S. 194 ff. 393 Vergi. Falk, a.a.O., S. 121. 394 WA III, 11, S. 83. 395 Eckermann: Gespräche, Teil 3, 14. 3.1830, a.a.O., S. 653. 396 Eckermann: Gespräche, Teil 3, 14. 3. 1830, a.a.O., S. 652. 397 WA I, 42.2, S. 247. - Vergi, auch die beiden folgenden Reflexionen: „Engländer und Franzosen haben uns darin überboten. Körper, die bei Leibesleben verfaulen und sich in detaillirter Betrachtung ihres Verwesens erbauen, Todte, die zum Verderben anderer am Leben bleiben und ihren Tod am Lebendigen ernähren: dahin sind unsre Producenten gelangt!" — „Im Altertum spuken dergleichen Erscheinungen nur vor wie seltene Krankheitsfälle; bei den Neuern sind sie endemisch und epidemisch geworden." (Ebda.) — Vergi, auch „Zahme Xenien III", WA I, 3, S. 281: „Entweicht wo düstre Dummheit gerne schweift, / Inbrünstig aufnimmt was sie nicht begreift; / Wo Schreckens-Mährchen schleichen, stutzend flieht, / Und unermeßlich Maße lang sich ziehn." — „Modergrün aus Dantes Hölle / Bannet fern von eurem Kreis, / Ladet zu der klaren Quelle / Glücklich Naturell und Fleiß." 398 WA I, 42.2, S. 246. 399 An Zelter, 18. 6. 1831; WA IV, 48, S. 242 f. 400 Ebda. - Vergi. Goethes Brief an Soret, 19. 6. 1831; WA IV, 48, S. 248: „Indem ich den 1. Theil von Notre Dame de Paris dankbar zurücksende, wage ich nicht den zweyten zu erbitten; warum sollte ein Mensch, der sich bis in's hohe Alter einen natürlichen Sinn zu erhalten suchte, sich mit solchen Abominationen abgeben." 401 Eckermann: Gespräche, Teil 3, 14. 3. 1830, a.a.O., S. 654. 402 Vergi, etwa Henrik Steffens, S. 3, über Anm. 11. — Auch Grillparzers anfängliche Enttäuschung über den „steifen Minister" (vergi. S. 4) geht auf vergleichbare Vorerwartungen zurück. Der jugendliche Grillparzer hatte 1810 in seinem Tagebuch notiert: „(...) felsenfest gegründet ward sie (die Liebe zu Goethe, J.W.) durch Tasso'n. Konnte diese Dichternatur dem Dichter fremd sein? Ich selbst glaubte es zu sein der als Tasso sprach, handelte, liebte, nur Worte, so schien es mir, hatte Göthe meinen Gefühlen gegeben, ich fand mich in jedem Gefühle, in jeder Rede, in jedem Worte." (Grillparzers Werke, hrsg. v. A. Sauer,

165

2. Abt., Bd. 7, Tagebücher und literarische Skizzenhefte I, Wien und Leipzig 1914, S. 50). 403

„Tasso", Verse 3081 - 3091 ; WA I, 10, S. 229 f.

404

Gabriele Girschner: Goethes ,Tasso'. Klassizismus und ästhetische Regression, Königstein/Ts. 1981, S. 147 ff., interpretiert diese Rede Tassos als Verstellung, als Simulierung der Rolle, die ihm vom (höfischen) Auftraggeber zugemutet werde. Ich gehe davon aus, daß die emphatischen jungen ,Goethe-Tasso'Verehrer das ,Seidenwurm-Gleichnis' in naiver Weise aufgenommen haben.

405

„Tasso", Verse 3072 - 3078; WA I, 10, S. 229.

