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German Pages 335 [336] Year 1993
Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 66
Sabine Schormann
Bettine von Arnim Die Bedeutung Schleiermachers für ihr Leben und Werk
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1993
Ich danke dem Freien Deutschen Hochstift/Frankfurter Goethe-Museum für seine Unterstützung und die Genehmigung zum Druck bislang unveröffentlichter Handschriften. Für die Publikationserlaubnis gilt mein Dank außerdem dem Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar. Schließlich möchte ich allen danken, die mir bei der Entstehung dieser Arbeit zur Seite standen.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Schormann, Sabine: Bettine von Arnim : die Bedeutung Schleiermachers für ihr Leben und Werk / Sabine Schormann. - Tübingen : Niemeyer, 1993 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte ; Bd. 66) Zugl.: Mainz, Univ., Diss., 1992 NE: GT ISBN 3-484-32066-4
ISSN 0083-4564
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1993 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt
Inhaltsverzeichnis
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Einleitung
Bettines persönliche Beziehung zu Schleiermacher als Anstoß zur Entwicklung einer eigenen Weltanschauung 2.1 Zum Verhältnis von Fiktion und Realität in Bettines Werk 2.1.1 Zur Behandlung von Bettines Briefromanen unter biographischem Aspekt 2.1.2 Bettines Umgang mit historischen Persönlichkeiten im Werk 2.1.3 Zu Homogenität und Entwicklung von Bettines Denken 2.2 Bettines literarische und philosophische Kenntnisse unter besonderer Berücksichtigung von Schleiermachers Werken 2.2.1 Warum Bettine ihre Belesenheit abstreitet 2.2.2 Über die Wechselbeziehung zwischen Autor und Werk 2.3 Bettines Freundschaft mit Schleiermacher
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4.3 4.4
Über die Schwierigkeit, Bettines philosophische Gedanken mit denen anderer Autoren zu vergleichen Bettine und Schleiermacher: romantische Kritik an der aufklärerisch-bürgerlichen Gesellschaft Radikalkritik und Perfektion der Aufklärung zugleich Der Philister: nicht nur für Bettine und Schleiermacher die Verkörperung der negativ bewerteten Gegenwartstendenzen 4.2.1 Das Lebenskonzept der Philister 4.2.2 Der Philister im sozialen Umgang und im Verhältnis zur Natur 4.2.3 Der Umgang der Philister mit Kunst und Religion 4.2.4 Der Philister in Bezug auf Bildung und Wissenschaft Philistertum und Subjektivitätskritik Philisterkritik im Jungen Deutschland
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Der Erneuerungsanspruch der Frühromantik in seiner Umsetzung bei Bettine und Schleiermacher 5.1 Grundzüge des romantischen Modells zur Überwindung der herrschenden Entzweiung zwischen Gott, Mensch und Welt 5.2 Schleiennachers Philosophie als Versuch eines Durchbruchs zum >höheren Realismus« 5.3 Bettine und Schleiermacher: Das ideale Ich als Mittler zum Unendlichen 6 Literaturverzeichnis 6.1 Abkürzungen und Siglen 6.2 Quellen 6.2.1 Ausgaben der Werke und Briefe Bettine von Arnims 6.2.2 Ausgaben der Werke und Briefe Friedrich Schleiermachers 6.2.3 Zeitgenössische Quellen 6.3 Sekundärliteratur Anhang: Textdokumentation der Beziehung Bettine von Arnims zu Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher 7.1 Texte 7.2 Textnachweis
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Ich selber bin hierüber nicht wenig verwundert, daß Menschen so viel philosophischen Stoff in meinem Buch finden um wieder eins der Betrachtung darüber zu schreiben [...] was Ihr aber in diesem von Euerem eignen speculativen Ertrag herbergt und sichert, das mag Euch gedeihen, daß endlich das Land wo Milch und Honig fleußt aus Eurem Geist urbar werde. Bettine von Arnim an Julius Döring, 17. Mai 1839
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1 Einleitung
Das lebens- und werkbestimmende Veiilältnis Bettine von Arnims zu Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher ist bisher noch nicht Gegenstand einer umfassenden Untersuchung gewesen, obwohl seine Bedeutung in zeitgenössischen Quellen wie in der Forschungsliteratur immer wieder betont wurde. Bereits Bettines junge Verehrer Moriz Carriere und Philipp Engelhard Nathusius nahmen ganz selbstverständlich an, daß ihre Mentorin in Schleiermacher ähnlich wie in Goethe einen »leitenden Genius«1 gesehen hatte. So versprach sich Nathusius, der >Ilius Pamphilius< des gleichnamigen Briefwerks von 1848, viel von einer ausführlichen Schilderung dieses Verhältnisses: [...] was Du mit Schleiermacher gelebt und über ihn gedacht hast das hätte ich gern grade so einfach, wie Du es aussprichst, aber im Zusammenhange aufgeschrieben; darin scheinen mir doch die tieffsten Berührungen zu liegen, die Du nächst denen durch Goethe, erfahren hast.2
Ähnlich heißt es in der älteren Bettine-Forschung wiederholt, daß Bettine von Schleiermacher entscheidend beeinflußt worden sei, ohne daß diese Behauptung indes überzeugend belegt würde. Selma Steinmetz etwa, die in ihrer Dissertation von 1931 Bettines Persönlichkeit und Werk in einen geistesgeschichtlichen Zusammenhang zu stellen sucht, erklärt im Kapitel über »Bettinas Gedanken zur Religion und Philosophie«3 in Bezug auf das >K5nigsbuch< nur: »Bettina beruft sich hier auf Gespräche mit Schleiermacher, von dem sie hier gewiss gelernt hat«4. Und in einem anderen Zusammenhang erwähnt sie: Namentlich sind bedeutsame Anklänge, Parallelen mit Schleiermacher'schen, Hardenberg'schen und Schelling'schen Gedankengängen deutlich zu erkennen, wenn freilich eine bestimmte Abhängigkeit kaum jemals mit Sicherheit festzustellen ist.9
Etwas ausführlicher beschäftigt sich Luise Zurlinden in ihrer Monographie über die >Gedanken Piatons in der deutschen Romantik< mit Bettines Beziehung zu Schleiermacher. Die Zielsetzung ihrer Untersuchung bringt es mit sich, daß sie sich auf einen Ausschnitt beschränkt. Schleiermacher ist für Zurlinden »der
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Carriere, Moriz: Bettina von Arnim. Breslau 1887, S. 11. Ilius, S. 307; vgl. auch Anhang, Nr. 122. Steinmetz, Selma: Bettina Brentano. Persönlichkeit, Künstlertum und Gedankenwelt. Diss, (masch.) Wien 1931, S. 168-194. Steinmetz, Bettina Brentano, S. 188. Steinmetz, Bettina Brentano, S. 168.
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Kanal, der ihr [Bettine] Piaton zuführt«6. Anstatt nun die Zusammenhänge systematisch aufzuarbeiten, sucht sie einzelne Gedanken aus den verschiedenen Briefromanen auf Piaton zurückzuführen, wobei sie sich immer mehr in eine Begeisterung für Bettine hineinsteigert, die schließlich in dem Ausruf gipfelt: Wohl ist Piaton die Ur- und Zentralsonne, und es wäre verwegen und unstatthaft, Bettina in zu vergleichende lockende Nähe zu rücken. Und doch! Strahlen nicht auch die Planeten am stillen Nachthimmel erquickendes Licht aus? [...] Möchten wir uns Bettina wegdenken, alle die Liebesfiille, die von ihr ausgegangen, missen?7
Auf Schleiermachers Piatonbild und die Frage, was er davon an Bettine vermittelt hat, geht Zurlinden nicht ein. Ihre Darstellung des persönlichen Verhältnisses referiert nur die Erinnerungen von Schleiermachers Stiefsohn Ehrenfried von Willich. Überzeugender erscheinen die kurzen Ausführungen bei Hilde Wyss, der zusätzlich das Verdienst zukommt, erstmals die noch vorhandenen Fragmente aus Bettines Briefen an Schleiermacher veröffentlicht zu haben.8 Wyss erkennt richtig, daß viele Gedanken Bettinas über die Einheit des Sinnlichen und des Geistigen, [...} sich stark mit Ueberzeugungen Schleiermachers [berühren]*.
Auch hier fehlt indes wieder ein Nachweis über die Bemerkung hinaus, daß »eine direkte Beeinflussung gut möglich«10 sei. Wenn Wyss die Briefe an Schleiermacher von der poetischen Qualität her mit den >Gespräche[n] mit Dämonen< vergleicht, so übersieht sie, daB Teile davon wörtlich in >Goethes Briefwechsel mit einem Kinde< übernommen wurden, der ja nun wirklich nicht zu den »Abendwolken bettinischer Phantasie«'1 zählt. In biographischen Darstellungen erscheint Schleiermacher, wenn überhaupt, meist als der väterliche Freund, bei dem Bettine Geborgenheit fand.12 Ingeborg Drewitz steuert dazu den Gesichtspunkt bei, daß Bettines erste größere soziale Aktivität bei der Cholera-Epedemie in Berlin 1831 durch Schleiermacher hervor-
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Zurlinden, Luise: Gedanken Piatos in der deutschen Romantik. Leipzig 1910, S. 229. Zurlinden, Gedanken Piatos, S. 291. * Vgl. dazu Kap. 2.3 und Anhang, Nr. 63a. 9 Wyss, Hilde: Bettina von Arnims Stellung zwischen der Romantik und dem jungen Deutschland. Bern und Leipzig 1935, S. 64. 10 Wyss, B. v. Arnims Stellung ..., S. 64. " Wyss, B. v. Arnims Stellung..., S. 65; dortzit. nachOehlke, Waldemar: Bettina von Arnims Briefromane. Berlin 1905, S. 5; zu den Briefen an Schleiermacher vgl. Kapitel 2.3. 12 Vgl. dazu Drewitz, Ingeborg: Bettine von Arnim. Romantik - Revolution - Utopie. 5. Aufl. München 1984, S. 146.
