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German Pages 409 [410] Year 2010
RHETORIK-FORSCHUNGEN Herausgegeben von Joachim Dyck, Walter Jens und Gert Ueding
Band 18
Olaf Kramer
Goethe und die Rhetorik
De Gruyter
ISBN 978-3-11-023469-5 e-ISBN 978-3-11-023470-1 ISSN 0939-6462 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort
Mit Schiller fing alles an, genauer mit Gert Uedings Tübinger Dissertation „Schiller und die Rhetorik“, mit der eine Reihe von Studien den Anfang nahm, die sich gegen die These vom Ende der Rhetorik im 18. Jahrhundert stemmen. Rhetorik wurde damit nicht nur durch den programmatischen Neuanfang der New Rhetoric, sondern auch durch historische Studien als ein nicht abgeschlossenes Projekt von größter Aktualität rehabilitiert. Für dieses Rhetorikverständnis danke ich meinem Lehrer Gert Ueding, unter dessen Zuspruch und Einspruch diese Arbeit entstanden ist und von dem ich nicht nur in Rom viel gelernt habe. Zu danken habe ich auch dem Seminar für Allgemeine Rhetorik oder besser den Menschen, die seit der Institutsgründung durch Walter Jens dieses Institut zu einer Institution gemacht haben, allen voran Peter Weit, von dem Hilfe immer im rechten Moment kam, Else Schaudinn und der stets offenen Tür, aber auch Boris Kositzke – beredt im besten Sinne. Auch den Kollegen vom Historischen Wörterbuch sei gedankt, namentlich Franz-Hubert Robling für viele freundschaftlich-freundliche Gespräche und Thomas Zinsmaier, dem Nebenmieter im Brecht-Bau. Viele Anregungen für diese Arbeit gehen auf Gespräche mit den Studierenden des Instituts zurück, die an den Seminaren hoffentlich genau so viel Freude hatten wie ich. Constantin Neumeister hat bei der Korrektur mit großer Präzision geholfen. Zu danken habe ich ferner auch Birgitta Zeller vom deGruyter-Verlag für ihr großes Entgegenkommen. Mein Goethe-Bild wäre ein anderes ohne die Seminare von Klaus-Detlef Müller, der als ein auf die Sache konzentrierter Lehrer und Leser zu überzeugen wusste. Durch diese Seminare wurde auch Kai Voss zum Leser dieser Arbeit und zum Freund. Jürgen Schröder hat dem Goethe-Projekt seine Zeit gewidmet, als es nötig war, und mir so sehr geholfen. Dank auch Georg Braungart und Jürg Häusermann – den Rhetorikern des Deutschen Seminars. Jenseits ihrer Geschichtlichkeit war Rhetorik stets eine systematische Disziplin, Joachim Knape hat mir den Reiz des Systems und vor allem des systematischen Denkens gezeigt und mir im entscheidenden Moment ermöglicht, meinen Weg weiter zu gehen – für beides und für viele anregende Mittagsrunden herzlichen Dank. Wer bleibt übrig? Wer auch mit aller Rhetorik kaum in Worte zu fassen ist, meine Eltern, Sandra, die immer da war, Loacker, der kommen wird – ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Tübingen im Sommer 2010
Olaf Kramer
Inhaltsverzeichnis
1.
Prolegomena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. 1. Der unrhetorische Goethe? Perspektiven der Goetheforschung . . . . . . . . . . . 1. 2. Das Rhetorik-Rhizom – Modelle rhetorischer Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . 1. 3. Goethes Ausbildung als Einführung in die rhetorische Tradition . . . . . . . . . .
2.
Rhetorica contra rhetoricam? – Evidentia als Mittel oratorischer und literarischer Rhetorik im Sturm und Drang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. 1. „Ich! Der ich mir alles bin“ – Die Inszenierung von Genie in der Shakespeare-Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. 2. Suggerierte Spontaneität: Evidentia in der Erlebnislyrik . . . . . . . . . . . . . . . .
3.
4.
Genie statt Rhetorik? – Anthropologische Modelle der Rhetorik als Subtext des Genie-Diskurses. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. 1. Das rhetorische ars-natura-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. 2. Empfindung statt Kunstfertigkeit? Selbstaffizierung als ästhetisches Prinzip zwischen ars und natura . . . . . . . . 3. 3. „Aus der Fülle des Herzens“ – Die pietistische Glaubenspraxis zwischen rhetorischer Tradition und Genie-Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. 4. Gegen die erstarrten Regeln. Goethes Quintilian-Lektüren . . . . . . . . . . . . . . 3. 5. Herders Lektion über die Rhetorizität der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. 6. Der Künstler als Gott und Handwerker. Die Gedankenfigur des Erhabenen im Umfeld des Baukunst-Aufsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. 6. 1. Pathetische Programmatik. Der Stil des Baukunst-Aufsatzes . . . . . . 3. 6. 2. Das Erhabene im Spannungsfeld von ars, Genie und Naturerfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. 6. 3. Der Künstler als Gott und Handwerker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kunst als Natur? Modifikationen des imitatio-Konzepts im Übergang zur Klassik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. 1. Kunst als Natur? Zur Reinstallation des dissimulatio-Postulats in „Triumph der Empfindsamkeit“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. 2. „Künstlers Apotheose“. Die Rolle der imitatio im Prozess rhetorisch-ästhetischer Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. 3. „Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl“ als rhetorische Studie über das Problem der imitatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. 3. 1. Zur Definitionen von einfacher Nachahmung, Manier und Stil . . . . . 4. 3. 2. „Neuinstallation“ des Stil-Begriffs? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. 4. Zur Kontinuität der imitatio-Problematik im Übergang zur Klassik . . . . . . . 4. 5. Fundierung des imitatio-Konzepts durch Naturwissenschaft . . . . . . . . . . . . .
1 1 11 26 55 55 63 73 73 80 91 98 105 113 113 117 124 133 133 137 142 142 148 153 156
5.
6.
7.
8.
Rhetorische Artifizialität als ästhetisches Prinzip der Klassik . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. 1. Versinnlichung des imitatio-Konzepts („Über Laokoon“, Diderot-Übersetzungen, „Torquato Tasso“) . . . . . . . . . . . 5. 2. Die Reinstallation des aptum-Prinzips („Italienische Reise“, „Baukunst“, „Kunst und Handwerk“) . . . . . . . . . . . . . 5. 3. Rhetorische Kunstfertigkeit statt Dissimulation der Kunst . . . . . . . . . . . . . . 5. 4. Wider die Dilettanten. Goethes Dilettantismus-Kritik im Kontext der Rhetorik-Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. 4. 1. Formen des Dilettantismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. 4. 2. Wilhelm Meister: Ein Dilettant auf der Bühne . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. 4. 3. Goethes „Regeln für Schauspieler“ als Theorie der actio und pronuntiatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begrenzte Individualität. Zum Problem rhetorischer Verhaltensregulierung . . . . . . 6. 1. Psychologisierung rhetorischer Verhaltensregulierung („Die Leiden des jungen Werthers“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. 2. Rhetorische Verhaltensregulierung in der politischen Bewährung . . . . . . . . . 6. 2. 1. Selbsthelfertum vs. politische Klugheit („Götz“) . . . . . . . . . . . . . . . 6. 2. 2. Rhetorische Verhaltensregulierung und politische Öffentlichkeit („Egmont“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. 3. Der Hofmann als Künstler. Das ästhetische Potential des Hofmann Ideals („Torquato Tasso“) . . . . . . . . 6. 3. 1. Belriguardo und Weimar: Höfische Verhaltensnormen im Zustand der Auflösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. 3. 2. Der cortegiano als ästhetisches Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. 3. 3. Hofmann und Künstler im Verhältnis zur Gesellschaft: Zur Aktualität des rhetorischen urbanitas-Konzepts . . . . . . . . . . . . . 6. 4. Sein statt Schein. Höfische Verhaltensmodelle in der bürgerlichen Kritik (Meister-Romane) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
165 165 169 175 181 181 184 187 193 196 201 201 210 222 222 227 234 240
Gespräch und Geselligkeit. Rhetorik in der bürgerlichen Gesprächskultur . . . . . . . 251 7. 1. Die Freitagsgesellschaft – Eine bürgerliche Akademie in der Provinz . . . . . . 251 7. 2. „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“: Rhetorik zwischen Eloquenzideal und politischer Wirklichkeit . . . . . . . . . . . 260 „Das unerwartet ungeheure Wort.“ Paradigmen rhetorischer Erkenntnistheorie in „Iphigenie auf Tauris“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 8. 1. Prekäre Selbstüberredung. „Iphigenie“ zwischen Humanitätspostulat und Autonomiedenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. 2. Im Bann der Worte. „Iphigenie auf Tauris“ als rhetorische Typologie . . . . . 8. 2. 1. Beredte Humanität. Iphigenie als Rednerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. 2. 2. Machtrhetorik und diskursive Verständigung. Thoas im Wandel . . . 8. 2. 3. Macht und Grenze der Rhetorik. Pylades als neuer Odysseus . . . . . . 8. 3. „O höre mich! O sieh mich an“ – Rhetorik als Vehikel der Überredung und Selbstüberredung am Beispiel Orests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VIII
273 280 281 285 288 291
9.
Im Reich der Rhetorik. Von der Schulrhetorik zur Erkenntnistheorie (Faust-Dichtungen, Meister-Romane) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 9. 1. Die Wahrheit der Redner. Zur Rezeption und Adaption sophistischer Erkenntnistheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. 1. 1. Rhetorik im Studierzimmer – Erkenntnisdrang, Skeptik und Sophistik im „Faust“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. 1. 2. Rhetorik als ars seducendi. Zum Problem authentischer Rede in der Gretchen-Episode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. 1. 3. Die Produktivität des Zweifels. Ästhetische Pointen der Sophistik-Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. 2. Ein Leben schreiben. „Dichtung und Wahrheit“ als Akt rhetorischer Selbstdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. 2. 1. Die Konstruktion von biographischer Identität im Medium der Autobiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. 2. 2. Zur argumentativen Struktur von „Dichtung und Wahrheit“ . . . . . . . 9. 2. 3. Rhetorisches Hauptstück: Die Geburt des Dichters . . . . . . . . . . . . . . 9. 3. Rhetorik als Dichtung, Dichtung als Rhetorik. Rhetorizität der Sprache und rhetorische Erkenntnistheorie im „West-östlichen Divan“ . . . . . . . . . . . . . . . 9. 3. 1. Reine Rhetorik. Eine Paradiesvision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. 3. 2. „Quintilian unserm alten Meister“ – Rhetorik als Thema der Erläuterungen zu „Besserem Verständniss“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10.
297 297 306 310 319 319 325 329 334 334 342
„Denn was soll die Rede taugen…“ – Rezeption und Adaption der Rhetorik bei Goethe (Zusammenfassung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349
Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389
IX
1.
Prolegomena
Zu was will er ein Mädchen? Um die retohrischen [sic!] Figuren auszuüben […].1
1. 1.
Der unrhetorische Goethe? Perspektiven der Goetheforschung
In Thomas Manns Erzählung „Schwere Stunde“ blickt Schiller neidisch von Jena nach Weimar: Während er sich in Jena mit seinem Text durch die Nacht quält, kommt es ihm vor, als würde Goethe in Weimar alles leichter fallen, mühelos gelingen. Der „andere, der dort, in Weimar, den er mit einer sehnsüchtigen Feindschaft liebte. Der war weise. Der wußte zu leben, zu schaffen; mißhandelte sich nicht; war voller Rücksicht gegen sich selbst…“2 Schiller sieht in Goethe das Genie, für das Schreiben eine Form individueller Lebensbewältigung ist, die ohne Arbeit am Text auskommt. Damit greift Thomas Mann eine Vorstellung auf, die Goethe selbst propagiert hat, etwa indem er in „Dichtung und Wahrheit“ das Schreiben als einen selbstverständlichen Teil seiner Existenz präsentiert und behauptet, dass er „[s]ein ganzes Leben über nicht abweichen konnte, […] dasjenige was [ihn] erfreute oder quälte, oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit [sich] selbst abzuschließen“.3 Zwar erwähnt Goethe in seiner Autobiographie, dass er Aristoteles, Cicero, Quintilian und Longin schon als Schüler kennenlernte, behauptet „[i]n rhetorischen Dingen, Chrieen und dergleichen tat es mir Niemand zuvor“,4 aber für den Schriftsteller Goethe gehörte die Einführung in die rhetorische Tradition, wenn man der Dar–––––––––––– 1
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Johann Wolfgang Goethe an Johann Jacob Riese. Brief vom 30. Oktober bis 6. November 1765. In: Ders.: Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 133 Bde. in 143 Teilbänden. Weimar 1887–1919, IV. Abteilung, Bd. 1. Weimar 1887. S. 18. Im Folgenden werden die Zitate verkürzt mit der Sigle WA unter Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl nachgewiesen. Sofern Werke und Briefe in der Münchner Ausgabe erschienen sind, wird grundsätzlich nach dieser Ausgabe zitiert. Nachweise erfolgen in diesem Fall verkürzt mit der Sigle MA und der Angabe von Band und Seitenzahl. Vgl. Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hrsg. v. Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder u. Edith Zehm. 21 Bde. in 33 Teilbänden. München 1986–1998. Mann, Thomas: Schwere Stunde. In: Ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Bd. 8. Frankfurt am Main 1960. S. 371–379, hier: S. 372. Goethe: Dichtung und Wahrheit. MA 16. S. 306. Ebd. S. 35.
stellung der Autobiographie folgt, allenfalls zu den Propädeutika. Für sein eigentliches literarisches Werk, mit dem er die rhetorisch geprägte Literaturtradition hinter sich lässt, scheint sie hingegen beinah bedeutungslos. Goethes Texte scheinen verwoben mit seiner Individualität, nicht mit dem Regelwerk der antiken Rhetorik, die noch im Barock für Schriftsteller als maßgebendes Modell galt. Die Tradition der Rhetorik hat seit dem Sturm und Drang scheinbar nur noch geringen Wert, officia oratoris mit einer formalisierten inventio, regelhafter dispositio und elocutio vertragen sich nicht mit dem literarischen Neubeginn der Geniezeit. Das individuelle Empfinden des Künstlers und die Originalität seiner Werke werden nun zu Maßstäben und lassen sich zumindest prima facie nicht in eine rhetorische Dichtungstradition einordnen, in der sich Originalität allenfalls im geschickten Umgang mit vorgefertigten Topiken und stilistischer Raffinesse zeigte, der Schriftsteller sich in der imitatio anderer Texte üben sollte, statt sein eigenes Ich zu ergründen. Ein Brief Wilhelm von Humboldts an Christian Gottfried Körner illustriert, wie konsequent das 18. Jahrhundert den Schriftsteller und sein Werk von der Rhetorik abgrenzt. Humboldt glaubt, allein die „Vortrefflichkeit seiner Natur“5 mache Goethe zum Dichter und als Dichter sei es seine einzige Aufgabe, Empfindungen zu äußern. Dafür aber würde er „gern […] der Worte entbehren, wenn er eine andere Sprache kennte, das auszudrücken was Er in der Seele trägt“.6 Unter der Hand erläutert Humboldt eine von Goethe häufig verwendete Darstellungsform: er versuche, „Bilder […] vor die Phantasie des Zuhörers [zu] stellen“.7 Eine sprachliche Technik erkennt Humboldt darin nicht, doch Goethe selbst dürfte die Figur evidentia, die Humboldt umschreibt, durchaus bewusst verwendet haben, schließlich finden sich unter einer größeren Zahl von Quintilian-Exzerpten in den „Ephemerides“ eben auch Notizen zu dieser Stilfigur, die für Goethe so typisch ist. Das verzerrte Goethebild, auf das auch Thomas Mann abhebt, entstand, weil man die Bedeutung der Rhetorik für Goethe konsequent übersah. Beispielhaft lässt sich dies an einer 1912 von einem kaum noch bekannten Forscher namens Erich Frederking vorgelegten Untersuchung zu „Goethes Arbeitsweise“ ablesen. Frederking zählt Erlebnisse und Erfahrungen Goethes auf, bewertet ihren Einfluss auf verschiedene Texte, doch um Goethes ‚Arbeit‘ an den Texten geht es nicht. Die „Behandlung des Stoffes“ erscheint stattdessen als ein nicht weiter analysierbarer Inspirationsprozess, der entweder „plötzlich und sehr schnell“8 –––––––––––– 5 6 7 8
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Wilhelm von Humboldt an Christian Gottfried Körner. Brief vom 21. Dezember 1797. In: Ders.: Briefe an Christian Gottfried Körner. Hrsg. v. Albert Leitzmann. Berlin 1940. S. 51. Ebd. Ebd. Frederking, Erich: Goethes Arbeitsweise. Darmstadt 1912. S. 44.
abläuft oder nachdem der Stoff „mehrere Male im Dichter ruhte“. 9 Die exoterische Rhetorikverleugnung und -kritik, die sich bei Goethe bisweilen findet, sich aber eigentlich nur gegen eine stupide Regel-Rhetorik richtet, wird dankbar aufgenommen, nicht aber die esoterische Auseinandersetzung mit der Rhetorik erforscht, die im 18. Jahrhundert für Goethe und viele andere Schriftsteller noch ganz selbstverständlich war. Man folgt damit der Inszenierung von „Dichtung und Wahrheit“ und liest dieses Buch wie ein authentisches Dokument, obwohl die Autobiographieforschung eine Autobiographie eher als einen Pakt zwischen Autor und Leser versteht, der Authentizität zwar vorspiegelt, aber eben nicht garantiert.10 Da kann der junge Goethe dann noch so deutlich „Empfunden! und gearbeitet! Gearbeitet! und empfunden!“11 in das Stammbuch von Georg Friedrich Schmoll notieren, mit dem Sturm und Drang scheint die rhetorisch beeinflusste Arbeit an Texten nur noch in Kanzleien ihren Platz zu haben, nicht in der Kunst, die vor allem Genie verlangt. Thomas Mann lässt Schiller zu Recht am künstlerischen Potential eines solchermaßen verklärten und inszenierten Genies zweifeln: Das Talent selbst – war es nicht Schmerz? Und wenn das dort, das unselige Werk, ihn leiden machte, war es nicht in der Ordnung so und fast schon ein gutes Zeichen? Es hatte noch niemals gesprudelt, und sein Mißtrauen würde erst eigentlich beginnen, wenn es das täte. Nur bei Stümpern und Dilettanten sprudelte es, bei den Schnellzufriedenen und Unwissenden, die nicht unter dem Druck und der Zucht des Talentes lebten.12
Wer talentiert ist, muss deshalb nicht wie ein Unwissender schreiben. Rhetorische Regeln und ästhetische Maßstäbe wird nur der Dilettant ignorieren, ein talentierter Künstler erlebt sein Talent auch als Zucht, als Korrektiv von Empfindungs- und Ideenreichtum. Die technische Seite der literarischen Produktivität, auf die Mann hinweist, zu unterschätzen, unterläuft aber nicht nur einem vergessenen Literaturwissenschaftler des frühen 20. Jahrhunderts. Es findet sich unter der endlosen Zahl von Monographien des Titeltyps „Goethe und …“ nämlich bis heute keine größere Untersuchung zum Thema Rhetorik. Rüdiger Campe etwa hat zwar erkannt, wie intensiv Goethe sich mit rhetorischen Texten beschäftigte, hat darin aber eher Momente einer ‚ironischen Distanzierung‘ gesehen und nachweisen wollen, dass etwa Goethes Quintilian-Exzerpte ein Versuch seien, „Rhetorik [zu] überlesen“.13 Dabei könnte man die vielen Belege doch auch –––––––––––– 9 10 11 12 13
Ebd. Vgl. Lejeune, Philippe: Le pacte autobiographique. Paris 1975. Goethe in das Stammbuch von Georg Friedrich Schmoll. MA 1,1. S. 237. Mann, Thomas: Schwere Stunde. In: Ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Bd. 8. Frankfurt am Main 1960. S. 371–379, hier: S. 375. Campe, Rüdiger: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1990. S. 515–554, hier: S. 537. Es steht außer Zweifel, dass im 18. Jahrhundert „die Regel der Rhetorik in Frage gestellt“ wird, wie Campe darlegt (ders.: Umbrüche und Wandlungen der Rhetorik. In: Glaser, Horst Albert u. György M. Vajda
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nehmen, um zu zeigen, wie Goethe sich auf die rhetorische Tradition bezieht und wie diese ihn beeinflusst hat. Zwar haben schon Ernst Robert Curtius und Klaus Dockhorn angedeutet, dass bei Goethe die europäische Rhetoriktradition noch lebendig sei,14 zwar haben Rhetorikforschung und Literaturwissenschaft die Rede vom Ende der rhetorischen Tradition im 18. Jahrhundert längst hinter sich gelassen und gehen inzwischen von einem komplexen Transformationsprozess aus,15 umfänglichere Arbeiten zu Goethes Verhältnis zur Rhetorik aber liegen bisher nicht vor. Der Einfluss der Rhetorik auf Goethe lässt sich nur dank einiger wegweisender Untersuchungen, die in ihren Ansätzen aber außerordentlich heterogen und auf ––––––––––––
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(Hrsg.): Die Wende von der Aufklärung zur Romantik 1760–1820. Amsterdam 2001. S. 589–612, hier: S. 589), doch geht Rhetorik eben nicht in den Regeln der ars auf. Campe macht drei Bereiche fest, in denen es zu einer Infragestellung der Rhetorik kommt, nämlich in der schulischen Vermittlung rhetorischer Fähigkeiten, der rhetorisch geprägten Literaturtheorie und der Topik, die nicht länger als sprachlich-logischer Grund des Wissens verstanden wird. Doch lassen sich die Veränderungen eben auch als Rückgriff auf andere rhetorische Theorieelemente betrachten, die in die rhetorische Tradition integriert sind, etwa die pectus-Theorie Quintilians oder das Evidenzgebot. Vgl. Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 11. Auflage. Tübingen u. Basel 1993. S. 72; Dockhorn, Klaus: Macht und Wirkung der Rhetorik. Vier Aufsätze zur Ideengeschichte der Vormoderne. Bad Homburg, Berlin u. a. 1968. S. 47. Die Formel „Transformation der Rhetorik“ findet sich u. a. bei Bornscheuer, Lothar: Rhetorische Paradoxien im anthropologiegeschichtlichen Paradigmenwechsel. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 8 (1989) S. 13–42; Campe, Rüdiger: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1990. S. 489– 497; Lohmann, Ingrid: Bildung, bürgerliche Öffentlichkeit und Beredsamkeit. Zur pädagogischen Transformation der Rhetorik zwischen 1750 und 1850. Münster 1993; Schanze, Helmut: Transformation der Rhetorik. Wege der Rhetorikforschung um 1800. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 12 (1993) S. 60–72; Dyck, Joachim u. Jutta Sandstede: Quellenbibliographie zur Rhetorik, Homiletik und Epistolographie des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. 3 Bde. Stuttgart 1996. Bd. 1. S. IX; Mayer, Heike: Lichtenbergs Rhetorik. Beitrag zu einer Geschichte rhetorischer Kollektaneen im 18. Jahrhundert. München 1999. S. 15; Krause, Peter D.: Unbestimmte Rhetorik. Friedrich Schlegel und die Redekunst um 1800. Tübingen 2001. S. 262; Ostermann, Eberhard: Die Authentizität des Ästhetischen. Studien zur Transformation der Rhetorik. München 2002. S. 89–108; Till, Dietmar: Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2004. Neuerdings hat Björn Hambsch das Paradigma in Bezug auf Herder aufgegriffen: Ders.: „…ganz andre Beredsamkeit“. Transformationen antiker und moderner Rhetorik bei Johann Gottfried Herder. Tübingen 2007. Vom Ende der Rhetorik spricht man inzwischen vor allem mit Blick auf die Verdrängung der lateinischen Schultradition. So diagnostiziert Manfred Fuhrmann: „Einzig und allein die Nationalisierung des gesamten europäischen Geisteslebens ist eine zulängliche Erklärung für das Verschwinden des Rhetorikunterrichts, für die einschneidendste Änderung also, die das antikeuropäische Bildungswesen seit dem Übergang von der heidnischen Antike ins christliche Mittelalter erlebt hatte.“ (Ders.: Rhetorik und öffentliche Rede. Über die Ursachen des Verfalls der Rhetorik im ausgehenden 18. Jahrhundert. Konstanz 1983. S. 17–18).
spezielle Teilbereiche des Werkes oder der rhetorischen Tradition fokussiert sind, zumindest bruchstückhaft rekonstruieren. Diese wenigen Untersuchungen, die nach dem Einfluss der Rhetorik auf Goethe fragen, lassen indes das beachtliche Potential des Themas erahnen. So zeigt Helmut Schanze Goethe als eifrigen Quintilian-Leser, der auch zeitgenössische Arbeiten zum Thema Rhetorik, namentlich etwa Johann Christian Gottlieb Ernestis Handbücher, zu Rate zieht und beispielsweise mit den „Regeln für Schauspieler“ selbst die rhetorische Theoriebildung weiterführt.16 Anna Carrdus weist in einem Aufsatz nach, dass Goethes so genannte ‚Erlebnislyrik‘ intensiv von der Gedankenfigur evidentia Gebrauch macht, und belegt so beim jungen Goethe die gezielte und kenntnisreiche Verwendung rhetorischer Figuren.17 Dieter Borchmeyer behandelt die Adaption rhetorisch geprägter höfischer Verhaltensideale in „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ und den Einfluss der Rhetorik auf die Weimarer Geselligkeit, bringt also den klassischen Goethe mit der Rhetorik in Verbindung.18 Heinz Gockel schließlich erwähnt, dass Goethe im Umfeld des „Divan“ erkennt, dass Sprache erst in der Auseinandersetzung mit dem „Rhetorischen“19 produktiv werden kann, und nimmt damit auch beim späten Goethe die Spur der Rhetorik auf. Insgesamt bleiben die Untersuchungen zur Bedeutung der Rhetorik für Goethe als Schriftsteller jedoch Ausnahmen, lediglich seine Reden wurden inzwischen umfassender erforscht: Von Gert Ueding liegen Arbeiten zu den argumentativen und stilistischen Eigenheiten der Reden Goethes vor, und er behandelt auch die rhetorisch beeinflusste schulische und universitäre Ausbildung des Dichters. Von Friedrich Sengle stammt eine luzide Interpretation der Rede „Zu brüderlichem Andenken Wielands“.20 –––––––––––– 16
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Vgl. Schanze, Helmut: Goethes Rhetorik. In: Ueding, Gert (Hrsg.): Rhetorik zwischen den Wissenschaften. Geschichte, System, Praxis als Probleme des „Historischen Wörterbuchs der Rhetorik“. Tübingen 1991. S. 139–147; außerdem: H. S.: Goethes Dramatik. Theater der Erinnerung. Tübingen 1989. S. 20–34. Vgl. Carrdus, Anna: „Und mir’s vom Aug’ durchs Herz hindurch in’n Griffel schmachtete“ – Rhetoric in Goethe’s „Erlebnislyrik“. In: Publications of the English Goethe Society. New Series 62 (1993) S. 35–58. Vgl. Borchmeyer, Dieter: Höfische Gesellschaft und französische Revolution bei Goethe. Adliges und bürgerliches Wertsystem im Urteil der Weimarer Klassik. Kronberg/Taunus 1977. Gockel, Heinz: Goethes Tasso – die Sprache des Symbols. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 54 (1980) S. 636–655, hier: S. 642–643. Vgl. Ueding, Gert: Reden durch die Sache – Goethes rhetorische Theorie und Praxis. In: Goethes Reden. Hrsg. u. mit einem Nachwort versehen von Gert Ueding. Frankfurt am Main u. Leipzig 1994. S. 175–197; ders.: Artikel „Goethes Reden und Ansprachen“. In: Goethe-Handbuch in vier Bänden. Hrsg. v. Bernd Witte, Theo Buck u. a. Stuttgart u. Weimar 1996–1999 [künftig zitiert als Goethe-Handbuch]. Bd. 3. Hrsg. v. B. W., Peter Schmidt u. a. Stuttgart u. Weimar 1997. S. 820–832; Sengle, Friedrich: Goethes Nekrolog „Zu brüderlichem Andenken Wielands“. Die gesellschaftliche und historische Situation. In: Ders.: Neues zu Goethe. Stuttgart 1989. S. 157–172.
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Diese Forschungsansätze reißen die Bedeutung der Rhetorik bei Goethe an, bleiben aber doch die Ausnahme. Man folgte nicht Goethes Bekenntnis zum „alten Meister“21 Quintilian, an dem er sich, wie diese Arbeit zeigen wird, in der Tat sein ganzes Leben lang orientiert hat, sondern vertraute lieber der Rollenrede des Faust vom Verstand und rechten Sinn, die sich mit wenig Kunst selber vortragen,22 um die Verbindungslinien Goethes zur Rhetorik zu kappen. Manche häufig zitierte Kritik Goethes an der Rhetorik ist dabei in der Rezeptionsgeschichte völlig aus dem jeweiligen Kontext gelöst worden, in dem Goethes Verhältnis viel differenzierter und reflektierter erschienen wäre. Ohnehin ist die Sache merkwürdig: Goethe und die Antike ist ein verbreitetes Thema der Forschung, aber die Rhetorik wird in diesem Kontext kaum erwähnt, obwohl sie neben der Philosophie die zweite große Bildungsmacht der Antike war.23 Dabei hat Ernst Grumach für seine Sammlung „Goethe und die Antike“24 viele Exzerpte und Zitate aus Texten antiker Rhetoriker bei Goethe aufgetan, die die umfassende Rezeption von Rhetoriklehrbüchern und rhetorischen Theoriewerken eindrucksvoll belegen; es gibt nämlich neben den häufig zitierten kritisch klingenden Bemerkungen Goethes zur Rhetorik auch manche positive Äußerung. Wissenschaftlich ausgewertet wurde dieser Abschnitt von Grumachs umfangreicher Sammlung bisher jedoch nicht. Man hielt sich eher an idealisierte Vorstellungen von der Antike, die selbst das Ergebnis rhetorischer Konstruktion sind und die dem späten Goethe zusehends entglitten.25 Lediglich die QuintilianPassagen, die Goethe in seinen „Ephemerides“ exzerpiert hat, sind von Otto Seel im Zusammenhang interpretiert worden, um durch Goethes Stellenauswahl die –––––––––––– 21 22 23
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Goethe: Besserem Verständniss. MA 11, 1, 2. S. 167. Vgl. Goethe: Faust. MA 6, 1.V. 550–551. S. 550. Vgl. Maass, Ernst: Goethe und die Antike. Berlin, Stuttgart u. a. 1912. Bei Maass werden zwar Cicero und Quintilian bisweilen erwähnt, als eigenständige Disziplin nimmt er die Rhetorik jedoch kaum wahr. Noch deutlicher ist die Aussparung der rhetorischen Tradition zu erkennen bei Trevelyan, Humphry: Goethe and the Greeks. Cambridge, London u. a. 1981; auch in den neueren Arbeiten zum Thema setzt sich diese Tendenz fort: vgl. Schlaffer, Hannelore: Antike als Gesellschaftsspiel. Die Nachwirkungen von Goethes Italienreise im Norden. In: Annali. Sezione Germanica. N. S. 30 (1987) S. 297–312; Riedel, Volker: Goethes Beziehung zur Antike. In: Ders.: „Das Beste der Griechen“ – „Achill das Vieh“. Aufsätze und Vorträge zur literarischen Antikenrezeption II. Jena 2002. S. 63–89; ders.: Goethe und seine Zeit im Spannungsfeld zwischen Antike und Moderne. Ebd. S. 91–106. Dabei ist Schlaffer zuzustimmen, wenn sie das Spielerische der Antikenrezeption betont und zeigt, wie sich die Wahrnehmung der Antike von der historischen Realität entfernt, bei der Rhetorik kommt es zu einer solchen Idealisierung durch Goethe jedoch nicht, sie wird von ihm vielmehr als eine pragmatische anwendungsbezogene Disziplin verstanden. Vgl. Grumach, Ernst: Goethe und die Antike. Eine Sammlung. Mit einem Nachwort von Wolfgang Schadewaldt. 2 Bde. Berlin 1949 [künftig zitiert als Grumach], insbesondere: Bd. 2. S. 893–912. Vgl. dazu Osterkamp, Ernst: Gewalt und Gestalt. Die Antike im Spätwerk Goethes. Basel 2007.
Vielschichtigkeit des Quintilianschen Lehrbuchs zu dokumentieren, das keineswegs nur dazu diente, rhetorische Regeln zu vermitteln, sondern auch eine anthropologische Fundierung der Rhetorik enthält.26 Aus blinder Verehrung hat man Goethe andererseits ab und an auf dem Feld der Rhetorik eher unbegründet Verdienste zugeschrieben: Fritz Ernst bezeichnet den Dichter in seiner Reden-Anthologie als den „größten Redner“27 deutscher Sprache, Irmgard Weithase folgt verklärten Äußerungen von Goethes Zeitgenossen zu Stimme und Auftreten des Dichters, die beispielsweise von dessen „klingender Stimme“, deren Ton „Musik“ sei, schwärmen.28 Allerdings ergeben sich daraus nur wenige Erkenntnisse über die Bedeutung der Rhetorik für den Schriftsteller Goethe. Weithase betont freilich, Goethe habe „um das Wesen der Redekunst gewußt“,29 aber ihre Untersuchungen sind für diese Arbeit kaum von Interesse, weil Weithase mit ‚Redekunst‘ eine Art von Rhetorik meint, die über sprecherzieherisches Regelwissen nicht hinausgeht und ästhetisch bzw. literarisch kaum von Bedeutung ist. Ähnliches gilt für den Rhetorik-Begriff des vielversprechend betitelten Aufsatzes „Literatur als Recht – Goethe in der Tradition juristischer Rhetorik von Cicero bis Oliver Wendell Holmes“: Thomas-Michael Seibert will hier die Modernität von Goethes amtlichen Schriften beweisen, indem er zeigt, wie weitgehend diese von dem als rhetorisch identifizierten Stil der Catilinarischen Reden Ciceros abweichen,30 womit ein äußerst reduktionistischer Rhetorikbegriff formuliert ist. Insgesamt gesehen, umreißen die bisherigen Arbeiten zum Einfluss der Rhetorik auf Goethe einige mögliche Untersuchungsfelder, bleiben aber fragmentarisch, während man Schiller längst vor der Folie der rhetorischen Tradition betrachtet hat und zu dem Ergebnis gekommen ist, dass der „Verfallsprozeß der Redekunst, der weit bis ins neunzehnte Jahrhundert andauert, nur die Rhetorik als festes Lehrgebäude“ berührt, „nicht aber die rhetorischen Elemente überhaupt aus Dichtkunst und Ästhetik verbannt“.31 Ueding hält in seiner Studie –––––––––––– 26 27 28 29 30
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Vgl. Seel, Otto: Quintilian oder die Kunst des Redens und Schweigens. Stuttgart 1977. S. 288–313. Ernst, Fritz: Vorrede des Herausgebers. In: Goethe: Reden. Ausgewählt u. eingeleitet von Fritz Ernst. Basel 1943. S. 11–18, hier: S. 18. Vgl. Weithase, Irmgard: Goethe als Sprecher und Sprecherzieher. Weimar 1949. S. 18. Ebd. S. 43. Vgl. Seibert, Thomas-Michael: Literatur als Recht – Goethe in der Tradition juristischer Rhetorik von Cicero bis Oliver Wendell Holmes. In: Lüderssen, Klaus (Hrsg.): „Die wahre Liberalität ist Anerkennung“. Goethe und die Jurisprudenz. Baden-Baden 1999. S. 319–349. Ueding, Gert: Schiller und die Rhetorik. In: Schiller-Handbuch. Hrsg. v. Helmut Koopmann. Stuttgart 1998. S. 190–197, hier: S. 190; vgl. zudem G. Ue.: Schillers Rhetorik. Idealistische Wirkungsästhetik und rhetorische Tradition. Tübingen 1971. Eine Rekonstruktion, wie sie dort geleistet wird, bedeutet nicht, wie Rüdiger Campe behauptet, die „Szenen des Bruchs zu übersehen und strukturelle Transformationen in den manifest gegenrhetorischen Motiven als Indizien einer großen Kontinuität der Literaturgeschichte auszulegen“ (R. C.:
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„Schiller und die Rhetorik“ fest, dass dieser seine ästhetische Theorie entlang rhetorischer Paradigmen konstruiert: das Ideal der Ganzheit, das in den „Briefen zur ästhetischen Erziehung“ aufleuchtet, variiert die rhetorische aptum-Lehre und knüpft an das vir-bonus-Ideal an, die Ausdifferenzierung von Anmut, Schönheit und Erhabenheit ist ohne die rhetorische Affektenlehre und die Theorien Ps.-Longins nicht denkbar, das Selbstverständnis des Dichters in kritischer Gegenüberstellung von Redner und Schriftsteller erst richtig zu erfassen. Dass Schiller sich in seinen ästhetischen Schriften ständig auf die Rhetorik bezieht, ist nach Ueding nicht verwunderlich, da Schillers Ausbildung – ebenso übrigens Goethes – noch ganz im Zeichen einer rhetorischen Tradition stand, in welcher die Disziplin als „einzig maßgebende Lehre von der Textproduktion“32 galt. Schiller und eben auch Goethe fallen als Autoren hinter in Schule und Studium vermitteltes Wissen um rhetorische Theorie und Praxis nicht zurück. So finden sich in Goethes theoretischen Texten wie in seinen literarischen Werken immer wieder Spuren rhetorischen Wissens und Sprachhandelns, die in dieser Arbeit rekonstruiert werden sollen. Anders als bei Schiller oder auch bei Herder lässt sich dies jedoch nur leisten, indem man das literarische Werk einbezieht, denn die Theorieschriften Goethes streifen die rhetorische Tradition zwar immer wieder, aber sie exponieren häufig nur Themen, die erst in den literarischen Texten ausgeführt werden. Goethe bleibt dabei nicht bei den Erkenntnissen seiner Schul- und Studienzeit stehen, vielmehr rezipiert er beinah sein ganzes Leben hindurch rhetorische Autoritäten, Klassiker wie Aristoteles, Cicero und Quintilian, ebenso zeitgenössische rhetorische Werke, zum Beispiel die Handbücher Ernestis, den Horaz-Kommentar Hurds oder die Schriften Winkelmanns. Dass Goethes Texte auf der elocutio-Ebene rhetorischen Regeln folgen, mit Hilfe rhetorischer Figuren beschrieben werden können, ist nicht der eigentliche Punkt. Rhetorische Figuren sind schließlich auch in Texten zu finden, deren Verfasser nichts von der Rhetorik wissen. Wenn sich rhetorische Figuren und eine ausgefeilte dispositio aber wie im Beispiel der Shakespeare-Rede häufen, kann dies als Indiz gelten, dass Goethe solche rhetorischen Techniken kennt und auch während des Sturm und Drang in der Tradition der Rhetorik verwurzelt bleibt. Goethe versteht jedoch unter Rhetorik mehr als eine Anleitung zur richtigen elocutio oder dispositio, ganz selbstverständlich bezieht er sich auf Rhetorik, wenn er ästhetische, anthropologische oder erkenntnistheoretische Fragen behandelt. In seinen theoretischen Texten wie in seinen literarischen Werken ist Rhetorik ––––––––––––
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Umbrüche und Wandlungen der Rhetorik. In: Glaser, Horst Albert u. György M. Vajda (Hrsg.): Die Wende von der Aufklärung zur Romantik 1760–1820. Amsterdam 2001. S. 589–612, hier: S. 601), sondern ernst zu nehmen, dass sich die literarische Entwicklung im 18. Jahrhundert in der Tradition der Rhetorik vollzieht. Dyck, Joachim: „Rede, daß ich dich sehe.“ Rhetorik im Deutschland des 18. Jahrhunderts. In: Ueding, Gert u. Thomas Vogel (Hrsg.): Von der Kunst der Rede und Beredsamkeit. Tübingen 1998. S. 70–89, hier: S. 71.
als eine Theorie intentionaler Kommunikation mit einem ästhetischen, anthropologischen und erkenntnistheoretischen Hintergrund präsent. Es geht bei alledem nicht darum, in Abrede zu stellen, dass der Sturm und Drang eine Phase literaturgeschichtlich bedeutsamer Innovation ist, einen Paradigmenwechsel darstellt, bei dem eine rhetorisch geprägte Regelpoetik durch eine Genie- und Organismusästhetik erneuert wird, doch geschieht dies eben nicht durch die Quarantäne rhetorischen Wissens, sondern mit dessen Hilfe. Wer nicht nur die rhetorischen Regelkataloge kennt, sondern die historische Entwicklung der Rhetorik und ihre theoretischen Grundannahmen vor Augen hat, findet in der rhetorischen Tradition immer wieder Überlegungen und Theorien, die das Regelsystem kritisch beleuchten. Ohnehin ist es überzogen, so zu tun, als sei mit dem Sturm und Drang der Zeitpunkt zu bestimmen, an dem der Schriftsteller sich nur noch von seiner Individualität her definiert und nicht mehr auf das Erbe der Rhetorik oder die rhetorisch geprägte literarische Tradition bezieht, denn schließlich kennt schon die antike Rhetorik komplexe Modelle der Autorschaft. So kann der junge Goethe, der angeblich von der rhetorischen Literaturtradition nichts mehr wissen will und sich von barocker Regel-Literatur und Gottscheds Aufklärungsliteratur, die noch im Bannkreis der rhetorischen Kunstregeln steht, distanziert, in Wirklichkeit gerade in der rhetorischen Überlieferung Theorien auftun, die den ausufernden und ausschließlichen Regelgebrauch kritisieren, die Bedeutung von Inspiration und Emotion betonen, womit sie zu einem wichtigen Subtext der neuen Genieästhetik werden. Der erste große Themenblock dieser Arbeit (Kapitel zwei bis fünf) behandelt den Zusammenhang von Rhetorik, Poetik und Ästhetik bei Goethe. Schon ein kurzer Blick auf Goethes Shakespeare-Rede und frühe Gedichte lässt einen großen Reichtum rhetorischer Figuren und Strukturierung erkennen und zeigt, dass Goethes Sprache von seiner gründlichen rhetorischen Ausbildung geprägt ist. Goethe reflektiert die Wirkungsmöglichkeiten bestimmter Figuren, setzt häufig bei Überlegungen antiker Autoren an und variiert diese dann in seinem Sinne. Die evidentia etwa ist für ihn eine Figur, die über eine große affektive Qualität verfügt und ein wirksames Mittel für den Dichter sein kann. Auch die rhetorische ingenium-Lehre ist für den Sturm und Drang wichtig, Goethe vermeidet die Probleme der neuen Autonomie- und Organismusästhetik gerade dadurch, dass er einen in der rhetorischen Tradition erreichten Kompromiss zwischen natura und ars für sich übernimmt. In Quintilians pectus-Prinzip oder der Selbstaffizierungstheorie der Rhetorik ist nämlich die Empfindung des Redners mit der bewussten Gestaltung eines Textes nach rhetorischen Regeln verbunden, und damit wird eine realistische Variante von Autorschaft formuliert, die nicht den ideologischen Prämissen des Sturm und Drang (Spontaneität, Individualität etc.) erliegt. Auf dem Boden rhetorischer Positionen verständigt sich Goethe über die Rolle des Dichters und die Funktion der Sprache. Mit dem Übergang zur Klassik
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werden dann imitatio und mimesis zu wichtigen Themen, der Aufsatz „Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil“ ist hier einschlägig. Die bloße Nachahmung von Texten im Sinne der imitatio ist problematisch, denn sie erlaubt keine innovativen Leistungen, insofern hat man auch diesen Text als Beleg für Goethes Ablehnung der Rhetorik herangezogen, obwohl die biographische Entwicklung des Künstlers, die er in dem Aufsatz beschreibt, eng mit den Grundannahmen der Redepädagogik verbunden ist, die selbst noch im Dilettantismus-Projekt der Klassik eine Rolle spielt. Der zweite Teil dieser Arbeit (Kapitel sechs und sieben) behandelt Goethes Rezeption und Adaption rhetorischer Verhaltensmodelle, insbesondere des Hofmann-Ideals, sowie überhaupt die rhetorische Verhaltensregulierung und greift das anthropologische Wissen der antiken Rhetorik auf. Schon wenn Werther eine Unmittelbarkeit seiner Äußerungen anstrebt, die er nicht erreichen kann, seine soziale Situation nicht durchschaut, ist ein rhetorisch bewusstes Verhalten für Goethe die Alternative zur pathologischen Entwicklung des Romanhelden. Im „Götz“ stellt Goethe unterschiedliche Typen höfischer Rhetorik nebeneinander und diskutiert diese vor einem politischen Hintergrund. Eine entscheidende Pointe gibt er dem Thema dann im „Tasso“, indem er Castigliones cortegianoIdeal ästhetisch wendet und überprüft, inwieweit die rhetorischen Verhaltensideale der Hoflehren dem modernen Künstler von Nutzen sein könnten und das anthropologische Wissen der antiken Rhetorik aktualisiert. War für den idealtypischen Hofmann Castigliones der schöne Schein eher ein Nebenprodukt seines strategischen Kalküls, wird er nun zu einem ästhetischen Wert, dessen Bedeutung Goethe etwa im berühmten Brief Wilhelms an Werner in den „Wanderjahren“ skizziert. Inwiefern die Erkenntnistheorie der antiken Rhetorik Goethe beeinflusst hat, ist Thema des dritten Teils dieser Untersuchung (Kapitel acht und neun). Spielerisch selbstverständlich waren Goethe die Fragmente der frühen Sophisten vertraut, so dass er Protagoras’ berühmten Ausspruch, er vermöge nicht zu sagen, ob Götter existieren oder nicht, parodiert, indem er spottet, bei der Vielzahl der wenig beachteten Verordnungen, die im Herzogtum erlassen würden, wisse er nicht, ob Gesetze existierten oder nicht.33 Goethe greift etwa im „Faust“ sophistische Positionen auf, lässt Faust und Mephisto an der Möglichkeit sicherer Erkenntnis zweifeln, sophistische Wortgefechte führen. Im „Divan“ schließlich erinnert Goethes Position beinah an Nietzsches radikale Interpretation der Rhetorik, nach der Wahrheit ein Ergebnis rhetorischer Konstruktion sei, auch wenn er insofern zurückhaltender bleibt, als er davon ausgeht, rhetorische Figuren würden im Reich der Literatur Wirklichkeit etablieren, und nicht so weit geht, die gesamte menschliche Realität als rhetorische Konstruktion zu verstehen. Wenn –––––––––––– 33
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Grumach. Bd. 2. S. 903.
er mit den autobiographischen Schriften seine eigene Person konstruiert, geschieht dies aus einer ähnlichen Logik: mit rhetorischen Mitteln wird empfundener Individualität zu literarischer Wirklichkeit verholfen. Stößt Individualität in der Lebenswirklichkeit nämlich immer wieder an ihre Grenzen, da sie ja sozial realisiert werden muss, lässt sie sich im autobiographischen Text idealtypisch konstruieren.
1. 2.
Das Rhetorik-Rhizom – Modelle rhetorischer Tradition
Die These einer ‚Transformation‘ der Rhetorik im 18. Jahrhundert ist inzwischen weit verbreitet.34 Ob das Paradigma ‚Transformation‘ aber eine glückliche Wahl darstellt, ist durchaus in Zweifel zu ziehen. Das Ergebnis einer Transformation ist je nach Perspektive die Adaption der antiken Rhetorik zu einer ‚neuen Rhetorik‘ oder ihre Überführung in neue andersartige Theorien. Das Paradigma Transformation ist, so gesehen, keine Alternative zur Rede vom Ende der rhetorischen Tradition um 1800, sondern bestätigt das Ende der rhetorischen Tradition geradezu. Bei der Ausbildung einer ‚neuen Rhetorik‘ ist nämlich fraglich, was diese ‚neue Rhetorik‘ mit der in der Tradition vermittelten Rhetorik noch zu tun hat, ob der Begriff Rhetorik überhaupt noch sinnvoll ist. Wenn die Transformation rhetorische Inhalte in neue Theorien wie Ästhetik, Psychologie u. ä. überführt, entstehen meist neue eigenständige Wissenschaften, so dass für die Rhetorik als Disziplin ebenfalls kein Raum mehr bleibt. Lothar Bornscheuer hat überzeugend dargelegt, dass die These einer Transformation der Rhetorik häufig in einem zu schwachen Sinn verstanden werde. Die Entwicklung im 18. Jahrhundert lasse sich nicht durch das Muster rhetorica contra rhetoricam beschreiben, wodurch nur auf den Gegensatz zwischen einer weiterhin rhetorisch geprägten Praxis und einer zerfallenden rhetorischen Theorie abgehoben werde.35 Vielmehr verlaufe der Wandel, der sich im 18. Jahrhundert vollzieht, nicht „innerhalb der traditionellen Rhetorik“, sondern müsse als „fundamentale[r] Struktur- und Funktionswandel der Rhetorik“ konzeptualisiert werden.36 So geht Bornscheuer von einem „komplizierten Transformationsprozeß der alteuropäischen Rhetorik seit Beginn der Neuzeit“37 aus, den er als Verfallsprozess der Rhetorik apostrophiert, welcher nur den „‚Schein der Existenz‘ der Rhetorik im alteuropäischen Sinne“38 zurücklasse, und dieser letzte Rest einer rhetorischen Tradition werde dann im –––––––––––– 34 35 36 37 38
Vgl. Fußnote 15. Vgl. Bornscheuer, Lothar: Rhetorische Paradoxien im anthropologiegeschichtlichen Paradigmenwechsel. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 8 (1989) S. 13–42, hier: S. 13. Ebd. S. 14. Ebd. Ebd. S. 17.
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18. Jahrhundert endgültig aufgelöst. Auch so radikalisiert bleibt das Paradigma Transformation jedoch problematisch, weil es letztlich mit einem wenig überzeugenden Rhetorik-Begriff operiert, nach dem es vor der Zäsur, wo auch immer diese historisch anzusetzen ist, eine einheitliche Rhetoriktheorie gab, danach jedoch nicht mehr. Auch wenn beispielsweise John Bender und David Wellbery behaupten, dass die alte, bis ins 18. Jahrhundert präsente Form von Rhetorik und die seitdem entstandene neue Form von Rhetorik, die sie als „rhetoricality“ bezeichnen und als „transdisciplinary field of practice and intellectual concern“ verstehen, wenig miteinander zu tun haben, ist diese Aussage nur möglich, weil sie mit dem Signifikanten Rhetorik eine Einheit behaupten, die die Komplexität der historischen Entwicklung nicht akkurat wiedergibt.39 Tatsächlich ist Rhetorik schon bei Aristoteles – Gadamer hat darauf hingewiesen – immer auch ein historisches Phänomen.40 Zur Rhetorik gehört ihre Geschichtlichkeit, und ihre Geschichte ist von Brüchen und Zäsuren durchzogen. Historischer Wandel meint nicht das Ende der Rhetorik, sondern ihre Weiterentwicklung, die „lange Geschichte der Rhetorik hält […] genug Varianten ihrer theoretischen Formation bereit […]“,41 so argumentiert Kopperschmidt. Die philosophische Kritik an der Sophistik ist genauso ein Bruch und eine Zäsur wie die Literarisierung der Rhetorik in der Spätantike, die Reduzierung auf die elocutio in der ramistischen Tradition oder die sozialwissenschaftliche Neubegründung der Disziplin durch die New Rhetoric im 20. Jahrhundert, wobei sich diese gerade nicht im Gegensatz zur rhetorischen Tradition positioniert, sondern im Gegensatz zu einem beschränkten Verständnis von Rhetorik.42 Goethe ist sich der Dynamik der Rhetorikgeschichte durchaus bewusst: So klagt er mit Blick auf die römische Rhetorikgeschichte, die „Tyrannei trieb den Redner von dem Markt in die Schule, den Poeten in sich selbst zurück“.43 Er vertritt also eine historisch –––––––––––– 39
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Bender, John u. David Wellbery: Rhetoricality. On the modernist Return of Rhetoric. In: Dies.: The Ends of Rhetoric. History, Theory, Practice. Stanford, CA 1990. S. 3–39, hier: S. 25. Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik. In: Ders.: Wahrheit und Methode. Bd. 2: Ergänzungen, Register. Tübingen 1986. S. 231–250, hier: S. 234–235. Kopperschmidt, Josef: Rhetorik nach dem Ende der Rhetorik. Einleitende Anmerkungen zum heutigen Interesse an der Rhetorik. In: Ders. (Hrsg.): Rhetorik. Bd. 1: Rhetorik als Texttheorie. Darmstadt 1990. S. 1–31, hier: S. 8. Vgl. dazu auch: Kramer, Olaf: Artikel „Rhetorikforschung“. In: Ueding, Gert (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. v. Gert Ueding, Wilfried Barner u. a. Mitbegründet von Walter Jens. [9] 10 Bde. Tübingen 1992ff. (künftig zitiert als HWRh). Bd. 8. Sp. 137–177, hier: Sp. 170. Vgl. Lunsford, Andrea A. u. Lisa S. Ede: On Distinctions between Classical and Modern Rhetoric. In: Connors, Robert, dies. (Hrsg.): Essays on Classical Rhetoric and Modern Discourse. Carbondale, IL 1984. S. 37–49; Überlegungen zur Positionierung der New Rhetoric in der rhetorischen Tradition finden sich auch in meinem Artikel „New Rhetoric“. HWRh. Bd. 6. Sp. 259–288, hier: Sp. 260. Goethe: Von Knebels Übersetzung des Lucrez. WA I, 41i. S. 362. Ähnlich auch Goethe: Zur Farbenlehre. MA 10. S. 564.
fundierte Auffassung von Rhetorik, die Rhetorik nicht als ein historisch konstantes System und starres Theoriewerk versteht, sondern als eine sich dynamisch verändernde Theorie und Praxis. Gerade auf Grund ihrer Widersprüche, die sich in der geschichtlichen Entwicklung ergeben haben, bleibt Rhetorik für Goethe ein anschlussfähiges Konzept, er entdeckt in der rhetorischen Tradition ebenso Pointen für den Sturm und Drang wie für die klassische Ästhetik. Nicht ein einzelner Bruch beendet die Rhetorikgeschichte, nicht eine einzelne Transformation verändert sie, sondern viele Brüche, so dass ein fortlaufender Prozess der Transformation entsteht. Auch das Ende der rhetorischen Schul- und Universitätstradition, das sich im 18. Jahrhundert ankündigt, markiert nicht das Ende der rhetorischen Tradition überhaupt, diese kann vielmehr jederzeit wiederbelebt und weiterentwickelt werden. Die Berufung auf rhetorische Autoritäten kann im 18. Jahrhundert (und auch heute noch) konträre Positionen legitimieren, und nicht nur zu Zeiten der Aufklärung „darf man sich nicht verwirren lassen, wenn dieselben Gewährsmänner als Zeugen für ganz verschiedene, sich sogar auszuschließen scheinende Konzeptionen herhalten müssen.“44 Wenn Cicero und Quintilian in der Frühaufklärung genauso von Gottsched wie von dessen Widersachern Bodmer und Breitinger gelesen werden, ist dies nicht ein gründliches Missverstehen der Quellen, sondern zeigt, wie produktiv die rhetorische Tradition ausgelegt werden kann. Rhetorik wird im 18. Jahrhundert vielschichtig rezipiert und ist zu dieser Zeit keineswegs auf „Kunstfertigkeit und strenge[…] Regelsystematik“45 reduziert, wie Hans-Jürgen Gabler klarstellt. So verstanden, als Ausdruck für die widerstreitenden Theoreme der Rhetoriktradition, ist dann auch die Formel rhetorica contra rhetoricam wieder nützlich: Das 18. Jahrhundert, eine Zeit, in der Spuren des Rückzugs und neue Tendenzen eng nebeneinander liegen, ist so faszinierend, weil beinahe jede Aussage zur Rhetorik durch eine andere widerlegt werden kann. Die Formel rhetorica contra rhetoricam steht für die Paradoxien des Zeitalters überhaupt.46
Brüche und Zäsuren sind nicht nur ein äußerliches Ergebnis der Geschichte der Rhetorik, vielmehr kann die rhetorische Theorie als solche gar nicht bis ins Detail konsistent und stringent sein, weil sie auf empirische Beobachtungen zurückgeht, die in vielen, aber nicht in allen Fällen gültig sind, so dass immer wieder Situationen vorliegen können, die ein anderes Vorgehen nötig machen. Schon aus praktischen Erwägungen ist Rhetorik also vielschichtig, oft widersprüchlich, manchmal verworren, und so kann sich eben Klaus Dockhorn auf die „Irrationalität“ der Rhetorik beziehen und diese mit Blick auf das 18. Jahrhundert hervor–––––––––––– 44 45 46
Ueding, Gert: Artikel „Aufklärung“. HWRh. Bd. 1. Sp. 1188–1250, hier: Sp. 1194. Gabler, Hans-Jürgen: Geschmack und Gesellschaft. Frankfurt am Main, Bern u. a. 1982. S. VII. Krause, Peter D.: Unbestimmte Rhetorik. Friedrich Schlegel und die Redekunst um 1800. Tübingen 2001. S. 11.
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heben, während Heinz Paetzold den Rationalismus der Rhetorik thematisiert,47 und beide haben in ihrem Sinne Recht. Peter Lothar Oesterreich hat sechs Bereiche rhetorischer Theoriebildung und Praxis unterschieden: 1. das Phänomen des Rhetorischen, d. h. die rhetorische Praxis, 2. die Technik der Rhetorik (ars rhetorica), 3. die Wissenstheorie der Rhetorik, die den epistemischen Status der ars bestimmt, 4. die Fundamentalrhetorik, die das Phänomen des Rhetorischen begrifflich definiert, 5. die Ethik der Rhetorik, 6. die rhetorische Metakritik der Philosophie.48 Schon ein Blick auf die von Oesterreich genannten Bereiche lässt erkennen, wieso in der rhetorischen Tradition widersprüchliche Entwürfe von Rhetorik entstanden sind: Die rhetorische Praxis lässt sich nicht immer mit den Regeln der ars erfassen, auch die Ethik der Rhetorik ist nicht immer mit den Erfordernissen der Praxis zu harmonisieren. Beinahe jedes beliebige Lehrbuch der Rhetorik lässt immanente Widersprüche solcher Art erkennen, bereits die „Rhetorik“ des Aristoteles etwa den Gegensatz zwischen dessen rationaler Rhetorikdefinition und einer ausgefeilten Anleitung zur affektiven Beeinflussung von Zuhörern. Ein anderes Beispiel ist Quintilian: Er stellt in seiner „Institutio oratoria“ das rhetorische Regelwerk seiner Zeit dar, durchkreuzt die Regelanweisungen aber durch seine historische Perspektive und indem er fordert, der Redner müsse sich vor allem auf eigenständiges consilium49 verlassen; auch seine Theorie der Selbstaffizierung50 und das Konzept eines orator tacens51 stellen Rhetorik als regelhafte Disziplin in Frage. In vielen rhetorischen Texten werden solche Brüche und –––––––––––– 47
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Vgl. Dockhorn, Klaus: Macht und Wirkung der Rhetorik. Vier Aufsätze zur Ideengeschichte der Vormoderne. Bad Homburg, Berlin u. a. 1968; Paetzold, Heinz: RhetorikKritik und Theorie der Künste in der philosophischen Ästhetik von Baumgarten bis Kant. In: Raulet, Gérard (Hrsg): Von der Rhetorik zur Ästhetik. Rennes 1992. S. 7–37. Vgl. Oesterreich, Peter Lothar: Fundamentalrhetorik. Untersuchungen zu Person und Rede in der Öffentlichkeit. Hamburg 1990. S. 4–5. Vgl. Quintilianus, Marcus Fabius: Ausbildung des Redners (Institutio Oratoria). Zwölf Bücher. Lateinisch u. deutsch. Hrsg. u. übersetzt von Helmut Rahn. Erster Teil: Buch I–VI. Zweiter Teil: Buch VII–XII. 3., gegenüber der 2. unveränderte Auflage. Darmstadt 1995 [künftig zitiert als Quint. Inst. orat]. XI, 1, 8. Das consilium kann ein strategisch sinnvolles Argument als nicht geziemend zurückweisen. Quintilian versucht diesen Gegensatz zwischen Strategie und consilium zu überwinden, indem er behauptet, in der Regel werde das nützlich sein, was sich geziemt (ebd. XI, 1, 14), wodurch der Hiat zwischen den beiden Paradigmen aber gerade bestätigt wird. Vgl. ebd. VI, 2, 26–28. Vgl. ebd. II, 18, 4. Mit dem orator tacens entwirft Quintilian die Idee einer reinen rhetorischen Theorie, die die Nähe zur Praxis konsequent meidet. Otto Seel hat den schweigenden Redner als Vollendung der Quintilianschen Bildungstheorie gedeutet. Vgl. O. S.: Quintilian oder Die Kunst des Redens und Schweigens. Stuttgart 1977. S. 326–353.
Widersprüche auch offen angesprochen, die ars-natura-Debatte, die etwa Cicero in „De oratore“ anstimmt, ist eine ausführliche Analyse widersprüchlicher Auffassungen von der Redekunst, denen Cicero durch die Dialogform Raum gibt, weil erst sie die Definition der Rhetorik vollständig macht. Vor dem Hintergrund einer von Brüchen und Zäsuren durchzogenen Rhetorikgeschichte und -theorie verliert das Beschreibungsmodell „Transformation“ seinen Bezugspunkt: Weder vor dem 18. Jahrhundert noch danach ist eine einheitliche Rhetoriktheorie zu finden, so dass man mit Heike Mayer sagen kann: Wohl gibt es eine lange Reihe ausgewiesener Vertreter rhetorischer Lehrinhalte und zur gleichen Zeit deren Kritiker und Gegner, wohl gibt es wirkungsmächtige und unbeachtete, fortschrittliche und rückwärtsgewandte Methodenlehren, es gibt Gegenbewegungen und Nebenlinien, nur eines gibt es nicht – die rhetorische Tradition.52
Dies ist jedoch kein Grund, den Begriff ‚rhetorische Tradition‘ auszumerzen, eher, ihn bedacht zu verwenden: nämlich als Ausdruck für die zahllosen widersprüchlichen Theoreme, Regeln und Praktiken, die die Rhetorik in ihrer Geschichte ausgebildet hat und die ihr auch bei synchroner Betrachtung eigen sind. Dann erst ist die von Helmut Schanze ins Spiel gebrachte These einer „Diskontinuität“ der rhetorischen Tradition so umfassend verstanden, wie es wünschenswert ist.53 Untersuchungen wie Georg Braungarts „Hofberedsamkeit“,54 die diese Offenheit der Rhetorik historisch untermauern, sind aber selten geblieben. Rüdiger Campe und vor allem Dietmar Till haben die Rhetorikgeschichte durch den Gegensatz von „System“ und „Anthropologie“ beschrieben.55 Dieser Gegen–––––––––––– 52 53
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Mayer, Heike: Lichtenbergs Rhetorik. Beitrag zu einer Geschichte rhetorischer Kollektaneen im 18. Jahrhundert. München 1999. S. 14. Vgl. Schanze, Helmut: Probleme einer „Geschichte der Rhetorik“. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 43/44 (1981) S. 13–23. Allerdings geht Schanzes Analyse, das „historische und ästhetische Zeitalter löste feste Systematisierungen auf“ (ebd. S. 21), kaum weit genug: Bereits in der Antike werden die rhetorischen Regeln immer wieder von theoretischen Reflexionen und praktischen Erfordernissen durchkreuzt, wird jeder systematische Entwurf auf diese Weise in seine Schranken verwiesen. Vgl. Braungart, Georg: Hofberedsamkeit. Studien zur Praxis höfisch-politischer Rede im deutschen Territorialabsolutismus. Tübingen 1988. Braungart hat die typologische Entgegensetzung zwischen der „Rede als Prozeß“ und der „Rede als Produkt“, also einer gelehrt-humanistischen Redeproduktion in Abgrenzung zu einer höfisch-politischen Redeweise, die man als zeremonielle Praxis beschreiben kann, für die Zeit des deutschen Territorialabsolutismus in ihrer historischen Entfaltung dargestellt. Pointiert hat zunächst Rüdiger Campe diesen Gegensatz verdeutlicht und Lausbergs „Handbuch der literarischen Rhetorik“ als Versuch einer Systematisierung rhetorischen Wissens den anthropologischen Reflexionen Dockhorns gegenübergestellt (vgl. R. C.: RhetorikForschungen (und Rhetorik). In: Modern Language Notes 109 (1994) S. 519–537, hier: S. 520–521). Später hat Campe den Gegensatz zu einer Alternative zwischen „elocutio und Anthropologie“ spezifiziert (vgl. R. C.: Umbrüche und Wandlungen der Rhetorik. In: Glaser, Horst Albert u. György M. Vajda (Hrsg.): Die Wende von der Aufklärung zur Roman-
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satz, der beispielsweise im 20. Jahrhundert zwischen der Systemrhetorik Heinrich Lausbergs und der anthropologischen Konzeptualisierung der Rhetorik bei Klaus Dockhorn zu erkennen ist, nimmt ohne Zweifel zwei wichtige rhetorische Paradigmen auf und kann „die einfache Alternative von Tod oder Weiterleben der Rhetorik im 18. Jahrhundert durch die Vorstellung einer kontinuierlichen Auseinandersetzung von Rhetorik-Konzepten, die einander widerstreiten“,56 sinnvoll variieren. Gerade für Goethe ist das Nebeneinander von Systemrhetorik und anthropologischen Modellen entscheidend, und er nimmt die Vielschichtigkeit der Rhetorik wahr, sieht in ihr nicht nur ein systematisch fixiertes Regelwerk, sondern bezieht sich auch auf das anthropologische Wissen der Rhetorik. Man sollte den Verlauf der Rhetorikgeschichte in Anbetracht des Widerstreits von System und Anthropologie entsprechend nicht als Prozess einer Transformation beschreiben, der dazu führt, dass im 18. Jahrhundert „endgültig […] anthropologische Rhetorik-Konzepte“57 an die Stelle der System-Rhetorik treten. Die Entwicklung im 18. Jahrhundert so zu verstehen, heißt nämlich, der Rhetorikgeschichte eine eschatologische Dimension zu unterstellen, die sich im 18. Jahrhundert erfüllt, wobei Till doch selbst ausdrücklich klarstellt, dass „vor dem Hintergrund der […] Pluralität der Theorie-Entwürfe“58 die Rhetorikgeschichte nicht über ein telos verfüge. Vielmehr vollzieht sich die Entwicklung so, dass zeitweise beide Konzepte präsent sind, dann eins von beiden bevorzugt wird, während das andere im Verborgenen weiterexistiert und später wieder in den Vordergrund treten kann. Deshalb lässt sich auch im Sinne von Gert Ueding und Bernd Steinbrink von einer „unterirdischen rhetorischen Tradition“59 sprechen, und es kann ein Ziel der Rhetorikforschung sein, solche „[v]erdeckte Rhetorik zu entdecken, verschüttete Tradition archäologisch quasi zu ergraben“.60 Die häufig „gegenläufi––––––––––––
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tik 1760–1820. Amsterdam 2001. S. 589–612, hier: S. 601–610) und dabei die Tendenz zur Systematisierung in der französischen Sprachtheorie nachgewiesen, die mit César Chesneau Dumarsais und Pierre Fontanier einsetzt, während er die Anthropologisierung der Rhetorik vor allem in der englischen Tradition identifizieren kann, namentlich mit Shaftesbury, George Campbell und Hugh Blair verbindet. Dietmar Till beschäftigt sich mit dieser Opposition in: Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2004. S. 1–11; vgl. außerdem: Ders.: Anthropologie oder System? Ein Plädoyer für Entscheidungen. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 23 (2004) S. 11–25. Ebd. S. 20. Ebd. S. 21. Ebd. S. 22. Ueding, Gert u. Bernd Steinbrink: Grundriß der Rhetorik. Geschichte – Technik – Methode. 4. Auflage. Stuttgart 2005 [künftig zitiert als Ueding, Steinbrink]. S. 4. Schanze, Helmut: Goethes Rhetorik. In: Ueding, Gert (Hrsg.): Rhetorik zwischen den Wissenschaften. Geschichte, System, Praxis als Probleme des „Historischen Wörterbuchs der Rhetorik“. Tübingen 1991. S. 139–147, hier: S. 139.
ge[n] Bestimmungen“61 von Rhetorik im 18. Jahrhundert lassen sich tatsächlich häufig mit der Antithese von Anthropologie und System erfassen. Dass die System-Rhetorik im 18. Jahrhundert „als Disziplin zu existieren aufhört“,62 lässt sich vor allem in Bezug auf die Verankerung in den Lehrplänen von Schulen und Universitäten und die philosophische Rhetorikkritik nachvollziehen. Gleichzeitig entstehen aber mit Adelungs Stilistik, den systematischen Lexika Johann C. G. Ernestis oder in Form praktischer Rhetorikratgeber – denn diese Art der Handbuchliteratur entwickelt sich, trotz der akademischen Kritik an der Rhetorik, geradezu explosionsartig, wie die Quellenbibliographie von Dyck und Sandstede63 zeigt – durchaus weiterhin systematische Rhetorikentwürfe, und zwischen einer neu entstehenden Rhetorikforschung, die Rhetorik als historisches Phänomen nimmt, und einer eigenständigen rhetorischen Theoriebildung lässt sich nicht immer deutlich trennen. Um die Diskontiuität der Rhetorikgeschichte und die differenzierte Widersprüchlichkeit der rhetorischen Systementwürfe zu verstehen, ist ein Modell nötig, das komplexe Zusammenhänge jenseits binärer Oppositionen, die als analytisches Mittel ja durchaus sinnvoll sind, erfasst. Roland Barthes stellt sich die rhetorische ars wie eine „subtil verkettete Maschine“ vor, beschreibt das System der Rhetorik als ein künstliches Netz, mit dem man Wissen diachron zu ordnen versuche.64 Diese Bilder formulieren ein recht komplexes Verständnis von der Geschichte der Rhetorik und der in ihr entwickelten Systematik, in dem diese zu einer ahistorischen Momentaufnahme wird. Mit Gilles Deleuze und Félix Guattari könnte man die verzweigte historische und systematische Struktur „Rhetorik“ auch durch einen Begriff aus der Pflanzenwelt als Rhizom beschreiben. Anders als in Wurzel-Baum-Strukturen lässt sich in einem Rhizom keine isolierte Entwicklungslinie erkennen, und die einzelnen Elemente des Rhizoms lassen sich nur schwer trennen: „Ein Rhizom ist als unterirdischer Strang grundsätzlich verschieden von großen und kleinen Wurzeln.“65 Es ist ein kaum entwirrbares Neben- und Übereinander von Gebilden, das an seinen Spitzen unbegrenzt weiter wächst, selbst wenn ältere Teile des Rhizoms verkümmern. Die synchronen und diachronen Diskontinuitäten und Widersprüchlichkeiten der Rhetorik, die sich durch binäre Oppositionen nicht entwirren lassen, lassen sich mit Hilfe der Rhizom-Metapher beschreiben. „Rhetorische Tradition“ meint einen –––––––––––– 61 62 63 64 65
Krause, Peter D.: Unbestimmte Rhetorik. Friedrich Schlegel und die Redekunst um 1800. Tübingen 2001. S. 6. Till, Dietmar: Anthropologie oder System? Ein Plädoyer für Entscheidungen. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 23 (2004) S. 11–25, hier: S. 21. Dyck, Joachim u. Jutta Sandstede: Quellenbibliographie zur Rhetorik, Homiletik und Epistolographie des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. 3 Bde. Stuttgart 1996. Barthes, Roland: Die alte Rhetorik. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt am Main 1988. S. 15–95, hier: S. 18–19. Deleuze, Gilles u. Félix Guattari: Tausend Plateaus. Berlin 1992. S. 16.
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Prozess beständiger Weiterentwicklung und Differenzierung, in dem sich immer neue Verästelungen ausbilden, andere überlagert werden, während alte Teile zerfallen können. Rhizome sind durch Konnexion und Heterogenität definiert, und diese beiden Eigenschaften charakterisieren auch die Geschichte der Rhetorik und ihre theoretischen Entwürfe. Zum Rhetorik-Rhizom gehören ganz unterschiedliche Theoreme und Praktiken, die zueinander in Widerspruch stehen können (Prinzip der Heterogenität), so etwa die Opposition zwischen ars und natura, der Gegensatz zwischen anthropologischen und systematischen Konzeptualisierungen des Faches, zwischen Strategie und Ethik, zwischen Affekt und rationaler Argumentation oder zwischen Rede als Praxis und Rede im Sinne eines poiesis-Modells. Dabei sind widersprüchliche Theoreme häufig gleichzeitig in einem Werk präsent und miteinander verwoben und werden historisch immer wieder auf andere Weise aktualisiert (Prinzip der Konnexivität). Rhetorik unterscheidet sich dabei insofern von anderen Wissenschaften – denn es ist ja nicht ungewöhnlich, dass die Geschichte einer Disziplin mit Brüchen, Zäsuren, Paradigmenwechseln verläuft –, als in der Rhetorik solche Diskontinuitäten vielen einzelnen Werken eingeschrieben sind, nicht nur in der Diachronie, sondern synchron präsent sind. Die rhizomatische Struktur ist der Rhetorik also wesensmäßig eigen. Unter der Voraussetzung großer Heterogenität und weitreichender Konnexivität wird die Möglichkeit einer deutlichen Zäsur innerhalb eines diskursiven Phänomens von Deleuze und Guattari in Zweifel gezogen. Dieses „Prinzip des asignifikanten Bruchs“66 ist für das Verständnis der Rhetorik im 18. Jahrhundert schlagend. Innerhalb eines Rhizoms sind Brüche und Diskontinuitäten keine Endpunkte der Entwicklung: „Ein Rhizom kann an jeder Stelle unterbrochen oder zerrissen werden, es setzt sich an seinen eigenen oder an anderen Linien weiter fort.“67 Die Entwicklung der Rhetorik im 18. Jahrhundert vollzieht sich als asignifikanter Bruch in dieser Art und Weise. Zwar kommt es zu einem Ende der rhetorisch geprägten Schultradition, einer destruierenden Kritik der Disziplin durch die Philosophie, doch zugleich werden rhetorische Inhalte in Ästhetik, Stilistik und Psychologie übernommen und weitergeführt. Das Rhetorik-Rhizom existiert weiter, bleibt entwicklungs- und anschlussfähig, lässt sich bei der Entstehung des Geniegedankens im Sturm und Drang ebenso funktionalisieren wie als populäre Anweisung zur Praxis der Kommunikation. Auch vor dem 18. Jahrhundert waren Heterogenität und Konnexivität der Rhetorik für die Entwicklung der Disziplin prägend. Rhetorik hat sich, so Renate Lachmann, stets mit den „kulturkontextuell bedingten ästhetischen, moralischen, sozialen u. a. Wertvor-
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stellungen“68 verbunden. Als wirkungsvolle Bildungsmacht dehnt sich die Rhetorik als rhizomatische Struktur weit aus, proliferiert in nahezu unübersichtlicher Weise. Eine komplette Kartographie des Rhizoms wird so unübersichtlich wie die Struktur, die sie abbilden soll, aber unter analytischen Vereinfachungen und Abstraktionen können Strukturen des Rhizoms dargestellt werden, lässt sich das Rhizom aus der Mikro- und der Makroperspektive entwirren. Dies entkräftet einen möglichen Einwand gegen das Rhizom-Konzept, nämlich jenen, dass es in der Geschichte der Rhetorik doch zahlreiche Versuche zur Systematisierung des rhetorischen Wissens gegeben habe und dass gerade diese Systematisierungen die Rhetorik ausmachen. Auch heute noch folge schließlich manches Lehrbuch und manche rhetorische Theoriebildung systematischen Ordnungen, sei es, dass sich Autoren an den Arbeitsschritten orientieren oder die Redeteile als Gliederungsschema übernehmen. Und dies seien ja nur die größten Systemeinheiten, die Systematisierung der Rhetorik gehe doch endlos weiter, etwa indem den einzelnen Arbeitsschritten weitere systematische Gliederungen zugeordnet werden, und bei der elocutio ergebe sich ausgehend von der Unterscheidung von Redeschmuck in verbis singulis und in verbis coniunctis eine umfassende Systematik, die eben gerade durch die Bildung von Oppositionen funktioniere, nicht dem Muster eines verworrenen Rhizoms folge. Solchen Einwänden ist entgegenzuhalten, dass die Rhizom-Metapher die Diskontinuität solcher Systematiken zugänglich macht. So hat es im Laufe der Rhetorikgeschichte viele divergierende Systementwürfe gegeben. Die systematische Gestalt, die die Rhetorik bei Wilhelm Kroll,69 in Lausbergs „Handbuch der literarischen Rhetorik“ oder im „Grundriß der Rhetorik“ von Ueding und Steinbrink gewinnt, ist eher das Ergebnis historischer Rekonstruktion und Abstraktion, ein Versuch, das rhizomatische Geflecht der rhetorischen Tradition zu entwirren und zugänglich zu machen. Die Vorliebe der Rhetorik für Systematisierungen ist also gerade kein Gegenargument zur Rhizom-These, versucht vielmehr dem rhizomatisch verzweigten Wissen der Rhetorik beizukommen. Eine Kartographie des Rhetorik-Rhizoms ähnelt der von Dockhorn angestoßenen Rhetorikforschung zur begrifflichen Rekonstruktion ubiquitärer rhetorischer Konzepte und folgt einem in der Tübinger Rhetorik verbreiteten Ansatz archäologischer Spurensuche, den man etwa auch beim „Historischen Wörterbuch der Rhetorik“ findet.70 Bisweilen ist einem solchen Vorgehen historische –––––––––––– 68
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Lachmann, Renate: Die Rhetorik und ihre Konzeptualisierung. In: Dies.: Die Zerstörung der schönen Rede. Rhetorische Tradition und Konzepte des Poetischen. München 1994. S. 1– 20, hier: S. 16. Vgl. Kroll, Werner: Artikel Rhetorik. In: Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (Pauly-Wissowa). Supplement-Bd. 7. Stuttgart 1940. S. 1039–1138. Vgl. Ueding, Gert: Das Historische Wörterbuch der Rhetorik. In: Archiv für Begriffsgeschichte 37 (1994) S. 7–20, hier: S. 12–13; Robling, Franz-Hubert: Probleme begriffsge-
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Indifferenz vorgeworfen worden,71 allerdings geht es ja gar nicht um die Konstruktion einer ideengeschichtlichen Kontinuität, die historische Realitäten ignoriert, wie sich das Arthur Oncken Lovejoy nachsagen lässt.72 Vielmehr sollen gerade Diskontinuitäten aufgezeigt und die historische Entwicklung der rhetorischen Theorie oder Praxis möglichst präzise beschrieben werden, wie Franz Hubert Robling durch die Abgrenzung des begriffsgeschichtlichen Ansatzes gegen Geistes- und Ideengeschichte klarstellt.73 Wer die Geschichte des Begriffs genau nachverfolgt, wird die rhizomatische Struktur hinter dem Begriff erkennen. Werden dabei „Sachverhalte […] als rhetorisch erkannt, die bislang nur unter ästhetischen, poetologischen oder psychologischen Aspekten behandelt wurden“,74 wie Ueding in Vorausblick auf das enzyklopädische Projekt „Historisches Wörterbuchs der Rhetorik“ prognostiziert hat, dann weil sich bei genauer Untersuchung Verbindungen zwischen diesen Sachverhalten und der rhetorischen Tradition ausmachen lassen, die nicht bloß zufällig sind, sondern ganz konkret durch Begriffe, Texte, Autoren vermittelt sind. Die begriffsgeschichtliche Kartographie beabsichtigt nichts anderes, als den „rhetorischen Gehalt“ solcher „apokryphe[n]“ Strukturen „semantisch und historisch […] freizulegen“.75 Im 18. Jahrhundert ist das Wissen um die antike Rhetorik umfangreich, weil die schulische Ausbildung noch durch und durch rhetorisch geprägt ist. Daher kann Goethe innerhalb der rhetorischen Tradition viele Anschlussmöglichkeiten für seine ästhetische Theorie und seine schriftstellerische Praxis finden, sei es in Form der Selbstaffizierungstheorie oder des ingenium-Konstrukts während des Sturm und Drang, der rhetorischen Gesellschaftsethik und der imitatio-Lehre im –––––––––––– 71
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schichtlicher Forschung beim „Historischen Wörterbuch der Rhetorik“. In: Archiv für Begriffsgeschichte 38 (1995) S. 9–22. Vgl. beispielhaft Bornscheuer, Lothar: Rhetorische Paradoxien im anthropologiegeschichtlichen Paradigmenwechsel. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 8 (1989) S. 13–42; Till, Dietmar: Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2004. S. 14–17. Die These Arthur O. Lovejoys, dass sich historische Entwicklungen auf eine überschaubare Anzahl von Elementarteilen stützen, die in jeweils spezifischer Weise verbunden werden (vgl. A. O. L.: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens. Frankfurt am Main 1985), ist, wie Dietmar Till verdeutlicht hat, problematisch (vgl. D. T.: Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2004. S. 16). Indes ist Lovejoy kein theoretischer Referenzpunkt der Tübinger Rhetorik, schließlich ist das „Historische Wörterbuch der Rhetorik“ auch eher begriffs- als ideengeschichtlich angelegt. Vgl. Robling, Franz-Hubert: Probleme begriffsgeschichtlicher Forschung beim „Historischen Wörterbuch der Rhetorik“. In: Archiv für Begriffsgeschichte 38 (1995) S. 9–22, hier: S. 15–17. Ueding, Gert: Das Historische Wörterbuch der Rhetorik. In: Archiv für Begriffsgeschichte 37 (1994) S. 7–20, hier: S. 12. Ebd. S. 13.
Übergangs zur Klassik oder in der systematischen Handbuch-Rhetorik Johann C. G. Ernestis während der Divan-Jahre. Indem er heterogene Aspekte der Rhetorik zu unterschiedlichen Zeiten in den Vordergrund stellt, während er andere Teile des Rhetorik-Rhizoms nur wenig beachtet, bewegt Goethe sich nicht von der Rhetorik weg. Anders als die Vertreter der Transformationsthese annehmen, lässt sich bei Goethe kein Zeitpunkt bestimmen, zu dem Theoreme oder Praktiken, die zur rhetorischen Tradition gehörten, nicht mehr als rhetorische Einheiten wahrzunehmen wären, weil sie einen Prozess der Transformation durchgemacht hätten, der sie aus dem Geflecht der antiken Rhetorik herauslöse. Vielmehr ist es gerade Goethes Verdienst in Anbetracht der rhizomatischen Struktur der Rhetorik, immer wieder ästhetische, anthropologische und erkenntnistheoretische Theoreme aus der Rhetorik zu übernehmen und für sich selbst zu adaptieren. Von einer Oppositionsstellung Goethes zur Rhetorik kann keine Rede sein, eher beschäftigt er sich eingehend mit der Rhetorik und adaptiert aus ihrem Wissensfundus, was ihm nützlich ist, macht das rhizomatische Wissen der Rhetorik für sich fruchtbar und fügt dem Rhizom zugleich neue Verästelungen hinzu. Das Rhizom löst sich nicht auf, sondern wird immer komplexer, der Bezug zu den antiken Ursprüngen der Rhetorik ist daher immer mühsamer zu entwirren. Belege für Goethes Interesse an der Rhetorik in all ihrer rhizomatischen Verworrenheit finden sich im Sturm und Drang wie in der Weimarer Klassik, so lassen sich die Manifeste des Sturm und Drang als Beiträge zur Rhetorik zwischen ars und natura betrachten, lässt sich der „Götz“ als rhetorische Typologie lesen, die unterschiedliche Optionen rhetorischen Verhaltens nebeneinander stellt, ja noch das „Vermächtnis an junge Dichter“ hat die Heterogenität des Rhetorischen zum Thema: Der Dichter soll „von innen heraus wirken […], immer nur sein Individuum zu Tage fördern“,76 heißt es dort, aber zugleich fordert Goethe, dass dieser Dichter sich dem „Technischen“77 stelle. Goethe bewegt sich in der rhetorischen Tradition mit einiger Souveränität, seine Texte sind von rhetorischen Reflexionen durchzogen. So geht es in dieser Arbeit weniger darum, Goethe die Verwendung bestimmter rhetorischer Figuren oder Gliederungsschemata nachzuweisen, Ziel ist es vielmehr, die rhetorischen Subtexte von seinen theoretischen und literarischen Werken zu dechiffrieren, die Rezeption rhetorischer Texte zu belegen, um so die Verbindungen mit dem Rhetorik-Rhizom zu kartographieren und zu beschreiben, wie sich die Rhetorik zur Zeit Goethes weiterentwickelt. Rhetorikgeschichte und Rhetorik als rhizomatische Struktur zu beschreiben, kann die Gefahr begrifflicher Beliebigkeit bergen, denn die rhizomatische Struktur verweigert sich einer klaren Abgrenzung und Definition, löst den systematischen und analytischen Zugriff in historische Entwicklungen auf. Aber hier soll –––––––––––– 76 77
Goethe: [Ein Wort für junge Dichter]. MA 18, 2. S. 219. Ebd.
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keiner Pan-Rhetorik das Wort geredet werden.78 Vor einer solchen ‚Globalisierung‘ der Rhetorik hat Dilip Parameshwar Gaonkar nicht ohne Grund gewarnt, denn als Pan-Rhetorik gerät die Disziplin in Gefahr, jedes Profil zu verlieren. 79 Wenn alles Rhetorik ist, ist schließlich nichts mehr Rhetorik. Daher ist es wichtig zu untersuchen, wie das rhizomatische Wurzelwerk rhetorischer Tradition strukturiert ist, welche Strukturen ausgeprägter sind und wo eher Randbereiche liegen, mikroskopisch und makroskopisch genaue Analysen zu entwickeln, es geht also analytisch eher darum, sich der rhizomatischen Struktur der Rhetorik entgegenzustellen. Doch bei allem Streben nach analytischer Klarheit muss man die verworrene Struktur des Rhizoms anerkennen, zumal eine gewisse Unschärfe der rhetorischen Terminologie, die schon Quintilian erwähnt und auch Goethe lobt, durchaus heuristischen Wert hat. So heißt es in den Anmerkungen zum „Divan“: Wagten wir nun mit diesem Wenigen fünfhundert Jahre persischer Dicht- und Rede-Kunst zu schildern; so sey es, um mit Quintilian unserm alten Meister zu reden, von Freunden aufgenommen in der Art wie man runde Zahlen erlaubt, nicht um genauer Bestimmung willen, sondern um etwas Allgemeines, bequemlichkeitshalber, annähernd auszusprechen.80
Die Unschärfe der rhetorischen Theoreme und Begriffe kann in der Tat auch als ihre besondere Qualität gelten, wie John Angus Campbell nicht ohne Pathos bemerkt: The ‘thinness’ of rhetorical theory is its virtue and its pride. Because of its intimate tie with practical reason, rhetoric only admits of systematization to a certain degree and should remain open – like history, life, or hope – and not aspire to be more systematic than its objects allow […].81
Gerade die Unschärfe der rhetorischen Terminologie und Theorie ermöglicht es, diese zu allen Zeiten und unter allen Umständen zu verwenden. Die Begriffe und Theorien der Rhetorik sind unscharf, weil sie nicht nur auf einzelne Situationen zugeschnitten sind, sondern das Verhalten des Menschen als kommunikatives Wesen insgesamt zu beschreiben versuchen. Kann man demnach die Frage „Was ist Rhetorik?“ nur mit einzelnen historischen Momentaufnahmen beantworten? Nein, es lassen sich durchaus zentrale Charakteristika der Disziplin ausmachen. So kann man mit Joachim Knape, der
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Vgl. meinen Artikel „New Rhetoric“. HWRh. Bd. 6. Sp. 259–288, hier: Sp. 287. Vgl. Gaonkar, Dilip Parameshwar: The Idea of Rhetoric in the Rhetoric of Science. In: Southern Communication Journal 58 (1993) S. 258–295, hier: S. 262–263. Goethe: Besserem Verständnis. MA 11, 1, 2. S. 167. Goethe zitiert an dieser Stelle wahrscheinlich Quint. Inst. orat. X, 1, 44. Campbell, John Angus: Reply to Gaonkar and Fuller. In: The Southern Communication Journal 58 (1993) S. 312–318, hier: S. 312.
selbst die Offenheit rhetorischer Theoriebildung erwähnt,82 das orator-Prinzip, also den „als Orator handelnden Menschen […], den man auch strategischen Kommunikator nennen könnte“83 als „archimedischen Punkt der Rhetoriktheorie“84 identifizieren. Der Orator versucht nach Knape, „dem oratorischen Telos […] soziale Geltung zu verschaffen“,85 dabei bedürfe er kognitiver, sozialer und textkonstruierender Fähigkeiten. Dies ist ein idealtypisches Modell, das jedoch die literarisierte spätantike Rhetorik exkludiert, auch die ästhetische Adaption der Rhetorik im 18. Jahrhundert nicht unbedingt als eine in rhetorischen Begriffen noch sinnvoll zu erfassende Entwicklung sieht. Wenn man den Orator ausschließlich als strategisch Handelnden definiert, fallen selbst bei einem rhetorischen Klassiker wie Quintilians „Institutio oratoria“ manche Ideen und Theorien nicht mehr in das Zuständigkeitsgebiet der Rhetorik, Quintilians orator tacens jedenfalls durchkreuzt das Metabolie-Konzept. Die Orator-Zentrierung, die Knape als definitorisches Merkmal der Rhetorik sieht, ist jedoch für weite Teile des Rhetorik-Rhizoms konstitutiv und somit ein Definitionskriterium für Rhetorik, besonders wenn man im Nebensatz noch auf die historisch komplexe und vielschichtige Entwicklung der rhetorischen Tradition verweist, darauf, dass es im Wurzelstock der Rhetorik auch Theorien gibt, die durch die Definition nicht abgedeckt werden. Entsprechend hat Knape, um solchen Theorien gerecht zu werden, die Unterscheidung zwischen Persuasions- und Eloquenzrhetorik eingeführt.86 Die Eloquenzrhetoriken, die das Persuasionsprinzip suspendieren, gehen auf epideiktische Modelle zurück, sie entfernen sich in dieser Sichtweise vom Grundmuster einer rhetorischen Kommunikation, der es um Metabolie geht.87 In der „Poetik“ wird bei Aristoteles die Überschneidung zwischen eloquenzrhetorischen Fragestellungen und poetischer Technik deutlich, wenn etwa bei der Behandlung der rhetorischen Figuren eine enge Verbindung rhetorischer und poetischer Theorie postuliert wird, wobei die Figurenlehre eben zugleich auch Teil einer jeden persuasionsrhetorischen Theorie sein wird. Der Gegensatz zwischen den von Knape benannten idealtypischen Modellen ist kein absoluter, starrer Gegensatz. In vielen rhetorischen Theorieschriften und Lehrbüchern sind beide Modelle zugleich präsent. Eloquenz- und Persuasionsrhetorik sind verbunden, zumal auch der Eloquenzrhetorik eine Wirkungsabsicht –––––––––––– 82 83 84 85 86 87
Vgl. Knape, Joachim: Allgemeine Rhetorik. Stationen der Theoriegeschichte. Stuttgart 2000. S. 21. Knape, Joachim: Was ist Rhetorik? Stuttgart 2000. S. 33. Ebd. Ebd. Vgl. Knape, Joachim: Artikel „Persuasion“. HWRh. Bd. 6. Sp. 874–907, hier: Sp. 877. Vgl. dazu auch Ostermann, Eberhard: Die Authentizität des Ästhetischen. Studien zur Transformation der Rhetorik. München 2002. Ostermann führt die ästhetische Dimension der Literatur im 18. Jahrhundert konsequent auf das Paradigma der epideiktischen Rede zurück.
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des orators zu Grunde liegt. Mit Kenneth Burke lässt sich das erklären: Er hat Rhetorik als „the use of language in such a way as to produce a desired impression upon the hearer or reader“88 definiert und damit die Wirkungsintentionalität von Rhetorik anthropologisch mit einem Identifikationsstreben des Menschen begründet. Identifikation weise auf das Bedürfnis des Menschen nach Gruppenzugehörigkeit, nach Übereinstimmung mit Idealen und auf die Identifikation mit formalen stilistischen Phänomenen hin: „Identification, then, is a belonging to a group of people or a becoming one with them through at least some one formality of common purpose or ideal.“89 Für Burke ist Identifikation der Schlüsselbegriff einer neuen Rhetorik, der erklärt, welche Motivstruktur hinter dem Wirkungsbezug der Rhetorik liegt:90 As for the relation between ‘identification’ and ‘persuasion’ we might well keep it in mind that a speaker persuades an audience by the use of stylistic identifications; his act of persuasion may be for the purpose of causing the audience to identify itself with the speaker’s interests, and the speaker draws on identification of interests to establish rapport between himself and the audience.91
Um Identifikation geht es sowohl im eloquenzrhetorischen als im persuasionsrhetorischen Paradigma. Erst jenseits eines solchen Identifikationsstrebens, das laut Burke auf Konsubstantialität zielt, auf „common sensations, concepts, images, ideas, attitudes that make them [i. e. men] consubstantial“,92 liegt die Grenze der Rhetorik, die, nun freilich weit gefasst, anthropologisch begründet ist und das Metabolieprinzip und jede Art der Einwirkung auf die Einstellungen der Zuhörer mit einem Streben nach Identifikation erklärt. Das Rhetorik-Rhizom umfasst nach dieser Definition sowohl anthropologische Rhetorikkonzepte als auch systemrhetorische Entwürfe, die nun selbst auf eine anthropologische Grundlage gestellt sind, die bei der Ausdifferenzierung des rhetorischen Systems in den Hintergrund gedrängt worden war. Insofern relativiert sich die Unterscheidung von Anthropologie und System, ist zugleich aber in ihrem heuristischen Wert gestärkt. Rhetorik als Kunstfertigkeit (ars), die als System dargestellt werden kann, gehört genauso zum Rhetorik-Rhizom wie die so genannte NaturRhetorik, um abschließend eine weitere Unterscheidung einzuführen, die den Gegensatz zwischen Rhetorik als System und Rhetorik als anthropologischem Wissen begrifflich variiert. ‚Natur-Rhetorik‘, also überzeugende Rede, die nicht
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Burke, Kenneth: Counter-Statement. 2. Auflage. Chicago, IL 1953. S. 210. Fogarty, Daniel: Roots for a New Rhetoric. New York, NY 1959. S. 75. Vgl. Burke, Kenneth: Rhetoric – Old and New. In: Steinmann, Martin (Hrsg.): New Rhetorics. New York, NY 1967. S. 59–76, hier: S. 63. Burke, Kenneth: A Rhetoric of Motives. Berkeley u. Los Angeles, CA 1969. S. 46. Ebd. S. 21.
auf rhetorischer Kunstfertigkeit beruht, sondern intuitiv die richtigen Worte findet, wie etwa ein erregter Redner auf seine Zuhörerschaft großen Eindruck machen kann, ruht auf denselben anthropologischen Fundamenten wie Rhetorik als Kunstfertigkeit. Folglich ist es nur konsequent, wenn auch ‚naturrhetorische‘ Modelle in vielen antiken Lehrbüchern und Rhetoriken vorkommen, denn auch sie beruhen auf Prozessen der Identifikation. Der Begriff ‚Natur-Rhetorik‘ ist ohnehin eine metaphorische Idealisierung, weil die Rhetorizität der Sprache auf die ‚Natur-Rhetorik‘ ausgreift, eine ‚Natur-Rhetorik‘ nicht jenseits der systematisch erfassten rhetorischen Sprachstrukturen existiert. Das Rhetorik-Rhizom umfasst eben in seiner komplexen Struktur viele unterschiedliche Paradigmen und nur aus dieser weiten Perspektive lässt sich die Bedeutung der Rhetorik für Goethe beschreiben. Wenn sich Goethe im Sturm und Drang gerade solchen ‚naturrhetorischen‘ Modellen zuwendet, heißt das eben nicht, dass er sich von ‚der Rhetorik‘ absetzen, sondern lediglich, dass eine sehr enge Definition von Rhetorik, die Rhetorik mit Regel-Rhetorik gleichsetzt, überwunden ist. Goethe nimmt das Rhetorik-Rhizom als komplexe Struktur wahr, beruft sich sowohl auf ‚naturrhetorische‘ Modelle wie auf System- und Regelwissen der Rhetorik und kann daher in den unterschiedlichen Phasen seines literarischen Werkes auf ganz verschiedene rhetorische Theoreme und Praktiken zurückgreifen, die in der rhizomatischen Struktur der rhetorischen Tradition zu finden sind. Von einem unrhetorischen Goethe kann man daher nicht sprechen, selbst wenn dieser die rhetorische Regelpoetik attackiert. Bei Goethe ergibt sich eine Auseinandersetzung mit der Rhetorik auf fünf verschiedenen Ebenen. Zunächst ist die rhetorisch geprägte Poetiktradition zu berücksichtigen, nach der etwa rhetorische Figuren Bausteine zur ästhetischen Überstrukturierung von Texten sind, in der Regeln für den Aufbau eines Textes formuliert sind, für die Gestaltung der Handlung etc. Zweitens liegt für Goethe in Erweiterung einer solchen Vorstellung literarisches Potential in der rhetorischen Textproduktionslehre und der rhetorischen Pädagogik. Die Frage, wie ein Autor einen Text zu Stande bringt, seine Empfindungen textuell zugänglich machen kann, treibt Goethe immer wieder zur Auseinandersetzung mit der rhetorischen Tradition. Wobei es auffällig ist, dass er häufig gerade nicht auf die Vertreter der rhetorisch geprägten poetischen Tradition zurückgreift, sondern ganz bewusst rhetorische Lehrbücher befragt, um als Schriftsteller Anleitung zu finden. Dies ist vielleicht ein Indiz dafür, dass dem Schriftsteller Goethe eine persuasive Perspektive durchaus eigen ist. Hier ist zu denken an Goethes Bemühen, eigene ästhetische Positionen durchzusetzen, das etwa im Sturm und Drang eine entscheidende Rolle spielt. Goethe steht hier in einer agonalen Situation, versucht eine neue Form von Literatur durchzusetzen, d. h. im Theoriediskurs, aber
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auch in der literarischen Öffentlichkeit zu etablieren.93 Dies ist die dritte Ebene der Rezeption und Adaption der Rhetorik bei Goethe, in der die agonale Grundkonzeption der Rhetorik von Bedeutung ist. Die vierte Ebene ergibt sich auch bereits im Sturm und Drang, persuasiv ist nämlich durchaus der seit der Geniephase erkennbare Versuch, die eigenen Empfindungen den Adressaten transparent zu machen. Sie bilden gewissermaßen das Zertum, das in der literarischen Kommunikation zugänglich gemacht werden soll und bei den Adressaten in persuasiver Weise wirken soll. Man könnte sagen, in dieser vierten Dimension, die die Rhetorik bei Goethe hat, geht es darum Fiktionen zu plausibilisieren, was eben durchaus ein rhetorisches Geschäft ist. Fünftes setzt Goethe sich immer wieder auch explizit mit rhetorischen Fragen auseinander, viele Aufsätze und Essays, aber auch literarische Texte beinhalten Reflexionen zu rhetorischen Problemen. Im Laufe des Lebens kommt es bei Goethe freilich immer wieder zu Zäsuren, setzt er sich zur rhizomatischen Struktur der Rhetorik in veränderlicher Weise in Beziehung. Während etwa ein bewusst persuasives Handeln dem Publikum gegenüber in einer agonalen Grundsituation im Sturm und Drang eine entscheidende Rolle spielt, wird dieser Publikumsbezug in der Klassik in den Hintergrund treten, hier sind es dann wiederum eher eloquenzrhetorische Überlegungen, ein diffiziles Konzept von Artifizialität, das für Goethe entscheidend ist. Immer wieder positioniert sich Goethe gegenüber der Rhetorik also auf neue und veränderliche Art und Weise, dabei schöpft er vom umfangreichen rhetorischen Wissen, das ihm in schulischer und universitärer Ausbildung vermittelt wurde.
1. 3.
Goethes Ausbildung als Einführung in die rhetorische Tradition
Goethes schulische und universitäre Ausbildung ist schon häufig dargestellt worden, wenig beachtet wurde aber in der Regel, wie schwer das Gewicht der rhetorischen Theorie und Praxis in diesem Ausbildungsgang wog. Goethes Lehrer folgten den Vorgaben antiker Erziehungslehren, Quintilians Ziel, dass „der Kreis des Wissens sich schließe, den die Griechen ἐγκύκλιος παιδεία nennen“,94 ist auch in Goethes Erziehung als Endpunkt vieler Bemühungen zu erkennen. Der Vater hielt sich bei der Planung des Unterrichts vermutlich an von Joachim Lange verfasste Hinweise,95 war vielleicht auch durch Quintilian selbst beein–––––––––––– 93
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Vgl. Knape, Joachim: Rhetorik der Künste. In: HSK Bd. 31,1: Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung. Hrsg. von Ulla Fix, Andreas Gardt u. J. K. Berlin u. New York 2008. S. 894–927; hier: S. 909–912. Quint. Inst. orat. I, 10, 1. Vgl. Schwabe, Ernst: Goethe als Lateinschüler. In: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum 28 (1911) S. 345–371, hier: S. 353–355. Joachim Lange leitet mit dem Lehrplan sei-
flusst, dessen „Institutio oratoria“, die als eine Art pädagogisches Grundbuch betrachtet werden kann, sich in seinem Besitz befand.96 Bei der Rekonstruktion des Goetheschen Bildungsgangs ist der „Liber domesticus“ des Vaters eine große Hilfe, weil er Auskunft über die materiellen Investitionen in die Erziehung des Sohnes gibt. Selbst der vermutliche Beginn von Goethes schulischer Ausbildung lässt sich durch dieses Ausgabenbuch relativ sicher rekonstruieren: Am 14. Februar 1754 hat Johann Caspar Goethe nämlich die Anschaffung eines „Proverb. Salomonis liber a.b.c.“97 für 12 Kreutzer vermerkt, das vermutlich für den Unterricht von Johann Wolfgang bestimmt war. Goethes Lehrer waren nach Auskunft des Haushaltsbuches zahlreich: Er wurde in Grammatik, Rhetorik und Dialektik ausgebildet, lernte Englisch, Französisch, Italienisch, Griechisch, Latein und Hebräisch, Anfangsgründe der Philosophie und der Rechtswissenschaft; Zeichnen, Mathematik und Naturkunde standen auf dem Programm des Unterrichts. Hinzu kamen: die umfangreiche Bibliothek des Vaters, die Goethe Zugriff auf die copia des Wissens gab, der regelmäßige Vortrag von Gedichten und Geschichten. Selbst das von der Großmutter geschenkte Puppentheater98 lässt sich als Teil einer rhetorisch geprägten Vorstellung von Erziehung verstehen, vermittelt es doch Sicherheit im Umgang mit Körper und Stimme und trägt zur Verbesserung der actio bei. Ja, schon bei der Wahl der Amme zeigt sich, wie sehr Goethes Vater, den Ratschlägen Quintilians folgend, auf Qualität bedacht war, denn Maria Magdalena Hoff, deren Spielschu––––––––––––
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nen „Hodegus Latinitatis“ ein (vgl. J. L.: Hodegus Latini sermonis tripartitus continens institutiones stili, nec non phrasium lectissimarum copiam, seu anthologiam, atque flores, e probatissimis auctoribus collectos […] cum praefatione de meta curriculi studiorum scholastici. Berolini 1724. o. P.). Schwabe hat weitgehende Übereinstimmungen zwischen den im „Hodegus Latinitatis“ empfohlenen Unterrichtseinheiten und Übungen mit den „Labores juveniles“ zeigen können. Selbst wenn man dem Vater nur eine fragmentarische Lektüre des Werkes unterstellt, könnten sich die Überlegungen Quintilians in Goethes Erziehung bemerkbar gemacht haben, da die Quintilian-Ausgabe aus der Bibliothek von Goethes Vater durch hervorragende Einleitungen und ein ausführliches Register auch im Stil eines Handbuches benutzt werden kann. Goethe hat das Exemplar seines Vaters in seine Bibliothek übernommen (vgl. Ruppert, Hans: Goethes Bibliothek. Katalog. Weimar 1958 [künftig zitiert als Ruppert: Goethes Bibliothek] Nr. 1429. S. 203), es zeigt, wie eine Sichtung im Goethe-Nationalmuseum ergab, zahlreiche Gebrauchsspuren, ist allerdings frei von Kommentaren. Zur pädagogischen Bedeutung Quintilians vgl. Bahmer, Lonni: Artikel „Erziehung, rhetorische, Antike“. HWRh. Bd. 2. Sp. 1439–1442; außerdem den immer noch grundlegenden Beitrag von Bianca, Giuseppe: La pedagogia di Quintiliano. Padua 1963. Goethe, Johann Caspar: Liber domesticus. 12. Februar 1754. Nachdruck Leipzig 1973. o. P. Vgl. dazu auch Baginsky, Paul: Des jungen Goethe Lektüre während der Frankfurter Jugendzeit. Breslau 1919. S. 5–7. Vgl. Goethe: Dichtung und Wahrheit. MA 16. S. 18. Das Puppentheater ist mehr als nur eine Erfindung des Autors von „Dichtung und Wahrheit“, Reste davon sind tatsächlich heute noch erhalten (vgl. Sprengel, Peter: Kommentar „Dichtung und Wahrheit“. MA 16. S. 924).
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le Goethe ab Herbst 1752 besuchte, scheint eine erfolgreiche Erzieherin gewesen zu sein.99 Welchen Anteil einzelne Lehrer zu Goethes Erziehung leisteten, lässt sich dank der genauen Sichtung archivarischer Quellen durch Elisabeth Mentzel zumindest ansatzweise nachvollziehen. Auch in „Dichtung und Wahrheit“ betont Goethe die Bedeutung der rhetorischen Tradition für seine Ausbildung ausdrücklich („Aristoteles, Cicero, Quinctilian, Longin, keiner blieb unbeachtet“100). Doch ist hier auch Inszenierung im Spiel, denn Goethe präsentiert seine literarische Entwicklung als Überwindung der rhetorischen Schreibart. Dass die Darstellung einer gründlichen rhetorischen Ausbildung in der Autobiographie aber historischer Grundlagen nicht entbehrt, ist auch an den so genannten „Labores Juveniles“ zu erkennen. Sie dokumentieren den Weg Goethes von imitatio und exercitatio zur eigenständigen Produktion, den er in mustergültiger Übereinstimmung mit Quintilians pädagogischer Theorie beschreitet:101 Beginnend mit bloßen Schreibübungen bei Johann Tobias Schellhaffer, bei dem er während des Umbaus des Hauses am Hirschgraben die Elementarschule besuchte,102 über die imitatio fremder Werke, die durch ständiges Wiederholen auch der memoria dient und Wissen im Schüler verfestigen soll, wird Goethe zur Produktion eigener kleiner Texte angeregt. Während ein Gedicht für die Großeltern zum Jahreswechsel 1757 noch mit Hilfe des Lehrers entstand, dessen Notizen im Manuskript zu sehen sind,103 zeigt das Gedicht zum Jahreswechsel des zwölfjährigen Goethe keine Spuren fremder Hilfe mehr.104 In dieser Zeit beginnt Johann Heinrich Thym, den Goethes Vater als „Magister artis scribendi“ angestellt hat, mit –––––––––––– 99
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Vgl. Mentzel, E[lisabeth]: Aus Goethes Jugend. Ein Beitrag zu Goethes Entwicklungsgeschichte. Leipzig o. J. [1909]. S. 17–34. Maria Magdalena Hoff blieb der Familie Goethe lange verbunden, erhielt für ihre Verdienste um Hermann Jacob mehrfach besondere finanzielle Zuwendungen. Über den Unterricht in der Spielschule lässt sich nur mutmaßen, wahrscheinlich begann dort der Lese- und Schreibunterricht. Wie wichtig eine sorgfältige Amme für die Entwicklung des Kindes ist, thematisiert Quint. Inst. orat. I, 1, 4–5. Goethe: Dichtung und Wahrheit. MA 16. S. 574. Vgl. Quint. Inst. Orat. I, 1–II, 10. Zur rhetorischen Prägung der Ausbildungsprinzipien vgl. auch Ueding, Gert: Reden durch die Sache – Goethes rhetorische Theorie und Praxis. In: Goethes Reden. Hrsg. v. G. Ue. Frankfurt am Main 1994. S. 177–197, hier: S. 178. Vgl. Mentzel, E[lisabeth]: Aus Goethes Jugend. Ein Beitrag zu Goethes Entwicklungsgeschichte. Leipzig o. J. [1909]. S. 35–55. Johann Tobias Schellhaffer war von Goethes Vater wohl vor allem wegen seiner ausgezeichneten Handschrift als Lehrer für den Sohn ausgewählt worden (vgl. ebd. S. 36). Vgl. Goethe: Bei dem erfreulichen Anbruche des 1757. Jahres. MA 1, 1. S. 75–76. Zur Beschreibung des Manuskripts vgl. Sauder, Gerhard: Kommentar „Gedichte und Stammbucheintragungen“. MA 1, 1. S. 782. Vgl. Goethe: Bei diesem neuen Jahres Wechsel überreichet […] 1. Jenner. 1762. MA 1, 1. S. 76. Zur Beschreibung des Manuskriptes vgl. Sauder, Gerhard: Kommentar „Gedichte und Stammbucheintragungen“. MA 1, 1. S. 783.
Johann Wolfgang zu arbeiten.105 Er war eigentlich nur als Kalligraph, nicht als Deutscher Schreib- und Rechenmeister in Frankfurt zugelassen,106 bemühte sich aber wohl auch um die Vermittlung von copia,107 wie ein von ihm für den jungen Goethe angefertigtes „Vorschriftenbuch“, das Bibelpassagen kalligraphisch darstellt, belegt.108 Entscheidend für die Vermittlung der rhetorischen Tradition ist zunächst vor allem Johann Jacob Gottlieb Scherbius, der Goethe ab 1756 in Latein, später auch in Griechisch unterrichtet. Ein Blick in die Lehrbücher, die er in seinem altsprachlichen Unterricht verwendet, und man weiß, wie lebendig die rhetorische Tradition der römischen Antike im 18. Jahrhundert noch war. Im „Orbis pictus“ von Johann Amos Comenius etwa, einer Art Bilderbuch zum Erlernen lateinischer Vokabeln, wird erklärt, dass Rhetorik eigentliche und passende Ausdrücke, die verba propria, durch rhetorische Figuren ersetzt, die einem Text Farbe geben und so seine Wirkung steigern: „Rhetorica pingit quasi rudem formam Sermonis Oratoriis pigmentis ut sunt Figurae“. 109 In der entsprechenden Abbildung, auf der die Rhetorica (5) im Verbund mit Grammatica (1), Poesie (12) und Musica (13) gezeigt wird, wird ihr die bildliche Darstellung als typische Eigenschaft zugeschrieben (vgl. Abb. 1). Auch die in der Bibliothek des Vaters befindliche Ausgabe der „Isagoges“ des Quintilian-Herausgebers Johann Matthias Gesner dürfte als Lehrbuch Goethes rhetorisches Wissen geprägt haben, liefert Gesner doch eine vergleichsweise umfassende Darstellung der Theoriebausteine der „Ars oratoria“.110 So werden hier Natur, Affekt, Erfahrung und imitatio als Grundlagen der rhetorischen Ausbildung beschrieben,111 zudem auch die Bedeutung von iudicium und deliberatio –––––––––––– 105 106 107 108
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Vgl. Mentzel, E[lisabeth]: Aus Goethes Jugend. Ein Beitrag zu Goethes Entwicklungsgeschichte. Leipzig o. J. [1909]. S. 98. Vgl. ebd. S. 104. Vgl. ebd. S. 99. Vgl. Thyms Vorschriften-Buch für Johann Wolfgang Goethe. o. O. 1760. Reprographische Auszüge finden sich bei Mentzel, E[lisabeth]: Aus Goethes Jugend. Ein Beitrag zu Goethes Entwicklungsgeschichte. Leipzig o. J. [1909]. S. 111–113. Ebd. S. 202–203. Goethe erwähnt dieses Werk in „Dichtung und Wahrheit“; da es einer der wenigen für die Bedürfnisse von Kindern verfassten Texte ist, wird der junge Goethe es auf jeden Fall benutzt haben (vgl. Goethe: Dichtung und Wahrheit. MA 16. S. 37). Goethes Vater besaß das Werk gleich in zwei Ausgaben (vgl. Götting, Franz: Die Bibliothek von Goethes Vater. In: Nassauische Annalen 64 (1953) S. 23–69, hier: S. 41; Schwabe, Ernst: Goethe als Lateinschüler. In: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum 28 (1911) S. 345– 371, hier: S. 357). Vgl. Gesner, Johann Matthi[as]: Primae lineae isagoges in eruditionem universalem. Göttingen 1760. Regel Nr. 299–385. S. 33–43. Goethe hat das Werk aus der Bibliothek des Vaters in seinen Bestand übernommen (vgl. Ruppert Nr. 516. S. 74). Vgl. Gesner, Johann Matthi[as]: Primae lineae isagoges in eruditionem universalem. Göttingen 1760. Regel Nr. 299–385. S. 33.
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Abb. 1: Darstellung der „Artes Sermonis“ in Johann Amos Comenius: „Orbis Pictus“112
betont.113 Gesner als Vertreter des Neuhumanismus breitet kein totes Regelwissen aus, sondern versucht, über die Erklärung der Systemteile Einsicht in die Prinzipien wirkungsvoller Kommunikation zu geben, wie er sich überhaupt bemüht, nicht nur ein äußerliches Verständnis der Dinge zu vermitteln, sondern diese sinnvoll zu begründen.114 Der schon erwähnte „Hodegus Latinitatis“ schließlich liefert eine Übersicht zentraler Prinzipien rhetorischer Theorie und systematischer Grundkonzepte. Joachim Lange orientiert sich an den Arbeitsschritten und den Redeteilen als grundlegenden Gliederungsmöglichkeiten rhetorischer Lehrwerke115 und stellt im Anhang in einer „Tabula rhetorica“ eine Auswahl zentraler Tropen und Figuren vor.116 –––––––––––– 112 113
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Comenius, Johann Amos: Orbis sensualium pictus. London 1659. S. 202. Vgl. ebd. S. 34. Humphry Trevelyan, der Goethes Antikenrezeption ganz jenseits der Rhetorik beschreibt, hat dessen schulische Lektüre präzise rekonstruiert, aber auf die rhetorischen Elemente geht er nicht einmal ein, wenn sie so offen zu Tage treten wie bei Gesner (vgl. H. T.: Goethe and the Greeks. Cambridge, London u. a. 1981. S. 15–49). Vgl. Heubaum, Alfred: Geschichte des Deutschen Bildungswesens seit der Mitte des 17. Jahrhunderts. Bd. 1. Berlin 1905 (Nachdruck Aalen 1973). S. 223–224 u. 227. Vgl. Lange, Joachim: Hodegus Latini sermonis tripartitus continens institutiones stili, nec non phrasium lectissimarum copiam, seu anthologiam, atque flores, e probatissimis auctoribus collectos […] cum praefatione de meta curriculi studiorum scholastici. Berolini 1724. S. 143–168. Vgl. ebd. S. 169–176.
Die rhetorische Ausbildung Goethes umfasst aber nicht nur theoretische Einheiten, sondern auch die rhetorische Praxis. Die Ausbildung von pronuntiatio und actio ist offensichtlich ein zentrales Ziel des Unterrichts, wie das lateinischdeutsche Protokoll eines Kolloquiums zwischen Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Maximilian Moors verdeutlicht.117 Im spielerischen Zwiegespräch lernt Goethe, seine actio zu verbessern, und übt Grundregeln der richtigen Argumentation ein. Das kleine Kolloquium, dessen Niederschrift immerhin fünf Druckseiten umfasst, folgt den Gesetzen der disputatio: defendens und opponens, Johann Wolfgang und Maximilian, treten einander gegenüber und erörtern strittige Fragen, um zu einem Konsens zu gelangen. Meist wird zuerst der strittige Punkt genannt, der dann durch eine Frage genauer zu fassen ist, schließlich wird eine Lösung gefunden, und das Spiel beginnt von neuem. Auch zwei Kolloquien Goethes mit seinem Vater sind erhalten, sie sind wohl unter dem Einfluss von Johann Jacob Gottlieb Scherbius entstanden und zeigen, wie Goethe im Laufe seiner Ausbildung mit der technischen Seite der inventio, namentlich der StatusLehre, vertraut gemacht wird.118 F.
Ist es erlaubt mit in den Keller zu gehen?
P.
Ja es ist erlaubt wenn du mir sagst was du daselbst machen willst.
[F.]
Ich höre, daß sie die Weine auffüllen wollen, und davon möchte ich einen Begriff haben.
P.
Verschlagener! hierunter stickt etwas anders verborgen: sage die Wahrheit.
F.
Ich kanns nicht bergen, den Grund und Schluß-Stein habe ich Lust einmal wieder zu sehen.119
Diese kleine disputatio beginnt mit dem Versuch, den status definitivus zu klären, also die Frage „Was hat er getan?“, bzw. hier auf die Zukunft gerichtet: „Was plant er zu tun?“, zu erörtern.120 Dabei versucht der Sohn ganz gemäß der traditionellen rhetorischen Anweisung, die vom Vater unterstellte, nicht erlaubte –––––––––––– 117
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Vgl. Goethe: Colloquium. Wolfgang et Maximilian. MA 1, 1. S. 21–25. Vgl. auch Schwabe, Ernst: Goethe als Lateinschüler. In: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum 28 (1911) S. 345–371, hier: S. 366–371, der die ursprünglich lateinisch verfassten Kolloquien, auch das mit Goethes Vater, für das Werk eines Lehrers hält, das Goethe übersetzt habe, anders lasse sich die stilistische Brillanz des lateinischen Ausdrucks nämlich nicht erklären. Für die Argumentation hier ist dieser Einwand nur von sekundärer Bedeutung, denn die Vertrautheit mit rhetorischen Mustern kann sich ebenso gut durch das Übersetzen des Textes ergeben. Vgl. Goethe: Colloquium. Pater et Filius Mens. Jan. MDCCLVII. MA 1, 1. S. 15–20; bzw. ders.: Colloquium. Pater et Filius. MA 1, 1. S. 25–29. Dazu auch Mentzel, E[lisabeth]: Aus Goethes Jugend. Ein Beitrag zu Goethes Entwicklungsgeschichte. Leipzig o. J. [1909]. S. 126–127. Goethe: Colloquium. Pater et Filius Mens. Jan. MDCCLVII. MA 1, 1. S. 15. Vgl. Quint. Inst. orat. III, 6, 5.
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Handlung zu leugnen und eine andere vorzuschieben, also einen anderen status definitivus zu behaupten.121 Um 1765 entsteht auf Anweisung durch Lehrer oder Eltern mit „Poetische Gedanken über die Höllenfahrt Jesu Christi“122 schließlich ein erster literarischer Text, der einen umfangreicheren Stoff verarbeitet und einen großen Reichtum rhetorischer Figuren aufweist, hier genügt ein Blick auf den Anfang: Welch ungewöhnliches Getümmel! Ein Jauchzen tönet durch die Himmel. Ein großes Heer zieht herrlich fort. Gefolgt, von Tausend Millionen, Steigt Gottes Sohn von seinen Thronen, Und eilt an jenen finstern Ort. Er eilt umgeben von Gewittern; Als Richter kommt Er und als Held. Er geht und alle Sterne zittern. Die Sonne bebt. Es bebt die Welt. 123
Goethe eröffnet seine „Poetischen Gedanken“ mit einer Interjektion und erreicht so die Aufmerksamkeit des Lesers, der sich von Beginn an affektiv angesprochen fühlt und dazu aufgefordert ist, sich ein Bild von dem Getümmel zu machen, das Jesu Höllenfahrt auslöst. Die affektive Wirkung der Interjektion wird im Verlauf der Strophe in Form einer Klimax gesteigert, Goethe setzt zudem mehrfach den Plural an Stelle des Singulars („tönet durch die Himmel“, „steigt Gottes Sohn von seinen Thronen“), um eine pathetische Wirkung zu erreichen. Durch die Personifikation von Sternen, Sonne und Welt wird die bildliche Gestaltung des Motivs, die der Anfang nur suggeriert, eingelöst. Die Epanode und Inversion am Ende der ersten Strophe sichern die Wirkung der Personifikationen, zeigen aber auch, wie weitgehend die elocutio durch die Regel des Ornaments bestimmt ist. Die „Höllenfahrt Christi“ ist ein Werk zwischen bloßer rhetorischer Stilübung, die sich an verschiedenen exempla orientiert und diese nachahmt, und literarischer Eigenständigkeit, die sich in der souveränen Bearbeitung des Stoffes und der bei allem Figurenreichtum ansprechenden elocutio zeigt. Goethe wird also durch Lehrer und Eltern zur literarischen Produktion angehalten und in ihr unterwiesen, wie dies in der rhetorischen Schultradition über Jahrhunderte üblich war. –––––––––––– 121 122
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Vgl. ebd. III, 6, 83. Vgl. Goethe: Poetische Gedanken über die Höllenfahrt Jesu Christi. MA 1, 1. S. 77–81. Vorbilder dieses Textes sind Johann Andreas Cramers „Eine Ode auf das Leiden Christi“ und Johann Adolf Schlegels „Der Gottesleugner“ (vgl. Sauder, Gerhard: Kommentar „Gedichte und Stammbucheintragungen“. MA 1, 1. S. 783). Goethe wird dieses Gedicht später häufig erwähnen, zum Beispiel in „Dichtung und Wahrheit“ und in den Gesprächen mit Eckermann, er hat es also wohl selbst als einen Qualitätssprung wahrgenommen (vgl. ebd. S. 784). Goethe: Poetische Gedanken über die Höllenfahrt Jesu Christi. MA 1, 1. S. 77.
Die Betonung von Rede- und Schreibfähigkeit in Goethes schulischer Erziehung mag seinen Wunsch, in Göttingen bei Christian Gottlob Heyne und Johann David Michaelis zu studieren, beeinflusst haben.124 Ein rhetorisch-philologisches Studium, wie es Heyne, der Professor für „Poesie und Beredsamkeit“ 125 war, und Michaelis, ein philologisch und orientalistisch interessierter Theologe, Goethe geboten hätten, wäre durch die schulische Ausbildung bestens vorbereitet gewesen. Die beiden Professoren wären in Anbetracht von Goethes literarischen Interessen auch insofern interessant gewesen, als beide rhetorische und philologische Fragen mit einer konsequent zeitgenössischen Perspektive angegangen sind. Beispielsweise hat Michaelis Robert Woods „Versuch über das Originalgenie des Homer“ in Deutschland bekannt gemacht und Heyne den Text kommentiert.126 Doch der Weg nach Göttingen war Goethe durch den Vater verstellt, der auf ein juristisches Studium in Leipzig bestand. Mit dem Beginn des Rechtsstudiums entwickelt sich Goethe zu einem heimlichen Studenten der Rhetorik und Poetik. Gleich bei vier Professoren, die für die Vermittlung und Weiterentwicklung rhetorischer Tradition stehen, studiert er in Leipzig: Neben Christian Fürchtegott Gellert, der seit 1751 außerordentlicher Professor für Dichtkunst und Beredsamkeit in Leipzig war und auf Goethes Briefstil entscheidenden Einfluss genommen hat, waren dies Johann Christoph Gottsched, seit 1730 Professor für Poetik und seit 1734 für Poetik, Logik und Metaphysik, der in seinen Schriften immer wieder die Auseinandersetzung mit der Rhetorik suchte, Johann August Ernesti, der seit 1759 als ordentlicher Professor für Beredsamkeit in Leipzig tätig war, und Christian August Clodius, der zu Goethes Zeit zwar nominell Philosophie lehrte, aber vor allem als Redner, Schriftsteller und Stilist hervortrat, etwa durch seine 1767 erschienenen „Versuche aus Literatur und Moral“. Goethe setzt also in Leipzig heimlich seine Beschäftigung mit der rhetorischen Tradition fort und bemüht sich darum, die literarische Wirksamkeit der Rhetorik auszuloten. Hatte er sich schon in Frankfurt mit literarischen Texten hervorgetan und schon dort bewiesen, dass er sich, wie –––––––––––– 124
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Goethe berichtet von diesem Wunsch in seiner Autobiographie, durch zeitgenössische Briefe oder Äußerungen lässt er sich jedoch nicht sicher belegen. Vgl. Goethe: Dichtung und Wahrheit. MA 16. S. 264–265. Deutsche Biographische Enzyklopädie. Hrsg. v. Walther Killy u. Rudolf Vierhaus. Bd. 5. München 1997. S. 26. Vgl. Wood, Robert: Versuch über das Originalgenie des Homer. Übersetzt von Johann David Michaelis. Frankfurt am Main 1773. Goethe scheint die Arbeit Christian Gottlob Heynes, nachdem er nicht bei ihm studieren durfte, weiter verfolgt zu haben, so rezensiert er in den „Frankfurter Gelehrten Anzeigen“ seine „Einleitung in das Studium der Antike“ (vgl. Goethe: Rezension zu „Einleitung in das Studium der Antike, oder Grundriß einer Anführung zur Kenntnis der alten Kunstwerke […].“ MA 1, 2. S. 367–368). Auch eine Rezension zu der Wood-Übersetzung findet sich in den „Frankfurter Gelehrten Anzeigen“, die aber nicht von Goethe verfasst wurde (vgl. WA I, 37. S. 203–206).
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er an den Freund Johann Jacob Riese schreibt, in einer „Versart, die dem Mädgen wohl gefiel“127 auszudrücken vermag, so versucht Goethe in Leipzig durch das Studium der rhetorischen und poetischen Theorie, seine schriftstellerischen Fähigkeiten zu entwickeln. Schon in einem der ersten erhaltenen Briefe, in denen er aus Leipzig seiner Schwester über das Leben als Student berichtet, scheint die Sache ausgemacht: Goethe glaubt, er sei zum Dichter bestimmt, und tritt der Schwester gegenüber selbstbewusst in der neuen Rolle auf: Was würdest du sagen Schwestergen; wenn du mich in meiner jetzigen Stube sehen solltest? Du würdest astonishd ausrufen: So ordentlich! so ordentlich Bruder! – da! – thue die Augen auf, und sieh! – Hier steht mein Bett! da meine Bücher! dort ein Tisch aufgeputzt wie deine Toilette nimmermehr seyn kann. Und dann – Aber – ja das ist was anders. Eben besinne ich mich. Ihr andern kleinen Mädgen könnt nicht so weit sehen, wie wir Poeten. Du must mir also glauben daß bey mir alles recht ordentl. aussiehet, und zwar auf Dichter Parole. 128
Durch das Mittel der evidentia versucht Goethe, seiner Schwester die Szenerie in seinem Studentenzimmer vor Augen zu stellen. Er berichtet in persönlichem Stil von seinen Lebensumständen in Leipzig, von ersten Erfahrungen an der Universität. Die Leipziger Briefe gehören zu einem neuen Typus von Brief, der „Vehikel der Selbstbekundung, der Selbstdarstellung oder auch Selbstbetrachtung und Selbstdeutung“129 ist. Der Brief ist nämlich spätestens seit dem 18. Jahrhundert, so Reinhard Nickisch, nicht mehr länger ein Privileg des Adels, sondern Ausdrucksmedium des bürgerlichen Ich und Zeichen neuen bürgerlichen Selbstbewusstseins.130 Goethe scheint bereits ganz dem neuen Paradigma verpflichtet und gibt seinen Erfahrungen und Empfindungen in den Briefen an die Schwester mit großer Selbstverständlichkeit Ausdruck. Lange Zeit sind die Interpreten des Dichters Parole gefolgt und glaubten, in Goethes Briefen den eigentlichen Goethe erkennen zu können. Ernst Beutler etwa formuliert in offenkundiger Begeisterung: [E]rst diese Briefe offenbaren den ganzen Menschen Goethe, denn hier ist die Aussage unmittelbar. Worte Fausts, Mephistos Worte, sind sie Überzeugung des Dichters oder nur Meinung der Figur im Drama? Das ist oft schwer zu entscheiden. Hier aber steht hinter jedem Satz der Schreiber als Bekenner. Was gesagt wird, gilt.131
Doch diese Vorstellung ist naiv, jeder, der einen Brief schreibt, weiß, dass er dabei immer ein Bild von sich selbst erzeugt, das auf einen bestimmten Rezi–––––––––––– 127 128 129
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Goethe an Johann Jacob Riese. Brief vom 30. Oktober bis 6. November 1765. WA IV, 1. S. 16. Vgl. auch MA 1, 1. S. 84. Goethe an Cornelie. Brief vom 12. Oktober 1765. WA IV, 1. S. 8. Nickisch, Reinhard M. G.: Präliminarien zu einer systematischen und historisch adäquaten Erschließung der deutschen Briefliteratur. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht XII (1979) S. 206–225, hier: S. 217. Vgl. Nickisch, Reinhard M. G.: Brief. Stuttgart 1991. S. 44–45. Beutler, Ernst: Goethes Jugendbriefe. In: Ders.: Wiederholte Spiegelungen. Drei Essays über Goethe. Göttingen 1957. S. 5.
pienten zugeschnitten ist. Der Gestus der Goetheschen Briefe mag unmittelbar wirken, doch Goethe präsentiert rhetorisch aufbereitete Erfahrungen oder in den Worten Gellerts: „beredte Empfindungen“.132 Dass Goethe die Briefe als bewusste, nach bestimmten grammatischen und rhetorischen Regeln gestaltete Texte wahrnimmt, wird im weiteren Verlauf der Korrespondenz mit der Schwester mehrfach deutlich. So rät er ihr in einem Brief aus dem Jahre 1765 zwar „schreibe nur wie du reden würdest“133 und macht sich so zum Fürsprecher eines natürlichen Briefstils, der den Stil des Sturm und Drang vorbereitet und viele formale Regeln hinfällig werden lässt. Zugleich schickt er der Schwester aber Briefe korrigiert zurück, um ihren Schreibstil zu verbessern: „subsistiren ist nicht deutsch. Herbst setze lieber Weinlese.“134 Goethe versteht den persönlichen Stil letztlich rhetorisch: als Effekt, der mit rhetorischen Mitteln erzeugt wird. Goethes Briefstil geht, darauf ist schon häufiger hingewiesen worden, auf den Einfluss seines Leipziger Lehrers Gellert zurück.135 Der Rat an Schwester Cornelia „schreibe nur wie du reden würdest“136 ist eine Paraphrase von dessen Stiltheorie: Das erste, was uns bey einem Brief einfällt, ist dieses, daß er die Stelle eines Gesprächs vertritt. Dieser Begriff ist vielleicht der sicherste. Ein Brief ist kein ordentliches Gespräch; es wird also in einem Brief nicht alles erlaubt seyn, was im Umgange erlaubt ist. Aber er vertritt doch die Stelle einer mündlichen Rede, und deswegen muß er sich der Art zu denken und zu reden, die in Gesprächen herrscht, mehr nähern, als einer sorgfältigen und geputzten Schreibart.137
Gellerts Brieftheorie setzt zunächst als „Schwulstkritik“138 an, die darauf zielt, den übertriebenen Schmuck und die formelhafte Schreibart des Barock zu über–––––––––––– 132
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Gellert, Christian Fürchtegott: Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe hrsg. v. Bernd Witte. Bd. 4: Roman, Briefsteller. Hrsg. v. B. W., Werner Jung u. a. Berlin u. New York, NY 1989. S. 141. Goethe an Cornelie. Brief vom 6. Dezember 1765. WA IV, 1. S. 22. Ebd. S. 23. Goethe hat Gellert nicht erst durch das Leipziger Studium kennen gelernt, schon in der Bibliothek des Vaters fanden sich u. a. dessen „Briefe, nebst einer Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke“ in der Erstausgabe von 1751. Vgl. Götting, Franz: Die Bibliothek von Goethes Vater. In: Nassauische Annalen 64 (1953) S. 23–69, hier: S. 50. Die Bedeutung der Gellertschen Stilanweisungen für die Briefe Goethes hat zuerst Hans Georg Heun thematisiert (vgl. H. G. H.: Der Satzbau in der Prosa des jungen Goethe. Leipzig 1930. S. 6– 7). Heuns Versuch, die Bedeutung Gellerts durch Konstruktionsähnlichkeit einzelner Sätze Gellerts und Goethes zu beweisen (vgl. ebd. S. 20–56), ist jedoch weniger überzeugend als der theoretische Hinweis auf die Rezeption Gellerts. Goethe an Cornelie. Brief vom 6. Dezember 1765. WA IV, 1. S. 22. Gellert, Christian Fürchtegott: Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe hrsg. v. Bernd Witte. Bd. 4: Roman, Briefsteller. Hrsg. v. B. W., Werner Jung u. a. Berlin u. New York, NY 1989. S. 111. Vgl. Arto-Haumacher, Rafael: Gellerts Briefpraxis und Brieflehre. Der Anfang einer neuen Briefkultur. Darmstadt 1995. S. 61–66.
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winden. Gellert geht davon aus, dass im Gespräch die Empfindungen des Sprechers unverfälschter als in einem formelhaft geschriebenen Text artikuliert werden. Nach seinem Modell soll daher die ‚Sprache des Herzens‘ zum Muster für den Brief werden.139 Er entwickelt aber keine wirkliche Theorie dieses neuen Stils, sondern argumentiert zumeist anhand von Beispielen, die, ausgehend von einer konkreten Situation, Hinweise zur richtigen Schreibart vermitteln. So rät er etwa, dass in einem Dankschreiben für einen Gönner „die Empfindung der Dankbarkeit auf eine lebhafte Art“140 ausgedrückt werden soll. Obwohl Briefe Ausdruck individueller Gefühle sind, betrachtet Gellert sie weiterhin als rhetorisches Konstrukt, wie das auch bei Goethes Schreibanweisungen an die Schwester zu konstatieren ist. Rationale Entscheidungen, die sich am ‚Geschmack‘ orientieren, sind in den Briefen die Basis der Verständigung.141 Aptum und iudicium bleiben wie der Dreischritt von inventio, dispositio und elocutio unangetastet142 – auch bei Goethe, der seiner Schwester unumwunden Schreibanweisungen erteilt. Natürlichkeit des Briefes ist ein Effekt bewusst gewählter rhetorischer Mittel, in der „Schwedische[n] Gräfin“ ist der Zusammenhang pointiert formuliert, und Gellert akzentuiert das Natürlichkeitspostulat als einen Effekt von dissimulatio artis und evidenter Darstellungsweise: Ich weis, daß es eine von den Haupttugenden einer guten Art zu erzählen ist, wenn man so erzählt, daß die Leser nicht die Sache zu lesen, sondern selbst zu sehen glauben, und durch
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Vgl. Kaiser, Claudia: „Geschmack“ als Basis der Verständigung. Chr. F. Gellerts Brieftheorie. Frankfurt am Main, Berlin u.a. 1996. S. 57–59. Gellert, Christian Fürchtegott: Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe hrsg. v. Bernd Witte. Bd. 4: Roman, Briefsteller. Hrsg. v. B. W., Werner Jung u. a. Berlin u. New York, NY 1989. S. 116. Vgl. Kaiser, Claudia: „Geschmack“ als Basis der Verständigung. Chr. F. Gellerts Brieftheorie. Frankfurt am Main, Berlin u.a. 1996. S. 16–23. Vgl. Barner, Wilfried: „Beredte Empfindungen“. Über die geschichtliche Position der Brieflehre Gellerts. In: „… aus der anmuthigen Gelehrsamkeit“. Tübinger Studien zum 18. Jahrhundert. Dietrich Geyer zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Eberhard Müller. Tübingen 1988. S. 7–23, hier: S. 16–19. Reinhard M. G. Nickisch hat den neuen Briefstil, der im 18. Jahrhundert durch Gellert propagiert wird, gegen vorherige stilistische Anforderungen an einen gelungenen Brief abgegrenzt. Der traditionelle Brief ist demnach durch Kürze, Ordnung, Deutlichkeit, Zierlichkeit und Üblichkeit gekennzeichnet, also an die rhetorischen Konzepte brevitas, ordo, perspicuitas, ornatus und usus angelehnt. Der neue Briefstil hingegen ist vor allem vom Streben nach Angemessenheit, Natürlichkeit, Lebendigkeit und Individualität geprägt (vgl. R. M. G. N.: Die Stilprinzipien in den deutschen Briefstellern des 17. und 18. Jahrhunderts. Göttingen 1969. S. 204–223.). Die neuen Ideale bevorzugen also andere Theoreme aus dem rhizomatischen System der Rhetorik, bleiben aber mit der rhetorischen Tradition verbunden. Sie greifen vor allem Theoreme auf, die die Bedeutung der rednerischen ethos-Wirkung, von Angemessenheit und variatio akzentuieren (vgl. dazu auch knapp Nörtemann, Regina: Brieftheoretische Konzepte im 18. Jahrhundert und ihre Genese. In: Ebrecht, Angelika, R. N. u. a. (Hrsg.): Brieftheorie des 18. Jahrhunderts. Texte, Kommentare, Essays. Stuttgart 1990. S. 211–224, hier: S. 213).
eine abgenötigte Empfindung sich unvermerkt an die Stelle der Person setzen, welcher die Sache begegnet ist.143
Auch in seinen Briefstellern reflektiert Gellert die kommunikativen Bedingungen des Briefschreibens. So heißt es in seinem erfolgreichsten Briefsteller „Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen“, der seit 1751 in zahlreichen Auflagen erschienen ist: Man hat mehr Zeit, wenn man schreibt, als wenn man spricht. Man kann also, ohne Gefahr unnatürlich zu werden, etwas sorgfältiger in der Wahl seiner Gedanken und Worte, in der Wendung und Verbindung derselben seyn.144
Das Postulat einer am Gespräch orientierten Natürlichkeit bleibt also keineswegs ungebrochen. Markwardt hat daher vom Ideal einer „behutsame[n] ‚Als-Ob‘Natürlichkeit“145 gesprochen. Ohnehin ist Gellerts Vergleich von Brief und Gespräch weniger innovativ, als häufig angenommen, denn ein Blick in die Geschichte der Epistolographie lässt die Verbindung von Brief und Gespräch als topische Struktur erscheinen.146 Der Vergleich von Brief und Gespräch bei Gellert erhält ihren reformerischen Wert vor allem dadurch, dass er an private Gespräche denkt, während etwa Christian Weise bei der Analogie von Brief und Rede das Kompliment als mustergültige Form mündlicher Kommunikation vor Augen hat.147 Gellert hingegen argumentiert: „Die Regeln des Ceremoniels schränken die natürliche Art, zu denken, so sehr ein, daß man diese oft unterdrücken muß, wenn man jenes beobachten will.“148 Briefe, die den Stilidealen des „Ceremoniels“ folgen, wir–––––––––––– 143
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Gellert, Christian Fürchtegott: Leben der schwedischen Gräfinn von G***. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe hrsg. v. Bernd Witte. Bd. 4: Roman, Briefsteller. Hrsg. v. B. W., Werner Jung u. a. Berlin u. New York, NY 1989. S. 38. Evidentia ist bei Gellert ein ganz und gar technisches Phänomen, während Goethe die evidentiaLehre mit dem Prinzip der Selbstaffizierung in Verbindung bringt und in ihr eine Möglichkeit zum Ausdruck individueller Empfindungen entdeckt (vgl. Abschnitt 2. 2 dieser Arbeit). Gellert, Christian Fürchtegott: Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe hrsg. v. Bernd Witte. Bd. 4: Roman, Briefsteller. Hrsg. v. B. W., Werner Jung u. a. Berlin u. New York, NY 1989. S. 112–113. Markwardt, Bruno: Geschichte der deutschen Poetik. Bd. 2: Aufklärung, Rokoko, Sturm und Drang. Berlin 1956. S. 522. Vgl. Müller, Wolfgang G.: Artikel „Brief“. HWRh. Bd. 2. Sp. 60–76, hier: Sp. 61; dazu auch Schöne, Albrecht: Über Goethes Brief an Behrisch vom 10. November 1767. In: Festschrift für Richard Alewyn. Hrsg. v. Herbert Singer u. Benno von Wiese. Köln u. Graz 1967. S. 193–229, hier: S. 207. Vgl. Weise, Christian: Politischer Redner. Das ist eine kurze und eigentliche Nachricht […]. Leipzig 1683 (Nachdruck: Kronberg/Taunus 1974). S. 219. Gellert, Christian Fürchtegott: Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe hrsg. v. Bernd Witte. Bd. 4: Roman, Briefsteller. Hrsg. v. B. W., Werner Jung u. a. Berlin u. New York, NY 1989. S. 141.
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ken „schwer und steif“.149 Gellert hat diese Überlegungen jedoch in seinen eigenen Musterbriefen nicht wirklich umgesetzt, und so fallen diese, wie etwa Conrady kritisiert, sehr viel konventioneller aus, als die theoretischen Äußerungen es erwarten lassen: Gleichwohl zeigen Gellerts Musterbriefe, daß jene Natürlichkeit und Ungezwungenheit, die er theoretisch proklamierte, durch Schicklichkeit und Gemessenheit, Wohlanständigkeit und Ausgewogenheit gezähmt wurden.150
Diese Art Mäßigung deutet sich allerdings in der Theorie an, denn das natürliche Gespräch, das Gellert zum Maßstab des Briefes macht, meint eine durchaus artifizielle Form der Kommunikation, jedenfalls lehnt er Briefe ab, die „so schmutzig, so gemein [sind,] als ob ein Brief die Freyheit hätte, einem unordentlichem Caffeegespräche völlig ähnlich zu seyn.“ 151 Solche Grenzen akzeptiert zunächst auch Goethe, man erinnere sich nur an den zitierten Brief an die Schwester. Über den Beginn des Studiums in Leipzig geben neben den Nachrichten an die Schwester vor allem Goethes Briefe an Johann Jacob Riese Auskunft. Im Oktober 1765 berichtet er diesem von einer Veranstaltung, die er bei Johann August Ernesti besucht hat: „Im Ernste ich habe heute zwei Collegien gehört, die Staatengeschichte bey Professor Böhmen, und bei Ernesti über Cicerons Gespräche vom Redner. Nicht wahr das ging an.“152 Dieser neutralen Erwähnung steht ein ganz anderes Urteil in Dichtung und Wahrheit gegenüber: [Ich] hatte mir aus einer Vorlesung Ernesti’s über Cicero’s Orator das Beste versprochen; ich lernte wohl auch etwas in diesem Collegium, jedoch über das, woran mir eigentlich gelegen war, wurde ich nicht aufgeklärt. Ich forderte einen Maßstab des Urteils, und glaubte gewahr zu werden, daß ihn gar Niemand besitze: denn keiner war mit dem Andern einig, selbst wenn sie Beispiele vorbrachten […].153
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Ebd. Conrady, Karl Otto: Goethe: Leben und Werk. Bd. 1: Hälfte des Lebens. Frankfurt am Main 1995. S. 77. Auch Albrecht Schöne hat diese Diskrepanz beobachtet (vgl. A. S.: Über Goethes Brief an Behrisch vom 10. November 1767. In: Festschrift für Richard Alewyn. Hrsg. v. Herbert Singer u. Benno von Wiese. Köln u. Graz 1967. S. 193–229, hier: S. 208–209). Eine andere Position vertritt Reinhard M. G. Nickisch, der behauptet, es gebe eine vollkommene Deckung zwischen Theorie und Praxis der Briefkunst Gellerts (vgl. R. M. G. N.: Brief. Stuttgart 1991. S. 81). Gellert, Christian Fürchtegott: Gedanken von einem guten deutschen Briefe. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe hrsg. v. Bernd Witte. Bd. 4: Roman, Briefsteller. Hrsg. v. B. W., Werner Jung u. a. Berlin u. New York, NY 1989. S. 103. Goethe an Johann Jacob Riese. Brief vom 20. bis 21. Oktober 1765. WA IV, 1. S. 14. Goethe: Dichtung und Wahrheit. MA 16. S. 280. Leider lässt sich nicht mehr rekonstruieren, ob Ernesti über Ciceros „Orator“ oder über „De oratore“ gelesen hat (vgl. das biographische Stammblatt zu Ernesti, Signatur Universitätsarchiv Leipzig: Film 538, Nr. 196– 198). Ich danke Petra Hesse vom Universitätsarchiv Leipzig für die umsichtigen Recherchen in dieser Sache.
Auch wenn die Vorlesung Ernestis im Nachhinein in „Dichtung und Wahrheit“ negativ präsentiert wird, hat Goethe sie zunächst neutral und nicht kritisch Riese gegenüber dargestellt, anders etwa als wenig später den prominenten Lehrer Gottsched. Johann August Ernesti, selbst in Schulpforta ausgebildet und seit 1756 in Leipzig „o. Professor für Beredsamkeit“154, dürfte für Goethes Auseinandersetzung mit der rhetorischen Tradition nämlich durchaus von Bedeutung gewesen sein. Ernesti verstand sich selbst als neutraler Vermittler, setzte gegen den Subjektivismus der Pietisten und Empfindsamen präzise Lektüre.155 Seine „Clavis Ciceroniana“156 als Mittel zur Erschließung von Ciceros Schriften, die das von Cicero verwendete Vokabular in Rückgriff auf die Stellen erläutert, ist eine große philologische Leistung der Zeit und kann als Beispiel für sein vom Neuhumanismus geprägtes Verständnis von Rhetorik gelten, sie dokumentiert die präzise Kenntnis der Schriften Ciceros, die Ernesti den Titel „Germanorum Cicero“ eintrug.157 Goethe war aller Wahrscheinlichkeit nach auch mit Ernestis erfolgreicher Schrift „Initia rhetorica“ vertraut.158 Ernesti steht mit diesem Lehrbuch für die präzise philologische und hermeneutische Erschließung der antiken Tradition. In den „Initia“ liefert er eine auf inventio und elocutio fixierte Rhetorik, die Einseitigkeiten barocker Rhetorik ebenso meidet wie die Fixierung der Rhetorik der Frühaufklärung auf das docere.159 Er definiert zunächst in Anlehnung an Aristoteles’ „Rhetorik“ inventio als „facultas videndi in unaquaque re, quid in ea sit ad persuadendum idoneum“.160 Doch setzt er diese Fähigkeit nicht mit rationaler Argumentation gleich, auch die Affekte gehören für Ernesti in den Bereich
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Bautz, Friedrich Wilhelm (Hrsg): Artikel „Johann August Ernesti“. In: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. 1. Herzberg 1990. Sp. 1535–1536, hier: Sp. 1535. Vgl. Kaemmel, Otto: Geschichte des Leipziger Schulwesens. Vom Anfange des 13. bis gegen die Mitte des 19. Jahrhunderts. Leipzig u. Berlin 1909. S. 336–345. Ernesti, Johann August: Clavis Ciceroniana sive indices rerum et verborum philologicocritici in opera Ciceronis accedunt graeca Ciceronis necessariis observationibus […]. 4. Auflage. Halle 1777 (Erstauflage: Leipzig 1739). Vgl. Bautz, Friedrich Wilhelm (Hrsg.): Artikel „Johann August Ernesti“. In: Biographischbibliographisches Kirchenlexikon. Bd. 1. Herzberg 1990. Sp. 1535–1536, hier: Sp. 1535. August Wilhelm Ernesti, ein Enkel Johann Augusts, legte diese Schrift bereits 1772 den einführenden Vorlesungen zu Grunde. Vgl. die Ankündigungen der Vorlesungen der Universität Leipzig „Rector Universitatis Literarum Lipsiensis Lectiones Publicas“ für 1772 (Signatur Universitätsarchiv Leipzig Phil. Fak. 01 B 3/30. Bd. 1. Blatt 22). Vgl. Ernesti, Johann August: Initia Rhetorica. Editio Nova. Leipzig 1770. S. 18 (Erstauflage: Leipzig 1750). Ebd. S. 19. Vgl. auch Haase, Fee-Alexandra: Heinrich Tolles Lehrbuch „Rhetorica Gottingensis“. Ein Dokument der Kultivierung rhetorischer Lehre an einem Gymnasium Deutschlands im 17. Jahrhundert. In: Fundus 4 (1999) S. 311–333, hier: S. 322–323.
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der inventio und haben in der Rede eine klar definierte Funktion.161 Weiterhin enthält die kurze Schrift eine umfassende Liste zentraler Redefiguren und Stilmittel, die Goethe zur Bewusstmachung der Möglichkeiten sprachlichen Ausdrucks ohne Zweifel hilfreich gewesen sein dürfte.162 Dabei meidet Ernesti ein Ausufern der elocutio, indem er die Bedeutung der inventio hervorhebt und auf die Angemessenheit der Figuren achtet. Dass Ernesti keinen expliziten Maßstab formuliert, wie Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ vorbringt, ist, wenn man den Schriften folgt, durchaus nachvollziehbar. Dies lässt sich aber auch als eine Leistung Ernestis sehen, der regelpoetische Starre und ausufernde Verwendung ornativer Mittel meidet, wie seine Behandlung des elegantia-Ideals belegt, in der puritas, perspicuitas und urbanitas zu wichtigen Maßstäben werden, die als virtutes den Stil kontrollieren, wobei insbesondere die Forderung nach perspicuitas als Korrektiv der urbanitas wirkt.163 Ernesti vermittelt in seinen „Initia“ Rhetorik nicht nur als regelgeleitete Disziplin, sondern thematisiert auch Traditionslinien, die die Bedeutung der Empfindung des Redners und Künstlers hervorheben und diese für eine Grundlage wirkungsvoller sprachlicher Kommunikation halten. So wird der bei Quintilian zu findende Grundtopos der Selbstaffizierung in Kurzform zitiert: „pectus est quod disertos facit“.164 Goethe hat die Formel vermutlich hier kennen gelernt, denn er zitiert sie noch Jahre später in dieser verkürzten Form. 165 Die Briefe an Riese sind hier auch wegen ihrer Briefgedichte von Interesse, die für Goethe ein wichtiges Medium der theoretischen Reflexion über Poetik, Rhetorik und Literatur waren, womit eine Darstellungsweise gewählt ist, die später für ihn typisch bleibt, denn auch spätere ästhetische „Theorieschriften“ verfahren häufig weniger logisch stringent als literarisch assoziativ, selbst wenn sie nicht mehr im Medium des Gedichts auftreten. In einem Brief an Johann Jacob Riese, den Goethe in der Zeit vom 30. Oktober bis zum 6. November 1765 schrieb, lässt sich die kritische Stellung Goethes gegenüber zeitgenössischen Schriftstellern und seinen akademischen Lehrern, aber auch die genaue Kenntnis der Poetik- und Rhetoriktheorie besonders gut nachvollziehen. Zunächst versucht Goethe seinem Freund Riese ein Bild von der auffälligen Erscheinung Gottscheds zu geben und zitiert dazu den Beginn der „Ars Poetica“ von Horaz: „Humano –––––––––––– 161 162 163 164 165
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Vgl. Ernesti, Johann August: Initia Rhetorica. Editio Nova. Leipzig 1770. Teil I. Cap VIII. S. 48–55. Vgl. ebd. Teil II, Cap. II bis V. S. 153–191. Vgl. ebd. Teil II, Cap. I. S. 134. Ernesti, Johann August: Initia Rhetorica. Editio Nova. Leipzig 1770. Teil I, Cap. VIII. S. 54. Vgl. Quint. Inst. orat. X, 7, 15. Goethe hatte die Formel als Überschrift eines Gedichts aus der Reihe „Epigrammatisch“ vorgesehen (vgl. Lesarten „Epigrammatisch“. WA I, 3. S. 411), das später den Titel „Grundbedingung“ erhalten hat.
capiti, cervicem jungens equinam“ – „Wer einem Menschenkopf mit einem Pferdenacken verbindet“,166 um auch dessen Bewertung zu adaptieren: „Derisus a Flacco non sine jure fuit“ – „Von Horaz wurde der nicht ohne Recht verspottet“.167 Gottsched wird also, als Goethe in Leipzig studiert, nicht nur als einer der Meinungsführer der literarischen und poetischen Debatten der Zeit, sondern längst auch als eine Figur des Spottes wahrgenommen. Diese Ambivalenz spiegelt der Brief in aller Deutlichkeit, denn neben den lateinisch verschlüsselten bissigen Bemerkungen wird auf die Einmaligkeit Gottscheds verwiesen: Er sei „so groß alß wär er vom alten Geschlechte“,168 heißt es, eine Anspielung auf seine Körpergröße, die spöttisch und bewundernd zugleich ausfällt. Die Mitteilungen an Freund Riese sind voraussetzungsreich, so spielt der Pferdevergleich, mit dem Goethe Gottsched beschreibt, wie schon erwähnt wurde, auf den Beginn der „Ars poetica“ des Horaz an, diese wiederum hatte Gottsched seiner „Critischen Dichtkunst“ vorangestellt. Weiterhin könnte eine Anspielung auf die vernichtende Kritik Gottscheds an Edward Young und dessen Genie-Begriff vorliegen, denn in seiner Rezension zu Young zitiert Gottsched genau diese Verse, um die Position Youngs lächerlich zu machen.169 Somit wird die Schilderung von Gottscheds Aussehen auf geschickte Weise in den Kontext der ästhetischen Theorie eingebettet, die Goethe dem Anschein nach genau kennt. Die bewusste Auseinandersetzung mit poetischen und rhetorischen Theorien lässt sich an der Darstellungsform ablesen, denn Goethe versucht Gottscheds Aussehen mit rhetorischen Mitteln anschaulich zu machen und nimmt dieses Verfahren als Technik wahr. Durch das montageartige Zusammenfügen von Teilen soll sich ein Bild Gottscheds ergeben: „Nun nimm geliebter Freund die jetzt beschriebnen Stücke / So zeiget glaub es mir sich Gottsched deinem Blicke“.170 Doch die Schilderung Gottscheds bildet nur den Auftakt: Die rhetorische und poetische Reflexion wird in dem Brief noch sehr viel weiter fortgeführt. Mit verhältnismäßig wenigen Worten gelingt es Goethe, seine Meinung zu weiteren wichtigen Leipziger Gelehrten und Schriftstellern darzustellen und diese zueinander in Beziehung zu setzen. Dabei sind die theoretischen Reflexionen sehr geschickt in das Beziehungsgeflecht der beiden Freunde integriert. Goethe –––––––––––– 166 167 168 169
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Goethe an Johann Jacob Riese. Brief vom 30. Oktober bis 6. November 1765. WA IV, 1. S. 17 (eigene Übersetzung, O. K.). Vgl. auch MA 1, 1. S. 85. Goethe an Johann Jacob Riese. Brief vom 30. Oktober bis 6. November 1765. WA IV, 1. S. 17 (eigene Übersetzung, O. K.). Vgl. auch MA 1, 1. S. 85. Goethe an Johann Jacob Riese. Brief vom 30. Oktober bis 6. November 1765. WA IV, 1. S. 17. Vgl. auch MA 1, 1. S. 84. Vgl. Gottsched, Johann Christoph: Rezension „Young, Edward: Gedanken über die Original-Werke“. Wieder abgedruckt in: Young, Edward: Gedanken über die Original-Werke. Aus dem Engl. von Hans Ernst von Teubern. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1760. Hrsg. v. Gerhard Sauder. Heidelberg 1977. S. [81]–[88], hier: S. [88]. Goethe an Johann Jacob Riese. Brief vom 30. Oktober bis 6. November 1765. WA IV, 1. S. 18. Vgl. auch MA 1, 1. S. 85.