406

Vergi. Eckermann: Gespräche, Teil 3, 3. 5. 1827, a.a.O., S. 563 f. sowie S. 571: „Wie richtig hat er (Jean Jacques Ampère, der Rezensent von Stapfers Übersetzung der Dramatischen Werke Goethes, J.W.) bemerkt, daß ich in den ersten zehn Jahren meines Weimarschen Dienst- und Hoflebens so gut wie gar nichts gemacht, daß die Verzweiflung mich nach Italien getrieben, und daß ich dort, mit neuer Lust zum Schaffen, die Geschichte des Tasso ergriffen, um mich in Behandlung dieses angemessenen Stoffes von demjenigen frei zu machen, was mir noch aus meinen Weimarschen Eindrücken und Erinnerungen Schmerzliches und Lästiges anklebte. Sehr treffend nennt er daher auch den Tasso einen gesteigerten Werther." — „Das Gespräch wendete sich auf den Tasso und welche Idee Goethe darin zur Anschauung zu bringen gesucht. Jdee'? sagte Goethe, — daß ich nicht wüßte! Ich hatte das Leben Tassos, ich hatte mein eigenes Leben, und indem ich zwei so wunderliche Figuren mit ihren Eigenschaften zusammenwarf, entstand in mir das Bild des Tasso, dem ich, als prosaischen Kontrast, den Antonio entgegenstellte, wozu es mir auch nicht an Vorbildern fehlte. Die weiteren Hof-, Lebens- und Liebesverhältnisse waren übrigens in Weimar wie in Ferrara, und ich kann mit Recht von meiner Darstellung sagen: sie ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch.' "

407

Brief an Boehlendorff vom 4. 12. 1801; Stuttgarter Ausgabe, Bd. 6.1, S. 427 f.

408

Vergi. Karl Freye: Casimir Ulrich Boehlendorff, der Freund Herbarts und Hölderlins, Langensalza 1913, S. 224 ff.

409

Biedermann, 2. Aufl., Bd. 2, S. 523.

410

Ludwig Tieck: Dichter über ihre Dichtungen, hrsg. v. U. Schweikert, Bd. 9/III, München 1971, S. 158.

411

Vergi, etwa Heinz Hillmann: Ludwig Tieck, in: Deutsche Dichter der Romantik. Ihr Leben und ihr Werk, hrsg. v. B. v. Wiese, Berlin 1971, S. 128 ff.

412

Uber Grosse/Vargas vergi. Else Kornerup: Graf Edouard Romeo Vargas. Carl Grosse. Eine Untersuchung ihrer Identität, Kopenhagen 1954.

413

Zu Goethes Beziehung zu Tieck in den 1820er Jahren vergi. Goethe und die Romantik, Bd. 1, a.a.O., S. LXIV ff. — Es ist freilich nicht schlüssig nachweisbar, daß Goethe die Identität Grosses mit Vargas bekannt war. 1794/95 war sowohl in der „Allgemeinen deutschen Bibliothek" als auch in der „Allgemeinen Literatur-Zeitung" davon die Rede, daß Grosse und Vargas ein und dieselbe Person seien (vergi. Kornerup, a.a.O., S. 17 f.; vergi, auch die Hinweise bei Hans-Joachim Althof: Carl Friedrich August Grosse (1768-1847) alias Graf Edouard Romeo von Vargas-Bedemar. Ein Erfolgsschriftsteller des 18. Jahrhunderts, Bochum 1975, Bibliographie S. 227 ff.). Da Grosse zudem wegen seines Hochorden- und Schauerromans „Der Genius" ungemein bekannt geworden war, scheint es eher unwahrscheinlich, daß Goethe seinerzeit nichts über den obskuren Verfasser zu Ohren gekommen sein soll. Es mag freilich sein, daß kei-