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gerufen wurde.13 Außerdem sei er deijenige gewesen, bei dem Bettine Verständnis für ihre Leidenschaft für den Fürsten Pückler erwarten konnte.14 Reuschle erwähnt beiläufig, daß auch Arnim und Schleiermacher sich kannten13, und vermutet bezüglich Bettines Umgang mit dem Theologen: »[...] vielleicht waren diese wenigen Freundschaftsjahre mit ihm [...] der entscheidende Einschlag in ihrem Leben.«16 Den Nachweis spart sie sich bis auf die knappe Bemerkung, daß die Gespräche mit Schleiermacher zum Thema >Sünde< womöglich Bettines Ausführungen über Verbrecher gegenüber dem König beeinflußt haben könnten.17 Dafür läßt sie Bettine in einer langen Aneinanderreihung von Zitaten ausführlich selbst zu Wort kommen. Die erste eingehendere Untersuchung zum Thema >Bettine und Schleiermacher< liefert Elisabeth Moltmann-Wendel, die allerdings aus ihrem theologisch ausgerichteten Blickwinkel heraus Bettine zu einseitig zu einem der »vergessenen Christen des Vormärz«1* stilisieren möchte. Nach Moltmann-Wendel hat Bettine ein »neues Christentum vertreten, das Goethe und Schleiermacher, Romantik und ökonomisches Denken vereinigen wollte*19. Sie erkennt zwar, daß Bettines Gedanke der »Autonomie des Ichs«20 von Schleiermacher gefördert worden ist, leitet aber gerade daraus in einer etwas gewaltsam anmutenden Umdeutung ab, daß das »idealistische Persönlichkeitsideal [...] ins Wanken [gerät]«21 und durch ein christlich orientiertes Abhängigkeitsgefühl ersetzt wird. Dabei übersieht Moltmann-Wendel, daß Bettine bei aller Betonung des IchGefühls immer schon eine Bindung des Subjekts an etwas Göttliches angestrebt hat, das bloß nicht christlich auszulegen ist, weil es statt des Namens >GottLiebeGeist< oder >das Gute< heißen könnte. Bettine erfährt in diesem Sinne keine >LäuterungGoethes Briefwechsel mit einem Kinde< vor: [...] lasse es Dir gefallen dafi ich Dir noch einmal die Melodieen meiner schönsten Lebenswege vorsinge und zwar im begeisterten Rhythmus des augenblicklichen Genusses, wo die Lebensquellen von Geist und Sinnen in einander strömen und so einander erhöhen daB alles Bedeutung gewinne, daß nicht allein das erfahrne; sichtbar fühlbar werde, sondern auch das unsichtbare erkannt und erhört werde.12
Erst in der vergegenwärtigenden Retrospektive geben sich bestimmte Lebenserfahrungen als existentielle Einsichten zu erkennen: Es gibt unerwartete Erfahrungen, die sind vergessen, gleich als ob sie nicht erlebt wären, und erst dann, wenn sie wieder aus dem Gedächtnisbrunnen heraufsteigen, ergibt sich ihre Bedeutung - es ist, als ob eine Lebenserfahrung dazu gehörte, ihre Wichtigkeit empfinden zu lernen; es sind andere Begebnisse, auf die man mit Begeisterung harrt, und die schwimmen so gleichgültig vorüber wie das fließende Wasser.13
Die solcherart durch die aktualisierende Erinnerungstätigkeit herauskristallisierten, bedeutungstragenden Lebenseinheiten entsprechen nach Meinung von Bäumer der Kategorie des >GrundwahrenDichtung und Wahrheit< in Anspruch nimmt.14 Unter dem Aspekt des >Grundwahren< »macht Goethe das hermeneutische Prinzip der Selbstdarstellung - die Zuweisung von Sinn an die erlebten Einzelmomente - zu derem poetischen Prinzip, das zugleich geeignet scheint, den Objektivierungsprozeß der rückblickenden Erinnerung in die Freiheit gegenüber der Realität des Erinnerten zu ver-
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Misch, Georg: Geschichte der Autobiographie. Bd. 4/2. Frankfurt/Main 1969, S. 859. " Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 580. 12 Bettine an Pückler, 22. März 1832, FDH Hs- 7172. 15 Bw, S. 507. 14 Vgl. Bäumer, S. 157ff.
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ändern.«13 Ähnlich überarbeitet Bettine das authentische Geschehen mit Blick auf die >höhere Wahrheit«, wobei sie es noch durch Erfahrungen anderer Lebensabschnitte, Gelesenes, von anderen Übernommenes, Gewünschtes oder Geträumtes anreichert. Schließlich steigert sie diese Mischung beim Schreiben zu fiktiver Unmittelbarkeit, so daß es dem Leser erscheint, als habe er real Erlebtes vor sich. Immer wieder streut Bettine aber auch Hinweise darauf ein, daß sie nicht historisch, sondern poetisch verfährt. Ein Beispiel hierfür ist etwa die Beschreibung der Reisepläne, die sie mit der Gfinderode schmiedete: Wir machten ein Reiseprojekt, wir erdachten unsre Wege und Abenteuer, wir schrieben alles auf, wir malten alles aus, unsre Einbildung war so geschäftig, daß wir's in der Wirklichkeit nicht besser hätten erleben können; oft lasen wir in dem erfundenen Reisejournal und freuten uns der allerliebsten Abenteuer, die wir drin erlebt hatten, und die Erfindung wurde gleichsam zur Erinnerung, deren Beziehungen sich noch in der Gegenwart fortsetzten."
Das oben geschilderte Prinzip, das der Fiktion gleichen Rang wie der authentischen Erfahrung einräumt und für eine ideengeleitete Vermischung beider Bereiche eintritt, ist für Bettine allgemeingültig. Daher muß der Leser berücksichtigen, daß er nie direkt mit dem geschichtlich-verbürgten Geschehen, sondern bereits mit seiner Deutung und Umformung durch das Bewußtsein der Erzählerin konfrontiert ist. Die Bettine der Briefromane stellt sich nicht als historische Person vor, sondern immer als Autorin, durch deren wertenden Filter das vermeintlich Authentische schon gegangen ist. Diesem Verfahren liegt ein Dichtungsverständnis zugrunde, das zum einem zwar bereits das Leben des Einzelnen als poetischen Wert begreift, in einem zweiten Schritt aber seine völlige Aufhebung in Poesie fordert, so daß das dichterisch transformierte Leben als höhere Wahrheit des Wirklichen erscheinen und den Sinn für den geistigen Zusammenhang des Weltganzen eröffnen kann. Vorbilder für diesen poetologischen Anspruch fand Bettine im Kreis der Frühromantiker, etwa bei Schlegel, der neben den Arabesken »Bekenntnisse« zu den »romantischen Naturprodukten des Zeitalters« rechnete, weil »wahre Geschichte das Fundament aller romantischen Dichtung sei«.17 Die Betonung liegt hier auf
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Müller, Klaus-Detlef: Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit. Tübingen 1976, S. 284. Bw, S. 61 [Hervorhebung S. Sch.]. ΚΑ Π, S. 337 (Das Zitat findet sich wie die folgenden im »Gespräch über die PoesieBrief über den Romanhöchsten Romantischen«] dringen können. Jeder gehe ganz den seinigen mit froher Zuversicht, auf die individuellste Weise, denn nirgends gelten die Rechte der Individualität - wenn sie nur das ist, was das Wort bezeichnet, unteilbare Einheit, innerer lebendiger Zusammenhang - mehr als hier, wo vom Höchsten die Rede ist; [...]« (S. 320). 20 Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 599. 21 Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 570. Vgl. zu der gesamten Problematik das Kapitel 3 dieser Arbeit. 22 vgl. ΚΑ Π, S. 335: »Ein Roman ist ein romantisches Buch.« 23 ΚΑ Π, S. 335. 24 ΚΑ Π, S. 336; vgl. auch Literary Notebooks, Nr. 55: »Roman Mischung aller Dichtarten, der kunstlosen Naturpoesie und der Mischgattungen der Kunstpoesie« (Hervorhebung ebd.). 25 Novalis, Schriften, Bd. 3, S. 271.
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Briefwechsel,26 Fiktion und durch die auktoriale Distanz ins Objektive gesteigerter Autobiographie auch Raum für weitere Textsorten bietet, auch als »romantische Romane«27, als »Kunstwerke von hohem Rang«28 verstanden werden. Nach dieser Auffassung, die neuerdings in der Forschung vertreten wird,29 erscheinen die Briefromane »wie die Natur als ein chaotisches Gewirre«, obwohl sie »wie die Natur nach strengen Regeln gebaut«^0 seien - wiederum ganz einem früh romantischen Credo entsprechend: Denn das ist der Anfang aller Poesie, den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft aufzuheben und uns wieder in die schönste Verwirrung der Fantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen, fur das ich kein schöneres Symbol bis jetzt kenne, als das bunte Gewimmel der alten Götter.31
2.1.1 Zur Behandlung von Bettines Briefromanen unter biographischem Aspekt Obwohl Bettines poetisches Vorgehen bekannt ist, wurden immer wieder »poetisierte und literarisch überhöhte Brief- und Briefromanpassagen [...] für bare Münze genommen, was in der Folge dann zu völlig unzutreffenden biographischen Aussagen führte«32. Bäumer weist in diesem Zusammenhang beispielhaft auf Ludwig Geiger hin, der Bettines Versicherung, sie lese keine Zeitungen, unbesehen für wahr hielt.33 Angesichts dieser Problematik wurde wiederholt eine strikte Trennung zwischen Quellenmaterial und literarischem Werk gefordert, sofern biographische Aussagen getroffen werden sollen.34 Eine verläBIiche Unterscheidung ist meines Erachtens aber nicht möglich. Auch im lebensgeschichtlichen Kontext kann nicht gänzlich auf die Auswertung der Briefromane
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Als ein weiteres Vorbild kann die offene Form des platonischen Dialogs gelten, für die auch Schleiermacher eine Vorliebe hegte. Liebertz-Grün, Ordnung im Chaos, S. 3. Liebertz-Grün, Ordnung im Chaos, S. 1. bes. Liebertz-Grün, Ordnung im Chaos, S. Iff.; Wolfgang Bunzel, »Phantasie ist...«, S. 7ff. Liebertz-Grün, Ordnung im Chaos, S. 3. ΚΑ Π, S. 319; ähnlich S. 313 und ΚΑ V, S.9 (»Lucinde«). Bäumer, Β. v. A. und Goethe, S. 23. Vgl. Bäumer, Β. v. A. und Goethe, S. 24. Vgl. Bäumer, Β. v. A. und Goethe, S. 23-25. Diese Forderung wurde zuletzt im Oktober 1989 bei einem von Bernhard Gajek und Hartwig Schultz initiierten und von Werner-Reimers-Stiftung in Bad Homburg veranstalteten Bettine-Kolloquium sowie bei einem im Juli 1989 von Sibylle von Steinsdorff und Walter Schmitz organisierten und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Bettine von Arnim-Arbeitstreffen in München gestellt.