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berichtet nämlich, bevor das Gedicht mit den theoretischen Reflexionen folgt, zunächst knapp vom „Hofrat“ genannten gemeinsamen Bekannten Wilhelm Karl Ludwig Moors, der in Göttingen studiert, und leitet dann mit einer Frage zu dem Gedicht und somit zur Fortsetzung des poetisch-rhetorischen Diskurses über: Apropos. Hast du nicht gehört? Der Hofraht beklagt sich über den Mangel der Mädgen zu Göttingen. Zu was will er ein Mädchen? Um die retohrischen [!] Figuren auszuüben Und nach der neuesten Art recht hübnerisch zu lieben Zu sehn ob die Protase ein hartes Herz erweicht. Zu sehn ob man durch Reglen der Liebe Zweck erreicht Zu sehn ob Mimesis, die Ploce, die Sarkasmen So voller Reitzung sind wie Neukirchs Pleonasmen Und ob er in dem Tohne, wie er den Ulfo singt, Mit des Corvinus Versen, das Herz der Schönen zwingt.171
Hier sind nun die wichtigsten Leipziger Autoritäten versammelt, und zu Gottsched gesellen sich Johann Hübner und Gottlob Siegmund Corvinus, zudem wird indirekt die Position Gellerts dargestellt. Goethe zweifelt nämlich daran, ob sich durch die bloß rhetorische Kommunikation „das Herz der Schönen“ gewinnen lässt, „ob man durch Reglen der Liebe Zweck erreicht“, und befindet sich zumindest in diesem Punkt in gedanklicher Nähe zu seinem Lehrer Gellert, bei dem die bloße Anwendung von Regeln nicht mehr als Garant rednerischen und poetischen Erfolgs gesehen wird: „Wie viel Demosthenes und Cicerone, wie viel Xenophonte und Livios, wie viel Homere und Virgile müßten wir haben, wenn die Regeln Redner und Poeten zeugten?“172 Ohne „Genie“173 entsteht nach Gellert kein gelungenes Werk, und die Vorstellung „wer nach Regeln schreibt, der ist ein Poet!“174 hält er für eine unglückselige Idee. Wie gut Goethe Gellert kennt, beweist auch, dass Goethe gerade den ausufernden Gebrauch der Pleonasmen, den Gellert an Neukirch kritisiert,175 herausgreift, allerdings nimmt er –––––––––––– 171 172
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Goethe an Johann Jacob Riese. Brief vom 30. Oktober bis 6. November 1765. WA IV, 1. S. 18. Gellert, Christian Fürchtegott: Wie weit sich der Nutzen der Regeln in der Beredsamkeit und Poesie erstreckte. Eine Rede, bey dem Beschlusse der öffentlichen rhetorischen Vorlesung gehalten. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe hrsg. v. Bernd Witte. Bd. 5: Poetologische und Moralische Abhandlungen, Autobiographisches. Hrsg. v. Werner Jung, John F. Reynolds u. a. Berlin u. New York, NY 1994. S. 197–211, hier: S. 201. Ebd. S. 203. Ebd. S. 204. Vgl. Gellert, Christian Fürchtegott: Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe hrsg. v. Bernd Witte. Bd. 4: Roman, Briefsteller. Hrsg. v. B. W., Werner Jung u. a. Berlin u. New York, NY 1989. S. 117.
Neukirch vor der Kritik an der regelmäßigen Schreibart zumindest ironisch gebrochen in Schutz.176 Mit Gottlob Siegmund Corvinus, der unter dem galanten Namen Amaranthes publizierte, wird weiterhin ein prominenter Leipziger Dichter erwähnt, dessen Verse zur Überredung der Mädchen wie Neukirchs Pleonasmen durchaus geeignet sein könnten. Corvinus könnte als Experte für Frauenangelegenheiten betrachtet werden, sein „Frauenzimmer-Lexikon“, das galante Verhaltensweisen für Frauen darstellt, war ein überaus erfolgreiches Werk, zudem waren seine Liebes- und Scherzgedichte populär.177 Amaranthes orientiert sich am Ideal galanter Natürlichkeit, die von ihm aber noch deutlich als technischer Effekt verstanden wird.178 Sprachlich geschickt, pointiert und wirkungsvoll, wie die Gedichte von Corvinus sind, weiß Goethe nicht, ob sie ein probates Mittel in der Liebeskommunikation sind. Sein Interesse an der Rhetorik steht nämlich in einem durchaus pragmatischen Kontext („Mädgen“), der die Bewertung von Corvinus ebenso beeinflusst wie die von Neukirch. Auch Johann Hübner wird vor diesem Hintergrund betrachtet, doch „hübnerisch zu lieben“ hält Goethe für wenig verheißungsvoll. Hübner ist zwar ein Vertreter einer aufgeklärten Gelehrsamkeit, die genaue Kenntnis der res gilt ihm als Grundlage von Redekunst und Poesie, allerdings versteht er die Aneignung der res noch sehr formalistisch und setzt in seinen „Kurtzen Fragen aus der Oratoria“ die rednerische inventio mit dem Exzerpieren von Texten gleich.179 Poesie und Literatur werden von Hübner ähnlich technisch gesehen, sein „Poetisches Hand-Buch“ enthält Reimregister und formelhafte Chrien, und der Autor behauptet: „Wer zur Deutschen Poesie Lust –––––––––––– 176
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Goethe kommt damit zu einer überzeugenden Einschätzung Neukirchs, der sich entgegen Gellerts Kritik in seinen theoretischen Schriften am Ideal der Natürlichkeit orientiert und eine bloß regelmäßige Schreibart als einen kanzlistischen Stil abwertet. Vgl. Till, Dietmar: Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2004. S. 253–257. Corvinus, Gottlob Siegmund: Nutzbares, galantes und curiöses Frauenzimmer-Lexicon. Hrsg. v. Manfred Lemmer. Frankfurt am Main 1980 (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1715). Zur Bewertung dieses Lexikons vgl. Meise, Helga: Galanterie und Gründlichkeit. Der galante Diskurs im Spiegel der Lexika von Somaize, Lehms und Amaranthes. In: Borgstedt, Thomas u. Andreas Solbach (Hrsg.): Der galante Diskurs. Dresden 2001. S. 127– 145, hier: S. 142–145. Das wohl bekannteste literarische Werk von Corvinus ist eine in zwei Bänden publizierte Sammlung von Gedichten. Vgl. G. S. C.: Casualcarmina. Proben der Poesie In Galanten- Verliebten- Vermischten- Schertz- und Satyrischen Gedichten. 2 Bde. Frankfurt am Main u. Leipzig 1710–1711. Vgl. Ingen, Ferdinand van: Epochenschwelle und Gattungskonvention in der galanten Dichtung. Liebesklage und Abschied. Galanterie und Gründlichkeit. Der galante Diskurs im Spiegel der Lexika von Somaize, Lehms und Amaranthes. In: Borgstedt, Thomas und Andreas Solbach (Hrsg.): Der galante Diskurs. Dresden 2001. S. 87–110, hier: S. 87–88. Vgl. Hübner, Johann: Kurtze Fragen aus der Oratoria zu Erleichterung der Information abgefasset, und mit einem Anhange, von dem Gebrauche dieser Fragen vermehret von Johann Hübnern. 7. Auflage. Leipzig 1716. S. 3.
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hat“, der könne sich ganz auf Präparation, exercitatio und imitatio verlassen, besonderes Talent fordert er indes nicht.180 Goethe hat Hübner in dem Gedicht somit durchaus zu Recht als Musterbeispiel einer an „Reglen“ orientierten Literatur herausgegriffen, dessen Zitat der Formel „Poeta non fiunt, sed nascuntur“181 im „Poetischen Handbuch“ wirklich nur topischen Charakter hat. Trotz der Auseinandersetzung Goethes mit Gellert, Corvinus und Neukirch und einer irritierten Bewunderung für Gottsched sollte man wohl nicht wie Wolfdietrich Rasch von einer ungebrochenen „Aneignung der Aufklärungskultur und der ihr zugehörigen Dichtung des Rokoko“182 sprechen. Goethe äußert sich schon in Leipzig der Regelpoetik und -rhetorik gegenüber kritisch, die etwa auch Gellert vorsichtig gegenüber Gottsched in Zweifel zieht. Galante Literatur, die natürlich erscheint, Natürlichkeit noch im Sinne dissimulierter Künstlichkeit versteht, hat für Goethe durchaus einen gewissen Reiz, doch ist er in Leipzig skeptisch geworden, ob Regeln taugen, um in der Dichtung Empfindungen zugänglich zu machen, ob Liebe und Gefühl ein Anwendungsfall der „retohrischen Figuren“ sein können. So ist das in einem pragmatischen Kontext entstandene Gedicht ein erster Vorschein der Ausdrucksästhetik der Geniephase, indem es ars und ‚authentische‘ Empfindung gegeneinander ausspielt, die Beziehung zur antiken Rhetorik aber eben doch aufrechterhält. Rhetorik und Poetik präsentieren sich Goethe in Leipzig so uneinheitlich wie die Lehrer und Autoritäten, an die er sich hält: Von Ernesti, dem philologisch exakten Vermittler antiker rhetorischer Tradition, über die rationalistische Aufklärungsrhetorik und -poetik Gottscheds bis zum auf Natürlichkeit und Empfindung bedachten Gellert reicht das Spektrum. Leipzig bedeutet für Goethe daher eine Irritation: Die naive Sicherheit, mit der er in Frankfurt erste eigene Texte verfasst hat, wird gleich aus zwei Richtungen torpediert, einerseits durch das technische Wissen, das etwa Ernesti, Gottsched und Gellert vermitteln, andererseits durch zeitgenössische galante Dichtung im Stile Neukirchs oder Corvinus’, der Goethe zwar nicht unkritisch gegenübersteht, die aber doch sprachlich innovativ wirkt, stilbildend ist. So schreibt im April 1766 ein verunsicherter Goethe an seinen Freund Riese: Du weißt, wie sehr ich mich zur Dichtkunst neigte, Wie großer Haß in meinem Bußen schlug, Mit dem ich die verfolgte, die sich nur
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Hübner, Johann: Neu-Vermehrtes Poetisches Hand-Buch, das ist eine kurtzgefaste Anleitung zur Deutschen Poesie. Leipzig 1731. S. 1. Ebd. S. 138. Rasch, Wolfdietrich: Der junge Goethe und die Aufklärung. In: Grimm, Reinhold u. Conrad Wiedemann (Hrsg.): Literatur und Geistesgeschichte. Festschrift für Heinz Otto Burger. Berlin 1968. S. 127–139, hier: S. 127.
Dem Recht und seinem Heiligthume weihten Und nicht der Mußen sanften Lockungen Ein offnes Ohr und ausgestreckte Hände Voll Sehnsucht reichten. Ach du weißt mein Freund, Wie sehr ich (und gewiß mit Unrecht) glaubte, Die Muße liebte mich und gäb mir oft Ein Lied. Es klang von meiner Leyer zwar Manch stolzes Lied, das aber nicht die Musen, Und nicht Apollo reichten. Zwar mein Stolz Der glaubt es, daß so tief zu mir herab Sich Götter niederließen, glaubte, daß Aus Meisterhänden nichts Vollkommners käme, Als es aus meiner Hand gekommen war. […] Allein kaum kam ich her, als schnell der Nebel Von meinen Augen sank, als ich den Ruhm Der großen Männer sah, und erst vernahm, Wie viel dazu gehörte, Ruhm verdienen. Da sah ich erst, daß mein erhabner Flug, Wie er mir schien, nichts war als das Bemühn Des Wurms im Staube, der den Adler sieht, Zur Sonn sich schwingen und wie der hinauf Sich sehnt. Er sträubt empor, und windet sich, Und ängstlich spannt er alle Nerven an Und bleibt am Staub.183
Dieses Briefgedicht illustriert die Ambivalenz der Leipziger Erfahrungen: Einerseits ist Goethe gewachsen, sein Wissen um Rhetorik und Poetik hat sich erheblich vergrößert, zugleich aber erlebt er ein Scheitern, denn die rhetorische und poetische Theorie bietet keine Anleitung, wie ein gelungenes Kunstwerk auszusehen habe, sie erzeugt vielmehr Verunsicherung, so dass Goethes schriftstellerische Produktivität erlahmt. Dieses Briefgedicht reflektiert die Alternative von ars und natura, die eingebettet in traditionelle Inspirationstopoi wahrgenommen wird, und relativiert sowohl die Bedeutung der Kunst als auch die der Natur. Zwar hat Goethe nun eingesehen, dass die Vorstellung, dass aus „Meisterhänden nichts Vollkommers käme, / Als es aus meiner Hand gekommen war“, von Naivität zeugt. Darin liegt eine Leistung Leipzigs: „kaum kam ich her, als schnell der Nebel / Von meinen Augen sank“, und diese Einsicht ist ohne Zweifel eine Wirkung der „großen Männer“, von denen Goethe in Anspielung auf Gottsched und Gellert schreibt. Aber die Irritation, die diese Erkenntnis auslöst, ist so stark, dass Goethe als Schriftsteller zunächst daran scheitert, wie er mit dem Bild vom „Wurm“, der nicht emporkommen kann, verdeutlicht. Wie sehr Goethe aber auch verunsichert war, gerade in der Darstellung von Zweifeln und Scheitern wird er zum Dichter – das ist der performative Selbstwiderspruch des Textes. –––––––––––– 183
Goethe an Johann Jacob Riese. Brief vom 28. April 1766. WA IV, 1. S. 45–46.
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Das Erlahmen der literarischen Produktion, die zunächst technisch wenig reflektiert verlief, obwohl er im schulischen Unterricht bereits wirkungsvolle Ausdrucksmittel kennen gelernt hatte, wird von Goethe vor allem einem Lehrer angelastet, den in besonderem Maße der Zorn des Studenten trifft, nämlich Christian August Clodius. In „Dichtung und Wahrheit“ heißt es über ihn: [E]r kritisierte nur das Einzelne, korrigierte gleichfalls mit roter Dinte, und man befand sich in Gesellschaft von lauter Fehlern, ohne eine Aussicht zu haben, worin das Rechte zu suchen sei? Ich hatte ihm einige von meinen kleinen Arbeiten gebracht, die er nicht übel behandelte. Allein gerade zu jener Zeit schrieb man mir von Hause, daß ich auf die Hochzeit meines Oheims notwendig ein Gedicht liefern müsse. […] Er nahm die Sache streng, […] indem er das Parodistische, was denn doch in dem Einfall lag, gar nicht beachtete […].184
Clodius hat bei seiner Kritik an einem für die Hochzeit von Goethes Onkel verfassten Gedicht den Blick für das Ganze des Textes vermissen lassen, die Absicht des Autors verkannt, so der Vorwurf. Zweifel an der theoretischen Kompetenz von Clodius sind durchaus angebracht: Während Goethe in Leipzig war, erschienen dessen umfangreiche „Versuche aus der Literatur und Moral“, die über eine pathetische Aufarbeitung der Literaturgeschichte nicht hinausgehen.185 Wie sehr Clodius außerhalb der ästhetischen Diskussion stand, zeigt exemplarisch seine Darstellung Homers als Genie, die keinerlei Anknüpfung an den Geniediskurs der Zeit erkennen lässt.186 Doch sollte man aus diesem Werk nicht vorschnell ableiten, dass Clodius ein schlechter Lehrer war, denn die eigenen literarischen Proben des Autors sind, obwohl er mitunter zu einem überzogenen ernsten pathos neigt, stilistisch gelungen. Wenn Goethe nach der Kritik durch Clodius über mehrere Monate keine neuen Texte schreibt, ist dies schließlich auch ein Indiz dafür, dass er etwas dazugelernt hat, seine literarischen Fertigkeiten nun besser einschätzen kann als zuvor. Ein weiterer Brief Goethes an seine Schwester stützt diese Vermutung: Da ich ganz ohne Stolz bin, kann ich meiner innerlichen Uberzeugung glauben, die mir sagt daß ich einige Eigenschaften besitze die zu einem Poeten erfordert werden, und daß ich durch Fleiß einmal einer werden könnte. Ich habe von meinem zehenten Jahre, angefangen Verse zu schreiben, und habe geglaubt sie seyen gut, jetzo in meinem 17ten sehe ich daß sie schlecht sind, aber ich bin doch 7 Jahre älter, und mache sie um 7 Jahre besser. Hätte mir einer anno 62. Von meinem Joseph gesagt, was ich jetzt selbst davon sage ich würde so niedergeschlagen worden seyn, daß ich nie eine Feder angerührt hätte. Vorm Jahre als ich die scharfe Critick von Clodiusen über mein Hochzeitgedichte laß, entfiel mir aller Muht und ich brauchte ein halbes Jahr Zeit biß ich mich wieder erholen und auf Befehl meiner Mädgen einige Lieder verfertigen konnte. Seit dem November habe ich
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Goethe: Dichtung und Wahrheit. MA 16. S. 324. Vgl. Clodius, Christian August: Versuche aus der Literatur und Moral. 4 Bde. Leipzig 1767–1769. Allerdings verspricht Clodius selbst im Vorwort auch nicht mehr als einen solchen historischen Durchgang (vgl. ebd. Bd. 1. Leipzig 1767. S. 2–3). Vgl. ebd. S. 15.
höchstens 15 Gedichte gemacht, die alle nicht sonderlich groß und wichtig sind, und von denen ich nicht eins Gellerten zeigen darf, denn ich kenne seine jetzige Sentiments über die Poesie. Man lasse doch mich gehen, habe ich Genie; so werde ich Poete werden, und wenn mich kein Mensch verbessert, habe ich keins; so helfen alle Criticken nichts. Mein Freund, der Gellerten sehr genau kennt, sagt oft wenn ich ihm ein Stück bringe: das sollte er Gellerten zeigen, wie würde der ihm ein saubres Loblied singen.187
Aus der Schreibhemmung, die Clodius induziert hat und die der Brief an die Schwester anschaulich werden lässt, entwickelt sich letztlich eine reflektiertere Form literarischer Produktion, so dass die praktisch-rhetorische Schreibausbildung in Leipzig nicht ohne Wirkung geblieben ist. An der Wut Goethes über Clodius’ Verriss ändert das indes wenig, und er bedankt sich bei seinem Lehrer mit einer bitteren Parodie unter dem Titel „An den Kuchenbäcker Händel“: O Händel, dessen Ruhm vom Süd zum Norden reicht, Vernimm den Päan, der zu deinen Ohren steigt! Du bäckst, was Gallier und Britten emsig suchen, Mit schöpfrischem Genie, originelle Kuchen. Des Caffé’s Ozean, der sich vor dir ergießt, Ist süßer als der Saft, der vom Hymettus fließt. Dein Haus, ein Monument, wie wir den Künsten lohnen, Umhangen mit Trophä’n, erzählt den Nationen: Auch ohne Diadem fand Händel hier sein Glück, Und raubte dem Kothurn gar manch Achtgroschenstück. Glänzt deine Urn’ dereinst in majestät’schem Pompe, Dann weint der Patriot an deiner Katakombe. Doch leb! dein Torus sei von edler Brut ein Nest, Steh hoch wie der Olymp, wie der Parnassus fest! Kein Phalanx Griechenlands mit römischen Ballisten Vermög Germanien und Händeln zu verwüsten. Dein Wohl ist unser Stolz, dein Leiden unser Schmerz, Und Händels Tempel ist der Musensöhne Herz.188
Goethe kopiert in dem Gedicht den von Clodius bevorzugten erhabenen Stil, auch den von ihm häufig verwendeten Alexandriner. Beides steht in krassem Gegensatz zum Thema des Textes, denn das Lob auf den Leipziger Bäcker- und Konditormeister Samuel Hendel hätte eine andere Stilhöhe verlangt. Äußerer Anlass der Parodie auf Clodius war eine Festrede des Professors auf Friedrich II. vom 5. März 1767, die zum Teil, etwa im letzten Vers, wörtlich persifliert wird, so hieß es bei Clodius „Und Friedrichs Tempel ist der Untertanen Herz.“ 189 Auch diese Parodie führt den ästhetischen Diskurs fort, dem modischen Gerede von Genie und Originalität scheint Goethe in Leipzig noch ironisch distanziert gegenüberzustehen, etwa indem er Genie und Konditorkunst in Verbindung –––––––––––– 187 188 189
Goethe an Cornelia Goethe. Brief vom 11. bis 15. Mai 1767. WA IV, 1. S. 88–89. Goethe: An den Kuchenbäcker Händel. MA 1, 1. S. 97. Vgl. Sauder, Gerhard: Kommentar „Gedichte und Stammbucheintragungen“. MA 1, 1. S. 798.
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bringt. Goethe lässt Clodius, nachdem er Leipzig verlassen hat, noch mehrfach grüßen,190 jenseits der Inszenierung in der Autobiographie war er wohl doch ein wirkungsvoller Lehrer, genau wie Gellert gegenüber der Schwester ja durchaus als Autorität präsentiert wird, deren Urteil Goethe nicht unbeeindruckt lässt. Schon in Leipzig deutet sich aber an, dass individuelle Empfindungen das eigentliche Thema von Dichtung sein sollten, weshalb das rhetorische Regelsystem in modifizierter Weise eingesetzt werden muss, denn wer sich wie Clodius beim Schreiben an die Regeln der ars hält, lässt seinen eigenen Empfindungen, seiner individuellen Nuance zu wenig Raum. Goethe greift die Inspirationstopoi der rhetorisch-poetischen Tradition auf, bezieht sie nun aber auf das eigene Individuum, nicht auf göttliche Inspirationsquellen. In der Sammlung „Annette“ heißt es am Eingang des Gedichts „Lyde. Eine Erzählung“: Euer Beifall macht mich freier, Mädgen, hört ein neues Lied. Doch verzeiht, wenn meine Leier Nicht von jenem heil’gen Feuer Der geweihten Dichter glüht.191
Goethe definiert in diesem Gedicht das Modell Inspiration neu: inspirierend sind die Mädchen, denen das Gedicht gewidmet ist, sie ersetzen eine göttliche Eingebung. Damit wertet er die individuelle Empfindung des Dichters auf und relativiert den Topos vom „heil’gen Feuer“ der Poesie. Die individuellen Züge in den literarischen Experimenten, die er in Leipzig unternimmt, sind freilich noch beschränkt, und es zeigt sich in den Gedichten oft mehr Witz als Individualität. So hat man in diesem Gedicht eine Parodie auf Daniel Schiebelers „Poetik des Herzens“ gesehen und dessen Verse „Du, der vom heil’gen Feuer glüht, / Womit der Gottheit Hand des Dichters Brust belebet“192 als Ausgangsmaterial entschlüsseln können. Im Detail zeigt sich somit, wie komplex Goethes Verhältnis zur Rhetorik ist; rhetorische Kenntnisse im Bereich der elocutio und das rhetorische imitatio-Verfahren gehen mit einer individuellen Geste einher. Goethe übt ebenso Kritik an traditionellen Geniekonzepten wie an nicht vorhandener Kenntnis rhetorischer Regeln. Im Ergebnis der Leipziger Zeit entwickelt sich Goethes Ästhetik auf der Grundlage rhetorischer Theoreme. Er reagiert auf die arsnatura-Debatte der Antike, nutzt das rhetorische Produktionswissen und die Figurenlehre. Wie diese aus der rhetorischen Tradition vermittelten Erkenntnisse aber im aufkommenden Individualitätsdiskurs variiert werden müssen, bleibt zunächst ein ungelöstes Problem. Voraussetzung für die erfolgreiche Adaption der Rheto–––––––––––– 190 191 192
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Vgl. Goethe an Adam Friedrich bzw. Friederike Elisabeth Oeser. Briefe vom 24. November 1768, bzw. 13. u. 14. Februar 1769. WA IV, 1. S. 182, 197 u. 205 Goethe: Lyde. Eine Erzählung. MA 1, 1. S. 101. Vgl. Sauder, Gerhard: Kommentar „Gedichte und Stammbucheintragungen“. MA 1, 1. S. 804.
rik ist, dass Goethe in seiner Ausbildung Rhetorik nicht nur als ein starres Regelwerk kennen gelernt hat. Für seine verschiedenen Lehrer ging die antike Rhetorik nämlich nicht in der technischen Definition eines Dichters oder Redners auf, so dass die rhetorische Tradition als Bezugsrahmen im entstehenden Individualitätsdiskurs relevant bleibt. Gellert gibt der individuellen Nuance in seiner Brieflehre ersten Raum, Gottsched überschätzt zwar die Bedeutung der Regeln, aber seine Kritiker Bodmer und Breitinger gewinnen am Steinbruch der antiken Rhetorik Bestandteile für ihre Literaturtheorie. Vor allem aber Johann August Ernesti hat die Verbindung von natura und ars als Thema der rhetorischen Tradition behandelt, Goethe die pectus-Lehre Quintilians zugänglich gemacht und somit Rhetorik in einer Breite verstanden, die diese für die zukünftige Entwicklung des Schriftstellers interessant gemacht hat. Die unbestreitbare rhetorische Kompetenz von Goethes Leipziger Lehrern sorgte dafür, dass er rhetorische Theoreme und Regeln in einem umfassenden Sinne kennen lernte und Rhetorik bereits in Leipzig als eine Disziplin verstand, die nicht in Regeln aufgeht – und daher im Sturm und Drang auch nicht mit den Regeln untergehen muss. Goethe experimentiert in seiner Leipziger Zeit mit einer Sprache, die individuelle Empfindungen und Erfahrungen auszudrücken vermag. In den Briefen an die Schwester und Riese ist dies bereits vage zu erahnen, im Briefwechsel mit Behrisch, der mit 20 Sendungen den größten Teil der Leipziger Korrespondenz ausmacht, dann deutlich zu erkennen. In diesem Briefwechsel, der die eindringliche Dokumentation der „Geschichte des Herzens“193 mit Anna Katharina Schönkopf ist, findet sich zum ersten Mal ein emphatischer Ausdrucksgestus, der auf den Sturm und Drang vorausdeutet. Die „Spontaneität gesprochener Sprache“194 ist das Vorbild dieser Briefe, womit der „Durchbruch zu einer neuen Qualität brieflicher Selbstdarstellung“195 gelingt. Das Aufkommen dieser neuen Schreibart lässt sich zeitlich ziemlich exakt datieren: Ein Brief an Behrisch, den Goethe am 10. November 1767 begonnen hat, ist das erste Beispiel, in dem der neue Umgang mit der Sprache Raum greift. Spontane Einfälle geben diesem Brief den Takt vor, Goethe setzt mehrfach neu an, schildert die Schreibsituation („Wieder eine neue Feder.“196) und macht keinen Hehl aus seiner inneren Verfassung: –––––––––––– 193 194
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Goethe an Ernst Wolfgang Behrisch. Brief vom 20. bis 21. November 1767. WA IV, 1. S. 145. Schöne, Albrecht: Über Goethes Brief an Behrisch vom 10. November 1767. In: Festschrift für Richard Alewyn. Hrsg. v. Herbert Singer u. Benno von Wiese. Köln u. Graz 1967. S. 193–229, hier: S. 205. Käser, Rudolf: Die Schwierigkeit, ich zu sagen. Rhetorik der Selbstdarstellung in Texten des „Sturm und Drang“. Herder – Goethe – Lenz. Bern 1987. S. 124. Goethe an Ernst Wolfgang Behrisch. Brief vom 10. bis 14. November 1767. WA IV, 1. S. 139.
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Abends um 7 Uhr. Ha Behrisch da ist einer von den Augenblicken! Du bist weg, und das Papier ist nur eine kalte Zuflucht, gegen deine Arme. O Gott, Gott. – Laß mich nur erst wieder zu mir kommen. […] um 8 Uhr Mein Blut läuft stiller, ich werde ruhiger mit dir reden können.197
Goethe ringt in dem Brief um Fassung,198 weil er Anna Katharina zusammen mit einem anderen Mann scherzend im Theater beobachtet hat, nachdem sie ihn zuvor versetzt hatte. Anschaulich schildert er dem Freund Behrisch die Ereignisse: Ich kleide mich an und renne wie ein toller nach der Comödie. Ich nehme ein Billiet auf die Gallerie. Ich bin oben. Ha! ein neuer Streich. Meine Augen sind schwach, und reichen nicht biß in die Logen. Ich dachte rasend zu werden, wollte nach Hause laufen, mein Glas zu holen. Ein schlechter Kerl, der neben mir stand riß mich aus der Verwirrung, ich sah daß er zwey hatte, ich bat ihn auf das höflichste, mir ein’s zu borgen, er taht’s. Ich sah hinunter, und fand ihre Loge – Oh Behrisch – Ich fand ihre Loge. Sie saß an der Ecke, neben ihr ein kleines Mädgen, Gott weiß wer, dann Peter, dann die Mutter. – Nun aber! Hinter ihrem Stuhl Hr. Ryden, in einer sehr zärtlichen Stellung. Ha! Dencke mich! Dencke mich! auf der Gallerie! mit einem Fernglaß – das sehend! Verflucht!199
Der Brief an Behrisch suggeriert, es sei möglich, die Empfindungen von Enttäuschung und Eifersucht, die den Verfasser plagen, jenseits einer rhetorisch verstellten, artifiziellen Art der Kommunikation zu vermitteln. Doch bei genauerem Hinsehen ist der Brief ein Produkt hoher Kunstfertigkeit. Die Schilderung der Ereignisse im Theater folgt den Regeln der evidentia, Interjektionen bringen die Agitiertheit des Verfassers zum Ausdruck, die sich in häufigen Satzabbrüchen, kurzen Parataxen und Verstößen gegen die Regeln der Grammatik artikuliert. Schöne hat bei seiner Interpretation des Behrisch-Briefes sogar durch die äußere Form des Textes Zweifel an der suggerierten Spontaneität bestätigen können: Im Verlauf des Briefes erfährt die Handschrift beträchtliche Veränderungen; ihr Duktus spiegelt die inneren Bewegungen des Schreibenden, und nach erregt ausgreifenden, wild gekurvten, mit heftigem Druck aufs Papier geworfenen Federzügen zeigt sich beispielsweise ein sehr viel zarterer Strich, ein klareres und gefaßtes Schriftbild, wenn es heißt: „Ich habe mir eine Feder geschnitten um mich zu erholen“ und „Wieder eine neue Feder. Wieder einige Augenblicke Ruhe.“ Über die Mitteilung des Schreibenden aber, daß er geschlafen habe, geht seine Handschrift ohne die leiseste Spur einer Veränderung hinweg. 200
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Goethe an Ernst Wolfgang Behrisch. Brief vom 10. bis 14. November 1767. WA IV, 1. S. 134. Vgl. Käser, Rudolf: Die Schwierigkeit, ich zu sagen. Rhetorik der Selbstdarstellung in Texten des „Sturm und Drang“. Herder – Goethe – Lenz. Bern 1987. S. 124–130. Ebd. S. 137. Schöne, Albrecht: Über Goethes Brief an Behrisch vom 10. November 1767. In: Festschrift für Richard Alewyn. Hrsg. v. Herbert Singer u. Benno von Wiese. Köln u. Graz 1967. S. 193–229, hier: S. 215.
Das Schriftbild dementiert die Spontaneität, die der Text vermittelt. Ohne Zweifel sind Figuren wie Hyperbaton, Ellipse, Satzabbruch und Interjektion auch in der spontanen Rede eines erregten Menschen zu finden, wenn dieser nichts von Rhetorik weiß, ohne Zweifel belegt die Analyse des Schriftbildes nicht zwangsläufig, dass die dargestellten Empfindungen rhetorisch geformte Erfindungen sind, aber es lässt sich eben nicht ausmachen, wo Goethe seinen Empfindungen folgt und wo er rhetorisch konstruiert. Die neue Sprache, durch die ein Individuum seine Empfindungen transparent zu machen versucht, ist weiterhin eine rhetorische Sprache, die auf traditionelle Formen und Strukturen angewiesen bleibt. Die Idee, Sprache könne Empfindungen in einer Weise transportieren, die nicht von rhetorischen Strukturen durchwirkt ist, führt letztlich zu einer Antinomie, denn ‚authentische‘ Empfindungen sind von rhetorischer Konstruktion nicht zu unterscheiden, da Empfindungen selbst immer schon sprachlich konstruiert und vermittelt sind. Auch der Brief als „Bekenntniswerk“, ist „ein Werk, etwas […] Geschaffenes“.201 Goethe weiß das und schwenkt mühelos von der agitierten Darstellung seines Liebeskummers zu einem konventionell rokokohaften Stil, um am Ende des Briefes von der gelungenen Versöhnung mit Anna Katharina zu berichten:202 [M]ein ganzes Glück in meinen Armen. Die schöne Schaam, die sie ohngeachtet unsrer Vertraulichkeit so oft ergreift, daß die mächtige Liebe, sie wider das Geheiß der Vernunft in meine Arme wirft; die Augen die sich zu drücken, so oft sich ihr Mund auf den meinigen drückt; das süße Lächeln in den kleinen Pausen unsrer Liebkosungen, die Röhte, die Schaam, Liebe, Wollust, Furcht, auf die Wangen treiben, dies zitternde Bemühen sich aus meinen Armen zu winden, das mir durch seine Schwäche zeigt, daß nichts als Furcht sie je herausreissen würde. Behrisch, das ist eine Seeligkeit, um die man gern ein Fegfeuer aussteht. Gute Nacht, mein Kopf schwindelt mir wie gestern, nur von was anders. 203
In Goethes Briefen sind Innerlichkeit und Spontaneität auf das engste mit sprachlichen und argumentativen Techniken der Rhetorik verbunden, im Detail wird das häufig präsentierte Genrebild vom jähen Ende der rhetorisch geprägten Literaturtradition im 18. Jahrhundert problematisch, vielmehr muss man von einem komplexen Prozess der Rezeption und Adaption rhetorischen Wissens ausgehen. Die Gleichzeitigkeiten der Entwicklung, in der sich ein regelrhetorisch geprägtes Verständnis von Rhetorik mit anthropologischen Modellen aus der rhetorischen Tradition vermischt, Empfindsamkeit und Individualitätsdiskurs des 18. Jahrhunderts hinzukommen, führt zu manchen Verwirrungen für den Inter–––––––––––– 201 202
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Wellek, Albert: Zur Phänomenologie des Briefes. In: Die Sammlung. Zeitschrift für Kultur und Erziehung 15 (1960) S. 339–355, hier: S. 342. Vgl. Schöne, Albrecht: Über Goethes Brief an Behrisch vom 10. November 1767. In: Festschrift für Richard Alewyn. Hrsg. v. Herbert Singer u. Benno von Wiese. Köln u. Graz 1967. S. 193–229, hier: S. 224. Goethe an Ernst Wolfgang Behrisch. Brief vom 10. bis 14. November 1767. WA IV, 1. S. 142–143.
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preten der historischen Entwicklung wie für die Beteiligten. In der Verständigung mit Friederike Oeser beispielsweise, der Goethe erkrankt aus Frankfurt einige Male schreibt, ergibt sich aus dem vermeintlichen Gegensatz zwischen rhetorischer Konvention und inneren Empfindungen, die rhetorisch angeblich nicht weiter bearbeitet werden müssen und überhaupt ‚unrhetorisch‘, d.h. ‚authentisch‘ seien, ein drastischer Konflikt. In einem langen Brief beklagt Goethe das mangelnde Mitleid Friederikes und verurteilt ihren unpersönlichen Briefstil. Friederike hat offenbar genau die kommunikative Antinomie erkannt, nach der sich eben nicht sagen lässt, was in einem Brief unmittelbarer Ausdruck von Empfindung ist, was rhetorische Inszenierung, die überhaupt diesen Gegensatz problematisch macht. Goethe weist solche Gedanken jedoch verbittert zurück: Ich sah dass Sie meynten, Poesie und Lügen wären nun Geschwister, und der Hr. Briefsteller könnte wohl ein sehr ehrlicher Mensch, aber auch ein starcker Poete seyn, der aus Vorurteil für das Clair obscür, offt die Farben etwas stärcker, und die Schatten etwas schwärzer aufstriche, als es die Natur thut.204
Goethe verlangt von seiner Briefpartnerin „[e]inen gesunden Kopf, ein gutes Herz“,205 fordert mit größtem Eifer Ehrlichkeit, Empfindsamkeit, lässt keinen Zweifel an der Transparenz der Sprache gelten. Aber die Rhetorik des Dementis legt nahe, dass gerade der so heftig dementierende Goethe weiß, wie problematisch und utopisch sein Ansatz ist. „Ich rede frey vor Ihnen, wie ich vor wenigen in Leipzig reden würde“206 – ob dieser Satz ‚Wahrheit‘ oder Formel ist, das lässt sich dem Papier eben in keiner Weise einschreiben, und jede Beteuerung zeigt aus rhetorischer Sicht nur die Notwendigkeit, andere und sich selbst zu überreden. Obwohl Goethe in dem Brief an Friederike sein individuelles Empfinden in den Mittelpunkt stellt, bleibt er terminologisch der rhetorischen Tradition verhaftet, indem er besonders auf anthropologische Modelle und affektrhetorische Theoreme zurückgreift: So sieht er die Aufgabe des Dichters darin, mit Hilfe von pathos zu beeinflussen, und beschreibt die Wirkung von Literatur im Sinne rhetorischer Überredungsleistung: Macht mich was empfinden, was ich nicht gefühlt, was dencken was ich nicht gedacht habe, und ich will euch loben. Aber Lärm und Geschrey statt dem Pathos, das thuts nicht.207
Durch pathos lassen sich nach seiner Überzeugung Empfindungen kommunizieren, das ist noch ganz rhetorisch gedacht, aber Goethe legt nun nahe, dass die Grenze zwischen pathos und „Lärm und Geschrey“ einfach zu ziehen ist. Eventuell schließt er sich hier sogar an Aristoteles an, der die fingierten Emotionen –––––––––––– 204 205
206 207
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Goethe an Friederike Oeser. Brief vom 13. Februar 1769. WA IV, 1. S. 193–194. Ebd. S. 194. Ebd. S. 197. Ebd. S. 198.
von Rednern in einer Passage seiner „Rhetorik“ als Lärm beschreibt.208 Doch diese Grenze ist eben nur sehr schwer zu markieren. Man kann diese Briefpassage heranziehen, um die Rhetorikgeschichte des 18. Jahrhunderts als eine Umschaltung der produktionsästhetischen Betrachtungsweise des Barock auf ein stärker ausdrucksästhetisches Modell zu deuten. Damit erfasst man aber nur eine Entwicklungstendenz der Rhetorikgeschichte dieser Zeit, im Detail betrachtet, ist die Entwicklung weit komplexer, denn Goethe kann auf Grund seiner rhetorischen Ausbildung dem produktionsästhetischen Wissen nicht entkommen und nutzt es für seine Texte. Goethe erklärt Friedericke, einen zeitgenössischen Autor müsse man nicht „übersetzen“,209 nicht kommentieren, aber wer glaubt, in einem literarischen Text die authentischen Empfindungen eines Autors erkennen zu können, unterschätzt, wie weitgehend jeder literarische Text von rhetorischen Strukturen, topischen Argumenten, sprachlichen Formeln dominiert ist.
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Vgl. Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt, mit einer Bibliographie, Erläuterungen u. einem Nachwort versehen von Franz G. Sieveke. 5., unveränderte Auflage. München 1995. [künftig zitiert als Arist. Rhet.] 1408a. Goethe an Friederike Oeser. Brief vom 13. Februar 1769. WA IV, 1. S. 198.
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2.
Rhetorica contra rhetoricam? – Evidentia als Mittel oratorischer und literarischer Rhetorik im Sturm und Drang
Ich habe schon dem Warwickshirer ein schön Publicum zusammen gepredigt, und übersetze Stückchen aus dem Ossian, damit ich auch den aus vollem Herzen verkündigen kann.1
2. 1.
„Ich! Der ich mir alles bin“ – Die Inszenierung von Genie in der Shakespeare-Rede
In Goethes Rede „Zum Schäkespears Tag“, die am Anfang seiner schriftstellerischen Laufbahn steht und einer der kanonischen Theorietexte des Sturm und Drang ist,2 wird die Wirksamkeit rhetorischer Figuren als Mittel der emotionalen Steigerung vorausgesetzt. Die Rede ist somit kein genialer Gegenentwurf zu einer bis in den Barock rhetorisch geprägten Literaturtradition, die mit Hilfe von ornatus vor allem auf Amplifizierung des Gesagten aus ist, vielmehr ist der Text ein Beispiel für Goethes rhetorische Sprach- und Textkompetenz als Ergebnis rhetorischer Ausbildung sowohl in Hinblick auf ein technisches Wissen um die Ausschmückung mit Hilfe rhetorischer Figuren als auch in Hinblick auf eine aus der Rhetorik entlehnte Wirkungstheorie. Die Inszenierung von Genie in dieser Rede ist nämlich vor allem das Ergebnis gezielter Anwendung evidenzrhetorischer Mittel. –––––––––––– 1 2
Goethe an Johann Gottfried Herder. Brief vom Herbst 1771. WA IV, 2. S. 5. Der Begriff ‚Sturm und Drang‘ wird im Folgenden benutzt, obwohl er als problematisch gilt. Als Epochenbezeichnung taugt er nicht, da sich die Schriftsteller, die man heute mit dem Sturm und Drang assoziiert, nur begrenzt als Mitglieder einer literarischen Bewegung verstanden haben und weil das Phänomen ausschließlich in der deutschen Literaturgeschichte beschrieben worden ist (vgl. Hinck, Walter: Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Sturm und Drang. Ein literaturwissenschaftliches Studienbuch. Kronberg/Taunus 1978. S. VII bis XI, hier: S. VII). Hier soll der Begriff synonym mit „Geniephase“ die offene literarische Bewegung der Zeit zwischen 1765 und 1775 mit den Schlüsselfiguren Goethe und Herder kennzeichnen. Rein formal ist der „Sturm und Drang“ der Epoche der Aufklärung zuzuordnen, und zwar als „Dynamisierung und Binnenkritik der Aufklärung“, wie Gerhard Sauder in seiner inzwischen berühmten Formel vorschlägt (vgl. G. S.: Einführung. MA 1, 1. S. 756). Auf den Zusammenhang zwischen Aufklärung und Sturm und Drang weist schon Werner Krauss hin (vgl. W. K.: Perspektiven und Probleme. Zur französischen und deutschen Aufklärung und andere Aufsätze. Neuwied u. Berlin 1965. S. 241–242), der den Sturm und Drang als „Vollendung der Aufklärung“ (ebd. S. 250) betrachtet.
Man hat lange darüber diskutiert, ob Goethe die Rede „Zum Schäkespears Tag“ wirklich vorgetragen hat, weil Berichte über das Fest in Frankfurt und die parallel in Straßburg geplante Shakespeare-Feier fehlen.3 Die Einträge „Dies onomasticus Schakspear 6.24 […] Musicis in die onom. Schacksp. 3“4 im Ausgabenbuch der Familie Goethe belegen zumindest, dass in Frankfurt ein Fest zu Ehren Shakespeares stattfand, und die Frage ist ohnehin eher sekundär, denn die Wirkung der Rede stellt sich auch allein mit Hilfe des Textes dar, der bis heute –––––––––––– 3
4
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Dass die Rede „Zum Schäkespears Tag“ auf jeden Fall von Goethe vorgetragen wurde, behaupten zum Beispiel Kurt Ermann (vgl. K. E.: Goethes Shakespeare-Bild. Tübingen 1983. S. 41), Dorothea Hölscher-Lohmeyer (vgl. D. H.-L.: Johann Wolfgang Goethe. München 1991. S. 26–27) und Sven Aage Jørgensen, Klaus Bohnen und Per Øhrgaard (vgl. S. A. J., K. B. u. P. Ø.: Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik 1740–1789. München 1990 (= Geschichte der deutschen Literatur. Begründet von Helmut de Boor u. Richard Newald. Bd. 6). S. 444). Die Behauptung, Goethe habe die Rede zum Shakespeare-Tag tatsächlich gehalten, findet sich bereits im Kommentar der Weimarer Ausgabe (vgl. WA I, 38. S. 286– 287), obwohl sich einige Autoren in der Sache schon früh skeptisch äußern, etwa Wilhelm Scherer oder Georg Witkowski, die glauben, die Rede sei nur als Sendschreiben verfasst worden (vgl. W. S.: Aus Goethes Frühzeit. Bruchstücke eines Commentares zum jungen Goethe. Straßburg 1879. S. 14; G. W. (Hrsg.): Goethes Werke. Bd. 26: Kleine Jugendschriften in Prosa. In: Deutsche National-Literatur. Hrsg. v. Joseph Kürschner. Bd. 107. Stuttgart o. J. [1895]. S. 16). Zwei Briefe an Herder vom Herbst 1771 beweisen, dass Goethe das Frankfurter Fest plante (vgl. Goethe an Johann Gottfried Herder. Briefe vom Herbst 1771. WA IV, 2. S. 1–5). In Straßburg sollte der Salzmannsche Kreis nach der Idee Goethes ein solches Fest abhalten, wie ein Brief an Röderer belegt: „Wenn Sie es als Theolog übers Herz bringen können, so versagen Sie mir Ihre Stimme nicht, da ich bey der Gesellschaft durch Hrn. Jung um einen Ehrentag des edlen Schakspears ansuche.“ (Goethe an Johann Gottfried Röderer. Brief vom 21. September 1772. WA IV, 2. S. 26.). In der Hamburger Ausgabe wurde der Brief auf den 21. September 1771 vordatiert (vgl. Goethes Briefe. Hamburger Ausgabe in vier Bänden. Bd. 1: Briefe der Jahre 1764–1786. Textkritisch durchgesehen u. mit Anmerkungen versehen von Karl Robert Mandelkow unter Mitarbeit von Bodo Morawe. Hamburg 1962. S. 125–126). Goethe hatte die Idee zu den Feiern wohl von dem englischen Schauspieler David Garrick übernommen, der zwei Jahre zuvor in Stratfordupon-Avon den Namenstag zum Anlass eines Festes machte, wie ein Bericht aus dem „Mercure de France“ vom Dezember 1769 darlegt, der in der Shakespeare-Ausgabe der elterlichen Bibliothek eingeheftet ist (vgl. Sauder, Gerhard: Kommentar „Zum Schäkespears Tag“. MA 1, 2. S. 833). Es gibt nach Auskunft des Kommentars der Münchner Ausgabe verschiedene Indizien, die „Zum Schäkespears Tag“ als Sendschreiben für die Straßburger Shakespeare-Feier erscheinen lassen, das sind vor allem einige Anspielungen auf Straßburger Ereignisse: Von einem „tausendfüßigen königlichen Einzug“ (MA 1, 2. S. 411) ist die Rede, hiermit könnte der Einzug Marie Antoinettes in Straßburg vom Mai 1770 gemeint sein, dann wird von einem „blindgeborne[n], dem eine Wunderhand das Gesicht in einem Augenblicke schenkt“ (S. 411–412), berichtet, hier könnte auf die großen Erfolge der Straßburger Mediziner bei der Behandlung des Augenstars angespielt werden (vgl. Goethe: Dichtung und Wahrheit. MA 16. S. 435). Schließlich spricht die Gestalt des Manuskriptes für ein Sendschreiben, denn das Manuskript ist namentlich unterschrieben und in Form eines Briefes gefaltet. Vgl. WA I, 38. S. 286–287. Goethe, Johann Caspar: Liber domesticus. 14. bzw. 16. Oktober 1771. Nachdruck Leipzig 1973. o. P.
intensiv rezipiert wurde. Mit rhetorischen Mitteln veranschaulicht die Rede, was Genie meint. Sie vermittelt zentrale Annahmen der Genieästhetik durch eine anschauliche Darstellung, ohne das Wort „Genie“ nur einmal zu nennen.5 Zunächst macht Goethe reichlich Gebrauch von dem durch Aristoteles erteilten Freibrief für Verfasser epideiktischer Reden, nach dem dieser „zunächst irgend etwas, was ihm beliebt, sagen“6 kann, was Kurt Ermann zur Bemerkung veranlasst „Es fragt sich, was diese Überlegungen mit einer Festrede zum Lob Shakespeares zu tun haben.“7 Zwar schrieb Goethe die Rede 1771 zum Gedanken an Shakespeares Namenstag, aber sein Interesse an Shakespeare war eigennützig, so dass der Jubilar zunächst kaum eine Rolle spielt, auch wenn es diesen tatsächlich ehren dürfte, zum Vorbild einer neuen Schriftstellergeneration erkoren zu sein. Rhetorisch gesehen, ist das movere die zentrale Wirkfunktion der Shakespeare-Rede, das Ineinandergreifen von docere, delectare und movere, wie es die rhetorische Tradition empfiehlt,8 wird zugunsten individueller Empfindung und Affekterregung aufgegeben. Der Redner spricht zu jedem, „der sich fühlt“,9 reagiert mit Wut und Entsetzen auf die regelkonformen Trauerspiele der „Französgen“,10 klagt über Verzärtelung des Menschen und inszeniert sich selbst als vitales Gegenbild zu einem Jahrhundert, das die Regeln des guten Geschmacks über die Natur gesetzt hat. Ein empörter Ausruf folgt dem nächsten, so dass der Auftritt des Redners zu einem Aufschrei gegen die regelmäßige Poetik und gegen die Kultivierung menschlichen Verhaltens und Fühlens wird. Das alles wirkt spontan, sprunghaft, im Aufbau assoziativ frei. Goethe wechselt vom Gefühl der eigenen Stärke zur Wut über die verderbten und verzärtelten Zeitgenossen, dann zu Shakespeare und mühelos wieder zurück, ohne einem einzelnen Thema länger nachzugehen. Der Leser kann noch heute die Erregung Goethes nachempfinden, der sich selbst dem Anschein nach – so interpretiert Norbert Christian Wolf11 – explizit –––––––––––– 5
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Jochen Schmidt nennt das ‚performativen Ausdruck‘ von Genie, der bei der Entstehung des Genie-Diskurses ebenso wichtig gewesen sei wie die explizite rationale Auseinandersetzung mit dem Thema „Genie“. Vgl. J. S.: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945. Bd. 1. 2., durchgesehene Auflage. Darmstadt 1988. S. XIV. Die Auffassung Friedrich Gundolfs, nach der es dem Redner mehr um seine „persönliche Gesinnung“ geht als um ein theoretisches Manifest, ignoriert diese ‚performative Leistung‘ des Textes, der in seinem Ton paradigmatisch für den Sturm und Drang ist (vgl. F. G.: Shakespeare und der deutsche Geist. Godesberg 1947. S. 201–202). Arist. Rhet. 1414b. Ermann, Kurt: Goethes Shakespeare-Bild. Tübingen 1983. S. 42. Vgl. etwa Cicero, Marcus Tullius: De oratore – Über den Redner. Lateinisch u. deutsch. Übersetzt u. hrsg. v. Harald Merklin. 3., bibliographisch ergänzte Auflage. Stuttgart 1997 [künftig zitiert als Cic. De orat.] II, 115. Goethe: Zum Schäkespears Tag. MA 1, 2. S. 411. Ebd. S. 412. Vgl. Wolf, Norbert Christian: Streitbare Ästhetik. Goethes kunst- und literaturtheoretische Schriften 1771–1789. Tübingen 2001. S. 42.
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von den Regeln der dispositio entfernt, auch von einer gründlichen inventio wenig zu halten scheint, indem er ankündigt: Erwarten Sie nicht, daß ich viel und ordentlich schreibe, Ruhe der Seele ist kein Festtagskleid; und noch zur Zeit habe ich wenig über Schäckespearen gedacht; geahndet, empfunden wenns hoch kam, ist das höchste wohin ich’s habe bringen können.12
Laut Wolf folgt Goethe nicht länger den Produktionsregeln der Rhetorik, zugleich hat aber gerade Wolf durch seine Interpretation zeigen können, wie konsequent Goethes Rede in Beziehung zur Literaturtheorie seiner Zeit steht. 13 Indem Goethe gegen die Regelpoesie Vitalität, Natürlichkeit und ausgeprägte Empfindungsfähigkeit einfordert, reiht er sich in den Genie-Diskurs der englischen Literaturtheorie ein, er übernimmt Positionen von Addison, Shaftesbury und Young, so dass Joachim Wohlleben die Rede als „zarte Stimme im großen Chor der Shakespeare-Renaissance“14 betrachtet. Goethe bedient sich also topischer Fundorte der zeitgenössischen Shakespeare-Forschung: Wie Addison lehnt er das regelgeleitete französische Theater ab („Französgen, was willst du mit der griechischen Rüstung, sie ist dir zu groß und zu schwer.“ 15), die Analogie zwischen der schöpferischen Natur und dem Dichter im Sinne Shaftesburys und Youngs klingt in dem kryptischen Ausruf: „Und ich rufe Natur! Natur! nichts so Natur als Schäkespears Menschen“16 an, und der Vergleich des Genies mit Prometheus wird sinngemäß aufgegriffen, wenn Goethe ausdrückt, „Er [Shakespeare] wetteiferte mit dem Prometheus, bildete ihm Zug vor Zug seine Menschen nach, nur in Kolossalischer Größe […].“17 Viele Ideen aus der Shakespeare-Rede finden sich auch in Herders Shakespeare-Aufsatz, der sich wiederum an Shaftes–––––––––––– 12 13 14
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Goethe: Zum Schäkespears Tag. MA 1, 2. S. 411. Vgl. Wolf, Norbert Christian: Streitbare Ästhetik. Goethes kunst- und literaturtheoretische Schriften 1771–1789. Tübingen 2001. S. 54. Wohlleben, Joachim: Goethe als Journalist und Essayist. Frankfurt am Main u. Bern 1981. S. 63, wobei Wohllebens Charakterisierung in Anbetracht des pathetischen Stilgestus der Rede eigentlich wenig passend ist. Goethe: Zum Schäkespears Tag. MA 1, 2. S. 412. Ebd. S. 413. Die Hinwendung zur Natur ist vor allem durch Jean-Jacques Rousseau beeinflusst. Rousseau hatte sich in dem Diskurs „Über Kunst und Wissenschaft“ von der Geziertheit der Sitten und Künstlichkeit der Kultur distanziert. Sein Ideal ist der einfache Mensch, der lebt und nicht nachdenkt, wie er sich zu verhalten habe, der Mensch, bei dem die „äußere Haltung stets das Abbild der Herzensneigung wäre“ (Rousseau, Jean-Jacques: Schriften zur Kulturkritik. Über Kunst und Wissenschaft (1750). Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen (1755). Eingeleitet, übersetzt und hrsg. v. Kurt Weigand. 4., erweiterte Auflage. Hamburg 1983. S. 11). Zur Bedeutung Rousseaus für die Formulierung der Literaturtheorie des Sturm und Drang vgl. auch Fink, Gonthier-Louis: Vom universalen zum nationalen Literaturmodell im deutsch-französischen Konkurrenzkampf (1680–1770). In: Barner, Wilfried (Hrsg.): Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung. München 1989. S. 33–67, hier: S. 45. Goethe: Zum Schäkespears Tag. MA 1, 2. S. 414.
bury orientiert, beispielsweise wird Genie als „Teil der schaffenden Natur“18 (der natura naturans) verstanden. Auf Grund der zahlreichen Parallelen zwischen der Shakespeare-Rede Goethes und dem Shakespeare-Aufsatz Herders hat man häufig auch Herder einen großen Einfluss auf Goethes Rede zugeschrieben.19 Goethe kannte Shakespeares Werke aber, lange bevor er auf Herder traf, und nennt jenen schon in einem Brief vom 20. Februar 1770 einen seiner wichtigsten Lehrer,20 man sollte Herder daher als eine Quelle der Shakespeare-Verehrung unter vielen verstehen. Hinter der scheinbar spontanen Rede steht also eine umfassende inventio, und man darf sich eben nicht dadurch täuschen lassen, dass hier kein theoretisch-abstraktes Programm expliziert, sondern Genie veranschaulicht wird. Der Eindruck des Spontanen und wenig Überlegten revidiert sich auf inhaltlicher Ebene schnell und konsequent: Goethes Rede ist im intellektuellen Diskurs der Zeit eingebettet; auch wenn die Form assoziativ und disparat wirkt, geht sie auf eine planvolle inventio zurück. Ähnliches gilt für die dispositio: Zu Beginn der Rede gewinnt Goethe durch das pathetische Bekenntnis zu seinen Empfindungen die Aufmerksamkeit der Zuhörer (attentum parare) und greift in einer ringkompositorischen Konstruktion des Redeschlusses das Thema individuelle Empfindung am Ende wieder auf. Es wirkt zwar, als seien die Gedanken wahllos aneinandergereiht, doch in Wirklichkeit sind die transgressiones zwischen den einzelnen Abschnitten sorgfältig gestaltet, um das breite Spektrum literaturtheoretischer Andeutungen und persönliche Erfahrungen zusammenzuhalten. Goethe greift auf eine ausgefeilte Wandermetaphorik zurück, die alle Teile des Textes, in dem von „Weg“ und „Wandrertrab“, „Schritte[n]“ und „Fußtapfen“ die Rede ist,21 durchzieht. Exor–––––––––––– 18 19
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Gerth, Klaus: Die Poetik des Sturm und Drang. In: Hinck, Walter (Hrsg.): Sturm und Drang. Ein literaturwissenschaftliches Studienbuch. Kronberg/Taunus 1978. S. 55–80, hier: S. 60. Vgl. beispielhaft Suphan, Bernhard: Shakespeare im Anbruch der classischen Zeit unserer Literatur. In: Deutsche Rundschau 60 (1889) S. 401–417, hier: S. 409–410. Neuerdings hat etwa noch Joachim Wohlleben die Position vertreten, dass Goethes Rede wenig eigenständig sei. Vgl. J. W.: Goethe als Journalist und Essayist. Frankfurt am Main u. Bern 1981. S. 61–62. Für einen Überblick zur Bedeutung Herders für die Shakespeare-Rede vgl. Ermann, Kurt: Goethes Shakespeare-Bild. Tübingen 1983. S. 21–40. Karl Otto Conrady hat dem Mythos, Herder habe Goethe mit Shakespeares Werken bekannt gemacht, deutlich widersprochen (vgl. K. O. C.: Goethe: Leben und Werk. Bd. 1: Hälfte des Lebens. Frankfurt am Main 1995. S. 111). Vgl. Goethe: Brief an Philipp Erasmus Reich vom 20. Februar 1770. WA IV, 1. S. 230. Auch in einem Brief vom 30. März 1766 wird der englische Dichter als „un grand Poete“ erwähnt (vgl. Goethe an Cornelie. Brief vom 30. März 1766. WA IV, 1. S. 48). Goethe: Zum Schäkespears Tag. MA 1, 2. S. 411. Das Wandern ist ein prominentes Thema des Sturm und Drang, weil es kultureller Geziertheit eine Naturerfahrung entgegensetzt. Wie weitgehend das Wandermotiv mit dem Genie-Diskurs verknüpft ist, lässt am deutlichsten „Wanderers Sturmlied“ erkennen (vgl. MA 1, 1. S. 197): Die Natur gibt dem Genie einen Maßstab, im Sturmgetöse kann er seine Kräfte messen. Der homo viator wird zum Sinnbild des Menschen, der die Natur zu erkunden und zu verstehen versucht. Mit der Per-
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dium und narratio werden verknüpft, indem der Gang der Zuhörer mit der großen Wanderung Shakespeares in Verbindung gebracht wird.22 Die narratio, die von Goethes Shakespeare-Lektüre handelt, mündet in die Feststellung, Goethe habe nach dem Lesen seine „Hände und Füße“ 23 gespürt, und führt auf diese Weise das Wandermotiv fort. In der argumentatio ist zu lesen, die französischen Stücke seien einander „ähnlich […] wie Schuhe“24. In der peroratio schließlich ist das Motiv Wanderung in der Aufforderung „Auf meine Herren!“25 enthalten. Neben der inventio und dispositio ist vor allem die elocutio des Textes interessant, um zu beweisen, wie wichtig das rhetorische Erbe für dieses Manifest des Sturm und Drang ist. Im Verlauf der argumentatio finden sich in beinahe jedem Satz hyperbolische Ausdrücke: es ist die Rede vom „größten Wandrer“, vom „unendlichen Weg“.26 Häufig werden die hyperbolischen Ausdrücke noch verstärkt, indem sie in Antithesen gegenübergestellt werden: „der geringste wie der höchste, der unfähigste wie der würdigste“.27 Insgesamt enthält die nur vier Druckseiten umfassende Rede mehr als 30 Superlative und eine unüberschaubare Vielzahl rhetorischer Figuren. Goethe hält sich an das Konzept der Redekunst als einer Kunst der Ausschmückung (amplificatio), das ihm seit seiner Schulzeit vertraut ist. Konsequent setzt er seine Gedanken und Emotionen bildlich um, entwickelt schauspielartige Szenen. Du Bos, dessen Theorie Goethe kannte, wie Martin Franzbach durch Notizen aus den „Ephemerides“ gezeigt hat,28 mag als ––––––––––––
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sonifikation von Genie durch den römischen Gott Genius wird Genialität in diesem Gedicht als natürliche Begabung präsentiert und auch das Genius-Konzept zur Definition von Genie herangezogen. Der römische Gott „Genius“ steht für eine schwer zu fassende mythologische Struktur, kurzum kann man ihn als Inbegriff der Lebenskraft sehen, die nach Wendelin Schmidt-Dengler als weitere Traditionslinie in den Genie-Diskurs eingeht (vgl. W. S.D.: Genius. Zur Wirkungsgeschichte antiker Mythologeme in der Goethezeit. München 1978. S. 23–30, außerdem S. 111). Die Rezipienten der Shakespeare-Rede dürften über das Wandermotiv auch eine Verbindung von Goethe zu Shakespeare gezogen haben, denn noch in „Dichtung und Wahrheit“ tituliert Goethe sich mit Blick auf die Geniezeit als „Wanderer“ (MA 16. S. 538 u. 555) und in der Korrespondenz des Darmstädter Kreises findet sich häufiger die Bezeichnung „Pilger“ für Goethe (vgl. Sprengel, Peter: Kommentar „Dichtung und Wahrheit“. MA 16. S. 1014). Insofern ist das Wandermotiv eine elegante Möglichkeit für Goethe, sich selbst als Genie in Szene zu setzen. Vgl. Goethe: Zum Schäkespears Tag. MA 1, 2. S. 411. Ebd. S. 412. Ebd. Ebd. S. 414. Ebd. S. 411 Ebd. Vgl. Franzbach, Martin: Lessings Huarte-Übersetzung. Die Rezeption und Wirkungsgeschichte des „Examen de Ingenios para las Ciencias“ (1575) in Deutschland. Hamburg 1965. S. 139. Vgl. Goethe: Ephemerides. MA 1, 2. S. 526. Die du-Bos-Notate finden sich interessanterweise inmitten der Quintilian-Zitate. Den Hinweis auf Franzbach verdanke ich Wolf, Norbert Christian: Streitbare Ästhetik. Goethes kunst- und literaturtheoretische Schriften 1771–1789. Tübingen 2001. S. 28.
Legitimation gedient haben, denn er hat die bildliche Darstellung als zentrales Mittel zur Affekterregung verstanden und dabei auf Quintilians evidentiaTheorie verwiesen.29 Gleich zu Beginn der Rede setzt Goethe dieses Verfahren ein, indem er einen Redner auftreten lässt, der gegen einen Gedanken der Rede protestiert und ausruft: „Für nichts gerechnet! Ich! Der ich mir alles bin, da ich alles nur durch mich kenne!“30 Diese fictio personae trägt viel zur Lebendigkeit bei. Goethe steigert den Effekt sogar noch, indem er Shakespeare selbst auf das Podium hebt und den vermeintlich Anwesenden anspricht: „[I]ch könnte nirgend leben als mit dir, wie gern wollt ich die Nebenrolle eines Pylades spielen, wenn du Orest wärst“31. Kurzum: Goethe macht den Zuhörern seine Gedanken gemäß den Regeln der evidentia anschaulich, lässt diese zu „Augenzeugen“32 werden, wodurch er seine Argumentation gegen Einsprüche immunisiert: Denn es macht großen Eindruck, bei einer Sache zu verweilen, die Dinge anschaulich auszumalen und fast so vor Augen zu führen, als trügen sie sich wirklich zu. Das ist von großem Wert bei der Darlegung einer Sache, für die Erhellung dessen, was man auseinandersetzt, und für die Steigerung der Wirkung, um das, was man hervorhebt, in den Augen der Zuhörer so bedeutend darzustellen, wie die Rede es ermöglicht.33
Anschaulichkeit ist ein wirksames Mittel, um Affekte zu erzeugen und mit Hilfe von Affekten zu überzeugen, und dieses Mittel setzt Goethe zielgerichtet ein. An einer Stelle wird die Rede so emotional, dass Goethe den Text unterbricht: „Ich will abbrechen meine Herren und morgen weiter schreiben, denn ich bin in einem Ton, der Ihnen vielleicht nicht so erbaulich ist als er mir von Herzen geht.“34 Dieser Abbruch markiert eine der auffälligsten Stellen der Rede. Die reticentia ist als Figur seit der Antike bekannt und wird traditionell angewendet, wenn der Redner eine Stufe des Affekts erreicht, auf den die Zuhörer gar nicht mehr reagieren. Quintilian empfiehlt in einem solchen Fall, die Affekte durch eine Pause zu dämpfen und dann neu anzusetzen.35 Bei Goethe macht der Satzabbruch die Empfindungen des Verfassers anschaulich, er ist keine Entgleisung, sondern ein geplantes Mittel des Redners. Daher lässt sich der Redeabbruch auch nicht so einfach abtun, wie Kurt Ermann das versucht, wenn er vermutet, Goethe merke, „daß er hier die Grenze des für seine Zuhörer Zumutbaren überschritten hat […].“36 –––––––––––– 29 30 31 32 33 34 35 36
du Bos, Jean Baptiste: Réflexions critiques sur la poësie et sur la peinture. 7. Auflage. Paris 1770 (Nachdruck Genf 1967). I/4. S. 38–39. Goethe: Zum Schäkespears Tag. MA 1, 2. S. 411. Ebd. S. 413. Lausberg, Heinrich: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. 3. Auflage. Stuttgart 1990 [künftig zitiert als Lausberg] § 810. Cic. De orat. III, 202. Goethe: Zum Schäkespears Tag. MA 1, 2. S. 413. Vgl. Quint. Inst. orat. IX, 2, 54. Ermann, Kurt: Goethes Shakespeare-Bild. Tübingen 1983. S. 46.
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Durch rhetorische Mittel erzeugt Goethe bei seinen Zuhörern den Eindruck spontaner Begeisterung und Genialität, das Gefühl, ein Individuum gewähre einen authentischen Einblick in seine Empfindungen. Aber die Analyse zeigt, dass Goethe sich an die Regeln der Rhetorik hält, planvoll mit rhetorischen Mitteln umgeht. Die Rede fügt sich somit in das Schema rhetorica contra rhetoricam, setzt rhetorische Kunstfertigkeit ein, um gegen die von der Rhetorik beeinflusste Regelpoetik zu argumentieren. Goethe vermag durch seine Rede eine anschauliche Definition von Genie zu formulieren und eine performative Verknüpfung von Genialität und rhetorischer ars, oder anders gesagt: von individueller Empfindung und kunstgemäßem Ausdruck, eine Synthese zwischen einer Literatur, die vermeintlich individuellem Genie entspringt und den Regeln der Rhetorik. Im rhetorischen Stilmittel evidentia liegt das Potential, eine solche Verbindung herzustellen. Einerseits lassen sich durch bildliche Darstellung individuelle Empfindungen ausdrücken und kommunizieren, andererseits bleibt der Zugang zu inneren Erfahrungen der Effekt gezielt gewählter sprachliche Strukturen. In der evidentia ist eine Synthese zwischen ars und natura angelegt und eine Alternative zur Entgegensetzung von Genieliteratur und rhetorischer Tradition vorbereitet, die Goethe bewusst reflektiert, wie am Beispiel der frühen Erlebnislyrik gezeigt werden soll. Vor diesem Hintergrund ist es vielsagend, dass Goethe sich bei der Shakespeare-Rede absichtsvoll vornimmt, seine Empfindungen aus vollem Herzen zum Ausdruck zu bringen, dass also sorgfältige Planung und rhetorischer Vorsatz hinter der vermeintlich spontanen Rede stehen, wie deren Verfasser gegenüber Herder unumwunden zugibt: Schicken Sie nur Ihre [Abhandlung] auf den 14. October. Die erste Gesundheit nach dem Will of all Wills soll auch Ihnen getrunken werden. Ich habe schon dem Warwickshirer ein schön Publicum zusammen gepredigt, und übersetze Stückchen aus dem Ossian, damit ich auch den aus vollem Herzen verkündigen kann.37
Wer den überlieferten Text im Original zur Hand nimmt, 38 hat ein Indiz für die Mühe und den Fleiß, die Goethe auf die Rede verwendet hat, die rhetorisch auf das Genaueste kalkuliert ist und eben gerade nicht mit der rhetorischen Tradition bricht, vielmehr aus der Gedankenfigur evidentia ein Ideal der Textgestaltung ableitet. Eine rhetorische Figur, die Goethe schon als junger Schüler nahe –––––––––––– 37 38
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Goethe an Johann Gottfried Herder. Brief vom Herbst 1771. WA IV, 2. S. 5 (Hervorhebung von mir, O. K.). Für eine präzise Beschreibung des Manuskripts vgl. Witkowski, Georg (Hrsg.): Goethes Werke. Bd. 26: Kleine Jugendschriften und Prosa. In: Deutsche National-Literatur. Hrsg. v. Joseph Kürschner. Bd. 107. Stuttgart o. J. [1895]. S. 17. Das Manuskript befand sich im Besitz der Stiefschwester Fritz Jacobis und wurde erst lange nach deren Tod, nämlich 1854, zum ersten Mal gedruckt. Eine Abbildung findet sich bei Koopmann, Helmut: Artikel „Zum Schäkespears Tag“. In: Goethe-Handbuch. Bd. 3. S. 518–532, hier: S. 522.
gebracht wurde, nämlich indem Comenius Rhetorik als Kunst der anschaulichen Darstellung präsentiert,39 ist also für den Neubeginn der Literatur im Sturm und Drang, der vermeintlich nur aus der Distanz zur rhetorischen Literaturauffassung möglich war, konstitutiv. Und so entsteht die Lebendigkeit der Rede, das Gefühl des Rezipienten, authentische Emotionen des Redners/Autors vor sich zu haben, durch ein ganzes Heer rhetorischer Mittel. Selbst Goethes Bekenntnis „Erwarten Sie nicht, daß ich viel und ordentlich schreibe“40 lässt sich schließlich ebenso als gezielte dissimulatio artis verstehen, d. h. als rhetorische Strategie, die Authentizität und Spontaneität suggerieren soll. Die spontane Wirkung der Rede ist nicht nur Indiz für die Genialität ihres Verfassers, sondern eben auch das Resultat rhetorischer Regelkompetenz.
2. 2.
Suggerierte Spontaneität: Evidentia in der Erlebnislyrik
Der Sturm und Drang gilt als die erste Literaturperiode, in der sich „Dichtung zu wesentlichen Teilen als Ausdruck privater Individualität“41 präsentiert, so dass der Dichter nicht länger nur in einem artifiziellen Verhältnis zu seinem Text steht, sich vielmehr, so Gunter E. Grimm, von der „Letternkultur“ distanziert. 42 Lässt sich das Fortleben der rhetorischen Tradition in einer Rede noch akzeptieren, betrachtet man Lyrik hingegen, insbesondere Erlebnislyrik, also das Gedicht als bekenntnishafte Spiegelung der Erfahrungen eines Autors, seit dem Sturm und Drang meist als eine gänzlich unrhetorische Gattung. „Wir fordern seit Goethe vom Lyriker ein volles, ganz von einer Empfindung volles Herz“,43 ließ etwa Erich Schmidt im 19. Jahrhundert wissen. Zwar ist das Konzept ‚Erlebnislyrik‘ inzwischen vielfach kritisiert worden, aber es dient immer noch als Grenzmarke der rhetorischen Literaturtradition, so dass etwa Rüdiger Campe in Gerhard Kaisers groß angelegter Lyrikgeschichte die Erlebnislyrik als das definitive Ende rhetorischer Literaturproduktion und -analyse präsentiert.44 –––––––––––– 39
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Vgl. Comenius, Johann Amos: Orbis sensualium pictus. London 1659 (Nachdruck Menston 1970). S. 202–203. Goethe: Zum Schäkespears Tag. MA 1, 2. S. 411. Stenzel, Jürgen: „Si vis me flere…“ – „Musa iocosa mea“. Zwei poetologische Argumente in der deutschen Diskussion des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 48 (1974) S. 650–671, hier: S. 650. Grimm, Gunter E.: Letternkultur. Wissenschaftskritik und antigelehrtes Dichten in Deutschland von der Renaissance bis zum Sturm und Drang. Tübingen 1998. Schmidt, Erich: Charakteristiken. Bd. 2. 2. Auflage. Berlin 1912. S. 137. Vgl. Campe, Rüdiger und Gerhard Kaiser: Aufhebung der Rhetorik. In: Kaiser, Gerhard: Geschichte der deutschen Lyrik von Goethe bis Heine. Ein Grundriß in Interpretationen. Bd. 1. Frankfurt am Main 1988. S. 188–212. Eine umfassende Darstellung zur Geschichte der Erlebnislyrik hat Michael Feldt vorgelegt, vgl. M. F.: Lyrik als Erlebnislyrik. Zur Ge-
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Nun lässt sich mit der Forderung nach künstlerischer Objektivierung von Erlebnissen im Gedicht eine gar zu einfache Lyriktheorie, nach der das Gedicht unmittelbarer Ausdruck von Empfindung ist, leicht korrigieren. Doch bleibt das Konzept ‚Erlebnislyrik‘ auch nach einer solchen Korrektur problematisch, denn das Erlebnis, das ein Gedicht motiviert hat, ist in der Lektüre aus hermeneutischen Gründen bestenfalls näherungsweise nachzuvollziehen, so dass Erlebnislyrik eigentlich kaum als Vehikel individueller Empfindung taugt.45 Rhetorisch gesehen, ist es zudem naiv zu glauben, dass die Objektivierung von Erfahrung das intuitive Verdienst eines Genies sein könne, sie ist eher eine gedankliche Leistung des Autors, der all sein Wissen und Können in die Waagschale wirft, was im Falle Goethes auch heißt, dass er die Erkenntnisse seiner gründlichen rhetorischen Ausbildung aufgreift. Zumal Spontaneität und Authentizität ohnehin problematische Konzepte sind, weil der Dichter auf etablierte sprachliche Formeln und auf die topoi einer Kultur angewiesen bleibt, die sich eben auf Grund ihrer rhetorischen Potentialität durchsetzen konnten. Gemeinhin glaubt man, mit dem Sturm und Drang werde das rhetorische Modell der Textproduktion obsolet. Der Dichter scheint auf den Reichtum seiner Empfindungen angewiesen, aber nicht auf die Regeln der Rhetorik, er arbeitet nicht an seinem Text, sondern bringt ihn in mythischer Art und Weise hervor, denn schließlich trägt das Genie die Regeln in sich, verlässt sich ganz und gar auf seine Natur. Goethe selbst – so zeigt eine eingehende Analyse theoretischer und literarischer Schriften – inszeniert sich zwar als Genie, bleibt sich aber der Inszenierung bewusst. Wenn er verkündet „Da sind sie nun! Da habt ihr sie! / ––––––––––––
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schichte eines Literatur- und Mentalitätstypus’ zwischen 1600 und 1900. Heidelberg 1990. Zur kritischen Reformulierung des Konstruktes ‚Erlebnislyrik‘ in Bezug auf Goethe vgl. Sauder, Gerhard: Kommentar „Sesenheimer Lieder“. MA 1, 1. S. 830; Conrady, Karl Otto: Goethe. Leben und Werk. Bd. 1: Hälfte des Lebens. Frankfurt am Main 1988. S. 134–136. Die von Conrady geäußerte Kritik am Begriff ‚Erlebnislyrik‘ verteidigt ausdrücklich die Bedeutung von Erlebnissen für die Dichtung (vgl. K. O. C.: Noch etwas über den Begriff Erlebnislyrik. In: Ernst, Ulrich und Bernhard Sowinski: Architectura poetica. Festschrift für Johannes Rathofer. Köln 1990. S. 359–369, hier: S. 368–369). Auf die Naivität des Begriffs ‚Erlebnislyrik‘ hat weiterhin Sorg, Bernhard: Das lyrische Ich. Untersuchungen zu deutschen Gedichten von Gryphius bis Benn. Tübingen 1984. S. 83–86 hingewiesen. Eine Verteidigung des Begriffs ‚Erlebnislyrik‘ hat in neuerer Zeit neben Gerhard Kaiser auch Terence James Reed vorgelegt (vgl. T. J. R.: Erlebnislyrik und Gesellschaft. Zur Rettung eines in Verruf geratenen Begriffs. In: Schöne, Albrecht (Hrsg.): Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses, Göttingen 1985. Bd. 8: Haug, Walter u. Wilfried Barner (Hrsg.): Ethische contra ästhetische Legitimation von Literatur. Traditionalismus und Modernismus: Kontroversen um den Avantgardismus. Tübingen 1986. S. 56–65). Vgl. Ekmann, Bjørn: Verfremdung in der ‚Erlebnislyrik‘ I u. II. In: Text und Kontext 15 (1987) S. 97–123 u. 209–260. Ekmann versucht den Begriff ‚Erlebnislyrik‘ durch eine symbolische Deutung zu retten, nach der Erlebnislyrik Ausdruck einer „gelungenen Existenz“ ist, die symbolisch artikuliert wird, doch bleibt die hermeneutische Unzugänglichkeit des Erlebnisses als Problem bestehen.
Die Lieder, ohne Kunst und Müh“,46 ist vor allem dissimulatio artis im Spiel. Auch das Genie ist auf sprachlichen Ausdruck angewiesen, deren Regeln die antike Rhetorik auf Grund empirischer Beobachtung zusammengetragen hat. Dieses Wissen setzt Goethe ein, verbindet also Erkenntnisse seiner Ausbildung mit dem vermeintlich „antirhetorisch[en]“47 Programm des Sturm und Drang. Durch seine Ausbildung sind ihm die Regeln der inventio, dispositio und elocutio in Fleisch und Blut übergegangen und daher sind seine Texte, selbst wenn sie Genialität inszenieren und gegen die Regeln ins Feld ziehen, zugleich Ausdruck rhetorischer Kompetenz und Kunstfertigkeit. Erlebnislyrik meint keine konsequente Abwendung von Rhetorik, vielmehr werden Traditionslinien, die die Bedeutung von Genie gegenüber der ars hervorheben, wichtiger, und es sind andere elokutionäre Prinzipien am Werk als etwa im Barock. Dabei erweisen sich die evidentiaStrategien der Shakespeare-Rede auch in den Gedichten als probates Mittel, um Gefühle darzustellen. Comenius’ Definition der Rhetorik als Technik bildlichevidenter Kommunikation wirkt fort, und man kann von einer Technik suggerierter Spontaneität ausgehen, die Goethe etwa im „Maifest“ einsetzt und in „Künstlers Morgenlied“ sogar ausdrücklich aus einer rhetorischen Perspektive bewertet. Maifest Wie herrlich leuchtet Mir die Natur! Wie glänzt die Sonne! Wie lacht die Flur!
O Mädchen Mädchen, Wie lieb’ ich dich! Wie blinkt dein Auge! Wie liebst du mich!
Es dringen Blüten Aus jedem Zweig, Und tausend Stimmen Aus dem Gesträuch,
So liebt die Lerche Gesang und Luft, Und Morgenblumen Den Himmels Duft,
Und Freud und Wonne Aus jeder Brust. O Erd o Sonne O Glück o Lust!
Wie ich dich liebe Mit warmen Blut, Die du mir Jugend Und Freud und Mut
O Lieb’ o Liebe, So golden schön, Wie Morgenwolken Auf jenen Höhn;
Zu neuen Liedern, Und Tänzen gibst! Sei ewig glücklich Wie du mich liebst!48
Du segnest herrlich Das frische Feld, Im Blütendampfe Die volle Welt.
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Goethe: Zueignung. MA 1, 1. S. 152. Campe, Rüdiger: Umbrüche und Wandlungen der Rhetorik. In: Glaser, Horst Albert u. György M. Vajda: Die Wende von der Aufklärung zur Romantik 1760–1820. Amsterdam 2001. S. 589–612, hier: S. 591. Goethe: Maifest. MA 1, 1. S. 162–163.
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Die wiedererwachende Natur ist Thema des Gedichts „Maifest“, Goethe setzt kurze elliptische Sätze und Interjektionen ein, um ein Gefühl von Spontaneität zu erzeugen, macht Empfindungen durch die Reihung einzelner Impressionen anschaulich. Was Hans Robert Jauß mit Blick auf den „Werther“ als Sprachform der „gesteigerte[n] Unmittelbarkeit“49 charakterisiert hat, die „spontane Regungen“50 eines Gefühls zugänglich macht, erweist sich dabei als ein Kunstprodukt, rhetorisch hergestellt durch rhetorische Figuren und beeinflusst von rhetorischen Stilidealen (Ellipse, Interjektion, Metapher, enumeratio, brevitas). Zwar beweist die rhetorische Struktur des Textes nicht unbedingt, dass Goethe bewusst rhetorische Mittel eingesetzt hat. Allerdings lässt sich die rhetorische Struktur dieses und anderer früher Gedichte auch nicht als Argument gegen die Bezugnahme auf rhetorische Techniken werten, wie Rüdiger Campe für den Beginn des Gedichts „Maifest“ vorschlägt. Er sieht hier eine Distanznahme und Ironisierung rhetorischer Figuren. Mit dem Ausdruck „Wie lacht die Flur“ werde ein Beispiel für die Verweigerung metaphorischen Sprechens eingeleitet, schließlich sei die Formulierung selbst bereits lexikalisiert und daher zumal in ihrer Ausgestaltung im Gedicht nicht mehr metaphorisch zu verstehen.51 Es lässt sich wohl darüber streiten, ob der Ausdruck „lachende Flur“ so sehr erkaltet ist, dass sie nicht mehr als Metapher zählt, jedenfalls lässt sich eine kritische Haltung Goethes gegenüber rhetorischen Figuren so kaum begründen. Wie man sich auch fragen darf, ob das Gedicht den Vergleich als rhetorische Figur wirklich ad absurdum führt oder ob es nicht auf raffinierte Weise mit dem Topos der Unsagbarkeit spielt. Goethe bedient sich, um die herrliche Natur und das Liebesgefühl sprachlich zu fassen, zudem der evidentia, also der Bildlichmachung von Natur- und Liebeserfahrung, diesmal durch das Herausgreifen von Details wie den hervorbrechenden Blüten, das Auge des Mädchens usw. Alles in allem vollzieht Goethe mit dem „Maifest“ keine Abkehr von rhetorischer Technik, sondern geht vielmehr souverän mit rhetorischen Figuren um, weil sich nur so Natur- und Liebeserlebnis im Text artikulieren lassen. Positiv gewendet, trägt das Gedicht sogar dazu bei, der erkaltenden Metapher von der lachenden Natur durch sinnliche Evidenz neue Kraft zu geben. Gleichwohl belegt das „Maifest“ nicht nur Goethes rhetorische Souveränität, sondern ist auch ein Wegbereiter einer neuen Art von Lyrik, indem es Naturer–––––––––––– 49 50 51
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Jauß, Hans Robert: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt am Main 1982. S. 630. Ebd. S. 631. Vgl. Campe, Rüdiger: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1990. S. 540–544 u. 549; Campe, Rüdiger und Gerhard Kaiser: Aufhebung der Rhetorik. In: Kaiser, Gerhard: Geschichte der deutschen Lyrik von Goethe bis Heine. Ein Grundriß in Interpretationen. Bd. 1. Frankfurt am Main 1988. S. 188–212, hier: S. 208. Von einem „ständige[n] Vergleichen“ im Gedicht geht Gerhard Sauder aus und verkennt so den Charakter der Sätze als Interjektionen, die etwas kaum Fassbares zu fassen versuchen (Topos der Unsagbarkeit). Vgl. G. S.: Kommentar „Maifest“. MA 1, 1. S. 836.
fahrung konsequent als individuelle Erfahrung darstellt.52 Die Personifikation der Natur geht von der Empfindung des Autors aus und ist an diese zurückgebunden, Goethe konstruiert eine Identität von „Apperzeption und Apperzipiertem“.53 Doch lässt sich Erlebnislyrik nicht als Typus beschreiben, der „nach der Auflösung der rhetorischen Dichtungstraditionen“54 entsteht, wie Feldt das versucht, oder als Beispiel, „wie sich die Literatur von der Rhetorik fort- und losschreibt“55 (Campe), sondern ist vielmehr als eine literarische Strömung zu sehen, die weiterhin die Techniken der antiken Rhetorik einsetzt. Die Rhetorik ist – so eine Formulierung von Pethes – die „Möglichkeitsbedingung emphatischen Ausdrucks“.56 Nur mit Hilfe der Rhetorik lassen sich die Affekte und Empfindungen darstellen, nur mit Hilfe rhetorischer Figuren lässt sich Naturerfahrung kommunizieren, insofern belegt schon die frühe Erlebnislyrik Zelles These von der „Geburt der Natur aus dem Geiste der Rhetorik.“ 57 In „Künstlers Morgenlied“ thematisiert Goethe diese Verbindung von Dichtung und rhetorischer Tradition und spielt mit der Idee, Dichtung sei nichts anderes als spontaner authentischer Ausdruck von Empfindungen. Er nimmt ironische Distanz nicht zur Rhetorik, sondern zu der ästhetischen Struktur, die man später zur Erlebnislyrik verklärt hat, indem er die Wirkungsästhetik einer evidenten Darstellungsweise reflektiert. Der Beginn des Gedichts wirkt zunächst konventionell, so als ob es dem Topos der Musenanrufung folgt. Doch darf man sich nicht täuschen lassen, denn Goethe geht in ganz eigener Weise mit dem topischen Muster um: Er formuliert keine topische Bitte um die Gunst der Musen, vielmehr soll den Musen ein Tempel im Innern des Künstlers erbaut werden. Inspiration bedeutet hier, wie das seit Ps.-Longin denkbar ist, literarischen Vorbildern zu folgen statt den Einflüsterungen der Musen: „und lese wie sich s ziemt / [….] / im heiligen Homer“. Mit dieser Auffassung von Inspiration bewegt Goethe sich auf rhetorischem Boden, setzt einem mythischen Inspirationsmodell ein literarisch gebildetes Individuum entgegen, das durch exempla Inspiration findet. –––––––––––– 52 53 54 55 56
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Vgl. dazu auch Feldt, Michael: Lyrik als Erlebnislyrik. Zur Geschichte eines Literatur- und Mentalitätstypus’ zwischen 1600 und 1900. Heidelberg 1990. S. 174–175. Sorg, Bernhard: Das lyrische Ich. Untersuchungen zu deutschen Gedichten von Gryphius bis Benn. Tübingen 1984. S. 84. Vgl. Feldt, Michael: Lyrik als Erlebnislyrik. Zur Geschichte eines Literatur- und Mentalitätstypus’ zwischen 1600 und 1900. Heidelberg 1990. S. 11. Vgl. Campe, Rüdiger: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1990. S. 487. Pethes, Nicolas: „In jenem elastischen Medium“. Der Topos ‚Prozessualität‘ in der Rhetorik der Wissenschaften seit 1800 (Novalis, Goethe, Bernard). In: Jürgen Fohrmann (Hrsg.): Rhetorik. Figuration und Performanz. Stuttgart u. Weimar 2004. S. 131–151, hier: S. 145. Zelle, Carsten: Die Geburt der Natur aus dem Geiste der Rhetorik. Zur Schematisierung von Natur und Genie bei Dennis und Goethe. In: Scheffel, Michael (Hrsg.): Erschriebene Natur. Internationale Perspektiven auf Texte des 18. Jahrhunderts. Bern 2001. S. 145–167, hier: S. 161.
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Künstlers Morgenlied
Ich hab euch einen Tempel baut Ihr hohen Musen all und hier in meinem Herzen ist das Allerheiligste.
Ich dränge mich hinan hinan da kämpfen sie um ihn die tapfern Freunde tapferer in ihrer Tränen Wut
Wenn Morgends mich die Sonne weckt warm froh ich schau umher steht rings ihr ewig lebenden in heilgem Morgenglanz.
Ach rettet kämpfet rettet ihn in’s Lager bringt ihn rück und Balsam gießt dem Toten auf u. Tränen Toten Ehr.
Ich bet hinan und Lobgesang ist lauter mein Gebet und Freude klingend Saitenspiel begleitet mein Gebet.
Und find ich mich zurück hierher empfängst du Liebe mich mein Mädgen ach im Bilde nur und so im Bilde warm.
Ich trete vor den Altar hier und lese wie sich s ziemt Andacht liturgscher Lektion im heiligen Homer.
Ach wie du ruhtest neben mir Mich schmachtetst liebend an und mirs vom Aug durch s Herz hindurch in Griffel schmachtete.
Und wenn der in’s Getümmel mich von Löwenkriegern reißt und Göttersöhn auf Wägen hoch rachglühend stürmen an
Wie ich an Aug u. Wange mich und Mund mich weidete u. mir’s im Busen jung u. frisch wie einer Gottheit war
Und Roß dann vor dem Wagen stürzt Und drunter und drüber sich Freund Feind sich wälz’n in Todesblut Er sengte sie dahin
O kehre doch u. bleibe dann in meinen Armen fest u. keine keine Schlachten mehr nur dich in meinem Arm
Mit Flammenschwert der Heldensohn Zehntausend auf einmal bis denn auch er gebändiget von einer Gottheit Hand
Und sollst mir meine Liebe sein Alldeutend Ideal, Madonna sein ein Erstlingskind ein heilges an der Brust.
’Rab auf den Toten Rogus stürzt, den er sich selbst gehäuft und Feinde nun den schönen Leib verschändend tasten an,
Und haschen will ich Nymphe dich im tiefen Waldgebüsch ein geiles Schwänzgen hinten vor die Ohren aufgereckt.
Da greif ich mutig auf u. faß die Kohle wird Gewehr und jene meine hohe Wand in Schlachtfelds Wogen braust.
Und liegen will ich Mars zu dir du Liebesgöttin stark, Und ziehn ein Netz um uns herum und rufen dem Olymp
Hinan! Hinan! es heulet laut Gebrüll der Feinde Wut u. Schild an Schild u. Schwert auf Helm u. um den Toten Tod!
Wer von den Göttern kommen will beneiden unser Glück und solls die Fratze Eifersucht an Bettfuß angebannt.58
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Goethe: Künstlers Morgenlied. MA 1, 1. S. 227–231.
Auch in „Künstlers Morgenlied“59 arbeitet Goethe mit dem Stilmittel evidentia, in der fünften Strophe beginnt er mit der Schilderung einer homerischen Szenerie („Und wenn der in’s Getümmel mich / von Löwenkriegern reißt“), die er mit anschaulichen Bildern ausstaffiert und gegenwärtig werden lässt, woraus sich, wie es schon Ps.-Longin beschrieben hat, eine dramatische Wirkung ergibt.60 Synästhetisierend entfaltet er die Szenerie: Ross, Wagen, Getümmel gehören ebenso dazu wie das „Gebrüll der Feinde“ und haptische Signale wie das Tasten am Leib des Gegners. Mit Formulierungen wie „Löwenkrieger“ (eine Reminiszenz an das alte Schulbeispiel für eine Metapher „Achill war ein Löwe in der Schlacht“),61 „Flammenschwert“ und „Todesblut“ werden die Ereignisse metaphorisch erweitert, so dass die von Homer inspirierte Szenerie eine starke pathetische Wirkung erreicht. Die Betrachtung eines Bildes der Geliebten beendet das Schauspiel durch die Erinnerung an Momente der Liebe („mein Mädchen ach im Bilde nur / und so im Bilde warm.“), die für den Dichter Inspiration bieten und ihn von der Arbeit am Text entheben, so dass es „vom Aug durch s Herz hindurch / in Griffel schmachtete“. Das klingt, als sei Dichtung geronnene Erfahrung und Empfindung, nach typischer Geniepose. Die liturgischen Rituale des Künstlers, der Dienst an der Muse, die er doch selbst erschafft, und die Hervorhebung literarischer Vorbilder dementieren aber das Schmachten vom Herz in den Griffel. Inszeniert ist eine Spontaneität der Empfindung, die die ganze Anlage des Gedichts widerlegt. Spontaneität wird suggeriert, in Wirklichkeit aber vom Künstler hergestellt, der ebenso zum Schöpfer der homerischen Schlachtszene wie zum Zeichner eines Porträts taugt, das (in den letzten vier Strophen) die Vision zukünftigen Glücks enthält, sich und die Geliebte mythisch zu Mars und Venus verklärend.62 Gerade die Anschaulichkeit selbst ist offenbar inspirierend, ein Bild löst weitere Bilder aus und führt zu einer Serie unterschiedlicher Szenerien. Reflektierte Autorschaft und inszeniertes Genie sind hier eng zusammengeführt. –––––––––––– 59
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Das Gedicht wurde 1776 zum ersten Mal innerhalb der Sammlung „Aus Goethes Brieftasche“ als Ergänzung zur Übersetzung von Louis-Sébastian Merciers „Du théâtre ou Nouvel essai sur l’art dramatique“ von Heinrich Leopold Wagner in Leipzig 1776 veröffentlicht. Es wird zumeist auf Anfang 1773 datiert, da Goethes Briefe in dieser Zeit ein neues Interesse des Autors an Homer erkennen lassen (vgl. Sauder, Gerhard: Kommentar „Gedichte und Stammbucheintragungen“. MA 1, 1. S. 866). Vgl. [Ps.-]Longin. Vom Erhabenen. Griechisch u. deutsch. Übersetzt u. hrsg. v. Otto Schönberger. Stuttgart 1988 [künftig zitiert als Ps.-Longin] 25. Außerdem Carrdus, Anna: „Und mir’s vom Aug’ durchs Herz hindurch in’n Griffel schmachtete“ – Rhetoric in Goethe’s „Erlebnislyrik“. In: Publications of the English Goethe Society. New Series 62 (1993) S. 35–58, hier: S. 53. Die von Goethe geschilderte Szenerie würde demnach den 16. bis 18. Gesang der Homerischen „Ilias“ aufnehmen. Dieses Motiv findet sich bei Homer im achten Gesang der „Odyssee“.
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Evidentia ist, die Shakespeare-Rede verdeutlicht dies ebenso wie die Erlebnislyrik, ein wichtiges rhetorisches Mittel für Goethe. In „Künstlers Morgenlied“ führt er den Leser mit Hilfe dieser Technik in verschiedene Zeiten und Wirklichkeiten, mehr noch, er reflektiert über die ästhetische Bedeutung dieses rhetorischen Mittels. Anna Carrdus hat nachgewiesen, wie genau Goethe mit der rhetorischen Theorie dieses Stilmittels vertraut war, 63 da er sowohl das produktive Potential evidenter Bilder als auch die Wirkung auf den Rezipienten aufgreift. Die Bedeutung bildlicher Darstellung ist in der Literaturtheorie des 18. Jahrhunderts ein intensiv diskutiertes Thema: So hatte Lessing im „Laokoon“ in kritischer Auseinandersetzung mit der Literaturtheorie Bodmers und Breitingers dargelegt, dass diese durch den Begriff ‚poetische Malerei‘ den Blick auf die Wirkung bildlicher Ausdrucksweise verstellen, weshalb er lieber von ‚poetischen Phantasiebildern‘ spricht.64 Herder hat das Thema im „Ersten Kritischen Wäldchen“ aufgegriffen und erkannt, dass, wie Carrdus formuliert, „the animating power of imagination is the very essence of poetry“.65 Comenius’ Definition der Rhetorik, wonach der Redner durch Bildlichkeit zu überzeugen versucht, seinen Gedanken durch szenische Darstellung Plausibilität verleiht, hebt also auch ein zentrales Verfahren der Literatur hervor. So versteht Herder die Erregung von Phantasiebildern als eigentliche Herausforderung für den Schriftsteller. Im Sinne der rhetorischen Tradition unterscheidet er dabei zwischen der Technik, dem Rezipienten „jeden Gegenstand gleichsam sichtlich vor die Seele“66 zu stellen, enargeia genannt, und der Wirkung dieser Darstellung, energeia genannt, die darauf beruht, dass die Phantasie des Rezipienten angesprochen wird und diese die Bilder ausstaffiert. Die Zeilen „Da greif ich mutig auf u. faß / die Kohle wird Gewehr“ aus dem Gedicht „Künstlers Morgenlied“ interpretiert Carrdus als Reflex des energeia–––––––––––– 63
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Carrdus, Anna: „Und mir’s vom Aug’ durchs Herz hindurch in’n Griffel schmachtete“ – Rhetoric in Goethe’s „Erlebnislyrik“. In: Publications of the English Goethe Society. New Series 62 (1993) S. 35–58. Vgl. dazu auch Meuthen, Erich: Selbstüberredung. Rhetorik und Roman im 18. Jahrhundert. Freiburg im Breisgau 1994. S. 85–89, der wesentliche Momente der evidentia-Lehre bei Cicero und Quintilian skizziert und zudem deren poetische Funktionalisierung bei Johann Jacob Breitinger behandelt. Vgl. Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon. In: Ders.: Werke und Briefe. Hrsg. v. Wilfried Barner, Klaus Bohnen u. a. Bd. 5, 2: Werke 1766–1769. Hrsg. v. W. B. Frankfurt am Main 1990. S. 114. Vgl. dazu Goethes Lob für Lessing in „Dichtung und Wahrheit“: „Das so lange mißverstandene: ut pictura poesis, war auf einmal beseitigt, der Unterschied der bildenden und Redekünste klar, die Gipfel beider erschienen nun getrennt, wie nah ihre Basen auch zusammenstoßen mochten.“ (Goethe: Dichtung und Wahrheit. MA 16. S. 341). Carrdus, Anna: „Und mir’s vom Aug’ durchs Herz hindurch in’n Griffel schmachtete“ – Rhetoric in Goethe’s „Erlebnislyrik“. In: Publications of the English Goethe Society. New Series 62 (1993) S. 35–58, hier: S. 46. Vgl. Herder, Johann Gottfried: Erstes kritisches Wäldchen. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hrsg. v. Günter Arnold, Martin Bollacher u. a. Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767–1781. Hrsg. v. Gunter E. Grimm. Frankfurt am Main 1993. S. 195.
Aspekts von evidentia.67 Das Material des Dichters, die Sprache, hat, sofern sie bildlich ist, wie die Malkohle des Künstlers das Potential, die Phantasie des Lesers anzusprechen, virtuelle Wirklichkeiten zu erzeugen. Auf diesem bereits von Ps.-Longin erfassten Zusammenhang beruht letztlich die Möglichkeit zur Erlebnislyrik: „language can convey images from the imagination of the poet or orator to the mind’s eye of the audience“.68 Durch die „exploitation of enargeia, energeia“69 gelingt Goethe die Darstellung von Empfindungen. Im Bild von der Malkohle, die zum Gewehr wird, hat er die Wirkungsweise sprachlicher Kommunikation kongenial beschrieben, indem er das Wissen der rhetorisch-poetischen Tradition, deren Ende doch angeblich mit der Erlebnislyrik erreicht ist, aufnimmt, d. h. produktiv anwendet und unter rezeptionsästhetischer Perspektive reflektiert. Rhetorik als systematische Anleitung zum Verfassen von Texten bleibt also im Sturm und Drang, selbst in der so genannten Erlebnislyrik, ein aufschlussreicher Bezugspunkt für Goethe. Nicht nur im Sinne einer rhetorica contra rhetoricam wendet er das systematische Wissen der Rhetorik an, um gegen eine überzogene Regelpoetik zu polemisieren, vielmehr ist er sich der produktionsästhetischen und rezeptionsästhetischen Dimension der rhetorischen Stilmittel bewusst, reflektiert diese in theoretischen Texten wie der Shakespeare-Rede und in seinen literarischen Werken. Dass es dem Dichter vom Herz in den Griffel schmachtet, ist ein ideales Modell von Erlebnislyrik, auch für Goethe, das er aber nicht um den Preis der Rhetorik verfolgt, auch nicht verfolgen muss, weil die antike Rhetorik systematische Kunstlehre und anthropologische Produktionsmodelle miteinander verknüpft. Wenn in „Künstlers Morgenlied“ so unterschiedliche ästhetische Modelle wie göttliche Inspiration, kreative Schöpfung aus einer individuellen Gefühlslage und Evidenz als Richtschnur einer zielgerichteten Figuralrhetorik zugleich vorkommen, bedeutet dies nichts anderes, als dass die rhizomatische Komplexität der rhetorischen Tradition in dem Gedicht ins Spiel gebracht wird, in der Rhetorik eben nicht nur als Kunstlehre enthalten ist, sondern auch die Natur des Redners und die Wirkung spontaner emotionaler Rede Thema ist. Für Goethes Ästhetik sinnlich-konkreter Anschaulichkeit ist die Gedankenfigur evidentia ein wichtiges rhetorisches Paradigma und insofern wegweisend für seine weitere Entwicklung, als er selbst in der klassischen Symbol-Ästhetik dem Prinzip Anschaulichkeit verbunden bleibt und dem SinnlichAnschaulichen einen erkenntnistheoretischen Wert zuschreibt. –––––––––––– 67
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Vgl. Carrdus, Anna: „Und mir’s vom Aug’ durchs Herz hindurch in’n Griffel schmachtete“ – Rhetoric in Goethe’s „Erlebnislyrik“. In: Publications of the English Goethe Society. New Series 62 (1993) S. 35–58, hier: S. 47–51. Carrdus, Anna: „Und mir’s vom Aug’ durchs Herz hindurch in’n Griffel schmachtete“ – Rhetoric in Goethe’s „Erlebnislyrik“. In: Publications of the English Goethe Society. New Series 62 (1993) S. 35–58, hier: S. 36. Vgl. zum Potential der Bilder Ps.-Longin 15. Ebd. S. 54.
71
3.
Genie statt Rhetorik? – Anthropologische Modelle der Rhetorik als Subtext des Genie-Diskurses
Wenn mir im Grunde der Seele nicht noch so vieles ahndete, manchmal nur aufschwebte, daß ich hoffen könnte „Wenn Schönheit und Größe sich mehr in dein Gefühl webt, wirst du Gutes und Schönes thun, reden und schreiben, ohne daß du’s weißt, warum.“1
3. 1.
Das rhetorische ars-natura-Modell
Wenn man die Epoche des Sturm und Drang als konsequenten literarischen Neubeginn interpretiert, wie das beispielsweise in Gerhard Kaisers Lyrikgeschichte geschieht, hat dies meist eine strikte Trennung zwischen Rhetorik, die man als eine von Regeln geleitete Kunstfertigkeit versteht, und Genie zur Folge: Genie meint dann natürliche Begabung, Empfindungs- und Erfindungsreichtum, die ohne technisches Regelwissen, wie es die Rhetorik bereithält, auskommen.2 In diesem Verständnis beruht Genie auf der Subjektivität des Künstlers, und die gilt als einzig maßgebend. Dass damit die Rhetorik oder eine rhetorisch geprägte Poetik im Genie-Diskurs keine Rolle mehr spielt, ist aber ein Irrglaube, weder realitätsnah – schließlich sind die meisten Dichter der Genieperiode noch gründlich rhetorisch ausgebildet worden – noch rhetorikgeschichtlich konsistent, wie im Folgenden zu zeigen ist. Die antike Rhetorik integriert in ihrer rhizomatischen Struktur Rhetorik als Kunstfertigkeit, die sprachliche Strukturen in systematischer Form zusammenträgt, also Rhetorik als ars, und eine ‚Natur-Rhetorik‘, –––––––––––– 1 2
Goethe an Johann Gottfried Herder. Brief vom Juli 1772. WA IV, 2. S. 19. Klaus Gerth hat den Bedeutungswandel des Begriffs ‚Empfindung‘ im 18. Jahrhundert nachgezeichnet. Zunächst dient er vor allem zur Bezeichnung der Vorstellung einer Sache, noch bei Adelung wird ‚Empfindung‘ als „Vorstellung einer gegenwärtigen Sache selbst“ definiert (Adelung, Johann Christoph: Grammatisch kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Bd. 1. Wien 1808. Sp. 1800), während er – vor allem vermittelt durch du Bos – im Laufe des 18. Jahrhunderts generalisiert wird und daraufhin als „Äußerung der Seele“ gebraucht wird (vgl. K. G.: Die Poetik des Sturm und Drang. In: Hinck, Walter (Hrsg.): Sturm und Drang. Ein literaturwissenschaftliches Studienbuch. Kronberg/Taunus 1978. S. 55–80, hier: S. 59). Bei Goethe wird der Begriff in der Regel schon im generalisierten Sinne benutzt, wobei sich allerdings zeigt, dass die von Gerth skizzierte Entwicklung allzu sehr simplifiziert, da auch der Pietismus und der englische Sentimentalismus zur Veränderung des Begriffs beitragen.
die individuelle Wirkungen des Redners berücksichtigt. Als anthropologisches Modell befasst sich die Rhetorik mit den persönlichen Voraussetzungen des rednerischen Erfolgs, führt rednerische Wirkung auf die Natur des Redners zurück, behandelt die Emotionalität des Redners als einen möglicherweise entscheidenden Erfolgsfaktor. Diese anthropologischen Überlegungen gehören zum Subtext des Genie-Diskurses im 18. Jahrhundert. Das Referat der Autoritäten von Goethes rhetorischer Ausbildung etwa führt deutlich vor Augen, dass das anthropologische Wissen der Rhetorik in Goethes Ausbildung ein wichtiges Thema war: Ernesti beispielsweise verwies auf die anthropologische Dimension der antiken Rhetorik, Gellert kritisierte, dass bloßes Befolgen von Regeln keinen wirkungsvollen Text hervorbringe, und selbst in Gesners Schulbuch ist die natura des Redners ein zentrales Thema, während er und auch die anderen Autoren ganz selbstverständlich das systematische Wissen der Rhetorik über Produktionsstadien, Figuren etc. referieren. Nach Cicero und Quintilian soll rhetorische Ausbildung durch beständige Übung (exercitatio) unter Einbeziehung von ars und natura die Fähigkeiten des Redners entfalten. Die Idee, wirkungsvolle sprachliche Kommunikation sei einzig das Ergebnis formaler Regelanwendung führt nach dieser Vorstellung ebenso in die Sackgasse wie die Vorstellung, ein talentierter Redner erreiche allein durch seine natura optimale Wirkung. Allerdings erkannten schon Cicero und Quintilian einen Hiat zwischen ars und natura. Quintilian beantwortet die Frage, „ob die Natur mehr zur Beredsamkeit beisteuert oder die wissenschaftliche Ausbildung“,3 diplomatisch mit dem Hinweis, dass ein Redner weder ohne natürliche Begabung noch ohne Ausbildung auskommen kann, und versucht diese Position durch zwei längere Vergleiche zu belegen. Dabei dient ihm zunächst der Bauer, der auf einen guten Boden angewiesen ist, um eine reiche Ernte zu erlangen, als Beispiel,4 dann erläutert er das Verhältnis von ars und natura anhand des Bildhauers Praxiteles: Hätte Praxiteles es versucht, aus einem Mühlstein eine Statue zu meißeln, so wäre mir ein unbehauener Block aus persischem Marmor lieber; wenn aber ebendiesen Marmor derselbe Künstler bearbeitet hätte, so hätten seine Hände dabei mehr bedeutet als der Marmor.5
Quintilian meidet eine direkte Antwort auf die Frage nach dem Vorrang von Natur oder Kunst für den Redner, flüchtet sich in Vergleiche, weil die Alternative nicht befriedigend ist, ein guter Redner auf seine Naturanlagen genauso angewiesen ist wie auf seine rhetorische Kunstfertigkeit. Goethe kannte diese Diskussion genau, er hat Quintilians Erkenntnis „Vollkommne Künstler haben –––––––––––– 3 4 5
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Quint. Inst. orat. II, 18, 1. Vgl. ebd. II, 19, 2. Ebd. II, 19, 3.
mehr dem Unterricht als der Natur zu danken“,6 die an einer Schlüsselstelle seiner Überlegungen zum ars-natura-Gegensatz im zweiten Buch der „Institutio oratoria“ steht – in der Folge aber auch wieder relativiert wird – in den „Maximen und Reflexionen“ zitiert.7 Das Zitat aus den „Maximen und Reflexionen“ ist nicht datiert, spiegelt aber wohl eher eine spätere Position Goethes, in der er dazu neigte, die Regeln der Kunst und nicht so sehr das Empfinden des Künstlers zum Markstein künstlerischer Qualität zu machen. Performativ jedoch bleibt Goethe selbst während der Geniephase nah am Kompromiss zwischen ars und natura, wie er in der antiken rhetorischen Schultradition angelegt ist. Dass sich individuelle Empfindung und rhetorische Kunstfertigkeit nicht ausschließen, ist deutlich an seiner Shakespeare-Rede, aber auch an seiner Lyrik zu erkennen. Obwohl Goethe den rhetorischen Kompromiss zwischen ars und natura in der Praxis nicht aufgibt, ist für die Ausbildung der Ästhetik des Sturm und Drang vor allem die rhetorische Theorie der natura, also das anthropologische Wissen der Rhetorik, von Bedeutung und findet Eingang in den Geniediskurs, weil sich so der einseitig technische Rhetorikbegriff des Barock und der rationalistische der Aufklärung korrigieren lassen. Nach antiker Vorstellung gehören zur natura des Redners sowohl physische Eigenschaften wie „Zungenfertigkeit, […] Klang der Stimme, […] Lunge und Körperkraft, […] Form und Bildung des Gesichts und Körpers“8 als auch bestimmte psychische Dispositionen, die unter dem Begriff ingenium zu subsumieren sind.9 Das ingenium zeigt sich nach Cicero durch „eine ganz geschwinde Beweglichkeit des Geistes“ („animi atque ingeni celeres quidam motus esse debent“), „Scharfsinn“ („ad excogitandum acuti“), reiche Fülle (ubertas) und ausgezeichnetes Gedächtnis (memoria).10 Diese Eigenschaften können nicht „künstlich entflammen“, lassen sich nicht durch irgendwelche Techniken „erregen“,11 sie gehören vielmehr zu einem geistreichen Menschen („ingeniosus“12). Die Abgrenzung von ingenium und natura, nach der ingenium für psychische Eigenschaften steht, während natura sowohl Allge–––––––––––– 6 7
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Ebd. II, 19, 2. Vgl. Goethe: Maximen und Reflexionen. MA 17. S. 879. Max Hecker konnte dieses Zitat nicht datieren, vgl. John, Johannes: Kommentar zu „Maximen und Reflexionen. MA 17. S. 1246. Schon Grumach hat das Zitat auf Quintilian zurückgeführt (vgl. Grumach. Bd. 2. S. 910). Cic. De orat. I, 114. In der griechischen Antike ist eine einheitliche Konzeption von ingenium noch nicht zu erkennen, stattdessen wird das Phänomen unter verschiedenen Stichworten wie etwa εὐφυία und φαντασία diskutiert. Vgl. Engels, Johannes: Artikel „Ingenium“. HWRh. Bd. 3. Sp. 382–417, hier: Sp. 383 u. Sp. 386–388. Vgl. Cic. De orat. I, 113. Vgl. ebd. I, 114. Vgl. Cicero, Marcus Tullius: De finibus bonorum et malorum. Über das höchste Gut und das größte Übel. Lateinisch-deutsch. Übersetzt u. hrsg. v. Harald Merklin. Stuttgart 1989. V, 13, 36.
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meinbegriff ist (und dann im Gegensatz zur ars steht) als auch spezifische Bezeichnung für die eher körperlichen Eigenschaften eines Redners, deutet sich in „De oratore“ nur an, lässt sich aber durch die Definition von ingenium in „De natura deorum“ belegen.13 In Anbetracht von Goethes rhetorischer Ausbildung ist es schwer vorstellbar, dass diese Charakteristika des ingenium nicht in die Konstruktion und Ideologisierung der Genie-Konstruktion eingegangen sein sollten. Eine besondere Fülle von Erfahrungen und Ideen, geistige Beweglichkeit bewundert Goethe beispielsweise am Originalgenie Shakespeare. Auch die körperlichen Aspekte von natura sind für die Genie-Definition des 18. Jahrhunderts bedeutsam, sei es in Goethes Selbstdarstellung als sturmtrotzender Wanderer in frühen Gedichten, sei es in Lavaters Physiognomik, die bestimmte körperliche Eigenschaften und Merkmale mit Genie verbindet, so dass sich die Doppelung natura-ingenium fortsetzt. Freilich gibt es auch wesentliche Differenzen zwischen dem Selbstverständnis der Genies und dem rhetorischen ingenium-Modell: memoria, die der Aneignung von res dient, ist im Genie-Diskurs des Sturm und Drang wenig gefragt, ebenso ist ubertas, also das bloße Ansammeln von Wissen (scientia), kaum von Interesse.14 Wichtiger noch: Wenn Cicero in „De oratore“ die Bedeutung von Gedanken und Gefühlen des Redners darlegt, ordnet er der natura des Redners die Begabung zu, Gedanken und Empfindungen der Zuhörer zu erfassen, d. h., hier sind die Zuhörer richtunggebend.15 Demgegenüber wird Genie im Sturm und Drang dahingehend ideologisiert, dass der Empfindung des Genies der Vorrang vor der situativen Anpassung des antiken Redners an das jeweilige telos zukommt. Durch das Hervorbrechen einer gesteigerten Individualitätswahrnehmung unterscheidet sich der moderne Genie-Begriff vom alten ingeniumKonzept. In einer Lavater-Rezension der „Frankfurter Gelehrten Anzeigen“ kann man exemplarisch erkennen, wie selbstverständliche die individuelle Betrachtungsweise in dieser Zeit wurde, denn der axiomatische Ausgangspunkt der Rezension lautet: „Jedes große Genie hat seinen eigenen Gang, seinen eigenen Ausdruck, seinen eigenen Ton, sein eigenes System, und sogar sein eigenes Costum.“16 Alle Eigenschaften eines Genies werden ihm als Person zugeschrieben und – auch das ist neu – mit Prozessen historischer Prägung in Verbindung gebracht. Eine anonyme Wood-Rezension aus der gleichen Quelle macht dies am Beispiel Homers deutlich: Die Eigenschaften eines Genies, erfindungsreich zu sein, einen lebendigen Geist zu besitzen, als Person überzeugend zu wirken, –––––––––––– 13 14 15 16
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Vgl. Cicero, Marcus Tullius: De natura deorum. Hrsg. v. Wilhelm Ax. 2. Auflage. Stuttgart 1964. II, 42. Cic. De orat. I, 59. Vgl. ebd. I, 223. [vermutlich: Bahrdt, Karl Friedrich]: Rezension zu „Predigten über das Buch Jonas von Johann Casper Lavater“ […]. In: Frankfurter Gelehrte Anzeigen. WA I, 37. S. 261.
gelten hier als individuelle Leistung, „sich“ und der „Mutter Natur“ habe Homer alles zu danken, heißt es, wobei sein Genie zugleich als Ergebnis eines konkreten historischen Hintergrundes gilt.17 Hier lässt sich an Herder anknüpfen, der eine historische und geographische Situierung Shakespeares fordert („lehrt, rührt und bildet […] nordische Menschen“18), die Historizität künstlerischer Darstellungsformen thematisiert und in den Genie-Diskurs einführt.19 Wie bei Goethes Rezeption der evidentia-Lehre ist auch für das GenieVerständnis du Bos ein wichtiger Vermittler rhetorischen Wissens. Durch zahlreiche Referenzen auf Cicero, Quintilian und Horaz ist du Bos’ Literaturtheorie in mustergültiger Weise als „Interpretationsübung an rhetorischen Texten“20 zu sehen, die der Natur des Redners besonderes Gewicht zuschreibt. Du Bos setzt an die Stelle der „rhetorical commonplaces“,21 die im Barock in den Vordergrund getreten waren, die Empfindungen, wertet das ingenium gegen die ars auf. Eine herausragende Empfindungsfähigkeit ist laut du Bos Voraussetzung für den Dichter und wird als Teil der natura des Künstlers verstanden: Genie ist durch ein „arrangement heureux“ von Organen, Gehirn und hitzigem Blut gekennzeichnet.22 Um die Naturhaftigkeit von Genie zu betonen, vergleicht du Bos es mit einer Pflanze: „Le génie est donc une plante, qui, pour ainsi dire, pousse d’elle-même […].“23 Vor allem Quintilian und Horaz dienen dabei als Belegstellen für die herausragende und unverzichtbare Bedeutung der natura für Redner und Dichter.24 Allerdings kann man du Bos nicht durchgängig mit der Literaturtheorie der Genie-Bewegung in Einklang bringen. Indem er argumentiert, der Poet bedürfe göttlichen Feuers, um die eigentliche Aufgabe der Dichtkunst zu erfüllen, näm-
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[Anonymus]: Rezension zu Wood über Homer als Originalgenie. In: Frankfurter Gelehrte Anzeigen. WA I, 37. S. 204. Herder, Johann Gottfried: Shakespear [1773]. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hrsg. v. Günter Arnold, Martin Bollacher u. a. Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767– 1781. Hrsg. v. Gunter E. Grimm. Frankfurt am Main 1993. S. 509. Herder führt die poetischen Regeln auf historische Notwendigkeiten zurück, demnach blieb Sophokles der Natur treu, „da er Eine Handlung Eines Orts und Einer Zeit bearbeitete: Shakespear konnt ihr allein treu bleiben, wenn er seine Weltbegebenheit und Menschenschicksal durch alle die Örter und Zeiten wälzte“ (ebd. S. 515; vgl. auch S. 504). Dockhorn, Klaus: Macht und Wirkung der Rhetorik. Vier Aufsätze zur Ideengeschichte der Vormoderne. Bad Homburg, Berlin u. a. 1968. S. 94. Bereits Dockhorn hat du Bos’ Überlegungen vor dem Hintergrund der Kategorien ethos und pathos diskutiert (vgl. ebd. S. 92). Vgl. Dieckmann, Herbert: Diderot’s Conception of genius. In: Ders.: Studien zur europäischen Aufklärung. München 1974. S. 7–33, hier: S. 14–15. du Bos, Jean Baptiste: Réflexions critiques sur la poësie et sur la peinture. 7. Auflage. Paris 1770 (Nachdruck Genf 1967). II/2, 14. Ebd. II/5, 45. Vgl. ebd. II/5, 46.
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lich Affekte zu erregen,25 zeigt sich auch eine Distanz zur individualistischen Ästhetik. Genie wird im Sturm und Drang zunehmend anders verstanden: Statt den Göttern zu danken und die Musen anzurufen, verlässt sich der Künstler in „Künstlers Morgenlied“ auf seine Individualität, die seine Schöpfungskraft trägt, und in den „Sesenheimer Liedern“ ist das geliebte Mädchen Garant musenhafter Inspiration. Das Genie ist Günstling der Natur, metaphorisch weiterhin göttlicher Natur, wie der „Prometheus“ belegt, aber zugleich ist eben unzweifelhaft, dass genialer Empfindungsreichtum sich der Subjektivität des Künstlers verdankt. Der Geniediskurs des Sturm und Drang rückt die durchgehende Rationalisierung von Genie durch die Aufklärung zurecht, wie man sie etwa bei Karl Wilhelm Ramler findet, für den Genie „nicht […] ein heftiges Feuer“ ist, sondern „eine Vernunft, die alle ihre Kunst an einer Materie beweist, die mit großem Fleiße alle ihre wirklichen und alle ihre möglichen Seiten aussucht […].“26 Am deutlichsten ist dieses rationalistische Genie-Verständnis bei Johann Christoph Gottsched formuliert, der, so Jochen Schmidt in seiner Studie zur Geschichte des Genie-Begriffs, daher „für die Geniebewegung der Repräsentant der Gegenwelt“27 war. In seinem Bemühen um eine einheitliche und logisch stringente Theorie der Dichtkunst hat Gottsched stets die Bedeutung der Regeln, also der ars, betont und ingenium vor allem mit Witz, Scharfsinn und Einbildungskraft, also der Fähigkeit, abwesende sinnliche Dinge vorzustellen, assoziiert und also rationalistisch umgedeutet, obwohl in der Rhetorik die innere Empfindung eines Redners, sein emotionales Engagement für eine Sache wichtig sind. Ein rationalistischer Vorbehalt bleibt schließlich auch bei Alexander Gottlieb Baumgarten, dessen Ästhetik zwar grundsätzlich den „unteren Seelenteil“ aufwertet und sich wiederum an der antiken Rhetorik orientiert,28 mit der Emanzipation des unteren –––––––––––– 25
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Vgl. ebd. I/33, 298–299. Vgl. dazu auch Bender, Wolfgang: Lessing, Dubos und die rhetorische Tradition. In: Barner, Wilfried u. Albert M. Reh (Hrsg.): Nation und Gelehrtenrepublik. Lessing im europäischen Zusammenhang. Detroit, MI u. München 1984. S. 53– 66, hier: S. 61. Ramler, K[arl] W[ilhelm]: Einleitung in die schönen Wissenschaften nach dem Französischen des Herrn Batteux mit Zusätzen vermehret. Bd. 1. Leipzig 1756. S. 13–14. Schmidt, Jochen: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945. Bd. 1. 2., durchgesehene Auflage. Darmstadt 1988. S. 31. Vgl. Solms, Friedhelm: Disciplina aesthetica. Zur Frühgeschichte der ästhetischen Theorie bei Baumgarten und Herder. Stuttgart 1990. S. 27–29. Solms definiert Baumgartens Projekt als Versuch, eine Theorie der Künste mit philosophischem Anspruch zu entwickeln, die durch Wolff nur in Andeutungen vorbereitet wurde. Die „Ästhetik“ Baumgartens ist in vielerlei Hinsicht der rhetorischen Systematik verbunden, schon in der Gliederung der geplanten Schrift, die in § 18–20 dargelegt wird, lässt sich dies erahnen, denn hier werden, den officia oratoris folgend, „Heuristica“, „Methodologica“ und „Semiotica“ als Teile der ästhetischen Theorie vorgestellt (vgl. Baumgarten, Alexander Gottlieb: Aesthetica. Frankfurt an der Oder 1750 (Nachdruck Hildesheim 1961). S. 7–8). Zudem ist der felix aestheticus nach Baumgartens Vorstellung auf exercitatio, zu der auch die imitatio auctorum gehört (vgl. ebd. § 56. S. 23–24), und disciplina (vgl. ebd. § 47–77. S. 19–34) angewiesen, da sonst das
Seelenteils aber auch dessen Rationalisierung betreibt.29 So ist ingenium in Baumgartens „Ästhetik“ als „dispositio naturalis […] ad pulcre[!] cogitandum“30 und damit „als eine vernunftähnliche Erkenntnis“31 definiert. Goethe hat die Theorie Baumgartens vor allem durch Herder kennen gelernt, der dessen Ästhetik in einem kongenialen Entwurf aufgearbeitet hat,32 war aber, wie eine SulzerRezension aus den „Frankfurter Gelehrten Anzeigen“ beweist, terminologisch mit Baumgartens Ideen durchaus vertraut.33 Gegen solche Vorstellungen wendet sich der Genie-Diskurs des Sturm und Drang. Interessant ist dabei, dass sowohl Gottsched als auch Baumgarten mit ihrer Tendenz zur Rationalisierung von Genie als auch Goethe, der Vitalität, Individualität, Erfindungsreichtum mit Genie verbindet und dieses in einen historischen Kontext setzt, sich auf die Rhetorik beziehen. Die rhetorischen Vorgaben sind offen für divergierende Interpretationen, in den Zügen des ingenium ist ein barocker Einfallsreichtum, der sich in schmuckreichen Formen der Darstellung oder argutem Einfallsreichtum äußert, ebenso zu verankern wie die Rationalisierung von Genie in der Aufklärung oder eine individualistische Ästhetik im Sinne des frühen Goethe. Der Begriff bleibt offen, interpretationsfähig, weil er in der rhizomatisch verzweigten Rhetorikgeschichte mit multiplen Bedeutungen vorkommt und daher ganz unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten zulässt. ––––––––––––
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ingenium an Kraft verliert (vgl. ebd. § 48. S. 19–20). Der Einfluss der Rhetorik auf Baumgartens Ästhetik wurde grundlegend von Marie-Luise Linn untersucht (vgl. M.-L. L.: A. G. Baumgartens „Aesthetica“ und die antike Rhetorik. In: Kopperschmidt, Josef (Hrsg.): Rhetorik. Bd. 2: Wirkungsgeschichte der Rhetorik. Darmstadt 1991. S. 81–106). Wie sehr Baumgartens Überlegungen noch im Rahmen der Rhetorik stehen, zeigt auch, dass er am Ende seiner „Aesthetica“ mit Hinweis auf Cicero und Quintilian eine „persuasio aesthetica“ (Baumgarten, Alexander Gottlieb: Aesthetica. Frankfurt an der Oder 1750 (Nachdruck Hildesheim 1961). § 829. S. 569) proklamiert: Auch Ästhetik hat letztlich die Aufgabe zu überzeugen, schöne Gedanken zeichnen sich durch ihre Überzeugungskraft aus. Vgl. dazu auch Bender, Wolfgang: Rhetorische Tradition und Ästhetik im 18. Jahrhundert. Baumgarten, Meier und Breitinger. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 99 (1980) S. 481–506, hier: S. 482. Entsprechend hat Marie-Luise Linn Baumgartens Ästhetik im Übergang zwischen „Rationalismus und Irrationalismus“ positioniert (M.-L. L.: A. G. Baumgartens „Aesthetica“ und die antike Rhetorik. In: Kopperschmidt, Josef (Hrsg.): Rhetorik. Bd. 2: Wirkungsgeschichte der Rhetorik. Darmstadt 1991. S. 81–106, hier: S. 82). Baumgarten, Alexander Gottlieb: Aesthetica. Frankfurt an der Oder 1750 (Nachdruck Hildesheim 1961). § 28. S. 11–12. Franke, Ursula: Die Semiotik als Abschluß der Ästhetik. A. G. Baumgartens Bestimmung der Semiotik als ästhetische Propädeutik. In: Semiotik 1 (1979) S. 345–359, hier: S. 351. Vgl. Herder, Johann Gottfried: [Begründung einer Ästhetik in der Auseinandersetzung mit Alexander Gottlieb Baumgarten]. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hrsg. v. Günter Arnold, Martin Bollacher u. a. Bd. 1: Frühe Schriften 1764–1772. Hrsg. v. Ulrich Gaier. Frankfurt am Main 1985. S. 651–694. Vgl. Goethe u. Johann Heinrich Merck: Rezension zu „Die schönen Künste in ihrem Ursprung, ihrer wahren Natur und besten Anwendung, betrachtet von J. G. Sulzer. 1772. 8. 85 S.“. MA 1, 2. S. 397.
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Das ars-natura-Modell der Rhetorik und die Genieästhetik lassen sich nicht vollends zur Deckung bringen, Genie im Sinn des Sturm und Drang bezeichnet andere Eigenschaften eines Menschen als das in den antiken Rhetoriklehrbüchern thematisierte ingenium. Aber Rhetorik als rhizomatische Wissensstruktur ist eben nicht nur eine regelgebundene Kommunikationstheorie, sondern auch eine Theorie der natürlichen Voraussetzungen von Redekunst. Goethe hat Rhetorik nicht nur als barockes Regel- und Ausschmückungssystem kennen gelernt, nicht den rationalistischen Fokus der zeitgenössischen Rhetoriktheorie übernommen, Rhetorik vielmehr als systematischen Regelkanon und als anthropologisches Modell verstanden. Cicero und Quintilian trennen nicht rigoristisch zwischen anthropologischen und systematischen Erwägungen, sondern treten für einen pragmatischen Kompromiss ein, in dem persönliches Empfinden und persönliche Eigenheiten auf der einen Seite sowie empirisch als wirksam erkannte argumentative und sprachliche Muster auf der anderen Seite nicht nur koexistieren, sondern in ihrem Zusammenspiel den wirkungsvollen Redner ausmachen. Diesem Kompromiss folgt der junge Goethe, die Inszenierung von Genie mit strategischen Mitteln ist für ihn daher kein Widerspruch zum Individualitätsstreben seiner Generation. Im Sturm und Drang entwickelt es sich für viele Autoren zu einem Problem, dass sich die eigene empfundene Genialität letztlich nur in Form von strukturierten Texten artikulieren kann, individuelles Ideal und die Strukturen der Sprache, ihre Grammatik und Rhetorizität geraten in Konflikt, eine kommunikative Antinomie stellt sich ein. Goethe bewältigt diesen Widerspruch mit Hilfe der rhetorischen Tradition, weil das Ineinanderwirken von ars und natura den vermeintlichen Gegensatz auflöst. Besonders hilfreich ist dabei die Theorie der Selbstaffizierung, die aus einer rhetorischen Perspektive beschreibt, inwiefern die Empfindungen und Gefühle eines Redners sprachmächtig werden können.
3. 2.
Empfindung statt Kunstfertigkeit? Selbstaffizierung als ästhetisches Prinzip zwischen ars und natura
Die Selbstaffizierungstheorie der Rhetorik problematisiert das komplexe Ineinandergreifen von ars und natura in gedanklicher Engführung durch die These, dass selbstinduzierte Empfindungen eines Redners hilfreich sind, um andere mit emotionalen Mitteln zu überzeugen. Während man im Sturm und Drang Empfindungen eines Genies gegen die Regeln der Poetik und Rhetorik ausspielt, bleibt im rhetorischen Denken immer Raum für die ars, mit deren Hilfe Empfindungen weiter zu bearbeiten, ‚aufzupolieren‘ sind. Für die Rhetoriker der Antike war es in Anbetracht der Selbstaffizierungstheorie ein zentrales Thema, wie innere Empfindungen in einen Text transformiert werden können, wie sie performativ wirksam darzustellen sind.
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Zunächst ist Goethe der Selbstaffizierungstheorie wohl in der „Ars poetica“ des Horaz begegnet, die er etwa nach Auskunft des Briefgedichts auf Gottsched gut kannte.34 Horaz geht von einem Zusammenspiel von ars und natura beim Dichter aus.35 Die Werke eines Dichters, der nur auf sein ingenium vertraut, sich um die Regeln der Rhetorik nicht schert, sind nach Horaz defizitär,36 zugleich hält er es für ausgeschlossen, dass jemand zu einem großen Dichter wird, der nicht „Begabung besitzt, […] höheren Sinn und [einen] Erhabnes tönenden Mund“.37 Bei Horaz kommt es daher zu einer konsequenten „Rhetorisierung der Poetik und […] Poetisierung der Rhetorik“, so dass Renate Lachmann gar von einem Zusammenfall der Disziplinen spricht.38 Rhetorik ist nach Horaz nicht nur als eine Stilistik für den Schriftsteller interessant, sondern als fundamentale Produktionstheorie, die auch den Bereich der Erfindung betrifft. Inventio, rednerische wie poetische, ist dabei aber nicht so sehr als Verfahren zur Auffindung von Gedanken nach den Regeln der Topik zu sehen, vielmehr setzt sie Begabung voraus, die Fähigkeit zur literarischen und rednerischen Erfindung. Nach der berühmten Formel „si vis me flere, dolendum est primum ipsi tibi“39 sind eigene Empfindungen und Emotionen nötig, um die Adressaten emotional anzusprechen. Der Autor soll sich selbst in eine emotionale Stimmung versetzen, um dieselbe bei seinen Adressaten wachrufen zu können. Hier ist nun schnell der Vor–––––––––––– 34 35 36
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Vgl. Goethe an Johann Jacob Riese. Brief vom 30. Oktober bis 6. November 1765. WA IV, 1. S. 17–18. Vgl. Horaz: Ars poetica. Lateinisch u. deutsch. Übersetzt u. mit einem Nachwort hrsg. v. Eckart Schäfer. Stuttgart 1989 [künftig zitiert als Horaz: Ars poetica] 408–411. Vgl. ebd. 295–309. Zur Bedeutung der Regel bei Horaz vgl. auch Kroll, Wilhelm: Studien zum Verständnis der römischen Literatur. Stuttgart 1924. S. 35–36. Kroll positioniert die „Ars poetica“ im Kontext der rhetorischen ars-natura-Debatte und weist der Regel eine zentrale Funktion zu, damit führt er die Überlegungen von Eduard Norden fort (vgl. E. N.: Die Composition und Literaturgattung der Horazischen Epistula ad Pisones. In: Hermes 40 (1905) S. 481–528). [Horaz] Horazens Satyren. Aus dem Lateinischen übersetzt und mit Einleitung und erläuternden Anmerkungen versehen von Christoph Martin Wieland. Wien 1813. I, 4, 43–44. Lachmann, Renate: Die Rhetorik und ihre Konzeptualisierung. In: Dies.: Die Zerstörung der schönen Rede. Rhetorische Tradition und Konzepte des Poetischen. München 1994. S. 1– 20, hier: S. 14–15. Horaz: Ars poetica 102–103. Wolf Steidle hält den Satz lediglich für eine Anweisung an Bühnenschauspieler (vgl. W. S.: Studien zur Ars poetica des Horaz. Interpretation des auf Dichtkunst und Gedicht bezüglichen Hauptteils. Hildesheim 1967. S. 64). Demgegenüber sieht Manfred Fuhrmann in dem ganzen Abschnitt eher stilistische Fragen adressiert (vgl. M. F.: Die Dichtungstheorie der Antike: Aristoteles – Horaz – Longin. Eine Einführung. 2. überarbeitete u. veränderte Auflage. Darmstadt 1992. S. 131–133). Ähnlich äußert sich Horst Rüdiger (vgl. H. R.: Kommentar. In: Horaz: De arte poetica liber. Eingeführt, übersetzt u. kommentiert von H. R. Zürich 1961). Carsten Zelle hat den Satz als „Produktionsund Wirkungsästhetik überbrückende Formel“ gedeutet (C. Z.: Zwischen Rhetorik und Spätaufklärung. Zum historischen Ort der Sturm-und-Drang-Ästhetik mit Blick auf Johann Georg Schlossers „Versuch über das Erhabene“ von 1781. In: Lenz-Jahrbuch 6 (1996) S. 160–181, hier: S. 170).
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wurf der Künstlichkeit bei der Hand, weil Horaz offensichtlich rät, Emotionen zu fingieren, um Wirkungen zu erzielen. Jedoch ist dieser Vorbehalt gegen die Selbstaffizierungstheorie nicht schlüssig, denn der Affekt hat, wie G. M. A. Grube klarstellt, das Potential, die inventio zu beflügeln: Wer sich in eine bestimmte Stimmung versetzt, erhält Zugriff auf entsprechende Emotionen und Gedanken, er ist dann wirklich in der entsprechenden Stimmung. 40 Ob Horaz die Gefühle des Autors an sich für bedeutungsvoll hält oder ob sie nur wegen ihrer affektiven Wirksamkeit von Interesse sind, lässt sich zwar nur schwer beantworten. Stenzel hat sich dazu entschieden, eher einen rhetorischen Kunstgriff in diesem Verfahren zu sehen: „Nicht um genuines, spontanes Gefühl geht es jedenfalls, etwa im Sinne der […] Ausdrucksästhetik, sondern um zweckhaft produzierte Affekte.“ 41 Doch ist diese Trennung eher theoretischer Natur, denn die Selbstaffizierungstheorie schreibt doch offensichtlich den Empfindungen eines Dichters oder Redners eine hohe Bedeutung zu. Goethes Verständnis des Satzes dürfte ohnehin vor allem durch den HorazKommentar von Richard Hurd beeinflusst sein, den Goethe, so belegen Notizen in den „Ephemerides“, gelesen hat.42 Hurd interpretiert die „si-vis-me-flere“Passage im Sinne der Geniebewegung: Nach seiner Auffassung weise Horaz auf die Bedeutung „der inneren Gemüthsfassung und de[n] Charakter der redenden Person“43 hin. Noch weiter geht Hurd im ausführlichen Stellenkommentar, wenn –––––––––––– 40
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Vgl. Grube, George M. A.: The Greek and Roman Critics. Toronto 1965. S. 243. Nach Grube weist das Selbstaffizierungs-Konzept von Horaz über die poetische Theorie der Antike hinaus, doch mit Blick auf Cicero und Quintilian zeigt sich, dass die Idee einer durch selbstaffizierte Empfindung induzierten inventio kein ausschließlich in der „Ars poetica“ vertretener Gedanke ist. Stenzel, Jürgen: „Si vis me flere…“ – „Musa iocosa mea“. Zwei poetologische Argumente in der deutschen Diskussion des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 48 (1974) S. 650–671, hier: S. 652. Stenzel spricht der Selbstaffizierungsformel von Horaz, Cicero u. a. jede vorbereitende Rolle bei der Entwicklung der Genieästhetik ab. Auch wenn Christian Weise und andere Theoretiker des Barock sie zitieren, seien sie alles andere als „Vorboten einer späteren subjektiven Bekenntnisdichtung“ (ebd. S. 656). Stenzel folgt der Rhetorik-Definition von Aristoteles, die durch eine besondere Betonung des logischen Arguments gekennzeichnet ist (vgl. Arist. Rhet. 1355b) und auch im Rahmen der ausführlich behandelten Affektenlehre für eine Theorie von Selbstaffizierung keinen Raum lässt. In der „Poetik“ unterscheidet Aristoteles allerdings zwei Typen von Dichtern, nämlich die phantasiebegabten und die leicht erregbaren, wobei erstere die Affekte nur vermeintlich empfinden, die zweite Gruppe von Poeten aber wirklich von starken Emotionen bewegt wird (vgl. Aristoteles: Poetik. Griechisch u. deutsch. Übersetzt u. hrsg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982 [künftig zitiert als Arist. Poet.] 1455a). Vgl. auch Steidle, Wolf: Studien zur Ars poetica des Horaz. Interpretation des auf Dichtkunst und Gedicht bezüglichen Hauptteils. Hildesheim 1967. S. 64, der Horaz in ähnlicher Weise deutet. Vgl. Goethe: Ephemerides. MA 1,2. S. 536. Hurd, Richard: Kommentar „Episteln an die Pisonen und an den Augustus“. In: Horaz: Episteln an die Pisonen und an den Augustus. Mit Kommentar u. Anmerkungen nebst eini-
er darlegt, der Dichter müsse nach Horaz „eine Seele haben, die zu der feinsten Fühlbarkeit gestimmt“44 sei, damit er zur Selbstaffizierung fähig sei. Auf diese Weise hebt er das Selbstaffizierungskonzept aus dem Bereich der rhetorischen Regeln, vielmehr scheint eine besondere Natur, zumindest eine besondere Empfindsamkeit nötig, wenn sich jemand durch Selbstaffizierung als Dichter hervortun will. Hurds Horaz-Kommentar erschließt Goethe den weiteren rhetorischen Kontext der Selbstaffizierungstheorie, denn der Kommentar zitiert die einschlägigen Passagen aus Ciceros „De oratore“ und Quintilians „Institutio oratoria“.45 Auch Cicero und Quintilian haben Selbstaffizierung als Mittel der inventio nicht als einen Weg gesehen, um Emotionen zu fingieren. Quintilians Gebot, der Redner solle erscheinen „ut moveamur ipsi“,46 lässt zwar vermuten, dass es einzig um den Schein von gefühlsmäßiger Bewegung geht. Allerdings erlaubt es sein ars-natura-Modell, Empfindungen des Redners ernst zu nehmen, ohne dass sie sich deshalb jeder bewussten sprachlichen Gestaltung nach den Regeln der ars entziehen.47 Indem ein guter Redner seine Empfindungen einsetzt, um seine rednerische Sache zu vertreten, gerät er nämlich nicht in einen Modus bloßer Simulation und sollte dies auch nicht, schließlich ist er kein Schauspieler, sondern als Redner immer durch seine Person, sein ethos, ein Argument in eigener Sache: Nur Feuer kann einen Brand entfachen, nur Feuchtigkeit uns durchnässen, und nichts kann auf andres abfärben, wenn es selbst die betreffende Farbe nicht hat. Das erste ist es also, daß bei uns selbst die Regungen stark sind, die bei dem Richter stark sein sollen, und wir uns selbst ergreifen lassen, ehe wir Ergriffenheit zu erregen versuchen.48
Auch Quintilians Sentenz „pectus est enim, quod disertos facit, et vis mentis“,49 zu Deutsch: „es ist die Brust [gemeint ist das Herz, das Innere], was aufgeräumt [eine Umschreibung für Beredsamkeit] macht, und die Kraft des Geistes“, gehört in den Kontext der Selbstaffizierungstheorie, den Hurd erwähnt, und ist zu einem wichtigen Paradigma des Sturm und Drang geworden. Hier knüpft die verbreitete Herz-Metaphorik an, nach der dem Dichter die Worte von Herzen gehen sollen, Dichtung die Sprache des Herzens sei, die Goethe nicht nur in „Künstlers Morgenlied“ zitiert, sondern genauso im „Werther“ wie im „Götz“, im „Tasso“ wie in der „Iphigenie“. In der Lesart Quintilians schließt ein solch anthropologi–––––––––––– 44 45 46 47
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gen kritischen Abhandlungen von R. Hurd. Übersetzt u. mit eigenen Anmerkungen begleitet von Johann Joachim Eschenburg. Bd. 1. Leipzig 1772. S. 29. Ebd. S. 104. Vgl. ebd. S. 104–105. Quint. Inst. orat. VI, 2, 26. Vgl. dazu Borinski, Karl: Die Antike in Poetik und Kunsttheorie. Vom Ausgang des klassischen Altertums bis auf Goethe und Wilhelm von Humboldt. Bd. 2. Darmstadt 1965. S. 138. Borinski sieht Quintilians besondere Leistung in der Auflösung einer starren Figurenlehre zugunsten der Empfindung. Quint. Inst. Orat. VI, 2, 28. Ebd. X, 7, 15.
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sches Konzept den bewussten Einsatz der rhetorischen ars nicht aus, was man schon daran erkennen kann, dass er sich im Kontext der Stegreifrede, die für ihn die äußerste Bewährungsprobe eines gut ausgebildeten Redners ist, mit der pectus-Theorie beschäftigt. Schon Ernesti dürfte Goethe auf diese rhetorische Sentenz aufmerksam gemacht haben, der es eben nicht nur um technisches Regelwissen zu tun ist, sondern um die Empfindungen des Individuums. Er zitiert die pectus-Formel in seinen „Initia“ in eben jener verkürzten Form („pectus est quod disertos facit“), die Goethe später als Titel für ein Gedicht aus der Sammlung „Epigrammatisch“50 in Erwägung zieht. Über das pectus-Prinzip integriert Quintilian Ausdrucks- und Produktionsästhetik: individuelle Empfindungen lassen sich gerade vermittels regelrhetorischen Wissens artikulieren.51 In Goethes Ästhetik der Evidenz sind Quintilians Überlegungen auf fruchtbaren Boden gestoßen. Empfindungen sind nach Quintilians pectus-Lehre nämlich an bildliche Vergegenwärtigung (evidentia) geknüpft: Wer sich eine Sache lebendig vorstellt, kommt wie von selbst in eine entsprechende Stimmung: Deshalb gilt es, diese anschaulichen Vorstellungen von den Gegenständen, die ich gerade genannt habe, und die wie wir gezeigt haben, φαντασίαι (Vorstellungen) heißen, zu erfassen und alles, worüber wir gerade reden wollen, die Personen, die Fragen, um die es geht, die Hoffnungen und Befürchtungen, leibhaftig vor den Augen zu haben und ins Gefühl aufzunehmen. Unser Inneres ist es nämlich, was beredt macht, und die geistige Kraft in uns.52
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Ernesti, Johann August: Initia Rhetorica. Editio Nova. Leipzig 1770. S. 54. Goethe hat die Formel in der verkürzten Zitierweise als Titel für ein Gedicht aus der Reihe „Epigrammatisch“ vorgesehen. Vgl. WA I, 3. S. 411, resp. MA 13, 1. S. 33. So täuscht sich Rüdiger Campe, wenn er behauptet, die Idee des Affekt-Ausdrucks setze das iudicium außer Kraft, es gebe keinen Maßstab mehr, um einen Text auf die Probe zu stellen (vgl. R. C.: Umbrüche und Wandlungen der Rhetorik. In: Glaser, Horst Albert u. György M. Vajda (Hrsg.): Die Wende von der Aufklärung zur Romantik 1760–1820. Amsterdam 2001. S. 589–612, hier: S. 594). Quint. Inst. orat. X, 7, 15. Laut Rüdiger Campe operiert die antike Rhetorik mit einem dreistufigen Modell des Affektausdrucks, nach dem sich der Redner zuerst die Leidenschaft vor Augen stellt und einprägt, die dann auf Gestik, Mimik und elocutio wirkt, um schließlich das Publikum zu beeinflussen (vgl. R. C.: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1990. S. 139). Die These, dass es erst im Übergang zum 18. Jahrhundert zur „Einfügung des Affekts in die Repräsentation der sprachlichen Zeichen“ (ebd. S. 474) kommt, ist problematisch, denn nach der antiken Affektenlehre zeigen sich Affekte ja nicht nur durch die rednerische actio und figurative Phänomene wie Häufung und Hyperbaton. Dass Rhetorik nur versucht, „Affekte in Tabellen zu klassifizieren und zu definieren“ (ebd. S. 477), lässt sich allenfalls dem 17. Jahrhundert nachsagen, demgegenüber weist Quintilian ausdrücklich darauf hin, dass die Affekte jede Systematisierung transgredieren (vgl. Quint. Inst. orat, VI, 2, 25–26). Die grundlegende These Campes wird von dieser Korrektur nicht beeinflusst: das Verhältnis von Affekt und Ausdruck wird im Übergang zum 18. Jahrhundert neu bestimmt, dadurch ein neues literarisches Paradigma begründet (vgl. ebd. S. 472). Die Wandlung der Affekttheorie lässt sich aber weitgehender, als Campe das eingesteht, als Wiederentdeckung/Neuinterpretation rhetorischer Theorien beschreiben.
Wenn Goethe durch anschauliche Szenen in der Shakespeare-Rede demonstriert, was der Begriff Genie meint, in seinen Briefen aus Leipzig und der frühen Lyrik innere Empfindungen mit Hilfe evidenter Darstellung zugänglich macht, dann zeigt das nicht nur die Vorliebe für eine einzelne rhetorische Figur. Wie Anna Carrdus in ihrer Interpretation der ‚Erlebnislyrik‘ Goethes bereits andeutet,53 ist evidentia nicht nur ein Mittel zur Affizierung des Publikums, sondern auch ein Mittel der Selbstaffizierung und spielt somit eine wichtige Rolle für die inventio des Schriftstellers, weil durch bildliche Vorstellungen Empfindungen zugänglich werden und zugleich sprachliche Gestalt finden. Individuelle Empfindung ist demnach keine Erfindung des 18. Jahrhunderts, vielmehr für den Redner der Antike ein Moment von Wirksamkeit, ein Persuasionsmittel, das etwa Antonius in Ciceros „De oratore“ für entscheidend hält: Ich hätte bei Gott niemals vor Gericht mit meiner Rede Schmerz und Mitleid, Neid und Haß erregen mögen, ohne selbst bei der Beeinflussung der Richter von den Empfindungen bewegt zu werden, zu denen ich sie bringen wollte.54
Auch auf diese Sätze verweist Richard Hurd in seinem Horaz-Kommentar. Somit konnte Goethe Selbstaffizierung als ein Modell der inventio kennen lernen, welches der Emotionalität und Empfindung des Redners Raum ließ, zugleich in den rhetorischen Regelkanon integriert bleibt. In der Rhetorik der Antike geht es – trotz der persuasiven Ausrichtung der Disziplin – nicht nur um die Inszenierung von Empfindungen, vielmehr tradieren Cicero, Quintilian, Horaz eine anthropologische Rhetorik bzw. Poetik, die man als wichtigen Baustein der Ästhetik des Sturm und Drang sehen muss. Insofern gab es für Goethe wenig Gründe für einen konsequenten Bruch mit der Rhetorik, zu der eben auch anthropologische Modelle (‚Natur-Rhetorik‘) gehören, so dass die Alternative zwischen Regel und Empfindung sich so gar nicht stellte, wie sie das literaturgeschichtliche Schema vom Ende der rhetorischen Tradition im 18. Jahrhundert zeichnet.55 –––––––––––– 53
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Carrdus, Anna: „Und mir’s vom Aug’ durchs Herz hindurch in’n Griffel schmachtete“ – Rhetoric in Goethe’s „Erlebnislyrik“. In: Publications of the English Goethe Society. New Series 62 (1993) S. 35–58, hier: 36. Cic. De orat. II, 189. Ursula Geitner vertritt die Position, „Natürlichkeit“ sei in der antiken Rhetorik immer nur als Dissimulation von Kunst verstanden worden (vgl. U. G.: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992. S. 56 u. 170–171). Nach Geitner ist die ars in der antiken Rhetorik der natura vorgeordnet, Natur sei dort nur als Wirkung kunstvollen Scheins von Interesse gewesen. Doch in dieser Radikalität ist die Behauptung nicht haltbar, denn bei Quintilian etwa ist ein philosophisches Interesse an der Natur als Natur nicht zu leugnen (vgl. Varwig, Freyr Roland: Der rhetorische Naturbegriff bei Quintilian. Studien zu einem Argumentationstopos in der rhetorischen Bildung der Antike. Heidelberg 1976. S. 160). Die pectus-Lehre Quintilians, ja sogar die Selbstaffizierung setzten bei den Gefühlen eines Redners an, bringen diese zur rhetorischen Wirkung. Eine so genannte Natur-Rhetorik, wie sie nach Geitner bei Quintilian formuliert ist, aber zunächst wirkungslos bleibt, ist ein prominentes Theorem in
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Der Einfluss der Selbstaffizierungstheorie im 18. Jahrhundert lässt sich auch bei Bodmer und Breitinger erkennen, deren Theorien rhetorische Denkmuster in vielfacher Weise aufnehmen und variieren. Obwohl es keine direkten Belege dafür gibt, dass Goethe sich mit den Äußerungen der Schweizer beschäftigt hat, darf man wohl davon ausgehen, dass er spätestens in Leipzig auf deren Theorien gestoßen ist und sich mit diesen auseinandergesetzt hat.56 Breitinger versteht die herzrührende Schreibart als eine Nachahmung der natürlichen leidenschaftlichen Sprache, er formuliert in der „Critischen Dichtkunst“: Die bewegliche und hertzrührende Schreibart ist nichts anders, als eine ungezwungene Nachahmung derjenigen Sprache oder Art zu reden, welche die Natur einem jeden, der von Leidenschaft aufgebracht ist, selbst in den Mund leget.57
Die ‚hertzrührende Schreibart‘ des von Leidenschaften Aufgebrachten aktualisiert Quintilians pectus-Formel, aber während dort ein Kompromiss zwischen Natur und Kunst sofort mitgedacht ist, ist aus Breitingers Sicht die schriftstellerische Umsetzung einer leidenschaftlichen Sprache an einen Prozess der Nachahmung geknüpft, so dass Breitingers Konzept mit dem Authentizitätspostulat des Sturm und Drang nicht leicht in Übereinstimmung zu bringen ist. Allerdings verschleift sich der Unterschied wieder, denn Breitinger glaubt, der Dichter als „Schöpfer“ sei dazu in der Lage, dass er „Dinge, die nicht für die Sinnen sind, […] aus dem Stande der Möglichkeit in den Stand der Würcklichkeit hinüber-
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der rhetorischen Tradition lange vor Christian Weise, Friedrich Andreas Hallbauer und Bernhard Lamy, denen Geitner die Umdeutung des si-vis-me-flere-Prinzips zuschreibt. Diese Autoren greifen vielmehr Ansätze auf, die innerhalb des Rhetorik-Rhizoms bereits früh vorbereitet und etwa bei Ps.-Longin dann in aller Ausführlichkeit behandelt werden. Für Ps.-Longin sind schließlich die Empfindungen eines Dichters oder Redners unerlässlich und ein hoher Stil vor allem auf die „kraftvolle Fähigkeit, erhabene Gedanken zu erzeugen“ und auf begeisterte Leidenschaft („ενθουσιαστι κον παθος“) angewiesen (Ps.-Longin 8, 1), also von der Persönlichkeit des Autors abhängig (vgl. ebd. 22, 1), der über einen hohen Sinn („μεγαλοφροσυνη“) (ebd. 9, 2) verfügt. Es sind auch hier wieder die „Bilder der Phantasie“, die „Erhabenheit, Größe und Energie des Stils“ hervorrufen (ebd. 15, 1). Wie sich göttliche Inspiration zu dichterischer Phantasie verhält, hat vor allem Laureat Pernot untersucht (vgl. L. P.: La rhétorique de l’éloge dans le monde gréco-romain. Bd. 2. Paris 1993. S. 625–635). Vgl. Goethe: Dichtung und Wahrheit. MA 16. S. 286–287. Goethe berichtet hier von der Lektüre der Schweizer, kritisiert aber ihre Orientierung am Neuen und eine gewisse Verworrenheit von Breitingers „Critischer Dichtkunst“. Die erbitterte Auseinandersetzung zwischen Gottsched und den Schweizern, die sich aus diesem Gegensatz ergibt, schildert Mitchell, Philipp M.: Johann Christoph Gottsched (1700–1766). Harbinger of German Classicism. Columbia, SC 1995. S. 37–41. Eine Aufarbeitung des Konflikts findet sich auch bei Horch, Hans Otto u. Georg-Michael Schulz: Das Wunderbare und die Poetik der Frühaufklärung. Gottsched und die Schweizer. Darmstadt 1988. Breitinger, Johann Jakob: Critische Dichtkunst. Bd. 2. Zürich 1740 (Nachdruck Stuttgart 1966). S. 353–354.
bringet“.58 Nur der Dichter als Schöpfer kann vermittels seiner „reiche[n] Einbildungs-Kraft“59 die Einbildungskraft seiner Rezipienten ansprechen.60 Der Unterschied zwischen einer natürlichen und einer rhetorisch-poetisch nachahmenden Schreibart scheint somit zumindest im Fall des Genies verschwunden, indem Breitinger Poesie als „affektursprüngliche[n] Ausdruck“61 definiert. Authentizität bleibt freilich eine problematische Größe, wie auch im Kontext der Selbstaffizierungsproblematik zu erkennen ist: [M]an kann demjenigen, der sich geschickt machen will, die Leidenschaften in der natürlichen Art ihres Ausdruckes so glücklich nachzuahmen, daß man die Kunst der Verstellung nicht leicht mercken soll, keinen besser Rath ertheilen, als daß er sich bemühen solle, diejenigen Leidenschaften selbst anzunehmen und in seinem Herzen rege zu machen, deren eigene Sprache er zu reden gedenckt.62
Hier werden natura und ars nach den Vorgaben der antiken Autoren zusammengedacht. Ps.-Longins Methode, sich durch „Phantasie-Bilder“ in eine Stimmung zu versetzen, erscheint Breitinger als Möglichkeit „die Rede zu erheben, prächtig und nachdrücklich lebhaft zu machen“.63 Auf der Grundlage solcher Phantasiebilder sind Redner und Dichter fähig mit sprachlichen Mitteln „die Sachen ganz nahe zu dem Auge des Lesers herbeyzubringen“.64 So hatte schon Quintilian die Wirkung der Selbstaffizierung und ihren Nutzen für Anschaulichkeit und Affekt–––––––––––– 58 59 60 61
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Ebd. Bd. 1. S. 60. Ebd. S. 416. Vgl. ebd. S. 65. Fischer, Bernhard: Von der Ars zur ästhetischen Evidenz. Überlegungen zur Entwicklung der Poetologie von Gottsched bis Lessing. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 109 (1990) S. 481–502, hier: S. 487. Dies sieht Jürgen Stenzel anders, für den Bodmer und Breitinger in einem systemrhetorischen Ansatz stecken bleiben (vgl. J. S.: „Si vis me flere…“ – „Musa iocosa mea“. Zwei poetologische Argumente in der deutschen Diskussion des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 48 (1974) S. 650–671, hier: S. 657–658). Als Beleg nennt Stenzel zum Beispiel die Vorstellung, „ein Schreiber / der eine rechte Einbildungs-Krafft und eine zarte und rege Seele besitzet“, könne „Leidenschafften annehmen / wenn und wie er will.“ (Bodmer, Johann Jacob u. Johann Jakob Breitinger: Von dem Einfluß und Gebrauche der EinbildungsKrafft. Zürich 1727. S. 117). Doch damit übergeht Stenzel die historische Leistung von Bodmer und Breitinger, die eine im Barock verschüttete Traditionslinie der Rhetorik wieder entdecken und gegen die erstarrte Regelpoetik eine Form von „Dichtung, die aus lebendigem Erleben kommt“, setzen (Herrmann, Hans Peter: Naturnachahmung und Einbildungskraft. Zur Entwicklung der deutschen Poetik von 1670 bis 1740. Bad Homburg v. d. H., Berlin u.a. 1970. S. 181). Breitinger, Johann Jakob: Critische Dichtkunst. Bd. 1. Zürich 1740 (Nachdruck Stuttgart 1966). S. 356. Ebd. S. 323. Vgl. Ps.-Longin 15. Breitinger, Johann Jakob: Critische Dichtkunst. Bd. 1. Zürich 1740 (Nachdruck Stuttgart 1966). S. 399. Breitinger beruft sich in diesem Kontext explizit auf Ps.-Longin und Quintilian (vgl. ebd. S. 400–401).