166

ne Erinnerung mehr vorhanden war, als sich rund zwei Jahrzehnte später eine Verbindung zwischen dem Naturforscher und kgl. dänischen Kammerherrn Vargas-Bedemar und der Jenaer Mineralogischen Gesellschaft knüpfte. Jedenfalls unterstützte Goethe 1820 die Ernennung Vargas-Bedemars zum Vizepräsidenten der Gesellschaft (vergi, seinen Brief an Vargas, 18. 8. 1820; WA IV, 33, S. 163 f.) ohne erkennbaren Vorbehalt. Vargas empfahl sich durch die Übersendung „köstlich seltene(r) Natur-Producte aus fernen unwirthbaren Gegenden" (WA IV, 34, S. 48; WA IV, 35, S. 108). Seit dem Jahre 1824 bemühte sich Vargas um den Weimarer „großherzoglichen Falkenorden" (vergi. Goethe an v. Fritsch, 4. 9. 1825; WA IV, 40, S. 39). Goethe zeigte sich geneigt und erbat über den Mittelsmann Johann Georg Lenz, den Gründer der ,.Mineralogischen Societät" und Direktor der Jenaer Mineralogischen Sammlung am 11. 10. 1824 ein curriculum vitae des ,Grafen': „Ehe ich einen Antrag nach den geäußerten Wünschen thun kann, so müßte etwas nähere Nachricht von den äußern Umständen des geschätzten Mannes erhalten. Notizen von seiner Familie, dessen Alter, Vorname, Charakter, Anstellung in einem öffentlichen Amte, sonstige Beschäftigung, und Staats-Verhältniß u.s.w. Es versteht sich daß hiernach bescheidentlich gefragt wird und daß ich soviel als möglich von diesen Umständen erfahre, damit ich auf alle Fälle bereit sey den gewiß an mich ergehenden Anfragen genug zu thun. Von den schönen naturwissenschaftlichen Kenntnissen, Reisen, Bezug auf uns, von der Achtung, die er in der gelehrten Welt genießt, können wir selbst Zeugniß geben." (WA IV, 38, S. 269) Am 17. 8. 1825 konnte Goethe beim zuständigen Staatsminister Carl Wilhelm von Fritsch mit „wiederholter Bitte" einkommen, daß man „dem Herrn von Vargas Bedemar zu Copenhagen den Hausorden gnädigst verleihen möge. Ich bin überzeugt daß derselbe den Rittergrad dankbarlichst empfinge; sollte jedoch das Comthurkreuz fur ihn zu erhalten seyn so würde sein Bezug zu uns noch thätiger und eingreifender werden." (WA IV, 40, S. 16 f.) Goethe legte diesem Schreiben eine Paraphrase des mittlerweile von Vargas eingereichten, wie wir heute wissen, schwindelhaften, Lebenslaufes bei: „Herr Graf Edward Vargas-Bedemar ist in Kiel im Jahr 1770 geboren, seine Familie von spanischer Abkunft ist ein Nebenzweig der nun in Neapel ansässigen herzoglichen Familie Vargas, er ist Ritter des Maltheser Ordens seit 1795, diente in der neapolitanischen Artillerie bis 1806 und kam nach Dänemark 1809 zurück." (Anschließend folgt die Darstellung seiner zweifelsfrei verbürgten und verdienstvollen Laufbahn in königlich dänischen Diensten). Anläßlich des fünfzigjährigen Dienstjubiläums Karl Augusts am 3. 9. 1825 wurde Vargas denn auch das „Comthurkreuz des weißen Falkenordens" verliehen (vergi. WA IV, 40, S. 52, S. 58, S. 71 und S. 109). Am 13. 9. 1825 schrieb Goethe an Vargas: „Wie nun Ew. Hochgeboren Verdienste um unsere wissenschaftlichen Anstalten höchsten Orts auf eine so ehrenvolle Weise anerkannt worden, so dürfen wir uns überzeugt halten daß Dieselben in gleichem Eifer fortfahren und uns von den Früchten Ihrer mannichfaltigen Reisen und gründlichen Betrachtungen geneigt werden Theil nehmen lassen." (WA IV, 40, S. 52) - Wie stichhaltig können Zweifel daran sein, daß Goethe wirklich nichts über die wirkliche Abkunft von „Hochgeboren" gewußt hat? Ist es ihm zuzutrauen, daß er den Weimarer Hof bewußt mystifiziert hat? Formal hatte er sich durch die dokumentierte Verfahrensweise so abgesichert, daß ihm späterhin kein Vorwurf zu machen gewesen wäre, hätte von dritter Seite eine ,Entlarvung' des falschen Grafen stattgefunden. Zieht man freilich in Erwägung, daß Goethe sich in absichtsvoller Weise einen — die Regeln adeliger Legitimität niederreißenden - ,Spaß' erlaubt haben sollte, indem er die ihm bekannte Identität Grosse-Vargas einfach auf sich beruhen ließ und nur den ,Verdienstadel' des älteren .Grafen' in Anschlag brachte, so wäre dies ein schla-

167

gender Beweis aufgeklärt-bürgerlichen Denkens und ein Akt später Rache an den Weimarer Verhältnissen und dem Standesdünkel, womit man ihm Jahrzehnte zuvor, vor allem in Verfolg seiner amtlichen Tätigkeit, das Leben sauer gemacht hatte. 414

Vergi. Kapitel I, S. 6 f.