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verzichtet werden. Zum einen ist wichtiges Quellenmaterial verloren gegangen 35 oder bei der großen Henrici-Auktion (1929) zerstreut worden, 36 so daß ein Vergleich zwischen originalem und bearbeitetem Text nicht mehr möglich ist, zum anderen hat Bettine selbst bereits ihre Privatbriefe »als literarische Dokumente [begriffen], deren Bedeutung jenseits aller persönlichen Bindung an den Korrespondenten liegt«, wie Sibylle von Steinsdorff herausstellt. 37 Als Beispiel nennt sie in diesem Zusammenhang Bettines (nicht erhaltene) Jugendbriefe an den Arzt Joseph Janson von der Stockh, in denen sie erstmals die von Frau Rat erfahrenen Begebenheiten aus Goethes Jugend schriftlich niedergelegt hat3*. Bettines Briefe wurden Schellberg/Fuchs zufolge auch von Bettines Familie »als ein Stück Literatur aufgefeßt« 39 . Daß eine Vermischung zwischen Leben und Kunstwelt schon vor der poetischen Umformung in einen Briefroman stattfand, dokumentiert außerdem die Tatsache, daß Briefe an den Fürsten Pückler sowie an Schleiermacher zum Teil wörtlich in das >Buch der LiebeGoethes Briefwechsel mit einem KindeFrühlingskranz< bei einem Brand im Berliner Haus der Familie Kühlmann-Stumm zerstört worden (vgl. seinen Aufsatz: Bettine Blüten. Ein Fund zu »Clemens Brentanos Fnihlingskranz«. In: WW 3, 1989, S. 323). 36 Z.B. die im Henrici-Katalog 148 als Position 98, S. 34 aufgeführten 14 Briefe an Schleiermacher. Sie sind heute nur noch in einer fragmentarischen Abschrift von Irene Forbes-Mosse (Hs im FDH, erstmals gedruckt bei Wyss, B. v. Arnims Stellung ..., S. 93-98) und einem Typoskript im Besitz von Clara von Arnim erhalten (vgl. auch Allhang dieser Arbeit 63a-c). 37 Freyberg-Bw, Vorwort von Steinsdorff, S. 11. 3 * Vgl. Freyberg-Bw, Vorwort von Steinsdorff, S. 10. " Vgl. AM, S. 227. Siehe auch Brief von Savigny an Bettine (24. November 1839. Fragmentarisch abgedruckt in Henrici-Katalog 148, S. 34): »In dem reinen Genuß Deines ganz herrlichen Briefes bin ich beständig durch den Gedanken an den alten Zelter gestört worden, der auch seine Briefe mit stetem Hinblick auf den künftigen Setzer und Drucker schrieb.« 40 Zu den Briefen an Pückler vgl. Gajek, Enid Margarete: Die Bedeutung des Fürsten Hermann Pückler für Bettine. In: Bettine-KatalogFDH, S. 256 und: >Das gefahrliche Spiel meiner Sinne«. Gedanken zu Bettine und Pückler. In: JbBvAG 1989, S. 256. Auf dem Bettine-Arbeitstreffen in München, 1989, führte Enid Gajek Bettines Technik der Verschmelzung von vormals an einen bestimmten Adressaten gerichtetenBriefen mit der monologischen Form des Tagebuchs anhand einer Fülle von Beispielen aus dem noch nicht veröffentlichten Teil des Pückler-Briefwechsels (die betreffenden Handschriften werden im FDH aufbewahrt) vor. Alle Beiträge dieses Treffens werden noch publiziert; zu den Briefen an Schleiermacher vgl. Kap. 2.3 dieser Arbeit. Diese Analyse wurde ebenfalls bereits auf dem Bettine-Arbeitstreffen vorgestellt. - Daß grundsätzlich kein Unterschied zwischen den für die Briefromane überarbeiteten Briefen und den Originalbriefen besteht, hat auch Bunzel betont (»Phantasie ist ...«, S. 14): »Die überformten Briefe des »Briefwechsels« zeigen nur vermehrt und intensiviert diejenigen Merkmale, die auch Bettines Privatbriefe auszeichnen. Eine prinzi14
Maijanne Gooz£ zuzustimmen, die sich in ihrer Dissertation von 1984 zwar auf die poetischen Qualitäten von Bettines Gesamtwerte konzentriert, gleichzeitig aber erkennt, daß sich sowohl in den Originalbriefen als auch in den Briefromanen »fiction and nonaction«41 vermischen. EHe potentielle Literarisierung des Privatbriefs bei Bettine ist kein Ausnahmefall, sondern überhaupt ein typisches Merkmal des Mediums um 1800. Nachdem der Brief noch bis ins 18. Jahrhundert hinein dem öffentlichen Schriftverkehr vorbehalten und durch Briefsteller >normiert< gewesen war, hatte er sich im Zuge der Aufklärung und unter EinfluB des Pietismus sowie des Freundschaftskults der Empfindsamkeit zu einer bevorzugten privaten Ausdrucksform entwickelt. Anstelle starrer Normen wurde nun Natürlichkeit und Individualität angestrebt. So stand der Brief einer Auseinandersetzung mit den brennenden Fragen der Zeit ebenso offen wie der Selbstreflexion, oder wie Habermas es ausdrückt: »Das 18. Jahrhundert wird nicht zufällig zu einem des Briefes; Briefe schreibend entfaltet sich das Individuum in seiner Subjektivität.«42 Der Brief diente nicht mehr bloß der Mitteilung von Fakten, sondern auch dem Gefühlsund Gedankenaustausch und darüber hinaus der Darstellung existentieller Lebensverhältnisse. Auch wenn er dabei scheinbar oft zum Monolog zu geraten schien, war er doch durch die Ausrichtung auf einen Partner mehr als das: er war Selbstbekenntnis, teilweise fast Beichte, die dem Adressaten die eigene Gedanken· und Gefühlssituation nahe zu bringen suchte. Auf diese Öffnung des eigenen Inneren sollte der Angesprochene auch reagieren, nicht so sehr allerdings durch Beantwortung einzelner Punkte, sondern durch Aufnahme der Gesamtstimmung oder seinerseits durch Mitteilung seiner Gefühlswelt. Der Brief bekam den Charakter eines schriftlichen Gesprächs und hatte die Funktion, die persönliche Bindung auch voneinander getrennter Personen zu erhalten. Dabei war er nicht ausschließlich eine Privatangelegenheit zwischen Absender und Empfänger, sondern er konnte vorgelesen, an Dritte weitergegeben oder später veröffentlicht werden. Dadurch bekam er einen teils privaten, teils öffentlichen Charakter und entsprach dem Geselligkeitsideal der Zeit. Er war »immer schon auf Publikum bezogen. [...] Fremde Briefe werden nicht nur ausgeliehen, abgeschrieben; manche Briefwechsel sind von vornherein, wie in
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pielle Trennung der eingesetzten Kunstmittel läßt sich bei Bettine von Arnim gerade nicht feststellen. Stärker als anderswo wird hier die angestrebte Ungeschiedenheit von Leben und Werk deutlich.« βοοζέ, Β . ν. Α., the Writer, S. 1. Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. 11. Aufl. Darmstadt, Neuwied 1980, S. 62.
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Deutschland die Beispiele Gellerts, Gleims, Goethes zeigen, zum Druck vorgesehen.«43 Der teilweise private Charakter des Briefes verhinderte eine poetische Normierung weitgehend. Dadurch bahnte er insbesondere auch den Frauen den Weg in die Öffentlichkeit: »Aus diesem Grunde wohl haben sich die schreibenden Frauen auffällig häufig dieses Mediums bedient: die Tradition reicht hier von der Gottschedin über die Karschin, Meta Klopstock, Elise Reimarus, Caroline Flachsland, Charlotte von Stein, Karoline Humboldt, Caroline SchlegelSchelling, Rahel Varnhagen, Henriette Herz und Bettina von Arnim [,..].«44 Der Brief war für die Frühromantiker von vornherein Literatur, oder in den Worten Novalis': »Der wahre Brief ist, seiner Natur nach, poetisch«.45 Bettine, die in dieser Tradition aufwuchs, folgt mit ihren Briefromanen nur dem Ausspruch Friedrich Schlegels: »[,..] welche Briefsammlung, welche Selbstgeschichte wäre nicht für den, der sie in einem romantischen Sinne liest, ein besserer Roman als der beste von jenen?«4* Für die Bettine-Forschung ergibt sich aus diesem Befund kein Problem, wenn es darum geht, die Briefromane streng als Kunstwerke zu behandeln. Sofern aber biographische Fakten ermittelt werden sollen, gerät sie in die Verlegenheit, sich im Grunde weder auf das Quellenmaterial noch auf die Briefromane verlassen zu können. Was die Originalbriefe betrifft, ist die Gefahr einer Verfälschung von historischen Tatsachen naturgemäß geringer, da ja immer die Kontrolle, gegebenenfalls die Korrektur durch den realen Empfänger oder durch geschichtliche Daten gegeben ist. Bei Angaben in den Briefromanen muB dagegen immer berücksichtigt werden, daß eine nachträgliche Modellierung des authentischen Geschehens vorliegt, Bettine sich hier nicht der historischen Faktizität, sondern ihrem Selbstverständnis als Dichterin verpflichtet fühlt. Daher ist festzuhalten: die vermeintlichen Fakten der Briefromane dürfen nicht ungeprüft in die lebensgeschichtliche Darstellung übernommen, sondern müssen zunächst auf ihren historischen Wahrheitsgehalt hin untersucht werden. Eingedenk dieser Problematik, werde ich im Fortgang meiner Untersuchung zur Untermauerung der biographischen Teile möglichst nur Quellenmaterial heranziehen, gelegentlich aber mit gebotener Vorsicht auch auf Passagen aus den Briefromanen zurückgreifen.