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wirkung der Rede beschrieben.65 Breitinger definiert diese Methode als Erweiterung, also amplificatio,66 wobei es eben eine Nachahmung natürlicher Leidenschaft bleibt. In Breitingers Schilderung der amplificatio ist zugleich die Verwandtschaft dieses „elementare[n] Verfahren[s] der Redekunst (und der Kunst überhaupt)“67, der evidentia, nicht zu übersehen.68 Das Werk eines Poeten soll laut Breitinger als ein sichtbares Gemählde die Sachen nicht bloß erzehlen, sondern zeigen, und das Gemüthe in eben diejenige Bewegung setzen, als die würckliche Gegenwart und das Anschauen der Dinge erweken würde.69
Damit wird das rhetorische Mittel der evidentia zu einem Muster für die Arbeitsweise des Dichters. Was für den Redner „nur ein Nebenwerck und ein Mittel ist“,70 wird für den Poeten zum Hauptzweck seiner Tätigkeit, die als poetische Malerei zu verstehen ist. Auf diese Weise entwickelt Breitinger eine ästhetische Theorie, die der Evidenzästhetik des jungen Goethe nicht unähnlich ist. Zwar verknüpft Breitinger seine Theorien nicht wie Goethe mit dem Individualitätsgedanken, aber für Goethe ist er als Modell für den produktiven Umgang mit der rhetorischen Tradition interessant, weil auch Breitinger ein zu enges Verständnis rhetorischer und poetischer Kunstfertigkeit überwindet, dabei – wie später Goethe – in der Selbstaffizierungstheorie und der Gedankenfigur evidentia Ansatzpunkte zur Korrektur tradierter poetischer Paradigmen findet. Nach der Interpretation Bernhard Fischers markieren Breitingers Überlegungen zwar nicht das Ende der „wirkungsästhetischen Dimension der Kunst“, aber –––––––––––– 65
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Vgl. ebd. S. 334–337. Das dort wiedergegebene ausführliche Quintilian-Zitat findet sich allerdings nicht, wie von Breitinger behauptet, bei Quint. Inst. orat. VI, 3, sondern im zweiten Kapitel des sechsten Buches, genau: Quint. Inst. orat. VI, 2, 25–36. Die Verbindungen von Breitingers poetischer Malerei zur antiken evidentia-Lehre hat Anna Carrdus expliziert. Vgl. A. C.: „Und mir’s vom Aug’ durchs Herz hindurch in’n Griffel schmachtete“ – Rhetoric in Goethe’s „Erlebnislyrik“. In: Publications of the English Goethe Society. New Series 62 (1993) S. 35–58, hier: S. 36–43. Die Erweiterung tritt als Mittel neben die parteiliche Darstellung des Sachverhalts, die Betonung verborgener Zusammenhänge, die Umschreibung und die Vermehrung einer Sache, womit Breitinger das Hinzufügen unerwarteter Gründe bezeichnet. Vgl. Breitinger, Johann Jakob: Critische Dichtkunst. Bd. 1. Zürich 1740 (Nachdruck Stuttgart 1966). S. 377–420. Wiederum stützt sich Breitinger dabei auf Ps.-Longin (vgl. ebd. S. 400, Referenzpunkt ist demnach Ps.-Longin 11, 1–3). Ueding, Steinbrink. S. 273. Breitinger knüpft nicht nur an die rhetorische evidentia-Theorie an, sondern auch an die utpictura-poesis-Konzeption des Horaz, wobei sich beider Vorstellungen ja in vielerlei Weise berühren, wie Uwe Möller dargestellt hat (vgl. Möller, Uwe: Rhetorische Überlieferung und Dichtungstheorie im frühen 18. Jahrhundert. Studien zu Gottsched, Breitinger und G. F. Meier. München 1983. S. 51–66). Breitinger, Johann Jakob: Critische Dichtkunst. Bd. 2. Zürich 1740 (Nachdruck Stuttgart 1966). S. 403. Ebd.
„das Ende der auf autoritative antike exempla, die antike Rhetorik und Poetik gegründeten produktionsästhetischen ars.“71 Doch diese These ist zu stark, denn „die antike Rhetorik“ enthält in ihrer rhizomatischen Struktur nicht nur Theoreme, die wirkungsästhetisch ausgerichtet sind, sondern ist auch als produktionsästhetische ars keineswegs nur durch die Adaption autoritativer exempla gekennzeichnet. Sonst hätten weder du Bos noch Bodmer und Breitinger ihre Ästhetik überhaupt sinnvoll durch ständige Rückgriffe auf Cicero, Quintilian, Horaz und Ps.-Longin aufbauen können, sonst hätte Goethe nicht aus der Selbstaffizierungstheorie Schlüsse für die Genie-Ästhetik gewinnen können. Bei aller Programmatik der Authentizität, Spontaneität und Genialität bleibt Goethe auf der Spur der Rhetorik. Dabei betont er einzelne Paradigmen aus dem RhetorikRhizom, erhebt die natura über die ars, spielt sie aber eben nicht gegeneinander aus. Vom Genie verlangt man dichterische Authentizität statt Technik, den Regeln der Sprache aber kann es nicht entgehen, den anthropologisch fundierten Wirkungsmechanismen rhetorischer Affekterregung ebenso wenig, zumal eine einfache konsequente Trennung zwischen authentischer und fingierter Kommunikation gar nicht möglich ist. Der Dichter ist auf die Sprache angewiesen, wenn –––––––––––– 71
Fischer, Bernhard: Von der Ars zur ästhetischen Evidenz. Überlegungen zur Entwicklung der Poetologie von Gottsched bis Lessing. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 109 (1990) S. 481–502, hier: S. 483. Auch Dietmar Till sieht Bodmer und Breitinger in einiger Ferne zur rhetorischen Tradition (vgl. D. T.: Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2004. S. 394–412). Nach Till wird die „Rhetorik als Kunstlehre wertlos“ (ebd. S. 396), indem die Bedeutung der Selbstaffizierung zu sehr betont wird. Er interpretiert Cicero und vor allem auch Quintilian als Vertreter einer rhetorischen ars bene dicendi, in der die Regeln der Kunstlehre zum eigentlichen Maßstab werden, womit sogar der Wirkungsaspekt in den Hintergrund tritt (vgl. vor allem D. T.: Affekt contra ars: Wege der Rhetorikgeschichte um 1700. In: Rhetorica 24 (2006). S. 337–369, hier z. B. S. 345–346). Entsprechend große Differenzen sieht er zwischen den Schweizern und der Rhetorik (ebd. S. 361–363.). Hier hingegen soll die Idee der Selbstaffizierung als Bestandteil der rhetorischen Tradition verstanden werden, diese umfasst demnach das Konzept Selbstaffizierung in ihrer rhizomatischen Struktur und hält den Hiat zwischen Kunstlehre und anthropologischen Modellen aus. Jochen Schmidt wählt den Weg, Breitinger zum Begründer einer „neuen Rhetorik“ zu küren (J. S.: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945. Bd. 1. 2., durchgesehene Auflage. Darmstadt 1988. S. 59): „Breitinger selbst [trägt], im Anschluß an Pseudolonginus, eine Reihe von Beobachtungen über die rhetorische Form der aus leidenschaftlicher Erregung hervorgegangenen Dichtung vor. Und obwohl er angelegentlich betont, es handle sich nicht um abstrakt aufgestellte Regeln, entsteht hier doch wieder eine Rhetorik, wenn auch eine psychologisch verfeinerte. Diese Entstehung einer neuen Rhetorik, die im Stil des Sturm und Drang gipfelt, ist ein für die Geniezeit kaum zu überschätzender Vorgang.“ (ebd. S. 59). Auch diese Deutung ignoriert aber die rhizomatische Struktur der Rhetorik, die eben in der Antike nicht nur eine Sammlung wenig ausgefeilter Kommunikationsregeln war, sondern die anthropologischen Paradigmen, die laut Schmidt von Breitinger zu einer neuen Rhetorik geformt wurden, enthielt und sich zudem in einem fortlaufenden Entwicklungsprozess befand und befindet, so dass man in der Logik von Schmidt eine unendliche Vielzahl „neuer Rhetoriken“ annehmen müsste.
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er seine Empfindungen mitteilen will, sprachlichen Mustern und appellativen Strukturen, die sich als wirksam erwiesen haben und die die Rhetorik systematisiert hat, kann er sich nicht entziehen. Das rhetorische Konstrukt „ingenium“, schon in der Antike ein Bezugspunkt poetischer Theoriebildung, gehört wie die Theorie der Selbstaffizierung und die pectus-Formel zu den Subtexten des Geniebegriffs des 18. Jahrhunderts. Das neue Genie-Konzept bedeutet aber nicht notwendig, dass die Rhetorik nun gar keine Rolle mehr spielt. Im Sturm und Drang kommt es vielmehr zu einer weiteren Akzentverschiebung innerhalb der Rhetorikgeschichte, nicht zu einer „rhetorikgeschichtliche[n] Zäsur“.72 Campes These, „die Regel, wonach jede Erregung oder auch nur Darstellung des Affekts voraussetzt, daß der Redner in sich den Affekt erregt, [nimmt] nur einen begrenzten und nicht einmal völlig sicheren Platz in der Rhetorik ein“,73 isoliert ohne Not die systematisch-technische Ebene der Rhetorik, ohne die Theorien zu natura und ingenium zu berücksichtigen, und übergeht das in der römischen Rhetorik bei allen zentralen Autoren behandelte Prinzip der Selbstaffizierung. Dabei könnte gerade das Konzept der Selbstaffizierung verdeutlichen, warum sich die Alternative zwischen Kunstfertigkeit und Empfindung, zwischen traditionell rhetorischer Poetik und zeitgemäßem arhetorischen Genie-Diskurs für Goethe so gar nicht stellt.
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Campe, Rüdiger: Affizieren und Selbstaffizieren. Rhetorisch-anthropologische Näherung ausgehend von Quintilian „Institutio oratoria“ VI 1–2. In: Kopperschmidt, Josef (Hrsg.): Rhetorische Anthropologie. Studien zum Homo rhetoricus. München 2000. S. 135–152, hier: S. 145. Campe behauptet, die Lehre der Selbstaffizierung zeichne eine „Richtung einer Überschreitung und Systematisierung in die Rhetoriken ein, die der Aristotelischen téchne definitionsgemäß fremd war: die Tendenz auf Selbstinterpretation der Technik, auf Anthropologisierung der Rhetorik“ (ebd. 142). Doch ist dieser Einwand wenig überzeugend, da jedes Rhetoriklehrbuch eine Selbstinterpretation der Technik liefert. Schließlich versteht etwa Quintilian Rhetorik nicht als bloße Technik und betont die Bedeutung von Theorie und Natur (vgl. Quint Inst. orat. II, 18, 1–5, zur Einordnung der Rhetorik in die Trias poiesis, praxis und theoria auch Martin, Josef: Antike Rhetorik. Technik und Methode. München 1974. S. 4–6). Schon seit Aristoteles steht der Mensch als sprachmächtiges soziales Wesen im Mittelpunkt der rhetorischen Theorie, baut die Technik auf anthropologische Annahmen. Campe deutet das selbst an, wenn er an anderer Stelle die auf Stellvertreterschaft ausgerichtete römische Gerichtspraxis als Ursache für das Entstehen einer Theorie der Selbstaffizierung versteht (vgl. R. C.: Affizieren und Selbstaffizieren. Rhetorisch-anthropologische Näherung ausgehend von Quintilian „Institutio oratoria“ VI 1–2. In: Kopperschmidt, Josef (Hrsg.): Rhetorische Anthropologie. Studien zum Homo rhetoricus. München 2000. S. 135– 152, hier: S. 144). Ebd. S. 138.
3. 3.
„Aus der Fülle des Herzens“ – Die pietistische Glaubenspraxis zwischen rhetorischer Tradition und Genie-Diskurs
Die Selbstaffizierungstheorie, besonders das von Quintilian vorgeschlagene pectus-Modell, betrachtet das ‚Innere‘, also die Empfindungen des Redners, als eine mögliche Quelle überzeugender Rede und eignet sich somit, um die Empfindungen eines Individuum auch als zentrales Moment der Literatur zu installieren. Goethe kannte dieses anthropologische Modell der Rhetorik nicht nur aus den Texten Ciceros oder Quintilians, auch im religiösen Diskurs um 1800 wurden ähnliche Vorstellungen verhandelt. Innerhalb des Pietismus ist die durch die Bibel vermittelte Idee (etwa Mt 12, 34 bzw. Lk 6, 45), dass menschliche Beredsamkeit aus der „Fülle des Herzens“ entspringen müsse, verbreitet. 74 Daraus ergibt sich eine Kultur der Innerlichkeit, die zugleich eine Kultur der sprachlichen Darstellung innerer Erfahrungen entstehen lässt. Es ist nämlich ein Missverständnis, wenn Klaus Schröter meint, der Satz „Ich! Der ich mir alles bin“75 am Eingang der Shakespeare-Rede weise Goethe als „Anti-Pietist“76 aus. Das Gegenteil ist der Fall: Die Begegnung mit dem Pietismus eröffnete Goethe ein Vokabular, um das eigene Ich zu erkunden, eine Methode der Introspektion, und, was in diesem Kontext noch wichtiger ist, praktische Beispiele, wie innere Erfahrungen sprachlich dargestellt werden. Rolf Christian Zimmermann hat in seiner Studie versucht, die Bedeutung des Pietismus für den jungen Goethe zu relativieren, um seine These einer hermetischen Goetheschen „Privatreligion“ zu stützen.77 In der Tat führt Goethe die Begegnung mit pietistischem Gedankengut nicht zu einer tiefen Religiosität, doch pragmatisch, wie er ist, greift er für ihn brauchbare Ideen und Praktiken der Pietisten auf und ignoriert andere. Nachdem Goethe im August 1768 sein Studium in Leipzig aus gesundheitlichen Gründen abgebrochen hatte, lernte er, vermittelt durch seine Mutter, Fräu–––––––––––– 74
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Vgl. Langen, August: Der Wortschatz des deutschen Pietismus. 2., ergänzte Auflage. Tübingen 1968. S. 22–24. Das „Herz“ und das „Innere“ sind demnach für den Pietismus typische Vokabeln. Vgl. dazu auch Kemper, Hans-Georg: „Göttergleich“. Zur Genese der Genie-Religion aus pietistischem und hermetischem Geist. In: Ders. u. Hans Schneider (Hrsg.): Goethe und der Pietismus. Tübingen 2001. S. 171–208, hier: S. 175–176. Eine präzise rhetorische Bewertung der pietistischen Idee, nach der religiöse Erfahrungen aus der „Fülle des Herzens“ formuliert werden sollen, liefert Geitner, Ursula: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992. S. 195–208. Goethe: Zum Schäkespears Tag. MA 1, 2. S. 411. Schröter, Klaus: Johann Wolfgang von Goethe: Zum Shakespeares-Tag. In: K. S. (Hrsg.): Goethe. Zum Shakespeares-Tag 1771. Hamburg 1992. S. 13–60, hier: S. 35. Vgl. Zimmermann, Rolf Christian: Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur hermetischen Tradition des deutschen 18. Jahrhunderts. Bd. 1: Elemente und Fundamente. München 1969. S. 57 u. 210–288.
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lein von Klettenberg und vielleicht auch Ochs von Ochsenstein, pietistische Gruppen kennen und traf vom 21. bis 22. September 1769 Mitglieder einer Synode der Brüdergemeine in Marienborn in der Wetterau. 78 Die Frankfurter Pietisten, deren Versammlungen er besuchte („Ich gehe in die Versammlungen, und finde würcklich Geschmack dran.“79), standen Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf nahe, wie aus Goethes Bericht an Lange hervorgeht:80 Meine M[utter] ist offentlich declarirt für die Gesellschafft mein Vater weiß es und ist damit zufrieden; meine Sch[wester] ist mit in den Erbauungsstunden gewesen die sie bey dem Vorgänger Ihres Freundes halten, ich werde wohl auch hinkommen, bewahren Sie nur meine Briefe wohl, ich will Ihnen alles schreiben. […] Das Ebersd[orfer] Ges[ang] B[uch] ist bey dieser Gemeine in grossem Ansehen, meine M[utter] weiß sogar daß es Herrenhuterlieder sind. Demohngeachtet denken sie sehr weit von dieser Gemeine zu differiren.81
Freundschaftlich fühlte Goethe sich vor allem dem späteren Hofmeister Johann Christian Mellin verbunden, der viel zur Anziehungskraft der Gruppe für Goethe beitrug: „Mellin ist fast hier der einzige mit dem ich umgehe, und der mir gefällt.“82 Zentralfigur der Frankfurter Pietisten war aber wohl Johann Friedrich Metz, Arzt des jungen Goethe, der pietistische und mystische Vorstellungen mit wissenschaftlichen Geheimlehren verband.83 Die praktische Ausübung der pietis–––––––––––– 78
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Vgl. Sauder, Gerhard: Der junge Goethe und das religiöse Denken des 18. Jahrhunderts. In: Goethe-Jahrbuch 112 (1995) S. 97–110; Chiarloni, Anna: Goethe und der Pietismus. Erinnerung und Verdrängung. In: Goethe-Jahrbuch 106 (1985) S. 133–159. Zu Ochs von Ochsenstein vgl. Breymayer, Reinhard: Ein radikaler Pietist im Umkreis des jungen Goethe: Der Frankfurter Konzertdirektor Johann Daniel Müller alias Elias / Elias Artista (1716 bis nach 1785). In: Pietismus und Neuzeit 9 (1983) S. 180–237, hier: S. 230, zu Katharina von Klettenberg vgl. Dohm, Burkhard: Radikalpietistin und „schöne Seele“. Susanna Katharina von Klettenberg. In: Kemper, Hans-Georg u. Hans Schneider (Hrsg.): Goethe und der Pietismus. Tübingen 2001. S. 111–134. Lange Zeit vermutete man, Goethe habe an der Synode in Marienborn teilgenommen, diese Sichtweise korrigiert Peucker, Paul: Die Diaspora der Herrnhuter Brüdergemeinde in Frankfurt am Main im 18. Jahrhundert. In: Kemper, HansGeorg u. Hans Schneider (Hrsg.): Goethe und der Pietismus. Tübingen 2001. S. 13–23, hier: S. 22. Einen guten Überblick zur Bedeutung des Pietismus für Goethe geben auch die entsprechenden Artikel im alten und im neuen Goethe-Handbuch. Vgl. Schneider, UlfMichael: Artikel „Pietismus“. In: Goethe-Handbuch. Bd. 4, 2. S. 850–852; Artikel „Pietismus“. In: Goethe-Handbuch. Hrsg. v. Julius Zeitler. Bd. 3. Stuttgart 1918. S. 123–124. Goethe selbst hat seine Erfahrungen in pietistischen Kreisen in „Dichtung und Wahrheit“ geschildert, wobei diese nachträgliche Konstruktion nicht als historisch authentisches Dokument genommen werden kann. Vgl. Goethe: Dichtung und Wahrheit. MA 16. S. 674–708. Goethe an Ernst Theodor Langer. Brief vom 24. November 1768. WA IV, 51. S. 34. Vgl. dazu die Darstellung bei Goethe: Dichtung und Wahrheit. MA 16. S. 364. Goethe an Ernst Theodor Langer. Brief vom 8. September 1768. WA IV, 51. S. 30. Goethe an Ernst Theodor Langer. Brief vom 24. November 1768. WA IV, 51. S. 33. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit Metz liefert Zimmermann, Rolf Christian: Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur hermetischen Tradition des deutschen 18. Jahrhunderts. Bd. 1: Elemente und Fundamente. München 1969. S. 136–138 u. 172– 184. Vgl. außerdem Sauder, Gerhard: Der junge Goethe und das religiöse Denken des 18. Jahrhunderts. In: Goethe-Jahrbuch 112 (1995) S. 97–110, hier: S. 101.
tischen Religion während der Treffen der Brüdergemeine beinhaltete für den Gläubigen, sich mit seinen eigenen inneren Empfindungen zu beschäftigen, da Glaube vor allem als eine innere Erfahrung der Erlösung verstanden wurde. Introspektion war also ein wichtiger Bestandteil des Kultus. Wobei gerade die Herrnhuter, wie von Graevenitz gezeigt hat, die repräsentative Darstellung privater Erfahrungen einforderten.84 Insofern vermittelten die Treffen der Brüdergemeine Goethe Beispiele dafür, wie sich Empfindungen mitteilen lassen und wie sie auf andere wirken. Wie intensiv Goethe sich mit dem Pietismus beschäftigt und wie präzis er die Verknüpfung zwischen der pietistischen Religion und rhetorischen Fragen erkennt, illustrieren zwei Rollendichtungen, die um die Jahreswende 1772/1773 erschienen sind, nämlich der „Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***“ und die aus dem Blickwinkel eines schwäbischen Landpfarrers verfasste Abhandlung „Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen“. Gerhard Sauder hat den „Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***“ als „Dokument der Ablösung Goethes von den lutherischen und pietistischen Glaubensvorstellungen, denen er sich […] unter dem Einfluß Susanne von Klettenbergs angenähert hatte“,85 verstanden. Der Text lässt sich allerdings ebenso gut als Beispiel für die Auseinandersetzung Goethes mit diesen religiösen Strömungen lesen wie als Dokument der Distanzierung von der Religion durch aufklärerische Toleranz-Gedanken.86 Im Spannungsfeld von Aneignung und Überwindung religiöser Ideale erscheinen die Texte auch in „Dichtung und Wahrheit“: In eine der Hauptlehren des Luthertums, welche die Brüdergemeine noch geschärft hatte, das Sündhafte im Menschen als vorwaltend anzusehn, versuchte ich mich zu schicken, obgleich nicht mit sonderlichem Glück. Doch hatte ich mir die Terminologie dieser Lehre [gemeint ist das Luthertum] so ziemlich zu eigen gemacht, und bediente mich derselben in einem Briefe, den ich unter der Maske eines Landgeistlichen an einen neuen Amtsbruder zu erlassen beliebte. Das Hauptthema desselbigen Schreibens war jedoch die Losung der damaligen Zeit, sie hieß Toleranz […].87
Goethe distanziert sich also von der Orthodoxie, aber zugleich bewirkt das Toleranzgebot, welches er auf die Formel bringt „So wenig bin ich indifferent, darf ich deswegen nicht tolerant sein?“,88 dass die religiösen Lehren der einzelnen –––––––––––– 84
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Vgl. Graevenitz, Gerhart von: Innerlichkeit und Öffentlichkeit. Aspekte deutscher ‚bürgerlicher‘ Literatur im frühen 18. Jahrhundert. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 49 (1975) S. 1–82, hier: S. 45. Sauder, Gerhard: Der junge Goethe und das religiöse Denken des 18. Jahrhunderts. In: Goethe-Jahrbuch 112 (1995) S. 97–110, hier: S. 104. Vgl. Chiarloni, Anna: Goethe und der Pietismus. Erinnerung und Verdrängung. In: GoetheJahrbuch 106 (1985) S. 133–159, hier: S. 142. Goethe: Dichtung und Wahrheit. MA 16. S. 546. Goethe: Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***. MA 1, 2. S. 425.
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Kirchen weiterhin legitim erscheinen. Der vorgebliche Verfasser des Briefes lässt mal eher pietistische Züge erkennen, so begrüßt er den neuen Kollegen „von ganzem Herzen“, schreibt von „freudige[r] Wallung“,89 tritt dann wieder als Lutheraner auf, der sich vom Werkethos der Reformierten abgrenzt: „Unsre Kirche behauptet, daß Glauben und nicht Werke selig machen“ oder greift reformierte Positionen wie das sola-scriptura-Prinzip auf.90 Hinter den religiösen Themen, die durch die Rollenperspektive des Landgeistlichen vorgegeben sind, steht das Interesse des Autors an Rhetorik. Die Vorstellung, dass ein Redner auf innere Überzeugung angewiesen ist, wird mehrfach artikuliert. Als Prediger charakterisiert sich der Pfarrer durch „ein Herz[, das] vor Liebe und Neigung gegen meine Zuhörer überfließt.“91 Seine Beredsamkeit geht also vor allem auf Empfindungen zurück, Hauptziel seiner Predigt ist es, Empfindungen bei den Zuhörern zu wecken, „an die Herzen zu predigen“.92 Dabei verteidigt der alte Pastor ausdrücklich „Schwärmer und Inspiranten“, denen man vorwirft, dass sie „zu viel empfanden“, denn „weh uns, daß unsre Geistlichen nichts mehr von einer unmittelbaren Eingebung wissen“.93 Der lutherische Landgeistliche klingt wie ein Literat des Sturm und Drang, der auf seine inneren Empfindungen und sein „Herz“ hört. Die ständige Referenz auf das Herz, die Vorstellung, dass sprachliche Kommunikation vor allem auf Empfindungen aufbauen sollte – solche Positionen gehören zu den ästhetischen Grundannahmen des Sturm und Drang. Chiarloni spricht daher von einem „als protestantischer Pfarrer verkleideten jungen Stürmer“.94 Goethe schließt also wiederum an anthropologische Modelle der Rhetorik an, während die rhetorische Kunstfertigkeit eher negativ konnotiert bleibt, der Landgeistliche kann mit „gedrechselten Lieder“, die „mit aller kritisch nichtigen Kälte hinter dem Schreibepulte mühsam poliert worden sind“,95 jedenfalls wenig anfangen. Stattdessen wird der „Geist des Dichters“ zu einem entscheidenden Kriterium, statt bloß dem „Verstand“ zu trauen, wird gefordert, dem „Herz[en]“ zu folgen,96 und somit für eine anthropologische Rhetorik im Sinne der pectus-Lehre plädiert. Goethe schreibt sich von der rhetorischen ars-Tradition fort, aber seine Theorien bleiben von der Rhetorik geprägt, indem sie anthropologische Modelle Ciceros und Quintilians aufnehmen. In dem zweiten um 1772/1773 anonym publizierten Text „Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen“ setzt sich diese Rezeptionsbewegung fort. In –––––––––––– 89 90 91 92 93 94 95 96
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Ebd. S. 423. Ebd. S. 425. Ebd. S. 423. Ebd. S. 431. Ebd. Chiarloni, Anna: Goethe und der Pietismus. Erinnerung und Verdrängung. In: GoetheJahrbuch 106 (1985) S. 133–159, hier: S. 143. Goethe: Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***. MA 1, 2. S. 434. Ebd. S. 433.
dem Abschnitt „Was heißt mit Zungen reden?“ bemüht sich Goethe zwar vor allem um eine exegetische Analyse des Pfingstwunders, greift aber zugleich eine pietistische Praxis auf und untersucht diese als rhetorisches Phänomen: Der verheißene Geist erfüllt die versammelten Jünger mit der Kraft seiner Weisheit. […] Die göttlichste Empfindung strömt aus der Seel in die Zunge, und flammend verkündigt sie die großen Taten Gottes in einer neuen Sprache […].97
Jenseits seiner religiösen Dimension beschreibt der Text eine dem Sturm und Drang verwandte Ästhetik der Unmittelbarkeit. Die direkte Verbindung von „Seel“, also innerer Empfindung, und „Zunge“, also deren sprachlicher Darstellung, ist ein Grundprinzip sowohl genialer Literatur als auch pietistischen Glaubens, wobei sich die Theoretiker des Pietismus der rhetorischen Tradition einer solchen Rhetorik der Innerlichkeit bewusst sind. Wie tief die pietistische Ausdruckslehre in der rhetorischen Tradition verwurzelt ist, hat vor allem Reinhard Breymeyer in zahlreichen Arbeiten dargelegt. Er versteht „[d]ie vom Pietismus geförderte Hinwendung zur Affektrhetorik, zum Bereich des ‚Herzens‘“ als einen „Rückgriff auf rhetorische Tradition“, namentlich vor allem auf die QuintilianSentenz „Pectus est enim, quod disertos facit et vis mentis“. 98 Womit wiederum deutlich wird, wie wirksam diese Sentenz war, von der man häufig behauptet, sie untergrabe letztlich dessen eigene Rhetorikvorstellung, indem sie den Aspekt der Artifizialität vernachlässige. Bei Friedrich Christoph Oetinger etwa, von dem ein Band in der Bibliothek von Goethes Vater zu finden ist und dessen Werke von Klettenberg kannte,99 ist die Verbindung zwischen pietistischer Praxis und rhetorischer Tradition formu–––––––––––– 97 98
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Goethe: Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen. MA 1, 2. S. 441. Breymeyer, Reinhard: Pietistische Rhetorik als eloquentia nov-antiqua. Mit besonderer Berücksichtigung Gottfried Polykarp Müllers. In: Kopperschmidt, Josef (Hrsg.): Rhetorik. Bd. 2: Wirkungsgeschichte der Rhetorik. Darmstadt 1991. S. 127–137, hier: S. 130–131. Wichtige Ansätze zur Rolle der Rhetorik im Pietismus liefert weiterhin R. B.: Die Erbauungsstunde als Forum pietistischer Rhetorik. In: Schanze, Helmut (Hrsg.): Rhetorik. Beiträge zu ihrer Geschichte in Deutschland vom 16.–20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1974. S. 87–104. Zur Bewertung der Rhetorik im Pietismus vgl. auch: Martens, Wolfgang: Hallescher Pietismus und Rhetorik. In: Ders.: Literatur und Frömmigkeit in der Zeit der frühen Aufklärung. Tübingen 1989. S. 1–23. Vgl. zum Oetinger-Band in der Bibliothek des Vaters Breymayer, Reinhard: Ein radikaler Pietist im Umkreis des jungen Goethe: Der Frankfurter Konzertdirektor Johann Daniel Müller alias Elias / Elias Artista (1716 bis nach 1785). In: Pietismus und Neuzeit 9 (1983) S. 180–237, hier: S. 234. Die Oetinger-Rezeption von Klettenbergs behandelt Dohm, Burkhard: Radikalpietistin und „schöne Seele“. Susanna Katharina von Klettenberg. In: Kemper, Hans-Georg u. Hans Schneider (Hrsg.): Goethe und der Pietismus. Tübingen 2001. S. 111– 134, hier: S. 123–124. Auch Goethes Arzt Johann Friedrich Metz hat die Werke Oetingers rezipiert (vgl. Schrader, Hans-Jürgen: Salomonis Schlüssel für die „halbe Höllenwelt“. Radikalpietistisch tingierte „Geist=Kunst“ im Faustschen „Studierzimmer“. In: Kemper, Hans-Georg u. Hans Schneider (Hrsg.): Goethe und der Pietismus. Tübingen 2001. S. 231– 256, hier: S. 244–245).
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liert. „Lehren durchs Wort thuts allein nicht, man muß aus dem Leben reden, man muß sich bewegen“, argumentiert der pietistische Theologe, um unmittelbar darauf das Horazische Prinzip „Si vis me flere, dolendum est, primum ipse [sic!] tibi“ als Beleg anzuführen und zu erklären, dass der Redner dem „ἦθος“ der Zeit zu folgen habe.100 Oetinger sieht das inventive Potential der Selbstaffizierung, zugleich fordert er, innere religiöse Erfahrung in angemessener Weise darzustellen. Könnte man zunächst meinen, im Pietismus sei die pectus-Formel ihrer rhetorischen Pointe, die in der Verbindung von innerer Empfindung und rhetorischer Technik liegt, beraubt, so lässt sich durch Oetinger das Gegenteil beweisen. Wie im Sturm und Drang Individualität und Genie dahingehend ideologisiert sind, dass sie jenseits der Rhetorik stehen, so kann man mit Hans-Georg Kemper im Pietismus eine Abkehr vom rhetorischen Modell sehen,101 wenn man Rhetorik auf den Aspekt der Kunstfertigkeit beschränkt. Aus einem weiter gefassten Rhetorikverständnis heraus betrachtet, geht es jedoch eher um eine Gewichtsverschiebung zwischen einer bloß technisch verstandenen Rhetorik (ars) und anthropologischen Rhetorikmodellen. Subkutan bleibt die Verbindung zur rhetorischen Tradition nämlich erhalten. Überzeichnet wirkt es denn auch, wenn man dem Pietismus den völligen Bruch mit den Regeln nachsagt, eine „aus dem Kraftzentrum des eigenen Inneren hervorströmende[…] Produktivität, Rede- und Formgewalt, die von allen Mustern, Satzungen und Regeln freimacht“,102 durch ihn begründet sieht. Schließlich versteht Oetinger Selbstaffizierung und Orientierung am pectus als Formen der inventio, bleibt das affektrhetorische Spektrum im Spiel, ist im Gottesdienst auch das Vermögen zur Darstellung der Empfindungen nötig. Gerade das Wissen um die unentrinnbare Rhetorizität der geforderten Gefühlsäußerungen ist es schließlich, was Oetinger dazu bringt, äußere Zeichen wie Tränen als Indikator heranzuziehen, um sicher zu gehen, dass wirkliche religiöse Erfahrung hinter den Gefühlsäußerungen steht.103 –––––––––––– 100
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Oetinger, Friedrich Christoph: Inhalt der Rede Gottes an alle Glaubige und die ganze Welt, welche in Jes. von Cap. 40 biß 66 zu lesen […]. Tübingen 1762. S. 57. Die Wirkung des eigenen Affekts für die pietistische Predigt scheint ein Gemeingut der damaligen Zeit zu sein und wird auch von anderen Autoren zitiert. Vgl. Stenzel, Jürgen: „Si vis me flere…“ – „Musa iocosa mea“. Zwei poetologische Argumente in der deutschen Diskussion des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 48 (1974) S. 650–671, hier: S. 656. Vgl. Kemper, Hans-Georg: „Göttergleich“. Zur Genese der Genie-Religion aus pietistischem und hermetischem Geist. In: Ders. u. Hans Schneider (Hrsg.): Goethe und der Pietismus. Tübingen 2001. S. 171–208, hier: S. 171. Kemper grenzt die Ausdrucksästhetik strikt gegen die wirkungsbezogene poeta-doctus-Tradition der Rhetorik ab. Vgl. Schrader, Hans-Jürgen: Vom Heiland im Herzen zum inneren Wort. ‚Poetische‘ Aspekte der pietistischen Christologie. In: Pietismus und Neuzeit 20 (1994) S. 55–74, hier: S. 57–66. Vgl. Geitner, Ursula: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992. S. 201.
„G[oethe] war kein Pietist“,104 diese Feststellung von Ulf-Michael Schneider ist trotz der Briefe Goethes an Langer, trotz der Vertrautheit mit pietistischen Positionen durch das Goethesche Umfeld zutreffend. Doch haben pietistische Theorien Goethe einen Zugang zu rhetorischen Theorien der Selbstaffizierung vermittelt, die Praxis einer Rede „aus vollem Herzen“ vorgeführt, und schließlich ist der Pietismus auch stilistisch für Goethe von Bedeutung: Der ganz eigene Wortschatz der Pietisten, den August Lange erschlossen hat, stellt ein Vokabular zur Verfügung, das für den Sturm und Drang inspirierend gewesen ist. „Mit dem Pietismus entwickelte sich eine verstärkte Gefühlskultur, die sich von der religiös begründeten Sensibilität für die eigenen Empfindungen ausgehend auch auf andere Bereiche erstreckte.“105 In diesem Sinne hat auch Conrady die lebensgeschichtliche Bedeutung des Pietismus für Goethe beschrieben: Bedeutungsvoll war jedoch, daß er mit einer Sprache in Berührung kam, die seit Spener und Zinzendorf einen Wortschatz ausgebildet hatte, der einer ständigen Selbstbeobachtung und Analyse seelischer Regungen dienen sollte […].106
Die religiöse Semantik stellt, so Marianne Willems, Mittel zur Diskussion eines neuen Individualitätskonzepts zur Verfügung, und nach ihrer Auffassung wäre die Entdeckung des bürgerlichen Individuums ohne das religiöse Vokabular kaum möglich gewesen.107 Allerdings kommt es zu einer „Umdeutung und Manipulation“108 der religiösen Vorstellungen, während der Pietist die Wiedergewinnung des Göttlichen durch die „Auslöschung des Selbst“109 erhofft, wird im Sturm und Drang allenfalls die Individualität als göttliche Eigenschaft des Menschen verstanden: Die individuelle Natur konstituiert sich nicht mehr im Gegensatz zur geistigen als der Welt, der Materie, verfallene Seite des Menschen, die es abzustreifen gilt. Gerade in seiner Besonderheit, in seiner sinnlich-irdischen Existenz repräsentiert das Individuum das Allgemeine und Göttliche.110
War im Pietismus die Einwirkung Gottes auf die menschliche Seele Voraussetzung, um aus der Fülle des Herzens sprechen zu können,111 führt Goethe die Fül–––––––––––– 104 105 106 107
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Schneider, Ulf-Michael: Artikel „Pietismus“. In: Goethe-Handbuch. Bd. 4, 2. S. 850–852, hier: S. 850. Karthaus, Ulrich: Sturm und Drang. Epoche – Werke – Wirkung. München 2000. S. 24. Conrady, Karl Otto: Goethe: Leben und Werk. Bd. 1: Hälfte des Lebens. Frankfurt am Main 1995. S. 95. Vgl. Willems, Marianne: Das Problem der Individualität als Herausforderung an die Semantik im Sturm und Drang. Studien zu Goethes „Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***“, „Götz von Berlichingen“ und „Clavigo“. Tübingen 1995. S. 7. Ebd. Ebd. S. 57. Ebd. S. 56. Vgl. Geitner, Ursula: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992. S. 198.
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le des Herzens auf Individualität zurück. Die beiden Rollendichtungen zeigen, wie präzise sich Lehre und Kult des Pietismus, die rhetorische Konzepte, namentlich das Modell der Selbstaffizierung und die pectus-Tradition, fortführen, mit dem Sturm und Drang in Beziehung setzen lassen. Dabei kann eine endgültige Klärung der religiösen Position Goethes durchaus unterbleiben, die durch Sauders These von „experimentierenden Lebensphasen“112 ohnehin treffend charakterisiert ist. Für den literarisch interessierten Goethe lieferte der Pietismus ein praktisch und theoretisch interessantes Experimentierfeld, das ihm ein Vokabular zur Beschreibung von Empfindungen erschlossen hat, ihm gezeigt hat, mit welchen Wirkungen man aus vollem Herzen reden und schreiben kann.
3. 4.
Gegen die erstarrten Regeln. Goethes Quintilian-Lektüren
In den „Ephemerides“, dem Tagebuch mit Einfällen und Lesefrüchten, das Goethe vom Frühjahr 1770 bis gegen Ende 1771 in Frankfurt und Straßburg geführt hat und das die Beschäftigung mit dem Horaz-Kommentar Richard Hurds ebenso belegt wie die mit du Bos, ist auch die umfangreiche Quintilian-Rezeption des jungen Goethe dokumentiert. Da diese Aufzeichnungen nicht für die Veröffentlichung bestimmt waren, bieten sie einen unverstellten Blick auf Goethes Einschätzung der Rhetorik. Die „Ephemerides“ beschäftigen sich dabei nicht nur inhaltlich mit Rhetorik, sondern folgen auch formal einer rhetorischen Tradition. Helmut Schanze hat sie mit einem polyhistorischen Ansatz in Verbindung gebracht, der rhetorische Lektüretechniken variierend aufgreift: Die Methode des poetischen Tagebuchs macht das Biographische, Erlebnishafte, Kontingente des Lebens für den poetischen Prozeß fruchtbar. […] Entscheidend für Goethes Umgang mit den Notizen ist das absichtlich-unabsichtliche Verfahren. Dem klassisch-rhetorischen Verfahren ist die Redeabsicht vorgegeben, im universaltopischen Verfahren wird dieses Primum erst erzeugt. Zeit und bewußte Wahl sorgen dafür, daß nur die wichtigsten und bedeutsamsten Notizen auch zu Werken werden.113
Exzerpte gehörten spätestens seit Quintilians „Institutio oratoria“ zur Ausbildung des Redners, dessen rhetorischer Lehrgang ja keineswegs bloß auf unmittelbaren Nutzen und die Produktion von Reden gerichtet war, sondern auf die umfassende Ausbildung des Redeschülers zielte, zu der die Vermittlung eines Grundbestands –––––––––––– 112 113
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Sauder, Gerhard: Der junge Goethe und das religiöse Denken des 18. Jahrhunderts. In: Goethe-Jahrbuch 112 (1995) S. 97–110, hier: S. 110. Schanze, Helmut: Goethes Dramatik. Theater der Erinnerung. Tübingen 1989. S. 26–28. Die Form der „Ephemerides“ erinnert Schanze an den Pietismus: „Das pietistische Verfahren der ‚Losung‘ (Zufallswahl einer Schriftstelle für den jeweiligen Tag) ist Parallele und Anregung für diese Art der Invention, wäre sie nicht in den ‚Ephemerides‘ vom Buch der Bücher auf alle möglichen Bücher zugleich literarisiert und universalisiert.“ (ebd. S. 28).
an res gehörte.114 Wenn Quintilian fordert, der Redner solle über „alle Gegenstände“115 reden können, dann geht es nicht nur um technische Perfektion, sondern auch um eine Aneignung von Inhalten in einer nicht auf direkte Verwertbarkeit ausgerichteten Art und Weise, wie sich das auch von den Aufzeichnungen des jungen Goethe sagen lässt.116 Es ist in den Worten Otto Seels die „sinnenfrohe Welteröffnetheit“ 117 Quintilians jenseits aller regelrhetorischen Anweisungen, die Goethe fasziniert und deren Spuren sich in den „Ephemerides“ finden, in denen insgesamt 19 Quintilianzitate verzeichnet sind.118 Goethes selektive Quintilian-Lektüre präferiert die Seite der Rhetorik, die nicht von Regeln und Techniken handelt, sondern von rednerischer Individualität, Affektwirkung und natürlicher Begabung, er bevorzugt die anthropologischen Paradigmen der Rhetorik, nicht so sehr ihr systematisches Wissen. Bei der Auswahl der Passagen scheint Goethe es mit einem Ausspruch Quintilians zu halten, den er sich eigens notiert, nämlich dass es den Geist ermüde, dem, was irgend jemand gesagt habe, bis ins kleinste Detail nachzugehen, zumal die große gedankliche Linie auf diese Weise leicht verfehlt werde.119 Die meisten Zitate in Goethes Sammlung kommen aus dem ersten, zweiten und zehnten Buch der „Institutio oratoria“, 120 sie haben also mit den Grundlagen –––––––––––– 114
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Die Bedeutung des pädagogischen Ansatzes für den Rhetorikbegriff von Quintilian hat Martin M. Clarke herausgestellt (vgl. M. L. C.: Rhetoric at Rome. A Historical Survey. 3. Auflage. London u. New York, NY 1996. S. 120–129, außerdem: Ders.: Quintilian on Education. In: Dorey, Thomas A. (Hrsg.): Empire and Aftermath. London 1975. S. 98–118). Zur Tradition der Kollektaneen vgl. Mayer, Heike: Lichtenbergs Rhetorik. Beitrag zu einer Geschichte rhetorischer Kollektaneen im 18. Jahrhundert. München 1999. S. 32–60. Quint. Inst. orat. II, 21, 4. Vgl. ebd. II, 21, 15. Zudem Härter, Andreas: Digressionen. Quintilian – Opitz – Gottsched – Friedrich Schlegel. München 2000. S. 30–32. Seel, Otto: Quintilian oder Die Kunst des Redens und Schweigens. Stuttgart 1977. S. 309. Vgl. Goethe: Ephemerides. MA 1, 2. S. 526–528. Bei Grumach (Bd. 2. S. 907–908) sind die Zitate genannt und Quintilian zugeordnet, gleichwohl hat man sich kaum mit der Bedeutung einer so ausführlichen Quintilian-Lektüre beschäftigt. Hinweise zur Deutung liefern Seel, Otto: Quintilian oder Die Kunst des Redens und Schweigens. Stuttgart 1977. S. 288–313; Schanze, Helmut: Goethes Dramatik. Theater der Erinnerung. Tübingen 1989. S. 20–34; ders.: Goethes Rhetorik. In: Ueding, Gert (Hrsg.): Rhetorik zwischen den Wissenschaften. Geschichte, System, Praxis als Probleme des „Historischen Wörterbuchs der Rhetorik“. Tübingen 1991. S. 139–147, hier: S. 140–145. Vgl. Goethe: Ephemerides. MA 1, 2. S. 527, bzw. Quint. Inst. Orat. I, 8, 18. Noch in modernen Anthologien zur „Institutio oratoria“ sind dies die am häufigsten aufgenommenen Bücher (vgl. Adamietz, Joachim: Quintilians „Institutio oratoria“. In: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt II. Hrsg. v. Hildegard Temporini u. Wolfgang Haase. 32. Bd. 4. Teilbd. Hrsg. v. W. H. Berlin u. New York, NY 1986. S. 2226–2271, hier: S. 2227). Goethe hat also mit sicherer Hand zentrale Abschnitte des Textes intensiver gelesen, während er den Rest vermutlich kursorisch gesichtet hat. Seine Quintilian-Ausgabe, die er aus der Bibliothek des Vaters übernommen hat, ist mit einem guten Register und kurzen Zusammenfassungen der einzelnen Bücher versehen, die eine solche Lektüreweise erleichtern (vgl. Ruppert Nr. 1429. S. 203).
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der Redekunst bzw. mit den Themen Wortfülle, Nachahmung und Stegreifrede zu tun. Rüdiger Campe hat die Auswahl mit der Diagnose, Goethe habe „Rhetorik überlesen“,121 belegt. Doch wenn Goethe Quintilian jenseits der Regel entdeckt, erkennt er damit ein zentrales Anliegen des römischen Rhetoriklehrers, der die Dichotomie zwischen ars und natura eben nicht einseitig zugunsten der ars auflöst. Quintilian hat die Praxis der rhetorischen Ausbildung und der rhetorischen Tätigkeit im Blick, die mit strikter Regeltreue oft nicht zu bewältigen ist. Goethe notiert mit der Feststellung, „es sei etwas anderes lateinisch oder grammatisch zu sprechen“ („aliud esse Latine aliud Grammatice loqui“)122 einen Satz, der diese Erkenntnis mit Blick auf die Grammatik anwendet. Quintilian hebt die Wichtigkeit des rednerischen ethos immer wieder hervor, etwa wenn er darauf hinweist, dass „einige Menschen sogar durch ihre Fehler erfreuen“123 und andere nicht einmal dann, wenn sie alles richtig machen. Das Überzeugungsmittel ethos ist auf Charakter und Eigenart menschlichen Verhaltens zu beziehen – oder in den Worten Quintilians: auf „morum propietas“ und „omnis habitus mentis“124 – und somit einer völligen Systematisierung ebenso wenig zugänglich wie die Ausrichtung des Bildungsganges auf moralische Ziele durch das viel zitierte vir-bonus-Konzept.125 Wobei Quintilian anders als Aristoteles nicht daran glaubt, dass sich das ethos allein durch rednerische Mittel –––––––––––– 121
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Campe, Rüdiger: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1990. S. 537. Auch laut Helmut Schanze betreibt Goethe eine Quintilian-Lektüre ‚gegen den Strich‘, die eher untypische Gedanken aus dem Werk des römischen Rhetorikers herausgreift und zu einer neuen Vorstellung zusammenfügt, die dem rezipierten Autor kaum noch gerecht wird. Als „Quintilian-Paradoxien“ (Schanze, Helmut: Goethes Rhetorik. In: Ueding, Gert (Hrsg.): Rhetorik zwischen den Wissenschaften. Geschichte, System, Praxis als Probleme des „Historischen Wörterbuchs der Rhetorik“. Tübingen 1991. S. 139–147, hier: S. 140) hat Schanze diese Goethesche Blütenlese bezeichnet und behauptet: „Die Lektüre geht gegen den Zusammenhang, zerstört ihn und stellt einen anderen Quintilian her. Was Goethe in den „Ephemerides“ notiert, ergibt zugleich einen neuen Zusammenhang, der das Lehrgebäude in spezifischer Weise deutet, in Ansätzen sogar umdeutet. Ausgezogen sind Stellen, die man offensichtlich so bei Quintilian nicht erwartet. Ausgezogen sind Stellen, die den Lehrbuchcharakter sprengen und in poetologischer Absicht brauchbar erscheinen.“ (Schanze, Helmut: Goethes Dramatik. Theater der Erinnerung. Tübingen 1989. S. 21). Diese Art der Lektüre wäre nicht untypisch für den pragmatischen Goethe, allerdings kann man auch mit Otto Seel, der als erster in größerem Umfang die Quintilian-Fundstücke in den „Ephemerides“ untersucht hat, die These vertreten, Goethe bringe mit seiner Interpretation den „eigentlichen“ Quintilian ans Licht bzw. weniger avanciert: Goethe komme zu einer Sichtweise Quintlians, die rhetorikgeschichtlich durchaus einflussreich war. Vgl. O. S.: Quintilian oder Die Kunst des Redens und Schweigens. Stuttgart 1977. S. 290. Goethe: Ephemerides. MA 1, 2. S. 527. Vgl. Quint. Inst. orat. I, 6, 27 (eigene Übersetzung, O. K.). Quint. Inst. Orat. XI, 3, 178 (eigene Übersetzung, O. K.). Vgl. Goethe: Ephemerides. MA 1,2. S. 526. Quint. Inst. orat. VI, 2, 4–8. Vgl. ebd. II, 15, 34.
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erzeugen lasse, für ihn hängt die ethos-Wirkung mit der Lebensführung zusammen und auch mit der natura des Redners. Persuasion gelingt nach Quintilian bisweilen gerade durch den Verstoß gegen den rhetorischen Regelkanon. In einem Werk der Rhetorik findet Goethe also eine Legitimation, die erstarrte Regelhaftigkeit, wie sie den Barock, aber ebenso die Aufklärungspoetik Gottscheds kennzeichnet, zu durchbrechen. Die voluptas dicendi, von der Quintilian spricht, also die Freude zu reden, durchkreuzt eine als systematische Lehre verstandene Rhetorik.126 Selbst die Kritik Quintilians an einer gar zu starren Körperhaltung wird von Goethe zitiert, da sie zu einem Argument für weitreichende Veränderungen der rednerischen Praxis dienen könnte, wie sie etwa die Shakespeare-Rede ohne Zweifel mit sich gebracht hat.127 In Quintilians Lehrbuch gelten der Reichtum an Empfindungen und die Fähigkeit, Empfindungen zu veranschaulichen, als wichtige Überzeugungsmittel für den Redner. Goethe notiert die einschlägigen Passagen in den „Ephemerides“: „Excitat qui dicit, spiritu ipso, nec imagine et ambitu rerum, sed rebus incendit.“ („Aufrüttelnd wirkt der Sprechende allein schon durch seinen lebendigen Atemhauch, nicht durch ein umkreisendes Abbild der Dinge, sondern durch die Dinge selbst wird Teilnahme erregt.“). 128 Zwar nimmt er die ausführliche Auseinandersetzung mit den Themen evidentia und Selbstaffizierung im sechsten Buch der „Institutio oratoria“ nicht in seine Exzerpte auf, aber auch das Zitat aus dem ersten Buch ist geeignet, um das Thema zu beleuchten. Schon Dockhorn hat dieses Zitat in den Kontext der evidentia-Lehre eingeordnet: Bei der evidenten Darstellung geht es demnach um die „Bildhaftmachung durch Wiederherstellung der in der Begegnung mit dem Gegenstand erlittenen originalen affektivischen Situation“.129 Goethe formuliert etwa in der Rede „Zum Schäkespears Tag“ vermittels einer evidenten Darstellungsweise seine Erfahrungen bei der Shakespeare-Lektüre und seine individuellen Empfindungen in einer Weise, die ein inneres Erleben für den Rezipienten fassbar macht. Demgegenüber ist Quintilian eine nur äußerliche imitatio auctoris suspekt, wenn sie nicht auch das Wesen der Dinge erfasst, wie auch die imitatio naturae erst ihren Wert erhält, wenn sie das Wesen eines Gegenstandes trifft: –––––––––––– 126
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Vgl. ebd. III, 11, 24–25. Andreas Härter hat in seiner Studie die Wirkung der voluptas dicendi auf die rhetorischen Ordnungssysteme thematisiert und differenziert dargestellt, wie diese Forderung die Ordnung von dispositio und elocutio immer wieder durchkreuzt. Vgl. A. H.: Digressionen. Quintilian – Opitz – Gottsched – Friedrich Schlegel. München 2000. S. 35–45. Vgl. Goethe: Ephemerides. MA 1,2. S. 527 bzw. Quint. Inst. Orat. II, 13, 9. Goethe: Ephemerides. MA 1, 2. S. 527. Vgl. Quint. Inst. orat. X, 1, 16 (eigene Übersetzung, O. K.). Dockhorn, Klaus: Epoche, Fuge und „Imitatio“. Rhetorische Komponenten des Historismus. In: Ders.: Macht und Wirkung der Rhetorik. Vier Aufsätze zur Ideengeschichte der Vormoderne. Bad Homburg v. d. H., Berlin u. a. 1968. S. 105–128, hier: S. 115.
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Nec vero saltem iis quibus ad evitanda vitia iudicii satis fuit, sufficiat imaginem virtutis effingere, et solam ut sic dixerim, cutem […]. (Aber selbst für die, die genug Urteilsvermögen besitzen, Fehlern aus dem Weg zu gehen, dürfte es kaum genügen, bloß ein Abbild des Vorzüglichen herzustellen, nur, sozusagen, seine Haut.)130
Goethe hat das Modell der Selbstaffizierung nicht nur über Richard Hurd und dessen Horaz-Kommentar sowie das Zitat der pectus-Formel in Ernestis „Intitia rhetorica“, sondern auch über die direkte Rezeption Quintilians als ernsthaftes Modell zur sprachlichen Darstellung von Empfindungen kennen gelernt. Schließlich soll der Redner, wie ein weiteres Zitat aus Goethes Sammlung belegt, mit seiner Persönlichkeit für seine Sache eintreten. Will er die Zuhörer überzeugen, sind natürliche Begabung und Empfindung unumgänglich: „Firma quaedam facilitas, quae apud Graecos ἕξις nominatur“ – „eine gewisse kräftige Befähigung, welche bei den Griechen ἕξις genannt wird“, ist nötig.131 Die ἕξις ist Ausdruck von Haltung, von körperlichem und geistigem Besitz, erst sie macht wirklich beredt.132 Die natura ist für einen Redner demnach von großer Wichtigkeit, und Affekte, die er in sich spürt, sind ein potentiell entscheidendes Moment seiner Überzeugungskraft, wobei Quintilian nicht einer simplen Natur-Rhetorik das Wort redet, die technischen Mittel, mit denen sich Affekte wirksam darstellen lassen, hat er stets im Blick, wie sich an der Behandlung des iudicium ablesen lässt, die auch in Goethes Notizen nicht fehlt. Quintilian lehrt, dass spontan produzierte Texte letztlich auf eine Überarbeitung gemäß den Kunstregeln der Rhetorik angewiesen sind: Omnia enim nostra dum nascuntur placent, alias nec scriberentur. Sed redeamus ad iudicium, et retractemus suspectam facilitatem. (Alles nämlich gefällt, wenn es entsteht, sonst würde es ja nicht geschrieben werden. Aber wir sollten zur Beurteilung [ad iudicium] darauf zurückkehren und wieder heranziehen, was so verdächtig leicht war.) 133
Das iudicium, also „die Fähigkeit, […] zu beurteilen und zu unterscheiden hinsichtlich der Brauchbarkeit für das Kunstwerk“,134 ist eine rhetorische Kategorie, die als Korrektiv der spontanen Ausdruckskunst des Genies wirkt. Zwar geht das –––––––––––– 130 131 132 133 134
Goethe: Ephemerides. MA 1, 2. S. 527. Vgl. Quint. Inst. orat. X, 2, 15 (eigene Übersetzung, O. K.). Goethe: Ephemerides. MA 1, 2. S. 527. Vgl. Quint. Inst. orat. X, 1, 1 (eigene Übersetzung, O. K.). Vgl. dazu auch Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 11. Auflage. Tübingen u. Basel 1993. S. 436. Goethe: Ephemerides. MA 1, 2. S. 528. Vgl. Quint. Inst. orat. X, 3, 7 (eigene Übersetzung, O. K.). Ueding u. Steinbrink: Grundriß der Rhetorik. S. 223.
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iudicium auf die natura des Redners zurück, aber dieses Urteilsvermögen ist laut Quintilian ohne Ausbildung ständig gefährdet, muss daher geschult und gefestigt werden, um dann das spontan entstandene Kunstwerk beurteilen und die weitere Bearbeitung vorbereiten zu können.135 Am Ende der Quintilian-Zitate in den „Ephemerides“ steht die Mahnung, keinen falschen Grad an Perfektion von den eigenen Texten zu fordern: „Nunquid tu melius dicere vis quam potes?“ – „Willst Du etwa besser reden, als Du kannst?“.136 Die Spannung zwischen der Authentizität des spontanen Wortes und der Bearbeitung eines Textes nach den Regeln der inventio, dispositio und elocutio wird also auf pragmatische Weise gelöst: Der Redner wie der Dichter sollen nach Goethes Quintilian-Interpretation ihren natürlichen Begabungen und ihren Empfindungen trauen und zugleich bearbeitend mit ihren Texten umgehen. Sie sollen diese mit sicherem iudicium einrichten. Die Annahme Jürgen Stenzels, die „Autoren des ‚Sturm und Drang‘ […] dürften wenig Neigung verspürt haben, die Autoritäten von Volkspoesie und Natur durch solche zu ergänzen, an denen ein Gottsched sich orientiert hatte“,137 lässt sich bei genauerer Betrachtung nicht aufrechterhalten. Gerade in dem Moment, in dem er zum ersten Mal als Dichter hervortritt, beschäftigt sich Goethe mit Quintilian und der rhetorischen Tradition, deren anthropologische Modelle für ihn durchaus von Interesse sind. Dockhorns berühmte Forderung nach einer generellen Umschaltung der ästhetischen Fragestellung „vom Ausdrucksproblem […] auf das Wirkungsproblem“138 geht indes an Goethe vorbei. Die Trennung erscheint künstlich, denn Goethe interessiert sich für Rhetorik gerade als eine Theorie, mit deren Hilfe sich erklären lässt, wie individuelle Empfindungen sprachmächtig werden, wie der Schriftsteller sein inneres Erleben literarisch produktiv werden lassen kann. Überhaupt Quintilians Art, Kunst- und Literaturgeschichte zu betreiben, muss für Goethe attraktiv gewesen sein. Den literaturhistorischen Überblick der „Institutio“ erwähnt er zwar in den „Ephemerides“ nicht, er war ihm aber bekannt.139 Mit diesem literaturhistorischen Entwurf aber überschreitet Quintilian endgültig den Erkenntnishorizont einer persuasiven Rhetorik, so dass sich die komplexe rhizomatische Struktur seines Rhetorik-Konzepts gut erkennen lässt. –––––––––––– 135 136 137
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Vgl. Quint. Inst. orat. VI, 5, 1 bzw. II, 5, 23. Goethe: Ephemerides. MA 1, 2. S. 528. Vgl. Quint. Inst. orat. X, 3, 14 (eigene Übersetzung, O. K.). Stenzel, Jürgen: „Si vis me flere…“ – „Musa iocosa mea“. Zwei poetologische Argumente in der deutschen Diskussion des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 48 (1974) S. 650–671, hier: S. 663. Dockhorn, Klaus: Macht und Wirkung der Rhetorik. Vier Aufsätze zur Ideengeschichte der Vormoderne. Bad Homburg, Berlin u.a. 1968. S. 94. Vgl. Goethe: Besserem Verständnis. MA 11, 1, 2. S. 167. Goethe zitiert an dieser Stelle wahrscheinlich Quint. Inst. orat. X, 1, 44.
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Die Entdeckung von Individualität und die daraus erwachsende These künstlerischer Autonomie sind dem 18. Jahrhundert zuzuschreiben.140 Es entsteht mit dem Sturm und Drang eine Kunst, in der sich der Autonomie-Gedanke andeutet, das Ziel von Schriftstellern sich dahin verlagert, individuelle Empfindungen darzustellen, statt extrinsische Ziele zu verfolgen.141 Bei Quintilian aber findet sich bereits der Gedanke, dass Kunstgenuss erst dann rein ist, wenn er nicht in Verfolgung äußerer Zwecke, sondern um des Kunstwerks selbst willen erfolgt. 142 Ein solch autonomes Verständnis von Kunst wirkt auch auf das Menschenbild zurück: Quintilians orator tacens ist ein Gegenstück zu der auf Wirkung und Überzeugung angelegten Rednerpersönlichkeit, auf die Rhetorik als systematische Theorie persuasiver Rede zugeschnitten ist,143 und Musterbild eines Kunstliebhabers. Auch für den orator tacens bleibt freilich die artifizielle Qualität eines Textes wichtig, Kunstfertigkeit, die er losgelöst von der konkreten persuasiven Wirkung der Rede erkennt. Im Konzept des orator tacens spiegelt sich also der systematische Gehalt der Rhetorik als Kunstlehre (ars), aber eben auch eine Tendenz zur, modern gesprochen, Autonomisierung dieser Kunstlehre, die ja für das genus demonstrativum kennzeichnend ist, wie Eberhard Ostermann verdeutlicht hat.144 Sowohl die anthropologisch fundierten Rhetorikmodelle als auch diese Tendenz zur Autonomisierung der Kunstlehre sind für Goethe reizvoll. Quintilians rhetorisches Lehrbuch ist für Goethe ein Anhaltspunkt zur schriftstellerischen Selbstbestimmung, indem sich das disziplinäre Wissen der Rhetorik sowohl in systematischer Weise erschließt, wie Goethe es auch während seiner Schulzeit und an der Universität kennen gelernt hat, aber auch die anthropologischen Paradigmen der Rhetorik vorkommen und mit dem systematischen Wissen der Rhetorik in Beziehung gesetzt sind. Indem Goethe Quintilian selektiv liest und die anthropologischen Überlegungen in den Mittelpunkt stellt, gelingt ihm die Korrektur einseitiger Rhetorikdefinitionen im Stil des Barock oder auch der Aufklärung. So kann er sich selbst als Autor einerseits seiner technischen Kompetenz im Umgang mit Sprache versichern, anderseits erkennt er, –––––––––––– 140
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Vgl. Stenzel, Jürgen: „Si vis me flere…“ – „Musa iocosa mea“. Zwei poetologische Argumente in der deutschen Diskussion des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 48 (1974) S. 650–671, hier: S. 664. Vgl. dazu van Hoorn, Tanja: Affektenlehre – rhetorisch und medizinisch. Zur Entstehung der Anthropologie um 1750 in Halle. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 23 (2004) S. 81–94. Vgl. Quint. Inst. Orat. II, 18, 4. Vgl. Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 11. Auflage. Tübingen u. Basel 1993. S. 436–437. Die Bedeutung des orator tacens wird bei Seel, Otto: Quintilian oder Die Kunst des Redens und Schweigens. Stuttgart 1977. S. 326–353 hervorgehoben. Vgl. Ostermann, Eberhard: Die Authentizität des Ästhetischen. Studien zur Transformation der Rhetorik. München 2002. S. 40–46.
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dass die Regeln der Rhetorik nicht als unveränderliche, feststehende Gesetze zu betrachten, vielmehr auf die jeweilige rhetorische Situation zu beziehen sind und in der Anwendung ihre Legitimität beweisen müssen. Mit dem Wechsel nach Leipzig hatte sich Goethe auf die Fahnen geschrieben, als Poet zu reüssieren, und er gestaltete sein Studium so, dass er vor allem als Schriftsteller zu profitieren hoffte. Dabei stieß er immer wieder auf die Rhetorik. Vor diesem Hintergrund ist die selektive Quintilian-Lektüre nicht ein Überlesen dessen, was Rhetorik ausmacht, sondern ein Versuch, sich die Disziplin in ihrer Breite anzueignen. Im Bannkreis der Rhetorik verfeinert sich Goethes Vorstellung vom Schriftsteller in einer Weise, die der eigenen Subjektivität den Spielraum eröffnet, den der Genie-Diskurs einfordert, zugleich aber nicht mit dem Wissen um die wirksame Gestaltung von Texten bricht, das in der antiken Rhetorik auf der Grundlage empirischer Wirkungsanalyse zusammengetragen wurde.
3. 5.
Herders Lektion über die Rhetorizität der Sprache
Die anthropologischen Modelle der Rhetorik, auf die sich der Geniediskurs bezieht, sind nicht die unrhetorische Alternative zur Systemrhetorik, da Sprache immer schon rhetorisch ist. Gegen ein Ideal spontaner Authentizität literarischer Texte ist aus Sicht der Rhetorik einzuwenden, dass die Rhetorizität der Sprache unhintergehbar ist, Authentizität ein Ideal darstellt, das aus anthropologischen und sprachtheoretischen Gründen nicht zu erreichen ist. Verbindet die Rhetorikforschung diesen Gedanken meist mit Nietzsche oder Blumenberg, hat für Goethe vor allem Herder den Zusammenhang zwischen individueller Empfindung und Zeichen sprachtheoretisch reflektiert und zugänglich gemacht. Herder brachte, wie Rüdiger Campe in seiner Studie zu „Affekt und Ausdruck“ formuliert, die „Dispersion einer auf Affekt und Zeichen gegründeten Sprache ans Licht“,145 die allenfalls in der Naturode, dem „erstgeborne[n] Kind der poetischen Empfindung“,146 noch nicht zu konstatieren war, in der Affekt und Ausdruck übereinstimmen, sich die „Wahrheit der Empfindung“147 offenbaren konnte. Die Naturode aber ist eine archetypische Form, keine Ausdrucksmöglichkeit, über die der zeitgenössische Künstler verfügen kann. Dem modernen Dichter bleibt nur der –––––––––––– 145 146
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Campe, Rüdiger: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1990. S. 275. Herder, Johann Gottfried: Fragmente einer Abhandlung über die Ode. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hrsg. v. Günter Arnold, Martin Bollacher u. a. Bd. 1: Frühe Schriften 1764– 1772. Hrsg. v. Ulrich Gaier. Frankfurt am Main 1985. S. 98. Herder, Johann Gottfried: Von der Ode. [Entwürfe und Teil-Ausarbeitungen]. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hrsg. v. Günter Arnold, Martin Bollacher u. a. Bd. 1: Frühe Schriften 1764–1772. Hrsg. v. Ulrich Gaier. Frankfurt am Main 1985. S. 68.
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Versuch, eine Einheit von Affekt und Ausdruck etwa in einer Kunst-Ode zu konstruieren. Die Natur-Ode ist ein Idealbild,148 deren Einheit der Dichter nur nachstreben kann, weil für ihn die Beziehung zwischen Empfindung, Gedanke und Ausdruck unsicher ist.149 Schon die frühe Rhetorik war sich dieser Dispersion von Affekt und Ausdruck bewusst, dreht sich doch die antike res-verba-Problematik um die Frage, wie der Bezug zwischen Wort und Gegenstand zu denken ist, nämlich als konventionell festgelegt, nicht substantiell begründbar. Schon deshalb lassen sich auf Affekte nicht unmittelbar sprachlich ausdrücken, ist die Sprache immer nur ein Vehikel für die Affekte eines Individuums.150 In Herders Ausführungen zur Ode hat es jedoch zunächst den Anschein, als ob er sich von der Rhetorik distanzieren wollte. Die Selbstaffizierungstheorie erscheint ihm so, wie Horaz sie formuliert hat, jedenfalls problematisch. Herder zitiert den bekannten Topos bruchstückhaft, um ihn sofort zu destruieren: Wenn du willst, daß ich weinen etc.) gut! und das bestätigt meine Meinung, daß sie nie Empfindung ausdrückt. Ich weine, – aber bloß eine poetische Träne; und die wird auch bloß der andre weinen.151
Eberhard Ostermann spricht daher von einem Zurückgehen hinter die rhetorische Lehre der Selbstaffizierung.152 Herders Regel „Setze dich nicht in Empfindung, der dem Affekt gränzt: sonst wirst du wortarm, verworren, dunkel“ 153 konterka–––––––––––– 148
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Vgl. Ostermann, Eberhard: Die Authentizität des Ästhetischen. Studien zur Transformation der Rhetorik. München 2002. S. 108–110. Zur Abgrenzung von Natur-Ode und Kunst-Ode vgl. weiterhin Brummack, Jürgen: Noch einmal: zur Pindarnachahmung bei Herder und Goethe. In: Baßler, Moritz, Christoph Brecht u.a. (Hrsg.): Von der Natur zur Kunst zurück. Neue Beiträge zur Goethe-Forschung. Festschrift für Gotthart Wunberg. Tübingen 1997. S. 21–37, hier: S. 21–24. In der „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“ führt Herder aus, dass die Wörter der Sprache eigentlicher Ausdruck der Affekte sind, während die natürliche Sprache der Affekte ein bloßes Stimmphänomen darstellt (vgl. Herder, Johann Gottfried: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hrsg. v. Günter Arnold, Martin Bollacher u. a. Bd. 1: Frühe Schriften 1764–1772. Hrsg. v. Ulrich Gaier. Frankfurt am Main 1985. S. 697). Rüdiger Campe hat den Zusammenhang verdeutlicht: „der Ausruf oder die Interjektion [vertritt] den Empfindungslaut, aber er ist es in den entwickelten Schreibsprachen nicht (mehr).“ (R. C.: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1990. S. 271). Beispielhaft ist hier der Skeptizismus von Gorgias (vgl. ders.: Fragment 3. In: Diels, Hermann und Walther Kranz (Hrsg.): Die Fragmente der Vorsokratiker. Bd. 2. 10. Auflage. Berlin 1960. S. 279–283). Herder, Johann Gottfried: Von der Ode [Entwürfe und Teil-Ausarbeitungen]. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hrsg. v. Günter Arnold, Martin Bollacher u. a. Bd. 1: Frühe Schriften 1764–1772. Hrsg. v. Ulrich Gaier. Frankfurt am Main 1985. S. 68. Vgl. Ostermann, Eberhard: Die Authentizität des Ästhetischen. Studien zur Transformation der Rhetorik. München 2002. S. 109–110. Herder, Johann Gottfried: Fragmente einer Abhandlung über die Ode. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hrsg. v. Günter Arnold, Martin Bollacher u. a. Bd. 1: Frühe Schriften 1764– 1772. Hrsg. v. Ulrich Gaier. Frankfurt am Main 1985. S. 95.
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riert die Idee, Empfindungen könnten sprachmächtig sein. Allerdings wird durch die Korrektur des Selbstaffizierungstopos gerade auch die rhetorische Kunstfertigkeit ins Spiel gebracht, die durch zu starke Emotionen eines Redners oder Schriftstellers blockiert wird, denn nicht wortarm, verworren oder dunkel zu sein, sind schließlich Forderungen rhetorischer Stilistik. Auch wenn die Selbstaffizierung ein Schlüssel zu einer affektgeladenen Schreibweise sein kann, bleibt der Dichter schließlich auf die Sprache angewiesen. In den Fragmenten „Über die neuere deutsche Literatur“ von 1766/1767 unterscheidet Herder zwischen willkürlichen und natürlichen Zeichen, wobei der Dichter und jeder, der sich schreibend äußert, nur auf willkürliche Zeichen zurückgreifen kann. Die Ebene der natürlichen Zeichen, etwa Lachen, Weinen oder körpersprachliche Signale, muss er daher mit willkürlichen Zeichen nachbilden, so dass Empfindungen nicht anders als in einer vermittelten Form dargestellt werden können: so ists für den Dichter. Er soll Empfindungen ausdrücken: – Empfindungen durch eine gemalte Sprache in Büchern ist schwer, ja an sich unmöglich. Im Auge, im Antlitz, durch den Ton, durch die Zeichensprache des Körpers – so spricht die Empfindung eigentlich […]. Nun, armer Dichter! und du sollst deine Empfindungen aufs Blatt malen, sie durch einen Kanal schwarzen Safts hinströmen, du sollst schreiben, daß man es fühlt, und sollst dem wahren Ausdrucke der Empfindung entsagen; du sollst nicht dein Papier mit Tränen benetzen, daß die Tinte zerfließt […].154
Herder führt nicht ohne Pointen vor, wie naiv der Gedanke ist, dass Herz oder Seele unmittelbar sprachmächtig werden können. Der „Affekt hat nicht ein Zeichen“,155 und Empfindungen können nur in einem komplexen Prozess sprachlicher Kodierung zugänglich gemacht werden: „Empfindung und Wort sind sich so gar entgegen: der wahrhafte Affekt ist stumm, durchbraust unsre ganze Brust inwendig eingeschlossen.“156 Daher sind technische Regeln und Kautelen notwendig, wenn ein Dichter seine Empfindungen teilen will. Herder rät dem Schriftsteller deshalb: Du mußt den natürlichen Ausdruck der Empfindung künstlich vorstellen, wie du einen Würfel auf der Oberfläche zeichnest; du mußt den ganzen Ton deiner Empfindung in dem Perioden, in der Lenkung und Bindung der Wörter ausdrücken: du mußt ein Gemälde hinzeichnen, daß dies selbst zur Einbildung des andern ohne deine Beihülfe spreche, sie erfülle, und durch sie sich zum Herzen grabe: du mußt Einfalt, und Reichtum, Stärke und Kolorit der
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Herder, Johann Gottfried: Über die neuere deutsche Literatur III. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hrsg. v. Günter Arnold, Martin Bollacher u. a. Bd. 1: Frühe Schriften 1764–1772. Hrsg. v. Ulrich Gaier. Frankfurt am Main 1985. S. 402. Campe, Rüdiger: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1990. S. 271. Herder, Johann Gottfried: Von der Ode [Entwürfe und Teil-Ausarbeitungen]. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hrsg. v. Günter Arnold, Martin Bollacher u. a. Bd. 1: Frühe Schriften 1764–1772. Hrsg. v. Ulrich Gaier. Frankfurt am Main 1985. S. 66.
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Sprache in deiner Gewalt haben, um das durch sie zu bewürken, was du durch die Sprache des Tons und der Geberden erreichen willst […].157
Der Dichter kann Empfindungen nur mit Hilfe willkürlicher Zeichen zugänglich machen. Zugleich sind diese willkürlichen Zeichen das natürliche Ausdrucksmittel des Menschen, so dass der Gegensatz zwischen nonverbalen Zeichen als Ausdruck innerer Empfindungen und der Künstlichkeit der Sprache als ein konstruierter Gegensatz zu betrachten ist. In den Worten Heinrich Bosses: „Herder integriert den Gegensatz zwischen natürlichen und künstlichen Zeichen auf neuartige Weise, nämlich in der Natur des Menschen. Der Mensch ist zur Sprache bestimmt“.158 So neu ist der Gedanke nicht, schon Aristoteles hat ihn formuliert, aber Herder macht ihn für das 18. Jahrhundert fruchtbar und hat Goethe vermitteln können, dass der zur Sprache bestimmte Mensch damit zufrieden sein kann und muss, an die Regeln der Rhetorik (aber auch der Grammatik) gebunden zu sein, wenn er seine Empfindungen mit anderen Menschen teilen will. Herders Ziel ist nicht, das rhetorische Modell der Textproduktion zu verteidigen, inventio und elocutio streng zu trennen, ist für ihn nicht überzeugend. Er glaubt, es sei für den Originalschriftsteller „unmöglich, den Ausdruck abgesondert vom Gedanken zu behandeln, zu ordnen, zu wählen“.159 Ausdruck und Gedanke stehen vielmehr in einem unauflöslichen Zusammenhang:160 Je mehr ich der Sache nachdenke, daß man es für nützlich, ja für notwendig habe halten können, in Poesien Gedanke und Ausdruck unverbunden zu behandeln, in Poetiken unverbunden zu lehren, und in Alten unverbunden zu zergliedern: desto fremder kömmt mir diese Zerreißung vor […].161
1772 liest Goethe Herders Fragmente zur Literatur zum ersten Mal und ordnet in einem Brief an Herder dieses Lektüreerlebnis mit pathetischen Worten ein: –––––––––––– 157
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Herder, Johann Gottfried: Über die neuere deutsche Literatur III. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hrsg. v. Günter Arnold, Martin Bollacher u. a. Bd. 1: Frühe Schriften 1764–1772. Hrsg. v. Ulrich Gaier. Frankfurt am Main 1985. S. 403 (Hervorhebungen im Original, O. K.). Bosse, Heinrich: Der Autor als abwesender Redner. In: Goetsch, Paul (Hrsg.): Lesen und Schreiben im 18. Jahrhundert. Studien zu ihrer Bewertung in Deutschland, England, Frankreich. Tübingen 1994. S. 289–290. Herder, Johann Gottfried: Über die neuere deutsche Literatur III. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hrsg. v. Günter Arnold, Martin Bollacher u. a. Bd. 1: Frühe Schriften 1764–1772. Hrsg. v. Ulrich Gaier. Frankfurt am Main 1985. S. 409 (Hervorhebung im Original, O. K.). Vgl. ebd. S. 404. Es gibt nach Herder eine Entwicklung von einer Sprache von Affekt und Sinnlichkeit zu einer Sprache des Verstandes (vgl. dazu Gaier, Ulrich: Herders Sprachphilosophie und Erkenntniskritik. Stuttgart 1988. S. 50–56). Elocutio ist entsprechend mehr als eine äußere, stilistischen Regeln folgende Aufgabe des Redners, sondern mit dem Inhalt der Rede untrennbar verknüpft (vgl. Dockhorn, Klaus: Macht und Wirkung der Rhetorik. Vier Aufsätze zur Ideengeschichte der Vormoderne. Bad Homburg, Berlin u.a. 1968. S. 120). Herder, Johann Gottfried: Über die neuere deutsche Literatur III. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hrsg. v. Günter Arnold, Martin Bollacher u. a. Bd. 1: Frühe Schriften 1764–1772. Hrsg. v. Ulrich Gaier. Frankfurt am Main 1985. S. 404.
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[A]ber doch ist nichts wie eine Göttererscheinung über mich herabgestiegen, hat mein Herz und Sinn mit warmer heiliger Gegenwart durch und durch belebt, als das wie Gedank’ und Empfindung den Ausdruck bildet. So innig hab’ ich das genossen.162
Herder hat sprachtheoretisch, aber auch anthropologisch begründet, warum Empfindungen sich nur ausdrücken lassen, indem man auf eine konventionelle Sprache zurückgreift, und die Umsetzung der Empfindung in Sprache als eine gedankliche Leistung verstanden.163 An die Stelle des unmittelbaren Gefühlsausdrucks tritt die kalkulierte, rhetorische Strategie der Simulation von Gefühlen, die auf Durchsetzung beim Publikum zielt […].164
Brummack hat vor allem die kritische Distanzierung Herders von der Theorie der Selbstaffizierung in den Vorarbeiten zur Abhandlung „Von der Ode“ gesehen.165 Mit der Kritik an den Produktionsstadien setzt sich diese Distanzierung gegenüber der Rhetorik in den „Fragmenten“ fort, so dass Ulrich Gaier Herders Überlegungen als Versuch deutet, den „Rhetorisierungsprozeß des Poetischen durch den künstlerischen Akt aufzuheben“.166 Aber neben solcher Kritik an einigen rhetorischen Theorien kann man eben doch mit Ostermann auch die Nähe von Herders Überlegungen zur Rhetorik hervorheben, das Kalkulierte und rhetorisch-strategische Momente erkennen, die nötig sind, damit Empfindungen sprachlich vermittelt werden können. –––––––––––– 162
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Goethe: Brief an Johann Gottfried Herder vom 10. Juli 1772. WA IV, 2. S. 18. Laut Ulrich Gaier hätte Goethe für Herder eher schreiben sollen, dass Gedank oder Empfindung den Ausdruck bilden (vgl. U. G.: Herders Sprachphilosophie und Erkenntniskritik. Stuttgart 1988. S. 56–57). Zugleich weist Gaiers aber selbst auf den engen Zusammenhang zwischen Empfindung, Gedanken und Ausdruck hin. Auf den anthropologischen Ansatz Herders hat schon Lothar Bornscheuer hingewiesen: Vgl. L. B.: Anthropologisches Argumentieren. Eine Replik auf Hans Blumenbergs „Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik“. In: Kopperschmidt, Josef u. Helmut Schanze (Hrsg.): Argumente – Argumentation. München 1985. S. 121–133. Bornscheuer sieht aber eine fundamentale Differenz zwischen Herders Sprachphilosophie und den Ansätzen der Rhetorik. Herder gehe es vor allem um Gedanken und Empfindungen des Individuums (vgl. S. 128), während die antike Rhetorik ausschließlich auf den Menschen als Subjekt der Gesellschaft ziele (vgl. S. 128–130). Doch die „Selbstvermittlungsprobleme“ (S. 128) des modernen Menschen sind in weniger radikaler Form auch in der antiken Rhetorik zu beobachten, wie Goethes Quintilian-Lektüre deutlich macht. Ostermann, Eberhard: Die Authentizität des Ästhetischen. Studien zur Transformation der Rhetorik. München 2002. S. 113. Brummack, Jürgen: Noch einmal: zur Pindarnachahmung bei Herder und Goethe. In: Baßler, Moritz, Christoph Brecht u.a. (Hrsg.): Von der Natur zur Kunst zurück. Neue Beiträge zur Goethe-Forschung. Festschrift für Gotthart Wunberg. Tübingen 1997. S. 21–37, hier: S. 23. Gaier, Ulrich: Kommentar zu „Über die neuere deutsche Literatur III“. In: Herder, Johann Gottfried: Über die neuere deutsche Literatur. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hrsg. v. Günter Arnold, Martin Bollacher u. a. Bd. 1: Frühe Schriften 1764–1772. Hrsg. v. U. G. Frankfurt am Main 1985. S. 1155.
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Bei aller Kritik Herders an einzelnen Annahmen der rhetorischen Tradition spielt, wie Björn Hambsch gezeigt hat, die rhetorische Tradition für Herder als Orientierungsrahmen seiner Theorien eine entscheidende Rolle. 167 Das gilt für Herders Schreibanweisung an den Dichter auch im Detail: Der Dichter, der auf das Medium Sprache angewiesen ist, kann seine Empfindungen nämlich nur mit einem Verfahren kommunizieren, das der Selbstaffizierung ähnlich ist und ihm hilft, „Gedanke und Ausdruck“ zu verbinden, indem anschauliche Vorstellungen die Empfindung für den sprachlichen Ausdruck herrichten.168 Er [der Originalschriftsteller] bildet sich das Ganze des Gedankens in seinem Geiste […]: das Bild schaffet sich in seinem Kopf und tritt, vollständig an Gliedmaßen, und gesund an der Farbe, mit glänzenden Waffen gerüstet, hervor, und wird Ausdruck.169
Indem Herder erläutert, die bildliche Vorstellung würde, mit glänzenden Waffen gerüstet, Ausdruck, zitiert er topische Darstellungen der Rhetorik. Bosse spricht vom Schriftsteller bei Herder als einem abwesenden Redner,170 der nur durch einen erheblichen sprachlichen Aufwand seine Empfindungen mitteilen kann. Durch Herder versteht Goethe die Beziehung zwischen Empfindung, Gedanke und Ausdruck und sieht ein, dass der Dichter seine Empfindung und Gedanke nach den Regeln der Rhetorik in eine sprachliche Form bringen muss und sich dadurch keineswegs dem Vorwurf der Künstlichkeit auszusetzen hat. Goethe hat somit nicht erst „um 1776“ die „Notwendigkeit gezielter künstlerischer Formgebung“171 erkannt, er kommt viel früher zu der Einsicht, von der Johann Heinrich Voß glaubt, sie könne die Geniesucht überwinden: „Aber die Geniesucht wird ja bald ausgewütet haben, und man wird lernen, daß es bey der Darstellung auch darauf ankomme, wie man darstelle.“172 Im Austausch zwischen Herder und Goethe ist die rhetorische Tradition ein für beide selbstverständlicher Bezugsrahmen, so erwähnt Goethe Quintilian und Horaz, deren anthropologische Konzepte ihn besonders interessieren, auch im Briefwechsel mit Herder: –––––––––––– 167
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Eine ausführliche Darstellung der Rezeption und Transformation der Rhetorik bei Herder liefert Hambsch, Björn: „…ganz andre Beredsamkeit“. Transformationen antiker und moderner Rhetorik bei Johann Gottfried Herder. Tübingen 2007. Vgl. Herder, Johann Gottfried: Über die neuere deutsche Literatur III. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hrsg. v. Günter Arnold, Martin Bollacher u. a. Bd. 1: Frühe Schriften 1764– 1772. Hrsg. v. Ulrich Gaier. Frankfurt am Main 1985. S. 407. Ebd. S. 409–410. Vgl. Bosse, Heinrich: Der Autor als abwesender Redner. In: Goetsch, Paul (Hrsg.): Lesen und Schreiben im 18. Jahrhundert. Studien zu ihrer Bewertung in Deutschland, England, Frankreich. Tübingen 1994. S. 277–290. Wolf, Norbert Christian: Streitbare Ästhetik. Goethes kunst- und literaturtheoretische Schriften 1771–1789. Tübingen 2001. S. 258. Johann Heinrich Voß an Leopold Friedrich Günther von Goeckingk. Brief vom 8. Juli 1778. In: Ders.: Briefe an Goeckingk. Hrsg. v. Gerhard Hay. München 1976. S. 48.
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Wenn er [Pindar] die Pfeile ein übern andern nach dem Wolkenziel schießt, steh’ ich freilich noch da und gaffe, doch fühl’ ich indeß, was Horaz aussprechen konnte, was Quintilian rühmt, und was Thätiges an mir ist, lebt auf, da ich Adel fühle und Zweck kenne. Ειδως φυα, ψεφηνος ανηρ μυριαν αρεταν ατελει νοω γενεται, ουποτ ατρεκει κατεβα ποδι, μαθονσ usw. Diese Worte sind mir wie Schwerter durch die Seele gangen.173 τεσ
Goethe zitiert hier – wohl aus der Erinnerung, denn ganz wörtlich ist die Wiedergabe nicht – Teile der dritten nemeischen Ode Pindars, die an den Faustkämpfer Aristokeides adressiert ist und den Zusammenhang natürlicher Begabung und regelhaften Kunstwissens behandelt. Pindar betont in der Ode die Bedeutung natürlicher Begabung. Die von Goethe zitierte Passage wirkt recht kryptisch, doch um die abschließende Halbzeile ergänzt ist ihr Sinn klar: Wer nur Gelerntes kann, ein dunkeler Mann, denkt auf dieses, auf jenes er bald, geht nie Sichren Fußes, versucht sich an tausend Leistungen nur mit ziellosem Sinn.174
Pindar und mit ihm Goethe argumentiert gegen denjenigen, der ohne Talent nur Gelerntes umzusetzen sucht, der sich an Regeln klammert. Damit wird aber nicht gegen die Regeln an sich argumentiert, kritisiert wird lediglich ein geistloses Befolgen derselben, weil dieses eben natürliche Begabung nicht ersetzen kann. Aber ein Genie steht deshalb noch lange nicht jenseits der Regeln, wie weitere Passagen aus der achten nemeischen Ode verdeutlichen, die Goethe in dem Brief an Herder zitiert: Ueber den Worten Pindars επικρατειν δυνασθαι [Macht zu bändigen] ist mir’s aufgegangen. Wenn du kühn im Wagen stehst, und vier neue Pferde wild unordentlich sich an deinen Zügeln bäumen, du ihre Kraft lenkst, den austretenden herbei, den aufbäumenden hinabpeitschest, und jagst und lenkst, und wendest, peitschest, hältst, und wieder ausjagst, bis alle sechzehn Füße in einem Takt ans Ziel tragen – das ist Meisterschaft, επικρατειν, Virtuosität.175
Auch ein Genie muss sich beherrschen können, er muss über „χειρες ααπτοι“, unnahbare Hände, und „ητορ αλκιμον“, ein tapferes Herz, verfügen.176 Bloße enthusiastische Begeisterung bedeutet noch lange nicht Genialität, vielmehr –––––––––––– 173 174
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Goethe: Brief an Johann Gottfried Herder vom 10. Juli 1772. WA IV, 2. S. 16. Pindar: Dritte nemeische Ode. Ant. 3, 41–43. In: Ders.: Siegesgesänge und Fragmente. Griechisch u. deutsch. Hrsg. u. übersetzt von Oskar Werner. München 1967. S. 231. Ich danke Thomas Zinsmaier für die freundliche Unterstützung bei der Erschließung der PindarPassage. Goethe: Brief an Johann Gottfried Herder vom 10. Juli 1772. WA IV, 2. S. 16–17. Diese Zeilen knüpfen auch an die berühmte platonische Metapher des Wagenlenkers an, der die guten und unedlen Pferde im Zaum halten muss (vgl. Platon: Phaidros 246a–247e [sämtliche Werke Platons werden zitiert nach: Platon: Sämtliche Werke in zehn Bänden. Griechisch u. deutsch. Nach der Übersetzung Friedrich Schleiermachers, ergänzt durch Übersetzungen von Franz Susemihl u. a. Hrsg. v. Karlheinz Hülser. 10 Bde. Frankfurt am Main 1991]). Goethe: Brief an Johann Gottfried Herder vom 10. Juli 1772. WA IV, 2. S. 17.
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muss das Genie Empfindungen produktiv gestalten. Zwar kann es den Regeln frei folgen,177 d. h., ohne dass es diese durch Ausbildung erlernen musste, es kann sich aber auch an gelernten Regeln orientieren, mit denen es souverän umgeht. Die intuitive Fähigkeit des Genies, Regeln hervorzubringen, unterläuft nicht das systematische Wissen der Rhetorik, sondern bestätigt vielmehr die empirische Gültigkeit systematischer Regeln. Schanze hat die Quintilianstelle, auf die Goethe in dem Brief an Herder anspielt, identifizieren können.178 Quintilian schreibt nämlich im zehnten Buch der „Institutio oratoria“ über Pindar: Unter den neun Lyrikern aber steht mit Abstand an erster Stelle Pindar durch die Großartigkeit seiner Begeisterung, die Sentenzen, Redefiguren, die überreiche Fülle seiner Gedanken und Worte und gleichsam durch einen Strom mitreißender Beredsamkeit, aus diesem Grunde hat ihn ja Horaz zu Recht für unnachahmlich gehalten.179
Auch wenn er über Pindar schreibt, geht es Quintilian also um das Zusammenspiel von ars und natura, gehören gedankliche Stärke, Empfindung und Ausdruck mit Hilfe sprachlicher Strukturen („Redefiguren“) zusammen. Herders Haltung trägt Züge eines sprachtheoretischen Skeptizismus, jedenfalls ist die Mitteilung von Empfindungen und Gedanken für ihn kein problemloses Unterfangen, ein Schriftsteller muss vielmehr durch seinen Umgang mit der Sprache Sorge tragen, dass man ihn versteht, ist von Grammatik und Rhetorik als einer Theorie intentionaler Kommunikation abhängig. Herder nimmt die Sprecherrolle ernst,180 fragt sich, wie ein Schriftsteller vorgehen kann, um seine Empfindungen verständlich zu machen, was eine genuin rhetorische Frage ist. Ein Schriftsteller, der diese Frage umgeht und glaubt, seine Empfindungen seien an sich sprachmächtig, er sei auf Rhetorik nicht angewiesen, verkennt, dass er Empfindungen als abwesender Redner nur durch das Medium Sprache transportieren kann. Erst die Verwendung der Sprache durch einen Autor macht sie zu einem Medium der Kommunikation, wie Goethe in dem Gedicht „Sprache“ ausführt, das zuerst 1774 erschien und terminologisch an die Pindar-Diskussion mit Herder anknüpft: Was reich und arm! was stark und schwach! Ist reich vergrabner Urne Bauch?
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Vgl. dazu die Analyse des Pindar-Briefes bei Peters, Günther: Artikel „Genie“. HWRh. Bd. 3. Sp. 737–750, hier: Sp. 746. Vgl. Schanze, Helmut: Goethes Rhetorik. In: Ueding, Gert (Hrsg.): Rhetorik zwischen den Wissenschaften. Geschichte, System, Praxis als Probleme des „Historischen Wörterbuchs der Rhetorik“. Tübingen 1991. S. 139–147, hier: S. 144. Quint. Inst. orat. X, 1, 61. Vgl. Hambsch, Björn: „…ganz andre Beredsamkeit“. Transformationen antiker und moderner Rhetorik bei Johann Gottfried Herder. Tübingen 2007. S. 206–212.
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Ist stark das Schwert im Arsenal? Greif milde drein, und freundlich Glück, Fließt Gottheit von dir aus! Faß an zum Siege, Macht, das Schwert, Und über Nachbarn Ruhm!181
Greifen und fassen, Begriffe, die auch im Pindar-Briefwechsel die Gestaltung von Sprache beschrieben, begegnen hier erneut. Die Wirkung von Sprache hängt nach der Darstellung dieses Gedichts allein von der Verwendung ab. Sprache ist weder an sich reich noch arm, erst in der Gestaltung durch einen Sprecher oder Schriftsteller entstehen Wirkungen, die schwächer oder stärker sein können. Die Affektstufen, die man in der Rhetorik unterscheidet, also das eher milde delectare und das gesteigerte pathetische movere, tauchen in dem Gedicht auf, das den Geniediskurs und dessen rhetorisches Erbe beleuchtet, weil es die Bedeutung der Autorinstanz betont und zugleich im gedanklichen Kontext antiker Rhetorik bleibt. Vor dem Hintergrund anthropologischer (Stichwort: natura) und technologischer (Stichwort: ars) Kommunikationsmodelle in der antiken Rhetorik entdeckt Goethe bei Quintilian, Cicero, Horaz und anderen, dass das anthropologische Modell der Rhetorik frühe Entwürfe bereitstellt, die für die Frage, wie innere Empfindungen sprachmächtig werden, hilfreich sein können. Konsequent ist Goethes Geniediskussion vom Subtext der Rhetorik beeinflusst. Herder begründet mit seinen sprachtheoretischen Reflexionen den Beginn einer eigenständigen Sprachphilosophie, aber zu deren intellektuellem Hintergrund gehört die Rhetorik, so dass sich für Goethe aus der antiken Rhetorik und dem Kontakt mit Herder die Notwendigkeit abzeichnet, individuelle Empfindungen durch kunstfertige Darstellung, technisch bewusste Gestaltung zu literarischen Werken zu verarbeiten.
3. 6.
Der Künstler als Gott und Handwerker. Die Gedankenfigur des Erhabenen im Umfeld des Baukunst-Aufsatzes
3. 6. 1. Pathetische Programmatik. Der Stil des Baukunst-Aufsatzes Durch die „Ephemerides“ lässt sich der Einfluss der Rhetorik auf Goethes schriftstellerische Entwicklung und ästhetische Theoriebildung in den 70er Jahren aus der Innenperspektive rekonstruieren, auch der Pindar-Brief an Herder vom Juli 1772 bietet – bei allem Wetteifern mit dem älteren Freund – einen vergleichsweise unverstellten Blick auf Goethes Überzeugungen. Demgegenüber sind die zur Veröffentlichung bestimmten Texte aus der Zeit des Sturm und –––––––––––– 181
Goethe: Sprache. MA 1, 1. S. 223.
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Drang wie der Aufsatz „Von deutscher Baukunst“182 oder auch die Rezensionen aus den „Frankfurter Gelehrten Anzeigen“ von 1772183 programmatische Schriften zur Verbreitung poetologischer Positionen,184 in denen Rhetorik als Mittel der strategischen Kommunikation zum Tragen kommt, es Goethe um das Bestehen im Künstleragon geht. Daher kann eine rhetorische Lektüre Motive und Wirkungsabsichten hinter der stürmerisch-drängenden Pose der Texte, die Goethe anonym veröffentlicht hat, aufdecken. Goethes Baukunst-Aufsatz präsentiert den gotischen Baumeister Erwin von Steinbach als genialen Künstler. Darstellungsweise und Wortlaut des Aufsatzes erinnern an die Shakespeare-Rede, insofern ist Ernst Beutlers Datierung der ersten Passagen des Aufsatzes auf das Jahr 1771 stilistisch durchaus plausibel.185 Durch die direkte Ansprache an Erwin von Steinbach (fictio audientis) gleich zu Beginn wird der Eindruck eines besonderen Einvernehmens mit dem Baumeister erweckt. Die Besichtigung des Straßburger Münsters ersetzt metonymisch die nicht mehr mögliche Begegnung mit seinem Erbauer. Wie Shakespeares Dramen in der Shakespeare-Rede aber nur eine Folie zur Darstellung von Goethes Empfindungen und Überzeugungen bieten, so ist auch das Straßburger Münster nur –––––––––––– 182
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Der Aufsatz wurde von Goethe anonym unter der Mithilfe von Merck publiziert und von Johann Conrad Deinet, den Ernst Beutler noch für den alleinigen Verleger gehalten hat, vertrieben (vgl. E. B.: Von deutscher Baukunst. Goethes Hymnus auf Erwin von Steinbach, seine Entstehung und Wirkung. In: Goethe. Viermonatsschrift der Goethe-Gesellschaft. Neue Folge des Jahrbuchs 6 (1941) S. 232–263, hier: S. 232; Unseld, Siegfried: Goethe und seine Verleger. Frankfurt am Main 1991. S. 31–32). Zwar wurde der Aufsatz in den wichtigsten Zeitungen und Zeitschriften rezensiert, eine große Verbreitung hat er aber nicht gefunden (vgl. Beutler, S. 232). Von den Rezensenten wurde der Text bald dem Herder-Kreis zugerechnet, 1773 erschien er anonym in Herders Sammelband „Von deutscher Art und Kunst“. Im Jahr 1772 entwickelten sich die „Frankfurter Gelehrten Anzeigen“ zum „Zentralorgan“ des Sturm und Drang, das die neue literarische Bewegung um Goethe und Herder programmatisch zusammenhielt (vgl. Krebs, Roland: Herder, Goethe und die ästhetische Diskussion um 1770. Zu den Begriffen „énergie“ und „Kraft“ in der französischen und deutschen Poetik. In: Goethe-Jahrbuch 112 (1995) S. 83–96, hier: S. 83–84; ausführlicher: Dahnke, Hans-Dietrich: Intentionen und Resultate des Jahrgangs 1772 der „Frankfurter Gelehrten Anzeigen“. In: Plachta, Bodo u. Winfried Woesler (Hrsg.): Sturm und Drang. Geistiger Aufbruch 1770–1790 im Spiegel der Literatur. Tübingen 1997. S. 233–247). Dabei dürfte Goethe auch einem erheblichen Gruppenzwang ausgesetzt gewesen sein, denn die Verbindlichkeit von bestimmten Normen wird von der Gruppe der Autoren, die sich zur Genie-Literatur bekennt, durch Sanktionen eingefordert. Vgl. dazu die Analyse von Anz, Thomas: Literarische Norm und Autonomie. Individualitätsspielräume in der modernisierten Literaturgesellschaft des 18. Jahrhunderts. In: Barner, Wilfried (Hrsg.): Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung. München 1989. S. 71–91, hier: S. 80. Die These einer stationsweisen Entstehung des Textes geht zurück auf Scherer, Wilhelm: Aus Goethes Frühzeit. Bruchstücke eines Commentares zum jungen Goethe. Straßburg u. London 1879. S. 13–14. Vgl. außerdem Zimmermann, Rolf Christian: Zur Datierung von Goethes Aufsatz „Von deutscher Baukunst“. In: Euphorion 51 (1957) S. 438–442.
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ein Katalysator für Goethes eigenes ästhetisches Programm. Allenfalls in Ansätzen beschreibt er die Münsterfassade, auch mit der sakralen Bedeutung des Bauwerks setzt er sich nicht auseinander.186 Vielmehr steht der Künstler Erwin im Zentrum. Der Text gerät zu einer pathetischen Adresse an Erwin, in der überzogene Antithesen, gewagte Vergleiche und Übertreibungen zuhauf zu finden sind: Also nur, trefflicher Mann, eh ich mein geflicktes Schiffchen wieder auf den Ozean wage, wahrscheinlicher dem Tod als dem Gewinst entgegen, siehe hier in diesem Hain, wo ringsum die Namen meiner Geliebten grünen, schneid ich den deinigen, in eine deinem Turm gleich schlank aufsteigende Buche, hänge an seinen vier Zipfeln dies Schnupftuch mit Gaben dabei auf. Nicht ungleich jenem Tuche, das dem heiligen Apostel aus den Wolken herab gelassen ward […].187
Schon mit dieser Anrede an den Architekten, die Goethe seinen theoretischen Überlegungen voranschickt, setzt er auf den rhetorischen Effekt, er versucht seine Leser durch Pathos zu bewegen. Allerdings löste Goethes Text in der zeitgenössischen Rezeption eher Befremden aus. Matthias Claudius etwa spottete in seiner Rezension über die Abhandlung, er könne zu dem Text selbst nicht viel mehr sagen, als „daß wir sehr geneigt sind dem Vf. Recht zu geben, und für Erwin eine Blume mit in das Schnupftuch hineinzutun – – –.“188 Inhaltlich vermittelt „Von deutscher Baukunst“ zentrale ästhetische Annahmen des Sturm und Drang: Regeln und Muster lehnt Goethe ab („Schädlicher als Beispiele sind dem Genius Prinzipien“189), fordert, ein Kunstwerk solle „notwendig schön, wie Bäume Gottes“190 sein, und behauptet, dass solche notwendige Schönheit „mehr gefühlt als gemessen“ 191 werden kann. Große Kunst ist das Werk eines Genies, dessen natura Vorrang vor den Regeln der ars und vor jeder Art von studium hat: Er [der Genius] will auf keinen fremden Flügeln, und wären’s die Flügel der Morgenröte, empor gehoben und fortgerückt werden. Seine eigne Kräfte sind’s, die sich im Kindertraum
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In Goethes Abhandlung finden sich zwar zahlreiche religiös inspirierte Formulierungen, diese sind jedoch ausschließlich auf den Künstler bezogen. Eine Deutung des Textes im Sinne christlicher Religionsvorstellungen, wie Ernst Beutler sie vorgelegt hat (vgl. E. B.: Von deutscher Baukunst. Goethes Hymnus auf Erwin von Steinbach, seine Entstehung und Wirkung. In: Goethe. Viermonatsschrift der Goethe-Gesellschaft. Neue Folge des Jahrbuchs 6 (1941) S. 232–263, hier: S. 262), ist daher nur schwer nachvollziehbar und ebenso wenig durch den Text gedeckt wie dessen nationalsozialistische Verklärung durch Beutler. Goethe: Von deutscher Baukunst. MA 1, 2. S. 415. Claudius, Matthias: Rezension zu „Herder: Von deutscher Art und Kunst. Einige fliegende Blätter. Hamburg. 1773.“ In: Ders.: Werke. Asmus omnia sua secum portans oder Sämtliche Werke des Wandsbecker Boten. 7. Auflage. Stuttgart 1966. S. 877. Vgl. etwas ausführlicher zur Rezeption auch Wolf, Norbert Christian: Streitbare Ästhetik. Goethes kunst- und literaturtheoretische Schriften 1771–1789. Tübingen 2001. S. 128–135. Goethe: Von deutscher Baukunst. MA 1, 2. S. 416. Ebd. S. 415. Ebd. S. 416.
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entfalten, im Jünglingsleben bearbeiten, bis er stark und behend, wie der Löwe des Gebürges auseilt auf Raub. Drum erzieht sie meist die Natur, weil ihr Pädagogen ihm nimmer den mannigfaltigen Schauplatz erkünsteln könnt, stets im gegenwärtigen Maß seiner Kräfte zu handeln und zu genießen.192
Nicht durch die Nachahmung von Vorbildern, wie in der rhetorischen Schultradition behauptet, gelingt dem Genie die künstlerische Schöpfung, sondern aus eigenen Kräften. In der pathetischen Diktion des Aufsatzes erwachsen Erwin göttliche Züge, indem Goethe ihn „mit dem Baumeister, der Berge auftürmte in die Wolken“,193 vergleicht. Mehr noch, dem Genie schreibt er die Fähigkeit zu, „die Seligkeit der Götter auf die Erde“194 zu leiten, weshalb man seine Kunstwerke „anbeten muß“.195 Zu der göttlichen Kunst aber passt naturgemäß schulmeisterliche Kunstfertigkeit nicht, und so ist die Pose der Rhetorikverachtung notwendig und effektvoll zugleich, während der Text selbst von einer Legion rhetorischer Figuren Gebrauch macht. Insofern Kunst für Goethe nur durch Empfindungen erfahrbar wird, ist der Baukunst-Aufsatz ein „Plädoyer für rezeptive Offenheit“:196 „Wer von den Künsten nicht sinnliche Erfahrung hat, der lasse sie lieber“,197 mit bloßer „Kennerschaft“ ist wenig gewonnen, nur wer „mitwürkend genießt“,198 kann Kunst verstehen, formulieren Merck und Goethe in der Rezension zu Sulzers „Allgemeiner Theorie der Schönen Künste“. Allerdings sollte man solche Äußerungen nicht zu stark gewichten, denn im Baukunst-Aufsatz verschwindet das Münster hinter dem pathetischen Gestus Goethes. Auch das Bekenntnis zur rezeptiven Offenheit ist, so gesehen, inszeniert, Goethe bringt es mit viel Pathos vor, hat aber vor allem sein eigenes ästhetisches Programm im Sinn. Marc-Antoine Laugier, der die Säule zum elementaren Bestandteil der Baukunst erklärte und aus dieser Behauptung normative Forderungen für die Architektur ableitete, mag ein Auslöser für das Verfassen des Baukunst-Aufsatzes gewesen sein, wie Norbert Christian Wolff und Norbert Knopp gezeigt haben, und Goethes Auseinandersetzung mit diesem Werk lässt sich in der Tat noch deutlich erkennen.199 Doch weist Goethes Aufsatz, indem er Grundfragen des –––––––––––– 192 193 194 195 196 197
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Ebd. S. 422. Ebd. S. 415. Ebd. S. 423. Ebd. S. 419. Ebd. S. 167. Goethe u. Johann Heinrich Merck: Rezension zu „Die schönen Künste in ihrem Ursprunge, ihrer wahren Natur und besten Anwendung, betrachtet von J. G. Sulzer. 1772. 8. 85 S.“. MA 1, 2. S. 398. Ebd. S. 401. Zur Proportionenlehre vgl. Laugier, Marc-Antoine: Essai sur l’Architecture (Erstauflage Paris 1755). Farmborough 1966. Die Bedeutung Laugiers innerhalb der Argumentation des Baukunst-Aufsatzes ist konzise dargestellt worden von Wolf, Norbert Christian: Streitbare Ästhetik. Goethes kunst- und literaturtheoretische Schriften 1771–1789. Tübingen 2001.
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Geniediskurses thematisiert, über den „Angriff auf die akademische Proportionenlehre“200 nach den Maßgaben Laugiers weit hinaus. Goethes Analyse gotischer Kunst appliziert mit der These vom Vorrang von Genie und Empfindung für Produktion und Rezeption Überzeugungen des Sturm und Drang auf mittelalterliche Kunst. In seiner Neubewertung gotischer Kunst, die gegen die Kritik der Aufklärung an der überladenen und unnatürlichen Gotik antritt, geht es weniger um eine Renaissance der Gotik um ihrer selbst willen als um die Explikation der ästhetischen Überzeugungen des Sturm und Drang sowie um die Legitimation des Sturm und Drang durch ein historisches Exempel.201
3. 6. 2. Das Erhabene im Spannungsfeld von ars, Genie und Naturerfahrung Carsten Zelle hat die Ästhetik des Sturm und Drang als einen „poetologische[n] Traditionsbruch […] im Medium rhetorischer Tradition“202 beschrieben und geht damit von einer großen Bedeutung der Rhetorik für den Sturm und Drang aus. Allerdings legt Zelle den Akzent weniger auf die produktionsästhetischen Paradigmen der Rhetorik und ihre Rezeption und Adaption, wie sie hier anhand des jungen Goethe nachgezeichnet wurden, als vielmehr, so wie das bereits Dockhorn tat, auf die rhetorische Wirkungstheorie: Durch den Geniebegriff wird die Auffassung vom künstlerischen Produktionsprozeß von der Seite der Kunstfertigkeit und Regelkenntnis (téchne) auf die Seite der ‚sensitiven Erkenntniskräfte‘ des Gefühls und des Herzens (Enthusiasmus) verschoben. Das Genie ist weniger Vernunft, sondern Kraft und Energie. […] Die wirkungsästhetische Rückseite des Geniegedankens besteht in der Forcierung des künstlerischen Effekts: rühren, bewegen, erschüttern,
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S. 169–171; außerdem bei Knopp, Norbert: Zu Goethes Hymnus „Von deutscher Baukunst. D. M. Ervini a Steinbach“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 53 (1979) S. 617–650, hier: S. 618–629. Osterkamp, Ernst: Im Buchstabenbilde. Studien zum Verfahren Goethescher Bildbeschreibungen. Stuttgart 1991. S. 18. Vgl. Knopp, Norbert: Zu Goethes Hymnus „Von deutscher Baukunst. D. M. Ervini a Steinbach“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 53 (1979) S. 617–650, hier: S. 630 Vor allem William Douglas Robson-Scott hat Goethes Baukunst-Aufsatz vor dem Hintergrund des sogenannten „gothic revival“ positioniert und interpretiert (vgl. beispielhaft: W. D. R.-S.: Goethe and the Gothic Revival. In: Publications of the English Goethe Society. New Series 25 (1955/56) S. 86–113, hier: S. 109–113). Eine generelle Einordnung der Theorien Goethes in die Kunstgeschichte unter Berücksichtigung Laugiers findet sich bei Knopp, Norbert: Zu Goethes Hymnus „Von deutscher Baukunst. D. M. Ervini a Steinbach“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 53 (1979) S. 617–650. Zelle, Carsten: Zwischen Rhetorik und Spätaufklärung. Zum historischen Ort der Sturmund-Drang-Ästhetik mit Blick auf Johann Georg Schlossers „Versuch über das Erhabene“ von 1781. In: Lenz-Jahrbuch 6 (1996) S. 160–181, hier: S. 169.
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hinreißen, überwältigen, erhitzen, entzünden, in Feuer setzen – das sind beliebte Vokabeln, mit der die energetische Wirkungsseite der Sturm-und-Drang-Dichtung umschrieben wird.203
Vor dem Hintergrund der Rhetorikrezeption des jungen Goethe ist diese Interpretation der Entwicklung einseitig, weil sie die Ästhetik der Geniephase durch den Austausch der „bisher gültigen poetischen Regeln des Schönen durch ästhetische Regeln des Erhabenen“204 beschreibt, damit aber den weitergehenden Einfluss der rhetorischen Tradition vernachlässigt. Diese war für Goethe nämlich nicht nur interessant, weil im Erhabenheits-Diskurs oder überhaupt in der rhetorischen Affektenlehre eine Wirkungstheorie formuliert ist. Er sah vielmehr im anthropologischen Wissen der Rhetorik ein Korrektiv einer strengen Regelpoetik und griff in seinen Texten ganz selbstverständlich auf Elemente der rhetorischen Kunstlehre zurück. Allerdings erschließt sich durch den Hinweis Zelles mit der Theorie des Erhabenen und durch die wirkungsästhetische Betrachtungsweise ein weiteres Moment von Goethes Ästhetik, das durch Prozesse der Rezeption und Adaption rhetorischen Wissens gekennzeichnet ist. Das Pathetische in Goethes Baukunst-Aufsatz ist, so gesehen, mehr als ein stilistisches Phänomen. Indem sich, wie Ueding es formuliert, der Akzent auf die „affektivische Beredsamkeit, auf die Erregung von Leidenschaften und die Stimulierung der Interessen an den neuen, seltsamen und wunderbaren Begebenheiten“205 verschiebt, wird die Theorie vom Erhabenen für die Geniebewegung interessant. Das Straßburger Münster ist für Goethe Ausdruck großer Empfindung, die schmuckreiche Fassade erscheint ihm erhaben. Wie in einer Rede des genus grande Tropen und Figuren überreich vorkommen, beeindruckt auch das Straßburger Münster durch zahllose Schmuckelemente und „tausend harmonierende[…] Einzelnheiten“.206 Bei allem Schmuck vermittelt das Münster laut Goethe einen einheitlichen Eindruck. Es ist nicht schwülstig, sondern besitzt eine „erhabene Eleganz der Form“, 207 die sich nicht aus „Vollkommenheit, Symmetrie und Proportion“208 ergibt, sondern aus der Diskontinuität, Natürlichkeit und dem Charakteristischen des Münsters erwächst. Schon Norbert Knopp ging davon aus, dass Goethes Abhandlung „durch und durch von der Idee des Erhabenen durchdrungen“ sei, die Carsten Zelle inzwi–––––––––––– 203 204
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Ebd. S. 166–167. Ebd. S. 160. Diesen Gedanken hat kryptisch bereits Karl Borinski angerissen (vgl. K. B.: Die Antike in Poetik und Kunsttheorie. Vom Ausgang des klassischen Altertums bis auf Goethe und Wilhelm von Humboldt. Bd. 2. Darmstadt 1965. S. 195–196). Ueding, Gert: Klassik und Romantik. Deutsche Literatur im Zeitalter der Französischen Revolution. Erster bis vierter Teil. München 1988. S. 192. Goethe: Von deutscher Baukunst. MA 1, 2. S. 418. Ebd. S. 417. Vgl. Zelle, Carsten: Schönheit und Erhabenheit. Der Anfang doppelter Ästhetik bei Boileau, Dennis, Bodmer und Breitinger. In: Pries, Christine (Hrsg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim 1989. S. 55–73, hier: S. 58.
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schen überzeugend als wichtigen Bezugspunkt der Ästhetik im 18. Jahrhundert beschrieben hat.209 Goethes spezifische Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Erhabenen bleibt dabei auf vielfältige Weise mit der rhetorischen Tradition verknüpft. Wiederum zeigt sich, dass Goethe historisch eine Zwischenposition einnimmt in Bezug auf die vieldiskutierte „Entrhetorisierung […] des Erhabenheitsbegriffs“,210 die Christian Begemann dem 18. Jahrhundert unterstellt. Ausgangspunkt für die Analyse des Straßburger Münsters sind bei Goethe die Empfindungen, die das Kunstwerk auszulösen vermag, das subjektive Empfinden gilt als ästhetischer Maßstab: „[S]chön ist, was wir als schön empfinden. Die einzige beste Erklärung des Schönen, die wir kennen!“,211 heißt es in einer Rezension in den „Frankfurter Gelehrten Anzeigen“. Damit schließt Goethe an Ps.-Longin an,212 der die unmittelbare Evidenz des Erhabenen propagiert und das Erkennen des Erhabenen als plötzliche Erleuchtung, die den Zuhörer überwältigt, 213 häufig mit Hilfe der Blitzmetapher beschreibt.214 Entsprechend verdankt sich das Erhabene nach Auskunft Ps.-Longins vor allem der kraftvollen Fähigkeit, erhabene Gedanken zu entwerfen, angeborener Leidenschaft, mithin der natura des Künstlers.215 Für Ps.-Longin ist Erhabenheit der „Widerhall einer großen Seele“.216 Gerade solche anthropologischen Vorstellungen machen diesen Text zu einem interessanten Bezugspunkt für die Genie-Diskussion. –––––––––––– 209
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Knopp, Norbert: Zu Goethes Hymnus „Von deutscher Baukunst. D. M. Ervini a Steinbach“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 53 (1979) S. 617–650, hier: S. 646. Begemann, Christian: Erhabene Natur. Zur Übertragung des Begriffs des Erhabenen auf Gegenstände des äußeren Natur in der deutschen Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 58 (1984) S. 74–110, hier: S. 75. Goethe u. Johann Heinrich Merck: Rezension zu „Zufällige Gedanken über die Bildung des Geschmacks in öffentlichen Schulen; von J. G. Purmann. Sechs Program. von 1770–1772. 4. 19½ Bogen“. MA 1, 2. S. 362. Goethe war wohl die Longin-Übersetzung von Nicolas Boileau-Despréaux bekannt (vgl. beispielhaft: Goethe an Cornelia Goethe (Schlosser). Brief vom 27. September bis 18. Oktober 1766. WA IV, 1. S. 69). Boileau-Despréaux hat mit der Übersetzung Longins seiner regelhaften Poetik selbst ein Korrektiv zur Seite gestellt (vgl. Zelle, Carsten: Schönheit und Erhabenheit. Der Anfang doppelter Ästhetik bei Boileau, Dennis, Bodmer und Breitinger. In: Pries, Christine (Hrsg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim 1989. S. 55–73, hier: S. 59–60; außerdem: Von der Ästhetik des Geschmacks zur Ästhetik des Schönen. In: Glaser, Horst Albert u. György M. Vajda: Die Wende von der Aufklärung zur Romantik 1760–1820. Amsterdam 2001. S. 371–397, hier: S. 377–378). Zur Kritik des Erhabenen beim klassischen Goethe vgl. Schings, Hans-Jürgen: Beobachtungen über das Gefühl des Erhabenen bei Goethe. In: Iwasaki, Eijirō (Hrsg.): Begegnung mit dem „Fremden“. Grenzen – Traditionen – Vergleiche. Akten des VIII. Internationalen Germanisten-Kongresses 1990. Bd. 7. München 1991. S. 15–26. Ps.-Longin 15, 9. Vgl. ebd. 15, 11, außerdem 1, 4 u. 12, 4. Vgl. ebd. 8, 1 u. 9, 3. Ebd. 9, 2.
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Bei Ps.-Longin bleibt, obwohl er die große Seele des Künstlers für eine der wesentlichen Quelle des Erhabenen hält, die Nähe zur disziplinären Rhetorik deutlich, denn letztlich vertritt der Autor einen Kompromiss zwischen einer systematisch-technologischen Rhetorikauffassung und einem anthropologischen Rhetorik-Modell, etwa indem er das Erhabene auch mit bestimmten stilistischen Phänomenen in Verbindung bringt. Ps.-Longin bleibt insofern rhetorisch, als er das Erhabene durchaus als Effekt sprachlicher Mittel definiert. Das Erhabene ist hier eben nicht nur als Widerhall einer großen Seele thematisiert, vielmehr beruht es auch auf einer „besondere[n] Bildung der Figuren“, einer „edle[n] Ausdrucksweise“ und einer „würdevoll-hohe[n] Satzfügung“.217 Schon stilistisch zeigt sich im Baukunst-Aufsatz, dass Goethe auch aus diesen Quellen des Erhabenen schöpft. Er bringt das Erhabene mit einer Theorie des Künstlers in Verbindung, versteht es aber auch als ein Ergebnis von Kunstfertigkeit. Weder bei Ps.-Longin noch bei Goethe ist das Erhabene ohne jede ästhetische Regel, nicht einmal sofern sie es als ein Naturphänomen betrachten und damit eine dritte Dimension des Erhabenen ins Spiel bringen.218 So argumentiert Ps.-Longin, dass „die Natur zwar im Pathetischen und Gehobenen zumeist nach eigenem Gesetz, nicht jedoch willkürlich oder ganz ohne Regel zu verfahren pflegt“.219 Hatte Aristoteles dem Menschen den Trieb zur Nachahmung zugeschrieben und Kunst als mimetisches Verfahren verstanden,220 ist im Baukunst-Aufsatz die Natur nicht länger ein abzubildendes Vorbild, das Genie vielmehr dazu bestimmt, die Schaffensprinzipien der Natur nachzubilden,221 ein Kunstwerk soll ein „lebendiges Ganze[s]“222 sein. In diesem Sinne hat das „Genius des großen –––––––––––– 217 218
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Ebd. 8, 1. Diese Unterscheidung liegt ein wenig quer zu Dietmar Tills Studie „Das doppelte Erhabene“, in der er zwischen dem Natur-Erhabenen und dem Erhabenen im Sinne der genera dicendi unterscheidet (vgl. D. T.: Das doppelte Erhabene. Eine Argumentationsfigur von der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Tübingen 2006. S. 17–20). Tills Untersuchungen machen vor allem deutlich, dass es Ps.-Longin nicht eigentlich um das Erhabene im Sinne der rhetorischen Stillehre geht, und der Traktat ist in der Tat eher eine Theorie des großen Künstlers als ein Beitrag zur rhetorischen Stillehre. Jedoch vermischen sich für Goethe bei Ps.-Longin rhetorische Denkmuster, die die natura des Künstlers betreffen, aber auch Fragen der ars adressieren, mit der neuen Vorstellung eines Natur-Erhabenen. Ps.-Longin 2, 2. Vgl. Arist. Poet. 1448b bzw. Phys. 194a. Schon Aristoteles hat mimesis auf die Nachahmung einer bereits in der Natur angelegten Teleologie (vgl. ebd. 199a) bezogen, so dass seine Überlegungen durchaus auch in Hinblick auf die Nachahmung der natura naturans bedeutsam sind. Jürgen H. Petersen hat das reduktionistische Verständnis des aristotelischen mimesis-Begriffs kritisiert (vgl. J. H. P.: Mimesis – Imitatio – Nachahmung. Eine Geschichte der europäischen Poetik. München 2000. S. 51–52). Vgl. Fischer, Bernhard: Authentizität und ästhetische Objektivität. Youngs „Gedanken über die Original-Werke“ (1759) und Goethes „Von deutscher Baukunst“ (1771). In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 42 (1992) S. 178–194, hier: S. 189. Goethe: Von deutscher Baukunst. MA 1, 2. S. 420.
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Werkmeisters“ sich an den „Werken der ewigen Natur“ 223 zu orientieren. In einer Rezension aus den „Frankfurter Gelehrten Anzeigen“ bringen Goethe und Merck den Zusammenhang auf die Formel: „Wir glauben überhaupt, daß das Genie nicht der Natur nachahmt, sondern selbst schafft wie die Natur.“ 224 Batteux hatte die Ästhetik noch einmal an der Nachahmung des Schönen ausgerichtet, mithin auf mimesis abgestellt und diese gegen rhetorische Nachahmung im Sinne der imitatio auctorum abgegrenzt.225 Goethe und der Geniebewegung aber gilt das Schaffensprinzip der Natur, die natura naturans, als vorbildlich, und der Künstler wetteifert, indem er diese Prinzipien adaptiert, mit Gott. „Von deutscher Baukunst“ ist nicht der Entwurf einer objektiven Naturästhetik, wie Goethe sie während und nach der Italien-Reise zu formulieren sucht, denn die Schaffensprinzipien der natura naturans sind subjektiv, eine ästhetische Objektivität behauptet Goethe allenfalls. Genau besehen, ist nicht die Natur entscheidend, sondern die Empfindung des Genies. Die Vorbildlichkeit der schöpferischen Natur für das Kunstwerk haben schon Edward Young, nach dem das Original „etwas von der Natur der Pflanzen an sich habe“,226 und Joseph Addison, der Kunstwerke mit einer „noble Plant“227 vergleicht, thematisiert. Die Naturhaftigkeit genialer Kunst ist ein wichtiges Identifikationsmoment der Geniebewegung, die Natur zum „Sinnbild“228 für Kunst macht, und „Kraft“229 als das „dynamische Element in der Natur“ 230 als Vorbild für die Kunst ansieht. Doch lässt sich von der ‚Natürlichkeit‘ eines Kunstwerks, auch wenn mit dem dynamischen Moment der Natur eine etwas spezifischere Deutung gegeben ist, immer nur metaphorisch sprechen. Genauso gut wie sich Unregelmäßigkeit –––––––––––– 223 224
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Ebd. S. 419. Goethe u. Johann Heinrich Merck: Rezension zu „Zufällige Gedanken über die Bildung des Geschmacks in öffentlichen Schulen; von J. G. Purmann. Sechs Program. von 1770–1772. 4. 19½ Bogen“. MA 1, 2. S. 363. Batteux, Abbé Charles: Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz. Übersetzt von Johann Adolf Schlegel. Erster Teil. Leipzig 1770 (Nachdruck Hildesheim, New York, NY 1976). S. 24–37. Young, Edward: Gedanken über die Original-Werke. Aus dem Engl. von Hans Ernst von Teubern. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1760. Hrsg. v. Gerhard Sauder. Heidelberg 1977. S. 17. Addison, Joseph: Spectator-Artikel No. 160, Montag, September 3, 1711. In: Ders. u. Richard Steele: Selections from „The Tatler“ and „The Spectator”. Hrsg. v. Robert J. Allen. New York, NY, Chicago, IL u. a. 1970. S. 328. Knopp, Norbert: Zu Goethes Hymnus „Von deutscher Baukunst. D. M. Ervini a Steinbach.“ In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 53 (1979) S. 617–680, hier: S. 637–638. Goethe u. Johann Heinrich Merck: Rezension zu „Die schönen Künste in ihrem Ursprunge, ihrer wahren Natur und besten Anwendung, betrachtet von J. G. Sulzer. 1772. 8. 85 S.“. MA 1, 2. S. 400. Krebs, Roland: Herder, Goethe und die ästhetische Diskussion um 1770. Zu den Begriffen „énergie“ und „Kraft“ in der französischen und deutschen Poetik. In: Goethe-Jahrbuch 112 (1995) S. 83–96, hier: S. 93.
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und Mannigfaltigkeit aus der Natur ableiten lassen, wären Regelmäßigkeit, Symmetrie und Einheit mit Hilfe der Metapher ‚Natur‘ zu legitimieren und zum Maßstab zu erheben. Die genaue Ausformulierung des Naturideals ist also letztlich das Ergebnis eines rhetorischen Konstruktionsaktes. Diese Beliebigkeit der Metapher ‚Natur‘ spiegelt sich daher auch im Baukunst-Aufsatz, wenn Goethe in einem Akt der ästhetischen Selbstversicherung bildreich erläutert, was er unter erhabener Natur versteht: Sind die wütenden Stürme, Wasserfluten, Feuerregen, unterirdische Glut, und Tod in allen Elementen nicht eben so wahre Zeugen ihres ewigen Lebens, als die herrlich aufgehende Sonne über volle Weinberge und duftende Orangenhaine.231
Durch die Natur-Metapher lassen sich ästhetische Überzeugungen nach Belieben generieren, selbst der ausufernde Gebrauch von Ornamenten des Barock ließe sich mit Verweis auf bestimmte Pflanzen rechtfertigen. Die „Kennzeichnung des Geniestils als ‚natürlich‘“ ist, wie Norbert Christian Wolf bemerkt, am Ende eine „ideologische Fiktion“.232 Diese Fiktion ist attraktiv, weil in der Natur eine universale „Metapher, nicht nur der äußeren, sondern auch der inneren Unbestimmtheit des menschlichen Wesens“233 gefunden ist. Einen anderen epistemischen Status könnte sie nur besitzen, wenn sich konkrete morphologische Muster als natürlich erweisen würden – Goethes naturwissenschaftliche Erkundungen in der klassischen Phase sind insofern eine logische Konsequenz aus einem ästhetischen Problem, das sich bereits dem jungen Goethe stellt. Im Baukunst-Aufsatz aber ist Goethes Zwischenposition im Prozess der Entrhetorisierung des Erhabenen daran abzulesen, dass er nicht wie später Kant versucht, das Erhabene in der Natur auf bestimmte Prinzipien der Wahrnehmung zurückzuführen, sondern in dem Gebot der Natürlichkeit eher einen Topos erblickt, mit dessen Hilfe er seine ästhetischen Überzeugungen begründen kann. –––––––––––– 231
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Goethe u. Johann Heinrich Merck: Rezension zu „Die schönen Künste in ihrem Ursprunge, ihrer wahren Natur und besten Anwendung, betrachtet von J. G. Sulzer. 1772. 8. 85 S.“. MA 1, 2. S. 399. Wolf, Norbert Christian: Streitbare Ästhetik. Goethes kunst- und literaturtheoretische Schriften 1771–1789. Tübingen 2001. S. 132. Wolf weist in diesem Kontext auch auf eine Rezension von Christian Garve hin, der den Vorwurf der Künstlichkeit pointiert vorbringt. In dessen Rezension zu Herders „Von deutscher Art und Kunst“, in dem auch Goethes „Von deutscher Baukunst“ aufgenommen wurde, heißt es: „Das soll Orginal, das soll Natur seyn: aber das ist der ärgste, abscheulichste Zwang; und von allen Nachahmungen die sclavischeste. Denn wer anders, als ein Sclave, kann sich so winden und drehen, wenn er spricht; bald in Räthseln sprechen, bald in dem stolzen Tone des Gebiethers, dem man dient.“ (Christian Garve an Christian Felix Weiße. Brief vom 2. Oktober 1773. In: Briefe von Christian Garve an Christian Felix Weiße und einige andere Freunde. Teil 1. Breslau 1803. S. 25–26). Bornscheuer, Lothar: Anthropologisches Argumentieren. Eine Replik auf Hans Blumenbergs „Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik“. In: Kopperschmidt, Josef u. Helmut Schanze (Hrsg.): Argumente – Argumentation. München 1985. S. 128.
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Goethe und auch Merck streiten für die Autonomisierung der Kunst, machen die Erhabenheit der Natur zum Argument in eigener Sache. In der Art, wie beide die Natur zum Vorbild der Kunst erheben – so nämlich, dass ihre Dynamik als Muster der Kunst gilt –, lassen sich äußere Zweckbezüge leicht zurückweisen. Gegen Johann Georg Sulzer und dessen Artikel „Künste, Schöne Künste“, der als Separatdruck der „Allgemeinen Theorie der Schönen Künste“ erschienen war, wettern sie daher in einer Rezension: „Er [Sulzer] will das unbestimmte Principium: Nachahmung der Natur, verdrängen, und gibt uns ein gleich unbedeutendes dafür: Die Verschönerung der Dinge.“234 Auch im Baukunst-Aufsatz bezieht sich Goethe auf die Thesen Sulzers: „Sie wollen euch glauben machen, die schönen Künste seien entstanden aus dem Hang, den wir haben sollen, die Dinge rings um uns zu verschönern. Das ist nicht wahr!“ 235 Für Goethe und Merck ist das ornatus-Prinzip irritierend. Das Nachahmungs-Postulat scheint immerhin so veränderbar, dass es die Nachahmung der schöpferischen Kraft der Natur betrifft und so ein Schaffensprinzip der Kunst benennt, durch welches sich Kunst dynamisch entwickeln kann. Hingegen bedeutet Sulzers Forderung nach „Verschönerung“ nichts anderes als Heteronomie der Kunst. Zumal Sulzer der Kunst gemäß der Formel „aut prodesse […] aut delectare“236 auch noch Nützlichkeit abverlangt und behauptet: „Die Hauptabsicht der schönen Künste geht auf die Erweckung eines lebhaften Gefühls des Wahren und des Guten.“ 237 Wenn das Wesen der Schönen Künste laut Sulzer „in der Einwebung des Angenehmen in das Nützliche oder in Verschönerung der Dinge“238 liegt, dann instrumentalisiert er Kunst als Mittel der Aufklärung oder des bloßen Zierrats und zwängt sie in eine heteronome Rolle. Das Erhabene leistet als gedankliches Muster einen entscheidenden Beitrag zur Autonomisierung der Kunst, weil im Erhabenheitsbegriff von Ps.-Longin –––––––––––– 234
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Goethe u. Johann Heinrich Merck: Rezension zu „Die schönen Künste in ihrem Ursprunge, ihrer wahren Natur und besten Anwendung, betrachtet von J. G. Sulzer. 1772. 8. 85 S.“. MA 1, 2. S. 399. Goethe: Von deutscher Baukunst. MA 1, 2. S. 421. Gerade diese Passage macht deutlich, dass sich Anna Tumarkin täuscht, wenn sie Goethe eine Fehldeutung Sulzers vorwirft. Anders als Tumarkin behauptet, hat Goethe sehr wohl Sulzers Begründung gelesen und gesehen, dass die Verschönerung der Dinge nach Sulzer die Umwandlung einer gemeinen Kunst meint (vgl. A. T.: Der Ästhetiker Johann Georg Sulzer. Frauenfeld u. Leipzig 1933. S. 49–51). Goethes Vorbehalte gegen Sulzer richten sich gegen eine Heteronomisierung, die Tumarkin Sulzer selbst nachsagt (vgl. ebd. S. 53). Horaz: Ars poetica 333. Sulzer, Johann Georg: Artikel „Ästhetik“. In: Ders.: Allgemeine Theorie der schönen Künste. In einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter aufeinanderfolgenden Artikeln abgehandelt. Erster Theil. 2. vermehrte Auflage. Leipzig 1792 (Nachdruck Hildesheim 1970). S. 47–59, hier: S. 47. Sulzer, Johann Georg: Artikel „Künste, Schöne Künste“. In: Ders.: Allgemeine Theorie der schönen Künste. Dritter Theil. 2., vermehrte Auflage. Leipzig 1793 (Nachdruck Hildesheim 1967). S. 72–96, hier: S. 72.
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eine Konstellation vorgeformt ist, die bisherige mimetische Theorien insofern überbietet, als sie der Natur selbst eine ästhetische Qualität, nämlich eine dynamische Erhabenheit, unterstellt, die der Künstler für sich in einer Weise adaptieren kann, die ihn selbst zum gottähnlichen Schöpfer erhebt. Insofern bereitet Ps.Longin die Auratisierung des Künstlers vor, der sich durch eine besondere Hochstimmung auszeichnet. Vor diesem Hintergrund ist die Kritik Goethe und Mercks zu sehen, dass Regeln allein, also bloße poetisch-rhetorische Techniken, in der Kunst kaum weiterhelfen: Daß einer, der ziemlich schlecht raisonnierte, sich einfallen ließ, gewisse Beschäftigungen und Freuden der Menschen, die bei ungenialischen gezwungnen Nachahmern Arbeit und Mühseligkeit wurden, ließen sich unter die Rubrik Künste, schöne Künste klassifizieren, zum Behuf theoretischer Gaukelei, das ist denn der Bequemlichkeit wegen Leitfaden geblieben zur Philosophie darüber, da sie doch nicht verwandter sind, als septem artes liberales der alten Pfaffenschulen.239
Kunst entsteht nicht durch striktes Regelfolgen, und Sulzers gesamtes Lexikonprojekt gerät dadurch ins Abseits, dass es die enzyklopädische Darstellbarkeit von Kunst unterstellt.240 Wie sehr die rhetorische Tradition in die Genieästhetik hineinwirkt, macht der obige Absatz dennoch deutlich, indem Goethe und Merck Kritik an „Arbeit und Mühseligkeit“ üben, bringen sie das rhetorische Gebot der dissimulatio artis ins Spiel. Gegen die rhetorische Perspektive, die die dissimulatio von mühseliger Kunstfertigkeit verlangt, behaupten sie zwar, dass ein Genie, sofern es nach den Regeln der Natur schafft, keine Mühe aufbringen müsse, aber das ist Verklärung des Künstlers, der zum göttlichen Schöpfer stilisiert wird und insofern programmatisch für den Sturm und Drang. Der Baukunst-Aufsatz selbst spricht eine andere Sprache, insofern er das Ergebnis rhetorischer Kunstfertigkeit ist und damit die von Ps.-Longin formulierten unterschiedlichen Quellen des Erhabenen einbezieht, nämlich die Begabung des Künstlers, die erhabene Natur, aber eben auch die gezielte Auswahl rhetorischer Figuren.
3. 6. 3. Der Künstler als Gott und Handwerker Große Kunst ist laut Goethe „charakteristische Kunst“, charakteristisch meint dabei zweierlei, nämlich national und individuell, wobei die Betonung auf den individuellen Empfindungen des Künstlers liegt, welche aber – hier macht sich –––––––––––– 239
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Goethe u. Johann Heinrich Merck: Rezension zu „Die schönen Künste in ihrem Ursprunge, ihrer wahren Natur und besten Anwendung, betrachtet von J. G. Sulzer. 1772. 8. 85 S.“. MA 1, 2. S. 398–399. Vgl. Riedel, Wolfgang: Erkennen und Empfinden. Anthropologische Achsendrehung und Wende zur Ästhetik bei Johann Georg Sulzer. In: Schings, Hans-Jürgen (Hrsg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart u. Weimar 1994. S. 410– 439, hier: S. 425–426.
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die Nähe zu Herder bemerkbar – nicht jenseits der Nation existieren, vielmehr durch soziale und kulturelle Umstände geprägt sind, was Goethe zu der kunsthistorisch verblüffenden Erkenntnis bringt, Gotik sei die Baukunst der Deutschen.241 Entsprechend inszeniert Goethe den Künstler als Naturgenie, das charakteristische Kunstwerke aus eigener Kraft hervorbringen kann, wenn es sich an die Schaffensprinzipien der natura naturans hält. Eine solche Verklärung des Künstlers dient aber vor allem der Selbstüberredung und Propaganda, denn in den nicht zur Veröffentlichung vorgesehenen Texten, sei es in den „Ephemerides“ oder im Briefwechsel mit Herder, lässt sich eine Aneignung der rhetorisch-poetischen Tradition und ihres technischen Wissens ablesen, die mit dem propagierten Bild vom Künstler nicht immer in einem harmonischen Verhältnis steht. Und selbst der Baukunst-Aufsatz ist, stilistisch gesehen, ein Beispiel für einen rhetorisch-konventionellen Text, der mit Hilfe rhetorischer Figuren den Effekt des Erhabenen hervorruft. Goethe betreibt im Baukunst-Aufsatz mit rhetorischen Mitteln Propaganda für den Künstler als Genie, und man kann mit Beutler von einer „Apotheose an den Genius“242 sprechen. Diese peroratio ist stilistisch durch Ps.-Longin beeinflusst, indem Goethe durch exclamatio, parallele Satzkonstruktion, Klimax, Hyperbel und mythologische Begriffe die Gefühlswirkung steigert, selbst wieder ein Beispiel für die rhetorisch-elokutionäre Dimension des Erhabenen liefert. In pathetischem Stil löst er den Künstler aus weltlichen Bezügen und stellt ihn neben die Götter: Heil dir, Knabe! der du mit einem scharfen Aug für Verhältnisse geboren wirst, dich mit Leichtigkeit an allen Gestalten zu üben. Wenn denn nach und nach die Freude des Lebens um dich erwacht, und du jauchzenden Menschengenuß nach Arbeit, Furcht und Hoffnung fühlst […]; wenn dann männlicher, die gewaltige Nerve der Begierden und Leiden in deinem Pinsel lebt, du gestrebt und gelitten genug hast, und genug genossen, und satt bist irdischer Schönheit, und wert bist auszuruhen in dem Arme der Göttin, wert an ihrem Busen zu fühlen, was den vergötterten Herkules neu gebar; nimm ihn auf, himmlische Schönheit, du Mittlerin zwischen Göttern und Menschen, und mehr als Prometheus leit er die Seligkeit der Götter auf die Erde.243
Inmitten der Propaganda vom göttlichen Künstler ist vom „scharfen Aug für Verhältnisse“ die Rede: So kehrt gerade im Moment der Verklärung des Künstlers und der Apotheose seiner natura ein „[t]echnisch-konstuktive[s] Moment“244 in Goethes Kunsttheorie zurück. Zwar wird Kunstfertigkeit programmatisch auf die natürliche Begabung des Genies zurückgeführt, aber es gelingt im Sturm und –––––––––––– 241 242
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Goethe: Von deutscher Baukunst. MA 1, 2. S. 421. Beutler, Ernst: Von deutscher Baukunst. Goethes Hymnus auf Erwin von Steinbach, seine Entstehung und Wirkung. In: Goethe. Viermonatsschrift der Goethe-Gesellschaft. Neue Folge des Jahrbuchs 6 (1941) S. 232–263, hier: S. 246. Goethe: Von deutscher Baukunst. MA 1, 2. S. 422–423. Vgl. Ostermann, Eberhard: Die Authentizität des Ästhetischen. Studien zur Transformation der Rhetorik. München 2002. S. 107.
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Drang nicht, Kunst ohne Kunstfertigkeit zu konzeptualisieren, und so bleibt die rhetorische Tradition erkennbar. Wie der Bauherr des Straßburger Münsters statischen Regeln zu folgen und die Wahrnehmungsweise der Rezipienten zu berücksichtigen hat, so folgt Sprache grammatischen Regeln und anthropologisch begründeten rhetorischen Gesetzmäßigkeiten, und diese Regeln und Gesetze kann auch der Sturm und Drang nicht außer Kraft setzen. Sie sind nur scheinbar aufgehoben, von der Schaffenskraft des gottgleichen Künstlers verdrängt, der doch in Wirklichkeit auf der historischen Grundlage architektonischer oder rhetorisch-poetischer Tradition bleibt. In der „Dritten Wallfahrt nach Erwins Grabe im Juli 1775“ distanziert Goethe sich vom Stil der „verhüllte[n] Innigkeit“245 des Baukunst-Aufsatzes, die er später auch in „Dichtung und Wahrheit“ kritisieren wird.246 Inhaltlich revidiert der zweite Text über das Straßburger Münster den ersten zunächst nicht: „Gott sei Dank, daß ich bin wie ich war“,247 bekundet der Verfasser gleich zu Beginn. Auch in der „Wallfahrt“ ist wieder die Erhabenheit des Straßburger Münsters Thema, und Goethe gibt sich „gerührt von dem Großen“:248 Vor dir [gemeint ist das Straßburger Münster, O. K.], wie vor dem Schaum stürmenden Sturze des gewaltigen Rheins, wie vor der glänzenden Krone der ewigen Schneegebürge, wie vor dem Anblick des heiter ausgebreiteten Sees, und deiner Wolkenfelsen und wüsten Täler, grauer Gotthard! Wie vor jedem großen Gedanken der Schöpfung, wird in der Seele reg was auch Schöpfungskraft in ihr ist.249
Durch die Parallelisierung von erhabenen Natureindrücken, die die Reise in die Schweiz bei Goethe hinterließ, und der Wirkung, die das Straßburger Münster auf den Betrachter hat, erfasst er das Bauwerk in seiner auratischen Qualität. Kunst ermöglicht demnach eine religiös überhöhte Erfahrung der Natur, wozu auch die Analogie von Turmbesteigung und Wallfahrt passt, auf die der Aufsatz anspielt, der durch Goethes Begegnung mit einer Wallfahrtsgruppe in Maria Einsiedeln inspiriert sein soll.250 Deutlicher als im Baukunst-Aufsatz beleuchtet Goethe nun aber die Bedeutung von Verhältnis und Proportion: Mit jedem Tritte überzeugte man sich mehr: daß Schöpfungskraft im Künstler sei aufschwellendes Gefühl der Verhältnisse, Maße und des Gehörigen, und daß nur durch diese ein selbständig Werk, wie andere Geschöpfe durch ihre individuelle Keimkraft hervorgetrieben werden.251
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Goethe: Dritte Wallfahrt nach Erwins Grabe im Juli 1775. MA 1, 2. S. 304. Vgl. Goethe: Dichtung und Wahrheit. MA 16. S. 543. Goethe: Dritte Wallfahrt nach Erwins Grabe im Juli 1775. MA 1, 2. S. 303. Ebd. Ebd. Vgl. z. B. Sauder, Gerhard: Kommentar „Dritte Wallfahrt“. MA 1, 2. S. 800. Goethe: Dritte Wallfahrt nach Erwins Grabe im Juli 1775. MA 1, 2. S. 305.
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Goethe bekennt sich zu ästhetischen Regeln und Gesetzen, die den Aufbau eines Kunstwerks regulieren. Er führt mit der Kategorie des „Gehörigen“ das innere aptum als Faktor in seine ästhetische Theorie ein, das die inneren Formgesetze eines Kunstwerks, das Verhältnis seiner Teile zueinander reguliert. 252 War das sichere Erkennen des inneren aptum in der Antike von Talent und Erfahrung des Redners abhängig,253 steht hier die Ideologisierung des Angemessenen als ein Gebot der Natur im Vordergrund. Die Formgesetze der Natur und die Art, wie diese entsteht und wächst, sollen Vorbild für die Kunst sein, die Rezeption und Adaption rhetorischen Wissens ist trotzdem deutlich. Ernst Robert Curtius hat den Wallfahrt-Aufsatz als entscheidenden Schritt zu einer Ästhetik des Sturm und Drang verstanden, auch die Bedeutung Ps.-Longins für die Idee des Künstlers als göttliches Genie gesehen,254 dann aber doch sehr den Erlebnischarakter von Goethes Erkenntnis hervorgehoben: Goethe, erfüllt vom frischen Eindruck der Alpen, dem Erwins Münster am Rhein antwortete, hat im Schöpfertum das lösende Wort gefunden, das Natur und Kunst überhöhte und den Dichter an kosmogonische Mächte anschloß. Der Weg vom Erlebnis zur ästhetischen Theorie läßt sich selten so klar verfolgen. 255
Der Weg vom Erlebnis zur ästhetischen Theorie ist aber nur inszeniert. Schon chronologisch ist das Argument von Curtius problematisch, schließlich sind die ästhetischen Ideen der „Wallfahrt“ bereits im Baukunst-Aufsatz vorformuliert, zu einer Zeit, als die Erfahrungen der Schweiz-Reise noch vor Goethe liegt. Zudem greifen Goethes Überlegungen rhetorische und poetische Traditionen auf, er schöpft also keine von allen Traditionen unabhängige Ästhetik, die sich allein dem Erleben des Autors verdankt.256 Die Theorie des Erhabenen nach Ps.Longin hat Goethes Aufsatz „Von deutscher Baukunst“ und auch die „Dritte Wallfahrt zu Erwins Grabe“ in vielerlei Hinsicht beeinflusst. Selbst die in Anbetracht der Genie-Kunst endgültig überflüssig scheinende aptum-Lehre nimmt Goethe auf, adaptiert sie, indem er sie auf die korrekte Wiedergabe der Schaf–––––––––––– 252 253 254
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Vgl. zur Differenzierung von innerem und äußerem aptum Ueding, Steinbrink. S. 221–226. Vgl. Quint. Inst. Orat. VI, 5, 3. Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 11. Auflage. Tübingen u. Basel 1993. S. 402. Es lässt sich nicht so recht nachvollziehen, wieso Jauß Curtius vorwarf, er versuche den „moderne[n] Begriff der schöpferischen Tradition der Antike einzuordnen“ (H. R. J.: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt am Main 1992. S. 13.), indem er die Bedeutung Ps.-Longins für die Autonomieästhetik herausstellt. Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 11. Auflage. Tübingen u. Basel 1993. S. 401. Nach Carsten Zelle erliegt Curtius der „vehemente[n] Rhetorik gegen die Rhetorik“ der Sturm-und-Drang-Autoren, wenn er Goethes ästhetische Theorie als Ergebnis individueller Naturerfahrung deutet (C. Z.: Die Geburt der Natur aus dem Geiste der Rhetorik. Zur Schematisierung von Natur und Genie bei Dennis und Goethe. In: Michael Scheffel (Hrsg.): Erschriebene Natur. Internationale Perspektiven auf Texte des 18. Jahrhunderts. Bern, Berlin u. a. 2001. S. 145–167, hier: S. 161).
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fensprinzipien der natura naturans bezieht, die eben keineswegs ohne Maßstab bleibt. Schließlich ist selbst die Auratisierung des Künstlers, seine Vergöttlichung, in der rhetorisch-poetischen Tradition seit Scaligers These vom „alter deus“257 topisch. Goethe bleibt auf der Spur der Rhetorik und interpretiert Einsichten der rhetorisch-poetischen Tradition in neuartiger Weise, so dass die Kunst nicht mehr nur das Produkt einer durch Regeln vermittelten Kunstfertigkeit ist und der Künstler mehr als ein bloßer Techniker. Damit betreibt Goethe die Auratisierung des Künstlers, der göttliche Züge erhält. Gerade weil Kunst nicht mehr im unmittelbaren Wirkungszusammenhang steht, sondern sich ans Vorbild der Natur hält, taugt sie als Objekt einer religiösen Verehrung. Die nach außen inszenierte Abkehr von einer nur als Reservoir von Regeln und Mustern verstandenen Rhetorik, von Rhetorik im Sinne von ars, bedeutet also nicht das Ende der rhetorischen Tradition, wie in „Von deutscher Baukunst“ und in der „Dritten Wallfahrt“ nicht nur durch die Bezugnahme auf Ps.-Longin und dessen Theorie des Erhabenen zu erkennen ist, sondern auch daran, dass Goethe den Aspekt der Kunstfertigkeit im Auge behält. Zwar verwirft er das blinde Befolgen von Regeln ebenso wie das geistlose Kopieren literarischer Muster, aber jenseits der Regel kann auch der geniale Künstler nicht produktiv sein. Mögen die Regeln nun auch aus der Natur abgeleitet sein, ihre Beherrschung ist für den Literaten trotzdem unabdingbar. In einem Brief an Johann Gottfried Röderer hat Goethe das Problem auf den Punkt gebracht: „Wenn der Künstler nicht zugleich Handwerker ist, so ist er nichts, aber das Unglück! unsre meiste Künstler sind nur Handwerker.“258 Im „Werther“ illustriert Goethe das Thema am literarischen Exempel. Werther ist der Prototyp eines Künstlers, der durch seine Sensibilität und die Intensität seiner Empfindungen hohes künstlerisches Potential besitzt, ohne dass er deshalb produktiv wäre. Im Brief vom 10. Mai ist dieser Gegensatz von reicher Empfindung und ermatteter Schaffenskraft thematisiert: Ich bin so glücklich, mein Bester, so ganz in dem Gefühl von ruhigem Dasein versunken, daß meine Kunst darunter leidet. Ich könnte jetzo nicht zeichnen, nicht einen Strich, und bin niemalen ein größerer Maler gewesen als in diesen Augenblicken.259
Werther ist rein handwerklich nicht – oder eben nur eingeschränkt: als Briefautor nämlich – in der Lage, seine Empfindungen künstlerisch umzusetzen. Er identifiziert sich selbst mit der Natur, mit „Halmen“, „Gräsgen“ und „Würmgen“ und –––––––––––– 257 258 259
Scaliger, Julius Caesar: Poetices libri septem. Unter Mitwirkung von Manfred Fuhrmann hrsg. v. Luc Deitz u. Gregor Vogt-Spira. Bd. 1. Stuttgart 1994. S. 72 (I, 1). Goethe an Johann Gottfried Röderer. Brief vom 21. September 1771. WA IV, 2. S. 25. Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. MA 1,2. S. 199.
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dem Himmel, der „ganz in [der] Seele ruht“, geht aber an der Vielzahl seiner Empfindungen als Künstler zu Grunde: „[I]ch erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen“.260 Goethe verschmilzt, so Blessin, Wahrheit des Mangels und der Fülle: „Die Quelle der Glückseligkeit ist auch die Wurzel allen Übels und vice versa.“261 Werther hält den Enthusiasmus zwar für ein kraftvolles künstlerisches Prinzip, an dem er sich selbst ergötzt, von dem er sich treiben lässt: Ach ihr vernünftigen Leute! rief ich lächelnd aus. Leidenschaft! Trunkenheit! Wahnsinn! Ihr steht so gelassen, so ohne Teilnehmung da […]. Ich bin mehr als einmal trunken gewesen, und meine Leidenschaften waren nie weit vom Wahnsinne, und beides reut mich nicht […].262
Doch Leidenschaft, Trunkenheit und Wahnsinn bringen Werther eben nicht dazu, künstlerische Werke zu erschaffen. Er mag ein Genie der Empfindung sein, im Bereich der Kunst ist er ein scheiternder Dilettant, ein Genie ohne Fähigkeit zur Produktion. Rudolf Käser irrt daher, wenn er behauptet, Werthers Orientierung an der Natur sei ein diszipliniertes Weglassen des Subjektiven, also ein Zeichen „kollecktive[r] Krafft“.263 Diese Art der Disziplinierung ist Werther fremd, er identifiziert Ich und Natur bis zur Unkenntlichkeit des Ichs. Zwar erklärt er, Natur solle der Maßstab von Malerei und Dichtung sein,264 „ohne das mindeste von dem meinen hinzuzutun“.265 Dabei verkennt er aber, dass die Natur, von der er spricht, Produkt seiner sentimentalen Empfindsamkeit ist, wie er selbst letztlich „ein Erzeugnis seiner sentimentalischen Selbstreflexion“266 ist. Werther selbst spricht das Verhältnis von Empfindung und rhetorischer Regel an: Man kann zum Vorteile der Regeln viel sagen, ohngefähr was man zum Lobe der bürgerlichen Gesellschaft sagen kann. Ein Mensch, der sich nach ihnen bildet, wird nie etwas abgeschmacktes und schlechtes hervor bringen, wie einer, der sich durch Gesetze und Wohlstand modeln läßt, nie ein unerträglicher Nachbar, nie ein merkwürdiger Bösewicht werden kann; dagegen wird aber auch alle Regel, man rede was man wolle, das wahre Gefühl von Natur und den wahren Ausdruck derselben zerstören!267
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Ebd. Blessin, Stefan: Goethes Romane. Aufbruch in die Moderne. Paderborn 1996. S. 81. Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. MA 1,2. S. 234. Vgl. Käser, Rudolf: Die Schwierigkeit, ich zu sagen. Rhetorik der Selbstdarstellung in Texten des „Sturm und Drang“. Herder – Goethe – Lenz. Bern 1987. S. 141. Auch Erich Meuthen hat diesen Ansatz Käsers kritisiert (vgl. E. M.: Selbstüberredung. Rhetorik und Roman im 18. Jahrhundert. Freiburg im Breisgau 1994. S. 199). Zur Malerei vgl. Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. MA 1, 2. S. 205. Erst in der zweiten Fassung des Textes wird das Prinzip auch für die Literatur gefordert (vgl. ders: Leiden des jungen Werthers. MA 2, 2. S. 360). Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. MA 1, 2. S. 205. Mattenklott, Gert: Artikel „Die Leiden des jungen Werthers“. In: Goethe-Handbuch. Bd. 3. S. 51–100, hier: S. 71. Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. MA 1, 2. S. 205.
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Für Werther ist das rhetorische Regelwerk aus diesen Gründen insgesamt negativ zu bewerten, der Ausgleich zwischen Enthusiasmus und Handwerk, den Goethe im Baukunst-Aufsatz formuliert, bleibt ihm fremd. Auch im „Tasso“ greift Goethe dieses Problem noch einmal auf. Die Forschung betrachtet Antonio zumeist als anti-rhetorisches Gegenstück zu Tasso. So hat Yuill vom „contrast of decorous wisdom and poetic enthusiasm“268 gesprochen, um den Gegensatz zwischen den beiden Figuren zu benennen. Wenn Tasso der Prinzessin erklärt: „Gedanken ohne Maß / Und Ordnung regen sich in meiner Seele“,269 baut seine Kunst auf enthusiastische Empfindung, die sich jenseits der Regeln entwickelt. Auch hier fallen Stichworte wie Raserei und erhöhter Sinn, die seit jeher zum Kontext des Enthusiasmus-Diskurses gehören: […] Welch ein Gefühl! Ist es Verirrung, was mich nach dir zieht? Ist’s Raserei? Ist’s ein erhöhter Sinn, Der erst die höchste, reinste Wahrheit faßt?270
Wenn der Herzog über Tasso sagt „Er kann nicht enden, kann nicht fertig werden, / Er ändert stets, ruckt langsam weiter vor“,271 zeigt dies aber auch, dass Tasso seine Texte kunstvoll konstruiert: sich nicht auf seine Empfindungen verlässt, sondern diese bearbeitet. Es geht also nicht um „Duelle zwischen Rhetorik und Poesie“,272 da die höfische Kunstauffassung und die enthusiastische Kunst Tassos gleichermaßen auf dem Boden der Rhetorik stehen. Schließlich entpuppt sich als Dilettant, wer die Rolle der ars nicht ernst nimmt,273 insofern wird in gleicher Weise wie im Kontext des ersten Baukunst-Aufsatzes der Künstler als Gott und Handwerker verstanden. Der Bezug auf Ps.-Longin erhält hier noch einmal einen anderen Akzent: Inspiration meint nämlich nicht mehr oder nicht nur musenhafte Einflüsterung, sondern enthusiastische Empfindungen gelten als Ausdruck von „Phantasie“, wobei der Dichter „das Gesagte, in Begeisterung und leidenschaftlich erregt zu schauen meint“.274 Nach Ps.-Longin kann der Dichter nicht nur vermittels –––––––––––– 268
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Yuill, William E.: Lofty precepts and well-tempered madness: Generalisation and verbal pattern in Goethe’s „Torquato Tasso“. In: German Life & Letters 31 (1977/78) S. 114–129, hier: S. 114. Die Verwurzelung beider Literatur-Modelle in der rhetorischen Tradition erkennt Yuill nicht, weil er Rhetorik vor allem auf die elocutio reduziert (vgl. ebd. S. 120). Goethe: Torquato Tasso. II, 1. V. 751–752. MA 3, 1. S. 447. Ebd. V, 5. V. 3253–3256. MA 3, 1. S. 514. Ebd. I, 2. V. 265–266. MA 3, 1. S. 433. Gockel, Heinz: Goethes Tasso – die Sprache des Symbols. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 54 (1980) S. 636–655, hier: S. 651. Vgl. auch Vaget, Hans Rudolf: Um einen Tasso von außen bittend: Kunst und Dilettantismus am Musenhof von Ferrara. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 54 (1980) S. 232–258, hier: S. 253. Ps.-Longin 15, 1.