415

Vergi. Ernst Schering: Johannes Falk. Leben und Wirken im Umbruch der Zeiten, Stuttgart 1961, S. 25 u. S. 28.

416

Biedermann, 2. Aufl., Bd. 3, S. 223. — In einem Vorschlag zu einer Biographie des unlängst verstorbenen Falk merkt Goethe im Jahre 1826 an: ,,(...) er wäre in drey Epochen zu schildern, 1) als Schriftsteller, 2) a b thätigin gefährlichen Kriegsläuften eingreifend, 3) als Pädagog verwilderter Kinder, und Unternehmer eines frommen Instituts in diesem Sinne. (...) Das Hauptbemühen muß darin liegen, durch Darstellung zu zeigen, wie das was im Leben eines solchen Mannes als wunderlich und problematisch erscheint, sich unter verschiedenen Umständen aus seinem Charakter entwickeln konnte." (Briefkonzept an Döring, 7 . 4 . 1 8 2 6 ; WA IV, 41, S. 272).

417

Max Hecker: Goethes ästhetisches Testament. Sein Briefwechsel mit Melchior Meyr, in: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft, Bd. 19, Weimar 1933, S. 62-84.

418

Nach Hecker, a.a.O., S. 63; vergi. Briefe an Goethe, Bd. 2, a.a.O., S. 598.

419

Zitate nach WA I, 41.2, S. 375 ff. - Nicht allein persönliche Erfahrungen Goethes dürften ftir diese Feststellung maßgebend sein. Anschauungsmaterial bot etwa das Zerwürfnis der Jugendfreunde Voß und Friedrich Stolberg; vergi. WA I, 36, S. 284 passim. — Möglicherweise hat Goethe auch das Ende der Romantiker-Wohngemeinschaft zu Jena im Gedächtnis. Es erledigte bekanntlich das programmatische Experiment der „Sympoesie" und „Symphilosophie" ebenso wie Friedrich Schlegels Illusion: „Alle Gemüter, die sich lieben, befreundet und bindet Poesie mit unauflöslichen Banden." (Athenaeum, a.a.O., III, 1, S. 58) — Zum Verlust einer optimistischen Lebensperspektive trägt nach der Auffassung Goethes auch der zeitgenössische Kulturstand bei, der die Täuschung befördere, jeder sei zur Poesie berufen: „Wir sprachen über Leute, die, ohne eigenliches Talent, zur Produktivität gerufen werden, und über Andere, die über Dinge schreiben die sie nicht verstehen. ,Das Verführerische für junge Leute, sagte Goethe, ist dieses. Wir leben in einer Zeit, wo so viele Kultur verbreitet ist, daß sie sich gleichsam der Atmosphäre mitgeteilt hat, worin ein junger Mensch atmet. Poetische und philosophische Gedanken leben und regen sich in ihm, mit der Luft seiner Umgebung hat er sie eingesogen, aber er denkt sie wären sein Eigentum, und so spricht er sie als das Seinige aus. Nachdem er aber der Zeit wiedergegeben hat was er von ihr empfangen, ist er arm. Er gleicht einer Quelle, die von zugetragenem Wasser eine Weile gesprudelt hat, und die aufhört zu rieseln, sobald der erborgte Vorrat erschöpft ist.' " (Eckermann: Gespräche, Teil 2, 15. 4. 1829, a.a.O., S. 334 f.). - Diese Reflexion Goethes ruft den politischen und sozialen Sachverhalt der sog. .Deutschen Misere' und ihrer Folgen in Erinnerung: die Tatsache, daß aufstrebende bürgerliche Intellektuelle aufgrund der Starrheit der politischen Struktur und der ständischen Hierarchie auf die Sphären der Kunst und Philosophie auszuweichen gezwungen waren, den Bereich der Kultur schließlich als ihre eigentliche Domäne verstanden und damit (ideologisch) zwangsläufig die Illusion nährten, von deren Enttäuschung in Goethes Diktum die Rede ist. — Ins Allgemein-Biographische und Antropologische gewendet hat Goethe das Versiegen eines jugendlichen Dichtertalents und die folgenden Irritationen am Beispiel Fouqués beschrieben. Karl von Holtei: Vierzig Jahre, Bd. 5, a.a.O., S. 60, referiert: „Göthe