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Habermas, Strukturwandel, S. 63. Bovenschen, Silvia: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. 2. Aufl. Frankfurt/Main 1980, S. 212. Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 434 (»Blüthenstaub< Nr. 56). ΚΑ Π, S. 338 (>Brief über den Roman«),
2.1.2 Bettines Umgang mit historischen Persönlichkeiten im Werk Leitender Gesichtspunkt von Bettines Schreibstrategien ist, wie im vorangegangenen Kapitel erläutert, die Treue zur Phantasie im frühromantischen Sinn, nicht aber die Verpflichtung dem historischen Faktum gegenüber. Sie versucht, ihr ganz spezielles poetisches Vermögen auszusprechen, nicht aber es »zu einem allgemeinen Bilde ohne Geist und ohne Sinn zu läutern und zu reinigen, wie die Toren sich bemühen, die nicht wissen was sie wollen«47. Diese Freiheit im Umgang mit ihren Erfahrungen und Erinnerungen, bei der als Richtmaß für die Wahrheit einer Geschichte nicht die Übereinstimmung mit der Realität gilt, sondern ihre innere Stimmigkeit bzw. ihre Einordnung in den ideellen Bezugsrahmen, auf den hin Bettine ihr Leben organisiert, nimmt sie auch historischen Persönlichkeiten und ihrem Werk gegenüber in Anspruch. Diese werden in den Briefromanen nicht dort vorgestellt, wo sie in der Realität hingehören, sondern wo sie sich in das Gesamtkonzept von Bettines Wirkungsabsicht einfügen: »Sie [Bettine] personalisiert Konzepte; deshalb tauchen Menschen jeweils dort auf, wo ihre Lehre und Lebenshaltung in den gedanklichen Zusammenhang passen, auch wenn Bettine ihnen tatsächlich erst später oder sogar niemals begegnete.«4' Die Literarisierung realer Personen war Bettine von frühester Jugend an vertraut. Stets vermischten sich bereits in ihren Freundschaften persönliche und literarische Erfahrungen. Die Lektüre und der persönliche Kontakt mit den wichtigsten zeitgenössischen Dichtern und Philosophen49 bedingen sich in ihrem
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ΚΑ Π, S. 284. Schmitz, S. 888. Typisch dafür ist etwa die Aufnahme der Personen Molitor, Voigt oder Dalberg in die >GünderodeWillen zum Ideal« ins Leben selbst verwandeln«. Bettina von Arnims >Die Günderode< im Spannungsfeld von Leben, Philosophie und Poesie. Untersuchungen zu ideellem Gehalt, Textaufbau und Wirkung des Briefromans. Diss, (masch.) Halle 1989, S. 98). s Eine Auflistung von Bettines Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis nimmt sich leger formuliert -wie ein Who-is-Who der deutschen Geistesgeschichte zwischen Aufklärung und Jungem Deutschland aus: Sophie von La Roche, Wieland, Clemens Brentano, Achim von Arnim, Karoline von Günderode, Savigny, Goethe, Jacobi, Baader, Sailer, Schelling, Ludwig und Friedrich Tieck, Karl Friedrich von Rumohr, Wilhelm von Humboldt, August Wilhelm Schlegel, Germaine des Stael-Holstein, die Brüder Grimm, Beethoven, Schleiermacher, Rahel Levin, Karl August Varnhagen van Ense, Gneisenau, Schinkel, Heinrich von Kleist, Heinrich Heine, Fürst Hermann von Pückler-Muskau, Leopold von Ranke, Emanuel Geibel, Moriz Carriere, Heinrich Bernhard Oppenheim, Bruno Bauer, Franz Liszt, Karl Marx, David Friedrich Strauß und Hoffmann von Fallersleben, um nur die wichtigsten zu nennen (vgl. dazu Härtl, Heinz:
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Verständnis gegenseitig. Das Wissen um das Werk ist vom Umgang mit dem Menschen nicht zu trennen: »Die Begegnung mit dem literarischen Werk variiert für Bettine nur die persönliche Beziehung; die persönliche Bindung ist aber in der Regel schon geprägt von der Kenntnis des Werkes: Kunstwelt und Lebenswelt verschmelzen in Bettines Erfahrung.«90 Diese Art der Verschmelzung von Kunst und Leben erfuhr Bettine zuerst bei ihrem Zusammenleben mit der Großmutter Sophie von La Roche. Auch wenn diese im Alter bereits »als Hüterin überkommener Güter [galt], die die junge Generation nicht mehr wahr haben wollte«51, blieb sie doch »bis zu ihrem Tod eine Schlüsselfigur - zwar nicht der Literatur, wohl aber des literarischen Lebens«52. In ihren Romanen porträtierte Sophie von La Roche ihre Freunde und Bekannten wie Goethe, Lavater, Wieland oder Jacobi. Ihr Umgang mit der Wechselbeziehung von Literatur und persönlicher Begegnung kann daher als eine wesentliche Wurzel von Bettines späterer eigener Technik der phantasiegetreuen Vermischung von Kunst- und Lebenswelt gelten: »Im Hause ihrer Großmutter lernte Bettine die Literatur- und Kulturgeschichte als die Biographie eines Freundeskreises kennen, und die Literarisierung ihres Lebenskreises wurde ihr selbstverständlich.«53 Ein zweite wichtige Quelle für die mögliche Literarisierung des Lebens war Clemens, der Bettine eine Ausrichtung des Lebens nach literarischem Vorbildern54 nahelegte und im >Godwi< vorführte, wie persönliche Erfahrungen und Beziehungen in Literatur eingeschmolzen werden können. Als dritter Einfluß ist die Literatur selbst zu nennen. Am >Werther< etwa sah Bettine, wie Goethes Liebe zu ihrer Mutter Maximiliane in Poesie transformiert wurde; in der >LucindeLese-Instituts< des Buchhändlers Wilhelm Fleischer, das weiteren Zugang zu aktuellen Werken ermöglichte.73 Wie sehr sie dadurch Bettines Lesebegeisterung anregte, spiegelt sich noch in >Goethes Briefwechsel mit einem Kinde«.74 Weiteren Einfluß auf Bettines Ausbildung nahmen neben wechselnden Privatlehrern, die Geschichte und Musik unterrichteten, ihr Bruder Clemens und sein Freund Achim von Arnim, ihre Freundin Karoline von Günderrode75 und ihr späterer Schwager Karl Friedrich von Savigny. Sie bemühten sich darum, der Jüngeren die Werke der Antike nahezubringen, ihr philosophische Grundlagen zu vermitteln, sie für Geschichte zu interessieren, sie zu eigener künstlerischer Produktion anzuregen76, und sie darüber hinaus in die aktuelle literarische Diskussion einzubinden. So lernte Bettine neben Werken Plutarchs77, Ovids78, Homers79, Ariosts80, Euripi-
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Vgl. dazu Schmitz, S. 766f. Vgl. dazu Sophie von La Roche: Mein Schreibetisch. Leipzig 1799, Bd. Π, S. 426, und Hoock-Demarle, Marie-Claire: Bettina als »Zeugin« der Französischen Revolution. In: JbBvAG 1989, S. 83f„ S. 86, S. 90. Vgl. Hoock-Demarle, Bettina als Zeugin ..., S. 83. Ζ .B. in ihrer Schilderung der französischen Besetzung von Offenbach, wo ihr größtes Glück ist, den Schlüssel zur Bibliothek erobert zu haben (vgl. Bw, S. 503f.). Wenn von der realen Person Karoline von Günderrode die Rede ist, verwende ich die historisch korrekte Schreibweise des Namens mit doppeltem >rr< beibehalten. Über die vereinigten didaktischen Anstrengungen schrieb Clemens am 16. August 1805 an seine Frau Sophie: »Betine hat bis jezt mit unsäglich manichfachem zerstreutem unterbrochenen Fleiß Griechische Geschichte studirt, die Günterode hat sie auch Etwas zur Philosofie angerüttelt gehabt, es hat aber nicht weiter gefangen, als daß sie ein paar schlechte platonische Gespräche geschrieben, über die sie jezt lacht. Sie hat eine grose Leichtigkeit zu dichten, und hat mir versprochen mir dann und wann ein paar Lieder zu senden.« (FBA 31, S. 447). AM, S. 26.
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des' 81 , Thucydides'* 2 , Shakespeares 0 oder Winckelmanns*4 immer auch die neuesten zeitgenössischen Publikationen kennen. Beispielsweise sind hier zu nennen die >SakontalaSternbakl· 84 und der >Kaiser Octavianus«*7, die Dichtungen von Novalis8" und natürlich alle Neuerscheinungen von Goethe. Nicht vergessen werden sollten außerdem die Werke von Clemens, Achim und der Günderrode selbst, die Bettine, wie dem authentischen Briefwechsel mit Achim zu entnehmen ist, meist schon vor dem Druck zu Gesicht bekam, und die sich ja schließlich auch auf ihre j e eigene Weise mit den >größten Tendenzen des ZeitaltersSakontala< oder >Shakuntala< des indischen Dichters Kalidasa (5. Jahrhundert n. Chr.) erschien 1791 in einer Übersetzung von Georg Forster aus dem Englischen. Wie schnell sie auch im Kreis der Brentano-Familie populär wurde, zeigt sich z.B. darin, daß der Vater von Bettines Schwägerin Antonie (verheiratet mit Franz), Johann Melchior Birkenstock (1738-1809), seine Tochter zärtlich als »Salcontala« zu bezeichnen pflegte (vgl. Stammbuch 77, FDH, Eintrag Nr. 57). AM, S. 16; Brief an Meline vom Frühjahr 1807 bei Schmidt, S. 75: »[...] nun hab ich auch noch zwei Exemplare von Sternbald in meinem Bücherschrank, daß eine davon ist neu in grün Papier eingebunden, dieß schick mir.« AM, S. 21. Novalis wird von Bettine in einem Brief an Achim vom 7. Januar 1823 und einem Originalbrief an die Günderrode vom Juni 1804 zitiert (vgl. Achim und Bettine in ihren Briefen, S. 388 und Werke V, S. 199). Nach Auskunft von Herrn Dr. Härtl, der sich z.Zt. im Rahmen seiner Herausgabe von Bettines Werken mit dem »Königsbuch< beschäftigt, verwendetBettine dort ebenfalls verschiedentlich leicht abgewandelte Novalis-Zitate. So stamme z.B. der zentrale Begriff >Sokratie< von Novalis. ΚΑ Π, S. 198 (Athenäumsfragment 216). Wenn man sich der Meinung Enid Gajeks anschließt, daß Bettine in der von ihr in der >Günderode< gestalteten Collage ihres Jugendzimmers alles zusammentrug, was ihr fur ihre Entwicklung wichtig erschien; vgl. Gajek, Das gefahrliche Spiel meiner Sinne, S. 257f.) kommen dazu noch die Schriften von Hemsterhuis (Gü, S. 26; wahrscheinlich kannte Bettine die dreibändige Werkausgabe von 1797), der >Ossian< und der >Siegwart< (Gü, S. 26). Im Grunde spielen alle in den Briefromanen erwähnten Bücher für Bettine eine bedeutende Rolle, selbst wenn sie nur zur Abgrenzung der eigenen Position dienen. Daher ist es sicher, daß sie sie auch gelesen hat. Es ist allerdings nicht zu ermitteln, wann das geschah, so daß in diesem Kontext auf eine Aufzählung verzichtet wird. Hier sind ausschließ-
setzen. Bettine erwies sich als >bildungshungrigWoldemar< und >AllwillGoethes Briefwechsel mit einem KindeL'homme espritRedenMonologen< gelesen.106 Während im Falle der Platon-Übersetzung die Werkkenntnis für spätestens Anfang 1807 zu belegen ist,107 läßt sich bei den übrigen Titeln aus den Quellen allein nicht genau eingrenzen, wann die Lektüre erfolgte: die >Reden< werden im »Ilius Pamphilius< ohne nähere Zeitangaben als bekannt vorausgesetzt10*, die »Vertrauten Briefe« kommen in einem Schreiben an Varnhagen von 1832109 vor, und die >Monologen< will Bettine, wie sie in der >Günderode< schreibt, mit der Freundin besprochen haben,110 d.h. sie hätte das Buch noch vor deren Tod, 1806, gelesen. Wenn einer solchen Angabe aus Bettines Briefromanen zwar bekanntlich nicht unbesehen zu trauen ist, so scheint es doch wahrscheinlich, daß bei den Werken, die ihr von Clemens, Achim und Karoline vermittelt wurden, nicht ausgerechnet Schleiermachers Schriften gefehlt haben, zumal sie nachweislich auch von den drei »Erziehern« rezipiert wurden. Clemens
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Vgl. zu Savigny z.B. AM, S. 326, Ende Dezember 1841: »Was ich über Schelling gehört habe, von Berlin aus, ist der Gnadenstoß der gesunden Vernunft, namentlich ist doch die Eingangsrede, die ich gedruckt gelesen, gerade als habe ihm der Teufel der Aufgeblasenheit seine Livree angezogen.« - Vgl. zu Varnhagen etwa »Tagebücher«, Bd. 10, S. 456, 4. März 18S4: »Unter den Linden vor Diimmler's Buchladen stand Bettina von Arnim vertieft im Ansehen der Neuigkeiten.« Bis 1810 hatte Schleiermacher neben einigen kleineren Arbeiten seine Reden >Über die Religion« (1799), die »Monologen« (1800), die >Vertraute[n] Briefe über Friedrich Schlegels »Lucinde«Daß ich Plato für und für bin gesessen über Dir« [...].