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Selbstaffizierung seine Phantasie anregen, sondern auch – modern gesprochen – durch „intertextuelle[… ] I[nspiration]“,275 d. h., es sind die großen Vorbilder, die einen Dichter inspirieren, ihn durch „fremden Anhauch mit Gott erfüll[en]“.276 Goethe erinnert sich noch Jahre später, dass ihn das Straßburger Münster „zum lebhaftesten Enthusiasmus angeregt“277 habe, bleibt also auch insofern auf der Spur einer rhetorischen Tradition, als er andere Kunstwerke als Inspirationsquelle betrachtet. Während der Arbeit am „Tasso“ scheint Goethe sich auch theoretisch mit dem Erhabenen zu beschäftigen, jedenfalls schreibt er am 28. März 1781, also in einer Phase intensiver Arbeit an den ersten zwei Akten, an Charlotte von Stein: „Schicke mir den Longin“.278 So bietet die rhetorische Tradition eine Folie, auf der ein Kompromiss zwischen repräsentativ technischer und enthusiastisch erhabener Schreibart möglich ist.279 Es geht weder in den Baukunst-Aufsätzen noch im „Werther“ noch im „Tasso“ um eine Absage an die Kunstfertigkeit und die Gültigkeit formaler Textstrukturen als Erbe der Rhetorik. Das zeigen auch die 1776 publizierten Bemerkungen „Aus Goethes Brieftasche“. Goethe reagiert hier auf Louis-Sébastien Merciers Essay „Du theatre ou nouvel essai sur l’art dramatique“, in dem dieser das regelmäßige französische Theater Corneilles und Racines kritisiert und fordert, der –––––––––––– 275 276 277 278
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Kositzke, Boris: Artikel „Inspiration“. HWRh. Bd. 2. Sp. 423–433, hier: Sp. 425. Ps.-Longin 13, 2. Goethe: Von deutscher Baukunst 1823. MA 13, 2. S. 161. Goethe an Charlotte von Stein. Brief vom 28. März 1781. WA IV, 5, S. 98. Im selben Jahr erschien die Übersetzung des Longin von Goethes Schwager Johann Georg Schlosser (Longin: Vom Erhabenen. Mit Anmerkungen und einem Anhang von Johann Georg Schlosser. Leipzig 1781), insofern dürfte Goethe der Autor in dieser Zeit sehr präsent gewesen sein. Nach Walter Hinderer lässt sich Goethes Ps.-Longin-Lektüre auch am pathetischen Gestus des „Torquato Tasso“ belegen (vgl. W. H.: Artikel „Torquato Tasso“. In: GoetheHandbuch. Bd. 2. S. 229–257, hier: S. 234). Erhard Bahr geht das Thema der rhetorisch-poetischen Einordnung Tassos immerhin an, aber seine These, Tasso markiere „poetologisch […] den Übergang von der Kunst als Nachahmung (mimesis) zur Kunst als individueller Offensichtbarmachung (poiesis)“ (E. B.: Von Mimesis zu Poiesis. Die Evolution des modernen Dichters in Goethes Tasso. Zur Interpretation der Schluss-Szene. In: Polheim, Karl Konrad (Hrsg.): Sinn und Symbol. Bern, Frankfurt am Main u. a. 1987. S. 87–94, hier: S. 89), ist schon in ihrer Begrifflichkeit merkwürdig. Mimesis als Nachahmung von Natur gilt ja bereits Platon als Verfahren dichterischer poiesis (vgl. Platon: Rp. 599a u. 601b, außerdem Symp. 205b–c; Eusterschulte, Anne: Artikel „Mimesis“. HWRh. Bd. 5. Sp. 1232–1294, hier: Sp. 1238), und rhetorische imitatio ist seit Ps.-Longin und spätestens seit Scaliger ein akzeptiertes Verfahren der Dichtkunst (vgl. Ps.-Longin 13, 2, Scaliger, Julius Caesar: Poetices libri septem. Unter Mitwirkung von Manfred Fuhrmann hrsg. v. Luc Deitz u. Gregor Vogt Spira. Bd. 4: Buch V. Hrsg., übersetzt, eingeleitet u. erläutert von Gregor Vogt Spira. Stuttgart-Bad Cannstatt 1998. S. 263, dazu auch: Flashar, Hellmut: Die klassizistische Theorie der Mimesis. In: Ders. (Hrsg.): Le classicisme à Rome. Genf 1978. S. 79–97, hier: S. 89–95). Die Gleichung Hofkunst=mimesis und autonome Kunst = poiesis geht daher nicht auf.
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Künstler solle sich an dem freien Stil Shakespeares orientieren. Goethe spielt im Sinne von Shaftesbury die innere Form gegen die äußere aus, fragt sich, was ein gutes Drama ausmacht:280 Deswegen gibts doch eine Form, die sich von jener [gemeint ist die äußere Form] unterscheidet, wie der innere Sinn vom äußern, die nicht mit Händen gegriffen, die gefühlt sein will. Unser Kopf muß übersehen, was ein andrer Kopf fassen kann, unser Herz muß empfinden, was ein andres füllen mag.281
Die innere Form ist durch Nachempfinden zu begründen und somit mehr als nur die Umsetzung einer erlernten Regel. Das ist ein wichtiges Resultat des Sturm und Drang, aber auch die innere Form steht wie die rhetorische Regel in einem anthropologischen Kontext: Der Autor muss von den Rezipienten her denken, ihre Art Texte zu lesen, aufzunehmen und zu verstehen ist richtunggebend für ihn. Goethes Modell bleibt für Fragen der Kunstfertigkeit offen, denn ohne Form, ohne künstlerische Gestaltung kann kein Kunstwerk entstehen: Jede Form, auch die gefühlteste, hat etwas Unwahres, allein sie ist ein für allemal das Glas, wodurch wir die heiligen Strahlen der verbreiteten Natur an das Herz der Menschen zum Feuerblick sammeln.282
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281 282
Vgl. Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper of: Soliloquy: or, Advice to an author. In: Ders.: Standard-Edition. Hrsg., übersetzt u. kommentiert von Gerd Hemmerich u. Wolfram Benda. Bd. 1, 1. Stuttgart-Bad Cannstatt 1981. S. 110. Goethe: Aus Goethes Brieftasche. MA 1, 2. S. 491. Ebd. S. 492.
132
4.
Kunst als Natur? Modifikationen des imitatio-Konzepts im Übergang zur Klassik
Daß ich halb unklug vom Zeichnen und aller möglichen Nachahmung der Natur bin, wird Fr. v. Stein sagen. Ich mag es hier nicht wiederholen, es schwindelt mir der Kopf bey dem Gedancken.1
4. 1.
Kunst als Natur? Zur Reinstallation des dissimulatioPostulats in „Triumph der Empfindsamkeit“
Mit seinem Gang nach Weimar setzt sich der Prozess der Rezeption und Adaption rhetorischer Theorieelemente fort, so dass die antike Rhetorik als eine systematische ars weitgehend rehabilitiert wird. Besonders gut lässt sich diese Entwicklung am Verhältnis von Natur und Kunst illustrieren, das Goethe im Laufe der Jahre immer wieder überdenkt und mit Hilfe rhetorischer Theoreme problematisiert und neu zu lösen versucht. Mit einem ironischen Blick zurück setzt Goethe sich in der dramatischen Grille „Der Triumph der Empfindsamkeit“ von der Sturm-und-Drang-Periode ab. In dem ab 1777 entstandenen Stück lässt er ein Exemplar des „Werther“ in der Hoffnung verbrennen, „daß, wenn wir diese Papiere verbrennten, der Zauber aufhören […] würde“.2 Zwar ist die Artifizialität von Literatur und Kunst schon in den Theorieschriften des Sturm und Drang ein Thema Goethes, aber jetzt geht er polemisch gegen eine Empfindsamkeitskultur vor. Das Stück, Goethe nennt es eine „Tollheit […], so toll und grob als möglich“,3 illustriert die Kritik am Beispiel des Prinzen Oronaro, der eine Puppe statt einer wirklichen Frau liebt und am Ende diese Puppe ihrem Vorbild, der Königin Mandandane, vorzieht.4 Mit reichlich Häckerling, vor allem aber auch einigen Büchern ausgestopft, enthält die Puppe, wie König Andrason, ein witziger Kopf, sogleich bemerkt, die „Grundsuppe“5 der Empfindsamkeitskultur, nämlich „Die Leiden des jungen Werthers“ sowie „Die neue Heloise“, „Siegwart“ und „Der gute Jüngling“. Goethe kommentiert so mit feinem Sinn für Ironie sein erfolgreichstes Werk. –––––––––––– 1 2 3 4 5
Goethe an Herzog Carl August. Brief vom 28. September 1787. WA IV, 8. S. 261. Goethe: Der Triumph der Empfindsamkeit. MA 2, 1. S. 202. Goethe an Charlotte von Stein. Brief vom 12. September 1777. WA IV, 3. S. 174. Vgl. Goethe: Der Triumph der Empfindsamkeit. MA 2, 1. S. 211. Ebd. S. 201.
Nach einer Analyse Bernhard Greiners erhoffte sich Goethe eine therapeutische Wirkung von seinen frühen Komödien, übersteigerte entsprechend mit großem Eifer die Eigenheiten empfindsamer Geisteshaltung, weil er sich auf diese Weise hinreichende Wirkung von seiner Medizin versprach.6 „Mit Lust werden Weltgeschichte und Menschenleben verballhornt, das Große klein, das Hohe niedrig behandelt.“7 Die Relationen zu verschieben, zu übertreiben und zu kontrastieren sind bewährte Mittel, um Komik zu erzeugen, denn, so Friedrich Georg Jünger: „Alles Unangemessene wird leicht komisch“8. Auch Goethe arbeitet mit dem Prinzip der aptum-Verletzung, so dass in dem Text eine Laube zur zweiten Natur, die einsam deklamierende Königin zur Prosperina, ein Fetzen mit Häckerling und einigen Büchern gefüllten Stoffs zur lebendigen Frau wird; kurzum: bekannte Relationen schwinden. Der „Triumph der Empfindsamkeit“ setzt sich mit der Frage auseinander, welche Verwicklungen entstehen, wenn man ein Kunstwerk für ein Stück Natur hält, Kunst und Natur miteinander verwechselt und nicht erkennt, dass ein Kunstwerk allenfalls eine Nachahmung der Natur sein kann. Wiederum muss Prinz Oronaro als Beweis herhalten, er meidet die wirkliche Natur, zieht sich statt dessen in die künstliche Welt seines Schlosses zurück, das „auf die angenehmste Weise ausgeziert“ ist: „[S]eine Zimmer gleichen Lauben, seine Säle Wäldern, seine Kabinette Grotten, so schön und schöner als in der Natur […].“9 An diese künstliche Welt hat der Prinz sich so sehr gewöhnt, dass er sich sogar eine „Reisenatur“10 bauen ließ, um auch auf Reisen nicht auf diesen Rückzugsraum verzichten zu müssen. Die äußere Natur hingegen meidet er strikt, ohne zu sehen, was ihm auf diese Weise entgeht. Der hellsichtige Kavalier, der Gäste mahnt, die Laube in Gegenwart des Prinzen nicht als „Dekoration“ zu bezeichnen, und fordert, „das Wort Natur, merken Sie wohl, muß überall dabei sein“,11 hat mehr Realitätssinn. Er vergisst nicht, dass die künstliche Natur nichts als ein Kunstwerk ist, und sorgt, indem er Gäste animiert, sich an einem Spiel der dissimulatio artis zu beteiligen, für den Fortbestand der Illusion, die sich Kunstfertigkeit verdankt. Wer also das ideologische Moment des ästhetischen Programms nicht sieht und nicht erkennt, dass die Natürlichkeit eines Kunstwerks das Ergebnis dissimulierter Kunstfertigkeit ist, erliegt einer Illusion. Sogar im Umfeld des Bau–––––––––––– 6
7 8 9 10 11
Vgl. Greiner, Bernhard: Purim in Plundersweilern: Der karnevalistische Goethe („Jahrmarksfest zu Plundersweilern“, „Der Triumph der Empfindsamkeit“, „Iphigenie auf Tauris“, Prosafassung). In: Wiethölter, Waltraud (Hrsg.): Der junge Goethe. Genese und Konstruktion einer Autorschaft. Tübingen u. Basel 2001. S. 39–64, hier: S. 54–59. Ebd. S. 40. Jünger, Friedrich Georg: Über das Komische. Frankfurt am Main 1948. S. 31. Goethe: Der Triumph der Empfindsamkeit. MA 2, 1. S. 176. Ebd. Ebd. S. 178.
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kunst-Aufsatzes, der mit der Ideologisierung des Künstlers als alter deus, der gemäß den Gesetzen der Natur schafft, dazu beigetragen hat, Kunst und Natur zu amalgamieren, sah Goethe den Künstler ja durchaus als Gott und Handwerker, behielt eine rhetorische Perspektive, in der die Kunstfertigkeit keineswegs abgeschrieben war. Aber der Kunstcharakter der Kunst war zugleich nicht wirklich ein offen verhandeltes Thema, er blieb ideologisch verschleiert. Mit seiner Parodie bringt Goethe nun wiederum das „Ideal einer natürlichen Rhetorik, die gegen die aristokratisch-höfische und stoische dissimulatio ins Feld geführt worden war, ins Wanken“12 und attackiert die Vorstellung, ein Kunstwerk könne auf andere Weise als durch das gezielte Verbergen des Kunstcharakters als ein Stück Natur erscheinen. Zuvor hatte Goethe, indem er die natura naturans zum Vorbild der Kunst erklärte, ihre Schaffensprinzipien im Kunstwerk wieder zu finden glaubte, zwar auch Raum gelassen für ‚Handwerk‘, aber nicht gerade laut ausgesprochen, dass auch das Kunstwerk des Genies künstlich ist und bleibt. Solche ideologischen Verklärungen lösen sich nun auf. Im Sturm und Drang waren sie hilfreich, um eine neue Ästhetik zu begründen, waren künstlerisch produktiv, halfen erstarrtes Regeldenken anzugreifen. Daher geht es auch im „Triumph der Empfindsamkeit“, obwohl der Titel natürlich ironisch ist, nicht darum, vollends mit der Empfindsamkeit zu brechen. Dass die empfindsame Geisteshaltung einen Beitrag zur Entwicklung der Kunst geleistet hat, gesteht Goethe durchaus zu. Indem den Empfindsamen „[d]as Ich […] zur Welt“13 wurde, erschloss sich eine Sprache der Innerlichkeit, von der die Kunst profitierte – ohne sie wären die Monodramen der Königin Mandandane gar nicht vorstellbar, aber Goethes Kritik bleibt auch hier deutlich, denn die Königin verliert sich in der Kunst, weiß am Ende kaum noch, ob sie Prosperina oder Mandandane ist. Innere Erfahrungen sind zudem nur mit Mitteln der Sprache zugänglich, lassen sich nur mit Hilfe von rhetorischen Strukturen artikulieren. In den Worten Martin Hubers, der den „Triumph der Empfindsamkeit“ als eine Reflexion auf das Thema Theater liest: „‚Authentizität‘ ist nicht faßbar als das, was von Formen einer gespielten, eben inszenierten Existenz zu unterscheiden wäre.“14 Selbst gegenüber der vorgeblichen Reinheit der Körperzeichen muss man entsprechend skeptisch sein.15 Die Reinstallation des dissimulatio-Postulats hat für Goethe eine zweifache Pointe: Einerseits weist es auf die Artifizialität eines jeden Kunstwerks, andererseits – Goethe legt diese Erkenntnis dem Kavalier in den Mund – kann ein Kunstwerk seine volle Wirkung nur entfalten, wenn es nicht als Kunstwerk erscheint, also wenn der Künstler Verfahren zur Dissimulation des Kunstcha–––––––––––– 12 13 14 15
Kimmich, Dorothee: Artikel „Empfindsamkeit“. HWRh. Bd. 2. Sp. 1108–1121. Sp. 1119. Ebd. Huber, Martin: Der Text als Bühne. Theatrales Erzählen um 1800. Göttingen 2003. S. 73. Vgl. ebd. S. 67.
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rakters einsetzt. Das ist ganz im Sinne der disziplinären Rhetorik gedacht, und es hat durchaus den Anschein, als ob Goethe es als ein vitium, einen Verstoß gegen die Regeln der ars, wertet, wenn man einem Kunstwerk seine Artifizialität anmerkt, denn noch 1788 schreibt er an Knebel über seine Arbeit am „Tasso“: „Nun bin ich eifrig an Tasso er geht von statten. Es wird ihm aber doch nicht jemand leicht wenn er fertig ist die Arbeit ansehn die er kostet und man solls auch nicht.“16 Völlig selbstverständlich bekennt sich der Schriftsteller Goethe in dem privaten Kontext des Briefes zum rhetorischen dissimulatio-artis-Gebot. Und damit steht er im 18. Jahrhundert keineswegs allein. Wieland etwa verteidigt das Prinzip in seinem „Sendschreiben an einen jungen Dichter“ (1782) und fordert bei „der feinsten Politur die Grazie der höchsten Leichtigkeit“, so dass sich „nirgends einige Spur von Mühe Arbeit“ zeige.17 Auch Winckelmann gehört zu den Verfechtern des Prinzips, und bei ihm ist dessen rhetorischer Ursprung ganz explizit Thema, wenn er in der „Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst“ schreibt: „Das schwerste in allen Werken der Kunst ist, daß dasjenige, was sehr ausgearbeitet worden, nicht ausgearbeitet scheine“,18 und er zitiert Quintilian als einschlägigen rhetorischen Gewährsmann.19 In Goethes Reinstallation des dissimulatio-artis-Gebots macht sich wiederum die rhizomatische Struktur der rhetorischen Tradition bemerkbar. Goethe konnte im Sturm und Drang mit Hilfe anthropologischer Rhetorik-Modelle eine Erneuerung literarischer Formen und Ausdrucksweisen betreiben, zugleich einen Kompromiss zwischen dem Empfindungsreichtum des Genies, das sich den Regeln der Rhetorik versperrt, und den Anforderungen der Rhetorik, die in Texten notwendig einzuhalten sind, formulieren. Im Übergang zur Klassik greift er nun, entgegen den Ideologisierungen des Künstlers in der Geniephase, ein anderes Prinzip heraus, nämlich das dissimulatio-artis-Gebot, um die Probleme der Genieästhetik aufzuzeigen und eine revidierte ästhetische Position zu entwickeln, die den Künstler wieder stärker im Kontext systematischer Rhetorik und rhetorischer Poetik sieht und die Bedeutung der ars hervorhebt.
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Goethe an Carl Ludwig von Knebel. Brief vom 1. Oktober 1788. WA IV, 9. S. 35. Wieland, Christoph Martin: Sendschreiben an einen jungen Dichter. In: Christoph Martin Wielands Sämmtliche Werke. Bd. 24. Leipzig 1796. S. 23. Winckelmann, Johann Joachim: Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst und Beantwortung des Sendschreibens über diese Gedanken. In: Ders.: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst [1756]. Baden Baden u. Strasbourg 1962. S. 129. Vgl. ebd. Fn. 4. Winckelmann verweist auf „Quintil. Inst. L. IX. c. 4.“, gemeint ist damit wohl Quint. Inst. orat. IX, 4, 144, wie Norbert Christian Wolf dargelegt hat (vgl. N. C. W.: Streitbare Ästhetik. Goethes kunst- und literaturtheoretische Schriften 1771–1789. Tübingen 2001. S. 309, Fn. 231).
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4. 2.
„Künstlers Apotheose“. Die Rolle der imitatio im Prozess rhetorisch-ästhetischer Erziehung
Im Ergebnis der Italienreise liegen zwei Texte vor, in denen Goethe imitatio als pädagogisches Prinzip der rhetorischen bzw. künstlerischen Ausbildung beleuchtet („Künstlers Apotheose“) und eine auf dem Boden der Rhetorik stehende ästhetische Theorie formuliert („Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil“). Sie setzen die Annäherung an ein Rhetorikverständnis im Sinne der arsTradition fort. In der 1788 in Deutschland abgeschlossenen Miniature „Künstlers Apotheose“ stellt Goethe am Beispiel der Malerei verschiedene Konzepte künstlerischer Ausbildung vor.20 Die Szene eröffnet ein Zeichenschüler, der das Bild eines großen Meisters kopiert, sich in der imitatio auctorum übt, die seit der Antike zum Repertoire rhetorischer Ausbildung gehört und sich auch in der bildenden Kunst etabliert hat. Die Grenzen dieses Prinzips werden schnell deutlich:21 Ich male zu und streiche zu, Und sehe kaum mehr was ich tu’. Gezeichnet ist es durchs Quadrat; Die Farben, nach des Meisters Rat, So gut’ mein Aug’ sie sehen mag, Ahm’ ich nach meinem Muster nach;
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21
Goethe berichtet Herzog Carl August am 19. September 1788 aus Gotha von der Fertigstellung des Stückes (vgl. Goethe an Herzog Carl August. Brief vom 19. September 1788. WA IV, 9. S. 24). In der „Italienischen Reise“ finden sich mit Datum vom 1. März 1788 Hinweise darauf, dass der Dichter die Arbeit an dem Text aufgenommen hat: „Des Künstlers Erdewallen soll neu ausgeführt und dessen Apotheose hinzugetan werden“ (Goethe: Italienische Reise. 1. März 1788. MA 15. S. 619). Die Neuausführung von „Künstlers Erdewallen“ ist jedoch nicht zustande gekommen. Goethe hat „Künstlers Apotheose“ zwar stets als „Pendant“ (Goethe an Herzog Carl August. Brief vom 19. September 1788. WA IV, 9. S. 24) zum „Erdewallen“ gesehen, aber der Zusammenhang zwischen beiden Texten ist doch eher episodisch. In dem winzigen Zweiakter „Künstlers Erdewallen“ wird der Künstler in seiner monetären Abhängigkeit vom Publikum vorgeführt, indem seine eigene Frau ihn drängt, eine dicke hässliche Frau zu malen: „Mach’s nur es wird ja wohl bezahlt“ (Goethe: Des Künstlers Erdewallen. MA 1, 1. S. 746). Diese Abhängigkeit taucht in der „Apotheose“ nur noch als Randmotiv auf: Als ein neues Bild eines Künstlers angeschafft wird, ist dessen Wert für den Fürsten vor allem finanziell bestimmbar: „DER PRINZ […]: Das Bild hat einen großen Wert; / Empfanget hier, was ihr begehrt. Der Cassier hebt den Beutel mit den Zechinen auf den Tisch und seufzet“ (Goethe: Künstlers Apotheose. MA 3, 1. S. 423). Vgl. z. B. Quint. Inst. orat. I, 3, 1; außerdem für einen Überblick über die Geschichte der imitatio Kaminski, Nicola: Artikel „Imitatio“. HWRh. Bd. 4. Sp. 235–285, hier: Sp. 235– 245. Die herausragende Rolle der imitatio auctorum in der römischen Rhetoriktheorie wird häufig durch die kulturelle Überlegenheit Griechenlands begründet, das den römischen Autoren nachahmenswert schien. Hinzu kommt aber, dass sich die imitatio auctorum im Lehrbetrieb als nützlich erweist, um den Schülern technische Fertigkeiten zu vermitteln (vgl. Petersen, Jürgen H.: Mimesis – Imitatio – Nachahmung. Eine Geschichte der europäischen Poetik. München 2000. S. 54 u. S. 80).
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[…] Und dennoch wird zu meiner Qual Nie die Kopie Original.22
Die Zweifel des Schülers legen nahe, dass Goethe mit dem Text ein zentrales Ausbildungsprinzip der Rhetorik angreift, was gut zur tradierten Vorstellung vom rhetorikfeindlichen Goethe passt. Die Kritik an der imitatio, die der Schüler formuliert, ist aber, wie Goethe wohl bekannt war, schon in der Antike topisch. Quintilian etwa bezeichnet es als „[s]chimpflich [….], sich damit zu begnügen, nur das zu erreichen, was man nachmacht. Denn noch einmal: was wäre geschehen, wenn niemand mehr zustande gebracht hätte als sein Vorgänger?“ 23 Für ihn ist es völlig unzweifelhaft, dass man durch imitatio niemals das Vorbild erreichen kann, denn „[e]inholen aber kann man niemand, wenn man meint, sich unbedingt in dessen Spur halten zu müssen, denn wer hinterherläuft, ist zwangsläufig immer der Hintermann.“24 In der Rhetorik tritt daher die aemulatio, die Forderung, das Vorbild zu übertreffen, neben die imitatio, was allerdings die prinzipielle Begrenztheit bloßer imitatio artis nicht vollends aufhebt. Erst die imitatio des Vorbildes Natur kann die Grenzen der imitatio artis überwinden. Sich an die Natur zu halten, also die imitatio naturae, erscheint somit als Alternative zur imitatio artis. Die Natur nachzuahmen, schlägt entsprechend ein Kunstliebhaber dem Schüler vor: Denn die Natur ist aller Meister Meister! Sie zeigt uns erst den Geist der Geister, Läßt uns den Geist der Körper sehn, Lehrt jedes Geheimnis uns verstehn.25
Die Position des Kunstliebhabers erinnert an die Anfänge poetischer Theoriebildung in der Antike, denn Aristoteles hat ja in der „Poetik“ die natürliche Veranlagung des Menschen zur Nachahmung als einen Ausgangspunkt der Dichtkunst beschrieben und in der „Physik“ gar jede téchne als Nachahmung der Natur definiert.26 Insofern vertritt der Liebhaber eine traditionelle Auffassung von –––––––––––– 22 23 24 25 26
Goethe: Künstlers Apotheose. MA 3, 1. S. 418. Quint. Inst. orat. X, 2, 7. Ebd. X, 2, 10. Goethe: Künstlers Apotheose. MA 3, 1. S. 419. Vgl. Arist. Poet. 1448b bzw. Phys. 194a. Hatte Platon noch die Defizienz der mimesis zum Ausgangspunkt seiner Dichterkritik im zehnten Buch der „Politeia“ gemacht, da sich Maler oder Dichter, die einen realen Gegenstand, etwa einen Tisch, abbilden, dreifach von der Wahrheit, die in der Idee ‚Tisch‘ enthalten sei, entfernen (vgl. Platon: Rp. 597e u. 599a–b), sieht Aristoteles in der mimesis die Nachahmung einer bereits in der Natur angelegten Teleologie (vgl. Aristoteles: Physik. Griechisch u. deutsch. Übersetzt, mit einer Einleitung u. mit Anmerkungen hrsg. v. Hans Günter Zekl. 2 Bde. Hamburg 1987–1988. 199a), so dass das Verfahren der mimesis, so wie er es in der „Poetik“ beschreibt, erkenntnistheoretisch unproblematisch ist. Die Einordnung von mimesis bei Platon ist vor dem Hintergrund der komplexen platonischen Erkenntnistheorie zu sehen, die etwa Morrison, J. S.: Two
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Kunst, die als antikes Gemeingut auch von antiken Rhetorikern wie Cicero und Quintilian zitiert wird.27 Indem der Liebhaber der Kunst dem Schüler zuruft „Natur, mein Herr! Natur! Natur!“,28 erinnert seine Position an den Sturm und Drang. Zu dieser Vermutung passt auch, dass der Liebhaber dem Schüler unterstellt, „Der gute Mensch hat kein Genie!“,29 und davon ausgeht, der Künstler solle den „Geist“ der Körper und das „Geheimnis“ der Natur erschließen. Doch der Schüler ist weiter als der Liebhaber und hat längst erkannt, wie schwierig die Nachahmung der Natur ist („Die Blätter sind zu kolossal“30) und wie wenig hilfreich das Konzept der Naturnachahmung selbst für den Maler ist, obwohl sich anhand der Malerei noch am leichtesten erklären lässt, was es bedeuten soll, dass ein Kunstwerk die Natur nachahmt. Auf Grund solcher Schwierigkeit schlägt der Meister dem Zeichenschüler eine Synthese der unterschiedlichen Positionen vor: […] Allein du übst die Hand, Du übst den Blick, nun üb’ auch den Verstand. Dem glücklichsten Genie wird’s kaum einmal gelingen, Sich durch Natur und durch Instinkt allein
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Unresolved Difficulties in the Line and Cave. In: Phronesis 22 (1977) S. 212–231 in Hinsicht auf den erkenntnistheoretischen Status der alltäglichen Wahrnehmung problematisiert hat; vgl. auch Lizano-Ordovás, Miguel A.: ‚Eikasia‘ und ‚Pistis‘ in Platons Höhlengleichnis. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 49 (1995) S. 378–397. Einen Überblick zu den Differenzen zwischen den mimesis-Theorien von Platon und Aristoteles liefern Eusterschulte, Anne: Artikel „Mimesis“. HWRh. Bd. 5. Sp. 1232–1294, hier: Sp. 1238– 1242; Blumenberg, Hans: „Nachahmung der Natur“. Zur Vorgeschichte des schöpferischen Menschen. In: Studium generale. Zeitschrift für interdisziplinäre Studien 10 (1957) S. 266– 283, hier besonders: S. 266–267 u. 270–275. Die historische Entwicklung der mimesis-Lehre hat Jürgen H. Petersen kritisch aufgearbeitet (vgl. J. H. P.: Mimesis – Imitatio – Nachahmung. Eine Geschichte der europäischen Poetik. München 2000). Petersen zweifelt in seiner Untersuchung daran, ob der Begriff mimesis vor dem Hintergrund der Definition, die Aristoteles in der „Poetik“ gibt, überhaupt mit „Nachahmung“ übersetzt werden sollte. Bei Aristoteles sei mimesis schließlich eher „eine sprachliche Darstellung von Realem, Irrealem, Möglichem und Unmöglichem“ (ebd. S. 51–52), habe also mit Nachahmung der Natur wenig zu tun. Wenn Goethe seine Überlegungen an einem Zeichenschüler exemplifiziert und Nachahmung im Sinne der Abbildung von Natur problematisiert, greift er aber ein verbreitetes Verständnis von mimesis auf, das, selbst wenn es nur schwer an Aristoteles zurückzubinden sein mag, historisch wirkungsmächtig war. In den rhetorischen Schriften von Cicero und Quintilian, die in Goethes Besitz waren, wird die mimesis als Verfahren der Künstler thematisiert (vgl. etwa Cicero, Marcus Tullius: Orator. Lateinisch u. deutsch. Hrsg. v. Bernhard Kytzler. 3. Auflage. München u. Zürich 1988 [künftig zitiert als Cic. Orat. ] I, 2, 7–8; Quint. Inst. orat. VII, 10, 9), aber auch rednerisch fruchtbar gemacht. So verweist Quintilian auf die mimesis der Natur als Mittel, um Deutlichkeit und Anschaulichkeit des Ausdrucks zu erreichen (vgl. ebd. VIII, 3, 70–71), oder auf die „Nachahmung fremder Charakterzüge“, die ein wirkungsvolles Mittel der Rede sei (vgl. ebd. IX, 2, 58). Goethe: Künstlers Apotheose. MA 3, 1. S. 419. Ebd. S. 420. Ebd.
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Zum Ungemeinen aufzuschwingen: Die Kunst bleibt Kunst! Wer sie nicht durchgedacht, Der darf sich keinen Künstler nennen […].31
Die imitatio auctorum ist nach dieser Position keineswegs ein nutzloses Verfahren, sie ist dazu geeignet, die handwerklichen und technischen Fähigkeiten zu üben, wie es auch in der römischen Schulrhetorik beabsichtigt war. Der Rat des Liebhabers, sich an die Natur zu halten, ist ebenso wenig falsch. Allerdings muss der Künstler, und das ist die entscheidende Einsicht des Meisters, die Differenz von Kunst und Natur reflektieren, sich die Frage stellen, wie ein Künstler mit den Mitteln der Kunst Natur nachahmen kann. Goethe argumentiert mit dem Drama „Künstlers Apotheose“ dafür, sowohl die Nachahmung vorbildlicher Künstler als auch die Naturnachahmung mit Verstand zu betreiben. Er rehabilitiert das pädagogische Modell der antiken Rhetorik, weil es in seiner grundsätzlichen Anlage auch zur Ausbildung künstlerischer Fähigkeiten geeignet ist. Wie Cicero und Quintilian, die das ausführliche pädagogische Modell der Rhetorik entwickelt haben, betont er die Notwendigkeit von Reflexion und Überlegung, lehnt jedoch blindes Regelbefolgen ab. Die Konturen von Goethes revidierter Ästhetik kann man bereits in einem Brief an den Herzog vom Beginn des Jahres 1788 erkennen, in dem er übrigens auch die Freiheit, die er nach dem Weggang aus Weimar empfindet, offen als eine wichtige Voraussetzung der ästhetischen Neubestimmung anspricht: Als ich zuerst nach Rom kam, bemerckt ich bald daß ich von Kunst eigentlich gar nichts verstand und daß ich biß dahin nur den allgemeinen Abglanz der Natur in den Kunstwercken, bewundert und genossen hatte, hier that sich eine andre Natur, ein weiteres Feld der Kunst vor mir auf, ja ein Abgrund der Kunst, in den ich mit desto mehr Freude hineinschaute, als ich meinen Blick an die Abgründe der Natur gewöhnt hatte.32
Unter dem Eindruck Italiens relativiert Goethe seine bisherige Ästhetik, häufig zitiert man den Eintrag der „Italienischen Reise“ vom 29. Juli 1787: „Wie schäme ich mich alles Kunstgeschwätzes, in das ich ehmals einstimmte.“ 33 Goethes ästhetische Theorien bleiben zwar auf die Natur bezogen, aber es erscheint ihm nun unzureichend, dem Künstler die Schaffenskraft der Natur als Vorbild zu empfehlen, wie er das in der Geniephase getan hatte, vielmehr läuft die imitatio jetzt auf eine wesensmäßige Aneignung der Natur hinaus. Damit ist der Weg frei zu einer Neubestimmung des imitatio-Konzepts, das sowohl die imitatio auctorum als auch die imitatio naturae berücksichtigt, insgesamt gesehen den Akzent von der Rezeption der anthropologischen Traditionen der Rhetorik im Sturm und Drang auf die Aneignung der ars verschiebt, die für Goethe praktisch immer maßgebend blieb, aber in der ästhetischen Theorie wenig Beachtung fand. –––––––––––– 31 32 33
Ebd. S. 420–421. Goethe an Herzog Carl August. Brief vom 25. Januar 1788. WA IV, 8. S. 328. Goethe: Italienische Reise. 29. Juli 1787. MA 15. S. 453.
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Der Maler Anton Raphael Mengs, den Goethe in der „Italienischen Reise“ im Kontext der Neufassung des Dramas „Künstlers Apotheose“ nennt,34 gibt mit seinen „Gedanken über die Schönheit und über den Geschmack in der Malerey“, die Winckelmann gewidmet sind, den Weg vor, indem er über den Begriff der Nachahmung nachdenkt und ihn neu interpretiert, also das macht, wozu Goethe auch in „Künstlers Apotheose“ auffordert.35 Mengs merkt an: Die Kunst der Malerey heisset zwar eine Nachahmung der Natur, und scheinet durch das Wort ‚Nach‘ geringer an Vollkommenheit zu seyn als die Natur; dieses ist aber nur mit Bedingung wahr: Es gibt Sachen in der Natur, so die Kunst unmöglich nachahmen kann, und wo sie sehr schwach gegen die Natur erscheint, nämlich in Licht und Finsterniß: Hingegen hat sie einen Theil, so sehr mächtig ist, einen Theil, der die Natur weit übertrifft – dieser ist die Schönheit.36
Mengs hebt die Wichtigkeit des „Begriff[s]“37 hervor, mit dem die „Materie“ in Einklang stehen muss, und somit gerät eine naive mimesis-Ästhetik in die Kritik. Am Beispiel der Malerei ist schnell einzusehen, dass Nachahmung nicht heißen kann, die Natur zu kopieren, der Maler kann die Natur nicht, auch nicht in der realistischen Kunst, einfach nachmachen. Mengs ästhetische Theorie ist dem Rat des Meisters in „Künstler Apotheose“ ähnlich: Wenn dieser den Schüler ermahnt, „üb’ auch den Verstand“,38 ist dies ein Hinweis darauf, wie wichtig die gedankliche Auseinandersetzung für den Künstler ist, wenn seine Darstellung einen Gegenstand erfassen soll. Im Übergang zur Klassik interessiert Goethe sich also nicht mehr so sehr für die Seite des Künstlers, die Bedeutung seines Genies und seiner Erfindungskraft, sondern mehr für das Problem der Nachahmung, weil er hofft, die Kunst so auf eine sichere Basis stellen zu können. Die grundlegende Perspektive freilich ist apokryph von der Rhetorik bestimmt, indem sie die Bedeutung von Talent und Begabung behandelt, deren Ergänzung durch eine handwerklich-künstlerische Ausbildung verlangt und dabei den imitatio-Begriff in seinem Bedeutungsumfang auslotet. Noch in den „Wanderjahren“ wird Goethe gedanklich um die Themen angeborenes Talent, Kunstfertigkeit und Nachahmung kreisen, auch die Grundregeln der pädagogischen Provinz sind noch maßgeblich von rhetorischer –––––––––––– 34 35
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Vgl. ebd. 1. März 1788. MA 15. S. 619–620. Den Einfluss von Mengs auf Goethes römische Ästhetik untersucht van Selm, Jutta: Mengs, Moritz, Goethe. Aspects of a Roman Aesthetic Theory. In: Critchfield, Richard u. Wulf Koepke (Hrsg.): Eighteenth-Century German Authors and their Aesthetic Theories. Literature and the Other Arts. Columbia, SC 1988. S. 77–101. Van Selm betont das hohe Ansehen, das Mengs, der bereits vor der Ankunft Goethes gestorben war, bei der deutschen Gemeinschaft in Rom genoss. Mengs, Anton Raphael: Gedanken über die Schönheit und über den Geschmack in der Malerey. Zürich 1774. S. 32. Ebd. S. 38. Goethe: Künstlers Apotheose. MA 3, 1. S. 420.
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Pädagogik und rhetorischem Vokabular beeinflusst, obwohl sich in diesem Roman die Denkmuster der Rhetorik zu einer neuen Theorie formen, die die praktische Tätigkeit als vorbildliche Existenzweise propagiert. Daran, dass nicht nur Talent nötig ist, sondern es auch eine „Notwendigkeit sicherer Grundsätze“39 gibt, zweifelt jedoch auch in der pädagogischen Provinz niemand, in der also rhetorische Denkmuster fortleben.
4. 3.
„Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl“ als rhetorische Studie über das Problem der imitatio
4. 3. 1. Zur Definitionen von einfacher Nachahmung, Manier und Stil Der Aufsatz „Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl“ gilt als theoretisches Ergebnis der ästhetischen „Wiedergeburt“ Goethes in Italien. 40 Der Text, der sich um Kürze und Präzision im Ausdruck bemüht, 41 zugleich aber doch eher literarisch exemplarisch als logisch stringent argumentiert, erschien 1789 im Februarheft von Wielands „Merkur“ und gehört zu einer Reihe von Abhandlungen, die Goethe in vier aufeinander folgenden Ausgaben unter dem Titel „Auszüge aus einem Reise-Journal“ publizierte. Die Forschung hat diesen Aufsatz zumeist ohne Blick auf die antike Rhetorik interpretiert, vielmehr den Begriff ‚Nachahmung‘ im Kontext der Aristotelischen mimesis-Lehre eingeordnet, und die Begriffe ‚Manier‘ und ‚Stil‘ mit Hinweisen auf Winckelmann, Mengs oder Moritz zu verdeutlichen gesucht.42 Stil wird dabei „als höchstes äs–––––––––––– 39 40
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Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden. MA 17. S. 479. In diesem Sinne hat schon Wanda Kampmann Goethes Untersuchung verstanden. Vgl. W. K.: Goethes Kunsttheorie nach der italienischen Reise. In: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft 15 (1929) S. 203–217, hier: S. 203. Goethes Winckelmann-Lektüre ist stilbildend für den Aufsatz; brevitas und perspicuitas, denen die Texte Winckelmanns verpflichtet waren, finden sich hier wieder. Vgl. Wolf, Norbert Christian: Streitbare Ästhetik. Goethes kunst- und literaturtheoretische Schriften 1771– 1789. Tübingen 2001. S. 305–316. Auf den stilistischen Einfluss Winckelmanns hat zudem Ernst Osterkamp hingewiesen: vgl. E. O.: Goethe als Leser Winckelmanns. In: Flemming, Victoria von u. Sebastian Schütze (Hrsg.): Ars naturam adiuvans. Festschrift für Matthias Winner. Mainz 1996. S. 572–582, hier: S. 574. Für die textimmanente Perspektive ist beispielhaft Menzer, Paul: Goethes Ästhetik. Köln 1957. S. 69–71. Selbst neuere Arbeiten folgen häufig noch diesem Ansatz, vgl. z. B. Wohlleben, Joachim: Goethe als Journalist und Essayist. Frankfurt am Main u. Bern 1981. S. 90– 92. Den Einfluss Winckelmanns diskutiert etwa Niewöhner, Heinrich: Einfache Nachahmung der Natur, Manier und Stil. Grundbegriffe der Poetik und Ästhetik. Frankfurt am Main, Bern u. a. 1991. S. 113–120. Die Beziehung zu Mengs und Moritz hat insbesondere Jutta van Selm untersucht (vgl. J. v. S.: Mengs, Moritz, Goethe. Aspects of a Roman Aesthetic Theory. In: Critchfield, Richard u. Wulf Koepke (Hrsg.): Eighteenth-Century German
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thetisches Qualitätsprädikat“43 und somit als ein Terminus verstanden, den Goethe „neu installiert“, ohne dass noch eine Bezugnahme „auf das normative System der klassischen Rhetorik“ auszumachen sei.44 Goethe beginnt mit der Klärung der verwendeten Begriffe, da diese bisher „jeder […] meistens in einem eignen Sinne“45 gebraucht habe. Als Erstes erläutert und bewertet er den Terminus ‚einfache Nachahmung‘: Wenn ein Künstler, bei dem man das natürliche Talent voraussetzen muß, in der frühesten Zeit, nachdem er nur einigermaßen Auge und Hand an Mustern geübt, sich an die Gegenstände der Natur wendete, mit Treue und Fleiß ihre Gestalten, ihre Farben, auf das genaueste nachahmte, sich gewissenhaft niemals von ihr entfernte, jedes Gemälde das er zu fertigen hätte wieder in ihrer Gegenwart anfinge und vollendete; ein solcher würde immer ein schätzenswerter Künstler sein […].46
Schon in diesem ersten Satz der Begriffsklärung argumentiert Goethe – ähnlich wie in „Künstlers Apotheose“ – im Rahmen der rhetorischen Pädagogik: Ein Künstler muss wie ein Redner über „natürliche[s] Talent“ verfügen, also sich durch eine bestimmte natura auszeichnen. Weiterhin soll er zunächst durch imitatio auctorum handwerkliche Fähigkeiten entwickeln, also lernen, wie mit dem gewählten Medium technisch umzugehen ist, damit er sich schließlich an die mimesis, an die „einfache Nachahmung der Natur“, die malerische Wiedergabe des Gesehenen, wagen kann. Goethe spricht nicht ohne Grund wiederum vom Maler, denn die mimesis ist am Beispiel realistischer Malerei argumentativ weitaus einfacher zu vertreten als am Beispiel der Dichtung. Selbst in der Malerei gerät das Nachahmungskriterium ja schnell an eine Grenze, etwa bei großen oder bewegten Gegenständen, so dass Goethe Stillleben als Exempel für diese Form künstlerischer Produktion nennt.47 Schon diese erste Definition macht deutlich, dass Goethe keineswegs ein bloß typologisches Interesse zur Unterscheidung von einfacher Nachahmung, ––––––––––––
43
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Authors and their Aesthetic Theories. Literature and the Other Arts. Columbia, SC 1988. S. 77–101), die Bedeutung der ästhetischen Theorie von Moritz für Goethes Aufsatz hat Hans Pyritz thematisiert, der aber mehr allgemeine Berührungspunkte aufzeigt, als dass er konkrete Thesen zum Einfluss Moritzens auf die Argumentation Goethes entwickelt (vgl. H. P.: Goethes römische Ästhetik. In: Ders.: Goethe Studien. Hrsg. v. Ilse Pyritz. Köln u. Graz 1962. S. 17–33). Erik Forssman hingegen hat in seinem Kommentar zum Text vor allem die Auswirkungen von Goethes Theorie für die Kunst des 19. Jahrhunderts behandelt (vgl. E. F.: Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil. Goethes kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Freiburg im Breisgau 2005). Kestenholz, Claudia: Emphase des Stils. Begriffsgeschichtliche Erläuterungen zu Goethes Aufsatz über „Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil“. In: Comparatio. Revue Internationale de Littérature Comparée 2/3 (1991) S. 36–56, hier: S. 38. Ebd. S. 37. Goethe: Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl. MA 3, 2. S. 186. Ebd. S. 187. Vgl. ebd.
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Manier und Stil bewegt, vielmehr nimmt er wiederum das Thema künstlerische Ausbildung auf; er beschreibt eine ontogenetische Entwicklung von der imitatio auctorum zur imitatio naturae, die über die Nachahmung von exempla zur eigenständigen Produktion führt.48 Die imitatio auctorum hat dabei zunächst wie in der Darstellung in „Künstlers Apotheose“ den Status einer Fingerübung, die technische Fähigkeiten vermitteln und das iudicium stärken soll. Winckelmann erschien ja vor allem die imitatio auctorum, die mit Urteilsvermögen einhergeht, als eine Möglichkeit, Zugang zur Idee des Schönen zu erhalten, wie sie in den vorbildlichen Werken der Antike fassbar sei. Die Nachahmung der Natur ist im Vergleich „ein längerer und mühsamerer Weg zur Kenntnis des vollkommen Schönen“.49 Zwar macht Winckelmann die geistlose Nachahmung für den Niedergang der griechischen Kultur verantwortlich, denn diese „schränket den Geist ein“,50 indem sie das aemulatio-Gebot missachtet. Jedoch gilt zugleich, dass „[d]er einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, […] die Nachahmung der Alten“51 ist. Die Vorstellung, ein Künstler könne durch Nachahmung unnachahmlich werden, scheint paradox, deutet aber darauf, dass Nachahmung letztlich auf die Aneignung der Idee des Schönen zielt. Für Goethe bedeutet dies freilich, dass die Nachahmung der Natur als konsequenter Entwicklungsschritt nach der imitatio auctorum folgen muss, weil sich –––––––––––– 48
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Auf diesen Entwicklungsaspekt hat etwa Heinrich Niewöhner hingewiesen: „Goethes Gliederung begreift die ‚Entwicklung‘ von der ‚einfachen Nachahmung‘ zum ‚Stil‘ genetisch; sie ist seine notwendige ‚Voraussetzung‘. Obwohl die Gliederung typologisch angelegt ist, erfordert sie doch die Möglichkeit, daß der Typus der ‚frühsten Zeit‘ metamorphierend in den späteren sich bilden kann.“ (H. N.: Einfache Nachahmung der Natur, Manier und Stil. Grundbegriffe der Poetik und Ästhetik. Frankfurt am Main, Bern u. a. 1991. S. 114). Niewöhner nimmt sowohl eine gattungsgeschichtliche als auch eine individualgeschichtliche Entwicklung von der einfachen Nachahmung zum Stil an. Gerade in Bezug auf eine gattungsgeschichtliche Entwicklung ist die These aber schwierig, denn sie behauptet ja eine kontinuierliche Entwicklung künstlerischer Produktion. Dieses Problem diskutiert auch Norbert Christian Wolf, der die historische Interpretation ebenfalls zurückweist. Vgl. N. C. W.: Streitbare Ästhetik. Goethes kunst- und literaturtheoretische Schriften 1771–1789. Tübingen 2001. S. 329–331. Die These, dass Goethe eine individuelle Entwicklung darstellt, hat auch Herbert von Einem vertreten. Vgl. H. v. E.: Goethe und die bildende Kunst. In: Goethe-Studien. München 1972. S. 89–131, hier: S. 83. Winckelmann, Johann Joachim: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst [1756]. Baden Baden u. Strasbourg 1962. S. 13. Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums [1764]. In: Ders.: Schriften und Nachlaß. Bd. 4, 1. Mainz 2002. S. 462. Winckelmann erläutert den Zusammenhang mit Hinweis auf Quintilian (ebd. S. 464), der am Beispiel der Bildhauerkunst darlegt, dass Nachahmung, die nur auf den Schmuck zielt, wenig Wert besitzt. Allerdings ist das Beispiel bei Quintilian auf den Unterricht zugeschnitten und soll verdeutlichen, dass es wichtiger ist, dass der Lehrer in der Lage ist, das Wesentliche zu vermitteln als ornamentale Fähigkeiten zu lehren (vgl. Quint. Inst. orat. II, 3, 6). Winckelmann, Johann Joachim: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst [1756]. Baden Baden u. Strasbourg 1962. S. 3.
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erst so eine Annäherung an die Idee des Schönen erreichen lässt; eine Vorstellung, die weit weniger normativ ausfällt als Winckelmanns Festhalten am Vorbild Antike.52 Die Manier, das zweite Thema der Abhandlung, als eine weitere „Art der Nachahmung“53 entwickelt sich, wenn sich der Künstler von der Natur entfernt. Der Künstler, der in einer bestimmten Manier arbeitet, sieht eine Übereinstimmung vieler Gegenstände, die er nur in ein Bild bringen kann indem er das Einzelne aufopfert; es verdrießt ihn, der Natur ihre Buchstaben im Zeichnen nur gleichsam nachzubuchstabieren; er erfindet sich selbst eine Weise, macht sich selbst eine Sprache, um das, was er mit der Seele ergriffen, wieder nach seiner Art auszudrücken, einem Gegenstande den er öfters wiederholt hat eine eigne bezeichnende Form zu geben, ohne, wenn er ihn wiederholt, die Natur selbst vor sich zu haben, noch auch sich geradezu ihrer ganz lebhaft zu erinnern.54
Diese Form von Nachahmung ist mühsamer in eine rhetorisch-poetische Traditionslinie zu bringen als das Konzept der einfachen Nachahmung der Natur. Doch lässt sich Goethes Manier-Begriff an die Individualstil-Diskussion, die sich schon in der Antike findet, zurückbinden, nach der unterschiedliche Dichter, aber auch Redner einen Gegenstand in unterschiedlicher Art und Weise behandeln.55 Zur Bezeichnung individueller Ausdrucksformen war der Begriff ‚Manier‘ seit dem 14. Jahrhundert gebräuchlich und zunehmend in Konkurrenz zum –––––––––––– 52
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Vgl. Osterkamp, Ernst: Goethe als Leser Winckelmanns. In: Flemming, Victoria von u. Sebastian Schütze (Hrsg.): Ars naturam adiuvans. Festschrift für Matthias Winner. Mainz 1996. S. 572–582, hier: S. 574. Osterkamp kontrastiert die stilistische Bedeutung Winckelmanns für Goethe mit der inhaltlichen Distanzierung zu dessen normativer Schönheitslehre und historischer Kunstbetrachtung, denn Goethes Schönheitsideal orientiert sich eher an der Natur als an einem historischen Idealbild, wie es Winckelmann in der Antike realisiert sah. Damit distanziere Goethe sich auch vom historischen Ansatz bei der Kunstbetrachtung, den Winckelmann vorgibt (vgl. ebd. S. 579). Goethe: Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl. MA 3, 2. S. 188. Ebd. S. 187–188. Dieser Gedanke deutet sich in Ciceros „De oratore“ an, als Crassus probeweise die These vertritt, „quout oratores, totidem […] genera dicendi“ (Cic. De orat. III, 9, 34). Fuhrmann hat dieser Bemerkung „einen Ehrenplatz in der Vorgeschichte des modernen Stilbegriffs“ zugewiesen (Fuhrmann, Manfred: Die antike Rhetorik. 3. Auflage. München u. Zürich 1990. S. 59). Darüber hinaus liefert Quintilian im ersten Kapitel des zehnten Buches der „Institutio oratoria“ mit seiner Darstellung einer antiken Literaturgeschichte Ansätze zu einer Diskussion von Stil im Sinne individueller Unterschiede in Sprache und Darstellungsart (vgl. Quint. Inst. orat. X, 1). Diese Ausführungen haben auch den literaturgeschichtlichen Überblick im siebten Buch von „Dichtung und Wahrheit“ beeinflusst (vgl. Goethe: Dichtung und Wahrheit. MA 16. S. 282–331), und Goethe hat ihren vorbildlichen Charakter in „Winkelmann und sein Jahrhundert“ erwähnt (vgl. Goethe: Winkelmann und sein Jahrhundert. MA 6, 2. S. 364). Eine ausführliche Stationengeschichte der Vorstellung, Stil sei Ausdruck von Individualität findet sich bei Müller, Wolfgang G.: Topik des Stilbegriffs. Zur Geschichte des Selbstverständnisses von der Antike bis zur Gegenwart. Darmstadt 1981.
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Begriff ‚stilus‘ getreten.56 Goethes Definition von Manier wirkt zunächst wertungsfrei, denn nach Auskunft des Autors sind etwa Landschaften anders als mit Hilfe einer Manier kaum adäquat abzubilden, doch klingt auch die Gefahr an, sich durch die subjektive Perspektive zu sehr von der Natur zu entfernen. Diese Gefahr verleiht der Manier einen negativen Charakter, der im 18. Jahrhundert häufig mit dem Begriff assoziiert wird, so heißt es etwa bei Anton Raphael Mengs: „Dem guten Geschmack ist die Manierung zuwider.“57 Statt individueller Nuance fordert Mengs begriffliche Durchdringung und Wahrhaftigkeit des Dargestellten, die „alles wesentliche jeder Sache“58 erfassen muss, worin dann ein Zeichen guten Geschmacks liege. Diese Idee einer subjektiven Durchdringung des Darstellungsgegenstandes, die auch schon in „Künstlers Apotheose“ auszumachen ist, führt unmittelbar zu Goethes Definition des Begriffs ‚Stil‘. Eine Produktion, in der die Manier nicht den Aspekt der Nachahmung vernachlässigt, ist das höchste, was der Künstler erreichen kann, nämlich Zeichen von „Styl“:59 –––––––––––– 56
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Die Geschichte des Begriffs ‚Manier‘ hat Claudia Kestenholz prägnant nachgezeichnet (vgl. C. K.: Emphase des Stils. Begriffsgeschichtliche Erläuterungen zu Goethes Aufsatz über „Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil“. In: Comparatio. Revue Internationale de Littérature Comparée 2/3 (1991) S. 36–56, hier: S. 49–51, Fußnote 30). Der Begriff wird zur Zeit Goethes sowohl im „neutral-beschreibenden“ als auch im „normativ-abwertenden“ Sinn verwendet (ebd. S. 49). Ursprünglich bezeichnete er eine spezifische Verfahrensweise eines Meisters, so im „Libro del Arte“ von Cennino Cennini, der im frühen 14. Jahrhundert den Begriff prägt (C. C.: Das Buch von der Kunst oder Tractat der Malerei. Übers. von Albert Ilg. Wien 1871. S. 17). Ab dem 17. Jahrhundert bezeichnet der Begriff dann aber auch pejorativ unnatürlich gekünstelte Formen der Darstellung (vgl. Link-Heer, Ursula: Maniera. Überlegungen zur Konkurrenz von Manier und Stil (Vasari, Diderot, Goethe). In: Gumbrecht, Hans Ulrich u. K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Frankfurt am Main 1986. S. 93–114, hier: S. 94–95), so etwa bei Johann Georg Sulzer (J. G. S.: Artikel „Manier“. In: Allgemeine Theorie der schönen Künste. 3. Theil. 2. vermehrte Auflage. Leipzig 1793. S. 357–360, hier: S. 357–358.). Goethe selbst benutzt den Begriff schon früh, wenn er über individuelle Stilunterschiede spricht (vgl. z. B. Goethe an Friedrich Heinrich Jacobi. Brief vom 21. August 1774. WA IV, 2. S. 186–187). Mengs, Anton Raphael: Gedanken über die Schönheit und über den Geschmack in der Malerey. Zürich 1774. S. 50. Ebd. S. 51. Ursprünglich ist stilus die Bezeichnung für den antiken Schreibgriffel, das Wort wurde dann metonymisch verwendet, um die spezifische Schreibart von Autoren zu kennzeichnen (vgl. Castle, Eduard: Zur Entwicklungsgeschichte des Wortbegriffes Stil. In: GermanischRomanische Monatshefte 6 (1914) S. 153–160, hier: S. 153). Vor dem Hintergrund der Asianismus-Attizismus-Diskussion werden in der Schulrhetorik Stilebenen unterschieden, während die Lehre von den genera dicendi Stilarten behandelt, die wiederum in unterschiedlichen Stilebenen realisiert werden können (vgl. Ueding, Steinbrink. S. 231–234). Noch im 18. Jahrhundert wird Stil häufig als Individualstil verstanden, so etwa in Sulzers „Allgemeine Theorie der Schönen Künste“: „Das besondere Gepräge, das dem Werk von dem Charakter und der, allenfalls vorübergehenden Gemüthsfassung des Künstlers eingedrückt worden, scheinet das zu seyn, was man zur Schreibart, oder zum Stil rechnet.“ (Sul-
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Gelangt die Kunst durch Nachahmung der Natur, durch Bemühung sich eine allgemeine Sprache zu machen, durch genaues und tiefes Studium der Gegenstände selbst, endlich dahin, daß sie die Eigenschaften der Dinge und die Art wie sie bestehen genau und immer genauer kennen lernt, daß sie die Reihe der Gestalten übersieht und die verschiedenen charakteristischen Formen neben einander zu stellen und nachzuahmen weiß: dann wird der Styl der höchste Grad wohin sie gelangen kann […].60
Styl ruht auf „den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis“,61 zielt auf das „Wesen der Dinge“,62 ist, wie Wanda Kampmann formuliert, „nicht eine Möglichkeit des Schaffens neben anderen, sondern er ist der Gipfel, der die beiden Stufen der Nachahmung und Manier umfaßt“.63 In Goethes Stil-Konzept sind die einfache Nachahmung der Natur und die manieristische Darstellung enthalten, daher schreibt Goethe: „diese drei hier von einander geteilten Arten, Kunstwerke hervorzubringen, [sind] genau mit einander verwandt“.64 Dabei wird im Fall der einfachen Nachahmung die Natur selbst nachgeahmt, im Fall der Manier ein in der Person des Künstlers erkanntes Abbild der Natur und im Fall des Stils eine vom Künstler erkannte Wahrheit oder, anders, nämlich platonisch, gesprochen, die Idee der Natur. Die einfache Nachahmung bewegt sich nach Goethe „im Vorhofe des Styls“,65 denn sie ist eine Möglichkeit, sich mit der Natur auseinanderzusetzen, und gelungene einfache Nachahmung erreicht zumindest partiell Einsicht in die Wahrheit der Natur. Der kurze Bericht „Frauenrollen auf dem römischen Theater durch Männer gespielt“, der ebenfalls zu den „Auszügen aus einem Reise-Journal“ zählt, kann das Verhältnis von einfacher Nachahmung und Nachahmung im Rang von Stil beispielhaft veranschaulichen. Stil ist auch in der Schauspielkunst nur durch gedankliche Auseinandersetzung zu erreichen, um diese aber kommt gerade der männliche Schauspieler, der eine Frau darstellt, nicht herum. Er muss die Bewe––––––––––––
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zer, Johann Georg.: Artikel „Schreibart; Styl“. In: Allgemeine Theorie der schönen Künste. Vierter Theil. 2. vermehrte Auflage. Leipzig 1794 (Nachdruck Hildesheim 1967). S. 328– 343, hier: S. 329). Von Winckelmann geht im deutschen Sprachraum dann die Verwendung des Begriffs zur Kennzeichnung des Epochenstils aus (vgl. Kreuzer, Ingrid: Studien zu Winckelmanns Ästhetik. Normativität und historisches Bewußtsein. Berlin 1959. S. 26–29). In diesem Sinn vertritt Goethe den Begriff in der „Italienischen Reise“, wenn es dort beispielsweise heißt: „Durch Winkelmann sind wir dringend aufgeregt die Epochen zu sondern, den verschiedenen Styl zu erkennen dessen sich die Völker bedienten […].“ (Goethe: Italienische Reise. 28. Januar 1787. MA 15. S. 200). Ähnlich äußert er sich in einem Brief an Herder, in dem er von den „Style[n] der Völcker“ schreibt (Goethe an Johann Gottfried Herder. Brief vom 25.–27. Januar 1787. WA IV, 8. S. 153). Goethe: Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl. MA 3, 2. S. 188. Ebd. Ebd. Kampmann, Wanda: Goethes Kunsttheorie nach der italienischen Reise. In: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft 15 (1929) S. 203–217, hier: S. 206. Goethe: Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl. MA 3, 2. S. 189. Ebd. S. 190.
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gungen und Verhaltensweisen einer Frau erst studieren, bevor er auf die Bühne treten kann, und erreicht auf diese Weise leichter das Niveau von Stil, denn er spielt nicht sich selbst, sondern eine dritte und eigentlich fremde Natur. Wir lernen diese dadurch nur desto besser kennen, weil sie jemand beobachtet, jemand überdacht hat, und uns nicht die Sache, sondern das Resultat der Sache vorgestellt wird.66
Von dieser Auseinandersetzung mit der Rolle profitiert die Kunst, die über eine einfache Nachahmung hinauswächst und so ein besonderes ästhetisches Vergnügen bereitet. Da sich nun alle Kunst hierdurch vorzüglich von der einfachen Nachahmung unterscheidet: so ist natürlich, daß wir bei einer solchen Vorstellung eine eigne Art von Vergnügen empfinden, und manche Unvollkommenheit in der Ausführung des Ganzen übersehen. 67
Auch im Übergang zur Klassik hält Goethe daran fest, dass man einem Kunstwerk die Mühe nicht anmerken darf, die es hervorgebracht hat. Wenn man aber ein Kunstwerk als Kunstwerk erkennt, dann geht daraus ein besonderes ästhetisches Vergnügen hervor.
4. 3. 2. „Neuinstallation“ des Stil-Begriffs? Goethes Stil-Konzept sprengt scheinbar die Tradition der Rhetorik, denn mit Nachahmung im Sinne der imitatio auctorum oder imitatio naturae hat es nicht mehr viel gemein – diese sind nur noch Vorstufen in der Entwicklung eines Künstlers. Jürgen H. Petersen hat in seiner Analyse der Abhandlung Goethes daher vorgeschlagen, im Falle von Manier und Stil eher von „Nachbildung“ als von „Nachahmung“ zu sprechen. Schließlich lege Goethe dar, wie ein Künstler ein Objekt gemäß seiner Empfindungen (Manier) oder gemäß des Wesens (Stil) nachbilde, nicht wie er die Oberfläche des gesehenen Gegenstandes (imitatio naturae) oder die Verfahrensweise eines vorbildlichen Künstlers zeichnerisch nachahme (imitatio auctorum).68 Zudem ist der Begriff ‚Stil‘, so wie Goethe ihn verwendet, nicht mit dem rhetorischen Stilverständnis zur Deckung zu bringen, das unterschiedliche Stilebenen (genus humile, genus medium, genus grande) und Stilarten (Attizismus, Asianismus, Rhodismus) unterscheidet. Goethe hat den Begriff, so gesehen, wie Kestenholz behauptet, „neu installiert“.69 Allenfalls –––––––––––– 66 67 68 69
Goethe: Frauenrollen auf dem römischen Theater von Männern gespielt. MA 3, 2. S. 174. Ebd. Vgl. Petersen, Jürgen H.: Mimesis – Imitatio – Nachahmung. Eine Geschichte der europäischen Poetik. München 2000. S. 200–202. Kestenholz, Claudia: Emphase des Stils. Begriffsgeschichtliche Erläuterungen zu Goethes Aufsatz über „Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil“. In: Comparatio. Revue Internationale de Littérature Comparée 2/3 (1991) S. 36–56, hier: S. 37.
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dadurch, dass der Künstler die einfache Nachahmung der Natur erlernt, indem er auf der Basis seines Talents die imitatio auctorum und imitatio naturae übt, sei noch eine Verbindung zum rhetorischen Ausbildungsprozess zu diagnostizieren. Dazu passt, dass etwa Norbert Christian Wolf im Vorfeld seiner materialreichen Untersuchung des Aufsatzes „Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl“ argumentiert, Goethe distanziere sich mit seiner Sprachtheorie von der „instrumentellen Sprachauffassung der Rhetorik“,70 welche Wolf am Beispiel Adelungs erläutert, der erklärt: Die Angemessenheit des Styles besteht folglich in der genauesten Uebereinstimmung der Ausdrücke, so wohl mit der allgemeinen Absicht der Sprache, als auch mit den jedesmahligen besondern Absichten des Sprechenden oder Schreibenden. 71
Wolf nutzt diese Aussage, um den Hiat zwischen der rhetorischen Auffassung Adelungs und einer dezidiert arhetorischen Konzeption Goethes festzumachen. Adelung führe durch die Rede von „jedesmahligen besondern Absichten“ eine „subjektive Kategorie“ ein, „deren Relevanz Goethes objektbezogener Stilbegriff offensichtlich hintanstellt“.72 Allerdings sollte man Adelungs Überlegungen nicht vorschnell mit der Rhetorik identifizieren. Bei einigen klassischen rhetorischen Autoren der Antike sind nämlich Anknüpfungspunkte für Goethes objektbezogenen Stilbegriff, d. h. seine objektbezogene Nachahmungstheorie, zu finden, die über ein bloß instrumentelles Verständnis hinausgehen. Goethes Definition von „Nachahmung“ als „Nachbildung“ einer abstrakten objektbezogenen Idee deckt sich etwa mit Ciceros Erklärung künstlerischer mimesis. Diese geht keineswegs in der naiven Konzeption von mimesis als Nachahmung der Natur auf. Im „Orator“ erläutert er, der Künstler ahme nicht die Natur nach, sondern ein durch Überlegung erkanntes objektives Prinzip, eine „Idee der Schönheit“:73 nihil esse in ullo genere tam pulchrum, quo non pulchrius id sit, unde illud […] exprimatur. quod neque oculis neque auribus neque ullo sensu percipi potest; cogitatione tantum et mente complectimur. itaque et Phidiae simulacris, quibus nihil in illo genere perfectius videmus, […] cogitare tamen possumus pulchriora. nec vero ille artifex, cum faceret Iovis formam aut Minervae, contemplabatur aliquem, e quo similitudinem duceret, sed ipsius in
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Wolf, Norbert Christian: Streitbare Ästhetik. Goethes kunst- und literaturtheoretische Schriften 1771–1789. Tübingen 2001. S. 288. Adelung, Johann Christoph: Über den deutschen Styl. 1. Theil. Berlin 1785. S. 166. Wolf, Norbert Christian: Streitbare Ästhetik. Goethes kunst- und literaturtheoretische Schriften 1771–1789. Tübingen 2001. S. 287. Diese Überlegungen Ciceros zeigen, dass Nachahmung in der Tradition der Rhetorik in durchaus umfassender Weise konzeptualisiert wird. Eine „gewichtige Differenz zwischen Rhetorik und [aristotelischer] Nachahmungstheorie“, die Andreas Härter durch die Abgrenzung von rhetorischem Publikumsbezug und aristotelischem Objektbezug ausmacht, lässt sich Cicero jedenfalls nicht ohne weiteres unterstellen (vgl. A. H.: Digressionen. Quintilian – Opitz – Gottsched – Friedrich Schlegel. München 2000. S. 106).
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mente insidebat species pulchritudinis eximia quaedam, quam intuens in eaque defixus ad illius similitudinem artem et manum dirigebat. (Nichts ist auf irgendeine Art so schön, daß nicht jenes schöner wäre, wovon es […] der Abdruck ist; was weder mit den Augen noch mit den Ohren noch mit irgendeinem Sinn wahrgenommen werden kann, was wir nur durch Überlegung und im Geiste erfassen. So die Werke des Phidias [….]: wir sehen nichts in ihrer Art Vollkommeneres – aber denken können wir uns noch Schöneres. Auch hat jener Künstler, als er seinen Zeus oder seine Athena bildete, nicht irgendetwas betrachtet, aus dem er dann die Ähnlichkeit ableitete; ihm schwebte vielmehr im Geiste eine Idee der Schönheit vor, die er untersuchte und nach deren Vorbild er seine Kunst und Hand richtete.)74
Die „Idee der Schönheit“, die der Künstler „im Geiste“ erfassen muss, ist nach Ciceros Vorstellung das eigentliche Objekt der Nachahmung. Auch wenn Goethe in einem Paralipomenon zu „Dichtung und Wahrheit“ notiert hat: „Ernesti liest über Cicero’s Büchlein orator. Sprache und Auslegungsbehandlung, die mich in meinen Zwecken nicht fördert“75, war die Cicero-Lektüre zu Leipziger Studienzeiten für Goethe vielleicht doch hilfreich, um die Arbeitsweise des Künstlers zu verstehen, denn mit Hilfe von Cicero lässt sich die zu enge Konzeptualisierung von Nachahmung als bloß oberflächliche Abbildung der Natur überwinden und die Verklärung individueller Wahrnehmung zum sicheren Bezugspunkt künstlerischen Ausdrucks, wie sie typisch für den Sturm und Drang ist, vermeiden. Ernesto Grassi hat Ciceros mimesis-Konzept in einen platonischen Zusammenhang gerückt, „die Form der Dinge (forma), welche Platon ‚Idee‘ nannte“76, –––––––––––– 74
75 76
Cic. Orat. II, 8–9 (eigene Übersetzung, O. K). In seiner Jugendschrift „De inventione“ problematisiert Cicero das Konzept einer imitatio, die ihren Wert aus der Einsicht in die Idee eines Gegenstandes bezieht, durch die Episode von Zeuxis und den fünf Jungfrauen (vgl. Cicero, Marcus Tullius: De inventione – Über die Auffindung des Stoffes. De optimo genere oratorum – Über die beste Gattung von Rednern. Lateinisch u. deutsch. Hrsg. u. übersetzt v. Theodor Nüßlein. Düsseldorf u. Zürich 1998. II, 1, 1–3). Vgl. zum ästhetischen Potential von Ciceros Nachahmungsbegriff Aurenhammer, Hans H.: Multa aedium exempla variarum imaginum atque operum. Das Problem der imitatio in der italienischen Architektur des frühen 16. Jahrhunderts. In: Kühlmann, Wilhelm u. Wolfgang Neuber (Hrsg.): Intertextualität in der frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven. Frankfurt am Main 1994. S. 533–605, hier: S. 542–549. Im 18. Jahrhundert argumentiert Batteux für eine ideengeleitete imitatio (vgl. Ramler, K[arl] W[ilhelm]: Einleitung in die schönen Wissenschaften nach dem Französischen des Herrn Batteux mit Zusätzen vermehret. Bd. 1. Leipzig 1756. S. 25–26). Im Sturm und Drang hielt Goethe diese Position noch für problematisch: „Wenn je Gedichte nicht unter Batteux Grundsaz gegangen sind, so sind’s diese, nicht ein Strich Nachahmung, alles Natur.“ (Goethe an Ernst Theodor Langer. Brief von Mitte Oktober 1769 (?). WA IV, 51. S. 37). Goethe: Paralipomenon zu „Dichtung und Wahrheit“. WA I, 27. S. 386. Grassi, Ernesto: Die Theorie des Schönen in der Antike. Köln 1962. S. 159. Zum Einfluss Platons auf Cicero vgl. vor allem die Untersuchungen von Heinrich Dörrie (H. D.: Le renouveau du platonisme à l’époque de Cicéron. In: Revue de Théologie et de Philosophie 24 (1974) S. 13–29), außerdem die Arbeit von Long, Anthony A.: Cicero’s Plato and Aristotle. In: Powell, Jonathan G. F. (Hrsg.): Cicero the Philosopher. Oxford 1995. S. 37–67.
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ist nach seinem Verständnis für Cicero das Objekt der mimesis. Dazu passt, dass Goethe nach Ernst H. Gombrich Stil als „die höchste Leistung der Kunst im Sinne der Aristotelisch-neuplatonischen Theorie“77 definiert. Diesem Vorschlag kann man insofern folgen, als Plotin und die Neuplatoniker ähnlich wie Goethe die sinnliche Wahrnehmung der Idee des Schönen für möglich halten.78 Daher hat man Goethe nicht erst seit Cassirers Abhandlung „Platon und Goethe“ immer wieder mit neuplatonischen Positionen in Verbindung gebracht, aber mehr als „Ähnlichkeiten“79 sind wohl kaum auszumachen. Die Komplexität der Seelenund Ideenlehre Platons und Plotins, die sich bei Cicero zumindest noch andeutet, ist bei Goethe nicht zu finden.80 Objektives Kriterium für Stil ist bei ihm die Darstellung des naturgemäßen Wesens der Dinge, die auf genauer Beobachtung beruht, den metaphysischen Hintergrund der platonischen Lehre nimmt dieser Gedanke nicht auf. Philosophisch mag das bedenklich sein, aber Goethe führt eine eher literarische Argumentation und hält den Verweis auf die Natur für einen hinreichenden nichtmetaphysischen Referenzpunkt für gelingende, d. h. das Wesen der dargestellten Sache erfassende Nachahmung.81 Quintilian hat, nebenbei bemerkt, selbst die imitatio auctorum keineswegs nur als ein elokutionäres Problem verstanden: Die Lektüre vorbildlicher Autoren bedeute vielmehr, diese zu assimilieren: repetamus autem et tractemus et, ut cibos mansos ac prope liquefactos demittimus, quo facilius digerantur, ita lectio non cruda, sed multa iteratione mollita et velut confecta memoriae imitationique tradatur.
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Gombrich, Ernst H.: A Primitive Simplicity. „Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl“ in englischer Sicht. In: Beutler, Christian, Peter-Klaus Schuster u. a. (Hrsg.): Kunst um 1800 und die Folgen. Werner Hofmann zu Ehren. München 1988. S. 95–97, hier: S. 95. Vgl. Cassirer, Ernst: Goethe und Platon. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe. Hrsg. v. Birgit Recki. Bd. 18. Darmstadt 2004. S. 410–434. Naumann-Beyer, Waltraud: Artikel „Platonismus“. In: Goethe-Handbuch. Bd. 4, 2. S. 855– 857, hier: S. 855. Erwin Panofsky hat darauf hingewiesen, dass sich die Bildung der Kunsttheorie jenseits der platonischen Ideenlehre vollzieht, da das platonische Konzept für die Fragen der Kunsttheorie viel zu komplex sei (vgl. E. P.: Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie. 5. Auflage. Berlin 1985. S. 29–30). Trotzdem bleibt Platon ein Bezugspunkt von Goethes Stiltheorie. Norbert Christian Wolf überschätzt jedenfalls die Konsequenz des Neuansatzes, wenn er behauptet: „Goethe […] verabschiedet nun die gedanklich längst ausgehölte [sic!] neuplatonische Idea-Konzeption auch terminologisch, indem er den Begriff der ‚Idee‘ sowie den des ‚Ideals‘ durch seinen qualitativ neuen Stil-Begriff ersetzt.“ (vgl. N. C. W.: Streitbare Ästhetik. Goethes kunst- und literaturtheoretische Schriften 1771–1789. Tübingen 2001. S. 407). Übrigens hat Goethe über die schulische Ausbildung hinaus erst recht spät Texte Platons in größerem Umfang gelesen, so schreibt er am 1. Februar 1793 an Friedrich Heinrich Jacobi: „Seit einigen Tagen habe ich gleichsam zum erstenmal im Plato gelesen und zwar das Gastmal, Phädrus und die Apologie“ (Goethe an Friedrich Heinrich Jacobi. Brief vom 1. Februar 1793. WA IV, 10. S. 47). Goethes Stil-Begriff ist daher schlüssiger durch Verweis auf Cicero zu erklären.
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(Zurückgreifen aber wollen wir und grundsätzlich es immer wieder neu vornehmen, und wie wir die Speisen zerkaut und fast flüssig hinunterschlucken, damit sie leichter verdaut werden, so soll unsere Lektüre nicht roh, sondern durch vieles Wiederholen mürbe und gleichsam zerkleinert unserem Gedächtnis und Vorrat an Mustern [zur Nachahmung] einverleibt werden.)82
Schon die imitatio auctorum ist somit potentiell in einem Goetheschen Sinne stilfähig, und so ist auch Tassos hinwendungsvolle Vertiefung in vorbildliche Autoren zu deuten. Wenn Goethe Stil als Form von Nachahmung versteht, dann ist zwar durch die Beispiele, die er selbst gibt, zunächst die imitatio naturae als Konzept im Hintergrund zu denken, aber die Verlagerung des Referenzpunktes der Nachahmung vom Gegenstand selbst hin zur Einsicht des Künstlers in das Wesen des Darzustellenden löst am Ende die Opposition von imitatio auctorum und imitatio naturae auf: Genauso gut wie die Natur können andere Kunstwerke zum Objekt der Aneignung und Nachahmung werden. Goethe ist diesem Prinzip auch selbst gefolgt, denn „Iphigenie auf Tauris“ etwa realisiert Stil ebenso durch mimesis der Natur, also durch die Darstellung von Empfindungen und Gefühlen der Figuren, als durch die Nachbildung der Sprache antiker Autoren, ist überhaupt ein Projekt der imitatio und aemulatio antiker Vorbilder. Wenn man die imitatio auctorum als die Nachbildung von begrifflich erfassten Vorbildern versteht, dann ergibt sich eine überraschende Pointe, die Dockhorn formuliert hat: Beim näheren Betrachten ist bei Quintilian die ganze Lehre von der „imitatio“ eine Lehre von der Originalität; was am Vorbild nachgeahmt werden soll, ist seine Originalität.83
Vorbildliche Werke sind vorbildlich, weil sie das Wesen der dargestellten Sache treffen, und das macht die originäre Leistung eines Autors aus. Nachahmung, die gelingen soll, muss diese Leistung nachvollziehen, was nur durch eine wiederum originäre Einsicht in das Wesen des Darzustellenden möglich ist. Ein weiterer Beleg, ebenfalls aus dem zehnten Buch der „Institutio oratoria“, das Goethe den Notaten in den „Ephemerides“ nach besonders intensiv gelesen hat, verdeutlicht nachdrücklich, wie wichtig diese originäre Autorleistung ist: imitatio per se ipsa non sufficit, vel quia pigri est ingenii contentum esse iis, quae sint ab aliis inventa. quid enim futurum erat temporibus illis quae sine exemplo fuerunt, si homines nihil, nisi quod iam cognovissent, faciendum sibi aut cogitandum putassent? (Nachahmung als solche genügt nicht – schon weil es einen trägen Geist verrät, sich mit dem zufrieden zu geben, was andere gefunden haben. Denn was hätte denn in jenen Zeiten geschehen sollten, die noch kein Vorbild hatten, wenn die Menschen gemeint hätten, nur was ihnen schon bekannt sei, dürften sie tun oder denken?)84
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Quint. Inst. orat. X, 1, 19. Dockhorn, Klaus: Epoche, Fuge und „Imitatio“. Rhetorische Komponenten des Historismus. In: Ders.: Macht und Wirkung der Rhetorik. Vier Aufsätze zur Ideengeschichte der Vormoderne. Bad Homburg v. d. H., Berlin u. a. 1968. S. 105–128, hier: S. 117. Quint. Inst. orat. X, 2,4.
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Nachahmung als solche, einfache Nachahmung der Natur oder eines Autors, ist beschränkt in ihren Möglichkeiten, aber es gibt eben auch die Art von Nachahmung, die Goethe als ‚Stil‘ bezeichnet, die auf begriffliche Durchdringung baut, auf geistige Aneignung eines Gegenstandes und dessen innovative Darstellung; diese Art der Nachahmung ist das von Goethe in „Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl“ ausgemachte Kennzeichen von Kunst. Wie sehr Goethe in diesem Aufsatz Denkmustern der Rhetorik folgt, beweist dabei nicht zuletzt seine Annahme, dass Stil „zugleich in Verwunderung setzen und belehren“85 soll. Damit ist nämlich noch eine andere Deutung der von Goethe entwickelten trias möglich. Indem sie auf die rhetorische Wirkungslehre mit ihrer Ausrichtung auf movere und docere als Endpunkte des Kontinuums persuasiver Wirkungen anspielt und diese übernimmt, ist es auch plausibel, die Differenzierung Goethes auf die Wirkungsfunktionen der Rede zu beziehen. Die einfache Nachahmung, bei der sich der Künstler an die Natur halten soll, wäre dann zur logos-Ebene der Rede in Bezug zu setzen bzw. dem genus humile zuzuordnen, bei dem die Sache, die der Redner vertritt, im Mittelpunkt steht. Die Manier, in der die Subjektivität des Künstlers bestimmend ist, erinnert an das rhetorische ethos, das auf der mittleren Stilebene ins Spiel kommt, wenn der Redner mit Hilfe seines Charakters Einfluss auf die Zuhörer nehmen will, womit eben auch die persönliche Nuance an die Stelle der Sache tritt. Den Stil schließlich bringt Goethe selbst mit den rhetorischen Wirkungsdimensionen in Verbindung, indem er formuliert, dass Kunst, wenn sie das Niveau von Stil erreicht, in Verwunderung setzen, also eine pathos-Wirkung hervorrufen soll. Da Goethe nun aber im Stil eine Doppelfunktion sieht, indem der Stil die anderen Arten der Kunst in sich aufnimmt und auf ein höheres Niveau hebt, spielt auch auf dieser Ebene das Belehren wiederum eine Rolle. Von einer wirklichen Neuinstallation des Stil-Begriffs kann somit kaum noch die Rede sein, in bewährter Weise rezipiert und adaptiert Goethe die rhetorische Tradition und formuliert auf dieser Grundlage eine Variante des imitatio-Konzepts, die in einem evolutionären Verhältnis zur rhetorischen Tradition steht.
4. 4.
Zur Kontinuität der imitatio-Problematik im Übergang zur Klassik („Italienischen Reise“)
Bereits im Sturm und Drang ist die Frage nach der imitatio ein zentrales Thema Goethes, denn die eigentliche Pointe seiner Evidenz-Ästhetik liegt in ihrer Nachahmungsleistung. Mit Hilfe von evidenter Darstellung und auch mit Hilfe der –––––––––––– 85
Goethe: Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl. MA 3, 2. S. 190.
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Selbstaffizierung versucht Goethe Zugriff auf seine inneren Erfahrungen zu erhalten und diese nicht nur oberflächlich, sondern anschaulich und ihrem Wesen nach zugänglich zu machen. So gesehen, fällt also die frühe Sturm-und-DrangLyrik Goethes unter das Primat der Nachahmung, mit Hilfe der rhetorischen Figur der evidentia gelingt ihm eine erste einfache Variante einer vor dem Hintergrund der rhetorischen Tradition formulierten eigenständigen mimesis-Theorie. Auch als er wenig später (im ersten Baukunst-Aufsatz) die Schaffensprinzipien der Natur als ein Ideal der Kunst deutet, hält er an einer mimesis-Ästhetik fest, obwohl er den Begriff der Nachahmung in der Sulzer-Rezension negativ akzentuiert. Lange vor der Italienreise, nämlich schon zu Beginn seiner Weimarer Zeit, findet sich dann zum ersten Mal die Vorstellung, der Wert der Nachahmung liege in einer wesensmäßigen Erkenntnis der Natur, so dass auch hier die Frage nach der mimesis Aktualität behält. Ein Brief an Friedrich Müller aus dem Jahr 1780 zeigt exemplarisch, wie nah Goethe hier bereits an die Überlegungen herankommt, die er in „Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl“ unter dem Eindruck seiner Italienreise entfaltet. Goethe schreibt an Müller: Was meine eigne Zeichnungen betrifft haben Sie sehr recht es fehlt mir an Fleis mir eine gewisse leichte Bestimmtheit zu erwerben. Besonders da ich nur sehr abgerissen der Liebeswerke mit den Musen zu pflegen habe und mit der Wahl der Gegenstände ist es auch eine kuriose Sache. In diesen Gegenden, wo so wenig Sommer ist, wo das Laub so kurze Zeit schön bleibt wo man das Bedürfnis des Schattens der Quellen, der feuchtlichen Zufluchtsörter so selten fühlt, wo die Gegend selbst gemein ist und nur allenfalls ein schon vollkommnes Künstler Auge zur Nachahmung reizt, (denn freilich ist am Ende nichts gemein was trefflich nachgeahmt wird) hier gewöhnt man sich leicht an eine Liebschaft zu Dingen die man immer sieht, unter allen Jahrs- und Tagzeiten sich selbst gleich findet, denen das Enge, beschränkte Bedürfniss noch einen besonderen Reiz giebt und woran sich Haltung Licht und Reflexspiel leichter Buchstabieren lassen. Ich meine verfallne Hütten, Höfgen, Strohdächer, Gebälke und Schweinställe. Man ist in glüklichen Stunden oft an solchen Gegenständen vorbeigegangen, findet sie zur Nachahmung immer bereit da stehen, und da man gerne von der Welt und den Prachthäusern in das Niedrige flieht, um am Einfachen und Beschränkten sich zu erholen, so knüpft man nach und nach so viel Ideen auf solche Gegenstände, daß sie sogar zaubrischer als das Edle selbst werden. Ich glaube, dass es den Niederländern in ihrer Kunst so gegangen ist. Aber ich will Ihre Warnung in einem feinen Herzen behalten und wenigstens so viel als möglich das beste aussuchen. Radieren thu’ ich gar nicht mehr. Das Zeichnen nach der Natur wird wie es Umstände und Lust erlauben fortgesezt. Leben Sie wohl. 86
In diesem Brief sind die verschiedenen Hauptpunkte der Abhandlung „Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl“ schon in nuce zu erkennen. Den gedanklichen Hintergrund des Textes bildet das Konzept der einfachen Nachahmung der Natur, mit der der Zeichner seine Hand üben kann. Weiterhin deutet Goethe an, dass ein „schon vollkommnes Künstler Auge“ Gegenstände, die nicht spontan –––––––––––– 86
Goethe an Friedrich Müller. Brief vom 12. Juni 1780. WA IV, 4. S. 233–235.
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gefallen, nachahmenswert findet, weil der vollkommene Künstler die im Gegenstand zu erahnende Idee des Schönen erkennen kann; seine Kunst geht schließlich vom Wesen, nicht vom oberflächlichen Erscheinungsbild des Gegenstandes aus, daher ist „nichts gemein, was trefflich nachgeahmt wird“. Indem „man nach und nach so viel Ideen“ an einen Gegenstand knüpft, besteht ferner die Gefahr, bei Assoziationen zu verharren – statt Stil eine Manier zu entwickeln. Seine eigene Zeichenkunst bleibt – so die Selbsteinschätzung – in diesem Bereich, denn sonst wäre er in der Lage, auch in karger Landschaft ein bedeutendes Bild zu zeichnen. Stattdessen sammelt er Assoziationen zu den Gegenständen, wobei er nach Auskunft des Briefes zukünftig, dem Rat Müllers gemäß, „nach der Natur wie es Umstände und Lust erlauben“, also im Stil eines Liebhabers, zeichnen will. Nachahmung der Natur, die das Wesen des Darzustellenden erfasst, die Idee des Schönen in ihm erblickt, ist für Goethe also schon lange vor der Reise nach Italien und dem Abfassen des Aufsatzes „Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl“ ein Weg zur Kunst. Mit dem Satz: „Ich habe eine Vermutung, dass sie [die großen Künstler der Griechen] nach eben den Gesetzen verfuhren, nach welchem die Natur verfährt und denen ich auf der Spur bin“,87 entsteht jedoch in Italien eine Natur-Ästhetik, die, von Winckelmann beeinflusst, zu mehr begrifflicher Klarheit kommt. Goethe glaubt, das laut Winckelmann in der antiken Kunst realisierte Idealbild der Schönheit sei aus der Natur abgeleitet.88 Für Goethe hat die griechische Kunst, so bemerkte schon Schadewaldt, daher eher den „Rang einer freien Norm“,89 so dass seine Ästhetik „einem vorbehaltlosen Bekenntnis zur Nachahmung der Griechen zuwider“90 läuft, wie Raulet darlegt. Das Wesen, die Idee eines Darstellungsgegenstandes kann, wie Goethe in einem Brief an von Stein ausführt, in einer „Würckung der Natur“ ebenso wie in einem gelungenen „Werck der Kunst“ liegen. 91 In der „Italienischen Reise“ heißt es entsprechend über die Werke in der Tradition Homers: –––––––––––– 87 88
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91
Goethe: Italienische Reise. 28. Januar 1787. MA 15. S. 200. Diese These ist in den unbearbeiteten Dokumenten des Reisenden noch nicht erkennbar. Vgl. Osterkamp, Ernst: Goethe als Leser Winckelmanns. In: Flemming, Victoria von u. Sebastian Schütze (Hrsg.): Ars naturam adiuvans. Festschrift für Matthias Winner. Mainz 1996. S. 572–582, hier: S. 579. Schadewaldt, Wolfgang: Goethes Beschäftigung mit der Antike. In: Ders.: Goethestudien. Natur und Altertum. Zürich 1963. S. 23–127, hier: S. 122. Raulet, Gérard: Hielt Goethe von der Antike denn so viel? In: Baßler, Moritz, Christoph Brecht u. a. (Hrsg.): Von der Natur zur Kunst zurück. Neue Beiträge zur Goethe-Forschung. Festschrift für Gotthart Wunberg. Tübingen 1997. S. 127–142, hier: S. 127. Goethe an Charlotte von Stein. Brief vom 6. Januar 1787. WA IV, 8. S. 118. Vgl. Goethe: Italienische Reise. 6. Januar 1787. MA 15. S. 185, ähnliche Äußerungen finden sich auch in den Eintragungen zum 13. Dezember 1786 (ebd. S. 175): „Außer den Gegenständen der Natur, die in allen ihren Teilen wahr und konsequent ist, spricht doch nichts so laut als […] die echte Kunst die eben so folgerecht ist als jene.“
155
Diese hohen Kunstwerke sind zugleich die höchsten Naturwerke von Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht worden. Alles Willkürliche, Eingebildete fällt zusammen, da ist die Notwendigkeit, da ist Gott.92
Die antike Kunst erscheint als zweite Natur, die notwendigen Gesetzen folgt. Weniger geht es für den Künstler darum, die Schaffensprinzipien der Natur nachzuahmen, wie im Sturm und Drang gefordert, als darum, das Wesen des dargestellten Naturstücks zu erkennen. Goethe hat die Reise nach Italien, die er später in der „Italienischen Reise“ zu einer „Wiedergeburt“ stilisierte, von Beginn an als Möglichkeit zur künstlerischen Weiterentwicklung gesehen, so schrieb er an von Stein: Ich bin wie ein Baumeister der einen Thurm aufführen wollte und ein schlechtes Fundament gelegt hatte; er wird es noch bey Zeiten gewahr und bricht gerne wieder ab, was er schon aus der Erde gebracht hat, um sich seines Grundes mehr zu versichern und freut sich schon im Voraus der gewissern Festigkeit seines Baues.93
Hier wird ein Ziel der Reise nach Italien deutlich: Goethe will die Grundlagen seiner Kunst festigen, ein sichereres Fundament gewinnen. Die Rede vom Abriss des Turmes darf man getrost als Hyperbel – eine Figur, zu der Goethe bei Selbstaussagen immer wieder neigt – abtun, ohne dass daran zu zweifeln ist, dass er seine eigene ästhetische Position in Italien weiterentwickeln konnte. Eine Vergewisserung und Aneignung der „schriftlichen und mündlichen Überlieferung“94 durch Anschauung war das Ziel. Obwohl Goethe im Tagebucheintrag betont, es sei ihm, als ob er die Sachen „wiedersähe“, war das Wissen um die Kunst der Antike, über das er schon vor der Reise verfügte, ohne Anschauung defizitär, denn – so wird er später in der „Italienischen Reise“ darlegen – erst wenn man „einen sichern Blick getan, […] kann man denken und beurteilen“.95
4. 5.
Fundierung des imitatio-Konzepts durch Naturwissenschaft
Die Anekdote vom Redner Goethe, der ins Stocken gerät, „wenigstens zehn Minuten lang“96 nicht weiter weiß, ist häufig kolportiert worden. Zu stolz, um „das Manuskript in der Tasche“97 zur Hilfe zu nehmen, soll er „fest und ruhig in dem –––––––––––– 92 93 94
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Goethe: Italienische Reise. 6. September 1787. MA 15. S. 478. Goethe an Charlotte von Stein. Brief vom 29. [u. 30.] Dezember 1786. WA IV, 8. S. 105. Vgl. Goethe: Italienische Reise. 20. Dezember 1786. MA 15. S. 177. Ebd. 2. Januar 1787. MA 15. S. 183. Ebd. Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. 14. April 1831. MA 19. S. 682. Goethes Unterhaltungen mit Friedrich Soret. Hrsg. v. Karl August Hugo Burkhardt. Weimar 1905. S. 132.
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Kreise seiner zahlreichen Zuhörer“98 umhergeblickt haben. Die „Rede bei Eröffnung des neuen Bergbaus zu Ilmenau“ am 24. Februar 1784, bei der sich dieses Ereignis zutrug, ist aber zugleich aus einem anderen Grund interessant, und damit ist nicht die lange Reihe von Katastrophen und Misserfolgen gemeint, die das Bergbauprojekt begleiten.99 Die Bergbau-Rede und die Beschäftigung mit dem Bergbau sind nämlich für Goethe eine Form, sich mit der Natur auseinanderzusetzen, mit dem Sein, wie Gottfried Benn in seiner Interpretation der IlmenauRede formuliert hat.100 Goethe ermahnt die Gäste der Bergwerkseröffnung: Lassen Sie uns also die geringe Öffnung, die wir heute in die Oberfläche der Erde machen werden, nicht mit gleichgiltigen Augen ansehen: lassen Sie uns die ersten Hiebe der Keilhaue nicht als eine unbedeutende Zeremonie betrachten!101
Damit will er nicht nur den Ilmenauer Bergbau als Wirtschaftsunternehmen in ein positives Licht rücken, für ihn geht es auch um eine Form, der Natur zu begegnen. Der Schacht soll zur „Türe werden, durch die man zu den verborgenen Schätzen der Erde hinabsteigt, durch die jene tiefliegende Gaben der Natur an das Tageslicht gefördert werden sollen“.102 Von Anfang an zielt sein naturwissenschaftliches Interesse darauf, das Verhältnis von Natur und Kunst zu erhellen. Auch als Naturforscher geht es Goethe, so gesehen, um das imitatio-Problem. Bei allen Schwierigkeiten, die die zahlreichen Projekte bereiten, die er in Weimar als Mitglied des Consiliums im ersten Jahrzehnt zu betreuen hat, bei all der Zeit, die sie den Dichter kosten, ist die Hinwendung zur Naturwissenschaft, die Goethes Ministerposten mit sich bringt, eine wichtige Erfahrung für den Literaten: Ich kam höchst unwissend in allen Naturstudien nach Weimar, und erst das Bedürfniß, dem Herzog bei seinen mancherlei Unternehmungen, Bauten, Anlagen, praktische Rathschäge geben zu können, trieb mich zum Studium der Natur. […] Ilmenau hat mir viele Zeit, Mühe und Geld gekostet, dafür habe ich aber auch etwas dabei gelernt und mir eine Anschauung der Natur erworben, die ich um keinen Preis umtauschen möchte.103
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. 14. April 1831. MA 19. S. 682. Kurt Steenbuck hat die langwierigen Vorbereitungen bis zur Wiedereröffnung des Bergbaus dokumentiert. Vgl. K. S.: Silber und Kupfer aus Ilmenau. Ein Bergwerk unter Goethes Leitung. Hintergründe – Erwartungen – Enttäuschungen. Weimar 1995. S. 19–138. Ein anschauliches Bild von Goethes Tätigkeit zu dieser Zeit zeichnen auch Bruford, Walter H.: Kultur und Gesellschaft im klassischen Weimar. 1775–1806. Göttingen 1966. S. 96–116; sowie Conrady, Karl Otto: Goethe. Leben und Werk. Bd. 1: Hälfte des Lebens. Frankfurt am Main 1988. S. 322–331 u. S. 340–356. Vgl. Benn, Gottfried: Goethe und die Naturwissenschaften. In: Ders.: Essays und Reden in der Fassung der Erstdrucke. Hrsg. v. Bruno Hillebrand. Frankfurt am Main 1989. S. 175– 205, hier: S. 204–205. Goethe: Rede bei Eröffnung des neuen Bergbaus zu Ilmenau. MA 2, 2. S. 753. Ebd. Goethe im Gespräch mit Friedrich Theodor Adam von Müller und Frédéric Jean Soret. 16. März 1824. WA V, 5. S. 50–51.
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Aus den geologischen Erfahrungen vor dem Hintergrund des Ilmenauer Bergbaus zieht Goethe bald ästhetische Konsequenzen, wie die Schriften zum Thema Granit beweisen,104 in denen er sich fasziniert zeigt von der Ursprünglichkeit des Granit, der „wenn er auch nicht den ganzen Kern der Erde ausmacht, doch wenigstens die tiefste Schale ist die uns bekannt geworden.“105 Weil der Granit in Anbetracht „tobende[r] Vulkane“ immer „unerschüttert“106 bleibt, hält Goethe vulkanistische Thesen für nicht plausibel. Ja, er macht den Granit sogar zu einem Argument, um die These, dass „die Natur heftige Mittel gebraucht um große Dinge hervorzubringen“,107 zu widerlegen. So erhalten die naturwissenschaftlichen Beobachtungen zum Granit eine ästhetische Pointe, die auf die Betonung von Maß und Mäßigung hinausläuft, wie sie für Goethes spätere Ästhetik wichtig wird. Auch andere Formulierungen des Textes deuten auf die klassische Ästhetik, etwa die Behauptung, Granit sei „[h]öchst mannigfaltig in der größten Einfalt“,108 womit das Prinzip von Einheit und Mannigfaltigkeit anklingt. Das Interesse des Schriftstellers für naturwissenschaftliche Zusammenhänge kann trotz solcher Verbindungen zwischen Naturwissenschaft und Kunst irritieren, und Goethe muss sich schon in seinen frühen naturwissenschaftlichen Texten gegen Anfeindungen wehren, etwa gegen den Vorwurf, es sei merkwürdig, sich nach der „Betrachtung und Schilderung des menschlichen Herzens“ 109 dem Granit zu verschreiben. Laut Goethe stehen „alle natürlichen Dinge in einem genauen Zusammenhange“,110 insofern ist die Beschäftigung mit geologischen Fragen genauso eine Möglichkeit, sich mit dem Wesen der Natur auseinanderzusetzen, wie die literarische Aufbereitung eines Themas unter den Bedingungen des mimesis-Gebots. Wie weit Goethe mit den Konsequenzen aus seiner naturwissenschaftlichen Forschung zu gehen bereit ist, lässt sich schon am GranitText ablesen, wenn er behauptet, der Granit stehe „vor allem Leben und über alles Leben“, und vom „Altare der unmittelbar auf die Tiefe der Schöpfung gebaut ist“ spricht.111 –––––––––––– 104
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Wolf von Engelhardt hat „Granit I“ auf den 18. Januar 1784 datiert. Vgl. W. v. E.: Goethes Beschäftigung mit Gesteinen und Erdgeschichte im ersten Weimarer Jahrzehnt. In: Genio Huius Loci. Dank an Leiva Petersen. Hrsg. v. Dorothea Kuhn u. Bernhard Zeller. Wien, Köln u. a. 1982. S. 169–204, hier: S. 193. Die Beschäftigung mit dem Thema setzt aber bereits durch das Engagement im Ilmenauer Bergbau ein und erfährt in den 80er Jahren weiteren Aufschwung, wie diverse Briefe aus dem Jahr 1784 belegen. Vgl. z. B. Goethe an Johann Gottfried und Caroline Herder. Brief vom 20. Juni 1784. WA IV, 6. S. 307–309; Goethe an August Ferdinand von Veltheim. Brief vom 6. November 1784. WA IV, 51. S. 72. Goethe: Granit I. MA 2, 2. S. 487. Goethe: Granit II. MA 2, 2. S. 506. Goethe: Granit I. MA 2, 2. S. 488. Goethe: Granit II. MA 2, 2. S. 504. Ebd. S. 505. Ebd. Ebd.
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Als Naturwissenschaftler traut Goethe nur seinen Augen („Es ist eine Gotteslästerung zu sagen: daß es einen optischen Betrug gebe.“112), Wolfgang Schadewaldt spricht daher von einer „Weisheit des Auges“.113 Goethe hält nichts von konstruierten Experimenten, und aus dieser Haltung erwächst auch seine spätere Kritik gegen Newton und dessen Farbenlehre, dem Endlosthema in Goethes naturwissenschaftlicher Arbeit. Er hält die Experimente Newtons für derartig konstruiert, dass sie nichts über unsere Welt aussagen können. Stattdessen sollte eine Farbenlehre auf die eher anthropologische Annahme einer „Verwandtschaft des Lichtes und des Auges“114 aufbauen. Eine Exaktheit, die über die natürliche Wahrnehmungsfähigkeit hinausgeht, erscheint Goethe widersinnig: Der Mensch an sich selbst, in sofern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der größte und genaueste physikalische Apparat den es geben kann […] das ist eben das größte Unheil der neuern Physik, daß man die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat, und bloß in dem was künstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen, ja was sie leisten kann dadurch beschränken und beweisen will. 115
Der Forscher, der komplizierte Experimente konstruiert und von genauesten Beobachtungen ausgeht, ist Goethe ebenso zuwider wie derjenige, der komplizierte Theorien konstruiert und die Welt in seine Raster zwängt. Die Natur zu verstehen und zu deuten, sollte heißen, dies in einer für den Menschen zugänglichen Art und Weise zu tun. Messinstrumente und Versuchsanordnungen entfernen den Menschen eher von der Natur, sind als Garant für wesenhafte Erkenntnis, nach der Goethes ästhetischer Objektivismus strebt, nicht geeignet. Seine Art der Naturwissenschaft aber lässt sich gerade deshalb ästhetisch fruchtbar machen, weil es ihr darum geht, die Natur zu verstehen, ihre Wahrheit zu erkennen. Sie antwortet ganz praktisch auf die Frage, wie die Erkenntnis des Wesens eines Gegenstandes bzw. der Natur, die im platonisch-ciceronianischen mimesisKonzept gefordert wird, zu erreichen ist. Goethes Naturforschungen stehen aber nicht nur als Kommentar zur imitatioProblematik in einem rhetorischen Bezug. Naturwissenschaft ist nach den Erkenntnissen der rhetoric-of-science-Forschung116 nämlich ein rhetorisch analysierbares Phänomen, die Geschichte der Naturwissenschaften eine Geschichte des Wech–––––––––––– 112 113 114 115 116
Goethe: Paralipomena zur Farbenlehre III. WA II, 5, 2. S. 21. Schadewaldt, Wolfgang: Goethe und das Erlebnis des antiken Geistes. In: Ders.: Goethestudien. Natur und Altertum. Zürich 1963. S. 9–21, hier: S. 13. Goethe: Zur Farbenlehre. MA 10. S. 20. Goethe an Zelter. Brief vom 22. Juni 1808. MA 20, 1. S. 185–186. Außerdem ist der Text in „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ enthalten (vgl. MA 17. S. 701). Vgl. Simons, Herbert W.: The Rhetoric of Inquiry as an Intellectual Movement. In: Ders.: The Rhetorical Turn. Invention and Persuasion in the Conduct of Inquiry. Chicago, IL 1990. S. 1–22; Campbell, John Angus: Scientific Discovery and Rhetorical Invention. The Path to Darwin’s Origin. In: ebd. S. 58–86; Gaonkar, Dilip Parameshwar: The Idea of Rhetoric in the Rhetoric of Science. In: The Southern Communication Journal 58 (1993) S. 258–295.
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sels verschiedener Paradigmen, die nicht einfach auf empirische Beobachtungen reagieren, sondern rhetorisch ausformuliert sind, um sich von anderen Modellen abzugrenzen. Auch Goethes Forschungen, ob zur Geologie, zur Farbenlehre oder auch zur Biologie, sind solche Modellentwürfe, die persuasiv wirken sollen; er hat sie mit rhetorischer Verve vertreten, versucht sie überzeugend aufzubauen. Den Status der Naturwissenschaft als Modell behandelt Goethe selbst in den „Wahlverwandtschaften“. In der Vorrede des Autors, aber auch im Gespräch wird das naturwissenschaftliche Phänomen der Wahlverwandtschaft von Elementen als „Gleichnisrede“117 bezeichnet, also als ein Modell, mit dessen Hilfe man ein Naturphänomen sprachlich erschließt, anschaulich und plausibel macht.118 Wenn die Naturwissenschaft aber wiederum nur ein Modell ist, um sich der Natur zu nähern, auf sprachliche Vermittlung angewiesen bleibt, kann sie diskursiv nur eine modellhafte Annäherung an die Natur leisten, deshalb betont Goethe die direkte sinnliche Erfahrung der Natur so sehr. Wie sehr Goethe notwendigerweise auch als Wissenschaftler auf Rhetorik angewiesen bleibt, über rhetorisch-strategisch formulierte Modelle eben nicht hinauskommt, hat Albrecht Schöne am Beispiel der „Farbenlehre“ gezeigt. In der Interpretation Schönes ist die „Farbenlehre“ ein rhetorisches Pamphlet: mit rhetorischen Mitteln versucht Goethe, seine Position durchzusetzen und die Newtons zu schwächen. Der dogmatische Teil der „Farbenlehre“ soll rhetorisch durch strenge Disposition, sachlich klare und anschauliche Sprache, differenzierte Vielschichtigkeit der Argumentation überzeugen. Der polemische Teil des Buches hingegen ist nach Schöne in Form einer rhetorischen disputatio verfasst, indem Goethe mit raffinierten Argumenten den Kampf gegen Newton und seine Lehre führt und dabei vor der Polemik nicht zurückschreckt.119 Newton ist für Goethe ein Forscher, der „die Natur auf die Folter spannte“, ein „Inquisitor“. 120 Allein der Spott darüber, dass nach Newtons Theorie aus der Mischung aller Grundfarben ein reines Weiß entstehen müsste, in Wirklichkeit aber nur ein fahles Grau hervorkomme, so dass Goethe wünscht, dass „die sämtlichen Newtonianer dergleichen Leibwäsche tragen müßten“,121 spricht Bände. Den dritten, historisch angelegten Teil der Farbenlehre schließlich muss man rhetorisch als eine nachgetragene narratio betrachten, die Goethe mit großem argumentativen Geschick so anlegt, dass alles auf seine eigene Theorie hinausläuft und diese neben dem wissenschaftlichen Fundament auch ein historisches erhält. Schöne versteht „Zur Farbenlehre“ als eine Abhandlung über das Verhältnis von Mensch und Natur. Es gehe Goethe um eine „Wahrheit über alle physika–––––––––––– 117
118 119 120 121
Goethe: Die Wahlverwandtschaften. MA 9. S. 313. Vgl. ebd. S. 285. Vgl. Schöne, Albrecht: Goethes Farbentheologie. München 1987. S. 33. Goethe: Zur Farbenlehre. MA 10. S. 321. Ebd. S. 442.
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lische Vernunft und mathematische Erweislichkeit“, 122 er entwerfe eine Naturreligion, um der negativen Seite naturwissenschaftlichen Fortschritts zu entgehen.123 Insofern bleibt der Anspruch, der Natur näher zu kommen, erhalten, ist aber letztlich eben doch an die Rhetorik gebunden, weil die individuelle Naturerfahrung nur mit Mitteln der Sprache anderen zugänglich zu machen ist, nur so persuasiv wirken kann. Einerseits kann Goethe über seine naturwissenschaftliche Arbeit eine Fundierung des imitatio-Prinzips erreichen, andererseits zeigt sich auch hier, dass das dichterische Schaffen nicht durch diskursiv vermittelte Regeln zu erfassen ist. Auch Goethes naturwissenschaftliche Forschungen sind ein rhetorisch konstruiertes Modell, sind Rede über die Natur, der eine metaphysische, diskursiv kaum einholbare sinnliche Erfahrung der Natur zu Grunde liegt, welche Goethe auch in seiner Dichtung darzustellen versucht. Wie Goethe seine Naturforschung rhetorisch-persuasiv ausgestaltet, lässt sich auch in der Botanik erkennen: Er wehrt sich gegen die Klassifikationsversuche, wie sie beispielsweise Linné entwickelt hat, sie erscheinen ihm zu starr und entfernen seiner Meinung nach den Forscher eher von der Natur. Also entwirft er flexiblere Systeme und versucht, zu einem Verständnis des Organischen zu gelangen. In der „Metamorphose der Pflanzen“ schreibt er: Ein jeder, der das Wachstum der Pflanzen nur einigermaßen beobachtet, wird leicht bemerken, daß gewisse äußere Teile derselben sich manchmal verwandeln und in die Gestalt der nächstliegenden Teile bald ganz, bald mehr oder weniger übergehen. 124
Nun ist der Begriff der Metamorphose, den Goethe für diese Entwicklung verwendet, in der Biologie auch heute noch gebräuchlich (er bezeichnet die Verwandlung von Pflanzenteilen z. B. bei der Ausbildung von Dornen oder Ranken), aber Goethe macht aus der Metamorphose ein universelles Entwicklungsprogramm, lädt den Begriff rhetorisch auf, lässt ihn zu einem topos werden.125 Die Urpflanze wird da zu einer Art probatio inartificialis, durch sie sollen, wie er später in –––––––––––– 122
123 124 125
Vgl. Schöne, Albrecht: Goethes Farbentheologie. München 1987. S. 106. Im 20. Jahrhundert hat Klaus-Michael Meyer-Abich Goethe zum Vorbild ökologischen Denkens gemacht (vgl. K. M. M.-A.: Wege zum Frieden mit der Natur. Praktische Naturphilosophie für die Umweltpolitik. München u. Wien 1984). Goethes Wissenschaft – so die Pointe MeyerAbichs – ist dem Menschen gemäßer als das siegreiche Wissenschaftskonzept Newtons und seiner Nachfolger. Goethe ahnte sehr früh so etwas wie ein böses Ende der Modernisierungstendenzen, deren Anfänge er beobachtete. Für Meyer-Abich weist Goethe den Weg zu einem anderen Blick auf die Natur, entwirft eine neue Utopie. Vgl. Schöne, Albrecht: Goethes Farbentheologie. München 1987. Besonders S. 129–136. Goethe: Die Metamorphose der Pflanze. MA 12. S. 29. Im 19. Jahrhundert betrachtete man Goethes Ansatz als Vorstufe der Evolutionstheorie. Vgl. Virchow, Rudolf: Goethe als Naturforscher und in besonderer Beziehung auf Schiller. Rede nebst Erläuterungen. Berlin 1861. Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Entwicklungslehre im Allgemeinen und diejenige von Darwin, Goethe und Lamarck im Besonderen. 4. verbesserte Auflage. Berlin 1873. S. 73.
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der „Italienischen Reise“ formuliert, die in „Mannigfaltigkeit“ entgegentretenden Pflanzen auf ein Prinzip zurückgeführt werden.126 Die Urpflanze stellt das generative Muster der Natur dar, so dass man mit ihr „Pflanzen ins unendliche erfinden“ kann, und ein „Gesetz […, das] sich auf alles übrige lebendige anwenden“ lässt.127 In Wirklichkeit aber ist die Metamorphose der Pflanze nur ein metaphorischer Ausdruck. Als Goethe Schiller von der Urpflanze berichtete, hielt dieser ihm in dem berühmten Gespräch im Jahre 1794, das zu einer freundschaftlichen Annäherung zwischen den beiden Dichtern führte, bekanntlich entgegen, „das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee“.128 Schiller hatte erkannt, dass Goethe ein Fundstück als Beweismittel für seine Theorie instrumentalisiert, dabei aber eben alles an der Idee hängt. Doch dieser freundliche Hinweis half Goethe nicht weiter, denn er antwortete, wie man weiß: „das kann mir sehr lieb sein daß ich Ideen habe ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe.“129 Insofern war Goethe sich sicher, das Wesen der Natur durch Anschauung ergründen zu können und durch diese Anschauung eben auch als Schriftsteller zu profitieren, aber dies ist eben auch wieder eine ideologische Annahme, eine rhetorisch konstruierte und propagierte Theorie. Goethes naturwissenschaftliche Arbeit ermöglicht ihm, sich mit der Natur zu beschäftigen, über sie nachzudenken, sich ihr auf diskursive Weise zu nähern. Zu Zeiten der Shakespeare-Rede war die Natur eine Metapher der eigenen Individualität; man versuchte mit Hilfe der Natur der subjektiven Empfindung einen Freiraum zu verschaffen, sie künstlerisch gegen eine starre Regelpoetik zu etablieren. Nach dem Ende des Sturm und Drang blieb sie wichtigster Bezugspunkt der Literatur, das ist schon in „Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl“ zu erkennen, wenn Goethe mahnt: „Unterläßt ein […] Künstler sich an die Natur zu halten und an die Natur zu denken so wird er sich immer mehr von der Grundfeste der Kunst entfernen“.130 Nun geht es allerdings vor allem um eine wesensmäßige Erkenntnis der Natur, während in der hochklassischen Ästhetik der „Propyläen“ die Natur zwar richtunggebend für den Künstler bleibt, Goethe aber auch dessen Kluft zur Natur erkennt: Die vornehmste Forderung, die an den Künstler gemacht wird, bleibt immer die: daß er sich an die Natur halten, sie studieren, sie nachbilden, etwas, das ihren Erscheinungen ähnlich ist, hervorbringen solle.131
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128 129 130 131
Vgl. Goethe: Italienische Reise. 27. September 1786. MA 15. S. 69. Goethe an Charlotte von Stein. Brief vom 8. Juni 1787. WA IV, 8. S. 232–233. Vgl. Goethe: Italienische Reise. 17. Mai 1787. MA 15. S. 394. Goethe: Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie. Erfahrung, Betrachtung, Folgerung durch Lebensereignisse verbunden. MA 12. S. 88–89. Ebd. S. 89. Goethe: Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl. MA 3, 2. S. 190. Goethe: Einleitung in die Propyläen. MA 6, 2. S. 13.
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Zwar glaubt Goethe inzwischen, dass sich Kunst und Natur nicht ausloten lassen, und nimmt eine unüberwindliche Distanz zwischen beiden an, aber doch soll die Kunst mit der Natur „wetteifern“.132 Goethes Naturstudien sind ein Versuch, mit rhetorischen Mitteln eine überzeugende Theorie der Natur zu formulieren, die zugleich auch seine ästhetischen Positionen stärken soll. Seine Forschungen kommen zwar im Stil eines außerliterarischen, objektiven Beweises daher, sind aber letztlich mit rhetorischen Mitteln konstruiert, auf Persuasion ausgerichtet, selbst wenn sie die direkte Anschauung der Natur als Ideal ausgeben, sich gegen einen empirisch-experimentellen Zugriff auf die Natur wehren und sie ins Irrationale entrücken. Letztlich ist Goethe als Naturwissenschaftler eben ein Skeptiker und Relativist, wie van der Laan am Beispiel von Goethes Essay „Erfahrung und Wissenschaft“ zeigen kann: „Für Goethe verhält sich die Realität immer relativ zum jeweiligen Beobachter“,133 von dessen „Geistesstimmung“134 die Wahrnehmung des Phänomens abhängt. Diese skeptische Haltung öffnet letztlich einen großen Spielraum für Rhetorik, den Goethe selbst nutzt.
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134
Ebd. S. 15. van der Laan, J. M.: Über Goethe, Essays und Experimente. In: Krause, Marcus u. Nicolas Pethes (Hrsg.): Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert. Würzburg 2005. S. 243–250, hier: S. 246. Goethe: [Erfahrung und Wissenschaft]. WA II, 11. S. 38.
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5.
Rhetorische Artifizialität als ästhetisches Prinzip der Klassik
Es wird ihm aber doch nicht jemand leicht wenn er fertig ist die Arbeit ansehn die er kostet und man solls auch nicht.1
5. 1.
Versinnlichung des imitatio-Konzepts („Über Laokoon“, Diderot, „Torquato Tasso“)
Mit dem Laokoon-Aufsatz, programmatischer Auftakt der „Propyläen“, versucht Goethe ein weiteres Mal, eine Lösung für das imitatio-Problem zu finden, geht noch einmal das schwierige Verhältnis von Kunst und Natur an, das für ihn, wie Norbert Christian Wolf verdeutlicht hat, „immer mehr zu einem veritablen erkenntnistheoretischen Problem“2 geworden war. Hatte Goethe in „Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl“ die Erkenntnis des Wesens eines Gegenstandes als Voraussetzung von Stil betrachtet, zweifelt er jetzt daran, dass das Wesen eines Kunst- oder Naturwerks überhaupt verstandesmäßig erkannt werden kann. Gleich zu Beginn des Laokoon heißt es: Ein echtes Kunstwerks bleibt, wie ein Naturwerk, für unseren Verstand immer unendlich; es wird angeschaut, empfunden; es wirkt, es kann aber nicht eigentlich erkannt, vielweniger sein Wesen, sein Verdienst mit Worten ausgesprochen werden. 3
Goethe löst das Kunstwerk aus dem rationalen Diskurs. Es ist zwar möglich, sich der Idee oder dem Wesen eines Kunstwerks oder der Natur durch ein schauendes Betrachten, wie Goethe das schon als naturwissenschaftliche Methode favorisiert, zu nähern, aber sicher erkennen lassen sich Idee und Wesen von Kunst und Natur nicht, aussprechen, also diskursiv vermitteln, noch weniger. Vielmehr muss man die Unauslotbarkeit von Natur und Kunst in der Ästhetik berücksichtigen. In gewisser Hinsicht ist dies ein Schwenk zurück zum Sturm und Drang, denn auch im Umfeld des Erhabenheits-Diskurses unterließ es Goethe, begrifflich diskursiv zu erklären, in welchem Verhältnis Natur und Kunst stehen. Der Hinweis auf die natura naturans als Vorbild für die Kunst jedenfalls blieb eher offen und unspezifisch. –––––––––––– 1 2 3
Goethe an Carl Ludwig von Knebel. Brief vom 1. Oktober 1788. WA IV, 9. S. 35. Wolf, Norbert Christian: Streitbare Ästhetik. Goethes kunst- und literaturtheoretische Schriften 1771–1789. Tübingen 2001. S. 419. Goethe: Über Laokoon. MA 4, 2. S. 73.
Indem Goethe eine Versinnlichung des mimesis-Konzepts betreibt, es insofern entrationalisiert als wesenhafte Erkenntnis nur auf sinnliche Weise zugänglich und diskursive Vermittlung schwierig erscheint, hebt er die Nachahmung als künstlerisches Prinzip nicht auf. Er stellt damit lediglich in der Ästhetik einen rationalen Zugriff auf die Natur in Frage, orientiert sich aber zugleich an den letztlich im Diskurs mit rhetorischen Mitteln etablierten Begriffen seiner Naturtheorie. Hier ergibt sich ein performativer Selbstwiderspruch, weil die erlaubten Grundbegriffe seiner eigenen Forschung aus einem Prozess rhetorischer Etablierung in einem Diskurs hervorgegangen sind. In der Übersetzung und Kommentierung des „Essais sur la peinture“ von Diderot, der Goethe beim Versuch, „eine allgemeine Einleitung in die bildende Kunst […] zu entwerfen, […] zufällig, wieder in die Hände“4 gefallen ist, beschreibt er die Natur aus einer morphologischen Perspektive: Die Natur macht nichts inkonsequentes, jede Gestalt, sie sei schön oder häßlich, hat ihre Ursache, von der sie bestimmt wird, und unter allen organischen Naturen, die wir kennen, ist keine, die nicht wäre, wie sie sein kann.5
Weil sich die Vielfalt der Arten durch morphologische Entwicklung aus einigen Urformen erklären lässt, ist die Konsequenz, also die Folgerichtigkeit der Formenentwicklung, das Merkmal der Natur, an das sich der Künstler halten kann. Eine Regelhaftigkeit der Naturentwicklung, die Denis Diderot annimmt, indem er behauptet, die Natur im Ganzen sei „korrekt“,6 gibt es hingegen nicht. Es existiert schlicht kein vernünftiger Maßstab, anhand dessen sich Korrektheit beurteilen ließe: „Die Natur ist niemals korrekt! […] Korrektion setzt Regeln voraus, und zwar Regeln, die der Mensch selbst bestimmt“,7 dazu ist der Mensch aber in Anbetracht der Natur nicht fähig, er kann sich nur sinnlich, nicht rationaldiskursiv zur Natur in Beziehung setzen, so behauptet Goethe. Weil ein Kunstwerk nicht die bloße Abbildung der Natur sein kann, nicht einmal im Fall der bildenden Kunst, von der Goethe zunächst ausgeht, sondern gezielte Inszenierung der Natur verlangt, an der sich der Künstler durch Anschauung orientiert, rückt Kunst in einen artifiziell-konstruktiven Zusammenhang, es kommt darauf an, einen Schein zu erzeugen, wodurch wiederum eine Kategorie bemüht wird, die auch in der Rhetorik zentral ist, das persuasive Moment von Kunst deutlich wird. In Goethes Diderot-Kommentar ist der Zusammenhang formuliert: Die Natur organisiert ein lebendiges, gleichgültiges Wesen, der Künstler ein totes, aber ein bedeutendes, die Natur ein wirkliches, der Künstler ein scheinbares. Zu den Werken der Na-
–––––––––––– 4 5 6 7
Goethe: Diderots Versuch über die Malerei. MA 7. S. 520. Ebd. S. 521. Ebd. Ebd.
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tur muß der Beschauer erst Bedeutsamkeit, Gefühl, Gedanken, Effekt, Wirkung auf das Gemüt selbst hinbringen, im Kunstwerke will und muß er das alles schon finden.8
Diese Revision des mimesis-Konzepts in ein Verhältnis zu ihren rhetorisch geprägten Vorstufen zu setzen, zur Rhetorik überhaupt, fällt leicht und bringt ein erstaunliches Ergebnis. Weil sich die Natur dem Künstler letztlich entzieht, muss er den Schein der Natur in seinem Werk herstellen, sein Kunstwerk auf eine Wirkung beim Rezipienten hin einrichten – schon die Begrifflichkeit Goethes, die Kunst mit ‚Schein‘ verbindet, mit ‚Effekt‘ und ‚Wirkung‘, zeigt, wie sehr seine Überlegungen von der Rhetorik geprägt sind, es geht um die ästhetische Plausibilisierung eines Kunstwerks in einem persuasiven Prozess. Indem Goethe die Natur einem rational diskursiven Zugriff entzieht, will er nicht die Idee der imitatio im Ganzen außer Kraft setzen, vielmehr kommt es zu einer Aufhebung des imitatio-Gedankens in einem dialektischen Sinne: Eine oberflächliche Abbildung der Natur ist in der Tat zu verwerfen, eine Nachahmung hingegen, die im Wissen darum, wie schwierig das Wesen der Natur oder eines Kunstwerks zu erfassen ist, skeptisch bleibt, und sich ihm durch ein Betrachten der Natur oder eines Kunstwerks lediglich annähert, hat Bestand. Geht man davon aus, dass sich Kunst und Natur fundamental unterscheiden, ist es für den Schriftsteller eine rhetorische Aufgabe, die Oberfläche der Natur, die er einzig abbilden kann, so in Szene zu setzen, dass das Kunstwerk auf den Rezipienten persuasiv wirkt. Insofern der Künstler durch Anschauung eine Vorstellung vom Wesen der Natur erlangt hat, eine Einsicht in die Idee des Schönen gewonnen hat, was für Goethe nur über sinnliche Wahrnehmung vorstellbar ist, soll der Schriftsteller seine Einsicht mit sprachlichen Mitteln darstellen, dieser durch Gedankenfügung, Anordnung, Wortwahl zu rhetorischer Wirksamkeit verhelfen. Wie ein Künstler die Aufgabe bewältigen kann, die Natur in einem Kunstwerk zu fassen, hat Goethe bereits in Italien beschäftigt, die poetische Darstellung des Themas im „Tasso“ läuft also der theoretischen Reflexion voraus. Tasso hat sich durch Betrachtung der Natur und durch Lektüre vorbildlicher Dichter an die Idee des Schönen angenähert. Er erklärt der Prinzessin den Vorgang folgendermaßen: Es schwebt kein geistig unbestimmtes Bild Vor meiner Stirne, das der Seele bald Sich überglänzend nahte, bald entzöge. Mit meinen Augen hab’ ich es gesehn, Das Urbild jeder Tugend, jeder Schöne […].9
Laut Gerhard lässt sich Tassos Dichtkunst als ein Versuch der Symbolisierung beschreiben, diese kann gelingen, insofern Tasso „die Wesenheiten, die platoni–––––––––––– 8 9
Ebd. S. 523. Goethe: Torquato Tasso. II, 1. V. 1094–1102. MA 3, 1. S. 455–456.
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schen Urbilder und Urformen des Lebens“ 10 erfasst hat, was man aber bei Goethe als sinnlichen, nicht als rationalen Prozess verstehen muss. Wie er 1791 in seinem Aufsatz „Symbolik“ erläutert, ist, wenn „von tiefern Verhältnissen die Rede ist“,11 eine poetische Sprache nötig, um vom oberflächlichen Abbild aus die ‚Wesenheiten‘ ins Spiel zu bringen. Weil das Kunstwerk in nicht rational zugänglichen Erfahrungen ruht, welche sich dem Diskurs verweigern, lassen sich diese nur mit einer symbolischen Sprache dem Rezipienten mitteilen. Vor dem Hintergrund einer rhetorischen Definition des Kunstwerks, die auf bewusste Konstruktion einer persuasiven Wirkung hinausläuft, auf die Notwendigkeit einer symbolischen Vermittlung, ist für Tasso die innere Stimmigkeit und Vollendung seiner Kunst nötig. So beschreibt die Prinzessin, die die Prinzipien von Tassos Arbeit verstanden hat, dessen Anspruch an ein Kunstwerk folgendermaßen: Es soll sich sein Gedicht zum Ganzen ründen. Er will nicht Märchen über Märchen häufen, Die reizend unterhalten und zuletzt Wie lose Worte nur verklingend täuschen.12
Nicht Unterhaltung oder Repräsentation oder praktischer Nutzen, sondern die Vollendung des Kunstwerks ist Tassos Ziel. Die Prinzessin ist Sprachrohr einer Autonomieästhetik, wie sie Goethe während der Arbeit am „Tasso“ von Karl Philipp Moritz übernimmt, demzufolge das Wesen des Schönen die Vollendung in sich selbst sei.13 Zugleich bleibt Kunst auf die geläuterte Form der imitatio angewiesen, die versucht, sich dem Wesen des Dargestellten sinnlich anzunähern, sie verleiht dem Kunstwerk seine ästhetische Substanz. Für Goethe ergeben sich nämlich zwei Möglichkeiten der Stoffwahl, die er im Aufsatz „Über die Gegenstände der bildenden Kunst“ erläutert: Es lassen sich „die bekannten, gewöhnlichen gemeinen Dinge wie sie sind“14 darstellen – ein simples und primitives Kunstmodell im Verständnis Goethes –, oder sie lassen sich „idealistisch“ darstellen, d. h. in einem Modus des Spiels, das durch eine komplexe Wechselbeziehung von Allgemeinem und Besonderem gekennzeichnet ist: man ergreift nicht den Gegenstand wie er in der Natur erscheint sondern man faßt ihn auf der Höhe wo er von allem gemeinen und individuellen entkleidet, nicht durch die Bearbei-
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14
Kaiser, Gerhard: Der Dichter und die Gesellschaft in Goethes „Torquato Tasso“. In: Ders.: Wandrer und Idylle. Goethe und die Phänomenologie der Natur in der deutschen Dichtung von Geßner bis Gottfried Keller. Göttingen 1977. S. 175–208, hier: S. 192. Goethe: Symbolik. WA II, 11. S. 167. Goethe: Torquato Tasso. I, 2. V. 275–278. MA 3, 1. S. 434. Vgl. Moritz, Karl Philipp: Über die bildende Nachahmung des Schönen. In: Ders.: Werke in zwei Bänden. Hrsg. v. Heide Hollmer u. Albert Meier. Bd. 2. Frankfurt am Main 1997. S. 965 u. 975. Goethe: Über die Gegenstände der bildenden Kunst. MA 4, 2. S. 121.
168
tung erst ein Kunstwerk wird sondern der Bearbeitung schon als ein vollkommen gebildeter Gegenstand entgegen geht […].15
5. 2.
Die Reinstallation des aptum-Prinzips („Italienische Reise“, „Baukunst [1795]“, „Kunst und Handwerk“)
Das im Tasso angesprochene ästhetische Verfahren hat Goethe im „Laokoon“ weiter ausgeführt, wo er von einem Kunstwerk ein wechselseitiges Ineinandersetzen von Besonderem und Allgemeinem verlangt. In einem Kunstwerk spiegelt sich demnach im Besonderen das Allgemeine, lässt sich das Allgemeine durch das Besondere fassen. In den Worten des Laokoon-Aufsatzes: Wenn man von einem trefflichen Kunstwerke sprechen will, so ist es fast nötig von der ganzen Kunst zu reden, denn es enthält sie ganz, und jeder kann, soviel in seinen Kräften steht, auch das Allgemeine aus einem solchen besondern Fall entwickeln […].16
Ein treffliches Kunstwerk enthält die allgemeinen Regeln der Kunst, die ein Betrachter aus dem Besonderen erschließen kann, obwohl diese nicht vollends, sondern nur, so muss man in Fortführung des vorigen Kapitels ergänzen, in der Verweisstruktur des Besonderen auf das Allgemeine diskursiv einholbar sind. Goethe reiht sich mit seiner Laokoon-Studie in eine Forschungstradition, zu der neben Lessing und Winckelmann auch Aloys Ludwig Hirt gehört, dessen Überlegungen Goethe selbst als Auslöser für die Arbeit am Laokoon-Aufsatz bezeichnet hat, und in der Tat setzt sich Goethe, gerade indem er die ästhetische Qualität der Laokoon-Gruppe auf das Prinzip der inneren Angemessenheit zurückführt, von Hirt ab. Nach der Überzeugung Hirts geht es bei der LaokoonGruppe weder um „Reflexion auf die stille Größe“ noch um „den Ausdruck mildernde […] Schönheit“.17 Stattdessen nimmt er die Statue als charakteristische Darstellung von Leid. Dabei übersieht Hirt den gelungenen Aufbau des Werkes mit seiner Symmetrie, Fasslichkeit, ausgewogenen Proportionalität. Wie für Winckelmann18 zeichnet sich die Skulptur für Goethe mit einem Begriff aus der Rhetorik durch innere Angemessenheit und eine wesenhafte Durchdringung des Dargestellten aus. Indem der Bildhauer seinen Gegenstand „Ordnung, Faßlich–––––––––––– 15 16 17
18
Ebd. S. 122. Goethe: Über Laokoon. MA 4, 2. S. 73. Hirt, Aloys Ludwig: Laokoon. In: Die Horen 3, 10 (1797) S. 1–26, hier: S. 7. Goethe wurde durch Hirt zum Charakteristiker in „Der Sammler und die Seinigen“ inspiriert (vgl. Vaget, Hans Rudolf: Dilettantismus und Meisterschaft. Zum Problem des Dilettantismus bei Goethe: Praxis, Theorie, Zeitkritik. München 1971. S. 112–114). Winckelmann, Johann Joachim: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst [1756]. Baden Baden u. Strasbourg 1962. S. 21.
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keit, Symmetrie, Gegenstellung“ unterwirft, wird „er für das Auge schön, das heißt, anmutig“.19 Zugleich hängt die Schönheit der Plastik daran, dass die Szene dem Gesetz der geistigen Schönheit unterworfen [ist], die durch das Maß entsteht, welchem der, zur Darstellung oder Hervorbringung des Schönen, gebildete Mensch alles, sogar die Extreme, zu unterwerfen weiß.20
Indem Goethe die innere Angemessenheit eines Kunstwerks zum Kriterium seiner Anmut und seines künstlerischen Ranges macht, knüpft er an Winckelmann an, dessen ästhetische Prinzipien er bereits in Leipzig durch Adam Oeser kennen gelernt hatte,21 wie ein früher Brief an Philipp Erasmus Reich zeigt: Oesers Erfindungen haben mir eine neue Gelegenheit gegeben, mich zu seegnen, dass ich ihn zum Lehrer gehabt habe. […] Sein Unterricht wird auf mein ganzes Leben Folgen haben. Er lehrte mich, das Ideal der Schönheit sey Einfalt und Stille, und daraus folgt, dass kein Jüngling Meister werden könne. Es ist ein Glück wenn man sich von dieser Wahrheit nicht erst durch eine traurige Erfahrung zu überzeugen braucht. Empfehlen Sie mich meinem lieben Oeser.22
Allerdings entfaltet Winckelmann zunächst keine rechte Wirkung auf Goethe, erst während und nach der Italienreise rückt das Ideal der „Einfalt“ und „Stille“ in seinen geistigen Fokus. Winckelmann argumentiert, dass ein Meisterwerk sich durch edle Einfalt und stille Größe in dem Maße auszeichnet, wie der Künstler seinen Gegenstand zu fassen und zu beherrschen vermag, wie er im Kunstwerk eine innere Stimmigkeit der Teile erreicht: Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt, und eine stille Größe, sowohl in der Stellung als im Ausdrucke. So wie die Tiefe des Meers allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, ebenso zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele.23
Gert Ueding hat anhand der Laokoon-Beschreibung Winckelmanns gezeigt, wie eng dessen Erklärung von edler Einfalt und stiller Größe mit der rhetorischen aptum-Lehre verknüpft ist: Winckelmann schildert den Aufbau der Statue so, daß die einzelnen Teile derselben, so unterschiedlich sie für sich genommen auch sind, zu einem einzigen, seiner Meinung nach […] harmonischen Eindruck zusammenstimmen, der es ihm erlaubt, ausgerechnet diese Figurengruppe als Exempel für seine Schönheitsformel von der edlen Einfalt und stillen Größe zu machen. Als wichtigste Bedingung der Schönheit nämlich sieht der Interpret des Werkes die innere Stimmigkeit der Teile oder, rhetorisch formuliert, den consensus
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Goethe: Über Laokoon. MA 4, 2. S. 74. Ebd. Vgl. Trevelyan, Humphry: Goethe and the Greeks. Cambridge, London u. a. 1981. S. 92–93. Goethe an Philipp Erasmus Reich. Brief vom 20. Februar 1770. WA IV, 1. S. 229. Winckelmann, Johann Joachim: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst [1756]. Baden Baden u. Strasbourg 1962. S. 21.
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internus, das innere aptum, der Stadien, Bearbeitungsphasen, Überzeugungsgründe und Stilmittel, der zu den wichtigsten Forderungen an jeden Redner gehört.24
In Italien brachte neben Winckelmann auch Palladio Goethe auf die Spur des aptum-Prinzips und damit auf die Spur der Rhetorik. Geschult an den Texten Vitruvs und Albertis, deren Theorien durch und durch rhetorisch geprägt sind, entwickelte Palladio eine Theorie der Architektur, die bereits 1570 das Problem von Einheit und Mannigfaltigkeit pointiert diskutiert.25 Am 27. September 1786 hat Goethe dessen „Quattro Libri dell’ Architettura“ gekauft,26 in denen er darauf eifrig liest („hab […] meine meiste Zeit auf den Palladio gewendet, und kann nicht davon kommen“27), so dass er später in der „Italienischen Reise“ Palladio das Verdienst zuschreiben wird, ihm „zu aller Kunst und Leben“ 28 den Weg geöffnet zu haben. Palladio definiert Schönheit in seinen „Quattro Libri dell’ Architettura“ wie Winckelmann durch die Beziehung von Teil und Ganzem: –––––––––––– 24
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Ueding, Gert: Von der Rhetorik zur Ästhetik. Winckelmanns Begriff des Schönen. In: Ders.: Aufklärung über Rhetorik. Versuche über Beredsamkeit, ihre Theorie und praktische Bewährung. Tübingen 1992. S. 139–154, hier: S. 147. Winckelmann war über den Besuch der Vorlesungen Baumgartens mit Konzepten der Rhetorik vertraut (vgl. Justi, Carl: Winckelmann und seine Zeitgenossen. Bd. 1. 3. Auflage. Leipzig 1923. S. 83). Als poetisches Prinzip wird die Einheit des Mannigfaltigen schon in der Antike fruchtbar gemacht, so fordert Horaz die Verbindung vom einfachen Einen („simplex et unum“) und Ganzen („totum“) im Werk des Dichters (Horaz: Ars poetica. V. 23 u. 34). Neu ist bei Goethe, dass er, anders als Winckelmann und seine antiken Vorgänger, die Einheit im Mannigfaltigen durch organische Gesetzmäßigkeiten zu begründen versucht (vgl. Fischer, Bernhard: Authentizität und ästhetische Objektivität. Youngs „Gedanken über die Original-Werke“ (1759) und Goethes „Von deutscher Baukunst“ (1771). In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 42 (1992) S. 178–194, hier: S. 186). Zur Bedeutung von Vitruv und Alberti für Palladio vgl. Boucher, Bruce: Palladio. Der Architekt in seiner Zeit. München 1994. S. 12. Insbesondere die Ausbildung des Architekten nach Vitruv lehnt sich eng an die antike Rhetorik an, sie gründet auf fabricia (exercitatio) und die Vermittlung von Wissen um die ratiocinatio (dispositio) (vgl. Vitruv: Zehn Bücher über Architektur (De architectura). Übersetzt von Jakob Prestel. 3. Auflage. BadenBaden 1987. I, I, 1. S. 5–6). Die Bedeutung der Rhetorik für Vitruv hat zunächst Ernesto Grassi angedeutet (vgl. E. G.: Die Theorie des Schönen in der Antike. Köln 1962. S. 163), zudem erschließt sie sich durch Kruft, Hanno-Walter: Geschichte der Architekturtheorie. Von der Antike bis zur Gegenwart. 2., unveränderte Auflage. München 1986. S. 27. Hinweise zum Einfluss der Rhetorik auf Alberti liefern Lindroth, Heinzpeter: Artikel „Architektur“, Antike, Mittelalter. HWRh. Bd. 1. Sp. 866–869, hier: Sp. 866; Aurenhammer, Hans H.: Phidias als Maler, Überlegungen zum Verhältnis von Malerei und Skulptur in Leon Battista Albertis „De pictura“. In: Römische Historische Mitteilungen 43 (2001) S. 355–410. Vgl. Goethe: Tagebuch der italienischen Reise für Frau von Stein. 27. September 1786. MA 3, 1. S. 87, vgl. außerdem: Italienische Reise. 27. September 1786. MA 15. S. 68. Die Bedeutung Palladios für Goethe hat auch Herbert von Einem thematisiert, der Palladio die Leistung zuschreibt, die „Freiheit in der Gesetzlichkeit“ erkannt zu haben (H. v. E.: Goethe und Palladio. In: Ders.: Beiträge zu Goethes Kunstauffassung. Hamburg 1956. S. 179–214). Goethe: Tagebuch der italienischen Reise für Frau von Stein. 30. September 1786. MA 3, 1. S. 95. Ebd. 4. Oktober 1786. S. 104; ders.: Italienische Reise. 8. Oktober 1786. MA 15. S. 103.
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Schönheit entspringt der schönen Form und der Entsprechung des Ganzen mit den Einzelteilen, wie der Entsprechung der Teile untereinander und wieder zum Ganzen, so daß das Gebäude wie ein einheitlicher und vollkommener Körper erscheint.29
Er hält innere Angemessenheit für ein Merkmal eines schönen Gegenstands, und er leitet diesen Gedanken noch direkt aus der antiken aptum-Lehre ab, die er in die Architektur überträgt.30 Wie Palladio überhaupt zahlreiche Systemteile der Rhetorik in seine Architekturtheorie aufnimmt und auch inventio, „Schmuck“ (ornatus) und „Schicklichkeit“ (äußeres aptum) behandelt.31 Dabei geht die Adaption rhetorischer Inhalte so weit, dass Palladio den Architekten wie einen antiken Redner versteht: Kriterium der architektonischen Leistung war, inwieweit es der schöpferischen Kraft, der ‚inventio‘ des Architekten gelang, eine gestellte neue Aufgabe innerhalb des gegebenen, typologisch geprägten Vorrats an Formen und Strukturen so zu lösen, daß sich die Einheit von ‚Gebrauch‘ und ‚Form‘ wieder herstellte.32
Die Harmonie, die sich in Palladios Bauwerken durch das Zusammenspiel von Einzelteilen und Ganzem ergibt, nimmt Goethe selbst in der redaktionell geglätteten „Italienischen Reise“, die ja einen ästhetischen Neubeginn programmatisch belegen soll, als das Ergebnis einer rhetorischen Konstruktion wahr: Die höchste Schwierigkeit mit der dieser Mann [Palladio], wie alle neuere Architekten zu kämpfen hatte, ist die schickliche Anwendung der Säulenordnungen in der bürgerlichen Baukunst: denn Säulen und Mauern zu verbinden bleibt doch immer ein Widerspruch. Aber wie er das unter einander gearbeitet hat, wie er durch die Gegenwart seiner Werke imponiert und vergessen macht, daß er nur überredet! Es ist wirklich etwas Göttliches in seinen Anlagen, völlig wie die Force des großen Dichters der aus Wahrheit und Lüge ein drittes bildet, dessen erborgtes Dasein uns bezaubert.33
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Palladio, Andrea: Die vier Bücher zur Architektur [I quattro libri dell’architettura, 1570]. Hrsg. v. Andreas Beyer u. Ulrich Schütte. 2. durchgesehene Auflage. Darmstadt 1984. S. 20. Vgl. Kruft, Hanno-Walter: Geschichte der Architekturtheorie. Von der Antike bis zur Gegenwart. 2., unveränderte Auflage. München 1986. S. 99–100. Vgl. Palladio, Andrea: Die vier Bücher zur Architektur [I quattro libri dell’architettura, 1570]. Hrsg. v. Andreas Beyer u. Ulrich Schütte. 2. durchgesehene Auflage. Darmstadt 1984. S. 20–21 u. 113. Beyer, Andreas u. Ulrich Schütte: Nachwort. In: Palladio, Andrea: Die vier Bücher zur Architektur [I quattro libri dell’architettura, 1570]. Hrsg. v. A. B. u. U. Sch. 2., durchgesehene Auflage. Darmstadt 1984. S. 438. Heinz Spielmann führt die ästhetische Position Palladios in seiner Monographie „Palladio und die Antike“ leider nicht auf rhetorische Traditionen zurück. Er verweist lediglich auf Vitruv als Vorbild und nennt die Arbeitsschritte des Architekten, ohne ihre Entstehungsgeschichte nachzuvollziehen, da Palladios Auseinandersetzung mit den Bauwerken der Antike im Mittelpunkt seines Interesses steht (vgl. H. S.: Andrea Palladio und die Antike. Untersuchung und Katalog der Zeichnungen aus seinem Nachlaß. München u. Berlin 1966. S. 97–108). Goethe: Italienische Reise. 19. September 1786. MA 15. S. 59–60. Dieses Zitat ist im Kontext des aktuellen Interesses Goethes an der Rhetorik zu sehen, das um 1813 vor dem Hin-
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Kunst überredet also nach Goethes Überzeugung mit Hilfe von „Wahrheit“ und „Lüge“, also durch einen Gehalt an Wahrheit und Teilhabe an der Idee des Schönen, die den Gegenstand eines Kunstwerks auszeichnen soll, aber auch durch Wahrscheinlichkeit und schönen Schein. Auch große Kunst ist auf Konstruktion angewiesen, das hat Winckelmann Goethe deutlich gemacht und Palladio bestätigt. Palladio folgt dem äußeren aptum, d. h. den Regeln der sozialen Wirkung, und dem inneren aptum, das ein Ideal von Einheit und Mannigfaltigkeit ist. Es ist die Anschauung der antiken Kunst und der Bauwerke Palladios, die Goethe ein besseres Gefühl für diese Harmonie gibt. Das innere aptum lässt sich nämlich nicht durch starre Regeln beschreiben, vielmehr muss ein Künstler durch die Anschauung von Kunstwerken sein Urteilsvermögen an Beispielen schulen und verbessern. Vor dem Hintergrund der Palladio-Rezeption ist es nahe liegend, dass Goethe seine ästhetische Theorie auch selbst am Beispiel der Architektur entwickelt. So denkt er im 1795 entstandenen Baukunst-Aufsatz, der im Kontext der Planung für den Weimarer Schloss-Neubau steht, über das Problem der Angemessenheit nach.34 Die theoretischen Hintergründe der Lehre von der inneren Angemessenheit wurden Goethe dabei wohl nochmals durch eine der Quellen Palladios nahe gebracht, nämlich durch Leon Battista Alberti, dessen Werke er in dieser Zeit studiert.35 Für Alberti ist ein großer Maler oder Baumeister von seinem Urteilsvermögen abhängig,36 Angemessenheit ist für ihn wie in der antiken Rhetorik das Resultat, das sich einstellt, wenn ein Redner oder Künstler seine rhetorischen resp. ästhetischen Mittel mit Urteilsvermögen (iudicium) auswählt. Die Urteilsfähigkeit eines Redners oder Künstlers ist zwar das Ergebnis langfristiger Beobachtung und bedachter Ausbildung, dennoch wird das Thema in den meisten antiken Rhetoriklehrbücher eher knapp behandelt, weil die antike Rhetorik keine ––––––––––––
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tergrund von Ernestis Rhetoriklexikon zu beobachten ist (vgl. Abschnitt 9. 1. 3 dieser Arbeit), denn im Reise-Tagebuch taucht das Wort „überredet“ noch nicht auf, statt dessen heißt es: „Aber wie er das durcheinander gearbeitet hat, wie er durch die Gegenwart seiner Werke imponiert und vergessen macht daß es Ungeheuer sind.“ (Goethe: Tagebuch der italienischen Reise für Frau von Stein. 19. September 1786. MA 3,1. S. 71). Auch hier ist indes der rhetorische Subtext zu erkennen, denn mit der Formulierung, dass Palladio „vergessen macht daß es [= seine Bauwerke, O. K.] Ungeheuer sind“, klingt das Thema simulatio / dissimulatio an. Vgl. Goethe an Schiller. Brief vom 1. November 1795. MA 8, 1. S. 123. Vgl. z. B. Goethe: [Vorbereitung zur zweiten Reise nach Italien]. MA 4, 2. S. 556; ders.: Zur Geschichte der Peterskirche nach Bonanni. MA 4, 2. S. 61. Auch Palladio selbst bleibt für Goethe in dieser Zeit eine Autorität, wie ein Brief an Johann Heinrich Meyer belegt: „Je mehr man den Palladio studirt, je unbegreiflicher wird einem das Genie, die Meisterschaft, der Reichthum, die Versatilität und Grazie dieses Mannes.“ (Goethe an J. H. M. Brief vom 30. Dezember 1795. WA IV, 10. S. 360–361). Vgl. dazu auch die Hinweise zur Alberti-Forschung in Fußnote 25 dieses Kapitels.
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expliziten Regeln formulieren konnte, die das Urteilsvermögen des Redners fördern. Vielmehr entwickelt sich Urteilsvermögen schrittweise, wobei es eine der wichtigsten Aufgaben des Lehrers ist, „immer wieder Fragen [zu] stellen und so das Urteil der Schüler auf die Probe [zu] stellen.“37 Weil sich das Urteilsvermögen nicht an explizite Regeln halten kann, ist das sichere Urteil immer wieder gefährdet, es ist „[i]n jeder Kunst […] schwerer als man glaubt zu bestimmen was lobens- oder tadelnswert sei“.38 Im Baukunst-Aufsatz von 1795 leitet Goethe das Angemessene aus den Eigenschaften des Materials ab, mit dem der Architekt arbeitet. Ein Beispiel: Er geht davon aus, dass „Stein bloß vertikal trägt“, während „Holz hingegen auf eine große Weite horizontal trägt“.39 Aus diesen physikalischen Gegebenheiten, die zumindest unter den technischen Bedingungen der damaligen Zeit zutreffen, ergeben sich nun einige Kriterien, um zu beurteilen, ob ein Bauwerk angemessen gestaltet ist oder nicht. Freilich ist dies nur eine basale Ebene von Angemessenheit, der Aufbau des Gebäudes, die Proportionen, seine Gliederung sind weitere Aspekte, die der Architekt berücksichtigen muss, so dass er insgesamt mit solch komplexen Gestaltungsmöglichkeiten konfrontiert ist, dass sich nicht einfach klären lässt, ob ein Gebäude nach den Regeln der Angemessenheit konstruiert ist. Deutlich aber wird, Goethe fragt nach innerer, aber auch äußerer Angemessenheit von Gebäuden, schließlich baue man diese zumeist für einen bestimmten „Zweck“.40 Wobei der inneren Angemessenheit besonderen Wert zukommt, diese über den Rang der Kunst entscheidet: „Soll aber das Baugeschäft den Namen einer Kunst verdienen, so muß es neben dem Notwendigen und Nützlichen auch sinnlich harmonische Gegenstände hervorbringen.“41 Die sinnlich harmonische Qualität eines Bauwerks ergibt sich also „aus dem Material aus dem Zweck und aus der Natur des Sinns, für welchen das Ganze harmonisch sein soll.“42 Baukunst, ja Kunst überhaupt, wird in ein komplexes Wirkungsgefüge eingeordnet, das jeweils unter Kriterien der Angemessenheit einzurichten ist, wobei diese Kriterien empirisch fundiert sind, indem sie die Intentionen des Erbauers oder Künstlers berücksichtigen, die dieser in einem Werk gestaltet, aber auch die Eigenheiten des verwendeten Materials und das jeweilige Setting ins Kalkül ziehen. Insofern findet sich hier die Relation von Orator, Text, Medium und Setting wieder, wie sie für die Rhetorik kennzeichnend ist. –––––––––––– 37
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Quint. Inst. orat. II, 5, 13. Im zweiten Buch der „Institutio oratoria“ kommt Quintilian wiederholt auf die schrittweise Entwicklung des iudicium zu sprechen, die vom Vorbild des Lehrers (vgl. ebd. II, 2, 13) ebenso abhängig ist wie von Übung und zeitlicher Fortentwicklung (vgl. ebd. II, 4, 7–9) sowie sorgfältiger Auswahl der Lektüre (vgl. ebd. II, 5, 269). Goethe: Baukunst 1795. MA 4, 2. S. 53. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. S. 54.
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Dass Goethe die Reinstallation des aptum-Prinzips vor dem Hintergrund der rhetorischen Tradition betreibt, lässt sich schließlich auch daran erkennen, dass er das Angemessene ethisch wendet, nämlich etwa in „Kunst und Handwerk“. Kunst entsteht „von dem Notwendigen an“,43 also die Baukunst aus dem Bedürfnis, sich eine Unterkunft zu verschaffen, große Kunst aber setzt ein „Gefühl des Gehörigen und Schicklichen“44 voraus. Das Verhältnis des Schicklichen zum Nützlichen ist ein großes Thema der römischen Rhetorik, das in der aptumTheorie immer wieder auftaucht. Nach der honestum-utile-Doktrin Ciceros fallen Nutzen und Schönheit trotz potentieller Widersprüche, die das dritte Buch von „De officiis“ behandelt, in der Regel zusammen. Für Goethe ist die ästhetischmoralische Doppelung von honestum selbstverständlich, sofern die Form eines Kunstwerks gelungen ist, bedeutet dies auch einen ethischen Wert. Es mag überraschen, Goethes nachitalienische Ästhetik zu der honestum-utile-Doktrin in Verbindung zu setzen, da, wie Alste Horn-Oncken ausführt, Dichtung im Sinne Goethes doch gerade keinen Zweck kenne.45 Aber genealogisch entsteht aus dem Notwendigen, wenn es weiter verfeinert wird, das Gehörige und Schickliche, das dann selbst wiederum über ein bloß zweckrationales Nutzenkalkül erhoben ist, wie etwa auch nach Quintilian „über die reine Nützlichkeit das siegen [soll], was sich ziemt“46. Damit ist ein Kernsatz ethisch aufgeladener Eloquenzrhetorik formuliert, die nicht in einem situativ-persuasiven Bezug steht, somit Rhetorik in einer eigenen Weise positioniert, die sich von der Persuasionsrhetorik im Sinne von Aristoteles entfernt, historisch aber ungemein wirksam wurde, wie sich auch an Goethe ablesen lässt.
5. 3.
Rhetorische Kunstfertigkeit statt Dissimulation der Kunst
Für Goethe gründet das Kunstwerk in einer diskursiv nicht zu vermittelnden Erfahrung. Wenn ein Künstler eine solche Erfahrung gestaltet, muss er den Inhalt einer Form unterwerfen, dabei ist die Angemessenheit des Kunstwerks, –––––––––––– 43
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Goethe: [Kunst und Handwerk]. MA 4, 2. S. 118. Zur Begriffsbedeutung des „Schicklichen“ vgl. Horn-Oncken, Alste: Über das Schickliche. Studien zur Geschichte der Architekturtheorie. Göttingen 1967. S. 24–28. Horn-Oncken liefert zudem eine Rekonstruktion des Begriffs auf der Grundlage der Architekturtheorie Vitruvs (vgl. ebd. S. 29–46), demzufolge der Begriff auf die Wahl, Abfolge und Anordnung der Formelemente zu beziehen ist, und sie verdeutlicht die rhetorische Tradition hinter Vitruv, indem sie dessen decor-Begriff mit dem rhetorischen πρέπον in Beziehung setzt (vgl. ebd. S. 99–110). Goethe: [Kunst und Handwerk]. MA 4, 2. S. 118. Vgl. Horn-Oncken, Alste: Über das Schickliche. Studien zur Geschichte der Architekturtheorie. Göttingen 1967. S. 109. Quint. Inst. orat. XI, 1, 9.
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seine innere Stimmigkeit, ein wichtiges Kriterium. Die innere Stimmigkeit ist immer vom Material, das der Künstler bearbeitet, abhängig. Goethe erklärt dies etwa am Beispiel des Architekten oder auch des Malers. Für den Schriftsteller aber ist die Sprache das Material und das Wissen um die Wirkung sprachlicher Strukturen das Thema der Rhetorik. Der Künstler darf kein „bloß mechanische[r] Künstler“47 sein, der seine Materie beherrscht, aber keine Erfahrung der Natur, also des Menschen, der Umwelt oder seiner selbst gestaltet. In diesem Sinne ist die Natur, sind aber auch andere Kunstwerke ein Vorbild, auf das Kunst angewiesen ist. Aber insofern der innere Aufbau eines Werkes wichtiger wird, löst sich das Kunstwerk aus direkten mimetischen Bezügen, weshalb es gar nicht mehr entscheidend ist, das Kunstwerk als ein Werk der Natur erscheinen zu lassen, seine Künstlichkeit zu dissimulieren. Goethe argumentiert: Die Alten, weit entfernt von dem modernen Wahne, daß ein Kunstwerk dem Scheine nach wieder ein Naturwerk werden müsse, bezeichneten ihre Kunstwerke als solche, durch gewählte Ordnung der Teile, sie erleichterten dem Auge die Einsicht in die Verhältnisse durch Symmetrie, und so ward ein verwickeltes Werk faßlich.48
Goethe bricht also im Übergang zur Klassik mit dem Prinzip der dissimulatio artis, das er in Weimar zunächst als ein Korrektiv von Geniewesen und Empfindsamkeit gesehen hatte, weil es eben auch den Kunstcharakter eines Kunstwerks impliziert und Natürlichkeit als einen Effekt der Kunst, nicht der Empfindung selbst, versteht. Jetzt aber darf und soll ein Kunstwerk als solches erscheinen und kann trotzdem durch die Bauprinzipien, an die es sich hält, und durch die wesenhafte Erkenntnisleistung des Künstlers anmutig sein, so lautet seine Überzeugung, die wiederum in neuer Weise mit dem rhizomatisch verzweigten Rhetorik-Begriff verbunden bleibt. Hier ist das Prinzip der Angemessenheit in neuer Weise verstanden. Die Wirkung eines Kunstwerks gründet für Goethe in der Form selbst, der Artifizialität des Kunstwerks kommt also entscheidende Bedeutung zu. Indem er der Form einen solchen Rang beimisst, spielt das iudicium, also das Urteil über die Angemessenheit der eingesetzten sprachlichen Mittel, eine wichtige Rolle. Dies ist aus der Sicht der Rhetorik ein Zeichen für Klassizismus. Lausberg beschreibt etwa das iudicium in diesem Sinne: Eine Vorherrschaft des Urteils bedeutet Klassizität, eine Vorherrschaft der inneren Erfahrung hingegen würde Manierismus entstehen lassen.49 Mit Goethe könnte man als drittes noch die einfache Nachahmung der Natur abgrenzen, die nicht viel von einem gereiften Urteil zur Bewertung der eingesetzten Mittel weiß und ein einfaches ursprüngliches Kunstmodell darstellt.