168

wurde warm in Lobpreisungen der ,Undine*. Das ist ein »nmuthiges Büchlein und trifft so recht den Ton, der Einem wohl thut. Später wollt' es dem armen Fouqué mit nichts mehr so gut gelingen. Und das merkte er nicht. Aber es ist nicht anders. Der liebe Gott gibt dem Dichter einen Metallstab mit, zu seinem Bedarf. Von Außen sieht solches Ding aus wie eine Goldbarre. Bei Manchen ist es auch Gold, mindestens ein tüchtiges Stück lang. Bei Vielen ist es das liebe, reine Kupfer, nur an den Polen des Stabes etwas Gold. Da bröckelt nun der Anfänger los, giebt aus, wird stolz, weil sein Gold im Kurse gilt und wähnt, das müsse so fort geh'n. So bröckelt er immer lustig weiter. Hernach wenn er schon längst bei'm Kupfer ist, wundert er sich, daß die dummen Leute es nicht mehr fur Gold annehmen wollen." 420

WA I, 41.2, S. 378. - Vergi, auch Goethes Brief an Carlyle, 25. 6. 1829, anläßlich der „unerfreuliche(n)" Lebensgeschichte des Robert Burns: „Die poetische Gabe ist mit der Gabe, das Leben einzuleiten und irgend einen Zustand zu bestätigen gar selten verbunden." (WA IV, 45, S. 304).

421

WAI, 29, S. 93.

422

WA 1,42.2, S. 132.

4 2 3 WAI, 42.2, S. 122. 424

Der Erstdruck der beiden Reflexionen erfolgte 1823 (in: Über Kunst und Altertum, Bd. 4, Heft 2, S. 45) bzw. 1821 (Bd. 3, Heft 1, S. 40). Der Erstdruck der „Campagne" erfolgte 1822.

425

WA I, 33, S. 208.

426

WA I, 33, S. 213.

427

WAI, 33, S. 222.

428

Ebda.

429

WAI, 33, S. 223.

430

WA I, 33, S. 224 f.

431

WA I, 33, S. 225.

432

WA I, 33, S. 227 ff.

433

Kurt Robert Eissler: Goethe. Eine psychoanalytische Studie 1775-1786, Bd. 1, Basel und Frankfurt 1983, Kap. 1, S. 43-56. - Erstveröffentlichung: K. R. Eissler: Goethe. A Psychoanalytic Study. 1775-1786, Detroit 1963. Die historischen und philologischen Umstände der Entstehung der sog. „Plessing-Episode", die ich in der Folge zur Kritik der These Eisslers heranziehe, waren zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung seiner Studie in den Werkausgaben Goethes bzw. in der Forschungsliteratur längst dokumentiert — freilich nicht in der Zusammenstellung, die ich unten vornehme.

434

A.a.O., S. 19 f.

435

A.a.O., S. 52. — Der Begriff „Introversion" als Bestimmung des Charakterbildes Plessings bei Eissler.

436

A.a.O., S. 52 f.

437

A.a.O., S. 52.

438

A.a.O., S. 55.

439

A.a.O., S. 72.

440

A.a.O., S. 72 f. und S. 56.

169

441

A.a.O., S. 51 ff.

442

A.a.O., S. 51.

443

A.a.O., S. 53.

444

A.a.O., S. 27. — Eissler räumt ein, daß diese Annahme aber auch „die Möglichkeit, sich zu irren", verstärke.

445

Vergi. S. 40, über Anm. 150 u. 151.

446

Goethes Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe, Bd. 28, Stuttgart u. Berlin o. J. (1903), S. XXV f.

447

WA 1,41.1, S. 333.

448

WA I, 41.1. S. 331 f.

449

WA 1,41.1, S. 330.

450

Momme Mommsen unter Mitwirkung von Katharina Mommsen: Die Entstehung von Goethes Werken in Dokumenten, Bd. 2, Berlin 1958, S. 43; WA III, 8, S. 164 f. und S. 167.

451

A.a.O., S. 44; WA III, 8, S. 170.

452

Vergi. Thomas P. Saine: Campagne in Frankreich / Belagerung von Mainz (1822), in: Goethes Erzählwerk. Interpretationen, hrsg. v. P. M. Lützeler u. J. E. McLeod, Stuttgart 1985, S. 426 f.