Das nächste belegte Treffen fand 1805 bei Reichardts in Giebichenstein statt, wo Arnim Weihnachten verbrachte. Schleiermacher war anscheinend am Weih-
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Wyss (B. v. Arnims Stellung ..., S. 63ff.). Härtl nimmt einen Umgang Bettines mit Schleiermacher erst für 1818 an (vgl. Chronik, S. 23) und Elisabeth MoltmannWendel geht von 1817 aus, also der Zeit nach Bettines endgültigem Umzug von Wiepersdorf nach Berlin (Β. v. A. und Schleiermacher, S. 397). Nur Konstanze Bäumer erwägt, daB ein erster Kontakt bereits 1810 entstanden sein könnte, ohne diese Vermutung indes zu beweisen (Β. v. A. und Goethe, S. 91). Wie der Nachweis von Bettines Lektüre, erscheint auch die Ermittlung der biographischen Daten ihrer Beziehung zu Schleiermacherdadurch problematisch, daB wenig schriftliche Zeugnisse existieren. Das läßt keine Rückschlüsse auf deren Bedeutung zu, sondern hat den pragmatischen Grund, daB in den entscheidenden Phasen alle möglichen interessierten Briefpartner sowohl von Schleiermacher als auch von Bettine in Berlin waren, wo sie sich eher besuchten, als Briefe schrieben. Steig I, S. 127; auch in Reichardts Briefen an Arnim wird auf Schleiermacher referiert, als gehöre er zum engen Bekanntenkreis: »Seit dem Graß durch Schl[eiermacher] erwarteten wir sie täglich hier [auf Giebichenstein].« (Brief vom 16. September 1806, gedr. in: Moering, Renate (Hrsg.): Arnims künstlerische Zusammenarbeit mit Johann Friedrich Reichardt und Louise Reichardt. Mit unbekannten Vertonungen und Briefen. In: Burwick, Roswitha u. Fischer, Bernd (Hrsg.): Neue Tendenzen der Arnimforschung. Bern u.a. 1990, S. 233).
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nachtsabend selbst nicht da,165 kam aber am 25. Dezember, wo er einen Teil seiner > Weihnachtsfeier, die spätere Rede des Eduard, mündlich vortrug. Als Reaktion auf die im Januar 1806 erschienene Publikation schrieb Arnim daher am 17. Februar 1806 an Savigny: »[...] die letzte Rede darin [in der >WeihnachtsfeierWeihnachtsfeier< vgl. auch Brief an Clemens vom 17. Februar 1806 (Steig I, S. 163). Dilthey, Leben Schleiermachers, S. 744. Schleiermacher hatte am 18. Mai 1809 Henriette von Willich geheiratet. Zitat aus: Steig m , S. 42. Vgl. Steig ΙΠ, S. 343.
eher trat. Anscheinend fand man jedoch keinen Gefallen aneinander, so daß die gelegentlichen Treffen Zufälle blieben: »Zwischen Schleiermacher und mir herrscht fortwährend dieselbe Antipathie, wir weichen uns überall aus.«170 >Sich überall ausweichen< müssen, impliziert aber andererseits viele Gelegenheiten, sich zu sehen. Es ist daher sehr wahrscheinlich, daß Bettine, die nach ihrer Ankunft in Berlin in Achims und Clemens' Umgang mit eingebunden wurde, bei einer dieser Gelegenheiten auch mit Schleiermacher zusammentraf,171 vermutlich schon in der Mauerstraße 34 bei Pistors. Den Kontakt könnten aber auch Rahel Levin, die seit 1807 recht eng mit Schleiermacher und seiner Familie befreundet war,'72 oder Savigny gestiftet haben, der als neuer Universitätsprofessor bald in den Kreis seiner Kollegen aufgenommen wurde.173 Laut Stoll gehörte Schleiermacher zu den engen Freunden Savignys,174 seit beide im August 1810 in der Kommission zur Einrichtung der Universität arbeiteten. Der einmal gestiftete Kontakt blieb sowohl auf beruflicher als auch privater Ebene bis zum Tode Schleiermachers erhalten, den Savigny als *ungeheure[n] Verlust«175 empfand. Ab März 1812 erstellten sie gemeinsam die Universitäts-Satzung, die 1817 vom König in Kraft gesetzt wurde.176 In den Freiheitskriegen war Savigny rechter und Schleiermacher lin-
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Brief an Wilhelm Grimm von Mitte Februar 1810 (Seebafl, Bd. Π, S. 38). Nur in Zusammenhang mit der Neugründung der Berliner Universität und Schleiermachers Denkschrift »Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn. Nebst einem Anhang über eine zu errichtendes 1808, brachte Brentano dem Theologen einiges Interesse entgegen (vgl. UL, S. 41S, S. 429 und Max Lenz: Geschichte der Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin, Halle 1910, Bd. 1, S. 303f.). Eine sehr gute Gelegenheit zum Kennenlernen bot sich etwa bei Henriette Herz, die eng mit Schleiermacher befreundet war, und seit der Aufgabe ihres Salons 1806 noch regelmäßig Teegesellschaften gab. Zwar werden Bettine und Clemens in Petra Wilhelmys Arbeit über den »Berliner Salon im 19. Jahrhundert (1780-1914)< (Berlin, New York 1989, S. 680-687) nicht als Gäste im geselligen Kreis der Herz aufgeführt, doch heißt es in einer Notiz von Clemens, die wohl Ende 1810/Anfang 1811 entstand: »Ich bin mit Betine zur Herz« (FBA 17, S. 452). Laut Petra Wilhelmy (Berliner Salon, S. 865ff.) waren die beiden Arnims genauso wie die Familie Schleiermacher regelmäßig in Rahel Varnhagens sogenanntem »zweitem Salon< zu Gast, der seit 1819 »als der Berliner Salon par excellence« (S. 866) galt. Bereits am 9. September 1810 jedenfalls fragte Sailer von Landshut aus ganz selbstverständlich bei Savignys (und Bettine) an: »Nun sagt mir, wie steht ihr zu Schleiermacher [...]« (Sailer, Johann Michael: Briefe. Hrsg. v. Hubert Schiel. Regensburg 1952, S. 353). Zum Verhältnis von Savigny und Schleiermacher vgl. auch Stoll, Bd. Π, bes. S. 5ff., S. 22-27, S. 168-172, S. 176-180 und S. 354ff. Vgl. Stoll, Bd. Π, S. VI, S. 169 mit Anm. 1. Brief an die Brüder Grimm vom 12. Februar 1834 (Stoll, Bd. Π, S. 472). Vgl. Stoll, Bd. Π, S. 6f., S. 22.
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ker Flügelmann einer Landsturm-Schützen-Kompanie, 177 während Achim von Arnim ein Bataillon stellvertretend führte. Bettine war die einzige Ehefrau des Bekanntenkreises, die nicht die Stadt verließ, als die Franzosen nur noch wenige Kilometer vor Berlin standen. Ihrer Schwester Gunda berichtete sie humorvoll: Es war ein seltsames Leben da. Da waren alle Tage auf offener Straße Männer und Kinder (von 15 Jahren) von allen Ständen versammelt, die dem König und dem Vaterland schwuren, in den Tod zu gehen. Mich hat's manchmal bis ins Mark der Knochen geschaudert, wenn ich im Vorbeigehen auf großen, sonst einsamen Plätzen einen solchen Eid, darauf ein herzliches Vivat gegen Himmel schallen hörte. Auch war es seltsam anzusehen, wie bekannte Leute und Freunde mit allen Arten von Waffen zu jeder Stunde über die Straße liefen, so mancher, von denen man vorher sich's kaum denken konnte, daß sie Soldaten wären. Stelle dir z.B in Gedanken Savigny vor, der mit dem Glockenschlag 3 wie besessen mit einem langen Spieß über die Straße rennt, der Philosoph Fichte mit einem eisernen Schild und langen Dolch, der Philolog Wolf mit seiner langen Nase hatte einen Tiroler Gürtel, mit Pistolen, Messern aller Art und Streitäxten angefüllt, der Theolog Marheinike war auch Hauptmann; [...] Bei Arnims Kompagnie fand sich jedesmal ein Trupp junger Frauenzimmer, die fanden, daß das Militärwesen ihm von vorn und hinten gut anstand.17* Als der König 1814 den Landsturm auflösen wollte, setzten sich Schleiermacher, Savigny und Arnim vergeblich für sein Weiterbestehen ein17®. Savigny wie Schleiermacher vertraten 1817 die Einführung der Glaubens-Union 180 , Savigny vermittelte Schleiermacher an die Brüder Grimm, 181 für viele Jahre engagierten sie sich zusammen in der »Akademie der Wissenschaften, 182 und in der >Demagogen-Verfolgung< nach den »Karlsbader Beschlüssen gerieten beide unter Verdacht. 1 * 3 Schließlich verbrachten sie häufig ihre freie Zeit miteinander, entweder in Schleiermachers Garten am Schafgraben oder in den jeweiligen Salons 184 .