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Goethe: [Kunst und Handwerk]. MA 4, 2. S. 120. Goethe: Über Laokoon. MA 4, 2. S. 77. Vgl. Lausberg § 1153.
176
Der Dialog „Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke“ – wie der Laokoon-Aufsatz Bestandteil der ersten Ausgabe der „Propyläen“ – führt Goethes ästhetische Theoriebildung nochmals aus einer neuen rhetorischen Perspektive fort. Goethe befasst sich hier mit dem Gegensatz zwischen Wahrheit und Wahrscheinlichkeit, adressiert also ein weiteres genuin rhetorisches Thema und argumentiert nochmals für sein Verständnis von Nachahmung, das sich von der mimesis-Lehre Platons und Aristoteles’, die etwa Klaus H. Kiefer als Hintergrund des Textes bestimmt, 50 abhebt. Ein Zuschauer beklagt sich in dem Dialog über ein Bühnenbild, welches in Logen gemalte Zuschauer zeigte, er ärgert sich, dass man ihm „so etwas unwahres und unwahrscheinliches aufzubinden gedächte.“51 Der Zuschauer, ein Verfechter einfacher Nachahmung, fordert ganz gemäß der aristotelischen Tradition, dass die Darstellung auf dem Theater „wahr und wirklich scheinen solle“,52 oder, rhetorisch gesprochen, dass sie sich an die Gesetze der dissimulatio und der probabilitas halten sollte. Daraufhin weist ein Anwalt des Künstlers den Zuschauer zurecht, dass er einem Irrglauben aufsitze, denn Fiktionalität sei doch gerade ein Zeichen von Kunst. Die poetische Lizenz, von der schon Aristoteles spricht,53 erlaubt es schon nach antiker Maßgabe, dass ein literarisches Werk die Grenzen von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit bisweilen sprengt, da, wie Quintilian ausführt: die ganze Dichtung zur Unterhaltung geschaffen ist und […] ihr Ziel nur der Genuß ist und sie dies verfolgt, indem sie nicht nur Unwahres, sondern sogar allerhand Unglaubliches erfindet […].54
Goethe aber hat diese Lizenz erweitert, weil nun gerade in der Artifizialität des Kunstwerks, oder anders in der Kunstfertigkeit des Künstlers der eigentliche Wert liegen soll. Er lässt Anwalt und Zuschauer in der Oper miteinander sprechen, wo der Verstoß gegen Wahrheit und Wahrscheinlichkeit beinahe als Gattungsspezifikum gelten darf, und kann an diesem Muster erläutern, über welche Eigenschaften ein artifizielles Kunstwerk verfügen muss, damit es auf die Rezipienten wirkt. Die Antwort klingt erstaunlich rhetorisch: Was nötig ist, ist nämlich ein „Schein des Wahren“,55 d. h., der Künstler soll mit seinem Kunstwerk Wahrheit –––––––––––– 50 51 52
53
54 55
Vgl. Kiefer, Klaus H.: Kommentar „Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke“. MA 4, 2. S. 989. Goethe: Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke. Ein Gespräch. MA 4, 2. S. 90. Ebd. Vgl. Arist. Poet. 1460b. In zeitlicher Nähe zur Arbeit an dem Dialog „Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke“ liest Goethe Aristoteles’ „Poetik“ (vgl. Goethe an Schiller. Briefe vom 28. April bzw. 3. Mai 1797. MA 8, 1. S. 341 bzw. 343). Quint. Inst. orat. X, 1, 28. Goethe: Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke. Ein Gespräch. MA 4, 2. S. 90.
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erschließen, indem er einen ästhetischen Schein aufbaut. Entscheidend ist wiederum, dass dies nicht im Sinne eines persuasiven Simulations-/DissimulationsProzesses geschieht. Der Zuschauer muss nämlich nach einigen Anläufen des Anwalts zugeben, dass ein Kunstwerk „mit sich selbst“56 übereinstimmt. Die Oper als „kleine Welt für sich“57 legt systemimmanent fest, was wahr, was wahrscheinlich ist. Es geht in dieser Opernwelt „alles nach gewissen Gesetzen“,58 so dass die Welt der Oper „nach ihren eignen Gesetzen beurteilt, nach ihren eignen Eigenschaften gefühlt“59 werden muss. Im Sinne des Laokoon-Aufsatzes bringt der Anwalt vor, dass am Beispiel der Oper somit die Eigengesetzlichkeit der Kunst bewiesen sei und fragt: Sollte nun nicht […] folgen, daß das Kunstwahre und das Naturwahre völlig verschieden sei, und daß der Künstler keineswegs streben sollte, noch dürfe, daß sein Werk eigentlich als ein Naturwerk erscheine.60
Natur bleibt eine „Anforderung“ an den Künstler, die „groß“, ja „ungeheuer“ ist, aber es bleibt eben auch die „ungeheure Kluft“ zwischen beiden, wie es in der Einleitung zu den „Propyläen“ heißt.61 Nach der hochklassischen Position der „Propyläen“ kann der Künstler allenfalls mit der Natur wetteifern. Für Nachahmung in einem konventionellen Sinne ist jedoch kein Platz, denn einen wie auch immer gearteten Realismus des Fiktiven strebt Goethe ausdrücklich nicht an, insofern kann man wie Petersen von Goethes „klassische[r] Kunstauffassung als einer den Nachahmungsgedanken verabschiedenden Ästhetik“62 sprechen. Das bedeutet aber, dass die klassische Kunst, obwohl sie durch den wetteifernden Künstler an die Erkenntnis des Wesens der Natur zurückgebunden ist, immer rhetorischer wird im Sinne rhetorischer Kunstfertigkeit oder Artifizialität, die den Wert der Kunst ausmacht. Man darf, wie Goethe in den „Wanderjahren“ pointiert formuliert, durchaus erkennen, „daß Kunst eben darum Kunst heiße, weil sie nicht Natur ist.“63 Hier kommt also die Rhetorik als systematische Theorie des kunstgemäßen Ausdrucks zum Tragen, wird ein an der ars gereiftes iudicium gefordert. Kunst jenseits des mimetischen Naturbezugs setzt aber auch ein ganz eigenes Publikum voraus. Nach Meinung des Anwalts nimmt nämlich nur der ganz ungebildete Zuschauer ein Kunstwerk als ein Naturwerk wahr, wie der Vergleich –––––––––––– 56 57 58 59 60 61 62 63
Ebd. S. 92. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. S. 93. Goethe: Einleitung in die Propyläen. MA 6, 2. S. 13. Petersen, Jürgen H.: Mimesis – Imitatio – Nachahmung. Eine Geschichte der europäischen Poetik. München 2000. S. 204. Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden. MA 17. S. 480.
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mit einem Affen, der Käfer aus einem Kupferstich herauszupflücken versucht, erhellt. Auch im Modus des Spiels, der jedem gebildeten Rezipienten bewusst ist, kann ein Kunstwerk affektiv und intellektuell wirken, da der „wahre Liebhaber […] nicht nur die Wahrheit des nachgeahmten, sondern auch die Vorzüge des ausgewählten, das Geistreiche der Zusammenstellung, das Überirdische der kleinen Kunstwelt“64 sieht. Solche Kunst richtet sich an die „besser[e] Natur“65 des Rezipienten. Auch die klassische Ästhetik führt den Wirkungsgedanken fort, wirkt persuasiv durch ihre bloße Form und erhebt einen beachtlichen erzieherischen Anspruch. Goethe gibt das dissimulatio-artis-Gebot wie das mimesis-Konzept nicht vollends preis, der Künstler muss vielmehr abwägen, inwieweit der Kunstcharakter seiner Kunst offen zu Tage treten kann, ohne dass der ‚Schein der Wahrheit‘ gefährdet ist. Schließlich beschreibt Goethe selbst die Wirkung von Kunst weiterhin mit rhetorischen Konzepten und differenziert zwischen ethosund pathos-Wirkung eines Kunstwerks:66 Dem vollendeten Kunstwerk gelingt es nämlich nach seiner Aussage, bei dem hohen Pathos der Vorstellung eine angenehme Empfindung [zu] erregen, und den Sturm der Leiden und Leidenschaft durch Anmut und Schönheit [zu] mildern. 67
So gehen bei Goethe eine von der Rhetorik geformte Theorie über die Wirkung von Kunst und die Aufhebung des dissimulatio-Gedankens eine unvermutete Koalition ein, das Kunstwerk soll wirken, zugleich als Kunstwerk erscheinen. Dies stellt besondere Anforderungen an das Publikum: Symbolische Kunst, die ihren Kunstcharakter nicht dissimuliert, hat für den Rezipienten durchaus irritierende Momente. Für ein weiterentwickeltes Publikum, für das Goethe mal mit Eifer und mal mit Resignation eintrat, ist solch symbolische Darstellung vielleicht geeignet. Aber Goethe musste durch die „Horen“ ebenso wie durch die „Propyläen“ erfahren, wie klein das Publikum für solche Experimente wirklich war, weil selbst Kunst, der das Zusammenspiel von Allgemeinem und Besonderem gelingt, hohe Anforderungen an den Rezipienten stellt, seine Form zu würdigen, das Symbolische als Symbolisches zu erkennen. Zugleich ist die Theorie selbst idealtypisch, denn ohne illusionäre Wirkung, die entsteht, indem der Dichter von der dissimulatio artis Gebrauch macht, kommt Kunst nicht aus, kann die rhetorische Struktur nicht in einem ästhetischen Sinne wirken. –––––––––––– 64 65 66
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Goethe: Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke. Ein Gespräch. MA 4, 2. S. 95. Ebd. S. 94. Die Trias der rhetorischen Affekterregung brachte Goethe in dieser Zeit die Übersetzung des „Essai sur les fictions“ von Anna Louise de Staël-Holstein, die er 1796 in den „Horen“ veröffentlichte, noch einmal in Erinnerung. Vgl. [Madame de Staël]: Versuch über die Dichtungen. MA 4, 2. S. 23. Goethe: Über Laokoon. MA 4, 2. S. 77–78.
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Goethes symbolisch-idealistische Kunst kann endlich eine konsequente theoretische Begründung für künstlerische Autonomie geben, wenn Kunst nämlich im freien symbolischen Spiel entsteht, nicht indem sie die Schaffensprozesse der Natur für sich adaptiert, wie in der Autonomieästhetik der Geniephase, nicht indem sie selbst als Natur erscheint, löst sich die Kunst aus heteronomen Bezügen.68 Rhetorisch gesehen, bleibt diese Vorstellung jedoch problematisch. Wenn sich der Künstler auch weigert, mit seiner Kunst äußere Ziele zu verfolgen, so sind seine Texte dennoch nicht interessenlos, wie man oft unterstellt. „[D]er König von Tauris soll reden als wenn kein Strumpfwürcker in Apolde hungerte“,69 schreibt Goethe am 6. März 1779 an Charlotte von Stein, während er als Vorsitzender der Kriegskommission durch die Lande zieht und an der Prosafassung des Iphigenie-Dramas arbeitet.70 Die Worte zitiert man oft, meist jedoch vor allem wegen ihrer Kuriosität. Während der Arbeit an der „Iphigenie“ scheint die strikte Trennung von Kunst und Wirklichkeit für Goethe notwendige Voraussetzung für künstlerische Arbeit zu sein, so heißt es in einem Brief an Frau von Stein vom 2. März 1779: „Jetzt leb ich mit den Menschen dieser Welt, und esse und trincke spaße auch wohl mit ihnen, spüre sie aber kaum, denn mein inneres Leben geht unverrücklich seinen Gang.“71 Künstlerische Produktion kann für ihn nur jenseits der politischen Tagesinteressen gelingen, auch ein Brief an den Herzog macht dies klar: Übrigens lass ich mir von allerley erzählen, und alsdenn steig ich in meine alte Burg der Poesie und koche an meinem Töchtergen. Bey dieser Gelegenheit seh ich doch auch dass ich diese gute Gabe der himmlischen ein wenig zu kavalier behandle und ich habe würcklich Zeit wieder häuslicher mit meinem Talent zu werden wenn ich ie noch was hervorbringen will.72
Christa Bürger hat „Iphigenie auf Tauris“ als „Paradigma der Trennung von Kunst und Leben“73 verstanden. Damit hat sie der Rede von den Strumpfwürckern in Apolda Sinn gegeben, indem sie diese als Plädoyer für die Autonomie von Kunst deutet. Wird das Streben nach Autonomie im Kontext des Sturm und
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Vgl. dazu Fischer, Bernhard: Kunstautonomie und Ende der Ikonographie. Zur historischen Problematik von ‚Allegorie‘ und ‚Symbol‘ in Winckelmanns, Moritz’ und Goethes Kunsttheorie. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 64 (1990) S. 247–277, hier: S. 275. Goethe an Charlotte von Stein. Brief vom 6. März 1779. WA IV, 4. S. 18. Zu den Entstehungsbedingungen der Prosafassung der „Iphigenie“ vgl. Bradish, Joseph A. von: Das Werden der „Iphigenie“ auf Goethes Dienstreisen im März 1779. In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 65 (1961) S. 100–110. Goethe an Charlotte von Stein. Brief vom 2. März 1779. WA IV, 4. S. 14 Goethe an Herzog Carl August. Brief vom 8. März 1779. WA IV, 4. S. 21. Bürger, Christa: Der Ursprung der bürgerlichen Institution Kunst. Frankfurt am Main 1977. S. 177–192.
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Drang meist positiv bewertet, nämlich als eine Art künstlerischer Befreiungsschlag, verbindet sich mit der Autonomie-Vorstellung im Übergang zur Klassik und in der Klassik selbst jedoch oft eher der Vorwurf politischen Desinteresses. Ein solches klingt in der Ankündigung zu schreiben, als ob kein Strumpfwürcker hungere, in der Tat an. Allerdings formuliert Goethe, besonders in Zusammenarbeit mit Schiller, auf der Grundlage klassischer Ästhetik ja ein Erziehungsprogramm, in dem die Ausbildung des ästhetischen Urteilsvermögens die moralisch-ästhetische Entwicklung des Publikums erreichen soll. So sind politische Vorhaltungen zumindest aus der Innenperspektive der Klassik zu relativieren, auch wenn das Erziehungsprogramm der Klassiker sich historisch als Überforderung des Publikums entpuppt hat.
5. 4.
Wider die Dilettanten. Dilettantismus-Kritik im Kontext der Rhetorik-Rezeption
5. 4. 1. Formen des Dilettantismus Das Verhältnis zwischen Künstler und Publikum ist zu Zeiten der Weimarer Klassik zerrüttet. Goethes Briefsammlung „Der Sammler und die Seinigen“, aus der das so genannte Dilettantismus-Projekt Goethes und Schillers hervorging, ist Dokument der Distanz zwischen Autor und Rezipient. Die Brieferzählung liefert eine systematische Zusammenstellung der möglichen Arten, Kunst misszuverstehen. Das, so Goethe, „Familiengemälde der Kunstfreunde und Sammler“ 74 erzählt von einer großen privaten Kunstsammlung, deren Besitzer Gäste unterschiedlicher Art empfangen und in ihrem Verhalten studieren, zudem immer wieder die Grundsätze der eigenen Sammlertätigkeit diskutieren und versuchen, einen sicheren Maßstab zur Beurteilung ihrer Kunstwerke zu erlangen. Das rhetorische Bildungsprogramm verfolgt nach Quintilian als ein Ziel, das Urteilsvermögen der Schüler herzustellen und zu verbessern.75 Während einzelne Urteile sich nicht bis ins Letzte einholen lassen, kann eine solide Ausbildung, kann Erfahrung im Umgang mit Texten und Kunstwerken Anhaltspunkte geben, um Kunst sicher zu beurteilen, wie der Hüter der Sammlung, der seine Briefe der Fiktion nach an die Herausgeber des „Propyläen“ adressiert, durch ein eindringliches Bild verdeutlicht: Indessen bewährt sich doch, daß man schon viel gewonnen hat, wenn man in Hauptsachen mit einander übereintrifft, wenn das Kunsturteil, das zwar wie eine Waage immer hin und
–––––––––––– 74 75
Goethe an Schiller. Brief vom 24. November 1798. MA 8, 1. S. 648. Vgl. z. B. Quint. Inst. orat. II, 5, 13.
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wieder schwankt, doch an einem tüchtigen Kloben befestigt ist und nicht, wenn ich im Gleichnis verharren darf, Waage und Waagschalen zugleich hin und wieder geworfen werden.76
Der bunten Schar von Kunstliebhabern, die sich von der Sammlung angezogen fühlen, fehlt es jedoch gerade an einem solchermaßen geschulten Urteilsvermögen. Da gibt es Liebhaber einfacher Nachahmung, zu denen auch der Vater des jetzigen Sammlers gehört, Liebhaber von Skizzen, zu denen der Sammler selbst zählt, Besucher, die von Kunst nur unterhalten sein wollen, moralische Forderungen an das Kunstwerk stellen oder es nach den Gesetzen des Marktes taxieren. Gemein ist allen das Problem, als Liebhaber weder einen sicheren Maßstab zur Bewertung der Kunstwerke zu haben, noch ihre innere Regelmäßigkeit zu durchschauen oder ihre wesensmäßige Schönheit zu erkennen; es gelingt ihnen nicht, die „unerreichbare Idee immer im Sinne zu haben“,77 die ein vollendetes Kunstwerk auszeichnen soll. Überall, wo „noch kein rechtes Regulativ“78 ist, besteht die Gefahr, dilettantisch zu urteilen, und die Gefahr, dass Dilettanten sich als Künstler versuchen. Nach der Darstellung der Briefe ergeben sich sechs unterschiedliche Arten des Umgangs mit Kunst, sechs Typen von Kunstfreunden, deren Betrachtungs- und auch Produktionsweise zu Dilettantismus neigen (vgl. Abb. 2). Die unterschiedlichen Formen, dilettantisch mit Kunst umzugehen, lassen sich dabei nach der Analyse Goethes entlang eines Kontinuums von Spiel und Ernst differenzieren. Einige Dilettanten wie Nachahmer, Kleinkünstler und Charakteristiker nehmen einzelne Aspekte künstlerischer Produktivität zu ernst, andere wie Undulisten, Skizzisten und Phantomisten nehmen die Kunst „zu leicht und lose“,79 ignorieren dann aus Vorliebe für eine Idee, Dekoration oder poetische Phantasien die künstlerische Arbeit, die eben auch handwerkliche Perfektion und geistige Durchdringung verlangt. Erst die Verbindung von Ernst und Spiel würde den Dilettanten, die jeweils nur einzelne Aspekte eines Kunstwerks beachten, die Möglichkeit zu „Stil“ geben. Für ein vollendetes Kunstwerk sind nämlich der Naturbezug des Nachahmers, die handwerkliche Präzision des Kleinkünstlers, die gedankliche Klarheit des Charakteristikers, der Ideenbezug des Skizzisten, die ornamentale Gefälligkeit des Undulisten und die Phantasie des Imaginanten zugleich ins Spiel zu bringen. Erst wenn dies gelingt, kann ein Kunstwerk über das Besondere das Allgemeine fassen, Schönheit ausdrücken, durch formale Vollendung gefallen, und so Stil statt Manier erreichen. Das Dilettantismus-Projekt Goethes und Schillers ist ein ästhetisch und praktisch bedeutsames Anliegen der Autoren. Denn hinter dem Dilettantismus liegt –––––––––––– 76 77 78 79
Goethe: Der Sammler und die Seinigen. MA 6, 2. S. 76. Ebd. S. 92. Goethe und Schiller: [Über den Dilettantismus]. MA 6, 2. S. 175. Ebd. S. 129.
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Nachahmer
Kleinkünstler
Charakteristiker
Skizzisten
Undulisten
Imaginanten/Phantomisten
Ästhetischer Ansatz
Einfache Nachahmung der Natur
Präzise und gekonnte handwerkliche Arbeit
Darstellung der bedeutsamen Charakteristika
Darstellung abstrakter Ideen
Vorrang des Ornaments
Gestaltung poetischer Phantasien
Bewertung
Basis der bildenden Kunst wie auch Basis des Kopisten
Mangelnder Geist, kein Gefühl für das Ganze und die Einheit des Werkes
Reduktion auf den Geist, Vernachlässigen der äußeren Sinne
Weiche gefällige Dekorationen ohne Charakter
Verkennen und Ignorieren der schönen Wirklichkeit
Rigoristische Reduktion auf einzelne Begriffe und Ideen
Abb. 2: Formen des Dilettantismus80
eine problematische Lebenshaltung, wie Hans Rudolf Vagets Studien betonen:81 Der Dilettant verkennt die Kunst, verkennt den Rang seiner eigenen Produkte und der Werke anderer, so dass die Gefahr besteht, dass die Dilettanten den „Künstler zu sich herabziehen“82. Das war wohl durchaus ein Problem im Weimarer Gesellschaftsleben. Die Freitagsgesellschaft ist nur ein Beispiel für die Vorherrschaft der Dilettanten, die die Grenzen ihres eigenen Tuns nicht einsehen, immer, so Schiller und Goethe, eine Form von „Plagiarii“ sind, da sie mal ein anderes Werk, mal eine Idee plagiieren und ihre „bloße dilettantische Fähigkeit mit einem echten Kunstberufe […] verwechseln“.83 Geselligkeit mag eine Chance zur Bildung des Menschen sein, schafft aber auch eine Sphäre für Dilettanten. Daher macht sich bei Goethe im Laufe der Zeit Ernüchterung über die Wirkungen der Geselligkeit breit, und so sind die „Propyläen“ auch ein Dokument des Zerwürfnisses zwischen Künstler und Publikum, da Goethe resigniert einsehen muss, dass der Künstler „wenig Personen findet, die das Gebildete eigentlich sehen, genießen, und denken wollen“.84 Goethe und Schiller müssen sich ihr Publikum erst heranbilden. Goethe hat die Vorherrschaft der Dilettanten in der Weimarer Gesellschaft selbst mitzuverantworten, indem er eine unterhaltsame Salonkultur und kulturelle –––––––––––– 80 81 82 83 84
Vgl. Goethe: Der Sammler und die Seinigen. MA 6, 2. S. 122–129. Vaget, Hans Rudolf: Dilettantismus und Meisterschaft. Zum Problem des Dilettantismus bei Goethe: Praxis, Theorie, Zeitkritik. München 1971. S. 215–216. Goethe und Schiller: [Über den Dilettantismus]. MA 6, 2. S. 175. Ebd. S. 168. Goethe: Einleitung in die Propyläen. MA 6, 2. S. 19.
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Liebhaberei befördert hat. Zugleich entsteht sie aus der Genieästhetik des Sturm und Drang, die das Individuelle in den Vordergrund rückt und den Aspekt der Kunstfertigkeit zurückdrängt, so dass sich potentiell jeder auf Grund seiner Individualität zum Künstler berufen fühlen kann. Zwar hat Goethe bereits früh, schon mit dem „Werther“, die Bedeutsamkeit technischer Beherrschung des gewählten Mediums betont und auch auf die psychologischen Gefahren des Dilettantismus gedeutet, doch das Signal wurde selten verstanden. In der Zeit der Weimarer Klassik spricht er daher von der „falsche[n] Lehre von Inspirationen“.85 Als Gegenmittel empfiehlt er nun die Kombination von Spiel und Ernst, verlangt Einsicht in die intrinsischen und extrinsischen Baugesetze eines Kunstwerks, zudem, dass sich der Künstler mit dem Wesen des dargestellten Gegenstandes auseinandersetzt, das sich in der Wechselbeziehung von Allgemeinem und Besonderem idealistisch erfassen lässt. Irgendwann sollte dann ein entwickeltes Publikum, nicht länger auf die Illusion der Natürlichkeit angewiesen, im ästhetischen Spiel den Ernst entdecken.
5. 4. 2. Wilhelm Meister: Ein Dilettant auf der Bühne Das Thema Dilettantismus bearbeitet Goethe auch in den „Lehrjahren“, und zwar am Beispiel des Theaters. Gerade die Theaterstudien in den „Lehrjahren“ zeigen, wie konsequent Goethe in rhetorischen Dimensionen denkt. Nach dem Muster der Exposition und Vorausdeutung, die er in dem Text wiederholt einsetzt, bietet schon die zweite Szene des Romans zwischen Wilhelm und seiner Mutter eine rhetorisch aufgeladene Diskussion des Theaters. Gegen den Einwand der Eltern, besonders des Vaters, „wozu es nur nütze“, seine Zeit durch das Schauspiel zu „verderben“,86 antwortet Wilhelm, wenn der Theatervorhang sich hebe, dann wisse man, dass man „die mannigfaltigsten Gegenstände sehen [werde], die uns unterhalten, aufklären und erheben.“87 Die rhetorische Trias docere, delectare und movere wird also von Wilhelm als Aufgabe des Theaters verstanden. Die Nennung der Wirkungsfunktionen bleibt dabei keine Einzelheit, man könnte sonst den Einfluss der Poetik statt der Rhetorik in dieser Szene anführen, wie das ja häufig geschieht.88 Nur wenig später lässt Goethe Wilhelm nämlich über den Nutzen des Puppentheaters nachdenken, und wiederum ist ein rhetorischer Gestus zu erkennen. Nach Wilhelms Mutter hat sich durch das Puppenthe–––––––––––– 85 86 87 88
Goethe: Plato, als Mitgenosse einer christlichen Offenbarung. MA 4, 2. S. 50. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. MA 5. S. 11. Ebd. So zeichnet Hans-Jürgen Schings im Kommentar der Münchner Ausgabe eher Traditionslinien in Richtung der Poetik, verweist auf Gottsched, Horaz und besonders Sulzer, bei dem sich die Trias der Wirkungsmittel finde (vgl. H.-J. S.: Kommentar „Wilhelm Meisters Lehrjahre“. MA 5. S. 714).
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ater das „gute[…] Gedächtnis“ des Sohnes und seine Fähigkeit zur „pathetische[n] Rede“ erwiesen.89 Schon im Kontext der kleinen Puppenbühne behandelt Goethe zudem das Prinzip der dissimulatio artis. Damit die Illusionswirkung einer Theateraufführung gewahrt bleibt, die den Kindern besondere Freude bereitet, unterbindet die Mutter strikt den Blick hinter die Kulissen. Schon wenig später muss der junge Wilhelm nämlich erfahren, dass die theatralische Illusion gefährdet ist, wenn man weiß, wie sie entsteht: Hatte ich das erstemal die Freude der Überraschung und des Staunens, so war zum zweitenmale die Wollust des Aufmerkens und Forschens groß. Wie das zugehe? war jetzt mein Anliegen.90
Als er später selbst ein Puppenstück aufführt, ist Wilhelm ein Verstoß gegen die dissimulatio entsprechend peinlich, denn es bewirkt großes Gelächter, als ihm einmal im Spiel eine Puppe hinunterfällt und auf diese Weise eine „Illusionsunterbrechung“91 entsteht.92 Besonders ausführlich behandelt Goethe im „Wilhelm Meister“ das Thema künstlerische Ausbildung, das ihn auch in der Dilettantismus-Debatte beschäftigt. Dabei argumentiert er im Rahmen der rhetorischen Pädagogik. Beispielsweise lässt er Wilhelm früh die Notwendigkeit der Übung (exercitatio) entdecken: Diese Spiele, obgleich ohne Verstand unternommen und ohne Anleitung durchgeführt, waren doch nicht ohne Nutzen für uns. Wir übten unser Gedächtnis und unsern Körper, und erlangten mehr Geschmeidigkeit im Sprechen und Betragen, als man sonst in so frühen Jahren gewinnen kann. Für mich aber war jene Zeit besonders Epoke, mein Geist richtete sich ganz nach dem Theater, und ich fand kein größer Glück, als Schauspiele zu lesen, zu schreiben und zu spielen.93
Wilhelm betrachtet das Theater in der Ausbildungsleistung ähnlich wie eine rhetorische Schulung: Durch Übung bildet sich die actio fort, werden die Fähigkeiten im Bereich der pronuntiatio größer. Dabei ist die rhetorische Perspektive nicht nur auf der Figurenebene, sondern auch auf der des Erzählers angelegt, wenn er ausführt, dass Wilhelm im Nachhinein den Mangel an ars, unter dem die frühen Theaterexperimente leiden, erkennt: Unser Artillerielieutenant verließ uns auch hier nicht. Er zeigte uns, wie wir kommen und gehen, deklamieren und gestikulieren sollten; allein er erntete für seine Bemühung meistens wenig Dank, indem wir die theatralischen Künste schon besser als er zu verstehen glaubten.94
–––––––––––– 89 90 91 92 93 94
Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. MA 5. S. 13. Ebd. S. 18. Mayer, Mathias: Selbstbewußte Illusion. Selbstreflexion und Legitimation der Dichtung im „Wilhelm Meister“. Heidelberg 1989. S. 63. Vgl. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. MA 5. S. 22. Ebd. S. 31 Ebd. S. 30–31.
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Wilhelm gerät so auf den Weg zum Dilettanten, weil er nicht einmal versucht, sich die Schauspielkunst zu erarbeiten, seinen Geschmackssinn, also das iudicium, auszubilden.95 Stattdessen empfindet er pure Begeisterung, so dass er nicht einmal bemerkt, dass die von ihm angebetete Schauspielerin Mariane bei seinen emphatischen Theatererzählungen einschläft.96 Eine weitere Szene, die die Notwendigkeit einer Ausbildung im Stil der Rhetorik erörtert, enthält mit noch unaufgeschnittenen Theoriewerken einen symbolischen Ausdruck für das Fehlen der ars in Wilhelms Ausbildung zum Schauspieler und Künstler: und da er bisher die Kunstrichter sehr wenig genutzt hatte, so erneuerte sich seine Begierde nach Belehrung, als er seine Bücher wieder durchsah und fand, daß die theoretischen Schriften noch meist unaufgeschnitten waren. Er hatte sich, in der völligen Überzeugung von der Notwendigkeit solcher Werke, viele davon angeschafft, und mit dem besten Willen in keines auch nur bis in die Hälfte sich hinein lesen können. […] Dagegen hatte er sich desto eifriger an Beispiele gehalten, und in allen Arten die ihm bekannt worden waren, selbst Versuche gemacht.97
Die unaufgeschnittenen Theoriebände zeigen, dass Wilhelm zwar über natura verfügen mag, auch über exercitatio, aber mit der ars wenig vertraut ist und daher in der Gefahr des Dilettantismus steht, zumal die exempla, an die er sich hält, nicht von jemandem ausgewählt wurden, der über iudicium verfügt. Ein Mangel, auf den auch der Lehrbrief des Turms hinweist: „Die Nachahmung ist uns angeboren, das Nachzuahmende wird nicht leicht erkannt. Selten wird das Treffliche gefunden, seltner geschätzt.“98 Werner als rational denkender Gegenpart zu Wilhelm durchschaut die Szenerie mit den unaufgeschnittenen Büchern ebenso und lästert gegenüber dem Freund: „Ich wette, du hast nicht die Absicht, eins oder das andere zu vollenden!“99 Insgesamt akzentuiert Goethe das Thema also im Rahmen der rhetorischen Pädagogik, der er bereits zuvor eine künstlerische Legitimität zugesprochen hatte; sie bietet nämlich einen Schutz gegen Dilettantismus, weil sie auf eine Ausbildung des iudicium hinausläuft. Für Wilhelm aber ist Kunstfertigkeit im Schauspiel zunächst unwichtig, ihm „glüht die ganze Seele bei dem Gedanken, endlich einmal aufzutreten und den –––––––––––– 95
96 97 98 99
Das Dilettantismus-Problem war Goethe in den Grundzügen schon lange vor dem Austausch mit Schiller vertraut, so dass das Motiv mangelnder theoretischer Fundierung von Wilhelms Theaterschaffen auch schon in der „Theatralischen Sendung“ aufgegriffen wird, wo Wilhelm sich ebenfalls über den Unterricht eines Verwandten beklagt (vgl. Goethe: Wilhelm Meisters theatralische Sendung. MA 2, 2. S. 27). Vgl. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. MA 5. S. 33. Ebd. S. 35. Ebd. S. 497. Ebd. S. 35–36. Auch dies ist schon ein Motiv der „Theatralischen Sendung“, dort diskutiert anhand der Poetik des Aristoteles, durch die Werner sich einen sicheren Maßstab erhofft (vgl. Goethe: Wilhelm Meisters theatralische Sendung. MA 2, 2. S. 67–68).
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Menschen in das Herz hinein zu reden […].“100 Die eigenen Gefühle sind für Wilhelm ein zentrales Handlungsmotiv, er kann nicht anders, als „von Herzen reden“,101 zeigt wenig Realismus. Als er etwa auf den unglücklichen Schauspieler Melina trifft, der unter den ökonomischen Bedingungen seiner Schauspielerexistenz leidet, behauptet Wilhelm, der Schauspieler sei allein von seinen natürlichen Anlagen abhängig. „Eine angenehme Gestalt, eine wohlklingende Stimme, ein gefühlvolles Herz“102 hat der Schauspieler demnach nötig. Daher verteidigt er seine eigene dilettantische Vorliebe fürs Theater gegen alle Klagen Melinas über die ökonomischen Bedingungen der Schauspieler – ein Motiv, das in der „Theatralischen Sendung“ sogar noch weiter im Vordergrund steht. Wie sehr Wilhelm trotz eifriger Liebe zum Theater und zur Kunst Dilettant bleibt, ist auch im Gespräch mit dem Abgesandten der Turmgesellschaft am Ende des ersten Buches Thema; ohne Zögern gesteht Wilhelm ein, dass ihn etwa bei einem Gemälde vor allem „der Gegenstand“103 reize. Damit ist nun nicht ein besonderes Interesse für das Wesen der Dinge gemeint, sondern ein letztlich rauschhaftes Gefallen an oberflächlichem Schein, was nach Auskunft des Dialogs „Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke“ 104 einem Kenner keinesfalls angemessen ist. Auch für die formale Vollendung eines Kunstwerks, für die technische Meisterschaft eines Künstlers fehlt Wilhelm Meister jedes Gespür. Das Gespräch mit dem Gesandten des Turms hinterlässt bei ihm zwar Spuren, er hält seine bisherigen künstlerischen Versuche nun für „geistlose Nachahmung einiger hergebrachten Formen, ohne innern Wert“105 und entschließt sich zu einem Autodafé. Doch immer noch versteht er nicht, welche Rolle die ars für den Künstler hat, und treibt die Verklärung seiner natura weiter. So hat der Gesandte Wilhelm, anders als beabsichtigt, nicht auf die Spur der Kunst gebracht, sondern vor allem der Verklärung des Dichters als „Freund der Götter“106 Vorschub geleistet.
5. 4. 3. Die „Regeln für Schauspieler“ als Theorie der actio und pronuntiatio Gerade die Dilettanten auf der Theaterbühne gehen Goethe und Schiller in „Über den Dilettantismus“ harsch an. Warum ausgerechnet der Schauspieler als Dilet–––––––––––– 100 101 102 103 104 105 106
Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. MA 5. S. 65. Ebd. S. 84. Ebd. S. 52. Ebd. S. 69. Vgl. Abschnitt 5. 3 dieser Arbeit. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. MA 5. S. 77. Ebd. S. 82.
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tant dem „Extrem der Kritik und Polemik“ 107 ausgesetzt ist, so Vaget, lässt sich leicht erklären: Er wirkt auf die Öffentlichkeit und hinterlässt eine „[z]erstörte Idealität der Kunst“108 nicht nur privatim, sondern mit Wirkung auf andere. Hinter der Dilettantismuskritik Goethes und Schillers liegen pädagogische und zeitkritische Motive, und diese sind gerade in Anbetracht des Schauspielers akut.109 Seit 1791 war Goethe Leiter der Weimarer Bühne, diese Tätigkeit ist hier aus zwei Gründen interessant, zunächst weil er auch auf der Bühne seine ästhetischen Pläne umsetzt und gegen die Dilettanten die technische Beherrschung des Schauspielfaches fordert, dann aber auch weil die „Regeln für Schauspieler“110 eine Theorie der pronuntiatio und actio enthalten. Goethes rhetorische Kompetenz umfasst also nicht nur inventio, dispositio und elocutio – auch wenn diese Themen für ihn ohne Zweifel am interessantesten sind, weil sie die wesentlichen Bausteine seiner Ästhetik liefern –, sondern auch die rhetorische Praxis findet sein Interesse. Das lässt sich auch in der „Italienischen Reise“ erkennen, in der sich wiederholt Bemerkungen zu Gestik und Mimik der Italiener finden, Goethe sich überhaupt für die öffentliche Redekultur begeistert: „Öffentliche Redner habe ich nun gehört“, berichtet er, ist fasziniert von der „öffentlich lebend[en]“ Nation und der „entschiedene[n] Gebärdensprache“ ihrer Redner. 111 Sogar in seinen Zeichnungen spiegelt sich in dieser Zeit das Interesse des Dichters an öffentlicher Rede und Fragen der actio (vgl. Abb. 3). Die „Regeln für Schauspieler“, Goethe hat sie mit Karl Franz d’Akács, genannt Grüner, und Pius Alexander Wolff erarbeitet, fügen sich in die klassische Ästhetik: Sie argumentieren gegen einen Naturalismus auf der Bühne, fordern Schauspiel als „Kunstschau“,112 betonen die „Eigengesetzlichkeit der Auf–––––––––––– 107 108 109 110
111 112
Vaget, Hans Rudolf: Dilettantismus und Meisterschaft. Zum Problem des Dilettantismus bei Goethe: Praxis, Theorie, Zeitkritik. München 1971. S. 183. Goethe und Schiller: Über den Dilettantismus. MA 6, 2. S. 173. Vgl. Vaget, Hans Rudolf: Dilettantismus und Meisterschaft. Zum Problem des Dilettantismus bei Goethe: Praxis, Theorie, Zeitkritik. München 1971. S. 213. Goethe hat die „Regeln für Schauspieler“ selbst nicht zum Druck gebracht, sondern ließ sie 1824 von Eckermann nach verschiedenen Aufzeichnungen und den Mitschriften der Schauspieler Karl Franz d’Akács, genannt Grüner, und Pius Alexander Wolff zusammenstellen (vgl. Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. 5. Mai 1824. MA 19. S. 495). Die umfassendste Untersuchung zu den „Regeln für Schauspieler“ hat bisher Irmgard Weithase vorgelegt. Allerdings klammert sie die ästhetischen Implikationen des Schauspiel-Modells zugunsten einer summarischen Darstellung der sprecherzieherischen Einzelregeln Goethes und ihrer kritischen Bewertung aus. So weist Weithase auf die Gefahr eines abgehackten Sprechstils sowie der falschen Betonung von Endsilben (ə=e) hin, die Goethes Rat, der Schauspieler solle langsam sprechen und alle Silben betonen, nach sich ziehen kann. Auch Goethes Hinweis, stets mit tiefer Stimme zu beginnen, lehnt sie ab, weil er die Stimme schädigen könne (vgl. I. W.: Goethe als Sprecher und Sprecherzieher. Weimar 1949. S. 77 bzw. 81). Goethe: Italienische Reise. 4. Oktober 1786. MA 15. S. 93–94. Goethe: [Regeln für Schauspieler]. MA 6, 2. S. 703.
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Abb. 3: Goethe: Avvocato Reccaini113
führung als eines Kunstwerkes gegenüber der Natur“.114 Damit ist das Regelwerk ein Gegenmodell zum Naturalismus besonders der Leipziger Schauspieler.115 Zugleich richtet sich Goethes Reglement jedoch auch gegen einen übertrieben bombastischen Auftritt von Schauspielern.116 Nachdem sich zuvor Natürlichkeit als Ideal des Bühnenspiels durchgesetzt hatte, fordert Goethe in –––––––––––– 113
114 115
116
Goethe: Zeichnung zum Tagebuch der italienischen Reise für Frau von Stein: Avvocato Reccaini ad pag 15. Quelle: Klassik-Stiftung Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv, Signatur 27/9. Fischer-Lichte, Erika: Kurze Geschichte des deutschen Theaters. Tübingen 1993. S. 151. Vgl. Borchmeyer, Dieter: Saat von Göthe gesäet… Die „Regeln für Schauspieler“ – Ein theatergeschichtliches Gerücht. In: Bender, Wolfgang F. (Hrsg.): Schauspielkunst im 18. Jahrhundert. Grundlagen, Praxis, Autoren. Stuttgart 1992. S. 261–287, hier: S. 269–272. Vgl. auch ders.: „…dem Naturalism in der Kunst offen und ehrlich den Krieg zu erklären…“ Zu Goethes und Schillers Bühnenreform. In: Barner, Wilfried, Eberhard Lämmert u. Norbert Oellers (Hrsg.): Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik. Stuttgart 1984. S. 351–370. Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Geschichte des Dramas. Epochen der Identität auf dem Theater von der Antike bis zur Gegenwart. Bd. 1: Von der Antike bis zur deutschen Klassik. Tübingen 1990. S. 350.
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Weimar Künstlichkeit117 vom Schauspieler und versucht, die Regeln dieser Kunst zu formulieren, durch „technische, grammatische Vorschriften“118 zumindest die Grundlagen der Kunst zu sichern, auch wenn große Schauspielkunst wiederum nicht durch diskursive Regeln erlernt werden kann. Insgesamt fügen sich die Anweisungen für das Schauspiel somit hervorragend in seine hochklassische Ästhetik, die Anmut und Schönheit verlangt und extreme Äußerungen meidet. Als idealistische Ästhetik fordert sie zudem eine spielerische Darstellungsweise, bei der die Schauspieler im Modus des Als-ob agieren, weil der entwickelte Zuschauer nicht unbedingt einer perfekten Illusion bedarf, sondern gerade im Freiraum des Spiels Kunst um der Kunst willen genießen kann. Goethe unterscheidet zwischen der Rezitation, einer gemäßigten Form des Vortrags, und der Deklamation, in welcher der Schauspieler seinen „angebornen Charakter verlassen“, sich „ganz in die Lage, und Stimmung von dem versetzen [soll], dessen Rolle [er] deklamier[t]“119. Auch an den „Regeln für Schauspieler“ ist dabei der heikle Status der klassischen Ästhetik zwischen Artifizialität und Wirkungsanspruch zu erkennen. Goethe lehnt die strikte dissimulatio von Künstlichkeit, die Natürlichkeit vortäuscht, ab. Der Schauspieler soll völlig mechanisch seine Rolle geben, wenn er rezitiert, dabei aber seinen Charakter nicht verleugnen. Er ist mit einem Klavier zu vergleichen, auf welchem ich in seinem natürlichen, durch die Bauart erhaltenen Tone spiele, die Passage welche ich vortrage, zwingt mich durch ihre Komposition zwar das Forte oder piano dolce oder furioso zu beobachten, dieses geschieht aber, ohne daß ich mich der mutationen welche das Instrument besitzt, bediene, sondern es ist bloß der Übergang der Seele in die Finger […].120
Die Rezitation ist also Ergebnis einer Kunstübung, soll aber zugleich einen natürlichen Charakter zeigen, der nicht das Ergebnis von dissimulatio, also Verstellung, sein darf. Im Bild des Klaviers gelingt es Goethe, das komplizierte Verhältnis von Natur und Kunst im Schauspiel zu erläutern. Bei der Deklamation verhält es sich nicht anders: Hier übernimmt der Schauspieler zwar die Rolle einer Figur, so dass es zu einer „Mutation des Instruments“ kommt, zugleich aber soll der Zuschauer auch hier den technischen Charakter der Darstellung erkennen können. Es geht um eine idealische Darstellung, nicht um einfache Nachahmung der Natur,121 damit auch um die gedankliche Aneignung von Stück und Rolle, die der schauspielerisch gereifte Wilhelm in den „Lehrjahren“ seiner –––––––––––– 117 118 119 120 121
Vgl. Košenina, Alexander: Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur „eloquentia corporis“ im 18. Jahrhundert. Tübingen 1995. S. 17. Goethe: [Regeln für Schauspieler]. MA 6, 2. S. 706. Ebd. S. 709. Ebd. S. 708. Vgl. Jian, Wang: Über Goethes „Regeln für Schauspieler“. In: Literaturstraße 1 (2000) S. 83–100, hier: S. 86.
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Gesellschaft abverlangt, als er mit der Hamlet-Aufführung eine bis dahin unerreichte Stufe der Kunstfertigkeit erreicht.122 Die Parallele zwischen Redner und Schauspieler ist ein Gemeinplatz seit der Antike, in der Tat gibt es Verbindungen nicht nur in actio und elocutio, sondern auch in der öffentlichen Wahrnehmung einer Person. Soll nach Cicero und Quintilian der Redner auf seinen Ruf achten, so fordert Goethe dies ebenso vom Schauspieler, der auch „im gemeinen Leben zu bedenken [hat,] daß man öffentlich zur Kunstschau stehen werde“,123 und „sich eines edlen ruhigen Betragens zu befleißigen“124 hat. Überhaupt hat Goethes Kritik am schauspielerischen Naturalismus implizit rhetorische Gründe, wenn er – wie Serlo – fordert, der Schauspieler „muß stets denken, daß er um des Publikums“ spielt, und warnt, man solle „nicht aus mißverstandner Natürlichkeit unter einander spielen als wenn kein Dritter dabei wäre“.125 Goethes actio-Lehre ist der Quintilians ähnlich, indem beide einerseits eine streng konventionalisierte Körpersprache fordern, andererseits davor warnen, dass „[a]ngenommene Stellungen“ schwer zu halten seien und die Aufmerksamkeit von der „Hauptsache“,126 nämlich sich in die Rolle zu denken, ablenken.127 So gibt Goethe zugleich viele Einzelanweisungen („Die zwei mittlern Finger sollen immer auf und außer der Bühne zusammen bleiben, der Daumen Zeig- und kleine Finger sollen etwas gebogen hängen.“128) und fordert trotzdem, auf alle gestellten Gesten zu verzichten. Die actio ist, trotz der geforderten Künstlichkeit, nämlich vor allem durch den Publikumsbezug geprägt. Entsprechend legt er Wert auf eine gute Redehaltung, die körpersprachliche und stimmliche Blockaden vermeidet, demnach „sei die Haltung des Körpers gerade, die Brust herausgekehrt, die obere Hälfte der Arme bis an die Ellbogen an den Leib angeschlossen“.129 Im Bereich der pronuntiatio fordert er, den Dialekt zu vermeiden, sowie eine „vollständige reine Aussprache“.130 Er führt verbreitete Fehler an wie das Verschlucken einzelner Silben („folgendem nicht folgend’m“131), weist auf Betonungsregeln132 sowie den richtigen Umgang mit der Stimme hin („am Anfange […] tief sprechen“133). –––––––––––– 122 123 124 125 126 127 128 129 130 131 132 133
Vgl. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. MA 5. S. 214–216. Goethe: [Regeln für Schauspieler]. MA 6, 2. S. 703. Ebd. Ebd. S. 704 Ebd. S. 712. Vgl. Quint. Inst. orat. XI, 3, 61–184. Vgl. Košenina, Alexander: Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur „eloquentia corporis“ im 18. Jahrhundert. Tübingen 1995. S. 38. Goethe: [Regeln für Schauspieler]. MA 6, 2. S. 713. Ebd. S. 711. Ebd. S. 706. Ebd. S. 707. Ebd. S. 706–709. Ebd. S. 707.
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Interessanterweise hat man Goethes Theatertheorie zu ihrer Zeit noch als eine rhetorische Theorie verstanden. So beschreibt der Weimarer Schauspieler und Sänger Eduard Genast sie durch die Entgegensetzung eines „Idealismus der Rhetorik“, den Goethe vertrete, und einer natürlichen Spielart im Sinne von Conrad Ekhof und Friedrich Ludwig Schröder, die laut Genast die Rhetorik „in das alltägliche Leben herab“134 geholt hätten, während Goethe sie idealisiere. Genast hat somit sehr genau beobachtet, welche Absichten Goethes Schauspielreform verfolgt, nämlich eine Angleichung der Schauspielkunst an die idealistische Ästhetik, und zugleich ist es Genast als Mann des 18. Jahrhunderts eben noch bewusst, dass die Regulierung des körpersprachlichen und stimmlichen Auftritts eine genuin rhetorische Angelegenheit ist. Abgelehnt wird von Goethe eine rein formale Deklamations- oder Rezitationskunst, die weder den Charakter des Schauspielers berücksichtigt noch die Zuhörer. Solche Entwicklungen aber assoziiert er mit der antiken römischen Rhetorik. Bei seiner eigenen Italienreise war Goethe fasziniert von der Vortragskunst der Italiener, und später im „Historischen Teil“ der Farbenlehre assoziiert er bei der Darstellung Senecas das antike Rom vor allem mit einer Redekunst, die soweit dominiert, dass bei den Römern „alle ihre Studien auf rednerische Zwecke berechtnet“135 waren. Sobald sich die Rhetorik aber von den Zuhörern löst, die Rede keine inhaltliche Substanz mehr hat, muss sie kritisiert werden. Als „die Redekunst aus dem Leben sich in die Schulen und Hörsäle zurückgezogen hat“, blieben „meist […] unnütze Deklamationen“ übrig.136 Das ist keine Kritik der Rhetorik an und für sich, sondern allenfalls eine Absage an eine Rhetorik, in der nur noch die äußere Form zählt, bloße Technik bleibt. Solche Technik ist für Goethe, wie seine „Regeln für Schauspieler“ zeigen, in der Kunst nur in einem ästhetischen Wirkungskontext sinnvoll und im Bereich der Rhetorik nur, wenn diese auch im „Leben“ ihren Platz hat, oder mit heutigen Worten gesagt: in einem sozialen Persuasionskontext steht, der für die idealistische Kunst und ihre Forderung nach Kunstfertigkeit zu berücksichtigen ist.
–––––––––––– 134
135 136
Genast, Eduard: Aus dem Tagebuch eines alten Schauspielers. Leipzig 1862/63. S. 85–86. Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Geschichte des Dramas. Epochen der Identität auf dem Theater von der Antike bis zur Gegenwart. Bd. 1: Von der Antike bis zur deutschen Klassik. Tübingen 1990. S. 350. Goethe: Zur Farbenlehre. MA 10. S. 562. Ebd. S. 564.
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6.
Begrenzte Individualität. Zum Problem rhetorischer Verhaltensregulierung
Unser physisches sowohl als geselliges Leben, Sitten, Gewohnheiten, Weltklugheit, Philosophie, Religion, ja so manches zufällige Ereignis, alles ruft uns zu daß wir entsagen sollen […].1 Goethe brachte „eine wunderbare Revolution in diesem Orte hervor, der bisher ziemlich philisterhaft gewesen war und nun plötzlich genialisiert wurde“,2 erinnert sich Christoph Wilhelm Hufeland an Goethes frühe Zeit in Weimar. Jugendliche Ausgelassenheit und Unbekümmertheit stießen aber auf manchen Widerstand – vielzitiert ist die Klage des Kammerherrn Siegmund von Seckendorff, dass „man sich alltäglich in Tollheiten überbietet“.3 Auf den Weimarer Hof wirkte der Sturm und Drang als eine „Subkultur“4 (Sengle) ein, denn individuelles Freiheitsstreben und das Autonomiebedürfnis der Stürmer und Dränger standen dem rhetorisch geprägten Modell der Verhaltensregulierung des Hofes entgegen. Der Hofmann als ein Meister der Verstellung und des schönen Scheins, wie ihn Castiglione auf der Grundlage rhetorischer Paradigmen definiert hat,5 –––––––––––– 1 2 3
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5
Goethe: Dichtung und Wahrheit. MA 16. S. 713. Hufeland, Christoph Wilhelm: Leibarzt und Volkserzieher. Selbstbiographie. Hrsg. u. eingeleitet von Walter von Brunn. 2. Auflage. Stuttgart 1937. S. 45. Siegmund von Seckendorff an seinen Bruder Albrecht. Brief vom 29. März 1776. In: Bode, Wilhelm: Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen. Bd. 1. München 1982. S. 174. Sengle, Friedrich: Das Genie und sein Fürst. Die Geschichte der Lebensgemeinschaft Goethes mit dem Herzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach. Ein Beitrag zum Spätfeudalismus und zu einem vernachlässigten Thema der Goetheforschung. Stuttgart u. Weimar 1993. S. 14. Zur Einordnung höfischer Verhaltensnormen in den Kontext der Rhetorik vgl. insbesondere Loos, Erich: Baldassare Castigliones „Libro del Cortegiano“. Studien zur Tugendauffassung des Cinquecento. Frankfurt am Main 1955; ders.: Literatur und Formung eines Menschenideales. Das „Libro del Cortegiano“ von Baldassare Castiglione. Wiesbaden 1980; HennSchmölders, Claudia: Ars conversationis. Zur Geschichte des sprachlichen Umgangs. In: arcadia. Zeitschrift für vergleichende Literaturwissenschaft 10 (1975) S. 16–33; Ueding, Gert: Rhetorische Konstellationen im Umgang mit Menschen. In: Jahrbuch für internationale Germanistik 9 (1977) S. 27–52, hier besonders: S. 30–35. Die zahlreichen Typologien, die sich auf dem Boden der Rhetorik entwickeln, hat jüngst Franz-Hubert Robling behandelt: Vgl. F.-H. R.: Redner und Rhetorik. Studie zur Begriffs- und Ideengeschichte des Rednerideals. Hamburg 2007.
wirkte vor dem Hintergrund des neuen Individualismus anachronistisch. Goethe selbst fügte sich demnach mit großer Energie in die Verhaltensnormen des Hofes und die Aufgaben, die seine Mitgliedschaft im Geheimen Consilium mit sich brachten. Er beabsichtige, die neue „Rolle so gut [zu] spielen als ich kann“,6 schrieb er Johanna Fahlmer, nachdem er sich dazu entschlossen hatte, nach Wiemar zu gehen. Und in einem Brief an den Frankfurter Freund Merck heißt es – ganz ähnlich –, er wolle proben, ob er „eine Weltrolle“ spielen könne, obwohl ihm die Beschränktheit dieser Rolle durchaus bewusst sei – oder in den drastischen Worten Goethes: „ob ich gleich mehr als jemals am Platz bin, das durchaus Scheisige dieser zeitlichen Herrlichkeit zu erkennen“.7 Das Experiment mit der Rolle des Hofmanns und Beamten gelang jedoch trotz vieler Schwierigkeiten, so dass Herder einige Jahre später über Goethe als „fac totum der Weimarer Gesellschaft“8 spotten konnte. Im Gedicht „Ilmenau“ hat Goethe das Aufeinandertreffen des jungen Künstlers mit dem Weimarer Hof reflektiert. „[N]ächtliches Gelag“, „rohes Mahl“ und Menschen, die „scherzen laut“,9 apostrophieren die Erinnerung an die frühe Zeit in Weimar, in der er mit dem jungen Herzog recht ausgelassen lebte. Zugleich enthält das Gedicht im Stil eines Fürstenspiegels jedoch eine Aufforderung an den Fürsten, sich zu einem Vorbild aufzuschwingen, seine persönliche Freiheit aus ethisch-moralischer Einsicht zu beschränken: So mög o Fürst der Winkel deines Landes Ein Vorbild deiner Tage sein! Du kennest lang die Pflichten deines Standes Und schränkest nach und nach die freire Seele ein. Der kann sich manchen Wunsch gewähren Der kalt sich selbst und seinem Willen lebt Allein wer andre wohl zu leiten strebt Muß fähig sein viel zu entbehren.10
Das didaktische Programm ist geschickt verborgen, die Forderungen positiv formuliert, im Stil einer captatio benevolentiae insinuiert Goethe gegen den Fürsten („Du kennest lang die Pflichten deines Standes“). Indem er ihm rät, seine „freire Seele“ einzuschränken, kommt ein lehrhaftes Moment des Gedichts zum Vorschein, das in einer rhetorischen Tradition steht, denn Fürstenspiegel und Hoflehren aktualisieren Modelle rhetorisch-strategischer Verhaltensregulierung, die im vir-bonus-Ideal angelegt sind, mit Blick auf die Anforderungen des Hofes wie des Staates und bringen die ethische Dimension antiker Rhetorik ins –––––––––––– 6 7 8 9 10
Goethe an Johanna Fahlmer. Brief vom 14. Februar 1776. WA IV, 3. S. 28. Goethe an Johann Heinrich Merck. Brief vom 22. Januar 1776. WA IV, 3. S. 21. Johann Gottfried Herder an Johann Georg Hamann. Brief vom 11. Juli 1782. In: Ders.: Briefe. Hrsg. v. Karl-Heinz Hahn. Bd. 4. Weimar 1979. S. 226. Goethe: Ilmenau. MA 2, 1. S. 83. Ebd. S. 87.
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Spiel. Die bloß strategische Verstellung bleibt ambivalent, ist eine „arme Kunst“, zugleich aber erstrebenswert: „Doch ach ein Gott versagte mir die Kunst / Die arme Kunst mich künstlich zu betragen“11, heißt es im Gedicht, womit die Wertung rhetorischer Verhaltensregulierung eben nicht nur negativ ausfällt, insbesondere wenn simulatio und dissimulatio mit Selbstbeschränkung einhergehen, die auf ethischer Verhaltensregulierung beruht.12 Noch in den „Wahlverwandtschaften“ ist das sozial regulierende Moment der Verstellung ein Thema: Eduard bemüht sich um „vollkommene Schonung des andern“ in seinen „Äußerungen“ 13 und hält über lange Zeit den Zustand des Miteinanders aufrecht. Auch Charlotte zeichnet sich durch die „Gewandtheit“ aus, „jede unangenehme, jede heftige, ja selbst nur lebhafte Äußerung zu beseitigen“.14 Der Lauf der Ereignisse in den „Wahlverwandtschaften“ offenbart dabei die Brüchigkeit eines Miteinanders im Modus dauernder Verstellung und fortwährender Affektregulierung, die letztlich das moderne Individuum überfordert, ihm zugleich gerade durch Entsagung Freiheit bringt. Wenn es jemand wagt, „sich für bedingt zu erklären, so fühlt er sich frei“,15 ist in Ottiliens Tagebuch zu lesen. Gerade an diesen Tagebuchnotizen ist sehr gut zu erkennen, wie nachhaltig Goethes Lehre der Entsagung von der rhetorischen Tradition geformt und geprägt ist, denn selbst das Ideal des schönen Scheins, der verbirgt, wie schwer die Entsagung fällt, findet Eingang in Ottiliens Philosophie: „Das Schwierige leicht behandelt zu sehen gibt uns das Anschauen des Unmöglichen.“16 Goethe hat sich, schon bevor er nach Weimar ging, mit dem Hofmann-Ideal und mit allgemeinen Modellen rhetorischer Verhaltensregulierung beschäftigt. Das anthropologische Wissen der Rhetorik hat er nicht nur ästhetisch rezipiert und adaptiert, sondern auch als psychologisches und politisches Modell reflektiert und weitergedacht. Angemessenheit ist also nicht nur ein ästhetisches Prinzip, sondern für Goethe auch außerhalb des ästhetischen Kontextes bedeutsam. Im „Werther“ etwa ist das Verhältnis zwischen höfischer Rhetorik und Individualitätsstreben ein Thema, das Goethe im Unterschied zum Verständnis der disziplinären Rhetorik ins Psychologische wendet. Im „Götz“, später auch im „Egmont“ geht es ihm dann um die politische Bewertung rhetorisch regulierten Verhaltens, und mit „Torquato Tasso“ schließlich lotet er das ästhetische Poten–––––––––––– 11 12
13 14 15 16
Ebd. S. 85. Selten genug finden sich in Interpretationen von Goethes Gedichten Hinweise auf rhetorische Implikationen, insofern ist es eine erwähnenswerte Tatsache, dass Hartmut Reinhardt im Kontext dieser Zeilen „Affektkontrolle und Verstellung im Sinne der dissimulatio“ als Schlüssel der Stelle benennt. Vgl. Reinhardt, Hartmut: Kommentar „Ilmenau“. MA 2, 1. S. 594. Goethe: Die Wahlverwandtschaften. MA 9. S. 294. Ebd. S. 313. Ebd. S. 438. Ebd. S. 439.
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tial des Hofmann-Ideals aus, dessen kritische Bewertung die Meister-Romane aufnehmen und mit einer Anthropologie des Künstlers resp. des modernen Individuums abschließen.
6. 1.
Psychologisierung rhetorischer Verhaltensregulierung („Die Leiden des jungen Werthers“)
Goethes ehemaliger Leipziger Lehrer Johann August Ernesti sorgte dafür, dass den Leipziger Buchhändlern der Verkauf der „Leiden des jungen Werthers“ unter Androhung von Strafe verboten wurde, indem er an die „Churf. Bücher Kommission“ schrieb: Es wird hier ein Buch verkauft, welches den Titel führt, Leiden des jungen Werthers usw. Diese Schrift ist eine Apologie und Empfehlung des Selbst Mordes; und es ist auch um des Willen gefährlich, weil es in witziger und einnehmender Schreib Art abgefaßt ist. […] Daher ich die Löbl. BücherKommission […] hierdurch ersuche, den Verkauf dieser Schrift zu verbieten, und dadurch üblen Folgen vorbeugen zu helfen. 17
Die moralische Indifferenz des „Werther“, die Ernesti kritisiert, ist vor allem Ergebnis der gewählten Darstellungsart: Goethe charakterisiert Figuren, indem er sie im sozialen Kontext agieren lässt, ohne sie moralisch zu bewerten. Er ist, wie Christian Friedrich von Blanckenburg, der diese Neuerung zu würdigen verstand, formuliert: „nicht verbunden, uns immer ein sittliches Ideal zu geben“.18 Man könnte auf Grund der Rezeptionsgeschichte des Romans versucht sein, Ernesti Recht zu geben, würde damit aber übersehen, dass Goethe Werthers Leiden als eine Pathologie entwickelt, Werthers Selbstmord als die ruinöse Folge von übersteigerter Empfindsamkeit und ausufernder Introspektion darstellt. Werther ist eine empfindsame Natur, hängt der Fülle seiner Empfindungen fasziniert nach („Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt!“ 19) und gerät dadurch in eine problematische Beziehung zur äußeren Realität und sozialen Umwelt. Er verliert sich gleichsam an seine Empfindungen und isoliert sich dadurch selbst. Wie weit er geht, macht etwa sein Wunsch, ein Maienkäfer zu sein, deutlich: –––––––––––– 17 18
19
Ernesti, Johann August: Brief an die Churf. Bücher Kommission vom 28. Januar 1775. MA 1, 2. S. 786. [Blanckenburg, Christian Friedrich von]: Rezension über „Die Leiden des jungen Werthers“ 1775. In: Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland. Teil 1: 1773–1832. Hrsg., eingeleitet u. kommentiert von Karl Robert Mandelkow. München 1975. S. 81. Blanckenburg hält diese moralische Indifferenz jedoch für unbedenklich (vgl. Leistner, Bernd: Goethes „Werther“ und seine zeitgenössischen Kritiker. In: Goethe-Jahrbuch 112 (1995) S. 71–82, hier S. 80). Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. MA 1,2. S. 203.
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Die Einsamkeit ist meinem Herzen köstlicher Balsam in dieser paradiesischen Gegend, und diese Jahreszeit der Jugend wärmt mit aller Fülle mein oft schauderndes Herz. Jeder Baum, jede Hecke ist ein Strauß von Blüten, und man möchte zur Maienkäfer werden, um in dem Meer von Wohlgerüchen herumschweben, und alle seine Nahrung darinne finden zu können.20
Das Ich, das zum Maienkäfer werden möchte, ist Signatur vollkommener Identifikation des Individuums mit seiner Empfindung. In lichten Momenten erkennt Werther, dass diese Art der Identifikation nivellierend wirkt: „Und da schwimmt alles vor meinen Sinnen, und ich lächle dann so träumend weiter in die Welt.“21 Auch die längerfristigen Folgen dieser pathologischen Ich-Erfahrung sind ihm dann klar: „[I]ch gehe darüber zu Grunde“,22 diagnostiziert er bereits in einem der ersten Briefe an Wilhelm. Der Sogkraft seiner Empfindung jedoch kann er sich nicht entziehen. In der Forschung hat man Werthers Pathologie meist als ein ästhetisch künstlerisches Scheitern interpretiert. Werther gehe, so Hans Rudolf Vaget, an dem Missverhältnis zwischen der Stärke seiner Empfindung und fehlender Gestaltungskraft zugrunde, an seinem Dilettantismus.23 Werther glaubt, dem Papier seine Empfindungen „einhauchen“24 zu können, vertritt eine ästhetisch wenig reflektierte Position.25 Früh schon hat man Werthers Pathologie auch psychologisch gedeutet, bisweilen irritierend psychoanalytisch.26 Erst mit Erich Meuthen hat sich eine auf die Rhetorik gegründete psychologisch-ästhetische Lesart etabliert, um Werthers pathologische Entwicklung zu erklären: Werther geht […] daran zugrunde, daß er die rhetorische Qualität seiner Selbstdarstellung […] nicht durchschaut, daß er sich mit dem, was er sagt, identifiziert und sich im Gesagten auflöst. Oder anders gesagt: Bei dem Versuch, die Sprache transparent zu machen für eine
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26
Ebd. S. 198. Ebd. S. 203. Ebd. S. 199. Vgl. Vaget, Hans Rudolf: Die Leiden des jungen Werther. In: Lützeler, Paul Michael u. James E. McLeod (Hrsg.): Goethes Erzählwerk. Stuttgart 1985. S. 37–72, hier: S. 42–43. Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. MA 1,2. S. 199. Die Vorstellung, Gedanken in den Brief einzuhauchen, entspricht der empfindsamen Brieftopik: „‚Hauch‘ ist von jeher eine Metapher schöpferischer Rede. Die Verbindung von Hauch und Papier verwischt die Differenz von Rede und Schrift. Gerade dadurch gewinnt die Autoreferenz des Textes jedoch gattungsspezifischen Sinn. Rede als Schrift, Schrift als Rede zu präsentieren, ist die gebräuchliche Topik des Briefes.“ (Käser, Rudolf: Die Schwierigkeit, ich zu sagen. Rhetorik der Selbstdarstellung in Texten des „Sturm und Drang“. Herder – Goethe – Lenz. Bern 1987. S. 139). Beispielsweise erscheint Werthers Wunsch, zum Maienkäfer zu werden, Peter Fischer in einer psychoanalytischen Interpretation des Briefromans, die man durchaus als prototypisch bezeichnen kann, „als der poetische Ausdruck einer monumentalen Regression, der phantasierten Rückkehr in den Mutterleib.“ (P. F.: Familienauftritte. Goethes Phantasiewelt und die Konstruktion des Werther-Romans. In: Schmiedt, Helmut (Hrsg.): „Wie froh bin ich, daß ich weg bin!“. Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werther“ in literaturpsychologischer Sicht. Würzburg 1989. S. 189–220, hier: S. 197).
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‚innere‘ Wirklichkeit seiner selbst, löst Werthers Identität sich auf in einer emphatischen Stilgebärde, die auf nichts anderes verweist als das rhetorische Strickmuster, das sie erzeugt.27
Grundlegend für diese Interpretation ist Hans Blumenbergs anthropologische Akzentuierung der Rhetorik, nach der Rhetorik darauf zielt, „eine sich formierende und formierte Selbstauffassung bei sich selbst und vor anderen durchzusetzen und zu verteidigen.“28 Werthers Pathologie lässt sich so als ein Prozess einer ins Leere laufenden Selbstüberredung verstehen, die die Selbstauffassung nicht mehr nach außen durchsetzt und verteidigt, weil die äußere Welt unbedeutend erscheint. Werther begnügt sich mit einer emphatischen Stilgeste, deren soziale Wirkung unerheblich ist. Vom äußeren Verhalten her beurteilt, bedeutet dies, dass Werther beständig das Angemessene verfehlt. Er enthält sich jeder Form rhetorischer Verhaltensregulierung, die nötig wäre, um sich in einen sozialen Zusammenhang einzugliedern und eine Selbstauffassung sozial durchzusetzen. Seine Selbstdarstellung speist sich zwar aus rhetorischen Mustern, ist aber nicht in einen sozialen Kontext gesetzt. Ciceros Darstellung der grundlegenden Bedeutung von Angemessenheit ist hier in Erinnerung zu rufen, die das Problem des Angemessenen eben nicht nur für eine Frage des sprachlichen Stils hält. Schließlich belehrt Cicero seinen Leser: „Wie im Leben, so ist es auch in der Rede das Schwerste, zu erkennen, was sich schickt […]. Unkenntnis darüber führt wie im Leben so sehr häufig auch in Poesie und Prosa zu Fehlern.“ 29 Indem Goethe diese äußere Wirkung von Werthers Verhalten mit dessen inneren Motiven verbindet, erhält die rhetorische aptum-Kategorie eine psychologische Dimension, die ihr in der Antike fremd ist. Goethe interessiert sich im „Werther“ jedoch vor allem für diese psychologische Seite des Angemessenen, für die Frage, inwieweit die „schleichende […] Krankheit“30 Werthers, seine Melancholie, zu der „depressive Niedergeschlagenheit und ekstatische […] Exaltation, überhitzte Phantasie und hypertrophe Einbildungskraft, Entscheidungsunfähigkeit und depressive Hand–––––––––––– 27 28
29 30
Meuthen, Erich: Selbstüberredung. Rhetorik und Roman im 18. Jahrhundert. Freiburg im Breisgau 1994. S. 175. Blumenberg, Hans: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik. In: Ders.: Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart 1981. S. 119. Nach Blumenberg durchbricht die Rhetorik den Absolutismus der Wirklichkeit, erschafft eine künstliche, sprachlich konfigurierte Realität, die dem Mängelwesen Mensch Sicherheit vermittelt (vgl. H. B.: Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main 1979. S. 9–11): „Die Welt mit Namen zu belegen, heißt, das Ungeteilte aufzuteilen und einzuteilen, das Ungriffige greifbar […] zu machen.“ (ebd. S. 49). Nachdem spätestens Thales und dessen Voraussage einer Sonnenfinsternis die legitimative Kraft der Mythen zerstört hatte, war der Mensch zu radikaler Selbstüberredung gezwungen, um ein angemessenes Verhältnis zur Realität zu erlangen (ebd. S. 33). Blumenbergs Rhetorikbegriff rückt mit solchen Gedanken von einem pragmatisch-persuasiven Verständnis der Disziplin ab, lädt sie philosophisch auf. Cic. Orat. 21, 70. Goethe: Leiden des jungen Werthers. MA 1, 2. S. 231.
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lungshemmung“31 gehören, vom Versagen rhetorischer Verhaltensregulierung vorbereitet und begleitet ist. Innerhalb der disziplinären Rhetorik ist die Angemessenheit eher ein Kalkül des Redners, ein strategisches Mittel, um seine Sache vor den Zuhörern wirksam darstellen und durchsetzen zu können. Goethe nun akzentuiert, aus welcher seelischen Verfassung heraus ein Individuum gegen Regeln der Angemessenheit verstößt und welche Folgen ein fortdauernder Verstoß gegen das Angemessene, der sich zu einem Habitus, zu einer Lebenseinstellung formt, psychologisch hat. Dass Goethe Werthers Verhalten als ein rhetorisches Problem betrachtet, bewahrheitet sich vor allem an der Gesandtschaftsepisode, denn die höfischen Verhaltensmodelle nahm man im 18. Jahrhundert als Form rhetorischer Verhaltensregulierung wahr, und Goethe bringt mit der Episode diese Verhaltensideale ins Spiel. Die Episode zeigt Werther unter Menschen, sozial angemessen fügt er sich in seine Umwelt, macht hübsche Komplimente. Für Werther liegen darin vor allem Verstellung und innere Entfremdung, er schreibt an Lotte:32 Ein einzig weiblich Geschöpf hab ich hier gefunden. Eine Fräulein von B.. Sie gleicht Ihnen liebe Lotte, wenn man Ihnen gleichen kann. Ei! werden Sie sagen: der Mensch legt sich auf niedliche Komplimente! Ganz unwahr ist’s nicht. Seit einiger Zeit bin ich sehr artig, weil ich doch nicht anders sein kann, habe viel Witz, und die Frauenzimmer sagen: es wüßte niemand so fein zu loben als ich (und zu lügen, setzen Sie hinzu, denn ohne das geht’s nicht ab, verstehen Sie […]).33
Auf Dauer mag Werther sich nicht in solche Situationen einfügen, denn es fällt ihm schwer, sich der „allernotwendigste[n]“34 Forderung an jede Rede zu beugen und sich angemessen zu verhalten, weil das eine Einschränkung seiner Empfindsamkeit, seiner Individualität bedeutet, obwohl gerade das ‚artige‘ Einfügen in eine soziale Situation die negativen Folgen seiner Empfindsamkeit, seine zunehmende Distanz zu seiner Umwelt mindert. Je weiter sich die Ereignisse verstricken, desto weniger ist Werther aber in der Lage zu beurteilen, welche Worte und welche Handlungen angemessen wären, weil er sich für seine soziale Umwelt nur noch wenig interessiert, sich ganz in seinen Empfindungen verliert. –––––––––––– 31
32
33 34
Vgl. Valk, Thorsten: Melancholie im Werk Goethes. Genese – Symptomatik – Therapie. Tübingen 2002. S. 61. Den Zusammenhang zwischen Melancholie, Aufklärung und Pietismus sowie die künstlerische Potenz des Melancholikers hat Hans-Jürgen Schings verdeutlicht, der auch eine ausführliche Darstellung der zeitgenössischen medizinischen Bewertung der Melancholie liefert (vgl. H.-J. S.: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977). Häufig hat man gerade diese Gesandtschaftsepisode benutzt, um den „Werther“ als Kritik an der feudalistischen Gesellschaft zu deuten, dabei wird sie doch als Zeitpunkt geistiger Gesundung präsentiert. Beispielhaft für die sozialkritische Interpretation der Episode sind Lukács, Georg: Goethe und seine Zeit. Bern 1947. S. 17–30; Müller, Peter: Zeitkritik und Utopie in Goethes ‚Werther‘. Berlin 1969. Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. MA 1, 2. S. 251–252. Quint. Inst. orat. XI, 1, 1.
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Diese psychologischen Gründe für Werthers Erkrankung jedoch bleiben für seine Mitmenschen im Dunkel, nach außen erscheint sein Verhalten als nichts anderes als ein Verstoß gegen die Regeln des Umgangs, und Albert bringt dies als Problem auch ganz offen zur Sprache, indem er den Freund mahnt: „Du überspannst alles“.35 Werther verfehlt mit seinen Gedanken, seinen Aussagen und seinem Verhalten äußeres wie inneres aptum – hierin liegt aus Sicht der Klassik auch das ästhetische Problem Werthers, dessen Werke pure Empfindung sein wollen und nicht berücksichtigen, wie sehr ein Künstler auf Kunstfertigkeit angewiesen ist. Er neigt zu Übertreibungen, zum wilden Kombinieren von Gedanken und Worten, missversteht die Botschaften seiner Umwelt, verfehlt immer wieder den rechten Ort und Zeitpunkt – oder wie er sagt: „Es mag sein, sagt ich, man hat mir schon öfter vorgeworfen, daß meine Kombinationsart manchmal ans Radotage grenze!“36 Werther selbst erblickt zum Ende hin in allen Hilfsangeboten, so ernsthaft und ehrlich sie auch sein mögen, nur die Zurückweisung. Eine Regulierung und Mäßigung des Verhaltens, die das Streben nach sozialer Angemessenheit bedeutet, ist ihm nicht akzeptabel, auch wenn Lotte sie noch so besorgt fordert: Werther, Sie können, Sie müssen uns wieder sehen, nur mäßigen Sie sich. O! warum mußten Sie mit dieser Heftigkeit, dieser unbezwinglich haftenden Leidenschaft für alles, das Sie einmal anfassen, geboren werden. Ich bitte Sie, fuhr sie fort, indem sie ihn bei der Hand nahm, mäßigen Sie sich, Ihr Geist, Ihre Wissenschaft, Ihre Talente, was bieten die Ihnen für mannigfaltige Ergötzungen dar!37
Werther erscheint dieser Rat, dieser Versuch einer Therapie, nur noch „weise“ und „politisch“,38 womit Goethe ihn im Vokabular der Rhetorik antworten lässt, schließlich ist der politicus eine der Persönlichkeitstypen, die aus dem rhetorischen vir-bonus-Ideal hervorgegangen sind, und steht für die Vorherrschaft einer Verhaltensregulierung im Sinne strategischer Klugheit. Eine Apologie der aptum-Kategorie und rhetorischer Verhaltenstypologien liefert Goethe mit seinem Werther-Roman freilich nicht. Er sieht im Streben nach Angemessenheit, in der Dämpfung innerer Empfindung aus rhetorischem Kalkül nicht nur psychologische Vorteile, denn das Maß des sozial Angemessenen kann auch überstiegen sein und die inneren Gefühle erkalten lassen. Lotte etwa ist aus tiefstem Herzen um Werther besorgt, nachdem dessen Bursche die Pistolen von Albert erbeten hat, doch gesellschaftlicher Zwang zu angemessenem Verhalten erstickt diese Regung: Lotte und Albert erhalten Besuch von einer Freundin, prompt vergisst Lotte ihre Sorgen: –––––––––––– 35 36 37 38
Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. MA 1, 2. S. 234. Ebd. S. 235. Ebd. S. 279. Ebd.
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Der Tisch ward gedeckt, und eine gute Freundin, die nur etwas zu fragen kam und die Lotte nicht wegließ, machte die Unterhaltung bei Tische erträglich, man zwang sich, man redete, man erzählte, man vergaß sich.39
Die Geselligkeit mit ihren Verhaltensregeln wirkt auf Lotte beruhigend, ihre Aufregung verschwindet, aber auch ihr Gefühl, ihre Besorgnis um Werther. Lotte denkt so sehr an das Geziemende, dass sie sich selbst vergisst. So sehr Goethes Briefroman durch den Reichtum innerer Erfahrungen Werthers fasziniert, so eindringlich er dessen sensible Empfindsamkeit der Natur gegenüber beleuchtet, macht der Roman auch die Gefahren übersteigerter Empfindsamkeit, fehlender Mäßigung deutlich. Er akzentuiert rhetorische Modelle der Verhaltensregulierung, vor allem das diesen zu Grunde liegende aptumKonstrukt, aus einer neuen psychologischen Perspektive. Dabei steht der frühe Roman in einer Linie mit vielen weiteren Texten, die die Frage nach der Aktualität rhetorischer Verhaltensregulierung ebenfalls behandeln und die psychologisierende Perspektive insofern fortsetzen, als Goethe Persönlichkeitskonzepte wie das des Hofmanns oder des politicus aus der Innenperspektive einzelner Figuren problematisiert, nicht mehr nur als äußerliche Modelle rednerischen Erfolgs oder ethischer Regulierung versteht.
6. 2.
Rhetorische Verhaltensregulierung in der politischen Bewährung
6. 2. 1. Selbsthelfertum vs. politische Klugheit („Götz von Berlichingen“) „Götz von Berlichingen“ wirkt auf den ersten Blick wie ein historisches Drama, man kann die Hauptfigur historisch identifizieren, politische und soziale Umstände des 16. Jahrhunderts rekonstruieren, und obendrein hat Goethe sich nach eigener Aussage durch verschiedene historische Quellen zu dem Stück inspirieren lassen.40 Schon Jürgen Schröder hat jedoch von einem unhistorischen Geschichtsdrama gesprochen: Die politischen Veränderungen des 16. Jahrhunderts bilden nämlich nur den Hintergrund eines Dramas, das politische Themen –––––––––––– 39 40
Ebd. S. 295. U. a. hat Goethe die „Lebens-Beschreibung des Herrn Gözens von Berlichingen, zugenannt mit der eisernen Hand“, die Georg Tobias Pistorius unter Pseudonym herausgegeben hat, benutzt, darüber hinaus rechtshistorische Schriften wie Johann Philipp Datts „Volumen rerum Germanicum novum sive de pace imperii publica“ oder Johann Peter Püttners „Grundriß der Staatsveränderungen“. Eine konzise Zusammenfassung der Quellen bietet der Kommentar der Münchner Ausgabe von Gerhard Sauder (vgl. G. S.: Kommentar „Dramatische Arbeiten“. MA 1, 1. S. 917).
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dieser Zeit wie Reformation, Humanismus und das Städtewesen ausspart. 41 „Götz“ ist ein Geschichtsdrama im rhetorischen Sinne, d. h., Goethe gewinnt am historischen Exempel die Möglichkeit, aktuelle Themen wie etwa das Verhältnis von Individualität und rhetorischer Verhaltensregulierung zu behandeln und seine Thesen durch das historische Argument plausibel erscheinen zu lassen. Den Gegensatz zwischen Götzens Sprache des Herzens und dem Bamberger Hof hat man schon häufiger rhetorisch akzentuiert, so argumentiert etwa Gerhard Sauder: „Am Bamberger Hof wird die kultivierte Sprache des höfischen Umgangs und der Rhetorik gepflegt.“42 Genau besehen, ist diese Abgrenzung aber noch zu allgemein. Goethe stellt mit dem „Götz“ sehr präzise die Ablösung des Hofmann-Ideals im Sinne Castigliones, in dem strategisches Handeln und schöner Schein zusammenlaufen, durch ein anderes, rhetorisch geprägte Verhaltensmodell, nämlich das des politicus dar, bei dem das rational strategische Handeln im Vordergrund steht, Klugheit als eine Wissenschaft verstanden wird, die die Staatsräson (ratio status) verabsolutiert.43 Goethe kontrastiert eine historische Rationalisierungsbewegung gegen einen um Individualität ringenden Götz, höfische Rhetorik und politische Strategie gegen die Spontaneität und Individualität des Protagonisten. Dieser Gegensatz zwischen Götzens Individualität und den Umgangsformen des Hofes sowie den Regeln politischer Klugheit ist zunächst im Gespräch zwischen Götz und Weislingen dargestellt. Götz präsentiert sich hier als „ein Feind von Explikationen“ und glaubt, durch rhetorisch geschickte Erklärungen „betrügt [man] sich oder den andern, und meist beide“.44 Simulatio und dissimulatio als Kommunikationsnormen der höfisch-politischen Welt unterzieht Götz einer moralischen Kritik.45 Der Idee Machiavellis, ein Fürst müsse ein großer „simulatore e –––––––––––– 41
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Schröder, Jürgen: Individualität und Geschichte im Drama des jungen Goethe. In: Hinck, Walter (Hrsg.): Sturm und Drang. Ein literaturwissenschaftliches Studienbuch. Kronberg/Taunus 1978. S. 192–212, hier: S. 192. Ähnlich äußert sich auch Mayer, Hans: Goethe. Ein Versuch über den Erfolg. Frankfurt am Main 1984. S. 110. Sauder, Gerhard: Kommentar „Dramatische Arbeiten“. MA 1, 1. S. 921. Die Abgrenzung zwischen Hofmann und politicus ist nicht immer einfach, jedoch spielt für den politicus Machiavellis strategischer Politikbegriff eine größere Rolle als für den Hofmann, rückt das Fachwissen in den Mittelpunkt, durch das es im Beamtenapparat gelingt, seine eigene Position zu sichern und der Staatsäson zu genügen. Vgl. die Zusammenfassung der sozialgeschichtlichen Grundlagen des politicus bei: Till, Dietmar: Artikel „Politicus“. HWRh. Bd. 6. Sp. 1425–1426. Goethe: Götz von Berlichingen. MA 1, 1. S. 567. Schon Cicero und Quintilian beziehen die Begriffe dissimulatio und simulatio auf die gesamte Lebensführung und behandeln sie meist im Zusammenhang, denn wer Absichten unkenntlich macht und zu verbergen sucht, der wird auch unter Vorspiegelung von Scheingründen agieren. Cicero etwa behandelt in „De officiis“ den Fall, dass eine Erbschaft durch Vortäuschung (simulatio) von Liebe erschlichen wird, um die moralische Verwerflichkeit solcher simulatio zu kritisieren (vgl. Cicero, Marcus Tullius: De officiis – Vom pflichtgemäßen Handeln. Lateinisch u. deutsch. Übersetzt, kommentiert u. hrsg. v. Heinz Gunermann.
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dissimulatore“46 sein, die etwa bei Christian Weise zur Maxime politischer Klugheit geworden ist („Qui nescit dissimulare, non potest regnare.“47), kann Götz nichts abgewinnen. Weislingen jedoch, der „[m]it einer angenehmen Gleichgültigkeit“48 agiert, also nicht nur ein kühler Stratege, sondern auch ein nach Schönheit strebender Hofmann ist, beherzigt diese Maxime ebenso wie Liebetraut, der durch Verstellung und Suggestion um Einfluss ringt, und Adelheid, die sich als Meisterin der strategischen Rede entpuppt.49 Während Weislingen eher eine Erscheinungsform des Hofmanns ist, weil für ihn auch die ethisch-ästhetische Dimension seines Handelns von Bedeutung bleibt, sind Liebetraut und Adelheid Beispiele privatpolitischer Klugheit im Stile eines politicus, insbesondere Liebetraut steht ja für die effiziente Führung eines Staatswesens. Götzens Ideal sieht freilich anders aus, guten Menschen geht nach seiner Vorstellung „das Herz auf […]“,50 wenn sie mit anderen sprechen. Vor den Ratsherren der Stadt Heilbronn verteidigt er sich gegen die Anschuldigungen, indem er aussagt, dass er selbst stets „[v]on ganzem Herzen“51 handelt und spricht. Überhaupt vertraut er seinen Empfindungen und Intuitionen, steht allenfalls für eine ‚Natur-Rhetorik‘, die scheinbar ohne Kunstfertigkeit auskommt und es vorzieht, „von der Leber weg [zu] reden“.52 ––––––––––––
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Durchgesehene u. bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 1992. III, 74), während er in „De oratore“ moralisch eher indifferent die Leistungsfähigkeit der Verstellung herausstreicht, die „besonders tückisch in das Herz der Menschen schleicht“ (Cic. De or. III, 203). Quintilian sieht simulatio und dissimulatio als wirkungsvolle Instrumente der Gerichtsrede und bereitet damit die politische Funktionalisierung der Verstellungskunst vor (vgl. Quint. Inst. orat. VI, 3, 86–88). Er fasst die dissimulatio zunächst als tropus und Gedankenfigur auf (das Wort dient als lateinische Übersetzung des griechischen Begriffs εἰρωνεία), aber gerade in Anbetracht der Gedankenfigur lässt sich bei ihm erkennen, wie weit das Konzept reicht, es zielt demnach auf „Verstellung der Gesamtabsicht“ und „kann ein gesamtes Leben“ kennzeichnen (Quint. Inst. orat. IX, 2, 46). Man sollte das Konzept simulatio / dissimulatio daher nicht zu eng verstehen, wie das etwa Fanny Népote-Desmarres und Thilo Tröger im Artikel des „Historischen Wörterbuchs der Rhetorik“ vorzuhalten ist, die in der dissimulatio vor allem eine Stilfigur sehen (vgl. F. N.-D. u. T. T.: Artikel „Dissimulatio“. HWRh. Bd. 2. Sp. 886–888, hier: Sp. 886). Meist nutzt Goethe das Wort „verstellen“ und zahlreiche Ableitungen, um das Thema simulatio / dissimulatio zu erörtern, gelegentlich findet sich auch einer der beiden lateinischen Termini, was auf die Vertrautheit mit dem Konzept aus der rhetorischen Theorie deutet, so in den Materialien zur Übersetzung der „Historia Danica“ des Saxo Grammaticus aus dem Jahr 1797 (Goethe: Aus der „Historia Danica“ des Saxo Grammaticus, Paralipomena. WA I, 42ii. S. 431) oder in einem Brief an Franz Kirms (Goethe an Franz Kirms. Brief vom 9. Juni 1797. WA IV, 12. S. 146). Machiavelli, Niccolò: Il Principe. Hrsg. v. Bruna Cordati. 8. Auflage. Turin 1993. S. 67. Weise, Christian: Politischer Redner. Das ist eine kurze und eigentliche Nachricht […]. Leipzig 1683 (Nachdruck: Kronberg/Taunus 1974). S. 51. Goethe: Götz von Berlichingen. MA 1, 1. S. 583. Vgl. ebd. S. 584. Ebd. S. 618. Ebd. S. 623. Ebd. S. 567.
203
Marianne Willems hat drei Weltsichten im „Götz“ erkannt, nämlich die höfischpolitische Welt des Bamberger Hofes, die Götz-Welt, in der alte Lehns- und Ritterideale dominieren, und schließlich die empfindsame Welt, die Maria – und zeitweise auch Weislingen – vertreten.53 Rhetorisch betrachtet, sind sich die empfindsame Kultur und die Götz-Welt ähnlich, denn die Aktoren dieser Welt verpflichten sich auf individuelle Empfindungen und Überzeugungen, wobei es Maria eher um empfindsame Introspektion und Götz eher um die Tat geht. Weislingen nun hat sowohl an der empfindsamen Welt Marias Anteil wie an der Welt des Hofes. In der Annäherung an Maria folgt er seinen Empfindungen, er ist fähig zu „stark[er]“54 Empfindung, und sein „Herz erweitert sich“55 durch die Liebe zu Maria, so dass er ihretwegen zeitweise gar nicht nach Bamberg zurückkehren will. Das Verbergen seiner Empfindungen ist ihm auch nach seiner Rückkehr in die Dienste des Bischofs noch unangenehm, und er glaubt, Missverständnisse, die sich im Umgang mit Adelheid ergeben haben, klären zu können, „[w]enn ihr mein Herz sehen könntet“.56 Dennoch fügt er sich in die Rolle des Hofmanns. Bei aller Sympathie für Götz zeichnet Goethe ein differenziertes Bild politischer Kommunikation. Die Diskussion zwischen Bischof, Abt, Liebetraut und Olearius beschreibt die angestrebten Veränderungen der Verwaltung und des juristischen Systems im Sinne einer Modernisierung, als Versuch, „das Reich zu beruhigen, die Fehden abzuschaffen“.57 Das strategische Handeln eines Liebetraut meint eben auch Rationalisierung, steht für die Einführung formaler Rechtssicherheit für die Einwohner des Reiches. Dieser Zusammenhang ist Weislingen präsent, und er vertritt ihn gegenüber Götz mit Nachdruck: [D]arfst du sie schelten, daß sie ihrer Leut und Länder Bestes wahren? Sind sie denn einen Augenblick vor den ungerechten Rittern sicher, die ihre Untertanen auf allen Straßen anfallen, ihre Dörfer und Schlösser verheeren?58
Der Aufbau eines funktionierenden Beamtenapparates und Justizsystems steigert die Effizienz der Regierung, d. h., rhetorisch strategische Verhaltensregulierung ist ein Vehikel der Rationalisierung. Der Prozess gegen Götz folgt einer formalen Ordnung, die sich aus der professionalisierten Politikauffassung seiner Widersacher ableitet. Doch während die Ratsherren von Heilbronn ankündigen –––––––––––– 53
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Vgl. Willems, Marianne: Das Problem der Individualität als Herausforderung an die Semantik im Sturm und Drang. Studien zu Goethes „Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***“, „Götz von Berlichingen“ und „Clavigo“. Tübingen 1995. S. 152–187. Goethe: Götz von Berlichingen. MA 1, 1. S. 574. Ebd. S. 576. Ebd. S. 587. Ebd. S. 571. Ebd. S. 565–566.
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„Wir werden in der Ordnung verfahren“,59 beharrt Götz auf persönliche Verpflichtung und Bindung zwischen Herrscher und Untertan und setzt sich entsprechend für seine Gefolgsleute ein: „Meine Leute, wo sind die? Was soll mit ihnen werden?“60 Von der Antwort der Räte, „Das geht euch nichts an“,61 hält er nur wenig. Der Steigerung der Effizienz der Verwaltung unter den Vorzeichen politischer Klugheit steht entgegen, dass sich der Handlungsspielraum des Einzelnen minimiert, wie auch der Vorwurf an Weislingen „Und du Weislingen bist ihr Werkzeug“62 deutlich macht. Goethe bringt positive Aspekte und negative Folgen der politisch-rhetorischen Klugheit in Zusammenhang. Zudem belegen die Winkelzüge der Ratsherren die Manipulierbarkeit des neuen politischen Systems: Die nach außen korrekte Abwicklung des Falls ist in Wirklichkeit geschickte Interessenpolitik im Modus der simulatio / dissimulatio. Götz jedoch unterschätzt die Macht des strategisch handelnden Beamten, sein Selbsthelfertum wirkt insofern politisch naiv, als er nicht erkennt, dass strategische Verhaltensregulierung Handlungsspielräume eröffnet. Als der Bischof Götzens Knappen nicht freilassen will, hält Götz nicht viel von Verhandlungen und Kontrakten, vielmehr reicht ihm die von Weislingen per Handschlag gegebene Zusicherung, zukünftig auf Konflikte zu verzichten.63 Doch Weislingens Pläne sind durchtriebener, als Götz es für möglich hält. Einerseits verpflichtet er sich Götz gegenüber, andererseits versucht er, seine Machtstellung am Hof des Bischofs aufrechtzuerhalten.64 So erklärt sich das Scheitern des Raubritters Götz durch seine Unfähigkeit und Unwilligkeit, sich neuen Spielregeln zu stellen und sich in einer sozialen und politischen Situation durch strategisches Handeln individuellen Freiraum zu verschaffen. Er ist zu einer differenzierten Wahrnehmung der Situation nicht fähig, ist merkwürdigerweise Krieger, ohne Stratege zu sein, und zerreißt schon einmal einen Plan für einen Eroberungszug mit den Worten, dass er „die Augen selbst auftun“65 wolle. Liebetraut hingegen geht darin auf, Stratege zu sein, und plant beispielsweise mit großem Geschick, Weislingen durch den „Händedruck eines Fürsten […] und das Lächeln einer schönen Frau“66 zurückzuerobern. Er beherrscht sämtliche Kniffe geschickter Einflussnahme und berichtet Adelheid stolz von seiner Kunst: Erst tat ich, als wüßt ich nichts, verstünd nichts von seiner Aufführung, und setzt ihn dadurch in Desavantage die ganze Historie zu erzählen. Die sah ich nun gleich von einer ganz andern Seite an als er, konnte nicht finden – nicht einsehen – Und so weiter. Dann
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Ebd. S. 623. Ebd. Ebd. Ebd. S. 567. Vgl. ebd. S. 574. Vgl. ebd. S. 577. Ebd. S. 602. Ebd. S. 581.
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redete ich von Bamberg und ging sehr ins Detail, erweckte gewisse alte Ideen, und wie ich seine Einbildungskraft beschäftigt hatte, knüpfte ich würklich eine Menge Fädger wieder an, die ich zerrissen fand.67
Ähnlich wie Alba im „Egmont“ ein technokratischer Erfüller der absolutistischen Absichten Philipps II. ist und das Prinzip der simulatio und dissimulatio mit größter Konsequenz und moralischer Indifferenz umsetzt, agiert auch Liebetraut kühl kalkulierend. Die eigentliche Meisterin der Strategie im „Götz“ ist indes Adelheid, denn sie gewinnt, gerade indem sie ihr Verhalten konsequent kontrolliert, Handlungsfreiheit: Sie ist ein Musterbild an Vitalität und Individualität, ist „Leben, Feuer, Mut“,68 zugleich aber fähig zu strategischer Planung und Verstellung. An ihr lässt sich der fatale Irrtum, dem Götz in der Bewertung der strategischen Rhetorik unterliegt, gut illustrieren. Goethe zeigt sie zuerst als Schachspielerin. Wie kaum ein anderes taugt dieses Spiel als Symbol für das strategische Geschick, Adelheid bezeichnet es selbst als „Probierstein des Gehirns“.69 Während Liebetraut über das „Schach dem König“70 spottet und das destruktive Spiel Adelheids durchschaut, gewinnt sie mit lässiger Freude die Partie gegen den Bischof. Kühl analysierend und zugleich nach außen heiter und gelassen, agiert Adelheid nicht nur im Spiel. Von ihr geht der Plan aus, Liebetraut solle Weislingen zurückholen, von ihr werden die Argumente, mit denen man Weislingen überzeugen könnte, vorbereitet. Wie radikal sie die Prinzipien strategischer Kommunikation vertritt, mit welcher Konsequenz sie simulatio und dissimulatio fordert, macht sie gegen Weislingen deutlich: Falsche Worte gelten zum höchsten wenn sie Masken unserer Taten sind. Ein Vermummter der kenntlich ist, spielt eine armselige Rolle. Ihr leugnet eure Handlungen nicht, und redet das Gegenteil, was soll man von euch halten.71
Der Edelmann, der die strategische Kunst der Verstellung beherrscht, sein Verhalten nach außen strikt kontrolliert, kann „Herr von Fürsten sein“72 und seine individuellen Interessen durchsetzen. Götz hingegen fällt es schwer, auf solche Verstellungen zu reagieren, weil er gar nicht bereit ist, sich der politischen Realität zu stellen, zu der eben solche Schachzüge zu gehören scheinen. Fritz Martini hat die Diskussion, ob „Götz“ ein Charakter- oder ein Gesellschaftsdrama ist, beendet, indem er eine Opposition von Subjektivem und
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Ebd. S. 584. Ebd. S. 579. Ebd. S. 580. Ebd. S. 581. Ebd. S. 587. Ebd. S. 588.
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Objektivem annahm.73 Weder ist Goethes Ziel ein exaktes Bild der historischen Situation noch allein eine Charakterstudie des Protagonisten. Vielmehr nutzt er die Folie der Geschichte, um den Zusammenhang von subjektiver Individualität und objektivierbaren sozialen Strukturen zu beschreiben. Götz hat entsprechend gegen einen „überpersönliche[n] Antagonist[en]“ mit Namen „[h]istorischer Wandel“ zu kämpfen.74 Goethe sieht weder Götzens Vitalität und Individualität durchgängig positiv noch die Versuche staatlicher Modernisierung und ihre Protagonisten, also den Bischof, Weislingen und den Kaiser, durchgängig negativ. Als naiver Naturmensch ist Götz ein Prototyp des Sturm und Drang, doch Goethe sieht auch, dass Götz sich nur mit Mühen in eine komplexe Gesellschaftsstruktur fügen kann, seine Ziele politisch scheitern. Er bietet kein simples Identifikationsmuster, keine einfache Lösung, sondern eine komplexe Analyse. In „Dichtung und Wahrheit“ präsentiert Goethe Justus Möser als eine Bezugsgröße seiner politischen Überzeugungen.75 Der Aufbau absolutistischer Staaten und effizienter Verwaltung erscheint diesem als eine historisch bedenkliche Entwicklung, mit Möser versteht Goethe den „Reichtum in der Mannigfaltigkeit“ als „wahren Plan der Natur“, der gegen den „Despotismus“ schützt, wie ihn die Rationalisierung des Herrschaftswesens und ein auf Steigerung der Effizienz ausgerichteter Absolutismus vorantreiben.76 Möser’s main concern as a political thinker was to find ways and means to secure the stability of political life which was, in his view, threatened by attacks made on the feudal order (or its remnants), on the one hand in the name of Natural Law and the Natural Rights of subjects and, on the other by the increasing power of absolutist rulers.77
Einer Analyse des Absolutismus in diesem Sinne folgt Goethe im „Götz“ wie im „Egmont“, obwohl er wohl Aufklärungsideale wie Toleranz und Humanität um einiges positiver sieht als Möser.78 Daher changiert im „Götz“ die Bewertung der –––––––––––– 73
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Vgl. Martini, Fritz: Goethes „Götz von Berlichingen“. Charakterdrama und Gesellschaftsdrama. In: Dichter und Leser. Hrsg. v. Ferdinand van Ingen. Groningen 1972. S. 28–46, hier: S. 37. Willems, Marianne: Das Problem der Individualität als Herausforderung an die Semantik im Sturm und Drang. Studien zu Goethes „Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***“, „Götz von Berlichingen“ und „Clavigo“. Tübingen 1995. S. 176. Vgl. Goethe: Dichtung und Wahrheit. MA 16. S. 629–631. Möser, Justus: Der jetzige Hang zu allgemeinen Gesetzen und Verordnungen ist der gemeinen Freiheit gefährlich. In: Ders.: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 5. Oldenburg u. Berlin 1945. S. 22. Reiss, Hans: Goethe, Möser and the Aufklärung. The Holy Roman Empire in „Götz von Berlichingen“ and „Egmont“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 60 (1986) S. 609–644, hier: S. 611. Vgl. ebd. S. 643. Möser argumentiert: „Die philosophischen Theorien untergraben alle ursprünglichen Kontrakte, alle Privilegien und Freiheiten, alle Bedingungen und Verjährungen, indem sie die Pflichten der Regenten und Untertanen und überhaupt alle gesellschaftlichen Rechte aus einem einzigen Grundsatze ableiten und, um sich Bahn zu machen, jede
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alten feudalen Ordnung und des rationalisierten Herrschaftswesens, die Sympathien des Rezipienten werden zwar auf Götz gelenkt, aber eindimensional wird das Bild eben nicht, dazu ist Götzens Politik-Vision zu nostalgisch und utopisch zugleich. Anke van Kempen sieht im „Götz“ das „Dilemma der immanenten Rhetorizität der Sprache inszeniert“.79 Sprache habe ihren referentiellen Charakter verloren, Referenz sei nichts als „trügerische Illusion“.80 Van Kempen liefert eine weitgehend negative Interpretation des „Götz“, nach der es in dem Drama vor allem um die „Unmöglichkeit der Rede“81 geht. Götz mag mit seiner Revolte scheitern, auch weil es ihm nicht gelingt, der strategischen Redeakte seiner Gegner etwas entgegenzusetzen, aber ist dies grundsätzlicher Zweifel an der Möglichkeit, sich auszudrücken? Götz analysiert die historische Entwicklung am Ende seines Lebens eher politisch als sprachtheoretisch. Götzens Freiheitsdrang ist ungebrochen, aber um wirklich frei zu werden, müssen die sozialen und politischen Verhältnisse danach sein. In Götzens Testament wird die Alternative der Rhetorik auf ein Neues benannt. In Anbetracht der politischen Veränderungen warnt er Elisabeth: Arme Frau. Ich lasse dich in einer verderbten Welt. […] Schliesst eure Herzen sorgfältiger als eure Tore. Es kommen die Zeiten des Betrugs, es ist ihm Freiheit gegeben. Die Nichtswürdigen werden regieren mit List, und der Edle wird in ihre Netze fallen.82
Götz fürchtet, dass die moderne politische Welt, beherrscht von strategischer Verstellung und taktischem Kalkül, siegen wird, deren Macht er im Gefängnis spürt, wo ihm der soziale und politische Raum zur Entfaltung von Individualität genommen ist. Ob ein modernisiertes Rechts- und Verwaltungssystem tatsächlich keinen individuellen Freiraum mehr gewährt, ist zwar fraglich. Aber positive Gesetze garantieren eben keine Gerechtigkeit, denn jedes Gesetz ist willkürlich gesetzt und enthält in seiner vielfältigen Auslegbarkeit die Möglichkeit der Freiheit ebenso wie die Gefahr der Unterdrückung, zumal die Fehlinterpretation der Gesetze ein strukturelles Problem ist, wie Wolfgang Wittkowski herausarbeitet: Die Bürokratie verhindert als indirekte Form der Verwaltung, dass sich die ––––––––––––
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hergebrachte, verglichene und verjährte Einschränkungen als so viel Hinderungen betrachten, die sie mit dem Fuß oder mit einem systematischen Schlusse aus ihrem Wege stoßen könnten.“ (Möser, Justus: Der jetzige Hang zu allgemeinen Gesetzen und Verordnungen ist der gemeinen Freiheit gefährlich. In: Ders.: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 5. Oldenburg u. Berlin 1945. S. 24). van Kempen, Anke: Eiserne Hand und Klumpfuß. Die forensische Rede in den Fällen Götz und Adam. In: Jäger, Stephan u. Stefan Willer (Hrsg.): Das Denken der Sprache und die Performanz des Literarischen um 1800. Würzburg 2000. S. 151–169, hier: S. 168. Ebd. Ebd. S. 169. Goethe: Götz von Berlichingen. MA 1, 1. S. 653.
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kaiserliche Gerechtigkeit durchsetzt, der moderne Verwaltungsstaat ist in der Gefahr, durch den Widerstreit von Interessen unterzugehen, durch solche Friktionen an Effektivität zu verlieren.83 Götz verfügt trotz fehlenden strategischen Geschicks über Einfluss durch seinen Namen, der eine Projektionsfläche von Erwartungen ist: So seid ihr Götz von Berlichingen! Ich danke dir Gott, daß du mich ihn hast sehen lassen, diesen Mann den die Fürsten hassen, und zu dem die Bedrängten sich wenden.84
Dirk Kemper hat die Konstellation durch den Begriff des Besitzindividualismus im Sinne von Hobbes und Locke zu erklären versucht: Für Goethe ist das „Individuum […] natürlicher Besitzer der eigenen Person“,85 also seiner Individualität und Identität, und als solcher wird er durch den Namen markiert. Der Name Götz ist ein Schlagwort im Kampf gegen die Übermacht der Fürsten, gegen die Hofwelt und die politische Modernisierung, und hat topische Qualität. Erarbeitet hat Götz sich diesen Namen jedoch mit Hilfe höfischer Repräsentation, die ja von der Person und ihrer Präsenz lebt, und er hat sich in diesem Sinne als öffentliche Person verstanden. Das öffentliche Image von Götz ist sein eigentlicher politischer Erfolg, daher erklärt er Elisabeth: Gott weiß, daß ich mehr geschwitzt hab meinem Nächsten zu dienen als mir, daß ich um den Namen eines tapfern und treuen Ritters gearbeitet habe, nicht um hohe Reichtümer und Rang zu gewinnen. Und Gott sei dank worum ich warb ist mir worden.86
Sich einen Namen gemacht zu haben, nimmt Götz in Anbetracht des drohenden Untergangs als seine eigentliche Leistung wahr. Seinen Namen verteidigt er gegen den ehemaligen Verbündeten Metzler und prognostiziert ihm: „Du darfst meinen Namen nennen und meine Kinder werden sich dessen nicht schämen.“ 87 Aber nachdem Götz gefangen genommen wurde, gerät auch sein Name in Gefahr. Die massive Macht, mit der die Gegenseite herrscht, ihre Fähigkeit, physische Gewalt auszuüben und den Diskurs zu steuern, bedroht seine Identität, wie Götz resigniert erkennt: „Suchtest du den Götz? Der ist lang hin. Sie haben mich nach und nach verstümmelt, meine Hand, meine Freiheit, Güter und guten Namen“.88 Georg W. Bertram hat Götz als „unbändige[n] Name[n]“89 analysiert –––––––––––– 83
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Vgl. Wittkowski, Wolfgang: Homo homini lupus, Homo homini Deus. „Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand“ als Tragödie und als Drama gesellschaftlicher Aufklärung und Emanzipation. In: Colloquia Germanica 20 (1987) S. 299–324, hier: S. 307. Goethe: Götz von Berlichingen. MA 1, 1. S. 556. Kemper, Dirk: „ineffabile“. Goethe und die Individualitätsproblematik der Moderne. München 2004. S. 43. Goethe: Götz von Berlichingen. MA 1, 1. S. 632–633. Ebd. S. 641. Ebd. S. 650. Bertram, Georg W.: Philosophie des Sturm und Drang. Eine Konstitution der Moderne. München 2000. S. 88.
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und die Funktion der häufigen Verständigung über den Namen in dem Drama thematisiert. Nach Bertram ist der Name eine Möglichkeit, „den Diskurs zu sprengen“, der Name „enthält […] sich dem bloßen Funktionieren des Diskurses“.90 Götz mag, vom Genius beseelt, seine Empfindungen mit Kraft und Konsequenz im Leben realisiert und zu einer Identität zusammengefügt haben, aber wenn die politischen und sozialen Verhältnisse die Freiheit des Individuums einengen, dann bleibt ihm keine Chance, seine Individualität gemäß seinen natürlichen Anlagen auszuleben. Im Gefängnis erreicht das Selbsthelfertum seine Grenze, und Goethes frühes Drama bezieht Position gegen eine unrealistische Verklärung Götzens, das Versagen seiner politischen Analysen spielt seinen Widersachern in die Hände, weil Götz zu strategischem Handeln unfähig ist und der gezielten Steuerung des Diskurses nichts entgegensetzen kann. In der direkten Wirkung zumindest ist die Verhaltensregulierung im Stil des Hofes, aber mehr noch die kluge Strategie des politicus überlegen – das ist die Tragik von Götz. Goethe analysiert die politischen und psychologischen Wirkungen höfischer resp. politischer Rhetorik vor dieser Folie jedoch ohne Vorbehalte. Den Hofmann akzentuiert er politisch als einen modernen Beamten, der mit strategischem Kalkül einen Beitrag zur Rationalisierung leistet. Hier steht der politicus Weises Pate, weniger der Hofmann Castigliones, dem es um die ästhetische Dimension seines Handelns geht. Politisch gerät er mit seinem Selbsthelfertum vor diesem Hintergrund ins Abseits, psychologisch erscheint er zuerst stark, denn zur Empfindungsstärke im Sinne Werthers gesellen sich bei Götz Mut und Tatkraft. Allerdings gerät er zunehmend ins Hintertreffen, gefährdet, indem er rhetorisch-politische Klugheit ablehnt, seine eigenen Entfaltungsmöglichkeiten. Insgesamt ein ambivalentes Bild: Mit dem historischen Exempel Götz übt Goethe Kritik an der politischen Realität seiner Zeit, zugleich aber streut Goethe Zweifel daran, ob der naive Naturmensch politischen Einfluss gewinnen kann, denn schließlich sieht Götz dem Untergang entgegen.
6. 2. 2. Rhetorische Verhaltensregulierung und politische Öffentlichkeit („Egmont“) Nach der Darstellung in „Dichtung und Wahrheit“ hatte Goethe bereits 1774 das „schon fertige Stück“ im „Kopf“,91 aber erst 1778 finden sich Hinweise auf die Arbeit am „Egmont“ in seinem Tagebuch,92 und der Abschluss des Dramas verzögert sich sogar bis zum Italienaufenthalt. In der „Italienischen Reise“ behaup–––––––––––– 90 91 92
Ebd. Goethe: Dichtung und Wahrheit. MA 16. S. 815. Vgl. Goethe: Tagebucheinträge vom 5. Dezember u. 13. Dezember 1787. WA III, 1. S. 72–73.
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tet Goethe dann zwar: „es sind ganze Szenen im Stücke, an die ich nicht zu rühren brauche“,93 aber in anderen Passagen des Reiseberichts ist durchaus zu erkennen, dass die Vollendung des Dramas keineswegs eine Kleinigkeit war. Goethe schreibt: Es war eine unsäglich schwere Aufgabe, die ich ohne eine ungemessene Freiheit des Lebens und des Gemüts nie zu Stande gebracht hätte. Man denke, was das sagen will: ein Werk vornehmen, was zwölf Jahre früher geschrieben ist, es vollenden ohne es umzuschreiben.94
Vor diesem Hintergrund erklärt sich, warum das erst 1788 veröffentlichte Drama dem „Götz“ gedanklich nahe steht, hier rhetorische Modelle der Verhaltensregulierung in einer Weise behandelt sind, die unmittelbar an „Götz“ anschließt. Dabei führt der zweite Texte über den ersten insofern signifikant hinaus, als Goethe nun den Faktor der öffentlichen Meinung, der rhetorisch ja von größtem Interesse ist, berücksichtigt und die Möglichkeiten individueller Einflussnahme auf politische Situationen durch Rhetorik vor dem Hintergrund einer politischen Öffentlichkeit untersucht.95 Als Egmonts Geliebte Clärchen über Margarete von Parma wissen will: „Verstellt sie sich?“,96 trifft sie mit ihrer Frage eine Eigenheit höfisch-politischer Rhetorik in knapper Klarheit, so dass Egmont überrascht antwortet: „Regentin und du fragst?“97 Auch als sie noch einmal nachsetzt, „Verzeiht ich wollte fragen: ist sie falsch?“,98 bleibt ihre Frage im Bereich der Selbstverständlichkeiten: „Nicht mehr und nicht weniger als jeder der seine Absichten erreichen will“,99 klärt Egmont sie daher auf. Rhetorische Verhaltensregulierung, strategische Verstellung sind also selbstverständliches Mittel der Politik, soviel war im „Götz“ klar und das darf auch für „Egmont“ vorausgesetzt werden. Aber im „Egmont“ begegnet das Thema Politik ausführlich in der aus heutiger Sicht zeitgemäßeren Form, nämlich nicht nur als Eigenheit höfischer Rhetorik, sondern auch als Technik der Volksrede oder – so im Falle Margaretes – als Instrument einer Realpolitik, die widerstreitende Interessen vereinbaren muss und sich dabei auch der politischen Öffentlichkeit stellt. Nach Margaretes Überzeugung ist Politik ein schmutziges Geschäft, das sich mit „Offenheit“ und „Gutherzigkeit“ nicht betreiben lässt: –––––––––––– 93 94 95
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Goethe: Italienische Reise. 5. Juli 1787. MA 15. S. 447. Goethe: Italienische Reise. 3 November 1787. MA 15. S. 516. Zur Bedeutung der öffentlichen Meinung für die Rhetorik vgl. Ptassek, Peter, Birgit Sandkaulen-Bock u.a.: Macht und Meinung. Die rhetorische Konstitution der politischen Welt. Göttingen 1992. Die Autoren verstehen Rhetorik als eine Theorie öffentlicher Meinung, die etwa mit Hilfe der endoxa die diffuse öffentliche Meinungslage in einen politischen Handlungszusammenhang rückt. Goethe: Egmont. MA 3, 1. S. 289. Ebd. Ebd. Ebd.
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Ich weiß wohl daß Politik selten Treu und Glauben halten kann; daß sie Offenheit, Gutherzigkeit, Nachgiebigkeit aus unsern Herzen ausschließt, in weltlichen Geschäften, ist das leider nur zu wahr.100
Margarete muss zwischen vielen widersprüchlichen Standpunkten vermitteln: Obwohl Philipp II. sie ausspioniert, muss sie ihm gegenüber die Form wahren und ihm Gefolgschaft leisten, selbst wenn sie seine Beschlüsse missbilligt.101 An den Interessen des niederländischen Adels, die Egmont und Oranien vertreten, kommt sie ebenso wenig vorbei wie am Expansionsstreben der Kirche und der Stimmungslage des Volkes, das die spanische Vorherrschaft äußerst negativ bewertet. Nur mit strategischem Geschick, zielgerichteter simulatio und dissimulatio kann Margarete ausgleichend auf die Konflikte zwischen der spanischen Herrschaft und der niederländischen Provinz einwirken. Sie hat sich mit dem Ziel der Vermittlung im Konflikt eine Aufgabe gesetzt, die viel Geduld erfordert und die sie selbst als Gegenmodell zum Aktionismus Albas erachtet: „Was ich mit unsäglicher Geduld beruhigte, wird er durch Härte und Grausamkeiten wieder aufhetzen […].“102 Sie setzt auf Mediation und ist damit nach Meinung Egmonts, der Margaretes Herrschaft als ein rhetorisches Unternehmen versteht, durchaus erfolgreich: Wir aber müßten sehr undankbar, sehr vergessen sein wenn wir uns nicht erinnerten was wir der Regentin schuldig sind. Bekennen wir! sie brachte durch ihr so kluges als tapfres Betragen die Aufrührer mit Gewalt und Ansehn, mit Überredung und List zur Ruhe und führte zum Erstaunen der Welt, ein rebellisches Volk in wenigen Monaten zu seiner Pflicht zurück.103
Beim Volk, das Goethe durch einzelne Protagonisten wie Soest und Jetter sprechen lässt, ist die Meinung über Margarete aber gespalten. Zwar sind Ausgleich und Vermittlung höchst wünschenswerte Ergebnisse der simulatio und dissimulatio und sorgen auch für eine gewisse Anerkennung: „Klug ist sie und mäßig in allem was sie tut“, sagt beispielsweise Jetter über die Regentin, und Soest pflichtet ihm bei: „Wahrlich treffliche Weiber sind in dem Hause.“104 Doch derselbe Jetter wünscht sich, dass Egmont die Regentschaft von Margarete übernimmt.105 Im Gespräch mit Oranien erklärt Egmont Margaretes Verhalten durch geschlechtsspezifische Eigenheiten: Sie ist ein Weib, guter Oranien, und die möchten immer gern, daß sich alles unter ihr sanftes Joch gelassen schmiegte, daß jeder Herkules, die Löwenhaut ablegte und ihren Kunkelhof vermehrte. Daß, weil sie friedlich gesinnt sind die Gärung die ein Volk ergreift, der Sturm
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Ebd. S. 256. Vgl. ebd. S. 255. Ebd. S. 285. Ebd. S. 303. Ebd. S. 250. Vgl. ebd.
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den mächtige Nebenbuhler gegen einander erregen sich durch Ein freundlich Wort beilegen ließe und die widrigsten Elemente sich zu ihren Füßen in sanfter Eintracht vereinigten. Das ist ihr Fall, und da sie es dahin nicht bringen kann, so hat sie keinen Weg als launisch zu werden, sich über Undankbarkeit, Unweisheit zu beklagen, mit schröcklichen Aussichten in die Zukunft zu drohen, und zu drohen daß sie fortgehn will.106
Das Ausmalen von „schröcklichen Aussichten“, die Drohung, fortzugehen, gehören zum politischen Repertoire Margaretes. Doch lässt Goethe Margaretes strategisches Vorgehen, ihre gezielte Verstellungskunst in einem positiven Licht erscheinen, weil sie im Dienst einer guten Sache stehen, dem Land Frieden und Wohlstand garantieren sollen. Zugleich unterschlägt das Drama die negative Seite rhetorischer Verhaltensregulierung und politischer Taktik nicht, zeigt es doch Philipp II. als einen Herrscher, der mit dem Mittel der Verstellung rücksichtslos eigene Machtinteressen verfolgt. Schamlos leitet er etwa die Suspendierung Margaretes und die Einsetzung Albas mit einem scheinheiligen Lob für Margarete ein,107 das, wie sie sofort erkennt, nichts als „rednerische Figur“108 ist. Das klingt wie ein weiterer Beleg für die Rhetorikfeindlichkeit Goethes. Aber wer so argumentiert, übersieht die im Drama klar akzentuierten rhetorischen Voraussetzungen von Margaretes eigener politischer Arbeit. Auch Oranien taugt als Beleg für die positive Bewertung rhetorischer Verhaltensregulierung durch Goethe. Oraniens Versuch, Egmonts Leben zu retten, wird explizit als rhetorischer Akt benannt („Laß dich überreden“109), und überhaupt nutzt er ein breites Repertoire rhetorischer Möglichkeiten, über die Goethe als Autor ganz selbstverständlich verfügte: Nachdem erste vernünftige Warnungen nicht fruchten, steigert sich Oranien zu einer emotionalen Redeweise mit großem Figurenaufgebot von der Anapher („Vielleicht rettet“, „Vielleicht daß…“, „Vielleicht zögert…“) über die geminatio („schnell! schnell!“, „Rette! Rette dich!“) bis zur parallelen Satzkonstruktion („wie viel Mannschaft er mitbringt, wie er die Stadt besetzt, was für Macht die Regentin behält, wie deine Freunde gefaßt sind“).110 Schließlich fließen Tränen als äußerstes Beweismittel pathetischer Rede, als letzter Versuch, Egmont umzustimmen. In seiner politischen Analyse strategischer Rhetorik erkennt Goethe also in der gezielten Regulierung des eigenen Verhaltens und der strategischen Rede zunächst einmal ein Mittel der Politik, das selbst wertneutral ist, zu guten Zwecken ge- und zu schlechten missbraucht werden kann. In jedem Fall öffnet die Rhetorik Handlungsspielräume durch Selbstbeschränkung; gerade indem er seine Absichten verbirgt und einem strategischen Kalkül folgt, kann sich etwa Oranien Freiheit verschaffen, „seine Gedanken reichen in die Ferne, er ist heimlich, –––––––––––– 106 107 108 109 110
Ebd. S. 278. Vgl. ebd. S. 283. Ebd. Ebd. S. 282. Ebd.
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scheint alles anzunehmen, widerspricht nie und in tiefster Ehrfurcht mit größter Vorsicht, tut er was ihm beliebt.“111 Auf die gleiche Weise etabliert Margarete Ruhe und Frieden. Die moralische Indifferenz der rhetorisch-strategischen Rede bleibt für Goethe jedoch problematisch, mit Philipp II. ist ein Vertreter einer egoistischen Machtrhetorik gezeichnet und selbst bei Oranien und Margarete sind anerkennenswerte und rein egoistische Motive miteinander verschmolzen. Die Konstellation spricht also für eine moralisch und ethisch fundierte Rhetorik, aber weder gegen die rhetorische Verstellung an sich und erst recht nicht gegen die Rhetorik überhaupt. Gerade vor dem Hintergrund einer politischen Öffentlichkeit sind für Goethe die Gefahren einer Rhetorik, die nicht ethisch geläutert ist, offensichtlich. Er zeichnet den Redner Vansen jedenfalls als eine zwielichtige Figur, als Unruhestifter und Aufwiegler. Mit dieser Figur bietet er eine kleine Studie zur populistischen Propaganda, demonstriert, wie sich öffentliche Meinung mit den Mitteln der Rhetorik manipulieren lässt, wie ja auch der „Groß-Cophta“ seine eigentliche Pointe darin findet, dass er die Manipulierbarkeit des Publikums durch bloßen Schein ausmalt.112 Goethe geht im „Egmont“ nicht von einem modernen, demokratischen Freiheitsbegriff aus. „Die bürgerliche Freiheit, die er vertritt, […] geht mit der Ordnung der Obrigkeit zusammen, die Sicherheit und Ruhe verbürgt“.113 Öffentliche Meinung ist da per se ein potentieller Unruheherd und die Rhetorik vor diesem Hintergrund, sofern sie ethische Fragen hintanstellt, eine gefährliche Waffe, mit der Volksredner Vansen die Emotionen des Volkes im Griff hat, sich als Anführer positioniert, obwohl er keine wirkliche politische Agenda besitzt. Mit einer raffinierten praeteritio, die ihn selbst als Anführer empfiehlt, geht Vansen das Volk an: „Wenn jetzt einer oder der andre Herz hätte. und [sic!] einer oder der andre den Kopf dazu, wir könnten die spanischen Ketten auf einmal sprengen“.114 In raffinierter Weise stachelt er die Bürger auf, spricht von den angeblichen Rechten der Provinzen und schmeichelt sich geschickt ein, indem er seinen Zuhörern verkündet „Wir Brabanter besonders, obgleich alle Provinzen ihre Vorteile haben, wir sind am herrlichsten versehen“115 und somit der Einsicht des Aristoteles folgt, dass es leicht sei, Athener vor Athenern zu loben.116 Bisweilen beschimpft er seine Zuhörer („So seid ihr Bürgersleute! Ihr lebt nur so in –––––––––––– 111 112 113 114 115 116
Ebd. S. 257. Vgl. dazu Ueding, Gert: Klassik und Romantik. Deutsche Literatur im Zeitalter der Französischen Revolution. Erster bis vierter Teil. München 1988. S. 210–212. Michelsen, Peter: Egmonts Freiheit. In: Euphorion 65 (1971) S. 274–297, hier: S. 278. Goethe: Egmont. MA 3, 1. S. 266–267. Ebd. S. 268. Vgl. Arist. Rhet. 1415b.
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den Tag hin“117), doch auch damit folgt Goethes Darstellung klassischen rhetorischen Mustern, denn eine Form der dissimulatio ist der μυκτηρισμός, das Nasenrümpfen, „eine Art des Verspottens, das sich zwar verstellt, aber nicht verborgen bleibt.“118 Solche Verfahren der dissimulatio ergänzt Vansen durch geschickte simulatio, so verweist er wiederholt auf seine Erfahrung als Schreiber und seine Belesenheit („Ich habe alles gelesen“119), um Kompetenz zu suggerieren, sich auctoritas zu verschaffen. Obwohl Vansen technisch geschickt vorgeht, Jürgen Schröder betont das als einer der wenigen Interpreten,120 kann er seine Zuhörer nicht längerfristig überzeugen, weil sein ethos höchst problematisch ist. Zimmermann etwa hält Vansen für einen unsteten Gesellen: Er hat schon viele Herrn gehabt. Erst war er Schreiber und wie ihn ein Patron nach dem andern fortjagte, Schelmstreiche halber; pfuscht er jetzt Notaren und Advokaten ins Handwerk und ist ein Branntweinzapf.121
Diesen Mangel an ethos kann die Verstellungskunst Vansens trotz aller Mühen nicht verdecken. Eine Rhetorik, die sich um ethische Fragen nicht schert, ist zwar gefährlich, aber auch potentiell wirkungslos. Vansen jedenfalls kann durch seine Rede lediglich Unruhe stiften, wirklich überzeugen kann er das Volk nicht. Egmont hingegen gelingt es in kürzester Zeit, die Bürger, die Vansen mit seiner Rede aufgehetzt hat, wieder zur Ruhe zu bringen: Ruhig! ruhig Leute! Was gibts? Ruhe! Bringt sie auseinander. […] Was fangt ihr an? Bürger gegen Bürger! Hält sogar die Nähe unsrer königlichen Regentin diesen Unsinn nicht zurück. Geht auseinander, geht an euer Gewerbe.122
Es sind wohl nicht so sehr die Worte Egmonts, die den aufkommenden Tumult beenden, dazu sind sie gar zu wenig spektakulär, vielmehr beruht sein Einfluss auf seiner Ausstrahlung, die auch Soest fasziniert: Warum ist alle Welt dem Grafen Egmont so hold? warum trügen wir ihn alle auf den Händen? Weil man ihm ansieht, daß er uns wohlwill, weil ihm die Fröhligkeit, das freie Leben die gute Meinung aus den Augen sieht, weil er nichts besitzt, das er dem Dürftigen nicht mitteilte, auch dem ders nicht bedarf.123
–––––––––––– 117 118 119 120
121 122
123
Goethe: Egmont. MA 3, 1. S. 267. Quint. Inst. orat. VIII, 6, 58. Goethe: Egmont. MA 3, 1. S. 268. Schröder, Jürgen: Poetische Erlösung der Geschichte – Goethes Egmont. In: Hinck, Walter (Hrsg.): Geschichte als Schauspiel. Deutsche Geschichtsdramen. Frankfurt am Main 1986. S. 101–116, hier: S. 111. Goethe: Egmont. MA 3, 1. S. 266. Ebd. S. 270. Man hat in der Rede Egmonts gelegentlich Anklänge an Shakespeares „Julius Caesar“ gesehen, wo sich der Tribun Flavius in ähnlicher Weise äußert (vgl. Reinhardt, Hartmut: Kommentar „Egmont“. MA 3, 1. S. 870). Goethe: Egmont. MA 3, 1. S. 249.
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Egmont ist wohlwollend, fröhlich, freiheitsliebend und großzügig, diese Eigenschaften machen ihn beim Volk beliebt, und daher wünscht sich Jetter: „Hätten wir ihn nur zum Regenten, man folgt’ ihm gerne.“124 Auch das Urteil von Clärchens Mutter liegt auf dieser Linie: „Man muß ihm hold sein! das ist wahr. Er ist immer so freundlich, frei und offen.“125 Egmont wirkt nicht nur als repräsentative Figur, also als Angehöriger des Adels, der auf eine Zuhörerschaft trifft, die noch nicht das kritische Bewusstsein bürgerlicher Öffentlichkeit ausgebildet hat, sondern auch durch seine individuelle Ausstrahlung,126 die der späte Goethe mit dem Hinweis auf das „Dämonische“127 und eine dämonische attrativa deutet: Als ich ihn nun so in meinen Gedanken verjüngt und von allen Bedingungen losgebunden hatte, gab ich ihm die ungemessne Lebenslust, das grenzenlose Zutrauen zu sich selbst, die Gabe alle Menschen an sich zu ziehn (attrativa) und so die Gunst des Volks, die stille Neigung einer Fürstin, die ausgesprochene eines Naturmädchens, die Teilnahme eines Staatsklugen zu gewinnen; ja selbst den Sohn seines größten Widersachers für sich einzunehmen.128
Mit diesen Überlegungen aus „Dichtung und Wahrheit“ hat Goethe die Interpretation des Dramas nachhaltig beeinflusst. Viele Interpretationen setzen hier an, übersehen aber zumeist, dass der Hinweis auf die Dämonie Egmonts im direkten Zusammenhang mit Schillers Kritik an dem Drama steht, der im Sinne seiner „Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande“ eine stärker historischempirische Behandlung des Themas forderte und kritisierte, Goethe habe sich nicht an historische Fakten gehalten, indem er Egmont jung und kinderlos präsentiert statt als verheirateten Vater von elf Kindern.129 Goethes Hinweis, er habe –––––––––––– 124 125 126
127 128
129
Ebd. S. 271. Ebd. S. 262. Im „Egmont“ zeigt Goethe eine Situation, in der Gesten, Insignien und andere Elemente repräsentativer Öffentlichkeit noch bedeutsam sind, zugleich beginnt das Volk aber auch, eigene Interessen zu verfolgen, politische Entwicklung kritisch zu reflektieren. Goethe rückt hier zumindest Vorformen einer bürgerlichen Öffentlichkeit im Sinne von Jürgen Habermas ins Bild (vgl. J. H.: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. 2. Auflage. Neuwied am Rhein 1965). Goethe: Dichtung und Wahrheit. MA 16. S. 821. Ebd. Den Begriff ‚attrativa‘ hat Goethe in Italien kennen gelernt; in der „Italienischen Reise“ führt er ihn zur Bezeichnung einer „entschiedene[n] Anziehungsgabe“ ein (Goethe: Italienische Reise. MA 15. S. 553). Schiller, Friedrich: Über Egmont. Trauerspiel von Goethe. NA 22. S. 203–204. GeorgMichael Schulz besteht daher darauf, dass Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ eine erst später gewonnene Betrachtungsweise „zurückprojiziert“ (G.-M. S.: Artikel „Egmont“. In: Goethe-Handbuch. Bd. 2. S. 154–172, hier: S. 169). Als erster Beleg für die Beschäftigung Goethes mit dem Dämonischen gilt das Gedicht „Mächtiges Überraschen“ (MA 9. S. 12), in das er erst 1808 zur weiteren Deutung den Hinweis auf das Dämonische aufnimmt (vgl. Hölscher-Lohmeyer, Dorothea: Kommentar „Sonette“. MA 9. S. 1075). Vgl. außerdem van Dijk, Arjan: Das Dämonische als moderne Rezeptionskategorie. Dargestellt an Goethes „Egmont“ und „Torquato Tasso“. In: Neophilologus 83 (1999) S. 427–443, hier: S. 428.
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durch solche Änderungen das Dämonische an Egmont hervorheben wollen, klingt daher eher nach einer nachträglichen Rechtfertigung, zumal er das Dämonische im Kontext des Dramas zuvor nie erwähnt hat. Von den drei Überzeugungsmitteln, die man in der antiken Rhetorik unterscheidet, spielen logos und pathos für Egmont nur eine untergeordnete Rolle. Wenn es um inhaltliche Argumente geht, sind Machiavell und Oranien weit stärker als Egmont. Auch pathetische Züge finden sich im Grunde erst durch den „Salto mortale in eine Opernwelt“,130 den Goethe am Schluss des Stückes vollführt. Egmont überzeugt durch rednerisches ethos, seine Persönlichkeit ist das beste Argument für seine Sache. Das erinnert stark an Quintilians Charakterisierung des ethos: Das ἦθος, das wir meinen und in der Rede verlangen, ist ein Gefühl, das sich vor allem durch seine Lauterkeit und Güte empfiehlt, nicht nur sanftes und gefälliges, sondern meist auch liebenswürdiges und recht menschliches Wesen, das auch für die Zuhörer einnehmend und angenehm wirkt und dessen Hauptvorzug, den es auszudrücken gilt, darin besteht, daß es so wirkt, als ströme alles unmittelbar aus dem natürlichen Wesen der Dinge und Menschen; die sittliche Haltung des Redners soll durch seine Worte hindurchleuchten und sich so bemerkbar machen.131
Güte, Liebenswürdigkeit und Gefälligkeit, menschliches Wesen – das sind Charakterzüge Egmonts. Zuviel Selbstvertrauen, falsche politische Analyse, das lässt sich Egmont ankreiden, er „hat sich in der Einschätzung der realen Gegebenheiten völlig vertan“,132 weil er zwar durch rednerisches ethos positiv auf das Volk wirkt, sich aber der realen Politik zugleich verschließt. 133 Hans Neumann hat „Egmont“ als eine „Tragödie der Beliebtheit“134 interpretiert und trifft damit eher den Kern als die Deutungen, die bei der Dämonie Egmonts ansetzen. Schließlich gilt er als Mann, dem „Fröhligkeit, das freie Leben die gute Meinung aus den –––––––––––– 130 131 132
133
134
Schiller, Friedrich: Über Egmont. Trauerspiel von Goethe. NA 22. S. 208. Quint. Inst. orat. VI, 2, 13. Schwan, Werner: Egmonts Glücksphantasien und Verblendung. Eine Studie zu Goethes Drama „Egmont“. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts. Neue Folge (1986) S. 61– 90, hier: S. 67. Insofern kann man mit Jürgen Schröder Egmont als eine individuell menschliche Figur verstehen, der das Politische fremd ist. Nach Schröder hat Goethe, indem er Egmont als Hauptfigur wählt, Geschichte gerade nicht in einer modernen politisch-öffentlichen Weise dargestellt. Allerdings reflektiert Goethe das Thema Öffentlichkeit eben doch in verschiedenen kleineren Szenen offen und in vielen Dialogen in einer untergründigen Weise. Er macht zudem deutlich, dass die gewinnende Art Egmonts, die auch Schröder hervorhebt, durchaus politisch-öffentlich bedeutsam ist, auch wenn Egmont seine Beliebtheit bzw. sein ethos nicht oder nur begrenzt in einem politischen Rahmen einzusetzen weiß (vgl. J. S.: Poetische Erlösung der Geschichte – Goethes Egmont. In: Hinck, Walter (Hrsg.): Geschichte als Schauspiel. Deutsche Geschichtsdramen. Frankfurt am Main 1986. S. 101–116, hier: S. 106–107). Naumann, Hans: Goethes Egmontmythos. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 71 (1951/1952) S. 277–291, hier: S. 287.
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Augen sieht“,135 lobt man allgemein „seine Offenheit, sein glücklich Blut, das alles wichtige leicht behandelt“.136 Mit Hilfe der ethos-Konstruktion kann man Egmonts Beliebtheit und Wirkung jedenfalls ganz ohne metaphysische Theorien erklären. Aus rhetorischer Sicht ist das rednerische ethos auf eine natürliche Begabung, ein besonderes Talent, angewiesen, zugleich aber entsteht es aus der Vielzahl von Handlungen und Äußerungen eines Menschen, lässt sich diskursiv entwickeln und festigen. So ist es auch bei Egmont: Seine Wirkung auf die Menschen mag sich auf natürliche Ausstrahlung und Talent gründen, vollendet wird sie erst dadurch, dass Freiheit und Offenheit alle seine Äußerungen durchziehen und dass sich diese in seinen konkreten Taten und seiner Lebensführung spiegeln. Die Substanz einer solchen Anziehungskraft lässt sich dabei nur schwer vortäuschen, wie schon Cicero darlegte, dessen ethos-Lehre über den Kontext rhetorischer simulatio / dissimulatio hinausweist: Gewinnen aber lassen sich die Herzen durch die Würde eines Menschen, seine Taten und das Urteil über seine Lebensführung. Diese Vorzüge sind leichter wirkungsvoll hervorzuheben, wenn sie vorhanden sind, als zu erfinden, wenn sie nicht vorhanden sind.137
Zu Egmonts kommunikativen Qualitäten, die sein positives ethos zugleich offenbaren und festigen, gehört seine Art der Regierungsführung, in die das Gespräch zwischen Egmont und seinem Sekretär Einblick gibt. Ob es nun um die Heiratserlaubnis für ein Mitglied seiner Armee, um die Bestrafung einer Vergewaltigung, um den Umgang mit protestantischen Religionslehrern oder das Eintreiben der Steuern geht, seine Entscheidungen besitzen stets Augenmaß und Besonnenheit.138 Darüber hinaus baut das positive ethos Egmonts auf einige sagenhafte Taten und Auszeichnungen. So erzählt sich das Volk, dass er ein meisterhafter Schütze sei: „Mit der Büchse trifft er erst, wie keiner in der Welt. Nicht etwa wenn er Glück oder gute Laune hat, nein wie er anlegt immer rein schwarz geschossen.“139 Auch von seinem gekonnten Umgang mit Pferden140 und seiner besonderen Tapferkeit in der Schlacht von Gravelingen, als ihm „das Pferd unter dem Leibe totgeschossen wird“,141 ist häufig die Rede. Solche Legenden tragen viel zum positiven Eindruck bei, den Egmont auf das Volk macht. Seine adelige Abstammung verleiht ihm ohnehin eine besondere Stellung: „Sein niederländischer Adel […] stärk[t] sein Vertraun, seine Kühnheit“,142 diag–––––––––––– 135 136 137 138 139 140 141 142
Goethe: Egmont. MA 3, 1. S. 249. Ebd. S. 258. Cic. De orat. 2, 182. Vgl. Goethe: Egmont. MA 3, 1. S. 273–274. Ebd. S. 247. Vgl. ebd. S. 299. Ebd. S. 263. Ebd. S. 258.
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nostiziert die Regentin. Als Niederländer ist Egmont nämlich besser in der Lage, auf seine Landsleute einzuwirken, als etwa Margarete von Parma. Kulturelle Nähe ist eine Voraussetzung für erfolgreiche Kommunikation, wie etwa Kenneth Burke wiederholt dargelegt hat: „You persuade a man only insofar as you talk his language by speech, gesture, tonality, order, image, attitude, idea, identifying your ways with his.“143 Zudem erhält Egmont durch seine Zugehörigkeit zum Orden des Goldenen Vlieses, die wieder und wieder erwähnt wird, ein besonderes ethos. Nach Aussage Margaretes stärkt „sein golden Vlies vor der Brust“ wie der niederländische Adel sein Selbstvertrauen und „kann ihn vor einem schnellen, willkürlichen Unmut des Königs schützen.“144 Die Zugehörigkeit zu den Rittern des Goldenen Vlieses verleiht Egmont einen Nimbus der Unbesiegbarkeit, von dem die Regentin ebenso fasziniert ist wie er selbst, denn als Ordensmitglied ist er nur der Gerichtsbarkeit des maximal 31 Mitglieder umfassenden Ordenskapitels unterstellt.145 Daher kann er von sich behaupten: „Ich erkenne auf Erden keinen Richter über meine Handlungen als den Großmeister des Ordens mit dem versammelten Kapitel der Ritter.“146 Dabei dürfte es entscheidend sein, dass Egmont sich die Vlies-Ordenschaft selbst erkämpft hat, was er gegenüber Clärchen erwähnt haben muss: „Und das goldne Vlies! Ihr erzähltet mir die Geschichte und sagtet es sei ein Zeichen alles Großen und Kostbaren was man mit Müh und Fleiß verdient und erwirbt.“147 Mythischer Nimbus und realer Verdienst treten in der Vlies-Ordenschaft zusammen, diese Kombination trägt zur überragenden persönlichen Überzeugungskraft, zu seinem ethos, entscheidend bei. Wer als Herrscher beim Volk beliebt sein will, muss über ein ausgezeichnetes ethos verfügen, so wird auch an Carl V., dem Vater von Philipp II., vom Volk vor allem dessen ethos gepriesen: „Gott tröst’ ihn! Das war ein Herr! Er hatte die Hand über dem ganzen Erdboden, und war euch alles in allem, und wenn er euch begegnete; so grüßt er euch wie ein Nachbar den andern […].“148 Die kühle Strategie und Verstellungskunst Albas macht einen Herrscher nicht zum Hoffnungsträger des Volkes, auch die ausgleichende Staatskunst Margaretes, die mit Hilfe von simulatio und dissimulatio regiert, gewinnt nur in begrenztem Maße Achtung, und selbst der Volksredner Vansen kann, obwohl er die Kniffe der Rhetorik beherrscht, der Ausstrahlung Egmonts kaum etwas entgegenhalten. Damit erweist sich in Goethes Anordnung die aristotelische ethos-Konzeption, gemäß der sich das ethos „durch die Rede ergeben [muss], und nicht durch eine vorab
–––––––––––– 143 144 145 146 147 148
Burke, Kenneth: A Rhetoric of Motives. Berkeley u. Los Angeles, CA 1969. S. 55. Goethe: Egmont. MA 3, 1. S. 258. Vgl. ebd. S. 295. Ebd. S. 288. Ebd. Ebd. S. 248.
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bestehende Meinung darüber, was für ein Mensch der Redner ist“,149 als defizitär. Der fleißige Quintilian-Leser Goethe folgt eher der Vorstellung seines Lehrmeisters, für den rednerisches ethos ein komplexes Konstrukt ist, das ein Redner auf der Grundlage seiner natürlichen Voraussetzungen im Laufe der Zeit durch Rede und Tat erarbeiten muss. Mit Egmont etabliert Goethe den Redner im Sinne eines vir bonus als politischer Akteur mit hoher Potenz. Im vir-bonus-Ideal als einem Modell rhetorischer Verhaltensregulierung verbinden sich in der Antike rhetorisch strategisches Wissen und moralischer Anspruch miteinander. Wiederum eine rhizomatische Struktur, die widersprüchliche Anforderungen an den Redner eint. Als Stratege muss sich der Redner verstellen, geschickt und klug verhalten, als vir bonus ist der Verstellung zugleich immer eine Grenze gezogen, muss alles Handeln und Reden durch die Person des Redners gedeckt sein, darf nicht in Widerspruch zu den moralischen Überzeugungen der Zuhörer geraten, die der Redner gewissermaßen spiegelt. Insofern ist das vir-bonus-Ideal ein anspruchsvolles Konzept der Verhaltensregulierung. Bei aller Beliebtheit beim Volk, bei aller moralischen Qualität seiner Entscheidungen gelingt es Egmont jedoch ähnlich wie Götz nicht, wirklichen Einfluss auf die politische Entwicklung zu nehmen, weil er nicht in dem Sinne rednerisch agiert, dass er wirkungsorientiert und zielorientiert denkt und handelt, sich vielmehr strategischem Handeln oftmals bewusst versperrt. Realpolitik jedoch lässt sich nicht ohne Taktik und Strategie betreiben, daher ist Margarete politisch zunächst einflussreicher als Egmont. Sobald die öffentliche Meinung ins Spiel kommt, ist Egmonts ethos das Kapital, das ihm zu Einfluss verhilft, allerdings verpufft diese Wirkung, weil er sein Potential nicht strategisch einsetzt. Egmont ist, so Ueding, ein Charakter, dessen Unglück gerade darin besteht, daß er sich nicht den verschiedenen Erfordernissen gemäß auch unterschiedlich verhalten kann, in Regierungsgeschäften anders als im bürgerlichen Gespräch, als Politiker anders als in Clärchens Stube. Immer und in allen Situationen zeigt er schöne Humanität, er ist […] ein schöner Geist, den es in eine feindliche politische Welt verschlagen hat.150
–––––––––––– 149
150
Arist. Rhet. 1356a. Vgl. dazu auch Heinrich Niehues-Pröbsting, der dargelegt hat, dass das ethos als Überzeugungsmittel zwischen logos und pathos, denen beinahe die ganze Aufmerksamkeit Aristoteles’ gilt, tendenziell unterbewertet wird (vgl. H. N.-P.: Ethos. Zur Rückgewinnung einer rhetorischen Fundamentalkategorie. In: Kopperschmidt, Josef (Hrsg.): Rhetorische Anthropologie. Studien zum Homo rhetoricus. München 2000. S. 339– 352, hier: S. 348–349), zumal Aristoteles den Begriff ethos in seiner „Rhetorik“ jenseits moralischer Implikationen verwendet (vgl. Sprute, Jürgen: Ethos als Überzeugungsmittel in der aristotelischen Rhetorik. In: Ueding, Gert (Hrsg.): Rhetorik zwischen den Wissenschaften. Tübingen 1991. S. 281–290). Ueding, Gert: Klassik und Romantik. Deutsche Literatur im Zeitalter der Französischen Revolution. Erster bis vierter Teil. München 1988. S. 200.
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Immerhin bleibt wie im „Götz“ am Ende die Hoffnung, dass aus Egmonts vorbildlichem Verhalten, das sich einer mehr moralischen als rhetorischen Verhaltensregulierung verdankt, zukünftiger politischer Einfluss entsteht. Schließlich ist sogar Albas’ Sohn Egmonts Ausstrahlung erlegen, so dass er, nachdem er vom Komplott seines Vaters erfahren hat, Egmont seine Freundschaft anträgt: Du bist mir nicht fremd. Dein Name wars der mir in meiner ersten Jugend gleich einem Stern des Himmels entgegen leuchtete. Wie oft hab ich nach dir gehorcht, gefragt! Des Kindes Hoffnung ist der Jüngling, des Jünglings der Mann. So bist du vor mir her geschritten, immer vor und ohne Neid sah ich dich vor und schritt dir nach und fort und fort. 151
Ferdinands Freundschaft befreit Egmont von der Sorge, die ihn im Kerker befangen hat,152 und richtet ihn wieder auf,153 da er durch sie die Überlegenheit seiner eigenen Überzeugungen bestätigt findet: Sein Vertrauen auf das eigene ethos und eigene moralische Überzeugungen mag politisch zunächst gescheitert sein, aber es war nicht wirkungslos, denn Ferdinand folgt Egmont nach. Indem Goethe die Rhetorik als Kunst der Verstellung, wie sie Oranien und Margarete beherrschen, mit Egmont kontrastiert, der vor allem auf Grund seines ethos auf seine Mitmenschen wirkt, führt er noch einmal den Gegensatz zwischen Rhetorik als Technik und Rhetorik als anthropologischem Modell ein. Egmont ist ein Beispiel für eine naturwüchsige Rhetorik, die auf die rednerische Wirksamkeit der eigenen Empfindungen vertraut und diese geordnet und klar vorbringt, daher ermahnt er Ferdinand am Ende „Stehe, rede wie ein Mann.“154 In der politischen Welt aber muss solche ‚Natur-Rhetorik‘ mit rhetorischer Kunstfertigkeit und ethischer Verhaltensregulierung verschmelzen, so widersprüchlich die Forderungen sind, die auf diese Weise entstehen. Für Goethe ist dies keine Zukunftsutopie, die danach ruft, durch revolutionäre politische Veränderungen die ethisch geläuterte Rede als Medium der Politik zu etablieren. Selbst wenn Clärchen in der opernhaften Schlussszenerie in einer Phantasie Egmonts als allegorische Verkörperung der „göttliche[n] Freiheit“155 erscheint, ist nicht an politische Revolution zu denken, sondern an die Wiederherstellung vorabsolutistischer Strukturen.156 –––––––––––– 151 152 153 154 155 156
Goethe: Egmont. MA 3, 1. S. 324. Vgl. Michelsen, Peter: Egmonts Freiheit. In: Euphorion 65 (1971) S. 274–297, hier: S. 295. Vgl. Reinhardt, Hartmut: Egmont. In: Goethes Dramen. Hrsg. v. Walter Hinderer. Stuttgart 1992. S. 158–198, hier: S. 161. Goethe: Egmont. MA 3, 1. S. 323. Ebd. S. 328. Diese lassen nach Goethes bzw. Mösers Vorstellung der Freiheit des Einzelnen mehr Raum als der strategisch funktionalistische Absolutismus. Peter Michelsen hat es leicht pathetisch formuliert: „In der Schlußallegorie, in der Vereinigung der „göttlichen Freiheit“ mit der Geliebten in der Seele Egmonts liegt auch der politische Freiheitsgedanke Goethes beschlossen: einer Freiheit, die sich verwirklicht, wenn das Volk in der Liebe seiner angestammten Herren geborgen ist.“ (P. M.: Egmonts Freiheit. In: Euphorion 65 (1971) S. 274– 297, hier: S. 281).
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„Egmont“ ist kein Freiheitsdrama im revolutionär politischen Sinne, aber ein Drama, das auch heute noch aktuell die Wirkungsmechanismen politischer Rede analysiert. Verstellung ist ein notwendiges Mittel politischen Handelns, wenn dieses Interessenkonflikte zu bewältigen versucht; insofern sind Margarete und Alba Politiker par excellence, mal in einer eher ausgleichenden, mal in einer eher totalitären Variante. Ein überragendes ethos aber ist unverzichtbar, um das Volk emotional für eine politische Sache zu gewinnen und rational zu überzeugen. Goethe geht es nicht um eine Generalabrechnung mit der Rhetorik, sondern um Kritik an einer Redekunst, der es an inhaltlicher und auch ethischer Substanz mangelt. Hier liegt die eigentliche Pointe einer kleinen Szene des „Egmont“, in der sich Brackenburg Selbstvorhaltungen macht, weil er sich nicht in die Geschicke seines Vaterlandes einmischt: Unglücklicher und dich rührt deines Vaterlandes Geschick nicht? der wachsende Tumult nicht – und gleich ist dir Landsmann oder Spanier und wer regiert und wer recht hat. – War ich doch ein andrer Junge als Schulknabe! – wenn da ein Exercitium aufgegeben war: Brutus Rede für die Freiheit, zur Übung der Redekunst, da war doch immer Fritz der erste, und der Rektor sagte, wenns nur ordentlicher wäre, nur nicht alles so übereinander gestolpert – damals kocht es und trieb!157
Gegen alle Kritik an der „rednerische[n] Figur“158 des Königs setzt Goethe die politische Bedeutung einer inhaltlich fundierten Rhetorik, in der ethische Zielsetzung der Rede und kunstfertige Umsetzung eines Arguments zugleich gefordert sind.
6. 3.
Der Hofmann als Künstler. Das ästhetische Potential des Hofmann-Ideals („Torquato Tasso“)
6. 3. 1. Belriguardo und Weimar: Höfische Verhaltensnormen im Zustand der Auflösung Goethes Rede von Tasso als einem „gesteigerten Werther“ 159 ist ein Topos der Tasso-Forschung, durch den sich ganz unterschiedliche Interpretationen begrün–––––––––––– 157 158 159
Goethe: Egmont. MA 3, 1. S. 264. Ebd. S. 283. Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. 3. Mai 1827. MA 19. S. 564. Goethe zitiert hier vorgeblich eine Äußerung Jean Jacques Ampères aus einer Rezension zur französischen Übersetzung von „Torquato Tasso“, allerdings kommt ein entsprechender Ausdruck in dem Text gar nicht vor. Nicht einmal in der Übersetzung der Rezension, die Goethe in „Über Kunst und Altertum“ (6, 1 (1827) S. 123– 133) aufnahm, findet sich diese Formulierung. Im Kontext des Gesprächs zwischen Eckermann und Tasso wird zudem nicht erläutert, was Goethe meint, wenn er vom „gesteigerten Werther“ spricht (vgl. zu diesem Thema auch Reinhardt, Hartmut: Kommentar „Torquato Tasso“. MA 3, 1. S. 948).
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den lassen:160 Den einen erscheint Tasso als gesteigerter Werther, weil er diesem an künstlerischer Produktivität überlegen ist,161 den anderen, weil die Unfähigkeit zu angemessenem sozialen Verhalten bei Tasso noch mehr ins Auge sticht als bei dem tragischen Helden des Briefromans.162 Eine Steigerung des künstlerischen Reichtums oder des sozial-kommunikativen Mangels – man konnte sich nicht wirklich einigen, wie Goethes Hinweis zu verstehen ist. Daher sprach Elizabeth M. Wilkinson der Rede vom „gesteigerten Werther“ jede erklärende Kraft ab.163 Inspirierend ist der topos aber allemal, denn beide Auslegungen sind schlüssig: Tasso ist in der Tat ein produktiver Künstler, keiner, der wie Werther immerfort an den eigenen Empfindungen scheitert („Ich könnte jetzo nicht zeichnen, nicht einen Strich, und bin niemalen ein größerer Maler gewesen als in diesen Augeblicken.“164). Zugleich fällt Tassos Außenseiterposition vor dem Hintergrund höfischer Verhaltensnormen stärker ins Auge als Werthers schleichende Absonderung von der Gesellschaft, insofern ist auch die Idee plausibel, dass Tasso mehr noch als Werther sozial scheitert. Aus der kleinen Gesandtschaftsepisode des „Werther“ ist im „Tasso“ ein zentraler Aspekt des Dramas geworden. Goethe isoliert die ästhetische Dimension des Hofmann-Ideals, geht der Frage nach, welche Bedeutung den höfischen Verhaltensnormen für den autonomen Künstler zuzumessen ist. Am rhetorisch geprägten Hofmann-Ideal versucht er eine Anthropologie des Künstlers zu formulieren, indem er den ästhetisch-anthropologischen Aspekten rhetorischer Verhaltensregulierung nachgeht. In vielen Interpretationen hat man Tasso und Goethe aufeinander bezogen und natürlich war die Frage, wie sich ein Künstler zur höfischen Gesellschaft stellen soll, für Goethe in Weimar von fortdauernder Aktualität. Wenn Parallelen dazu führen, dass Interpreten den Figuren des Dramas zeitgenössische Personen aus Goethes Umfeld zuordnen und eine Schlüssellektüre versuchen, dann ist dies jedoch problematisch.165 Vielmehr empfiehlt es –––––––––––– 160
161
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163 164 165
Vgl. Wilkinson, Elizabeth M.: „Tasso – ein gesteigerter Werther“ in the Light of Goethe’s Principle of „Steigerung“. In: Modern Language Review 44 (1949) S. 305–328, hier: S. 327–328. Eine solche Interpretation schlägt zum Beispiel Heinz Gockel vor: „Werther ist Dilettant, Tasso aber beginnt seinen Bühnenweg bei Goethe in dem Augeblick, als er ein Epos vollendet hat“ (H. G.: Goethes Tasso – die Sprache des Symbols. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 54 (1980) S. 636–655, hier: S. 638). In diesem Sinne äußern sich schon Hermann August Korff und Friedrich Gundolf. Vgl. H. A. K.: Geist der Goethezeit. 7. Auflage. Leipzig 1964. Bd. 2. S. 173; F. G.: Goethe. 13. Auflage. Berlin 1930. S. 324. Vgl. Wilkinson, Elizabeth M.: „Tasso – ein gesteigerter Werther“ in the Light of Goethe’s Principle of „Steigerung“. In: Modern Language Review 44 (1949) S. 305–328, hier: S. 328. Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. MA 1, 2. S. 199. Paradigmatisch ist hier Franz Kern (F. K.: Goethes Torquato Tasso. Beiträge zur Erklärung des Dramas. Berlin 1884), der ausgiebig spekuliert, welche Weimarer Vorbild für Tasso, die Prinzessin, Eleonore Sanvitale u. a. sein könnten.