453

Nach Fr. v. Müller, 18. 6. 1826; Biedermann/Herwig, Bd. III/2, S. 52.

454

Biedermann, 2. Aufl., Bd. 3, S. 279.

455

Biedermann/Herwig, Bd. III/l, S. 437.

456

Ebda.

457

Vergi, so schon Alfred Dove 1903: In der Schlußredaktion der „Campagne" habe Goethe die Gelegenheit wahrgenommen, „unter Vorbehalt künftiger Betrachtung der Harzreise in ihrem Wert fur seine Bergbaustudien das persönliche Erlebnis in Wernigerode jetzt als Einlage anzubringen: in der Schale des Kontrastes den Kern einer Parallele. Wird doch hier nun bereits am Saume der alten Wertherzeit dem geborenen und unverbesserlichen Seelengrübler Plessing von Goethe selbst, noch nicht streng, aber mild, der erlösende Realismus gepredigt." (Jubiläumsausgabe, Bd. 28, S. XXVI).

458

Vergi. Kapitel IX, S. 82 ff.

459

Brief an Reinhard, 10. 6. 1822; WA IV, 36, S. 59.

460

Vergi, den Lebensabriß Meyrs in der „Allgemeinen Deutschen Biographie", Bd. 2 1 , 1 8 8 5 , S. 650-660.

461

„Zahme Xenien III"; WA I, 3, S. 281: „Künstler! zeiget nur den Augen / Farben-Fülle, reines Rund! / Was den Seelen möge taugen, / Seid gesund und wirkt gesund."

462

„Maximen und Reflexionen über Literatur und Ethik", WA I, 42.2, S. 148.

463

So bezeichnet Marquard sich selbst. Er versteht darunter die Tätigkeit, als Philosoph dort in die Bresche zu springen, wo es anderen (Fach-)Wissenschaftlern ideologisch zu gefährlich wird; vergi.: Der Philosoph als Stuntman. Ein Gespräch mit Odo Marquard. In: Feuilleton-Beilage der Süddeutschen Zeitung, 19./20. 9. 1987, Nr. 215, S. 161 f.

170

464

Odo Marquard: KompensationstHeorien des Ästhetischen. In: Studien zur Ästhetik und Literaturgeschichte der Kunstperiode, hrsg. v. Dirk Grathoff, Frankfurt / Bern / New York 1985, S. 103-120. - Zitate S. 105.

465

A.a.O., S. 115 u. 117.

466

A.a.O., S. 114.

467

A.a.O., S. 115.

468

A.a.O., S. 116.

469

A.a.O., S. 117.

470

A.a.O., S. 115.

471

Max Weber: Soziologie. Weltgeschichtliche Analysen. Politik. Hrsg. v. Johannes Winckelmann, Stuttgart 1956, S. 4 6 2 f. (Erstdruck unter dem Titel: Zwischenbetrachtung. Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung. In: Archiv fur Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 4 1 , 1916, S. 387-421).

472

Literatur und Interesse. Eine politische Ästhetik mit zwei Beispielen aus der englischen Literatur von Christian Enzensberger, 2 Bde., München 1977.

473

Enzensberger, Bd. 1 (Theorie), S. 148.

474

A.a.O., S. 147 f.

475

A.a.O., S. 151 f.

476

A.a.O., S. 153.

477

A.a.O., S. 163 ff. - Zitat S. 155.

478

A.a.O., S. 155 ff.

479

A.a.O., S. 195.

480

A.a.O., S. 198.

481

Marquard, a.a.O., S. 108.

482

Peter Sloterdijk: Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung. Ästhetischer Versuch, Frankfurt am Main 1987.

483

A.a.O., S. 62 f.

484

A.a.O., S. 66.

485

A.a.O., S. 67.

486

A.a.O., S. 6 8 ff.

487

A.a.O., S. 119.

488

A.a.O., S. 120.

489

A.a.O., S. 67 f. u. S. 120.

490

Es ist bezeichnend, daß sich Sloterdijk von einem öko-theologischen Werk Hermann Timms (Das Weltquadrat. Eine religiöse Kosmologie, Gütersloh 1985) hat anregen lassen. Ihm verdankt Sloterdijk auch das Begriffspaar und die Bewertung des .Ptolemäischen' und des ,Kopemikanischen'; vergi. Timm, S. 190 f.

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