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Vgl. Stoll, Bd. Π, S. 25. AM, S. 179. 175 Vgl. dazu Stoll, Bd. Π, S. 26f.; Knaack, Jürgen: Achim von Arnim - Nicht nur Poet. Die politischen Anschauungen Arnims in ihrer Entwicklung. Darmstadt 1976, S. 42ff. Vgl. Stoll, Bd. Π, S. 151. "" Vgl. sein Empfehlungsbrief vom 8. August 1819 (Stoll, Bd. Π, S. 260ff.). Vgl. Stoll, Bd. Π, S. 169ff. 183 Vgl. Stoll, Bd. Π, S. 177ff. 184 Friedrich Carl von Savigny und seine Frau Gunda, Schleiermacher und die Familie Arnim gehörten z.B. zu den Gästen im Salon der Amalie von Helvig, der von etwa 1816 bis 1830 zunächst samstags, dann montags tagte (vgl. Wilhelmy, Berliner Salon, S. 669ff.). 178
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Für Bettine und Schleiermacher bot sich eine weitere Kontakt-Möglichkeit in der Berliner Singakademie, die 1791 von Carl Friedrich Christian Fasch gegründet worden war und seit 1800 von Carl Friedrich Zelter geleitet wurde. Schleiermacher, der Tenor sang, war seit seinem Umzug nach Berlin 1807 Mitglied und blieb es sein Leben lang. »Mit großer Freude bin ich jeden Dienstag da«, schrieb er seiner Verlobten, Henriette von Willich, 1808, »an diesem Tage weiBt Du bestimmt, wo Du mich zu finden hast Abends zwischen Sechs und Sieben«185. Von Schleiermachers Begeisterung für den Gesang rührte auch seine Freundschaft zu Zelter her, dessen Grabrede er 1832 hielt. Bettine ihrerseits pflegte nach ihrer Ankunft in Berlin ebenfalls den Kontakt zu Zelter, den sie kurz zuvor in Teplitz kennengelernt hatte. Zusammen mit Achim und ihrer Schwester Gunda sang sie außerdem in der Singakademie, die sich insgesamt regen Zuspruchs von den führenden Familien der Stadt erfreute. ,w Schließlich ist es wahrscheinlich, daß Bettine bereits 1810/11 zumindest unregelmäßig zum Auditorium in der Dreifaltigkeitskirche gehört hat, denn zum einen hatte sie ja erst kurze Zeit zuvor in München und Landshut durch Sailer und Baader vielfältige religiöse Anregungen empfangen, die noch nicht ganz verklungen gewesen sein dürften, und zum anderen galten Schleiermachers Predigten als »gesellschaftliche Ereignisse«"7, die man nicht missen mochte. Ein Grund dafür läßt sich sicher darin sehen, daß Schleiermacher seit Erscheinen seiner >RedenF< ein sicheres Entscheidungskriterium (Müller, Zur Entstehungszeit..., S. 145) dafür, ob es sich um einen Text der jungen oder der alten Bettine handelt. Um 1819 ändert sich die Form des >F< auffallend. In dem Briefentwurf an den Kronprinzen, dessen gesamter Schriftduktus auf eine frühe Entstehungszeit hinweist, kommen nun sowohl die alte wie die neue Variante des Buchstabens vor, was laut Arno Müller dafür spricht, »daß das Manuskript nicht lange nach 1819/20 entstanden ist« (Brief an mich vom 19. Dezember 1990). Wahrscheinlich ist das Entstehungsdatum auf Anfang 1822 anzusetzen, jenen Zeitpunkt also, zu dem Schleiermachers Schwierigkeiten mit der Regierung ihren Höhepunkt erreicht und sich auch viele Bekannten von ihm abgewendet hatten (vgl. seine Klage gegenüber Brinkmann vom 19. Februar 1822 in: Schleiermacher als Mensch, Bd. 2, S. 322: »Meine ganze Lage ist bei der bittern Feindschaft fast aller derer, die am meisten gelten [...] höchst prekär.«). Das ist um so wahrscheinlicher, als Bettine gerade im Februar 1822 häufiger über Schleiermachers Lage an Arnim schreibt. Mit dem (geplanten) Einsatz für Schleiermacher beginnt somit Bettines sozial-politisches Engagement, das sich erst mit dem Kampf um die Rehabilitation der Brüder Grimm Ende der dreißiger Jahre voll entfalten sollte. Werke V, S. 377. Werke V, S. 377. Werke V, S. 375.
und sein Haar unter dem Segen Gottes und seines Königs gebleicht ist, fiir den Übermut (nicht Unmut) einer gnadenreichen Zeit, die immer Überfülle hervorbringt, büßen?25»
Die Existenz dieser Schrift, die schließlich wohl nicht gebraucht wurde, weil Schleiermacher sich erfolgreich gegen die ihm gegenüber erhobenen Anschuldigungen verteidigen konnte, macht deutlich, daß Bettines politisches Bewußtsein zunächst ganz allmählich aus den Auseinandersetzungen ihr bekannter Personen mit dem Staat erwuchs. Durch ihre Verwandten und Freunde erfuhr sie beispielhaft, was Engagement und Courage auch gegenüber der festgefahrenen Staatsmaschinerie ausrichten können. Insofern spielte gerade Schleiermacher durch sein beispielhaft mutiges Verhalten in diesem Entwicklungsprozeß eine große Rolle, zumal er neben den oben geschilderten Querelen und der Arbeit am »Preußischen Correspondenten< auch durch seine politischen Predigten versuchte, meinungsbildend zu wirken. Zumindest den Aufruf zur Teilnahme an den Kämpfen gegen Napoleon im Frühjahr 1813, der in Berlin ein gewaltiges Aufsehen erregt hatte,240 und Schleiermachers Predigten über die Auswirkungen der Pariser Revolution von 1830 wird Bettine bewußt verfolgt haben. Ende der zwanziger Jahre söhnte sich Schleiermacher zwar mit dem König aus241, dafür traf ihn aber ein schwerer familiärer Schlag, als sein einziger Sohn Nathanael im Herbst 1829, erst neun Jahre, alt an Scharlach starb. Mit ihm trauerten auch die Arnims, und Siegmund schrieb für den auf Wiepersdorf weilenden Vater eigenhändig die Grabpredigt ab, die Schleiermacher, so schwer es ihm auch fiel, selbst verfaßte und hielt.242 Die Existenz dieser Abschrift er-
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Werke V, S. 375. zw Vgl. den bei Dann, Nationale Bewegung, S. lllOf., Fußnote 9 zitierten Augenzeugenbericht von Eylert. 241 1830 erhielt Schleiermacher für seine langjährigen Verdienste um den preußischen Staat den Roten Adlerorden verliehen, eine Geste der Anerkennung, die ihn versöhnlich stimmte: »Ew. Königl. Majestät haben mir durch die gnädige Ertheilung des rothen Adlerordens ein Zeichen Allerhöchst Ihres Wohlwollens gegeben, welches mich in einem Grade, wie es wohl nur selten der Fall sein kann, auf das innigste rührt, und wie ein freundlicher Stern in mein herannahendes Alter hineinleuchtet, der manches Trübe und Dunkle in der Vergangenheit mit einem milden Glanz überdeckt.« (zit. n. Crouter, Schleiermacher und die Theologie der bürgerlichen Gesellschaft, S. 1094f.). 242 Vgl. Achim und Bettine in ihren Briefen, Bd. Π, S. 856 (Anhang, Nr. 43); Die >Rede an Nathanaels Grabe den 1. November 1829< ist gedruckt in Friedrich Schleiermacher: Dogmatische Predigten der Reifezeit. Ausgewählt und erläutert von Emanuel Hirsch. Berlin 1969, S. 337-344: »Für einen zwanzigjährigen vom Himmel gepflegten und verschonten Hausstand habe ich Gott zu danken [...] nun aber hat dieser Eine Schlag, der erste in seiner Art, das Leben in seinen Wurzeln erschüttert« (S. 337). Über diese tiefe Trauer seines Stiefvaters berichtet auch Ehrenfried von
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klärt, warum Bettine drei Jahre später in ihren Briefen an Schleiermacher diese Ansprache fast wörtlich rekapitulieren und auf ihren eigenen Wunsch, von Schleiermacher >erzogen< zu werden, ummünzen konnte. 2 4 3 Umgekehrt war es Schleiermacher, bei dem Bettine nach dem plötzlichen Tod e Arnims am 21. Januar 1831 Trost und Unterstützung fand. Bei ihm fühlte sie sich geborgen, weil es nicht notwendig war, ihm etwas vorzuspielen: »Wenn mich meine eigne Ohnmacht quälte, [...] daß ich mich schlecht fühlte, und mich nicht über mich selbst erheben konnte, dann ging ich zu ihm, und warf alles, was mich in mir selber kränkte, vor ihm hin, und sagte: >So bin ichich bleib Dir gut< das hieß so viel: was Du auch thust, wenn ich Dich auch nicht versteh so mißversteh ich Dich doch nicht.«263 Mit dieser Reaktion hob er sich für Bettine von den gewöhnlichen Menschen ab, die ihr Gegenüber allein nach den starren Regeln der Konvention be- bzw. verurteilen. Weil er fähig war, über das Äußerliche hinweg nur das Eigentümliche einer Person zu sehen, lautete Bettines zusammenfassendes Urteil: »ja dieser Schleyermacher ist ein großer Mensch wenn er auch nichts anders wäre.«264 Regelmäßig besuchte sie seine Predigten. Zwar erklärte sie, daß sie in der Kirche meist schliefe, doch schwächt diese Aussage die Bedeutung der Kirchgänge nicht ab, sondern erhöht sie eher. Schließlich kommt bei Bettines Versuch, die ungenügende Wirklichkeit zu transzendieren, dem Traum ein höherer Erkenntniswert zu als dem nüchternen Verstand.265 So vergleicht sie ihren Schlaf in der Kirche mit dem Schlaf des Kindes in der Wiege, das in mutuellem Vertrauen zur Mutter gleichsam unbewußt Wissen aufnimmt, um endlich bereit zu sein für ein höheres Leben:
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Gü, S. 235. FDH Hs- 13302 (Anhang, Nr. 73). FDH Hs- 13302 (Anhang, Nr. 73). FDH Hs- 13311 (an Pückler, vermutlich 1832/33; Anhang, Nr. 66), vgl. Assing, S. 215 (Anhang, Nr. 86). FDH Hs- 13311 (Anhang, Nr. 66; vgl. von Willich, S. 127, Anhang, Nr. 46). Vgl. Bunzel, »Phantasie ist ...«, S. 19ff.