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sich, Christa Bürgers nachvollziehbare Unterscheidung zwischen der Darstellungs- und der Bedeutungsebene des Dramas aufzunehmen; sie trennt zwischen der historischen Figur Tasso als Protagonist des Dramas und den Problemen des zeitgenössischen Schriftstellers, die Goethe vor diesem Hintergrund behandelt.166 Goethe selbst hat der Gleichsetzung mit Tasso freilich Vorschub geleistet, etwa indem er gegenüber Eckermann äußerte: Ich hatte das Leben Tassos, ich hatte mein eigenes Leben, und indem ich zwei so wunderliche Figuren mit ihren Eigenheiten zusammenwarf, entstand in mir das Bild des Tasso, dem ich, als prosaischen Kontrast, den Antonio entgegenstellte, wozu es mir auch nicht an Vorbildern fehlte.167
Indem Goethe Tasso vor dem Hintergrund der höfischen Kultur darstellt, sich selbst in einem höfischen Kontext bewegt, wird rhetorisches Denken für den ästhetischen Diskurs erschlossen. Nachdem die psychologische und politische Seite rhetorischer Verhaltensregulierung etwa im „Götz“ und „Egmont“ Thema waren, macht Goethe jetzt die ästhetische Dimension einer gezielten Verhaltenskontrolle oder genauer des cortegiano-Ideals, das einen allseitig gebildeten, auf schönen Schein bedachten Hofmann fordert, deutlich. Die Gesellschaft von Belriguardo ist, weil hier höfische Verhaltensideale nicht mehr im Sinne einer strengen Norm wirken, eine Parabel auf den Kleinstaat Weimar.168 In Belriguardo sind die Gebote höfischer Verhaltensregulierung löchrig geworden, die Prinzessin etwa schränkt den Geltungsbereich scheinhaften Kommunizierens bewusst ein: „Du solltest dieser höchsten Schmeichelei / Nicht das Gewand vertrauter Freundschaft leihen.“169 Gleichwohl ist das System höfischer Repräsentation in Belriguardo noch soweit intakt, dass die Möglichkeit, „unser [zu] sein“ eingeschränkt bleibt, und so kann Tasso über Eleonore Sanvitale klagen: „So liebenswürdig sie erscheinen kann, / […] konnt’ ich nur selten / Mit ihr ganz offen sein […].“170 Die repräsentative Funktion höfischer Rhetorik ist im Drama nach Gabriele Girschner durch die schwindende politi-
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Vgl. Bürger, Christa: Der bürgerliche Schriftsteller im höfischen Mäzenat. Literatursoziologische Bemerkungen zu Goethes „Tasso“. In: Conrady, Karl Otto (Hrsg.): Deutsche Literatur zur Zeit der Klassik. Stuttgart 1977. S. 141–153, hier: S. 148. Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. 6. Mai 1827. MA 19. S. 571. Zur Realität der Weimarer Geselligkeit vgl. etwa Borchmeyer, Dieter: Weimarer Klassik. Portrait einer Epoche. Weinheim 1994. S. 44–51. Auch Jörn Görres hat die wirtschaftlichen und sozialen Probleme Weimars betont und die Tendenz des Hofes, Unterhaltung statt kultureller Weiterbildung zu suchen, beschrieben (vgl. J. G.: Goethes Ideal und die Realität einer geselligen Kultur während des ersten Weimarer Jahrzehnts. In: Goethe-Jahrbuch 93 (1976) S. 84–96). Goethe: Torquato Tasso. I, 1. V. 95–96. MA 3, 1. S. 429. Ebd. II, 1. V. 965–967. S. 452.
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sche Macht der italienischen Kleinstaaten bedroht,171 die Alphons und Antonio in ihren Gesprächen mehrfach thematisieren und auf das Hegemoniestreben des Papstes zurückführen: „Italien soll ruhig sein, er [der Papst] will / In seiner Nähe Freunde sehen, Friede“.172 Ähnlich ist Weimar durch das Hegemonialstreben Preußens und Österreichs bedroht. Goethe mag zwar, Justus Möser folgend, „die Menge kleiner Staaten als höchsterwünscht zur Ausbreitung der Kultur“ 173 betrachten, genau wie sich Alphons als „Feldherr“174 auf dem Gebiet der Kultur versteht, weil ihm keine andere Macht mehr geblieben ist.175 An der politischen Machtlosigkeit Weimars ist wie an der Ferraras jedoch nicht zu rütteln. Friedrich Sengles Bemerkung in der Monographie „Das Genie und sein Fürst“, Carl August habe etwa bei der Gründung des Deutschen Fürstenbundes, „die geringfügigen Aktivitäten durch Geheimnistuerei“176 aufzuwerten versucht und nur deshalb Goethe als Geheimsekretär eingesetzt, trifft den Kern der Sache, steht paradigmatisch für die vergleichsweise politische Bedeutungslosigkeit, die auch das außenpolitische Engagement des Herzogs nicht überspielen kann. Höfische Repräsentation steht am Weimarer Hof wie auch in Goethes Ferrara nur noch pro forma in einem politischen Kontext, ist eher ein kulturelles Phänomen, zu dem Theaterabende, Gesprächskreise, Lesezirkel und Maskenaufzüge gehören, die Goethe als Zeremonienmeister gestaltet und schleichend verbürgerlicht.177 Die höfische Geselligkeit dient vor diesem Hintergrund ganz profan dazu, die „maladie contagieuse des Hof ennui“178 zu vertreiben, über die etwa Fräulein vom Göchhausen regelmäßig klagt. Literatur und Kunst sind als Elemente der Fest- und Salonkultur in die Lebenspraxis eingegliedert, die selbst letztes Objekt –––––––––––– 171
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Vgl. Girschner, Gabriele: Goethes „Tasso“. Klassizismus als ästhetische Regression. 2. Auflage. Frankfurt am Main 1986. S. 20–32. Außerdem dies.: Zum Verhältnis zwischen Dichter und Gesellschaft in Goethes „Torquato Tasso“. In: Goethe-Jahrbuch 101 (1984) S. 162–186, hier: S. 163–166. Goethe: Torquato Tasso. I, 4. V. 621–622. MA 3, 1. S. 443. Goethe: Dichtung und Wahrheit. MA 16. S. 687. Vgl. dazu auch: Reiss, Hans: Ästhetische und politische Autonomie in Goethes Dramen vor der französischen Revolution. In: Ders.: Formgestaltung und Politik. Goethe-Studien. Würzburg 1993. S. 218–225, hier: S. 218. Goethe: Torquato Tasso. V, 1. V. 2846. MA 3, 1. S. 503. Vgl. ebd. V, 1. V. 2843–2845. S. 503. Sengle, Friedrich: Das Genie und sein Fürst. Die Geschichte der Lebensgemeinschaft Goethes mit dem Herzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach. Ein Beitrag zum Spätfeudalismus und zu einem vernachlässigten Thema der Goetheforschung. Stuttgart u. Weimar 1993. S. 66–67. Vgl. Bürger, Christa: Der Ursprung der bürgerlichen Institution Kunst. Frankfurt am Main 1977. S. 145–163. Göchhausen, Luise von: Brief an Johann Heinrich Merck vom 11. Februar 1782. In: Deetjen, Werner (Hrsg.): Die Göchhausen. Briefe einer Hofdame aus dem klassischen Weimar. Berlin 1923. S. 29. Wolf Lepenies hat die höfische Kultur unter dem Aspekt der Zurückdrängung der Langeweile interpretiert (vgl. W. L.: Melancholie und Gesellschaft. Frankfurt am Main 1969. S. 55–68).
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der Repräsentation, letzte Legitimation der Herrschaft ist.179 Neben der politischen Entwicklung gefährdet das Aufkommen der Langeweile die höfische Kultur, weshalb Lepenies von einem weiteren, gleichsam finalen Angriff auf das repräsentative Hofsystem spricht.180 Gelegentlich hat man den rhetorischen Hintergrund des „Tasso“ und den Einfluss rhetorischer Rollenparadigmen erwähnt. Gerhard Neumann etwa verweist auf Castiglione, um den Konversationsstil des Dramas zu erklären, 181 auch Dieter Borchmeyer, der vom „ethisch-rhetorische[n] Gesetz des Dekorum“182 spricht, und Christa Bürger („Den Werthorizont des Stückes bildet der honnêteté-Begriff des 17. Jahrhunderts“183) haben die Rolle der höfischen Verhaltensnormen im Drama thematisiert, aber sie setzten sich nur mit der Bedeutung der Rhetorik für die historische Hofwelt auseinander. Interessanter scheint es jedoch, wenn man die Rezeption von Castigliones Utopie höfischen Verhaltens als Indiz für Goethes tiefe Verwurzelung im rhetorischen Diskurs versteht, völlig selbstverständlich gehen bei ihm rhetorische Inhalte in die ästhetische Theoriebildung und in die Anthropologie des Künstlers ein. Insofern ist es verwunderlich, dass Gabriele Girschner, die sich dem Thema Rhetorik im „Tasso“ annimmt, übersieht, wie tief der ästhetische und der gesellschaftliche Diskurs des Dramas in der rhizomatischen Tradition der Rhetorik verwurzelt ist, die ästhetische Aktualität, die das Hofmann-Ideal noch in seiner Auflösung für Goethe besitzt, ausspart.184 Nach Girschner liegt das „Rhetorische“ des Dramas darin, dass die in Belriguardo „intendierte gesellschaftliche Harmonie […] einzig verbal erreicht“ werde,185 das ist aber allenfalls eine Schicht des Rhetorischen. –––––––––––– 179
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Vgl. Bürger, Christa: Der bürgerliche Schriftsteller im höfischen Mäzenat. Literatursoziologische Bemerkungen zu Goethes „Tasso“. In: Conrady, Karl Otto (Hrsg.): Deutsche Literatur zur Zeit der Klassik. Stuttgart 1977. S. 141–153, hier: S. 141. Vgl. Lepenies, Wolf: Melancholie und Gesellschaft. Frankfurt am Main 1969. S. 57. Vgl. Neumann, Gerhard: Konfiguration. Studien zu Goethes „Torquato Tasso“. München 1965. S. 44–48. Borchmeyer, Dieter: Weimarer Klassik. Portrait einer Epoche. Weinheim 1994. S. 173. Bürger, Christa: Der Ursprung der bürgerlichen Institution Kunst. Frankfurt am Main 1977. S. 174. Dies mag mit einem reduktionistischen Verständnis von Rhetorik zusammenhängen, das sich in Girschners Arbeit diagnostizieren lässt. So glaubt Girschner, ein topos sei in der höfischen Kommunikation nur mehr als schmückendes Element zu gebrauchen, argumentative Funktion habe er nur in der antiken Rede besessen (vgl. G. G.: Goethes „Tasso“. Klassizismus als ästhetische Regression. 2. Auflage. Frankfurt am Main 1986. S. 308). Merkwürdig auch, dass Girschner mit der höfischen Gesellschaft das Ende der Öffentlichkeit assoziiert, so dass ihrer Meinung nach der Rhetorik in einem höfischen Kontext das Betätigungsfeld abhanden kommt (vgl. ebd. S. 319), obwohl sie zugleich verschiedene Monologe als Beispiele unterschiedlicher Redegattungen identifiziert und Tassos Worte bei der Übergabe des Manuskripts als Schwundstufe des genus demonstrativum deutet sowie in seiner Verteidigungsrede Elemente des genus iudiciale erkennt (vgl. ebd. S. 314–317). Girschner, Gabriele: Zum Verhältnis zwischen Dichter und Gesellschaft in Goethes „Torquato Tasso“. In: Goethe-Jahrbuch 101 (1984) S. 162–186, hier: S. 170.
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6. 3. 2. Der cortegiano als ästhetisches Modell Die Verhaltensformen, die Baldesar de Castiglione in seinem „Buch vom Hofmann“ mit Blick auf die Hofgesellschaft unter Herzogin Elisabetta Gonzaga zu einem Paradigma höfischen Umgangs machte, haben trotz gewisser Auflösungserscheinungen auch in Belriguardo Vorbildcharakter. Schon die ersten Verse des Dramas, gesprochen von der Prinzessin, thematisieren ein zentrales Prinzip höfischer Kultur, nämlich den Schein, und führen zugleich die Brüchigkeit der Verhaltensregulierung vor Augen:186 Du siehst mich lächlend an, Eleonore, Und siehst dich selber an und lächelst wieder. Was hast du? Laß es eine Freundin wissen! Du scheinst bedenklich, doch du scheinst vergnügt.187
In Belriguardo ist der schöne Schein brüchig, die Verhaltensregulierung durch simulatio und dissimulatio kann die Bedenken Eleonores nicht verbergen und überspielen. Gleichwohl ist das Gebot positiver Selbstrepräsentation immer noch ein zentrales Element der Kultur am Hof von Ferrara. Man hält sich an die Forderung Castigliones, der Hofmann solle darauf achten, jede Unterhaltung „angenehm zu machen“,188 er solle „höflich, menschlich, freizügig, liebenswürdig und sanftmütig“189 wirken, um eine positive Präsentation seiner selbst besorgt sein. Dahinter steht ein Erziehungsprogramm: Gegen den seit Platon immer wieder erhobenen Täuschungsvorwurf verteidigt Castiglione den schönen Schein durch das Bild vom Edelstein, der an Strahlkraft eben noch gewinnt, wenn er in die Hände eines Goldschmieds kommt, der ihn kunstvoll einfasst.190 Insofern ist die rhetorische Verhaltensregulierung bei Castiglione ein ästhetisches und zugleich ein ethisches Phänomen, denn im Konzept des schönen Scheins ist noch die antike Doppelung von Schönheit als ästhetischer und ethischer Kategorie im Spiel, so dass das vir-bonus-Ideal im Hintergrund des Hofmann-Ideals steht. Dabei zieht schon Cicero, auf den Castiglione sich in vielen Punkten bezieht, auch die pragmatische Dimension des Scheins in Betracht: Wenn ein Fall unübersichtlich ist, sich Parteiinteressen unüberwindlich entgegenstehen, ist das Hervorheben der eigenen Sichtweise, der Versuch, den eigenen Argumenten Strahlkraft zu verleihen, die einzige Möglichkeit, die eigene Position zu vertre–––––––––––– 186
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Vgl. auch die Interpretation von Gabriele Girschner, die diese ersten Zeilen nutzt, um Belriguardo als Welt des Scheins einzuführen (G. G.: Goethes „Tasso“. Klassizismus als ästhetische Regression. 2. Auflage. Frankfurt am Main 1986. S. 7–13). Goethe: Torquato Tasso. I, 1. V. 1–4. MA 3, 1. S. 426. Castiglione, Baldesar de: Das Buch vom Hofmann. Übersetzt, eingeleitet u. erläutert von Fritz Baumgart. Bremen o. J. [1960] [künftig zitiert als Cast. Cort.] II, 18. Ebd. II, 30. Vgl. ebd. II, 40.
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ten.191 Auf solche pragmatischen Notwendigkeiten reagiert bei aller ethischen und ästhetischen Bedeutung Castigliones Entwurf, der vor dem Hintergrund der Konkurrenzsituation am italienischen Hof des 16. Jahrhunderts zu sehen ist: Nachdem Krieg und Inflation den niederen Adel wirtschaftlich in den Ruin getrieben hatten, blieb ihm nur der Dienst am Hof, und so konkurrierten in Ferrara zur Zeit des historischen Tasso mehr als 350 Hofleute miteinander,192 in dieser Konkurrenzsituation ist rhetorisches Geschick ein entscheidender Faktor. Die Situation ist also insofern komplex, als das Hofmann-Ideal sowohl ein ästhetisch-ethisches Modell als auch ein rigoroses Konzept der Verhaltenskontrolle ist, in dem die Wahrung eigener Interessen und die Durchsetzung der eigenen Position richtunggebend sind. Tasso und die Prinzessin, die dem HofmannIdeal ästhetischen Modellcharakter zuschreiben, und Antonio, für den vor allem der persönliche Nutzen und das eigene Fortkommen wichtig sind, stehen somit für zwei Seiten des cortegiano, die Goethe klar erkannt und schon im „Götz“ voneinander abgrenzt hat. Für Wieland war in den Worten Walter Hinderers im „Ideal des Cortegiano, des allseitig gebildeten Virtuoso, […] das Ideal des vollkommenen bürgerlichen Menschen“193 angelegt, auch Schillers Bild vom Künstler ist vor dem Hintergrund des Hofmann-Ideals zu sehen.194 Worin also liegt der ästhetische Wert höfischer Verhaltensregulierung? Der cortegiano soll, so fordert Castiglione, nach sprezzatura streben, das ist „eine gewisse Art von Lässigkeit […], die die Kunst verbirgt und bezeigt, daß das, was man tut oder sagt, anscheinend mühelos und fast ohne Nachdenken zustandegekommen ist“.195 Sprezzatura ist die höfische Variante der dissimulatio artis, nach der das Zurschaustellen der eigenen Technik der Überzeugungsabsicht des Redners zuwiderläuft.196 Gerade über das sprezzatura-Ideal erschließt sich, dass Castiglione rhetorische Verhaltensregulierung ästhetisch versteht. Wie wirkungsvoll sprezzatura den schönen Schein hervorbringen kann, also in welchem Maße sie ästhetisch sein kann, hat Goethe etwa in Italien beobachtet: Die „Nobili“ Italiens haben ihn beeindruckt, weil sie „ohne Anstrengung, ruhig, ihrer selbst gewiß, Leichtigkeit des Daseins –––––––––––– 191
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Vgl. Cicero, Marcus Tullius: De inventione – Über die Auffindung des Stoffes. De optimo genere oratorum – Über die beste Gattung von Rednern. Lateinisch u. deutsch. Hrsg. u. übersetzt v. Theodor Nüßlein. Düsseldorf u. Zürich 1998. II, 51, 156. Vgl. Hinz, Manfred: Rhetorische Strategien des Hofmannes. Studien zu den italienischen Hofmannstraktaten des 16. und 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1992. S. 53–72; die Zahl findet sich auf S. 59. Hinderer, Walter: Wielands Beiträge zur deutschen Klassik. In: Conrady, Karl Otto (Hrsg.): Deutsche Literatur zur Zeit der Klassik. Stuttgart 1977. S. 44–64, hier: S. 49. Vgl. Ueding, Gert: Klassik und Romantik. Deutsche Literatur im Zeitalter der Französischen Revolution. Erster bis vierter Teil. München 1988. S. 88–89. Cast. Cort. I, 26. Vgl. Burke, Peter: The Fortunes of the Courtier. The European Reception of Castiglione’s „Cortegiano“. Cambridge 1995. S. 11 u. 30–31.
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und […] eine gewisse Fröhlichkeit“197 ausstrahlten. Im Kontext der höfischen Gesellschaft fordert Castiglione sprezzatura mit solcher Konsequenz ein, dass man diese nicht nur als ein praktisches Gebot betrachten sollte, die Anstrengungen zu verdecken, mit denen sich ein Hofmann beliebt zu machen versucht, sondern vielmehr auch als Forderung, im Sinne einer tiefgreifenden Verhaltensregulierung die eigene Gemütslage zu kontrollieren. Manfred Hinz hat die sprezzatura sehr passend als eine „lückenlose Technik der Realitätsverwischung“198 beschrieben, die einen schönen Schein an die Stelle der wirklichen Absichten und Intentionen setzt. Um angemessene Handlungen zu vollziehen, den rechten Ton zu treffen und das Misstönende, Bäurische und Unordentliche zu vermeiden, muss der Hofmann seine Umgebung genau beobachten. Nur wenn er sein iudicium oder, wie es bei Castiglione heißt, seinen „buon giudizio“199 ausbildet, kann er die Forderungen nach einer Ästhetisierung des Umgang erfüllen, kann er den Spagat zwischen bewusst produziertem Schein von Leichtigkeit und gleichzeitiger Vermeidung von Künstelei bewältigen.200 Zu einem ästhetischen, aber auch ethischen Programm der Verhaltensregulierung formt Castiglione den Hofmann schließlich auch, indem er das Ideal der grazia als Korrektiv des Handelns einführt. Erich Loos erklärt den Begriff mit den Umschreibungen „Anmut, Liebenswürdigkeit, Grazie“.201 Für ihn hat Castiglione mit diesem Ideal einen „Weg zur Vollendung des Menschen“,202 freilich des adeligen Menschen,203 formuliert. Auf diesem Konzept insbesondere ruht das ästhetische Potential des cortegiano, der offensichtlich nicht nur als ein äußerliches Verhaltensmodell zu verstehen ist, sondern als ein ethisches und ästhetisches Programm, das sich der Künstler zu eigen machen kann, weil es um die innere Fortentwicklung des Menschen geht, die eben nicht nur den schönen Schein betrifft. Schon früh war Goethe vom schönen Schein höfischer Geselligkeit fasziniert, als ob er ahnte, dass die Ideale höfischer Geselligkeit auch für den Künstler inte–––––––––––– 197 198 199 200 201 202 203
Goethe: Italienische Reise. MA 15. S. 99. Hinz, Manfred: Rhetorische Strategien des Hofmannes. Studien zu den italienischen Hofmannstraktaten des 16. und 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1992. S. 131. Vgl. Cast. Cort. II, 6 u. 17. Vgl. auch Loos, Erich: Literatur und Formung eines Menschenideales. Das „Libro del Cortegiano“ von Baldassare Castiglione. Wiesbaden 1980. S. 14. Vgl. Hinz, Manfred: Rhetorische Strategien des Hofmannes. Studien zu den italienischen Hofmannstraktaten des 16. und 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1992. S. 23. Loos, Erich: Baldassare Castigliones „Libro del Cortegiano“. Studien zur Tugendauffassung des Cinquecento. Frankfurt am Main 1955. S. 117. Ebd. S. 119. Auf diesen Aspekt weist besonders Peter Werle hin, der die Spannungen des Castiglioneschen grazia-Begriffs aufzeigt, der zwischen der Identifikation mit der Naturanlage des Adels und der Gleichsetzung mit einem erwerbbaren habitus changiert. Vgl. P. W.: Grazia. Zu Konstituierung und Funktion eines Bildungsideals in Baldassare Castigliones „Libro del Cortegiano“. In: Italienische Studien 8 (1985) S. 39–50, hier: S. 40–41.
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ressant sein könnten. Die Regeln höfischer Verhaltenskontrolle hat ihm zunächst wohl vor allem Frau von Stein in Weimar nahe gebracht.204 In einem Brief an sie aus dem Jahr 1781 − Heinz-Otto Burger, der die Bedeutung des europäischen Adelsideals früh behandelte, hat ihn ausführlich gewürdigt −205 lässt Goethes Beschreibung der Gräfin von Werthern besonders gut erkennen, wie nachdrücklich er höfische Verhaltensregulierung auch als ein ästhetisches Phänomen sah, als eine Entwicklungsform der Humanität: Die Gräfinn hat mir manche neue Begriffe gegeben, und alte zusammengerückt. […] Diese hat Welt oder vielmehr sie hat die Welt , sie weis die Welt zu behandlen […]. Sicher ihres Werths, ihres Rangs handelt sie zugleich mit einer Delikatesse und Aisance die man sehn muß um sie zu dencken. Sie scheint iedem das seinige zu geben wenn sie auch nichts giebt, sie spendet nicht, wie ich andre gesehn habe, nach Standsgebühr und Würden iedem das eingesiegelte zugedachte Packetgen aus, sie lebt nur unter den Menschen hin, und daraus entsteht eben die schöne Melodie die sie spielt daß sie nicht ieden Ton sondern nur die auserwählten berührt. Sie tracktirts mit einer Leichtigkeit und einer anscheinenden Sorglosigkeit daß man sie für ein Kind halten sollte das nur auf dem Klaviere, ohne auf die Noten zu sehen, herumruschelt, und doch weis sie immer was und wem sie spielt. Was in ieder Kunst das Genie ist, hat sie in der Kunst des Lebens.206
Goethe bewundert an von Werthern den Anschein der Leichtigkeit und Sorglosigkeit, der doch das Ergebnis hoher Kunstfertigkeit und eines entwickelten Gefühls für das Angemessene ist. Er zieht dabei einen Vergleich zwischen der Kunst und der Kunst des Lebens, sieht also schon eine Parallele zwischen rhetorischer Verhaltensregulierung im Sinne des Hofmann-Ideals und der Kunst selbst, die beide nicht ohne Kunstfertigkeit auskommen, ohne sicheres Urteilsvermögen dem Ideal der Schönheit kaum näher kommen können. Im „Tasso“ spielt er das ästhetische Moment des cortegiano aus, entdeckt in einem aus politischer Notwendigkeit und strategischem Kalkül formulierten Verhaltensideal ein ästhetisches Programm, das für den Künstler richtunggebend sein kann. Selbst Tasso fügt sich als Künstler, obwohl ihn die Welt des Hofes ästhetisch beeinflusst hat, jedoch gerade nicht in das Idealbild des cortegiano, nimmt eine Außenseiterrolle ein, denn er sieht nicht, dass die höfische Gesellschaft Belriguardos, eben weil der politische Einfluss des Herrschers so gering ist, vor allem ein ästhetisches Spiel ist. Vor dem Hintergrund des höfischen Comment wirkt Tassos Traum von einer goldenen Zeit, in der eine normative Verhaltensregulierung nicht nötig war, sein Traum von einem gesellschaftlichen Urzustand, in dem geselliges Miteinander nicht von Regeln beschränkt war und die Kunst erblühte, naiv: –––––––––––– 204
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Vgl. Borchmeyer, Dieter: Höfische Gesellschaft und französische Revolution bei Goethe. Adliges und bürgerliches Wertsystem im Urteil der Weimarer Klassik. Kronberg/Taunus 1977. S. 57. Heinz Otto Burger schlägt einen Bogen von diesem Brief zu den Stilidealen Castigliones. Vgl. H. O. B.: Europäisches Adelsideal und deutsche Klassik. In: Ders. (Hrsg.): Begriffsbestimmung der Klassik und des Klassischen. Darmstadt 1972. S. 177–202. Goethe an Charlotte von Stein. Brief vom 11. März 1781. WA IV, 5. S. 75–77.
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Die goldne Zeit wohin ist sie geflohn? Nach der sich jedes Herz vergebens sehnt! Da auf der freien Erde Menschen sich Wie frohe Herden im Genuß verbreiteten; […] Wo jeder Vogel in der freien Luft Und jedes Tier durch Berg und Täler schweifend Zum Menschen sprach: erlaubt ist was gefällt. 207
Tassos Traum von Arkadien, jenem topischen Ort, den der historische Tasso in seiner „Amintia“ als Wirklichkeit gestaltet, ist ein Gegenmodell zu jeder Art von Verhaltensregulierung. Goethe bringt diesen Arkadientraum auf den Leitspruch „erlaubt ist was gefällt“ und zitiert damit den historischen Tasso: „S’ei piace, ei lice“.208 Diese Sentenz versteht Tasso wie den ganzen Arkadien-Topos „als ein Urbild menschlichen Zusammenlebens“.209 Dabei ist es gerade das schöne Spiel in Belriguardo, die Leichtigkeit des höfischen Umgangs, die Tasso überhaupt an das Idealbild Arkadiens erinnert, die Möglichkeit Arkadiens für ihn in Greifweite rückt. Er übersieht, dass Belriguardo ein Ort der Ästhetisierung des Miteinanders durch strikte Verhaltensregulierung ist. Zugleich schiebt Goethe ihm, das gehört zur Vielschichtigkeit der Figur, eine Erkenntnis seiner eigenen klassischen Ästhetik unter, nämlich dass die Form und innere Angemessenheit eines Kunstwerks ein Ausweis seiner Qualität sei („Es soll sich sein Gedicht zum Ganzen ründen.“210). Für die Prinzessin ist Tassos Arkadien-Sehnsucht nichts anderes als ein Traum, Arkadien keine Beschreibung einer realen Vergangenheit oder realistischen Zukunft, sondern ein Topos: Die goldne Zeit, womit der Dichter uns Zu schmeicheln pflegt, die schöne Zeit, sie war, So scheint es mir, so wenig als sie ist, Und war sie je, so war sie nur gewiß, Wie sie uns immer wieder werden kann. Noch treffen sich verwandte Herzen an Und teilen den Genuß der schönen Welt; Nur in dem Wahlspruch ändert sich, mein Freund, Ein einzig Wort: erlaubt ist was sich ziemt.211
Die Position der Prinzessin spiegelt Giovanni Battista Guarinis Reaktion auf den historischen Tasso, der auf dessen „Amintia“ mit dem Werk „Il pastor fido“ und –––––––––––– 207 208 209
210 211
Goethe: Torquato Tasso. II, 1. V. 979–982, 992–994. MA 3, 1. S. 453. Vgl. Blumenthal, Lieselotte: Arkadien in Goethes „Tasso“. In: Goethe. N. F. 21 (1959) S. 1–24, hier: S. 5–6. Kaiser, Gerhard: Der Dichter und die Gesellschaft in Goethes „Torquato Tasso“. In: Ders.: Wandrer und Idylle. Goethe und die Phänomenologie der Natur in der deutschen Dichtung von Geßner bis Gottfried Keller. Göttingen 1977. S. 175–208, hier: S. 197. Goethe: Torquato Tasso. I, 2. V. 275. MA 3, 1. S. 434. Ebd. II, 1. V. 998–1006. S. 453.
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der Leitformel „es möge gefallen, was erlaubt ist“ („Piaccia se lice“) antwortet.212 Goethe formt aus diesem Gedanken die Sentenz „[E]rlaubt ist was sich ziemt“, die stärker noch als die Guarini-Formel an das rhetorische Ideal des Angemessenen erinnert, eine strikte Verhaltenskontrolle fordert, daher spricht Walter Hinderer vom „Primat des Dekorums“ 213 und hat Borchmeyer die Szene mit Verweis auf Ciceros aptum-Theorie interpretiert.214 Tasso nimmt die Regulierung des Verhaltens durch das aptum vor allem als Zwang wahr: „Ich soll entbehren, soll mich mäßig zeigen“.215 Die regulierende Funktion von Sitte und Höflichkeit, die die Prinzessin propagiert (Verließ auf Sitte mich und Höflichkeit, / Auf den Gebrauch der Welt, der sich so glatt / Selbst zwischen Feinde legt“216), ist ihm nicht nahe zu bringen. Er lässt sich allein von seinen Empfindungen leiten, er, der „Hochgestimmte“,217 ist nicht bereit, seine Individualität unter die Regeln angemessenen Verhaltens zu stellen, da er vor allem den Gegensatz zwischen höfischer Norm und eigner Empfindung wahrnimmt, nicht sieht, wie er als Künstler durch die höfischen Verhaltensregeln gewinnen könnte. Wenn Tasso die Eigenheiten höfischen Umgangs in den Begriffen von Simulation und Dissimulation beschreibt („Ich lerne mich verstellen“218), erkennt er vor allem den Zwangscharakter höfischer Verhaltensmodelle. Doch bleibt in der Anordnung des Dramas der ästhetische Wert des cortegianoIdeals unzweifelhaft, dem höfischen Verhalten in Belriguardo kommt selbst ästhetischer Wert zu. Antonio macht es sich freilich zunächst zu einfach, wenn er in Tassos Verhalten lediglich einen Verstoß gegen die Regeln des aptum erkennt und über ihn urteilt, „er beherrscht / So wenig seinen Mund als seine Brust.“219 Diese radikale Auffassung, nach der Tasso sein Verhalten nicht nur äußerlich an den Regeln des aptum ausrichten sollte, sondern auch die „Brust“, also seine innersten Überzeugungen, entsprechend „einrichten“ soll, sich also starr in das Hofmann-Korsett fügen sollte, übersieht, welch großen ästhetischen –––––––––––– 212
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Vgl. Blumenthal, Lieselotte: Arkadien in Goethes „Tasso“. In: Goethe. N. F. 21 (1959) S. 1–24, hier: S. 6–7. Goethe war mit dem Guarini gut vertraut und empfiehlt ihn schon 1765 zusammen mit Tassos „Gerusalemme liberata“ der Schwester zur Lektüre (vgl. Goethe an Cornelia. Brief vom 6. Dezember 1765. WA IV, 1. S. 28). Hinderer, Walter: Artikel „Torquato Tasso“. In: Goethe-Handbuch. Bd. 2. S. 229–257, hier: S. 252. Vgl. Borchmeyer, Dieter: Höfische Gesellschaft und französische Revolution bei Goethe. Adliges und bürgerliches Wertsystem im Urteil der Weimarer Klassik. Kronberg/Taunus 1977. S. 79. Das angegebene Zitat findet sich bei Cic. Orat. 21, 70. Goethe: Torquato Tasso. II, 2. V. 1147. MA 3, 1. S. 457. Ebd. III, 2. V. 1692–1696. S. 472. Ebd. III, 2. V. 1667. S. 471. Ebd. IV, 5. V. 2744. S. 500. Vgl. auch ebd. V, 3. V. 3107–3108. S. 510, wo Tasso treffend analysiert, dass wer sich spät im Leben verstellen lernt, den Vorteil eines ehrlichen Rufes besitzt; auch hier denkt Tasso in rhetorischen Kategorien. Ebd. III, 4. V. 2147–2148. S. 484.
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Wert auch Tassos Empfindungen und sein Enthusiasmus haben. Aber die spätere Bemerkung Antonios gegenüber Tasso, „Du gibst zuviel dir nach“,220 benennt ein soziales Problem, dem sich der Künstler Tasso eben nicht entziehen kann, denn im sozialen Kontext untergräbt das beständige Verfehlen des Angemessenen das soziale und ästhetische Miteinander. Auch der Künstler muss sich zu seiner Umwelt in ein Verhältnis setzen, sonst bleibt er wie Tasso ausgegrenzt und missverstanden. Der Künstler muss wie ein Schauspieler eine Rolle spielen, um sich in eine soziale Gemeinschaft zu integrieren. Mit Erving Goffmans Theatermetapher kann man darin jedoch ein Moment der Freiheit sehen: Der Mensch ist eben nicht auf eine starre Rolle festgelegt, sondern kann Individualität gezielt in Szene setzen, impression management betreiben und auf diese Weise realisieren.221 In dieser Hinsicht ist der cortegiano des Castiglione eine moderne Figur, die gerade aus ihrer Beschränkung heraus über die Möglichkeit zur Gestaltung der eigenen Identität verfügt. Diesen Aspekt aber übersieht Tasso völlig. Erst durch die Erfahrung von varietas, von sich wandelnden Anforderungen des jeweiligen Herrschers und der Gesellschaft wird jedoch eine Verhaltenslehre im Stil Castigliones möglich, wie Brigitte Brinkmann gezeigt hat.222 Im Kontext des Renaissancehofes bietet sich dem Hofmann die Möglichkeit, seine Individualität zu gestalten, sowohl indem er sich strategisch verhält als auch dadurch, dass er dem Ideal der grazia nacheifert, prägt sich ein Bild von ihm, schafft er sich eine Rolle im höfischen Kontext. Obwohl das cortegiano-Ideal viele Vorgaben macht, über die grazia bestimmte Verhaltensweisen fordert, lässt es einen Spielraum, den die Prinzessin sieht und schätzt. Ihr erscheint es nämlich möglich, dass sich unter dem Leitsatz „[E]rlaubt ist was sich ziemt“ „verwandte Herzen“ treffen, die „den Genuß der schönen Welt“ miteinander teilen.223 Eine ästhetische Umgangsform etabliert zu haben, ist aus ihrer Sicht eine großartige Errungenschaft höfischer Verhaltensregulierung nach den Normen von sprezzatura und grazia. Mit dem schroffen „Hinweg“ der Prinzessin nimmt der Fall Tassos im Drama seinen Anfang. In dem Moment, in dem er sich der Prinzessin in amouröser Absicht nähert, sieht diese ihr eigenes Arkadien beendet; seine Annäherungsversuche zerstören ihr höfisches Spiel. Gerade weil in Belriguardo wie in Weimar höfische Verhaltensregulierung nach dem Modell des Hofmanns politisch an Bedeutung verloren hatte, weil der repräsentative Charakter nur noch formaliter vorhanden war, konnte sich der höfische Umgang zu einem feinsinnigen Spiel –––––––––––– 220 221 222 223
Ebd. V, 5. V. 3406. S. 518. Vgl. Goffman, Erving: The Presentation of Self in Everyday Life. London 1971. S. 210– 215. Vgl. Brinkmann, Brigitte: Varietas und Veritas. Normen und Normativität in der Zeit der Renaissance. Castigliones „Libro del Cortegiano“. München 2001. S. 13–15. Goethe: Torquato Tasso. II, 1. V. 998–1006. MA 3, 1. S. 453.
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entwickeln und das ästhetische Moment, das von Castiglione im cortegiano angelegt war, vollends entfalten. Tasso hat dies aber schon vor seinem Fall nicht erkannt, so erklärt sich zum Beispiel seine heftige Reaktion auf die Bekränzung mit dem Lorbeer, denn diese ist keine bewusste Auszeichnung durch den Herzog, wie Michelsen behauptet,224 sondern Teil eines höfischen Spiels und besitzt außerhalb der Spielsituation nur begrenzten Wert. Tasso nimmt dieses Ereignis jedoch anders wahr, wie seine dramatische Reaktion zeigt.225 Ihm fehlt es, so die Prinzessin, an „Mäßigung“,226 am sicheren iudicium, mit dem er die Situation innerhalb des höfischen Spiels beurteilen könnte. Man kann sagen, er hat nicht wirklich gelernt, auf der Bühne des Hofes seine Rolle zu spielen, hat den Spielcharakter der Hofwelt nicht erkannt, die gerade ihr ästhetisches Moment ausmacht. Auch das „Modell Weimar“ ist mit den Worten Uedings ein „Kunstprodukt“, das durch das Zutun vieler Protagonisten entsteht. Goethe hat es aber anders als Tasso bewusst als ein „soziales und kulturelles Experimentierfeld“ verstanden und genutzt, seine Rolle bei Hofe so angelegt, dass sie ihm als Künstler Freiraum gab, zugleich aber in die Weimarer Gesellschaft integriert hielt.227
6. 3. 3. Hofmann und Künstler im Verhältnis zur Gesellschaft: Zur Aktualität des rhetorischen urbanitas-Konzepts Zwar findet man erst 1808 einen Beleg dafür, dass Goethe Castiglione gelesen hat: „Il Cortigiano von Castiglione“228 hat er im Juli des Jahres in sein Tagebuch geschrieben, und die Lektüre von Gracians Hoflehre ist sogar erst im Jahre 1810 belegt,229 beides also lange nach der Arbeit am „Tasso“. Aber Goethes Interesse an Modellen höfischer Verhaltensregulierung ist, wie schon im „Götz“ zu erkennen ist, wesentlich älter. Er vermengt praktische Erfahrung, die ihm das ästhetische Potential höfischer Verhaltensregulierung vor Augen führt, mit einem theoretischen Interesse an den Verhaltensnormen des Hofes, so dass ihm die Verwurzelung zentraler Prinzipien der Hoflehren in der rhetorischen Tradition bewusst war. So scheint es kein Zufall zu sein, dass Goethe, während er am „Tasso“ –––––––––––– 224
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Vgl. Michelsen, Peter: Goethes Torquato Tasso: poeta delaureatus. In: Aurnhammer, Achim (Hrsg.): Torquato Tasso in Deutschland. Seine Wirkung in Literatur, Kunst und Musik seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. Berlin u. New York, NY 1995. S. 65–84, hier: S. 69. Vgl. Goethe: Torquato Tasso. I, 3. V. 489–493. MA 3, 1. S. 439–440. Ebd. II, 1. V. 1121. S. 456. Vgl. Ueding, Gert: Klassik und Romantik. Deutsche Literatur im Zeitalter der Französischen Revolution. Erster bis vierter Teil. München 1988. S. 71–72. Goethe: Tagebucheintrag vom 25. Juli 1808. WA III, 3. S. 364. Vgl. Goethe: Tagebucheintrag vom 28. Juni 1810. WA III, 4. S. 136. Allerdings besaß Goethe schon 1788 eine 1696 in La Haye erschienene französische Übersetzung von Gracians „El discreto“. Vgl. Ruppert. Nr. 1728. S. 245.
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arbeitet, neues Interesse an Quintilian zeigt: Am 1. Januar 1782 trägt er „Quintilian“230 in sein Tagebuch ein und einige Monate später dann, im Mai des gleichen Jahres, notiert er „Quintil. Vrbanitas“.231 Zudem existiert ein Brief aus dieser Zeit, in dem er Charlotte vom Stein verspricht: „Wenn ich nach hause komme will ich die Stelle Quintilians nach der du fragst aufschlagen und sie mit dir lesen“.232 Dass Goethes Interesse an Quintilian im Zusammenhang mit dem Tasso steht, kann man zwar durch die Tagebucheinträge und den Briefwechsel, von dem leider nur noch Goethes Antwort, nicht Charlottes Anfrage erhalten ist, nicht endgültig beweisen, doch bleibt sein Interesse an dem römischen Redelehrer über mehrere Monate aktuell (mindestens von Januar bis Mai) und überschneidet sich mit der Arbeit am Drama, die Goethe mit einer „guten Erfindung“ am 30. März 1780 wieder aufnahm und bis Anfang 1782 fortsetzte. Was erfährt Goethe nun bei Quintilian über Urbanität und inwiefern können die Erkenntnisse Einfluss auf die Bewertung höfischer Verhaltensregulierung haben? Quintilian definiert urbanitas folgenderweise: [I]n dieser Bezeichnung kann ich eine Redeweise erkennen, die in ihren Worten, ihrem Klang und ihrem Gebrauch so etwas wie den eigentümlichen Geschmack unserer Hauptstadt zur Schau trägt, sowie auch, was als stillschweigende Bildungskraft aus der Unterhaltungsform Gebildeter stammt, und schließlich das Gegenteil von bäurischem Benehmen.233
Urbanitas ist bei Quintilian das Gegenteil von rusticitas, und mit dieser geographischen Zuordnung verbindet er eine jeweils eigentümliche Redeweise, die sich aus den unterschiedlichen sozialen Kontexten ergibt. Die Regeln urbanen Benehmens und Redens sind nicht festgeschrieben, sondern entstehen in einer sozialen Gemeinschaft. Wer urban wirken will, muss die ihn umgebende Gemeinschaft beobachten, sich in diese einfinden. Urbanität ist eine strikte Form der Verhaltensregulierung, die das gesamte Wesen eines Menschen beeinflusst. So gesehen, ist es merkwürdig, dass Helmut Rahn in seiner Ausgabe der „Institutio ora-
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Goethe: Tagebucheintrag vom 1. Januar 1782. WA III, 1. S. 134. Goethe: Tagebucheintrag vom 3. Mai 1782. WA III, 1. S. 140. Goethe an Charlotte von Stein. Brief vom 22. März 1782. WA IV, 5. S. 287. Die Quintilianstelle, auf die hier Bezug genommen wird, lässt sich leider nicht mehr eruieren. Zwar behauptet Ernst Maass in seiner Monographie „Goethe und die Antike“, hier sei der Abschnitt X, 7, 12–16 der „Institutio oratoria“ gemeint, in dem es um die Stegreifrede geht (vgl. E. M.: Goethe und die Antike. Berlin, Stuttgart u. a. 1912. S. 549), und belegt diese These viel sagend mit den Worten „Nach Düntzer“, aber eine entsprechende Passage in den Werken Düntzers konnte nicht einmal durch umfangreiche Recherchen ausfindig gemacht werden. Zudem ist der Brief, auf den Goethe antwortet und der die Frage, welche Quintilianstelle gemeint ist, klären würde, im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar nicht mehr vorhanden und gehört somit aller Wahrscheinlichkeit nach zu dem Großteil der Briefe an Goethe, die von Stein verbrennen ließ. Quint. Inst. orat. VI, 3, 17.
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toria“ urbanitas zumeist mit Witz übersetzt,234 jedoch schimmert auch in seiner Übersetzung der Bedeutungsumfang des Begriffs noch durch: Denn – wenigstens meiner Meinung nach – handelt es sich da um Urbanitas, wo nichts Mißtönendes, nichts Bäurisches, nichts Unordentliches, nichts Fremdklingendes sich im Sinn, in den Worten oder in Aussprache oder Gebärde fassen läßt, so daß sie nicht so sehr in einzelnen Bemerkungen liegt als vielmehr in der ganzen Färbung der Rede, wie bei den Griechen ihr ἀττιχισμός, der den Geschmack auf der Zunge hinterläßt, der nur Athen eigen ist. 235
Nicht einzelne Bemerkungen sind Ausdruck von Urbanität, vielmehr das gesamte Verhalten eines Menschen. Diese Grundkonstellation macht urbanitas für die Hofmann-Lehren interessant, auch wenn Castiglione aus nahe liegenden Gründen nicht urbanitas zum Schlüsselbegriff seiner Hoflehre gemacht hat, da sich von einem Hofmann ja schlecht Urbanität fordern lässt.236 Dass Goethe während der Arbeit am „Tasso“ zum Quintilian greift, ist also wohl kein Zufall, zumal ihm die Verwurzelung höfischer Verhaltenslehren in der rhetorischen Tradition schon früh bewusst gewesen ist: In den „Ephemerides“, die ja auch Goethes jugendliche Quintilian-Lektüre belegen, sind nämlich auch Notizen aus „Der Herr und der Diener“ von Friedrich Carl von Moser enthalten. Moser aber erläuterte die Konstituierung der Hofwelt im Rahmen des urbanitasParadigmas: „Die Republic des Hofs hat ihre eigene Sprache, Gebräuche, Politic, Sitten, Lehre und Religion“.237 Er erklärt, wie Gemeinsamkeiten, denen man sich gesprächig immer wieder versichert, den Hof als soziales Gefüge konstituieren. Insofern war Goethe also früh auch die soziale Funktion höfischer Verhaltensregulierung bewusst, mit der Tasso sich so schwer tut. Das Verhaltensideal grazia zielt auf eine soziale Gleichgewichtssituation und vermag diese auszutarieren, 238 wie die urbanitas ist sie „gruppenstabilisierend“ und grenzt zugleich die höfische Gesellschaft von anderen Gruppen ab. Marie-Theres Federhofer hat dies anhand der urbanitas beschrieben: „[I]ndem sich der vornehme römische Redner –––––––––––– 234
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Zur Bedeutung des Begriffs ‚urbanitas‘ bei Quintilian vgl. auch Ramage, Edwin S.: Urbanitas: Cicero and Quintilian, a Contrast in Attitudes. In: American Journal of Philology 84 (1963) S. 390–414, hier: S. 405–414. Quint. Inst. orat. VI, 3, 107. Erich Loos äußert sich verwundert darüber, dass der Begriff urbanitas bei Castiglione nur eine untergeordnete Rolle spielt: „Auffällig ist des weiteren, daß ein so gelehriger CiceroSchüler wie Castiglione den Begriff der urbanitas überhaupt nicht kennt, sondern von urbanità nur an einer einzigen Stelle spricht […].“ (E. L.: Baldassare Castigliones „Libro del Cortegiano“. Studien zur Tugendauffassung des Cinquecento. Frankfurt am Main 1955. S. 144). Allerdings folgt Castiglione seinen Lehrern Cicero und Quintilian, indem er den Begriff in demselben Kontext wie diese verwendet, nämlich bei der Erläuterung des Witzes (vgl. Cast. Cort. II, 43, außerdem Cic. De orat. II, 227 u. Quint. Inst. orat. VI, 3, 17), so dass man eine inhaltliche Vertrautheit annehmen darf; es werden ihn also vor allem begriffslogische Gründe davon abgehalten haben, urbanitas zu einem zentralen Terminus zu machen. Moser, Friedrich Carl von: Der Herr und der Diener. Frankfurt am Main 1759. S. 135. Vgl. Cast. Cort. I, 25–26.
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vom Redeverhalten ungebildeter und ungehobelter Menschen distanziert, demonstriert er zugleich die moralische und intellektuelle Überlegenheit derjenigen Gruppe; der er selbst angehört“.239 Ähnliches gilt für das Hofmann-Ideal, dem es nach Norbert Elias vor allem um soziale Differenzierung geht: Für jede einigermaßen stabilisierte, elitäre, d. h. herausgehobene Gruppe, Kaste oder Gesellschaftsschicht, die einem sozialen Druck von unten, oft auch von oben ausgesetzt ist, gilt es – und sei als Aufbaugesetzlichkeit solcher Einheiten hier ausdrücklich festgestellt –, dass für sie bzw. für die zugehörigen Menschen ihr bloßes Dasein als Angehörige einer elitären Gesellschaftseinheit, zum Teil oder absolut, Selbstwert und Selbstzweck ist. Die Aufrechterhaltung der Distanz wird damit zum entscheidenden Motor oder Prägstock ihres Verhaltens.240
Torquato Tasso hat in gesellschaftlicher Hinsicht damit zu kämpfen, dass er mit seinem Verhalten von den Konventionen des Hofes immer wieder abweicht, sich weigert, Verhaltensnormen als Prägstock und Mittel sozialer Abgrenzung zu akzeptieren. So setzt er sich, oft ohne das zu wollen, von den anderen ab, gefährdet mit seiner Verweigerung des Spiels die Existenz der höfischen Gesellschaft.241 Der gegen die Regeln des Hofes verstoßende und sich selbst distanzierende Tasso („Es ist ein alter Fehler, daß er mehr / Die Einsamkeit als die Gesellschaft sucht.“242) verkennt, wie sehr Geselligkeit auf den einzelnen angewiesen ist und was umgekehrt die Gemeinschaft dem Individuum zu bieten vermag. Das Ende des Dramas aber erwägt ein verändertes Verhältnis des Dichters zur Gesellschaft, Tasso nähert sich Antonio („Ich fasse dich mit beiden Armen an! / So klammert sich der Schiffer endlich noch / Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte.“243) und erkennt in der Gesellschaft einen Zufluchtspunkt für den Dichter, der weder ohne Opposition zur Gesellschaft noch ohne Ausgleich mit der Gesellschaft auskommen kann: Die Träne hat uns die Natur verliehen, Den Schrei des Schmerzens, wenn der Mann zuletzt Es nicht mehr trägt – Und mir noch über alles – Sie ließ im Schmerz mir Melodie und Rede, Die tiefste Fülle meiner Not zu klagen: Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, Gab mir ein Gott, zu sagen wie ich leide.244
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Federhofer, Marie-Theres: „Urbanitas“ als Witz und Weitläufigkeit. Zur Resonanz einer rhetorischen Kategorie im 17. und 18. Jahrhundert. In: Nordlit 9 (2001), vgl. http://www.hum.uit.no/nordlit/index.html. Elias, Norbert: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Reinhard Blomert, Heike Hammer u.a. Bd. 2. Frankfurt am Main 2000. S. 176–177. Vgl. Lepenies, Wolf: Melancholie und Gesellschaft. Frankfurt am Main 1969. S. 12–13. Goethe: Torquato Tasso. I, 2. V. 243–244. MA 3, 1. S. 433. Ebd. V, 5. V. 3451–3453. S. 520. Ebd. V, 5. V. 3427–3433. S. 519.
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„Melodie und Rede“ liefern den Ausweg im Konflikt des Künstlers mit der Gesellschaft. Die These vom Scheitern Tassos, spätestens seit Hermann August Korff ein Fixpunkt der Tasso-Interpretation,245 kann daher nicht überzeugen, erst recht nicht, wenn sie wie bei Wolfdietrich Rasch, Gerhard Kaiser oder Christa Bürger mit der Analyse zusammengeht, dass gerade Tassos Scheitern Dichtung hervorbringe.246 Tassos Beziehung zur Realität hat sich vielmehr am Ende eben doch gewandelt und weiterentwickelt. Es sind, so Lawrence Ryan, „Umrisse eines Neuanfangs sichtbar“,247 wobei dieser Neuanfang gerade keinen „Weltverlust der Dichtung“248 bewirkt, vielmehr nähert sich Tasso in vollem Bewusstsein um sein Talent an die gesellschaftliche Wirklichkeit und die Lebensrealität seiner Umgebung an: Und bin ich denn so elend wie ich scheine? Bin ich so schwach, wie ich vor dir mich zeige? Ist alles denn verloren? Hat der Schmerz, Als schütterte der Boden, das Gebäude In einen grausen Haufen Schutt verwandelt? Ist kein Talent mehr übrig, tausendfältig Mich zu zerstreun, zu unterstützen?249
Das künstlerische Talent, sein Bestreben, Kunstwerke zu innerer Vollendung zu bringen, setzten Tasso in Konflikt mit der höfischen Welt, aber das ist durchaus positiv zu bewerten, wie etwa Neumann gezeigt hat: Die Konflikte, die sich ergeben, sind Stoff für seine Literatur.250 Die oft vertretene Ansicht, dass sich autonome Kunst „nur außerhalb der Erwartungen der vorhandenen Gesellschaft […] realisieren“251 lässt, ist jedoch nicht realistisch, weil auch der Künstler in einem sozialen Kontext steht, in dem Prozesse der Abgrenzung gegen andere im Gange sind, wie das urbanitas-Konzept der Rhetorik verdeutlicht, anders gesagt: er ist auf die Bewährung im Agon der Künstler angewiesen. –––––––––––– 245 246
247 248 249 250 251
Vgl. Korff, Hermann August: Geist der Goethezeit. 7. Auflage. Leipzig 1964. Bd. 2. S. 173. Vgl. Rasch, Wolfdietrich: Goethes „Torquato Tasso“. Die Tragödie des Dichters. Stuttgart 1954. S. 179; Kaiser, Gerhard: Der Dichter und die Gesellschaft in Goethes „Torquato Tasso“. In: Ders.: Wandrer und Idylle. Goethe und die Phänomenologie der Natur in der deutschen Dichtung von Geßner bis Gottfried Keller. Göttingen 1977. S. 175–208, hier: S. 203– 205; Bürger, Christa: Der bürgerliche Schriftsteller im höfischen Mäzenat. Literatursoziologische Bemerkungen zu Goethes „Tasso“. In: Conrady, Karl Otto (Hrsg.): Deutsche Literatur zur Zeit der Klassik. Stuttgart 1977. S. 141–153, hier: S. 151; dies.: Der Ursprung der bürgerlichen Institution Kunst. Frankfurt am Main 1977. S. 176. Ryan, Lawrence: Die Tragödie des Dichters in Goethes „Torquato Tasso“. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 9 (1965) S. 283–322, hier: S. 308. Ebd. S. 317. Goethe: Torquato Tasso. V, 5. V. 3407–3413. MA 3, 1. S. 518–519. Vgl. Neumann, Gerhard: Konfiguration. Studien zu Goethes „Torquato Tasso“. München 1965. S. 161–162. Neumann, Thomas: Der Künstler in der bürgerlichen Gesellschaft. Entwurf einer Kunstsoziologie am Beispiel der Künstlerästhetik Friedrich Schillers. Stuttgart 1968. S. 39.
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Autonomisierung der Kunst ist einerseits durch die Ästhetisierung höfischer Verhaltensnormen in Form der Hofmann-Lehre vorbereitet, andererseits bewirkt das Autonomiestreben eine Distanz der Kunst zur Gesellschaft, die an Tassos Entfremdung von der Hofwelt exemplarisch zu fassen ist und den Ausgleich schwierig macht. An Tasso sind Eigenschaften sichtbar, „die das gesellschaftliche Ethos ausklammern will“.252 So glaubt er nicht ganz ohne Grund, der Herzog sehe ihn als einen Hypochonder und Melancholiker: Man soll mich halten, meint er; habe doch Ein schön Verdienst mir die Natur geschenkt, Doch leider habe sie mit manchen Schwächen Die hohe Gabe wieder schlimm begleitet, Mit ungebundnem Stolz, mit übertriebner Empfindlichkeit und eignem düstern Sinn.253
Im sozialen Kontext des Hofes erscheint Tasso leicht als der „Müßiggänger“,254 für den Antonio ihn hält, denn auch der autonome Künstler steht unter den Bedingungen einer Gesellschaft und muss dies in seinem Verhalten berücksichtigen, sonst gerät er schnell ins gesellschaftliche Abseits.255 Die gesellschaftliche Sonderrolle eines Künstlers muss gesellschaftlich angemessen bleiben, ist eine Inszenierung, die viel Fingerspitzengefühl fordert. Goethe jedenfalls hat in Weimar sehr genau ausgelotet, welche Verhaltensweisen einem Künstler in einer höfischen Gesellschaft gerade noch zugestanden werden und wo auch die künstlerische Außenseiterrolle Grenzen hinnehmen muss. Um diesen Handlungsspielraum zu verstehen und zu bewältigen aber ist für Goethe die rhetorische Tradition, sind die Modelle höfischer Verhaltensregulierung eine Hilfe, insofern sie sich mit der Frage beschäftigen, wie gesellschaftliche Gruppen entstehen und wodurch sie zusammenhalten. Das gilt besonders, wenn diese Modelle wie das cortegiano-Ideal auch noch ein ästhetisches Lebensmodell entwerfen. Genau dieser Zusammenhang von Kunst, Künstler und Gesellschaft ist letztlich Thema des Tasso-Dramas.
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Girschner, Gabriele: Zum Verhältnis zwischen Dichter und Gesellschaft in Goethes „Torquato Tasso“. In: Goethe-Jahrbuch 101 (1984) S. 162–186, hier: S. 176. Goethe: Torquato Tasso. IV, 5. V. 2758–2763. MA 3, 1. S. 501. Ebd. III, 4. V. 2002. S. 480. Die gesellschaftliche Abhängigkeit von Kunst wird gerade in den neueren Aufführungen des „Tasso“ immer wieder betont, die dazu tendieren, Tassos Mitschuld an seinem gesellschaftlichen Scheitern zu übergehen und das Scheitern des Künstlers der Gesellschaft anlasten. Vgl. hierzu knapp Gille, Klaus F.: „Erlaubt ist, was sich ziemt…“ – Hermeneutische Überlegungen zum Umgang mit Klassischem. In: Neophilologus 70 (1986) S. 256–269, hier: S. 256–257.
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6. 4.
Sein statt Schein. Höfische Verhaltensmodelle in der bürgerlichen Kritik (Meister-Romane)
Wie sich Künstler und Gesellschaft zueinander verhalten, wie modernes Individuum und Gesellschaft zueinander stehen, das beschäftigt Goethe auch in den Wilhelm-Meister-Romanen, in denen er höfische Verhaltensideale im Vergleich zum „Tasso“ eher im Stil eines knappen Resümees aufgreift und ausführlicher ein bürgerliches Verhaltensmodell entwirft, für das der cortegiano immerhin noch eine Kontrastfolie ist. Wilhelm Meister ist ein modernes Individuum. Grundzüge seiner Identität sind ihm zwar durch die Tradition seiner Familie vorgegeben, aber doch erlangt er und nutzt er die Chance, sich über solche Begrenzungen hinaus zu bilden, bemüht sich, einen Platz in einer sich zusehends funktional ausdifferenzierenden Gesellschaft zu finden.256 Indem Wilhelm sich selbst als ein Individuum wahrnimmt, das sich in einer noch offenen Entwicklung befindet, ist seine eigene Identität das Ergebnis einer selbstbewussten Formung, das Ergebnis einer nach innen gerichteten Rhetorik der Selbstüberredung und wird von Goethe auch terminologisch so dargestellt. Indem Wilhelm „sich überzeugt“,257 versucht er Sicherheit über sich zu gewinnen. Zugleich aber sieht er im Laufe der Zeit ein, dass er seine inneren Überzeugungen nach außen durchsetzen und in der Welt etablieren muss. Er agiert auf der Bühne der Welt und sieht hierin die Bewährungsprobe seiner Individualität, daher kann Goethe Wilhelms Entwicklung im Stil eines Epos, also anhand von äußeren Ereignissen und Taten, darstellen.258 In den „Lehrjahren“ entwickelt sich Wilhelms Individualität in Beziehung zu vier unterschiedlichen Erfahrungshorizonten, nämlich durch die alternativen Existenzmöglichkeiten Handel, Adel, Theater und Turm. Von seiner Abstammung her ist Wilhelm zunächst mit der Welt des Handels konfrontiert, allerdings sucht er von Beginn an Distanz zu diesem Erfahrungskreis, was Freund Werner, Prototyp eines Kaufmanns, ihm vorhält: Von der Handlung hattest du damals keinen Begriff; ich wüßte nicht, wessen Geist ausgebreiteter wäre, ausgebreiteter sein müsste, als der Geist eines echten Handelsmanns. Welchen Überblick verschafft uns nicht die Ordnung, in der wir unsre Geschäfte führen! Sie
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Vgl. Hahn, Torsten u. Nicolas Pethes: Das zweifache Ende der Utopie. Literatur als Gesellschaftsexperiment in Wezels Robinson und Goethes Wanderjahren. In: Krause, Marcus u. N. P. (Hrsg.): Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert. Würzburg 2005. S. 123–146. Hahn und Pethes lesen insbesondere die „Wanderjahre“ als eine experimentelle Anordnung zur Überprüfung gesellschaftlicher Utopien, betrachten Goethes Meister-Romane somit als Reaktion auf gesellschaftliche Modernisierungsbewegungen um 1800. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. MA 5. S. 78. Vgl. Goethe und Schiller: Über epische und dramatische Dichtung. MA 4, 2. S. 126.
240
läßt uns jederzeit das Ganze überschauen, ohne daß wir nötig hätten, uns durch das Einzelne verwirren zu lassen. Welche Vorteile gewährt die doppelte Buchhaltung dem Kaufmanne! Es ist eine der schönsten Erfindungen des menschlichen Geistes, und ein jeder guter Haushalter sollte sie in seiner Wirtschaft einführen.259
Für Werner bietet die Arbeit als Händler genug Möglichkeiten und Freiräume, sich zu entwickeln, denn gerade die Existenzmöglichkeit des Händlers setzt das Individuum in Beziehung zu seiner Umwelt. Allerdings ist Goethes Kritik am ökonomischen Kalkül offensichtlich: Zwar verleiht das Kaufmannsdasein einen Blick für die großen Zusammenhänge der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen, aber die Verzückung Werners in Anbetracht der doppelten Buchführung zeigt, wie sehr das Leben des Händlers von der Maxime der Gewinnmaximierung durchdrungen ist, die „eine eigne Dynamik gegenüber allen anderen Motiven“ 260 entfaltet. Wilhelm wendet gegen das Kalkül des Kaufmanns daher durchaus überzeugend ein: „du fängst von der Form an, als wenn das die Sache wäre; gewöhnlich vergeßt ihr aber auch über eurem Addieren und Bilanzieren das eigentliche Fazit des Lebens.“261 Für Werner ist die „Summe […] wachsenden Glückes“262 jedoch eine ökonomische Frage, und wenn er den Adel, den Wilhelm bewundert, in irgendeiner Weise für vorbildlich hält, dann auf Grund seiner ökonomischen Potenz, nicht wie Wilhelm wegen seiner ästhetischen Lebensführung.263 Den ostentativen Lebensstil, den Wilhelm bewundert, betrachtet er als pure ökonomische Unvernunft („Nur nichts überflüssiges im Hause!“264). Das Kalkül ökonomischer Vernunft bestimmt Werners Handeln so sehr, dass selbst seine Hochzeit mit Wilhelms Schwester vor allem aus ökonomischen Gründen erfolgt und er sich am meisten über die sich daraus ergebende „geschickte Einrichtung“ sowie die zu erwartenden „hundertfältige Zinsen“ freut.265 Die Deutung der „Lehrjahre“ folgte lange Zeit den Vorzeichen des Begriffs ‚Bildungsroman‘, den Dilthey programmatisch eingeführt und als Ausdruck einer „Kultur […], die auf die Interessensphären des Privatlebens eingeschränkt ist“266 –––––––––––– 259 260
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Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. MA 5. S. 37. Vgl. Blessin, Stefan: Goethes Romane. Aufbruch in die Moderne. Paderborn 1996. S. 106. Auch Wilhelm ist, wie Blessin darlegt, der Dynamik des Ökonomischen ausgesetzt, etwa in Auseinandersetzung mit Melina, der ihn wiederholt um eine größere Summe Geldes bittet, das Wilhelm zuerst verweigert, dann aber doch gibt (vgl. ebd. S. 111–112). Damit wird die Frage akut, ob Geld Schuld ausgleichen, Schuld entstehen lassen kann (vgl. ebd. S. 149–153). Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. MA 5. S. 37. Ebd. Vgl. ebd. S. 39. Ebd. S. 286. Ebd. S. 285. Dilthey, Wilhelm: Das Erlebnis und die Dichtung. Leipzig 1906. S. 327. Der Begriff selbst geht allerdings auf Karl Morgenstern zurück (vgl. K. M.: Zur Geschichte des Bildungsromans. In: Selbmann, Rolf (Hrsg.): Zur Geschichte des deutschen Bildungsromans. Darm-
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verstanden hat. Wilhelms berühmte Antwort auf Werners brieflichen Lobpreis der ökonomischen Vernunft ist das Grunddokument des Bildungsroman-Diskurses. Der Brief ist immer wieder interpretiert worden, insbesondere seitdem Jürgen Habermas ihn genutzt hat, um bürgerliche und repräsentative Öffentlichkeit voneinander abzugrenzen.267 Allerdings hat man den Kontext häufig recht arg beschnitten, dabei verdiente es doch wohl Beachtung, dass Wilhelm auf Werners Dokument der ökonomischen Vernunft im Geist der Sophistik antwortet, nämlich in utramque partem: Dein Brief ist so wohl geschrieben, und so gescheut und klug gedacht, daß sich nichts mehr dazu setzen läßt. Du wirst mir aber verzeihen, wenn ich sage, daß man gerade das Gegenteil davon meinen, behaupten und tun und doch auch recht haben kann.268
Wilhelms Zeilen, in denen er als sein Ziel ankündigt, sich „selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden“,269 sind also nach Wilhelms eigener Darstellung eine Antwort in utramque partem, nicht die Lösung zur Bewältigung moderner Individualität, sondern eine andere extreme Position, die er Werner entgegengesetzt. Eine überzeugende Antwort auf die Frage nach der Individualität ergibt sich hingegen eher im Widerstreit beider Positionen. Erst wenn man diesen Punkt beachtet, erhält die Antwort Wilhelms die richtige Kontur, erst dann kann man verstehen, warum Goethe in den „Lehrjahren“ Wilhelms Bildungsbegriff immer wieder karikiert und destruiert. Denn die ‚große Welt‘ des Adels erfüllt ja Wilhelms Erwartungen ebenso wenig wie seine Laufbahn auf der Bühne. Wie der Roman insgesamt das Bildungsideal Wilhelms, in dem über das cortegiano-Ideal noch die alteuropäische Vorstellung allseitiger Bildung enthalten ist, beständig destruiert, weil das moderne Individuum sich einem bürgerlichen Tätigkeitsideal zu stellen hat, das „einer Theorie der Sozialisation als notwendigem Wechselspiel und konstitutiver Interaktion von Ich und Welt“ 270 den Vorrang gibt vor dem ––––––––––––
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268 269 270
stadt 1988. S. 45–99). Zur Kritik der schematischen Interpretation von Romanen durch die Kategorisierung als ‚Bildungsroman‘ vgl. Saße, Günter: Vom „heiligen Geist des Widerspruchs“: Der Bildungsroman im 18. Jahrhundert im Spannungsfeld von Subjektivität und Intersubjektivität. In: Fludernik, Monika u. Ruth Nestvold (Hrsg.): Das 18. Jahrhundert. Trier 1998. S. 69–89, hier: S. 69–70. Vgl. Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. 2. Auflage. Neuwied am Rhein 1965. S. 22–24. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. MA 5. S. 288. Ebd. Voßkamp, Wilhelm: Utopie und Utopiekritik in Goethes Romanen „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ und „Wilhelm Meisters Wanderjahre“. In: Ders. (Hrsg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Bd. 3. Stuttgart 1982. S. 227–249, hier: S. 230. Voßkamp differenziert zwei Bildungskonzepte im „Meister“, eines ist teleologischer Natur und strebt eine stufenweise Entwicklung im Sinne einer Entelechie an, das andere ist ein soziales Modell, das die Interaktion zwischen Individuum und Gesellschaft betont, wobei er es für eine Stärke des Romans hält, dass Goethe auf eine „voreilige Lösung“ (ebd. S. 236) verzichtet, indem keines der Konzepte eindeutig präferiert werde.
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ästhetischen und ethischen Bildungsideal des Hofmanns. Im Lehrbrief der Turmgesellschaft ist, wie Borchmeyer darlegt, das Ideal des universellen Menschen zwar noch zu erahnen, aber es dominiert eben ein modernes Konzept, nach dem sich der Bürger zu speziellen Fähigkeiten ausbilden muss.271 Dem Adeligen ist nach Wilhelms Darstellung „eine gewisse allgemeine, wenn ich sagen darf personelle Ausbildung möglich“,272 er wirkt über seine Persönlichkeit, wirkt durch den Status, der ihm von Geburt zugewiesen ist, muss nicht um Anerkennung ringen. Goethe bringt damit das adelige Ideal als ein Ideal individueller Entfaltung ins Spiel, wie es in der neueren Forschung zum Hofmann-Ideal (Hinz, Brinkmann) betont wird.273 Der Bürger hingegen muss sich Verdienste erwerben, kann bestenfalls seinen „Geist ausbilden“,274 weil er allein durch sein profundes Wissen Anerkennung findet. Ihn bewertet man nach seiner Leistung, so dass eine ästhetische Entwicklung seiner Persönlichkeit, wie sie die höfischen Verhaltensnormen ermöglichen, unwahrscheinlich bleibt. Nur der Adelige hat Gelegenheit, sich um sprezzatura und grazia zu bemühen, gewinnt so „[e]ine gewisse feierliche Grazie bei gewöhnlichen Dingen, eine Art von leichtsinniger Zierlichkeit bei ernsthaften und wichtigen“.275 Auch in den „Lehrjahren“ nimmt Goethe also die zweifache Auslegungsmöglichkeit höfischer Verhaltensnormen wahr, sieht diese als ästhetisches Entwicklungsprogramm, aber auch als Prinzip strikter Verhaltenskontrolle, wobei es durchaus Wilhelms Bewunderung findet, dass der Adel „verstellt“ und „klug“ agiert.276 Auf eine Formel gebracht, ist die Welt des Adels somit eine des Scheins, 277 soweit schließt der Brief an Goethes Auseinandersetzung mit Modellen höfischer Verhaltensregulierung an und nimmt die argumentative Linie von „Götz“, „Egmont“ und „Tasso“ auf. Jetzt bringt Goethe aber auch die bürgerliche Welt auf ein Prinzip, denn sie ist laut Wilhelm auf das Sein bezogen.278 Wilhelm glaubt, dass er seine Persönlichkeit als Bürger niemals ausbilden könne, weil für den Bürger nur zählt, was –––––––––––– 271
272 273
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276 277 278
Vgl. Borchmeyer, Dieter: Höfische Gesellschaft und französische Revolution bei Goethe. Adliges und bürgerliches Wertsystem im Urteil der Weimarer Klassik. Kronberg/Taunus 1977. S. 200. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. MA 5. S. 289. Die Forschung hat mit Blick auf Wilhelm Meister und den Bildungs-Brief gelegentlich die rhetorische Dimension des adeligen Bildungskonzeptes ausgelotet. Vgl. Burger, Heinz Otto: Europäisches Adelsideal und deutsche Klassik. In: Ders. (Hrsg.): Begriffsbestimmung der Klassik und des Klassischen. Darmstadt 1972. S. 177–202. Außerdem Borchmeyer, Dieter: Höfische Gesellschaft und französische Revolution bei Goethe. Adliges und bürgerliches Wertsystem im Urteil der Weimarer Klassik. Kronberg/Taunus 1977. S. 9–53 u. 140–207. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. MA 5. S. 289. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. S. 290. Vgl. ebd.
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er leistet, indem er sich in ein ökonomisches Kalkül fügt oder sein Wissen vermehrt. Das Theater erscheint Wilhelm deshalb als ein Ausweg aus der Misere des Bürgers, weil dieser sich auf der Bühne „in seinem Glanz“279 präsentieren kann. Allerdings ist es erstaunlich, wie unvermittelt Wilhelm die Welt des Theaters mit der des Adels gleichsetzt. Im „Tasso“ hat Goethe ein Idealbild höfischer Verhaltensnormen gezeichnet, das Drama ist eine Utopie, die sich von der höfischen Wirklichkeit abgrenzt. Realistisch betrachtet, sind „Wilhelms Idee des Scheinens und seine Kunstauffassung […] eben in ihrem Kern schlechterdings unvereinbar mit der Ideologie des Adels, so sehr ihre Schale derselben zu gleichen scheint.“280 Man kann Borchmeyer entgegenhalten, dass zwar potentiell eine Übereinstimmung besteht, ein ästhetisches Moment in den höfischen Idealen angelegt ist, aber dieses Ideal wirksam werden zu lassen, ist schwierig wie selbst der Modellfall Weimar zeigt. Daher ist Wilhelm, als er zum ersten Mal Adeligen begegnet, auch eher enttäuscht, dass das höfische Leben hinter dem ästhetischen Potential des Hofmann-Ideals weit zurückbleibt. Der schöne Schein höfischer Geselligkeit ist ursprünglich ein repräsentativer Schein, er steht in einem politischen Kontext, ist gleichsam ein gedeckter Scheck, der in Macht getauscht werden kann. Zwar lassen sich die höfischen Verhaltensnormen auch im Sinne des Tasso-Dramas als ein ästhetisches Programm verstehen, aber trotz allem sollte man sie nicht vollends aus dem politischen Kontext lösen. Vielmehr ist das adelige Machtgefüge durch die Effizienz der Verwaltungsstaaten und den wachsenden ökonomischen Einfluss der Bürger erschüttert worden, so dass manchem Hofstaat nur noch der schöne Schein einstiger Macht blieb – die Verwechslung von repräsentativem Schein und schönem Schein ist die logische Konsequenz. Trotzdem unterscheidet sich dieser schöne Schein vom Glanz der Bühne, in der der Schauspieler als Schauspieler und nicht als Person agiert, während es beim Hofmann die Unterscheidung zwischen Rolle und Person in diesem Sinne nicht gibt, das „‚Sein‘ des Adligen liegt“ nämlich, wie Braungart formuliert, „im ‚Schein‘, d.h. in seiner sozialen Erscheinung, und nur in ihr.“281 Wilhelm hat die Normen höfischen Verhaltens in sehr eigener Weise auslegt, glaubt er doch, allein schon mit Betreten der Bühne an Persönlichkeit zu gewinnen, sich durch schönen Schein entwickeln zu können. Er übersieht, dass im Hofmann-Ideal ein hohes Maß an Kunstfertigkeit gefragt ist, wie er lange Zeit den handwerklichen Aspekt des Schauspiels unterschätzt. Der professionelle –––––––––––– 279 280
281
Ebd. S. 291. Borchmeyer, Dieter: Höfische Gesellschaft und französische Revolution bei Goethe. Adliges und bürgerliches Wertsystem im Urteil der Weimarer Klassik. Kronberg/Taunus 1977. S. 157. Braungart, Georg: Hofberedsamkeit. Studien zur Praxis höfisch-politischer Rede im deutschen Territorialabsolutismus. Tübingen 1988. S. 238.
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Akteur darf, wie Wilhelm von Serlo lernen könnte, nicht als Individuum handeln, nicht als Dilettant auf die Bühne treten. Der schöne Schein, den er im Modus des Spiels verbreitet, hat mit der Inszenierung seiner Person nur insofern zu tun, als sich der Schauspieler mit seinen Rollen längerfristig ein bestimmtes Image aufbauen kann. Das moderne Individuum mag im Sinne Goffmans wie ein Schauspieler agieren, auf der Bühne der Welt seine Persönlichkeit inszenieren, wenn er aber auf die Theaterbühne tritt, leistet er nur indirekt einen Beitrag zu seiner Weltrolle. Dem adeligen Auftritt hingegen wohnt selbst im Zustand der Auflösung immer noch eine gewisse politische Bedeutung bei, und so erschließt sich aus der höfischen Rolle eben unmittelbar die Persönlichkeit. Die Auflösungserscheinungen adeliger Repräsentation, die Wilhelms Irrtum befördern, sind skizzenhaft an der adeligen Gesellschaft zu erkennen, für die er mit seiner Theatertruppe spielt. Die Aussicht auf den Kontakt mit den Adeligen versteht er zunächst zwar als Chance, Erfahrungen in der „große[n] Welt“282 zu sammeln, die ihn so fasziniert: „Dreimal glücklich sind diejenigen zu preisen, die ihre Geburt sogleich über die untern Stufen der Menschheit hinaus hebt […].“283 Entsprechend bewundert er ihre „Leichtigkeit“,284 die Eleganz und Sicherheit des Auftretens einiger Adeliger, und im Sinne einer Vorausdeutung auf den Adelsbrief analysiert er schon hier die Distanz des Adeligen zum Bürger, der nur über Verdienste, nicht wie der Adel durch wunderbaren Schein überzeugen könne: Es ist eine eigene Sache, schon durch die Geburt auf einen erhabenen Platz in der menschlichen Gesellschaft gesetzt zu sein. Wem ererbte Reichtümer eine vollkommene Leichtigkeit des Daseins verschafft haben, wer sich, wenn ich mich so ausdrücken darf, von allem Beiwesen der Menschheit, von Jugend auf, reichlich umgeben findet, gewöhnt sich meist diese Güter als das Erste und Größte zu betrachten, und der Wert einer von der Natur schön ausgestatteten Menschheit wird ihm nicht so deutlich. Das Betragen der Vornehmen gegen Geringere und auch unter einander, ist nach äußern Vorzügen abgemessen; sie erlauben jedem seinen Titel, seinen Rang, seine Kleider und Equipage, nur nicht seine Verdienste geltend zu machen.285
Goethe relativiert die Begeisterung Wilhelms durch den Kontext, denn die Adeligen sind in allerlei geradezu kindische Spielereien und Scherze verwickelt. Der Baron, der die Theateraufführung einfädelt, ist deutlich als dilettantischer Liebhaber gezeichnet, der in strikten Rollenfächern denkt, zudem Verfasser eines viel zu langen Theaterstücks ist, dessen handwerkliche Mängel selbst Wilhelm erkennt, obwohl seine eigenen Theatererfahrungen zu diesem Zeitpunkt noch beschränkt sind.286 –––––––––––– 282
283 284 285 286
Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. MA 5. S. 152. Ebd. S. 153. Ebd. Ebd. S. 209. Vgl. ebd. S. 151. Vgl. dazu auch die Forderung des Grafen, dass sich auch im Alltag eines Schauspielers seine Rolle abzeichnen solle (vgl. ebd. S. 205–206).
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Im „Tasso“ hat Goethe am Ende einen Kompromiss zwischen Künstler und gesellschaftlicher Realität in Szene gesetzt, einen ähnlichen Weg schlägt er auch in den „Lehrjahren“ ein, indem er Wilhelms künstlerische Experimentierphase mit der Turmgesellschaft kontrastiert, für die sich das Individuum erst im gesellschaftlichen Kontext entfalten kann. Man solle als das erscheinen, was man sei, lautet eine Losung Thereses.287 Die geheimnisvolle Amazone findet es geradezu „lächerlich“,288 wenn Menschen für etwas gehalten werden wollen, was sie nicht sind, aber als das, was man ist, kann man sich eben auch zeigen und seine Persönlichkeit auf diese Weise formen. Die Gesellschaft des Turms vertritt im Gegensatz zu Wilhelm einen Begriff von Individualität, der die Bedeutung von Inszenierung und Rolle richtig versteht und in einem sozialen Kontext betrachtet, wie ihn etwa das rhetorische urbanitas-Ideal formuliert. Das Modell der „Lehrjahre“ bringt Therese auf die eingängige Formel: „Die Geschichte des Menschen ist sein Charakter.“289 Therese hat verstanden, dass Wilhelm im Theater etwas sucht, „was nur von ihm kommen kann.“290 Goethe vertraut, so argumentiert Schings, auf die „angeborene Mitgift des Subjekts“,291 diese zu realisieren und zu entwickeln aber ist eine Lebensaufgabe, die nur in einem sozialen Kontext zu bewältigen ist. Das cortegiano-Ideal spielt in diese Vorstellung also insofern hinein, als es historisch den Übergang zu einem individualisierten Verständnis der Persönlichkeit markiert, in dem das Moment der varietas eine entscheidende Stellung einnimmt. Thereses Formel ist eine Lösung für das Bildungsproblem des tätigen Individuums und hat Bestand, nachdem alle anderen Entwürfe demontiert wurden, nachdem weder der Kaufmannsstand noch das Theater noch der Adel Wilhelm eine befriedigende Antwort auf die Frage nach seiner Identität geben konnten. Ihr Rat, dass nur Wilhelm selbst seine Individualität ausloten und zu sozialer Wirkung verhelfen kann, ist die eigentliche Pointe des Bildungsproblems. Die Lehrsätze der Turmgesellschaft haben vor diesem Hintergrund bisweilen etwas Entmündigendes, und die Versuche des Turms, Wilhelms Schicksal zu lenken, zeigen ja auch, wie wenig sich die Entwicklung eines Individuums am Ende steuern lässt, weil Persönlichkeit das Ergebnis gelebten Lebens ist. Und so reagiert Wilhelm auf den Lehrbrief des Turms durchaus angemessen, wenn er mit einer für Goethe typischen Selbstironie ausruft: „Um Gottes willen! keine Sen–––––––––––– 287 288 289 290 291
Vgl. ebd. S. 456. Ebd. S. 449. Ebd. S. 445. Ebd. S. 533. Schings, Hans-Jürgen: Agathon – Anton Reiser – Wilhelm Meister: Zur Pathogenese des modernen Subjekts im Bildungsroman. In: Wittkowski, Wolfgang: Goethe im Kontext. Kunst und Humanität, Naturwissenschaft und Politik von der Aufklärung bis zur Restauration. Ein Symposium. Tübingen 1984. S. 42–68, hier: S. 66.
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tenzen weiter!“292 Die Turmgesellschaft verstößt mit ihren Lehrsätzen selbst gegen ihre wichtigste Sentenz, nämlich ihr Motto „Gedenke zu leben.“293 Das Primat eigener Erfahrung, eigener Auseinandersetzung mit der Welt, die sich um Wissen und Erkenntnis bemüht, geht in den Lehrsätzen verloren. Der Bildungsroman „Wilhelm Meister“ ist, wie Hans Jürgen Schings erläutert hat, Ausdruck der Krisenerfahrung des Individuums, das sich seiner selbst auf keine Weise sicher sein kann.294 Nachdem die Sozialisierungsinstanz des Kaufmannes bei Wilhelm nicht die letzte Antwort auf die Frage nach seiner Persönlichkeit bleibt, ist Individualität mehr ein Experiment mit offenem Ausgang als ein feststehendes Faktum. Aus der Ferne spielen Modelle rhetorischer Verhaltensregulierung auch in dieses Konzept noch hinein, durch die rhetorischen Typologien mit ihrem psychologischen, politischen und ästhetischem Potential definieren sie ein Entwicklungsziel, dem der Mensch nachstreben kann, d. h., der universell gebildete Mensch ist eine Art unerreichbares Idealbild und wirkt so auf den anthropologischen Diskurs. Aber bereits in den „Lehrjahren“ ist auch offensichtlich, wo die Grenzen solcher rhetorischen Verhaltensmodelle liegen, und in den „Wanderjahren“ setzt Goethe dann ein offeneres Konzept an die Stelle der alteuropäischen Persönlichkeitsideale eines enzyklopädisch gebildeten Menschen, der in Variation des vir-bonus-Prinzips als Redner, Hofmann oder politicus begegnen kann. Er übernimmt den Gedanken, dass Persönlichkeit sozialer Fundierung bedarf aus der Rhetorik, auch die Vorstellung einer Fortentwicklung in Richtung eines Ideals, wie es die rhetorische Pädagogik formuliert hat, verschiebt aber den Fokus vom Einzelnen auf die Menschheit im Ganzen. Eigentliches Ziel des Menschen sollte nach Jarno nicht sein, dass jeder nur „gewisse Eigenschaften an sich und andern“ schätzt und entwickelt, vielmehr gelte es, nach dem Vorbild des Abbés alle zu befördern, denn „alle Menschen machen die Menschheit aus […].“295 Im Frage- und Antwort-Spiel mit Montan zu Beginn der „Wanderjahre“ vertritt Wilhelm noch die Position universeller Bildung: „Man hat aber doch eine vielseitige Bildung für vorteilhaft und notwendig gehalten.“296 Diesem rhetorisch geprägten Modell setzt Goethe dann aber eine Theorie einseitiger handwerklicher Ausbildung entgegen.297 Für Montan ist nicht mehr das universell gebildete Individuum das erklärte Ziel, weil Universalität des Wissens und der Einsicht –––––––––––– 292 293 294
295 296 297
Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. MA 5. S. 554. Ebd. S. 542 (Hervorhebung im Original, O. K.). Schings, Hans-Jürgen: Agathon – Anton Reiser – Wilhelm Meister: Zur Pathogenese des modernen Subjekts im Bildungsroman. In: Wittkowski, Wolfgang: Goethe im Kontext. Kunst und Humanität, Naturwissenschaft und Politik von der Aufklärung bis zur Restauration. Ein Symposium. Tübingen 1984. S. 42–68, hier: S. 43–44. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. MA 5. S. 553. Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden. MA 17. S. 270. Vgl. ebd.
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allenfalls noch für die Menschheit im Ganzen zu erreichen sei.298 Damit reagiert er auf den Fortschritt der Wissenschaft, der Forschung und Technik (Stichwort „Maschinenwesen“299), schließlich lässt sich absehen, dass ein Einzelner künftig kaum noch in der Lage sein wird, sich einen Überblick über alle Wissensgebiete zu verschaffen, um dem Ideal enzyklopädischer Bildung nachzueifern. Erst die Gemeinschaft überwindet dieses Spezialistentum des Einzelnen. So bleibt auch in den „Wanderjahren“ anthropologisches Wissen der Rhetorik präsent, allerdings entwickelt Goethe die Verhaltensideale, die aus Variationen des vir-bonusPrinzips und dessen universellem Bildungsanspruch entstanden sind, in eine neue Richtung, indem er aus ihnen Maßstäbe für die gesamte Menschheit ableitet und in ein Ideal praktischer Tätigkeit integriert. Das Ideal ist nun, „jeden in Tätigkeit [zu] setzen“,300 „unverrückte“ oder „unbedingte“ Tätigkeit. 301 Diese Vorstellung lässt aus dem ‚Schauspieler‘ Wilhelm durch Zutun Montans einen Wundarzt werden. Auch im Ideal persönlicher Entsagung, das Wilhelm sich auf der Wanderschaft zu eigen machen soll, verbirgt sich noch eine Variante rhetorischer Verhaltensregulierung: Nachdem Goethe schon im „Werther“ die individuelle Verhaltensregulierung im Sinne des aptum-Postulats psychologisch gewendet hat, formt er jetzt eine Logik oder besser Psychologie des Verzichts, die Wilhelm zum tätigen Leben antreibt. Indem er als Wanderer darauf verzichtet, individuellen Interessen und Vorlieben nachzugehen,302 verzichtet er vermeintlich auf persönliche Entwicklungsmöglichkeiten, aber gerade im Wechselspiel von Gesellschaft und Subjekt kann sich seine Persönlichkeit sinnvoll formen. Das ethische Moment rhetorischer Verhaltensregulierung, das paradigmatisch mit dem virbonus-Ideal formuliert ist, wird damit nicht aufgehoben, Wilhelm lernt vielmehr zu entsagen, um der sozialen Gemeinschaft nützlich zu sein. Goethe vertritt also, wie Borchmeyer es nennt, ein „soziales Ethos“,303 das er dadurch begründet, dass derjenige, der sein Verhalten nicht sozial angemessen kontrolliert und nur den eigenen Empfindungen nachhängt, in eine psychologisch schwierige Lage gerät und aus dem sozialen Kontext der Gesellschaft tritt. Goethe deutet Modelle rhetorischer Verhaltensregulierung vom abstrakten aptum-Prinzip bis zum historisch konkreten cortegiano-Ideal psychologisch, –––––––––––– 298
299 300 301 302 303
Klaus-Detlef Müller hat von einer „zeitspezifische[n] Dialektik des Prinzips der Individualität“ gesprochen, weil das Ideal einer „allseitigen Ausbildung der Persönlichkeit in dem Augenblick zur abstrakten Norm wurde, als die gesellschaftlichen Bedürfnisse eine radikale Spezialisierung verlangten“ (vgl. K.-D. M.: Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit. Tübingen 1976. S. 271). Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden. MA 17. S. 567. Ebd. S. 301. Ebd. S. 314. Vgl. ebd. S. 317. Borchmeyer, Dieter: Weimarer Klassik. Portrait einer Epoche. Weinheim 1994. S. 529.
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politisch und ästhetisch um. Für seine psychologische Akzentuierung von Angemessenheit sind dabei vor allem der aufkommende Subjektivismus sowie die Empfindsamkeit als Antriebskräfte zu erkennen, während hinter der politischen Akzentuierung rhetorischer Verhaltensmodelle eine Kritik am modernen Verwaltungsstaat, aber auch eine Auseinandersetzung mit der Bedeutung politischer Öffentlichkeit steht und die Ästhetisierung von Castigliones HofmannIdeal vor allem im Kontext der Autonomieästhetik zu sehen ist. Rhetorisch anschlussfähig bleibt freilich auch die antisubjektivistische Theorie der Entsagung, die in den Meister-Romanen formuliert ist.304
–––––––––––– 304
Das Prinzip der Entsagung ist zugleich ein zentrales ästhetisches Gestaltungsmittel der „Wanderjahre“, vgl. Wolf, Norbert Christian: „Die Wesenheit des Objektes bedingt den Stil“. Zur Modernität des Erzählkonzepts in „Wilhelm Meisters Lehrjahre“. In: GoetheJahrbuch 119 (2002) S. 52–65, hier: S. 54–57.
249
7.
Gespräch und Geselligkeit. Rhetorik in der bürgerlichen Gesprächskultur („Rede zur Eröffnung der Freitagsgesellschaft“, „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“)
Das Vollkommene, wo es anzutreffen ist, gibt eine gründliche Befriedigung, wie der Schein eine oberflächliche und so bringen beide eine ähnliche Wirkung hervor.1
7. 1.
Die Freitagsgesellschaft – Eine bürgerliche Akademie in der Provinz
Modelle rhetorischer Verhaltensregulierung sind für Goethe nicht nur literarisch oder theoretisch von Bedeutung, sondern auch mit Blick auf die Weimarer Verhältnisse. Im „Experimentierfeld Weimar“ hat er die Gelegenheit, bürgerliche Umgangsformen zu etablieren und auf der Grundlage höfischer Idealvorstellungen, ästhetischen Autonomiedenkens, aber auch aufgeklärter Gelehrsamkeit eine neue Art des Umgangs zu etablieren, die sich vor allem als eine bürgerliche Gesprächskultur erschließt. Die bürgerliche Gesprächskultur greift rhetorisches Wissen auf, bleibt mit der rhizomatisch verzweigten Tradition der Rhetorik verknüpft und setzt diese fort. Das von Goethe psychologisch gewendete aptumPostulat sowie die ästhetischen Momente des cortegiano-Ideals fließen in die neuen Vorstellungen ein, insofern Goethe den subjektiven Gewinn der Geselligkeit sieht oder Geselligkeit als ästhetisches Ideal thematisiert. Auch reicht das Ideal enzyklopädischer Bildung, das auf Cicero und Quintilian zurückgeht, in die neuen Vorstellungen noch hinein, obwohl es zugleich durch den Fortschritt der Wissenschaften nur noch als eine utopische Idealvorstellung oder wie in den Meister-Romanen als phylogenetisches Ziel zu denken ist. Mit der Freitagsgesellschaft, die anders als die eher literarische Mittwochsgesellschaft durch die Hinwendung zu Wissenschaft und Technik moderne Akzente setzt, etabliert Goethe gleichsam im Schatten der Französischen Revolution eine bürgerliche Geselligkeit in Weimar. In den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ dann stellt er sich die Frage, in welchem Verhältnis Gesprächskultur und politische Öffentlichkeit stehen. Für eine ästhetisierte Gesprächskultur sind öffentliche Auseinandersetzungen und Diskussionen, die zum Wesen poltischer Rhetorik gehören, nämlich eine Herausforderung. –––––––––––– 1
Goethe an Schiller. Brief vom 4. September 1799. MA 8, 1. S. 754.
Im Juli 1791 schreibt Goethe in einem Brief an Carl August: „Wir könnten wircklich mit unsern eignen Kräften, verbunden mit Jena viel thun wenn nur manchmal ein Reunionspunckt wäre.“2 In großen Städten waren schon wesentlich eher Akademien entstanden, die als Vorbild von Goethes Gesprächskreis dienten:3 1700 beispielsweise die Preußische Akademie der Wissenschaften in Berlin, 1757 die Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Einige Jahrzehnte später sollte es auch in Weimar ein Forum für den Wissensaustausch geben, freilich mit einem wesentlich privateren und intimeren Charakter, zugleich aber auch noch deutlicher geprägt von höfischen Umgangsformen. Am 9. September 1791 traf man sich im Palais von Anna Amalia zum ersten Mal zu einer Versammlung der von Goethe angeregten „Societät“, die erst später den Namen „Freitagsgesellschaft“ erhielt.4 Der Andrang war so groß, dass man schon nach der ersten Sitzung Teilnahmebeschränkungen einführen musste. Bode, von Einsiedel, von Knebel, Herder, Wieland und Goethe ergänzten deshalb das Gründungsstatut dahingehend, dass jedes Mitglied nur noch zwei Gäste mitbringen durfte, nur Bürger Weimars als feste Mitglieder zugelassen waren und die Redezeit 30 Minuten nicht übersteigen dürfe.5 Von Anfang an war ein breites Themenspektrum beabsichtigt; in den Statuten, die Christian Gottlob Voigt zusammen mit Goethe verfasste,6 hieß es: Eines jeden Urteil ist überlassen, was er selbst beitragen will, es mögen Aufsätze sein aus dem Feld der Wissenschaften, Künste, Geschichte, oder Auszüge aus literarischen PrivatKorrespondenzen und interessanten neuen Schriften, oder kleinere Gedichte und Erzählungen, oder Demonstrationen physikalischer und chemischer Experimente, usw. 7
Die Sozietät hatte bis 1797 in Weimar Bestand und traf sich laut Statut einmal im Monat für drei Stunden in der Zeit von fünf bis acht Uhr. Insgesamt liegen heute Berichte von 41 Sitzungen der gelehrten Gesellschaft vor, in den ersten –––––––––––– 2 3
4
5 6 7
Goethe an Carl August. Brief vom 1. Juli 1791. WA IV, 9. S. 274. Zur Geschichte des Akademie-Begriffs im deutschen Sprachraum vgl. grundlegend Kanzog, Klaus: Artikel „Akademie“. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Begr. von Paul Merker u. Wolfgang Stammler. Neu bearbeitet u. hrsg. v. Werner Kohlschmidt u. Wolfgang Mohr in Zusammenarbeit mit Klaus Kanzog. Bd. 1. Berlin 1958. S. 4–14. Vgl. Biederzynski, Effi: Goethes Weimar. Das Lexikon der Personen und Schauplätze. Zürich 1992. S. 108–109. Der Name „Freitagsgesellschaft“ wird von Goethe privatim zur Bezeichnung der Gesellschaft benutzt, z. B. in einem Brief an Schiller vom 15. Oktober 1796: „Gestern ist meine Freitagsgesellschaft wieder angefangen.“ (MA 8, 1. S. 253). Gelegentlich spricht Goethe auch von „Sozietät“ und „Gesellschaft“ (vgl. z. B. Tag- und Jahreshefte 1796. MA 14. S. 51). Böttiger nennt die Freitagsgesellschaft „Weimarschen Gelehrten-Verein“ (vgl. Böttiger, Karl August: Literarische Zustände und Zeitgenossen in Schilderungen aus Karl August Böttiger’s handschriftlichem Nachlasse. Hrsg. v. Karl Wilhelm Böttiger. 2 Bde. Leipzig 1838. Bd. 1. S. 23). Vgl. Goethe et al.: Zusatz zum Statut der Freitagsgesellschaft. MA 4, 2. S. 814. Vgl. Kiefer, Klaus H.: Kommentar „Gründung der Freitagsgesellschaft“. MA 4, 2. S. 1214. Goethe: [Statut der Freitagsgesellschaft]. MA 4, 2. S. 809.
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zwei Jahren traf man sich mehr oder minder regelmäßig, später seltener.8 Mit der Lesung der Homer-Übersetzung von Voss lebte der Kreis ab 1794 dann zeitweise in einer wöchentlichen Abfolge weiter, und 1795 unternahm Goethe einen weiteren Aktivierungsversuch mit dem Ziel, innerhalb der Freitagsgesellschaft die verschiedensten Errungenschaften der Weimarer Gesellschaft zu diskutieren, wobei dieser erneute Anstoß wohl wenig erfolgreich war.9 Die Gesellschaft war bunt gemischt, das machen schon die Teilnehmerlisten klar, der Unternehmer Bertuch und der Apotheker Buchholz gehörten zu diesem Kreis ebenso wie Knebel und Voigt, aber auch Herder, Wieland und Goethe selbst. Der besagte Böttiger, Hufeland, Georg Melchior Kraus und Heinrich Meyer kamen später noch hinzu. Auch Gäste waren willkommen: Jenaer Professoren, Prinz August von Gotha, Wilhelm von Humboldt und auch die Weimarer Herrscher. Bei den Treffen im Palais von Anna Amalia oder in den Privaträumen Goethes spricht man mal über die neuesten Aufführungen des Hoftheaters, wie etwa über die Inszenierung von Schillers „Don Carlos“, stellt Übersetzungen und literarische Projekte vor, behandelt naturwissenschaftliche Themen, zeigt Experimente: Buchholz beispielsweise demonstriert, wie man mit Hilfe von Kohle verschmutztes Wasser reinigen kann, Goethe zeigt optische Experimente, Hufeland referiert mit höchst positiven Folgen für seine Karriere über Makrobiotik, woran er sich noch in seiner Autobiographie erinnert: Goethe hielt alle Freitage eine Gesellschaft gebildeter Menschen beiderlei Geschlechts, eine Art von Akademie, wo nach der Reihe jeder etwas zur Unterhaltung vortrug. Die Reihe kam auch an mich und ich las ein Fragment über das organische Leben aus meinen Arbeiten über Makrobiotik vor. Der Herzog war gegenwärtig, und gleich nachher sagte dieser zu Goethe: „Der Hufeland paßt zu einem Professor, ich will ihn nach Jena versetzen.“10
Auch wenn der Stand der naturwissenschaftlichen Entwicklung im 18. Jahrhundert eher als heute die gesprächige Auseinandersetzung über wissenschaftliche Fragen zuließ, ging es, Hufeland hat das durchaus richtig erkannt, bei den Zusammenkünften auch um Unterhaltung, so dass man sich fragen darf, wie ernst es Goethe mit der Freitagsgesellschaft wissenschaftlich und auch literarisch eigentlich sein konnte, denn sie war letztlich eine Ansammlung von ‚Dilettan–––––––––––– 8
9 10
Rekonstruiert nach: Goethes Leben von Tag zu Tag. Eine dokumentarische Chronik von Robert Steiger. Bd. III 1789–1798. Zürich u. München 1984. 9. September 1791–3. Februar 1797. S. 139–544. Die Zahl von 41 Sitzungen ergibt sich, wenn man auch Veranstaltungen mitzählt, von denen nicht klar zu entscheiden ist, ob es sich wirklich um Sitzungen der Freitagsgesellschaft handelt, die aber von den Personen besucht werden, die zur Kerngruppe der Freitagsgesellschaft gehören und in denen literarische oder wissenschaftliche Themen im Vordergrund standen. Zu diesem Zweck wurde die Rede „Über die verschiednen Zweige der hiesigen Tätigkeit“ konzipiert (vgl. MA 4, 2. S. 872–883). Hufeland, Christoph Wilhelm: Leibarzt und Volkserzieher. Selbstbiographie. Hrsg. u. eingeleitet von Walter von Brunn. 2. Auflage. Stuttgart 1937. S. 78.
253
ten‘. An der geselligen und unterhaltsamen Präsentationsart, die hier gepflegt wurde, ist abzulesen, inwieweit Goethes Freitagsgesellschaft von höfischen Verhaltensnormen durchdrungen ist, wie der cortegiano als Verhaltensparadigma in die Umgangsformen der Gesellschaft hineinspielt, sich dieses Ideal zugleich aber mit bürgerlichen und aufklärerischen Zügen vermischt. Indem Naturwissenschaft und Technik in der Freitagsgesellschaft ihren Platz fanden, kann man die Gesellschaft nämlich durchaus auch als ein Produkt der Aufklärung sehen, als ein Zugeständnis an eine Zeit technisch wissenschaftlichen Fortschritts, die für Goethes Bildungsmodell in den „Wanderjahren“ eine entscheidende Voraussetzung war. Das Ideal der Unterhaltung, des schönen Scheins blieb dabei programmatisch, die fest gefügten Rituale höfischer Kommunikation aber sind erheblich gelockert. Wie der gesellige Umgang in der Freitagsgesellschaft aussah, kann man sich vor allem dank der Berichte Karl August Böttigers gut vorstellen. Böttiger, Archäologe und Altphilologe, von Goethe nicht immer wohlgelitten, hat Berichte von vier Treffen der Freitagsgesellschaft verfasst.11 Trotz der Anwesenheit der Herrscher war das Klima bei den Sitzungen der Freitagsgesellschaft, wenn man Böttiger Glauben schenken darf, entspannt, eher bürgerlich als höfisch: Sie [Anna Amalia] ist bei diesen Sitzungen selbst, mit ihren zwei Hofdamen, die sie einst auch nach Italien begleiteten, gegenwärtig. Aber auch der regierende Herzog und dessen Gemahlin sind aufmerksame Zuhörer. Dies bringt übrigens bei den Anwesenden nicht den geringsten Zwang hervor. Jeder sitzt, wie er zu sitzen kommt, während das vorlesende Mitglied seinen Platz an einem besondern Tische einnimmt.12
Exemplarisch für diese Art des Umgangs war wohl schon Goethes Eröffnungsrede, die Kunst und Wissenschaft als Themen der Runde festlegt, eindringlich den Wert geselligen Umgangs für den Künstler wie für den Wissenschaftler und den Bürger herausstreicht und zugleich eine sowohl sachliche als auch ästhetisch geläuterte Art der Rede etabliert. Ausgangspunkt Goethes in der Rede ist das Lob der Geselligkeit: Bei Künsten und Wissenschaften […] fällt es nicht so sehr in die Augen, daß auch diese der Geselligkeit nicht entbehren können. Es scheint, als bedürfe der Dichter nur sein Selbst und horche am sichersten in der Einsamkeit auf die Eingebung der Musen; man überredet sich
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Im Alter schätzte Goethe Böttiger nicht mehr besonders, obwohl der ihm früher häufig zu Diensten gewesen war; in einem Gespräch mit Kanzler Müller klagt er: „Jene literarische Gesellschaft, wie überhaupt alles Gemeinsame, Harmonische unter Weimars ersten Männern habe eigentlich Böttiger gestört durch seine Klatschereien. Alles was er zu sehen oder zu hören bekommen, habe er nur zu seinen egoistischen Zwecken zu benutzen gestrebt.“ (Goethe in einem Gespräch mit Kanzler Müller. 28. Juni 1830. WA V, 7. S. 318). Böttiger, Karl August: Literarische Zustände und Zeitgenossen in Schilderungen aus Karl August Böttiger`s handschriftlichem Nachlasse. Hrsg. v. Karl Wilhelm Böttiger. 2 Bde. Leipzig 1838. Bd. 1. S. 24.
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manchmal als seien die trefflichsten Werke dieser Art von einsamen Menschen hervorgebracht worden. […] Es möchte dieses alles aber wohl nur Selbstbetrug sein […].13
Goethe fordert lebendigen Austausch von Ideen, erst im Gespräch mit anderen gelehrten Menschen und auch im fiktiven Dialog mit den historischen Vorbildern („was wären Dichter und bildende Künstler, wenn sie nicht die Werke aller Jahrhunderte und aller Nationen vor sich hätten“14) entstehen Werke von Wert, kommt es zu wissenschaftlichem Fortschritt und künstlerischer Kreativität. Was Goethe im „Tasso“ und auch in den Meister-Romanen als Ideal entwickelt, eine gesellige Bildung des Individuums nämlich, setzt er mit dem Experiment Freitagsgesellschaft modellhaft um. Für Goethe ist der gesellige Austausch eine Instanz der Korrektur und Inspiration: „Oft ist ein Wink, ein Wort, eine Warnung, ein Beifall, ein Widerspruch zur rechten Zeit fähig Epoche in uns zu machen […].“15 Es hat den Anschein, als ob er in Anbetracht äußerer Bedrohung versucht, seiner kleinen Akademie Legitimität zu geben, indem er den Wert der Geselligkeit für Kunst und Wissenschaft apodiktisch behauptet, wie die Baronesse, die in den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ der Runde der Vertriebenen vorsitzt, diese gerade im Moment der Krise mit aller Macht auf die Regeln geselligen Umgangs einschwört. Argumentativ geht Goethe von einer communis opinio aus, nach der es „keinem Zweifel ausgesetzt“16 ist, dass der Austausch zwischen Menschen in „Geschäften“ unumgänglich ist, und überträgt dann den Wert der Geselligkeit in Geschäften auf die res dubiae, nämlich die Bedeutung der Geselligkeit für Kunst und Wissenschaft, die er später auch im Austausch mit Schiller, etwa in der „Einleitung in die Propyläen“, herausstreicht: „Wer hat nicht erfahren, welche Vorteile […] das Gespräch gewährt!“17 Rhetorisch gesehen, steht hier das angenehme Gespräch höfischer Kultur Pate, das sich auf länger zurückgehende rhetorische Traditionen berufen kann, etwa Quintilians Vorstellung, der Sinn des Redens liege im Vollzug, nicht im Erfolg der Rede,18 auch die Wertschätzung des Gesprächs als Erkenntnis- und Bildungsmittel in der Aufklärung mag eine Rolle spielen, wenn man an die Ergebnisse von Markus Fausers Studie zum „Gespräch im 18. Jahrhundert“ denkt.19 Die Idee, dass Geselligkeit eine hervorragende Bedeutung für die Bildung eines Individuums hat („Gesellschaft macht einen rohen Menschen bald höf–––––––––––– 13 14 15 16 17 18 19
Goethe: [Rede bei Eröffnung der Freitagsgesellschaft]. MA 4, 2. S. 811. Ebd. Ebd. S. 812. Ebd. S. 811. Goethe: Einleitung in die Propyläen. MA 6, 2. S. 11. Vgl. Quint. Inst. Orat. II, 17, 25. Vgl. Fauser, Markus: Das Gespräch im 18. Jahrhundert. Rhetorik und Geselligkeit in Deutschland. Stuttgart 1991, besonders S. 164–187 („Das ideale Gespräch der Aufklärung“).
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lich“20), die er in der Rede „Zur Eröffnung der Freitagsgesellschaft“ ausspricht, ist demnach alles andere als eine Privatüberzeugung Goethes, wie nicht nur die Gründung anderer Akademien beweist, sondern auch die Geselligkeitstheorie der Aufklärung. Beispielsweise hat Christian Garve nachdrücklich betont, dass der gesellige Umgang nötig ist, um den Menschen zu bilden, seinen Geist anzuregen, denn „nur auf dem Schauplatze der Welt und unter Menschen (es sei in Geschäften, es sei in Gesellschaft) wird er [der Geist] erweckt sich anzustrengen, um einen Einfluss über die Gemüther anderer zu bekommen.“21 Das Gespräch bildet und ist neben der Lektüre die wichtigste Möglichkeit, sich selbst aufzuklären. So kommt es in der Aufklärung nicht nur zu einem Anwachsen der Buchproduktion, sondern es entsteht auch eine höchst lebendige Gesprächskultur, man denke nur an die französischen Salons. In seinem Essay „Über Gesellschaft und Einsamkeit“ führt Garve unter den Beweisgründen für seine Hochschätzung des Gesprächs sogar die Bedeutung des Wortes λόγος an: Bei den Griechen waren Rede und Vernunft eins, argumentiert er, und so müsse jeder leicht einsehen, wie wichtig das Gespräch für die Bildung des Menschen sei, denn, so Garve: [d]as, was man im Gespräche lernt, hat auch gleich die Form und den Ausdruck, in welchen es sich am leichtesten wieder an andere im Gespräche mitteilen läßt. Dasjenige hingegen, was man durch eigne stille Meditation oder durch Bücherfleiß lernt, muß erst von neuem bearbeitet und gleichsam umgebildet werden […].22
Die rhetorische Tradition des geselligen Gesprächs reicht zurück zu Quintilian, aber auch zu Cicero, die beide nicht nur die fortlaufende monologische Rede behandeln, sondern durchaus auch einige Bemerkungen zu dialogischen Formen geben. So heißt es in „De oratore“: was kann in Mußestunden angenehmer und bezeichnender für menschliche Gesittung sein als eine kultivierte, elegante Unterhaltung? Dies eine ist doch unser wesentlichster Vorzug vor den rohen Tieren, daß wir miteinander reden und unseren Gedanken durch die Sprache Ausdruck geben können.23
Cicero formuliert hier das Programm der gesellschaftlichen Bildung, das etwa auch Castiglione beeinflusst hat und für das Goethe nun in einem bürgerlichaufgeklärten Kontext votiert: Die kultivierte und elegante Unterhaltung wird zum Kennzeichen des Menschen, zum Zeichen für menschliche „Gesittung“. –––––––––––– 20 21
22 23
Goethe: Einleitung in die Propyläen. MA 6, 2. S. 25. Garve, Christian: Gesammelte Werke. Hrsg. v. Kurt Wölfel. Erste Abteilung: Die Aufsatzsammlungen. Bd. II: Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Literatur und dem gesellschaftlichen Leben. Teil 3 u. 4: Über Gesellschaft und Einsamkeit. Hildesheim, Zürich u. New York 1985. [Photographischer Reprint der Ausgaben Breslau 1797 (Teil 3) u. Breslau 1800 (Teil 4)]. S. 17. Ebd. S. 20. Cic. De orat. I, 32.
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Dabei ist die Form des Gesprächs selbst ein wesentliches Element der Kultivierung und Bildung, die Einordnung von Geselligkeit in den Aufklärungskontext ist nämlich nicht so zu verstehen, dass im geselligen Gespräch wissenschaftliche oder technische Fakten vorherrschen. Vielmehr „belehrt“ das „ideale Gespräch, wie Fauser am Beispiel Heinrich Matthias Marcard erläutert, „unmerklich, das docere verbirgt sich geschickt im delectare, die wahre Kunst des Gesprächs besteht darin, interessant zu sein, ohne das oberste Gebot zu missachten: reiche dem andern nur genießbare Spezialitäten.“24 Diese Art des Gesprächs ist in der Tradition des genus demonstrativum zu sehen, das Kalkül des Gesprächs ist auf Ästhetisierung gerichtet, nicht so sehr auf Persuasion, wie das für ein wissenschaftliches Kolloquium zu erwarten wäre. Trotzdem ist die Freitagsgesellschaft im Angesicht der Französischen Revolution ein behutsamer Anstoß in Richtung neuer republikanischer Umgangsformen: Der Präsident sollte – laut Satzung – per Los gewählt werden (man einigte sich dann aber bereits in der ersten Sitzung doch auf Goethe als Vorsitzenden), Entscheidungen traf man per Abstimmung, wobei zur Durchsetzung eines Vorschlags eine 2/3-Mehrheit nötig war.25 Die Gesellschaft bildete mit ihrem auf Harmonie ausgerichteten Streben einen Gegenpol zu den politischen Zuständen in Europa und verströmte zugleich einen Hauch republikanischer Gesinnung. Im Modus spielerischer Geselligkeit ließen sich bürgerliche Verhaltensformen einführen, und zugleich bot sie ein Forum für Goethes wissenschaftliche und künstlerische Interessen. Seine Eröffnungsrede im Pavillon der Herzoginmutter erläutert den Teilnehmern nicht nur, welche Motive zur Gründung des Zirkels führten, sondern stellt auch paradigmatisch die Umgangsformen der Gesellschaft dar, der es um ein ästhetisches Miteinander geht, aber auch um ein Forum zur sachlichen Diskussion. Daher präsentiert Goethe einen Text, der weit von einer Komplimentierrede und höfischer insinuatio entfernt ist, sich statt dessen in sachlicher und klarer Weise an die Zuhörer wendet, die in einen gleichberechtigten rationalen Austausch treten möchten. Kurzum: Goethe hält eine bürgerliche Gelegenheitsrede in einem setting, das noch stark von höfisch-ästhetischen Idealen geprägt ist. Goethe adaptiert höfische Verhaltensideale für ein bürgerliches Umfeld, indem er eine zwar ungezwungene, aber doch auf den schönen Schein oder besser auf Verbindlichkeit und emotionale Mäßigung bedachte Atmosphäre erzeugt. Ihm wird das ästhetisch Spielerische seines Freitagszirkels ebenso bewusst gewesen sein wie den Protagonisten der „Unterhaltungen“, denn Geselligkeit ist am Ende ein soziales Spiel, welches allerdings nach Goethe zur Bildung des –––––––––––– 24 25
Fauser, Markus: Das Gespräch im 18. Jahrhundert. Rhetorik und Geselligkeit in Deutschland. Stuttgart 1991. S. 173. Vgl. Goethe: [Statut der Freitagsgesellschaft]. MA 4, 2. S. 809, bzw. ders.: [Zusatz zum Statut der Freitagsgesellschaft]. Ebd. S. 814.
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Menschen einiges beitragen kann. Eine gewisse Nähe der Freitagsgesellschaft zu den ausgewählten „Zirkeln“, in denen sich der „Staat des schönen Scheins“ laut Schiller „der That nach“ findet, darf man übrigens annehmen. 26 Der Stil von Goethes Rede ist zurückgenommen, sachlich, aber zugleich von einer für das Gespräch vorbildlichen Leichtigkeit, die die Orientierung des Redners an höfischer sprezzatura deutlich macht. So formuliert Goethe komplexe ästhetische Probleme mit eingängigen Formeln, der Ausdruck „Prometheus oder Pygmalion“27 zum Beispiel ruft schlaglichtartig ästhetische Überzeugungen aus der Geniezeit auf, ohne sich in komplizierte Zusammenhänge zu verlieren. Die versöhnliche Haltung Goethes zeigt sich auch darin, dass er Streit, also eine potentielle Gefährdung geselligen Umgangs, so umdeutet, dass er sich in ein geselliges Ideal fügt: Glücklich! daß die Wissenschaften, wie alles was ein echtes reines Fundament hat, eben so viel durch Streit als durch Einigkeit, ja oft mehr gewinnen. Aber auch der Streit ist Gemeinschaft, nicht Einsamkeit, und so werden wir selbst durch den Gegensatz hier auf den rechten Weg geführt.28
Goethes Rede ist weder in aufdringlicher Weise belehrend noch bloß unterhaltend, sondern entspannt argumentierend und wird so zum Muster der geselligen Unterhaltung, die sich in der Gesellschaft etablieren soll. Denn in der „Kunstund wissenschaftliche[n] Republik“,29 wie Goethe die Freitagsgesellschaft einmal nennt, soll ernsthafte Belehrung in angenehmem Ton und geselliger Atmosphäre vonstatten gehen. Den Weg zu einer bürgerlichen Kultur der Auseinandersetzung ebnete Goethe der Freitagsgesellschaft durch seine Eröffnungsansprache, die höfische Konventionen aufnimmt, aber auch aufbricht. Auch der Ort, den er für die Versammlungen häufig wählte, nämlich sein Haus am Frauenplan, trug sicher zu einem eher bürgerlichen Umgang bei. Man kann sagen, die Freitagsgesellschaft ist ein Versuch, Wirklichkeit so zu inszenieren, dass Geselligkeit und Gespräch ihren Beitrag zur Bildung des Menschen entfalten können.30 Goethe betreibt durch seine Planungen und sein konkretes Auftreten Gesprächsmanagement, um sein Ideal geselliger Bildung Wirklichkeit werden zu lassen.31 Überschätzen sollte man die bürgerliche Modernität –––––––––––– 26 27 28 29 30
31
Schiller: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen. NA 20. S. 412. Vgl. Goethe: [Rede bei Eröffnung der Freitagsgesellschaft]. MA 4, 2. S. 811. Ebd. S. 812. Goethe an Wilhelm von Humboldt. Brief vom 3. Dezember 1795. WA IV, 10. S. 342–343. Vgl. Henke, Silke: Bestandsaufnahme und Zukünftiges – Goethes Vortrag „Über die verschiedenen Zweige der hiesigen Tätigkeit“. In: Bräunlich, Margret, Baldur Neuber u. Beate Rues (Hrsg.): Gesprochene Sprache – transdisziplinär. Festschrift zum 65. Geburtstag von Gottfried Meinhold. Frankfurt am Main, Berlin u. a. 2001. S. 73–81, hier: S. 78–81. Goethe beweist also rhetorisches Geschick, er handelt, so könnte man mit Joachim Knape sagen, als ein Gesprächsorator, der spezifische Ziele verfolgt. Vgl. J. K.: Rhetorik im Gespräch. In: Ders. (Hrsg.): Rhetorik im Gespräch. Berlin 2009. S. 13–51, hier: S. 32.
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Abb. 4: Georg Melchior Kraus: Abendgesellschaft bei Anna Amalia32
und das akademische Potential der Weimarer Akademie allerdings nicht. Georg Melchior Kraus hat in einem seiner Aquarelle die Realität Weimarer Geselligkeit festgehalten (Abb. 4):33 Heinrich Meyer, Frau von Fritsch, Goethe, Einsiedel, Anna Amalia, Elizabeth, Charles und Emily Gore, Fräulein von Göchhausen und Herder sind im Palais der Herzoginmutter versammelt, Goethe liest etwas vor, doch außer Herder und Einsiedel scheint kaum jemand interessiert. Malen, Sticken und andere Tätigkeiten dienen den Damen zum Zeitvertreib. Ein Vergnügen, eine angenehme Freizeitbeschäftigung, das ist das Ziel der Anwesenden, sie wollen die „maladie contagieuse des Hof ennui“ 34 vertreiben – insofern bleibt die Gesellschaft im Kontext der sich auflösenden Hofwelt, deren politische Bedeutung abnimmt und deren Gesten nicht mehr repräsentativ, sondern nur noch delektierend sind. Die Personen auf dem Bild von Kraus sind nicht identisch mit der Kerngruppe der Freitagsgesellschaft, bei der es dann wohl etwas gebildeter zuging, aber –––––––––––– 32 33
34
Kraus, Georg Melchior: Abendgesellschaft bei Anna Amalia („Tafelrunde“). Aquarell, um 1795, 320 x 432 mm. Quelle: Klassik-Stiftung Weimar, Museen, Inventar-Nr.: KHz/00330. Vgl. zur Beschreibung des Bildes auch Görres, Jörn: Goethes Ideal und die Realität einer geselligen Kultur während des ersten Weimarer Jahrzehnts. In: Goethe-Jahrbuch 93 (1976) S. 84–96, hier: S. 95. Göchhausen, Luise von: Brief an Johann Heinrich Merck vom 11. Februar 1782. In: Deetjen, Werner (Hrsg.): Die Göchhausen. Briefe einer Hofdame aus dem klassischen Weimar. Berlin 1923. S. 29.
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der Tendenz nach lässt sich der Eindruck, den das Gemälde gibt, auf die Freitagsgesellschaft übertragen und wa`rnt vor einer zu starken Idealisierung dieser Sozietät in akademischer Hinsicht, Christian Bracht hat die Szene treffend als „eine Versammlung von aktiven Dilettanten“35 gedeutet. Wie sehr die bürgerlichen Gesprächsideale trotz des aufklärerischen Impulses von höfischen Strukturen unterzogen sind, zeigt dann auch die Rede zur Eröffnung der zweiten Sitzung der Freitagsgesellschaft, denn so bürgerlich die erste Eröffnungsrede wirkt, so höfisch konventionell klingen Goethes Begrüßungsworte zum zweiten Treffen am 21. Oktober 1791: Es sei mir erlaubt mit wenig Worten zu bemerken daß unsre heutige Versammlung in eine schöne Epoche fällt: zwischen die Rückkehr unsers gnädigsten Fürsten zu den Seinigen und zwischen den Geburtstag seiner geliebten Mutter. […] Möge jede Lebensepoche unsrer verehrten Beschützer so unumwölkt wiederkehren als es diesmal geschieht und möge es unsern Bemühungen gelingen zu Ihrem Vergnügen und Ihrer Zufriedenheit einiges beizutragen.36
Nur einen Monat nach der Verkündigung der neuen Verfassung in Frankreich, die das Vorbild aller bürgerlichen Verfassungen des 19. Jahrhunderts geben sollte, macht für Goethe das Herrscherhaus Epoche. Eindringlicher zeigt sich selten, wie selbstverständlich im Fall der Freitagsgesellschaft höfisch rhetorische Redeweise und bürgerliche Geselligkeit miteinander verbunden sind.
7. 2.
„Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“: Rhetorik zwischen Eloquenzideal und politischer Wirklichkeit
Bei der „gränzenlose[n] Bemühung[,] dieses schrecklichste aller Ereignisse [sc. die Französische Revolution] in seinen Ursachen und Folgen dichterisch zu gewältigen“,37 hält Goethe in Anbetracht politischer Bedrohungen für den Modellfall Weimar am Ideal der Geselligkeit fest. In den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“, die in mehreren Teilen in Schillers „Horen“ erschienen, beschäftigt er sich mit der Frage, wie die politischen Tagesereignisse der geselligen Kultur, die in seinen Bildungsvorstellungen eine wichtige Rolle einnimmt, zusetzen, d.h., er versucht Geselligkeit als Bildungsmodell politisch zu reflektieren. Dass die „Unterhaltungen“ in die „Horen“ aufgenommen wurden, ist auf den ersten Blick erstaunlich, denn Schiller hatte ja programmatisch gefordert, dass sich seine Zeitschrift von den chaotischen Umständen der Zeit abgrenzt: –––––––––––– 35
36 37
Bracht, Christian: [Bildbeschreibung Georg Melchior Kraus „Abendgesellschaft bei Anna Amalia“]. In: Schuster, Gerhard u. Caroline Gille (Hrsg.): Wiederholte Spiegelungen. Weimarer Klassik. Bd. 2. München u. Wien 1999. S. 597. Goethe: [Eröffnungsansprache zur zweiten Sitzung]. MA 4, 2. S. 815. Goethe: Bedeutende Förderniß durch ein einziges geistreiches Wort. WA II, 11. S. 61.
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Aber je mehr das beschränkte Interesse der Gegenwart die Gemüter in Spannung setzt, einengt und unterjocht, desto dringender wird das Bedürfnis, durch ein allgemeines und höheres Interesse an dem, was r e i n m e n s c h l i c h und über allen Einfluß der Zeiten erhaben ist, sie wieder in Freiheit zu setzen und die politisch geteilte Welt unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit wieder zu vereinigen.38
Es finden sich dann aber in der Zeitschrift des Öfteren politische Stellungnahmen, mal literarisch chiffriert wie im Fall der „Unterhaltungen“, mal publizistisch pointiert, etwa wenn Goethe gegen den anonym von Daniel Jenisch veröffentlichten Aufsatz „Ueber Prose und Beredsamkeit der Deutschen“ mit großem Eifer ins Feld zieht. Jenischs Vorwürfe, die deutschen Autoren würden „bey aller bewundernswürdigen Kunst des Stils […] alle moralische Tendenz“ fehlen lassen, niemals ein „großes Ganzes“ vollenden und sich in „Speculation“ verlieren, will Goethe nicht hinnehmen.39 Bei dem gegebenen Publikum ist es für ihn Zeichen des Sanscülottismus, Frankreich zum Maßstab zu erheben,40 zumal in der aktuellen deutschen Geschichte keine „große[n] Begebenheiten“41 zu finden seien. Gerade indem Goethe politische Forderungen an den Künstler zurückweist, stürzt er sich mit diesen Einwendungen mitten in einen politischen Disput, von dem die „Horen“ eigentlich absehen wollen. Die gegenseitige Durchdringung von Politik und geselliger Kultur aber ist ein ernsthaftes Problem von Goethes, aber auch Schillers Bildungsvorstellungen. Die „Horen“ selbst sind ein publizistisches Pendant zur Geselligkeit Weimars, setzen die Idee eines geselligen Gesprächs in schriftlicher Form fort. Die Zeitschrift ist „einer heitern und leidenschaftfreien Unterhaltung“42 gewidmet, und mit ihr verbindet sich insgesamt noch stärker pädagogische Hoffnung als mit den „Propyläen“, in denen die Opposition zum Publikum wesentlich deutlicher hervortritt. Die „Horen“ sollen im Modus des Spiels und der ästhetischen Erziehung auf das Publikum einwirken. Dieses Projekt ist jedoch beständig gefährdet, da man die Tagespolitik nicht wirklich ignorieren kann. Als im Oktober 1792 französische Revolutionsheere in linksrheinische Gebiete vordrangen und die Städte Mainz, Frankfurt, Worms und Speyer besetzten, flohen viele deutsche Familien über den Rhein, um sich vor den Truppen in Sicherheit zu bringen. Dieses Ereignis ist der historische Hintergrund, den Goethe im Jahr 1794 für die „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ wählt.43 –––––––––––– 38 39 40 41 42 43
Schiller: Ankündigung „Die Horen“. NA 22. S. 106. Jenisch, Daniel: Ueber Prose und Beredsamkeit der Deutschen. In: Ders.: Ausgewählte Texte. Hrsg. v. Gerhard Sauder. St. Ingbert 1996. S. 49–56, hier: S. 50. Vgl. Schulz, Gerhard: Literarischer Sanscülottismus. In: Goethe-Handbuch. Bd. 3. S. 532– 536, hier: S. 533. Goethe: Literarischer Sanscülottismus. MA 4, 2. S. 16. Schiller: Ankündigung „Die Horen“. NA 22. S. 106. Als der erste Teil der Erzählung 1795 in den „Horen“ erschien, waren einige linksrheinische Gebiete erneut von Frankreich besetzt worden, und der Text hatte eine unerwartete tagespolitische Aktualität.
261
Der Leser lernt die Baronesse von C., „eine Witwe in mittlern Jahren“,44 die mit einem kleinen Tross den Revolutionstruppen zu entkommen versucht, auf der Flucht kennen. Das Grundszenario ist ähnlich wie in „Hermann und Dorothea“, wo Goethe ebenfalls eine Gruppe von Flüchtlingen in den Mittelpunkt rückt. Formal erinnerten die „Unterhaltungen“ schon Schiller an Boccaccios „Decameron“.45 Man hat sie häufig sogar als Ursprung der deutschen Novelle betrachtet, wobei die erzählten Geschichten eigentlich keine Novellen sind, sondern lediglich die Rahmenerzählung ins Novellenschema passt.46 Der Erzähler der Geschichte nimmt in den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ gleich zu Beginn eine kritische Haltung zur Revolution ein („In jenen unglücklichen Tagen, welche für Deutschland, für Europa, ja für die übrige Welt die traurigsten Folgen hatten“47) und zeigt Mitleid für das Schicksal der Flüchtenden („denen man zum Verbrechen machte, daß sie sich ihrer Väter mit Freuden und Ehren erinnerten“48). Das fliehende Völkchen um die Baronesse ist bunt gemischt, zu ihm gehören neben der „treffliche[n] Hausmutter“49 die älteste Tochter Luise, eine lebhafte und leicht aus der Fassung zu bringende Person, ihr älterer Bruder Friedrich, Vetter Karl, der ein Bewunderer der Revolution ist, schließlich ein alter Geistlicher, der seit langen Jahren mit der Familie befreundet ist. Komplettiert wird die Gruppe durch einen Hofmeister, Kammermädchen und Kammerdiener. Goethe siedelt die Unterhaltungen im niederen Landadel an, auch in diesem Gesprächskreis spielen höfische Verhaltensnormen somit eine gewisse Rolle. Überhaupt erinnert der Text an die Gesprächsgemeinschaft in Urbino aus Castigliones „Cortegiano“.50 Die Gesprächsregeln der Ausgewanderten decken sich nämlich in vielerlei Hinsicht mit denen, die Castiglione vom Cortegiano fordert, der eben auch auf schickliches Verhalten achten und seine öffentlichen Äußerungen mäßigen soll.51 Weil aber die repräsentative Geste im Landadel nur eine geringe Rolle spielt, dieser traditionell dem Bürgertum nahe –––––––––––– 44 45 46
47 48 49 50
51
Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. MA 4, 1. S. 436. Schiller an Christian Gottfried Körner. Brief vom 7. November 1794. NA 27. S. 80. Auf Ludwig Tieck geht der Gedanke zurück, Goethe als Vater der deutschen Novelle zu betrachten. „Boccaz, Cervantes und Göthe sind die Muster dieser Gattung geblieben“ (Tieck, Ludwig: Schriften. Bd. XI. Berlin 1829. S. LXXXV.). Hildburg Herbst hat diese These relativiert (vgl. H. H.: Goethe – Vater der deutschen Novelle? In: Wittkowski, Wolfgang (Hrsg.): Goethe im Kontext. Kunst und Humanität, Naturwissenschaft und Politik von der Aufklärung bis zur Restauration. Ein Symposium. Tübingen 1984. S. 244–259). Herbst verweist auf deutsche novellenartige Erzählungen, die vor Goethes „Unterhaltungen“ entstanden, und betont die Unterschiede zwischen Goethe und Boccaccio. Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. MA 4, 1. S. 436. Ebd. Ebd. Auch dort ist eine abendliche Unterhaltungsgemeinschaft dargestellt, auch dort führt eine Frau, Elisabetta Gonzaga, die Runde an, die selbst aber nur selten spricht, auch dort argumentieren die Gesprächsteilnehmer häufiger mit Hilfe kurzer Erzählungen. Vgl. Cast. Cort. II, 41.
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steht, eignet sich Goethes Gesprächsgemeinschaft ebenso als Paradigma für den bürgerlichen Leser. Im Sinne einer exemplarischen Argumentation nähert sich Goethe somit seinem Zielpublikum an. Da es Karl, der die Revolution bewundert, an Beherrschung fehlt („Vetter Karl überließ sich der Heftigkeit seiner Neigung“52), ist ein Konflikt in der Gruppe unvermeidlich. Zwar ist die Baronesse von Beginn an um „Mäßigung“53 bemüht, sie beobachtet und kontrolliert den Verlauf des Gesprächs, interveniert mehrfach. Mit Knape könnte man sie als Gesprächsorator sehen, schließlich verfolgt sie das Ziel, ihr Ideal einer unpolitischen Geselligkeit durchzusetzen mit gezielter strategischer Planung.54 Doch wie in den „Horen“ gelingt es auch hier nicht, den politischen Konflikt zu ignorieren. Das heitere Spiel der Geselligkeit wird durch die äußeren Ereignisse beeinträchtigt: „der schöne Genuß dieser reizenden Gegend [ward] oft durch den Donner der Kanonen gestört, den man, je nachdem der Wind sich drehte, aus der Ferne deutlicher oder undeutlicher vernahm.“55 Schließlich kommt es zum Streit zwischen Karl und einem Freund der Baronesse, der „dem alten System zugetan war“,56 so dass einige Mitglieder der Gruppe abreisen. Die Baronesse tritt in eine Art Metakommunikation ein, setzt der Gesellschaft Regeln, die ebenso an das Programm der „Horen“ erinnern wie an die Gesprächsideale der Freitagsgesellschaft: Auf euren Zimmern, auf Spaziergängen und wo sich Übereindenkende treffen, eröffne man seinen Busen nach Lust, man lehne sich auf diese oder jene Meinung, ja man genieße recht lebhaft der Freude einer leidenschaftlichen Überzeugung. Aber, Kinder, in Gesellschaft laßt uns nicht vergessen, wieviel wir sonst schon […], um gesellig zu sein, von unsern Eigenheiten aufopfern mußten, und daß jeder so lange die Welt stehn wird, um gesellig zu sein, wenigstens äußerlich sich wird beherrschen müssen.57
Die Baronesse klagt angemessenes Verhalten ein, fordert Rücksichtnahme und Mäßigung, ohne die das gesellige Gespräch zusammenbricht, die aber individuell mühsam umzusetzen sind. Zwar gelobt Karl, nachdem ihn die Baronesse ermahnt hat, sich zu bessern, doch die Gräfin bleibt mit gutem Grund skeptisch: „es ist nur die Frage, ob du dich überzeugen kannst“,58 gibt sie zu bedenken. Damit versteht die Baronesse Angemessenheit nicht nur als ein äußerliches Phänomen, als eine Anpassung des Verhaltens aus Kalkül, vielmehr glaubt sie, dass –––––––––––– 52 53 54
55 56 57 58
Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. MA 4, 1. S. 438. Ebd. S. 439. Die Baronesse bemüht sich um die Einhaltung der officia collocutoris, indem sie den Verlauf des Gesprächs plant, beobachtet, interpretiert, ihre eigenen Züge im Gespräch kalkuliert und auch entsprechend interveniert (vgl. Knape, Joachim: Rhetorik im Gespräch. In: Ders. (Hrsg.): Rhetorik im Gespräch. Berlin 2009. S. 13–51, hier: S. 27). Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. MA 4, 1. S. 441. Ebd. S. 442. Ebd. S. 448. Ebd. S. 446.
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rhetorische Verhaltensregulierung das Ergebnis eines erfolgreichen nach innen gerichteten persuasiven Aktes sein solle. Diese Auffassung von Geselligkeit setzt den Subjektivismus und die psychologische Perspektive des 18. Jahrhunderts voraus, die Goethe schon im „Werther“ zum Anlass nahm, die aptum-Kategorie zu psychologisieren, aus individueller Perspektive zu deuten. Gleichwohl geht es im geselligen Umgang immer noch um eine äußere Verhaltensform, und die Form ist im geselligen Gespräch dem Inhalt sogar übergeordnet, denn nur so erklärt sich, weshalb die Baronesse sich damit zufrieden gibt, nur die äußere Form des Umgangs zu verändern: „Die Gegenstände Ihrer Erzählungen gebe ich Ihnen ganz frei, aber lassen Sie uns wenigstens an der Form sehen, daß wir in guter Gesellschaft sind.“59 In dem Kreis sollen „Geschichten“ und „Gedichte“, Berichte von fernen „Landen und Reichen“, von „Sitten und Gebräuchen“ vorgetragen werden, die Gesellschaft soll sich mit „philosophischen Betrachtungen“ unterhalten, und auch die Naturwissenschaften spielen eine Rolle.60 Das Themenspektrum und das gesamte Szenario erinnern an die Freitagsgesellschaft, auch indem naturwissenschaftliche Interessen hier ihren Platz finden: Ist die Lust gänzlich verschwunden, mit der ihr, von euren Spaziergängen, einen merkwürdigen Stein, eine, uns wenigstens, unbekannte Pflanze, ein seltsames Insekt zurückbrachtet, und dadurch Gelegenheit gabt, über den großen Zusammenhang aller existierenden Geschöpfe wenigstens angenehm zu träumen?61
Die Harmonie der Geselligkeit soll somit letztlich auf eine eloquenzrhetorische Weise gesichert werden, sie entfaltet sich durch die Mäßigung der eigenen Emotionalität, die sich in einem geschliffenen sprachlichen Umgang zeigt, so die Idee, die gesprächsrhetorisch und auch gesprächspsychologisch merkwürdig ist, weil sie dazu zwingt, die eigentlichen Konflikte auszuklammern. Nicht um Persuasion im aristotelischen Sinne scheint es zu gehen, es werden vielmehr Ideale einer Eloquenzrhetorik eingefordert, wie sie etwa für das genus demonstrativum typisch sind. Freilich bleiben solche Eloquenzprinzipien nicht ohne Wirkung, man könnte mit Burke argumentieren, dass die Aufrechterhaltung solcher Formen einen identifikatorischen Wert für eine Gruppe hat.62 Indem die Gesprächskultur der Ausgewanderten historische Widersprüche suspendiert, etabliert sie laut Ueding den „menschliche[n] Gemeinsinn als Grundlage aller Kultur“, der sich nur mit rhetorisch-sprachlichen Mitteln erreichen lasse, wobei der hohe Anspruch an die Abgrenzung von politischen Umständen und die kulturstiftende Wirkung der Rede die Flüchtlingsrunde zu einer „Gesprächsgesellschaft in Uto–––––––––––– 59 60 61 62
Ebd. S. 476. Ebd. S. 450. Ebd. Vgl. z. B. Burke, Kenneth: A Rhetoric of Motives. Berkeley u. Los Angeles, CA 1969. S. 21.
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pia“ mache.63 Das gilt besonders, da eine wirkliche Verständigung über die Ereignisse nicht angestrebt wird und somit die eigentliche persuasive Dimension der Rede in der Runde nicht zum Tragen kommt, das Potential der Rhetorik als Instanz der Humantitätsstiftung also auf formale Identifikationsmuster beschränkt bleibt. Auch nachdem die neuen Regeln festgelegt sind, ist die Geselligkeit Gefährdungen ausgesetzt, stören die politischen Ereignisse das harmonische Gespräch, wenn mitten in die Unterhaltung das Geräusch der Revolution dringt:64 Kaum hatte er ausgeredet, als in der Ecke des Zimmers auf einmal ein sehr starker Knall sich hören ließ. […] Fritz, um sie zu zerstreuen, nahm das Licht und ging nach dem Schreibtische, der in der Ecke stand. Die gewölbte Decke desselben war quer völlig durchgerissen […].65
Dieses Ereignis unterbricht die Unterhaltung der Ausgewanderten. Die Lust am Neuen und Ungewöhnlichem („Nur das Neue scheint gewöhnlich wichtig, weil es ohne Zusammenhang Verwunderung erregt und unsre Einbildungskraft einen Augenblick in Bewegung setzt“66) lenkt die Teilnehmer der Runde ab. Der Zwischenfall illustriert, wie schwierig es ist, den Gemeinsinn im Gespräch aufzubauen, wie utopisch eine Gesprächsgemeinschaft ist, in der nur der schöne Schein zählt, die eigentlichen res nicht zur rhetorischen Verhandlung anstehen, gesprächsrhetorisch ist die Strategie, den eigentlichen Konflikt vollends auszuklammern eben nicht wirklich erfolgreich – und kann es auch nicht sein. Die sieben Geschichten, die in den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ enthalten sind, umspielen in komplexer Weise das Thema Geselligkeit und rücken zunehmend moralisch-ethische Fragen ins Zentrum,67 sie sind rhetorische –––––––––––– 63
64
65 66 67
Ueding, Gert: Gesprächsgesellschaft in Utopia. Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Ders.: Aufklärung über Rhetorik. Versuche über Beredsamkeit, ihre Theorie und praktische Bewährung. Tübingen 1992. S. 125–137, hier: S. 131. Jürgen Söring hat die unerklärlichen Phänomene, die besonders in den ersten Geschichten behandelt werden, als verdeckte Reaktion auf die Französische Revolution gedeutet, die eine Verwirrung des Publikums auslöste. Vgl. Söring, Jürgen: Die Verwirrung und das Wunderbare in Goethes ‚Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‘. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 100 (1981) S. 544–559. Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. MA 4, 1. S. 469. Ebd. S. 452. Wie sehr die „Unterhaltungen“ von rhetorischen Gedanken durchdrungen sind und wie selbstverständlich Goethe mit rhetorischen Techniken vertraut war, offenbart sich selbst in Kleinigkeiten: In einer Geschichte ist ein junger Mann des Diebstahls überführt worden, er gesteht, doch man vermisst eine weitaus größere Summe Geldes, als er zugibt, gestohlen zu haben. Die Mutter glaubt ihm nicht, macht ihm Vorhaltungen, und an dieser Stelle taucht ein klassischer Topos der juristischen Rhetorik auf, nämlich das Muster, das Größere aus dem Kleineren zu folgern: „Sie verwies ihm, daß er in dem Augenblicke, da er durch aufrichtige Reue seine Besserung und Bekehrung wahrscheinlich machen sollte, seine liebevolle Mutter noch mit Leugnen, Lügen und Märchen aufzuhalten gedenke, daß sie gar wohl wisse, wer des einen fähig sei, sei auch des übrigen alles fähig.“ (Ebd. S. 511).
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exempla, mit denen Goethe für eine gesellige Gesprächskultur argumentiert. Beispielhaft kann man dieses Muster an der Procurator-Episode ablesen, in der eine verheiratete Frau einem jungen Liebhaber entsagt und daraufhin ihr moralisches Empfinden wiedererlangt: Sie haben mich fühlen lassen, daß außer der Neigung noch etwas in uns ist, das ihr das Gleichgewicht halten kann, daß wir fähig sind, jedem gewohnten Gut zu entsagen und selbst unsre heißesten Wünsche von uns zu entfernen.68
Das klingt nach Kant: Die Pflicht soll über die Neigung siegen, der moralische Wert einer Handlung bemisst sich nach dem Willen und steht umso höher, je weniger Neigung man zu einer Tat verspürt.69 Es verdient zwar „moralisch genannt zu werden“, wenn „der Mensch in sich eine Kraft habe, aus Überzeugung eines Bessern, selbst gegen seine Neigung, zu handeln“,70 realistisch erscheint es den Gesprächsteilnehmern aber eher nicht. Zwar kommt diese Idee der Frau in der Procurator-Erzählung plausibel vor, jedoch setzt Goethe dieser Überzeugung mit der Rahmenerzählung ein anderes narrativ entfaltetes Argument entgegen, denn die Zuhörer beäugen und kommentieren den moralischen Rigorismus der Geschichte eher kritisch: Luise.
Wenn ein tapferer Mann mit Gefahr seines eigenen Lebens andere rettet, ist das keine moralische Handlung?
Der Alte.
Nach meiner Art mich auszudrücken nicht. Wenn aber ein furchtsamer Mensch seine Furcht überwindet und eben dasselbe tut, dann ist es eine moralische Handlung.71
Die Geschichte war also Argument einer theoretischen Position, nämlich der Kants, die dann durch die Rahmenhandlung selbst wieder kritisiert wird. Schiller hat in einer polemischen Wendung übrigens denselben Einwand gegen Kant aufgebracht wie Luise und in den „Xenien“ meisterhaft knapp formuliert: „Gerne dien ich den Freunden, doch thu ich es leider mit Neigung, / Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin.“72 Gegen solchen Rigorismus steht das Programm ästhetischer Erziehung durch einen geselligen Umgang und die Kultur des Gesprächs, die bei äußeren Bedrohungen die soziale Gemeinschaft der Flüchtenden sichert. Goethes Geselligkeitsmodell steht dabei in enger Verbindung zu Schillers Briefen „Über die ästhetische Erziehung“ aus dem Jahr 1795, in denen dieser ebenfalls bemüht ist, dem Rigorismus Kants ein humaneres Gesicht zu geben: Die ästhetische Form, –––––––––––– 68 69 70 71 72
Ebd. S. 494. Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hrsg. v. Karl Vorländer. 3. Auflage. Hamburg 1965. 394 (S. 11). Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. MA 4, 1. S. 495. Ebd. S. 496. Schiller: Xenien. NA 1. S. 357.
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der schöne Schein sollen den Menschen bilden und ihn über seine bloßen Neigungen hinaus entwickeln, ohne mit seinen Neigungen in Konflikt zu geraten. Indem man „die Willkühr, die Frivolität, die Rohigkeit“ aus den Vergnügungen vertreibt, verspricht Schiller sich eine moralische Fortentwicklung, da der schöne Schein „die Wirklichkeit […] überwinde[n]“ kann.73 Wie der Mensch im Spiel Grundsätze freiwillig akzeptiert und sich ihnen gerne unterstellt, d. h. mitspielt, so soll es auch im Bereich der Kunst geschehen: „der Schein der Dinge ist des Menschen Werk, und ein Gemüth, das sich am Scheine weidet, ergötzt sich schon nicht mehr an dem, was es empfängt, sondern an dem, was es thut.“74 Das gilt auch für das ideale Gespräch im Sinne Goethes, bei dem die Form von großer Wichtigkeit ist, weil nur unter Einhaltung vieler aptum- und decorum-Regeln ein im ästhetisch-ethischen Sinne gelungenes Gespräch zustande kommt. Im Gespräch liegt die Struktur des Spiels verborgen, man muss bestimmten Regeln folgen, damit das Spiel funktioniert, aber der souveräne Spieler beherrscht die Regeln, hat die Freiheit, sie zu interpretieren und ihnen auf unterschiedliche Weise zu folgen.75 Dabei ist sofort einsichtig, dass der schöne Schein in einem Gespräch ein Produkt der Rhetorik ist, das Ergebnis sprachlicher Regelanwendung und -auslegung im Sinne einer Eloquenzrhetorik. Goethe entfernt sich gerade in seiner Gesprächstheorie erstaunlich weit von einer persuasiven Rhetorikdefinition, die im Hofmann-Ideal durchaus angelegt ist, denn Castiglione ist ja bewusst, dass es dem Hofmann darum geht, sich von Konkurrenten abzusetzen und sich hervorzutun. Goethe war wohl klar, wie weit er sich auf diese Weise von der äußeren Wirklichkeit entfernt, denn die Idee, den Menschen mit Hilfe des schönen Scheins der Kunst zu erziehen und auf diese Weise seine Entzweiung zu überwinden, den Gegensatz zwischen politischer Welt und ästhetischer Kultur zu auszugleichen, setzt er im „Märchen“ um, der letzten Erzählung in den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“, die seine Zeitgenossen weit positiver beurteilten als die übrigen Teile der „Unterhaltungen“.76 Das „Märchen“ gestaltet eine „Wirklichkeit des Symbols, dessen Erzeugung als Aufgabe der Kunst betrachtet wird.“ 77 –––––––––––– 73
74 75 76
77
Schiller: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen. NA 20. S. 336. Zur Frage nach der Bedeutung des Scheins in Schillers Konzept vgl. auch: Ueding, Gert: Schillers Rhetorik. Idealistische Wirkungsästhetik und rhetorische Tradition. Tübingen 1971. S. 42–50. Schiller: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen. NA 20. S. 399. Vgl. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen. In: Ders.: Werkausgabe Bd. 1. S. 285–292. Zur Rezeption der „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ vgl. Bauschinger, Sigrid: Artikel „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“. In: Goethe-Handbuch. Bd. 3. S. 241– 242. Meuthen, Erich: Das Entsetzen der schönen Seele. Über die rhetorische Dimension des ästhetischen Scheins bei Goethe und Kleist. In: Eibl, Karl u. Bernd Scheffer (Hrsg.): Goethes Kritiker. Paderborn 2001. S. 45–56, hier: S. 46.
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Mit seiner Vielschichtigkeit hat es zahlreiche unterschiedliche Deutungen provoziert, schon Goethe stellte eine vergleichende Liste von Interpretationen zusammen,78 hielt seine eigene Interpretation aber aus gutem Grund zurück,79 denn der Gewinn der symbolischen Struktur ist ja gerade, dass sie den Leser zum ästhetischen Spiel einlädt. Im „Märchen“ versucht Goethe, das Potential des schönen Scheins zu ergründen. Ansätze dazu finden sich bereits in der „Natürlichen Tochter“, wo Eugenie den Zusammenhang auf ein Diktum bringt: „Der Schein, was ist er, dem das Wesen fehlt? / Das Wesen wär’ es, wenn es nicht erschiene?“80 Was Goethe chiffriert darstellt, hat Schiller explizit behandelt: Ein „aufrichtige[r] Schein“81 ist vom „falschen Schein“82 zu unterscheiden, von der Verstellung aus egoistischen Motiven oder aus bloßem politischen oder rhetorischen Kalkül. Erst durch eine „bewußte Trennung“83 beider lebt „Wahrheit […] in der Täuschung fort“,84 so das Ideal, das hier behauptet wird. Weiter in den Worten Schillers: „Es versteht sich von selbst, daß hier nur von dem ästhetischen Schein die Rede ist, den man von der Wirklichkeit und Wahrheit unterscheidet, nicht von dem logischen, den man mit derselben verwechselt […].“85 In der Kunst und im geselligen Umgang entfaltet sich die erzieherische Dimension erst, wenn man mit sprachlichen Mitteln den schönen Schein um seiner selbst willen erzeugt, nicht im Dienst äußerer, etwa politischer Ziele. Rhetorisch lässt sich eine Ästhetik des schönen Scheins wie dargestellt vor allem durch das Muster der epideiktischen Rede erfassen, die hier offensichtlich vorbildlichen Charakter hat, da sie dem Ausweis der Kunstfertigkeit eines Redners dient, wie auch Gert Ueding hervorhebt: In solcher Praxis werden die res zum Anlaß des ästhetischen Spiels, in dem ihre reale Existenz verschwindet: nur auf dem durch die verba formal hergestellten idealen Boden kann sich diese Freiheit ‚realisieren‘.86
Das „Märchen“ erzählt von einer verwunschenen Welt, die ein großer angeschwollener Fluss teilt. Auf der einen Seite des Flusses liegt das Reich der schö–––––––––––– 78 79 80
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Vgl. Goethe: Das Märchen welches […]. MA 4, 1. S. 1054–1055. Vgl. Goethe an Prinz August von Gotha. Brief vom 21. Dezember 1795. WA IV, 10. S. 352. Goethe: Die natürliche Tochter. II, 5. MA 6, 1. S. 272. Auch in diesem Drama findet sich eine Abgrenzung von edlem und „eitle[m] Schein“, der nur „bestechen“ will (vgl. ebd. III, 4. S. 290). Schiller: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen. NA 20. S. 403. Ebd. Ueding, Gert: Schillers Rhetorik. Idealistische Wirkungsästhetik und rhetorische Tradition. Tübingen 1971. S. 49. Schiller: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen. NA 20. S. 334. Ebd. S. 399. Ähnlich grenzt auch Kant den Schein der Redekunst von dem der Poesie ab (vgl. Kant, Immanuel: Werkausgabe. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Bd. 10: Kritik der Urteilskraft. 14. Auflage. Frankfurt am Main 1996. A 210/ B 213 (S. 265–266)). Ueding, Gert: Schillers Rhetorik. Idealistische Wirkungsästhetik und rhetorische Tradition. Tübingen 1971. S. 47.
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nen Lilie, deren Berührung alles Lebendige zerstört, so dass ihre Schönheit von geringem Wert ist, auf der anderen Seite liegt die Welt der Schlange, in der Früchte wachsen und vier Könige (je einer aus Gold, einer aus Silber, einer aus Erz und einer aus einer kunstlosen Mischung der drei Metalle) zu finden sind. Die Zerrissenheit des Menschen, Bürgers zweier Welten, ist hier symbolisch umgesetzt. Im „Märchen“ rettet die Schlange diese verwunschene Welt, indem das Tier mit dem „schönen hellen Schein“87 sich opfert, seinen Körper verliert und so einen „glänzenden Weg“88 über den Fluss schafft, der die Entzweiung beendet und das Reich der Schönheit mit der Wirklichkeit verbindet. Die „Völker sind ihr [sc. der Schlange] die Brücke schuldig, wodurch diese nachbarlichen Ufer erst zu Ländern belebt und verbunden werden.“89 Erst durch den schönen Schein kann der Mensch seine Entzweiung als Individuum wie als Subjekt eines Staates beenden, so die Botschaft Goethes. Ulrich Gaier hat das Bildungsprogramm Schillers und Goethes zueinander in Beziehung gesetzt und die „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ als „Gegenentwurf“ zu Schillers ästhetischer Erziehung gedeutet.90 Schon Zeitgenossen sahen im Verstoß gegen die in der Ankündigung der „Horen“ formulierte Forderung, „über das Lieblingsthema des Tages ein strenges Stillschweigen“ zu üben und alles zu verbannen, „was mit einem unreinen Parteigeist gestempelt ist“, ein Abweichen von Schillers ästhetischem Programm. 91 Und in der Tat zeigen die „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“, dass es unmöglich ist, das Tagesgeschehen aus dem geselligen Gespräch auszublenden. Die Freiheit, sich dennoch mit den aktuellen Ereignissen der Politik zu beschäftigen, nahm sich allerdings schon Schiller, denn in seinen Briefen „Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen“ streift er die Französische Revolution mehr als einmal. Der Gegensatz zwischen sozialer Bildung, auf die Goethe setzt, und ästhetischer –––––––––––– 87 88 89 90
91
Goethe: Märchen (zur Fortsetzung der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten). MA 4, 1. S. 526. Ebd. S. 541. Ebd. S. 547. Vgl. Gaier, Ulrich: Soziale Bildung gegen ästhetische Erziehung. Goethes Rahmen der ‚Unterhaltungen‘ als satirische Antithese zu Schillers ‚Ästhetischen Briefen‘ I–IX. In: Bachmaier, Helmut u. Thomas Rentsch (Hrsg.): Poetische Autonomie? Zur Wechselwirkung von Dichtung und Philosophie in der Epoche Goethes und Hölderlins. Stuttgart 1987. S. 207–272, hier S. 211. Außerdem: Witte, Bernd: Das Opfer der Schlange. Zur Auseinandersetzung Goethes mit Schiller in den ‚Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‘ und im ‚Märchen‘. In: Barner, Wilfried, Eberhard Lämmert u. Norbert Oellers (Hrsg.): Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik. Stuttgart 1984. S. 461–484; Mommsen, Katharina: „Märchen des Utopien“. Goethes ‚Märchen‘ und Schillers ‚Ästhetische Briefe‘. In: Brummack, Jürgen, Gerhart von Graevenitz u. a. (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Festschrift für Richard Brinkmann. Tübingen 1981. S. 244–257. Schiller: Ankündigung „Die Horen“. NA 22. S. 106.
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Erziehung, für die Schiller votiert, ist nicht von der Hand zu weisen, aber zu Goethes geselliger Erziehung gehört eben auch eine ästhetische Erziehung, denn es sind schließlich Geschichten, literarische Exempel, über die er in den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ argumentiert. Es ist die ästhetische Form des Gesprächs, auf die es letztlich ankommt. Schillers ästhetische Erziehung bleibt in der sozialen Realisierung daher schwierig, auf die Frage „Existiert aber auch ein solcher Staat des schönen Scheins, und wo ist er zu finden?“,92 antwortet er bekanntlich: Dem Bedürfniß nach existiert er in jeder feingestimmten Seele, der That nach möchte man ihn wohl nur, wie die reine Kirche und die reine Republik in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln finden, wo nicht die geistlose Nachahmung fremder Sitten, sondern eigne schöne Natur das Betragen lenkt […].93
Dadurch setzt Schiller sein ästhetisches Programm selbst in einen geselligen Kontext. Laut Gaier hat Goethe mit einem Brief „voll hintergründiger Ironie“94 auf Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung reagiert. Aber antwortet Goethe wirklich mit nur gespielter Begeisterung, mit Ironie auf Schillers Sendung? Deutlich sind die Ironiesignale im Brief vom 26. Oktober 1794 jedenfalls nicht, und es ist eher unwahrscheinlich, dass Goethe in diesen frühen Briefen die Verbindung zu Schiller gleich wieder in Frage stellen will. Schillers Äußerung in einem Brief an Christian Gottfried Körner, Goethes „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ seien ein „Unglück“,95 scheint jedenfalls mehr auf Zweifel an der literarischen Qualität der Rahmenhandlung denn auf Zweifel an ihrem ästhetischen Programm bezogen zu sein. Von gegensätzlichen Bildungskonzepten kann man jedenfalls nicht sprechen, eher von graduellen Unterschieden. Schiller setzt stärker auf ästhetische Erfahrungen, Goethe mehr auf das konkrete Umfeld des Menschen: „es bildet / Nur das Leben den Mann und wenig bedeuten die Worte“,96 wie er in der ersten Epistel für die „Horen“ formulierte. Dabei verbindet Schiller und Goethe die Ahnung, wie schwierig es ist, ästhetische Bildung zu vermitteln. Der Text, in dem Goethe symbolisch vorführt, wie Kunst wirken kann, ist ein „Märchen“, also wunderbar und unwahrscheinlich – auch in diesem Sinne darf man den Titel verstehen. Auf die ästhetische Dimension derart beschränkt wird Rhetorik freilich sozial ortlos, rhetorisches Handeln, das nur auf die identifikatorische Wirkung ästhetischer Strukturen baut, erscheint –––––––––––– 92 93 94
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Schiller: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen. NA 20. S. 412. Ebd. Gaier, Ulrich: Soziale Bildung gegen ästhetische Erziehung. Goethes Rahmen der „Unterhaltungen“ als satirische Antithese zu Schillers „Ästhetischen Briefen“ I–IX. In: Bachmaier, Helmut u. Thomas Rentsch (Hrsg.): Poetische Autonomie? Zur Wechselwirkung von Dichtung und Philosophie in der Epoche Goethes und Hölderlins. Stuttgart 1987. 207–272, hier: S. 222. Schiller an Christian Gottfried Körner. Brief vom 5. Dezember 1794. NA 27. S. 98. Goethe: Erste Epistel. MA 4, 1. S. 661.
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letztlich problematisch. Nicht ohne Grund soll die Disziplin nach Aristoteles das Überzeugende für einen gegebenen kulturellen Kontext bestimmen und fortentwickeln, und dieser Kontext ist politisch zu verstehen. Die Polis gehört in jedem Fall zum gedanklichen Hintergrund der Aristotelischen Rhetorik. Goethe erahnt die Probleme einer rein ästhetischen Gesprächsrhetorik immerhin: Die utopische Gesprächsgemeinschaft ist beständig gefährdet, die soziale Wirkung des schönen Scheins ist nur im Märchen greifbar. Das Ideal einer solchen Gesellschaft des guten Stils führt er allerdings trotzdem vor.
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8.
„Das unerwartet ungeheure Wort.“ – Paradigmen rhetorischer Erkenntnistheorie in „Iphigenie auf Tauris“
Das Unzulängliche ist productiv. Ich schrieb meine „Iphigenia“ aus einem Studium der griechischen Sachen, das aber unzulänglich war. Wenn es erschöpfend gewesen wäre, so wäre das Stück ungeschrieben geblieben.1
8. 1.
Prekäre Selbstüberredung. Iphigenie zwischen Humanitätspostulat und Autonomiedenken
Bisweilen machen gerade Aussagen, die eher en passant fallen, eine erstaunliche Karriere, dies gilt auch für Goethes Bemerkung, seine Iphigenie sei „ganz verteufelt human“,2 die er in einem Brief an Schiller vom 19. Januar 1802 mehr nebenbei als in programmatischer Absicht formuliert. Diese Worte, die eigentlich schon durch den vorausgehenden Satzteil zu relativieren wären, in dem Goethe über das Stück, an dessen dramaturgischer Bearbeitung Schiller sitzt, schreibt, er „habe hie und da hineingesehen“,3 wurden zum Leitmotiv für die Interpretation der „Iphigenie“, die in den Schulen noch heute als Exempel klassischer Humanität und als „helles Urbild humaner Menschlichkeit“4 dient. Zwar wies schon Oskar Seidlin darauf hin, dass in der „Iphigenie“ die dunklen Seiten der condition humaine keineswegs ausgeblendet seien,5 aber erst mit Wolfdietrich Rasch verbreitete sich die Einsicht, dass in dem Drama vielleicht doch mehr und ganz anderes zu finden sei als ein Manifest der Humanität.6 Inzwischen gilt als unzweifelhaft, dass die Perspektive ‚edle Einfalt und stille Größe‘ ein falsches Verständnis liefert, denn überzeugend hat Rasch die bisheri–––––––––––– 1 2 3 4
5 6
Goethe im Gespräch mit Riemer. 20. Juli 1811. WA V, 3. S. 24. Goethe an Schiller. Brief vom 19. Januar 1802. MA 8, 1. S. 874. Ebd. Hamburger, Käte: Das Opfer der delphischen Iphigenie. In: Wirkendes Wort 4 (1953/54) S. 221–231, hier: S. 231. Die Eckpunkte der traditionellen Sicht der „Iphigenie“ als Humanitätsdrama hat Hans Robert Jauß umrissen. Vgl. H. R. J.: Racines und Goethes Iphigenie. In: Warning, Rainer (Hrsg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München 1975. S. 353–400, hier: S. 356–359. Vgl. Seidlin, Oskar: Goethes Iphigenie – „verteufelt human“? In: Wirkendes Wort 5 (1954/55) S. 272–280, hier: S. 279–280. Vgl. Rasch, Wolfdietrich: Goethes „Iphigenie auf Tauris“ als Drama der Autonomie. München 1979.
ge Deutung des Textes kritisiert, die sich nur auf wenige Belege stützen kann: 7 Neben dem Brief an Schiller wird etwa die Widmung Goethes an Georg Wilhelm Krüger häufig zitiert, der in einer Weimarer Iphigenie-Aufführung 1827 den Orest gespielt hatte. Doch ist die Widmung „Alle menschliche Gebrechen / Sühnet reine Menschlichkeit.“8 eben an den Orest-Darsteller gerichtet, und da „Gebrechen“ im 18. Jahrhundert nach Rasch regelmäßig „Verbrechen“ bedeutet, muss man sie wohl auf die Sühneleistung Orests beziehen und kann sie nicht als pathetisches Argument für die Einordnung des Dramas als Festspiel der Humanität Iphigenies nehmen.9 Weiterhin verweist man häufig auf das Ende des Dramas, das Iphigenie als Heilige stilisiere. Aber Orests Ausspruch „du bist den Deinen wieder, / Du Heilige, geschenkt. Von dir berührt / War ich geheilt“ 10 ist, in seinem Kontext betrachtet, vor allem ein Appell an König Thoas, Iphigenie gehen zu lassen, und ein Versuch, ihr Ansehen beim König wiederherzustellen. Rasch spricht folgerichtig von „pathetischer Zweckrhetorik“.11 Schließlich bezieht man sich auf die „Italienische Reise“, in der Goethe die „sichere Jungfräulichkeit“12 der heiligen Agathe mit „Iphigenie“ in Verbindung bringt. Bei diesem Vergleich, der sich auf eine Raffael zugeschriebene Darstellung Agathes bezieht, geht es Goethe aber darum, den Stil seines Textes zu beschreiben, der durch Stil Raffaels inspiriert sei, nicht um eine Heiligsprechung Iphigenies. Nachdem Rasch die bisherigen Interpretationen des Dramas destruiert hat, bleibt nicht viel übrig von dem ‚Urbild humaner Menschlichkeit‘, als das man Goethes Iphigenie immer wieder betrachtete. Ein anderes Thema ist im Drama sehr viel präsenter, obwohl man es lange übersehen hat, und zwar das Thema der menschlichen Autonomie, die Frage, wie der Mensch – aus sicheren gesellschaftlichen und religiösen Beziehungssystemen gelöst – sein Leben aus eigner Kraft meistern kann und welche Rolle dabei der Macht der Worte oder, anders gesagt, der Rhetorik zukommt. Iphigenie scheitert und verzweifelt an ihrer Situation, fühlt sich isoliert, gewinnt aber gerade dadurch Unabhängigkeit von der sie umgebenden Gesellschaft. Schon im Eröffnungsmonolog ist das zu erkennen: Denn ach mich trennt das Meer von den Geliebten, Und an dem Ufer steh’ ich lange Tage, Das Land der Griechen mit der Seele suchend […].13
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Vgl. Reed, Terence James: Artikel „Iphigenie”. In: Goethe-Handbuch. Bd. 2. S. 195–228, hier: S. 205. Goethe: [Herrn Krüger, dem bewunderungswürdigen Orest]. MA 18, 1. S. 11. Vgl. Rasch, Wolfdietrich: Goethes „Iphigenie auf Tauris“ als Drama der Autonomie. München 1979. S. 18. Goethe: Iphigenie auf Tauris. V, 6. V. 2118–2120. MA 3, 1. S. 219. Rasch, Wolfdietrich: Goethes „Iphigenie auf Tauris“ als Drama der Autonomie. München 1979. S. 184. Goethe: Italienische Reise. 19. Oktober 1786. MA 15. S. 124. Goethe: Iphigenie auf Tauris. I, 1. V. 10–12. MA 3, 1. S. 161.
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Wenn Iphigenie ein Urbild humaner Menschlichkeit ist, dann ist dabei weniger an die Kraft und Stärke des Menschseins zu denken als an Schwäche und Mangel, mithin an die von Blumenberg genannten Entstehungsbedingungen rhetorischen Handelns.14 Iphigenie ist ihrer Wurzeln beraubt, ihr ist das Vaterland fremd geworden und die Fremde fremd geblieben: Iphigenie: Kann uns zum Vaterland’ die Fremde werden? Arkas: Und dir ist fremd das Vaterland geworden. Iphigenie: Das ist’s, warum mein blutend Herz nicht heilt.15
Das „blutend Herz“ Iphigenies leidet an Heimatlosigkeit, an der Entfremdung, die sie hier wie da, im Vaterland wie im Exil, erdulden muss. Da Iphigenie zwei Kulturkreise kennt, relativiert sich für sie die Normativität von Kultur, sie erkennt, dass gesellschaftliche Grundüberzeugungen zwischen den Völkern variieren. So ringt sie zwischen erahnter Autonomie und noch nicht vollends überwundener Heteronomie um ein überzeugendes Selbstkonzept und rebelliert gegen die göttlich vorgegebene Rolle als Priesterin:16 Frei atmen macht das Leben nicht allein. Welch Leben ist’s, das an der heil’gen Stätte, Gleich einem Schatten um sein eigen Grab, Ich nur vertrauern muß? Und nenn’ ich das Ein fröhlich selbstbewußtes Leben, wenn Uns jeder Tag, vergebens hingeträumt, Zu jenen grauen Tagen vorbereitet, Die an dem Ufer Lethes, selbstvergessend, Die Trauerschar der Abgeschiednen feiert? Ein unnütz Leben ist ein früher Tod […].17
Eingebettet in die griechische Kultur und Gesellschaft, in klar definierte kulturelle Strukturen wäre Iphigenie nicht zu einer autonomen Existenz geworden und hätte sich nicht zu dem Exempel modern aufklärerischen Denkens machen lassen, als das Goethe sie präsentiert. Der Vergleich zweier Kulturen, den Iphigenie täglich anstellen kann, führt sie in einen Relativismus und befreit sie auf diese Weise von Autoritäten. Das erinnert durchaus an den Skeptizismus der frühen Sophisten, die aus der Erfahrung unterschiedlicher Kulturkreise relativistische Positionen einnahmen, an der Möglichkeit sicherer Erkenntnis zweifelten, Wahrheit vor allem als Ergebnis diskursiver Strukturen verstanden und „die gesamte Kultur – die Sprache, die Religion, –––––––––––– 14
15 16 17
Vgl. Blumenberg, Hans: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik. In: Ders.: Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart 1981. S. 104– 136, hier: S. 105. Goethe: Iphigenie auf Tauris. I, 2. V. 76–78. MA 3, 1. S. 163. Auf Iphigenies Rebellion gegen das Priesteramt hat Wolfdietrich Rasch hingewiesen. Vgl. W. R.: Goethes „Iphigenie auf Tauris“ als Drama der Autonomie. München 1979. S. 91. Goethe: Iphigenie auf Tauris. I, 2. V. 106–115. MA 3, 1. S. 164.
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den Staat, die Moral, das Recht, die Gesellschaft – nicht mehr einfach als gegebene Tatsache“ hinnahmen, sondern „zum Gegenstand der Reflexion und Kritik“ machten.18 Hier setzt dann ja auch das Rhetorikmodell Blumenbergs an, das hinter der rhetorischen téchne ein anthropologisch und erkenntnistheoretisch erklärbares Bedürfnis vermutet, solche Unsicherheiten für die Gemeinschaft und den Einzelnen zu überwinden. Aus dem kulturellen Relativismus ergibt sich bei Iphigenie ein religiöser: „Es spricht kein Gott; es spricht dein eignes Herz“,19 hält Thoas Iphigenie vor, als sie sich weigert, seinen Heiratsantrag anzunehmen. Iphigenie antwortet: „Sie reden nur durch unser Herz zu uns“20 und macht sich somit zur Fürsprecherin einer Religionsauffassung, die die „Subjektivität der religiösen Erfahrung“21 anerkennt. Die Eindeutigkeit göttlicher Willensäußerung, die Euripides bei allen Modernisierungstendenzen, die seine Bearbeitung des Iphigenie-Stoffes schon zeigt,22 noch in Szene setzen konnte, ist bei Goethe verschwunden: Schon Euripides lässt zwar den Seher Kalchas die Opferung Iphigenies befehlen, 23 aber ein göttli–––––––––––– 18 19 20 21 22
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Fuhrmann, Manfred: Die antike Rhetorik. 3. Auflage. München u. Zürich 1990. S. 18. Goethe: Iphigenie auf Tauris. I, 3. V. 493. MA 3, 1. S. 174. Ebd. V. 494. S. 174. Vgl. Henkel, Arthur: Die „verteufelt humane“ Iphigenie. In: Euphorion 59 (1965) S. 1–17, hier: S. 8. Der Zusammenhang von Wort und Sache ist als Folge rhetorischer Aufklärung für Euripides problematisch geworden (vgl. Neumann, Uwe: Gegenwart und mythische Vergangenheit bei Euripides. Stuttgart 1995. S. 24 u. 101). Die Autorität des Götterwortes ist ihm zweifelhaft, und der Mythos dient ihm vor allem als ein Mittel, „Gültiges über den Menschen auszusagen“, autoritäre Erklärungsmacht hat er nicht mehr (vgl. Dörrie, Heinrich: Der Mythos im Verständnis der Antike II. Von Euripides bis Seneca. In: Gymnasium 73 (1966) S. 44–62, hier: S. 61). Daher wird bei Euripides auch zum ersten Mal die Frage nach Orests Schuld angegangen. Bei Aischylos war er auf dem Areopag mit unentschiedenem Urteil freigesprochen worden und die Schuldfrage damit geklärt (Aischylos: Eumeniden. V. 752– 753. In: Ders.: Tragödien und Fragmente. Hrsg. u. übersetzt von Oskar Werner. 3. verbesserte Auflage. o. O. [München] 1980. S. 236–237). Euripides hingegen ist an den humanen Folgen der Mordtat interessiert, die sich durch den Urteilsspruch nicht klären lassen. Er fragt, so Bruno Snell, welchen Sinn der Mythos hat: „Da Euripides die mythischen Figuren nicht mehr lebendig-real nimmt, mit ausgeprägten Eigentümlichkeiten, mit in ihrer Bedeutung festliegenden Taten, fühlt er sich berufen, sie neu von sich aus glaubhaft zu machen. Ihm war dies kein willkürliches Umdeuten der Sage, sondern er vermeinte gewiß, ihrem eigentlichen, echten Wesen nachzuspüren, indem er die geistigen und seelischen Motive zu ergründen suchte.“ (B. S.: Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen. Göttingen 1975. S. 109). Vgl. Euripides: Iphigenie im Taurerlande. V. 16. In: Ders.: Sämtliche Tragödien und Fragmente. Griechisch-deutsch. Hrsg. v. Gustav Adolf Seeck. Übersetzt von Ernst Buschor. Bd. 4. Darmstadt 1972. S. 8–9. Dieses Detail war Goethe auf jeden Fall vertraut, da es selbst in den „Fabulae“ Hygins erwähnt wird (vgl. Hyginus, Gaius Iulius: Fabulae. Hrsg. v. Peter K. Marshall. Stuttgart 1993. XCVIII. S. 91), mit denen Goethe oft gearbeitet hat (vgl. Morsch, Hans: Goethe und die griechischen Bühnendichter. Berlin 1888. S. 23; Goethe an Schiller. Brief vom 29. August 1798. MA 8, 1. S. 614).
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cher Willensspruch setzt sich bei ihm am Ende der „Iphigenie im Taurerlande“ eben doch durch, er konnte Thoas in Anbetracht der dea ex machina noch sagen lassen: „Frevler nenn ich den, / Der sich der Götter Wort nicht gläubig beugt.“ 24 Bei Goethe haben die Worte der Götter ihre Eindeutigkeit verloren, daher versucht Iphigenie sie durch Argumente zu einem ethisch akzeptablen Handeln zu bewegen („Rettet mich, / Und rettet euer Bild in meiner Seele!“ 25). Sie „bittet nicht demütig um gnädige Erfüllung ihres Wunsches, sondern sie argumentiert.“26 Dabei ist sie durchaus skeptisch, ob die Götter die moralischen Erwartungen, die sie stellt, erfüllen. Die berühmten Zeilen des Parzenliedes, das sie erinnernd zitiert, „Es fürchte die Götter / Das Menschengeschlecht!“,27 lassen eher an einer ethischen Qualifikation der Götter zweifeln. Aber da die Aussagen der Götter nicht eindeutig sind, kann Iphigenie diese in ihrem Sinne interpretieren. Sie löst religiöse Fragen, indem sie, wie Clayton Koelb bemerkt, „problems by means of rhetorical reading“28 angeht. Das Drama „alerts us repeatedly to the possibility of multiple interpretation (or misinterpretation) of all kinds of language, even of divine discourse“.29 Religion wird so von einer Frage des Glaubens zu einer hermeneutisch-rhetorischen Angelegenheit. Religionen erscheinen in dieser Perspektive als diskursiv vermittelte persuasive Strukturen. Während Rasch die Abgrenzung von den sich offenbarenden dunklen Göttern als Zeichen der Autonomie Iphigenies sieht,30 geht John Neubauer wesentlich weiter: Iphigenie und die anderen erfahren laut Neubauer nämlich gar nichts von den Göttern, die Protagonisten sind ganz auf die zwischenmenschliche Aussprache, also auf die diskursive Problemlösung, angewiesen, weshalb „Iphigenie“ ein „modernes Schauspiel“31 sei. Demnach interpretiert Iphigenie nicht den göttlichen Willen, sondern konstruiert, indem sie den göttlichen Willen ‚auslegt‘, in Wirklichkeit rhetorische Wahrscheinlichkeiten. Diesen Denkraum betritt Goethe in „Dichtung und Wahrheit“, wenn er von der „ungeheuren Opposition im –––––––––––– 24
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Euripides: Iphigenie im Taurerlande. V. 1475–1476. In: Ders.: Sämtliche Tragödien und Fragmente. Griechisch-deutsch. Hrsg. v. Gustav Adolf Seeck. Übersetzt von Ernst Buschor. Bd. 4. Darmstadt 1972. S. 106–107. Goethe: Iphigenie auf Tauris. IV, 5. V. 1716–1717. MA 3, 1. S. 207. Rasch, Wolfdietrich: Goethes „Iphigenie auf Tauris“ als Drama der Autonomie. München 1979. S. 97. Goethe: Iphigenie auf Tauris. IV, 5. V. 1726–1727. MA 3, 1. S. 208. Koelb, Clayton: Inventions of Reading. Rhetoric and the Literary Imagination. Ithaca, NY 1988. S. 160. Ebd. S. 164. Er formuliert: „Was immer in diesem Drama an Bösem, Unmenschlichem, Unrechtem geschieht oder berichtet wird, geschieht durch den Willen, auf die Weisung oder im Namen der Götter.“ (Rasch, Wolfdietrich: Goethes „Iphigenie auf Tauris“ als Drama der Autonomie. München 1979. S. 108). Neubauer, John: Sprache und Distanz in Goethes „Iphigenie“. In: Wittkowski, Wolfgang (Hrsg.): Verlorene Klassik. Ein Symposium. Tübingen 1986. S. 27–39, hier: S. 30–31.
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Hintergrunde meiner ‚Iphigenie‘“32 spricht. Die Götter offenbaren sich Iphigenie nicht, vielmehr mutmaßt und diskutiert sie beständig über deren Erwartungen und Forderungen, ohne dass diese klare Signale senden. Jedoch sollte man Iphigenies verzweifelte Versuche, die Götter zu verstehen, indem sie sich selbst versteht und auf sich selbst hört, nicht in ein postmetaphysisches Szenario einordnen. Ein solches ist bei Goethe allenfalls in verschwommenen Umrissen zu erkennen. Die Götter mögen schweigen, in die Existenz Iphigenies greifen sie trotzdem in substantieller Weise ein.33 Schiller hat „Iphigenie auf Tauris“ als „erstaunlich modern und ungriechisch“34 charakterisiert – und damit mehr gesehen als mancher moderne Interpret. Seine Analyse „ohne Furien ist kein Orest“,35 die er Goethe unterbreitet, während er dessen Stück theatergerecht umzugestalten versucht, trifft den Modernisierungsansatz Goethes. Allerdings ist Schiller vor allem an den dramaturgischen Problemen, die daraus erwachsen, interessiert: „[J]etzt da die Ursache seines Zustands nicht in die Sinne fällt, da sie bloß im Gemüt ist, so ist sein Zustand eine zu lange und zu einförmige Qual, ohne Gegenstand; hier ist eine von den Grenzen des alten und neuen Trauerspiels.“36 Inhaltlich ist die dramaturgische Schwäche aber eine Stärke, und es ist, wie Hegel deutlich gemacht hat, eine große Leistung Goethes, den mythischen Konflikt zu verinnerlichen, das –––––––––––– 32 33
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Goethe: Dichtung und Wahrheit. MA 16. S. 682. In diese Richtung deutet auch Wolfgang Wittkowski: Trotz aller Versuche Iphigenies, sich von der Unterwerfung unter die Götter zu befreien, bleibt demnach die Autorität der Götter bestehen, selbst wenn Iphigenie deren Absichten beständig verkennt (vgl. W. W.: Goethe und Kleist: Autonome Humanität und religiöse Autorität zwischen Unbewußtsein und Bewußtsein in „Iphigenie“, „Amphitryon“, „Penthesilea“. In: Ders. (Hrsg.): Goethe im Kontext. Kunst und Humanität, Naturwissenschaft und Politik von der Aufklärung bis zur Restauration. Ein Symposium. Tübingen 1984. S. 205–222, hier: S. 205 u. 209). Diese Interpretation ist jedoch nicht die angekündigte Alternative zu Rasch, der den Einfluss der Götter ja trotz der Betonung des Autonomiegedankens gar nicht bestreitet, vielmehr neigt Wittkowski dazu, den Einfluss der bösen Götter auf das Schicksal der Protagonisten zu überschätzen. So interpretiert er das Zurückbleiben der Furien, als Orest den Tempelbezirk betritt, als Beweis für deren Existenz: „Als Orest den Tempelbezirk betritt, bleiben die Furien zurück (Pylades sieht sie an der Grenze des heiligen Bezirks lauern: Sie sind wirklich!)“ (ebd. S. 220). Schiller an Körner. Brief vom 21. Januar 1802. NA 31. S. 89–90. Schiller an Goethe. Brief vom 22. Januar 1802. MA 8, 1. S. 878. Ebd. S. 878. Goethe übernimmt die Tendenz zur Psychologisierung vor allem von Racine, der in seiner „Iphigénie“ die tragischen familiären Bindungen der Figuren hervorhebt und die fatale Verstrickung von göttlichem Willen und menschlichem Handeln mit bitteren Versen darstellt. So bereitet bei Racine Agamemnon den Hochzeitsaltar vor, während er das Opfer Iphigenies plant, und die Dienerin Eurybate kommentiert die angekündigte Rückkehr der Tochter mit dem Satz „Jamais père ne fut plus heureux que vous l'êtes“ (Racine, Jean: Iphigénie. V. 358. In: Œuvres de J. Racine. Hrsg. v. Paul Mesnard. Paris 1885. S. 168). Vgl. zur Interpretation von Racines „Iphigénie“ Jauß, Hans Robert: Racines und Goethes Iphigenie. Mit einem Nachwort über die Partialität der rezeptionsästhetischen Methode. In: Warning, Rainer (Hrsg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München 1975. S. 353– 400, hier: S. 368–371.
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Drama von der Interpretations- und Überredungskunst der Protagonisten abhängig zu machen und aus dem Bannkreis eines göttlichen Ratschlusses zu lösen: „Was bei Euripides der Befehl Athenes zuwege bringt, die Umkehrung des Thoas, sucht Goethes Iphigenie durch tiefe Empfindungen und Vorstellungen, welche sie ihm entgegenhält, zu bewirken und bewirkt sie in der Tat.“37 Auch Schiller muss daher bei seiner Bearbeitung einsehen, wie eng die Grenzen für eine Umgestaltung sind, dass man etwa die Orest-Passagen, die von der Seelenqual des Tantalidenprozess berichten, zwar kürzen, aber kaum entpsychologisieren kann, ohne die gesamte Anlage des Dramas zu zerstören.38 Im klassischen Drama ist die Rede ein Medium, um Figuren zu charakterisieren, besonders die antagonistische Rede, die Auseinandersetzung zwischen den Protagonisten, dient dazu, diesen Profil zu geben.39 Daher ist es auf den ersten Blick nicht erstaunlich, dass Rede und Gegenrede, Debatten zwischen den Figuren in Goethes „Iphigenie“ über die Handlung dominieren, aber hier spielt Rhetorik noch in einem grundlegenderen Sinne eine Rolle, wie schon bei der Beschreibung religiöser Erfahrung zu erahnen ist. Schon im klassischen Drama treibt die Sprache die Handlung voran, in Goethes „Iphigenie“ jedoch kommt hinzu, dass die Figuren beständig über die Bedeutung von Sprache reflektieren. „Iphigenie“ ist, wie Irmgard W. Hobson formulierte, „a drama of language“,40 welches das „unerwartet ungeheure Wort“41 und seine potentiellen Folgen zum Thema hat. Goethes „Iphigenie“ lässt sich als ein Traktat über Rhetorik und insbesondere über den Relativismus lesen, steht daher für Goethes Interesse an der rhetorischen Erkenntnistheorie: Immer wieder setzen sich die um Autonomie, Freiheit, Genesung ringenden Protagonisten mit der Wirkung von Rede auseinander, nicht nur religiöse Erfahrungen, auch inneres Erleben und psychologische Erfahrungen hängen an diskursiven Strukturen, sind das Ergebnis rhetorischer Akte. –––––––––––– 37 38 39 40
41
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik I. In: Ders.: Werke in zwanzig Bänden. Bd. 13. Frankfurt am Main 1970. S. 297. Vgl. Schiller an Goethe. Brief vom 22. Januar 1802. MA 8, 1. S. 877–878. Vgl. Schößler, Franziska: Die Diffusion des Agonalen. Zum Drama der 1990er Jahre. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 25 (2006) S. 98–106, hier: S. 98. Hobson, Irmgard W.: Goethe’s „Iphigenie“. A Lacanian reading. In: Goethe Yearbook 2 (1984) S. 51–67, hier: S. 51. Zwei Themen kennzeichnen nach Hobsons treffender Interpretation Goethes „Iphigenie“: „The issue of true speech“ und „the exegesis of the divine“. Gleichwohl scheint sie mit der Vorlage von Euripides nicht allzu vertraut, wenn sie dies als „decisive changes […] to Euripides’ model“ bezeichnet, denn entsprechende Ansätze sind auch bei Euripides zu finden, bei dem etwa die Opferung Iphigenies auf ein unsicheres Wort des Sehers Kalchas zurückgeht (vgl. Euripides: Iphigenie im Taurerlande. V. 16. In: Ders.: Sämtliche Tragödien und Fragmente. Griechisch-deutsch. Hrsg. v. Gustav Adolf Seeck. Übersetzt von Ernst Buschor. Bd. 4. Darmstadt 1972. S. 8–9). Goethe: Iphigenie auf Tauris. II, 2. V. 885. MA 3, 1. S. 184.
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8. 2.
Im Bann der Worte. „Iphigenie auf Tauris“ als rhetorische Typologie
Gelegentlich hat man die Bedeutung der Rhetorik in der „Iphigenie“ inzwischen angerissen und zum Beispiel das rhetorische Geschick des Pylades thematisiert. 42 Doch nicht nur Pylades, auch andere Figuren des Stücks stehen für klar identifizierbare rhetorische Positionen, die Goethe gegeneinander stellt und zu einer rhetorischen Typologie entfaltet. Am ausführlichsten hat bisher Dieter Borchmeyer das Thema Rhetorik in der „Iphigenie“ adressiert, der in Goethes Drama die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Formen des Verstehens ausgemacht hat und den Text als einen Beitrag zur Diskussion hermeneutischer Fragen interpretiert.43 Demnach legt Pylades Texte rhetorisch aus, d. h., er analysiert sie mit Rücksicht auf eigene Interessen, Iphigenie fragt nach dem Sinn der Worte, und Thoas nimmt, was ihm gesagt wird, stets wörtlich. Hermeneutik und Rhetorik sind bekanntlich zwei Seiten derselben Medaille, und so wie die Interpretation der dargestellten hermeneutischen Prozesse aufschlussreich ist, gilt dies auch von einer rhetorischen Interpretation, die das Sprachhandeln der Protagonisten analysiert. „Mit sanfter Überredung“44 triumphierte Iphigenie laut Arkas über den blutigen Opferbrauch der Taurer, sie wird als eine beredte Frau eingeführt. 45 Von Beginn an geht es in diesem Drama um Worte, um die Frage, was ein „gutes Wort“46 oder eines „Mannes Wort“47 zählt, welche Konsequenzen dem „falsche[n] Wort“48 folgen. Die Rede vom guten, wahren oder auch falschen Wort ist ein Leitmotiv des Textes. Während Iphigenie zu verstehen versucht, welche Motive hinter den Handlungen anderer Menschen liegen und welche Motive die Götter bewegen, ist Thoas eher mit der Logik von Befehl und Gehorsam ver–––––––––––– 42
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Vgl. Borchmeyer, Dieter: Iphigenie auf Tauris. In: Goethes Dramen. Hrsg. v. Walter Hinderer. Stuttgart 1999. S. 117–157, hier: S. 145; Deiters, Franz-Josef: Goethes „Iphigenie auf Tauris“ als Drama der Grenzüberschreitung oder: Die Aneignung des Mythos. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts. Neue Folge (1999) S. 14–51, hier: S. 27; Kershner, Sybille: „Mein Schicksal ist an deines fest gebunden“. Rettung, Heilung und Entsühnung in Goethes „Iphigenie“. In: Goethe-Jahrbuch 111 (1994) S. 23–34. hier: S. 29. Vgl. Borchmeyer, Dieter: Iphigenie auf Tauris. In: Goethes Dramen. Hrsg. v. Walter Hinderer. Stuttgart 1999. S. 117–157, hier: S. 145–146. Auch Gonsalv K. Mainberger hat auf das rhetorische Potential des Dramas verwiesen, erschließt den Text aber nur in aller Kürze, seine Ausführungen wurden zudem im germanistischen Kontext kaum wahrgenommen (vgl. G. K. M.: Rhetorica. Bd. 1: Reden mit Vernunft. Aristoteles, Cicero, Augustinus. Stuttgart-Bad Cannstatt 1987. S. 102–104). Goethe: Iphigenie auf Tauris. I, 2. V. 125. MA 3, 1. S. 164. Diese Formulierung findet sich auch schon in der Prosafassung, vgl. ders.: Iphigenie in Tauris. I, 2. MA 2, 1. S. 249. Vgl. Goethe: Iphigenie auf Tauris. I, 2. V. 213–214. MA 3, 1. S. 167. Ebd. V. 217. S. 167. Ebd. V. 150. S. 165. Ebd. IV, 1. V. 1420. S. 199.
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traut; er artikuliert kurze präzise Anweisungen („Fahre fort zu reden!“ 49, „Tu deine Pflicht“50) und sieht im Wort vor allem eine Möglichkeit, Beständigkeit und Sicherheit im Staatswesen zu etablieren. Pylades hingegen benutzt allerlei rhetorische Tricks, agiert strategisch außerordentlich geschickt, etwa wenn er Iphigenie von seinen Fluchtplänen zu überzeugen versucht oder sich bemüht, dem Freund Orest zu helfen. Immer wieder ist es also die Kraft der Rede, sind es unterschiedliche Formen von Rhetorik, die die Entwicklung der Handlung vorantreiben: Das Stück, dessen Verwicklungen sich durch das Erzählen und somit Rekonstruieren des Vergangenen, durch das sprachliche Erfassen und Verändern des gegenwärtigen Moments gleichermaßen bilden und lösen, weist der Sprache eine entscheidende Rolle zu, indem durch sie psychische Prozesse sowohl ausgelöst als auch fixiert werden. 51
Menschliche Rede ist in Goethes „Iphigenie“ im Sinne Blumenbergs ein Mittel, sich dem Zwang des Faktischen zu entziehen. Sie stellt zwar diskursive Zwänge her – ideologischer, aber auch psychischer Art – eröffnet zugleich aber auch die Möglichkeit, Zwänge zu durchbrechen. Die Heilung Orests ist eine Heilung durch Rede, der politische Konsens über das weitere Schicksal von Iphigenie und Orest eine auf diskursivem Wege erzielte rationale Lösung eines Konflikts.
8. 2. 1. Beredte Humanität. Iphigenie als Rednerin Iphigenie, die „[m]it sanfter Überredung“52 ihre Ziele erreicht, ist in der griechischen Mythologie ein Mitglied des Tantaliden-Geschlechts. Bereits Tantalus war als Berater der Götter ein Mann des Worts, „[d]en Jupiter zu Rat und Tafel zog“.53 Sie hat die Kraft der Rede also ererbt, zunächst verlässt sie sich vor allem auf ihre persönlichen Überzeugungen („Ich untersuche nicht, ich fühle nur.“54), spricht natürlich, ohne Kunstfertigkeit, oder: wie Goethe in der Prosafassung formuliert: „Es sind nicht Worte, leer und künstlich scheinend zusammengesetzt. Ich habe nichts gesagt, als was mein Geist mich hieß.“ 55 Sie reklamiert für sich also nicht rhetorische Kunstfertigkeit, sondern eine anthropologisch fundierte Rhetorik, die sich auf innere Überzeugungen und Empfindungen bezieht. In der –––––––––––– 49 50 51 52 53 54 55
Ebd. I, 3. V. 349. S. 170. Ebd. V. 531. S. 175. Kershner, Sybille: „Mein Schicksal ist an deines fest gebunden“. Rettung, Heilung und Entsühnung in Goethes „Iphigenie“. In: Goethe-Jahrbuch 111 (1994) S. 23–34, hier: S. 26. Goethe: Iphigenie auf Tauris. I, 2. V. 125. MA 3, 1. S. 164. Diese Formulierung findet sich auch schon in der Prosafassung, vgl. ders.: Iphigenie in Tauris. I, 2. MA 2, 1. S. 249. Goethe: Iphigenie auf Tauris. I, 3. V. 311. MA 3, 1. S. 169. Vgl. dazu auch die Prosafassung, ders.: Iphigenie in Tauris, I, 3. MA 2, 1. S. 253. Goethe: Iphigenie auf Tauris, IV, 4. V. 1650. MA 3, 1. S. 205. Goethe: Iphigenie in Tauris. I, 3. MA 2, 1. S. 255.
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Versfassung zitiert Goethe die Herz-Metaphorik56 der pectus-Formel („Nicht Worte sind es, die nur blenden sollen; / Ich habe dir mein tiefstes Herz entdeckt.“57). Auch die Wirkung von rhetorischen Akten stellt Iphigenie sich in dieser Weise vor: sie fühlt von Arkas’ Rede „das Herz im Busen / Auf einmal umgewendet“,58 Pylades Fluchtplan begegnet sie mit dem Einwand „Allein mein eigen Herz ist nicht befriedigt“,59 Thoas bedrängt sie mit dem Satz: „Wenn dir das Herz zum grausamen Entschluß / Verhärtet ist: so solltest du nicht kommen!“60 und verlangt: „Bedenke nicht; gewähre wie du’s fühlst.“61 Was auf den ersten Blick in der Prosa- wie in der Versfassung als ein antirhetorisches Programm erscheint, führt die von Goethe seit den „Ephemerides“ vollzogene Auseinandersetzung mit anthropologischen Paradigmen der Rhetorik fort. Goethe selbst hat gegenüber Eckermann den Zusammenhang zwischen Herz und Rede mit Blick auf „Iphigenie“ programmatisch formuliert: Wir wollen von der Meerluft frisch angewehte, kraftvolle Griechen und Helden sehen, die, von mannigfaltigen Übeln und Gefahren geängstigt und bedrängt, stark herausreden, was ihnen das Herz im Busen gebietet.62
Wenn Iphigenie „zur Stimme des Herzens als dem eigentlichen Maß ihrer Subjektivität“63 findet, wie Franz-Josef Deiters analysiert hat, dann stellt Goethe sie im Kontext der rhetorischen Tradition dar und in Analogie zu seiner eigenen Biographie, in der während der Geniephase das Verhältnis von Subjektivität und Rhetorik ein zentrales Thema war. Iphigenie bleibt aber nicht bei einer naiven ‚Natur-Rhetorik‘ stehen, ihr ist zum Beispiel die Verselbständigung eines Gedankens, sobald er den Adressaten erreicht, bewusst, und sie weigert sich, so gesehen, aus rhetorischen Gründen ihre Identität preiszugeben.64 Sie ist rhetorisch reflektiert, analysiert die Unterschiede zwischen männlicher Machtausübung und weiblicher Beredsamkeit und weiß, für eine Priesterin ohne weltliche Macht ist die Rede die wirkungsvollste Möglichkeit, dem König zu begegnen: –––––––––––– 56
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Der Begriff fällt auch bei Sybille Kershner, die als eine der wenigen Interpreten die rhetorischen Eigenheiten des Dramas thematisiert, ohne allerdings diese Herz-Metaphorik rhetorikgeschichtlich einzuordnen (vgl. S. K.: „Mein Schicksal ist an deines fest gebunden“. Rettung, Heilung und Entsühnung in Goethes „Iphigenie“. In: Goethe-Jahrbuch 111 (1994) S. 23–34, hier: S. 29). Goethe: Iphigenie auf Tauris. I, 3. V. 452–453. MA 3, 1. S. 173. Ebd. IV, 3. V. 1504–1505. S. 201. Ebd. IV, 4. V. 1648. S. 205. Ebd. V, 3. V. 1810–1811. S. 210. Ebd. V. 1992. S. 215. Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. 1. April 1827. MA 19. S. 550. Deiters, Franz-Josef: Goethes „Iphigenie auf Tauris“ als Drama der Grenzüberschreitung oder: Die Aneignung des Mythos. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts. Neue Folge (1999) S. 14–51, hier: S. 40. Vgl. Goethe: Iphigenie auf Tauris. I, 3. V. 300–303. MA 3, 1. S. 169.
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Das Los der Waffen wechselt hin und her: Kein kluger Streiter hält den Feind gering. Auch ohne Hülfe gegen Trutz und Härte Hat die Natur den Schwachen nicht gelassen. Sie gab zur List ihm Freude, lehrt’ ihn Künste; Bald weicht er aus, verspätet und umgeht. Ja der Gewaltige verdient, daß man sie übt.65
Iphigenie verhält sich bisweilen durchaus strategisch, die List gehört ebenso wie das strategische Argument zu ihrem Repertoire: Sie besitzt die „Stimme / Der Wahrheit“,66 kann „versagen“67 oder „Urteil“68 sprechen, rhetorisch geschickt argumentieren. Iphigenie als Rhetor? Die Differenz zum Iphigenie-Bild der Germanistik des 19. Jahrhunderts, als man ihre Hoheit und Milde pries, fasziniert war von den „Wirkungen reiner Weiblichkeit“69 (Immermann) und Iphigenie als „Heilige“ 70 (Fischer) inszenierte, ist groß. Zwar gehören Moralität und Mildtätigkeit seit jeher zur Iphigenie-Figur, so lässt schon Guimond de la Touche Iphigenie für die Abschaffung des Opferkults eintreten und gibt ihr einen humanen Anstrich,71 und schon bei Euripides kritisiert sie, wenn auch nur in Form einer reticentia, den Opferkult der Taurer: „Doch nur der Name dieses Opferfests ist fromm, / Sein Brauch ist – still! ich trage vor der Gottheit Scheu.“72 Aber dies ist nur ein Charakterzug Iphigenies. Seit Euripides gehört auch Beredsamkeit zu ihren Eigenschaften, sowohl bei Goethe als auch bei seinen Vorgängern ist ihr die Kunst der –––––––––––– 65 66 67 68 69
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Ebd. V, 3. V. 1866–1872. S. 212. Ebd. V. 1937–1938. S. 214. Ebd. I, 3. V. 450. S. 173. Ebd. V, 3. V. 1875. S. 212. Immermann, Karl: Dramen und Dramaturgisches. Düsseldorf 1843. S. 90. Ähnlich äußert sich später Heinrich Laube, der vom „Hauch edler, geistiger Weiblichkeit“ spricht (vgl. H. L.: Das norddeutsche Theater. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 31. Leipzig 1909. S. 155). Joseph A. von Bradish bedient diesen Interpretationstopos sogar noch in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts (vgl. J. A. v. B.: Das Werden der „Iphigenie“ auf Goethes Dienstreisen im März 1779. In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 65 (1961) S. 100–110, hier: S. 102). Fischer, Kuno: Goethes Iphigenie. In: Goethe-Schriften. 1. Reihe. Bd. 1. 2. Auflage. Heidelberg 1890. S. 57. Vgl. Borchmeyer, Dieter: Iphigenie auf Tauris. In: Goethes Dramen. Hrsg. v. Walter Hinderer. Stuttgart 1999. S. 117–157, hier: S. 132–135. Prägend waren die französischen Dramatiker für Goethe zudem durch Abschaffung des Chors, Reduktion der Zahl der Akteure und Psychologisierung, wie Borchmeyer darlegt. Immer noch erhellend ist auch die ausführliche Quellenlektüre von Hans Morsch, der vor allem auch den Einfluss von Schlegels Drama „Geschwister auf Taurien“ thematisiert. Vgl. H. M.: Aus der Vorgeschichte von Goethes Iphigenie. In: Vierteljahrschrift für Literaturgeschichte 4 (1891) S. 80–115. Euripides: Iphigenie im Taurerlande. V. 35–36. In: Ders.: Sämtliche Tragödien und Fragmente. Griechisch-deutsch. Hrsg. v. Gustav Adolf Seeck. Übersetzt von Ernst Buschor. Bd. 4. Darmstadt 1972. S. 8–9.
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Verstellung nicht unbekannt.73 Insofern ist die Interpretation von Iphigenie als Rednerin in der Figur angelegt. Die Welt von Goethes Iphigenie ist durch und durch rhetorisch geprägt, verlangt mal den Einsatz des Herzens, mal die Kunst der Verstellung. Iphigenie ist eben nicht frei von „sophistischer Raffinesse“74, wie Werner Frick, für den die poetische Rede bei Goethe „zum kulturellen Modell“75 erhoben wird, irritiert bemerkt, weil er Goethes Drama immer noch als Musterstück der Humanität liest. Dabei sind es gerade ihre rhetorischen Fähigkeiten, die Iphigenie den Freiraum zu autonomem Handeln schaffen, den sie dann ebenfalls mit rhetorischem Nachdruck verteidigt. Thoas zu heiraten, um Orest zu retten, war – Rasch erinnert daran – für sie nie eine Option,76 ebenso wenig die Bitte um ein göttliches Wunder: „Ruf’ ich die Göttin um ein Wunder an?“77 Die Frage ist rhetorischer Natur, denn Iphigenie muss in ihrer „Seele Tiefen“78 die Kraft finden, den Konflikt zu lösen und diese Kraft rednerisch zur Wirkung bringen. Wolfgang Wittkowski irrt also, wenn er behauptet, dass „sich […] wenig ändert an der Geltung des Mythos und seiner Wertinhalte“,79 denn am Ende bleibt Iphigenie nur die Rückbesinnung auf ihr eigenes Selbst. Herz und Verstand sind der einzig verlässliche Erkenntnisgrund und die einzige Rettung.80 Nur durch sie lässt sich der –––––––––––– 73
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Auch die Iphigenie des Euripides agiert rhetorisch, plant den König durch Überredung zu hintergehen („Ich überred ihn“) und versucht, den Chor der Tempeldienerinnen zu täuschen (Orest: „O geh sie an mit deiner ganzen Redekunst, / Denn in der Rührung war die Frau stets Meisterin.“), vgl. Euripides: Iphigenie im Taurerlande. V. 1049 bzw. 1053–1057. In: Ders.: Sämtliche Tragödien und Fragmente. Griechisch-deutsch. Hrsg. v. Gustav Adolf Seeck. Übersetzt von Ernst Buschor. Bd. 4. Darmstadt 1972. S. 76–77. Frick, Werner: „Ich habe nichts als Worte“. Von den Reden der Macht und der Macht der Rede bei Euripides und Goethe. In: Gutjahr, Ortrud (Hrsg.): Iphigenie von Euripides – Goethe. Krieg und Trauma in Nicolas Stemanns Doppelinszenierung am Thalia Theater Hamburg. Würzburg 2008, S. 129–150, hier: S. 138. Ebd. S. 139. Vgl. Rasch, Wolfdietrich: Goethes „Iphigenie auf Tauris“ als Drama der Autonomie. München 1979. S. 138. Goethe: Iphigenie auf Tauris. V, 3. V. 1884. MA 3, 1. S. 212. Ebd. V. 1885. Wittkowski, Wolfgang: Goethe und Kleist: Autonome Humanität und religiöse Autorität zwischen Unbewußtsein und Bewußtsein in „Iphigenie“, „Amphitryon“, „Penthesilea“. In: Ders. (Hrsg.): Goethe im Kontext. Kunst und Humanität, Naturwissenschaft und Politik von der Aufklärung bis zur Restauration. Ein Symposium. Tübingen 1984. S. 205–222, hier: S. 205. Bernhard Greiner hat die Heilung Orests der magischen Wirkung von Weiblichkeit zugeschrieben, die Goethe nur durch die Rede von der „reinen Seele“, der „sanften Überredung“ und dem „wahren Wort“ überdeckt habe (vgl. B. G.: Eine Art Wahnsinn. Dichtung im Horizont Kants. Studien zu Goethe und Kleist. Berlin 1994. S. 21–22). Einschlägig für die Interpretation ist Orests Bemerkung „Du Heilige […]. Von dir berührt / War ich geheilt; in deinen Armen faßte / Das Übel mich mit allen seinen Klauen / Zum letztenmal, und schüttelte das Mark / Entsetzlich mir zusammen; dann entfloh’s / Wie eine Schlange zu der Höhle.“ (Goethe: Iphigenie auf Tauris. V, 6. V. 2119–2124. MA 3, 1. S. 219). Dem ist entgegenzu-
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Fluch der Tantaliden besiegen: „Laß mich mit reinem Herzen, reiner Hand, / Hinübergehen und unser Haus entsühnen.“81 Goethe stellt Iphigenie in eine rhetorische Welt, in der Religion, aber auch psychisches Befinden und politische Zustände nicht länger als gegebene Wahrheiten gelten, sondern das Ergebnis sprachlicher Plausibilisierungen sind. Als autonomes Individuum sieht Iphigenie sich eben nicht unveränderlichen Strukturen gegenüber, sondern findet sich in einer Situation, in der rhetorische Überzeugungsleistung dominiert.
8. 2. 2. Machtrhetorik und diskursive Verständigung. Thoas im Wandel In der Typologie der Redner steht Thoas für einen Herrscher, der vor allem der Wirkung des Befehls vertraut. Er steht für eine Herrschaftsweise, die Peter Ptassek et al. als vorpolitisch bezeichnet haben,82 jedenfalls charakterisiert ihn Arkas so: Der Scythe setzt ins Reden keinen Vorzug, Am wenigsten der König. Er, der nur Gewohnt ist zu befehlen und zu tun, Kennt nicht die Kunst, von weitem ein Gespräch Nach seiner Absicht langsam fein zu lenken.83
Da er über Iphigenie jedoch keine Macht erlangen kann, experimentiert er im Umgang mit ihr mit der „Überredung goldne[r] Zunge“84, etwa wenn er sie dazu bringen will, ihre Identität zu offenbaren, oder ihr ein Eheversprechen abzuringen versucht. Thoas ist alles andere als ein wilder Barbar und sich durchaus bewusst, wo die Grenzen seines Herrschaftsprinzips liegen. Was die Praxis des Menschenopfers angeht, regiert er zunächst zwar willkürlich wie die olympischen Götter,85 aber Iphigenie versucht er zu überzeugen, umwirbt sie mit Worten. Dabei baut er erstaunlicherweise vor allem auf rationale Argumente und hält andere Überzeugungsmittel für typisch weiblich, so dass er Iphigenies Zögern und Widerwillen als irrational kritisiert:86 ––––––––––––
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halten, dass die Macht der Berührung keine metaphysische Wirkung von Weiblichkeit sein muss, denn Goethe stellt deutlich den Anteil verbaler und nonverbaler Kommunikation an der Heilung dar, auch Orests eigenes Zutun. Egal ob man den Anteil Iphigenies und Pylades’ oder Orests eigenen Beitrag zu seiner Genesung in den Mittelpunkt rückt, immer verdankt sie sich doch sprachlich-rhetorischen Mitteln (vgl. Abschnitt 8. 3 dieser Arbeit). Goethe: Iphigenie auf Tauris. V, 3. V. 1968–1969. MA 3, 1. S. 215. Vgl. Ptassek, Peter, Birgit Sandkaulen-Bock u.a.: Macht und Meinung. Die rhetorische Konstitution der politischen Welt. Göttingen 1992. S. 157. Goethe: Iphigenie auf Tauris. I, 2. V. 164–168. MA 3, 1. S. 165–166. Ebd. I, 3. V. 474. S. 173. Vgl. Rasch, Wolfdietrich: Goethes „Iphigenie auf Tauris“ als Drama der Autonomie. München 1979. S. 153. Vgl. Goethe: Iphigenie auf Tauris. I, 3. V. 463–467. MA 3, 1. S. 173.
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Aufs Ungehoffte war ich nicht bereitet; Doch sollt’ ich’s auch erwarten: wußt’ ich nicht, Daß ich mit einem Weibe handeln ging?87
Auf den logos fixiert, sieht Thoas sich durch Iphigenie und ihre Redekunst betrogen, die vor allem auf das ethos als Überzeugungsmittel gesetzt hat, um ihn zur Aussetzung der Menschenopfer zu bewegen. Wobei er später erkennen muss, dass er Iphigenies Beredsamkeit unterschätzt hat, die eben durchaus auch strategisch ist, „Schmeichelei“ ebenso wie „List und Trug“ umfasst.88 Im vierten und fünften Auftritt des letzten Aufzugs dann kommt Thoas zu einem veränderten Herrschaftsmodell, das neue Formen der Kommunikation bedingt. Zunächst ist er emotional verwirrt, aber auch erfreut, als Iphigenie ihm ihre Identität verrät und ihr eigenes Schicksal und das ihres Bruders in seine Hände gibt: Du glaubst, es höre Der rohe Scythe, der Barbar, die Stimme Der Wahrheit und der Menschlichkeit, die Atreus, Der Grieche, nicht vernahm?89
Eine Alternative zur Gewalt sehen Thoas und auch Orest zunächst jedoch nicht: Orest will durch das Schwert Agamemnons seine Identität beweisen, und auch Thoas will sein Heil im Kampf suchen.90 Doch als Iphigenie den Verzicht auf Gewalt fordert („Dein blinkend Schwert verbietet mir die Antwort.“ 91), stimmt Thoas zu („Gebiete Stillstand meinem Volke! Keiner / Beschädige den Feind, so lang’ wir reden.“92) und eröffnet so die Möglichkeit zu einem freien Diskurs. Erst in Reaktion darauf bietet auch Orest Gewaltverzicht an: „So sprich! du siehst ich horche deinen Worten.“93 Erst der Handlungsverzicht erschließt die Lösung, er gibt Orest Zeit, den Orakelspruch der Götter neu zu deuten:94 „Jetzt kennen wir den Irrtum“.95 Das Orakel verlangt demnach nicht den Raub des Götterbildes, sondern verweist auf die Rückkehr Iphigenies in die Heimat. Hinzu kommt nun ein Versprechen, wel–––––––––––– 87 88 89 90 91 92 93 94
95
Ebd. V. 478–480. S. 174. Ebd. V, 2. V. 1800 u. 1802. S. 210. Ebd. V, 3. V. 1936–1939. S. 214. Vgl. ebd. V, 6. V. 2035–2063. S. 217. Ebd. V, 4. V. 2010. S. 216. Ebd. V, 5. V. 2022–2023. S. 217. Ebd. V, 4. V. 2011. S. 216. Die Doppeldeutigkeit des Orakels ist eine Neuerung Goethes, die sich bei Euripides noch nicht findet und die auch in Goethes erster Prosafassung noch nicht durch die Formulierung des Orakelspruchs gedeckt ist. Vgl. Brendel, Otto J.: Iphigenie auf Tauris – Euripides und Goethe. In: Antike und Abendland 27 (1981) S. 52–97, hier: S. 69–70; Rasch, Wolfdietrich: Goethes „Iphigenie auf Tauris“ als Drama der Autonomie. München 1979. S. 178–179. Goethe: Iphigenie auf Tauris. V, 6. V. 2108. MA 3, 1. S. 219.
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ches Thoas zuvor zweimal gegeben hatte („ich halte Wort“96, „So bleibe denn mein Wort“97), nämlich dass er Iphigenie bei sich bietender Gelegenheit die Rückkehr in ihre Heimat erlauben würde. Iphigenie erinnert ihn daran: Denk’ an dein Wort, und laß durch diese Rede Aus einem g’raden treuen Munde dich Bewegen!98
Das Versprechen als eine Form des guten Wortes ist der letzte Baustein für die Lösung des rhetorischen Dramas „Iphigenie auf Tauris“, das somit in einer durch und durch rhetorischen Situation endet: Das Drama mündet in eine moralische Utopie, idealisiert aber die Sprache nicht, weil die Gespräche im Stück eben ihre Unbestimmtheit und Unsicherheit thematisieren. Die Sprache als amoralisches Instrument läßt sich allen Zwecken dienstbar machen.99
Erst wenn sich alle Verhandlungspartner auf eine diskursive Lösung einlassen, ist diese auch erreichbar.100 Thoas aber verpflichtet sich auf die Stimme der „Wahrheit und Menschlichkeit“,101 daher ist es verblüffend, dass Emrich hier eine „Sprengung des rationalen Denkzwangs“ 102 sieht, denn Iphigenie appelliert doch ganz klar an die rationale Einsicht des Thoas, und der Schluss wirkt beinah wie ein aufklärerisches Genrebild.103 Mit Martin Walser könnte man sagen: Thoas steht am Ende des Dramas als „Weimaraner“ 104 da, als ein aufgeklärter –––––––––––– 96 97 98 99 100
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104
Ebd. I, 3. V. 299. S. 169. Ebd. V. 504. S. 174. Ebd. V, 6. V. 2146–2148. S. 220. Neubauer, John: Sprache und Distanz in Goethes „Iphigenie“. In: Wittkowski, Wolfgang (Hrsg.): Verlorene Klassik. Ein Symposium. Tübingen 1986. S. 27–39, hier: S. 32. Erika Fischer-Lichte erinnert in diesem Zusammenhang an die ideale Sprechsituation des herrschaftsfreien Diskurses nach Habermas. Vgl. E. F.-L.: Goethes „Iphigenie“ – Reflexion auf die Grundwidersprüche der bürgerlichen Gesellschaft. In: Diskussion Deutsch 21 (1975) S. 1–37, hier: S. 21. Vgl. Kimpel, Dieter: Ethos und Nomos als poetologische Kategorien bei Platon-Artistoteles und das Problem der substantiellen Sittlichkeit in Goethes „Iphigenie auf Tauris“. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 33 (1984) S. 367–393, hier: S. 382–383. Emrich, Wilhelm: Goethes Tragödie des Genius. Von „Götz“ bis zur „Natürlichen Tochter“. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 26 (1982) S. 144–162, hier: S. 151. Das Bekenntnis zur Aufklärung ist so stark, dass tragische Elemente des Stoffes zugunsten einer Vernunftutopie unterdrückt werden (vgl. Mayer, Hans: Das unglückliche Bewußtsein. Zur deutschen Literaturgeschichte von Lessing bis Heine. Frankfurt am Main 1986. S. 248– 249). Für Mayer ist im Bekenntnis zur Aufklärung auch die Vermeidung des Tragischen angelegt, das durch den vom allseitigen Vernunftappell gezeichneten Schluss unterdrückt wird. Auf die Aussparung tragischer Momente wie Iphigenies Groll auf den Vater oder Trauer über den Tod der Mutter hatte schon Lieselotte Blumenthal hingewiesen (vgl. L. B.: Iphigenie von der Antike bis zur Moderne. In: Holtzhauer, Helmut (Hrsg.): Natur und Idee. Weimar 1966. S. 9–40, hier: S. 27). Walser, Martin: Imitation oder Realismus. In: Ders.: Erfahrungen und Leseerfahrungen. 3. Auflage. Frankfurt am Main 1969. S. 66–93, hier: S. 77.
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Herrscher, der sich moralischen Verhaltensgrundsätzen, etwa der Gültigkeit eines Versprechens, verpflichtet fühlt und bereit ist, Fragen diskursiv zu klären. Gerade die Politik ist also ein rhetorisches Feld; die Gesetze, die auf Tauris gelten, sind eben nicht göttlichen Ursprungs, sondern Ideologien, denen Sprachspiele Plausibilität geben. Wenn man aber einmal akzeptiert, dass der Staat und die Macht des Herrschers nur innerhalb einer entsprechenden Ideologie Legitimität erreichen, dann ist auch einsichtig, dass durch freie Reden, in denen die Grundsätze des Staates und der Politik offen debattiert werden, politische Entscheidungen eine rationale Grundlage finden.105
8. 2. 3. Macht und Grenze der Rhetorik. Pylades als neuer Odysseus Mit Pylades ergänzt Goethe ähnlich wie mit der Figur Arkas das Repertoire rhetorischer Muster, die der Iphigenie-Stoff bereithält. Während Pylades in Sophokles’ „Elektra“ eher die Rolle eines Schweigenden hat und auch bei Euripides im Hintergrund bleibt, ist Goethes Pylades wie Arkas ein homo politicus, aber listiger als dieser und weniger auf Ausgleich bedacht. Borchmeyer hat Pylades daher treffend als „Apologet der Dissimulatio, der Verstellung“ und mithin als „Rhetor“ beschrieben.106 Goethe zeigt den listigen Pylades nicht ohne eine gewisse Sympathie, denn er setzt sich konsequent für seine Freunde ein. Insofern ist die These von Borchmeyer und auch Deiters, nach der sich hier die negative Haltung Goethes gegenüber der Rhetorik zeigt, problematisch, zumal Pylades ja nur für eine Spielart von Rhetorik steht.107 Auch kann man Pylades nicht die „Auflösung –––––––––––– 105
106 107
Vgl. Kramer, Olaf: Konflikt statt Konsens? Die Debatte als Medium politischer Kommunikation und das universalpragmatische Ideal der rationalen Verständigung. In: Ders. (Hrsg.): Rhetorik der Debatte. Tübingen 2006 (= Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 25). S. 68–82. Vgl. Borchmeyer, Dieter: Iphigenie auf Tauris. In: Goethes Dramen. Hrsg. v. Walter Hinderer. Stuttgart 1999. S. 117–157, hier: S. 145. Vgl. ebd. S. 145–146. Außerdem Deiters, Franz-Josef: Goethes „Iphigenie auf Tauris“ als Drama der Grenzüberschreitung oder: Die Aneignung des Mythos. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts. Neue Folge (1999) S. 14–51, hier: S. 26–28, besonders Fußnote 19. Beide Autoren zeichnen ein seit langem vertrautes, aber doch verzerrtes Bild von Goethes Verhältnis zur Rhetorik. Die Aussage, Rhetorik sei „Verstellung vom Anfang bis zu Ende“ (Goethe: Besserem Verständniss. MA 11, 1, 2. S. 193) aus den Erläuterungen zum „Divan“, auf die beide sich berufen, ist zunächst eine sachliche Beschreibung der Disziplin, die auf dem Verfahren der dissimulatio artis beruht. Goethes Ablehnung und Widerwillen, die in der Passage durchaus sind, richten sich gegen den Titel „Geschichte der schönen Redekünste Persiens“, den Joseph von Hammer-Purgstall einer literarischen Sammlung gab (vgl. Abschnitt 9. 3. 2 dieser Arbeit). Ähnlich sachlich ist Goethes Notiz aus den „Maximen und Reflexionen“ zu verstehen, die ebenfalls beide anführen. Goethe behauptet hier, dass es der Rhetorik gleich sei, ob sie „Wahres oder Falsches verteidige“ (Goethe: Maximen und Reflexionen. MA 17. S. 829), hebt damit auf das rhetorische Denken in utramque partem ab (vgl. Abschnitt 9. 1. 3 dieser Arbeit).
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jeglichen Bezuges der eigenen Subjektivität zu einer sie legitimierenden Intanz“108 vorwerfen, er ist in der Lage, seine Interessen zu identifizieren und durchzusetzen. Schließlich zeigt sein Vorwurf an Iphigenie, sie wolle „dem großen Übel zu entgehen / Ein falsches Wort nicht einmal opfern“,109 seine Loyalität gegenüber dem Freund.110 Klugheit und rhetorisches Geschick kennzeichnen alle Schritte, die Pylades zur Rettung von Orest unternimmt. So plant er die Begegnung mit Iphigenie sorgfältig („Ich darf nicht gleich / Ihr unsre Namen nennen, unser Schicksal / Nicht ohne Rückhalt ihr vertrau’n.“111), begrüßt sie mit geschickter captatio benevolentiae („O süße Stimme! Vielwillkommner Ton / Der Muttersprach’ in einem fremden Lande!“112) und stellt, indem er den heimatlichen Klang von Iphigenies Sprache lobt, auf rhetorisch versierte Art und Weise Verbundenheit und Vertrauen zwischen sich und der fremden Priesterin her. Iphigenie kann sich diesen Avancen kaum entziehen: Vernehm’ ich dich, so wendet sich, o Teurer, Wie sich die Blume nach der Sonne wendet, Die Seele, von dem Strahle deiner Worte Getroffen, sich dem süßen Troste nach. Wie köstlich ist des gegenwärt’gen Freundes Gewisse Rede, deren Himmelskraft Ein Einsamer entbehrt und still versinkt.113
Pylades ist ein Meister der geschickten Interpretation, versteht es, Parteiinteressen zu erkennen und zu vertreten. Als Orest das rhetorisch-strategische Vorge–––––––––––– 108
109 110
111 112 113
Deiters, Franz-Josef: Goethes „Iphigenie auf Tauris“ als Drama der Grenzüberschreitung oder: Die Aneignung des Mythos. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts. Neue Folge (1999) S. 14–51, hier: S. 26. Goethe: Iphigenie auf Tauris. IV, 4. V. 1675–1676. MA 3, 1. S. 206. So gar nicht taugt Pylades als Vertreter der „kirchlichen Orthodoxie“ (Rasch, Wolfdietrich: Goethes „Iphigenie auf Tauris“ als Drama der Autonomie. München 1979. S. 120. Vgl. außerdem ebd. S. 139–141). Rasch beruft sich auf die Zeilen: „Die besten Zeichen sendet uns Apoll, / Und, eh wir die Bedingung fromm erfüllen, / Erfüllt er göttlich sein Versprechen schon. / Orest ist frei, geheilt!“ (Goethe: Iphigenie auf Tauris. IV, 4. V. 1604–1607. MA 3, 1. S. 204). Laut Rasch schreibt Pylades die Heilung Orests Apoll zu und folgt so einer orthodoxen Religionsauffassung, nach der Buße ein Geschehen von Gott her ist. Aber hier wird der Kontext ignoriert: Pylades versucht schließlich, Iphigenie zu überzeugen, und als geschickter Redner wählt er dazu Argumente, von denen er glaubt, dass sie der Priesterin angemessen sind. Hingegen sind Pylades’ religiöse Überzeugungen wohl eher als deistisch zu bezeichnen: „Die Götter rächen / Der Väter Missetat nicht an dem Sohn […].“ (ebd. II, 1. V. 713–714. S. 180). Ähnlich hat auch Theodor W. Adorno Pylades gesehen, der Mythos und Götterwille zu trennen und gegeneinander auszuspielen wisse (vgl. T. W. A.: Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 11: Noten zur Literatur. Frankfurt am Main 1974. S. 495–514, hier: S. 511). Goethe: Iphigenie auf Tauris. II, 1. V. 794–796. MA 3, 1. S. 182. Ebd. II, 2. V. 803–804. S. 182. Ebd. IV, 1. V. 1619–1625. S. 205.
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hen von Pylades kritisiert: „Mit seltner Kunst flichst du der Götter Rat / Und deine Wünsche klug in eins zusammen.“,114 wendet der diesen Vorwurf ins Positive: „Was ist des Menschen Klugheit, wenn sie nicht / Auf Jener Willen droben achtend lauscht?“115 Pylades hält sich an die Realität, interpretiert und beeinflusst sie in seinem Sinne. Dass Orest das strategische Vorgehen von Pylades ausschließlich negativ bewertet, ist Zeichen seiner psychischen Krankheit: Wer es aufgegeben hat, seine eigenen Interessen zu vertreten, dem erscheint jeder Ansatz strategischen und egoistischen Verhaltens zweifelhaft. Gleichwohl liefert gerade Orest die passende Einordnung für den Redner Pylades, wenn er sagt: „Ich hör’ Ulyssen reden.“116 Eine Zuordnung, die Pylades selbst eher als Kompliment denn als Kritik betrachtet: Ein jeglicher muß seinen Helden wählen, Dem er die Wege zum Olymp hinauf Sich nacharbeitet. Laß es mich gestehn: Mir scheinet List und Klugheit nicht den Mann Zu schänden, der sich kühnen Taten weiht.117
Odysseus gilt seit Homer als Muster eines begnadeten und listenreichen Redners.118 Nachdem Cato der Ältere das Prinzip des vir bonus dicendi peritus formulierte, das Cicero und Quintilian in den Rang von rhetorischen Grundüberzeugungen erhoben haben, wird die auf List und Tücke beruhende Redekunst zwar vielfach abgelehnt, sie ist aber durchaus eine rhetorische Option, und auch Cicero und Quintilian sind – trotz ihres moralischen Programms – von der „Kraft“,119 ja dem „Wirbelsturm der Beredsamkeit“,120 die Odysseus entfaltet habe, begeistert. Iphigenies Bemerkung „Fast überred’st du mich zu deiner Meinung“121 steht somit für die herausragenden Fähigkeiten des neuen Odysseus, der ein Meister der Überredung ist, im positiven Sinne souveräner Beredsamkeit und im negativen Sinne, den diese Worte seit Platon auch haben können.122 Allerdings lässt das Ende des Dramas Zweifel an Pylades’ Vorgehen aufkommen, –––––––––––– 114 115 116 117 118
119 120 121 122
Ebd. II, 1. V. 740–741. S. 181. Ebd. V. 742–743. S. 181. Ebd. II, 1. V. 762. S. 181. Ebd. V. 763–767. S. 181. Vgl. Stanford, W[illiam] B.: The Ulysses Theme. A Study of the Adaptability of a Traditional Hero. 3. Auflage. Oxford 1968. S. 12–13 u. 71–73. Siehe darüber hinaus: Brommer, Frank: Odysseus. Die Taten und Leiden des Helden in antiker Kunst und Literatur. Darmstadt 1983. S. 2–3 sowie, die Sache aus einer rhetorischen Perspektive betrachtend, Robling, Franz-Hubert: Redner und Rhetorik. Studie zur Begriffs- und Ideengeschichte des Rednerideals. Hamburg 2007. S. 45–48. Cicero, Marcus Tullius: Brutus. Lateinisch u. deutsch. Hrsg. v. Bernhard Kytzler. 4. Auflage. München u. Zürich 1990. 10, 40. Quint. Inst. orat. XI, 3, 158. Goethe: Iphigenie auf Tauris. IV, 4. V. 1665. MA 3, 1. S. 206. Vgl. Platon: Gorgias 454e–455a.
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Goethe endet mit einem Appell für das frei und offen gesprochene wahre Wort, so dass Pylades mit seinem gezogenen Schwert reichlich isoliert wirkt und zum Schweigen verurteilt ist. Womit ein Problem, mit dem der listenreiche Redner häufig zu kämpfen hat, ins Bild gerückt wird: Sobald alle List entdeckt ist und ein offener Diskurs herrscht, tut sich der Listige schwer, auch nur noch irgendjemand zu überzeugen. Am Ende ist der politischen Strategie die offene Auseinandersetzung überlegen, in der sich in freiem Gespräch und agonaler Debatte rationale Entscheidungen durchsetzen.
8. 3.
„O höre mich! O sieh mich an“ – Rhetorik als Vehikel der Überredung und Selbstüberredung am Beispiel Orests
Im Wechsel von der Antike zur Moderne wandelt sich Orest, so Oskar Seidlin in einem wegweisenden Aufsatz, vom „Verfluchten“ zum „Kranken“.123 Bei Goethe bewegen Orest psychisches Leid und moralische Schuld, nicht länger der Fluch der Tantaliden, dieser bildet nur mehr den symbolträchtigen Hintergrund des Geschehens. Schon 1775 kann man die Umrisse eines neuen Orest erkennen, als Goethe in einem Beitrag für Lavaters „Physiognomische Fragmente“ den „Ausdruck selbstgelassener fester Wehmut“124 mit Orest assoziierte, also dessen Leid vor allem als innere Erfahrung betrachtete. Goethe hat die mythischen Verstrickungen psychologisch gedeutet, in seelisches Leid verwandelt. Zwar ist das nicht so neu, wie Seidlin nahe legt, denn schon bei Euripides finden sich Tendenzen, den Tantaliden-Mythos zu humanisieren. Aber indem Euripides den dramatischen Konflikt am Ende durch den Ratschluss der Götter löst, gibt er die psychologische Perspektive auf. Erst Goethe, der auf die Furien verzichtete, die Götter nicht mehr direkt in das Schicksal der Figuren eingreifen ließ, konnte das psychische Leid und die Heilung Orests psychologisch motivieren. Mit dieser Psychologisierung und einer entsprechend subjektiven Perspektive knüpft Goethe an den Autonomiegedanken und das relativistische Moment an, das er schon an Iphigenie selbst darstellt, und reflektiert die psychologischen Folgen dieser erkenntnistheoretischen Grundposition. Orest leidet aus einem Gefühl der Schuld und diese kann er nur bezwingen, indem er sich mit dieser Schuld auseinandersetzt, so quälend das auch sein mag. Der Höhepunkt von Orests psychologischer Krise ist daher zugleich der Moment der Heilung. Wenn er zusammenbricht, sich in einer Hadesvision verliert, ist dies der Ausgangspunkt für seine Genesung: –––––––––––– 123 124
Seidlin, Oskar: Goethes Iphigenie – „verteufelt human“? In: Wirkendes Wort 5 (1954/55) S. 272–280, hier: S. 273. Goethe: Über einige Umrisse aus Wests Pylades und Orest. MA 1, 2. S. 466.
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Du siehst mich mit Erbarmen an? Laß ab! Mit solchen Blicken suchte Klytemnestra Sich einen Weg nach ihres Sohnes Herzen; Doch sein geschwung’ner Arm traf ihre Brust. Die Mutter fiel!125
Solche Bilder verschärfen die psychische Lage noch, aber sie sind auch Auslöser für Orests Heilung. Man kann dies wie Herbert Lindenau im Sinne des Halleschen Pietismus als Zusammentreffen von Reue und Begnadigung beschreiben,126 auch eine psychoanalytische Deutung, die Heilung als Einsicht in die Ursachen der eigenen Krankheit versteht, ist plausibel. Im Kontext des Iphigenie-Dramas ist jedoch auch eine rhetorische Lesart der Erkrankung Orests möglich, die im Folgenden zu entwickeln ist. Angelika Kauffmann hat in einer Kohlezeichnung aus dem Jahr 1787 abgebildet, wie Iphigenie und Pylades, neben Orest stehend, auf diesen einreden (vgl. Abb. 5). Goethe selbst hat diese Darstellung gelobt und behauptet, Kauffmann habe die „Achse des Stücks“127 getroffen. Das Bild zeigt Orest in der Rolle des Zuhörers. Er ist der Zielpunkt der Überredungs- und Überzeugungsversuche von Iphigenie und Pylades, die sowohl auf die Wirkung des gesprochenen Wortes als auch auf nonverbale Signale setzen, um ihn von seinen Seelenqualen zu befreien. Iphigenies Aufforderung „ O höre mich! O sieh mich an“128 kennzeichnet die Rolle Orests, genauso ihr wenig später geäußertes „Orest, mein Teurer, kannst du nicht vernehmen?“129 Der Zeichnung von Kauffmann liegt aller Wahrscheinlichkeit nach der dritte Auftritt des dritten Aktes zugrunde, in dem „sich Orest in der Nähe der Schwester und des Freundes wiederfindet“,130 beide zu ihm sprechen, ihn berühren, um ihn aus seiner Hades-Vision zurück auf den Boden der Realität zu holen. Pylades als geschickter Rhetoriker versucht Orest mit verschiedenen signa (Hain, Licht, Berührung), zu beeindrucken: –––––––––––– 125 126
127 128 129 130
Goethe: Iphigenie auf Tauris. III, 1. V. 1239–1243. MA 3, 1. S. 194. Vgl. Lindenau, Herbert: Die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen von Goethes „Iphigenie“. Zur Geschichte der Säkularisierung christlicher Denkformen in der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 75 (1956) S. 113–153, hier: S. 117, 136–139. Goethe: Italienische Reise. 13. März 1787. MA 15. S. 252. Goethe: Iphigenie auf Tauris. III, 1. V. 1190. MA 3, 1. S. 193. Ebd. V. 1159. S. 192. Goethe: Italienische Reise. 13. März 1787. MA 15. S. 252. Vgl. auch Kershner, Sybille: „Mein Schicksal ist an deines fest gebunden“. Rettung, Heilung und Entsühnung in Goethes „Iphigenie“. In: Goethe-Jahrbuch 111 (1994) S. 23–34, hier: S. 29, Fußnote 18. Kershners Zuordnung der Zeichnung zum dritten Auftritt des dritten Aktes erscheint mir unzweifelhaft, die von Bettina Baumgärtel gelieferte Interpretation, nach der Kauffmann die Entscheidung zwischen Leben und Tod Iphigenies dargestellt hat, ist nicht mit dem Drama in Einklang zu bringen, da die von Baumgärtel entworfene Szene im Drama nicht existiert. Vgl. B. B.: Angelika Kauffmann (1741–1807). Bedingungen weiblicher Kreativität in der Malerei des 18. Jahrhunderts. Weinheim u. Basel 1990. S. 165.
292
Abb. 5: Angelika Kauffmann: Szene aus Goethes Iphigenie131
Erkennst du uns und diesen heil’gen Hain Und dieses Licht, das nicht den Toten leuchtet? Fühlst du den Arm des Freundes und der Schwester, Die dich noch fest, noch lebend halten? Faß’ Uns kräftig an; wir sind nicht leere Schatten. Merk auf mein Wort! Vernimm es! Raffe dich Zusammen!132
Indem Goethe der Rede Iphigenies und Orests eine positive Wirkung zuschreibt, erscheinen auch psychische Zustände als rhetorisch strukturierte und rhetorisch beeinflussbare Einstellungen, nicht als fest gefügte Dispositionen, somit macht Goethe den rhetorischen Relativismus zu einer inneren Erfahrung. Anders ausgedrückt: Orests Heilung ist ein innerer Prozess, der sich rhetorisch mit Blumenberg als Akt der Selbstüberredung beschreiben lässt. Indem Orest seine Schuld mit sprachlichen Mitteln rekonzeptualisiert, kann er seine psychische Krankheit –––––––––––– 131
132
Kauffmann, Angelica: Iphigenie auf Tauris („Seid ihr auch schon herabgekommen?“). Bleistift, Kreide, weiß gehöht, um 1787, 311 x 376 mm. Quelle: Klassik-Stiftung Weimar, Museen Inventar-Nr.: GHz/Sch.I.XVIII,9. Goethe: Iphigenie auf Tauris. III, 3. V. 1332–1338. MA 3, 1. S. 197.
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überwinden, selbst wenn die moralische Sühne des Mordes außer Reichweite liegt. Durch die Hades-Vision gewinnt Orest für sich selbst die Überzeugung, dass eine andere Wirklichkeit möglich ist, dass es eine friedliche Lösung für seine Familie geben kann: Dich, Atreus, ehr’ ich, auch dich Thyesten; Wir sind hier alle der Feindschaft los. – Zeigt mir den Vater, den ich nur Einmal Im Leben sah! – Bist du’s, mein Vater? Und führst die Mutter vertraut mit dir? Darf Klytemnestra die Hand dir reichen; So darf Orest auch zu ihr treten Und darf ihr sagen: sieh deinen Sohn!133
Erst während der Hades-Vision, die Orest in evidenter Weise eine alternative Wirklichkeit vor Augen stellt, akzeptiert er seine eigene Vergangenheit, bildet durch Prozesse der Selbstüberredung eine konsistente Familiengeschichte. Orest kann seine Schuld relativieren, indem er sich die Unentrinnbarkeit des Tantalidenfluchs in Erinnerung ruft, der den Mord zur „hergebrachte[n] Sitte“134 seines Stammes gemacht hat. Wichtiger aber noch als die Relativierung ist der Versuch, die eigene Schuld zu vergessen: „[R]eiche mir aus Lethes Fluten / Den letzten kühlen Becher der Erquickung!“,135 bittet er. Das Vergessen, dessen Bedeutung Rasch betont, vollendet den Prozess der Heilung, hilft psychische Qual und moralische Schuld zu bewältigen.136 Das Vergessen kann nämlich ein durchaus aktiver Prozess sein, der darin besteht, die Tat zu verkleinern, ihre Bedeutung zu schmälern und durch andere Gedächtnisinhalte zu überlagern.137 Dieser Zusammenhang lässt Rasch an der Idee zweifeln, Iphigenie habe Orest geheilt.138 Doch sollte man den Anteil Iphigenies an der Genesung nicht völlig in Abrede stellen. Iphigenie und Pylades helfen Orest – ähnlich wie Therapeuten –, die eigene Schuld richtig einzuschätzen und neu zu bewerten. So bemüht sich Iphigenie, den Begriff ‚Schwester‘ mit positiven Erfahrungen zu verknüpfen, versucht, die Assoziation ‚Schwester‘ = –––––––––––– 133 134 135 136 137
138
Goethe: Iphigenie auf Tauris. III, 2. V. 1287–1294. S. 195. Ebd. III, 1. V. 1229. S. 194. Ebd. III, 2. V. 1258–1259. S. 195. Vgl. Rasch, Wolfdietrich: Goethes „Iphigenie auf Tauris“ als Drama der Autonomie. München 1979. S. 122–124. Insofern lässt sich die Hades-Vision von Orest als ein Fall von Interferenz deuten, d. h., ein Gedächtnisinhalt, der unangenehm ist, wird durch einen anderen Gedächtnisinhalt überlagert. Vgl. Hörmann, Hans: Die Bedingungen für das Behalten, Vergessen und Erinnern. In: Handbuch der Psychologie. Bd. 1: Allgemeine Psychologie I: Der Aufbau des Erkennens. 2. Teilbd.: Lernen und Denken. Hrsg. v. R[udolf] Bergius. Göttingen 1964. S. 225–283, hier: S. 256. Vgl. Rasch, Wolfdietrich: Goethes „Iphigenie auf Tauris“ als Drama der Autonomie. München 1979. S. 14–16.
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‚Priesterin‘durch positive Koppelungen zu ersetzen, so dass sie für den „reinen Hauch der Liebe“139 steht und der Begriff als „Segenswort“140 wirken kann. Auf diese Weise trägt Iphigenie zur Heilung bei, die Irmgard W. Hobson im Sinne Lacans in ihrem psychologischen Ablauf treffend beschrieben hat: „any change of signifieds assigned to a given signifier will change the subject himself.“ 141 Die Heilung ist also Ergebnis eines zweifachen rhetorischen Überzeugungsprozesses: Iphigenie und Pylades wirken von außen rhetorisch auf Orest ein, dieser selbst relativiert durch Selbstüberredung Schuld und Tat und kreiert für sich, seine Vorfahren und seine Geschwister eine Existenzmöglichkeit jenseits des Tantalidenfluchs. Hans Robert Jauß hat Recht: „Fremdheit und Gegenwartsferne der ‚Iphigenie‘ [sind] nur die Folge ihrer bisherigen Rezeption.“142 Diese war zu sehr von der Erwartung „edler Einfalt“ und „stiller Größe“ befangen und hat die dunkle Seite der condition humaine in der „Iphigenie“ oft übersehen. Nur unter der konsequenten Humanitätsprämisse etwa kann Erich Meuthen der rhetorische Charakter des Werkes, den er ausführlich beschreibt, als Problem erscheinen.143 Dabei gehören Autonomiegedanke und Relativismus zu den Prämissen des Stücks, durch die Kultur, Religion, Politik, aber auch psychische Zustände zu rhetorischdiskursiven Phänomenen werden, zu Ergebnissen von Akten der Überredung und Selbstüberredung. Goethes rhetorische Typologie, die unterschiedliche Sprachspiele umfasst, in die ein Mächtiger wie Thoas, ein Stratege wie Pylades und eine um Autonomie ringende Figur wie Iphigenie verwickelt sind, ist immer noch aktuell. Goethe führt deutlich die Grenzen menschlicher Verständigung vor Augen, zeigt, wie kulturelle, religiöse und politische Ideologien die Autonomie des Einzelnen beschneiden, weil sie als wirkungsvolle rhetorische Konstruktionen den Diskurs bestimmen. Allerdings lässt sich gegen solche ideologischen Konstrukte politische und individuelle Freiheit gewinnen. Unter der Prämisse eines erkenntnistheoretischen Skeptizismus entsteht nämlich die Möglichkeit, die Rationalität von Entscheidungen zu prüfen, indem man unterschiedliche Lesarten und Deutungen nebeneinander stellt. Idealtypisch geschieht dies in einem herrschaftsfreien Diskurs, wie er am Ende des Dramas in Szene gesetzt ist. Aller–––––––––––– 139 140 141 142
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Goethe: Iphigenie auf Tauris. III, 1. V. 1157. MA 3, 1. S. 192. Ebd. V. 1166. S. 192. Hobson, Irmgard W.: Goethe’s „Iphigenie“. A Lacanian reading. In: Goethe Yearbook 2 (1984) S. 51–67, hier: S. 54. Jauß, Hans Robert: Racines und Goethes Iphigenie. Mit einem Nachwort über die Partialität der rezeptionsästhetischen Methode. In: Warning, Rainer (Hrsg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München 1975. S. 353–400, hier: S. 359. Vgl. Meuthen, Erich: Das Entsetzen der schönen Seele. Über die rhetorische Dimension des ästhetischen Scheins bei Goethe und Kleist. In: Eibl, Karl u. Bernd Scheffer (Hrsg.): Goethes Kritiker. Paderborn 2001. S. 45–56.
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dings ist ein solcher vielleicht nur ebenso realistisch wie die dea ex machina des Euripides, denn die Verständigungsszene am Ende des Dramas ist aus vielerlei Richtungen gefährdet, weil autonomes Handeln und Denken beständig durch kulturelle, religiöse und staatliche Machtsysteme beschnitten scheint. Aber in Abwesenheit letztgültiger Wahrheiten bleibt eben nur das rhetorische Ringen um das bessere Argument. Goethes Drama suggeriert, daß ein Handeln nach den Maximen gegenseitiger Achtung und zwischenmenschlicher Wahrheit eine Wirklichkeit hervorbringe, in der solches Handeln zum Erfolg führt, und es zieht durch seine Dramaturgie diese Erwartung dann doch wieder in Zweifel. 144
Mehr noch als im Iphigenie-Drama ist das am Elpenor-Fragment zu erkennen, das Goethe – wie wohl auch die „Iphigenie“ – als Feststück für die in Weimar so sehr erhoffte Geburt des Erbprinzen begonnen hat. Das Drama handelt von Elpenor, dem geraubten Kind der Antiope, das ihr vom Schwager als Pflegekind untergeschoben wird. In diesem Fragment dominieren die bösen Absichten der Menschen, die eben nicht einfach zu überwinden sind, weil sich gar kein Raum für einen rationalen rhetorischen Diskurs eröffnet. Die Tat des Schwagers kann man kaum je wiedergutmachen, Sühne erscheint als Illusion: „[D]ie schwere Schuld erstirbt nicht!“145 Dabei ist das Ideal der rhetorischen Verständigung eigentlich durch nichts zu ersetzen, weil sie ein Vehikel der Vernunft ist, dem man sich nur mit dreister Dummheit verweigern kann, mit der aber doch immer zu rechnen ist. „Laßt sie nicht reden! folgt euerm Entschluß! Wer Gründe anhört, kommt in Gefahr nachzugeben“,146 rät der dritte Vogel in Goethes AristophanesÜbersetzung.
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Greiner, Bernhard: Eine Art Wahnsinn. Dichtung im Horizont Kants. Studien zu Goethe und Kleist. Berlin 1994. S. 19. Goethe: Elpenor. II, 3. MA 2, 1. S. 379. Goethe: Die Vögel. Nach dem Aristophanes. MA 2, 1. S. 326.
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9.
Im Reich der Rhetorik. Von der Schulrhetorik zur Erkenntnistheorie (Faust-Dichtungen, Meister-Romane)
Da kommen sie und fragen: welche Idee ich in meinem „Faust“ zu verkörpern gesucht?– Als ob ich das selber wüßte und aussprechen könnte.1
9. 1.
Die Wahrheit der Redner. Zur Rezeption und Adaption sophistischer Erkenntnistheorie
9. 1. 1. Rhetorik im Studierzimmer – Erkenntnisdrang, Skeptik und Sophistik im „Faust“ Es mag in den deutschen Zitatenschatz eingegangen sein, dass Goethes „Faust“ paradigmatisch für die kritische Bewertung der Rhetorik durch den Autor und das gesamte 18. Jahrhundert steht. In der Tat weist Faust Wagner schroff zurück, als jener ihn um eine Ausbildung in der Kunst der Rede bittet: Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen, Wenn es nicht aus der Seele dringt, Und mit urkräftigem Behagen Die Herzen aller Hörer zwingt. […] Es trägt Verstand und rechter Sinn Mit wenig Kunst sich selber vor; Und wenn’s euch Ernst ist was zu sagen, Ist’s nötig Worten nachzujagen?2
Doch das oft zitierte rhetorikkritische Verdikt, dass „Verstand und rechter Sinn“ sich von „selber“ vortragen und es nicht nötig sei, „Worten nachzujagen“, das sich dem Gehalt nach bereits um 1773 im „Urfaust“ findet,3 ist, im Kontext –––––––––––– 1 2 3
Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. 6. Mai 1827. MA 19. S. 571. Goethe: Faust I. MA 6, 1. V. 534–537 u. 550–553. S. 550. Vgl. Goethe: Urfaust. MA 1, 2. V. 182–205. S. 139. Zur Datierung des „Urfaust“ vgl. die konzise Darstellung bei Sauder, Gerhard: Kommentar „Faust“. MA 1, 2. S. 747–748. Seitdem Erich Schmidt das Manuskript aus dem Besitz des Hoffräuleins von Göchhausen entdeckt hat, gibt es Spekulationen um dessen Datierung. Ernst Grumach (E. G.: Zum Urfaust. In: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft. Neue Folge 16 (1954) S. 135–142) hat plausibel machen können, dass diese Handschrift unvollständig ist. Die Interpretation, die hier vorgestellt wird, ist auf die Magister- und die Gretchentragödie fokussiert, die jeweils Fragen rhe-
betrachtet, alles andere als eine Absage an die Rhetorik. Goethe formuliert hier nicht ein „Manifest gegen die Rhetorik“,4 wie zum Beispiel Gerhard Storz behauptet hat, sondern zitiert Einsichten, die in der Rhetorik einen festen Platz einnehmen. Dietmar Till zufolge setzt Goethe in der Szene zwischen Faust und Wagner ein affekt- und ein schulrhetorisches Modell gegeneinander. Mit diesem Vorschlag hat Till die Interpretation über die Frage, ob Goethe die Rhetorik nun positiv oder negativ bewertet, hinausgeführt.5 Nach seiner Analyse vertritt Wagner ein schulrhetorisches, an den officia orientiertes Verständnis von Rhetorik, Faust ein affektrhetorisches Modell. Genau besehen, bietet es sich aber vielleicht sogar an, bei der Analyse des Faust-Wagner-Dialogs drei unterschiedliche Rhetorikmodelle gegeneinander zu stellen. Dass Faust auf anthropologisch fundierte affektrhetorische Konzepte anspielt, die ja bekanntlich in vielen unterschiedlichen Schattierungen tradiert sind und für den jungen Goethe eine wichtige Rolle spielen,6 ist unzweifelhaft. Indem Faust fordert, der Redner solle an das Herz der Zuhörer appellieren, bringt er affektrhetorische Paradigmen ins Spiel. Aus dieser Perspektive ist die Empfindung des Redners, die Frage, ob es ihm „Ernst ist was zu sagen“ und ob es ihm aus „der Seele dringt“, entscheidend. Bereits Birgit Stolt hat diese affektrhetorischen Formeln mit dem pectus-Konzept und mit dem Verfahren der Selbstaffizierung in Verbindung gebracht und so erklären können, warum Faust das Herz als Ursprung und Adressat überzeugender Rede betrachtet.7 In Abgrenzung dazu findet sich auf der Seite von Faust jedoch noch der Hinweis auf ein weiteres mögliches Verständnis von Rhetorik, er spielt nämlich auch auf das von Cato formulierte und topisch gewordene Prinzip „rem tene, [v]erba sequentur“8 an, das – schulrhetorisch formuliert – der inventio eine hohe Bedeutung zumisst und davon ausgeht, dass ein klar erfasster Gegenstand und eine stringente Argumentation den sprachlichen Ausdruck bereits vorgeben, so dass „Verstand und rechter Sinn“ sich selber vortragen, der Redner nicht Worten „nachzujagen“ hat. Dieses Modell stellt nicht die Rhetorik an sich in Frage, weshalb auch Quintilian Catos Diktum problemlos in seine Darstellung der inventio ––––––––––––
4 5
6 7 8
torischer Erkenntnistheorie behandeln, wodurch das häufig kritisierte Fehlen von Pakt und Wette im „Urfaust“, die in späteren Fassungen eine Verbindung zwischen der Gelehrtenund der Gretchenhandlung herstellen, weniger problematisch erscheint. Storz, Gerhard: Unsere Begriffe von Rhetorik und vom Rhetorischen. In: Der Deutschunterricht 18, 6 (1966) S. 5–14, hier: S. 6. Vgl. Till, Dietmar: Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2004. S. 30–32. Vgl. die Abschnitt 3. 1 und 3. 2 dieser Arbeit. Vgl. Stolt, Birgit: Die Rhetorik als Maßstab deutscher Dichter von Gottfried bis Goethe. In: Stockholm Studies in Modern Philology, New Series 6 (1980) S. 69–78, hier: S. 76. Cato: Praeter Librum de re rustica quae exstant. Hrsg. v. Heinrich Jordan. Stuttgart 1967 (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1860). S. 80, Fragment 15.
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integrieren kann, sondern relativiert Wagners Vorstellungen von Rhetorik. Catos Kritik an der hellenistisch geprägten Redekunst bedeutet ja auch keineswegs die Ablehnung von Beredsamkeit als Mittel der Politik, sondern ist eben im Sinne Quintilians durchaus auch als eine Variante der Rhetorik zu verstehen, die betont, dass im Persuasionsprozess den Argumenten die entscheidende Rolle zukommt. Zudem werden hier auch wiederum naturrhetorische Überlegungen aufgegriffen, denn nach Catos Vorstellung sollte und konnte sich der römische Redner vor allem auf seine natürliche Begabung verlassen, wenn er denn die Sache, also den Inhalt erfasst hatte. Das Rhetorik-Modell Wagners, Till hat es treffend als schulrhetorisches Verständnis beschrieben, ist vor allem auf die Bereiche actio und pronuntiatio fokussiert. Wagner will lernen, wirkungsvoll und überzeugend aufzutreten, und glaubt, dabei vor allem Wissen über die richtige pronuntiatio und actio („Allein der Vortrag macht des Redners Glück“9) zu benötigen, deshalb meint er auch, ein Pfarrer könne einen „Komödiant[en]“,10 also einen Schauspieler, als Lehrmeister gebrauchen. Auch dem ornatus kommt hier ein besonderes Gewicht zu: Wagner will lernen, so formuliert es Faust, „blinkend[e]“11 Reden zu halten. Er ist aus dieser Perspektive nicht, wie etwa Rasch behauptet, ein „Prototyp des Aufklärungsdenkens“,12 vielmehr vertritt er bestenfalls eine falsch verstandene Aufklärung, die den äußeren Schein von Gelehrsamkeit mit wirklicher Erkenntnis verwechselt. Schließlich grenzt sich die Aufklärung von einer reinen Performanz-Rhetorik eher ab, gehört die Kritik an der Deklamation etwa zu den zentralen Punkten aufklärerischer Theorie seit Christian Thomasius,13 und auch die Kritik an bloßem Wortgeplänkel und Vernachlässigung der inventio ist verbreitet.14 Beide Vorbehalte schließen selbst wiederum an die rhetorische Tradition –––––––––––– 9 10 11 12
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Goethe: Faust I. MA 6, 1. V. 546. S. 550. Goethe variiert hier den von Demosthenes behaupteten Vorrang der actio (vgl. Cic. De orat. III, 213). Goethe: Faust I. MA 6, 1. V. 527. S. 549. Ebd. V. 554. S. 550. Rasch, Wolfdietrich: Der junge Goethe und die Aufklärung. In: Grimm, Reinhold u. Conrad Wiedemann (Hrsg.): Literatur und Geistesgeschichte. Festschrift für Heinz Otto Burger. Berlin 1968. S. 127–139, hier: S. 127. Die Forderung nach einer vor allem auf Vermittlung von Wahrheit ausgerichteten, überflüssiges Wortgeklingel meidenden Redekunst ist ein zentrales Anliegen von Thomasius (vgl. beispielhaft Thomasius, Christian: Ausübung der Vernunfft-Lehre. Halle 1691. S. 147–148. In: Ders.: Ausgewählte Werke. Hrsg. v. Werner Schneiders. Bd. 9. Hildesheim, Zürich u. a. 1998). Gegen eine Rhetorik der Figuren und Tropen setzt Thomasius eine Redekunst, die auf wahre Überzeugung zielt (vgl. Grimm, Gunter E.: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung. Tübingen 1983. S. 407–411). Goethe hat in den 70er Jahren Thomasius rezipiert, wie ein Eintrag in den „Ephemerides“ belegt (vgl. Goethe: Ephemerides. MA 1, 2. S. 529). Vgl. die überblicksartige Darstellung bei Kienpointner, Manfred: Artikel „Inventio“. HWRh. Bd. 4. Sp. 561–587, hier: Sp. 580.
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an, Quintilian etwa kritisiert den auf Deklamation und Äußerlichkeiten ausgerichteten Rhetorikunterricht als eine der Ursachen der corrupta eloquentia,15 auch an die einschlägigen Bemerkungen von Petronius ist zu denken.16 Somit lässt sich der „Faust“ eben nicht als ein Drama interpretieren, das „die Grundannahme der gesamten Rhetorik vehement in Abrede“17 stellt, vielmehr führt Goethe gegen ein performativ-deklamatorisches Rhetorikmodell ein affektrhetorisch-anthropologisches und ein argumentationsrhetorisches Modell ins Feld, die im Sinne der Aufklärung vor allem dem Inhalt der Rede Bedeutung zumessen, im Sinne der Geniebewegung der Empfindung und der subjektiven Erfahrung Raum geben. Er liefert also ein facettenreiches Bild von Rhetorik, das der rhizomatischen Struktur der rhetorischen Tradition gerecht wird und zitiert im „Faust“, so könnte man auch sagen, topoi über Rhetorik. Birgit Stolts Interpretation hat dies schon früh verdeutlicht: „Sieht man genau hin“, schreibt sie, „so findet sich in diesem ‚zornflammenden Manifest‘ jedoch nichts, was nicht bereits die klassische Rhetorik gelehrt hatte […].“18 Goethe destruiert freilich alle drei rhetorischen Modelle (Affektrhetorik, Argumentationsrhetorik und performative Schulrhetorik) schon im „Urfaust“ mit überraschender Deutlichkeit, indem er diesen Konzepten ein viertes erkenntnistheoretisches Rhetorikmodell entgegensetzt. Dabei bezieht er sich vor allem auf sophistische Positionen, die einen Wahrscheinlichkeitsdiskurs an die Stelle einer metaphysisch gestützten Wahrheitstheorie setzen, von einer Dominanz sprachlicher Strukturen ausgehen und somit die Werte und Normen einer Kultur als Ergebnis eines rhetorischen Diskurses verstehen. Spuren des Skeptizismus und auch des Kulturrelativismus der Sophisten sind in der „Iphigenie“ zu erkennen, aber Goethe hat sich schon sehr viel früher mit sophistischen Positionen beschäftigt und diese bereits im „Urfaust“ als erkenntnistheoretisches Konzept reflektiert. –––––––––––– 15
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Thema von Quintilians verlorener Schrift „De causis corruptae eloquentiae“, deren Inhalt über Anmerkungen in der „Institutio oratoria“ rekonstruierbar ist (vgl. z. B. Quint. Inst. orat. II, 10, 3). In den Satyrica heißt es: „Und deshalb bin ich wenigstens der Ansicht, daß die jungen Leute in den Hörsälen vollständig verdummen, weil sie nichts von dem, was wir in der Praxis finden, zu hören oder zu sehen bekommen: […] nur süßes Wortkonfekt und lauter Sprüche, lauter Dinge, die sozusagen mit Zucker und Zimt bestreut sind! […] Mit Verlaub zu sagen, ihr vor allen anderen habt der Eloquenz den Garaus gemacht. Nämlich aus leichten und leeren Tönen habt ihr eine Welt des Scheins aufgerichtet, mit dem Erfolg, daß die Rede vom Fleisch fiel und hinfällig wurde.“ (Petronius: Satyrica. Übersetzt von Konrad Müller u. Wilhelm Ehlers. 3., überarbeitete Auflage. München 1983. 1, 2–2, 3). Campe, Rüdiger u. Gerhard Kaiser: Aufhebung der Rhetorik. In: Kaiser, Gerhard: Geschichte der deutschen Lyrik von Goethe bis Heine. Ein Grundriß in Interpretationen. Bd. 1. Frankfurt am Main 1988. S. 188–212, hier S. 189. Stolt, Birgit: Die Rhetorik als Maßstab deutscher Dichter von Gottfried bis Goethe. In: Stockholm Studies in Modern Philology, New Series 6 (1980) S. 69–78, hier: S. 76.
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Goethe zeigt Faust zunächst als einen Forscher, der um Erkenntnis ringt, während Wagner als Schüler auftritt, dem es nur um den äußeren Effekt geht – eine Einstellung, die auf bizarre Weise mit Fausts Erkenntnisstreben kontrastiert: Zufällig schnappt Wagner einige Worte des verzweifelten Zwiegesprächs zwischen Faust und dem Geist auf, in dem jener darum ringt, die „unendliche Natur“19 zu verstehen, die Wahrheit zu erkennen, und versteht sie völlig falsch, indem er Faust unterstellt, er habe deklamiert. 20 Im Eröffnungsmonolog definiert Faust es als sein Ziel, über die Sprache hinauszukommen, zu erkennen, „was die Welt / Im innersten zusammenhält“.21 Doch tritt er der Wissenschaft gegenüber skeptisch auf, kritisiert den Wissenschaftsbetrieb, der ihn dazu zwingt, über das zu reden, „was ich nicht weiß“.22 Nach allen Studien ist er in Wirklichkeit ja „so klug als wie zuvor“ und überzeugt, „daß wir nichts wissen können […].“23 Faust verschreibt sich deshalb der „Magie“24, die er als Alternative zu den Wissenschaften versteht, an deren Erkenntniswert er zweifelt: „Schau alle Würkungskraft und Samen / Und tu nicht mehr in Worten kramen.“25 Er versucht, dem bloßen Schein zu entkommen, und glaubt, Genuss und lebendige Erfahrung seien Möglichkeiten, sicheres Wissen zu erlangen, sich der Wahrheit der menschlichen Existenz oder des Seins anzunähern – nicht umsonst hat man Faust als „enttäuschte[n] Aufklärer“26 beschrieben. Wenn er im Dialog mit Wagner an der Möglichkeit zur Erkenntnis und einer auf die Qualität der Argumentation fixierten Rhetorik festhält sowie im Sinne des Sturm und Drang der Empfindung einen rhetorischen Wert zuschreibt, wahrt er die äußere Fassade des Wissenschaftlers und eines seiner selbst sicheren Individuums, seine ehrliche Meinung ist das jedoch nicht. Fausts Auftritt gegenüber Wagner ist scheinheilig, denn er selbst verstößt gegen das Aufrichtigkeitsgebot, das er mit dem anthropologischen Rhetorikmodell einführt, und ist auch von der Vorstellung, dass ein Redner die Sache, also den Inhalt seiner Rede, verstehen kann, keineswegs überzeugt. Faust spielt eine Rolle und erfüllt die Erwartungen, die sich an einen Wissenschaftler knüpfen. Spätere Bearbeitungsstufen des Faust-Stoffes sind in dieser Hinsicht noch deutlicher und anschaulicher, so ist Faust auf seinem Oster-Spaziergang mit der Rolle des Wissenschaftlers ja eben auch insofern konfrontiert, als sie vorgibt, wie das Volk ihn wahrnimmt und anspricht. Er erfüllt diese Rolle, verstellt sich, gibt sich als „Doktor“ und „Hoch–––––––––––– 19 20 21 22 23 24 25 26
Goethe: Urfaust. MA 1, 2. V. 102. S. 136. Vgl. ebd. V. 170. Ebd. V. 29–30. S. 134. Ebd. V. 28. Ebd. V. 6 u. 11. Ebd. V. 24. Ebd. V. 31–32. S. 134–135. Sauder, Gerhard: Kommentar „Faust“. MA 1, 2. S. 741.
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gelahrter“,27 um den Erwartungen gerecht zu werden. Ihm selbst ist dabei durchaus klar, wie weit seine Kenntnisse hinter den Erwartungen des Volkes zurückliegen. Die Defizienz der Affektrhetorik wie der argumentativen Rede ist Faust von Beginn an bewusst, an ihnen zweifelt er auch nicht weniger als am Wert der bloß performativ verstandenen Rhetorik im Sinne Wagners. Allerdings bleibt Faust, Corkhill hat das als Paradox betrachtet, sprachmächtig und redselig, trotz allem Zweifel an der Möglichkeit sicherer Erkenntnis und der Fähigkeit der Sprache, Wahrheit mitzuteilen.28 Das Paradoxon erklärt sich nicht allein aus der Logik des Dramas, das Rede und sprachliche Darstellung verlangt, sondern auch durch den Skeptizismus Fausts, der an die sophistische Einsicht anknüpft, dass die ‚Realität‘ das Ergebnis menschlicher Setzungen im Medium der Rede ist.29 Damit schließt Goethe etwa an die skeptische Haltung von Gorgias an, auch an den homo-mensura-Satz des Protagoras. Faust zu der Einsicht zu führen, dass der Mensch mit Hilfe rhetorischer Akte kulturelle ‚Wahrheiten‘ etabliert, ist die eigentliche Leistung von Mephisto und führt wiederum in die Denkregionen Blumenbergs, die schon für das Iphigenie-Drama erhellend waren. Mephisto tritt in Goethes Drama als sprachmächtiger Redner auf. Ob in dem Gespräch mit dem Studenten, bei dem Versuch, Margarethe zu verführen, oder im intellektuellen Austausch mit Faust – immer ist seine argumentative Wendigkeit augenfällig. Er spielt mit Worten und – das kommt auf das Gleiche heraus – auch mit Argumenten. Auf diese Weise kann er dem Studenten lange Zeit den Lehrer vorspielen: Nach den Regeln der Höflichkeit reagiert er auf dessen Kompliment, das ihn als einen Mann adressiert, „[d]en alle wir mit Ehrfurcht nennen“,30 mit einem konventionellen Antwort-Kompliment („Eure Höflichkeit –––––––––––– 27 28 29
30
Goethe: Faust.V. 981 u. 984. MA 6, 1. S. 562. Vgl. Corkhill, Alan: Sprachtheoretische Fragestellungen in Goethes Faust I. In: Neophilologus 79 (1995) S. 451–463, hier S. 452. Die skeptische Haltung der Sophisten lässt sich an verschiedenen Fragmenten ablesen. Einschlägig ist Gorgias’ berühmte Argumentation, nach der nichts existiert, wenn aber etwas existierte, dieses für den Menschen unbegreiflich wäre, und wenn es auch begreiflich wäre, so nicht mitgeteilt werden könnte (vgl. Gorgias: Fragment 3. In: Diels, Hermann u. Walther Kranz (Hrsg.): Die Fragmente der Vorsokratiker. Bd. 2. 10. Auflage. Berlin 1960. S. 279– 283). Auch die relativistische Tendenz des homo-mensura-Satzes (Protagoras: Fragment 1. Ebd. S. 263) ist zu nennen. In jüngster Zeit haben vor allem Mark Backmann und Susan C. Jarrett die Sophistik als skeptische Erkenntnistheorie gedeutet, die auch über ihren historischen Ursprung hinweg wirksam geblieben ist (vgl. M. B.: Sophistication. Rhetoric and the Rise of Self-Consciousness. Woodbridge, CT 1991; S. C. J.: Rereading the Sophists. Classical Rhetoric Refigured. Carbondale, IL 1991). Im deutschen Sprachraum hat sich vor allem Otto A. Baumhauer um eine ernsthafte Aufarbeitung der Erkenntnistheorien der Sophisten bemüht (vgl. O. A. B.: Die sophistische Rhetorik. Eine Theorie sprachlicher Kommunikation. Stuttgart 1986. S. 182–197). Goethe: Urfaust. MA 1, 2. V. 253. S. 140.
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erfreut mich sehr“31) und wird prompt als Lehrer akzeptiert. Er mimt darauf den besorgten Ratgeber, der sich um das Wohlergehen des Schülers kümmert, dann beschließt er von einem Moment auf den anderen, „des Professor Tons nun satt“32 zu sein, und auf seine wohlgemeinten Ratschläge und Freundlichkeiten folgt abrupt eine grundlegende Kritik des Studiums („Vergebens daß ihr ringsum wissenschaftlich schweift, / Ein jeder lernt nur was er lernen kann“33) und die Aufforderung, sinnliche Erfahrung statt schulischer Bildung anzustreben („Besonders lernt die Weiber führen“34). In der neuen Rolle beschreibt Mephisto theoretisches Wissen als defizitäre Form der Erkenntnis: „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie / Und grün des Lebens goldner Baum“ 35 und macht mit dieser Antithese die begrenzte Aussagekraft von Theorien sinnfällig.36 Faust bringt die skeptische Haltung Mephistos explizit mit der Sophistik in Verbindung, hält ihm vor: „Du bist und bleibst ein Lügner, ein Sophiste“.37 Damit klingt nicht nur die schon zu Goethes Zeit verbreitete negative Konnotation des Begriffs Sophist an,38 die Aussage ist auch im philosophisch-rhetorischen Sinne des Wortes zu verstehen: Zunächst ist es nämlich Mephistos radikale Skepsis, die ihn mit den Sophisten verbindet. Weiterhin zeichnet er sich durch die Fähigkeit aus, in utramque partem zu argumentieren: Immer wieder bildet er die Gegenstimme zu den Theorien Fausts, mehrfach, so etwa in der Schülerszene, vertritt er erst die eine, dann die andere Rolle.39 Auch Mephistos Selbstcharakterisierung als „Geist der stets verneint“,40 die Goethe in späteren Bearbeitungsstufen des Textes ergänzt, setzt diesen in die Traditionslinie sophistischen Denkens nach dem Prinzip in utramque partem. So ist Mephisto als Sophist vielleicht treffender charakterisiert denn als Teufel.41 Jedenfalls wird der „Teufel nicht ver–––––––––––– 31 32 33 34 35 36
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40 41
Ebd. V. 254. S. 141. Ebd. V. 404. S. 144. Ebd. V. 410–411. S. 145. Ebd. V. 418. Ebd. V. 433–434. Helmut Schanze hat für die Deutung der Sentenz wichtige Hinweise gegeben, die die Herkunft der verwendeten Bildlichkeit erklären können: Laut Schanze nimmt dieser Satz alchimistische Geheimlehren auf, die den goldenen Lebensbaum zur Darstellung des Verhältnisses von Mikro- und Makrokosmos heranziehen (vgl. H. S.: Faust-Konstellationen. Mythos und Medien. München 1999. S. 124–130). Goethe: Urfaust. MA 1, 2. V. 904. S. 165. Vgl. Adelung, Johann Christoph: Grammatisch kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Bd. 4. Wien 1808. Sp. 150. Goethe war das Prinzip des in utramque partem bzw. der dissoi logoi bekannt, es war Bestandteil des Disputierunterrichts, von dem noch einige Protokolle erhalten sind (vgl. z. B. Goethe: Colloquium. Wolfgang et Maximilian. MA 1, 1. S. 21–25). Vgl. dazu auch Abschnitt 9. 1. 3 dieser Arbeit. Goethe: Faust. MA 6, 1. V. 1338. S. 571. Vgl. Michelsen, Peter: Vom Bösen in Goethes Faust. In: Ders.: Im Banne Fausts. Zwölf Faust-Studien. Würzburg 2000. S. 171–191.
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teufelt“, wie Peter Michelsen es pointiert formuliert.42 Charakteristisch für Mephisto ist demnach vielmehr ein Oszillieren zwischen Anklagen und Bedauern, zwischen Reizen, Verführen, Erniedrigen, Zunichtemachen-Wollen und einem ironisch-maliziös-distanzierten Interesse am Lebendigen, an den Erscheinungen der menschlichen Welt […].43
Goethe präsentiert mit Mephisto also eher ein intellektuelles Prinzip als eine Personifikation des Bösen.44 Es ist sophistische Debattierkunst, durch die Mephisto sich auszeichnet, er ist ein antagonistischer Geist, der sich in Rede und Gegenrede artikuliert. So widersprüchlich die einzelnen Vertreter der Sophistik sind, so liegen doch in skeptischer Grundhaltung und antagonistischer Denkart verbindende Elemente der Sophistik, zu deren epistemologischen Voraussetzungen ein strikter Relativismus gegenüber jedweden Wahrheitsansprüchen gehört, den der homo-mensura-Satz von Protagoras exemplarisch beleuchtet, der aber auch in Gorgias’ Sätzen über Sein und Nicht-Sein zu erkennen ist.45 Mephistos Fähigkeit zur Gegenrede, sein sophistischer Geist haben zudem natürlich auch dramaturgisch ihren Reiz, denn so lässt er sich als „dialogischer Partner und zugleich als verführerischer Widersacher, der kommentiert und analysiert, das Menschliche desillusioniert und die Menschlichen destruiert“,46 gestalten. Aber es geht nicht nur um die dramatischen Vorteile der Konstruktion. Mephistos sophistische Redekunst ist wirksam und einflussreich, präsentiert sich daher als eine Alternative zu Fausts Forderung nach sicherer Erkenntnis, die dieser ja selbst bezweifelt. Goethe bietet mit der Mephisto-Figur ein Gedankenexperiment, das dem aufklärerischen Wahrheits- und Erkenntnisdrang eine skeptische Stimme entgegenhält. Durch das Zutun Mephistos greift im „Faust“ die –––––––––––– 42 43 44
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Ebd. S. 189. Vgl. ebd. S. 191. Alexander von Bormann hat im „Faust“ eine Tendenz zur „Humanisierung des Außergewöhnlichen“ kritisiert, da es antiaufklärerisch wirke, die Existenz des Bösen zu verleugnen (A. v. B.: Zum Teufel. Goethes Mephistopheles oder die Weigerung, das Böse zu denken. In: Beutler, Bernhard u. Anke Bosse (Hrsg.): Spuren, Signaturen, Spiegelungen. Zur Goethe-Rezeption in Europa. Köln, Weimar u.a. 2000. S. 563–579, hier: S. 563, 570–572). Diese Interpretation lässt sich aber nur durch metaphysische Konstrukte begründen, die die Existenz des Bösen behaupten. Hier wirkt Blumenbergs Interpretation wesentlich zeitgemäßer, nach der das Böse von Goethe ausgespart wird, weil sich die Existenz der „Hölle“ seit der Aufklärung nicht mehr ernsthaft annehmen lässt (vgl. Blumenberg, Hans: Goethe zum Beispiel. Frankfurt am Main 1999. S. 206–207). Vgl. Kraus, Manfred: Antilogia – Zu den Grundlagen sophistischer Debattierkunst. In: Kramer, Olaf (Hrsg.): Rhetorik der Debatte. Tübingen 2006 (= Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 25). S. 1–13. Keller, Werner: Goethes „Urfaust“ – historisch betrachtet. In: Esselborn, Hans (Hrsg.): Geschichtlichkeit und Gegenwart. Festschrift für Hans Dietrich Irmscher. Weimar u. Wien 1994. S. 116–138, hier: S. 128. Keller interpretiert Mephisto im Sinne der Sophistik, ohne ihn explizit mit dieser geistigen Strömung in Verbindung zu bringen.
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von Blumenberg beschriebene anthropologische Dimension der Rhetorik, die Stärke bedeutet, insofern der Mensch mit sprachlich-rhetorischen Mitteln Realitäten kreiert, Institutionen schafft, aber auch Schwäche, weil sichere Erkenntnis nicht möglich ist, sich die Frage nach der Wahrheit nicht beantworten lässt und eigentlich auch gar nicht stellt.47 Deshalb fühlt Faust sich in einem Moment als „Ebenbild der Gottheit“48 und ist einen Augenblick später überzeugt, „[d]em Wurme gleich“49 zu sein. Faust zerstört mit seinem Erkenntniszweifel die „schöne Welt“50 des Glaubens, in der der Mensch durch Prozesse metaphysischer Legitimation, also etwa durch die Religion, der Wahrheit nachstreben konnte. Daher fordert der Geisterchor ihn auf: „Baue sie wieder, / In deinem Busen baue sie auf!“51 Eine konsistente Weltsicht muss Faust sich selbst erarbeiten, auf diskursive Weise erreichen. Von innen heraus betrachtet, bleibt sie immer das Ergebnis einer Selbstüberredung, mit der ein Individuum Werte und Normen für sich etabliert und ihnen Gültigkeit zuschreibt. Im „Faust II“ gehört der Zweifel an einer metaphysisch legitimierten Wahrheit dann zu den Prämissen des Textes, aber eben auch die anthropologische Einsicht, dass der Mensch in eine Situation gestellt ist, in der er mit Hilfe der Rhetorik auf diskursive Weise sowohl wissenschaftliche Theorien formulieren als auch kulturelle Werte und Normen etablieren kann. So ist die Sentenz „Am farbigen Abglanz haben wir das Leben“ 52 zu verstehen, der Mensch kann nicht über sich selbst hinaus. Menschliches Erkenntnisstreben geht in die Irre, wenn es die Grenzen der Sprache als Grenzen des Denkens außer Kraft zu setzen versucht, aus sinnlich zugänglichen Erfahrungen nicht nur empirische Wahrscheinlichkeiten ableitet, sondern diesen metaphysische Bedeutung zuschreibt. Dann gerät man in die Szenerie der „Hexenküche“, die Goethe schon im ersten Teil des Dramas als einen Erkenntnisbereich umreißt, in dem sinnliche Eindrücke sich verwirren, man Sinnestäuschungen für Wahrheiten hält und sich etwa einredet, der Trunk der Sudelköchin könne verjüngend wirken. 53 Meist hat man die Sentenz „Am farbigen Abglanz haben wir das Leben“ platonisch ausgelegt und sie dahingehend interpretiert, dass die „Wirklichkeit der Urform“ eine geistige sei.54 Allerdings wirkt diese Deutung metaphysisch überzogen, wenn man ihren Kontext sieht, denn Faust arrangiert sich doch eher mit der äußeren Reali–––––––––––– 47
48 49 50 51 52 53 54
Vgl. Blumenberg, Hans: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik. In: Ders.: Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart 1981. S. 104– 136, hier: S. 110. Goethe: Faust I. MA 6, 1. V 614. S. 552. Ebd. V. 653. S. 553. Ebd. V. 1609. S. 578. Ebd. V. 1620–1621. S. 579. Goethe: Faust II. V. 4727. MA 18, 1. S. 108. Vgl. Goethe: Faust I. V. 2340-2341. MA 6, 1. S. 600. Vgl. Hölscher-Lohmeyer, Dorothea: Kommentar „Faust II“. MA 18, 1. S. 672–674.
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tät, scheint zumindest für den Moment mit dem farbigen Abglanz zufrieden, die religiös-mythologischen Figuren sind jedenfalls eher ein „Flammengaukelspiel“55 und stehen nicht für eine metaphysische Erkenntnisdimension. Und so zeigt auch die Erfindung des Papiergelds in „Faust II“, dass der Mensch durch bloße Konvention Realität schaffen kann: Diskursive Einigung macht einfaches Papier – der Kaiser kann es zunächst kaum fassen – zu Geld.56
9. 1. 2. Rhetorik als ars seducendi. Zum Problem authentischer Rede in der Gretchen-Episode Während in den Universitäts- und Gelehrtenszenen die Erkenntnisskepsis im Vordergrund steht, die das argumentationsrhetorische Prinzip „rem tene, verba sequentur“ destruiert und Fausts Selbstpräsentation als Wissenschaftler kritisiert, steht in der Gretchenhandlung das Authentizitätspostulat der anthropologisch fundierten Affektrhetorik auf dem erkenntnistheoretischen Prüfstand der Sophistik. Auch dieser Handlungsstrang zeigt Faust in einem rhetorischen Selbstwiderspruch: Er glaubt und behauptet, wahre Gefühle für Gretchen zu haben, aber sein Liebeswerben kommt ohne Marthes Kupplerdienste nicht zum Ziel, ohne Trank und Geschenke und ohne Mephistos Hilfe ist Gretchen nicht zu erobern. Faust redet sich zwar ein, er folge seinen wahren Gefühlen, und erklärt Mephisto zum Sophisten, um im Kontrast seine Authentizität herauszustreichen. Aber diese Selbstinszenierung durchschaut Mephisto sofort und bringt sie zu Fall, indem er Fausts strategische Vorgehensweise ironisch mit der vermeintlichen Authentizität seiner Liebe zu Gretchen kontrastiert: Denn morgen wirst in allen Ehren Das arme Gretgen nicht betören? Und alle Seelen lieb ihr schwören?57
Zwar antwortet Faust auf diese Vorhaltungen mit einem knappen „Und zwar von Herzen“,58 das den Liebesdialog mit Gretchen wieder in ein anthropologisches Paradigma einordnet und die Authentizität seiner Empfindungen behauptet. Zur trickreichen Eroberung Gretchens passen solche Gefühlsbekundungen allerdings kaum. Schließlich versucht Faust, indem er seine Sprachskepsis auf die Gefühlswelt ausdehnt, die Echtheit seiner Gefühle zu beweisen: […] Wenn ich empfinde Und dem Gefühl und dem Gewühl
–––––––––––– 55 56 57 58
Goethe: Faust II. MA 18, 1. V. 5987. S. 147. Vgl. ebd. V. 6083–6085. S. 150. Goethe: Urfaust. MA 1, 2. V. 906–908. S. 165. Ebd. V. 909.
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Vergebens Namen such und keine Namen finde. Und in der Welt mit allen Sinnen schweife Und alle höchsten Worte greife, Und diese Glut von der ich brenne Unendlich, ewig, ewig nenne Ist das ein teuflisch Lügenspiel.59
Doch indem Faust den Topos der Unsagbarkeit bemüht, entzieht er der Frage, wie ernsthaft seine Absichten Gretchen gegenüber sind, den letzten Maßstab. Faust erkennt das, bricht darauf das Gespräch mit dem Sophisten Mephisto recht abrupt ab und gesteht diesem widerwillig ein: Ich bitte dich und schone meine Lunge. Wer Recht behalten will und hat nur eine Zunge Der hälts gewiß. Und komm ich hab des Schwätzens Überdruß Denn du hast Recht, vorzüglich weil ich muß.60
Diese Replik ist selbst eine sophistische Antwort, die das sophistische Debattenmodell aufgreift, nach dem Geltungsansprüche sich eben in einer konträren Auseinandersetzung bewähren müssen und sich auf diese Weise etablieren und durchsetzen können. Gerade dadurch, dass jeder Behauptung des anderen in der Debatte widersprochen und diese kritisiert wird, taugt das Modell als Rationalitätstest, in dem sich Geltungsansprüche bewähren können. Ohne Widerspruch und kritische Debatte hingegen ist es keine Kunst, Recht zu behalten. Aus einem rhetorischen Blickwinkel rücken Gelehrten- und Gretchentragödie nah zusammen, denn beide Handlungsstränge des „Urfaust“ befassen sich mit Fragen der Erkenntnistheorie und thematisieren, inwieweit rhetorische Strukturen sowohl wissenschaftliche Erkenntnis als auch subjektive Empfindung dominieren. Gerhard Sauder hat diesen Zusammenhang angerissen: Er [= Faust, O. K.] hat in der mit Wagner geführten Auseinandersetzung über Nutzen und Grenzen der Rhetorik die Regeln abgewertet und das produktive Gefühl als überlegen verkündet (obwohl die Rhetorik die Bedeutung des ‚Pathos‘ schon immer kannte). In seiner Affekt-Rhetorik ist ‚fühlen‘ ein Leitwort. Während zwischen dem Zauberer und dem Liebhaber wegen der spezifischen Ausspar-Technik der Szenenfolge keine direkte Relation erkennbar wird, vermag diese Thematik der Wagner-Szene zwischen den Gelehrten- und Universitäts-Szenen und der Gretchen-Handlung zu vermitteln.61
Beschreibt Faust Wagner gegenüber eine anthropologische Affektrhetorik zunächst als Vorbild, da sie anders als der wissenschaftliche Diskurs unmittelbare Evidenz garantieren könne, ist sie in der Gretchenhandlung gerade keine Alternative zu einer strategischen Rhetorik. Die Faszination, die Faust auf Gretchen ausübt, –––––––––––– 59 60 61
Ebd. V. 912–919. S. 166. Ebd. V. 921–925. Sauder, Gerhard: Kommentar „Faust“. MA 1, 2. S. 745.
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ergibt sich nach deren Aussage vor allem aus „seiner Rede / Zauberfluß“,62 er erreicht also „seine Wirkung fast ausschließlich dadurch […], daß er sich wie ein Rhetor verhält.“63 Gretchen ist von Fausts rednerischen Avancen angetan, der sie schon bei der ersten Begegnung wie ein Edelfräulein adressiert: „Mein schönes Fräulein darf ichs wagen / Mein Arm und Geleit ihr anzutragen.“ 64 Zugleich nimmt sie von Anfang an die Unangemessenheit dieser Ansprache wahr: „Bin weder Fräulein weder schön“65 und reflektiert im Laufe der Beziehung zu Faust die Differenz des Codes, über den beide verfügen: „Ich weiß zu gut daß solch erfahrnen Mann / Mein arm Gespräch nicht unterhalten kann.“66 Faust reagiert auf die Selbstzweifel Gretchens, indem er die Aufmerksamkeit auf ihre Schönheit lenkt und ihr eine besonders wirksame Form der elocutio corporis zuschreibt: „Ein Blick von dir, ein Wort mehr unterhält / Als alle Weisheit dieser Welt.“67 All dies aber ist Strategie, wie Margarethe schnell einsieht: Ja aus den Augen aus dem Sinn Die Höflichkeit ist euch geläufig. Allein ihr habt der Freunde häufig, Und weit verständger als ich bin.68
Gretchen identifiziert Fausts Auftreten mit Verstellung, erkennt das formalisierte Kompliment hinter seinen Avancen, zugetan ist sie ihm freilich trotzdem. Ihre Einschätzung trifft aber den wunden Punkt in Fausts Theorie: Der Gegensatz zwischen authentischer Affekt-Rhetorik und strategischer Redekunst ist so, wie Faust das wünscht, nicht zu lösen. Auch wenn er gerade nicht den rhetorischen Konventionen repräsentativer Redekunst folgen will, bringt seine Bildung die Vertrautheit mit solchen Formen mit sich, die er auch dann nicht hinter sich lassen kann, wenn er sich explizit auf Individualität und Empfindung beruft. Die Alternative zu den rhetorischen Modellen, die Faust sich erhofft, existiert nicht. Selbst in der Liebe zu Margarethe sind es seine Redefähigkeit und sein strategisches Geschick, die ihn ans Ziel bringen. Und so muss er erkennen, wie naiv –––––––––––– 62 63
64 65 66 67 68
Goethe: Urfaust. MA 1, 2. V. 1091–1092. S. 172. Binder, Alwin: „Seiner Rede Zauberfluß“. Uneigentliches Sprechen und Gewalt als Gegenstand der „Faust“-Szene „Wald und Höhle“. In: Goethe-Jahrbuch 106 (1989) S. 211–299, hier: S. 212; eine ähnliche Interpretation hat wenig später in einem anderen Kontext auch David Horrocks vorgeschlagen, für den Fausts Antwort auf die Gretchenfrage als ein „Meisterstück der Rhetorik“ gelten kann und muss (D. H.: ‚Gefühl und Gewühl‘: Zur Darstellung der Emotionen in Goethes Urfaust. In: Fuchs, Anne u. Sabine Strümper-Krobb (Hrsg.): Sentimente, Gefühle, Empfindungen. Zur Geschichte und Literatur des Affektiven von 1770 bis heute. Tagung zum 60. Geburtstag von Hugh Ridley im Juli 2001. Würzburg 2003. S. 59–66, hier: S. 64). Goethe: Urfaust. MA 1, 2. V. 458–459. S. 152. Ebd. V. 460. Ebd. V. 930–931. S. 166. Ebd. V. 932–933. Ebd. V. 949–952. S. 167.
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sein Streben nach Erkenntnis durch die Evidenz des Gefühls ist, da das rhetorisch-strategische Denken selbst in der Liebe einen Platz hat. Nachdem Fausts Skepsis, sein Zweifel an sicherem Wissen in den Anfangsszenen die argumentative Rede ebenso wie das performative Rhetorik-Modell problematisch erscheinen lassen, ist die anthropologische oder ‚naturrhetorische‘ Alternative widerlegt. Immerhin kann die gelehrte Rede Margarethe noch beeindrucken, denn sie ist fasziniert davon, „was so ein Mann / Nit alles alles denken kann.“69 Die Verführung von Menschen mit Hilfe von Sprache ist, so gesehen, ein zentrales Thema des „Urfaust“, in dem die Gretchenhandlung einen Großteil des Textes ausmacht und der metaphysische Rahmen der späteren Bearbeitungen nur in Andeutungen zu erkennen ist. Doch wäre es unangemessen, den Dialog zwischen Faust und Gretchen auf den Aspekt der Gewalt- und Machtausübung zu reduzieren, wie Alwin Binder vorschlägt: Beredsamkeit als Macht kann nur dort wirken, wo ein rhetorisches Gefälle besteht, wo das Sprachvermögen des Angesprochenen nicht ausreicht, den Redner zu durchschauen, und er dessen Rede Zauberfluß anstaunt.70
Nach Binder ist die Welt aufgeteilt in sprachmächtige Menschen und solche, die dem „Zauberfluß“ der Rede wehrlos ausgeliefert sind, so dass sich „Sprache als Gewalt“ am „perversesten“ realisiere, „wo es durch Beredsamkeit gelingt, daß der durch Sprache Unterdrückte den Sprechenden zu lieben glaubt.“71 Positiv gewendet, könnte man jedoch auch sagen, dass Faust mit Worten und Taten um die Sympathie Margarethes wirbt und sich dazu mehr oder minder geschickt in der ars seducendi versucht, in der sich authentisches Gefühl und strategische Aktion ja nicht ausschließen, sondern gemeinsam zum Spiel der Verführung gehören, an dem sich auch Margarethe durch geschickte Zurückweisung und durchaus kesse Antworten beteiligt. Die Beziehung zu Margarethe nicht im Sinne einseitiger Verführung zu deuten, heißt nicht, ihr die Tragik abzusprechen, aber Gretchen ist eben nicht nur das Opfer sprachlicher Manipulation, sondern spielt selbst auch kokett die Rolle der zögerlichen Umworbenen. Fausts Auftrittsmonolog projiziert alle „Wunschbilder des Genie-Denkens“.72 Schöpferkraft, Streben nach Ganzheit, Gottgleichheit, doch es kommt zu einer „Relativierung aller Träume von neuer Lebensunmittelbarkeit“,73 sobald Faust versucht, authentisch zu agieren, durch die Evidenz des Gefühls die Unzugäng–––––––––––– 69 70
71 72 73
Ebd. V. 1061–1062. S. 171. Binder, Alwin: „Seiner Rede Zauberfluß“. Uneigentliches Sprechen und Gewalt als Gegenstand der „Faust“-Szene „Wald und Höhle“. In: Goethe-Jahrbuch 106 (1989) S. 211–299, hier: S. 224. Ebd. Schmidt, Jochen: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945. Bd. 1. 2., durchgesehene Auflage. Darmstadt 1988. S. 312–313. Ebd. S. 312.
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lichkeit von Wissen zu bewältigen hofft. Vor dem Hintergrund deklamatorischer officia-Rhetorik, anthropologischer Affektrhetorik und einer argumentativ fokussierten Rhetorik rückt Goethe ein sophistisches Rhetorikmodell ins Bild, das in radikaler Weise an der Möglichkeit sicherer Erkenntnis zweifelt, aber zugleich der Rhetorik die Fähigkeit zuschreibt, auf diskursive Weise Evidenz herzustellen, kulturelle Realität zu kreieren. Damit tritt an die Stelle des Wahrheitsdiskurses ein Wahrscheinlichkeitsdiskurs. Bereits im „Urfaust“ vollzieht Goethe das Wagstück, eine radikal skeptizistische Position einzunehmen, Wahrheit als eine sprachlich rhetorische Konstruktion zu präsentieren und sogar die Dominanz des Rhetorischen in der Empfindung einzugestehen. Man darf also von einer wirkungsvollen Rezeption rhetorischer Erkenntnistheorie ausgehen, die Goethe im Medium der Literatur reflektiert und adaptiert.
9. 1. 3. Die Produktivität des Zweifels. Ästhetische Pointen der Sophistik-Rezeption Rhetorische Kunstfertigkeit offenbart sich in der Struktur von Texten, sie macht die ästhetische Qualität eines Kunstwerks aus, wenn man bloße Eloquenzprinzipien ansetzt. Die Vorherrschaft solcher Kunstfertigkeit im literarischen Text lässt sich jedoch auch erkenntnistheoretisch begründen: Wer die skeptische Haltung der Sophisten und ihre Theorie einer diskursiv geformten Wirklichkeit akzeptiert, kann auch aus diesem Grund Kunst als Ergebnis rhetorischer Strukturierung verstehen, da alle anderen Maßstäbe von Kunst problematisch werden, subjektive Empfindungen ebenso wie metaphysisch begründete Ideen oder Ideale. Goethe erläutert den Zusammenhang zunächst in den „Lehrjahren“ am Beispiel des Schauspielers Serlo so, dass sich ein sophistisch geprägter Skeptizismus und ein technologisches Rhetorikverständnis verbinden.74 Die Parallelen zwischen Schauspieler und Redner sind lang bekannt,75 und in der Figur Serlo gelingt Goethe eine beeindruckende Engführung der Themen Rhetorik und Schauspielkunst, die über äußerliche Ähnlichkeiten zwischen Red–––––––––––– 74
75
Serlo, in der „Theatralischen Sendung“ noch als „Direktor in H***“ eingeführt (vgl. Goethe: Wilhelm Meisters theatralische Sendung. MA 2, 2. S. 292), soll eine Hommage an den von Goethe geschätzten Friedrich Ludwig Schröder sein, der als Theaterdirektor in Hamburg u. Wien viel zur Professionalisierung des Berufsstandes beitrug (vgl. Schings, HansJürgen: Kommentar „Wilhelm Meisters Lehrjahre“. MA 5. S. 758). Nach Goethes Analyse hat sich Schröder strikt an das Wirksame gehalten, Inszenierungen insofern unter einer rhetorischen Maxime betrachtet (vgl. Goethe: Shakspear als Theaterdichter. MA 11, 2. S. 184– 185). So führt Cicero aus: „Er [gemeint ist der Redner, O. K.] muß durch die Bewegung des Körpers, durch Mienen- und Gebärdenspiel, durch Ausdruck und Abwechslung der Stimme das rechte Maß erhalten; wieviel allein schon das an sich bedeutet, lehrt die schlichte Schauspielkunst und das Theater“ (Cic. De orat. I, 18). Vgl. ähnlich auch ebd. I, 128.
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ner und Schauspieler (Bedeutung von memoria, actio und pronuntiatio) hinausführt und das Verhältnis vor dem Hintergrund der Sophistik beleuchtet. Mit Serlo begegnet Wilhelm einem Schauspieler, der ungleich professioneller agiert als seine bisherigen Freunde und Kollegen. Serlo orientiert sich als Schauspieler, aber auch als Regisseur strikt am Publikum („Was an einem Orte Wirkung tat, verfehlte er nicht am andern zu wiederholen […].“ 76) und eignet sich auf diese Weise ein Repertoire von Körperhaltungen und Sprechweisen an. Schauspielkunst ist für ihn das Ergebnis bewussten Einsatzes von Körper und Stimme. Er erhält im Roman die Züge eines perfekten Schauspielers, die zugleich die Züge eines Redners sind: Eine heitere Laune, eine gemäßigte Lebhaftigkeit, ein bestimmtes Gefühl des Schicklichen [aptum] bei einer großen Gabe der Nachahmung [imitatio], mußte man an ihm, wie er aufs Theater trat [actio], wie er den Mund öffnete [pronuntiatio], bewundern. Die innere Behaglichkeit seines Daseins schien sich über alle Zuhörer auszubreiten [ethos], und die geistreiche Art [docere], mit der er die feinsten Schattierungen der Rollen mit der größten Leichtigkeit ausdruckte [sprezzatura], erweckte um soviel mehr Freude, als er die Kunst zu verbergen wußte [dissimulatio artis], die er sich durch eine anhaltende Übung [exercitatio] eigen gemacht hatte.77
Goethes Schilderung ist ein gutes Beispiel dafür, wie selbstverständlich er über rhetorische Konzepte verfügt. Wenig später bringt er Serlo dann explizit mit der Sophistik in Verbindung, etikettiert ihn gar als „Sophisten“78, weil er Unterhaltungen mit seiner Fähigkeit, mal die eine, dann die andere Position einzunehmen, zerstöre. Die Fähigkeit aber, durch artifizielle Gesten, Haltungen und Formeln ästhetische Effekte erzeugen zu können, macht Serlo zu einem hervorragenden Schauspieler. Er kann alles und jeden darstellen, jede Regung anderer Menschen imitieren: „Nicht Eine Rolle der gangbaren Stücke, sondern die ganzen Stücke blieben leicht in seinem Gedächtnis, und zugleich der eigentümliche Ton des Schauspielers, der sie mit Beifall vorgetragen hatte.“79 Schließlich erreicht er als „vollkommene[r] Schauspieler“80 gar die Fähigkeit, die in der Rhetorik als eine der höchsten gilt, nämlich „aus dem Stegreife“81 zu agieren,82 die sich bei ihm allerdings zur Lebenspose entwickelt: Auf diesem Wege kam er nach und nach dazu, natürlich zu spielen und doch immer verstellt zu sein. Er schien hingerissen, und lauerte auf den Effekt, und sein größter Stolz war: die Menschen stufenweise in Bewegung zu setzen. Selbst das tolle Handwerk, das er trieb, nötigte ihn bald mit einer gewissen Mäßigung zu verfahren, und so lernte er, teils gezwun-
–––––––––––– 76 77 78 79 80 81 82
Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. MA 5. S. 271. Ebd. S. 250, Zusätze in Klammern von mir, O. K. Ebd. S. 273. Ebd. S. 271. Ebd. S. 272. Ebd. S. 271. Vgl. Quint. Inst. orat. X, 7, 1–33.
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gen, teils aus Instinkt, das, wovon so wenig Schauspieler einen Begriff zu haben scheinen: mit Organ und Gebärden ökonomisch zu sein.83
Schauspiel ist für Serlo nicht nur eine Profession, es formt auch seine private Existenz, allerdings in ganz anderer Weise als Wilhelm das erwartet. Serlo ist innerlich kalt, leidenschaftlich vertritt er im Gespräch immer wieder andere Meinungen, gibt sich schmeichelhaft, ohne dass sein glanzvolles Auftreten Individualität erkennen lässt. Ein Künstler, der wie Serlo die Wirkung eines Kunstwerks auf den Rezipienten nach eigenem Gutdünken gestalten kann, beherrscht seine Kunst, verfügt über wahre Kunstfertigkeit. Goethe spürt diesem Gedanken noch an einem verlorenen Kunststück wie Myrons Kuh nach, deren Natürlichkeit viele Autoren preisen. Für Goethe kann dies aber nur das Lob von Dilettanten sein. Der Menge, dem Dilettanten, dem Redner, dem Dichter ist zu verzeihen, wenn er das was im Bilde die höchste absichtliche Kunst ist, nämlich den harmonischen Effekt, welcher Seele und Geist des Beschauers, auf Einen Punkt konzentriert, als rein natürlich empfindet, weil es sich als höchste Natur mitteilt […].84
Die Plastik wirkt natürlich, gerade weil sie mit Kunstfertigkeit geschaffen wurde. Lange Zeit hält Goethe daran fest, dass hinter solcher Kunstfertigkeit eine Einsicht etwa in das Wesen der Natur liegt. Auch im Aufsatz über Myrons Kuh, in dem er behauptet, es gehe darum, dass der Künstler „den Sinn der Natur aufzufassen und auszudrücken“85 fähig sei, weil „der innere Gehalt des bearbeiteten Gegenstandes […] der Anfang und das Ende der Kunst“ 86 ist. Kunstfertigkeit könne zwar „durch Behandlung aus allem alles machen und den widerspenstigsten Stoff bezwingen“, aber dadurch entstehe eben mehr ein „Kunststück als ein Kunstwerk“.87 Zugleich ist Goethe in seinem Spätwerk jedoch davon fasziniert, wie mit Hilfe von Kunstfertigkeit jeder Gegenstand zu bewältigen und bezwingen ist. Und er experimentiert mit einer Kunst, die im Sinne Serlos durch technische Meisterschaft auf Rezipienten wirkt und ohne die Legitimation durch eine metaphysische Idee auskommt. Schon in Italien war Goethe fasziniert von der antiken Debattenkultur, die noch in das italienische Theater hineinwirkt, auch hier ist das sophistische Gegeneinander von intellektuellen Positionen ästhetisch wirksam. So notiert der Reisende nach einem Theaterbesuch in Venedig in seinem Tagebuch: „Ich verstehe auch jetzt besser die langen Reden und das Dissertiren pro und contra in den Grichischen Trauerspielen. Die Athenienser hörten noch lieber reden, und ver–––––––––––– 83 84 85 86 87
Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. MA 5. S. 272. Goethe: Myrons Kuh. MA 9. S. 638. Ebd. Goethe: Dichtung und Wahrheit. MA 16. S. 303. Ebd. S. 303–304.
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standen sich noch besser darauf als die Italiäner […].“88 Auch in einem Gespräch mit Riemer lobt er die „Freude an witzigen Repliken“89 im griechischen Drama, in dem auch nach neuerer Forschung sophistische Debattiermodelle hineinwirken.90 Insofern ist die erkenntnistheoretische Offenheit der Sophistik auch ein Garant für einen ästhetischen Gestaltungsfreiraum, den Goethe wertneutral zur Kenntnis nimmt. So heißt es in den „Maximen und Reflexionen“: Die Mathematik ist wie die Dialektik, ein Organ des inneren höheren Sinnes; in der Ausübung ist sie eine Kunst wie die Beredsamkeit. Für Beide hat nichts Wert als die Form, der Gehalt ist ihnen gleichgültig. Ob die Mathematik Pfennige oder Guineen berechne, die Rhetorik Wahres oder Falsches verteidige ist beiden vollkommen gleich.91
Rhetorik ist demnach eine Kunst, mit deren Hilfe sich für entgegengesetzte Positionen Argumente finden lassen; dies ist eine wesentliche Leistung der Rhetorik, kein Ausdruck ihres Versagens. Wenn Wilhelm in den „Lehrjahren“ in seinem berühmten Antwortbrief an Werner einerseits die Klugheit von dessen Ausführungen lobt, sich dann aber anschickt, „gerade das Gegenteil“ 92 zu behaupten, liefert er ein Beispiel für diese Fähigkeit der Rhetorik, wobei sich gerade durch den Gegensatz zweier extremer Positionen die Überzeugungskraft der einzelnen Argumente überprüfen lässt. Wie in den Meister-Romanen überhaupt eine agonistische Struktur zu erkennen ist und die widersprüchliche Ausgestaltung von Themen ein wichtiges poetisches Verfahren ist. Auch in den „Maximen und Reflexionen“ zeigt sich ja eine sophistische Freude am Widerspruch, und die „Wanderjahre“ sind so angelegt, dass sich „Themen und Motive […] gegenseitig relativieren“ und gerade so „die wahre Dimension eines Problems deutlich“ wird, sich gewissermaßen erst „in der Komplementarität der einzelnen Ansichten, Momente und Gestalten“ die Position des Autors spiegelt.93 –––––––––––– 88
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Goethe: Tagebucheintrag vom 6. Oktober 1786. WA III, 1, S. 271. Zu der Bedeutung der Rede für das griechische Drama hat Goethe sich 1823 in ausführlicherer Form in dem Text „Zum Kyklops des Euripides“ geäußert und dabei den Nutzen der Rhetorik für den Dramatiker herausgestellt: „Das griechische Volk war so gewohnt im gemeinen Leben öffentliche Reden zu hören, daß es damit wie mit seinen eigenen Tun und Lassen höchst bekannt war; dieses Element, die Redekunst, war den dramatischen Dichter höchst willkommen der auf einer fingierten Bühne die höchsten menschlichen Interesses vorzuführen und das Für und Wider verschiedener Parteien, durch Hin- und Wiederreden kräftig auszusprechen hatte. Bediente er sich nun dieses Mittels zum höchsten Vorteil seiner Tragödie […].“ (Goethe: Zum Kyklops des Euripides. MA 13, 1. S. 329–330). Goethe im Gespräch mit Friedrich Wilhelm Riemer. Zwischen 1804 u. 1812. WA V, 8. S. 182. Vgl. Dubischar, Markus: Der Kommunikationsmodus der Debatte im griechischen Drama (Aischylos, Sophokles, Euripides, Aristophanes). In: Kramer, Olaf (Hrsg.): Rhetorik der Debatte. Tübingen 2006 (= Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 25). S. 14–29. Goethe: Maximen und Reflexionen. MA 17. S. 829. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. MA 5. S. 288. Fink, Gonthier-Louis: Kommentar „Wilhelm Meisters Wanderjahre“. MA 17. S. 1007.
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Ein weiteres Beispiel für die Adaption des sophistischen Debatten-Modells liefert Goethes Übersetzung von Diderots „Versuch über die Malerei“: Goethe übersetzt zunächst möglichst genau, direkt danach kommentiert und bewertet er und liefert bisweilen eine korrigierte Formulierung der Lehrsätze Diderots. So verbindet Goethe den Versuch von Präzision auf der Wortebene mit dem Versuch, den Lesern das seines Erachtens adäquate Verständnis Diderots zu vermitteln. Er nimmt die Ausführungen Diderots intellektuell ernst, überprüft sie auf ihren Gehalt. Aber den „sophistischen Schlingen“94 des „Sophist[en]“95 Diderot muss eben jeweils eine konträre Position entgegengesetzt werden. Goethes apodiktische Entgegnungen sind als Stimme in einem Dialog in utramque partem zu verstehen. Indem er Diderot einen Irrtum unterstellt, seine eigene Position entgegensetzt, ergibt sich erst eine angemessene Lösung. Daher konnte Goethe auch mit der schon 1796 erschienenen deutschen Übersetzung der „Essais sur la peinture“ von Karl Friedrich Cramer nicht leben, erst im Kontrast von Rede und Widerrede erhält der Text Diderots im kulturellen Kontext der deutschen Diskussion seinen angemessenen Platz. So ist es weniger eine Übersetzung als ein rhetorisch-sophistisches Zwiegespräch, das Goethe vorlegt. Negativ ist das sophistische Modell erst zu bewerten, wenn niemand der Position der einen Seite etwas entgegensetzen kann, es keinen agonalen Wettstreit gibt, sondern eine Sichtweise den Diskurs dominiert. Dies ist eine Pointe, die Goethe schon in „Reinecke Fuchs“ darstellt, wo er wiederum nicht die Beredsamkeit Reineckes schlechterdings kritisiert, denn sie ist ja durchaus wirkungsvoll, vielmehr ein Versagen der anderen konstatiert, denn der König kann der raffinierten Argumentationskunst Reineckes nichts entgegensetzen. Im „Reinecke Fuchs“ ist wiederum ein Versagen der Herrschaft zu erkennen, die sich aus Bequemlichkeit, Naivität, Faulheit beeinflussen lässt.96 Die Analyse der rhetorischen Strategien, die Goethe in dem Text aufzeigt, kann hier unterbleiben, denn Peter Philipp Riedl hat sie in ausführlicher Form vorgelegt:97 Desinformation, Emotionalisierung, gezielte Lüge, Schmeichelei und sprachliche Brillanz gehören zum Repertoire des Fuchses.98 Als Beleg für die generelle Ablehnung der Redekunst taugt der Text daher aber nicht, viel eher als Beweis für die Wirksamkeit rednerischer Mittel und die realitätsstiftende Funktion der Rede, die nach dem Modell der –––––––––––– 94 95 96 97 98
Goethe: Diderots Versuch über die Malerei. MA 7. S. 524. Ebd. S. 526. Vgl. Riedl, Peter Philipp: Öffentliche Rede in der Zeitenwende. Deutsche Literatur und Geschichte um 1800. Tübingen 1997. S. 61–62 Vgl. ebd. S. 59–87. Reinecke selbst hat durch seine Lebensführung und seine meisterliche schmuckvolle Redekunst Züge eines Ästheten. Vgl. Kluge, Gerhard: Der Schelm – ein Ästhet. Zu Goethes „Reineke Fuchs“. In: Heßelmann, Peter, Michael Huesmann u. a.: „Das Schöne soll sein“. Aisthesis in der deutschen Literatur. Festschrift für Wolfgang F. Bender. Bielefeld 2001. S. 193–204, hier: S. 199–200.
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Debatte erst im Gegeneinander unterschiedlicher Sichtweisen einen Rationalitätstest ermöglicht. Ein Rhetorikverständnis, nach dem diese Disziplin systematisch sprachliche Mittel erschließt und deren Effekte analysiert, ergibt sich für den späten Goethe dann auch aus den Handbüchern zur griechischen und lateinischen Rhetorik von Johann Christian Gottlieb Ernesti.99 In seinen „Tag und Jahrheften“ auf das Jahr 1813 notiert er: In Absicht auf allgemeineren Sinn in Begründung ästhetischen Urteils hielt ich mich immerfort an Ernestis Technologie Griechischer und Römischer Redekunst, und bespiegelte mich darinnen scherz- und ernsthaft, mit nicht weniger Beruhigung, daß ich Tugenden und Mängel nach ein paar tausend Jahren als einen großen Beweis menschlicher Beschränktheit in meinen eigenen Schriften unausweichlich wieder zurückkehren sah.100
Nachdem Goethe die beiden Lexika von Ernesti 1808 zum ersten Mal zur Kenntnis genommen hat,101 arbeitet er ab 1813 kontinuierlich mit den beiden Bänden.102 Überhaupt ist Rhetorik zu dieser Zeit ein Thema für Goethe, Tagebuchnotizen wie „Professor Riemer. Grammatica und Rhetorica“103 belegen dies. 1816 setzt dann wiederum eine Ernesti-Phase ein;104 in den „Tag und JahresHeften 1816“ heißt es schließlich: „[D]as nicht zu erschöpfende Werk Ernestis Technologia rhetorica Graecorum et Romanorum lag mir immer zur Hand […].“105 Bei Ernesti entdeckt Goethe eine Systematisierung des antiken rhetorischen Wissens, die ihm einen Maßstab liefert, „was ich in meiner schriftstellerischen Laufbahn recht und unrecht gemacht hatte“.106 Nach der Analyse Rüdiger Campes setzt Ernestis Lexikonrhetorik „ein aktuelles rhetorisches Gesamtwissen und -handeln nicht mehr voraus“, weil es lediglich „die Systematik historisch am Einzelterminus und seiner Definitionsgeschichte“ entwickele.107 Für Campe liefert Ernesti nur noch „Rhetorik […] als ironisches Doppel des Textes“.108 Aber –––––––––––– 99
100 101 102 103 104 105 106 107 108
Ernesti, Johann Christian Gottlieb: Lexicon Technologiae Graecorum Rhetoricae. Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1795. Hildesheim 1962; ders.: Lexicon Technologiae Latinorum Rhetoricae. Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1797. Hildesheim 1962. Goethe: Tag- und Jahreshefte 1813. MA 14. S. 236. Vgl. Goethe: Tagebucheintrag vom 4. Juni 1808. WA III, 3. S. 342. Vgl. Goethe: Tagebucheintrag vom 5., 6. u. 12. April, 5., 6., 9. u. 13. Mai, 3. u. 4. Juni 1813. WA III, 5. S. 30, 44–45 u. 52–53. Goethe: Tagebucheintrag vom 5. April 1813. WA III, 5. S. 30. Vgl. Goethe: Tagebucheintrag vom 20. Oktober 1816. WA III, 5. S. 279. Goethe: Tag- und Jahreshefte 1816. MA 14. S. 250. Ebd. Campe, Rüdiger: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1990. S. 517. Ebd. S. 538. Campe setzt die Ernesti-Lektüre in Zusammenhang mit der Arbeit am zwölften Buch von „Dichtung und Wahrheit“, in dem Goethe sich mit rhetorischen Fragen beschäftigt.
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geht es Goethe, wenn er Ernesti liest, wirklich nur um eine spielerische rhetorische Analyse seiner Texte? Er hat sich ein Leben lang für rhetorische Fragen interessiert, sich in seinen literarischen und theoretischen Texten mit rhetorischen Problemen beschäftigt, so dass seine Ästhetik, aber auch anthropologische und selbst erkenntnistheoretische Grundüberzeugungen immer wieder rhetorische Denkmuster aufnehmen, die mit der rhizomatischen Tradition der Rhetorik verwachsen sind. Ernestis Rhetorik ist für Goethe gerade als intaktes System und nicht als Schwundstufe rhetorischen Wissens interessant und wichtig, und über Artikel wie den zur inventio gelingt es Ernesti ja gerade, nicht nur Bruchstücke,109 sondern sinnvoll strukturiertes rhetorisches Wissen zu präsentieren. Unter den zahlreichen Gesprächen und Äußerungen der nachklassischen Phase, an denen abzulesen ist, dass Goethe über die Bedeutung der Rhetorik nachdenkt, hat eine Maxime aus den „Betrachtungen im Sinne der Wanderer“ besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen und ist immer wieder als Beleg für Goethes kritische Haltung zur Rhetorik herangezogen worden: Die Redekunst ist angewiesen auf alle Vorteile der Poesie, auf alle ihre Rechte; sie bemächtigt sich derselben und mißbraucht sie, um gewisse äußere, sittliche oder unsittliche, augenblickliche Vorteile im bürgerlichen Leben zu erreichen.110
Auf den ersten Blick sagt dieser Satz nichts anderes, als dass die Rhetorik die Poesie „mißbraucht“, und fügt sich in das Bild vom rhetorikfeindlichen Goethe. Doch lässt sich die Passage unter der Perspektive einer beständigen Auseinandersetzung Goethes mit der Rhetorik durchaus auch anders verstehen. Goethe sondert hier nicht die böse Rhetorik von der guten Poesie, vielmehr bringt er beide in gewisser Hinsicht zur gegenseitigen Deckung: Strukturell sind Rhetorik und Poesie auf Sprache angewiesen, aber im Nutzenkalkül unterscheiden sie sich nach seiner Vorstellung: Während der Rhetoriker äußere Ziele verfolgt, um deren moralischen Wert er sich nicht schert, hat die autonome Poesie solche äußeren Ziele nicht im Sinn und treibt ein freies Spiel mit den rhetorischen Figuren, lässt es der Poet beim Erweis seiner Kunstfertigkeit bewenden. Damit gewinnt die Poetik für Goethe Vorrang über die Rhetorik, der ihr wohl auch historisch zukommt, zugleich wird die Rhetorik aber als eine Kunst eingeführt, die für den Schriftsteller durchaus von Interesse sein kann, denn indem die Rhetorik sich der Vorteile der Poesie bemächtigte, ist eben historisch auch eine differenzierte Theorie des sprachlichen Ausdrucks entstanden. Die Schärfe gegenüber der Rhetorik, die sich in diesem Zitat zeigt, mag sich dadurch erklären, dass es Goethe um „die Rechtfertigung der eigenen poetischen Verfahrensweise“ geht, wie Armin Erlinghagen anmerkt, darum, die ästhetische Autonomie des Kunst–––––––––––– 109 110
Vgl. Ernesti, Johann Christian Gottlieb: Lexicon Technologiae Latinorum Rhetoricae. Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1797. Hildesheim 1962. S. 224–228. Goethe: Maximen und Reflexionen. Nr. 511. MA 17. S. 814.
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werks zu begründen.111 Sofern eine rhetorisch geprägte Poetik dafür steht, dass sie äußere Zwecke verfolgt, lehnt Goethe sie ab, die Rhetorik als Technik bleibt aber faszinierend, enthält sie doch im Grunde Anweisungen zur formalen Perfektionierung von Sprache. Als „genuin unrhetorisch“112 lässt sich die Dichtung Goethes eben nicht fassen, da die Rhetorik, wie das Beispiel Ernesti wiederum zeigte, ein umfangreiches Instrumentarium zur Strukturierung von Texten geschaffen hat, das von Beginn an auf die Poetik eingewirkt hat. Gerade wenn die Kunstfertigkeit des Autors zum Maßstab gemacht wird, es auf die artifizielle Qualität eines Textes ankommt, kommt die Rhetorik ins Spiel. Dem späten Goethe kommt es auf die Form an, die artifizielle Qualität eines Textes rückt für ihn in das Zentrum dichterischer Vollendung. Innerhalb seines Briefwechsels mit Zelter formuliert er: „Die Vollendung des Kunstwerks in sich selbst ist die ewige unerlässliche Forderung!“113 In nachklassischer Zeit werden also die intrinsischen Regeln zum Aufbau eines Kunstwerks, die zum inneren aptum gehören, immer wichtiger. In Auseinandersetzung mit Aristoteles erörtert Goethe Zelter dieses Thema über einen längeren Zeitraum. Noch beinah drei Jahre nach dem eben zitierten Brief bringt Goethe den Gedanken, dass es nicht um die Wirkungen der Kunst geht, sondern um ihre artifizielle Qualität, die sich etwa an der inneren Angemessenheit eines Kunststücks zeige, pointiert vor: Wir kämpfen für die Vollkommenheit eines Kunstwerkes, in und an sich selbst, jene denken an dessen Wirkung nach außen, um welche sich der wahre Künstler gar nicht bekümmert, so wenig als die Natur wenn sie einen Löwen oder einen Colibri hervorbringt. Trügen wir unsre Überzeugung auch nur in den Aristoteles hinein, so hätten wir schon recht, denn sie wäre ja auch ohne ihn vollkommen richtig und probat; wer die Stelle anders auslegt mag sichs haben.114
Diese Reflexionen stehen in Zusammenhang mit der Abhandlung „Nachlese zu Aristoteles’ Poetik“ aus dem Jahr 1827. Goethe hebt gegen die sittliche Wirkung der Tragödie die Bedeutung formaler Vollendung hervor: Weit davon entfernt, das Trauerspiel als Realitätsspiegelung zu klassifizieren, betont Goethe […], daß es ein Produkt, eben ein Konstrukt des Autors darstellt, das er ‚aufstellt‘ und ‚hervorbringt‘ und sich dabei offenbar nicht von irgendwelchen Vorgaben der Geschichte, der Natur, der Welt leiten läßt.115
–––––––––––– 111
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Erlinghagen, Armin: „Poesie ist Poesie, von Sprech- und Redekunst unendlich verschieden“. Anmerkungen zur Krise der Schriftstellerei um 1800 mit Rücksicht auf Goethe, Wilhelm von Humboldt, Friedrich Schlegel und Wilhelm Müller. In: Athenäum. Jahrbuch der Friedrich Schlegel-Gesellschaft 18 (2008) S. 81–100. Ebd. S. 95. Goethe an Zelter. Brief vom 23. bis 29. März 1827. MA 20, 1. S. 987. Goethe an Zelter. Brief vom 26. bis 29. Januar 1830. MA 20, 2. S. 1312. Petersen, Jürgen H.: Mimesis – Imitatio – Nachahmung. Eine Geschichte der europäischen Poetik. München 2000. S. 204.