Heute Morgen 6 Uhr in der Kirche; geschlummert, die Stimme des Predigers wie die Stimme der Mutter, die das Kind in der Wiege in Schlaf singt, wenn sie zu schön singt wacht das Kind auf und guckt sie an, und zieht die süssen Töne mit herüber in die Träume ohne Gedanken denn weil es noch keine Worte hat, weil es noch gar zu jung ist. ich auch bin noch zu jung, ich kann noch nicht sprechen in diesem Reich der Ahndung in das ich hinüber geboren bin und eben die Augen aufthue, und noch nicht sie ans Licht gewöhnen kann [...f 6 4 .
Insgesamt Idingen Bettines Schilderungen ihres Zusammenseins mit Schleiermacher in den Jahren 1831 bis 1834, selbst wenn man ihre Tendenz zur Stilisierung in Betracht zieht, als habe sie mit ihm eine im Sinne der romantischen Freundschafts- und GeselligkeitsVorstellungen ideale Beziehung geführt, die gekennzeichnet war durch einen spielerischen, zärtlich-scherzhaften Umgang, der noch die ernsthaftesten Gespräche in ein eigentümliches Licht tauchte: Wenn ich abends an sein Zimmer kam, ich sah Licht, er war allein, er saß auf dem Sopha am Schreibtisch, ich sagte: >Schleiermacher, ich bin da.< - >Komm,< rief er; in tausend Farben spielte da der Witz, und in dem Witz die Weisheit. Oft dachte ich an Sie [den Fürsten Pückler] bei diesen Gesprächen, und wie Sie überrascht sein würden, mich und ihn in diesem zärtlichen Muthwill, vom Geist getragen, geschaukelt, spielen zu sehen. Und dann, wenn ich recht übermüthig war, sagte er: >Gott hat Dich in der besten Laune erschaffen^2®7
Ein schönes Beispiel für die gegenseitige liebevolle Zuwendung sind auch Bettines Gedicht »Ob ich Dich liebe, weiß ich nicht« und Schleiermachers Antwort darauf »Ob Du mich liebest, weißt Du nicht?«268, in denen die beiden virtuos mit den Grundbegriffen der Freundschaft >LiebeVertrauenTreueVersuch einer Theorie des geselligen Betragens< hat Schleiermacher dargelegt, wie er sich die gelungene Begegnung zwischen Menschen vorstellt. Außer der beruflichen Tätigkeit und dem familiären Umgang, die beide wegen ihrer Beschränkung auf die Erfordernisse des täglichen Lebens den Blick aufs Wesentliche verstellten, müsse es, so seine Argumentation, »[...] einen Zustand geben, der diese beiden ergänzt, der die Sphäre eines Individui in die Lage bringt, daß sie von den Sphären Anderer so mannigfaltig als möglich
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FDH Hs- 13344 (Anhang, Nr. 53). Assing, S. 215; vgl. auch die launigen Anekdoten S. 217 (beides Anhang, Nr. 86) u. S. 218 (Anhang, Nr. 86). Assing, S. 220f. (Anhang, Nr. 86, dort auch zur Datierung). Assing, S. 220 (Anhang, Nr. 86).
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durchschnitten werde, und jeder seiner eignen Grenzpunkte ihm die Aussicht in eine andere und fremde Welt gewähre, so daß alle Erscheinungen der Menschheit ihm nach und nach bekannt, und auch die fremdesten Gemüther und Verhältnisse ihm befreundet und gleichsam nachbarlich werden können. Diese Aufgabe wird durch den freien Umgang vernünftiger, sich untereinander bildender Menschen gelöst«270. Diese Einstellung brachte es mit sich, daB Schleiermacher zu einem >Virtuosen der Freundschaft^1 wurde, der eben nicht nur gab, sondern auch nehmen konnte. Wenn Bettine betont: »Schleiermacher war auch mein Freund. Was in meiner Seele vorging, war ihm wichtig. Er würdigte meine Gedanken f...]«272, so schätzte sie ihr Verhältnis sicher richtig ein. Auch Schleiermachers Stiefsohn Ehrenfried von Willich merkte in seinen Erinnerungen an, daß die Beziehung auf Gegenseitigkeit beruhte: »Mein Vater hatte die Bettina gern und ließ sich, bei seiner großartigen Vielseitigkeit und seinem Sinn für die verschiedensten Gestalten des Geisteslebens, ihre Art gefallen f...]«273. Vamhagen, der ein Schüler Schleiermachers gewesen war, sich aber später mit seinem Lehrer überwarf, erkannte, wie sehr dieser sich in dem um ihn versammelten Kreis langweilte. Aus Ehrfurcht oder Schmeichelei wagte anscheinend keiner, eigene Gedanken vorzubringen, obwohl [...] Schleiermacher wartete, daß man ihn beleben oder erfrischen sollte, was nur Bettina bisweilen that, wofür er sie denn sehr liebte und ihr alle Unarten gern verzieh, die Andern ihr aber sehr aufsässig waren, die Herz, die Schede's, die Eichhorn's, die Reimer's, und besonders die Theologen, die er an sich zog.274
Und Gutzkow hielt fest: [Bettine] erzählte daB Schleiermacher, wenn dieser in der Akademie hätte über einen philosophischen Gegenstand lesen müssen, ihr sagte: >Bettraa, schreib mir über Mu-
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KGA 1/2, S. 165. Der Ausdruck stammt von Schleiermachers Freundin Eleonore Grunow (vgl. Schleiermacher als Mensch, Bd. 1, S. 270). Assing, S. 199; vgl. auch S. 213 (Anhang, Nr. 83a und Nr. 86) u. S. 201 (Anhang, Nr. 83a). Ähnlich äußert sich Bettine auch in einem Brief an Wilhelm Grimm vom 6. April 1838 (Bettine von Arnims Briefwechsel mit den Brüdern Grimm 1838-1841. Hrsg. von Hartwig Schultz. Frankfurt/Main 1985, S. 27; Anhang, Nr. 115). Ehrenfried von Willich, Aus Schleiermachers Hause, S. 129 (Anhang, Nr. 46). Varnhagen, >Tagebücher< (Bd. 9, S. 357), Eintrag vom 3. September 1852 anläßlich der Herausgabe von Schleiermachers >Briefwechsel mit Joachim Christian GaB< (Hrsg. v. W. Gaß. Berlin 1852; Anhang, Nr. 45). Ganz ähnlich schreibt Bettine an Pückler: »[...] keiner [...] hat mit ihm [Schleiermacher] verhandelt, und in wenig Minuten oft himmlische Feuerfunken aus ihm herausgeschlagen wie ich« (Assing, S. 213; Anhang, Nr. 86).
sik, über Liebe, kurz über das, was ich abzuhandeln habe, einen Bogen voll von Deinem Zeuge auf!< >Er brauchte es zwar nicht,< sagte sie; >aber es regte ihn an.·?75
Schleiermacher brauchte schon von Jugend an stets den Kontakt mit Freunden, um sein Leben erhalten [zu können], welches schlechterdings in der Einsamkeit nicht gedeihen kann. Wahrlich ich bin das aller abhängigste und unselbständigste Wesen auf der Erde [...]. Ich strecke alle meine Wurzeln und Blätter aus nach Liebe, ich muß sie unmittelbar berühren, und wenn ich sie nicht in vollen Zügen in mich schlürfen kann, bin ich gleich trocken und welk. Das ist meine innerste Natur, es giebt kein Mittel dagegen und ich möchte auch keins.276
Besonders aber benötigte Schleiermacher den Umgang mit Frauen, von denen er sich in vielen Charakterzügen besser verstanden fühlte, als von Männern.277 Sein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen, seine Sensitivität und Gefühlsintensität, konnte er beim weiblichen Geschlecht besser entfalten. So verwundert es nicht, daß sich Schleiermacher gerade in einer Phase, in der laut Varnhagen seine Freunde und Schüler in einer Art geistiger Stagnation steckten, zu Bettine hingezogen fühlte, die erfrischend unkonventionell und lebendig geblieben war. Während Schleiermacher Bettine als belebendes Element schätzte, setzte bei ihr als »Ausbeute«27' ihrer Gespräche ein Prozeß der Bewußtwerdung ein. »In seiner Nähe aufgeregt zur genialsten Erkenntnis« machte sie einen »Fortschritt [...] in der Bekanntschaft mit mir selbst«279. Längst verschüttete Eindrücke aus ihrer Jugend und Ehe verschmolzen mit von ihr adaptierten und transformierten Schleiermacherschen Gedankengängen zu einem eigenständigen Entwurf: »Von ihm allein hab' ich gelernt; und von niemand anderem, und was ich nur ahnde-
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Gutzkow, Karl: Gesammelte Werke. Bd. IX., Jena o.J., S. 232 (Anhang, Nr. 69). Br 1, S. 196 (an Henriette Herz, 15. Februar 1799); vgl. auch Brief an dies, vom 3. Mai 1799: »[...] es gehört zu dem Bewußtsein, daß ich eine Pflanze bin und einen Boden brauche, und daB nur durch beständige Zirkulation und Assimilation die Elemente meiner Natur beim Leben erhalten werden können. Nicht sowohl durch Zerrüttung meines Wesens von Innen her [...] kann ich untergehen, sondern schon durch die Zerstörung meiner Lage. Man reiße mich aus und ich bin verloren.« (Br 1, S. 223f.) und Brief an die Schwester Charlotte vom 23. Mai 1799:»[...] ohne Freunde, ohne herzliches Gespräch, ohne Wechsel zwischen Arbeit und geselligem Genuß ist fiir mich kein Leben [...]« (Br 1, S. 224). Vgl. Brief an die Schwester Charlotte vom 23. März 1799: »Es liegt sehr tief in meiner Natur, liebe Lotte, dafi ich mich immer genauer an Frauen anschließen werde, als an Männer; denn es ist so vieles in meinem Gemüth, was diese selten verstehn.« (Br 1, S. 207). Assing, S. 202 (Anhang, Nr. 84). Ehrenfried von Willich, Aus Schleiermachers Hause, S. 133.