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Goethe zweifelt in seiner Nachlese das katharsis-Konzept an: Indem Aristoteles zu verlangen scheine, dass die Tragödie „durch Darstellung Mitleid und Furcht erregender Handlungen und Ereignisse von den genannten Leidenschaften das Gemüt des Zuschauers reinigen solle“,116 fordere er etwas Unerreichbares. Es geht Aristoteles mit seinen Ausführungen zur katharsis nach Goethes Interpretation gar nicht um Wirkungen des Trauerspiels. Vielmehr ziele die Behandlung der katharsis in der „Poetik“ auf die „Konstruktion des Trauerspiels“.117 Goethe übersetzt daher die berühmte katharsis-Passage mit der Formulierung, dass die Tragödie „mit Ausgleichung solcher Leidenschaften [gemeint sind Mitleid und Furcht] ihr Geschäft abschließt.“118 So wird katharsis bei Goethe zu einem formalen Konstruktionsprinzip von Theaterstücken, die so gebaut sein sollen, dass sie am Ende Gefühlswirkungen ausgleichen und aufheben, es geht um eine „aussöhnende Abrundung“.119 Um eine moralische Wirkung der Kunst geht es Goethe weniger: Seiner Meinung nach vermag Kunst nicht „auf Moralität zu wirken“, und der Zuschauer einer Tragödie wird „um nichts gebessert nach Hause gehen […].“120 Auch dies relativiert übrigens Goethes vermeintliche Kritik an der Rhetorik, der es um „augenblickliche Vorteile im bürgerlichen Leben“ geht, nicht um Fragen der Sittlichkeit.121 Ob diese Aristoteles-Interpretation stichhaltig ist, soll und kann hier nicht diskutiert werden, Aristoteles scheint sehr wohl moralische Wirkungen von Kunst oder Sprache einkalkuliert zu haben, sonst wären auch der Katalog der Affekte, den er in seiner „Rhetorik“ zusammenstellt, und sein gesamtes ethos-Konstrukt nicht konsistent.122 Goethe selbst räumt ein, dass es Überlegungen von Aristoteles gibt, die der angebotenen Interpretation zuwiderlaufen.123 Wichtig ist hier jedoch, wie sehr er Literatur in seiner Spätphase mit Form und Kunstfertigkeit in Verbindung bringt. Ästhetische Effekte sind das Ergebnis rhetorischer Strukturen, von sprachlicher Kunstfertigkeit, die die Rhetorik modellhaft definiert. Von einer „ParaRhetorik“ im Sinne Gustav René Hockes, die allein auf den artifiziellen Effekt setzt, bleibt Goethe aber entfernt, weil er den Formen einen erkenntnistheoretischen Wert zuschreibt. Wie in der Sophistik der Widerspruch als ein –––––––––––– 116
Goethe: Nachlese zu Aristoteles’ Poetik. MA 13, 1. S. 340. Ebd. 118 Ebd. 119 Ebd. 120 Ebd. S. 342. 121 Goethe: Maximen und Reflexionen. Nr. 511. MA 17. S. 814. 122 Vgl. Arist. Rhet. Buch II (Affektenlehre) resp. 1356a (ethos). Goethes Deutung darf zumindest als ungewöhnlich gelten und hat die Diskussion um den katharsis-Begriff nicht in vergleichbarer Weise dominiert wie Lessings Überlegungen oder Herders Theorien. 123 Vgl. Goethe: Nachlese zu Aristoteles’ Poetik. MA 13, 1. S. 341–342. Beispielsweise traut Aristoteles orgiastischer Musik explizit moralische Wirkungen zu (vgl. Aristoteles: Politik. Übersetzt von Eugen Rolfes. 4. Auflage. Hamburg 1990. VIII, 5–7). 117
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Rationalitätstest für die vorgebrachten Argumente dient, können laut gegenseitige Spiegelungen helfen, einen Zusammenhang zu beleuchten und zu verstehen. Sinnliche Anschauung der Natur oder auch eigene Empfindungen geben dem Schriftsteller nach Goethe die Möglichkeit, seine rhetorisch artifiziellen Werke objektiv oder subjektiv zu fundieren. Insofern ist Goethes Auseinandersetzung mit der Naturwissenschaft eine Art Gegenbewegung zur sophistischen Skepsis. Freilich sind die subjektive Empfindung und die scheinbar objektive Naturtheorie selbst wieder rhetorische Konstruktionen, aber Goethes Werk lässt diese Polyphonie zu, sophistische Skepsis und konsequente Artifizialität sind einzelne Klangmotive, die erst im Zusammenspiel mit der Subjektivität des Individuums und der objektiv sinnlichen Offenheit der Natur gegenüber richtig eingeordnet sind. Im Manierismus, den Hocke untersucht, überwiegt „Subtilität“, rhetorische Figuren und argumentative Raffinessen sind hier nur wegen ihrer Effekte von Interesse.124 Goethe hat sich, wie Hocke bemerkt, zwar Manierismen erlaubt, aber doch die Idee des Schönen, die sich in der Natur manifestiert, als Korrektiv betrachtet,125 zudem die subjektive Erfahrung als Korrektiv genommen – so müsste man noch ergänzen. Trotzdem ist die Wirkung reiner rhetorischer Struktur, die sich etwa in Ernestis Lexika erschließt, für Goethe ein interessantes Phänomen, mit dem er im „Divan“ experimentiert. Die sophistische Vorstellung, dass die Einsicht in unverrückliche Wahrheiten dem Menschen versperrt ist, er nur mit Hilfe der Rhetorik im Diskurs Geltungsansprüche formulieren kann, ist ein ebenso beachtlicher Gedanke, der etwa in der Autobiographie wichtig ist, wenn Wahrheit für Goethe zum Problem wird und er auf die sinn- und wirklichkeitsstiftende Funktion der Rhetorik setzt.
9. 2.
Ein Leben schreiben. „Dichtung und Wahrheit“ als Akt rhetorischer Selbstdarstellung
9. 2. 1. Die Konstruktion von biographischer Identität im Medium der Autobiographie Autobiographien lassen sich als die rhetorische Verdichtung von Leben verstehen, sie sind rhetorische Versuche zur Konstruktion und Plausibilisierung eines Lebensentwurfs, innerhalb dessen sich Individualität entfalten kann, ohne dass die historische Realität beständig als Maßstab und Grenze der Entwicklungsmöglichkeiten vorgegeben ist. Auch Goethes Wieland-Rede, die er für die Wei–––––––––––– 124 125
Vgl. Hocke, Gustav René: Manierismus in der Literatur. Sprach-Alchimie und esoterische Kombinationskunst. Hamburg 1959. S. 139–141. Ebd. S. 109.
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marer Freimaurerloge, in welche Wieland 1809 beigetreten war,126 vorbereitet hat, ist ein Beispiel für einen solchen rhetorischen Lebensentwurf, ein Beispiel für das lebendige Erinnern mit den Mitteln der Rede und kann in vielerlei Hinsicht als Reflexion auf das Themenfeld Autobiographie verstanden werden. Goethe löst sich von historischen Vorgaben, es geht ihm nicht um das historische Detail, sondern um einen einheitlichen, im Ganzen überzeugenden Lebensentwurf. Er beginnt seine Rede vorsichtig tastend,127 indem er die Erwartungen an eine Trauerrede reflektiert, um dann zu dem „Zauberstab“128 der Muse zu greifen und ein helles Bild der Erinnerung zu zeichnen, das Wieland eher gerecht wird als ein trauerndes Erinnern. Damit macht er deutlich, dass sich mit Hilfe rhetorischer Argumentationsverfahren (Indizien, Beispiele etc.), aber vor allem durch eine zielgerichtete sprachliche Gestaltung Wirklichkeitsentwürfe formulieren lassen: [D]ieses Finstere müßte sich gleich vor Ihren Augen erhellen, und ein festlich geschmückter Saal mit bunten Teppichen und muntern Kränzen, so froh und klar als das Leben unseres Freundes, sollte vor Ihnen erscheinen. Da möchten die Schöpfungen seiner blühenden Phantasie Ihre Augen, Ihren Geist anziehn, der Olymp mit seinen Göttern, eingeführt durch die Musen, geschmückt durch die Grazien, sollte zum lebendigen Zeugnis dienen, daß derjenige, der in so heiterer Umgebung gelebt, und dieser Heiterkeit gemäß, auch von uns geschieden, unter die glücklichsten Menschen zu zählen, und keineswegs mit Klage, sondern mit Ausdruck der Freude und des Jubels zu bestatten sei.129
„Freude“, „Jubel“, „Heiterkeit“, Goethes Trauerrede überrascht, indem sie konsequent versucht, die traurige Erinnerung durch ein heiteres Andenken zu ersetzen, das Wieland „lebendig“ werden lässt. Zwar steht die laudatio funebris von jeher unter dem Gebot des ‚de mortuis nihil nisi bene‘,130 doch selbst Cicero argu–––––––––––– 126
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Wieland schien sich von der Logenarbeit eine Überwindung seiner Isolation zu erhoffen, unter der er als Aufklärer litt (vgl. dazu: Sengle, Friedrich: Goethes Nekrolog „Zu brüderlichem Andenken Wielands“. Die gesellschaftliche und historische Situation. In: Ders.: Neues zu Goethe. Essays und Vorträge. Stuttgart 1989. S. 157–172, hier: S. 157). Zur Bewertung des Freimaurerwesens in Bezug zur Aufklärung vgl. Simonis, Linda: Die Kunst des Geheimen. Esoterische Kommunikation und ästhetische Darstellung im 18. Jahrhundert. Heidelberg 2002. S. 101–116. Nach Monika Wulf-Mathies ist ein entschuldigender Grundtenor typisch für den Nekrolog und geht oft mit der Verwendung von Bescheidenheitsformeln einher (vgl. M. W.-M.: Typologische Untersuchungen zum deutschen Gelehrten-Nekrolog des 19. und 20. Jahrhunderts. Hamburg 1969. S. 92). Goethe: Zu brüderlichem Andenken Wielands 1813. MA 9. S. 945. Ebd. Zur Tradition der Leichenrede vgl. Kierdorf, Wilhelm: Laudatio Funebris. Interpretationen und Untersuchungen zur Entwicklung der römischen Leichenrede. Meisenheim am Glan 1980; Wulf-Mathies, Monika: Typologische Untersuchungen zum deutschen GelehrtenNekrolog des 19. und 20. Jahrhunderts. Hamburg 1969; Kazmaier, Martin: Die deutsche Grabrede im 19. Jahrhundert. Aspekte ihrer Funktion innerhalb der bürgerlichen Bestattungsfeierlichkeiten. Tübingen 1977. In der antiken Rhetorik wird die Trauerrede meist im Kontext der laudatio behandelt (vgl. etwa Quint. Inst. orat. III, 7, 2; Cic. De orat. II, 342).
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mentiert, dass „eine Leichenfeier […] für das, was den Ruhm der Rede ausmacht, völlig ungeeignet ist.“131 So gesehen, überrascht der beherzte Einsatz rhetorischer Mittel, zumal die Loge von Goethe eine eher sachliche, argumentativ abwägende Rede erwartet hatte: „Nach dem Standpunkte der Loge muß es reine Abwägung seiner Verdienste seyn, und da bin ich sehr begierig, wie sein Br[uder] in Apollo diese wichtige Aufgabe löst.“132 Der Auftakt der Rede verfolgt ein rhetorisches Ziel, das auch andere Reden Goethes haben, nämlich die Herstellung von sinnlicher Anschaulichkeit (evidentia).133 Goethe führt seine Zuhörer in einen Saal mit bunten Teppichen und munteren Kränzen und sorgt auf diese Weise dafür, dass die rednerische Erinnerung an Wieland eine lebendige wird. Er lässt Figuren aus Wielands literarischem Werk auftreten, und auch Wieland selbst stellt er den Zuhörern vor Augen: „Begleiten wir unsern Freund, auf dem Stufengange seiner Tage, sehen wir ihn als Knaben, Jüngling, Mann und Greis […].“134 Goethes Wieland-Rede zeichnet die Entwicklung des Dichters von der Geburt über das Studium bis zur Arbeit als Erzieher in der gebotenen Kürze nach, analysiert ausführlicher sein publizistisches und literarisches Werk, versucht eine Summe der Existenz Wielands zu ziehen. Auffallend ist, dass Goethe dabei Wielands Werdegang immer wieder durch das Wechselspiel von Geschichte und Individuum beschreibt, auch insofern ist die Rede ein Beitrag zu den Grundlagen autobiographischen Schreibens. Wie in der Autobiographie – Goethe unterbricht übrigens die Arbeit am 11. und 12. Buch von „Dichtung und Wahrheit“, um die Trauerrede vorzubereiten – führt er auch in dem Nekrolog Dichter und Werk zusammen: „Mensch und Schriftsteller hatten sich in ihm ganz durchdrungen, er dichtete als ein Lebender, und lebte dichtend.“135 Dabei ist Wieland kein einfacher Kandidat für eine Trauerrede, denn er ist als Dichter wie als Mensch höchst umstritten. Man betrachtet seine Werke zum Zeitpunkt seines Todes nämlich eher kritisch, seine erotischen Texte etwa stießen von Beginn an auf vielfachen Widerstand.136 Überhaupt war Wieland, der sich weiterhin zu den Idealen der Aufklärung bekannte und als Anhänger der französischen Literatur galt, schon längere Zeit isoliert, galt als ein –––––––––––– 131
Cic. De orat. II, 341. Friedrich Johann Justin Bertuch an Karl August Böttiger. Brief vom 4. Februar 1813. In: Goethe-Jahrbuch 4 (1883) S. 329. Friedrich Sengle hat die komplizierten Vorbereitungsarbeiten zu Goethes Nekrolog dokumentiert, die sich ergeben, als die Loge nicht mit Goethes ersten Entwürfen zufrieden ist (vgl. F. S.: Goethes Nekrolog „Zu brüderlichem Andenken Wielands“. Die gesellschaftliche und historische Situation. In: Ders.: Neues zu Goethe. Essays und Vorträge. Stuttgart 1989. S. 157–172). 133 Vgl. Kapitel 2 dieser Arbeit. 134 Ebd. 135 Goethe: Zu brüderlichem Andenken Wielands 1813. MA 9. S. 948. 136 Vgl. Nowitzki, Hans-Peter: Rezeptions- und Forschungsgeschichte. In: Heinz, Jutta (Hrsg.): Wieland-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart u. Weimar 2008. S. 36–52, hier besonders S. 36–42. 132
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Sonderling. Goethe aber vermag es, diese dunklen Punkte in Wielands Biographie nach der Maxime der Funeralrhetorik ‚nihil nisi bene‘ allesamt ins Positive zu wenden. So macht er aus der Oßmannstedter Episode ein „seiner Natur und seinen Wünschen völlig gemäßes, Leben“,137 führt gegen den Verdacht, Wielands Literatur stehe unter dem Einfluss der Franzosen, seine Shakespeare-Übersetzungen ins Feld und vergleicht den provokanten Autor mit Theoretikern wie Addison, Steele und Shaftesbury, um über die Autorität dieser Figuren auch Wieland in ein positives Licht zu rücken. 138 Goethe betont, er spreche „mehr aus einer fast vierzig Jahre geprüften Neigung, als aus rednerischer Überlegung“.139 In Wirklichkeit aber hat er brieflichen Auskünften nach lange und intensiv an dem Text gearbeitet, 140 und so kann man es nur als Bescheidenheitsgeste und Dissimulationsversuch sehen, wenn er diesen als formal defizitär hinstellt und behauptet, dass er: „keineswegs in gehöriger Verbindung, sondern vielmehr in kurzen Sätzen, ja sprungweise vortrage, weder des Gefeierten, noch der Feiernden würdig“.141 Wenn er immer wieder hervorhebt, nur „Marginalien eines künftigen Werks“ 142 zu präsentieren, und erwähnt, dass es ihm in seinen Ausdrücken keineswegs um eine „rednerische[…] Phrase“143 gehe, dann zeigt dies nur, wie sehr er auf Wirkung kalkuliert, denn die formale Struktur des Textes dementiert durch bilderreiche und präzise Sprache, strategisch geschickte Argumentation und eine klassisch-rhetorische dispositio diese Worte deutlich. Interessanterweise arbeitet Goethe in der Rede Wieland als Rhetor heraus, denn dieser sei stets auf Wirkungen bedacht gewesen, die er mit „Tüchtigkeit“ –––––––––––– 137
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Goethe: Zu brüderlichem Andenken Wielands 1813. MA 9. S. 948. Bei der ausführlichen Schilderung gerät das Leben in Oßmannstedt zu einem ländlichen Idyll, in dem Wieland als liebenswürdiger „Haus- und Familien-Vater“ residiert und das bei aller Abgeschiedenheit einen Ort großer Geselligkeit darstellte (vgl. ebd. S. 960). Es ist ein typisches Verfahren der Lobrede, durch den Vergleich mit anerkannten Personen das Lob argumentativ zu sichern (vgl. Cic. De or. II, 348). Goethe: Zu brüderlichem Andenken Wielands 1813. MA 9. S. 946. Goethe beklagt sich zwei Tage nach der Trauerrede bei Knebel über die mühevolle Arbeit an dem Text (vgl. Goethe an Carl Ludwig von Knebel. Brief vom 20. Januar 1813. WA IV, 23. S. 286). In der Vorbereitungsphase mischt sich nämlich Johann Cornelius Rudolf Ridel, der Meister der Weimarer Loge, ein, dem Goethe vorab das Manuskript seiner Rede vorlegt (vgl. Goethe an J. C. R. R. Brief vom 7. Februar 1813. WA IV 23. S. 276), das dieser einige Tage später retourniert, worauf Goethe die Rede einer „Revision“ unterzieht (Goethe: Tagebucheintrag vom 8. Februar 1813. WA III, 5, 14). Im Laufe der Arbeit muss Goethe Ridel sogar wegen des „augenblicklichen Dissenses um Verzeihung“ bitten (vgl. Goethe an Johann Cornelius Rudolf Ridel. Brief vom 6. Februar 1813 WA IV, 23. S. 276) bitten. Zu den Verwirrungen dürfte außerdem beigetragen haben, dass Carl August die Teilnahme der Hofdamen wünschte, was eigentlich gegen die Regeln der Loge verstieß (vgl. Wernekke, Hugo: Goethe und die königliche Kunst. Berlin 1923. S. 33–35). Goethe: Zu brüderlichem Andenken Wielands 1813. MA 9. S. 946 Ebd. Ebd. S. 948.
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und „Offenheit seines Wesens“ erreicht habe.144 Durch die Inszenierung Wielands als Redner erhellt sich für Goethe dessen journalistische Arbeit (der „Merkur“ wird in der Rede ausführlich behandelt), bei der er stets versuchte, seine Meinung durchzusetzen. Auch das Interesse Wielands an Cicero fügt sich in dieses Bild. Schon im Gespräch mit Falk hatte Goethe die Nähe zwischen Wieland und Cicero betont und sich eine himmlische Union beider ausgemalt: „Möchten Sie ihm wohl einen Platz bei seinem Cicero anweisen, mit dem er sich noch bis an den Tod so fröhlich beschäftigte?“145 Über die Darstellung Wielands als Redner lässt sich sein Werk verstehen, seine Streitlust positiv wenden, so dass ein konsistentes Bild des Verstorbenen entsteht. Die Wieland-Rede zeigt, wie sich mit Hilfe rhetorischer Mittel ein Leben in einer Weise entwerfen lässt, die Widerstände und Misserfolge glättet, dafür einen Sinn hinter den Lebensereignissen aufzeigt – damit sind wesentliche Prinzipien des autobiographischen Schreibens definiert. Goethes Autobiographie besitzt entsprechend eine ganz eigene Vorstellung von Wahrheit, die sich auf den Menschen und seine empfundene Individualität bezieht. Er ist „innigst überzeugt, daß der Mensch in der Gegenwart ja vielmehr noch in der Erinnerung die Außenwelt nach seinen Eigenheiten bildend modele.“146 Eine Exaktheit in Detailfragen ist ihm in „Dichtung und Wahrheit“ nicht um des Details willen wichtig, wie man es aus positivistischer Sicht von einem Historiker erwarten würde, sondern weil das Detail in seiner rhetorischen Ausgestaltung einen Beitrag zur Beschreibung des ‚Grundwahren‘ leisten könnte,147 darauf bezieht sich auch der Titel „Dichtung und Wahrheit“: Was den freylich einigermaßen paradoxen Titel der Vertraulichkeiten aus meinem Leben Wahrheit und Dichtung betrifft, so ward derselbige durch die Erfahrung veranlaßt, daß das Publicum immer an der Wahrhaftigkeit solcher biographischen Versuche einigen Zweifel hege. Diesem zu begegnen, bekannte ich mich zu einer Art von Fiction, gewissermaßen
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Ebd. Goethe in einem Gespräch mit Johannes Daniel Falk. 25. Januar 1813. WA V, 3. S. 61. Goethe: Tag- und Jahreshefte 1811. MA 14. S. 220. Die Frage, wie das Gedächtnis die Erinnerung formt, wird von Roy Pascal in seiner klassischen Untersuchung zur Autobiographie in den Mittelpunkt gerückt. Vgl. R. P.: Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt. Stuttgart 1965. S. 78–104, 175–189 u. 208–230. Änderungen der Fakten sind für Pascal entweder auf Erinnerungslücken zurückzuführen oder Zeichen einer Fälschungsabsicht (vgl. ebd. S. 223). Dem ist aus der Sicht Goethes entgegenzuhalten, dass die wirkungsvolle Gestaltung der eigenen Identität zu den Absichten autobiographischen Schreibens gehört, die Frage nach Fälschungsabsichten verfehlt somit das eigentliche Anliegen der Gattung, geht zumindest an den Zielen Goethes deutlich vorbei. Goethe selbst hat das Verhältnis von Biographie und Geschichtsschreibung in einem kurzen Text prägnant bestimmt: die Biographie stellt das Individuum und sein Jahrhundert lebendig dar, die Geschichtsschreibung hingegen ist mehr an Resultaten interessiert. Vgl. Goethe, Johann Wolfgang: Aufzeichnung über das Verhältnis der Biographie zur Geschichte (Paralipomenon 40). MA 16. S. 861–862; außerdem ders.: Dichtung und Wahrheit. MA 16. S. 11.
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ohne Noth, […] denn es war mein ernstestes Bestreben das eigentliche Grundwahre […] möglichst darzustellen und auszudrücken.148
Goethe bewegt sich, wenn er Wahrheit in dieser Weise versteht, wiederum im Umkreis rhetorischer Erkenntnistheorie, denn das ‚Grundwahre‘ ist selbst eine Fiktion, die der autobiographische Autor mit rhetorischen Mitteln konstruiert. Sobald eine sichere Wahrheit nicht verfügbar ist, bleibt eben nichts anderes übrig, als im Sinne der Sophisten plausible und wahrscheinliche Entwürfe zu formulieren. Die „Wahrheit“, auch das „Grundwahre“ ergibt sich erst durch diskursive Gestaltung, schon in der Erinnerung, wie Goethe eingesteht, und erst recht beim Verfassen einer Autobiographie. Wenn ein Autor seine eigene Identität entwirft, agiert er im Reich der Wahrscheinlichkeit. Zwar ist Goethe bemüht, die individuelle Entwicklung vor dem Hintergrund der Geschichte zu betrachten, „[d]enn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen […].“149 Ganz ohne Maßstab bleibt Goethe aus seiner Sicht also wiederum nicht, aber eine erkenntniskritische Tendenz ist doch deutlich. Auch in dem Aufsatz „Winkelmann und sein Jahrhundert“ hat Goethe das Verhältnis eines Individuums zu seiner Zeit beschrieben und versucht, Prägungen und Widerstände als formende Elemente einer Biographie zu erfassen. Es scheint ihm nämlich ein Zeichen der neuen Zeit zu sein, dass der Mensch nicht in einen kulturellen Kontext gestellt ist, der seine Identität im Wesentlichen definiert, vielmehr Individualität, so wie es etwa in den „Wanderjahren“ illustriert ist, sich erst im Dialog von Mensch und Umwelt entfaltet und entwickelt. Die Unterschiede zwischen dem antiken und dem neuen Menschen beschreibt Goethe folgendermaßen: Wirft sich der Neuere, wie es uns eben jetzt ergangen, fast bei jeder Betrachtung ins Unendliche, um zuletzt, wenn es ihm glückt, auf einen beschränkten Punkt wieder zurückzukehren, so fühlten die Alten, ohne weitern Umweg, sogleich ihre einzige Behaglichkeit innerhalb der lieblichen Grenzen der schönen Welt. Hieher waren sie gesetzt, hiezu berufen, hier fand ihre Tätigkeit Raum, ihre Leidenschaft Gegenstand und Nahrung.150
Wenn Goethe den Verlust an Behaglichkeit in der Welt diagnostiziert, weist er darauf hin, dass für ihn und seine Zeitgenossen die eigene Existenz an Selbstverständlichkeit verloren hat, weshalb die Autobiographie auch eine Form der Selbstbestimmung des Individuums ist: Die Voraussetzungen für die Entwicklung dieser literarischen Form […] sind die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung, die Freude daran oder Zwang dazu, kritischer Abstand zu sich selbst, Bewußtsein des gelebten Lebens, der unwiederholbar eigenen Erfahrung, Erschei-
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Goethe an König Ludwig I. von Bayern. Brief vom 27. Dezember 1829. WA IV, 50. S. 60– 61. Goethe: Dichtung und Wahrheit. MA 16. S. 11. Goethe: Winkelmann und sein Jahrhundert. MA 6, 2. S. 351.
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nungen, die also in Ansätzen auch die Spätantike schon kennt und die in den ‚Confessiones‘ des Augustinus eine erste bedeutende Ausprägung erfahren.151
Aber erst im 18. Jahrhundert erlebt die Autobiographie eine Blüte, weil die Aufklärung einem Subjektivismus Raum gegeben, kulturelle, insbesondere religiöse, Einflussfaktoren geschwächt hat, so dass der Mensch vor die Aufgabe gestellt ist, sich selbst als Individuum zu definieren, sein Selbstbild in Auseinandersetzung mit der Umwelt zu formen und zu etablieren. Allerdings ist das Ideal des antiken Menschen, das Goethe im Winckelmann-Aufsatz zeichnet, eben auch eine eher mythische Vorstellung. Trotzdem wird die Frage nach der eigenen Identität erst im 18. Jahrhundert zu einem dominanten Problem, das eine diskursive Lösung im Medium der Autobiographie herausfordert. In Goethes autobiographischen Schriften erreicht die literarische Darstellung und dabei auch Formung von Individualität jedenfalls eine neue Dimension. Jenseits der historischen Realität gelingt ihm eine strategisch dominierte Neuerfindung der eigenen Person, die zwar auch in der autobiographischen Darstellung von der historischen Situation abhängig ist, dabei aber in stärkerem Maße geformt und gestaltet, „neuformuliert“ und mit „Tätigkeit und Zähigkeit“ ausgestaltet werden kann,152 wie Harald Schnur das Tun des Autobiographen umreißt. Goethe hat erkannt, dass das autobiographische Schreiben dem Autor einen großen Freiraum bei der Gestaltung der eigenen Person gibt. In der Autobiographie ist die Identität der Willkür des Verfassers unterstellt, der ein Bild von sich selbst entwerfen kann, das die gewünschten Konturen besitzt, weshalb sich die „tiefe[…] Resignation“ über die Aufnahme als Schriftsteller und über das eigene schriftstellerische Werk, die laut Klaus-Detlef Müller hinter „Dichtung und Wahrheit“ steht, durch eine neue „Synthese“ überwinden lässt.153 Erst wenn der Autor die Grenzen der Plausibilität und der Wahrscheinlichkeit überschreitet, erscheint sein Text nicht mehr als ein ernsthafter Entwurf. Doch diesseits dieser Grenzen hat er große Freiheiten, sich als Individuum darzustellen, eine ideale Identität seiner selbst zu konstruieren.
9. 2. 2. Zur argumentativen Struktur von „Dichtung und Wahrheit“ Wie schreibt man nun sein eigenes Leben? Für wenige Werke Goethes lässt sich ein so konkretes Bild von der Entstehungsgeschichte zeichnen wie im Fall von –––––––––––– 151 152
153
Wuthenow, Ralph-Rainer: Das erinnerte Ich. Europäische Autobiographie und Selbstdarstellung im 18. Jahrhundert. München 1974. S. 22. Schnur, Harald: Identität und autobiographische Darstellung in Goethes Dichtung und Wahrheit. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts. Neue Folge (1990) S. 28–93, hier: S. 83. Vgl. Müller, Klaus-Detlef: Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit. Tübingen 1976. S. 251.
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„Dichtung und Wahrheit“. Ab Oktober 1809 arbeitet er an dem Projekt, da bereits aus dieser Zeit erste Skizzen erhalten sind, lässt sich die inventio des Textes bestens als planvoller Vorgang rekonstruieren: Auf mehreren Papieren listete Goethe die Jahre von 1742 bis 1809 fortlaufend auf – d. h., das Schema setzt schon sieben Jahre vor seiner Geburt ein – und ergänzte dann immer wieder Ideen, Erinnerungen und Fakten unter den entsprechenden Jahreszahlen.154 Die inventio beginnt assoziativ: Goethe notiert alles, was ihm einfällt, sowie Fragen, die noch zu klären sind („Wann ist Fräulein v. Klettenberg gestorben. […] Welche Innung hat bei der Kaiserkrönung Joseph II und bei den nachfolgenden den gebratenen Ochsen erbeutet.“155). Detailfragen gibt er an Mitarbeiter weiter, Riemer und Schlosser sind in hohem Maße an der Sammlung des Materials beteiligt und spielen wohl auch bei der Aufarbeitung der Rechercheergebnisse eine größere Rolle: „Es sey also, mein Werthester, Ihnen die völlige Gewalt übertragen, nach grammatischen, syntaktischen und rhetorischen Überzeugungen zu verfahren“,156 schreibt Goethe an Riemer. Der in der Autobiographie suggerierten souveränen Erinnerungsleistung stehen genaue Recherche und Konstruktion entgegen, Goethes Autobiographie ist weniger ein Werk der Erinnerung als das Ergebnis zielgerichteter (Re)Konstruktion. Beim Entwurf einer literarischen Identität ist Rhetorik als Technik der Kontingenzvermeidung gefragt, ihre Fähigkeiten, unbeabsichtigte Wirkungen von Rede zu kontrollieren, sind gefordert. Goethe verarbeitet in „Dichtung und Wahrheit“ ein großes Repertoire literarischer Formen von der Erzählung über das Gedicht und die Anekdote, von der Erinnerung über die Parabel bis zur Bibelinterpretation. Der Versuch, eine Identität zu konstruieren, macht einen so umfassenden Ansatz nötig, denn jede der Formen trägt auf eigene Weise zum Bild der Person bei. Das autobiographische Schreiben ist ein Vehikel der Selbstrechtfertigung des Autors, was es in eine gewisse Nähe zum genus iudiciale setzt. In Autobiographie und Gerichtsrede geht es gleichermaßen um die Gestaltung von „tatsächlichen oder scheinbar tatsächlichen“157 Vorgängen in der Vergangenheit, daher übernimmt die Autobiographie argumentative Muster, die aus der Gerichtsrede bekannt sind. Dort haben sich die loci bewährt, um Argumente für Verteidigung und Anklage zu finden. Goethe gestaltet seine Autobiographie topisch, anhand der loci a persona entwirft er sein autobiographisches Ich und gewährleistet so, dass alle wesentlichen Merkmale der Person Berücksichtigung finden, ein überzeugender und umfassender Identitätsentwurf entsteht.158 –––––––––––– 154 155 156 157 158
Vgl. Goethe: Biographisches Schema (Paralipomenon 6). MA 16. S. 835–859. Ebd. S. 859. Goethe an Friedrich Wilhelm Riemer. Brief vom 20. Juni 1813. WA IV, 23. S. 368. Quint. Inst. orat. IV, 2, 31. Die folgende Auflistung der loci, mit denen Goethe das autobiographische Ich charakterisiert, folgt der Terminologie Quintilians. Vgl. Quint. Inst. orat. V, 10, 23ff.
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Die topische Ausgestaltung des autobiographischen Ichs beginnt mit der Behandlung der fortuna. Goethe versucht, der eigenen Existenz durch den Verweis auf die Konstellation der Sterne einen Anschein von astrologischer oder göttlicher Legitimation zu geben: Am 28. August 1749, Mittags mit dem Glockenschlage zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt. Die Konstellation war glücklich; die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau, und kulminierte für den Tag; Jupiter und Venus blickten sie freundlich an, Merkur nicht widerwärtig; Saturn und Mars verhielten sich gleichgültig: nur der Mond, der so eben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheins um so mehr, als zugleich seine Planetenstunde eingetreten war. Er widersetzte sich daher meiner Geburt, die nicht eher erfolgen konnte, als bis diese Stunde vorübergegangen.159
Trotz eines gewissen „ironischen Unterton[s]“160 ist die Wirkung deutlich: mit einer, wie Blumenberg sagte, „freundlichen Zustimmung der Natur“161 kommt Goethe zur Welt. Ein rhetorisch gelungener Beginn, der attentum parare und in der bescheiden anmutenden ironischen Zurücknahme captatio benevolentiae gleichermaßen gewährt und zugleich noch Konnotationen herstellt, die eben doch zum Ausdruck bringen, dass im Folgenden das Leben eines von der Natur ausgezeichneten Individuums Thema ist. Die Gestaltung des autobiographischen Ichs mit Hilfe verschiedener topoi setzt sich rasch fort. Schon im ersten Buch kommen die meisten klassischen loci a persona kurz vor, im weiteren Verlauf des Textes werden sie dann ausführlicher gestaltet. So ist neben der fortuna, die schon zu Beginn auf Goethe wirkt, die Bedeutung der Abstammung ein Thema. Durch diesen Topos gewinnt Goethe ein weiteres Charaktermuster zur Kennzeichnung des autobiographischen Ichs, erkläre sich doch durch die Abstammung die Fähigkeit zur größten Heiterkeit und zum größten Ernst; die Heiterkeit stamme von der Mutter („Meine Mutter, stets heiter und froh“162), der Ernst und die Wissbegierde vom Vater („lehrhafter Natur“163). Ein weiterer wichtiger Punkt für die Charakterisierung Goethes ist die Ausbildung (educatio et disciplina). Die Erziehung und Ausbildung des Sohnes erfolgt zunächst durch den Vater, auch den Unterricht durch Privatlehrer schildert Goethe ausführlich ebenso die Erfahrungen während des Studiums. Natio und patria sind weitere wichtige Fundstellen beim Versuch, das autobiographische Ich zu entwerfen, sie rücken das entworfene Ich in eine Beziehung zur Umwelt. Goethe nutzt selbst entlegene Fundorte, um die Darstellung des Ichs möglichst umfassend zu gestalten, zum Beispiel zitiert er einen Spottvers, den Herder angeblich über ihn geschrieben hat: –––––––––––– 159 160 161 162 163
Goethe: Dichtung und Wahrheit. MA 16. S. 13. Sprengel, Peter: Kommentar „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“. MA 16. S. 922. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main 1979. S. 120. Goethe: Dichtung und Wahrheit. MA 16. S. 16. Ebd. S. 17.
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Wenn des Brutus Briefe dir sind in Cicero’s Briefen, Dir, den die Tröster der Schulen von wohlgehobelten Brettern, Prachtgerüstete, trösten, doch mehr von außen als innen, Der von Göttern du stammst, von Goten oder vom Kote, Goethe, sende mir sie.164
Auch der Name liefert eine Möglichkeit, Eigenschaften der Person aufzuzeigen: die innere Zerrissenheit Goethes, der die göttliche Seite des Genies ebenso in sich spürt wie die ständige Gefahr des Scheiterns, beleuchtet dieser Vers auf ungewöhnliche Weise. Erst die umfassende topische Ausgestaltung lässt das Leben des Individuums „lebendig“165 werden. Goethe verwendet topische Muster im Stil eines Gerichtsredners, der die Liste der Fundorte durchsucht, um die für seinen Fall nötigen Argumente zu finden. Der topischen Fundlisten folgende Lebensentwurf besitzt eine höchst raffinierte Argumentationsstruktur. Immer wieder setzt Goethe Zitate ein, um Behauptungen zu beweisen. Inszeniert sind sie wie probationes inartificiales, sie haben also scheinbar den Beweisstatus eines blutverschmierten Dolches vor Gericht, doch in Wirklichkeit handelt es sich um ein rhetorisch höchst gekonntes Verfahren, das Fiktion durch Fiktion legitimiert. Gemäß klassischer Ästhetik geschieht dieser Entwurf einer Identität zudem in immer neuen Vorausdeutungen und Wechselbeziehungen, in komplexen symbolischen Spiegelungen, wie KlausDetlef Müller etwa für die Vaterstadt gezeigt hat. Goethes Frankfurt-Bild beruht auf der implizit kontrastierenden Gegenüberstellung der beiden Lebensräume Frankfurt und Weimar, der Herkunft aus dem Patriziat einer freien Reichsstadt und der Entscheidung für das Leben im Dienste eines regierenden Fürsten, und hat in dieser Konstellation nicht zuletzt die Funktion einer Rechtfertigung […].166
Dazu bezieht Goethe Stadt und Vater aufeinander, so dass laut Müllers Interpretation eine „Konstellation von hoher Sprengkraft“167 entsteht, die den Umzug nach Weimar als zwingend notwendigen Schritt erscheinen lässt, um sich über den Vater und dessen Wünsche hinaus entwickeln zu können. So verbindet sich die Erinnerung an Frankfurt an ein Scheitern, und selbst wenn die Stadt wie bei der Krönungszeremonie Joseph II. als Mittelpunkt des politischen Weltgeschehens dargestellt wird, präsentiert Goethe ein anachronistisches Schauspiel, das sich eigentlich selbst überlebt hat, so dass Frankfurt eben nicht der richtige Ort für den Literaten Goethe zu sein scheint. Insofern ist die Krönungszeremonie mehr als eine Erinnerung, vielmehr ein luzid vorgebrachtes Argument für Goe–––––––––––– 164 165 166
167
Ebd. S. 439. Goethe: Aufzeichnung über das Verhältnis der Biographie zur Geschichte (Paralipomenon 40). MA 16. S. 861. Müller, Klaus-Detlef: Die Vater-Stadt. Frankfurt in Goethes autobiographischen Schriften. In: Wiethölter, Waltraud (Hrsg.): Der junge Goethe. Genese und Konstruktion einer Autorschaft. Tübingen u. Basel 2002. S. 103–116, hier: S. 104–105. Ebd. S. 106.
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thes Entscheidung, Frankfurt zu verlassen.168 Vor dem Hintergrund der schulischen und universitären Ausbildung ergibt sich durch Impulse, die der Vater durch seine Bildungsbemühungen selbst gelegt hat, für Goethe schließlich die Notwendigkeit, sich von der Vaterstadt fortzuentwickeln.169
9. 2. 3. Rhetorisches Hauptstück: Die Geburt des Dichters „In rhetorischen Dingen, Chrieen und dergleichen tat es mir Niemand zuvor“,170 heißt es über den jungen Goethe, und die Spur der rhetorischen Ausbildung tritt in der Autobiographie deutlich hervor.171 Goethe entwirft in der Autobiographie ein großes rhetorisches Talent, das mit seinen Fähigkeiten, die sich an der Puppenbühne genauso beweisen wie in Briefen, Gedichten und anderen kleinen Texten, Freunde und Familie beeindruckt, so dass sich bald schon die ersten Aufträge für den Dichter einstellen:172 Hierzu [zur Eifersucht] gönnte mir der jüngere Vetter nicht lange Zeit, der alsbald wieder mit dem Auftrag zu einem Gelegenheits-Gedicht hervortrat, mir die Personalien erzählte und sogleich verlangte, daß ich mich zur Erfindung und Disposition des Gedichtes anschicken möchte. Er hatte schon einige Mal über die Behandlung einer solchen Aufgabe mit mir gesprochen, und wie ich in solchen Fällen sehr redselig war, gar leicht von mir erlangt, daß ich ihm, was an diesen Dingen rhetorisch ist, umständlich auslegte, ihm einen Begriff von der Sache gab und meine eigenen und fremden Arbeiten dieser Art als Beispiele benutzte.173
Doch die Rhetorik dient hier zu „Mystifikationen“,174 mit den Geschichten und Gedichten, die Goethe schreibt, werden Scherze getrieben: Seine Freunde spielen sie als angebliche Liebesbekenntnisse einer Frau einem jungen Mann zu. –––––––––––– 168
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170 171 172
173 174
Eine umfassende Interpretation dieser Zeremonie hat Manfred Beetz vorgelegt. Vgl. M. B.: Überlebtes Welttheater. Goethes autobiographische Darstellung der Wahl und Krönung Joseph II. in Frankfurt / M. 1764. In: Berns, Jörg Jochen u. Thomas Rahm (Hrsg.): Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Tübingen 1995. S. 572– 599. Alternativ hätte die Verbindung zu Magdalena Münch den Weg des Vaters vollenden können, indem Goethe in der Stadt einen Platz eingenommen hätte, der dem Vater vorenthalten blieb. Vgl. Müller, Klaus-Detlef: Die Vater-Stadt. Frankfurt in Goethes autobiographischen Schriften. In: Wiethölter, Waltraud (Hrsg.): Der junge Goethe. Genese und Konstruktion einer Autorschaft. Tübingen u. Basel 2002. S. 103–116, hier: S. 112–113. Goethe: Dichtung und Wahrheit. MA 16. S. 35. Zu Goethes Ausbildung aus rhetorischer Sicht vgl. Abschnitt 1. 3 dieser Arbeit. Goethes Darstellung stimmt hier mit den typischen Formen der Dichterbiographie überein, indem Virtuosität und frühes Erkennen der eigenen Begabung dargestellt werden. Vgl. Kris, Ernst u. Otto Kurz: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch. Frankfurt am Main 1980. S. 52–63 u. 123–130. Goethe: Dichtung und Wahrheit. MA 16. S. 198. Ebd. S. 185.
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Damit verletzen sie „den kommunikativen Komment des galanten ‚als ob‘.“175 Goethe gerät durch seine rhetorischen Meisterstücke in schlechten Umgang: Am Ende verdächtigt man ihn, mit Verbrechern im Bunde zu stehen, Zimmerarrest ist die Folge. Ich empfand nun keine Zufriedenheit, als im Wiederkäuen meines Elends und in der tausendfachen imaginären Vervielfältigung desselben. Meine ganze Erfindungsgabe, meine Poesie und Rhetorik hatten sich auf diesen kranken Fleck geworfen, und drohten, gerade durch diese Lebensgewalt, Leib und Seele in eine unheilbare Krankheit zu verwickeln. 176
Goethe erreicht einen Punkt, an dem sich die Kraft seiner Rhetorik gegen seine eigene Existenz richtet, die Rhetorik erweist sich als eine zwielichtige Kunst. Nach Ketelsen erscheint sie bedenklich, wenn sie den ästhetischen Kontext verlässt, sich moralischer Bewertung entzieht oder ökonomische Absichten verfolgt.177 Auch die Vorlesung über Cicero, die Goethe in Leipzig bei Ernesti besucht, und die Begegnung mit Gellert ändern nichts mehr am negativen Bild von der Rhetorik im autobiographischen Rückblick, obwohl doch die Quellenstudien zeigen, wie konzentriert Goethe sich während seines Studiums mit rhetorischen Themen beschäftigt hat.178 So kommt er zum Entschluss, alle bisherigen Werke zu verbrennen, damit vollzieht sich die Ablösung vom rhetorischen Modell der Textproduktion mit „Rauchqualm“179, welcher die Wirtin des Hauses „in nicht geringe Furcht und Angst versetzte.“180 Goethe gelingt hier ein Meisterwerk von evidentia, indem er das vorgebliche Ende rhetorisch-strategischer Textproduktion in ein eindrucksvolles Bild übersetzt, dessen emotionaler Wirkung man sich nur schwer entziehen kann. Mit dem Ende der „rhetorischen Phase“, die Goethe selbst rhetorisch geschickt inszeniert und konstruiert, beginnt das poetische Schaffen, das Goethe in der Autobiographie kategorial von der rhetorischen Art der Textproduktion absetzt. Dichtung erscheint als naturgemäß, sie bietet Goethe Raum, seine Empfindungen auszudrücken, steht mit der Wahrheit und nicht mit falschem Schein im Bunde. Wie die astrologische Konstellation bei Goethes Geburt am Beginn der Autobiographie den Anschein göttlicher Vorbestimmung erzeugt, so ist auch die professionelle schriftstellerische Existenz, deren Anfänge im 13. Buch nachgezeichnet sind, durch ein mystisches Zeichen legitimiert: –––––––––––– 175
176 177
178 179 180
Ketelsen, Uwe-Karsten: Ein anderes Gretchen-Abenteuer. Das Ende der rhetorischen Poesiekonzeption und das fünfte Buch von Goethes „Dichtung und Wahrheit“. In: Goethe Yearbook 12 (2004) S. 141–159, hier: S. 148. Goethe: Dichtung und Wahrheit. S. 235. Vgl. Ketelsen, Uwe-Karsten: Ein anderes Gretchen-Abenteuer. Das Ende der rhetorischen Poesiekonzeption und das fünfte Buch von Goethes „Dichtung und Wahrheit“. In: Goethe Yearbook 12 (2004) S. 141–159, hier: S. 150–153. Vgl. Abschnitt 1. 3 dieser Arbeit. Goethe: Dichtung und Wahrheit. MA 16. S. 281. Ebd.
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Ich wanderte auf dem rechten Ufer des Flusses, der in einiger Tiefe und Entfernung unter mir, von reichem Weidengebüsch zum Teil verdeckt, im Sonnenlicht hingleitete. Da stieg in mir der alte Wunsch wieder auf, solche Gegenstände würdig nachahmen zu können. Zufällig hatte ich ein schönes Taschenmesser in der linken Hand, und in dem Augenblicke trat aus dem tiefen Grunde der Seele gleichsam befehlshaberisch hervor: ich sollte dies Messer ungesäumt in den Fluß schleudern. Sähe ich es hineinfallen, so würde mein künstlerischer Wunsch erfüllt werden […]. [O]hne auf die Brauchbarkeit des Messers zu sehn, das gar manche Gerätschaften in sich vereinigte, schleuderte ich es mit der Linken, wie ich es hielt, gewaltsam nach dem Flusse hin. Aber auch hier mußte ich die trügliche Zweideutigkeit der Orakel, über die man sich im Altertum so bitter beklagt, erfahren. Des Messers Eintauchen in den Fluß ward mir durch die letzten Weidenzweige verborgen, aber das dem Sturz entgegenwirkende Wasser sprang wie eine starke Fontaine in die Höhe, und war mir vollkommen sichtbar.181
Das Orakel bleibt uneindeutig, wiederum ist der Gedanke der Vorbestimmung, das Walten übersinnlicher Kräfte nur auf ironische Weise vorgestellt. Doch der Hinweis auf überirdische Legitimation ist rhetorisch wirkungsvoll: Man kann die Szene eben auch als Zeichen der Vorbestimmung für eine dichterische Tätigkeit interpretieren. Zusätzliche Plausibilität gibt Goethe diesem biographischen Entwurf, indem er beispielartig die nun folgende Phase dichterischer Produktivität veranschaulicht: In „etwa sechs Wochen“182 habe er den „Götz von Berlichingen“ niedergeschrieben, behauptet der Autor über die Ereignisse nach seinem Entschluss, Dichter zu werden. Der Prozess des Schreibens folgt nun dem Anschein nach nicht mehr irgendwelchen rhetorischen Techniken, sondern allein dem Gefühl: „[Ich] fing […] eines Morgens zu schreiben an, ohne daß ich einen Entwurf oder Plan vorher aufgesetzt hätte.“183 Dieser Inszenierung des dranghaften dichterischen Schaffens steht eine nur wenig vorher gemachte Aussage entgegen, in der Goethe erklärt, dass er sich lange intensiv mit Zeit und Leben Götzens beschäftigt hat: Die dunkleren Jahrhunderte der deutschen Geschichte hatten von jeher meine Wißbegierde und Einbildungskraft beschäftigt. Der Gedanke, den Goetz von Berlichingen in seiner Zeitumgebung zu dramatisieren, war mir höchlich lieb und wert. 184
Zu den inneren Widersprüchen gesellen sich äußere, das Verhältnis der Autobiographie zur Realität ist nicht immer nach den historischen Fakten gestaltet, sondern eher nach dem eigenen Gefühl oder genauer gesagt: gemäß den Wirkungsabsichten, die Goethe mit seinem autobiographischen Entwurf verfolgt. Ganz ähnlich fällt ein Vergleich zwischen Realität und Fiktion der „Werther“-Entstehung aus: In der Autobiographie beginnt, direkt nachdem der „Götz –––––––––––– 181 182 183 184
Ebd. S. 590–591. Ebd. S. 604. Ebd. Ebd. S. 558.
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von Berlichingen“ erschienen ist, die Arbeit am „Werther“, obwohl Goethe den Text in Wirklichkeit erst drei Jahre nach dem „Götz“ publiziert. Fakten sind dem autobiographischen Ich gleichgültig: Der Autor von „Dichtung und Wahrheit“ rückt den Abschied von Lotte, vor allem aber das verdrießliche ‚Halbverhältnis‘ zu Maximiliane und den Tod Jerusalems in sehr engen, auch zeitlichen Zusammenhang mit der Niederschrift des Werkes, wohl […] um den Eindruck des leidenschaftlich eruptiven Reagierens auf seelische Erschütterungen zu verstärken.185
Das Schreiben des Textes scheint mühelos und zügig vonstatten zu gehen. In nur einem einzigen Augenblick will Goethe den gesamten Werther-Roman aus zahlreichen Empfindungen und Eindrücken geistig zusammengefügt haben: in diesem Augenblick war der Plan zu Werthern gefunden, das Ganze schoß von allen Seiten zusammen und ward eine solide Masse, wie das Wasser im Gefäß, das eben auf dem Punkte des Gefrierens steht, durch die geringste Erschütterung sogleich in ein festes Eis verwandelt wird.186
Die Wirklichkeit sah ganz anders aus, und ein Blick in Goethes Korrespondenz entkräftet die Vorstellung vom Genie, das den Ausdruck seiner Empfindungen probt. Am 15. September 1773 schreibt Goethe an Kestner: „Jezt arbeit ich einen Roman, es geht aber langsam“.187 In der entworfenen Realität der Autobiographie wird Werthers Traum wahr, das Ideal der Geniebewegung Realität: Kunst erscheint als Ausdruck reicher Empfindung, Kunstfertigkeit, die Regeln der Rhetorik scheinen keine Bedeutung zu haben, nicht reglementierend auf einen Autor zu wirken. Goethe selbst hat diese Vorstellung nicht nur mit dem „Werther“ kritisiert: Mit bloßer Empfindung sei es nicht getan, Wissen um die Regeln des Textes nötig, doch lässt sich in der Autobiographie eine solche Art der Produktion problemlos suggerieren. Und so erzeugt Goethe mit Hilfe einer exemplarischen, anschaulichen Darstellung eines Schreibprozesses das Bild des genialen Dichters, dessen Kunst darin besteht, seine Empfindungen auszudrücken. Hier wird die Idealvorstellung der Geniezeit, um deren rhetorische Schwierigkeiten Goethe durchaus wusste, endlich Wirklichkeit und lässt sich diese Erfahrung zugleich immer wieder aufheben, konterkarieren und so als komplexer Prozess gestalten: Das ‚gewöhnliche Verstehen‘ kennt nur die gewöhnliche Alternative des einen totalen Sinns oder der Heterogenität vieler Sinne. Anders Dichtung und Wahrheit, dort herrscht das Doppellicht, das Nebeneinander von Einheitsmaxime und Heterogenität des Textes. Der Entwurf einer Sinntotalität und die Vielfalt nicht harmonisierbarer Textkonstellationen koexistieren in einem Text. Mit dem Topos vom ‚Ich am Rande‘ gesprochen: die Einheitsmaxime des Ich steht am Rande einer heterogenen Mitte, und das gewöhnliche Verstehen
–––––––––––– 185 186 187
Mattenklott, Gert: Artikel „Die Leiden des jungen Werthers“. In: Goethe-Handbuch. Bd. 3. S. 51–100, hier: S. 56. Goethe: Dichtung und Wahrheit. MA 16. S. 619. Goethe an Johann Christian Kestner. Brief vom 15. September 1773. WA IV, 2. S. 106.
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zerstört die Spezifik dieses Textes, wenn es die Mitte leert und deutend reduziert auf den Einheitsentwurf des Randes.188
„Dichtung und Wahrheit“ lebt von Spannungen und Inszenierungen, von inneren Widersprüchen und von einem unbeschwerten Umgang mit Wahrheit und Fiktion. Dies macht den spezifischen Reiz des autobiographischen Projekts aus, ist der Grund, warum Goethe sich überhaupt daran macht, eine Autobiographie zu schreiben. Das freie Spiel, das die Grenzen der historischen Realität virtuos überwindet, kann aber nur gelingen, wenn diese sich nicht zu massiv in den Text mischt. Daher konnte Goethe die Autobiographie nicht bis in seine Gegenwart reichen lassen, die Differenz zwischen der inszenierten Entwicklung und den notwendigen Rücksichten auf die Umgebung wäre zur Gefahr für den autobiographischen Entwurf geworden. Goethe erkennt dieses Problem und verändert die Darstellungsweise: Die „Italienische Reise“ bezieht sich auf einen für die deutschen Freunde nur begrenzt zugänglichen Abschnitt seines Lebens, bei dem die „absichtliche […] Komposition“189 ohne größere Einschränkungen möglich bleibt, zumal der Anspruch eher auf die Umarbeitung und konsequente Inszenierung vorhandenen Materials wie des Reisetagebuchs für Frau von Stein gerichtet ist. In den „Tag- und Jahresheften“ geht er schließlich zu einer eher memoirenhaften Form des Schreibens über, die Fakten zusammenstellt, statt mit Hilfe der Rhetorik eine Identität zu entwerfen. „Dichtung und Wahrheit“ bleibt daher das deutlichste Exempel für eine rhetorische Form der Selbstdarstellung, die insofern Konsequenzen aus der sophistischen Erkenntnistheorie zieht, als sich hier mit entschiedener Selbstverständlichkeit ein Individuum mit strategischen Argumenten selbst entwirft und dem Entwurf der eigenen Person Plausibilität und Geltung verschafft. Im Grunde ist „Dichtung und Wahrheit“ ein Realitätsentwurf, der schon deshalb legitim ist, weil individuelle Entwicklungen gar nicht uneingeschränkt objektivierbar sein können.
–––––––––––– 188 189
Graevenitz, Gerhart von: Das Ich am Rande. Zur Topik der Selbstdarstellung bei Dürer, Montaigne und Goethe. Konstanz 1989. S. 32. Goethe an Friedrich Schiller. Brief vom 26. Oktober 1796. MA 8, 1. S. 262. Gerhard Schulz etwa betrachtet die „Italienische Reise“ entsprechend als „ein durch Kunstanstrengung hervorgebrachtes literarisches Werk, das die Form des Reisetagebuchs als Fiktion benutzt.“ (G. S.: Wann und wo entsteht ein klassischer Nationalautor? Zu Goethes ‚Italienischer Reise‘. In: Müller, Klaus-Detlef, Gerhard Pasternack u. a. (Hrsg.): Geschichtlichkeit und Aktualität. Studien zur deutschen Literatur seit der Romantik. Festschrift für Hans-Joachim Mähl zum 65. Geburtstag. Tübingen 1988. S. 51–68, hier: 53). In ähnliche Richtung geht: Battafarano, Italo Michele: Goethes Italienische Reise – Quasi ein Roman. Zur Literarizität eines autorreferentiellen Textes. In: Scherer, Gabriele u. Beatrice Wehrli (Hrsg.): Wahrheit und Wort. Festschrift für Rolf Tarot zum 65. Geburtstag. Bern, Berlin u. a. 1996. S. 27–48.
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9. 3.
Rhetorik als Dichtung, Dichtung als Rhetorik. Rhetorizität der Sprache und rhetorische Erkenntnistheorie im „West-östlichen Divan“
9. 3. 1. Reine Rhetorik. Eine Paradiesvision In einem kurzen Essay zum „Spätstil Beethovens“ schreibt Adorno: Die Reife der Spätwerke bedeutender Künstler gleicht nicht der von Früchten. Sie sind gemeinhin nicht rund, sondern durchfurcht, gar zerrissen; sie pflegen der Süße zu entraten und weigern sich herb stachelig dem bloßen Schmecken […].190
Dieter Borchmeyer hat diese Bemerkung mit Goethes Spätwerk in Verbindung gebracht,191 und in der Tat präsentiert sich der „West-östliche Divan“ durchfurcht, zerrissen, der Süße entraten, d. h., er erschließt sich dem Leser nur mit einiger Mühe, bleibt widersprüchlich, antithetisch zerklüftet. Goethe hat dem Zyklus daher aus guten – man könnte auch sagen rhetorischen – Gründen einen Kommentar zu „Besserem Verständniss“ zur Seite gestellt, der die Kluft zwischen orientalisch anmutenden Versen und deutschen Lesern überbrücken, dem Werk im agonalen Kunstbetrieb nachhelfen sollte. Goethe weiß, schon das fremdartige Szenario macht den „Divan“ für seine Zeitgenossen erklärungsbedürftig, und auch die Form ist eine Herausforderung für den Leser. Von dieser Sammlung, die zwischen 1814 und 1819 entstanden ist, gilt nämlich auch, was Adorno weiter vom Spätwerk Beethovens sagt, nämlich dass „Konventionen Ausdruck in der nackten Darstellung ihrer selbst“192 werden. Die Gedichte des „Divan“ nehmen, wie Katharina Mommsen mit Akribie hat zeigen können und etwa der Kommentar der Münchner Ausgabe belegt, 193 immer wieder Quellenmaterial auf. Goethe bearbeitet dieses in einem Prozess der imitatio artis, formt es um, bildet es nach oder zitiert manchmal einfach. Inhaltlich und formal spielt er mit Konventionen, setzt diese zueinander in Widerspruch. Es kommt nicht zu einer vollständigen Aneignung des Fremden, er versucht keine einheitliche Politur des Materials, vielmehr sollen Zitate und Versatzstücke gerade in ihrer Fremdheit wirken, die Antithese wird zu einem zentralen rhetorische und ästhetischen Prinzip der Sammlung, die sich mimetischer Darstellung von Wirklichkeit verweigert. Die konventionellen Versatzstücke einer fremden Kultur treten als Ver–––––––––––– 190 191 192 193
Adorno, Theodor W.: Spätstil Beethovens. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 17: Musikalische Schriften IV. Frankfurt am Main 1982. S. 13–17, hier: S. 13. Vgl. Borchmeyer, Dieter: Weimarer Klassik. Portrait einer Epoche. Weinheim 1994. S. 507. Adorno, Theodor W.: Spätstil Beethovens. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 17: Musikalische Schriften IV. Frankfurt am Main 1982. S. 13–17, hier: S. 17. Vgl. Mommsen, Katharina: Goethe und der Islam. Frankfurt am Main 2001, ausführlicher noch: Dies.: Goethe und die arabische Welt. Frankfurt am Main 1988. Eine Aufschlüsselung des verwendeten Quellenmaterials bietet außerdem Richter, Karl: Kommentar „Westöstlicher Divan“. MA 11, 1, 2. S. 428–726.
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satzstücke hervor, Goethe spielt mit den Formen und ästhetischen Strukturen. In einem Brief an Carl Jacob Ludwig Iken hat er Gründe für die Wahl dieses Verfahrens genannt: Da sich gar manches unserer Erfahrungen nicht rund aussprechen und direct mittheilen läßt, so habe ich seit langem das Mittel gewählt, durch einander gegenüber gestellte und sich gleichsam in einander abspiegelnde Gebilde den geheimeren Sinn dem Aufmerkenden zu offenbaren.194
Dieses Vorgehen hat man bisher zumeist mit Goethes Theorem der Wiederholten Spiegelungen erklärt, also mit naturwissenschaftlichen Paradigmen in Verbindung gebracht, Stichwort: Entoptische Farben.195 Rhetorisch gewendet, könnte man sagen, Goethe verlässt sich auf die rhetorische oder zumindest appellative Wirkung des vorgegebenen Materials, das sich ergibt, indem er topische Muster aufgreift, die den Orient konturieren und bei den Adressaten anschlussfähig sind. Formal baut Goethe auf die Wirkung der sprachlichen Strukturen, die im Sinne Burkes selbst über Identifikationspotential verfügen,196 durch fremdartigen Klang ebenso wirken können wie durch Affirmation und Variation vertrauter Muster. Der „Divan“ arbeitet mit dem Mittel der Montage, setzt fertige Versatzstücke nebeneinander und erzeugt interessante Effekte, indem Gegensätze, Parallelen und Abweichungen deutlich ins Auge springen.197 Der Text ist auf Brüche genauso konzipiert wie auf Kontinuitäten, zyklische Wiederholungen und Spiegelungen. Das heterogene Ausgangsmaterial umfasst wörtlich wiedergegebene Verse von Hafis wie in „Höre den Rath den die Leyer tönt“,198 Suren des Korans wie in dem Gedicht „Anklage“,199 aber in der orientalischen Sammlung ist auch manche westliche Formel enthalten, beispielsweise zitiert das Gedicht „Nachbildung“ die aus der Rhetorikgeschichte bekannte Formel „rem tene, [v]erba sequentur“.200 „Erst werd’ ich Sinn, sodann auch Worte finden“,201 heißt das bei Goethe. Orientalität ist in den Gedichten eine Konstruktion, die sich aus einer gedanklichen Annäherung an den Orient ergibt, aus einer planvollen Lektüre der vorhandenen Quellen. Bisweilen verändert Goethe Zitate sogar, um ein orientalisches Moment herauszustellen, das die Vorlage in der gewünschten topischen –––––––––––– 194
Goethe an Carl Jacob Ludwig Iken. Brief vom 27. September 1827. WA IV, 43. S. 83. Vgl. z. B. Richter, Karl: Einführung „West-östlicher Divan“. MA 11, 1, 2. S. 326–332. 196 Vgl. Burke, Kenneth: A Rhetoric of Motives. Berkeley u. Los Angeles, CA 1969. S. 46. 197 Vgl. Kramer, Olaf: Artikel „Montage“. HWRh. Bd. 5. Sp. 1476–1484, hier: Sp. 1476–1478. 198 Vgl. Goethe: Höre den Rath den die Leyer tönt. In: West-östlicher Divan. MA 11, 1, 2. S. 38. Vgl. dazu Richter, Karl: Kommentar „West-östlicher Divan“. Ebd. S. 520. 199 Goethe: Anklage. In: West-östlicher Divan. MA 11, 1, 2. S. 23. Vgl. Richter, Karl: Kommentar „West-östlicher Divan“. Ebd. S. 478–479. 200 Cato: Praeter Librum de re rustica quae exstant. Hrsg. v. Heinrich Jordan. Stuttgart 1967 (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1860). S. 80, Fragment 15. 201 Goethe: Nachbildung. In: West-östlicher Divan. MA 11, 1, 2. S. 26. 195
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Deutlichkeit gar nicht hergibt. Beispielsweise zitiert er in dem Gedicht „Anklage“ ein Hafis-Gedicht und hält sich zunächst an eine Übersetzung von HammerPurgstall, die folgendermaßen lautet: Höre den Rath, den die Leier tönet, Doch er nützet nur, wenn du fähig bist! Jegliches Blatt ist ein Buch der Weisheit, Schade, daß du so träg’ und sorglos bist!202
Goethe belässt es in den ersten beiden Versen zunächst bei kleinen klanglichen und rhythmischen Retuschen („tönt“ statt „tönet“, „nutzet“ statt „nützet“), danach aber variiert er das Gedicht drastisch: Ist bei Hafis die Natur als ein Buch der Weisheit Thema, nutzt Goethe die Vorlage, um den Orient als eine Kultur des gesprochenen Wortes zu etablieren:203 HÖRE DEN RATH den die Leyer tönt; Doch er nutzet nur wenn du fähig bist. Das glücklichste Wort es wird verhöhnt Wenn der Hörer ein Schiefohr ist.204
Goethe rückt im Divan bestimmte Eigenschaften der orientalischen Kultur ins Zentrum der Darstellung, die er wiederholend und variierend darstellt, um sie auf diese Weise den Adressaten plausibel und anschaulich zu machen, indem er auf topisches Wissen über die orientalische Kultur zurückgreift. Der Orient als eine Kultur des gesprochenen Wortes gehört hierbei zu den zentralen Motiven der Divan-Gedichte. Goethe konnte auf eine umfangreiche Sammlung arabischer Übersetzungen und Sammlungen zurückgreifen: Es finden sich immer wieder Zitate etwa aus der Koran-Übersetzung Theodor Arnolds, die auf die englische Übertragung von Georg Sale zurückgeht, 205 und aus Sammlungen arabischer Texte wie den „Denkwürdigkeiten von Asien in Künsten und Wissenschaften“206 von Heinrich Friedrich von Diez und verschiedenen Reisebeschreibungen, die ähnlich wie die Hafis-Zeilen variiert und transformiert werden. Die poetische Leistung ist die –––––––––––– 202
203 204 205 206
Hafis / Hammer-Purgstall, Joseph von: Der Diwan von Mohammed Schemsed-din-Hafis. Aus dem Persischen zum erstenmal ganz übersetzt von Joseph v. Hammer. Bd. 2. Stuttgart u. Tübingen 1813. S. 459. Zu Goethes Wahrnehmung der arabischen Kultur als einer des gesprochenen Worts vgl. Mommsen, Katharina: Goethe und der Islam. Frankfurt am Main 2001. S. 45–46. Goethe: HÖRE DEN RATH den die Leyer tönt. In: West-östlicher Divan. MA 11, 1, 2. S. 38. Vgl. dazu Richter, Karl: Kommentar „West-östlicher Divan“. Ebd. S. 520. Vgl. Mommsen, Katharina: Goethe und der Islam. Frankfurt am Main 2001. S. 148. Diez, Heinrich Friedrich von: Denkwürdigkeiten von Asien in Künsten und Wissenschaften, Sitten, Gebräuchen und Alterthümern, Religion und Regierungsverfassung, aus Handschriften und eignen Erfahrungen gesammelt. 2 Teile. Berlin bzw. Berlin u. Halle 1811 bzw. 1815.
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Auswahl und vor allem die Präsentation des Materials in einer Weise, dass dieses in seiner Fremdheit wirken kann. Subjektive Erfahrungen Goethes, seine Sympathie für den Islam oder die Liebe zur 36 Jahre jüngeren Marianne von Willemer, auf die das Buch „Suleika“ gemünzt ist, 207 treten hinter den rhetorischen Wirkungen des fremdem Materials, hinter dessen Rhetorizität zurück. Es passt hierbei zu Goethes Verständnis der Rhetorik als Technik, das durch Ernesti beeinflusst ist, dass er in einem Gedicht des „Divan“ die Handwerklichkeit seines Tuns gegen dilettantische Ratschläge verteidigt: „HAB’ ICH EUCH denn je gerathen / Wie ihr Kriege führen solltet? […] Aber ihr wollt’ besser wissen / Was ich weiß, der ich bedachte“,208 zürnt er im „Buch des Unmuths“. Diese Rhetorizität der Sprache stellt Goethe in einen erkenntnistheoretischen Zusammenhang. Indem er davon ausgeht, dass „Sprache schon an und für sich productiv ist und zwar, in so fern sie dem Gedanken entgegen kommt, rednerisch, in so fern sie der Einbildungskraft zusagt, poetisch“,209 unterstellt er der Sprache eine sinnstiftende Funktion. Sie gilt als produktiv in dem Sinne, dass sie einen Gedanken in den Diskurs einbringen kann (dann ist sie rhetorisch) oder in anschaulicher Weise sinnliche Eindrücke erzeugt (dann ist sie poetisch). Das „Leben der Sprache“ verdankt sich dabei „Rede und Gegenrede“,210 denn ein Wort ist nicht eindeutig, sondern erhält erst im Kontext mit anderen Worten und im Zusammenspiel mit anderen Positionen seine diskursive Bedeutung. Die Gedichte entfalten ihre Wirkung bei den Rezipienten, indem sie das rhetorische Instrumentarium in Gang setzen, und daher ist die Kenntnis des rhetorisch systematischen Wissens, das etwa Ernestis „Lexika“ darstellen, ein Schlüssel, um die rhetorische Qualität des Textes zu beurteilen. Ästhetisches Vorbild der Formensprache Goethes sind fließende Ornamente arabischer Kunst, der zyklische Aufbau der aus mündlicher Überlieferung hervorgehenden Dichtung des Islam und des Korans, die Gesprächskultur der Araber, die sich ebenfalls einer breiten mündlichen Überlieferung verdankt. Zum Teil verbinden sich diese Gedanken im „Divan“ mit morphologischen Vorstellungen Goethes, der in den einzelnen Büchern der Gedichtsammlung jeweils Motive fortentwickelt, variiert und in ein komplexes zyklisches Entwicklungsmuster umsetzt, immer wieder Varianten gegeneinander stellt. Goethe legt keine vereinheitlichende Lektüre nahe, stellt vielmehr topische Inhalte und sprachliche Strukturen so zusammen, dass sie rhe–––––––––––– 207
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Aufgedeckt wurde dieser biographische Hintergrund erst 1869, vgl. Grimm, Herman: Goethe und Suleika. In: Preußische Jahrbücher 24 (1869) S. 1–21. Einige der Gedichte des „Divan“ werden der Kooperation zwischen Goethe und seiner Geliebten bzw. ihrer Alleinautorschaft zugeschrieben, z. B. „Hochbeglückt in deiner Liebe“ (vgl. Richter, Karl: Kommentar „West-östlicher Divan“. MA 11, 1, 2. S. 603–604). Goethe: HAB’ ICH EUCH denn je gerathen. In: West-östlicher Divan. MA 11, 1, 2. S. 52. Goethe: Besserem Verständniss. MA 11, 1, 2. S. 185. Vgl. Gockel, Heinz: Goethes Tasso – die Sprache des Symbols. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 54 (1980) S. 636–655, hier: S. 643.
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torische und poetische Wirkungen entfalten, also persuasiv bzw. evident wirken können. Die praktische Notwendigkeit, Widerstände der Adressaten zu überwinden, um ein spezifisches Persuasionsziel zu erreichen, verliert er damit aber nicht aus dem Auge, denn sonst gäbe es nicht die Erläuterungen zum Divan, überhaupt die Einsicht in die Notwendigkeit rhetorischer Vermittlung, die sich auf die Wirklichkeit der Adressaten bezieht. Katharina Mommsen hat verschiedene Gründe zusammengestellt, die Goethes Interesse am Islam erklären sollen, so glaubt sie, die Lehre von der Einheit Gottes oder auch die Annahme, der Islam offenbare sich in der Natur, habe ihn angesprochen.211 Es lassen sich zudem verschiedene biographische Auslöser für das Orient-Projekt finden: So beschreibt Mommsen, wie im Herbst 1813 auf abenteuerliche Weise eine arabische Kalligraphie in den Besitz Goethes gelangt, die Abschrift der Koran-Sure 114, die ihn in ihrer formalen Fremdheit faszinierte. Auch ein merkwürdiges Ereignis im protestantischen Gymnasium Weimars, nämlich eine baschkirische Messe, die durchreisende Mohammedaner dort abhielten, soll Eindruck auf ihn gemacht haben.212 Er selbst hat in einem Brief an Zelter seine Faszination für das Arabische und die arabisierende Dichtung in einem ironischen Ton beschrieben: Unbedingtes Ergeben in den unergründlichen Willen Gottes, heiterer Überblick des beweglichen, immer kreis- und spiralartig wiederkehrenden Erde-Treibens, Liebe, Neigung zwischen zwei Welten schwebend, alles Reale geläutert, sich symbolisch auflösend. Was will der Großpapa weiter?213
Die Läuterung realer Bezüge stellt das artifizielle Moment von Kunst in den Mittelpunkt, im Sinne des ars-Gedankens lassen sich Wirkungen strukturell beschreiben und kalkulieren. Eine andere Pointe der angenommen Dominanz sprachlicher Strukturen in ihrer Rhetorizität ist ein tief greifender Skeptizismus und Relativismus, der für Goethe islamische Welt und rhetorische Paradigmen zusammenschweißt. Im Islam begegnet man nach Goethes Einschätzung der äußeren Wirklichkeit skeptisch, relativistisch. Wenn er die Philosophie des Islam beschreibt, könnte man beinah meinen, er äußere sich über die Sophistik: Sodann ihren Unterricht in der Philosophie beginnen die Mohamedaner mit der Lehre: daß nichts existiere, wovon sich nicht das Gegenteil sagen lasse; und so üben sie den Geist der Jugend, indem sie ihre Aufgaben darin bestehen lassen, von jeder aufgestellten Behauptung die entgegengesetzte Meinung zu finden und auszusprechen, woraus eine große Gewandtheit im Denken und Reden hervorgehen muß.214
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Mommsen, Katharina: Goethe und der Islam. Frankfurt am Main 2001. S. 25. Ebd. S. 121–124. Goethe an Zelter. Brief vom 11. Mai 1820. MA 20, 1. S. 601. Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. 11. April 1827. MA 19. S. 222.
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Goethe nimmt ein relativistisches Moment der islamischen Religion an und zieht Parallelen zum sophistisch-rhetorischen Argument in utramque partem. Somit fließen in den Divan-Gedichten eine rhetorische Betrachtung der Sprache, die als produktiv verstanden wird, weil sich mit Hilfe der Rhetorik alle möglichen Effekte und Wirkungen hervorrufen lassen, und eine erkenntniskritische Haltung zusammen. Durch sprachliche Mittel lassen sich nämlich ebenso Plausibilitäten und Evidenzen erzeugen wie vermeintliche Wahrheiten destruieren. Die Beziehung zur Sophistik stellt Goethe konkret in seinen Erläuterungen her, am Hof Alexanders habe man „bedeutende Probleme […] sophistisch-rednerisch mit ziemlichem Bewußtseyn“215 gegeneinander gesetzt, heißt es hier. Goethes Begegnung mit dem Islam ist also auch eine Begegnung mit der Rhetorik und insbesondere mit der erkenntnistheoretischen Dimension der Rhetorik, die im Sinne der Sophistik von einer Vorherrschaft des logos ausgeht, also von einer erkenntnisstiftenden Funktion der Worte, die nicht zu überwinden ist. Schon in „Hegire“, dem Auftaktgedicht des „Divan“ aus dem „Buch des Sängers“, stellt Goethe die arabische Kultur als eine Kultur des gesprochenen Wortes vor. „Wie das Wort so wichtig dort war, / Weil es ein gesprochen Wort war.“216 Diese Kultur des gesprochenen Wortes bringt die Rhetorik als Bezugsgröße für den „Divan“ ins Spiel. Die Reise oder Flucht in den „reinen Osten“217 ist ein Aufbruch zu einer Kultur der gesprochenen Sprache, zu der die bereits in „Hegire“ anklingende festliche Geselligkeit der arabischen Welt gehört, die etwa im „Schenkenbuch“ oder im „Buch Suleika“ Thema ist,218 aber eben auch das relativistische Moment der Rede, das gesprächige Gegeneinander von Positionen, das absolute Geltungsansprüche auflöst – eine Vorstellung, die mit dem heutigen westlichen Islambild kaum noch zusammengeht. In welch grundlegender Weise Goethe Rhetorik in der orientalischen Welt etabliert sieht, macht vor allem das Gedicht „Höheres und Höchstes“ deutlich, in dem er eine paradiesische Rhetorikvision entwirft. Enthalten im „Buch des Paradieses“, entwickelt das Gedicht zunächst skizzenhaft einige topoi islamischer Paradiesvorstellungen. Das Gedicht selbst, das ziemlich am Ende des „Divan“ steht, ist auf komplexe Weise mit dem Vorhergehenden verbunden, denn die –––––––––––– 215 216
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Goethe: Besserem Verständniss. MA 11, 1, 2. S. 182. Goethe: Hegire. In: West-östlicher Divan. MA 11, 1, 2. S. 9. Vgl. dazu auch Mommsen, Katharina: Goethe und die arabische Welt. Frankfurt am Main 1988. S. 86–87, die einen Textausschnitt von Anton Theodor Hartmann als eine Quelle der Formulierung ausmacht. Goethe: Hegire. In: West-östlicher Divan. MA 11, 1, 2. S. 9. Gisela Henckmann hat in ihrer Interpretation Gespräch und Geselligkeit in den Mittelpunkt gerückt und damit in der Tat zentrale Themen des Divan aufgegriffen, allerdings rekonstruiert sie zwar die Spur der Geselligkeit im Werk Goethes, übersieht dabei aber deren rhetorische Ursprünge. Vgl. G. H.: Gespräch und Geselligkeit in Goethes „West-östlichem Divan“. Stuttgart 1975.
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einzelnen Motive der Paradieswelt waren zuvor in ihrer diesseitigen Form Thema. So weist die derbe Sinnlichkeit des „Schenkenbuchs“ ebenso wie die Erfahrung tiefer Liebe im „Buch Suleika“ auf weltliche Erfahrungen, die im Paradies ihre vollendete Erfüllung finden. Auch das Streben nach Verjüngung, das sich in der Realität allenfalls durch die Kraft der Liebe erreichen lässt, findet im Paradies seine Erfüllung. Zunächst erscheint das Paradies, so gesehen, als eine Fortsetzung und Vollendung weltlichen Glücks: „Gärten“, „Blum“, „Frucht“ und „schöne Kinder“ sind im Paradies im Überfluss vorhanden, der Mangel der Erde scheint überwunden. Höheres und Höchstes Daß wir solche Dinge lehren Möge man uns nicht bestrafen: Wie das alles zu erklären Dürft ihr euer Tiefstes fragen.
Mag man ferner auch in Blicken Sich rhetorisch gern ergehen, Und zu himmlischem Entzücken Ohne Klang und Ton erhöhen.
Und so werdet ihr vernehmen Daß der Mensch, mit sich zufrieden, Gern sein Ich gerettet sähe, So dadroben wie hienieden.
Ton und Klang jedoch entwindet Sich dem Worte selbstverständlich, Und entschiedener empfindet Der Verklärte sich unendlich.
Und mein liebes Ich bedürfte Mancherley Bequemlichkeiten, Freuden wie ich hier sie schlürfte Wünscht’ ich auch für ew’ge Zeiten.
Ist somit dem Fünf der Sinne Vorgesehn im Paradiese, Sicher ist es ich gewinne Einen Sinn für alle diese.
So gefallen schöne Gärten Blum und Frucht und hübsche Kinder, Die uns allen hier gefielen, Auch verjüngtem Geist nicht minder.
Und nun dring ich aller Orten Leichter durch die ewigen Kreise, Die durchdrungen sind vom Worte Gottes rein-lebendigerweise.
Und so möcht’ ich alle Freunde Jung und alt in Eins versammlen, Gar zu gern in deutscher Sprache Paradieses-Worte stammlen.
Ungehemmt mit heißem Triebe Läßt sich da kein Ende finden, Bis im Anschaun ewiger Liebe Wir verschweben, wir verschwinden.219
Doch man horcht nun Dialekten Wie sich Mensch und Engel kosen, Der Grammatik, der versteckten, Declinirend Mohn und Rosen.
Nicht nur einen quantitativen, sondern einen qualitativen Unterschied zwischen Diesseits und Jenseits stellt das Gedicht in Bezug auf die Sprache dar, weil die –––––––––––– 219
Goethe: Höheres und Höchstes. In: West-östlicher Divan. MA 11, 1, 2. S. 123–124.
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Funktionsweise der Sprache oder wie es im Gedicht heißt, der Status von Grammatik und Rhetorik sich deutlich unterscheidet: Während man im Diesseits bestenfalls stammeln und Gegenstände sinnlicher Erfahrung wie auch eigene Empfindungen nur mit Worten fassen und ausdrücken kann, die eine Sache nie vollends und im gemeinten Sinne treffen, scheinen solche Beschränkungen durch die Sprache im Paradies überwunden. Die neue Form der Verständigung wirkt zunächst befremdlich: Im Paradies „kosen“ sich die Menschen mit einer „versteckten“ „Grammatik“, beziehen sich auf die Gegenstände, die sie umgeben, ohne eine distanzierende Wortsprache, verständigen sich vielmehr mit dem Gegenstand selbst, nämlich etwa „[d]eclinierend Mohn und Rosen“. Bahr hat diese zunächst wenig verständliche Beschreibung als die Darstellung einer „wortlose[n] Sprache“220 verstanden: Im Paradies sprechen die Dinge selbst, verständigt man sich ohne die distanzierende Wirkung einer konventionellen Sprache. Die Sprachzeichen stehen nicht mehr in einer defizitären Verweisrelation zur Welt, wie Goethe das in seinem Aufsatz „Symbolik“ 221 erklärt, sondern es gelingt, die Dinge direkt anzusprechen, Empfindungen ohne Worte auszusprechen, also zu kommunizieren, ohne dass Worte den Gegenstand verstellen. D. h. „Mohn“ und „Rosen“ selbst sollen dekliniert werden, nicht die entsprechenden Begriffe, die nur in einem konventionell referentiellen Verhältnis zur Sache stehen. Das Gedicht arbeitet mit verschiedenen Antithesen, relativiert die dargestellten Paradies-Erfahrungen, weil das lyrische Ich „Paradieses Worte“ nur stammeln kann, die Paradiesszenen also nur Ahnungen sein können. Während Verständigung, ja Persuasion zwischen „Mensch und Engel“ in Blicken ohne Worte geschehen soll, entwinden sich Ton und Klang dem Worte zugleich, und zudem scheint das Paradies vom „Worte Gottes“ durchdrungen, auch in der Paradiesvision führt, so gesehen, kein Weg über die Sprache hinaus. Die Antithese ist das zentrale Bauprinzip des Textes und wird schon zu Beginn exponiert, in der Spannung zwischen dem Titel „Höheres und Höchstes“ und der Erfahrung, dass solche Erfahrungsbereiche den Adressaten nur zugänglich sind, wenn sie ihr „Tiefstes fragen“. So wird auch im Gedicht in utramque partem argumentiert, bleiben Gegensätze bestehen, statt direkt aufgehoben zu werden. Für Wolfgang Frühwald zitiert „Höheres und Höchstes“ nicht nur Motive der Jenseits-Vorstellung des Korans, sondern ist durchaus auch als Ausdruck einer persönlichen Paradiesphantasie des Verfassers zu lesen.222 Unter dieser Prämisse ist es besonders beachtenswert, dass der vermeintlich gegenüber Rhetorik so kri–––––––––––– 220 221 222
Bahr, Erhard: Die Ironie im Spätwerk Goethes. „…diese sehr ernsten Scherze…“. Studien zum „West-östlichen Divan“, zu den „Wanderjahren“ und zu „Faust II“. Berlin 1972. S. 85. Goethe: Symbolik. WA II, 11. S. 167–169. Frühwald, Wolfgang: „Deklinierend Mohn und Rosen…“. Esoterik und Mystik im „Westöstlichen Divan“. In: Böhme, Wolfgang (Hrsg.): „Im Anschaun ewger Liebe“. Von Goethe lernen. Karlsruhe 1982. S. 29–43, hier: S. 40.
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tische Goethe noch in seiner Paradiesvision einen Platz für die Rhetorik bereithält. Man kann sich im Paradies „in Blicken / […] rhetorisch gern ergehen“, die ein „himmlische[s] Entzücken“ bewirken. Wie im Paradies die Dinge selber sprechen, so kann auch der Mensch allein durch Gesten und Blicke seine Empfindungen ausdrücken. Der sermo corporis ist auf eine völlig neue Stufe gehoben, schon ein Blick genügt, um seine Intention kundzutun, und das telos, das der Redner auf der Welt mit strategischem Argument und kunstvoll gesetzten Worten mühsam nur erreicht, ist auf einen Schlag zu erlangen. Zeitlebens hat sich Goethe mit dem Ausdrucksproblem beschäftigt, mit der Frage, wie Empfindungen anderen zugänglich gemacht und in einem sozialen Kontext zur Geltung gebracht werden können. Ihm war klar, dass die Vision unverstellten Selbstausdrucks, die im Sturm und Drang auftaucht, nicht realistisch ist, aber in der Paradies-Vision ist das poetische Idealbild der Genies greifbar, die „Verwandlung des Lebens in Poesie“223 gelingt bis zum Verschweben und Verschwinden „im Anschaun ewiger Liebe“. Sich rhetorisch zu ergehen, meint im Gedicht Intentionen zu realisieren, sein telos ohne Umstände zu erreichen. Im Paradies kommt Rhetorik ohne strategische Verstellung aus, ist keine wirkungsunsichere Form der Steuerung, vielmehr ein verlässliches Vehikel der eigenen Absichten und der Verständigung. Diese Vision selbst lässt sich jedoch wiederum nur mit Mitteln der Sprache darstellen, mit rhetorischen Mitteln plausibilisieren, über die Sprache und ihre Rhetorizität führt in der Wirklichkeit kein Weg hinaus. Durch den Titel des Gedichts „Höheres und Höchstes“ lässt sich die paradiesische Rhetorikvision nicht als unwichtig oder nebensächlich abtun, die Grenzen der Sprache zu überwinden, ist eine paradiesische Vorstellung. Umgekehrt ist die Rhetorik in der diesseitigen Welt ohne Alternative, wenn es darum geht, sich auszudrücken und zu verständigen. Das gute Gespräch, der gesellige Umgang, den viele Gedichte des „Divan“ beleuchten, ist somit gewissermaßen das irdische Gegenstück zur Paradiesvision. Im guten Gespräch mag Verständigung glücken, gleichwohl bleibt Rhetorik in einer Welt, in der sich die Interessen der Menschen widersprechen, Widerstände zu erwarten sind, für ein Individuum, das seine Intentionen umsetzen und seine Ziele erreichen will, ein notweniges Mittel.
9. 3. 2. „Quintilian unserm alten Meister“ – Rhetorik als Thema der Erläuterungen zu „Besserem Verständniss“ „Am liebsten aber wünschte der Verfasser vorstehender Gedichte als ein Reisender angesehen zu werden“,224 heißt es am Beginn der Erläuterungen zu „Besserem Verständnis“ des „Divan“. Goethe sieht sich in der Rolle eines „Handels–––––––––––– 223 224
Ebd. S. 31. Goethe: Besserem Verständniss. MA 11, 1, 2. S. 130.
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manns, der seine Waaren gefällig auslegt und sie auf mancherley Weise angenehm zu machen sucht; ankündigende, beschreibende, ja lobpreisende Redensarten wird man ihm nicht verargen.“225 Er unternimmt als Dichter und Kommentator den Versuch, seinen Lesern eine fremde Welt zugänglich zu machen und reizvoll erscheinen zu lassen. Dies ist eine rhetorische Aufgabe, weil es darum geht, den Leser für etwas Fremdartiges zu interessieren (attentum parare), das Fremde überzeugend vorzustellen und zudem die Texte der Sammlung erfolgreich im Kunstagon zu etablieren. Wie die Gedichtsammlung selbst hat der Prosateil den Charakter eines Dialogs, Überschriften wie „Einrede“, „Verwahrung“ usw. folgen diesem Muster. Zudem bringt Goethe, der als gewandter Handelsmann agiert, sein Verfahren mit der rhetorischen Tradition in Verbindung, wenn er seine stark vereinfachende und konzentrierende Darstellungsform mit dem Verweis auf Quintilian legitimiert: Wagten wir nun mit diesem Wenigen fünfhundert Jahre persischer Dicht- und Rede-Kunst zu schildern; so sey es, um mit Quintilian unserm alten Meister zu reden, von Freunden aufgenommen in der Art wie man runde Zahlen erlaubt, nicht um genauer Bestimmung willen, sondern um etwas Allgemeines, bequemlichkeitshalber, annähernd auszusprechen.226
Dem Dichter als Handelsmann geht es nicht um wissenschaftliche Präzision der Darstellung, bisweilen reicht es ihm, Zusammenhänge in Umrissen darzustellen. Wichtig sind ihm hingegen Klarheit und Verständlichkeit, also für die elocutio maßgebliche Ideale der Rhetorik, auf die er sich verpflichtet, um seine Leser überzeugen zu können: Zuvörderst also darf unser Dichter wohl aussprechen daß er sich, im Sittlichen und Ästhetischen, Verständlichkeit zur ersten Pflicht gemacht, daher er sich denn auch der schlichtesten Sprache, in dem leichtesten, faßlichsten Sylbenmaße seiner Mundart befleißigt und nur von weitem auf dasjenige hindeutet, wo der Orientale durch Künstlichkeit und Künsteley zu gefallen strebt.227
Die Erläuterungen „Besserem Verständnis“ zeigen also wiederum, wie sehr die rhetorische Tradition auf Goethe einwirkt, nicht nur dass er sich als Autor in die Rolle eines strategisch kalkulierenden Handelsmannes bringt, der mit Hilfe rhetorisch-strategischer Argumente zu überzeugen versucht, auch die Frage nach für das heimische Publikum angemessenen Formen ist rhetorischer Natur. Es geht darum, die Fremdheit des Orients in einer Weise darzustellen, die diese Fremdheit nicht verdeckt, sondern zugänglich macht, Goethe denkt also im Rahmen des Angemessenheits-Postulats. –––––––––––– 225 226
227
Ebd. S. 131. Ebd. S. 167. Mit der Methode dürfte Goethe sich an Quint. Inst. orat. X, 1, 44–45 orientieren, wo Quintilian sein Verfahren bei der Darstellung der Stilarten reflektiert, die nicht anders als summarisch ausfallen könne. Vgl. dazu die Hinweise bei Grumach, der diese Passage identifiziert hat. Bd. 2. S. 909. Goethe: Besserem Verständniss. MA 11, 1, 2. S. 131.
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Im „West-östlichen Divan“ deutet sich wiederholt eine Verbindung und Parallelisierung von Poet und Prophet an, die Goethe in den Erläuterungen folgendermaßen begründet: Wollen wir nun den Unterschied zwischen Poeten und Propheten näher andeuten, so sagen wir: beyde sind von einem Gott ergriffen und befeuert, der Poet aber vergeudet die ihm verliehene Gabe im Genuß, um Genuß hervorzubringen, Ehre durch das Hervorgebrachte zu erlangen, allenfalls ein bequemes Leben. Alle übrigen Zwecke versäumt er, sucht mannigfaltig zu seyn, sich in Gesinnung und Darstellung gränzenlos zu zeigen. Der Prophet hingegen sieht nur auf einen einzigen bestimmten Zweck; solchen zu erlangen, bedient er sich der einfachsten Mittel. Irgend eine Lehre will er verkünden und, wie um eine Standarte, durch sie und um sie die Völker versammeln. Hierzu bedarf es nur daß die Welt glaube, er muß also eintönig werden und bleiben. Denn das Mannigfaltige glaubt man nicht, man erkennt es.228
Der enthusiastische Poet ist für den späten Goethe ein uneinholbares Ideal, im „Divan“ ist dieses Idealbild eines der Vergangenheit und gehört in den Kontext einer „[n]aive[n] Dichtkunst“, die „bey jeder Nation die erste“ ist.229 In einem mythischen oder religiösen Kontext kann Dichtung nach dieser Vorstellung Ausdruck göttlicher Inspiration sein, außerhalb des metaphysischen Feldes jedoch erscheint ein rhetorischer Gestus nötig, den Goethe gerade an Hafis, der im lyrischen Teil des „Divan“ als leuchtendes Vorbild der Dichtkunst erscheint, fasslich macht: [D]aß der Dichter nicht geradezu alles denken und leben müsse was er ausspricht, am wenigsten derjenige der in späterer Zeit in verwickelte Zustände geräth, wo er sich immer der rhetorischen Verstellung nähern und dasjenige vortragen wird was seine Zeitgenossen gerne hören. Dieß scheint uns bey Hafis durchaus der Fall. Denn wie ein MährchenErzähler auch nicht an die Zaubereyen glaubt die er vorspiegelt, sondern sie nur aufs beste zu beleben und auszustatten gedenkt, damit seine Zuhörer sich daran ergötzen, eben so wenig braucht gerade der lyrische Dichter dasjenige alles selbst auszuüben, womit er hohe und geringe Leser und Sänger ergötzt und beschmeichelt. 230
Hafis, der bewunderte Dichter des „Divan“, bedient sich also ganz selbstverständlich einer „rhetorischen Verstellung“. Außerhalb des Idealbildes enthusiastischer Inspiration regiert die rhetorische Technik, in neueren Zeiten zeichnet es den Dichter aus, über Empfindungsreichtum zu verfügen, aber auch über technisches Wissen, er ist im Modus der Simulation und Dissimulation produktiv. Insofern löst Rhetorik Kunst aus dem Kontext subjektiver oder objektiver Fundierung. Die relativistische Perspektive, die sich aus einer solchen logozentrischen Vorstellung ergibt, lehnt Goethe zumindest nicht rundweg ab. Für diese Art, Rhetorik zu verstehen und zu nutzen, sind Ernestis Lexika ein interessanter Bezugspunkt, weil hier Rhetorik als reines Mittel behandelt wird, rhetorische –––––––––––– 228 229 230
Ebd. S. 147–148. Ebd. S. 132. Ebd. S. 164.
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Techniken in einen kausalen Wirkungszusammenhang gesetzt scheinen, systematisierend zugänglich gemacht werden. Wenn man die Auseinandersetzung Goethes mit der Kultur des gesprochenen Wortes, mit der erkenntnistheoretischen Seite der Rhetorik oder sein Bekenntnis zum alten Meister Quintilian sieht, ist es um so erstaunlicher, dass eine Passage aus Goethes Divan-Erläuterungen häufig als Generalargument dient, um zu zeigen, wie wenig Goethe von der Rhetorik hielt.231 „Verwahrung“ ist ein Abschnitt der Erläuterungen überschrieben, in dem sich folgender Gedanke findet: Poesie ist, rein und ächt betrachtet, weder Rede noch Kunst; keine Rede, weil sie zu ihrer Vollendung Takt, Gesang, Körperbewegung und Mimik bedarf; sie ist keine Kunst, weil alles auf dem Naturell beruht, welches zwar geregelt, aber nicht künstlerisch geängstiget werden darf; auch bleibt sie immer wahrhafter Ausdruck eines aufgeregten erhöhten Geistes, ohne Ziel und Zweck.232
So wie Goethe hier von der Poesie spricht, geht es ihm um eine definitorische Abgrenzung von Poesie und Rede. In der Tat ist die Poesie – und hier meint er, wie er zuvor erläutert hat, „Wort und Ausdruck als heilige Zeugnisse“ 233 – von der Rede zu differenzieren durch Takt, Gesang, Mimik. Poesie im Sinne des enthusiastischen Ausdrucks kann man zudem nicht unter das Kalkül irgendwelcher Zwecke und Ziele stellen, und insofern ergibt sich aus dem Fehlen eines festumrissenen telos eine Differenz zwischen Rede und Poesie. Schließlich ist enthusiastische Poesie keine Kunst, da sie als Ergebnis purer Inspiration keiner ästhetischen Politur bedarf, wobei in Erinnerung zu rufen ist, dass Goethe eine solche prophetische Poesie nur als ein naives Anfangsstadium von Dichtkunst gelten lässt. Die reine und echte Poesie ist ein unerreichbares Ideal, schließlich mischen sich schon bei Hafis rhetorische Strategien in die Poesie, die dann eben doch Kunstfertigkeit fordert. Mit diesen Überlegungen, die Rede und Poesie voneinander abgrenzen, leitet Goethe eine komplementäre Definition von Rhetorik ein: Die Redekunst aber, im eigentlichen Sinne, ist eine Rede und eine Kunst; sie beruht auf einer deutlichen, mäßig leidenschaftlichen Rede, und ist Kunst in jedem Sinne. Sie verfolgt ihre Zwecke und ist Verstellung vom Anfang bis zu Ende.234
Der Rhetorik geht es um die kunstgemäße Ausgestaltung des gesprochenen Wortes, sie ist Rede und Kunst im Sinne von ars. Dabei sind bestimmte Stilideale im –––––––––––– 231
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Vgl. etwa noch in jüngster Zeit Borchmeyer, Dieter: Iphigenie auf Tauris. In: Goethes Dramen. Hrsg. v. Walter Hinderer. Stuttgart 1999. S. 117–157, hier: S. 145–146. Außerdem Deiters, Franz-Josef: Goethes „Iphigenie auf Tauris“ als Drama der Grenzüberschreitung oder: Die Aneignung des Mythos. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts. Neue Folge (1999) S. 14–51, hier: S. 26–28, besonders Fußnote 19. Goethe: Besserem Verständniss. MA 11, 1, 2. S. 192. Ebd. Ebd. S. 193.
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Spiel (hier durch den Verweis auf Deutlichkeit und die Mäßigung des Affektausdrucks apostrophiert). Zudem ist der Redner in einen sozialen Kontext gestellt, er verfolgt „Zwecke“, d. h. hat ein telos vor Augen, und setzt, um dieses zu erreichen, auf die Dissimulation seiner Kunstfertigkeit, um zu wirken. Er versteht seine Rede als eine Form von Simulation und setzt rhetorische Strukturen in einer Weise ein, die auf die Rezipienten wirkt. Dies ist kein Angriff auf die Rhetorik, sondern eine Definition, die wie die Poetik-Definition ihren Sinn erst aus dem Kontext erhält. Der Hintergrund von Goethes „Verwahrung“ ist nämlich ein ganz anderer als der einer Abrechnung mit der rhetorischen Tradition. Die „Verwahrung“ ist an Joseph von HammerPurgstall adressiert,235 konkret geht es um dessen Band „Geschichte der schönen Redkünste Persiens“.236 Dieses Buch, für Goethe eine wichtige Quelle orientalischer Dichtung, hat nach seiner Auffassung einen wenig sinnvollen Titel, denn es handelt sich dabei um eine Blütenlese persischer Dichtkunst, nicht um eine Geschichte persischer Redekunst, wie der Titel suggeriert. Diesem Missverständnis will Goethe entgegenwirken, indem er erklärt, was echte Poesie, d. h. in diesem Fall naive Naturpoesie, von Rhetorik unterscheidet. Und in der Tat ist es, auch wenn Dichtkunst sich in der arabischen Welt vor allem im gesprochenen Wort realisiert, doch sinnvoll, zwischen Reden und poetischen Texten zu unterscheiden, ohne dass man deshalb die Bedeutung der Rhetorik für die Dichtkunst abwertet. Dies ist der Punkt, um den es Goethe geht und der im Kontext eindeutig formuliert ist, denn aus keinem anderen Grund schreibt er, die merkwürdige Gleichsetzung von Rede und Poesie würden „schätzenswerthe Bücher […] an der Stirne tragen“.237 Die Faust-Dichtungen, die Meister-Romane sowie der „West-östliche Divan“ greifen sophistische Positionen auf und belegen, wie die rhetorische Erkenntnistheorie auf Goethe gewirkt hat. In Anbetracht der Sophistik ist ein radikales Rhetorikverständnis formuliert, das von der appellativen und persuasiven Wirksamkeit sprachlicher Strukturen ausgeht, davon, dass die Mittel der Rhetorik jedwede Wirkung herstellen können, auch wenn sie lediglich im Modus der Simulation geäußert werden, es ihnen an subjektiver (etwa durch individuelle Empfindung) und objektiver (etwa durch wesenhafte oder sinnliche Naturerfahrung) Substanz mangelt. Ein in diesem Sinne radikalisiertes Verständnis von Rhetorik und Rhetorizität der Sprache bleibt für Goethe freilich eine Art Gedankenexperiment, weil er sein literarisches Werk zumeist anders ideologisiert, sich –––––––––––– 235 236 237
Vgl. Mommsen, Katharina: Goethe und Diaz. Quellenuntersuchungen zu Gedichten der Divan-Epoche. Berlin 1961. S. 47–51. Hammer-Purgstall, Joseph von: Geschichte der schönen Redekünste Persiens mit einer Blüthenlese aus zweyhundert persischen Dichtern. Wien 1818. Goethe: Besserem Verständniss. MA 11, 1, 2. S. 193.
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etwa auf individuelle Empfindung oder die Schaffenskraft der Natur im Sturm und Drang bezieht, die Idee der Schönheit oder das Wesen der Natur in Klassik und Nachklassik als Grundlage von Kunst betrachtet. Zwar handelt es sich bei diesen scheinbar außersprachlichen Legitimationsinstanzen häufig wieder um ideologische Entwürfe, die selbst mit rhetorischen Mitteln aufrechterhalten werden, doch für Goethe entsteht so eine subjektive bzw. objektive Legitimation für das eigene künstlerische Werk. Pragmatisch bleibt jedoch das Wissen um die Kunstmittel der Rhetorik wichtig. Der „Divan“ ist ein Experiment, in welchem Goethe mit Rhetorik als Poesie experimentiert und auf die Wirkung der Rhetorizität von Sprache setzt, ohne diese dichterisch vollends einzuholen. Umgekehrt lädt Ernesti dazu ein, Poesie mittels formaler Analyse auf ihren rhetorischen Gehalt zu reduzieren. Diese beiden Denkbewegungen fließen beim späten Goethe im Experiment zusammen: Weder geht jedoch Poesie in der rhetorischen Analyse auf noch reicht die Rhetorizität sprachlicher Strukturen oder die meisterliche Beherrschung der rhetorischen Technik aus, um literarische Texte von Wert zu verfassen. Ein posthum unter dem Titel „Ein Wort für junge Dichter“ publizierter Text lässt die prekäre Situation, in der sich der Schriftsteller seit dem 18. Jahrhundert befindet, erkennen. Das Programm für den Dichter der Moderne ist hier deutlich formuliert, er soll „von innen heraus wirken“,238 soll sein „Individuum zu Tage fördern“.239 Damit dies aber gelingen kann, muss er sich nicht nur seiner Individualität versichern, sondern sich auch „im Technischen“,240 und das meint für Goethe wohl: im Rhetorischen, bilden. Ohne ein Repertoire an argumentativen Mustern, sprachlichen Figuren, Wissen um die Anordnung eines Textes und den sprachlichen Ausdruck gerät selbst das interessanteste Individuum schnell an die Grenzen seiner Möglichkeiten, egal wie ausufernd und schillernd die eigenen Empfindungen sind. Rhetorik ist für Goethe, selbst wenn sie wie bei Ernesti als eine systematische Technologie dargestellt wird, kein „fremder äußerer Maßstab“,241 sondern ein für einen Dichter notwendiges Mittel der Sprachbeherrschung. Wichtig ist jedoch, dass der Schriftsteller lernt, „sich selbst zu beurteilen“,242 denn nur wer über iudicium und consilium verfügt, kann mit dem Wissen der Rhetorik etwas anfangen.
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Goethe: [Ein Wort für junge Dichter]. MA 18, 2. S. 219. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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10.
„Denn was soll die Rede taugen…“ – Rezeption und Adaption der Rhetorik bei Goethe (Zusammenfassung)
Ihr macht schöne Verse ohne die Verskunst; ihr haltet passende Reden ohne die Rhetorik studirt zu haben. Das geht wohl recht gut eine Zeit lang, aber zuletzt reicht es doch nicht aus.1 Goethe musste häufig als Zeuge herhalten, wenn es darum ging, das Ende der rhetorischen Tradition im 18. Jahrhundert zu beweisen, mit Zitatversatzstücken aus seinen Werken hat man ihn als ‚unrhetorischen‘ Autor hingestellt. Wenn man sich aber Goethes Ausbildung ansieht und seine theoretischen und literarischen Werke auf die Rezeption rhetorischer Wissensinhalte untersucht, ist dieses Bild dringend korrekturbedürftig. In Goethes schulischer Ausbildung ist die antike Rhetorik ein noch völlig selbstverständlicher Bezugspunkt, und so lernt er bereits während der Schulzeit erste rhetorische Theorien kennen. Gesners’ „Isagoges“ etwa definieren Rhetorik im Spannungsfeld von ars und natura, in Comenius’ Bildlexikon ist Rhetorik als eine Kunst evidenter Darstellung Thema, deren poetologische Bedeutung direkt einleuchtet. Zudem sammelt Goethe früh, etwa bei seinem Schreiblehrer Scherbius, erste praktische rhetorische Erfahrungen durch progymnasmatische Übungen, in denen er lernt, aufzutreten, zu argumentieren und zu disputieren sowie die rhetorischen Figuren zielgerichtet einzusetzen. Auch Übungen zum literarischen Schreiben sind in dieser Zeit noch eine Domäne des rhetorisch geprägten Unterrichts und stehen schon früh auf dem Programm. Obwohl Goethe eigentlich Rechtswissenschaften studiert, steht das Studium in Leipzig deutlich im Zeichen einer rhetorischen Ausbildung, und mit Gottsched, Gellert und auch Ernesti finden sich hier einige der wichtigsten Rhetorikforscher und -theoretiker der Zeit. Goethe lernt bei ihnen ganz unterschiedliche Auslegungen und Varianten von Rhetorik kennen, bei Gottsched stehen Regel und Argumentation im Mittelpunkt, Gellert formuliert eine eher empfindsame Rhetoriktheorie. Besonders der neuhumanistische Wissenschaftler Johann August Ernesti und dessen „Initia rhetorica“ aber erschließen die rhetorische Tradition so, dass deren rhizomatische Komplexität und Vielschichtigkeit deutlich werden. –––––––––––– 1
Goethe in einem Gespräch mit Friedrich Theodor Adam von Müller. 7. bis 9. September 1827. WA V, 6. S. 199.
Rhetorik meint für Goethes Lehrer und auch für ihn selbst entsprechend nicht nur eine Kunstlehre systematischer Art, sondern eine umfassende Theorie persuasiver Kommunikation, zu der auch anthropologische Paradigmen und Konzepte gehören. Insofern stellt sich für Goethe später gar nicht die eine Alternative zwischen Genieliteratur auf der einen Seite und barocker Rhetorik und Regelpoetik auf der anderen, die die Literaturgeschichte gerne annimmt. In den Briefen an seine Schwester oder an Freund Riese ist das ernsthafte Interesse des jungen Goethe an der Rhetorik deutlich zu erkennen. Zwar ist der „Poet“, wie er sich damals bereits nannte,2 irritiert von der harschen Kritik, die Clodius, bei dem er Schreibseminare besuchte, an seinen Texten übt. Doch selbst die Spottgedichte auf Clodius zeigen, dass Goethe Rhetorik ernst nimmt, und entsprechend kann die Sprache der frühen Gedichte, auch der sogenannten ‚Erlebnislyrik‘, die rhetorische Textkompetenz nicht verbergen. Auch die Shakespeare-Rede, die immerhin als eine Art Gründungsdokument des Sturm und Drang gilt, ist von Aufbau und Stil her ein mustergültiges Beispiel für zielgerichtete dispositio und elocutio. Insgesamt ist es also wenig plausibel, wenn die Forschung mit der Genieperiode das Ende der rhetorischen Tradition verbindet. Vielmehr liest Goethe auch in der Geniephase wichtige Texte der antiken Rhetorik: Spuren einer Quintilian-Lektüre finden sich etwa in den „Ephemerides“, Hinweise auf die Auseinandersetzung mit Horaz in frühen Gedichten, auch zeitgenössische Forschung zur Rhetorik nimmt er zur Hand, etwa Hurds HorazKommentar oder die Texte von du Bos, der sich oft auf Quintilian bezieht. Die inzwischen weit verbreitete Forschungsthese, nach der es in der Folge von Aufklärung und Geniebewegung im 18. Jahrhundert zu einer Transformation der rhetorischen Tradition gekommen sei, greift, bezogen auf Goethe, zu kurz, denn ihm steht die Rhetorikgeschichte als beständiger Transformationsund Entwicklungsprozess vor Augen. Rhetorik hat für ihn eher eine rhizomatische Struktur, in der viele unterschiedliche Theorien und Praktiken gebündelt sind, die ihn in vielerlei Hinsicht beeinflussen. So übernimmt er aus der Rhetorik wichtige Bausteine seiner ästhetischen Theorie (vgl. dazu Kapitel zwei bis fünf dieser Arbeit), leitet aus der rhetorischen Anthropologie psychologische und politische Implikationen ab (Kapitel sechs und sieben) und nimmt sogar die erkenntnistheoretische Dimension der Rhetorik (Kapitel acht und neun) auf. Goethes ästhetische Rhetorikrezeption beginnt mit dem Ausdrucksproblem des Sturm und Drang. Er bewältigt die Herausforderung der Geniebewegung, die darin liegt, innere Empfindungen und subjektive Erfahrungen, sprachlich zu fassen und anderen zugänglich zu machen, mit Hilfe der Rhetorik. Eine evidente Darstellungsweise, die gezielte Suggestion von Spontaneität und Authentizität –––––––––––– 2
Vgl. z. B. Goethe an Cornelie. Brief vom 12. Oktober 1765. WA IV, 1. S. 8.
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durch einen elliptischen Stil und eine affektgetriebene Schreibweise lassen Empfindungen transparent werden und machen subjektive individuelle Empfindungen überhaupt erst literarisch zugänglich. Dabei erkennt Goethe, dass in der rhetorischen Tradition hinter solchen Stilprinzipien eine anthropologisch fundierte Affektrhetorik steht, die aus Sicht der Geniebewegung interessant ist, sofern sie die Frage aufgreift, wie Affekte und individuelle Empfindungen den Redner oder Schriftsteller beeinflussen. In der Rhetorik gilt Anschaulichkeit nämlich als ein Vehikel, durch das der Redner sich selbst in eine affektive Stimmung versetzen kann, um aus dieser Affektlage Zugriff auf eine angemessene Sprache, passende Gedanken und Argumente zu erlangen. Goethe kennt die einschlägigen Passagen, in denen sich Cicero, Quintilian, Horaz u. a. mit dieser so genannten Selbstaffizierung beschäftigen, und er weiß, dass zur rhetorischen Tradition auch solche Praktiken und Theorien gehören. Dabei ist ein Kompromiss zwischen anthropologischen und systematischen Paradigmen, die konzeptionell im Widerspruch stehen, in der antiken Rhetorik immer bereits mitgedacht. Bei Quintilian etwa fungiert das pectus-Prinzip als Brücke zwischen einer anthropologisch fundierten Affektrhetorik und der rhetorischen Kunstlehre, die Sprachkompetenz systematisch vermittelt. Weitere Theorieelemente der antiken Rhetorik, die zum rhetorischen Subtext der Genieästhetik gehören, finden sich im Umfeld des ingenium-Begriffs, der auf die Versuche Goethes, Genie zu definieren, einwirkt. Indem Eigenschaften wie eine besondere Beweglichkeit des Geistes, überhaupt rednerisches Talent zwar mit Hilfe von Übung und Unterweisung weiterentwickelt werden können, der große Redner aber eben ohne entsprechende Talente nicht auskommt, ist das rhetorische ingenium-Konstrukt für die Definition von Genie durchaus interessant. Wichtig ist in diesem Kontext die Auseinandersetzung mit Ps.-Longin und dem Erhabenen, die Goethe nicht nur dahingehend aufnimmt und versteht, dass man den Sturm und Drang im Sinne von Carsten Zelle als eine Umschaltung auf die Stilprinzipien des Erhabenen betrachten kann. Vielmehr bietet Ps.-Longin, indem er die enthusiastische Empfindsamkeit des Künstlers thematisiert und das Erhabene als eine Naturerfahrung versteht, Denkanstöße, die die Auratisierung von Kunst und Künstler, wie sie Goethe im Baukunst-Aufsatz betreibt, vorwegnehmen. Auch die Art und Weise, wie Ps.-Longin eine rhetorisch-technische Perspektive mit enthusiastischen Vorstellungen verbindet, ist für Goethe vorbildlich. Er lässt sich durch Subjektivismus, individuellen Empfindungsreichtum und die auratische Selbstdarstellung der Genies nicht dazu verführen, den handwerklichen Aspekt von Kunst zu vernachlässigen. Schon im Sturm und Drang ist das Verhältnis von Kunst und Natur ein zentrales Problem. Die natura naturans, die hier als Maßstab künstlerischer Schaffenskraft gilt, ist jedoch mehr eine ideologische Fiktion als ein sicherer Maßstab für den Künstler und seine Kunst. Daher versucht Goethe in immer neuen Ansätzen das imitatio-Problem zu lösen, das Verhältnis von Kunst und Natur zu klä-
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ren, indem er antike Perspektiven aufnimmt und weiterentwickelt. Er setzt sich dazu im Übergang zur Klassik intensiv mit dem pädagogischen Modell der Rhetorik auseinander und nimmt die Frage auf, wie durch Nachahmung anderer Kunstwerke, aber auch durch die Nachbildung der Natur ein Kunstwerk entsteht, sich künstlerische Kompetenz entwickelt. In „Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl“ grenzt Goethe dann nicht nur typologisch unterschiedliche Formen von Kunst ab, sondern formuliert eine Theorie der imitatio, die in vielfacher Weise von der Rhetorik beeinflusst ist. Zunächst gehört das pädagogische Modell der Rhetorik zu den Voraussetzungen des Textes. Das Zusammenspiel von Nachahmung des Vorbilds, Übung und theoretischer Reflexion erscheint als Weg zur Kunst. Darüber hinaus geht die Individualstil-Debatte der Antike in den Aufsatz ein, beeinflusst den dort vertretenen Manierismus-Begriff. Indem Goethe einfacher Nachahmung, Manier und Stil jeweils unterschiedliche Wirkungen zuschreibt, spielt zudem die dreigliedrige Struktur der genera dicendi in den Aufsatz hinein. Es geht hier also nicht darum, wie oft behauptet, den Stil-Begriffs neu zu installieren, sondern eher darum, antike Modelle und Vorlagen zu adaptieren und weiterzuentwickeln. Insofern Goethe Kunst im Rang von Stil mit einem objektivierenden Zugriff auf die Natur verbindet, kann man seine naturwissenschaftlichen Forschungen als Versuch betrachten, durch sinnliche Anschauung das Wesen der Natur zu verstehen. Wobei aus rhetorischer Sicht auch der ästhetische Objektivismus und die naturwissenschaftlichen Theorien ästhetische Ideologien sind, die mit rhetorischen Mitteln formuliert und durchgesetzt werden. In der Klassik bleibt der ästhetische Objektivismus zwar ein Thema, zugleich aber wird der problematische Charakter mimetischer Kunstkonzepte immer deutlicher, Goethe erkennt eine schwer überbrückbare Distanz zwischen Kunst und Natur. Daher fordert er Kunstfertigkeit, ein fundiertes Urteilsvermögen des Künstlers (iudicium) in der Wahl seiner ästhetischen Mittel. Nun lassen sich die Maßstäbe artifizieller Perfektion nicht ausformulieren, sind diskursiv nur begrenzt zugänglich, die aptum-Lehre der antiken Rhetorik, besonders das innere aptum, erscheint jedoch als ein Paradigma, das die formale ästhetische Qualität von Kunstwerken beschreibt. Goethe gibt den Gedanken zwar nicht auf, dass Kunst in der subjektiven Empfindsamkeit und in einem objektivierenden Verhältnis zur Natur gründen sollte, aber doch rückt in den „Propyläen“, auch in den „Horen“ die artifizielle Qualität von Kunst ins Zentrum der Aufmerksamkeit: Gerade der Kenner weiß Kunstfertigkeit zu schätzen, ergötzt sich nicht an der Illusionswirkung allein. Die Dilettanten werden daher zum neuen Angriffsziel, wobei in den „Lehrjahren“, aber auch in den „Regeln für Schauspieler“ selbst die nonverbale Kommunikation unter dem Blickwinkel der Artifizialität zum Thema wird. Auch in Auseinandersetzung mit anthropologischen Konzepten der Rhetorik zeigt sich die Tendenz, die rhetorische Tradition weiterzuführen und an aktuelle
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Notwendigkeiten anzupassen. Goethe reflektiert aus psychologischer und politischer Perspektive, inwieweit rhetorische Theorien und Praktiken aktuell sind. Dazu wendet er das Angemessenheitsprinzip der Rhetorik, überhaupt die rhetorischen Typologien im „Werther“ und im „Tasso“ psychologisch. Gerade aus der individuellen subjektiven Perspektive aber ergeben sich interessante Konsequenzen, etwa die Möglichkeit, über das Verhältnis zwischen autonomem Künstler und Gesellschaft nachzudenken. Auch am Konzept der enzyklopädischen Bildung ist Goethes Tendenz zur Adaption und Aktualisierung gut nachzuvollziehen. Er gibt das Modell nicht auf, relativiert es allerdings, weil für ihn dieses Ideal vor dem Hintergrund wissenschaftlichen und technischen Fortschritts nur noch als Perspektive für die Menschheit im Ganzen taugt. In den „Wanderjahren“ entsteht daher ein modernes bürgerliches Entwicklungsprogramm, das eben durchaus noch rhetorische Züge hat, indem es Verhaltensregulierung und universelle Bildung in veränderter Form im Blick behält. Rhetorik als Medium der Politik ist für Goethe vor dem Hintergrund höfischer Verhaltensregulierung ein weiteres Thema, er identifiziert rhetorische Verstellung (simulatio und dissimulatio) als Vehikel politischer Kontrolle, denkt im Kontext öffentlicher Rede über die Bedeutung der Persönlichkeit des Redners für seine Wirkung nach. Götz und auch Egmont sind, so gesehen, nicht nur als starke Individuen Beispiele für die Wunschbilder des Geniediskurses, vielmehr macht ihr Scheitern deutlich, dass es in der Politik ganz ohne Strategie wohl nicht geht, weil politisches Handeln verlangt, wechselseitige Interessen zu vermitteln, Probleme durch zielorientierte Strategien zu bewältigen. Die grundlegende Notwendigkeit einer zielgerichteten Verhaltensregulierung erscheint überhaupt unüberwindlich und zur Aktualität der Rhetorik beizutragen. Die gesellschaftliche Idealsituation eines geselligen Umgangs, die etwa die „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ inszenieren und die Goethe selbst in der höfischen Kultur Weimars zu verankern sucht, bleibt nämlich eine Utopie. Das umfassende Rhetorikkonzept Goethes adressiert neben ästhetischen und anthropologischen Fragen schließlich drittens erkenntnistheoretische Probleme. Schon im „Urfaust“ rezipiert Goethe den Skeptizismus der Sophistik, nachdem er sich offensichtlich mit anthropozentrischen und logozentrischen Theorien auseinandergesetzt hat. Er stellt hier sehr ernsthaft die Frage, inwieweit der Mensch auf bloße Wahrscheinlichkeiten verwiesen bleibt, Wahrheit für ihn unzugänglich ist. Obwohl er sich um eine Objektivierung seiner Kunst durch Natur bemüht, Kunst auf subjektive Individualitätserfahrungen bezieht, die mehr als rhetorische Konstruktionen sein sollen, spielt doch eine solche radikale Lesart von Rhetorik in sein Werk hinein. Hier ist die These der rhetorischen Artifizialität, die zunächst formal auf das klassische Kunstwerk bezogen war, erkenntnistheoretisch gespiegelt. Kulturelle Werte und Normen sind demnach eher rhetorische Konstruktionen, Iphigenie etwa macht die Erfahrung eines Kulturre-
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lativismus, erkennt, dass gesellschaftliche Werte und Normen, selbst die Religion nicht metaphysisch legitimiert sind, sie vielmehr der Mensch diskursiv konstruiert. Wenn Iphigenie den göttlichen Willen auslegt, indem sie zu den Göttern betet, handelt es sich jeweils vor allem um Akte der Selbstüberredung. Auch für seine Autobiographie ist die Sophistik aufschlussreich, denn Goethe hebt die individuelle Dimension von Wahrheit hervor, nimmt den Relativismus der Sophistik auf. Individualität, biographische Identität sind in der Autobiographie entsprechend das Ergebnis einer zielgerichteten Komposition des Autors, keine unverrückbar gegebenen Größen. In der Wieland-Rede, aber auch in „Dichtung und Wahrheit“ führt Goethe vor, wie mit Hilfe zielgerichteter Strategie und anschaulicher Sprache das Bild von einem Individuum geformt werden kann. Im „Divan“ entwickelt sich diese erkenntniskritische Dimension der Rhetorik zu einem konsequent strukturalistischen Rhetorikverständnis, die rhetorische Wirkung sprachlicher Versatzstücke ist hier entscheidend. Freilich ist die rhetorische Artifizialität von Literatur, auch die Fähigkeit der Rhetorik, in einem Diskurs Geltungsansprüche zu formulieren, gesellschaftliche Werte und Normen zu formulieren, ein Individuum zu entwerfen, bei Goethe immer wieder aufgehoben in subjektive Erfahrungen der Individualität und eine sinnlich objektivierende Offenheit der Natur gegenüber. In den Faust-Dramen entfernt er sich von diesen Korrektiven am weitesten, Faust bleibt am Ende vor allem seine Sprachmacht, die ihm Gestaltungsspielraum verschafft. Die überzeugende Wirkung von Wahrheit, die individuelle Empfindung als Alternative zur rhetorischen Kunstfertigkeit hingegen sind hier in Zweifel gezogen. Verstand und rechter Sinn, die sich selber vortragen, sind, dies macht der Verlauf des Dramas schon im ersten Teil deutlich, eben keine Alternative zur Rhetorik. Erst wenn man die Rede von der Transformation der Rhetorik nicht nur auf das 18. Jahrhundert bezieht, ein offenes rhizomatisches Rhetorikkonzept übernimmt, ist die volle Aktualität der Rhetorik für Goethe zu verstehen. Er hat Rhetorik als ein vielschichtiges theoretisches Modell betrachtet, das für seine eigenen Theorien vielfache Anschlussmöglichkeiten bietet, nicht als eine Disziplin, deren Ende durch Ästhetik, Erfahrungsseelenkunde, Stilistik und andere neue Wissenschaften offensichtlich ist. So scheint der Titel „Grundbedingung“ durchaus programmatisch gemeint zu sein, den er über ein Gedicht gesetzt hat, das die Frage nach dem Wert der Rhetorik aufgreift: Grundbedingung Sprichst du von Natur und Kunst, Habe beide stets vor Augen: Denn was soll die Rede taugen Ohne Gegenwart und Gunst! Eh du von der Liebe sprichst
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Laß sie erst im Herzen leben, Eines holden Angesichts Phosphorglanz dir Feuer geben.3
Hier ist weniger das Verhältnis von Natur und Kunst Thema, als vielmehr rhetorisch konkret das Verhältnis von ars und natura, die Frage, wie systematische und anthropologische Rhetorik zusammengehen.4 Goethe hatte zunächst Quintilians Formel „pectus est quod disertos facit“ als Titel für das Gedicht vorgesehen und damit selbst den rhetorischen Kontext deutlich vorgegeben.5 Ganz konkret beschreibt dieses Gedicht, wie innere Empfindungen im Sinne der Selbstaffizierungstheorie literarisch wirksam werden, und fordert dazu auf, diese subjektive Erfahrung aufzunehmen, aber eben auch den Aspekt handwerklicher Kunstfertigkeit zu beachten. Für Goethe war ein entsprechender Kompromiss selbstverständlich, deshalb vollzieht er mit der Geniebewegung keine Abkehr von der Rhetorik, rückt vielmehr anthropologische Rhetorikmodelle ins Zentrum, ohne die Bedeutung argumentativer, dispositiver und sprachlicher Regeln zu vernachlässigen.
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Goethe: Grundbedingung. MA 13, 1. S. 33. Vgl. Henckmann, Gisela: Kommentar „Gedichte“. MA 13, 1. S. 153. Vgl. Lesarten „Epigrammatisch“. WA I, 3. S. 411, später in der Ausgabe letzter Hand findet sich dann der Titel „Grundbedingung“.
355
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Index
1. Personen Adamietz, Joachim 99 Addison, Joseph 58, 121, 322 Adelung, Johann Christoph 73, 149, 303 Adorno, Theodor W. 289, 334 Aischylos 276 Alberti, Leon Battista 171–174 Anna Amalia, Herzogin von SachsenWeimar-Eisenach 252–255, 259f. Anz, Thomas 114 Aristoteles 1, 8, 12, 14, 23, 28, 39, 52f., 57, 82, 90, 100, 108, 120, 138f., 175, 177, 186, 214, 220, 271, 317f. Arto-Haumacher, Rafael 35 Aurenhammer, Hans H. 150, 171 Backmann, Mark 302 Baginsky, Paul 27 Bahmer, Lonni 27 Bahr, Erhard 131, 341 Barner, Wilfried 36 Barthes, Roland 17 Battafarano, Italo Michele 333 Batteux, Abbé Charles 78, 121, 150 Baumgärtel, Bettina 292 Baumgarten, Alexander Gottlieb 78f., 171 Baumhauer, Otto A. 302 Bauschinger, Sigrid 267 Beetz, Manfred 329 Begemann, Christian 119 Behrisch, Ernst Wolfgang 37f., 49–51 Bender, John 12 Bender, Wolfgang 12, 78f. Benn, Gottfried 157 Bertram, Georg W. 209f. Beutler, Ernst 34, 114f., 125 Beyer, Andreas 172 Bianca, Giuseppe 27 Biederzynski, Effi 252 Binder, Alwin 308f. Blanckenburg, Christian Friedrich von 196 Blessin, Stefan 129, 241 Blumenberg, Hans 105, 139, 198, 275, 293, 304f.
Blumenthal, Lieselotte 231f., 287 Bodmer, Johann Jacob 13, 49, 86– 89 Borchmeyer, Dieter 5, 189, 224, 226, 230, 232, 243f., 248, 280, 283, 288, 334, 345 Borinski, Karl 83, 118 Bormann, Alexander von 304 Bornscheuer, Lothar 4, 11, 20, 109, 122 Bosse, Heinrich 108, 110 Böttiger, Karl August 252–254, 321 Boucher, Bruce 171 Bracht, Christian 260 Bradish, Joseph A. von 180, 283 Braungart, Georg 15, 244 Breitinger, Johann Jakob 13, 49, 70, 86–89 Brendel, Otto J. 286 Breymeyer, Reinhard 95 Brinkmann, Brigitte 233, 243 Brommer, Frank 290 Bruford, Walter H. 157 Brummack, Jürgen 106, 109 Bürger, Christa 180, 224–226, 238 Burger, Heinz Otto 44, 230, 243, 299 Burke, Kenneth 24, 219, 264, 335 Burke, Peter 228 Campbell, John Angus 16, 22, 159 Campe, Rüdiger 3f., 7, 15, 63–67, 84, 90, 100, 105–107, 300, 315 Carl August 133, 137, 140, 180, 193, 225, 252, 322 Carrdus, Anna 5, 69–71, 85, 88 Cassirer, Ernst 151 Castiglione, Baldesar de 10, 193, 202, 210, 226–230, 233–236, 249, 256, 262, 267 Cato, Marcus Porcius 290, 298f., 335 Cennini, Cennino 146 Chiarloni, Anna 92–94 Cicero 1, 6f., 13, 15, 28, 38f., 57, 61, 70, 74–77, 79f., 82–85, 89, 139, 145, 149f., 150, 151, 191, 198, 202f., 218, 227f., 236, 251, 256, 290, 310, 320–323, 330, 351
Clarke, Martin L. 99 Claudius, Matthias 115 Clodius, Christian August 33, 46–48, 350 Comenius, Johann Amos 29f., 63, 65, 70, 349 Conrady, Karl Otto 38, 59, 64, 97, 157 Corkhill, Alan 302 Corvinus, Gottlob Siegmund 42–44 Cramer, Johann Andreas 32 Curtius, Ernst Robert 4, 102, 104, 127 d’Akács, Karl Franz 188 Dahnke, Hans-Dietrich 114 Deiters, Franz-Josef 280, 282, 288f., 345 Deleuze, Gilles 17–20 Diderot, Denis 165f., 314 Dieckmann, Herbert 77 Diez, Heinrich Friedrich von 336 Dilthey, Wilhelm 241 Dockhorn, Klaus 4, 13f., 16, 19, 77, 101, 103, 108, 117, 152 Dohm, Burkhard 92, 95 Dörrie, Heinrich 150, 276 du Bos, Jean Baptiste 61, 73, 77f., 89, 98, 350 Dubischar, Markus 313 Dyck, Joachim 4, 8, 17 Eckermann, Johann Peter 32, 156f., 188, 222, 224, 282, 297, 338 Ede, Lisa S. 12 Castle, Eduard 146 Einem, Herbert von 144, 171 Ekmann, Bjørn 64 Elias, Norbert 237 Emrich, Wilhelm 287 Engelhardt, Wolf 158 Engels, Johannes 75 Erlinghagen, Armin 316, 317 Ermann, Kurt 56, 57, 59, 61 Ernesti, Johann August 33, 38–40, 44, 49, 74, 84, 102, 196, 330, 349 Ernesti, Johann Christian Gottlieb 5, 8, 17, 21, 315–319, 337, 344, 347 Ernst, Fritz 7 Erwin von Steinbach 114–116, 125–127, 151 Euripides 276–279, 283f., 291, 296, 313 Eusterschulte, Anne 131, 139 Fahlmer, Johanna 194 Falk, Johannes Daniel 323 Fauser, Markus 255–257 Federhofer, Marie-Theres 236f. Feldt, Michael 63, 67
390
Fink, Gonthier-Louis 58, 313 Fischer, Bernhard 87, 89, 120, 171, 180 Fischer, Kuno 283 Fischer, Peter 197 Fischer-Lichte, Erika 189, 192, 287 Flashar, Hellmut 131 Fogarty, Daniel 24 Forssman, Erik 143 Franke, Ursula 79 Franzbach, Martin 60 Frederking, Erich 2 Frick, Werner 284 Frühwald, Wolfgang 341 Fuhrmann, Manfred 4, 81, 145, 276 Gabler, Hans-Jürgen 13 Gadamer, Hans-Georg 12 Gaier, Ulrich 108f., 269f. Gaonkar, Dilip Parameshwar 22, 159 Garve, Christian 122, 256 Geitner, Ursula 85f., 91, 96f. Gellert, Christian-Fürchtegott 33–38, 42, 44f., 48f., 74, 330, 349 Genast, Eduard 192 Gerth, Klaus 59, 73 Gesner, Johann Matthias 29f., 349 Gille, Klaus F. 239 Girschner, Gabriele 224–227, 239 Göchhausen, Luise von 225, 259 Gockel, Heinz 5, 130, 223, 337 Goethe, Cornelia 34f., 47, 59, 119, 350 Goethe, Johann Caspar 26–29, 31, 33, 95, 327–329 Goffman, Erving 233 Gombrich, Ernst H. 151 Gorgias 106, 290, 302, 304 Görres, Jörn 224, 259 Götting, Franz 29, 35 Gottsched, Johann Christoph 13, 33, 41f., 44f., 49, 78f., 81, 86, 103, 184, 349 Graevenitz, Gerhart von 93, 333 Grassi, Ernesto 150, 171 Greiner, Bernhard 134, 284, 296 Grimm, Gunter E. 63, 299 Grimm, Herman 337 Grube, George M. A. 82 Grumach, Ernst 6, 10, 75, 99, 297, 343 Guattari, Félix 17–20 Gundolf, Friedrich 223 Haase, Fee-Alexandra 39 Habermas, Jürgen 216, 242, 287 Haeckel, Ernst 161 Hafis 335f., 344f.
Hahn, Torsten 240 Hambsch, Björn 4, 110, 112 Hamburger, Käte 273 Hammer-Purgstall, Joseph von 288, 336, 346 Härter, Andreas 99, 101, 149 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 278f. Henckmann, Gisela 339, 355 Henke, Silke 258 Henkel, Arthur 276 Henn-Schmölders, Claudia 193 Herbst, Hildburg 262 Herder, Johann Gottfried 4, 8, 55, 56, 59, 62, 70, 73, 77, 78, 79, 105–115, 122, 125, 147, 158, 194, 252f., 259, 327 Herrmann, Hans Peter 87 Heubaum, Alfred 30 Heun, Hans Georg 35 Heyne, Christian Gottlob 33 Hinck, Walter 55 Hinderer, Walter 131, 228, 232 Hinz, Manfred 228f., 243 Hirt, Aloys Ludwig 169 Hobson, Irmgard W. 279, 295 Hocke, Gustav-René 319 Hölscher-Lohmeyer, Dorothea 56, 216, 305 Homer 33, 67– 69, 77, 253, 290 Horaz 8, 40f., 77, 81–85, 88f., 96, 98, 102, 106, 110–113, 123, 171, 184, 350f. Horch, Hans Otto 86 Hörmann, Hans 294 Horn-Oncken, Alste 175 Horrocks, David 308 Huber, Martin 135 Hübner, Johann 42–44 Hufeland, Christoph Wilhelm 193, 253 Humboldt, Wilhelm von 2, 253, 258 Hurd, Richard 8, 82–85, 98, 102 Hyginus, Gaius Iulius 276 Iken, Carl Jacob Ludwig 335 Immermann, Karl 283 Ingen, Ferdinand van 43 Jarrett, Susan C. 302 Jauß, Hans Robert 66, 127, 273, 278, 295 Jenisch, Daniel 261 Jian, Wang 190 Jørgensen, Sven Aage 56 Jünger, Friedrich Georg 95, 134 Justi, Carl 171 Kaemmel, Otto 39
Kaiser, Claudia 36 Kaiser, Gerhard 63f., 231, 238, 300 Kaminski, Nicola 137 Kampmann, Wanda 142, 147 Kant, Immanuel 122, 266, 268 Kanzog, Klaus 252 Karthaus, Ulrich 97 Käser, Rudolf 49f., 129, 197 Kauffmann, Angelika 292f. Kazmaier, Martin 320 Keller, Werner 304 Kemper, Dirk 209 Kemper, Hans-Georg 91, 96 Kern, Franz 223 Kershner, Sybille 280–282, 292 Kestenholz, Claudia 143, 146, 148 Kestner, Johann Christian 332 Ketelsen, Uwe-Karsten 330 Kienpointner, Manfred 299 Kierdorf, Wilhelm 320 Kimmich, Dorothee 135 Kimpel, Dieter 287 Klettenberg, Katharina von 92, 95, 326 Kluge, Gerhard 314 Knape, Joachim 22f., 26, 258, 263 Knebel, Carl Ludwig von 136, 165, 322 Knopp, Norbert 116–119, 121 Koelb, Clayton 277 Koopmann, Helmut 62 Kopperschmidt, Josef 12 Korff, Hermann August 223, 238 Košenina, Alexander 190f. Kositzke, Boris 131 Kramer, Olaf 12, 22, 288, 335 Kraus, Georg Melchior 253, 259 Kraus, Manfred 304 Krause, Peter D. 4, 13, 17 Krauss, Werner 55 Krebs, Roland 114, 121 Kreuzer, Ingrid 147 Kris, Ernst 329 Kroll, Wilhelm 19, 81 Kruft, Hanno-Walter 171f. Krüger, Georg Wilhelm 274 Kurz, Otto 329 Lachmann, Renate 18f., 81 Lange, Joachim 27, 30 Langen, August 91 Langer, Ernst Theodor 92, 150 Laube, Heinrich 283 Laugier, Marc-Antoine 116 Lausberg, Heinrich 61, 176
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Lavater, Johann Caspar 76 Leistner, Bernd 196 Lejeune, Philippe 3 Lepenies, Wolf 225f., 237 Lessing, Gotthold Ephraim 70, 169, 318 Lindenau, Herbert 292 Lindroth, Heinzpeter 171 Link-Heer, Ursula 146 Linn, Marie-Luise 79 Lizano-Ordovás, Miguel A. 139 Lohmann, Ingrid 4 Long, Anthony A. 150 Loos, Erich 193, 229, 236 Lovejoy, Arthur O. 20 Ludwig I. von Bayern 324 Lukács, Georg 199 Lunsford, Andrea A. 12 Maass, Ernst 6, 235 Machiavelli, Niccolò 203 Mainberger, Gonsalv K. 280 Mann, Thomas 1–3 Martens, Wolfgang 95 Martini, Fritz 206f. Mattenklott, Gert 129, 332 Mayer, Hans 202 Mayer, Heike 4, 15, 99 Mayer, Mathias 185 Meise, Helga 43 Mengs, Anton Raphael 141f., 146 Mentzel, Elisabeth 28–31 Menzer, Paul 142 Merck, Johann Heinrich 79, 114, 116, 119–124, 194, 225, 259 Metz, Johann Friedrich 92, 95 Meuthen, Erich 70, 129, 197f., 267, 295 Meyer, Johann Heinrich 173 Meyer-Abich, Klaus Michael 161 Michaelis, Johann David 33 Michelsen, Peter 214, 221, 234, 303f. Mitchell, Philipp M. 86 Möller, Uwe 88 Mommsen, Katharina 269, 334, 336, 338f., 346 Moors, Wilhelm Karl Ludwig 42 Morgenstern, Karl 241 Moritz, Karl Philipp 142f., 168 Morrison, J. S. 138 Morsch, Hans 276, 283 Moser, Friedrich Carl von 236 Möser, Justus 207f., 225 Müller, Friedrich Theodor Adam von 154, 157, 254, 349
392
Müller, Klaus-Detlef 248, 325, 328f. Müller, Peter 199 Müller, Wolfgang G. 37, 145 Naumann, Hans 217 Naumann-Beyer, Waltraud 151 Népote-Desmarres, Fanny 203 Neubauer, John 277, 287 Neukirch, Benjamin 42–44 Neumann, Gerhard 226, 238 Neumann, Thomas 238 Neumann, Uwe 276 Newton, Isaac 159f. Nickisch, Reinhard M. G. 34, 36, 38 Niehues-Pröbsting, Heinrich 220 Niewöhner, Heinrich 142, 144 Norden, Eduard 81 Nörtemann, Regina 36 Nowitzki, Hans-Peter 321 Oeser, Adam 170 Oeser, Friederike 48, 52f. Oesterreich, Peter Lothar 14 Oetinger, Friedrich Christoph 95f. Osterkamp, Ernst 6, 117, 142, 145, 155 Ostermann, Eberhard 4, 23, 104–109, 125 Palladio, Andrea 171–173 Panofsky, Erwin 151 Pascal, Roy 323 Pernot, Laureat 86 Peters, Günther 112 Petersen, Jürgen H. 120, 137, 139, 148, 178, 317 Pethes, Nicolas 67, 240 Petronius 300 Peucker, Paul 92 Pindar 111–113 Platon 111, 131, 138, 150f., 227, 290 Protagoras 10, 302–304 Ps.-Longin 1, 8, 28, 67, 69–71, 86–89, 119f., 123–128, 130f., 351 Ptassek, Peter 211, 285 Pyritz, Hans 143 Quintilian 1–9, 13f., 22f., 26–31, 40, 49, 60f., 70, 74f., 77–91, 94f., 98–104, 109–113, 127, 136–140, 144f., 151f., 174f., 177, 181, 191, 199, 202f., 215, 217, 220, 235f., 251, 255f., 290, 298–300, 311, 320, 326, 342f., 345, 350f., 355 Racine, Jean 278 Ramage, Edwin S. 236 Ramler, Karl Wilhelm 78, 150
Rasch, Wolfdietrich 44, 238, 273–275, 277f., 284–286, 289, 294, 299 Raulet, Gérard 155 Reed, Terence James 64, 274 Reich, Philipp Erasmus 59, 170 Reinhardt, Hartmut 195, 215, 221f. Reiss, Hans 207, 225 Riedel, Volker 6 Riedl, Peter Philipp 314 Riemer, Friedrich Wilhelm 313, 326 Riese, Johann Jacob 1, 34, 38–42, 44f., 49, 81, 350 Robling, Franz Hubert 19f., 193, 290 Robson-Scott, William Douglas 117 Röderer, Johann Gottfried 56, 128 Rousseau, Jean-Jacques 58 Ruppert, Hans 27, 29, 99, 234 Ryan, Lawrence 238 Sandkaulen-Bock, Birgit 211, 285 Sandstede, Jutta 4, 17 Saße, Günter 242 Sauder, Gerhard 28, 32, 47f., 55f., 64, 69, 92f., 98, 121, 126, 201f., 297, 301, 307 Scaliger, Julius Caesar 128, 131 Schadewaldt, Wolfgang 155, 159 Schanze, Helmut 4f., 15f., 98–100, 112, 303 Scherbius, Johann Jacob Gottlieb 29, 31, 349 Scherer, Wilhelm 56, 114 Schiller, Friedrich 1–3, 7f., 162, 173, 177, 181–183, 186–188, 216f., 240, 251f., 255, 258, 260–262, 266–270, 273f., 276–279, 333 Schings, Hans-Jürgen 119, 124, 184, 199, 246f., 310 Schlaffer, Hannelore 6 Schmidt, Erich 63 Schmidt, Jochen 57, 78, 89, 309 Schmidt-Dengler, Wendelin 60 Schneider, Ulf-Michael 92, 97 Schnur, Harald 325 Schöne, Albrecht 37f., 49–51, 160f. Schößler, Franziska 279 Schrader, Hans-Jürgen 95f. Schröder, Jürgen 192, 201f., 215, 217 Schröter, Klaus 91 Schulz, Georg-Michael 86, 216 Schulz, Gerhard 261, 333 Schütte, Ulrich 172 Schwabe, Ernst 26f., 29, 31 Schwan, Werner 217
Seel, Otto 6f., 14, 99f., 104 Seibert, Thomas-Michael 7 Seidlin, Oskar 273, 291 Sengle, Friedrich 5, 193, 225, 320f. Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper of 16, 54, 58f., 132, 322 Shakespeare, William 55–63, 77, 91, 101, 114, 132, 215 Simonis, Linda 320 Simons, Herbert W. 159 Snell, Bruno 276 Solms, Friedhelm 78 Sorg, Bernhard 64, 67 Söring, Jürgen 265 Spielmann, Heinz 172 Sprute, Jürgen 220 Stanford, W. B. 290 Steele, Richard 121, 322 Steenbuck, Kurt 157 Steidle, Wolf 81f. Stein, Charlotte von 131, 133, 155f., 162, 171, 173, 180, 230, 235, 333 Steinbrink, Bernd 16, 19, 88, 102, 127, 146 Stenzel, Jürgen 63, 82, 87, 96, 103f. Stolt, Birgit 298–300 Storz, Gerhard 298 Sulzer, Johann Georg 79, 116, 121f., 123f., 146f., 154, 184 Suphan, Bernhard 59 Thomasius, Christian 299 Thym, Johann Heinrich 28 Tieck, Ludwig 262 Till, Dietmar 4, 15–17, 20, 43, 89, 120, 202, 298f. Trevelyan, Humphry 6, 30, 170 Tröger, Thilo 203 Tumarkin, Anna 123 Ueding, Gert 5, 7f., 13, 16, 19f., 28, 88, 102, 118, 127, 146, 170f., 193, 214, 220, 228, 234, 264–268 Unseld, Siegfried 114 Vaget, Hans Rudolf 130, 169, 183, 188, 197 Valk, Thorsten 199 van der Laan, J. M. 163 van Dijk, Arjan 216 van Hoorn, Tanja 104 van Kempen, Anke 208 van Selm, Jutta 141, 142 Varwig, Freyr Roland 85 Virchow, Rudolf 161
393
Vitruv 171f., 175 Voß, Johann Heinrich 110 Voßkamp, Wilhelm 242 Walser, Martin 287 Weise, Christian 37, 203 Weithase, Irmgard 7, 188 Wellbery, David 12 Wellek, Albert 51 Werle, Peter 229 Wernekke, Hugo 322 Wieland, Christoph Martin 81, 136, 228, 252f., 319–323, 354 Wilkinson, Elizabeth M. 223 Willems, Marianne 97, 204, 207 Winckelmann, Johann Joachim 136, 141f., 144–147, 155, 169–173, 325
394
Witkowski, Georg 56 Witte, Bernd 269 Wittkowski, Wolfgang 208f., 278, 284 Wohlleben, Joachim 58f., 142 Wolf, Norbert Christian 57–60, 110, 115f., 122, 136, 142, 144, 149, 151, 165, 249 Wolff, Pius Alexander 188 Wood, Robert 33, 76, 77 Wulf-Mathies, Monika 320 Wuthenow, Ralph-Rainer 325 Young, Edward 41, 58, 121 Yuill, William E. 130 Zelle, Carsten 67, 81, 117–119, 127, 351 Zelter, Carl Friedrich 159, 317, 338 Zimmermann, Rolf Christian 91f., 114
2. Sachen actio, pronuntiatio 27, 31, 84, 185–192, 299, 310f., 342 aemulatio 138, 144, 152 Affekt, Affektenlehre, Affektrhetorik s. a. das Erhabene; Selbstaffizierung, 8f., 14, 18, 29, 32, 39, 52, 57, 61, 67, 78, 82, 84, 87, 89f., 95f., 99, 102, 107f., 113, 118, 179, 195, 298, 300, 306–308, 346, 351 agon 25f., 114, 238, 279, 291, 313f., 334, 343 amplificatio 60, 88 Angemessenheit, aptum 8, 36, 127, 134, 169–175, 198–201, 226, 231f., 248f., 251, 264, 267, 311, 352 Anthropologie, anthropologische Rhetorikmodelle s. a. Selbstüberredung, Naturrhetorik, 7–10, 15–18, 21, 24f., 52, 71, 73–75, 80, 83–85, 89– 96, 103–105, 109f., 113, 118–120, 126, 132, 136, 140, 159, 195f., 198, 221, 223, 226, 247f., 276, 281f., 298, 300f., 305–310, 316, 350–355 ars (Kunstfertigkeit, rhetorische Technik) s. a. ars-natura-Debatte; officia oratoris 3f., 13f., 17f., 24f., 48–50, 62, 65, 73–77, 87– 90, 94, 96, 100, 104, 116f., 120, 124–126, 128, 130–132, 134–136, 138, 140f., 175, 177f., 184– 187, 191f., 200, 203, 211, 230, 244, 268, 276, 281, 309f., 312, 316–318, 332, 345f., 352 ars-natura-Debatte 49f., 62, 73–90, 100– 105, 112, 349 Argument, Argumentation 5, 14, 36, 39f., 51–53, 60–62, 80–83, 123, 151, 158– 160, 202, 227f., 255, 263, 277, 283, 285, 296–303, 306, 313f., 319–322, 325–329, 339, 341–343 Artifizialität 26, 95, 135–192, 319, 352, 354 Ästhetik 7–9, 11, 18, 44, 48, 57, 67, 71, 78–85, 88f., 95f., 117–124, 135f., 140f., 153–155, 158, 162, 165f., 168, 175, 187–181, 184, 188, 190, 192, 231, 249, 268, 316, 328, 351, 354 attentum parare 59, 327, 343 Ausbildung, schulische 26–33, 327 Ausbildung, universitäre 33–53, 327
Authentizität 3, 53, 64, 67, 86–78, 103, 105, 135, 306–310, 350f. Autonomie 9, 104, 123f., 127, 168, 180f., 193, 238f., 249, 273–279, 318, 324f. Briefrhetorik 33–53 captatio benevolentiae 194, 289, 327 copia 27, 29 consilium s. iudicium Cortegiano-Ideal s. a. vir-bonus-Ideal, 10, 193–196, 223–239, 243–245, 251, 257f., 262 Debatte 279, 288, 291, 307, 312–315 Deklamation 190, 192, 299f. delectare 57, 123, 184, 257 Dialektik 27, 313f. Dilettantismus 181–188, 197 Dispositio 8, 36, 58–60, 65, 101, 103, 160, 171, 188, 322, 329, 350 Disputation 31f. dissimulatio, simulatio 36, 63, 124, 133– 136, 175–181, 185, 202, 211f., 218, 227f., 243, 288, 308, 311 docere 39, 57, 153, 184, 257, 311 elocutio 2, 8f., 12, 15f., 19, 32, 36, 39f., 48, 65, 84, 101, 103, 108, 130, 188, 191, 308, 343, 350 Eloquenzrhetorik 23f., 26, 175, 264, 267 Empfindung 2, 9, 25f., 34–37, 44, 48–53, 58–71, 73–84, 90, 93–98, 101–103, 105–113, 116f., 121, 124, 128–130, 136, 152, 158, 162, 179, 196, 199f., 203f., 210, 221, 223, 232f., 248, 274, 281, 298, 301f., 306–308, 310, 319, 332, 341, 346f., 350, 354f. Erlebnislyrik 63–71 Erhabene, das 47, 86, 113–128, 131, 351 ethos 100, 153, 214–222, 248 evidentia 34, 50, 61–71, 101, 154, 321, 330 exercitatio 186 fictio audientis 114 fictio personae 61 Genie 73–80, 111f., 124–132, 351 genus deliberativum 214f. genus demonstrativum 104, 226, 257, 264 genus iudiciale 326–328 Geselligkeit 251, 254f., 260–271, 339 Gespräch 35–38, 162, 187, 220, 236, 255–271
Gotik 116f. homo-mensura-Satz 302–304 Identifikation 24f., 121, 197, 229, 264f., 335 imitatio 2, 9f., 28f., 42, 44, 48, 101f., 120f., 131, 137–145, 148–169, 177– 179, 311, 334–336, 351f. impression management 233 in utramque partem 242, 288, 303, 314, 339, 341 ingenium 9, 20, 73–80, 90, 351 Inspiration 2f., 45, 48f., 67–71, 78, 130f., 184, 255, 344f. inventio 2, 31, 36, 39f., 43, 58–61, 81– 85, 96, 98, 103, 108, 172, 298f., 316, 326 iudicium 29, 36, 84, 102f., 144, 173f., 176, 186, 229, 234, 347, 352 Kalkül 10, 62, 109, 174f., 199f., 208– 210, 213, 230, 257, 263, 268, 322, 338, 345 Logos 153, 217, 220, 286, 339 Manier 145f., 155, 176, 182, 352 Metapher 66–69, 119, 122, 162 Mimesis s. imitatio Montage 335–337 movere 57, 113, 153, 184, natura s. a. ars-natura-Debatte, 75–77, 90, 101–103, 115, 119f., 125, 143, 186 natura naturans 59, 120f., 125, 128, 135, 165, 351 Naturrhetorik s. a. Anthropologie, anthropologische Rhetorikmodelle 24f., 73, 85, 102, 203, 221, 282 officia oratoris s. a. ars, 2, 36, 59–66, 78, 109, 298 orator, Redner 7, 9, 12, 14, 23f., 36, 40, 42f., 53, 57, 61, 71, 74–80, 83–90, 94, 96, 99–104, 107, 110–112, 143, 145, 153, 156f., 172–174, 180, 191f., 199, 214, 217–220, 228, 236f., 247, 263, 268, 281–285, 289–291, 298–302, 309–312, 323, 328, 342, 346, 351, 353 orator tacens 14, 23, 104 ornatus 36, 55, 123, 172, 299 Pathos 46, 52, 77, 115f., 153, 179, 217, 220, 307 pectus-Formel 4, 9, 40, 49, 83–86, 94f., 102, 282, 298, 351, 355 Persuasion, Persuasionsrhetorik 23f., 101, 162f., 175, 192, 257, 270, 279, 283– 285, 299, 338, 342, 345f.
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Pietismus 91–98, 292 Poesie 29, 42f., 47f., 52, 58, 87, 108, 130, 180, 198, 268, 316f., 330, 342, 345– 347 Poetik 9, 23, 25, 33, 40, 44f., 48, 57, 62, 71, 73, 80–90, 101, 108, 118, 136, 138f., 162, 184, 316–318 poiesis 18, 90, 131 politicus 200–210, 247, 288 Politische Rede s. genus deliberativum Progymnasmata 349 Redner s. orator Relativismus 275–278, 338f. reticentia 61, 283 rhetoric of science 160 Rhetorikgeschichte 11–22, 53, 79, 90, 350 Rhetorische Pädagogik 10, 25, 27f., 137, 140, 143, 185f., 247, 352 Rhetorizität 25, 80, 96, 105–113, 208, 334–338, 342, 346f. Rhizom 11–26, 36, 71, 73f., 79f., 86, 89, 103, 136, 176, 220, 226, 252, 300, 316, 349f., 354 Schwulst 35f., 118 Selbstaffizierung 14, 20, 37, 40, 80–91, 94–98, 101f., 105–107, 109f., 130f., 153f., 298, 355 Selbstüberredung 125, 198f., 240, 273– 279, 281–284, 291–296, 305, 354 simulatio s. dissimulatio Situation 10, 13, 22, 25f., 36, 101, 105, 199, 205, 234, 287 Skeptizismus 106, 112, 163, 275, 295, 300, 302–304, 310, 338f., 353 Sophistik 10, 12, 242, 275, 284–291, 300–307, 310–319, 333, 338f., 346, 353f. sprezzatura 228f., 243, 258, 311 Statuslehre 31f. Stil, Stilart, Stilistik 7, 24, 32–37, 40, 47, 51f., 81, 97, 107f., 113–120, 125f., 146–153, 155, 165, 182, 226, 261, 271, 274, 334, 343, 351f. Strategie 14, 18, 63, 109, 202–206, 210, 213f., 220, 265, 283–285, 291, 308, 345, 353 Systemrhetorik 15f. Telos 16, 23, 76, 342f., 345f. Topik 2, 4, 44, 53, 58, 67, 81, 98f., 128, 197, 231, 325–329, 335–337, 339f. Trauerrede 319–323
Transformation der Rhetorik 4, 11–15, 21, 350, 354 urbanitas 234–239 vir-bonus-Ideal 8, 100, 193–201, 220, 227, 247
397
3. Werke Goethes Anklage 335f. Baukunst [1795] 173–175 Bedeutende Förderniß durch ein einziges geistreiches Wort 260 Besserem Verständnis 6, 288, 337, 342– 346 Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu *** 93f. Dichtung und Wahrheit 1, 33, 38, 46, 86, 126, 193, 207, 210, 216, 278, 312, 323–333, 354 Diderots Versuch über die Malerei 165– 167, 314 Dritte Wallfahrt nach Erwins Grabe im Juli 1775 126–132 Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl 142–148, 162, 352 Einleitung in die Propyläen 162f., 178, 256 Egmont 195, 207, 210–222, 353 Ephemerides 6f., 60f., 98–105 Elpenor 296 Epigrammatisch s. Grundbedingung [Erfahrung und Wissenschaft] 163 [Eröffnungsansprache zur zweiten Sitzung der Freitagsgesellschaft] 260 Erste Epistel 270 Faust I 6, 297–310, 353, 346 Faust II 305f., 346 Frauenrollen auf dem römischen Theater durch Männer gespielt 147f. Galante Dichtung 43 Aus Goethes Brieftasche 131f. Götz von Berlichingen 195, 201–210, 234, 331f., 353 Granit I+II 158f. Grundbedingung 33, 40, 84, 354f. Hab’ ich euch denn je gerathen 337 Hegire 339 [Herrn Krüger, dem bewunderungswürdigen Orest] 274 Höheres und Höchstes 339–342 Höre den Rath den die Leyer tönt 335f. Ilmenau 194f. Iphigenie auf Tauris 83, 152, 180f., 273– 296, 300, 302, 353f. Italienische Reise 140, 155f., 162, 171– 173, 188, 211, 229, 274, 292 Kuchenbäcker Händel, An den 47–49 Künstlers Apotheose 137–142
Künstlers Morgenlied 67–71 [Kunst und Handwerk] 175f. Labores iuveniles 31f. Leiden des jungen Werthers, Die 128– 130, 196–201, 331f., 353 Leipziger Briefe 33–53 Literarischer Sanscülottismus 261 Lyde. Eine Erzählung 48 Märchen 267–271 Maifest 65–67 Maximen und Reflexionen 288, 313, 316, 318 Myrons Kuh 312 Nachbildung 335f. Nachlese zu Aristoteles’ Poetik 317f. Plato, als Mitgenosse einer christlichen Offenbarung 184 Poetische Gedanken über die Höllenfahrt Jesu Christi 32 [Rede bei Eröffnung der Freitagsgesellschaft] 255, 258 Rede bei Eröffnung des neuen Bergbaus zu Ilmenau 156–158 [Regeln für Schauspieler] 187–192, 352 Reineke Fuchs 314 Sammler und die Seinigen, Der 182f. Shakspear als Theaterdichter 310 [Statut der Freitagsgesellschaft] 252, 257 Symbolik 168, 341 Tag- und Jahreshefte 315, 323 Tagebuch der italienischen Reise für Frau von Stein 171–173 Torquato Tasso 130, 167f., 195, 222–239, 353 Triumph der Empfindsamkeit, Der 133– 135 [Über den Dilettantismus] 182f., 188 Über die Gegenstände der bildenden Kunst 168f. Über einige Umrisse aus Wests Pylades und Orest 291 Über epische und dramatische Dichtung 240 Über Laokoon 165, 169f., 176, 179 Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke 177–179 Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten 260–271 Urfaust 297–310, 346, 353 Vögel. Nach dem Aristophanes, Die 296
Von deutscher Baukunst 114–126, 351 Von deutscher Baukunst 1823 131 Wahlverwandtschaften, Die 160f., 195 West-östlicher Divan 334–347, 354 Wilhelm Meisters Lehrjahre 184–186, 240–247, 310–313, 352 Wilhelm Meisters theatralische Sendung 186, 310 Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden 178, 247–249, 313 Winkelmann und sein Jahrhundert 324
400
Wort für junge Dichter, Ein 21, 347f. Zu brüderlichem Andenken Wielands 319–323, 354 Zueignung 64f. Zum Schäkespears Tag 55–63, 91, 350 Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen 94f. Zur Farbenlehre 160f. Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie 162