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te, das machte er mir zur Gewißheit, und was er ahndete, das gab mir eine helle, klare Ansicht der Zukunft [,..]«280. Damit aus diesem Gärungsprozeß allerdings eine künstlerische Produktion hervorgehen konnte, mußte noch ein weiterer Einfluß hinzukommen. Im Januar 1832 lernte Bettine den Fürsten Hermann PQckler-Muskau bei Varnhagen kennen. Sie war von dem weltgewandten, ein wenig geheimnisumwitterten, manchmal zynisch-gelangweilten Schriftsteller, der durch sein dreibändiges, zwischen 1829 und 1832 erschienenes Werk »Briefe eines Verstorbenem Berühmtheit erlangt hatte, fasziniert und begann nur kurz nach dem ersten Treffen einen Briefwechsel mit ihm. Pückler füllte die emotionale Lücke, die der Tod Arnims hinterlassen hatte. Bettine Schloß nun endgültig mit ihrer Trauerarbeit ab, was äußerlich durch das Ablegen der Trauerkleidung gekennzeichnet wurde: Daß ich mich früher so sehr vernachlässigte [...] kam von Arnims Tod; ich war seitdem so verzagt, die Kleider anzurühren die ich in seiner Nähe getragen hatte; es befiel mich allemal eine Wehmuth und so schwer ward mein Herz daß eine so erfrischende Lebensepoche dazugehörte wie die welche mir durch Ihre zuvorkommende Güthe zutheil ward um mich zu überwinden.2"
Pückler selbst war ebenfalls an einem Punkt seines Lebens angelangt, wo er sich neu orientieren mußte. Seine erste große Reise, ursprünglich als Brautschau angelegt, hatte ihm zwar Stoff für sein Briefwerk geliefert, die auf seinem Besitz Muskau lastenden Schulden konnten aber auch durch den Verkaufserlös des Buches nicht abgetragen werden. Er bereitete gerade eine neue Publikation vor, die 1834 in Stuttgart veröffentlichten »Andeutungen über LandschaftsgärtnereiTagebuchGoethes Briefwechsel mit einem Kindedaß uns die Wahrheit Genuß gewährt« zum Schluß, daß >jeder Genuß durch seine Wahrheit legitimiert istSpiegel< (>AugesehenStrahlLichtPflanze< (>MetamoiphoseBlfiteFruchtAssoziationsreihen< meist aufeinander Bezug
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Bw, S. 509. Heukenkamp, »Den Willen ...«, S. 103. Gü, S. 110.
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nehmen. Eine Idee, ein Problem kann so in immer neuer Brechung erscheinen, wobei Bettine darauf achtet, zu keiner eindeutigen Lösung oder Stellungnahme zu gelangen. Auf diese Weise wird in der >Günderode< etwa das Thema >TodVerschleierungstaktiken< Bettines entsprechend kein direkterer Nachweis der Rezeptionsverhältnisse geführt werden kann,22 ohne gewaltsame und verfälschende Deutungen vorzunehmen.
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Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 470; vgl. dazu auch die folgenden Ausführungen zu Schleiermachers Hermeneutik, die zu dieser Konstruktion wesentliche Parallelen aufweist, allerdings in viel stärkerem Maße wissenschaftlich durchgeformt ist. Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 545. Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 485. Vgl. dazu auch Bäumer, S. 47: »Zwischen Bettina von Arnims Leben und Werk und der Poetologie und Philosophie der Romantik lassen sich zahlreiche und überzeugende Bezüge herstellen. Das Verhältnis von allgemein romantischer Weltanschauung zeitgemäßer Prägung und bewußter theoretischer Verarbeitung dieser romantischen
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Ein Ausweg aus dem Dilemma: Schleiermacher als Katalysator Um nun dieser Sachlage gerecht zu werden und trotzdem einen Beschreibungsmodus für die Wirkung Schleiermachers auf Bettine zu finden, vergleicht man sie am treffendsten mit der eines Katalysators. So wie in der Chemie der einer Verbindung beigefügte Katalysator Reaktionen auslöst oder in ihrem Verlauf bestimmt, ohne sich dabei selbst zu verändern, so hat der Umgang mit Schleiermacher bei Bettine in der durch Achims Tod ausgelösten Phase der Neuorientierung einen Bewußtwerdungs-Prozeß gefördert und gelenkt, in dessen Verlauf sie sich gezielt mit Fragestellungen und Problemen ihrer Zeit auseinandersetzte und schließlich eigenständig Stellung dazu bezog. Schleiermacher, der bereits am Ende seines Schaffens und seines Lebens angelangt war, blieb dagegen in seinen Grundüberzeugungen unbeeinflußt, obwohl er Bettines Freundschaft und den Perspektivenreichtum der gemeinsamen Gespäche sehr schätzte. Um im Bild zu bleiben: ein Katalysator aktiviert bereits vorhandene chemische Reaktionspartner dazu, sich umzuwandeln oder miteinander zu verschmelzen. Folgerichtig übernimmt Bettine weniger Theoreme aus Schleiermachers Werken (obwohl das natürlich auch vorkommt), sondern sie wird durch die Bekanntschaft dazu angeregt, früheres Gedankengut zu reaktivieren und es aktualisiert in einen neuen Kontext zu gießen. Bettine selbst beschreibt eine solche Form geistiger Befruchtung als ideal: Doch ist mir der der wichtigste der mich dazu bewegt so zu sprechen zu schreiben wie es mir selbst imponiert; doch ist mir der heilig, der mir in dem nach aussen so eng so karg begrenzten Lebenskreis Geister bannt die mich weit über jede äussere Erfahrung und Mittheilung bereichern. Doch macht mich der Seelig der auf meinen Geist eine so transzendentale Einwirckung hat, daß ich blos in der Emfindung als seyen Mächtige Fragen an mich gestellt die schon in ihrer Forderung den Begriff des Übersinnlichen enthalten, Dinge antworte die nicht aus mir sondern aus der Frage hervorgehen.23
Daß die Initialzündung zu diesem Vorgang gerade durch Schleiermacher erfolgt, erklärt sich nicht nur aus seiner außerordentlichen Persönlichkeit, die auch ihm im GrundefremdbleibendeNaturen stützen und fördern kann, sondern vor allem aus seiner Verwurzelung in einem Denkhorizont, der auch Bettine geprägt hat. In vielen Positionen Schleiermachers erkannte Bettine Ideen aus ihrer Jugendzeit
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Ideen läBt sich jedoch nicht immer klären. Die Frage, inwieweit Bettina von Arnim sich in ihren Schriften auf der Basis einschlägiger Werkkenntnisse gezielt der Theorien Schlegels, Novalis', Baaders und anderer bedient hat, mufl im Gegensatz zu ihrer nachweisbaren, intensiven Auseinandersetzung mit den Werken Goethes offen bleiben.« FDH Hs- 13290.
um 1800 wieder. Wenn sie nun ein neues Gewand trugen, so machte ihr das nur Mut, eigene Gedanken, die sie lange Jahre ungenutzt mit sich getragen hatte, auf ihre Relevanz für die Gegenwart hin zu prüfen und für die veränderten Problemstellungen nutzbar zu machen. Viele fundamentale Parallelen zwischen Bettine und Schleiermacher lassen sich aus dieser gemeinsamen frühromantischen Herkunft erklären. Wenn Schleiermachers Wirkung auf Bettine mit der eines Katalysators verglichen wird, so bedeutet das also, daß zwischen ihm und Bettine ein Konvergenzverhältnis24 besteht, bei dem beide von einer gemeinsamen Problemstellung aus zu ähnlich gelagerten Lösungsvorschlägen kommen, wobei Schleiermacher insofern >primo violino< spielt, als seine Analyse des herrschenden Zeitgeistes früher einsetzt, tiefer durchdacht ist und systematischere Ergebnisse hervorbringt. Genauer gesagt: aus der gemeinsamen Frontstellung gegen die als epochale Krise erlebte Gegenwart versuchen Schleiermacher wie Bettine einen universalen Sinnhorizont zu gewinnen, innerhalb dessen alle Manifestationen des menschlichen Lebens Bedeutung erhalten und die herrschende Entzweiung von Geist und Natur, Subjekt und Objekt, Glaube und Vernunft geheilt werden soll. Obwohl Schleiermacher und Bettine in der Zeitkritik, wie sich zeigen wird, in allen wesentlichen Zügen übereinstimmen, lädt sich in diesem Punkt der spezifische Einfluß Schleiermachers am wenigsten festmachen. Vielmehr haben beide Teil an einer unter den jungen Literaten allgemein verbreiteten Protestbewegung gegen die als defizitär empfundene Gegenwart, die sich noch bis zum Jungen Deutschland fortsetzt. Bettine und Schleiermacher kommt in dieser Tradition eine wichtige Vermittlungsfunktion zu, da beide von »der Generation des Jungen Deutschlands die sich als Erbe der >wahren< Romantik mit ihren revolutionären Tendenzen verstand«25, als Träger dieses Erbes hoch geschätzt wurden. Nicht nur aus diesem Grund, sondern vor allem, weil ohne Berücksichtigung der Opposition gegen die eigene Zeit weder der spezifische Weltentwurf Schleiermachers noch der Bettines zu verstehen ist, wird das Ungenügen an der eigenen Epoche, das sich besonders in der Philisterkritik äußert, im folgenden umfassend erörtert. Eine direktere Wirkung Schleiermachers auf Bettine läßt sich dann an ihrem Versuch, die negativ deklarierte Wirklichkeit zu kompensieren, nachzeichnen.
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Den Ausdruck >KonvergenzverhältnisDialektikDie Rede zuerst eben so gut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber