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German Pages 397 [404] Year 1998
Franz von Kutschera Die Teile der Philosophie und das Ganze der Wirklichkeit
Franz von Kutschera
Die Teile der Philosophie und das Ganze der Wirklichkeit
w DE
G Walter de Gruyter · Berlin · N e w York 1998
Die Deutsche Bibliothek -
CIP-Einheitsaufnahrne
Kutschera, Franz von: Die Teile der Philosophie und das Ganze der Wirklichkeit / Franz von Kutschera. - Berlin; New York: de Gruyter, 1998 ISBN 3-11-016106-0
© Copyright 1998 by Walter de Gruyter G m b H & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: OLD-Satz digital, Neckarsteinach Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer GmbH, Berlin
Meiner lieben Frau in Dankbarkeit für vierzig schöne gemeinsame Jahre
Vorwort Philosophie ist das einzige Fach, das sich nicht durch die Zuständigkeit für einen bestimmten Ausschnitt der Realität definiert. Während sich die Einzelwissenschaften jeweils nur für einen Teil interessieren, hat sie das Ganze der Wirklichkeit im Blick behalten. Sie dringt darauf, daß die Theorien der Teile zueinander passen und sich zu einem Bild des Ganzen zusammenfügen. Diese Aufgabe kann Philosophie nur dann wahrnehmen, wenn sie nicht selbst ebenfalls in immer mehr immer kleinere Spezialdisziplinen zerfällt. Heute wirkt sich jedoch die allgemeine Tendenz zur Spezialisierung auch in ihr aus. Wie in anderen Fächern steigt die Flut der Veröffentlichungen zu den einzelnen Themen und die Probleme verzweigen sich immer weiter. Beschränkung ist daher oft nützlich und gelegentlich unverzichtbar, eine Abschottung der philosophischen Teildisziplinen gegeneinander wäre jedoch völlig kontraproduktiv, ebenso wegen der sachlichen Zusammenhänge ihrer zentralen Probleme über disziplinäre Grenzen hinweg wie auch im Blick auf das Bemühen um das Ganze. Solche Zusammenhänge herauszustellen ist das erste Anliegen dieses Buches, in dem wir einen Rundgang durch fast alle Teilgebiete der Philosophie unternehmen. Wie die Fragen hängen auch die Antworten, für die ich plädiere, miteinander zusammen. In ihnen soll - das ist mein zweites Anliegen - eine Alternative zum heute vorherrschenden materialistisch-deterministisch-subjektivistischen Paradigma deutlich werden. Wegen der Fülle des Stoffes muß ich mich auf das Wesentliche konzentrieren und kann nicht ausführlicher auf Neben- und Teilprobleme eingehen oder auf konkurrierende Thesen und die Diskussionen in der Literatur. Für manche Details verweise ich auf frühere eigene Arbeiten, Wiederholungen und Überschneidungen lassen sich dadurch allerdings nicht vermeiden, da die Darlegungen in diesem
Vili
Vorwort
Buch aus sich verständlich sein und ein geschlossenes Ganzes ergeben sollen. Dem Rundgang durch die Abteilungen der Philosophie geht im ersten Kapitel eine Reflexion auf die Philosophie selbst voraus, die insbesondere diejenige Konzeption von Wesen und Aufgaben der Philosophie darlegen soll, die für das folgende dann leitend ist. Der Rundgang selbst beginnt im zweiten Kapitel bei erkenntnistheoretischen Fragen und führt über Sprachphilosophie, Logik und Handlungstheorie zur Philosophie des Geistes. In dieser geht es auch um den Begriff der Person. Personen zeichnen sich unter anderem dadurch aus, daß sie handeln, denken, sprechen und erkennen, so daß eine Philosophie des Geistes auf den ihr im Buch vorausgehenden Disziplinen aufbauen muß. Ist das Kapitel 6 so der Zielpunkt des ersten Teils zur theoretischen Philosophie, so hat andererseits das Kapitel 2, vor allem der Abschnitt 2.2, eine besonders wichtige systematische Bedeutung, da in ihm Grenzen unserer Erkenntnismöglichkeiten hervorgehoben werden. Die letzten beiden Kapitel befassen sich mit Problemen der praktischen Philosophie. Im siebten Kapitel geht es um Aspekte einer allgemeinen Wertlehre, im achten um die Ethik, wobei der pflichtethische Ansatz in den Mittelpunkt gestellt wird. Ich plädiere für eine kognitive Relevanz von Werterfahrungen und hebe die Zusammenhänge der praktischen mit der theoretischen Philosophie hervor, insbesondere jene in den Problemfeldern Realismus und Begründung. Auf unserem Rundgang werden in jeder Abteilung nur wenige Probleme vorgestellt, denn das Hauptinteresse gilt nicht den einzelnen Disziplinen, sondern ihren Beziehungen im Ganzen der Philosophie. Für ihre Hilfe beim Erstellen von Manuskript und Register sowie beim Lesen der Korrekturen danke ich meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Frau Gabriele Hauptfleisch, Frau Brigitte Weininger, Herrn Christian Vogl und Herrn Stefan Wölfl, MA. Franz von Kutschera
Inhalt Vorwort 1 Philosophie
VII 1
1.1 Wozu noch Philosophie ? 1.2 Themen und Aufgaben 1.3 Orientierung im Denken
1 8 23
2 Erkenntnis
32
2.1 2.2 2.3 2.4
32 48 65 88
Wissen Drei epistemische Utopien Realismus Wissenschaftlicher Realismus
3 Sprache
105
3.1 3.2 3.3 3.4
105 117 132 137
Sprache und Denken Bedeutung und Referenz Sprache, Denken, Wirklichkeit Semantische Antinomien
4 Logik
149
4.1 4.2 4.3 4.4 4.5
149 159 166 174 178
Logische Theorien Die naive Mengenlehre und ihre Antinomien Mengen als Kollektionen Mengen als Prädikatumfänge Extensionen
5 Handlungen
184
5.1 UrsachenundUrheber 5.2 Ursachen und Gründe des Verhaltens 5.3 Freiheit
184 194 201
X
Inhalt
6 Geist und Körper
216
6.1 6.2 6.3 6.4 6.5
216 223 242 248 263
Psychisches Materialismus Dualismus Subjekt und Person Das Leib-Seele-Problem
7 Werte
276
7.1 Werterfahrung 7.2 Subjektivistische Theorien 7.3 Wertrealismus
276 293 303
8 Pflichten 8.1 Pflichten und Werte 8.2 Normenrealismus 8.3 Realität und Idealität
327 327 346 356
Literatur Namen Stichwörter
370 380 383
1
Philosophie
1.1 Wozu noch Philosophie ? Im Lauf des 19. Jahrhunderts ist die Philosophie, die bis dahin unbestritten einen zentralen Platz in der universitas litterarum einnahm, in eine tiefe Legitimationskrise geraten, die bis heute anhält. Ausgelöst wurde sie unter anderem von den überzogenen Ansprüchen, die der Deutsche Idealismus erhoben hatte. Für Fichte war Philosophie „Wissenschaft der Wissenschaften", und das nicht etwa im Sinn der modernen Wissenschaftstheorie, sondern einer apriorischen Begründung der fundamentalen Theorien sämtlicher Einzelwissenschaften. Für Schelling war Philosophie gar „Wissenschaft vom Absoluten", und Hegel sah sie als ein allumfassendes, natürlich wiederum apriori begründetes, wissenschaftliches System, so daß sie nunmehr „den Namen der Liebe zum Wissen ablegen kann und zum wirklichen Wissen wird". Diese Ansprüche standen in einem krassen Mißverhältnis zu den erbrachten Leistungen. Die Übersteigerung des Rationalismus mit der Idee einer apriorischen, d.h. aus dem Lehnstuhl heraus möglichen Erkenntnis der gesamten Wirklichkeit schlug zudem schon im Deutschen Idealismus selbst vielfach in einen irrationalen Mystizismus um. Das Scheitern einer, wenn auch der am Beginn des 19. Jahrhunderts maßgeblichen philosophischen Richtung allein war jedoch nicht der eigentliche Grund für die Krise der Philosophie. Das war vielmehr der enorme Fortschritt der Wissenschaften, speziell der Naturwissenschaften, deren Erfolge sich in ihren technischen Anwendungen für alle sichtbar manifestierten. Was Francis Bacon am Beginn der Neuzeit programmatisch verkündet hatte: eine Wissenschaft, welche das Leben der Menschen erleichtern und endlich einen sicheren Fortschritt von Wissen und Naturbeherrschung garantieren sollte, schien nun Wirklichkeit zu werden. Die Wissenschaften hatten jetzt gegenüber der
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1
Philosophie
Philosophie den Erfolg auf ihrer Seite. In ihnen gibt es nicht mehr den endlosen Meinungsstreit und die immer neue Diskussion alter Probleme, sondern eine definitive Entscheidung von Fragen und einen rapiden Fortschritt gesicherten Wissens. Der Grund dieses Erfolges schien klar: Sie hatten den Ballast philosophischer Spekulationen abgeworfen und orientierten sich strikt an der Erfahrung, wie das schon Bacon gefordert hatte. Uber die Beschaffenheit der Wirklichkeit, so war man sich nun einig, kann nicht bloßes Denken Auskunft geben, sondern allein Erfahrung. Da Philosophie keine Erfahrungswissenschaft ist, war so von ihr auch kein Erkenntnisgewinn zu erwarten. In den Wissenschaften gab es dagegen endlich handfeste Resultate. Auch in ihnen sind einzelne Erklärungen, Methoden und Theorien umstritten, aber man kann doch von den gesicherten und im Fach allgemein anerkannten Ergebnissen z.B. der Physik oder der Biologie reden. In der Philosophie kann man hingegen nur von den Meinungen dieses oder jenes Fachvertreters sprechen; es gibt nichts allgemein Akzeptiertes, keine Ergebnisse der Philosophie. Die Zahl konkurrierender philosophischer Theorien und Schulen hat sich gerade im 18. und 19. Jahrhundert vervielfacht, und mit dem Erwachen des Interesses für die Geschichte der Philosophie im Deutschen Idealismus trat auch ihre historische Vielfalt ins Bewußtsein. In ihr Orientierung für das Denken und Leben zu finden, schien nun aussichtslos, denn auf jede Frage antwortet ein unverständliches Stimmengewirr. Für die im 19. Jahrhundert wachsende Uberzeugung, Philosophie sei eine Sache der Vergangenheit, die moderne Erkenntnisansprüche nicht mehr befriedigen könne, ist das Dreiphasenmodell von Auguste Comte charakteristisch. Danach ist die Zuständigkeit für weltanschauliche Fragen von der Religion zunächst auf die Philosophie und von ihr dann auf die Wissenschaften übergegangen. Eine Deutung der Welt gaben zuerst die Mythen, die nicht als Ergebnisse menschlicher Spekulation, sondern als göttliche Offenbarungen verstanden wurden. Die Musen verkünden Homer und Hesiod, was der Mensch aus eigener Erfahrung nicht wissen kann, insbesondere den Ursprung der Welt und der Götter, und damit ihr Wesen. Mit der Emanzipation des Individuums, seinem Insistieren auf der Einsichtigkeit dessen, was es als wahr
1.1
Wozu noch Philosophie?
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akzeptieren soll, wurde solche Offenbarung suspekt: Die Frage, warum wir eine Aussage als göttliche und damit wahrheitsgemäße Offenbarung akzeptieren sollen, eine andere hingegen nicht, läßt sich offenbar nicht wieder durch Verweis auf Offenbarungen beantworten. W i r müssen selbst entscheiden und dabei auf unsere eigene Vernunft vertrauen. Lassen wir aber nur das als Offenbarung gelten, was sich als wahr erkennen läßt, so spielt sie als eigene Erkenntnisquelle keine Rolle mehr. Die weltanschauliche Kompetenz ging damit an die Philosophie als Inbegriff vernünftiger Überlegungen über. Mit dem Entstehen der Wissenschaften wurde dann nach C o m t e aber auch die Philosophie obsolet. Wissenschaft kommt in Gang, wo sich auf einem Gebiet allgemein akzeptierte Methoden und Theorien herausbilden. Das erlaubt es einem Forscher, auf die Ergebnisse anderer aufzubauen, da sie mit Voraussetzungen und nach Kriterien gewonnen wurden, die auch er selbst anerkennt. Wissenschaft wird damit zu einem gemeinschaftlichen Unternehmen, und das ermöglicht einen wesentlich rascheren und auch verläßlicheren Erkenntnisfortschritt, als ihn der einzelne erzielen kann. Das gilt auch für die Arbeitsteilung durch Spezialisierung: Jede Wissenschaft beschäftigt sich nur mit einem Realitätsausschnitt, einem Bereich miteinander zusammenhängender Phänomene, und kommt aufgrund dieser Konzentration zu sehr viel detaillierteren Aussagen, als wenn sie immer das Ganze im Blick behalten würde. Philosophie ist in diesem Sinn keine Wissenschaft. Sie hat keinen speziellen Gegenstandsbereich, für den sie eine besondere Zuständigkeit reklamieren könnte. Für Aristoteles waren alle Einzelwissenschaften Teile der Philosophie 1 , und noch zur Zeit von Descartes und Hobbes stand „Philosophie" für den Inbegriff der Wissenschaften. Mit der Zunahme der Kenntnisse auf den verschiedenen Gebieten, mit der Ausbildung spezieller Begriffssysteme und Methoden haben sich dann fast alle Einzelwissenschaften, Natur- wie Geisteswissenschaften, aus dem Verband der Philosophie emanzipiert - lediglich Mathematik und Medizin sind nie Teile der Philosophie gewesen. Bei ihrem Abschied hat jede Disziplin einen Teil der Realität als ihren spezifischen Gegenstandsbe1
Vgl. Metaphysik IV,2.
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1
Philosophie
reich für sich reklamiert, bis endlich die Wirklichkeit unter sie aufgeteilt war und die Philosophie ohne eigene Sachzuständigkeit zurückblieb. Welchen Fragen sich ein Philosoph auch immer zuwendet, er sieht sich in der Rolle des Amateurs, der mit der Kompetenz des Fachmanns nicht ernsthaft konkurrieren kann. Dem allgemeinen Bewußtsein gilt Philosophie nicht nur als gemeinsame Vergangenheit der Wissenschaften, sondern als Einzelfach neben anderen. Als Fachdisziplin spielt sie freilich eine unglückliche Rolle, denn ihr fehlt eben ein spezieller Anteil an der Realität als Gegenstandsbereich. Manche ihrer Vertreter haben versucht, diesem Mangel abzuhelfen und ihr als Thema ihre eigene Geschichte zugewiesen. Ein Fach, dessen einziges Thema seine eigene Geschichte ist, könnte jedoch wegen Stoffmangels offenbar nie in Gang kommen, da seinem Anfang eben keine eigene Geschichte vorausliegt. Die Bestimmung würde zudem die Marginalität von Philosophie nur unterstreichen. N o c h unglücklicher ist es, wenn man, in der Nachfolge Ludwig Wittgensteins, ihre Aufgabe darin sieht, ihre eigene Sprache kritisch zu durchleuchten oder die intellektuellen Beulen zu heilen, für die sie selbst mit ihren Verwirrungen verantwortlich ist.2 Nach alldem scheint die Philosophie nicht mehr kompetent zu sein für solide Auskünfte zu den Fragen, die uns interessieren. Da die Wissenschaften die Erfolge, den Erkenntnisfortschritt, den Reichtum der Informationen auf ihrer Seite haben, erwartet man diese Auskünfte nun von ihnen. Diese Sicht der Dinge hat bewirkt, daß das öffentliche Ansehen der Philosophie heute fast auf Null gesunken ist und selbst Fachvertreter vom Ende der Philosophie reden. 3 N u n hat man auch vom „Ende der Geschichte" geredet - gemeint war das Ende der Geschichtswissenschaft. Gerede über das Ende des eigenen Faches wird oft von Leuten produziert, die zu dessen Sachproblemen nichts zu sagen wissen und das objektiven Umständen anlasten möchten. Wer ernsthaft von-der Nutzlosigkeit der Philosophie oder der Geschichtsschrei 2 3
Vgl. dazu Wittgenstein (1953), §§ 109,118,119. Dieses Thema ist - oder war - vor allem eine Domäne deutscher Philosophie, vgl. z.B. Adorno (1963), sowie die Aufsätze in Lübbe (1978) und Baynes u.a. (1987).
1.1
W o z u noch Philosophie?
5
bung überzeugt ist, müßte konsequenterweise sein Amt als alimentierter Fachvertreter aufgeben und sich anderen Beschäftigungen zuwenden; daran denkt aber natürlich niemand. Das Reden vom Ende der Philosophie ist - wie das vom Ende der Geschichte - freilich auch Ausdruck enttäuschter Erwartungen. Man hoffte, die Geschichtswissenschaft könnte im Gang der Ereignisse einen tieferen Sinn entdecken und uns so Orientierung vermitteln. Diese Hoffnung war jedoch von vornherein verfehlt. Sinninhalte und Wertfragen liegen nach ihrem Selbstverständnis prinzipiell jenseits des Horizonts der Wissenschaften. Da sich Philosophie hingegen mit Wert- und Sinnfragen befaßt, wäre Hoffnung auf Orientierung hier am Platz. Die Enttäuschung ihr gegenüber erklärt sich daraus, daß sie keine gesicherten und allgemein akzeptierten Antworten bereithält. Orientierung ist allerdings etwas, was man selbst leisten muß: Man muß sich schon selbst orientieren, und kann sich nicht von Experten orientieren lassen. Dazu bietet die Philosophie Überlegungen an, und mehr kann man von ihr nicht erwarten. Comtes Dreiphasenmodell ist nun recht naiv. Tatsächlich hat weder die Philosophie die Religionen verdrängt, noch haben die Wissenschaften die Philosophie obsolet gemacht. Daß sie heute noch existiert, liegt auch nicht nur am Beharrungsvermögen von Institutionen, sie ist vielmehr sehr lebendig. Es wächst nicht nur die Zahl der Fachvertreter, der Institute und Fachzeitschriften, sondern in der Spitze ist auch das qualitative Niveau sehr hoch. Die Beschränkung auf die Spitze bringt mich schon zum ersten Punkt meiner Apologie: Es gibt nicht die Philosophie, über deren Wert oder Unwert man reden könnte. Das Wort „Philosophie" wird vielmehr als Obertitel für ganz heterogene Beschäftigungen verwendet, und manches davon ist auch heute lebenskräftig und wichtig, anderes hingegen nicht. Die Konzeptionen von Zielen und Aufgaben, von Thematik und Charakter der Philosophie haben sich im Lauf der Geschichte erheblich gewandelt. Auch in den einzelnen Epochen war ihr Erscheinungsbild nur selten einheitlich, und heute scheint es nur mehr wenig zu geben, was nicht als „Philosophie" bezeichnet wird. Das Problem besteht nicht in der Diskrepanz der Antworten auf gemeinsame Fragen oder in der Vielfalt der theoretischen Ansätze - das gibt es auch in den Einzel-
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1 Philosophie
Wissenschaften - , sondern im Fehlen gemeinsamer Standards für das, was eine philosophische Frage ist, was eine ernstzunehmende Antwort darstellt und wie sie überprüft werden kann. Die Schwierigkeit liegt im Mangel an gemeinsamen Zielen und vor allem an gemeinsamen Vorstellungen über das erforderliche Niveau der Erörterungen. Soll sie nicht jedes Profil verlieren, so kann man nicht sagen: „Philosophie ist alles, was so genannt wird". Einen inhaltlich bestimmten Philosophiebegriff erhält man aber nur, wenn man sich auf bestimmte Standards festlegt. Das war schon zu Piatons Zeiten so, der sich immer wieder genötigt sah, Philosophen von Sophisten, Philodoxen und Schwätzern zu unterscheiden. Ich muß also sagen, was ich unter „Philosophie" verstehe und für ganz und gar nicht obsolet halte. Meine Konzeption ist weder neu noch ausgefallen, sondern soll im wesentlichen die große Tradition des Faches umfassen. Philosophie, so hatten wir gesehen, ist keine Wissenschaft. Um ihren Platz an wissenschaftlichen Hochschulen rechtfertigen zu können, wird man an sie aber jedenfalls die beiden Mindestanforderungen stellen müssen, die für wissenschaftliches Arbeiten auch sonst gelten:
1) Aussagen müssen einen hinreichend klaren Sinn haben!
Die Sprache der Philosophie ist die natürliche Sprache, in unserem Fall Deutsch. Die ist für den alltäglichen Gebrauch geschaffen, nicht für wissenschaftliche Zwecke. Daher müssen die Wörter für philosophische Verwendungen oft expliziert, d.h. genauer erläutert und für neue Anwendungsfälle definiert werden. Oft ist es auch erforderlich, neue Wörter einzuführen, deren Verwendungsweise dann genau festgelegt werden muß. Aus der Forderung nach Klarheit folgt so, daß man in der Philosophie Sorgfalt auf die Bestimmung der Begriffe verwenden muß. Schon Aristoteles hat in seinen Schriften viel Mühe in die Aufhellung der Bedeutungsvielfalt von Wörtern investiert, und das Bemühen um den Sinn der Terme, um die Präzision der sprachlichen Ausdrucksmittel zeichnet fast alle bedeutenden Philosophen aus. Es gibt zwar keine „absolute" Klarheit, was man braucht, ist aber auch nur hinreichende Klarheit für den jeweiligen Kontext. Die praktische Konsequenz ist, daß man begründeten Forderungen nach weiterer Präzisierung Rechnung zu tragen hat.
1.1
7
Wozu noch Philosophie?
2) Behauptungen
müssen hinreichend
gut begründet
sein!
In der Philosophie wie in den Wissenschaften sind unbegründete Aussagen irrelevant. Was man behauptet, muß man auch begründen. Was „hinreichend gut begründet" heißt, ergibt sich wieder aus dem Kontext. Strikte logische Beweise sind nur selten möglich, man wird sich aber jedenfalls berechtigten Forderungen nach genaueren Begründungen offen halten müssen. Da jede Begründung eines Satzes sich auf andere Aussagen stützt, läßt sich in ein und demselben Zusammenhang nicht alles begründen. Das heißt nicht, daß jedes Argument letztlich auf dogmatischen Voraussetzungen beruhen würde. Einer Theorie der Geometrie liegen z.B. gewisse Axiome zugrunde, die - ihre Unabhängigkeit vorausgesetzt - in der Theorie nicht beweisbar sind. Deswegen sind sie aber nicht schlechthin unbeweisbar; sie können vielmehr in anderen, gleichwertigen Theorien beweisbar sein, die Theoreme der ersteren zu Axiomen erheben. Beide Postulate lassen sich oft nur schwer erfüllen, selbst wenn man die Aristotelische Einsicht akzeptiert: „Man darf nicht in allen Gegenstandsbereichen dieselbe Genauigkeit anstreben" die erreichbare Genauigkeit hängt ja von der Natur der jeweiligen Gegenstände ab.4 Dennoch begrenzen die Postulate das, was uns als Philosophie gelten soll. Nimmt man den Gedanken hinzu, daß der Logik als Theorie korrekter Argumentation und Begriffsbildung nach beiden Postulaten besondere Bedeutung zukommt und sie zudem das einzige Organon der Philosophie ist, so ist man schon beim Leitgedanken der Analytischen Philosophie. Nun verwendet man diese Bezeichnung oft in einem engeren Sinn, in dem sie sich auch durch eine positivistische, empiristische und antimetaphysische Ausrichtung definiert. In diesem Sinn ist Analytische Philosophie heute aber schon wieder eine Sache der Vergangenheit. Daher spricht nichts dagegen, die Bezeichnung in dem angegebenen weiteren Sinn zu verwenden für eine Art des Philosophierens, die auf klare Begriffe und solide Begründungen besonderen Wert legt und dabei logische Hilfsmittel einsetzt, soweit das zweckdienlich erscheint. In 4
Nikomachische Ethik 1094al3f. Der Gedanke findet sich mit anderer Begründung schon bei Piaton.
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1
Philosophie
diesem weiteren Sinn ist dann Analytische Philosophie keine Sache des 20. Jahrhunderts, sondern eine Tradition des Philosophierens, die schon auf Aristoteles zurückgeht und in der die meisten bedeutenden Philosophen gestanden haben. Sie ist nicht zu verwechseln mit einem Rückzug der Philosophie auf Logik oder Sprachkritik. In der Philosophie geht es um materiale Fragen, und dazu ist ein Feilen an Begriffen zwar oft notwendig, aber nie hinreichend. Philosophie ist also keine Wissenschaft, muß aber Mindestanforderungen wissenschaftlichen Redens genügen, den Anforderungen der Verständlichkeit und Einsichtigkeit rationaler, sachund wahrheitsorientierter Diskurse. Das ist zunächst nicht mehr als eine formale Abgrenzung jener Art von Philosophie, die wir hier vor Augen haben. Inhaltlich wird sie deutlicher, wenn wir uns nun der Erörterung ihrer Themen und Aufgaben zuwenden.
1.2 Themen und Aufgaben Von ihrer Thematik her, haben wir gesehen, gehört Philosophie nicht in das Spektrum der Einzelwissenschaften; während sich diese von ihrem Gegenstand her bestimmen, als Wissenschaften von diesem oder jenem, gibt es keinen Teil der Realität, für dessen Erforschung die Philosophie exklusiv zuständig wäre. Andererseits ist sie aber auch nicht der leere Kokon, der mit dem Ausschlüpfen der Einzelwissenschaften seine Daseinsberechtigung verloren hat. Zwei Zuständigkeiten sind der Philosophie geblieben: Die Reflexion auf die Grundlagen und der Blick aufs Ganze. Das erstere können die Einzelwissenschaften als Wissenschaften nicht leisten, das zweite nicht als Einzel-Wissenschaften. Fast zu jeder Fachdisziplin gibt es eine entsprechende philosophische Teildisziplin. Es gibt eine Philosophie der Sprache, der Mathematik, der Psychologie, eine Philosophie des Rechts, der Kunst, der Religion usf. Die Grenze zwischen Mathematik und Philosophie der Mathematik z.B. ist nicht scharf. In der letzteren geht es zwar nicht um jene Probleme, für die sich Mathematiker gewöhnlich interessieren, sondern etwa um den ontologischen und erkenntnistheoretischen Status abstrakter Objekte wie Zahlen
1.2
Themen und Aufgaben
9
oder Mengen. 5 Es geht aber auch um die Grundlagen der Mengenlehre, einer zentralen mathematischen Disziplin, und um beweistheoretische und modelltheoretische Fragen, für die sich Mathematiker in der Regel zwar ebenfalls nicht erwärmen, ohne aber leugnen zu können, daß z.B. die Theoreme von Kurt Gödel über die Unvollständigkeit formaler Systeme der Arithmetik oder die Verträglichkeit der Generellen Kontinuumshypothese mit dem mengentheoretischen System von Zermelo und Fraenkel von fundamentaler Bedeutung für die Mathematik selbst sind. Philosophie der Mathematik und Mathematik selbst überschneiden sich also thematisch. Da Mengenkonzeptionen durch mengentheoretische Axiome expliziert und durch deren Implikationen überprüft werden müssen, benötigt ferner ein Philosoph, der auf diesem Gebiet arbeiten will, jedenfalls gewisse mathematische Kompetenzen. Umgekehrt bleibt vermutlich die Diskussion der starken Unendlichkeitsaxiome der Mengenlehre ohne Einbeziehung philosophischer Aspekte fruchtlos. Die Mathematik ist eine exakte Wissenschaft, die Diskussion ihrer Grundlagen bietet aber genau dasselbe Bild wie philosophische Diskussionen, denn sie ist eben nichts anderes als eine philosophische Erörterung. Auch dabei stehen sich radikal verschiedene, miteinander unverträgliche Positionen gegenüber, und oft sind es heute dieselben wie vor fast zweieinhalb Jahrtausenden - ebenso wenig und ebenso viel Fortschritt also wie in der Philosophie. Mathematik kümmert sich in ihrer normalen Praxis nicht um diese Fragen, aber das heißt nicht, daß sie sich das leisten könnte, weil sie festen Boden unter den Füßen hätte. Die Reflexion auf ihre Grundlagen ist der Sache, nicht der fachlichen Zuständigkeit nach, eine Angelegenheit der Philosophie. 6 Wie vor allem Thomas Kuhn durch seine wissenschaftsgeschichtlichen Analysen belegt hat, gehen die Wissenschaften ihren sicheren Gang nur im Rahmen eines Paradigmas, in dem sie von Annahmen und Theorien ausgehen und Methoden verwenden, die nicht Gegenstand, sondern Mittel ihrer Untersuchungen sind. 5 6
Vgl. dazu Kap. 4. Das sagt schon Piaton. Vgl. z.B. das Gleichnis von der geteilten Linie im Staat 509d-511e: Der Philosoph begnügt sich nicht mit der Evidenz geometrischer Axiome, sondern hinterfragt sie.
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1
Philosophie
Solange sich die bei der Erklärung der empirischen Phänomene und bei Prognosen hinreichend gut bewähren, sieht man keinen Anlaß, sie zu problematisieren. Wenn sich jedoch Beobachtungen häufen, die nur schwer mit ihnen zu vereinbaren sind, werden endlich auch sie in die Diskussion einbezogen. Es werden neue Paradigmen entwickelt, und in einer solchen Phase der wissenschaftlichen Revolution gibt es kein methodisch gesichertes Fortschreiten mehr. 7 Dann stellen sich Grundlagenfragen und die Diskussion wird philosophisch, weil sich diese Fragen nicht mehr aufgrund von allgemein akzeptierten Annahmen oder durch Experimente entscheiden lassen - mit den fundamentalen Theorien steht ja auch die Art und Weise in Frage, wie Beobachtungen zu interpretieren sind und was sie implizieren. Nun wird man einwenden, daß die Wissenschaften auch in revolutionären Phasen nicht auf den Rat von Philosophen angewiesen sind. Die Grundlagendiskussion werde vielmehr von den Fachleuten selbst geführt, die auch allein die notwendigen Kenntnisse hätten, insbesondere über die Daten, denen eine neue Theorie gerecht werden muß. Der Streit zwischen verschiedenen Paradigmen werde ferner nicht durch philosophische Argumente entschieden, sondern durch die Einfachheit und Leistungsfähigkeit neuer Theorien bei der Beschreibung und Erklärung von Phänomenen, und dafür seien wiederum die Fachwissenschaftler zuständig. Dieser Einwand beruht jedoch auf der falschen Voraussetzung, von der schon die Rede war: Philosophische Fragen sind nicht jene, die von berufs- und gewerbsmäßigen Philosophen diskutiert werden und für die sie eine exklusive Zuständigkeit hätten, es sind vielmehr Fragen einer bestimmten Art, Fragen für deren Beantwortung es keine allgemein anerkannten Prämissen oder Methoden gibt. Je konkreter eine solche Frage in ein Fachgebiet eingreift, desto stärker muß natürlich auch die fachliche Kompetenz dessen sein, der eine brauchbare Antwort darauf finden will. Die Philosophen, die sich z.B. mit Physik befassen, benötigen physikalische Kenntnisse und haben sie in der Regel auch. Umgekehrt braucht der Physiker, der sich mit der Interpretation der Relativitätstheorie oder der Quantenmechanik beschäftigt, philo7
Vgl. dazu Kuhn (1962) und den Abschnitt 2.2 unten.
1.2
Themen und Aufgaben
11
sophische Kompetenzen, und Einstein und Heisenberg hatten sie auch. Beide sahen sich veranlaßt, ihre neuen Konzeptionen durch philosophische Überlegungen abzusichern. Auf dem Gebiet der Grundlagen der Wissenschaften gibt es sie also tatsächlich noch, die Verbindung von Philosophie und Wissenschaften. Philosophie - nicht als Fachdisziplin, sondern als Suche nach Erkenntnis auf noch ungebahnten Wegen - ist also für die Grundlagenprobleme in den Wissenschaften relevant, und daher kann man nicht behaupten, sie sei durch diese obsolet geworden. Philosophische Überlegungen sind im übrigen schon aus dem Grunde nicht überholbar, daß die Kritik wissenschaftlicher Erkenntnisansprüche zur Philosophie gehört. Die Naturwissenschaften gehen z.B. von einer realistischen Konzeption aus, nach der sich uns in unseren Erfahrungen eine von der Existenz von uns Menschen, von unseren Beobachtungen und unserem Denken unabhängige Realität zeigt. Dieser Realismus ist aber durchaus nicht ohne Probleme und läßt sich wissenschaftlich nicht begründen. Das zeigt z.B. der Zirkel der Evolutionären Erkenntnistheorie, welche die biologische Evolutionstheorie als Aussage über die objektive Beschaffenheit der Natur voraussetzt und mit ihr eine jedenfalls partielle Erkennbarkeit dieser Natur mit der Anpassung unseres kognitiven Apparats an unsere Umwelt begründet.8 Im wissenschaftlichen Normalbetrieb geht man - trotz des Bekenntnisses zum prinzipiell hypothetischen Charakter empirischer Theorien - davon aus, daß man auf festem Boden steht und das Fach in seinen grundlegenden Theorien über gesichertes Wissen verfügt. Die Philosophie hingegen erhebt seit Sokrates und Piaton gerade nicht den Anspruch auf gesichertes Wissen. Diogenes Laertius berichtet, als erster habe sich Pythagoras als „Philosoph" bezeichnet, als Freund der Weisheit, denn kein Mensch sei weise, sondern allein die Götter. 9 Die Deutung der ersten Wortkomponente philein im Sinn von „streben nach" statt „vertraut sein mit" stammt aber wohl erst von Piaton. 10 Sophia war zunächst 8
9 10
Vgl. dazu Kutschera (1993a), 4.2.
Diogenes Laertius Leben und Meinungen berühmter Philosophen 1,13.
Vgl. dazu E. Heitsch (1993), S. 65 und 80. Bei Piaton vgl. z.B. Symposion 204al-7 und Phaidros 278a3-6.
1 Philosophie
12
allgemein Wissen, Bildung und Können - zu den Sieben Weisen zählten auch Staatsmänner wie Solon und Periander. Das Wort nahm erst gegen Ende des 5. Jahrhunderts die Bedeutung von „Gelehrtheit" an, und bis zu Sokrates wurden Philosophen meist als Sophoi bezeichnet. Sokrates wandte sich gegen die für ihn oberflächlichen Wissensansprüche der Gelehrten und nahm für sich selbst nur eine einzige Form von Weisheit in Anspruch: das Bewußtsein des eigenen Nichtwissens. Darin wußte er sich den Gelehrten in ihrer vermeintlichen Sicherheit überlegen. Für Piaton war die Reinigung der Seele von falschen Wissensansprüchen die höchste Form der Katharsis - dieses Wort hat für ihn noch durchaus religiöse Konnotationen - und die Vorbedingung für echte Erkenntnis.11 Nur wer sich bewußt ist, über eine Sache nicht oder doch nicht gründlich - Bescheid zu wissen, sucht nach weiterer Einsicht, und ernsthaftes Suchen ist die Vorbedingung des Findens. Der Philosoph ist kein Gelehrter, sondern ein Forscher, jemand, der Erkenntnis nicht besitzt, sondern sich um sie bemüht. Diese kritische Haltung gegenüber Wissensansprüchen ist nicht mit einer Erkenntnisskepsis zu verwechseln. Sie geht nicht davon aus, daß Erkenntnis unerreichbar ist, sondern daß sie schwer zu erreichen ist - insbesondere bzgl. der Fragen, für die sich die Philosophie interessiert. Philosophie ist also seit Sokrates eine wissenschaftskritische Instanz - „kritisch" heißt nicht „ablehnend", sondern „prüfend". Daher ist das eingangs zitierte Hegel-Wort so ärgerlich, Philosophie könne nun - mit ihrer Reformation durch Hegel - den Namen der Liebe zum Wissen ablegen und zum wirklichen Wissen werden. Philosophie sieht ihre Aufgabe immer wieder auch darin, das, worüber sich alle einig sind, was allgemein akzeptiert wird, was als selbstverständlich gilt oder als gesichertes wissenschaftliches Resultat, zu hinterfragen. Sie versucht, der verbreiteten Tendenz zur einseitigen Betrachtung entgegenzuwirken und das zu beleuchten, was jeweils auf der Nachtseite des öffentlichen Bewußtseins liegt. Sich wie Sokrates unter die Scharen der Gelehrten und Experten zu mischen, sie an der Jacke festzuhalten und ihnen begreiflich zu machen, wie wenig sicher das eigentlich ist, 11
Vgl. Sophistes 230d.
1.2 Themen und Aufgaben
13
was sie als gesicherte Forschungsergebnisse verkünden, erfordert allerdings viel Mut zur Unpopularität. Sicher: Nicht jeder Zweifel an wissenschaftlichen Voraussetzungen ist ein vernünftiger Zweifel, und allgemeine Erwägungen über die stets präsente Möglichkeit eines Irrtums können einzelne Uberzeugungen nicht erschüttern. Heute prägen wissenschaftliche Theorien und Prognosen unser Leben und Handeln aber sehr viel stärker als im alten Athen, und daher ist die Mahnung an die Experten zu selbstkritischer Haltung noch viel nötiger als damals. Auch heute wissen sehr viele Gelehrte sehr viel weniger, als sie zu wissen meinen, heute kann das aber weit schlimmere Folgen haben als damals. Würde Philosophie nichts anderes tun, als an der Selbstsicherheit der Sopboi ein bißchen zu kratzen, so wäre ihre Existenzberechtigung schon erwiesen. In den Schriften des Buddhismus wird von einem König berichtet, der alle Blindgeborenen seiner Residenz im Hofe des Palasts versammelte. Er ließ ihnen einen Elefanten vorführen und sagte: „Das ist ein Elefant." Dabei ließ er die einen den Kopf betasten, andere ein Ohr, einen Stoßzahn, den Rüssel, den Rumpf, einen Fuß, das Hinterteil, den Schwanz oder die Schwanzhaare. Dann fragte er sie: „Wie ist ein Elefant beschaffen?" Da sagten jene, die den Kopf betastet hatten: „Er ist wie ein Topf", die das Ohr betastet hatten: „Wie ein geflochtener Korb zum Schwingen des Getreides", die einen Stoßzahn betastet hatten: „Wie eine Pflugschaar", die einen Fuß betastet hatten: „Wie ein Pfeiler", und jene, die es mit den Schwanzhaaren zu tun gehabt hatten: „Wie ein Besen". Darüber gerieten sie dann in Streit und mit dem Ruf: „Der Elefant ist so und nicht anders!" schlugen sie sich gegenseitig mit den Fäusten - zum Ergötzen des Königs, wie es heißt. Die Einzelwissenschaften definieren sich durch spezielle Zuständigkeiten. Sie alle handeln zwar von der einen Wirklichkeit, haben es aber ausschließlich mit bestimmten Teilen oder Aspekten von ihr zu tun. Diese Spezialisierung ist zwar unvermeidlich und hat auch viele Vorteile, andererseits bewirkt die Verselbständigung der Wissenschaften eine zunehmende Entfernung voneinander, die zum Teil sogar soweit geht, daß ihre Theorien nicht mehr zueinander passen. Von einer Einheit des wissenschaftlichen
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Weltbildes, einer einheitlichen Landkarte der Wirklichkeit, deren verschiedene Regionen durch die einzelnen Disziplinen ausgefüllt werden, kann nicht die Rede sein. Wir haben viele, oft sehr detaillierte Kartenausschnitte, aber sie fügen sich manchmal so wenig zusammen wie Stücke verschiedener Puzzles. Die Theorien sind eben zur Beschreibung und Erklärung ganz verschiedener Phänomenbereiche entworfen worden, und für den einen Bereich kann sich eine Hypothese empfehlen, die für den anderen nicht paßt. In den Geisteswissenschaften und im Recht gehen wir z.B., ebenso wie im praktischen Leben, von menschlicher Freiheit aus; ohne die wären die Fragestellungen und Antworten dieser Disziplinen kaum sinnvoll. Im Weltbild der Naturwissenschaften ist aber für Freiheit kein Platz. Folgt man der Biologie und Physiologie, so ist der Mensch ein komplexer biologischer und letztlich physikalischer Apparat. Das paßt aber nicht zu dem erkennenden, planenden, handelnden Wesen, von dem Sprach- und Kulturwissenschaften reden. In theoretischen Fragen, welche die Außenwelt betreffen, können wir eine Zeitlang mit mehreren, miteinander unverträglichen Hypothesen leben in der Hoffnung, es werde sich später schon herausstellen, welche von ihnen richtig ist. Wo es um unser Selbstverständnis geht und um praktische Entscheidungen, die jetzt anstehen, ist das aber unmöglich. Wir können uns nicht als Zufallsprodukt der Evolution begreifen und zugleich eine besondere Würde des Menschen beanspruchen; wir können nicht Entscheidungsfreiheit leugnen und zugleich an die Verantwortung oder den Gerechtigkeitssinn anderer appellieren - wir können es nicht, wenn wir auch nur soviel Rationalität für uns beanspruchen wollen wie sie die Blindgeborenen bewiesen, als sie sich um die Wahrheit ihrer jeweiligen Vorstellungen vom Elefanten prügelten. Für ein kohärentes Verständnis des Ganzen bleibt also der Philosophie eine wichtige Aufgabe. Die Einzelwissenschaften können sie nicht erfüllen, denn ihre besondere Zuständigkeit für ihr Spezialgebiet wird mit ihrer Unzuständigkeit für alles andere erkauft. Die Zuständigkeit der Philosophie für das Ganze hatte früher einen Namen: Metaphysik. In Antike, Mittelalter und auch noch bis hin zu Kant galt sie als die höchste und wichtigste Disziplin, als Fundament für die anderen philosophischen Teildisziplinen wie
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Themen und Aufgaben
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für die Wissenschaften. Seit dem Beginn der Neuzeit ist sie jedoch zunehmend in Diskredit geraten. Als philosophische Fundamentaldisziplin wurde sie von der Erkenntnistheorie abgelöst, und diese Anfang des 20. Jahrhunderts von der Sprachphilosophie. In den 30er Jahren hat der Logische Positivismus sie für tot erklärt, tot ist heute aber der Positivismus, während die Metaphysik in den letzten zwei Jahrzehnten wieder aufgeblüht ist. In weiten Teilen der philosophischen Literatur hat das Wort „metaphysisch" freilich noch immer einen abfälligen Klang. Man ist noch dagegen, es fällt aber auf, daß man nicht so recht weiß, wogegen man eigentlich ist. Im Lauf der Zeit hat sich allerdings auch die Thematik der Metaphysik verschoben. Aristoteles hat die von ihm neu konzipierte Disziplin in den Büchern der erst später so genannten „Metaphysik" als Sophia (Weisheit), als Erste Philosophie und als Theologie bezeichnet. Die drei Bezeichnungen verbinden sich zunächst mit drei unterschiedlichen Bestimmungen: Sophia ist Wissen von den ersten Prinzipien und Gründen. Die Erste Philosophie handelt vom Seienden als solchen, von Begriffen und Unterscheidungen, die für alle Gegenstandsbereiche einschlägig sind wie etwa die fundamentalen Kategorien Gegenstand, Attribut und Sachverhalt. Gegenstand der Theologie endlich ist das Göttliche. 12 Es ist aber klar, daß alle drei Bezeichnungen dasselbe anzielen. Gott, der erste Beweger, ist ja bei Aristoteles der letzte Grund alles Seienden und sein höchstes Ziel, und da er die begriffliche Unterscheidung von Typen von Gründen zur Sophia rechnet, ergibt sich auch eine Überschneidung zwischen ihr und der Ersten Philosophie. Zur Zeit Christian Wolfs und Kants umfaßte Metaphysik die rationale Psychologie, Kosmologie und Theologie. Man kann daher wohl sagen, im Zentrum der Aristotelischen wie späterer Bestimmungen, stehe eine Konzeption von Metaphysik, nach der es in ihr um die Gesamtwirklichkeit in ihren allgemeinsten Grundzügen geht, um ihre ontologische Strukturen wie ihre Wirkzusammenhänge, seien sie kausal oder teleologisch. Für unser heutiges Verständnis stellt eine so verstandene Metaphysik keine eigene Teildisziplin der Philosophie dar, denn ihre Themen 12
Vgl. zu den drei Bestimmungen Metaphysik 1. Buch (A), 4. Buch (T) und 6. Buch (E).
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tauchen in allen Disziplinen auf. Die formale Ontologie rechnet man heute vielfach zur Logik, das Universalienproblem wird in der Philosophie der Mathematik abgehandelt, die rationale Theologie in der Religionsphilosophie, das Leib-Seele-Problem in der Philosophie des Geistes. Das Ganze der Wirklichkeit ist eben Thema der Philosophie als ganzer. Die beiden thematischen Richtungen der Philosophie: Grundlagen der Wissenschaften und das Ganze der Wirklichkeit, hängen zusammen. Grundlagenfragen sind in der Regel Fragen von hoher Allgemeinheit, und die Antworten einer Disziplin haben oft Implikationen, die weit über deren Gegenstandsgebiet hinausgehen. Die Standardinterpretation der Quantenmechanik, die Kopenhagener Deutung, stellt z.B. die Vorstellungen von Substanz und Kausalität infrage, die uns auf anderen Gebieten unverzichtbar erscheinen. In ihr spielt ferner der Beobachter eine wichtige Rolle. Daß er sich nicht als physikalisches System beschreiben läßt, das mit dem beobachteten System in Wechselwirkung steht, widerspricht der verbreiteten Auffassung vom Menschen als einem komplexen physikalischen System. Daher vor allem ist diese Interpretation bis heute umstritten, nicht wegen innerphysikalischen Schwierigkeiten. Die Autonomie der Einzelwissenschaften findet also ihre Grenze darin, daß ihre Konzeptionen zueinander passen und sich in ein Gesamtbild der Realität fügen müssen, und dazu kann und soll philosophische Grundlagenkritik beitragen. Bisher war nur von theoretischer Philosophie die Rede. Es gibt daneben aber eine praktische Philosophie, die sich - in einem weiten Sinn verstanden - mit Werten und Normen befaßt, mit der Erfahrung von Werten, moralischen wie ästhetischen, und der Begründung normativer Aussagen. Für dieses Gebiet ist die Philosophie allein zuständig und das ist ihr drittes großes, spezifisches Thema. Es ist allerdings umstritten, ob diese dritte Zuständigkeit sachlicher oder bloß formaler Natur ist. Eine sachliche Kompetenz besteht nur für den moralischen oder ästhetischen Realismus, der eigenständige Werttatsachen und normative Tatsachen annimmt. Für den Subjektivismus gehören diese Tatsachen hingegen in das Gebiet von Psychologie bzw. Soziologie. Ich werde in den letzten beiden Kapiteln für einen Wert- und Normenrealis-
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Themen und Aufgaben
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mus argumentieren. Setzen wir ihn hier schon einmal voraus, so bildet die Welt der Werte einen irreduziblen Teil der Realität, dem allein die Philosophie Rechnung trägt, denn alle anderen Fächer bekennen sich zur Wertfreiheit der Wissenschaft, sehen von Wertfragen also prinzipiell ab. Für Aristoteles war Metaphysik eine theoretische Angelegenheit. Aufgrund unseres engeren Verständnisses von „theoretisch" gilt das für uns nicht. Was mit dem höchsten Gut und dem Endziel des Universums zu tun hat, allgemein mit Wert- und Sinnfragen, zählt für uns nicht zur theoretischen, sondern zur praktischen Philosophie. Metaphysik umfaßt traditionell faktische wie Wertaspekte. In den großen metaphysischen Entwürfen der Vergangenheit - der Stoa z.B., des Neuplatonismus, der Scholastik und des Deutschen Idealismus - geht es immer auch um Sinn und Wert des Wirklichen. Sie sind nicht nur Weltbilder, sondern Weltanschauungen. Ein Weltbild ist eine theoretische Vorstellung vom Ganzen der Wirklichkeit. Es geht dabei nicht um Details der einzelnen Bereiche, sondern um größere Zusammenhänge, um die allgemeinen Strukturen und Prinzipien. Zu einem Weltbild gehören insbesondere Konzeptionen von Entwicklung und Aufbau des Universums, von Entstehung und Entfaltung des Lebens, ein Menschenbild, Vorstellungen über den Verlauf der Menschheitsgeschichte und der kulturellen Evolution. Im Gegensatz zu einem Weltbild ist eine Weltanschauung keine rein theoretische Angelegenheit. Sie betrachtet die Wirklichkeit nicht bloß aus dem Blickwinkel sachlichen Erkenntnisinteresses, sondern unter dem Aspekt ihrer Bedeutung für unser Leben - so jedenfalls wollen wir die Rede von „Weltanschauungen" hier verstehen. Das Wort „Weltanschauung" ist nun ebenso mit negativen Konnotationen belastet wie das Wort „Metaphysik". Eine Weltanschauung gilt als Ideologie, bestenfalls als Privatangelegenheit, die sich rationaler Diskussion entzieht. Uber ein wertneutrales Weltbild als eine rein theoretische Angelegenheit, „as a thing that crosses no man's ambition, profit or lust", wie Thomas Hobbes sagt 13 , kann man sich in der Tat leichter verständigen als über Werttatsachen oder Normen, die uns zu diesem oder jenem verpflichten. Wir wollen 13
Leviathan, Teil I, Kap. 11 (S. 50).
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uns hier aber jedenfalls den Subjektivismus nicht zu eigen machen, für den Werturteile rein subjektive Gründe haben und ohne sachliche Relevanz bleiben. Sagt man dann noch, eine Weltanschauung habe immer Standpunktcharakter, so ist das einerseits richtig, aber auch trivial: Ebenso wie ein Weltbild stellt sie die Wirklichkeit aus einer bestimmten Perspektive dar, ist Sichtweise von Subjekten und hängt als solche von den geistigen Voraussetzungen der Zeit und der Kultur ab, in der sie entsteht. Macht man sich eine Weltanschauung oder ein Weltbild zu eigen, so bezieht man einen Standpunkt zur Wirklichkeit, wie man das auch mit jedem Urteil tut, mit dem man eine bestimmte Auffassung der Sache vertritt. Versteht man die Rede von einem „Standpunkt" andererseits jedoch in dem negativen Sinn, den z.B. David Hilbert im Auge hatte, als er sagte: „Jeder Mensch hat einen bestimmten Horizont. Wenn dessen Radius gegen Null geht, nennt man das einen Standpunkt", so kann man Weltanschauungen nicht generell einen „Standpunktcharakter" unterstellen. Jeder Mensch hat eine mehr oder minder explizite Weltanschauung, auch Hilbert hatte eine. Das heißt aber nicht, daß unser aller geistige Horizonte zu „Standpunkten" in seinem Sinn degeneriert wären. Die negativen Konnotationen des Wortes „Weltanschauung" sind also bei dem Gebrauch, den wir hier von ihm machen, unberechtigt. Sie sind damit zweifellos nicht getilgt, aber wir haben im Deutschen kein passenderes Wort. Ich hatte gesagt, jeder habe eine Weltanschauung. Die Illusion, keine zu haben, ergibt sich nur, wenn man jene hat, die auch die anderen haben; dann fällt sie nicht auf. Jeder muß sich in den Grenzen dessen, was für sein Leben und Handeln wichtig ist, eine Vorstellung von der Welt machen, den Bedingungen, unter denen er lebt und handelt. Diese Vorstellungen brauchen nicht sehr umfassend oder detailliert zu sein. Es ist eine Sache des intellektuellen Interesses und der geistigen Fähigkeiten, auf ein umfassenderes und genaueres Verständnis der Wirklichkeit zu dringen. Gibt es objektive Maßstäbe für Gut und Schlecht, so ist es aber auch eine elementare Forderung der Rationalität, die eigenen Wertungen kritisch zu prüfen und sich eine Vorstellung vom tatsächlichen Wert der Dinge zu machen, mit denen man umgeht, vom Wert von Handlungen und Zielen. Man braucht sie, um sich im Leben zu
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orientieren. Dabei lassen uns die Einzelwissenschaften im Stich. Wer auch der Philosophie eine Zuständigkeit für praktische Fragen bestreitet, überläßt sie irrationaler Entscheidung. Wenn man heute, trotz der immer weitergehenden Aufsplitterung der Fächer, von einer Einheit der Wissenschaften spricht, bezieht man sich meist auf den Materialismus. Für ihn ist die Physik die grundlegende und im Prinzip auch umfassende Realwissenschaft. „The world is as physics says it is, and there's no more to say", sagt David Lewis. Da man die Entstehung und Evolution des Lebens in ihren Grundzügen physikalisch erklären kann und so im Bereich des Lebendigen keine eigenen Kräfte und Gesetze anzunehmen braucht, läßt sich Biologie im Prinzip auf Physik reduzieren. Das Gehirn als Träger psychischer und geistiger Vorgänge ist ferner ein im Verlauf der Evolution entstandenes physiologisches, in letzter Analyse physikalisches System. Daher müssen sich, meint man, seelisch-geistige Vorgänge grundsätzlich ebenfalls rein physikalisch erklären lassen. Soziale Gemeinschaften bestehen aus menschlichen Individuen, so daß man endlich auch die kulturelle Evolution durch das Verhalten der Individuen und damit letztlich wieder physikalisch erklären kann. Es gibt so eine umfassende Realwissenschaft, die Physik, und wenn wir demnächst über eine große vereinheitlichte Theorie der physikalischen Grundkräfte verfügen werden, haben wir damit im Kern auch eine einheitliche Theorie der Gesamtwirklichkeit, die dann in ihren Details von den Einzelwissenschaften, von der Kosmologie bis hin zur Geschichte, entfaltet wird. Der Materialismus ist kein Resultat der Physik, sondern eine philosophische These. Die Physik selbst behauptet nicht, sie sei für alle Wirklichkeitsbereiche zuständig. Die prinzipielle physikalische Erklärbarkeit organischen Lebens ist zwar eine gut gesicherte wissenschaftliche Annahme, die neurologische Erklärbarkeit des seelisch-geistigen Lebens hingegen ist bisher nur Programm. Ich werde im Abschnitt 6.2 sagen, warum ich dieses Programm für verfehlt halte, und warum das Geistige als gegenüber dem Physischen eigenständige, wenn auch nicht autonome Realität anzusehen ist. Unabhängig von diesen Argumenten gilt aber jedenfalls, daß für die Prüfung der Ansprüche des Materialis-
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mus die Philosophie zuständig ist. Die Neurowissenschaften können ja nur Korrelationen zwischen physiologischen Prozessen im Gehirn und psychischen Vorgängen aufweisen. Ob man von ihnen zu der Aussage übergehen kann, diese seelischen Vorgänge seien nichts anderes als die ihnen entsprechenden physiologischen, ist eine logische und wissenschaftstheoretische Frage. Der Materialismus ist die offizielle Doktrin unserer Tage. Er wird so allgemein akzeptiert, daß andere Ansichten oft ohne weitere Diskussion mit dem Hinweis auf ihre „Unwissenschaftlichkeit" abgewiesen werden.14 Wer ein umfassendes Weltbild haben will, scheint es, ist also schon gut bedient. Der Materialismus hat sich jedoch in den Diskussionen der letzten Jahrzehnte inhaltlich praktisch aufgelöst - man ist zwar noch Materialist, kann aber nicht mehr sagen, was das konkret bedeutet. In allen präzisierten Varianten hat er sich als falsch erwiesen.15 Der Materialismus ist nun nicht nur eine theoretische Angelegenheit, ein Weltbild, sondern durchaus eine weltanschauliche Doktrin, denn ein wesentlicher Bestandteil von ihm ist der Wertsubjektivismus, von dem schon die Rede war. Da in der Physik keine Werturteile vorkommen, gibt es für ihn keine objektiven Werttatsachen. Der Materialismus teilt also nicht etwa die Enthaltsamkeit der Physik und anderer Naturwissenschaften in Wertund Sinnfragen, er gibt dazu vielmehr sehr dezidierte Antworten und hat so auch handfeste praktische Implikationen. Er bestimmt unsere Sicht von Mensch und Welt, und damit unser Verhalten ihnen gegenüber. Er hat Konsequenzen für unser Selbstverständnis und die Konzeption menschlichen Denkens, Handelns und Lebens. Ich will das an einigen Punkten verdeutlichen. - Menschenwürde als Illusion. Nach den Vorstellungen der Antike und der Neuzeit kommt dem Menschen als einem geistigen, denkenden und erkennenden Wesen eine besondere, einzigartige Würde zu. Er allein ist durch seine Vernunft aus der physischen Welt herausgehoben und von den Fesseln ihrer „Not14
15
Vgl. z.B. O.J. Flanagan (1984), S. 20. Dort wird behauptet, allein der Materialismus sei „scientifically respectable". W o wertende Vokabeln Argumente ersetzen, ist immer Skepsis am Platz. Vgl. dazu wieder den Abschnitt 6.2.
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wendigkeit" jedenfalls partiell befreit. Besonders deutlich ist diese Konzeption bei Kant, der - ältere Ideen aufnehmend - vom Menschen als einem Bürger zweier Welten spricht, der deterministischen physischen Welt einerseits und der Welt geistiger Wesen andererseits. Für ihn ergibt sich menschliche Freiheit aus unserer intelligiblen Natur. Mit der Ablösung des cartesischen Dualismus durch den Materialismus verschwindet aber die Eigenart der Geistnatur. Der Mensch teilt 99 % seiner Gene mit dem Schimpansen, so daß die Annahme einer besonderen Menschenwürde jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehrt. Das heißt aber: Eine Ethik, die, wie jene Kants, auf dem Prinzip der Achtung vor der personalen Würde des anderen beruht, ist illusorisch, und unsere Verfassung, die in Art. 1 mit dem Satz beginnt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar", geht von einer Fiktion aus. - Freiheit als Illusion. Die heutige Physik ist zwar nicht deterministisch, sondern nimmt statistische Grundgesetze an, das heißt aber keineswegs, daß in ihrem Weltbild für menschliche Freiheit Platz wäre. Die Gesetze für Massenphänomene haben praktisch deterministische Gestalt. Wann ein bestimmtes Radiumatom zerfällt, läßt sich nicht vorhersagen. Es ist aber praktisch sicher, daß in der Halbwertszeit von 1600 Jahren genau die Hälfte von sehr vielen Radiumatomen zerfallen. Nun zeigt die Neurologie, daß an den Prozessen, die in unserem Gehirn bei Vorgängen des Denkens und planvollen Handelns ablaufen, eine sehr große Zahl von Neuronen beteiligt sind. Daher fallen hier quantenmechanische Unsicherheiten nicht ins Gewicht. Was wir denken, reden und tun, ist vielmehr kausal bestimmt. Wir sind physiologische Automaten. Es ist eine der Paradoxien der Aufklärung, daß sie einerseits unter dem Banner der Befreiung des Menschen aus seinen natürlichen wie politischen Abhängigkeiten angetreten ist, andererseits aber von Anfang an menschliche Freiheit geleugnet hat. Wohin die Reise für Materialisten geht, zeigt der Titel eines Buches des bekannten Verhaltensforschers B.F. Skinner: „Jenseits von Freiheit und Würde" (1973), in dem der Fortschritt der Menschheit in der Dressur des einzelnen zu sozialverträglichem Verhalten gesehen wird - wer dressiert, und wie er das tun soll, wenn auch er nicht frei handeln kann, bleibt jenseits des Horizonts des Autors.
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- Die Elimination der Moral. Der Materialismus vertritt auf moralphilosophischem Gebiet, wie gesagt, eine Position, für die es keine objektiven, sondern nur subjektive Werte gibt, die sich aus den Interessen von Individuen oder Gruppen ergeben. Für ihn gibt es auch keine objektiven Pflichten, sondern nur soziale Verhaltenskonventionen, deren Geltung allein darauf beruht, daß sie von den meisten Mitgliedern einer Gesellschaft meistens befolgt werden, während Verstöße gegen sie mit Sanktionen belegt sind. Damit verschwindet das Phänomen moralischer Verbindlichkeit, und die Ethik kann ihre traditionelle Aufgabe nicht mehr erfüllen, uns zu sagen, was wir tun sollen. Da mich schon meine eigenen Interessen zu nichts verpflichten, tun das jene anderer Leute erst recht nicht. An soziale Verhaltenskonventionen werde ich mich meist im Blick auf die damit verbundenen Sanktionen halten. Wenn es aber in meinem Interesse liegt, das nicht zu tun - sei es, weil der Vorteil den Nachteil der zu gewärtigenden Sanktionen überwiegt, sei es, weil mein Verstoß wahrscheinlich unentdeckt bleibt - , gibt es keinen rationalen Grund, einer Konvention zu folgen. - Der Sinnverlust. Stephen Weinberg, ein Nobelpreisträger für Physik unserer Tage, hat einmal gesagt: „Je begreiflicher uns das Universum wird, desto sinnloser erscheint es auch" 16 , und Jaques Monod, ein Biologe, schreibt: „Wenn er diese Botschaft [von allem Geschehen als Produkt von Zufall und Notwendigkeit] in ihrer vollen Bedeutung aufnimmt, dann muß der Mensch aus seinem tausendjährigen Traum erwachen und seine totale Verlassenheit, seine radikale Fremdheit erkennen. Er weiß nun, daß er seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen". 17 Unser Erkenntnishorizont hat sich seit dem 19. Jahrhundert explosionsartig erweitert. Es gibt heute detaillierte Theorien über das, was in der ersten 1040-tel Sekunde nach dem Urknall vor 15 Milliarden Jahren passiert ist. Die unsichtbar kleine Welt der Elementarteilchen und die unsichtbar große Welt kosmischer Dimensionen erschließen sich uns immer mehr. Der Verlauf der biologischen Evolution und der menschli·« Weinberg (1979), S. 212. » Monod (1971), S. 211.
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Orientierung im Denken
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chen Geschichte wird uns zusehends deutlicher. Mit dem theoretischen Horizont haben sich auch unsere technischen Möglichkeiten dramatisch erweitert. Zugleich hat sich unser Wert- und Sinnhorizont aber extrem verengt. Da sich die Wissenschaften als wertfrei verstehen, bieten sie uns keine Orientierung, und da sie unser Weltverständnis prägen, haben Werte und Normen ihr Fundament in der Realität verloren. Der Subjektivismus, der sich mit dem Materialismus verbindet, hat Werte und Normen endlich auf individuelle Interessen und soziale Konventionen relativiert. Die Gefährlichkeit dieser Kombination von moralischem Infantilismus und technischem Gigantismus wird uns zunehmend deutlich. Diese kurzen Hinweise sollen hier genügen. Sie zeigen schon, daß die Auseinandersetzung mit dem Materialismus heute eine der dringlichsten Aufgaben der Philosophie ist.
1.3 Orientierung im Denken Philosophie ist keine rein akademische Angelegenheit. Das ergibt sich schon daraus, daß es in ihr auch um praktische Fragen geht. Ethik war immer eine zentrale Disziplin der Philosophie, in der Stoa sogar die zentrale Disziplin. In ihr geht es nach Kant um die Frage „Was sollen wir tun?", nach der Stoa um das rechte, wahrhaft gute, erfüllte Leben. Es wäre nun ein totales Mißverständnis solcher Fragestellungen, wenn man sagen würde, Ethik sei die Theorie von Normen und Werten, von unseren Pflichten oder vom guten Leben. Wir wollen ja nicht bloß wissen, wie ein gutes Leben aussieht, sondern möchten ein gutes Leben führen. In ethischen Reflexionen wollen wir primär nicht unser Wissen erweitern, sondern Orientierung für unser Handeln gewinnen. Für Aristoteles geht es in der praktischen Philosophie zwar auch um Wissen, anders als in der theoretischen Philosophie ist es hier aber nicht Endzweck. Der ist vielmehr das sachgemäße, erfolgversprechende Handeln, und dafür ist Wissen nur Mittel zum Zweck. 18 Praktische Philosophie macht zwar Aussagen, für die sie Wahrheit reklamiert, die zentrale Frage ist aber nicht, was der Fall ist, son18
Vgl. Metaphysik
1025b25.
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dern wie wir uns angesichts dessen, was der Fall ist, verhalten sollen. Moralische Einsichten sind praktisch effektiv: Erkenne ich, daß von zwei Handlungsalternativen die erste moralisch richtig ist, die zweite hingegen falsch, so ist das für mich ein Grund, die èrste zu wählen. Daraus folgt nicht, daß ich sie auch tatsächlich vollziehe Willensschwäche oder starke persönliche Interessen können dem entgegenstehen - , aber ein Grund, sie zu wählen, ist die Erkenntnis für mich allemal. Die Aussage „Es ist mir schon klar, daß es moralisch richtig wäre, so zu handeln, aber warum sollte ich moralisch sein?" ist unsinnig - ähnlich unsinnig wie die Aussage „Es ist mir klar, daß es sich so und so verhält, aber warum sollte ich das glauben?" Etwas als wahr akzeptieren, heißt, es glauben. Etwas als moralisch richtig oder wertvoll akzeptieren, heißt, es auch für sich als verbindlich, als richtig bzw. wertvoll ansehen, sich daran orientieren. Normative Erkenntnisse sind also nicht nur Sachgründe, sondern Beweggründe, „Triebfedern", wie Kant sagt. In seinem Versuch über die Krankheiten des Kopfes von 1764 schreibt Kant: „Die Triebe der menschlichen Natur ... sind die Bewegkräfte des Willens; der Verstand kommt nur dazu, sowohl das ganze Fazit der Befriedigung aller Neigungen insgesamt aus dem vorgestellten Zwecke zu schätzen, als auch die Mittel zu diesem auszufinden". 19 Diese ältere, vorkritische Auffassung Kants ist die moderne: Vernunft für sich ist ohnmächtig; die Energien für unser Handeln stammen aus unseren Trieben und Interessen, und der Verstand hat bei ihrer Umsetzung in zweckdienliche Aktionen lediglich Steuerungsfunktion. Er kalkuliert den zu erwartenden Nutzen der möglichen Handlungsalternativen und zeichnet so jene aus, die im Sinn unserer Interessen in der gegebenen Situation optimal sind.20 Das ist die Zweck-Mittel-Rationalität, die einzige Art von Rationalität, die heute allgemein anerkannt wird. David Hume hat den Gedanken Kants drastischer ausgedrückt: „Reason is, and ought only to be, the slave of the passions, and can never pretend to any other office than to serve and obey them". 21 's Kant Werke hg. von W . Weischedel, Bd. II, S. 889. Vgl. dazu den Abschnitt 5.2. 21 Hume A Treatise of Human Nature, Buch 2,111,3. 20
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Orientierung im Denken
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Demgegenüber ist mit dem Kant der Kritik der praktischen Vernunft zu betonen, daß Vernunft auch zuständig ist für eine Wahl der Ziele und daß wir die Kraft haben, vernunftgemäß zu handeln. Schon eine Zweck-Mittel-Rationalität setzt im übrigen erstens voraus, daß wir über kohärente und alle subjektiven Wertaspekte berücksichtigende Präferenzen verfügen. Die haben wir aber nicht einfach, sondern wir müssen sie uns nach rationalen Kriterien bilden. 22 Zweck-Mittel-Rationalität setzt zweitens voraus, daß wir das als vernünftig Erkannte auch gegen widerstreitende Triebe und Neigungen durchsetzen können und die Kraft zu rationalem Tun haben, daß wir überhaupt vernünftig handeln wollen. Auch das Steuern von Antrieben erfordert ja Energien. Die Erfahrung, daß wir uns im Denken orientieren können, daß wir die Kraft und die Freiheit zur geistigen Selbstbestimmung haben, ist eine der Grunderfahrungen des Philosophierens seit Piaton. In dessen Dialog Protagoras sagt Sokrates: „Die meisten denken von der Erkenntnis ungefähr so, daß sie nichts Starkes, nichts Leitendes und Herrschendes ist. Sie achten sie auch gar nicht als solches, sondern meinen, daß, wenn auch Erkenntnis im Menschen ist, sie ihn doch oft nicht beherrscht, sondern irgend etwas anderes, bald Zorn, bald Lust, bald Unlust, manchmal Liebe, oft auch Furcht. So denken sie offenbar von der Erkenntnis wie von einem Sklaven, daß sie sich von allem anderen herumzerren läßt. Glaubst nun auch du so etwas von ihr, oder vielmehr, sie sei etwas Schönes, das wohl den Menschen regiere, und wenn einer Gutes und Schlechtes erkannt habe, werde er von nichts anderem mehr bezwungen werden, irgend etwas anderes zu tun, als was seine Erkenntnis ihm befiehlt, und Einsicht sei fähig, dem Menschen durchzuhelfen?" 2 3 Damit eine Orientierung durch Vernunft in diesem Sinn möglich ist, muß es freilich eine Erkenntnis objektiver Werttatsachen geben und Willensfreiheit, und beides ist höchst umstritten, wie wir sahen. Ich gehe darauf später ein, hier kommt es mir zunächst nur darauf an, daß Philosophie - gesetzt, diese Voraussetzungen sind erfüllt - keine bloß verstandesmäßige Angelegenheit ist, son22 23
Vgl. dazu 5.3. Protagoras, 352b3-c7.
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dern unser Leben prägen kann. Wenn man in diesem Sinn von einer „existentiellen Bedeutung" redet, so ist die weder auf die Ethik noch auf die Philosophie der menschlichen Existenz beschränkt. In der letzteren geht es um das Wesen des Menschen, die Chancen und Grenzen seines Lebens, um die alten Fragen, woher er kommt, wohin er geht und was seine Rolle im Universum ist, nach dem Sinn von Geschichte und menschlichem Leben. Philosophie der Existenz ist keine Spezialdisziplin, denn viele Fragen, denen die Philosophie nachgeht, haben Implikationen für unser Selbstverständnis. Existentiell bedeutsam wird Philosophieren nicht nur, wenn es nach dem Wesen des Menschen fragt, aber jedenfalls immer dann, wenn es das tut - und wenn es das im Bewußtsein tut, daß es das eigene Leben ist, das dabei in Frage steht. Philosophie der Existenz ist von Existenzphilosophie zu unterscheiden. Jene ist eine systematische Fragestellung, diese eine Strömung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In diesem Buch geht es weder um die Philosophie menschlicher Existenz noch um Existenzphilosophie. Was Philosophieren ist, versteht man jedoch nur, wenn man auch seine existentielle Bedeutung erfaßt, und die ist gegenüber dem akademischen Fachbetrieb vor allem von der Existenzphilosophie zur Geltung gebracht worden, wenn auch in etwas einseitiger Akzentuierung. Die Existenzphilosophie ist unter dem Eindruck des wissenschaftlichen Weltbilds unserer Tage entstanden, aus der Einsicht, daß die ungeheure Erweiterung unseres theoretischen Horizonts uns in der Frage nach dem Sinn des Ganzen wie unseres eigenen Lebens keinen Schritt voran gebracht hat. Ich habe oben schon Stephen Weinberg zitiert: „Je begreiflicher uns das Universum wird, um so sinnloser erscheint es auch". Gegenüber dem naturwissenschaftlichen Bild vom Menschen als Produkt der Evolution betont die Existenzphilosophie seine Einmaligkeit, die sich aus seiner Freiheit ergibt. Ihre wichtigsten Vorläufer sind Sören Kierkegaard und Friedrich Nietzsche. Für die Existentialisten findet der einzelne erst dadurch zu sich selbst und zu einem Leben aus dem Eigentlichen, zur „Existenz" in einem prononcierten Sinn, daß er sich für eine Lebensform entscheidet, für die es letztlich keine objektive Rechtfertigung mehr gibt. Erst in der Entscheidung für einen bestimmten Gebrauch
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unserer Freiheit in einer Welt, die gegenüber unseren Anliegen und unserem Tun gleichgültig ist, kommen wir zu uns selbst. Für die französischen Existentialisten wie Albert Camus, vollzieht sich Existenz vor allem im Protest gegen die Absurdität eines sinnbedürftigen Lebens in einer sinnlosen Welt. Allgemein versteht sich Existenzphilosophie als Auseinandersetzung des einzelnen mit seiner Situation, als Versuch einer Orientierung im Leben, als Reflexion, in der man sich seine Lage klar macht und seine zentralen Anliegen, um einen Weg zu finden, auf dem man auf ihre Erfüllung hoffen kann. Jeder muß sich dabei selbst orientieren, er kann sich seine Lebensziele nicht von anderen vorgeben lassen. Daher ist diese Reflexion primär eine Aktivität des einzelnen. Die Existenzphilosophie betont: Es gibt nicht das allgemeine Wesen des Menschen, aus der sich unsere Bestimmung und die rechte Lebensgestaltung ablesen läßt, wie das z.B. die großen philosophischen Entwürfe der Antike angenommen haben. Was wir sind, ergibt sich vielmehr maßgeblich erst aus unseren eigenen Entscheidungen. Das Resultat existenzphilosophischer Reflexionen ist daher keine Theorie, keine Antwort, die Anspruch auf Zustimmung durch jedermann erheben könnte. Da die Überlegungen darauf abzielen, mit sich selbst, der eigenen Situation und dem eigenen Leben ins Reine zu kommen, ist ihr Ergebnis nicht generalisierbar. Es geht nicht darum, welche Haltung zum Leben nach irgendwelchen objektiven Kriterien rational ist, sondern welche für mich im Blick auf meine für mich unverzichtbaren Anliegen und auf meine konkrete Situation vernünftig ist. Es gibt keine existentiellen Fragen, die sich allen Menschen stellen, sondern sie stellen sich einer bestimmten Person in einer bestimmten Lage. Wir alle wissen, daß wir sterben werden, aber der Tod macht uns nicht allen unser gegenwärtiges Tun fragwürdig. Solange man lebt, ist man noch nicht tot, und daher sind manche Menschen nie und die meisten meistens nicht gewillt, sich der Frage nach dem Tod und Endlichkeit des Lebens zu stellen. Nicht alle haben ein tieferes Verlangen nach einem objektiven, überpersönlichen Sinn ihres Lebens. Solange wir Erfolg haben, fragen wir meist nicht nach einem größeren Sinn. Wem sich eine existentielle Frage aber nicht im Ernst stellt, für den bleiben auch Antworten darauf ohne tieferes Inter-
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esse. Jede Analyse menschlicher Existenz, jeder Versuch, sich einen Reim auf die Ambivalenz von Größe und Elend des Menschen zu machen, ist nur von beschränkter Gültigkeit. Wir unterscheiden uns in dem, worauf es uns im Leben letztlich ankommt, und daher ist die Antwort, die dem einen genügt, für den anderen nicht akzeptabel. Es gibt zweifellos viele Gemeinsamkeiten der Lebenssituationen, in denen sich existentielle Fragen stellen, gemeinsame Erfahrungen und Anliegen. Daher können Antworten, die einer auf seine Fragen findet, durchaus auch von allgemeinerer Bedeutung sein. Sie lassen sich aber jedenfalls nur beschränkt verallgemeinern. Das Ziel existenzphilosophischer Überlegungen ist nicht, zu erkennen, woran sich jeder orientieren kann oder orientieren sollte, sondern woran man sich selbst halten kann und will. Die Existenzphilosophie betont die Unmöglichkeit einer Generalisierung ihrer Aussagen oft so stark, daß man sich gelegentlich doch fragt, was denn der Sinn einer Veröffentlichung nicht verallgemeinerbarer Einsichten sein soll. Bei dem Versuch, in die tiefsten Tiefen des eigenen Inneren hinabzusteigen, um die letzten Motive der Lebensentscheidung zu berühren oder den Sinn an einer transzendenten Realität festzumachen, sieht sich die Existenzphilosophie ferner veranlaßt, ins Unsagbare vorzudringen. Karl Jaspers, der das besonders stark betont hat, steht dennoch nicht an, in seiner Philosophie über 1016 Seiten hinweg darüber zu reden. Demgegenüber wollen wir es mit dem Grundsatz halten: Die Grenzen der Sprache sind die Grenzen der Philosophie, auch der Philosophie der Existenz; ein Gedanke, den ich nicht verständlich ausdrücken kann, hat auch für mich selbst keinen klaren Inhalt.2* Dabei ist freilich zu betonen, daß nicht auf allen Gebieten die gleichen Genauigkeitsanforderungen an Aussagen sinnvoll sind. Bei weltanschaulichen Themen eignet sich zudem nicht überall der rein darstellende, sachlich beschreibende Ausdruck von Gedanken. Geht es darum, die Wirklichkeit dem Erleben nahezubringen, eine bestimmte Sicht auf das existentiell Bedeutsame zu vermitteln, so ist oft eine Ausdrucksweise besser geeignet, die Bilder oder Metaphern verwendet und reich ist an wertgelade24
Vgl. dazu auch den Abschnitt 3.1.
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nen Konnotationen wie die Sprache der Dichtung. 25 Wissenschaftliche Präzision ist so nicht erreichbar, eine der Sache angemessene Klarheit aber durchaus, und Rückfragen nach dem Sinn der Aussagen bleiben auch hier nicht ausgeschlossen. Für Karl Jaspers war „echte Philosophie" keine Doktrin, sondern eine geistige Auseinandersetzung des einzelnen mit seiner Situation und der Versuch, sich durch Vernunft im Leben zu orientieren. N u n ist „echte Philosophie" sicher nicht nur Philosophie der Existenz. Echte Philosophie befaßt sich auch mit Sprache, Recht, Kunst und Religion, sie ist auch Logik, Wissenschaftstheorie oder Erkenntnistheorie. Denken ist aber jedenfalls nicht nur eine Aktivität des Intellekts. Auf manchen Gebieten sind wir vielmehr mit unserer ganzen Person engagiert, weil die Fragen für unser Leben bedeutsam sind. Das gilt, wie wir sahen, schon für die Ethik. Es gilt aber auch für den weiteren Bereich weltanschaulicher Fragen. Vernunft ist die Fähigkeit, sich im Denken zu orientieren, und das heißt nicht nur, sich die sachlichen Informationen zu beschaffen, die für unser Handeln wichtig sind, sondern auch die eigenen Haltungen und Einstellungen an dem auszurichten, was wir als gut und richtig erkennen. Piaton war der erste Philosoph, der über Wesen und Wert der Philosophie ausführlich nachgedacht hat. In seinen Dialogen kommt er immer wieder auf dieses Thema zu sprechen. Für ihn war die Beschäftigung mit Philosophie keine Selbstverständlichkeit. Nach seinen Äußerungen im 7. Brief wollte er sich zunächst politisch betätigen, also auf einen Gebiet, auf dem man, im landläufigen Sinn, etwas bewegen kann. Seinem Herkommen nach wäre das auch für ihn der naheliegende Weg gewesen. Er war sich der Problematik eines kontemplativen Lebens durchaus bewußt 26 , während z.B. für Aristoteles die Theoria fraglos jene Beschäftigung war, die dem Menschen als Vernunftwesen die höchste Erfüllung seines Lebens ermöglicht. Piaton hat ferner gesehen, wie abschrekkend der endlose philosophische Meinungsstreit auf viele wirkt, das unaufhörliche Hinundher der Argumente, und er hat die 25 26
Vgl. dazu den Abschnitt 7.1. Vgl. dazu Gorgias 484c-485e.
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Philosophie
destruktive Wirkung erkannt, die philosophische Kritik haben kann, wenn sie traditionelle moralische, rechtliche oder religiöse Vorstellungen in Frage stellt und damit ihre Verbindlichkeit gefährdet. Piaton hat endlich auch die Schwierigkeiten der schriftlichen Vermittlung philosophischer Einsichten und damit die Grenzen der Wirkungsmöglichkeiten der Philosophie gesehen.27 Das Bewußtsein von der Problematik der Philosophie ist ein konstanter Unterton seiner Dialoge, und es gibt seinem Engagement für sie erst die volle Uberzeugungskraft. Er war nicht jemand, der lediglich Spaß an dieser Art von Beschäftigung hatte, sondern er war von der Wichtigkeit der Sache für unser Leben zutiefst überzeugt. Für die Bedeutung der Philosophie hat er nicht mit intellektuellen, sondern mit praktischen Argumenten plädiert: Das Gelingen unseres Lebens hängt davon ab, daß wir uns an den richtigen Zielen orientieren und die rechten Mittel einsetzen. Dazu ist Erkenntnis notwendig, und die Dringlichkeit der Frage nach dem rechten Leben verlangt, daß wir uns dabei nicht mit bloßen Meinungen zufrieden geben. 28 Für Piaton war die Frage nach dem rechten Leben die zentrale Frage der Philosophie, die damit für ihn eine eminent praktische Bedeutung hatte. Dasselbe gilt für die Stoa, die einflußreichste philosophische Schule, die es je gab - sie hat von ca. 300 v.Chr. an für fünf Jahrhunderte das geistige Leben der Antike geprägt. Eine Beantwortung der Frage „Wie sollen wir leben?" setzt allerdings ein Wissen von der Natur des Menschen, seinen Möglichkeiten und seiner Stellung im Kosmos voraus, so daß der Ethik die Physik vorauszugehen hat und dieser als Organon philosophischer Erkenntnis die Logik. Beeindruckend an Piaton ist endlich die Weite seines geistigen Horizonts. Sie manifestiert sich in der Vielfalt der Themen, mit denen er sich beschäftigt hat - von der Ethik bis zur Kosmologie, von der Politik bis zur Logik, von sprachlicher Kommunikation bis zu erkenntnistheoretischen Fragen - , und dabei hat er mathematisch-logische Fragen ebenso kompetent erörtert wie konkrete Probleme menschlicher Existenz. Die Bedeutung, die Philosophie 27
28
Vgl. bes. Phaidros 27ÒC-277&, sowie 277c-278b, und den 7. Brief 341c344d. Vgl. Piatons Euthydem 278e-282d und Staat 608b.
1.3
Orientierung im Denken
31
für sein eigenes Leben hatte, wird z.B. im Höhlengleichnis im 7. Buch des Staates deutlich, das man durchaus auch autobiographisch lesen kann. 29 Will man die Dimensionen der Philosophie aufzeigen, so ist Piaton auch heute noch jene Gestalt, an der das am besten gelingen kann.
29
Vgl. Staat 514a-517a.
2
Erkenntnis
2.1
Wissen
Wir beginnen unseren Rundgang durch die Philosophie bei der Erkenntnistheorie. Sie befaßt sich traditionell nur mit empirischer Erkenntnis und untersucht deren Reichweite und Struktur - insbesondere die zwischen Realismus und Idealismus umstrittene Frage, ob sie sich als Erkenntnis einer von unserer Erfahrung und unserem Denken unabhängigen Realität verstehen läßt. Es geht in ihr ferner um Erkenntnismodelle, also z.B. die Kontroverse zwischen empiristischen, kritisch-rationalistischen und paradigmatischen Konzeptionen der Erkenntnis. Logisch-mathematische Erkenntnis wird in der Philosophie der Mathematik diskutiert, Werterkenntnis in Ästhetik und Ethik. Bevor man über Möglichkeiten und Grenzen empirischer Erkenntnis redet, sollte man sich zunächst einmal über den Erkenntnisbegriff verständigen, denn von ihm hängen diese Möglichkeiten und Grenzen natürlich entscheidend ab.1 Das Wort „erkennen" bezeichnet den Ubergang zum Wissen; jemand erkennt, daß es sich bei einem Schmetterling um einen Schwalbenschwanz handelt, wenn er das vorher nicht wußte und hinterher weiß. Wir können uns daher hier auf den Wissensbegriff konzentrieren. Die Normalform von Aussagen über Wissen ist: „Die Person X weiß im Zeitpunkt t, daß der Sachverhalt ρ besteht". Wissen ist also eine zeitabhängige Relation zwischen Personen und Sachverhalten. 2
1 2
Zum Wissensbegriff vgl. auch W . Lenzen (1978) und (1980). S. Schiffers Argumente gegen diese Ansicht in (1987), Kap. 3 sind offensichtlich unhaltbar; die Proposition, die ein Satz ausdrückt, ist keine Funktion der Extensionen der Satzteile.
2.1
33
Wissen
Die erste uns erhaltene Abhandlung über den Wissensbegriff ist Piatons Tbeätet,3 Dort werden drei Vorschläge für eine Explikation gemacht und verworfen - sie entsprechen in etwa unseren Vorschlägen (1) bis (3). Der Dialog endet aporetisch, und das gilt insofern auch für die folgende Erörterung, als sich dabei keine allseitig befriedigende Bestimmung des Wissensbegriffs ergeben wird. Wir gehen zunächst von zwei notwendigen Bedingungen für Wissen aus, die seit Piaton kaum bestritten sind: a) Wissen impliziert
Wahrheit
Da Regensburg nicht an der Isar liegt, kann man nicht wissen, daß das so ist, man kann es nur glauben. Wissen ist in diesem Sinn ein Leistungsverb: Wer etwas weiß, hat mit seiner Uberzeugung recht. b) Wissen impliziert
Überzeugung
Wer weiß, daß ein Sachverhalt besteht, ist davon auch überzeugt. Wer es nur vermutet, weiß es nicht. Ist sich ein Student, der gefragt wird, wann Sokrates gestorben sei, nicht sicher und antwortet auf gut Glück mit „399 v.Chr.", so hat er damit zwar recht, ein Wissen ist das deswegen aber noch nicht, auch wenn der Prüfer es als Wissen gelten lassen muß. Das Wort „Uberzeugung" verwende ich hier im Sinne maximaler subjektiver Gewißheit, von „Glauben" im stärksten Sinn - im Gegensatz zu „Vermuten", das nur besagt, daß man es für wahrscheinlicher hält, daß der fragliche Sachverhalt besteht, als daß er nicht besteht. Wahrscheinlichkeitstheoretisch gesprochen liegt also Uberzeugung bei einer subjektiven Wahrscheinlichkeit 1 vor, bei praktischer Sicherheit. Statt „überzeugt sein" sage ich im folgenden auch oft einfach „glauben". Wenn man nun die beiden notwendigen Bedingungen für Wissen (a) und (b) zusammen auch als hinreichend ansieht, kommt man zu einer ersten Explikation von „Wissen": 1) Die Person X weiß in t, daß p, genau dann, wenn a in t davon überzeugt ist, daßp, und ρ tatsächlich besteht. Kurz: Wissen ist korrekte Uberzeugung. Dieser Vorschlag wird schon im Theätet verworfen, und zwar mit einem Argument der folgenden Art:
3
Vgl. dazu E. Heitsch (1988).
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2
Erkenntnis
i) Hört ein Richter nur die Advokaten der Anklage und kommt daraufhin zur Uberzeugung, der Angeklagte sei schuldig, so weiß er das selbst dann nicht, wenn er damit recht hat. Von einem Wissen würden wir erst sprechen, wenn der Richter alle Zeugen gehört, sich ein Bild von ihrer Glaubwürdigkeit und Urteilsfähigkeit gemacht und zudem die vorliegenden Indizien sorgfältig geprüft hätte.4 Auch heute wird der Vorschlag (1) meist mit dem Argument verworfen, daß er einen zu weiten Wissensbegriff ergibt. Gegen ihn sprechen auch folgende beiden Beispiele: ii) Ein Hellseher ist fest davon überzeugt, daß in einem Jahr in San Francisco ein starkes Erdbeben stattfinden wird, das sich dann auch tatsächlich ereignet. Er hatte also eine richtige Uberzeugung, aber als „Wissen" würden wir das kaum bezeichnen. iii) Max schaut auf seine Uhr, sieht, daß sie 9 Uhr zeigt, glaubt daraufhin, daß es 9 Uhr ist, und hat damit auch recht. Seine sonst zuverlässige Uhr ist jedoch vor genau 12 Stunden stehen geblieben. Wir würden dann wohl nicht sagen, er wisse, daß es 9 Uhr ist, denn seine richtige Uberzeugung beruht auf einer falschen - daß seine Uhr korrekt funktioniert. Wäre diese vor 11 Stunden stehen geblieben, so hätte er geglaubt, es sei 10 Uhr. Sieht man Wahrheit und Uberzeugung nicht als hinreichend für Wissen an, so muß man noch eine dritte Bedingung hinzufügen. Mit der Frage, worauf sich diese Zusatzbedingung beziehen soll, beginnen nun die Kontroversen. Man kann die Bedingung auf den Wissensinhalt beziehen, auf die Art der Uberzeugung oder auf die Verbindung zwischen Realität und Uberzeugung. Unter dem ersten Aspekt wäre es, da es um einen allgemeinen Wissensbegriff geht, nicht sinnvoll, Wissen auf ein bestimmtes Gebiet zu begrenzen, z.B. auf mathematische oder direkt beobachtbare Sachverhalte. Besser ist da schon der Vorschlag, nur präzise formulierte Propositionen könnten Gegenstand des Wissens sein. Die Aussage „Er ist ungefähr 65" würde danach kein Wissen des Sprechers über das Alter von Helmut Kohl belegen. Es gibt 4
Piatons Beispiel ist zugleich eine Kritik an der athenischen Gerichtspraxis. Vgl. dazu Heitsch a.a.O., S. 135ff.
2.1
Wissen
35
aber, wie oben schon einmal bemerkt wurde, keine präzisen allgemeinen Bedingungen für Präzision. Die Aussage, ein Objekt sei karminrot, ist zudem zwar präziser als die Aussage, es sei rot, aber auch die letztere ist vollkommen korrekt, wenn natürlich auch weniger informativ als die erstere. Der Charakter einer Uberzeugung als Wissen hängt nicht von ihrem Informationsgehalt ab. Der erste Gesichtspunkt für eine Zusatzbedingung führt also nicht weiter. Folgt man dem zweiten, so bieten sich insbesondere drei Vorschläge an. Der erste beschränkt Wissen auf Evidenz. Es soll also gelten:
2) Jemand weiß, daß ein Sachverhalt besteht, wenn ihm das evident ist und der Sachverhalt auch tatsächlich besteht. Ein solcher Wissensbegriff wäre offenbar zu eng, weil man dann im empirischen Bereich nur wüßte, was man selbst wahrgenommen hat. Der Vorschlag gibt aber Anlaß zu einer Verständigung über den Begriff der Evidenz. 5 Es ist jemandem zu einem Zeitpunkt t evident, daß ein Sachverhalt p besteht. Evidenz ist also subjektiv, ebenso wie Glaube. Wir sagen zwar auch, ein Sachverhalt sei evident, ohne zu spezifizieren, für wen, das soll aber dann heißen, sein Bestehen sei jedermann evident, der darüber nachdenkt. Evidenz ist eine Form des Uberzeugtseins: Ist mir etwas evident, so bin ich davon auch überzeugt. Nicht jede Uberzeugung ist umgekehrt aber auch eine Evidenz. Ich bin z.B. davon überzeugt, daß Ramses II 1224 v.Chr. gestorben ist, evident ist mir das aber nicht. Ich habe das Büchern entnommen, und falls ich erfahren sollte, daß sie alle unzuverlässig sind, so würde mir das Todesdatum des Pharao problematisch werden. Evidenzen sind Überzeugungen, die sich nicht auf bestimmte andere Annahmen stützen. Wenn ich einen längeren und komplizierten Beweis eines mathematischen Satzes Schritt für Schritt geprüft habe, so ist es mir evident, daß der Beweis korrekt ist. Damit bin ich auch von der Wahrheit des Satzes überzeugt, es kann aber sein, daß sein Inhalt mir damit noch nicht evident geworden ist. Dann würde ich an der Wahrheit des Satzes zweifeln, 5
Vgl. dazu Kutschera (1981), 1.5. Piaton diskutiert statt (2) den Vorschlag, Wissen sei Wahrnehmung.
36
2 Erkenntnis
wenn man mir nachwiese, daß dieser spezielle Beweis doch nicht korrekt ist. Das wäre hingegen nicht der Fall, wenn mir sein Inhalt aufgrund des Beweises evident geworden wäre. Das heißt nicht, eine Uberzeugung, ein Sachverhalt ρ bestehe, stelle nur dann eine Evidenz dar, wenn sie von allen sonstigen Annahmen, die nicht von p logisch impliziert werden, unabhängig ist. Eine durchgreifende Revision meiner Annahmen auf dem betreffenden Gebiet könnte auch meine Evidenzen erschüttern. Von bestimmten Annahmen sollen diese aber jedenfalls nicht abhängen. Der Begriff der Evidenz ist danach freilich nicht scharf. Ein Standardbeispiel für Evidenzen sind Beobachtungen: Wenn ich beobachte, daß etwas der Fall ist, so ist es mir evident, daß es sich so verhält. Trotzdem würden Informationen über die Ungunst der Beobachtungsbedingungen oder über die Falschheit von Voraussetzungen, die ich ganz selbstverständlich bei der Interpretation meiner Eindrükke gemacht habe, meine Sicherheit erschüttern. Die Frage ist nun: Ist all das, was mir evident ist, auch wahr? Ich halte es natürlich für wahr, denn „glauben" heißt „für wahr halten". Die Erfahrung zeigt aber, daß ich mich auch mit Behauptungen irren kann, die mir evident waren. Selbst bedeutenden Mathematikern war gelegentlich etwas evident, das sich hinterher als falsch erwies, und im Alltag, wo wir meist weit unkritischer sind, passiert das sehr viel öfter. Es kann auch dem einen evident sein, daß ein Sachverhalt besteht, dem anderen, daß er nicht besteht. Daher liegt es nahe zu sagen: Evidenzen sind nicht generell zuverlässig, d.h. sie garantieren nicht Wahrheit. Es gilt also nicht: „Was jemandem evident ist, ist wahr", sondern nur: „Was jemandem evident ist, hält er für wahr". Man kann das Wort „evident" natürlich auch so verstehen, daß Evidenzen zuverlässig sind. Wegen der Irrtumsmöglichkeit gilt dann jedoch: Man kann sich bei der Annahme, etwas sei einem evident, immer irren. Damit verliert Evidenz den Charakter eines subjektiven Wahrheitskriteriums, und das Evidentsein eines Sachverhalts ist nicht weniger problematisch als sein Bestehen. Daher bleiben wir im folgenden bei jenem Evidenzbegriff, nach dem Evidentsein Wahrsein nicht impliziert. Man kann das auch so ausdrücken: Evidenz ist unproblematisch, aber nicht zuverlässig. Wir nennen dabei einen Sachverhalt/? unproblematisch für die Person X, wenn X sich nicht bzgl. des
2.1
Wissen
37
Bestehens von ρ irren kann, wenn also notwendigerweise gilt: Besteht p, so glaubt X das auch, und besteht ρ nicht, so glaubt X das. Man kann sich z.B. nicht über seine eigenen gegenwärtigen Uberzeugungen täuschen. Glaube ich etwas, so glaube ich auch, daß ich das glaube, und glaube ich etwas nicht, so glaube ich auch, daß ich das nicht glaube. Kommen wir nun auf den Wissensbegriff zurück und die Frage einer Zusatzbedingung für Wissen gegenüber dem Vorschlag (1). (2) war eine Möglichkeit, den Charakter der für Wissen spezifischen Uberzeugungen näher einzugrenzen. Eine zweite Forderung, die in diese Richtung zielt, besagt, jemand müsse gute Gründe für seine richtige Uberzeugung haben, damit man sie als „Wissen" bezeichnen kann. In allen drei Gegenbeispielen gegen den Vorschlag (1) ist diese Bedingung nicht erfüllt: Der Hellseher hat gar keine Gründe, der Richter keine ausreichenden und Max keine richtigen Gründe. Der Vorschlag ist dann 3) Wissen ist richtige Überzeugung, die sich auf gute Gründe stützt. Dagegen wird eingewendet: Begründungen haben ein Ende. Sie gehen von ersten Prämissen aus, die ohne Gründe akzeptiert werden müssen. Diese stellen also im Sinn von (3) kein Wissen dar. Es läßt sich aber nicht einsehen, wie Begründungen aus Nichtwissen Wissen erzeugen können. Die Konklusion eines Arguments kann keine höhere epistemische Dignität beanspruchen als seine Prämissen. Würde man hingegen fordern, ein Wissen liege nur dann vor, wenn es sich auf Gründe stützt, die ihrerseits gewußt werden, so wäre die Definition zirkulär und zudem wegen der Endlichkeit aller Begründungen leer.6 Zudem schließt (3) ein Wissen kraft Evidenz aus. Es ist daher besser, (3) zu ersetzen durch 3') Wissen ist wahre Überzeugung, für die der Betreffende gute Gründe beibringen kann. Dabei ist gemeint, daß er diese Gründe angeben kann, ohne weitere Nachforschungen anzustellen. Eine Begründung von A mit Β schließt eine Begründbarkeit von Β durch A in einem anderen 6
Ein ähnliches Argument spielt eine Rolle in Piatons Theätet, 206bl2.
201d8-
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2
Erkenntnis
Kontext nicht aus. Man braucht nicht zu fordern, daß jeder gewußte Satz entweder unmittelbar evident ist oder einen Stammbaum begründender Sätze hat, der ihn nicht selbst enthält. Es genügt, daß die Annahmen sich gegenseitig stützen. Nach (3) wie (3') ist die richtige Uberzeugung von Max im Beispiel (iii) kein Wissen, wenn man die Richtigkeit der guten Gründe fordert, denn seine Uhr ist tatsächlich nicht zuverlässig. Das Beispiel läßt sich aber so abändern, daß die Uhr nicht nur nach Maxens Ansicht, sondern auch tatsächlich korrekt funktioniert; Max soll das aber nun aufgrund der falschen Annahme glauben, seine Uhr funktioniere immer zuverlässig, während sie in Wirklichkeit oft falsch geht, ohne daß Max das bisher bemerkt hat. Der Einwand, eine wahre, begründete Überzeugung, die sich nicht auf Gründe stützt bzw. stützen läßt, die wiederum ein Wissen darstellen, sei auch selbst kein Wissen, bleibt so bestehen.7 (3') ist also problematisch, entspricht aber zweifellos dem normalen Sprachgebrauch recht gut. Das gilt auch für die dritte Forderung zur Einschränkung von (1), nach der die Uberzeugung intersubjektiven Standards der Rationalität entsprechen muß: 4) Wissen ist richtige, nach intersubjektiven Standards der Rationalitätgewonnene Überzeugung.8 Die Überzeugungen des Hellsehers und des Richters sind nicht auf rationalem Weg gewonnen. Dagegen ist Maxens Überzeugung, es sei 9 Uhr, zweifellos auf rationale Weise zustande gekommen, denn es ist durchaus vernünftig, den Zeitangaben einer Uhr zu vertrauen, die sich in der Vergangenheit als zuverlässig erwiesen hat, sofern man keinerlei Anhaltspunkte dafür hat, daß sie gegenwärtig nicht korrekt funktioniert. Daß unser Gegenbeispiel (iii) als Fall von Wissen anerkannt wird, ist ein erster Einwand gegen (4). Ein weiteres Problem besteht darin, daß die Standards der Rationalität nicht präzise definiert sind. Ein Argument z.B., bei dem die Prämissen sehr wahrscheinlich sind und nach dem die 7
8
Zu diesem Problem gibt es eine lange Diskussion in der modernen Literatur, die von dem Aufsatz von E. Gettier (1963) ausgeht. Sein Grundgedanke findet sich aber, wie gesagt, schon im Theätet. Im Englischen spricht man auch von warranted belief; damit kann aber (3) wie (4) gemeint sein.
2.1
Wissen
39
Konklusion aufgrund der Prämissen ebenfalls sehr wahrscheinlich ist, ist ein guter Grund, die Konklusion zu akzeptieren. Wahrscheinlichkeiten lassen sich aber nicht rein rational auszeichnen.9 Die Vernünftigkeit eines solchen Arguments hängt von Vorurteilen ab, von denen wir zwar allgemein ausgehen, die sich aber nicht überzeugend rechtfertigen lassen. Man kann die fraglichen Wahrscheinlichkeiten zudem meist nicht exakt angeben und daher auch nicht genau sagen, welche Argumente den Rationalitätsstandards genügen. Allgemein bilden solche Standards keinen festen Kanon, nach dem sich Wissensansprüche definitiv entscheiden lassen. Sie wandeln sich und sind auch heute umstritten. Im späten Mittelalter gab es z.B. allgemein anerkannte Kriterien für Hexen, Beweisgründe für die Annahme ihres Flugs auf Besenstielen oder ihres Verkehrs mit dem Teufel. Man müßte auch erkennen können, daß geltende Rationalitätsstandards unzulänglich sind, und das ist nach dem Vorschlag (4) nicht möglich. Er bringt daher die Gefahr einer Immunisierung der Rationalitätskriterien mit sich. Dennoch entspricht auch dieser Vorschlag dem normalen Verständnis des Wortes „Wissen" recht gut. Er schließt den Vorschlag (3') ein, wenn man gute Gründe als rationale Gründe auffaßt. Der dritte Gedanke für eine Zusatzbedingung gegenüber dem Explikationsvorschlag (1) lief darauf hinaus, eine Verbindung zu fordern zwischen der Uberzeugung und der Tatsache, auf die sie sich bezieht. In diese Richtung zielt insbesondere die Kausale Erkenntnistheorie. Sie geht davon aus, daß bei einer Wahrnehmung das wahrgenommene Ereignis einen subjektiven Eindruck bewirkt, und damit die Uberzeugung des Wahrnehmenden vom Stattfinden des Ereignisses. Bei Wahrnehmungen glauben wir also nicht nur etwas und haben damit recht, sondern wir glauben etwas, weil es so ist. Der Vorschlag lautet also: 5) Xweiß, daßp, genau dann, wenn das Bestehen von ρ unter den gegebenen Bedingungen die Ursache der Überzeugung von X ist, daß ρ besteht. Damit sich Wissen nicht nur auf direkt Wahrgenommenes bezieht, muß man dann auch Kausalketten zwischen Tatsachen
9
Vgl. dazu 2.2.
40
2
Erkenntnis
und Überzeugungen von ihnen konstruieren, die über Erinnerungen laufen, über Argumente und evtl. auch über Informationen, die man von anderen erhält. Man müßte sogar einen kausalen Zusammenhang angeben zwischen der Identität 2 + 2 = 4 und unserer Uberzeugung, daß sie besteht, was doch ziemlich aussichtslos ist. Der Vorteil der Theorie bestünde allerdings darin, daß sie auch mit dem schwierigen Fall (iii) fertig würde: Zwischen der tatsächlichen Uhrzeit und dem Glauben von Max, es sei 9 Uhr, besteht keine kausale Verbindung; die ist durch das Stehenbleiben der U h r unterbrochen. Es lohnt sich jedoch nicht, auf diese Theorie näher einzugehen, denn sie versagt schon im Fall direkter Wahrnehmung: Wenn ich eine schwarze Katze vor Augen habe, bewirkt das einen Eindruck von einer schwarzen Katze, aber nicht die Uberzeugung, daß da eine schwarze Katze ist. Der Eindruck mag noch so klar und lebendig sein, der Ubergang von ihm zur Annahme ist ein Akt, den ich sowohl vollziehen als auch unterlassen kann. 10 Die Stoiker haben ihn als Akt der Synkatathesis (adsensio), der Zustimmung bezeichnet. Normalerweise führt der Eindruck zur Annahme: „So ist es". Es kann aber auch sein, daß ich gute Gründe habe anzunehmen, daß sich dort, wo eine zu sein scheint, keine Katze befinden kann, oder daß es sich um ein Plüschtier handelt. Dann werde ich die Annahme nicht, oder doch nicht ohne nähere Prüfung machen. Eindrücke bewirken also von sich aus keine Uberzeugungen. Uberzeugungen drücken sich in Urteilen aus, und das sind freie Akte des Verstandes. Generell besteht die Schwäche des Gedankens, für Wissen eine nicht bloß konjunktive Verbindung zwischen Uberzeugungen und den Tatsachen, auf die sie sich beziehen, zu fordern, darin, daß das Bestehen von Sachverhalten in der Außenwelt nach deren realistischem Verständnis prinzipiell unabhängig ist von unseren diesbezüglichen Überzeugungen. Die Außenwelt ist gerade so definiert, daß diese Unabhängigkeit besteht. 11 Während z.B. meine Überzeugungen bzgl. meines eigenen, gegenwärtigen Glaubens für mich unproblematisch sind, es also analytisch unmöglich ist, 10 11
Das hat schon Piaton im Theätet betont, vgl. 184b-186e. Vgl. dazu den Abschnitt 2.3.
2.1 Wissen
41
daß ich überzeugt bin, etwas zu glauben, ohne es tatsächlich zu glauben, kann ich mich mit meinen Uberzeugungen bzgl. der Außenwelt grundsätzlich immer irren. Aus einem Fürwahrhalten folgt hier kein Wahrsein, noch gilt das Umgekehrte. Es gibt daher keine generellen analytischen Zusammenhänge zwischen Wahrheit und Überzeugung, und da es auch keine kausalen gibt, wird man kaum ein passendes Band zwischen beiden finden. Unsere Suche nach einer rundherum befriedigenden Explikation des Wissensbegriffs ist so erfolglos geblieben. Man kann auch nicht erwarten, daß eine für erkenntnistheoretische Zwecke passende Erklärung dem alltäglichen Gebrauch des Wortes „wissen" genau entspricht. Für diese Zwecke kommt man mit der schlichten Definition (1) aus. Sie ergibt zwar einen sehr weiten Wissensbegriff, er enthält aber jedenfalls die beiden zentralen Komponenten: Wahrheit und Uberzeugung. Keine der beiden Komponenten ist steigerungsfähig, weder Wahrheit als objektive, noch Uberzeugung als subjektive Komponente. Wahrer als wahr geht es nicht, und sicherer als ganz sicher kann man sich auch nicht sein. Alle Zusatzbedingungen haben sich aber als problematisch erwiesen. Die Wege, auf denen wir zu einer Uberzeugung gelangen, sind oft verschlungen. Für andere sind sie meist nicht kontrollierbar, und auch wir selbst können darüber vielfach keine Rechenschaft geben. Das entscheidende Kriterium für die Beurteilung von Wissensansprüchen ist für uns daher die Wahrheit. Die Fragen „Warum glaubst du das?" oder „Woher weißt du das?" stellen wir in der Regel nicht, wenn wir kontrollieren wollen, ob die Uberzeugung des anderen eine bestimmte, wissensadäquate Qualität hat - das interessiert vor allem Prüfer oder Psychologen - , sondern wenn uns selbst das Bestehen des fraglichen Sachverhalts zweifelhaft ist und wir erfahren wollen, ob der andere Gründe hat, die auch uns überzeugen. Es geht uns dabei also um Informationen, die uns helfen, die Wahrheit einer Behauptung zu beurteilen. Daher werde ich im folgenden von „Wissen" meist im schlichten Sinn des Vorschlags (1) reden, obwohl - um das nochmal zu betonen - die Vorschläge (3') und (4) dem normalen Sprachgebrauch besser entsprechen.
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Erkenntnis
Die Erkenntnisskepsis besagt: Es gibt kein Wissen. Im Sinn des Vorschlages (1) würde das bedeuten: Alle Uberzeugungen sind falsch. Das kann der Skeptiker aber erstens nicht feststellen, denn mit Wahrheit ist für ihn auch Falschheit unerreichbar, und zweitens kann der eine glauben, daß ein Sachverhalt/? besteht, ein anderer hingegen, daß nicht-p besteht, und es kann nicht sowohl ρ wie auch nicht-p falsch sein. Es ist zweifellos möglich, daß alles, was ich jetzt glaube und was aus logischen Gründen überhaupt (zusammen) falsch sein kann, auch tatsächlich falsch ist. Daraus ergibt sich jedoch kein Argument für eine Skepsis und kein tiefes philosophisches Rätsel.12 Zunächst führt ja die Einsicht, daß etwas möglicherweise nicht so ist, noch nicht zu einem Zweifel daran, daß es so ist. Daß ich FK heiße, ist nicht notwendig. Es ist also möglich, daß ich nicht FK heiße, aber ein Zweifel an meinem Namen ergibt sich daraus noch nicht. Für alethisch möglich halten, also z.B. für analytisch oder naturgesetzlich möglich, ist etwas völlig anderes, als etwas in dem Sinn für möglich halten, daß man es nicht völlig ausschließt, also nicht überzeugt ist, es sei nicht so.13 Nur wenn man es nicht für ausgeschlossen hält, daß etwas nicht so ist, hat man Zweifel daran, ob es so ist. Im übrigen ergibt sich aus den bereits angeführten Prinzipien „Wenn man etwas (nicht) glaubt, so weiß man, daß man es (nicht) glaubt", daß man nicht schlechterdings alle kontingenten Sachverhalte in Zweifel ziehen kann - wenn ich zweifle, weiß ich jedenfalls, daß ich zweifle. Der entscheidende Punkt an derartigen „Rätseln" ist, daß alles in Frage gestellt wird, was man verwenden könnte, um sie aufzuklären. Wenn jemand z.B. an der Beweiskraft aller Argumente zweifelt, kann man ihn argumentativ nicht mehr davon überzeugen, daß diese Zweifel in vielen Fällen zu unrecht bestehen. Es müssen aber nicht nur Behauptungen, sondern auch Zweifel 12
Eine universelle Erkenntnisskepsis läßt sich nicht argumentativ verteidigen. Sie ist nicht als rationale Position, sondern nur als grundsätzliches Erkenntnismißtrauen ernstzunehmen. Vgl. dazu Kutschera (1981), 1.7.
13
Einen Sachverhalt ρ für möglich (d.h. möglicherweise bestehend) halten, ist also je nachdem durch „glauben, daß p (alethisch) möglich ist" oder durch „nicht glauben, daß ρ nicht besteht" wiederzugeben.
2.1
Wissen
43
begründet werden, wenn sie relevant sein sollen. Ähnlich unsinnig ist eine generelle Sinnskepsis, die behauptet „Alle Aussagen sind bei näherem Zusehen so vage, daß sich ihnen nicht eindeutig ein Wahrheitswert zuordnen läßt", oder die Erinnerungskepsis, die grundsätzlich die Verläßlichkeit aller Erinnerungen in Frage stellt, und damit auch alle Argumente in Zweifel zieht, da sie sich in mehreren Schritten vollziehen und man beim zweiten schon unsicher sein kann, ob denn der erste korrekt war. Solche „Rätsel" werden uns noch wiederholt begegnen, stellen aber keine ernsthaften Herausforderungen dar, denn vom absoluten epistemischen Nullpunkt aus, in dem schlicht alles in Zweifel gezogen wird, kann man argumentativ kein Land mehr erreichen. Ernstzunehmende Zweifel müssen sich auf vernünftige Gründe stützen und können damit nicht universell sein. Die Erkenntnisskepsis bezieht sich in der Regel jedoch nicht auf den schlichten Wissensbegriff nach (1), sondern auf anspruchsvollere Begriffe, insbesondere auf Begriffe perfekten Wissens. Ich bezeichne einen Wissensbegriff als Begriff perfekten Wissens, wenn für ihn gilt: *) Es ist unmöglich, sich mit Wissensansprüchen zu irren, d.h. zu glauben, man wisse etwas, ohne es tatsächlich zu wissen. Wir alle haben schon manches zu wissen geglaubt, was sich hinterher als falsch erwiesen hat. Daher rechnen wir mit der Fallibilität unserer Wissensansprüche. Der normale Wissensbegriff ist also nicht perfekt, d.h. kein Begriff perfekten Wissens. Wenn wir etwas glauben, so sind wir uns zwar subjektiv sicher, daß es so ist, aber wir halten es durchaus für möglich, daß sich später herausstellt, daß es eben nicht so ist. Dieser Fallibilität sollen wir nun enthoben sein, wenn wir es mit echtem Wissen zu tun haben - das ist die Idee, die hinter perfekten Wissensbegriffen steht. Man drückt das oft so aus: „Wahres Wissen ist untrüglich". Diese Formulierung ist aber unsinnig: Da nach (a) jedes Wissen Wahrheit impliziert, ist Wissen immer untrüglich in dem Sinn, daß es unmöglich ist, etwas zu wissen, was tatsächlich nicht so ist. Wir können uns aber natürlich irren bei der Uberzeugung, etwas zu wissen - nach (1) liegt dieser Fall vor, wenn wir glauben, daß ein Sachverhalt besteht, obwohl er tatsächlich nicht besteht. Bei „echtem", d.h.
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Erkenntnis
perfektem Wissen soll hingegen der Glaube, etwas zu wissen, schon eine Wahrheitsgarantie enthalten. Da man ferner nicht etwas wissen kann, ohne sich dieses Wissens bewußt zu sein, d.h. ohne zu glauben, daß man es weiß, gilt die Umkehrung von (*) für alle Wissensbegriffe. 14 Sachverhalte perfekten Wissens sind daher unproblematisch, denn man wird auch annehmen, daß man entweder glaubt, zu wissen, daß das und das der Fall ist, oder glaubt, das nicht zu wissen. 15 Auf eng beschränkten Gebieten gibt es tatsächlich unfehlbare Uberzeugungen. Wir sahen schon: Glaube ich, etwas zu glauben, so glaube ich es auch, und glaube ich, etwas nicht zu glauben, so glaube ich es auch nicht. Bzgl. gegenwärtiger eigener Überzeugungen fällt also Glauben mit Wissen zusammen, und zu wissen Glauben mit Wissen. Ahnliches gilt für einfache analytische Sätze: Ich kann mich nicht irren mit meiner Überzeugung, daß eine Konjunktion A-und-B nur dann gilt, wenn sowohl A wie Β gilt - so verstehe ich eben, und so verstehen wir allgemein und-Verbindungen. Beides sind aber nun gerade ziemlich uninteressante Fälle. Wir werden im Abschnitt 2.3 sehen, das es keine analytischen Beziehungen zwischen Sachverhalten der Außenwelt und solchen des auf sie bezogenen Glaubens gibt; die Beschaffenheit der Außenwelt ist unabhängig von unseren Annahmen über sie. Begriffe perfekten Wissens haben also nur einen sehr beschränkten Anwendungsbereich, und daher ist die These der Erkenntnisskepsis fast richtig, wenn man sie auf perfektes Wissen bezieht allerdings ist sie dann auch fast ohne Interesse. Was sich als notwendigerweise wahr erkennen läßt, wie die Theoreme von Logik und Mathematik, läßt sich mit größerer Sicherheit behaupten als das, was kontingenterweise gilt, denn für die Erkenntnis des Kontingenten sind wir auf Erfahrungen mit ihren UnZuverlässigkeiten angewiesen. Gewißheit more mathe14
15
Für den Wissensbegriff nach (1) folgt das aus dem Gesetz „Was man glaubt, glaubt man auch zu wissen" das wiederum aus „Glaubt man etwas, so glaubt man es auch zu glauben" folgt. Daraus folgt mit (*): „Wer nicht weiß, glaubt auch, nicht zu wissen", mit dem genannten Prinzip „Wer weiß, glaubt auch zu wissen" dann das Unproblematischsein eigenen, gegenwärtigen Wissens.
2.1
Wissen
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matico hat als Ideal lange Zeit den Erkenntnisbegriff in der Philosophie bestimmt, z.T. bis hin zum Deutschen Idealismus. Für Leibniz etwa waren alle wahren Sätze analytisch wahr, wobei er allerdings betont hat, daß wir als endliche Intelligenzen keine Beweise mit unendlich vielen Prämissen führen können, so daß wir nur die analytische Geltung gewisser wahrer Sätze, der - in seinem Sinn - notwendigerweise wahren, einzusehen vermögen. Für ihn heißt also eine Tatsache erkennen, ihre Notwendigkeit, ihre analytische Geltung erkennen. Auch für Kant ist „wahre" Erkenntnis mit der Einsicht der Notwendigkeit des Erkannten verbunden.16 Es sind oft zwei Argumente, die zu einem Begriff der Erkenntnis einer Tatsache als Einsicht ihrer Notwendigkeit führen - Notwendigkeit wird dabei nicht als naturgesetzliche, sondern als analytische oder „metaphysische" Notwendigkeit verstanden. Das erste Argument schließt aus der Tatsache, daß Wissen notwendigerweise Wahrheit impliziert, fälschlich auf „Wissen impliziert notwendige Wahrheit". Das zweite ist uns schon oben begegnet. Es schließt aus der Tatsache, daß wir, wenn wir etwas wissen, also jedenfalls korrekterweise glauben, es korrekterweise nicht für möglich halten, daß es nicht so ist. Was unmöglich nicht so ist, ist aber notwendigerweise so. Wenn wir wissen, daß p, glauben wir also korrekterweise, daß ρ notwendig ist; also ist ρ notwendig. Wissen gibt es daher nur von Notwendigem. In diesem Argument wird jedoch von „für ausgeschlossen halten, daß ρ nicht besteht" (im Sinn von „glauben, daß es nicht der Fall ist, daß nicht-p") fälschlich geschlossen auf „glauben, daß es alethisch unmöglich ist, daß ρ nicht besteht". Es würde im übrigen wenig nützen, nur dann zu sagen, jemand wisse, daß p, wenn er erkennt, daß ρ notwendigerweise gilt. Denn auch bzgl. Notwendigkeiten sind wir nicht unfehlbar. Bei einiger logischer Schulung und Sorgfalt irren wir uns zwar meist nicht bzgl. der Geltung analytischer Sachverhalte, Irrtümer sind aber auch hier keineswegs ausgeschlossen. 16
Da Erfahrung keine solche Einsicht liefert, ist alle echte Erkenntnis für Kant apriorisch. Eine Entwertung empirischer Erkenntnis hat sich seit Piaton oft mit diesem Wissensideal verbunden.
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Erkenntnis
Grundsätzlich müssen wir uns - zumindest in allen interessanten Fragen - mit der Fehlbarkeit unserer Uberzeugungen, etwas zu wissen, abfinden. Eine Behauptung, mit der wir uns nicht sicher sind, d.h. eine bloße Vermutung, bezeichnen wir nach (b) nicht als „Wissen". Die subjektive Sicherheit oder Gewißheit liegt schon im Begriff der Uberzeugung: Wir sind von etwas nur dann überzeugt, wenn wir keine Gründe haben, daran zu zweifeln. Das schließt nicht aus, daß wir es für (alethisch) möglich halten, daß wir diese Überzeugung später einmal aufgeben und das Gegenteil anerkennen werden. Wir kennen nur jetzt keine Tatsache, von der wir annehmen könnten, sie würde uns einmal bewegen, die Überzeugung aufzugeben. Da wir das, was wir jetzt glauben, für wahr halten, schließt eine gegenwärtige Überzeugung, daß ein Sachverhalt besteht, allerdings die Annahme aus, wir würden (nicht: wir könnten) später einmal erkennen, daß er nicht besteht. Zum Abschluß dieses Abschnitts noch ein paar kurze Worte zum Wahrheitsbegriff. Man wendet das Prädikat „wahr" primär auf Sätze an, genauer: auf Aussagesätze. Ein solcher Satz, wie z.B. „Schnee ist weiß", drückt einen Sachverhalt aus und ist genau dann wahr, wenn dieser Sachverhalt besteht. Das ist der Inhalt der sog. Wahrheitskonvention von Alfred Tarski. 17 „Schnee ist weiß" ist ein sog. ewiger Satz. Der Wahrheitswert, d.h. die Wahrheit oder Falschheit, eines ewigen Satzes hängt nicht von den Umständen seiner Äußerung ab - davon, wer ihn wann und wo und gegenüber wem behauptet. Der Wahrheitswert des Satzes „Ich bin froh" hängt hingegen von den Umständen seiner Äußerung ab, denn zu verschiedenen Zeitpunkten oder im Munde verschiedener Sprecher kann der Satz einmal wahr und einmal falsch sein. Im folgenden meine ich mit „Sätzen" meist ewige Sätze, um unnötige Komplikationen zu vermeiden. 17
Danach hat die Aussage „Der Satz .Schnee ist weiß' ist wahr" denselben Wahrheitswert wie die Aussage „Der Schnee ist weiß". Deswegen von einer Redundanztheorie der Wahrheit zu reden, wie man das oft tut, ist aber nicht gerechtfertigt. Erstens ist der Sinn der beiden Aussagen nicht immer derselbe, und zweitens ist das Prädikat „wahr" nach der Konvention nicht immer entbehrlich.
2.1
Wissen
47
Die Tarskische Konvention legt den Gebrauch des Prädikats „wahr" in Anwendung auf Sätze fest. Sie ist neutral gegenüber erkenntnistheoretischen und metaphysischen Positionen. Man kann sie daher nicht ohne weiteres mit der Adäquations- oder Korrespondenztheorie der Wahrheit gleichsetzen, die eine Entsprechung zwischen der Proposition als dem Satzsinn und den realen Gegebenheiten fordert, auf die sich der Satz bezieht, bzw. eine adaequatio intellectus ad rem, eine Angleichung des Gedankens an die Sache. Das Problem dieser Theorien ist zu erklären, wie denn die Entsprechung zwischen Gedanke und Realität aussehen muß, wenn von Wahrheit die Rede sein soll. 18 Aus anderen Gründen unbrauchbar sind Konventions- und die Kohärenztheorie der Wahrheit. Nach der ersten soll Wahrheit eine Sache der Konvention sein, nach der zweiten in der Verträglichkeit mit gewissen anderen Sätzen bestehen. Man muß jedoch Sinn- von Geltungsfragen unterscheiden. Ein Satz mag aufgrund einer Konvention wahr sein oder weil er aus bereits als wahr akzeptierten Sätzen folgt, aber damit wird nichts darüber ausgesagt, was es heißt, wahr zu sein. Daß ein Satz wahr ist, heißt, daß er eine Tatsache ausdrückt, einen Sachverhalt, der tatsächlich besteht. Das beinhaltet die Tarski-Konvention, und da man in jedem Fall ein Wort braucht, mit dem man zutreffende Behauptungen bezeichnet und „wahr" normalerweise so verstanden wird, führen Konventions- und Kohärenztheorie nur zu dem Einwand, es könne doch nicht wieder Sache der Konvention bzw. der Verträglichkeit sein, ob ein Satz durch eine Konvention tatsächlich ausgezeichnet ist oder ob er mit anderen Sätzen verträglich ist. Man bezeichnet nicht nur Sätze als wahr oder falsch, sondern auch Urteile, Uberzeugungen, Vorstellungen oder Eindrücke. In dieser allgemeinen Verwendung charakterisieren die Wörter „wahr" und „falsch" kognitive Zustände von Personen oder ihre Äußerungen danach, ob sie die Realität korrekt wiedergeben, auf die sie sich beziehen. Es wäre unsinnig zu sagen „Ich glaube fälschlich, daß das und das der Fall ist" oder „Es verhält sich tatsächlich anders, als ich das glaube". „Glauben" heißt eben „für wahr halten". Glauben ist wahrheitsorientiert, d.h. wir versuchen, uns unsere Annahmen so 18
Zum Verhältnis Proposition - Sachverhalt vgl. a. das nächste Kapitel.
2
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Erkenntnis
zu bilden, daß sie das Wahre treffen, daß sie den Tatsachen gerecht werden. Wissen ist erfolgreiches Glauben. Daher glauben wir auch, zu wissen, w o v o n wir überzeugt sind. A u s diesem G r u n d ist der Wahrheitsrelativismus unhaltbar, nach dem man nicht einfach sagen kann, eine Behauptung oder Meinung sei wahr, sondern immer nur, sie sei für diese oder jene Person zu dieser oder jener Zeit wahr. E s gibt danach nicht die eine objektive Wahrheit, sondern nur viele subjektive Wahrheiten. D e r Wahrheitsrelativismus ist eine These über den Sinn des Wortes „ w a h r " . Im normalen Sprachgebrauch heißt „glauben" aber soviel wie „für wahr halten", während die Aussagen „Ich glaube, daß es schneit" und „Ich glaube, daß ich glaube, daß es schneit" nicht s y n o n y m sind. Wir akzeptieren ferner meist das Prinzip der Bivalenz der Sätze, d.h. daß jeder Satz wahr ist oder falsch - ein Drittes gibt es nicht. M a n nimmt jedoch von niemandem an, für jeden Satz sei er von dessen Wahrheit oder von dessen Falschheit überzeugt. D a s müßte aber nach dem Wahrheitsrelativismus gelten.
2.2 Drei epistemische Utopien Dienten die Darlegungen des letzten Abschnitts der Vorverständigung über einige wichtige Begriffe und Sachverhalte, so geht es in diesem Abschnitt nun u m Einsichten, die für alles folgende insofern bestimmend sind, als sie Grenzen unserer Erkenntnismöglichkeiten aufweisen. Im allgemeinen ist es problematisch, solche Grenzen anzugeben, denn unser Wissen erweitert sich oft in unvorhersehbarer Weise. Hier geht es aber nur u m drei Erkenntnisideale, die sich leicht als definitiv utopisch erkennen lassen. D i e erste U t o p i e ist das fundamentalistische Erkenntnisideal. 1 9 Was man heute in der Erkenntnistheorie als „Fundamentalismus" bezeichnet und w o v o n man sich mit dieser Bezeichnung auch schon distanziert, ist jene Erkenntniskonzeption, an der sich fast die gesamte Philosophie von Aristoteles bis Kant orientiert hat. Ihre D o m i n a n z zeigt sich besonders deutlich darin, daß sich die Skepsis v o n A n f a n g an allein gegen die Möglichkeit fundamentali19
Vgl. dazu ausführlicher Kutschera (1993a), 5.1.
2.2 Drei epistemische Utopien
49
stischer Erkenntnis richtete, also davon ausging, Erkenntnis gebe es, wenn überhaupt, nur im Sinne dieser Konzeption. Das Vorbild des Fundamentalismus war die Mathematik, denn in ihr hat sich zuerst die Möglichkeit von sicheren, unbezweifelbaren Einsichten und stringenten Beweisen eröffnet. Am Beginn des S.Jahrhunderts v.Chr. war die Klage über die Unfähigkeit des Menschen, zuverlässige Erkenntnis zu erreichen, ein fester Topos der griechischen Dichtung. Allein die Götter verfügten über sichere Erkenntnis, hieß es, wir Menschen hingegen seien auf Vermutungen angewiesen, die sich immer wieder als falsch erwiesen; wir könnten nichts wissen und unsere Suche nach Wissen bliebe vergeblich. So sagt Theognis: „Wir raten vergeblich herum, wissen aber nichts". In der Mathematik eröffnete sich nun jedoch auch dem Menschen die Möglichkeit von Erkenntnis mit einer gewissermaßen göttlichen Sicherheit: Ausgehend von einfachen, evidenten Axiomen wie etwa: „Zu je zwei Punkten gibt es genau eine Gerade, auf der sie liegen", ließen sich die Theoreme der Geometrie streng logisch beweisen. So ist es kein Wunder, daß die Mathematik zum Vorbild der Philosophie wie anderer Wissenschaften wurde. Und als man am Beginn der Neuzeit an eine Neubegründung von Philosophie und Wissenschaften ging, war wiederum die Mathematik das Leitbild, auf das sich z.B. Hobbes, Descartes, Spinoza und Leibniz explizit bezogen haben. Das fundamentalistische Erkenntnismodell besteht aus einem Erkenntnisbegriff und einer These. Wie wir im letzten Abschnitt gesehen haben, versteht man unter „Wissen" oft eine richtige und begründete Uberzeugung. Die Schwierigkeit besteht dann darin, daß jede Begründung von Voraussetzungen ausgeht, den ersten Prämissen des Arguments, die selber nicht begründet werden. Die Prämissen stellen also kein Wissen im angegebenen Sinn dar, sondern bestenfalls wahre Uberzeugungen. Was aus nicht Gewußtem abgeleitet wird, kann aber kein Wissen sein. Würde man fordern, daß auch sie ein Wissen darstellen, also begründet sind, so würde das zu einem infiniten Regress der Begründungen führen. Dieser Regress endet nur, falls die ersten Prämissen evident sind und keiner weiteren Begründung bedürfen. Das ist der Ansatzpunkt für eine fundamentalistische Bestimmung des Wissens: Wissen ist eine wahre und durch selbst nicht mehr begründungsbedürftige Sätze
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Erkenntnis
begründete Überzeugung - eine wahre, „letztbegründete" Überzeugung, wie man oft sagt. Das also ist der fundamentalistische Erkenntnisbegriff. Die These des Fundamentalismus ist dann, daß es solche Erkenntnis gibt, und das heißt insbesondere: Es gibt Sätze, die einer Begründung nicht bedürftig sind, die evident sind und keinen vernünftigen Zweifel an ihrer Geltung zulassen. Solche Sätze bilden das Fundament, die Basis aller echten Erkenntnis. Das fundamentalistische Erkenntnisideal ist zwar anspruchsvoll, aber attraktiv. Denn danach lassen sich erstens Erkenntnisansprüche streng kontrollieren: Man kann prüfen, ob eine angebliche Letztbegründung tatsächlich von evidenten, zweifelsfreien Prämissen ausgeht, und ob die Schlußfolgerungen aus diesen Prämissen logisch korrekt sind. Zweitens gibt es einen sicheren Erkenntnisfortschritt. Es kann nicht passieren, daß die Grundlagen unserer Theorien durch neue Erfahrungen erschüttert werden. Die Basissätze sind ja in sich evident, ihre Geltung hängt nicht von Voraussetzungen ab, ist also auch nicht durch künftige Beobachtungen gefährdet. Auch das, was aus ihnen logisch folgt, bleibt bestehen. Die Basis kann so nur durch neue Einsichten erweitert werden, oder wir können erkennen, daß weitere Sätze aus den Basissätzen folgen. Letztbegründete Erkenntnis ist also kumulativ. Das Programm ist also verheißungsvoll, leider aber undurchführbar. Die wichtigsten Einwände gegen den Fundamentalismus ergeben sich schon aus den Überlegungen des letzten Abschnitts: 1) Die Evidenz eines Satzes qualifiziert satz im Sinn des Fundamentalismus
ihn noch nicht als Basis-
Evidenz ist keine Wahrheitsgarantie. Davon war schon im letzten Abschnitt die Rede. Wenn mir etwas evident ist, habe ich zwar keine Zweifel, daß es sich so verhält, es ist aber keineswegs ausgeschlossen, daß sich in Zukunft Gründe ergeben, die dagegen sprechen. Es gibt zwar Evidenzen, die sich vernünftigen Zweifeln entziehen, wie z.B. die Tatsache, daß ich gegenwärtig existiere. Eine Beschränkung auf das, was sich nicht mehr vernünftig in Frage stellen läßt, führt jedoch zum nächsten Einwand. 2) Unbezweifelbare
Sätze bilden eine zu schmale
Basis
Man kann natürlich jeden Satz anzweifeln, relevant sind jedoch allein begründete Zweifel, also Argumente dafür, daß der fragliche
2.2
Drei epistemische Utopien
51
Satz - nennen wir ihn A - nicht gilt. „Unbezweifelbarkeit" ist also zu verstehen im Sinn von: „Es ist nicht möglich, ein korrektes Argument für nicht-A anzugeben". Ist A wahr, so gibt es zwar kein korrektes Argument für nicht-A mit faktisch wahren Prämissen, Wahrheit ist aber für die Basissätze zu wenig. Die faktische Wahrheit von A schließt ja nicht aus, daß es Argumente für nicht-A gibt, deren Prämissen wir guten Glaubens akzeptieren. Es ist also zu fordern, daß aus den Prämissen jedes korrekten, deduktiven Arguments für nicht-A etwas Unmögliches folgt. Das heißt dann aber: A muß analytisch wahr sein. Fordert man die Unbezweifelbarkeit, also die analytische Wahrheit aller Basissätze, so ist diese Basis jedoch zu schmal, denn aus analytisch wahren Sätzen folgen nur wieder analytisch wahre Sätze, also nichts über die spezielle Beschaffenheit der realen Welt. Nun ist freilich jedermann auch seine eigene, gegenwärtige Existenz unbezweifelbar, obwohl es nicht analytisch wahr ist, daß er existiert. Die Unbezweifelbarkeit des Satzes „Ich existiere" für mich selbst liegt daran, daß - wie Descartes betont hat - mein Zweifeln mein Existieren voraussetzt - jemand, der nicht existiert, kann auch nichts bezweifeln. Da die Existenz anderer für uns durchaus bezweifelbar ist, eignet sich der Satz „Ich existiere" jedoch nicht für eine intersubjektive Basis. Entsprechendes gilt für meine eigenen Sinneseindrücke, die der Phänomenalismus als letztes Fundament ansieht - der Phänomenalismus ist der Versuch, Aussagen über die Außenwelt durch solche über eigene Sinneseindrücke zu begründen. Mit analytisch wahren Sätzen und Sätzen über meine eigenen, gegenwärtigen Eindrücke und mentalen Zuständen oder Akte ist aber im wesentlichen auch schon das erschöpt, was in der Philosophie als Basis für einen fundamentalistischen Aufbau der Erkenntnis angeboten worden ist. 3) Der fundamentalistische
Wissensbegriff ist zu eng
Ein weiterer Punkt der Kritik am Fundamentalismus ist, daß er einen Wissensbegriff verwendet, der sehr viel enger ist als der normale und damit das, was gewußt werden kann, zu stark beschränkt. Im normalen Sinn ist Wissen keine letztbegründete wahre Überzeugung. Der Wissenschaftler weiß, was er nach den Methoden
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2
Erkenntnis
seines Faches festgestellt hat, der Student, was er der anerkannten Fachliteratur entnommen hat - sofern es richtig ist. Ich weiß, daß ich zwei Beine habe, obwohl ich dafür keine Letztbegründung angeben kann. Für diesen normalen Wissensbegriff gilt, wie wir gesehen haben, nicht, daß wir uns in unseren Wissensansprüchen, nicht irren können. Er ist kein Begriff perfekten Wissens. Der Wissensbegriff des Fundamentalismus ist hingegen perfekt: Ich kann nur glauben, in seinem Sinn zu wissen, daß etwas der Fall ist, wenn ich glaube, dafür eine Letztbegründung zu haben. Bzgl. der Frage, ob ein Argument eine Letztbegründung ist, soll ich mich aber nicht irren können. Der Fundamentalismus strebt ein sicheres Wissen an, ein Wissen nicht nur, das Wahrheit garantiert - das gilt ja für Wissen in jedem akzeptablen Sinn - , sondern ein Wissen, bzgl. dessen Vorliegen man sich nicht irren kann. So ein Wissen gibt es aber nicht einmal in der Mathematik, wie z.B. die zunächst verborgenen Widersprüche der naiven Mengenlehre gezeigt haben, also nicht einmal für das Vorbild des Fundamentalismus. Vom Grundgedanken des Fundamentalismus, dem eines strengen Aufbaus der Erkenntnis auf einem sicheren Fundament, ist auch der Empirismus geprägt. Er ist meist das Ziel antifundamentalistischer Kritik, so wie sie heute in der Wissenschaftstheorie vorgetragen wird. Der Empirismus geht freilich von einem weiteren Wissensbegriff aus und sieht als Basis Beobachtungssätze an. Ein Beobachtungssatz ist eine Aussage, die prinzipiell durch endlich viele direkte Beobachtungen entscheidbar ist, wie z.B. „Dieser Stab ist länger als jener" oder „Der Zeiger der Waage steht auf dem Nullpunkt der Skala". Beobachtungssätze sind von Sätzen der Beobachtungssprache zu unterscheiden. Die Beobachtungssprache soll nur Namen für direkt beobachtbare Dinge wie Steine, Tische oder Personen enthalten und Prädikate für direkt beobachtbare Attribute. Beobachtungssätze sind Sätze der Beobachtungssprache, aber nicht jeder Satz der Beobachtungssprache ist ein Beobachtungssatz - der Satz „Alle Raben sind schwarz" ist z.B. ein Satz der Beobachtungssprache, aber kein Beobachtungssatz, weil er sich nicht durch endlich viele Beobachtungen schwarzer Raben entscheiden läßt, solange immer neue Raben zur Welt kommen. Beobachtungssätze sind nun zwar nicht unbe-
2.2 Drei epistemische Utopien
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zweifelbar, es sind vielmehr kontingente Sätze, bzgl. deren Geltung wir uns, z.B. aufgrund von Sinnestäuschungen, irren können. In der Regel brauchen wir damit aber nicht zu rechnen; sie gelten also mit praktischer Sicherheit. Das gilt insbesondere für Aussagen über das, was man in den Wissenschaften als „Phänomene" bezeichnet, denn als solche zählen nur im Experiment reproduzierbare Ereignisse oder solche, die sich von jedermann beobachten lassen. Im Gegensatz zur phänomenalistischen Basis hat die empiristische den großen Vorzug, intersubjektiv zu sein: Beobachtungsmäßige Feststellungen lassen sich von anderen kontrollieren, denn die Natur ist der gemeinsame Gegenstand unserer Erfahrungen. Eine zusätzliche Liberalisierung, mit der man sich noch mehr dem annähert, was üblicherweise als wissenschaftliche Erkenntnis gilt, besteht darin, neben deduktiven auch induktive Begründungen zuzulassen. Eine induktive Begründung des Satzes A durch Sätze Bl,...,Bn ist ein Argument dafür, daß die Wahrscheinlichkeit von A bei Annahme von B i ,...,B n hoch ist, wobei vorausgesetzt werden kann, daß die Sätze B l ,...,B a alle zusammen wahr - oder jedenfalls wahrscheinlich wahr - sind. Eine induktive Begründung ergibt für den begründeten Satz zwar nicht immer die (subjektive) Wahrscheinlichkeit 1, vermittelt also nicht immer die Uberzeugung, daß er wahr ist, auch kleinere Wahrscheinlichkeiten sind aber kognitiv wichtig. Der Empirismus behauptet nun, daß sich synthetische Urteile allein mit Erfahrungen rechtfertigen lassen, genauer: daß sie sich mit wahren Beobachtungssätzen deduktiv oder induktiv begründen lassen. Gegen ihn werden vor allem folgende Argumente vorgebracht: 4) Das
Induktionsproblem
Wie H u m e gezeigt hat, lassen sich induktive „Schlüsse" als Extrapolationen von vergangenen Beobachtungen auf künftige, oder von Exemplaren einer Art auf andere Exemplare derselben Art nicht als deduktive Schlüsse rechtfertigen. Man kann sie zwar im Rahmen der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie als bedingte Wahrscheinlichkeitsaussagen legitimieren, aber nur bei bestimmten Voraussetzungen über die apriori-Bewertung, d.h. jene Wahr-
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Erkenntnis
scheinlichkeitsbewertung, von der man ausgeht.20 Die Geltung induktiver Begründungen hängt also von subjektiven Vorurteilen ab. Es lassen sich aber weder rationale, noch empirische Kriterien für die Auszeichnung dieser oder jener Anfangsbewertung angeben. Das ist der Kern des sog. „Neuen Rätsels der Induktion" von Nelson Goodman.21 Wir orientieren uns also bei induktiven Verallgemeinerungen oder Voraussagen immer an vorgängigen Annahmen, wir lassen uns von Vorurteilen leiten, die sich selbst nicht mehr rechtfertigen lassen, sondern Mittel der Rechtfertigung anderer Annahmen sind. Ohne Vorurteile kein Lernen aus der Erfahrung. 5) Die Tbeoriebeladenheit der Erfahrungen Auch in beobachtungsmäßige Feststellungen gehen unbegründete Antizipationen ein. Der empiristischen Idee nach sollen sie durch Sätze ausgedrückt werden, die durch einfache, direkte Beobachtungen entscheidbar sind und nicht auf zusätzlichen Hypothesen beruhen. Selbst bei einfachen Messungen machen wir aber Voraussetzungen. Stellen wir z.B. durch Abtragen eines Meterstabes auf zwei Strecken deren gleiche Länge fest, so setzen wir voraus, daß der Meterstab beim Transport seine Länge nicht verändert, und das können wir offenbar nicht wieder durch Messungen mit dem Meterstab überprüfen. Wenn ich ferner eine Beobachtung so beschreibe, daß da eine Katze auf der Wiese sitzt, so setze ich voraus, daß andere mögliche Deutungen meiner Beobachtung, daß es sich z.B. um ein Plüschtier handelt oder um ein Exemplar einer bislang unbekannten Spezies, das aussieht wie eine Katze, aber Eier legt oder sich von Gras ernährt, höchst unwahrscheinlich sind. Man spricht in der Wissenschaftstheorie von einer Tbeoriebeladenheit der Erfahrungen. Das heißt: Beobachtungsmäßige Feststellungen erfolgen im Lichte vorgängiger Annahmen oder Erwartungen, und sind daher nicht sicherer als diese. Ohne Vorurteile keine Erfahrung, also sind selbst einfache Beobachtungssätze keine brauchbare Basis im Sinn des Empirismus. Sie beruhen auf Vorausset20
21
Vgl. dazu Kutschera (1981), 9.4. - Eine bedingte Wahrscheinlichkeitsaussage ist ein Satz über die Wahrscheinlichkeit des Eintreffens eines Ereignisses unter bestimmten Voraussetzungen. Vgl. dazu Kutschera (1978).
2.2
Drei epistemische Utopien
55
zungen, die sich immer als falsch erweisen können. N o c h deutlicher ist die Theoriebeladenheit im Fall komplexeres physikalischer Experimente. Wir sagen z.B., daß wir in einer Nebelkammer die Bahn eines Elektrons beobachten. Dabei setzen wir aber Theorien darüber voraus, daß geladene Teilchen durch Ionisierung in der Kammer die Tröpfchenspur erzeugen, die wir sehen, sowie Theorien, die besagen, wie Elektronen von Magnetfeldern abgelenkt werden. Entscheidend ist aber die Theoriebeladenheit schon einfacher Beobachtungen. Man kann auch von einer Theoriebeladenheit unserer Sprache reden und sagen, daß die Theoriebeladenheit der Erfahrungen teilweise durch die sprachliche Formulierung ihrer Inhalte entsteht. Die enge Verbindung von Sprache und Weltsicht hat zuerst Wilhelm von Humboldt betont. 22 Verschiedene Sprachen sind für ihn nicht nur verschiedene Instrumente zur Beschreibung der einen Welt, sondern mit ihnen verbinden sich verschiedene Auffassungen der Realität. Eine Sprache ist kein neutrales Beschreibungsmittel, Beschreiben heißt vielmehr immer schon Deuten. Man kann nicht sauber unterscheiden zwischen der Bedeutung eines Wortes wie „Katze" und unseren Annahmen über Katzen. Man versteht das Wort nicht, wenn man nichts über Katzen weiß, über ihr Aussehen und Verhalten, und man kann nicht all jene Sätze als Bedeutungswahrheiten ansehen, die man für wahr halten muß, um das Wort zu verstehen. Euklidische wie nicht-euklidische Geometrien reden von „Geraden" und „Ebenen", aber diese Wörter haben in diesen Theorien verschiedene Bedeutungen, die sich aus den Axiomen als Grundannahmen über das ergeben, was die Wörter bezeichnen. Man kann also die Sätze, die im Sinn des Empirismus die Basis der Erkenntnis bilden sollen, nicht so formulieren, daß sie nicht mehr voraussetzen, als sie beinhalten, d.h. eben nicht als Sätze, die von anderen Annahmen unabhängig sind. Schon in der Blütezeit des Logischen Empirismus hat ihm Karl Popper sein Erkenntnismodell des Kritischen Rationalismus entgegengestellt. 23 Darauf will ich hier jedoch nicht eingehen, denn 22 23
Vgl. dazu 3.1. Vgl. insbesondere Popper (1934) und (1963).
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Erkenntnis
auch das ist heute weitgehend vom paradigmatischen Erkenntnismodell verdrängt worden, das Thomas Kuhn in seinem Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1962) entwickelt hat. Der zentrale Begriff seiner Analysen ist der des Paradigmas. Darunter versteht er zunächst einfach eine fundamentale Theorie, wie etwa die klassische Mechanik oder die Evolutionstheorie, die im normalen Wissenschaftsbetrieb nicht Gegenstand, sondern Mittel wissenschaftlicher Untersuchungen ist, also zu Erklärungen oder Voraussagen verwendet und lediglich auf neue Bereiche angewendet oder durch Spezialgesetze für gewisse Anwendungsbereiche erweitert wird. Die Resultate von Messungen und Experimenten werden im Licht dieser Theorie gedeutet, sie werden mit ihren Begriffen und im Sinn ihrer Annahmen interpretiert. 24 In einem umfassenderen Sinn des Wortes gehört zu einem Paradigma hingegen nicht nur eine oder mehrere Theorien, sondern auch die Sprache, in der sie formuliert sind, mit ihrem Begriffssystem, es zählen dazu Hintergrundannahmen und Erwartungen, Methoden, Rationalitätskriterien, Argumentationsformen, sowie Zielvorstellungen und Ideale wissenschaftlicher Erkenntnis. Die Pointe Kuhns ist, daß es nur in einem Paradigma Begründungen, Erklärungen und eindeutige Beschreibungen von Phänomenen gibt, daß nur relativ zu ihm von bestimmten Beobachtungsresultaten die Rede sein kann. Das wird besonders deutlich, wenn eine Phase normaler Wissenschaft, in der man sich in einem bestimmten Paradigma bewegt und es die Grundlage der Forschung bildet, abgelöst wird durch eine wissenschaftliche Revolution, an deren Ende das Paradigma durch ein anderes ersetzt wird. Ein Beispiel Kuhns ist der Ubergang von der klassischen Physik zur relativistischen. Er betont, daß es bei einer solchen Revolution keine neutralen Kriterien gibt, mit denen sich eine Entscheidung zwischen der alten und der neuen Theorie, rechtfertigen ließe. Es gibt kein experimentum crucis, denn die Beobachtungen werden von beiden Paradigmen verschieden gedeutet. Es gibt keine gemeinsamen Prämissen, von denen her sich die eine Theorie als falsch erweisen lie24
Zur Theorie gehören gewisse erfolgreiche Anwendungen, die Vorbilder für die Behandlung anderer Phänomenbereiche mit derselben Theorie sind. Daher stammt die Bezeichnung „Paradigma".
2.2
Drei epistemische Utopien
57
ße, denn die Paradigmen unterscheiden sich schon in den grundlegenden Annahmen, und nicht bloß im Detail. Wegen der Theoriebeladenheit der Sprache gibt es oft nicht einmal neutrale Beschreibungen der Konfliktpunkte, und es existieren auch keine gemeinsamen Rationalitätsstandards. Die beiden Paradigmen sind also inkommensurabel, wie Kuhn sagt. Daher kann man auch nicht behaupten, die Revolution bedeute einen Fortschritt der Wissenschaft, denn die alte Theorie wird nicht durch eine nach neutralen Kriterien bessere ersetzt - solche Kriterien gibt es eben nicht - , sondern einfach durch eine andere. Kuhns konkrete wissenschaftshistorische Untersuchungen belegen, daß die Grundidee des Fundamentalismus angesichts der wissenschaftsgeschichtlichen Tatsachen nicht haltbar ist. Eine Basis für Begründungen gibt es nur im Rahmen eines Paradigmas, da es aber mehrere Paradigmen gibt, zwischen denen keine neutrale Entscheidung möglich ist, heißt das: Es gibt mehrere gleichberechtigte Erkenntnisfundamente, viele Ansätze, die uns in ganz verschiedene Richtungen führen können. Die Einsicht, daß sich all unsere Erkenntnisansprüche auf Voraussetzungen stützen, also keiner Letztbegründung zugänglich sind, daß von Rationalität und zureichender Begründung nur in einem größeren Kontext von Annahmen, Vorentscheidungen und Verfahrensweisen die Rede sein kann, war nicht neu. In den Geisteswissenschaften hat sie schon im 19. Jahrhundert eine Rolle gespielt und sie entspricht in vieler Hinsicht Ludwig Wittgensteins Konzept des Sprachspiels. Neu war allein, daß Kuhn die Relevanz dieser Gedanken durch Beispiele aus der Wissenschaftsgeschichte belegt hat. Man hat der Kuhnschen Konzeption wissenschaftlicher Erkenntnis oft einen radikalen Relativismus und Irrationalismus vorgeworfen, und das mit einigem Recht. 25 Nach seinen Aussagen gibt es keine Rechtfertigung dafür, ein bestimmtes Paradigma zu akzeptieren, denn es gibt keine paradigmenneutralen Erfahrun25
Kuhn hat dieser Kritik in späteren Arbeiten z.T. Rechnung getragen vgl. Kuhn (1977) - , hat sich aber nicht zu einer klaren Revision durchgerungen. Seine extremen Thesen waren es ja gerade, die dem Buch von 1962 eine so breite Resonanz verschafft hatten; er hätte also den Ast absägen müssen, auf dem er saß.
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2 Erkenntnis
gen, Begründungen und Rationalitätsstandards. All das gibt es nur in einem Paradigma, aber dort eben auch nur in Form nicht weiter begründbarer Vorurteile. Man kann die Grundannahmen eines Paradigmas natürlich kritisieren, aber dazu muß man dann eben von anderen, ebenfalls unbegründeten Voraussetzungen ausgehen. Die Kritik steht also auf dem Boden eines anderen Paradigmas, von dem man jedoch nicht behaupten kann, es sei besser als das kritisierte. Mit unseren Unterscheidungen von wahr und falsch, begründet und unbegründet bewegen wir uns daher immer im Rahmen von uneinholbaren Vorurteilen, und von welchen wir ausgehen, hängt letztlich von äußeren, insbesondere sozialen und geschichtlichen Bedingungen ab. Es bleibt uns meist gar nichts anderes übrig, als jenes Paradigma zu übernehmen, das in unserer sozialen oder beruflichen Umgebung gerade in Geltung ist. Von zwei konkurrierenden Paradigmen setzt sich bei einer wissenschaftlichen Revolution nicht das nach objektiven Kriterien bessere durch - solche Kriterien gibt es wie gesagt nicht - sondern jenes, das eine wirkungsvollere Propaganda entfaltet. Ein neues Paradigma obsiegt nicht dadurch, daß die Anhänger des alten mit vernünftigen Gründen überzeugt werden, sondern daß sie aussterben. Solche Aussagen haben den umlaufenden Skeptizismen, Relativismen und Irrationalismen kräftigen Auftrieb gegeben. Will man das paradigmatische Erkenntnismodell als eine vernünftige Alternative zum Fundamentalismus ansehen, so muß man dieser Tendenz entgegenwirken und es so bestimmen, daß sich damit kein Relativismus verbindet, nach dem alles geht, und somit gar nichts mehr. Kuhn hat in seinem Buch in erster Linie eine kritische Absicht verfolgt; ihm ging es darum, die fundamentalistische Konzeption wissenschaftlicher Erkenntnis zu widerlegen. Daher hat er manches überzeichnet. Insbesondere reicht seine Kritik am Bewährungsbegriff von K. Popper nicht aus, um Bewährung als Kriterium für eine rationale Kontrolle von Paradigmen zu diskreditieren. Man sagt, eine Theorie bewähre sich in einem Experiment, wenn sich dabei das Resultat ergibt, das die Theorie vorausgesagt hat, das im Einklang mit ihr steht; je mehr strenge experimentelle Tests die Theorie bestanden hat, desto besser hat sie sich bewährt. Es ist nun sehr plausibel anzunehmen, daß die Bewährung eines Paradigmas in der Erfah-
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rung, ein guter Grund ist, es zu akzeptieren oder an ihm festzuhalten. Nun bewährt sich eine Theorie an Beobachtungen, und wenn die theoriebeladen sind und schon im Licht der Theorie selbst gedeutet werden, gibt es keine theorieneutralen Kriterien der Bewährung. Das betont Kuhn gegenüber Popper, aber er unterscheidet dabei nicht zwischen Theoriebeladenheit und Theorieabhängigkeit. Zunächst einmal kann man nicht beides haben: Einen empirischen Gehalt einer Theorie und ihre Immunität gegenüber Erfahrungen. Determiniert ein Paradigma die Erfahrungen, die wir in seinem Lichte machen, in dem Sinn, daß es schon festlegt, daß die Beobachtungen immer so ausfallen, daß sie das Paradigma bestätigen, so ist es immun. Dann ist es aber auch mit jeder Beschaffenheit der Welt verträglich, besagt daher nichts über sie und hat so keinen empirischen Gehalt. Obwohl es keine Beobachtungsaussagen gibt, die von jeglicher Deutung, von allen hypothetischen Elementen frei wären, unterscheiden wir doch zwischen Tatsachen und ihren Deutungen. Diese Unterscheidung ist zwar nicht scharf, hat aber doch in der Regel einen hinreichend klaren Sinn. Auch bloß graduelle Unterschiede sind Unterschiede. Selbst wenn sich ein klassischer und ein relativistischer Physiker in der Deutung von Experimenten unterscheiden, gibt es doch gewisse Beschreibungen der Ergebnisse, in denen beide übereinstimmen. Uber den Ausschlag eines Meßinstruments z.B. streiten sie sich nicht, nur darüber, was daraus zu folgern ist. Sie waren sich sogar einig in der Bewertung des Michelson-Experiments: Es hatte die gleiche Ausbreitungsgeschwindigkeit des Lichts in allen Richtungen von einem bewegten Punkt (der Erde) aus nachgewiesen. Man war sich einig, daß die Relativitätstheorie gewisse Phänomene einfacher erklären kann als die klassische Physik, insbesondere ohne Zusatzhypothesen. Die Beobachtung einer Ablenkung von Lichtstrahlen in der Nähe der Sonne war nicht durch die Uberzeugung von der Wahrheit der allgemeinen Relativitätstheorie determiniert, sondern ein echter Test, bei dem die Theorie hätte scheitern können. Es ist also höchst unplausibel, daß die Theoriebeladenheit unserer Erfahrungen derart stark sein soll, daß es keine Beobachtungen gibt, in denen die Vertreter konkurrierender Theorien übereinstimmen. Es hat nie Paradigmen gegeben, in deren Licht
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die Leute beobachtet hätten, daß Pferde nur drei Beine haben. Es gibt keine ernst zunehmenden wissenschaftlichen Paradigmen, die immun gegenüber aller Erfahrung wären. Ein naturwissenschaftliches Paradigma sagt uns, wie wir Experimente anstellen sollen und was wir für ihren Ausgang zu erwarten haben, aber es determiniert nicht ihr Ergebnis. Widerspricht ein Resultat der Theorie, so kann man zwar trotzdem an ihr festhalten und das z.B. mit Zusatzannahmen rechtfertigen. Wie Popper betont hat, ist das aber nur dann legitim, wenn es unabhängige Gründe für die Geltung der Zusatzannahme gibt. Theorien mit empirischem Gehalt können also nicht mit allen möglichen Erfahrungen verträglich sein, und damit kann man bei ihnen auch von Bewährung sprechen. Angesichts der Theoriebeladenheit der Erfahrung ist Bewährung zwar keine Sache, die sich so einfach beurteilen läßt, wie das bei Popper erscheint, trotzdem bleibt es aber sinnvoll zu sagen, ein Paradigma sei aufgrund seiner Bewährung gerechtfertigt. Wir können oft nicht eindeutig sagen, eine Theorie habe sich bisher bewährt, oder sie habe sich nicht bewährt. Auf einigen Gebieten mag sie sich als brauchbar erwiesen haben, während sie in anderen Bereichen falsche Voraussagen macht oder keine befriedigenden Erklärungen liefert. Selbst wenn sie sich nicht so gut bewährt, werden wir freilich oft an ihr festhalten, solange uns keine Alternative zur Verfügung steht. Eine nur bedingt brauchbare Theorie ist immerhin besser als gar keine. Bei wissenschaftlichen Revolutionen handelt es sich ferner in der Regel nicht um eine vollständige Preisgabe des alten Paradigmas, sondern nur um eine Veränderung zentraler Teile. Zu einer radikal anderen Weltsicht kann man nicht so leicht übergehen, dafür fehlen schon passende sprachliche Ausdrucksmittel. Was wir in der Geistes- und Wissenschaftsgeschichte beobachten, ist ein stückweiser Wandel von Paradigmen, wobei durch wiederholte Wandlungen natürlich beliebig starke Modifikationen entstehen können. Wenn danach selbst bei Revolutionen jeweils ein großer Teil des alten Paradigmas in Geltung bleibt, kann es auch konstante Rationalitätskriterien geben, mit denen sie sich rechtfertigen lassen. Kuhn weist in seinen wissenschaftsgeschichtlichen Analysen keinen einzigen Fall auf, in dem es keine guten, wenn auch nicht zwingenden Gründe dafür gab, die alte Theorie durch die
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neue zu ersetzen. Es gibt zwar auch einen Wandel von Rationalitätskriterien, seit den Anfängen der Logik ist aber z.B. die klassische Logik in Geltung geblieben. Wir verfügen heute über sehr viel reichere logische Theorien als z.B. die aristotelische Syllogistik, deren Theoreme gelten jedoch noch immer, und Analoges wäre für die Mathematik zu sagen. Endlich können zwei Theorien nicht zugleich unverträglich sein, also konkurrierende Beschreibungen der Natur, und inkommensurabel. Sind sie unverträglich, so gibt es mindestens einen Satz A, der in beiden Theorien denselben Sinn hat, so daß aus der einen A, aus der anderen aber nicbt-A folgt. Sind sie hingegen unvergleichbar, so sind die Aussagen, die aus ihnen folgen, sinnverschieden - ähnlich wie Aussagen über verschiedene Gegenstandsbereiche - und können sich daher nicht widersprechen. Der utopische Charakter eines zweiten Erkenntnisideals ergibt sich aus der einfachen Einsicht, daß Philosophen und Wissenschaftler nicht die Fähigkeit des Freiherrn von Münchhausen haben, sich am eigenen Schöpf aus dem Sumpf zu ziehen. Erkenntnistheoretisch wäre das die Fähigkeit, sich zu einem Standpunkt zu erheben, auf dem wir einen von den Bedingungen und Schranken menschlichen Denkens und Erkennens freien Blick auf die Realität hätten, auf die Natur wie auf den Menschen. Von einem derartigen Standpunkt aus ließe sich insbesondere feststellen, wie zutreffend und wie umfassend die menschliche Sicht der Dinge ist, welche unserer Annahmen korrekt sind und wie gut unsere begrifflichen Unterscheidungen realen Unterschieden entsprechen. Einen solchen externen Standpunkt gibt es für uns aber nicht. Wir können Grenzen unserer Wahrnehmungsfähigkeiten durch Instrumente überwinden und Schranken unserer kalkulatorischen Möglichkeiten durch Computer, wir können unsere sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten und Begriffssysteme erweitern, aber wir können grundsätzlich nicht erkennen, daß eine (gegenwärtige) eigene Uberzeugung falsch ist oder daß die Welt völlig anders beschaffen ist, als Menschen sie wahrnehmen und sich vorstellen. Jede Betrachtung menschlichen Denkens, Erkennens und Sprechens ist eine Betrachtung von Menschen mithilfe ihres Denkens, Erkennens und Sprechens. Der Betrachter und sei-
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ne Betrachtung gehören zum Bereich des Betrachteten, und dazu müssen die Aussagen stimmen, die wir machen. Kant sagt: „Das Ich denke, muß all meine Vorstellungen begleiten können."26 Was für alle Menschen gelten soll, muß auch für den betrachtenden Menschen gelten. Daher bezeichnet Maurice Mandelbaum Verstöße dagegen in (1962) auch als self-excepting fallacies, als Fehler, sich selbst auszunehmen oder zu übersehen. Der entscheidende Punkt ist aber: Da wir selbst zur Wirklichkeit gehören, gibt es für uns keine Außenansicht der Realität, sondern nur Innenansichten. Wie vieles in der Erkenntnistheorie ist diese Einsicht zwar trivial, es tut aber doch not, sie immer einmal wieder zu unterstreichen. Manche Evolutionären Erkenntnistheoretiker glauben z.B., die Sicht des Biologen sei so etwas wie eine Sicht von einem externen Standpunkt. Wenn sie von „dem Menschen" reden, scheinen sie völlig zu vergessen, daß sie selbst Menschen sind und - auch als Biologen - nicht etwa Ubermenschen, für die all jene Beschränktheiten nicht gelten, die sie am Menschen feststellen. So schreibt z.B. Rupert Riedl, die Geschichte der philosophischen Erkenntnistheorie zeige, daß sich Vernunft nicht durch sich selbst erhellen lasse, wie die Mißerfolge der traditionellen Erkenntnistheorie zeigten. Hier weise die Evolutionäre Erkenntnistheorie den Ausweg - aus der Vernunft? Der Biologe besitzt nach Riedl „jenen Standpunkt, der es ermöglicht, die Vernunft von außen her zu begründen." Er schreibt: „Wir beziehen damit zur Erforschung des Erkenntnisprozesses einen Standpunkt außerhalb unseres eigenen Erkenntnisvorgangs; einen biologisch objektiv beschreibbaren".27 Aus der Unmöglichkeit eines externen Standpunktes folgt freilich nicht viel. Insbesondere ergeben sich daraus keine idealistischen oder skeptischen Konsequenzen. Es folgt weder, daß die Gegenstände unserer Erfahrung etwas bloß Subjektives sind, irgendwelche bloß mentalen Objekte, noch daß wir sie ganz anders erleben, als sie an sich sind; darauf gehe ich im nächsten Abschnitt ein. Aus der Unmöglichkeit eines externen Standpunkts ergibt sich auch nicht, daß Wahrheit und Wissen für uns nicht festKant Kritik der reinen Vernunft, Β 13If. ν Riedl (1980), S. 23 und 37.
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Drei epistemische Utopien
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stellbar wären, oder daß wir unsere Überzeugungen nie direkt an den Fakten prüfen, sondern immer nur an anderen Uberzeugungen messen könnten. 28 Sicher, wir können in unseren Urteilen nur unseren wohlerwogenen Uberzeugungen folgen und können uns nicht unabhängig von unseren Annahmen der Realität versichern - wir glauben eben, sie in unseren Uberzeugungen zu erfassen. In diesem Sinn sagt Sokrates in Piatons Theätet: „Aber so, wie wir nun einmal sind, müssen wir immer so reden, wie es uns richtig erscheint". 29 Daraus folgt aber nicht, daß es kein Wissen gibt oder kein Wissen des Wissens. Wie im letzten Abschnitt betont wurde, gilt für Wissen im schlichten Sinn des dortigen Vorschlags (1): Ist eine Überzeugung wahr, so stellt sie ein Wissen dar, und bin ich von etwas überzeugt, so glaube ich, das zu wissen, weiß also, daß ich es weiß, wenn meine Überzeugung korrekt ist. Aus der Unmöglichkeit eines externen Standpunkts folgt also insbesondere nicht, daß wir den objektiven Wahrheitsbegriff preisgeben und Wahrheit und Wissen durch Überzeugtsein ersetzen müßten, weil beide sonst nicht feststellbar wären. 30 Eine dritte wichtige Einsicht besteht darin, daß es keine zugleich konsistente und vollständige Theorie von uns selbst geben kann. Auch das ist eigentlich keine überraschende Aussage. Eine vollständige Theorie des Menschen und seines Verhaltens wäre ja eine außerordentlich anspruchsvolle Angelegenheit, und wir verfügen heute über nichts, was ihr auch nur von Ferne ähnelt. Ihre Signifikanz gewinnt unsere These erst dadurch, daß sie dem ausgesprochenen oder unausgesprochenen Endziel jener Forschungen 28
Die These, wir könnten selbst dann, wenn wir mit unseren Annahmen tatsächlich einmal das Wahre treffen, nicht erkennen, daß wir wissen, findet sich schon im Fragment 34 von Xenophanes. Vgl. dazu Heitsch (1983) und Kutschera (1983a).
29
Theätet, 171d.
30
Die Tatsache, daß es für uns keinen externen Standpunkt gibt, bezeich-
net man oft als egocentric
predicament
und formuliert das so: „There is
no way out of our minds". Der mind ist aber kein Gefängnis, Vernunft ist vielmehr die Fähigkeit zu erkennen und damit über das bloß Subjektive hinauszukommen. Unsere Wahrnehmungsorganisation und unser Denken bilden Zugänge zur Wirklichkeit, nicht Hindernisse.
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2
Erkenntnis
widerspricht, die sich in Biologie, Neurologie, Psychologie und Kognitionswissenschaften mit dem Menschen und seinem Verhalten befassen. Die Behauptung ist nicht, daß irgendwelche höheren Wesen, Engel oder Intelligenzen aus fernen Galaxien, keine vollständige Theorie von uns Menschen und unserem Verhalten entwickeln könnten, sondern daß wir selbst das nicht können, daß wir selbst über keine solche Theorie verfügen können. Jemand verfügt über eine Theorie, wenn er ihre Aussagen versteht und sie anwenden kann, wenn er in ihr Theoreme beweisen und mit ihr Beobachtungen voraussagen und erklären kann. Ein Grund für die Unvollständigkeit jeder Theorie über uns selbst ist nun, daß eine vollständige Theorie auch unseren Umgang mit ihr beschreiben müßte. Mit ihr müßten wir auch erklären können, warum wir sie akzeptieren oder, je nachdem, verwerfen. Das ist aber offenbar unmöglich, denn um mit der Theorie etwas erklären zu können, muß ich sie bereits akzeptieren. Die notwendige Unvollständigkeit jeder Theorie über uns selbst läßt sich exakter begründen, wenn man beachtet, daß sie speziell eine Theorie unseres Sprachverstehens umfassen müßte. Eine solche Theorie müßte in einer Sprache - nennen wir sie S formuliert werden, mit der man auch über S selbst reden kann, insbesondere über die Semantik von S, die Interpretation der Ausdrücke von S. Die Sätze von S müßten wir ja verstehen können, wenn wir über die fragliche Theorie verfügen, und dieses Verstehen von S müßte diese Theorie beschreiben, wenn sie eine vollständige Beschreibung unseres Sprachverstehens liefern soll. Auch wenn man das Verstehen der Sprache S zunächst nicht als Kenntnis ihrer Interpretation auffaßt, sondern als Kompetenz, die Wörter und Sätze von S korrekt zu gebrauchen, so läßt sich diese Kompetenz in der Theorie nur durch Angabe der semantischen Regeln von S beschreiben. Es müßte also in S möglich sein, ihre eigene Semantik zu formulieren. Dann müßte S auch ein Wahrheitsprädikat enthalten, das sich auf alle Sätze von S anwenden läßt und für das die Wahrheitskonvention von Tarski gilt. Nun hat Tarski aber gezeigt, daß daraus ein Widerspruch folgt.31 Denn man 31
Vgl. Tarski (1936), S. 247ff., sowie unten in 3.4 die Wahrheitsantinomie nach Q u i n e .
2.3
Realismus
65
kann mit dem Wahrheitsprädikat in S einen Satz Β formulieren, der seine eigene Falschheit behauptet. Ist er also wahr, so ist er falsch, und ist er falsch, so ist er wahr. Das ist die semantische Antinomie des Lügners. Es gibt also keine vollständige Theorie des Sprachverstehens, weil in jeder Sprache, in der sich eine solche Theorie formulieren ließe, Widersprüche auftreten. Auf diese Dinge gehen wir im nächsten Kapitel näher ein. Dort wird sich auch ergeben, warum wir unsere sprachlichen Kompetenzen und unser Sprachverstehen grundsätzlich nicht vollständig durch eine Theorie beschreiben können. Neben sprachphilosophischen Argumenten sprechen auch die Überlegungen zur Logik im 4. Kapitel gegen die Möglichkeit einer vollständigen Theorie unserer intellektuellen Fähigkeiten. Es gibt kein System der Logik, das in dem Sinn vollständig wäre, daß es alle logischen Prinzipien und Begriffsbildungen enthielte, die wir im Umgang mit dem System schon verwenden. Aus alldem folgt: Es gibt keine vollständige Theorie unserer intellektuellen Kompetenzen, also auch keine vollständige Theorie menschlichen Verhaltens oder von Personen. Erst recht gibt es keine vollständige Theorie von allem, d.h. keine umfassende Theorie der Gesamtwirklichkeit, denn dazu gehören auch wir selbst.
2.3
Realismus
Der Grundgedanke des erkenntnistheoretischen Realismus ist: Wir haben es in der Erfahrung mit einer Wirklichkeit zu tun, deren Existenz wie Beschaffenheit nicht von der Existenz von uns Menschen und der Natur unseres Erlebens und Denkens abhängt. Ein solcher Realismus stellt die normale Auffassung im Alltag wie in den Wissenschaften dar. Er liegt auch unserer Sprache zugrunde, der Art und Weise, wie wir von Wahrnehmung, Erkenntnis und Wirklichkeit reden. Daher verliert sich seine Verteidigung leicht in Trivialitäten, die ohnehin keiner bestreitet, der sich seinen gesunden Menschenverstand erhalten hat, während Antirealisten schon beim Versuch, ihre Position zu formulieren, erhebliche Probleme haben. Der Realist kann sich aber nicht einfach auf die nor-
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2
Erkenntnis
malen Auffassungen und Redeweisen stützen. Denn erstens garantiert uns nichts, daß der gesunde Menschenverstand tatsächlich recht hat, und zweitens sind die normalen Auffassungen für erkenntnistheoretische Zwecke viel zu vage. Sie müssen also präzisiert werden, und dabei zeigt sich, daß es verschiedene, inhaltlich nicht äquivalente Möglichkeiten der Präzisierung gibt, so daß man für keine von ihnen ohne weiteres die normale Sicht der Dinge in Anspruch nehmen kann. Es gibt verschiedene Varianten des Realismus, und entsprechend verschiedene Formen des Antirealismus oder Idealismus. Die erste - und vielfach vernachlässigte - Aufgabe bei der Erörterung des Realismus ist damit seine Formulierung. Erst wenn man sich darauf festgelegt hat, was die realistische Position beinhalten soll, kann man sie begründen und Einwände gegen sie diskutieren. In diesem Abschnitt geht es nur um die realistische Deutung einfacher Beobachtungen. Auf die Frage, ob sich auch theoretische Konstrukte wie Gravitationsfelder oder Q u a r k s realistisch verstehen lassen, komme ich im nächsten Abschnitt zu sprechen. Der Realismus, um den es hier geht, behauptet nicht einfach, daß es eine von unserem Denken und Erleben unabhängige Realität gibt - das wäre eine sehr schwache und wenig interessante These - , sondern daß wir es in der Erfahrung mit einer solchen Realität zu tun haben. 32 N u n kann man, zumindest mittelbar, auch erfahren, was andere Personen wahrnehmen und, sofern sie es sprachlich ausdrücken, was sie denken. Menschliches Denken und Erleben kann aber offensichtlich nicht unabhängig von sich selbst sein. Die erste Frage ist also: „Was für eine Realität soll unabhängig von unserem Denken und Erleben sein?" Üblicherweise bezieht man sich auf die physische Welt, die Natur, wie wir auch sagen wollen. Was unter „ N a t u r " oder „physischer Realität" zu verstehen ist, läßt sich nicht definieren; wir müssen von unserem Vorverständnis ausgehen und können es nur erläutern. Es ist dabei zweckmä32
Man spricht oft auch von einer „inneren Erfahrung", die sich auf die eigenen mentalen Zustände und Vorgänge bezieht. Dabei handelt es sich aber einfach u m das Phänomen, daß sie uns bewußt sind. Im folgenden ist mit „Erfahrung" immer nur äußere Erfahrung gemeint.
2.3
Realismus
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ßig, die Natur nicht als Gegenstand anzusehen, sondern mit Wittgenstein von der Menge natürlicher Sachverhalte auszugehen und die Natur als Menge aller bestehenden natürlichen Sachverhalte, aller natürlichen Tatsachen aufzufassen. 33 Zunächst liegt es nahe zu sagen, natürliche Sachverhalte seien jene, die durch die Sätze unserer physikalischen Sprache beschrieben werden. Man kann aber nicht davon ausgehen, daß sich alle natürlichen Sachverhalte in der gegenwärtigen Sprache der Physik ausdrücken lassen. Die Sprache der Physik verändert sich ja mit dem physikalischen Weltbild, und dabei kann es auch passieren, daß manche Sätze, wie z.B. die Aussagen der Phlogiston-Theorie, später den Realitätsbezug verlieren. Nun wollen wir hier zur physikalischen Sprache nicht nur jene rechnen, in der physikalische Theorien formuliert werden, sondern auch das, was Rudolf Carnap als „Dingsprache" bezeichnet hat. Wir reden statt dessen von der Beobachtungssprache. Ihre Namen sollen für direkt beobachtbare physischen Dinge stehen und ihre Prädikate für direkt beobachtbare Attribute solcher Dinge. 34 Die einfachen Sätze der Beobachtungssprache, die Beobachtungssätze drücken dann den Inhalt einfacher Beobachtungen aus. Da die Beobachtungssprache weit weniger vom Wandel des Weltbildes abhängt als die theoretische Sprache der Physik, kann man sagen, daß jedenfalls die Sätze der Beobachtungssprache natürliche Sachverhalte ausdrücken, man kann aber nicht behaupten, nur sie drückten solche Sachverhalte aus. 35 Da Beobachtungssätze den Inhalt möglicher Beobachtungen ausdrücken, beinhalten Erfahrungen natürliche Sachverhalte. Das drücken wir kurz so aus: Rl: Die Natur ist Gegenstand unserer Erfahrung. Das ergibt sich daraus, daß die Natur als Realität verstanden wird, mit der wir es in der Erfahrung zu tun haben, und davon waren 33
34
35
„Die Welt ist alles, was der Fall ist" lautet der erste Satz des Tractatus Logico-Philosophicus (1922). Der Gedanke ist, daß alles direkt Beobachtbare physischer Natur ist. Zur Problematik des „direkt Beobachtbarem" vgl. jedoch 2.4. Zur Kritik eines Empirismus, der sich diese Behauptung zu eigen macht, vgl. wieder 2.4.
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Erkenntnis
wir ja ausgegangen. Die Gegenstände direkter Erfahrung sind danach Dinge, die zum Mobiliar der Natur gehören. Diese These des Erfahrungsrealismus entspricht zwar normaler Auffassung, es ist aber nicht überflüssig, sie explizit zu formulieren, da sie vom Erfahrungsidealismus bestritten wird.36 Für den sind Sinnesdaten, Empfindungen, Vorstellungen oder mentale Repräsentationen natürlicher Objekte Gegenstände unserer Erfahrung.37 Jene Sachverhalte, von denen die natürlichen unabhängig sein sollen, sind mentale Sachverhalte. „Mental" nenne ich solche Akte und Zustände von Subjekten, die für ihren Träger im Zeitpunkt ihres Vollzuges bzw. Bestehens unproblematisch sind. Mentale Sachverhalte sind also z.B. Zustände des Glaubens - daß sie unproblematisch sind, wurde schon in 2.1 betont - , aber auch sinnliche Eindrücke. Habe ich den Eindruck, daß da eine schwarze Katze sitzt, so glaube ich auch, diesen Eindruck zu haben, und habe ich ihn nicht, so glaube ich auch, ihn nicht zu haben. Wir wissen also jetzt, welche Sachverhalte von welchen unabhängig sein sollen, nämlich natürliche von mentalen, müssen aber noch etwas zur Art der Unabhängigkeit sagen. Der Realist leugnet nicht, daß es faktische, naturgesetzliche Zusammenhänge zwischen mentalen und physischen Vorgängen gibt. Auch er wird sinnliche Eindrücke auf Wirkungen von Umweltgegebenheiten zurückführen. Er nimmt aber an, daß die Natur eine gegenüber unseren Erfahrungen prinzipiell eigenständige Realität ist. Wir können nicht apriori sicher sein, daß unsere Eindrücke die Natur 36
Statt „Erfahrungsrealismus" sagt man auch oft „erkenntnistheoretischer Realismus". Wir verwenden den letzteren Ausdruck hier aber allgemein zur Kennzeichnung jenes Realismus, um den es in der Erkenntnistheorie geht, im Gegensatz z.B. zur praktischen Philosophie, w o man von einem „moralischen Realismus" redet.
37
Erfahren werden zunächst Sachverhalte, man kann aber als Gegenstände der Erfahrung jene Objekte bestimmen, auf die sich die erfahrenen Sachverhalte beziehen. Abweichend vom normalen Sprachgebrauch wollen wir die Wörter „erfahren" und „beobachten" - anders als „wahrnehmen" - nicht als Leistungsverben verwenden, also nicht annehmen, daß nur Tatsachen beobachtet oder erfahren werden können. Eine Erfahrung, daß ein Sachverhalt besteht, ist dann einfach der Eindruck, daß er besteht.
2.3
Realismus
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richtig darstellen, wir können nicht aus unseren Eindrücken und Annahmen auf die objektive Beschaffenheit der Natur schließen. Daher wird man die Unabhängigkeit so charakterisieren: Aus mentalen Sachverhalten folgen analytisch keine natürlichen Sachverhalte.38 Da mit ρ auch nicht-p ein mentaler bzw. natürlicher Sachverhalt ist, kann man das so ausdrücken: R2: Jede konsistente Menge mentaler Sachverhalte ist mit jeder konsistenten Menge natürlicher Sachverhalte (analytisch) verträglich. Der Gedanke ist: Bezüglich der Natur gibt es einen Unterschied zwischen Sein und Erscheinen, zwischen wahr sein und für wahr gehalten werden. Aus der Tatsache, daß wir gewisse Eindrücke haben, folgt nicht logisch, daß es sich wirklich so verhält. Mit unseren Annahmen über die Natur können wir uns prinzipiell immer irren. Da mentale Sachverhalte unproblematisch sind, hätten wir uns ja auch einfach auf Sachverhalte des Glaubens beschränken können. Die Thesen, R1 und R2 stellen wohl den Minimalgehalt des Realismus dar. Daher will ich diese Position als schwachen Realismus bezeichnen. Das heißt freilich nicht, daß sich jeder, der sich als Realist versteht, zur Formulierung R2 bekennen wird. Materialisten z.B. sehen sich als Realisten. Sie, die die These vertreten, mentale Ereignisse seien nichts anderes als physikalische Ereignisse, können einen Realismus offenbar aber nicht durch R2 beschreiben. Wie er dann zu formulieren ist, bleibt allerdings offen. Der schwache Realismus ist vom Verifikationismus zu unterscheiden, nach dem es genau das gibt, was sich beobachten läßt. Er läßt durchaus zu, daß nicht die gesamte Natur der Erfahrung zugänglich ist, daß es also unbeobachtbare natürliche Tatsachen gibt. Der schwache Realismus sieht sich nun von zwei Seiten der Kritik ausgesetzt: Die Einwände zielen zum Teil darauf ab, daß er zu
38
„Analytisch folgen" heißt „unter Berücksichtigung der Wort- und Satzbedeutungen logisch folgen".
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2 Erkenntnis
wenig, zum Teil darauf, daß er zu viel Realismus enthält. Zunächst zu den ersteren Einwänden. Sie besagen, daß der schwache Realismus der Grundidee einer Unabhängigkeit der Natur von unserem Erfahren und Denken nicht gerecht wird. Die Natur wurde ja durch Bezugnahme auf menschliche Erfahrung bestimmt, als das, womit wir es in der Erfahrung zu tun haben und wovon wir in der Sprache der Physik reden. Um dem realistischen Grundgedanken voll Rechnung zu tragen, müßte man, so die Kritik, die Natur unabhängig von unserer Erfahrung und Sprache bestimmen. Man müßte insbesondere offen lassen, ob sie im Sinn von R1 Gegenstand unserer Erfahrung ist, oder ob sich Erfahrungen, z.B. im Sinn der Repräsentationstheorie, auf etwas Mentales beziehen, das nur mit externen Vorgängen korreliert ist. Diese Konzeption will ich als starken Realismus bezeichnen. Darauf ist zu erwidern: Die These: „Es gibt eine Realität, die von unserem Erfahren, Denken und Sprechen unabhängig ist" wäre, wie gesagt, zu schwach - es geht ja in der Erkenntnistheorie nicht etwa um eine denkunabhängige Existenz Gottes oder der natürlichen Zahlen. Es geht vielmehr von vornherein um jene Realität, die sich in unseren Erfahrungen zeigt. Diese Realität läßt sich aber naturgemäß nicht näher bestimmen, ohne auf Erfahrung Bezug zu nehmen. Es bliebe sonst auch völlig offen, was für Sachverhalte denn von den mentalen unabhängig sein sollen. Der Kern des realistischen Gedankens ist eine Unabhängigkeit der Wirklichkeit, mit der wir es in der Erfahrung zu tun haben, von bestimmten Annahmen über sie oder bestimmten Eindrücken von ihr - und die wird mit R2 erfaßt - , nicht aber eine Unabhängigkeit von irgendetwas, das mit menschlichem Erfahren und Denken so wenig zu tun hat, daß es sich gar nicht mehr näher charakterisieren läßt. Für den starken Realismus ist typisch, daß nach ihm die Möglichkeit besteht, daß die äußere, extramentale Wirklichkeit völlig anders beschaffen ist, als wir sie erfahren. Für ihn ist nicht auszuschließen, daß unsere sinnlichen Eindrücke ebensowenig Realitätsgehalt haben wie Traumvorstellungen. Die äußere Wirklichkeit wäre dann so etwas wie das Kantische Ding an sich, die Annahme ihrer Existenz wäre aber nicht mehr begründbar, weil wir keinerlei Zugang zu ihr haben, wenn Erfah-
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Realismus
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rung ausfällt.39 Begreift man die Realität, die Natur, hingegen als das, womit wir es in der Erfahrung zu tun haben - als Gegenstand unserer Erfahrungen - , so ist es ebenso sicher, daß es eine Natur gibt, wie daß es Erfahrung gibt. Ferner ist dann die Annahme, die Welt sei völlig anders beschaffen, als wir das erfahren, sinnlos, denn die Inhalte unserer Beobachtungen sind jedenfalls natürliche Sachverhalte. Eine Wirklichkeit, die von völlig anderer Art ist als das, was wir erfahren, ist nicht die Natur. Aus dem starken Realismus ergibt sich der grundsätzliche Zweifel an der Verläßlichkeit unserer Erfahrungen, in dem man oft fälschlich das Realismusproblem sieht. Am eindrucksvollsten hat ihn Descartes in Meditationes de prima philosophia charakterisiert: Es könnte einen Dämon geben, der unsere Eindrücke so manipuliert, daß wir uns einer Welt gegenüber zu sehen glauben, die tatsächlich gar nicht existiert. Zieht jemand alle Eindrücke in Zweifel, so kann man ihm die Verläßlichkeit von Erfahrung nicht mehr beweisen. Erfahrung ist ja unser einziger Zugang zur äußeren Wirklichkeit, da sie ihm aber insgesamt suspekt ist, kann man sich ihm gegenüber nicht darauf beziehen. Er kann freilich seinerseits seine Zweifel nicht begründen, denn dazu müßte er zeigen, daß das, was wir wahrzunehmen glauben, tatsächlich nicht existiert oder ganz anders beschaffen ist, als wir es erleben. Dazu müßte er sich jedoch wiederum auf Erfahrungen stützen, und das verbietet ihm die Allgemeinheit seines Zweifels.40 39
40
Kant begründet die Annahme der Existenz eines Dings an sich dadurch, daß die sinnlichen Erscheinungen Erscheinungen von etwas sind (Prolegomena, § 32 (A104f.)). Nicht jedes intentionale Objekt ist aber unabhängig von unserem Denken. Ein in seiner Naivität prächtiges Beispiel für diesen Zweifel ist das 2. Kapitel von T. Nagels (1987). Dort wird zudem noch das Problem des Erinnerungsvertrauens hineingerührt, sowie eine Erkenntnisskepsis. Bei der letzten wird davon ausgegangen, Erkenntnis müsse perfekt sein, ebenso sicher und unbezweifelbar wie die eigenen, gegenwärtigen mentalen Zustände. Das Kapitel beginnt mit dem Satz: „If you think about it, the inside of your own mind is the only thing you can be sure of". Das Buch richtet sich zwar an Leser, die sich mit Philosophie noch nicht näher befaßt haben; die Naivität ist also z.T. wohl gewollt. Ein intelligenter Leser wird dadurch aber doch wohl eher abgeschreckt,
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Die Einwände, nach denen selbst der schwache Realismus noch zuviel Realismus ist, sind jene, die sich gegen den Realismus überhaupt richten. Der wichtigste von ihnen besagt, der Realismus führe in eine Erkenntnisskepsis. Das Argument lautet etwa so: Erfahrungen bilden unseren einzigen Zugang zur Natur. Folgt aus ihnen nichts über deren Beschaffenheit, so können wir unseren Anspruch, die Natur jedenfalls partiell zu erkennen, nicht rechtfertigen. Der Realist wird zwar annehmen, daß es naturgesetzliche Beziehungen zwischen natürlichen Vorgängen und unseren Eindrücken von ihnen gibt, eine Erkennbarkeit der Natur kann er damit aber nicht begründen. Solche Beziehungen lassen sich ja erst dann ermitteln, wenn man schon Feststellungen über das Bestehen natürlicher Sachverhalte machen kann. Die erste Grundlage für Erkenntnisansprüche müßten also apriorische Beziehungen sein. Für den Realisten könnten das nur analytische Beziehungen sein, die er aber mit seiner These R2 verwirft. Begreift man die Natur als etwas, das von unseren Erfahrungen unabhängig ist, so ist der einzige epistemische Zugang zu ihr von vornherein abgeschnitten und es erscheint, wie schon Kant betont hat, als unbegreiflicher Zufall, wenn unsere Eindrücke und die Vorstellungen, die wir uns aufgrund von ihnen machen, der Natur tatsächlich entsprechen. 41 Geht man von Wissen als wahrer Uberzeugung aus, so ist es zwar durchaus möglich, daß wir natürliche Tatsachen erkennen, daß also manche unserer Annahmen über die Natur richtig sind, aber ob das so ist und in welchen Fällen es so ist, können wir nicht feststellen. Das Argument besagt also nicht: „Nach der These R2 gibt es keine Erkenntnis der Natur", sondern nur: „Danach können wir unsere empirischen Erkenntnisansprüche nicht legitimieren". Kant nahm synthetisch-apriorische Beziehungen an. Seine Begründung dafür ist jedoch idealistisch: Die Natur gehört bei ihm zum Reich der Erscheinungen, die durch die Formen unserer Anschauung und die Kategorien unseres Denkens geprägt sind. Da uns unsere eigenen Anschauungssformen und Verstandesbe-
41
zumal ihm, als Novizen, ja nicht klar ist, ob sich nicht vielleicht die gesamte Philosophie auf diesem bescheidenen intellektuellen Niveau bewegt. Vgl. K a n t Kritik der reinen Vernunft, Β 166ff.
2.3
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griffe evident sind, können wir apriori etwas über die Struktur der Natur aussagen. Die Wirklichkeit an sich, das „Ding an sich", bleibt jedoch völlig unerkennbar. Für den Realisten in unserem Sinn sind derartige synthetisch-apriorischen Korrelationen nicht akzeptabel. Er kann aber zunächst einmal darauf verweisen, daß aus seiner Konzeption der Natur folgt, daß unsere Eindrücke in der Regel richtig sind. Andernfalls könnte man kaum sagen, die Natur sei das, was sich uns in unseren Erfahrungen zeigt. Erscheint mir ein Ding als rot, so kann der Eindruck zwar täuschen, aber es spricht, sofern keine Informationen über momentane Sehstörungen oder ungünstige Beobachtungsbedingungen vorliegen, doch zumindest die Wahrscheinlichkeit dafür, daß das Ding tatsächlich rot ist. Damit ist der allgemeinen Skepsis bereits der Boden entzogen. Zweifel an der Korrektheit von Eindrücken sind nur in Einzelfällen sinnvoll und müssen sich dann durch andere Erfahrungsdaten rechtfertigen lassen. In dieselbe Richtung zielt die Annahme analytischer Korrelationen zwischen Eigenschaften der Dinge und jenen, die sie für uns zu haben scheinen, Korrelationen, die nicht streng allgemein, sondern nur in der Regel bestehen. 42 Sie lassen sich wiederum am Beispiel des Wortes „rot" plausibel machen. Wir verwenden dieses Wort zur Bezeichnung einer Eigenschaft von Dingen. Es hat aber auch einen phänomenalen Sinn, der sich darauf bezieht, wie wir rote Dinge erleben, wie sie für uns aussehen. Es gilt zwar nicht, daß genau jene Dinge rot sind, die wir als rot empfinden, denn bei ungünstigen Beleuchtungsverhältnissen können wir uns bzgl. der Farbe täuschen, und ein Ding kann natürlich auch dann rot sein, wenn es keiner sieht. Es gilt aber analytisch, daß die Dinge, die wir als rot empfinden, in der Regel auch rot sind, und daß wir rote Dinge bei ihrer Betrachtung in der Regel auch als rot empfinden. Die Verwendung des Wortes „rot" zur Bezeichnung einer objektiven Eigenschaft impliziert, daß es nicht genau dasselbe bedeutet wie der Ausdruck „als rot empfunden werden". Es gibt objektive Kriterien für Rotsein, z.B. daß ein Körper vorwiegend Licht einer bestimmten Wellenlänge reflektiert. Mit dem Wort „rot" charakterisieren wir aber, wie gesagt, zugleich das Aussehen von Dingen, 42
Ähnlich äußert sich S. Shoemaker (1963), S. 229ff.
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und daher ist es eine Bedeutungswahrheit, daß rote Objekte in der Regel rot aussehen, und daß umgekehrt die Dinge, die rot aussehen, in der Regel auch rot sind. Es ist daher aus analytischen Gründen wahrscheinlich, daß ein Objekt rot ist, wenn ich es als rot erlebe. Aufgrund meines Eindrucks kann ich somit durchaus etwas über die Beschaffenheit des Objekts sagen, wenn auch nur mit Wahrscheinlichkeit. 43 Man könnte einwenden, diese Überlegung gälte nur für Prädikate mit phänomenalen Bedeutungskomponenten; die entsprächen aber sekundären Qualitäten, die nicht den Dingen selbst zukommen. Die Auffassung, sekundäre Qualitäten kämen nicht den Dingen selbst zu, ist zwar nicht haltbar, zu den Eigenschaften, die den Dingen selbst zukommen, wird man aber jedenfalls ihre physikalischen Eigenschaften rechnen. Nun werden Größen wie Länge, Masse oder magnetische Feldstärke in der Physik so eingeführt, daß man festlegt, wie sie zu messen sind. Das Gewicht eines Körpers entspricht also kraft Festsetzung dem, was eine Waage anzeigt, auf die es gelegt wird - „in der Regel" muß man freilich auch hier sagen, denn die Waage kann ja defekt sein oder es können störende Einflüsse vorliegen. Ein Meßverfahren liegt aber nur dann vor, wenn es für dasselbe Objekt in aller Regel denselben Wert der gemessenen Größe ergibt. Von einer Messung kann man ferner nur reden, wenn die Anzeige des Instruments ohne Probleme ablesbar ist, d.h. wenn unsere Eindrücke vom Stand des Zeigers auf der Skala in der Regel zuverlässig sind. Auch in den abstrakten Sphären der Physik gibt es also Eindrücke, die aus analytischen Gründen in der Regel zuverlässige Auskunft über das Vorliegen von objektiven Sachverhalten geben. Diese beiden Hinweise legen also die Annahme analytischer Wahrscheinlichkeitskorrelationen zwischen gewissen Eindrücken und objektiven Sachverhalten nahe. Sie ist einerseits mit der realistischen These verträglich, daß aus Eindrücken keine natürlichen Sachverhalte deduktiv folgen, andererseits ergibt sich aus ihr die Möglichkeit, Aussagen über die Welt auf der Grundlage unserer Eindrücke induktiv zu begründen. Damit ist der Vorwurf entkräftet, die rea-
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Vgl. dazu genauer Kutschera (1993a), S. 170f.
2.3 Realismus
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listische These habe eine Erkenntnisskepsis zur Folge: Gibt es solche Wahrscheinlichkeitskorrelationen, so kann man Annahmen über die Welt rechtfertigen. Heute ist eine andere Lösung des skeptischen Problems in Mode, die der Evolutionären Erkenntnistheorie. Sie besagt, daß unser kognitiver Apparat in einem langen Prozeß der Anpassung an unsere Umwelt entstanden und damit - jedenfalls im Bereich des Mesokosmos, des Kosmos der mittleren Dimensionen - in der Regel zuverlässig ist. Wäre er unserer Umwelt nicht angepaßt, so hätten wir nicht überlebt. Da wir leben, sind wir also kognitiv angepaßt. Diese evolutionstheoretische Lösung des Problems der Erkennbarkeit der Welt ist, philosophisch gesehen, aber doch recht naiv. Sie setzt erstens die Erkennbarkeit der Welt voraus, kann sie also nicht zirkelfrei begründen. Geht man davon aus, daß die Evolutionstheorie richtig ist, so nimmt man an, daß sich die Welt jedenfalls in diesem Punkt erkennen läßt, braucht das also nicht mehr zu beweisen. Zweitens geht die Evolutionäre Erkenntnistheorie ohne weiteres davon aus, Erkenntnisfähigkeit sei ein selektiver Vorteil. Das kann man aber durchaus bezweifeln. Was ein Lebewesen zum Uberleben braucht, ist zunächst nur, daß es auf die Situationen, in die es in seiner Umwelt normalerweise gerät, in passender Weise reagiert. Dafür sind Bewußtsein und Erkennen unnötig, das können auch Roboter. Man könnte vielleicht einen Vorteil darin sehen, daß die Vermittlung zwischen Sinnesreizen und Reaktionen über irgendwelche Repräsentationen läuft, und vielleicht fällt einem evolutionären Erkenntnistheoretiker auch noch ein, welchen Vorteil bewußte Repräsentationen, etwa Vorstellungen haben könnten. Für das Angepaßtsein des Organismus ist es aber keineswegs erforderlich, daß seine Repräsentationen richtig sind, daß er sich also die Welt so vorstellt, wie sie tatsächlich ist. Es genügt irgendeine Repräsentation, sofern sie nur Umständen, in denen sich das Lebewesen zweckmäßigerweise unterschiedlich verhalten sollte, unterschiedliche Repräsentanten zuordnet. Konrad Lorenz, der die „Rückseite des Spiegels" menschlicher Erkenntnis beleuchtet hat, vergaß - klassischer Fall einer self-excepting fallacy - , daß auch der Spiegel eines Biologen eine Rückseite hat. Auch die Evolutionäre Erkenntnistheorie sieht die Welt durch die Brille unseres
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kognitiven Apparats. Kein Wunder, daß diese Brille dann als besonders gut angepaßt erscheint.44 Ein weiterer Einwand gegen den schwachen Realismus ist das klassische Argument gegen den Erfahrungsrealismus, nach dem nicht Dinge der Außenwelt, sondern Vorstellungen, mentale Repräsenstationen, Eindrücke, Empfindungen oder Sinnesdaten die Gegenstände unserer Erfahrung sind.45 Wenn ihm nicht der simple Fehlschluß vom mentalen Charakter einer Erfahrung auf den mentalen Charakter des Erfahrenen zugrunde liegt, verläuft es etwa nach folgendem Schema: Nehmen wir an, ein Tiger, den ich betrachte, habe 12 dunkle Streifen, während ich den Eindruck habe, er hätte 13. Es gibt dann 13 Dinge, von denen es mir erscheint, als seien sie Streifen des Tigers - 1 3 Gegenstände meiner Erfahrung. Nach dem eines davon nicht real, sondern bloß „phänomenal" ist, sich aber von den anderen qualitativ nicht unterscheidet, sich also auch nicht identifizieren läßt, kann man nicht sagen, es seien 12 reale Dinge und ein phänomenales, sondern man muß sagen: alle 13 sind phänomenale Objekte, denen insgesamt nur 12 reale Streifen entsprechen. Wir haben es also in der Erfahrung nicht mit realen, sondern mit phänomenalen Objekten zu tun, die nur in unserem Kopf existieren. Der Fehler dieser Argumentation liegt im Schluß von „Es erscheint mir, als gäbe es η Objekte mit der Eigenschaft F' auf „Es gibt η Objekte, von denen es mir erscheint, als hätten sie die Eigenschaft F'. Gesteht man zu, daß die Gegenstände der Erfahrung keine mentalen, sondern physische Objekte sind, so kann man immer noch gegen die These argumentieren, sie erschienen uns in der Erfahrung im wesentlichen und in der Regel so, wie sie sind. Das sieht dann etwa so aus: Sinnliche Eindrücke sind Produkte einer 44
45
Ähnliche Einwände gelten für andere Versuche einer Naturalisierung der Erkenntnistheorie. Vgl. dazu Q u i n e (1969), den Aufsatz, der als Initialzündung für eine breite Diskussion gewirkt hat, von der z.B. Kornblith (1985) ein Bild gibt; dort findet man auch eine ausführliche Bibliographie. Zu diesem und dem folgenden idealistischen Einwand vgl. ausführlicher Kutschera (1981), Kap. 4 und 5.
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Wechselwirkung zwischen natürlichen Dingen oder Vorgängen und unserer menschlichen Wahrnehmungsorganisation. Der Erfahrungsrealismus ignoriert die subjektiven Faktoren, wenn er davon ausgeht, die Natur sei in der Regel so beschaffen, wie sie uns erscheint. Daß man aus den Erscheinungen nicht direkt auf die objektive Beschaffenheit der Natur schließen kann, sollen insbesondere die sekundären Qualitäten belegen, d.h. jene Qualitäten, welche die Dinge für uns zu haben scheinen, die man ihnen aber nicht selbst zusprechen kann. Die Dinge erscheinen uns z.B. als warm oder kalt, rot oder blau, süß oder bitter, hart oder weich. Dasselbe Wasser oder derselbe Wind kann jedoch dem einen als warm, dem anderen als kalt erscheinen, und derselbe Wein, schmeckt dem Gesunden süß, dem Kranken bitter. Da dasselbe Ding nicht zugleich gegensätzliche Qualitäten haben kann, lassen sich solche phänomenalen Qualitäten nicht den Dingen selbst zusprechen; es sind also keine primäre Qualitäten. 46 George Berkeley hat versucht zu zeigen, daß sämtliche wahrnehmbaren Q u a litäten sekundär sind, und zog daraus den Schluß, der Erfahrungsrealismus sei falsch. Man kann ja nicht behaupten, wir nähmen objektive Dinge wahr, wenn sich keine der Qualitäten, mit denen wir sie erfahren, ihnen selbst zuschreiben läßt. Er schloß dann aus der Unhaltbarkeit des Erfahrungsrealismus auf die des Realismus überhaupt, auf die Nichtexistenz einer extramentalen Welt. 47 Der Einwand setzt fälschlich voraus, im Erfahrungsrealismus werde nicht zwischen Sein und Erscheinen unterschieden. Der schwache Realismus besagt jedoch gerade, daß man aus dem Erscheinen nicht unmittelbar aufs Sein schließen kann, und tatsächlich tun wir das ja auch im Alltag nicht. Wir unterscheiden sehr wohl zwischen .jemandem als warm erscheinen' und ,warm sein'. Obwohl ferner Eindrücke das Produkt einer Wechselwirkung zwischen Objekt und Subjekt sind, ist z.B. die Eigenschaft .Menschen mit normaler Farbsichtigkeit normalerweise als rot 46
47
Die Unterscheidung primärer und sekundärer Qualitäten geht schon auf Demokrit zurück. Sie wird auch in Piatons Theätet erörtert; vielleicht lag die Ansicht, alle beobachtbaren Qualitäten seien sekundär, dem homo-mensura-Satz des Protagoras zugrunde. Vgl. dazu z.B. Kutschera (1981), 4.3.
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erscheinen' eine Eigenschaft von Dingen. 48 Es ist also falsch zu behaupten, die Dinge, die uns als rot erscheinen, hätten keine gemeinsamen Eigenschaft. Was sollte uns denn sonst als rot erscheinen? Doch sicher nicht die Eindrücke selbst oder Rotempfindungen! 4 9 Auch die Behauptung, die Physik zeige ja, daß die materiellen Dinge tatsächlich ganz anders beschaffen seien, als uns das aufgrund unserer Wahrnehmungsorganisation erscheint, ein kompaktes Stück Eisen sei z.B. tatsächlich eine Anordnung von A t o men, die vorwiegend aus leerem Raum besteht, ist unsinnig. Etwas heißt im alltäglichen Sinn „kompakt", wenn es dem Versuch, es zu durchdringen, z.B. mit einer Nadel, erheblichen Widerstand entgegensetzt, wenn es keine sichtbaren Zwischenräume enthält, etc. In diesem Sinn ist das Stück Eisen tatsächlich kompakt. In der Physik beschreiben und analysieren wir die Dinge mit anderen Begriffen, das heißt aber nicht, daß ihre Beschreibungen richtiger wären als die alltäglichen, sie sind lediglich für manche Zwecke geeigneter als diese. Wie die Welt wirklich ist, sagt uns nicht nur die Physik,
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49
Die Unterscheidung primärer und sekundärer Qualitäten beruht, historisch gesehen, auf der Auffassung, alle Relationen zwischen Dingen ergäben sich aus deren Eigenschaften und ließen sich durch diese definieren oder seien jedenfalls, wie man heute sagen würde, supervenient bzgl. der Eigenschaften. Für sehr viele Relationen trifft das aber nicht zu. Die Vorstellung der Eliminierbarkeit von Relationen führte dazu, daß man relationale Eigenschaften, d.h. Eigenschaften, die mit Relationen definiert sind, wie z.B. ,Zum Objekt a in der Relation R stehen' oder ,Zu etwas in der Relation R stehen' nicht als genuine Eigenschaften der Dinge selbst ansah. - Eine ganz andere Frage ist, wie sich Dinge mit physikalischen oder chemischen Begriffen beschreiben lassen, die uns als rot, bitter oder warm erscheinen. Vgl. dazu a.a.O. 4.1. Ein spätes Opfer dieser alten begrifflichen Konfusionen ist H. Küppers in seinem ansonsten ausgezeichneten Buch (1997), wenn er immer wieder behauptet, Farbe existiere nur als Sinnesempfindung (§ 8) und das z.B. damit belegt, daß uns farblose Folien aufgrund bestimmter Eigenschaften und bei bestimmter Beleuchtung als farbig erscheinen können. Ein langer Weg kann mir auch als kurz erscheinen, aber deswegen existiert Länge nicht bloß als Empfindung.
2.3 Realismus
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sondern darüber gibt jede korrekte Beschreibung Auskunft. Der Biologe, der den Lebenszyklus eines Insekts beschreibt, oder der Historiker, der den Feldzug Caesars in Gallien schildert, verwendet nicht die Sprache der Physik, aber er macht zweifellos korrekte und informative Behauptungen über die Welt. Auf weitere Einwände gegen den Realismus will ich hier nicht eingehen, da sie wenig Gewicht haben oder auf fragwürdigen Voraussetzungen beruhen, wie z.B. dem Cartesischen Dualismus. Eine Widerlegung von Einwänden gegen eine Position ergibt nun noch keine Rechtfertigung für sie. Wir wollen uns daher der Frage zuwenden, ob und wie sich der Realismus begründen läßt. In der neuzeitlichen Philosophie ist das Realismusproblem durch seine Formulierung bei Descartes geprägt. In den Meditationes deprima philosopbia stellt er sich die Aufgabe, philosophische - und das heißt für ihn zugleich: wissenschaftliche - Erkenntnis auf ein festes Fundament zu stellen. Dazu prüft er zunächst, was sich als Fundament eignet, was sich vernünftigerweise nicht bezweifeln läßt. Als Ausgangspunkt ergibt sich ihm dabei ein methodischer Solipsismus. Unbezweifelbar sind zunächst nur die eigene Existenz als denkendes Wesen und die eigenen mentalen Zustände und Akte. Die Aufgabe ist dann, von dieser Basis her zu begründen, daß die physische Natur existiert und jedenfalls partiell erkennbar ist, daß man einen Körper hat und daß es andere Personen gibt. Die Argumente Descartes für diese Annahmen haben schon die meisten seiner Zeitgenossen nicht überzeugt, seine Fragestellung hingegen prägt die Diskussionen bis heute. Von der Basis eines methodischen Solipsismus aus läßt sich jedoch kein Realismus begründen; tatsächlich läßt er sich überhaupt nicht begründen. Der Realismus ist ein fundamentales Charakteristikum unseres Selbstverständnisses und unserer Weltsicht und liegt auch unserer Sprache zugrunde. Wie dieses Paradigma selbst läßt er sich daher nicht begründen, weder von außerhalb, denn dafür steht uns nicht einmal eine passende Sprache zur Verfügung, noch innerhalb des Paradigmas selbst, denn dabei würden wir immer schon voraussetzen, was wir begründen wollen. Eine Rechtfertigung des Realismus ist wohl nur in dem Sinn möglich, daß wir darauf reflektieren, wie tief er in unserem Denken und Sprechen verankert ist.
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Erkenntnis
Dieses Vorgehen ergibt sich auch aus der Einsicht, daß es für uns keinen externen Standpunkt gibt. Danach kann Erkenntnistheorie generell nur der Versuch einer immanenten Deutung unseres Denkens und Erfahrens sein. Immanent heißt, daß wir nicht beim Punkt Null anfangen können, sondern uns mit den gegebenen Mitteln unserer Sprache, unseres Begriffssystems, unserer Logik und Erfahrung deren Strukturen verdeutlichen müssen. Erkenntnistheorie ist so kein voraussetzungsloses Beginnen, sondern eine Reflexion auf das, was wir im Denken, Erfahren und Sprechen immer schon tun. Der Rahmen, in dem wir uns bewegen, ist dabei weniger im Sinne Kants durch invariante Strukturen der menschlichen Vernunft bestimmt, als im Sinne Kuhns durch ein Paradigma, das vor allem auch Produkt kultureller Entwicklungen ist. Dieser Rahmen bestimmt freilich nicht schon das Ergebnis erkenntnistheoretischer Reflexionen - wir haben ja z.B. schon gesehen, daß er in unserem Fall weit genug ist für verschiedene Versionen des Realismus. Wir legen unsere Erfahrungen von vornherein realistisch aus. Der erste Schritt dazu ist, daß wir unsere sinnlichen Eindrücke intentional, als Eindrücke von etwas auffassen. Wir unterscheiden zwischen Empfindungen und Eindrücken. Empfindungen sind nicht intentional. Eine Rotempfindung z.B. ist nicht immer Empfindung von einem Gegenstand - sie kann ja auch durch einen Druck auf das geschlossene Auge erzeugt werden. Aussagen über Eindrücke haben hingegen die Gestalt „Ich habe den Eindruck, d a ß p " („Es erscheint mir, als ob/?"), wobei/? ein Sachverhalt ist, der durch einen Beobachtungssatz ausgedrückt wird, also z.B. „Ich habe den Eindruck, daß vor mir ein Blatt weißes Papier liegt". Ein Eindruck ist daher Eindruck eines Subjekts mit dem Inhalt, daß ein natürlicher Sachverhalt besteht. Mit der intentionalen Struktur von Eindrücken verbindet sich eine Unterscheidung von Subjektivem und Objektivem. Das Objektive ist der Inhalt, das Subjektive umfaßt das Subjekt selbst sowie das Haben des Eindrucks und dessen Qualitäten, also etwa seine Klarheit oder Lebendigkeit, d.h. Eigenschaften, die nicht den Gegenstand oder Inhalt charakterisieren, sondern die Beziehung zwischen Subjekt und Inhalt, die Art und Weise des Erscheinens. Die Unterscheidung von Subjektivem und Objektivem ist durch
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Realismus
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den Charakter der Eindrücke selbst nicht immer eindeutig vorgezeichnet, sondern ist auch Sache der Deutung. Die Deutung vollzieht sich schon in der begrifflichen Bestimmung und der sprachlichen Beschreibung des Eindrucks. Beschreiben wir einen Eindruck, so legen wir schon fest, was zu seinem Inhalt gehört und was zur Weise des Gegebenseins dieses Inhalts. Sinnliche Eindrücke sind nun passiv. Wir können von uns aus nicht beliebige Eindrücke erzeugen, sondern allenfalls mittelbar bewirken, daß wir gewisse Eindrücke haben - den Eindruck von etwas Rotem z.B., indem wir den Blick auf eine rote Fläche lenken. Die Passivität der Eindrücke ist ein wichtiger Grund, ihre Inhalte einer außenweltlichen, extramentalen Realität zuzuordnen. Wir erzeugen sie nicht selbst, sie sind keine Produkte unseres Denkens oder unserer Phantasie, also liegt der Gedanke nahe, daß sie ihre Ursache in einer anderen Wirklichkeit haben. Phänomenologisch gesehen sind die Gegenstände unserer Eindrücke (jene Objekte, auf die sich die Inhalte beziehen) etwas, das uns gegenüber steht. Die Passivität der Eindrücke ist also ein wichtiges Indiz dafür, daß wir es in der Erfahrung mit einer anderen, von uns unabhängigen Realität zu tun haben, und spricht damit für den Realismus. 50 Eindrücke enthalten freilich insofern auch ein aktives Moment, als wir ihren Inhalt begrifflich bestimmen. Davon war gerade schon die Rede. Damit uns der Inhalt eines Eindrucks klar und distinkt vor Augen ist, wie Descartes sagt, müssen wir ihn begrifflich erfassen. In vielen Fällen ist diese Bestimmung mehr oder minder eindeutig vorgezeichnet, oft haben wir jedoch auch Probleme, das, was sich uns in einem Eindruck darbietet, z.B. einen Farbton oder einen Geruch, begrifflich adäquat zu fassen. In solchen Fällen wird uns die Aktivität bei der Bestimmung des Inhalts besonders deutlich, der Anteil des Denkens an der Erfahrung. Seit Piaton wird Denken oft als „stilles Sprechen" bezeichnet. 51 Damit meint man heute, daß wir die Begriffe, die wir verwenden, mit unserer Sprache erwerben, daß die Sprache, wie Wilhelm von 50
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Das gilt auch für Träume. Die erfüllen aber eine weitere Bedingung nicht, die Kohärenz, von der unten die Rede ist. Zum Verhältnis von Denken und Sprechen vgl. den Abschnitt 3.1 unten.
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Humboldt sagt, das universelle Werkzeug des Begreifens ist. Wir verwenden dabei keine Privatsprache, sondern eine Sprache, die wir mit anderen gemeinsam haben. Das ist nun ein wichtiger Punkt gegen den Solipsismus: Bereits die Bestimmung und Unterscheidung von Eindrücken und ihren Inhalten setzt über die gemeinsame Sprache die Existenz anderer Personen voraus, Personen, mit denen wir unsere Erfahrungsinhalte und damit die erfahrene Welt gemeinsam haben. Ich komme darauf unten noch einmal zurück. Es wurde schon in 2.1 betont, daß sich mit einem Eindruck, etwas sei so, noch nicht das Urteil verbindet: „Es ist so". In der Regel sehen wir zwar unsere Eindrücke als zuverlässig an und gehen von ihnen ohne weiteres zu den entsprechenden Urteilen über, aber das ist keineswegs immer so. Das Fällen von Urteilen, das Bilden von Annahmen ist eindeutig eine Aktivität. Ein wichtiges Kriterium für die Anerkennung eines Eindrucks ist nun die Verträglichkeit des resultierenden Urteils mit unseren sonstigen Annahmen und Erwartungen, die Kohärenz des entstehenden Systems von Annahmen. Oft geben wir bisherige Überzeugungen aufgrund widersprechender Beobachtungen auf, generelle Annahmen, die sich auf viele andere Beobachtungen stützen und sich bisher gut bewährt haben, stellen wir wegen einer einzelnen abweichenden Erfahrung hingegen nicht in Frage; wir sind dann eher geneigt, den Eindruck als unzuverlässig anzusehen. Wir beziehen alle Erfahrungen auf dieselbe Wirklichkeit und sehen diese als etwas an, das gewisse feste Strukturen hat und in dem bestimmte Gesetzmäßigkeiten gelten. Nur unter dieser Annahme macht es Sinn, eine Beobachtung durch andere zu überprüfen und durch ihre Verträglichkeit mit Annahmen, die sich auf frühere Beobachtungen stützen. Sie ist eine Vorbedingung des Lernens aus Erfahrung und damit des planmäßigen Handelns. Hätten wir es in unseren Erfahrungen ständig mit einer anderen Realität zu tun oder mit einer, deren Beschaffenheit sich ständig wandelte, die keine bleibenden Strukturen und Zusammenhänge, keine Regularitäten aufwiese, so könnten wir aus vergangenen Erfahrungen nichts über die Verhältnisse lernen, die wir künftig antreffen werden. Ein weiteres Kriterium für die Beurteilung von Eindrücken ist die intersubjektive Ubereinstimmung. Zur gemeinsamen Sprache
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Realismus
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gehört auch, daß wir, jedenfalls bzgl. einfacher, direkt beobachtbarer Sachverhalte, in der Regel zu denselben Urteilen kommen. Wittgenstein sagt: „Zur Verständigung durch die Sprache gehört nicht nur eine Ubereinstimmung in den Definitionen, sondern ... eine Ubereinstimmung in den Urteilen". 52 Versichern mir alle Umstehenden glaubhaft, daß sie da, wo ich ein Ufo zu sehen glaube, nichts sehen, so werde ich die Zuverlässigkeit meines Eindrucks in Zweifel ziehen, selbst wenn er noch so klar und lebendig ist. Dieses Objektivitätskriterium setzt ebenfalls die Existenz anderer Personen voraus, ist also für einen solipsistischen Ansatz nicht verfügbar. Neben der Passivität der Eindrücke, der Intersubjektivität und Kohärenz des Erfahrenen, trägt endlich auch die Offenheit der Erfahrungen zum objektiven Charakter der Natur bei. Wir bilden uns unsere Ansichten über die Welt aufgrund der vergangenen und gegenwärtigen Erfahrungen. Da wir immer neue Erfahrungen machen, besteht aber grundsätzlich stets die Möglichkeit, daß wir diese Ansichten in Zukunft aufgeben oder modifizieren müssen. Daher können wir die Natur als den bleibenden Gegenstand unserer Erfahrungen nicht als Konstruktion des menschlichen Geistes auffassen. Eine Konstruktion kann den Konstrukteur nicht überraschen, sie kann keine Eigenschaften haben, die er ihr nicht verliehen hat. Die Axiome der mathematischen Gruppentheorie bilden eine notwendigerweise richtige und vollständige Theorie der Gruppen, weil sie festlegen, was Gruppen sind.53 Physikalische Theorien sind hingegen nur kontingenterweise richtig oder vollständig, da sie sich auf einen offenen Horizont von Erfahrungen beziehen. Die Natur ist kein Konstrukt menschlichen Denkens. Produkte des Denkens sind allein unsere Theorien über die Welt, und die müssen sich an immer neuen Erfahrungen bewähren. Frege sagt: „Mit dem Schritt, mit dem ich mir eine Umwelt erobere, setze ich mich der Gefahr des Irrtums aus". 54 Man kann das auch so verstehen: Zur realen Umwelt zählt nur, worüber man sich Wittgenstein (1953), § 242. Statt „Definitionen" könnte man auch sagen „sprachliche Bedeutungen". ' 3 Vgl. dazu 5.1. 5 4 Frege Kleine Schriften, S. 358. 52
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irren kann - von logisch-mathematischen Irrtümern einmal abgesehen. Wir haben den Realismus bisher als ein leitendes Prinzip der Auslegung unserer Erfahrungen erörtert. Dabei kommen wir selbst nur als Zuschauer des Geschehens auf der Weltbühne vor. Diese Sicht ist aber zu eng, und damit kommen wir zu einem weiteren Punkt der Kritik am cartesischen Ansatz in der Erkenntnistheorie. Wir gehören selbst zur Welt, wir existieren in ihr und greifen handelnd in ihre Abläufe ein. Beides prägt unsere Konzeption von Welt und Erfahrung von Anfang an. Die Tatsache, daß wir uns unter den Gegenständen unserer Erfahrung befinden, ist überhaupt schon Vorbedingung dafür, daß wir die Natur beschreiben können, also nichts, was man in späteren Schritten der Überlegung hinzufügen könnte. Die Möglichkeit auf Dinge, Orte und Daten zu referieren hängt daran, daß wir mit dem Wort „hier" den Ort anzeigen können, an dem wir uns gerade befinden, und mit „dies" ein Objekt, auf das wir hinweisen. 55 Beide Möglichkeiten hätte eine körperlose cartesische Seele nicht. Wir können zwar Ortsangaben auch objektivieren, indem wir z.B. bei Dingen auf der Erdoberfläche ihre genaue Lage nach Länge und Breite angeben, und wir können das Objekt, auf das wir hinweisen, durch seinen momentanen Ort in diesen Koordinaten bestimmen. Das setzt aber voraus, daß wir uns über die Lage des Nullmeridians und des Äquators verständigen können. Der Nullmeridian läuft durch die alte Sternwarte in Greenwich. Wo Greenwich ist, läßt sich durch den Namen eines bekannten anderen Orts spezifizieren, und durch Angabe der Richtung und Entfernung von Greenwich von diesem Ort. Für den anderen Ort stellt sich aber dasselbe Problem, so daß eine Antwort letztlich die Wörter „hier" oder „dort" verwenden muß. Wo Norden und Osten ist, können wir in letzter Instanz nur mit dem Hinweis „in dieser Richtung" angeben. Analoges gilt für Zeitangaben. Eine Datumsangabe wie „am 12.3.1995 nach Christi Geburt" erfordert die Festlegung, wann Christus geboren wurde - im kalendarischen Sinn. „Christus wurde im Jahre 0 geboren" wäre offenbar keine zureichende Antwort, die Aus55 Vgl. dazu Kutschera (1993a), 9.2.
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kunft: „Vor 1997 Jahren" bezieht sich aber auf den jetzigen Zeitpunkt. Wir können also nur deswegen auf konkrete Dinge und Ereignisse referieren, weil wir selbst in Raum und Zeit existieren, weil wir selbst zur Welt gehören, über die wir reden; weil wir keine cartesischen Seelen sind, sondern Personen mit Leib und Seele.56 Wir müssen uns zudem eine Position unter den Dingen zuschreiben und unsere Wahrnehmungen als Vorgänge in Raum und Zeit verstehen, um eine Abhängigkeit unserer Eindrücke von unserer Stellung zum Objekt und unserer Entfernung von ihm annehmen und so inhaltlich verschiedene Eindrücke als Eindrücke von denselben Dingen auffassen zu können. Die reale Existenz der Welt ergibt sich damit schon aus unserer eigenen Existenz: Können wir nicht bezweifeln, daß wir selbst existieren und müssen wir uns als in der Natur existierend begreifen, so können wir auch deren Existenz nicht bezweifeln. Wir sind ferner selbst Akteure auf der Bühne jener Welt, die wir erfahren, und auch das prägt unser Verständnis der Natur entscheidend. Georg Henrik von Wright hat in (1974) die Ansicht vertreten, unsere Konzeption von Naturgesetzen und naturgesetzlicher Notwendigkeit beruhe darauf, daß wir in den natürlichen Ablauf der Dinge eingreifen können. 57 Die Aussage: „Alle Äpfel in diesem Korb sind rot" hat, im Gegensatz zu „Alles Wasser, das auf 100° erhitzt wird, kocht" keinen gesetzesartigen Charakter, weil daraus nicht der irreale Konditionalsatz folgt: „Wenn dieser (grüne) Apfel sich im Korb befände, wäre er rot". Wahrheitsbedingungen für irreale Konditionalsätze nehmen auf unrealisierte Möglichkeiten des Weltverlaufs Bezug, und nach v.Wright stammen unsere Vorstellungen über solche Möglichkeiten aus den Handlungsalternativen, die wir uns zuschreiben, den Alternativen, so oder so in den Weltverlauf einzugreifen. Zu unseren Vorstellungen über die Welt gehören auch Annahmen darüber, was in einem Moment möglich ist oder wem was möglich ist, und was geschehen würde, wenn eine solche Möglichkeit realisiert würde, also Konzeptionen über alternative Weltverläufe. Auf ihnen beruht nach v.Wright unsere Konzeption von Naturgesetzen, von 56 57
Vgl. dazu den Abschnitt 6.5. Vgl. dazu 5.1.
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dem, was in jedem Fall geschieht, was immer wir tun. Sie sind zudem für planvolles Handeln unerläßlich, denn nur wenn wir eine Vorstellung davon haben, was passieren wird, wenn wir jetzt dies oder jenes tun, können wir uns sinnvoll für eine Alternative entscheiden. Die Welt ist für uns auch der Inbegriff der Bedingungen, unter denen unser Handeln sich vollzieht. Ihre Realität zeigt sich darin, daß sie unserem Handeln Widerstand leistet, daß sein Erfolg unsicher ist, daß wir die natürlichen Gegebenheiten und Gesetzmäßigkeiten benützen müssen, u m unsere Ziele zu erreichen. Hängt der Erfolg unseres Handelns nicht nur von uns ab, so muß es etwas anderes geben, von dem er ebenfalls abhängt. Auch Beobachten ist eine Aktivität. Wenn wir uns ein Gebäude genau ansehen wollen, müssen wir näher hinzu oder weiter zurück treten, darum herumgehen, um uns auf diese Weise verschiedene Ansichten der Sache zu verschaffen, Eindrücke, die wir dann zu einem Gesamtbild verarbeiten. Wären wir bloße cartesische Seelen, so könnten wir uns diese physische Aktivitäten und damit auch Erfahrungen im normalen, vollen Sinn des Wortes zunächst gar nicht zuschreiben. Zu meiner Außenwelt gehören endlich auch andere Personen. Zu den „fundamentalen Rätseln der Philosophie" zählt die Frage, wie man erkennen könne, daß es andere Personen gibt, daß andere Wesen, die aussehen und sich verhalten wie wir, tatsächlich auch ähnlich empfinden, erfahren und denken wie wir. Die Schwierigkeit besteht angeblich darin, daß wir nur ihr äußeres Verhalten direkt beobachten können, nicht aber ihr seelisches Leben, eine Verbindung zwischen beiden aber nur im eigenen Fall feststellen können. 58 Dieses Problem ist aber von vornherein schief gestellt: Unser eigenes Denken und Erfahren vollzieht sich, wie wir sahen, im Medium einer intersubjektiven Sprache. Wir verstehen die Welt von Anfang an als eine gemeinsame Welt und richten uns in dem, was wir als real ansehen, auch nach dem Kriterium intersubjektiver Ubereinstimmung. Wir begreifen uns selbst daher immer schon als Glieder einer personalen Gemeinschaft und setzen voraus, daß es andere Menschen gibt. D a s „Ich" ist nicht ursprünglicher als das „ D u " . Probleme ergeben sich nur bei der Zuschreibung bestimm5» Vgl. dazu Kutschera (1993a), 7.4.
2.3
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ter seelisch-geistiger Fähigkeiten im Einzelfall. Das sind aber keine philosophischen, sondern psychologische Probleme. Es ist sicher oft schwierig, sich eine genauere Vorstellung davon zu machen, was in den Köpfen anderer Menschen vorgeht, aber das hat nichts mit der „fundamentalen" Frage zu tun, wie sich die Annahme der Existenz anderer Personen prinzipiell rechtfertigen läßt. Vor dieser Frage steht der Solipsismus, und das unterstreicht noch einmal seine Unbrauchbarkeit als methodischer Ausgangspunkt der Erkenntnistheorie. Man kann vom Eigenseelischen her nicht alles andere erschließen: Die eigene Körperlichkeit, die Natur und die Mitmenschen. Wie wir sahen muß man weit mehr voraussetzen, weil Psychisches und Physisches, Denken und Sprechen, Sprache und Gemeinschaft eng miteinander zusammenhängen. Insbesondere lassen sich Psychisches und Physisches nicht in Isolation, sondern nur in Abgrenzung voneinander bestimmen zunächst als subjektive und objektive, als Akt und Inhalt bestimmende Momente der Erfahrung. Der Solipsismus ist - für mich die Position, die zunächst nur mich selbst als Subjekt sowie meine eigenen mentalen Zustände und Akte annimmt. Es gibt kein dafür passendes Ich, denn wenn ich „ich" sage, meine ich damit schon immer mich selbst in meiner leibseelischen Gesamtheit, in meiner Situation in der Natur und als Handelnden. Gegen diese ganze Argumentation könnte man nun einwenden, die Hinweise auf unsere Existenz in der Welt, unsere Körperlichkeit, unser Handeln in der Natur und die gemeinsame Sprache, die wir immer schon verwenden, brächten nichts für die Frage nach einer bewußtseinsunabhängigen Außenwelt, für einen Ausschluß der Möglichkeit, daß ich bloß eine isolierte cartesische Seele bin, der ein bösartiger Dämon die Existenz einer körperlichen Welt vorspiegelt, in der ich lebe und handle, und in der andere Personen existieren, mit denen mich eine gemeinsame Sprache verbindet. Es könnte ja auch sein, daß ich mich nur aufgrund dieser umfassenden Täuschungen nicht als das rein seelische Subjekt begreife, das ich tatsächlich bin. Dieser Einwand wäre aber verfehlt. Es ging hier nicht um eine Begründung für den Realismus, für die Existenz der Außenwelt von einer neutralen Basis aus, sondern um eine Rechtfertigung des Realismus in unserem normalen Paradigma durch den Nachweis, daß er eine fundamentale, nicht herauslösba-
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re Komponente dieses Paradigmas ist. Wenn man sich einmal darüber klar geworden ist, daß es für uns keinen externen Standpunkt gibt, und daß Erkenntnistheorie immer nur eine immanente Auslegung unserer Erfahrungen sein kann, läßt sich im übrigen prinzipiell nicht ausschließen, daß die Welt, wie sie sich uns in unseren Erfahrungen darstellt, der Wirklichkeit an sich überhaupt nicht entspricht, daß sie Konstrukt eines cartesischen Dämons oder Wirkung undurchschaubarer kausaler Mechanismen ist. Als schwache Realisten könnten wir nur sagen: Was sollen wir uns um völlig unbeweisbare Möglichkeiten und unerkennbare Realitäten kümmern, wenn das, womit wir es in unserer Erfahrung zu tun haben, die Natur, schon großartig und rätselhaft genug ist? Uns ist nur eine Innenansicht der Wirklichkeit möglich, mit der wir es im Erleben und Handeln zu tun haben, und sie allein ist unsere Welt.
2.4 Wissenschaftlicher Realismus Die Diskussion um den Wissenschaftlichen Realismus betrifft die Frage, ob man auch theoretische Konstrukte wie z.B. Quarks oder Gravitationsfelder, die sich direkter Beobachtung entziehen, als real ansehen kann, sofern sie in erfolgreichen Theorien verwendet werden, oder ob sie lediglich nützliche Fiktionen darstellen. Obwohl theoretische Konstrukte in den folgenden Kapiteln keine Rolle spielen, will ich auf diese Frage eingehen, da sie auch den Horizont des Realismus betrifft, den Begriff des Beobachtbaren und das empiristische Erkenntnismodell. Die Diskussion geht vom Zwei-Schichten-Modell einer wissenschaftlichen Sprache aus, wie es von Rudolf Carnap entwickelt wurde. Ich habe oben eine Beobachtungssprache so charakterisiert, daß ihre deskriptiven - also nicht logischen oder mathematischen - Terme für direkt Beobachtbares stehen: die Namen für direkt beobachtbare Dinge, die Prädikate für direkt beobachtbare Attribute solcher Dinge. Es war nun zunächst die These des Empirismus, daß sich alle empirisch sinnvollen Terme durch Beobachtungsterme definieren lassen. Daher war die Erkenntnis, daß das z.B. schon bei einfachen Dispositionsprädikaten wie „wasserlöslich" oder „magnetisch" nicht gelingt, ein erster, herber
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Wissenschaftlicher Realismus
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Rückschlag für den Empirismus. 59 Das Zwei-Schichten-Modell war die Antwort auf diese Situation. Es besteht darin, daß eine wissenschaftliche Sprache S als Erweiterung einer Beobachtungssprache S B durch die theoretischen Terme einer Theorie Τ aufgefaßt wird. Das sollen Grundterme sein, die sich durch Beobachtungsterme nicht definieren lassen. Alle Sätze von S mit solchen Termen gehören zur theoretischen Sprache S T von 5". S besteht also aus zwei Schichten, 5 B und S T . Am Zwei-Schichten-Modell läßt sich studieren, ob und wie die vorausgehende Interpretation der Beobachtungssprache S B auch eine Deutung der theoretischen Terme ergibt, ihnen also einen empirischen Sinn vermittelt. Carnaps erster Ansatz in (1936) ging von Dispositionsprädikaten aus. Für ihre Anwendbarkeit sollte es Beobachtungskriterien geben, die Carnap als „Reduktionssätze" bezeichnete. Reduktionssätze für das Prädikat „magnetisch" lauten z.B. „Wenn χ magnetisch ist und man Eisenfeilspäne in die Nähe von χ bringt, so werden sie von χ angezogen" oder „Führt man χ durch einen Kreisleiter, so ist χ genau dann magnetisch, wenn im Leiter ein Strom induziert wird". Für andere theoretische Terme liegt der Fall jedoch nicht so einfach, und man kann dann nur fordern, daß es irgend welche „Korrespondenzregeln" gibt, welche die theoretischen Terme mit Beobachtungstermen verbinden und ihnen dadurch einen empirischen Sinn mitteilen. Theoretische Terme werden jedoch nicht einzeln durch Korrespondenzregeln gedeutet, sondern auch durch Postulate, die sie mit anderen theoretischen Termen verbinden, so daß man allgemein nur sagen kann: Theoretische Terme werden durch die gesamte Theorie Τ gedeutet, in der sie vorkommen; das pauschale Bedeutungspostulat für alle theoretischen Terme einer Theorie Τ ist die Annahme, Τ sei wahr.
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Vgl. dazu Stegmüller (1970), 1. Halbbd., Teile Β und C, oder Kutschera (1972), Kap. 3. Man kann Dispositionsprädikate zwar mit modallogischen Hilfsmitteln definieren, aber erstens standen in den 30er Jahren noch keine passenden modallogischen Sprachen zur Verfügung, und zweitens sind objektive Modalitäten für Empiristen seit H u m e suspekt. Es war z.B. eine seiner zentralen Thesen, wir könnten nur beobachten, daß ein Sachverhalt besteht, nicht aber, daß er notwendigerweise besteht oder eine notwendige Folge anderer Sachverhalte ist.
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Erkenntnis
Es sei Τ - T[t„...,tJ eine Theorie, die genau die theoretischen Terme £j,...,£n enthält. Folgt aus Τ für einen dieser Terme eine explizite Definitionsformel, so kann man ihn durch die übrigen Terme der Theorie definieren, also auf ihn als Grundterm verzichten. Gilt das nicht, so ist die Wahrheit von Γ mit unterschiedlichen Deutungen der theoretischen Terme verträglich. Eine Theorie Τ zeichnet daher nicht eindeutig eine Interpretation für ihre theoretischen Terme aus, und es gilt nicht für jeden Satz der theoretischen Sprache, daß aus Τ seine Wahrheit oder seine Falschheit folgt. Der Sinn der theoretischen Terme ist nur partiell bestimmt, und es gibt Sätze der theoretischen Sprache, die bei einigen (bei Annahme der Wahrheit von T) möglichen Interpretationen wahr, bei anderen hingegen falsch sind. Das Problem ist nun, daß die Theorie Τ bei ihrer Auffassung als Bedeutungspostulat für die theoretischen Terme analytisch wahr sein müßte, als empirische Theorie hingegen nicht analytisch wahr sein kann. Carnap hat daher einen Vorschlag zur Aufspaltung von Τ gemacht, in der diese beiden Funktionen verschiedenen Teilen der Theorie zugeordnet werden. Wir fassen die Theorie T[tv.. .,i J hier der Einfachheit wegen als Konjunktion ihrer Axiome auf, also als eine einzige Aussage des Inhalts: „Die durch die theoretischen Terme £lv..,£n bezeichneten theoretischen Konstrukte erfüllen die Theorie T". Die schwächere Aussage: „Es gibt Entitäten (Objekte, Attribute, Funktionen etc.) x„...,x n , die Γ erfüllen" ist der Ramsey-Satz zur Theorie T. Wir schreiben dafür kurz R(T). Aus R(T) folgen nun genau dieselben Sätze von SB, die aus Τ folgen. Bezeichnet man die Menge der Sätze der Beobachtungssprache SB, die aus der Theorie Τ folgen, als deren empirischen Gehalt, so haben also R(T) und Τ denselben empirischen Gehalt.60 Als Bedeutungspostulat für die theoretischen Terme sieht Carnap nun den Satz „Gilt R(T), so auch T" an - „Gibt es passende Entitäten, die Γ erfüllen, so sollen die Terme £lv..,£n solche bezeichnen". Der empirische Gehalt dieses Bedeutungspostulats ist leer, es besagt also nichts über direkt Beobachtbares, so daß man es als rein 60
O f t bezeichnet man auch die Menge der Beobachtungssätze, die aus Τ folgen, als „empirischen Gehalt" v o n T. Diese Menge w o l l e n w i r im f o l genden jedoch den empirischen Gehalt v o n Τ im engeren Sinn nennen.
2.4
Wissenschaftlicher Realismus
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sprachliche Festsetzung ansehen kann. Die Konjunktion der beiden Teile R(T) und „Wenn R(T), dann T" ist aber logisch äquivalent mit der Theorie T. Dieser Vorschlag begegnet zwei Einwänden. Erstens bleiben die theoretischen Terme aufgrund des Bedeutungspostulats semantisch völlig unbestimmt, falls der Ramsey-Satz von Τ nicht wahr ist - falls Τ empirisch nicht korrekt ist, wie wir auch sagen wollen. Folgt also aus Τ ein falscher Satz der Beobachtungssprache, so ist Τ unverständlich, da T ungedeutete Terme enthält. Die unglückliche Koppelung zwischen empirischem Gehalt einer Theorie und dem Sinn ihrer theoretischen Terme wird also auch durch den Vorschlag von Carnap nicht aufgehoben. Zweitens macht der Vorschlag nur Sinn bei einer theorienimmanenten Deutung theoretischer Terme, bei der diese im Effekt überflüssig sind. Es stellt sich doch die Frage, warum man nicht überhaupt auf die so lästigen theoretischen Terme verzichtet, wenn es nur um den empirischen Gehalt der Theorien geht. Der Ubergang von Τ zum Ramsey-Satz R(T) eliminiert ja die theoretischen Terme, und man benützt das Carnapsche Bedeutungspostulat nur im gleichen Sinne, in dem man bei Beweisen von der Aussage „Es gibt ein F' zu „a sei ein solches" übergeht, wobei im Endergebnis des Beweises der Name „a" nicht mehr vorkommt, so daß es gar nicht darauf ankommt, welches F der Name „a" bezeichnet. Diese Elimination wäre in der Tat zweckmäßig, wenn jeder theoretische Term nur in einer einzigen Theorie vorkäme. Dieselben theoretischen Konstrukte werden aber in verschiedenen Theorien verwendet. Man redet z.B. sowohl in der klassischen wie in der relativistischen Physik von elektromagnetischen Feldern und meint damit dasselbe. Man spricht in vielen chemischen wie physiologischen Theorien im gleichen Sinn von Atomen und Molekülen. Es gibt also einen theorienübergreifenden Sinn theoretischer Terme, so daß ihre Deutung sich nicht aus einem Carnapschen Bedeutungspostulat ergibt. Das Zwei-Schichten-Modell der Wissenschaftssprachen beruht auf dem empiristischen Gedanken, daß es einen hinreichend klar abgrenzbaren Bereich des direkt Beobachtbaren gibt und daß wir über eine Sprache zu seiner Beschreibung verfügen, die Beobachtungssprache, deren Sinn durch die Referenz ihrer Terme auf
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beobachtungsmäßig Aufweisbares unproblematisch ist. Alle Terme, die nicht für direkt Beobachtbares stehen, also theoretische Terme, erhalten nur dadurch einen empirischen Sinn, daß sie mit Beobachtungstermen korreliert werden. Da diese Korrelation nicht hinreicht, ihren Sinn eindeutig zu bestimmen und sich theoretische Annahmen nicht immer durch Beobachtungen überprüfen lassen, liegt es dann nahe anzunehmen, daß Erfahrungserkenntnis nicht über das direkt Beobachtbare hinausgeht, daß nur Sätze der Beobachtungssprache mögliche Inhalte empirischer Erkenntnis sind. Der radikale Instrumentalismus, wie ihn z.B. George Berkeley vertrat, behauptet: Theoretische Sätze, und damit Theorien mit theoretischen Termen, sind weder wahr noch falsch. Der Aussagegehalt einer Theorie Τ reduziert sich damit auf ihren empirischen Gehalt. Τ selbst ist keine Behauptung über die Welt, sondern nur die Aussage „T ist empirisch korrekt". Theorien mit theoretischen Termen sind nur brauchbare oder unbrauchbare Instrumente für die Ableitung von Voraussagen über künftige Beobachtungen aus Sätzen über bisherige Beobachtungen. Theoretische Terme dienen nur dazu, den empirischen Gehalt in einfacher Gestalt zu axiomatisieren. Folgebeziehungen sind aber nur zwischen Sätzen definiert, die einen Wahrheitswert haben. Daher wären theoretische Aussagen auch als Instrumente untauglich, wenn sie weder wahr noch falsch wären. Der Empirismus behauptet daher meist nur: Eine Theorie (mit theoretischen Termen) akzeptieren, heißt nicht, sie insgesamt als wahre Beschreibung der Welt ansehen, sondern nur annehmen, daß sich die beobachtbaren Phänomene so verhalten, als ob sie gelten würdet Ziel der Wissenschaften ist es dann lediglich, die beobachtbaren Phänomene zu beschreiben. Man ordnet dabei dem Unterschied Beobachtbar - Nichtbeobachtbar keine ontologische, sondern nur eine epistemische Relevanz zu. Die Grenzen unserer Wahrnehmung sind nicht die Grenzen der Wirklichkeit, aber die Grenzen, in denen wir sie erkennen können.
61
Vgl. dazu z.B. B. van Fraassen (1980).
2.4 Wissenschaftlicher Realismus
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Demgegenüber behauptet der Wissenschaftliche Realismus, daß sich unsere Erkenntnis nicht auf das unmittelbar Beobachtbare beschränkt, daß ihr Inhalt nicht immer durch Sätze der Beobachtungssprache ausgedrückt werden kann. Seine These ist also: Wissenschaftliche Theorien sind als Ganze, inclusive ihrer theoretischen Annahmen, wahr oder falsch. Er behandelt also theoretische Sätze nicht nur, als ob sie wahr oder falsch wären, sondern für ihn sind sie wahr oder falsch, und im Fall der Wahrheit drücken sie auch Erkenntnisse aus. Das entspricht dem normalen Verständnis von Theorien in den Wissenschaften. Der Wissenschaftliche Realismus ist durchaus mit einem Empirismus verträglich, für den gilt, daß sich Behauptungen über die Welt nur durch Beobachtungen rechtfertigen lassen, daß Erfahrung unser einziger Zugang zur Außenwelt ist. Daher ist die Bezeichnung des Antirealismus als „Empirismus" eigentlich schief. Wissenschaftlicher Realismus und Antirealismus unterscheiden sich nicht bzgl. jenes Realismus, den wir im letzten Abschnitt diskutiert haben. Der Empirismus, um den es jetzt geht, ist kein Phänomenalismus. Auch für ihn ist die Natur im Sinne der These R2 unabhängig von unserer Erfahrung und unserem Denken, auch für ihn haben wir es in der Erfahrung mit der Natur zu tun, er beschränkt nur den Horizont empirischer Erkenntnis auf das direkt Beobachtbare, auf Phänomene. Die wichtigsten Argumente für den Antirealismus sind folgende: 1) Beobachtungen einer Theorie
sprechen nur für die empirische
Korrektheit
Beobachtungen sind unsere einzige Quelle für Informationen über die Welt. Sie legitimieren Beobachtungssätze und jene Sätze der Beobachtungssprache, die aus endlich vielen Beobachtungssätzen folgen, sei es deduktiv oder induktiv, aber keine theoretischen Aussagen, da sie Terme enthalten, die in den Prämissen nicht vorkommen. Die Annahme, die Konklusion eines gültigen Schlusses könne nur Terme enthalten, die auch in den Prämissen vorkommen, ist aber unhaltbar. Aus A folgt A-oder-B, egal welche Terme in Β vorkommen. Außerdem muß man natürlich auch Postulate, die theoretische mit Beobachtungstermen verknüpfen, als Prämissen zulassen. Im Fall des theoretischen Terms „wasserlöslich" wird
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man z.B. davon ausgehen, daß der Satz gilt: „Wenn man χ in Wasser gibt, so ist χ genau dann wasserlöslich, wenn χ sich auflöst". Aus den Beobachtungssätzen „x wurde ins Wasser gegeben" und „x hat sich nicht aufgelöst" folgt dann deduktiv der theoretische Satz „x ist nicht wasserlöslich". Und haben sich alle bisher in Wasser gegebenen Zuckerstücke aufgelöst, so bestätigt das induktiv die Annahme, Zucker sei wasserlöslich. 2) Das Argument der Vorsicht Nach dem ersten Argument gibt es keine empirischen Gründe, die für eine Theorie Τ sprechen und über jene hinausgehen, die für die empirische Korrektheit von Τ sprechen. Da aus Τ die Aussage folgt, daß Τ empirisch korrekt ist, das Umgekehrte aber nicht gilt, ist die Wahrscheinlichkeit von 7"höchstens so groß wie jene für die empirische Korrektheit von T. Daher ist es ein Gebot der Vorsicht, nicht Τ selbst, sondern nur die empirische Korrektheit von Τ anzunehmen. Einzuwenden ist, daß das erste Argument nicht korrekt ist, und daß wir, wie Popper immer wieder betont hat, weniger an wahrscheinlichen als an informativen Theorien interessiert sind; die wahrscheinlichsten sind immer die uninformativsten. 3) Die empirische Unterdeterminiertheit von Theorien Der Grundgedanke ist hier wiederum derselbe wie im ersten Argument. Es wird aber nun speziell auf den Fall abgehoben, daß zwei Theorien, Tl und T2 zur Diskussion stehen, die denselben empirischen Gehalt haben, sich aber in ihren theoretischen Annahmen widersprechen. Wir nehmen einmal an, beide Theorien seien empirisch korrekt. Dann sprechen die Beobachtungen nach dem ersten Argument gleichermaßen für beide; da sie unverträglich sind, können sie aber nicht beide wahr sein.62 Eine Ent62
Eine Unverträglichkeit besteht nicht nur dann, wenn sie gemeinsame theoretische Konstrukte verwenden, diese aber in verschiedener Weise bestimmen, sondern auch, wenn sie Realitäten hinter den Phänomenen annehmen, die einander ausschließen. Es lassen sich z.B. gewisse optische Phänomene sowohl mit der Annahme einer Wellennatur des Lichts erklären wie mit jener einer korpuskularen Natur. Wenn man dann Lichtkorpuskeln von Wellenpaketen unterscheidet, und periodische Häufigkeitsverteilungen der Korpuskeln von Wellen, so liegen
2.4
Wissenschaftlicher Realismus
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Scheidung für eine der beiden Theorien läßt sich empirisch nicht mehr begründen, also auch nicht die Annahme, eine von ihnen liefere ein wahres Bild der Natur. Man wird zwar die einfachere Theorie vorziehen, wir haben aber keinen Grund für die Annahme, Einfachheit sei ein Siegel der Wahrheit. Die Einfachheit einer Theorie hängt ja unter anderem von der Sprache ab, in der sie formuliert ist; die Wirklichkeit wird sich aber kaum verändern, wenn wir zu einer anderen Sprache übergehen. Gegen dieses Argument ist erstens wieder einzuwenden, daß die These, theoretische Annahmen ließen sich durch Beobachtungen nicht rechtfertigen, unbegründet bleibt. Geht man von einem theorieübergreifenden Verständnis theoretischer Terme aus, so wird man ferner die Theorie Tl der Theorie T2 vorziehen, wenn Tl theoretische Konstrukte verwendet, die sich auch in anderen Theorien als nützlich erwiesen haben, oder wenn die Annahmen in Tl über diese Konstrukte besser zu jenen dieser anderen Theorien passen als jene in 7*2. Wir sehen ja die Welt als ein Ganzes an und wollen die Phänomene aus unterschiedlichen Gebieten nicht mit Annahmen erklären, die miteinander nichts zu tun haben oder gar unverträglich sind. Der Bezug auf andere Theorien ist nur dann ausgeschlossen, wenn sowohl Tl wie T2 umfassende Theorien der Natur sind. Sollten sich einmal zwei derartige Theorien ergeben, die nachweislich denselben empirischen Gehalt haben, aber unterschiedliche Annahmen über die Realität hinter den Phänomenen machen, so könnte der Realist nur sagen: Falls nicht beide an künftigen Beobachtungen scheitern, können wir nicht feststellen, welche von ihnen richtig ist. An seiner These, nur eine von beiden könne richtig sein, könnte er dagegen festhalten. 63
63
miteinander unverträgliche Bilder der Realität hinter den fraglichen optischen Phänomenen vor. R. Boyd argumentiert in (1983) so: Eine neue Theorie wird nicht nur durch Beobachtungen gestützt, sondern auch durch alte Theorien, die sich jedenfalls teilweise gut bewährt haben. Sie liefern einen zusätzlichen evidential support, der über den observational support hinausgeht. Genau das würde ein Empirist aber wohl bestreiten.
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4) Das Argument vom
2
Erkenntnis
Theorienwandel
U n s e r e T h e o r i e n über die Welt wandeln sich ständig. B e o b a c h tungssätze werden dabei kaum revidiert, w o h l aber die theoretischen Annahmen. D a h e r ist die Uberzeugung, gerade die gegenwärtigen Theorien seien richtig, durchaus naiv. Vernünftigerweise wird man sich also der A n n a h m e ihrer Wahrheit enthalten. Dagegen ist zu sagen: A u c h der empirische Gehalt unserer Theorien wandelt sich, so daß man nach dem A r g u m e n t nicht einmal glauben dürfte, daß unsere T h e o r i e n empirisch korrekt sind. Ferner ist der Realismus kein Infallibilismus. A u c h er rechnet damit, daß sich unsere Theorien als falsch erweisen können. E n d lich überleben theoretische Konstrukte oft den Theorienwandel. D i e relativistische Physik spricht, wie die klassische, von Masse und Energie, selbst wenn sie andere Vorstellungen von ihnen entwickelt. Interessanter sind die Argumente für den Wissenschaftlichen R e a lismus. Ich beschränke mich wieder auf die wichtigsten.
1) Der Unterschied zwischen direkt Beobachtbarem und theoretischen Konstrukten hat keine entscheidende epistemologische Relevanz. D i e Unterscheidung zwischen direkt B e o b a c h t b a r e m und nicht direkt B e o b a c h t b a r e m ist nicht scharf, sondern nur graduell. M a n kann z . B . sagen, daß das äußere Verhalten eines Menschen für andere direkter beobachtbar ist als seine Absichten, oder daß die T r ö p f c h e n s p u r in einer N e b e l k a m m e r direkter beobachtbar ist als das Elektron, das sie hervorruft. In diesen Fällen ist es aber nicht so, daß wir nur das Verhalten, bzw. die Tröpfchenspur beobachten, während wir die Absichten bzw. das Vorhandensein eines Elektrons daraus lediglich erschließen. I m normalen Sinn des W o r t e s kann man durchaus sehen, daß jemand einem anderen ausweichen will, und Physiker reden auch von der Beobachtung von Elementarteilchen. „Direkter b e o b a c h t b a r " heißt im ersten Fall, daß die Beobachtung einen höheren Grad von Sicherheit vermittelt, daß in sie weniger hypothetische Elemente eingehen, die eine mögliche Quelle der Unsicherheit bilden. Im zweiten Fall kann es auch heißen, daß zur Feststellung keine oder weniger komplizierte Instrumente erforderlich sind, aber das bedeutet
2.4 Wissenschaftlicher Realismus
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wieder: Es kommen keine oder nur weniger problematische Annahmen über das Funktionieren und die Funktionsweise der Instrumente ins Spiel. Solche graduellen Unterscheidungen sind sinnvoll, und selbst wenn sie nicht sehr präzise sind, können sie doch nützlich sein. Beobachtungen, die völlig frei sind von Unsicherheiten und hypothetischen Elementen, gibt es aber nicht. Frei von Unsicherheiten sind nur Aussagen über unsere gegenwärtigen Eindrücke, die lediglich besagen, wie uns etwas bei einer Beobachtung zu sein scheint, und das sind keine Aussagen über die Sache selbst. Beobachtungsmäßige Feststellungen treffen wir immer im Lichte von Theorien, oder allgemeiner gesagt: im Licht vorgängiger Annahmen oder Erwartungen. Sie enthalten damit hypothetische Elemente und sind kein theorienneutrales Rohmaterial. Von dieser Theoriebeladenheit der Beobachtungen war schon in 2.2 die Rede. Ferner hängt die Unterscheidung von direkt und nicht direkt beobachtbaren, z.B. dispositionellen Eigenschaften vom Kontext ab. ,Rot' ist einerseits eine direkt beobachtbare Eigenschaft, wenn man sich nach Farbeindrücken richtet. Man kann sie aber auch als Disposition auffassen, bei Betrachtung mit physikalisch weißem Licht vorwiegend im Wellenlängenbereich von ca. 700 nm zu reflektieren. Dann ist Rotsein zudem nur mithilfe von Meßinstrumenten feststellbar. Auch Beobachtungsterme erhalten ihren Sinn nur im Rahmen von „Theorien", d.h. Annahmen über die Welt, ebenso wie theoretische Terme. Ob etwas eine Katze ist, läßt sich nicht nur nach seinem Aussehen beurteilen, sondern es muß zudem jene Eigenschaften haben, die wir als für Katzen charakteristisch ansehen. Begriffs- und Theorienbildung gehen Hand in Hand: Um Theorien (im weiten Sinn von Annahmen) formulieren zu können, brauchen wir passende Begriffe, und wir bilden Begriffe so, daß sie sich für wichtige Unterscheidungen und für Generalisierungen eignen. Daher tritt das Problem, daß die Aussagen einer Theorie einerseits schon eine Bedeutung haben müssen, damit sie etwas Nachprüfbares über die Welt besagen, daß sie andererseits aber auch die Bedeutung der in ihnen vorkommenden Terme mitbestimmen, nicht erst für theoretische Terme auf. Prädikate werden zudem nicht immer einzeln eingeführt, sondern häufig durch ihre Beziehungen zu anderen festgelegt. „Rot" hat im
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2
Erkenntnis
Feld der Farbwörter „Rot", „Gelb", „Grün", „Blau" einen weiteren Anwendungsbereich als im Feld „Rot", „Orange", „Gelb", „Grün", „Blau", „Violett". Auch die Bedeutung von Beobachtungstermen ist ferner nicht so eindeutig festgelegt, wie das im Zwei-Schichten-Modell angenommen wird. Ein Prädikat wie „Baum" hat erstens einen gewissen Vagheitshorizont - es ist z.B. nicht immer klar, ob man etwas als „Baum" oder als „Strauch" bezeichnen soll - und zweitens hat es einen offenen Horizont. Es ist nur definiert für Dinge, die uns normalerweise begegnen, wir wüßten aber nicht, ob wir etwas, das zunächst wie ein Baum aussieht, dann aber seine Größe ändert und klein wird wie ein Streichholz, um dann wieder größer zu werden, noch als „Baum" bezeichnen sollten.64 Daher ist die Gegenüberstellung einer eindeutig interpretierten Beobachtungssprache mit einer zunächst völlig uninterpretierten theoretischen Sprache unrealistisch. Es gibt auch keine epistemologisch entscheidende Grenze zwischen dem, was sich ohne, und was sich nur mit Instrumenten beobachten läßt. G. Maxwell weist in (1962) darauf hin, daß eine Kontinuität besteht zwischen „unmittelbarem" Sehen, Sehen durch eine Fensterscheibe, eine Brille, ein Fernglas, ein Licht- oder ein Elektronenmikroskop. 65 Einfaches Hinsehen genügt auch schon bei Längenmessungen mit einem Meterstab nur bei Längen zwischen ca. 1 mm und solchen, an denen wir einen Meterstab noch zuverlässig abtragen können. Man wird aber nicht Längen, die kleiner sind als 1 mm oder größer als 1000 m zu theoretischen Größen ernennen wollen. Beobachtungen mit Instrumenten sind endlich nicht immer unsicherer als solche ohne Instrumente. Die Aussage „Piaton hatte schwarze Haare" ist ein Beobachtungssatz, Annahmen über seine Wahrheit sind aber weit unsicherer als im Fall der Aussage „Dies ist ein Elektron" angesichts der Spur in einer Nebelkammer. Das Zwei-Schichten-Modell ist also nützlich, wenn man untersuchen will, in welchen Grenzen die Interpretation einer Sprache jene von Termen festlegt, die in diese Sprache mit Hilfe von Sätzen eingeführt werden, die keine expliziten Definitionsformeln sind. 64 65
Vgl. Wittgensteins Beispiel vom Sessel in (1953), § 80. Vgl. dazu aber Hacking (1981).
2.4
Wissenschaftlicher Realismus
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Es ist hingegen kein adäquates Modell für das Verhältnis von Beobachtungssprache und theoretischer Sprache. 2) Das
Ramsey-Satz-Argument.
Für den Antirealisten ist eine Theorie genau dann akzeptabel, wenn ihr empirischer Gehalt korrekt ist. Wenn er dabei nur den empirischen Gehalt i.e.S. im Auge hat, also behauptet, Τ sei akzeptabel, wenn aus Τ nur wahre Beobachtungssätze folgen, so heißt für ihn „eine Theorie akzeptieren" nicht, auch Gesetze im Bereich der Phänomene anzunehmen; Gesetzesaussagen sind als generelle Sätze ja keine Beobachtungssätze. Das wäre aber absurd, weil dann nicht einmal eine Erklärung von Phänomenen durch Regularitäten im Bereich der Phänomene selbst möglich wäre. Zum empirischen Gehalt der Theorie Τ i.w.S. gehört aber auch ihr Ramsey-Satz R(T). Dieser Satz enthält ja keine theoretischen Terme mehr, ist also ein Satz der Beobachtungssprache. Damit ist er wahr, wenn Τ wahr ist, und es gibt Entitäten, wie Γ sie als Bezüge der theoretischen Terme fordert. Diesem Argument kann man nur entgehen, wenn man entweder annimmt, daß die Sprache der Theorie nicht die erforderlichen logischen Ausdrucksmittel für eine Quantifikation über abstrakte Entitäten wie Attribute, Mengen oder Funktionen enthält, oder wenn man den empirischen Gehalt einer Theorie als Menge jener Sätze der Beobachtungssprache bestimmt, die keine Quantoren über abstrakte Entitäten enthalten. Der erste Ausweg ist aber im Fall mathematisch-physikalischer Theorien nicht möglich, die nur in Sprachen formuliert werden können, die solche Quantifizierungen erlauben. Der Antirealist sähe sich also dazu gezwungen, zusätzlich einen höchst problematischen Nominalismus zu vertreten, nach dem sich der mathematische Apparat der Naturwissenschaften in einer Logik ausdrücken läßt, die nur über Konkreta spricht.66 Im zweiten Fall wird der empirische Gehalt so eng bestimmt, daß auch Aussagen, die mit den Mitteln der Analysis formuliert sind, also z.B. Aussagen über Geschwindigkeiten, 66
Tatsächlich bekennt sich z.B. der „konstruktive Empirist" B. van Fraassen zu einem Nominalismus, von dem er allerdings sagt, er habe ihn noch nicht ausgearbeitet. Vgl. dazu Churchland und Hooker (1985), S. 303.
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Erkenntnis
Beschleunigungen und Kreisumfänge, nicht mehr dazugehören. Sogar der Satz „Es gibt 3400 Arten von Schmetterlingen" ist dann kein Satz der Beobachtungssprache. Das wäre aber eine extreme Einengung dessen, was durch Beobachtungen feststellbar ist. 3) Erfolgreiche neue Erklärungen und Voraussagen stützen theoretische Annahmen. Wird eine Theorie, die neue theoretische Terme enthält, zur Beschreibung einer bestimmten Menge von Beobachtungsdaten entworfen, so ist es - die Kompetenz des Konstrukteurs einmal vorausgesetzt - nicht erstaunlich, daß sie diese Phänomene richtig zu beschreiben vermag, daß sie das, was sie erklären oder voraussagen soll, auch tatsächlich erklärt bzw. voraussagt. Damit ist noch nicht gesagt, daß es sich bei ihren theoretischen Annahmen nicht nur um ad-hoc-Hypothesen handelt. Anders sieht die Sache dagegen aus, wenn sich diè Theorie auch über die ursprünglich ins Auge gefaßten Anwendungen hinaus bei der Voraussage oder Erklärung neuer, insbesondere unerwarteter Phänomene oder Fakten bewährt. Die Bewährung einer Theorie auf neuen Gebieten ist ein Indiz für ihre Richtigkeit, und sie gilt heute weithin als das beste Argument für die Existenz ihrer theoretischen Konstrukte. Wäre es lediglich die Funktion theoretischer Annahmen, eine einfache Systematisierung bestimmter Phänomene zu ermöglichen, wie das der Antirealismus annimmt, so wäre es ein erstaunlicher Zufall, wenn sich mit denselben Fiktionen auch Phänomene ganz anderer Art beschreiben ließen. Nimmt man dagegen die Existenz der theoretischen Entitäten an, so ist es nicht erstaunlich, daß sie auch für andere Phänomene eine Rolle spielen. Gegen dieses Argument hat man eingewendet 67 : Für den Empiristen ist eine Erklärung des Erfolgs von Theorien mit deren Wahrheit keine akzeptable Erklärung, denn er leugnet eben, daß theoretische Aussagen wahr sind. Es gab ferner viele erfolgreiche Theorien, wie z.B. die Phlogiston-Hypothese, von denen wir heute annehmen, daß ihren theoretischen Konstrukten keine Realität
Vgl. A. Fine (1984) und L. Laudan (1981).
2.4
Wissenschaftlicher Realismus
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zukommt. Zu erwidern ist: Die Erklärung des Realisten ist eine Erklärung in seinem Paradigma. Sie braucht den Antirealisten nicht zu überzeugen. Es sollte ihm nur zu denken geben, daß er selbst, in seinem eigenen Paradigma, den Erfolg von Theorien nicht erklären kann. Er kann nicht sagen, die Theorie bewähre sich, weil sie empirisch korrekt ist - das würde ja heißen: Die Sätze ihres empirischen Gehalts sind wahr, weil sie wahr sind. Der Erfolg der Phlogiston-Theorie, wie sie Anfang des 18. Jahrhunderts von G.E. Stahl und anderen entwickelt wurde, war ferner, wie wir heute wissen, begrenzt, im gegenwärtig diskutierten Argument ist aber nicht von bloßen Teilerfolgen die Rede. Bevor die Theorie im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts abgelöst wurde, sprachen ihre Erfolge aber natürlich für ihre Richtigkeit. Der Gedanke dieses Arguments läßt sich auch so abwandeln: 4) Für eine Hypothese
spricht ihre
Erklärungskraft.
Eine Erklärung einer Tatsache p macht begreiflich, warum sie besteht. Die Erklärung geht von anderen Tatsachen q¡,...,qn aus und zeigt, daß ρ aus ihnen folgt oder aufgrund von ihnen wahrscheinlich ist. Sie ist richtig, wenn das Argument korrekt ist und die Prämissen wahr sind. Folgt/» aus q¡,---,q„, so ergibt sich aus der Wahrheit von ρ umgekehrt aber nicht jene der Prämissen. Trotzdem nehmen wir oft etwas an, weil es eine Tatsache erklärt, insbesondere dann, wenn diese sonst unverständlich bliebe. Man redet in diesem Zusammenhang oft von einem Schluß auf die beste Erklärung: Liefert eine Annahme unter allen Konkurrenten die beste Erklärung für ein Phänomen, so ist das ein Grund, sie zu akzeptieren. Die beste Erklärung liefert sie natürlich nur dann, wenn keine gewichtigen Gründe gegen sie sprechen. Ein gültiger Schluß ist das Ganze freilich nicht, denn die beste gegenwärtig verfügbare Erklärungshypothese ist nicht notwendig auch richtig; es kann sich später noch eine bessere Erklärung ergeben. Es kann auch sein, daß die Annahme Η die beste Erklärung für ein Phänomen wäre, die mit Η unverträgliche Annahme H ' hingegen die beste Erklärung für ein anderes Phänomen. Dann wird man zunächst keine von beiden akzeptieren. Tatsächlich schließen wir oft auf das beste Explanans. Bei induktiven Argumenten kann man das insofern rechtfertigen, als
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Erkenntnis
gilt: Erhöht die Annahme von q die Wahrscheinlichkeit von p, so erhöht auch die Annahme von ρ die Wahrscheinlichkeit von q. Wenn sich eine Tatsache gegenwärtig nur durch eine bestimmte Hypothese erklären läßt, ist das zweifellos ein guter Grund, diese Hypothese zu akzeptieren, selbst wenn man nicht davon ausgeht, daß sich alles erklären läßt. Es ist also keineswegs irrational, eine Hypothese aufgrund ihres Erklärungswerts zu akzeptieren, selbst wenn es sich dabei um kein deduktiv oder induktiv korrektes Argument handelt. Tatsächlich verfahren wir so im Alltag wie in den Wissenschaften und der Philosophie. Wir „schließen" von einer Handlung auf ihr plausibelstes Motiv, von einer Wirkung auf ihre naheliegendste Ursache. Es geht uns ja nicht nur um ein Konstatieren von Fakten, sondern wir wollen auch verstehen, warum die Dinge so sind oder verlaufen, wie sie das tun. Das ganze Verfahren der Naturwissenschaften besteht darin, die Phänomene mit Annahmen über eine Realität hinter ihnen zu erklären, die es ermöglicht, viele verschiedene Tatsachen von wenigen einheitlichen Prinzipien her zu verstehen. Daß der Antirealismus die Berechtigung dieses Verfahrens grundsätzlich in Frage stellt, ist weniger ein Argument gegen diese Methode als gegen ihn selbst. Er beschränkt das, was wir berechtigterweise über die Welt annehmen dürfen, auf das, was wir beobachten können oder was daraus deduktiv oder induktiv folgt, übersieht aber, daß wegen der Theoriebeladenheit der Beobachtungen Hypothesen oft deren Vorbedingungen sind, nicht immer nur ihre Resultate. Der Empirismus ist historisch aus der Kritik an ausufernden metaphysischen Spekulationen entstanden. Er ist angetreten unter dem Leitspruch: Zurück zu den Phänomenen. Insofern hatte er eine wichtige Funktion. Die modernen Naturwissenschaften wären ohne diese Orientierung an Erfahrung nicht entstanden. Der Empirismus ist aber zu restriktiv gegenüber dem Verfahren der Naturwissenschaften, die Phänomene mit Annahmen über eine Realität hinter ihnen zu erklären. In diesen Wissenschaften geht es insbesondere um kausale Erklärungen, und dabei wird typischerweise auf nicht „direkt" Beobachtbares Bezug genommen, auf Gesetze über den Zusammenhang theoretischer Größen wie elektrische und magnetische Feldstärke, auf Elementarteilchen, Moleküle oder Gene. Solche kausalen Erklärungen sind nur
2.4
Wissenschaftlicher Realismus
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brauchbar, wenn es diese theoretischen Entitäten tatsächlich gibt. Der wissenschaftliche Realismus ist also Voraussetzung für den Erklärungsanspruch naturwissenschaftlicher Theorien. 5) Der theorienübergreifende
Sinn theoretischer Terme.
Wir haben schon gesehen, daß für Antirealisten eine theorienimmanente Deutung theoretischer Terme charakteristisch ist, die aber nicht zu ihrer tatsächlichen Verwendung paßt. Theoretische Terme werden in der Physik als Ausdrücke behandelt, die referieren, die sich auf etwas Reales beziehen, nicht als Ausdrücke, die erst durch eine Theorie einen Sinn erhalten, der zudem an der Geltung der Theorie hängt. Theoretische Aussagen haben in der Praxis nicht die Funktion von Bedeutungspostulaten, sondern sie stellen ebenso wie Sätze der Beobachtungssprache kontingente Aussagen über die Welt dar. Sie legen nicht fest, was die Terme bedeuten sollen, sondern informieren uns über die Eigenschaften dessen, was sie bezeichnen. Wie wir fortfahren, das Wort „Erde" zu verwenden, selbst wenn sich unsere Annahmen über die Erde ändern, so fahren wir auch fort, von Masse oder Atomen zu reden, selbst wenn sich unsere Vorstellungen davon wandeln. Die Bedeutungen der Wörter ändern sich zwar in gewissem Maß mit unseren Ansichten über die Sache, sie haben aber jedenfalls nicht nur innerhalb einer bestimmten Theorie eine Bedeutung. Ferner hat R. Boyd in (1973) darauf hingewiesen, daß wir Theorien vielfach nicht nur bzgl. ihrer beobachtbaren Konsequenzen testen, sondern sie in ihren Vorzügen mit anderen Theorien verglichen, in denen dieselben theoretischen Terme vorkommen. Wir sind also in der wissenschaftlichen Praxis nicht nur am empirischen Gehalt einer Theorie interessiert, sondern auch an der Korrektheit ihrer theoretischen Aussagen. Die spielen auch eine wichtige Rolle bei der Auswahl von Experimenten, und das bleibt unverständlich, wenn man die theoretischen Aussagen nicht in einer theorieübergreifenden Weise deutet. Zusammenfassend kann man sagen: Die Unterschiede zwischen direkter und weniger direkt Beobachtbarem, und zwischen Beobachtungstermen und theoretischen Termen haben nicht die grundsätzliche epistemologische bzw. semantische Relevanz, die ihnen der Antirealismus zuspricht. Wir sind nicht nur daran inter-
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Erkenntnis
essiert, die Phänomene zu beschreiben, sondern wollen sie auch verstehen, und dazu müssen wir meist hinter sie zurückgehen. Wie die Praxis der Naturwissenschaften zeigt, geraten wir damit nicht schon in den Bereich unkontrollierbarer Spekulationen. In ihrer Arbeit kümmern sich die Wissenschaftler nicht um antirealistische Bedenken, und unsere Überlegungen haben gezeigt, daß dazu auch wenig Anlaß besteht.
3
Sprache
3.1
Sprache und Denken
Sprache ist ein altes Thema der Philosophie. Schon in der Sophistik war man sich ihrer Bedeutung für unser Denken und Erkennen wie für menschliche Gesellschaft und Kultur bewußt. Die Rede vom Menschen als zoon logon echón meint nicht nur das Vernunftwesen, sondern auch das Wesen, das Sprache hat. Deren Bedeutung zeigt sich in ihren beiden Hauptfunktionen, der Kommunikation und dem Ausdruck von Gedanken. Auf die erste gehe ich hier nur kurz ein, die Erörterung der zweiten wird uns auf die zentralen Themen dieses Kapitels führen: das Verhältnis von Denken und Sprechen, und den pragmatischen Ansatz in der Theorie sprachlicher Bedeutungen. Sprache eröffnet zunächst eine neue Dimension zwischenmenschlicher Kommunikation. Sie ist nicht nur Produkt menschlicher Gemeinschaft und Kultur, sondern auch deren Bedingung. Bei Tieren, die in Gruppen leben, gibt es Verständigung durch Signale, z.B. durch Warn- oder Lockrufe, und durch besondere Verhaltensformen, z.B. bei Werbung, Drohung oder Beschwichtigung. Ein Repertoire von Signalen ist aber noch keine Sprache, denn damit lassen sich immer nur endlich viele Sachverhalte mitteilen. Die Leistungsfähigkeit einer Sprache besteht hingegen darin, daß man in ihr mit endlich vielen Vokabeln und endlich vielen grammatikalischen Regeln unendlich viele Informationen vermitteln kann. Auch wir verständigen uns oft durch Gesten oder Verhaltensweisen, aber das Mittel der Kommunikation schlechthin ist für uns doch die Sprache, und viele Formen menschlichen Zusammenwirkens, Lernens und Verhaltens setzen sie voraus. Die gemeinsame Sprache erlaubt es zunächst einmal, anderen unsere Erfahrungen und Erkenntnisse mitzuteilen. Sie ist damit Voraussetzung für das Lernen von anderen. Für uns Menschen ist
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Sprache
das lebenswichtig, weil unser Vorrat an Instinkten und angeborenen Verhaltensmustern gering ist. Diese Instinktarmut ist wiederum Voraussetzung unserer Weltoffenheit und Sozialisierungsfähigkeit. Wie wir uns verhalten sollen - im eigenen Interesse und nach den Erwartungen anderer - , lernen wir zwar nicht nur auf sprachlichem Weg, aber vieles läßt sich nur sprachlich vermitteln. Für das Leben in den komplexen menschlichen Gemeinschaften und Institutionen benötigen wir weit mehr Informationen, als wir allein erwerben könnten. Sprache ermöglicht ferner eine sehr viel weiter reichende und genauer abgestimmte Kooperation als das bloße Beobachten und die Nachahmung des Verhaltens anderer. Man kann sich über Ziele und Wege der Zusammenarbeit absprechen, Rollen verteilen, das genaue Vorgehen der einzelnen Partner festlegen. Bei veränderten Bedingungen kann man sich über eine Veränderung des Vorgehens verständigen. Kultur setzt Arbeitsteilung voraus, die in ihren komplexeren Formen ohne sprachliche Verständigung nicht denkbar ist. Arbeitsteilung und Kooperation gibt es z.B. auch bei Ameisen, aber sie vollzieht sich in festen Mustern instinktgeleiteten Verhaltens und ist schon deswegen bei weitem nicht so variabel und anpassungsfähig wie beim Menschen. Die Organisation des Miteinander in komplexen Sozialstrukturen erfordert Konventionen. Das sind zwar nicht immer Abreden1, aber ohne Sprache wäre das dichte Netz unserer Konventionen unmöglich und ließe sich auch nicht vermitteln. Rechtliche Normen z.B. kann der einzelne nicht durch Beobachtungen erfassen, sie müssen ihm mitgeteilt werden. Gebote und Verbote gibt es nur in sprachlicher Form. Tiere erlernen ein sozial angepaßtes Verhalten durch Nachahmung oder durch Versuch und Irrtum, wobei der Irrtum, d.h. ein Verstoß gegen geltende Verhaltensregeln zu Sanktionen der anderen führt. Normen von der Komplexität etwa unseres Steuerrechts kann man aber kaum in dieser Weise erlernen. Es gibt schließlich viele Aktivitäten, die von vornherein sprachlich sind. Kooperation beruht z.B. vielfach auf Versprechungen und Verträgen. Man erhält dabei von anderen eine gegenwärtige Leistung durch Zusicherung einer künftigen Gegenleistung. Ohne Sprache ist so etwas nicht denkbar. Aufforderungen und Fragen 1
Vgl. dazu D . Lewis (1969).
3.1
Sprache und Denken
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sind ebenso Akte, die in sprachlicher Form vollzogen werden, wie Zusicherungen, Eheschließungen oder Beitritte zur Vereinigungen. Die Fähigkeit zu sprachlicher Verständigung ist also die Voraussetzung für komplexe Sozialstrukturen, für Kooperation und die Erweiterung der individuellen Erkenntnismöglichkeiten durch Teilhabe an einem gemeinsamen Schatz von Erfahrungen und Einsichten, und damit Voraussetzung für alle höhere menschliche Kultur. Sprache ist auch Voraussetzung für die spezifisch menschliche Qualität von Gemeinschaft. Nur mit ihrer Hilfe können wir einander unsere Gedanken, Gefühle und Wünsche, unsere Hoffnungen und Sorgen mitteilen und so andere an unserem inneren Leben teilhaben lassen. Gemeinschaft besteht ferner darin, daß wir uns nicht nur in derselben natürlichen Umwelt bewegen, sondern auch in einer gemeinsamen Welt von Ideen, Vorstellungen und Theorien, von Idealen und Werten. Diese ideelle Welt teilen wir nur vermittels der Sprache, ja sie existiert auch für den einzelnen nur in sprachlicher Vergegenwärtigung. Dieser Gedanke führt zur zweiten Hauptfunktion der Sprache. Sprache ist nun nicht nur Mittel der Kommunikation von Gedanken, sie ist auch das Medium, in dem sich unser Denken vollzieht. Sie dient zunächst zum Ausdruck, zur Fixierung von Gedanken. Die kann auch dann wichtig sein, wenn wir die Gedanken niemandem mitteilen wollen. Durch den sprachlichen Ausdruck, speziell den schriftsprachlichen, können wir flüchtigen Gedanken Dauer verleihen, und ohne diese Fixierung lassen sich komplexere Gedanken kaum entwickeln. Man beweist z.B. einen mathematischen Satz nicht im Kopf, sondern auf dem Papier. Eigene Aufzeichnungen, Lexika oder Handbücher bilden eine Art externes Gedächtnis. Sagt man, Sprechen oder Schreiben sei Ausdruck von Gedanken, so geht man meist von der Vorstellung aus, das Denken sei das Primäre und der Ausdruck etwas Sekundäres, oft Entbehrliches; die Gedanken seien unabhängig von ihrem Ausdruck bestimmt. Wenn wir auf unser eigenes Denken reflektieren, zeigt sich jedoch, daß es sich bereits immer in sprachlichen Formen vollzieht. Schon Piaton hat Denken als „stilles Sprechen" bezeichnet. „Denken", sagt Sokrates im Theätet, „ist eine Unterredung
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der Seele mit sich selbst, bei der sie sich selbst fragt und antwortet, bejaht und verneint". 2 Wir denken in einer Sprache, als Deutsche in der Regel deutsch, wenn wir aber einen Aufsatz in Englisch schreiben, konzipieren wir ihn zweckmäßigerweise von vornherein englisch. Wir erlernen Begriffe mit der Verwendung von Prädikaten, wir urteilen in Form von Sätzen. „Denken" ist allerdings ein Obertitel für sehr verschiedenartige mentale Operationen, von wahrnehmungsmäßigem Unterscheiden über Vorstellen und Erinnern bis hin zum Urteilen, Schlußfolgern, Planen und Problemlösen. Offensichtlich vollzieht sich nicht alles Denken in diesem weiten Sinn in sprachlichen Formen. Ohne sprachunabhängige wahrnehmungsmäßige Unterscheidungen und Assoziationen mit vergangenen Erfahrungen könnten wir ja keine Sprache erlernen. Selbst sehr genaue optische und akustische Wahrnehmungen oder Vorstellungen lassen sich vielfach nur ungenau beschreiben. Wir machen uns oft eine komplexe Sachlage anhand von bildlichen Repräsentationen, z.B. von Diagrammen klar. Urteilen und Schlußfolgern vollzieht sich aber jedenfalls immer in sprachlicher Form. In einem einfachen Urteil wird einem Gegenstand eine Eigenschaft zugeschrieben. Das können wir nicht tun, ohne über ein passendes Prädikat zu verfügen. Wir können kein hypothetisches Urteil fällen, ohne „wenn" und „dann" zu gebrauchen, usf. Die Anwendungsbreite des Wortes „Denken" macht es schwierig, die These von der wechselseitigen Abhängigkeit von Sprache und Denken präzise zu formulieren. Sprechen als Ausdruck von Gedanken hängt natürlich vom Denken ab, wenn man aber mit Wilhelm von Humboldt umgekehrt auch von einer Abhängigkeit des Denkens von der Sprache reden will 3 , muß man das in einem einschränkenden Sinn tun und z.B. mit W. Sellars sagen: „Thinking at the distinctly human level... is essentially verbal activity". 4 Wenn im folgenden von einer „Einheit von Sprache und Denken" die Rede ist, ist erstens diese Einschränkung hinzuzudenken, und zweitens zu beachten, daß damit natürlich keine
2 3 4
Theätet 189e6-190a2. Vgl. Humboldt (1903), Bd. IV, S. 22. Vgl. Sellars (1973), S. 82.
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Sprache und Denken
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Identität gemeint ist, sondern die Tatsache, daß Sprechen und Denken zwei Momente ein und derselben Aktivität sind. Daß Sprache nicht nur ein Mittel zum Ausdruck oder zur Mitteilung von Denkinhalten ist, sondern Denken und Sprechen eine untrennbare Einheit bilden, hat Humboldt nachdrücklich betont. Er schreibt: „Die zunächst liegende, aber beschränkteste Ansicht der Sprache ist die, sie als ein bloßes Verständigungsmittel zu betrachten... Die Sprache ist aber durchaus kein bloßes Verständigungsmittel, sondern der Abdruck des Geistes und der Weltansicht des Redenden, die Geselligkeit ist das unentbehrliche Hilfsmittel zu ihrer Entfaltung, aber bei weitem nicht der einzige Zweck, auf den sie hinarbeitet..." 5 Er spricht von der „Untrennbarkeit des menschlichen Bewußtseyns und der menschlichen Sprache" 6 und sagt: „Die Sprache ist das bildende Organ des Gedankens. Die intellectuelle Thätigkeit, durchaus geistig, durchaus innerlich und gewissermassen spurlos vorübergehend, wird durch den Laut in der Rede äußerlich und wahrnehmbar für die Sinne. Sie und die Sprache sind daher Eins und unzertrennlich von einander. Sie ist aber auch in sich an die Nothwendigkeit geknüpft, eine Verbindung mit dem Sprachlaute einzugehen; das Denken kann sonst nicht zur Deutlichkeit gelangen, die Vorstellung nicht zum Begriff werden." 7 Die sprachliche Artikulation ist aus zwei Gründen wichtig für die Deutlichkeit des Denkens. Erstens findet durch den sprachlichen Ausdruck eines Gedankens insofern eine Objektivierung statt, als der Ausdruck sinnlich - bei der Lautsprache akustisch wahrnehmbar ist. Nun sind unsere kognitiven Fähigkeiten vor allem für die Erkenntnis der Außenwelt entwickelt. Nur in der Wahrnehmung sehen wir uns wohlbestimmten Objekten gegenüber. Im empirischen Bereich können wir wahrnehmungsmäßig sehr feine Unterschiede machen, im mentalen und emotionalen Bereich ist uns das zunächst nicht im gleichen Maße möglich. Der sprachliche Ausdruck erlaubt es also, Gedanken genauer zu differenzieren, indem wir sie unterschiedlich formulieren und sie uns s Humboldt (1903), Bd. VI, S. 22f. Humboldt (1903), Bd. VI, S. 16. 7 Humboldt (1903), Bd. VII, S. 53. 6
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in wahrnehmbarer Form vergegenwärtigen. Ein Denken, das sich sprachlich vollzieht, ist ferner ein Handeln. Handlungen können wir aber sehr genau steuern und unterscheiden. Es ist also nicht unplausibel, daß auch ein stilles Sprechen für ein zielgerichtetes denkendes Erfassen von Bedeutung ist. Zweitens ermöglicht der sprachliche Ausdruck eine intersubjektive Verständigung und Kontrolle des Denkens. Wir leben in einer gemeinsamen Welt, und es hängt daher auch von der Ubereinstimmung mit anderen ab, was wir als real ansehen. Selbst wenn ich den deutlichen Eindruck habe, auf der Wiese sitze ein Hase, bin ich geneigt, das für eine Täuschung zu halten, falls alle anderen dort keinen Hasen sehen. Wenn wir unsere Urteile sprachlich ausdrücken, gibt es also zusätzliche, intersubjektive Kriterien für ihre Richtigkeit; wir sind nicht mehr darauf angewiesen, nur den eigenen Eindrücken zu folgen. Die Entwicklung einer gemeinsamen Sprache setzt zwar einerseits gemeinsame Erfahrungen voraus, sie ermöglicht diese andererseits aber auch, da wir erst mit ihrer Hilfe gemeinsame Erfahrungsinhalte bestimmen können. Im Abschnitt 2.3 wurde betont, daß wir die physische Wirklichkeit von vornherein als eine uns gemeinsame Realität begreifen, über die wir mit anderen kommunizieren können. Daher unterliegt unser Denken und Sprechen von vornherein einem „objektiven Zug", wie Willard V. Quine das nennt. 8 Um uns mit anderen verständigen zu können, müssen sich die Wörter auf etwas beziehen, das sich uns allen etwa in gleicher Weise darbietet. Dieser objektive Zug wirkt dem subjektiven Zug entgegen, die Wörter nach der Ähnlichkeit eigener Eindrücke zu verwenden. Humboldt sagt: „Der Begriff erreicht seine Bestimmtheit und Klarheit erst durch das Zurückstrahlen aus einer fremden Denkkraft. Er wird ... erzeugt, indem er sich aus der bewegten Masse des Vorstellens losreisst, und dem Subject gegenüber zum Object bildet. Es genügt jedoch nicht, dass diese Spaltung in dem Subjecte allein vorgeht, die Objectivität ist erst vollendet, wenn der Vorstellende den Gedanken wirklich ausser sich erblickt, was nur in einem andren, gleich ihm vorstellenden und denkenden Wesen möglich ist. Zwischen Denkkraft und Denkkraft aber ist die einzige Vermittlerin 8
Vgl. Quine (1960), S. If.
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Sprache und Denken
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die Sprache, und so entsteht auch hier ihre Nothwendigkeit zur Vollendung des Gedankens."9 Sprache dient also nicht dem Ausdruck sprachunabhängiger Gedanken, Denken und Sprechen entwickeln sich vielmehr zusammen, sie bilden eine Einheit, von der her sich Gedanke und Lautgestalt nur mehr durch Abstraktionen trennen lassen. Wir erkennen die Welt nicht primär gedanklich und geben dann nur das Erkannte sprachlich wieder, sondern wir erfassen die Wirklichkeit, die Gegenstände, ihre Unterschiede, Eigenschaften und Beziehungen in sprachlicher Form. Das Erlernen von Sprache und die Orientierung in der Welt sind offensichtlich solange eng miteinander verbunden, bis der Spracherwerb abgeschlossen ist. Auch danach stehen wir aber oft vor der Notwendigkeit, uns Phänomene durch neue begriffliche Unterscheidungen zu erschließen. Wenn sich passende Prädikate nicht durch bereits verfügbare definieren lassen, wir also unsere Sprache erweitern müssen, wird deutlich, daß die Einheit von Sprachentwicklung und Welterfassung nicht mit einem bestimmten Entwicklungsstadium endet. Gedanken prägen sich erst in sprachlicher Form aus, Ideen kommen erst in ihrer Formulierung zur Klarheit. Daher kann man - in den erwähnten Grenzen, in denen eine Einheit von Denken und Sprechen besteht - auch behaupten: Was sich klar denken läßt, läßt sich auch klar sagen, und Gedanken, die sich sprachlich nicht klar ausdrücken lassen, sind selbst nicht klar. Wenn die gedankliche Auffassung der Dinge sich schon in sprachlicher Form vollzieht, brauchen wir Gedanken zur Mitteilung nicht mehr in Sprache zu übersetzen. Geht man nicht von der Einheit von Denken und Sprechen aus, so liegt es nahe, ein anderes Medium des Denkens anzunehmen. Damit sich darin Gedanken bilden und speichern lassen, müßte es eine Art mentaler Sprache sein, kein lautliches, sondern ein rein psychisches Repräsentationsmedium - nennen wir es „Mentalesisch". Das würde dann beim Sprechen in eine natürliche Sprache wie Deutsch übersetzt. Gedanken werden oft als Repräsentationen angesehen, Repräsentanten von Sachverhalten müssen aber Objekte sein, aus denen sich, entsprechend z.B. der Negation und der Konjunktion von 9
Humboldt (1903), Bd. VI, S. 160.
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Sprache
Sachverhalten, neue Repräsentanten bilden lassen, ganz in Analogie zu den Sätzen einer Sprache. Es liegt ferner nahe, das Mentalesische als universelles Repräsentationssystem zu begreifen, dasselbe für Menschen aller Sprachen, ein geistiges Esperanto. Dann wird es aber schwierig zu erklären, wieso sich ein und derselbe Gedanke in verschiedenen Sprachen unterschiedlich gut ausdrükken läßt. Aussagen lassen sich eben oft nicht ohne Sinnverlust bzw. Sinnveränderungen in andere Sprachen übersetzen, und das bliebe unverständlich, wenn alle Sprachen nur lautlich verschiedene Kodierungen desselben Mentalesischen wären. Von der Einheit von Denken und Sprechen her gesehen erscheint die Fiktion des Mentalesischen als überflüssig. Das Mitteilen von Gedanken ist dann kein sprachliches Kodieren von Gedanken, keine Ubersetzung in Sprache, sondern besteht darin, daß die Bildung der Gedanken sich in lautem Sprechen vollzieht oder ein Gedanke laut wiederholt wird. Das Sprachverstehen andererseits ist kein Decodieren einer sprachlichen Äußerung, keine Ubersetzung ins Mentalesiche, sondern einfach ein stiller Mit- oder Nachvollzug fremden Sprechens, in dem sich die Gedanken des Sprechers erschließen. Die Konzeption der Einheit von Denken und Sprechen besagt, daß es ohne Sprache keine Begriffe und keine propositionalen Inhalte gibt, insbesondere keine Theorien oder Normen. Erst mit der Sprache entsteht die ideelle Welt. Erst mit ihr erschließt sich aber auch die Innenwelt der Wünsche und Gefühle. Indem die Sprache den Ausdruck von Gedanken, Gefühlen, Interessen und Vorstellungen erlaubt, ermöglicht sie eine Reflexion darauf und dann auch ein Verständnis. Es wurde gerade schon erwähnt, daß man Denken oft als „inneres Repräsentieren" bezeichnet. Die innere Repräsentation, die gedankliche Bestimmung sieht man aber als Bedingung eines klaren Bewußtseins der Dinge und Vorgänge an. Ein inneres Repräsentieren ist offenbar besonders dann wichtig, wenn einem das Repräsentierte nicht selbst schon klar vor Augen steht, also gerade für die seelisch-geistige Welt. Auf Gefühle und Gedanken kann man nicht hinweisen, man kann sie nicht unterscheiden, indem man sie nebeneinander stellt. Nach unserer Auffassung vollzieht sich das Repräsentieren in sprachlicher Form. Ohne sprachlichen Ausdruck wäre also wohl eine genauere
3.1
Sprache und Denken
113
Reflexion auf innere Akte oder Zustände nicht möglich. Das Selbstbewußtsein ist vor allem Bewußtsein der eigenen seelischen Vorgänge, und die Klarheit dieses Selbstbewußtseins hängt von der Möglichkeit ab, sie sich zu vergegenwärtigen, von der Fähigkeit, sie zu beurteilen und kritisch zu ihnen Stellung zu nehmen. Auch ohne Sprache sind wir unserer Gefühle und Strebungen inne, dieses Innesein erlaubt es uns aber noch nicht, uns selbst, wie John Locke sagt, als Person zu erfassen, d.h. als „ein denkendes, intelligentes Wesen, das über Vernunft und Reflexion verfügt und sich als identisch begreifen kann, als dasselbe denkende Ding zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten, was ihm nur gelingt durch jenes Bewußtsein, das vom Denken untrennbar ist, und ihm, wie mir scheint, wesentlich ist". 10 Begreifen geschieht in sprachlicher Form, und da wir Gefühle nicht einfach nur haben, sondern sie uns auch bewußt machen, und unseren Vorstellungen und Wünschen propositionale Inhalte geben, ist unser ganzes seelisches Leben dadurch geprägt, daß wir über eine Sprache verfügen. Das Empfinden sprachloser Wesen läßt sich daher wohl nur sehr ungenau mit Wörtern beschreiben, die sich in ihrem normalen Sinn auf unser spezifisch menschliches Erleben beziehen. Sprache ist so nicht nur eine wichtige Errungenschaft von uns Menschen neben anderen, sondern Voraussetzung all unserer anderen kulturellen Leistungen, unseres Selbstverständnisses, ja unseres Selbstbewußtseins und Denkens. Diese eminente anthropologische Bedeutung der Sprache macht ihr primäres Interesse für die Philosophie aus, nicht die tatsächlichen oder vermeintlichen Schwierigkeiten, denen die sprachliche Formulierung philosophischer Gedanken begegnet und die man in der Nachfolge von Rudolf Carnap und Ludwig Wittgenstein in den 30er bis 50er Jahren so stark in den Vordergrund gerückt hat. Eine Schwierigkeit des Nachdenkens über Sprache liegt darin, daß sie selbst das Medium bildet, in dem sich dieses Nachdenken vollzieht. Sie ist nie nur Gegenstand, sondern immer auch Mittel der Untersuchungen, deren Fragestellungen und Resultate wir ja sprachlich formulieren müssen. Wir müssen nicht nur eine Sprache verwenden, um über Sprache zu reden, sondern können Sprache auch lediglich mit 10
L o c k e t « Essay Concerning Human Understanding,
Buch III, Kap. 27.
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Sprache
sprachlichen Mitteln begreifen, wenn die These von der Einheit von Sprache und Denken richtig ist. Wir können das Sprechen ebensowenig von einem externen Standpunkt aus betrachten wie das Denken. Wie in der Erkenntnistheorie gelingt eine Untersuchung von Sprechen und Denken nur in Form einer immanenten Aufhellung dessen, was wir immer schon tun. Die Konzeption der Einheit von Sprache und Denken wird in der Linguistischen Relativitätsthese zur Behauptung einer Abhängigkeit des Denkens von der Sprache.11 Äußerungen in dieser Richtung finden sich schon bei Humboldt, stärker noch bei Edward Sapir und Benjamin Lee Whorf, von denen die Diskussion im angelsächsischen Bereich ausgeht. Sapir, einer der einflußreichsten amerikanischen Sprachwissenschaftler, hat die These so ausgedrückt: „Human beings do not live in the objective world alone, nor alone in the world of social activity as ordinarily understood, but are very much at the mercy of the particular language which has become the medium of expression for their society. It is quite an illusion to imagine that one adjusts to reality essentially without the use of language and that language is merely an incidental means of solving specific problems of communication and reflection. The fact of the matter is that the ,real world' is to a large extent unconsciously built up on the language habits of the group". 12 Whorf hat die Gedanken Sapirs aufgenommen und weitergeführt. Er schreibt: „It was found that the background linguistic system (in other words, the grammar) of each language is not merely a reproducing instrument for voicing ideas but rather is itself the shaper of ideas, the program and guide for the individual's mental activity, for his analysis of impressions, for his synthesis of his mental stock in trade. Formulation of ideas is not an independent process, strictly rational in the old sense, but is part of a particular grammar, and differs, from slightly to greatly, between different grammars. We dissect nature along lines laid down by our native languages. The categories and types that we isolate from 11 12
Vgl. dazu auch Kutschera (1975), 4.1. Sapir (1929), S. 209.
3.1 Sprache und Denken
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the world of phenomena we do not find there because they stare every observer in the face; on the contrary, the world is presented in a kaleidoscopic flux of impressions which has to be organized by our minds - and this means largely by the linguistic systems in our minds... We are thus introduced to a new principle of relativity, which holds that all observers are not led by the same physical evidence to the same picture of the universe, unless their linguistic backgrounds are similar, or can in some way be calibrated". 13 An manchen Stellen betont Whorf den Einfluß der Sprache auf Denken und Erfahrung so stark, daß er von einer Determination oder einem Zwang durch die Sprache redet. Ebensowenig wie Humboldt und Sapir ist er aber der Ansicht, daß das Weltbild einer Kultur allein durch ihre Sprache bestimmt wird. Alle drei glauben vielmehr, daß zwar der Einzelne durch die Sprache, die er übernimmt, in seinem Denken geprägt wird, daß die Sprache andererseits aber Produkt einer Kultur ist und in deren Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit über viele Generationen hinweg geschaffen wird. In der Linguistischen Relativitätsthese vereinen sich zwei Behauptungen: Der linguistische Determinismus, nach dem unsere Sprache unser Denken und Erfahren bestimmt, und der linguistische Relativismus, nach dem verschiedene Sprachen das in verschiedenen Weisen tun. Zum linguistischen Determinismus ist das Entscheidende bereits gesagt worden: Der Einzelne übernimmt mit der Sprache Formen des Denkens; sein Denken ist von der Sprache geprägt. Eine Sprachgemeinschaft, ein Volk, eine Kultur hingegen schafft sich eine Sprache. Auch der Einzelne ist freilich in seinem Denken durch die Sprache nicht determiniert. Wie H u m boldt betont, setzt die Sprache ihm nicht so sehr Schranken, sie eröffnet ihm vielmehr Möglichkeiten und Bahnen des Denkens. Jede natürliche Sprache bietet ein reiches Inventar für die verschiedensten Auffassungsweisen von Gegenständen und Ereignissen. Im Deutschen lassen sich z.B. radikal verschiedene Weltanschauungen formulieren, und von den Deutschen zu sagen, sie dächten alle in typisch deutscher Weise und unterschieden sich darin von Spaniern oder Finnen, wäre grober Unsinn. 13
Whorf (1956), S. 212f. und 214.
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Sprache
Der linguistische Relativismus stützt sich auf die Schwierigkeiten der Ubersetzung einer Sprache in die andere. Sie machen sich z.B. schon bei der Ubersetzung vom Deutschen ins Englische bemerkbar, obwohl das nahe verwandte Sprachen sind, die auch demselben Kulturkreis angehören. Gravierender werden sie bei der Ubersetzung griechischer Texte ins Deutsche. Auch hier gibt es zwar noch Verwandtschaften und eine gemeinsame kulturelle Tradition, aber eine Ubersetzung z.B. von Arete mit Tugend erfordert eigentlich schon einen Kommentar zum Sinnunterschied beider Wörter und zu den verschiedenen Vorstellungen, die hinter ihnen stehen. Solche Schwierigkeiten mehren sich bei Ubersetzungen von Sprachen, die sich in ihren grammatikalischen Formen und Konstruktionen erheblich von unserer eigenen unterscheiden. Andererseits läßt sich jede Sprache, wenn auch nur ungenau, in jede andere übersetzen. Die Welt bietet sich uns auch nicht, wie Whorf sagt, als kaleidoskopischer Fluß von Sinneseindrücken dar, die wir erst sprachlich - und in verschiedenen Sprachen unterschiedlich - organisieren, sondern die Wahrnehmungspsychologie hat gezeigt, daß das Erfahrene durch unsere Wahrnehmungsorganisation bereits in gewissem Umfang strukturiert ist, z.B. in Form von Gegenständen (Gestalten), die sich aus ihrer Umgebung herausheben. Es liegt nahe anzunehmen, daß diese Organisation allen Menschen gemeinsam ist und durch sprachlich vermittelte Auffassungsweisen nur unterschiedlich ausgebildet wird. Wir fassen den Unterschied von Blau und Grün z.B. unmittelbar auf, während Menschen, die nur ein Wort für beide Farben haben, sie als verschiedene Töne derselben Farbe auffassen. Die Fähigkeit zu farblichen Unterscheidungen ist wohl prinzipiell bei allen Menschen gleich, die nicht farbblind sind, die Unterscheidungen fallen aber leichter, wenn dafür einfache sprachliche Mittel bereitstehen.14 Neuere Arbeiten zur Relativitätsthese haben ein eher negatives Ergebnis erbracht.15 Ihre Tendenz geht weg vom Relativismus und 14
15
Vgl. dazu z.B. die experimentellen Untersuchungen von E.H. Lenneberg und J.M. Roberts in (1953). Vgl. z.B. Eleanor Rosch (1974) und die dort angegebene Literatur, sowie die kritische Auseinandersetzung mit Whorfs Aussagen zur „Hopi-Zeit" von F. Malotki in (1983).
3.2
Bedeutung und Referenz
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hin zur Annahme kultureller Universalien und einer untergeordneten Rolle sprachlicher Differenzen. Für die Einheit von Denken und Sprache besagen die Untersuchungen freilich wenig, denn sie beschränken sich meist auf Ausdrücke für Farben und Formen. Daß aber jemand z.B. zwischen Fröhlichkeit und Lustigkeit, oder zwischen Trauer, Melancholie, Kummer, Wehmut und Bedrücktsein unterscheiden kann, ohne über entsprechende Vokabeln zu verfügen, ist wenig plausibel. Im Prinzip kann jeder diese Unterscheidungen erlernen, aber das heißt eben: entsprechende Wörter oder Wortkombinationen erlernen.
3.2 Bedeutung und Referenz Die Annahme einer Einheit von Sprechen und Denken legt eine bestimmte Konzeption der Natur sprachlicher Bedeutungen nahe. Sie soll im folgenden entwickelt werden. Zunächst muß ich aber kurz an die wichtigsten Bedeutungstheorien erinnern 16, um diese Konzeption in Abgrenzung von ihnen bestimmen zu können. Die Wörter Syntax, Semantik und Pragmatik verwende ich in dem von Charles Morris in (1946) eingeführten Sinn, also so, wie sie auch in der Logik gebraucht werden. Danach befaßt sich die Syntax mit sprachlichen Ausdrücken in Absehung von ihrer Bedeutung, in der Semantik werden dann auch die Bedeutungen der Ausdrücke betrachtet, und in der Pragmatik geht es darüber hinaus um die Sprachverwendung, um konkrete Äußerungen und die Situationsund Kontextabhängigkeit ihrer Bedeutungen. Als Obertitel für diese drei Untersuchungen verwendet Morris die Bezeichnung Semiotik. Nach Ferdinand de Saussure kann man Sprache unter zwei Aspekten betrachten: als Aktivität des Sprechens, als parole, und als System von Ausdrücken und Regeln zu ihrer Verwendung, als langue. Die realistischen Bedeutungstheorien, die den ältesten und bisher weitaus am besten ausgebauten Typ der Semiotik bilden, gehen von der Sprache als System aus. Sprachliche Ausdrücke erhalten danach eine Bedeutung, indem ihnen etwas zugeordnet 16
Eine ausführlichere Darstellung findet sich in Kutschera (1975).
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Sprache
wird, das im Regelfall einer vorgegebenen, nichtsprachlichen Realität angehört. Man kann natürlich auch über sprachliche Ausdrücke reden, aber davon wollen wir zunächst einmal absehen. Der Realismus dieser Theorien besteht dann darin, daß wir mit der Sprache über eine unabhängig von ihr gegebene Wirklichkeit reden. Die kann sowohl eine Außenwelt sein, z.B. die physische Natur, wie auch etwas Psychisches. Im Mittelpunkt der realistischen Semiotik steht die Semantik. Die Pragmatik liegt zwar nicht außerhalb ihres Horizonts, wird aber als Semantik für Äußerungen verstanden. Die realistische Semiotik konzentriert sich zudem auf Behauptungssätze. Andere Verwendungsformen von Sprache wie Befehle, Fragen, Empfehlungen etc. werden nur am Rande betrachtet. Die Semantik gibt zunächst an, welche Arten von Entitäten den einfachen Ausdrükken der verschiedenen syntaktischen Kategorien als Bedeutungen zugeordnet werden, und legt dann Regeln fest, nach denen sich die Bedeutungen komplexer Ausdrücke, insbesondere der Sätze, aus den Bedeutungen ihrer einfachen Teile und der Art ihrer Zusammensetzung ergeben. Nun unterscheidet man üblicherweise zwei semantische Funktionen der Ausdrücke: Bezug und Bedeutung (oder Sinn). Ausdrücke referieren auf die Gegenstände, über die man mit ihnen spricht, und drücken eine Konzeption, eine begriffliche Bestimmung dieser Gegenstände aus. Die Unterscheidung dieser beiden Funktionen ist zwar schon alt, wurde aber von Gottlob Frege für die moderne Logik und Sprachtheorie wiederentdeckt. 17 Er geht davon aus, daß zwei Namen wie „Der Morgenstern" und „Der Abendstern", obwohl sie denselben Planeten, die Venus, bezeichnen, also denselben Bezug haben, nicht in allen Aussagen durcheinander ersetzbar sind, ohne daß sich die Bedeutung dieser Aussagen ändert. Der Satz „Der Morgenstern ist mit dem Morgenstern identisch" ist z.B. eine logische Trivialität, nicht hingegen der Satz „Der Morgenstern ist mit dem Abendstern identisch". Daher kann auch der Satz „Hans glaubt, daß der Morgenstern mit dem Morgenstern identisch ist" wahr, der Satz „Hans glaubt, daß der Morgenstern mit dem Abendstern identisch ist" hingegen falsch sein. Da Frege von einem Funktionalitätsprinzip 17
Vgl. Frege (1892), und dazu Kutschera (1989a), Kap. 5.
3.2
Bedeutung und Referenz
119
ausgeht, nach dem die Bedeutung eines Satzes - allgemein: eines komplexen Ausdrucks - nur von den Bedeutungen der in ihnen vorkommenden einfachen Ausdrücke und der Art ihrer Zusammensetzung abhängt, ergibt sich, daß man die Bedeutung von „Morgenstern" und „Abendstern" nicht mit ihrem Bezug identifizieren kann, mit dem Objekt, das sie bezeichnen. Man muß also jedenfalls bei Namen Bezug und Bedeutung unterscheiden. Ein Name bezeichnet einen Gegenstand (seinen Bezug) und er bedeutet (drückt aus) etwas, das man mit Rudolf Carnap Individualbegriff nennen kann. Im übrigen sagen wir ja auch nicht, die Bedeutung des Namen „Zugspitze" sei 3000 m hoch, oder die Bedeutung von „Richard Nixon" sei gestorben. Diese Unterscheidung von Bezug und Bedeutung überträgt Frege auf die Ausdrükke anderer syntaktischer Kategorien - wir beschränken uns hier auf Sätze und auf Prädikate, die nur für Objekte definiert sind (sog. Prädikate erster Stufe). Ein Satz bedeutet nach Frege einen Sachverhalt und bezeichnet seinen Wahrheitswert - Frege behandelt Sätze wie Namen und faßt daher die Wahrheitswerte „wahr" und „falsch" als Gegenstände auf. Ein einstelliges Prädikat bedeutet eine Eigenschaft und bezeichnet den Umfang des Prädikats, die Klasse aller Objekte mit der Eigenschaft, die das Prädikat ausdrückt. Ein zweistelliges Prädikat wie „lieben" bedeutet eine Beziehung zwischen zwei Objekten bzw. Personen und bezeichnet deren Umfang - in unserem Fall: die Klasse aller Paare von Personen, von denen die erste die zweite liebt.18 Diese durchgängige Verdopplung der semantischen Funktionen hat den Vorteil, daß man - mit einer Zusatzannahme, die indirekte Nebensätze betrifft - sagen kann: Der Bezug eines komplexen Ausdrucks hänge nur von den Bezügen, und seine Bedeutung hänge nur von den Bedeutungen der einfachen Ausdrücke ab, die in ihm vorkommen - und von der Art ihrer Zusammensetzung. Die Bedeutung eines Ausdrucks ist demnach mit den semantischen Regeln der Sprache festgelegt, sein Bezug hängt hingegen nicht nur von den Regeln der Sprache ab, sondern auch von den Fakten - es ist eine Tatsa18
Das ist die heute übliche Bestimmung des Bezugs von Prädikaten. Bei Frege bezeichnen Prädikate extensionale Begriffe, wobei zwei solche Begriffe gleich sind, wenn sie denselben Umfang haben.
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chenfrage, wen der Name „Der Mörder von Frau Meier" bezeichnet, welchen Umfang das Prädikat „Kanzlerkandidat bei der letzten Bundestagswahl" hat, und ob ein Satz wahr ist oder falsch. Intuitiv ist die Verdoppelung der semantischen Funktionen freilich wenig überzeugend: Mit Namen referieren wir auf Gegenstände, wir referieren aber nicht mit Prädikaten auf Klassen oder mit Sätzen auf Wahrheitswerte. Es ist ferner unklar, welche Bedeutung man einem Eigennamen wie „Sokrates" zuordnen soll; bei Kennzeichnungstermen wie „Der gegenwärtige Präsident der USA" ergibt sich die Bedeutung aus jener des kennzeichnenden Prädikats - auch „Der Morgenstern" ist im Effekt ein Kennzeichnungsterm, denn der Name bedeutet soviel wie „Derjenige Stern, der am Morgenhimmel am hellsten leuchtet". Immerhin ist die generelle Annahme zweier semantischer Funktionen in der Semantik nützlich. Ein ernsteres Problem der realistischen Semantik besteht darin, daß es bisher nicht gelungen ist, Bedeutungen hinreichend genau zu bestimmen. Der Begriff der Intension, wie er in der intensionalen Semantik eingeführt wird, ist nur eine Annäherung an den Bedeutungsbegriff, die zwar für viele Zwecke ausreichend ist, aber eben nicht für alle. Carnaps Idee, Bedeutungsgleichheit als intensionale Isomorphic zu erfassen, ist ebenfalls nicht überzeugend.19 Quine sagt: „No entity without identity", und in diesem Sinn müßte man Kriterien dafür haben, daß zwei Ausdrücke bedeutungsgleich sind, um von Bedeutungen präzise reden zu können. Nun sind zwar zwei Ausdrücke X und Y genau dann bedeutungsgleich, wenn sie sich in allen Aussagen salva veritate durcheinander ersetzen lassen, als Kriterium hat das aber seine Schwierigkeiten. Wie Quine betont hat, gilt z.B. für Sätze X und Y, daß die Ersetzung nur eines Vorkommnisses von X in der wahren Aussage „X ist synonym mit X" durch Y nur dann eine wahre Aussage ergibt, wenn X und Y bedeutungsgleich sind. Man müßte daher die Bedeutungsgleichheit von X und Y unabhängig von dem Kriterium feststellen können, um sie mit ihm nachweisen zu können; dann wäre es aber
19
Vgl. dazu Carnap (1956), § 14 und für eine neuere Version M. Cresswell (1985).
3.2
Bedeutung und Referenz
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überflüssig. 20 Man könnte zwar solche Kontexte ausschließen, es ist aber nicht klar, wo präzise Grenzen zu ziehen sind. Die Bedeutungstheorien, die wir hier als pragmatisch bezeichnen wollen, gehen davon aus, daß Sprache von der Aktivität des Sprechens her zu analysieren ist. Sie betrachten Sprache also primär als parole, und wenden sich damit gegen eine Eigenständigkeit der Semantik gegenüber der Pragmatik. Das Spektrum dieser Ansätze reicht von behavioristischen Theorien, wie sie z.B. von L. Bloomfield, Ch. Morris und B.F. Skinner entwickelt wurden, 21 über die Gebrauchstheorie der Bedeutung von L. Wittgenstein und die Sprechakttheorien von J.L. Austin und J.R. Searle bis hin zur handlungstheoretischen Semiotik von P. Grice. Der Grundgedanke ist, daß Bedeutungsunterschiede zwischen Wörtern nur dann anzunehmen sind, wenn sie sich in unterschiedlichen Verwendungsweisen widerspiegeln. N u n läßt sich der Sprachgebrauch nicht zureichend mit rein behavioristischen Verhaltenstermen beschreiben, die lediglich auf äußeres Verhalten Bezug nehmen. Was wir angesichts eines Ereignisses, einer äußeren Situation oder der Äußerung eines anderen sagen, hängt auch von anderen Gegebenheiten ab. O f t reagieren wir überhaupt nicht sprachlich, und wenn wir das tun, hängt das, was wir sagen, nicht nur vom fraglichen Ereignis oder der Äußerung des anderen ab, sondern auch von unseren Intentionen, Ansichten, Erwartungen, Wünschen oder Gefühlen. Die wären behavioristisch erst wieder zu erklären. Wie im Fall des logischen Behaviorismus, von dem im Abschnitt 6.2 die Rede sein wird, scheitert das aber daran, daß sich keine eineindeutigen Beziehungen zwischen einzelnen psychischen Zuständen und Verhaltensweisen herstellen lassen. Behavioristische Bedeutungstheorien sind daher hoffnungslos inadäquat. 22 Wittgenstein sagt in den Philosophischen Untersuchungen (1953), § 43: „Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes „Bedeutung" - wenn auch nicht für alle 20 21 22
Vgl. Quine (1951b). Vgl. L. Bloomfield (1953), Ch. Morris (1946) und B.F. Skinner (1957). Vgl. dazu N. Chomskys Besprechung von Skinners Verbal Behavior (1959).
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Fälle seiner Benützung - dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache". Damit nimmt er einen Gedanken von Charles S. Peirce auf: „There is no distinction of meaning so fine as to consist in anything but a possible difference of practice." 23 Wie wir sahen, darf man den Ausdruck „Gebrauch" hier nicht in einem zu engen, behavioristischen Sinn verstehen. Der Gebrauch eines Wortes besteht darin, daß es in bestimmten Situationen korrekt verwendet werden kann, aber diese Situationen lassen sich oft nur so beschreiben, daß dabei auf Absichten, Erwartungen oder Rücksichten des Sprechers Bezug genommen wird. Unter „Gebrauch" ist ferner eine Gebrauchsweise zu verstehen, nicht Gebrauchsinstanzen. 24 Dann kann man die Aussage von Peirce akzeptieren, problematisch bleibt aber die Auffassung des Sprechens als eines instrumentellen Gebrauchs von Wörtern oder Sätzen. Danach wäre die Sprache als System von Ausdrücken ja wieder das Primäre, und als Werkzeuge müßten die sprachlichen Ausdrücke zudem schon von sich aus eine Eignung für bestimmte kommunikative Zwecke haben. Da diese Eignung nicht an rein syntaktischen Eigenschaften der Ausdrücke hängen kann, würde der Gebrauch den Bedeutungen folgen und könnte diese nicht konstituieren. Vom Grundgedanken der pragmatischen Bedeutungstheorien her ist also die Gebrauchstheorie nicht akzeptabel. Im Anschluß an Wittgenstein hat man in der Sprechakttheorie die Fülle der illokutionären Rollen von Sprachhandlungen hervorgehoben, d.h. die Vielfalt der Tätigkeiten, die wir sprachlich vollziehen.25 Man hat betont, daß es nicht nur Behauptungen, Fragen, Befehle und Wunschäußerungen gibt, sondern auch Empfehlungen, Herausforderungen, Entschuldigungen, Begrüßungen, War23
24
25
Ch. Peirce Collected Papers V, hg. Ch. Hartshorne und P. Weiss, C a m bridge/Mass. 1965, S. 257. Merkwürdigerweise war Wittgenstein der Meinung, es gäbe nur kollektive, nicht aber individuelle Gebrauchsweisen. Darin besteht eines seiner Argumente gegen Privatsprachen. Vgl. dazu auch S. Kripke (1982) und dazu wiederum Kutschera (1991). Von dieser Einschränkung sehen wir hier ab. Vgl. dazu z.B. J . L . Austin (1962) und J.R. Searle (1969).
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Bedeutung und Referenz
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nungen, Erklärungen, Taufakte, Gebete usf. Unter dem Obertitel .Behaupten' sind zudem viele Formen sprachlichen Tuns zu unterscheiden wie Berichten, Beschreiben, Verneinen, Bestätigen oder Schlußfolgern. Eine genauere Klassifikation von Sprechakten, wie sie John Searle versucht hat, ist allerdings nur im Blick auf eine Theorie sinnvoll, die über die Elemente der einzelnen Klassen generelle Aussagen macht. Wir können uns hier aus folgendem Grund auf die beschreibene Rede beschränken. Jeder Sprechakt läßt sich so paraphrasieren, daß dabei seine illokutionäre Rolle explizit angegeben wird - man spricht von einer explizitperformativen Paraphrase. So kann man z.B. die Bedeutung einer Äußerung des Satzes: „Die Tür ist noch offen" als Aufforderung, umschreiben mit: „Hiermit fordere ich dich auf, die Tür zu schließen". Der Satz: „Ich fordere Max auf, die Tür zu schließen" ist hingegen keine Aufforderung, sondern eine Beschreibung des Sprechaktes. Was Aufforderungen bedeuten, weiß man, wenn man ihre Beschreibungen versteht. Zur Interpretation von Aufforderungen genügt es also, den Sinn des Verbs „auffordern" anzugeben und die Bedeutung von Sätzen der Gestalt „ X fordert Y auf,... zu tun". Analoges gilt für Fragen, Begrüßungen, Empfehlungen, usf. Daher kann man sich in der Semiotik im wesentlichen auf die Interpretation beschreibender Äußerungen, auf deskriptive Satzbedeutungen beschränken. 26 Einen Schritt weiter als die Gebrauchstheorie führt die Bedeutungstheorie von Paul Grice. 27 Sie geht von folgenden Grundgedanken aus: Sprechakte sind Handlungen. Es gibt einen allgemeinen Begriff vom Sinn einer Handlung: Wir verstehen eine Handlung, wenn wir erkennen, was der Handelnde damit erreichen will. Der Sinn der Handlung ist das, was wir verstehen, wenn wir die Handlung verstehen, also die Intention, die der Agent mit ihr verfolgt. Das gilt auch für Sprechakte. Ihr besonderer Charakter besteht nun nach Grice darin, daß der Sprecher dem Hörer damit seine Intention anzeigen will, weil sie nur dann ihr Ziel erreichen, wenn der Hörer sie versteht. Der Sprecher will beim 26 27
Vgl. dazu auch D. Lewis (1970). Vgl. dazu insbesondere die in Grice (1989) vereinigten Aufsätze, sowie Meggle (1980) und Kutschera (1983b).
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Hörer eine gewisse Reaktion hervorrufen - er will z.B., daß dieser etwas tut oder glaubt. Das ist die primäre Sprecherintention. Aber der Sprecher will auch, daß der Hörer diese seine Primärintention erkennt, weil das nach Meinung des Sprechers Bedingung für die gewünschte Reaktion des Hörers ist. Unser Verhalten kann ein Symptom, ein natürliches Zeichen sein, wie z.B. schnelles Sprechen ein Anzeichen für Nervosität ist. Bei Zeigehandlungen, durch die wir dem Hörer etwas, wie Grice sagt, auf nichtnatürliche Weise anzeigen, ist unser Verhalten kein natürliches Zeichen für unsere Intention. Damit solche Akte als Anzeigeversuche verstanden werden, müssen sie vielmehr vom Hörer als absichtliches Verhalten aufgefaßt werden, um die gewünschte Reaktion hervorzurufen. Man kann z.B. die Stirn absichtlich runzeln, um dem Gegenüber Zweifel an dem signalisieren, was er uns mitteilt. Wenn er das Stirnrunzeln nicht als intentional erkennt, mißlingt dieser Anzeigeversuch. Viele Handlungen wie z.B. das Mähen des Rasens sind in ihrer Absicht für jeden verständlich, aber keine Anzeigeversuche, da die Erkenntnis ihres Zwecks durch andere keine Vorbedingung ihres Erfolges ist. Andere erkennen die kommunikative Absicht einer Handlung insbesondere dann leicht, wenn die Handlung ohne diese Absicht offenbar sinnlos wäre. Das ist bei der Produktion sprachlicher Laute der Fall - mit ihr kann man meist nichts erreichen, außer einem kommunikativen Zweck. Nun wird eine Handlung in der Regel nur dann als Anzeigeversuch mit einem bestimmten Zweck erkannt werden, wenn Handlungen desselben Typs allgemein mit diesem Ziel unternommen werden, und wenn das auch allgemein bekannt ist. Nur dann hat der Sprecher Grund zu glauben, daß der Hörer seine Absicht erkennt, und nur dann hat der Hörer Anlaß der Äußerung diese spezielle Absicht zu unterstellen. Grice diskutiert vor allem Ausnahmen von dieser Regel, und in besonderen Fällen kann man durchaus auch etwas anzeigen, ohne sich auf eine generelle Praxis zu verlassen. Im allgemeinen gelingt Kommunikation aber nur auf der Grundlage von Konventionen. Sie erst machen verständlich, warum der Sprecher damit rechnen kann, daß ihn der Hörer versteht, und warum der Hörer annehmen kann, daß der Sprecher die Handlung in einer bestimmten kommunikativen Absicht vollzieht. Das gilt insbesondere für Sprech-
3.2 Bedeutung und Referenz
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handlungen, bei denen wir Wörter und Sätze verwenden, die allgemein eine bestimmte Bedeutung haben bzw. zu bestimmten kommunikativen Zwecken verwendet werden. Was Konventionen sind und wie auf ihrer Grundlage erfolgreiche Anzeigeversuche möglich sind, hat David Lewis in seinem bereits zitierten Buch Convention (1969) dargelegt. Seine Theorie der Signal-Konventionen ist eine unverzichtbare Ergänzung des Ansatzes von Grice. Sie schließt eine Lücke in dessen Darlegungen, indem sie zeigt, wann und warum sprachliche Anzeigeversuche Aussicht auf Erfolg haben. Die Absicht, die der Sprecher mit seinem Kommunikationsversuch verfolgt, bezeichnet Grice als Sprecherbedeutung, jene Absicht, die der Sprecher nach Ansicht des Hörers mit seiner Handlung verfolgt, als Hörerbedeutung. Ein Verstehen liegt daher vor, wo die Hörerbedeutung mit der Sprecherbedeutung zusammenfällt. Die Bedeutung eines Satzes in einer Sprachgemeinschaft Ρ ist die - in Ρ allgemein bekannte - Sprecherbedeutung bei Äußerungen des Satzes. N u n kann man den Satz „Der Hund ist bissig" sowohl für Behauptungen wie für Warnungen oder Empfehlungen gebrauchen, und dabei wird er in verschiedenen Absichten geäußert. Ferner verwenden wir Sätze wie „Das war mal wieder eine Glanztat von dir" auch ironisch, und dann ist die kommunikative Intention jener bei einer nichtironischen Äußerung entgegengesetzt. Grice hat auch eine Theorie der Implikaturen entwikkelt, die eine Unterscheidung erlaubt zwischen dem, was jemand sagt - dem Normalsinn seiner Äußerung, der sich aus den Regeln der Sprache ergibt - , und dem was er damit meint. Man sagt z.B. mit der Äußerung: „Es ist schon spät", daß die Zeit fortgeschritten ist, man kann damit aber meinen, daß der Adressat sich endlich verabschieden möge. Was man mit einem Satz sagt, ergibt sich aus dessen normalen Verwendungen. Dieser wörtliche Sinn erlaubt es, den Satz in bestimmten Situationen auch zu verwenden, um etwas anderes damit anzuzeigen. Die Verständlichkeit des Gemeinten ergibt sich dabei wiederum aus gewissen Konventionen, den Konversationsmaximen. Grice ist damit ein Vorstoß in ein ganz neues und wichtiges Feld der Verwendung von Sprache gelungen. Grice und Lewis erklären, wie man sich mit Lautäußerungen verständigen kann, und das ist zweifellos ein wichtiger Beitrag zur
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Bedeutungstheorie. Der sprachliche Bedeutungsbegriff wird ferner auf den allgemeinen Begriff des Sinns einer Handlung zurückgeführt. Der Ansatz hat aber zwei Mängel. Erstens ist er allein auf den kommunikativen Gebrauch der Sprache zugeschnitten, so daß der Zusammenhang von Sprechen und Denken nicht thematisiert wird. Sprache erscheint auch hier nur als ein Mittel zum Ausdruck von Gedanken, insbesondere von Absichten. Zweitens sagt der Ansatz nur etwas über Satzbedeutungen aus, nicht aber über die Bedeutung von Wörtern. Es bleibt also offen, wie sich Satzbedeutungen aus den Bedeutungen der Satzteile ergeben. Sätze sind ja die kleinsten kommunikativen Einheiten, mit „Fritz" oder „Pferd" kann man nichts anzeigen. Lewis löst das Problem in (1970) so, daß er die gesamte realistische Semantik voraussetzt. Das entspricht aber nicht den pragmatischen Grundgedanken. 28 Wenn wir von einem pragmatischen Ansatz ausgehen und die Überlegungen des letzten Abschnitts zur Einheit von Denken und Sprechen einbringen, ergeben sich folgende Grundgedanken für eine Sprachtheorie. Wenn wir sprechen, tun wir etwas. Wir behaupten z.B. etwas, fragen etwas, fordern jemanden zu etwas auf, wir begrüßen jemanden oder gratulieren ihm, beweisen etwas usf. Von diesen sprachlichen Handlungsformen gehen wir aus, nicht aber, wie in der realistischen Semiotik, von syntaktischen Objekten, von Zeichen und Zeichenfolgen. 29 Die sprachlichen Ausdrücke (als Objekte) sind für uns Produkte sprachlicher Handlungen - genauer: Typen von Produkten sprachlicher Handlungen desselben Typs. Eine sprachliche Äußerung hat zwei Seiten: eine phonetische (oder graphische) Form und einen semiotischen Inhalt, eine 28
29
Für eine detailliertere Formulierung sprachlicher Konventionen vgl. die Bemerkungen in Kutschera (1976), 8.3. Handlungen sind von Handlungsformen zu unterscheiden. Eine Handlung ist etwas, das von einer bestimmten Person zu einer bestimmten Zeit ausgeführt wird. Verschiedene Personen können aber zu verschiedenen Zeiten Handlungen der gleichen Art vollziehen, also in derselben Weise handeln. Die Unterscheidung von Handlungsweise und Handlung entspricht jener zwischen Typ und Vorkommnis.
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Bedeutung. Betrachten wir zunächst vollständige kommunikative Akte - also Äußerungen von Sätzen - , so umfaßt ihre Bedeutung auch die illokutionäre Rolle. Es kann z.B. zur Bedeutung einer Äußerung des Satzes: „Es ist schon spät" gehören, daß sie eine Aufforderung ist. Wir wollen uns hier aber auf Aussagen beschränken, mit denen man etwas beschreibt. Wie wir sahen, genügt das als Grundlage für eine allgemeine Semiotik der Sprechakte. Aussagen sind dann sprachliche Handlungen, keine Objekte. Etwas aussagen heißt inhaltlich: urteilen, daß etwas der Fall ist. Ein Urteil ist ein Akt, den der Sprecher vollzieht, indem er eine Aussage macht. Man urteilt, daß es regnet, indem man z.B. die Lautfolge E-s-r-e-g-n-e-t produziert. Das, was man aussagt und von dem man urteilt, daß es der Fall sei, ist ein Sachverhalt. Das Urteil ist also die Bedeutung, der semantische Inhalt einer Aussage, und Form wie Inhalt einer Aussage sind, wie diese, Handlungsweisen.30 Die Aussage ist die Einheit aus Form und Inhalt. Beide sind Abstraktionen aus dieser Einheit, zwei Seiten eines Ganzen, die aber eine gewisse Eigenständigkeit dadurch gewinnen, daß wir denselben Inhalt in verschiedenen Formen, und gelegentlich auch verschiedene Inhalte durch dieselbe Aussageform mitteilen können. Ein Urteil ist die illokutionäre, die volle Bedeutung einer Aussage. Man benötigt daneben auch illokutionär neutrale, deskriptive Satzbedeutungen. Denn man muß einem Satz A als Teil z.B. des Satzes Wenn A, dann Β eine Bedeutung zuordnen, die keine illokutionäre Rolle umfaßt; A wird ja in dem Satz nicht behauptet. Die deskriptive Bedeutung einer Aussage bezeichnen wir, wie üblich, als Proposition. Dieses Wort erhält dann aber im Kontext unserer Theorie einen ganz neuen Sinn: Propositionen sind für uns Akte (genauer: Typen von Akten) des Proponierens, des Auffassens, wie wir auch sagen wollen, von Sachverhalten.31 Ein Urteil ist 30
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Man redet auch von einem Urteilsinhalt. Das ist der Sachverhalt, von dem im Urteil behauptet wird, er sei eine Tatsache, er bestehe. U m beide Inhaltsbegriffe zu unterscheiden, kann man sagen: Der Sachverhalt ist intentionaler Inhalt des Urteils, dieses ist semantischer Inhalt der Aussage. Frege spricht von „Gedanken" statt „Propositionen", meint damit aber
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Sprache
dann das Akzeptieren einer Auffassung. Die volle, illokutionäre Bedeutung einer Äußerung stellt sich dar als Funktion ihrer deskriptiven Bedeutung und ihrer illokutionären Rolle. Da nun die Bedeutung als semantischer Inhalt Teil der Aussage ist, wird man weniger von der Aussage selbst, als von ihrer sprachlichen Form sagen, sie bedeute die Proposition bzw. das Urteil. Wir wollen uns hier aber nicht zu viele terminologische Fesseln anlegen und das Wort „Aussage" sowohl für die Form allein wie auch für das Ganze aus Form und Inhalt verwenden. Ein Aussagesatz ist als Objekt Produkt eines Aussagens. Indem ich ein Objekt X nenne, referiere ich auf X. Indem ich die Lautfolge M-a-x ausspreche, nehme ich auf Max Bezug. Der semantische Inhalt des Nennens ist das Referieren auf X, nicht aber X selbst. Das Objekt X kann man, wie üblich, als Bezug des Namens bezeichnen. Der Name als Gegenstand ist für uns wieder etwas Sekundäres, das phonetische oder graphische Produkt des Nennens. Indem man etwas von einem Objekt Xprädiziert, begreift man X als etwas, das eine bestimmte Eigenschaft hat.32 Rotsein von X prädizieren, heißt, X als rot begreifen. Ein Begriff ist eine Form des Begreifens, des Begreifens von Objekten als Objekte mit einer bestimmten Eigenschaft. Das Begreifen ist die inhaltliche Seite des Prädizierens. Dessen sprachliches Produkt ist dann das Prädikat als phonetisches oder graphisches Objekt. Entsprechendes gilt für Prädikationen, mit denen man etwas von zwei oder mehreren Objekten prädiziert und diese als in einer gewissen Beziehung zueinander stehend begreift. Wir ordnen sprachlichen Handlungen also zunächst nur eine einzige semantische Funktion zu: ihre Bedeutung. Die Bedeutungen der Handlungen kann man dann auch als Bedeutungen ihrer nicht Akte des Denkens, sondern intentionale Inhalte des Denkens. Unserem „Auffassen" entspricht sein „Fassen eines Gedankens". Vgl. dazu Kutschera (1989a), 5.2 und 10.2. 32
„Begreifen" ist eigentlich ein kognitives Leistungsverb, das richtiges Erfassen des Begriffenen impliziert. Aber davon wollen wir hier absehen, so daß es möglich ist zu sagen, jemand begreife ein Tier als Hasen, das tatsächlich kein Hase ist.
3.2
Bedeutung und Referenz
129
Produkte, der sprachlichen Ausdrücke, bezeichnen. Wie üblich kann man auch vom Umfang eines Prädikats und vom Wahrheitswert eines Satzes reden, ob man aber derartige Extensionen in die Semantik einführen will, ist eine Frage der Zweckmäßigkeit. Die Konzeption von sprachlichen Ausdrücken und ihrer Bedeutungen, die damit umschrieben ist, will ich im folgenden als operativ bezeichnen. Die Frage, wie es zur Verbindung von Inhalt und sprachlicher Form kommt, wieso es gelingt, in lautlicher Form auf Gegenstände zu referieren, ihnen Attribute zuzuschreiben oder etwas zu behaupten, läßt sich mit den oben referierten Gedanken von P. Grice und D. Lewis beantworten. Grice hat gezeigt, daß es zunächst auch ohne Konventionen gelingen kann, anderen auf nichtnatürliche, speziell sprachliche Weise etwas anzuzeigen. Lewis hat gezeigt, wie das zu Konventionen des Sprachverhaltens führen kann. Eine solche Konvention ist zunächst eine Regularität im Sprachverhalten der Mitglieder einer Sprachgemeinschaft. Sie läßt sich dann durch explizite Regeln für dieses Verhalten beschreiben.33 Unterschiede zwischen der operativen und der realistischen Semantik bestehen vor allem in drei Punkten: Erstens bilden nicht Sätze, Namen und Prädikate als syntaktische Objekte den Ausgangspunkt, sondern Typen sprachlicher Akte. Diese Akte haben zweitens eine formale und eine inhaltliche, eine phonetische und eine konzeptuelle Seite. Die Beziehung zwischen Ausdrücken und ihren Bedeutungen wird nicht durch Zuordnung zweier eigenständiger Entitäten hergestellt, sondern sprachliche Ausdrücke und ihre Bedeutungen werden durch Abstraktion aus dem Ganzen sprachlicher Handlungen gewonnen. Daher werden Propositionen, Begriffe und Individualbegriffe als sprachliche Bedeutungen drittens nicht als Entitäten einer äußeren Realität verstanden etwa im Sinn des Universalienrealismus34 - , sondern als Typen mentaler Akte, die wir aussagend, prädizierend oder nennend vollziehen. Bedeutungen gehören also zum Bereich des Konzeptuellen. 33 34
Vgl. dazu z.B. Kutschera (1976), 8.3. Vgl. dazu den Abschnitt 4.1.
130
3
Sprache
Diese Unterschiede haben Folgen. In diesem Abschnitt will ich nur auf eine eingehen: Aus der operativen Konzeption ergibt sich eine Nichtobjektivierbarkeit von Bedeutungen. Damit ist nicht die triviale Tatsache gemeint, daß Prädikatbedeutungen als Begriffe oder Satzbedeutungen als Propositionen von einer anderen ontologischen Kategorie sind als Objekte. Worum es geht, soll an einstelligen Prädikaten erläutert werden. Zunächst sehen wir, wie das in der realistischen Semantik üblich ist, Eigenschaften als Bedeutungen dieser Prädikate an. Von der Extension, dem Umfang eines Prädikats kann man nur relativ zu einem universe of discourse, einem Gegenstandsbereich reden. Zwei Eigenschaften sind sicher nur dann gleich, wenn sie in allen Gegenstandsbereichen dieselbe Extension haben.35 Das wäre äquivalent mit der Bedingung, daß sie im Bereich aller Objekte überhaupt dieselbe Extension haben. Die Menge aller Objekte gibt es aber nicht, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden; zu jeder Menge gibt es vielmehr Objekte z.B. sie selbst - , die nicht in ihr enthalten sind. Daher kann eine formale Semantik, der immer ein bestimmter universe of discourse zugrunde liegen muß, die Bedeutungen nicht ganz erfassen, die wir intuitiv mit den Prädikaten verbinden. Das gilt insbesondere für universelle Prädikate, deren Umfang nicht schon ihrem Sinn nach auf eine bestimmte Menge begrenzt ist (wie z.B. „Schmetterling" auf die Menge aller Lebewesen), sondern sich bei Erweiterungen des Gegenstandsbereichs immer erweitern kann. Beispiele sind die Elementschaftsrelation in der Mengenlehre oder der Wahrheitsbegriff in Systemen der formalen Semantik. Im operativen Sinn sind nun Prädikatbedeutungen nicht irgendwelche gegenständlichen Entitäten, sondern Weisen des Begreifens von Objekten als Dinge mit einer bestimmten Beschaffenheit. Darauf beruht ihre Nichtobjektivierbarkeit. Wir haben z.B. einen Wahrheitsbegriff für Sätze. Durch seine Extension in einer Sprache läßt er sich nicht zureichend charakterisieren. Auf die Frage: „Was bedeutet es, daß ein Satz wahr ist?" gibt die Auskunft, genau die und die Sätze einer bestimmten Sprache seien wahr, keine zureichende Antwort. Es wäre nicht einmal eine zureichende Antwort, 35
Genauer müßte man sagen:... in allen Gegenstandsbereichen und allen Welten dieselbe Extension haben. Davon sehen wir hier aber ab.
3.2
Bedeutung und Referenz
131
eine Funktion anzugeben, die jeder Sprache S die Extension von „wahr in S" zuordnet. Denn die Wahrheit dieser Beschreibung wird durch sie selbst nicht abgedeckt. Ein Verständnis von „wahr" läßt sich durch Beschreibungen nicht vollständig vermitteln; es besteht in einer Kompetenz, das Wort richtig zu gebrauchen. Darauf zielt auch Wittgensteins Problem der Fortsetzung von Prädikaten. In den Philosophischen Untersuchungen (1953) illustriert er es am Problem der „richtigen" Fortsetzung einer Zahlenreihe, wie z.B. 1 , 4 , 9 , 1 6 , . . . , von der nur endlich viele Anfangsglieder gegeben sind. Da es unendlich viele Funktionen gibt, die natürlichen Zahlen wiederum Zahlen zuordnen, gibt es auch unendlich viele Fortsetzungen der gegebenen Reihe; diese zeichnet also keine bestimmte Funktion aus. Welche gemeint ist, läßt sich nur erraten - im Beispiel liegt es nahe, χ 2 als intendierte Funktion anzusehen. Nun erlernen wir Prädikate durch endlich viele Beispiele (und Gegenbeispiele) ihres Gebrauchs, und die Schwierigkeit ist auch hier, daß die Beispiele eine generelle Gebrauchsweise nicht eindeutig festlegen. Es gibt immer unendlich viele Gebrauchsweisen, die mit den endlich vielen Beispielen verträglich sind, unendlich viele Möglichkeiten, ein Prädikat F über die Klasse der Beispiele hinaus „fortzusetzen". Die Gebrauchsweise von F läßt sich nur dann zureichend beschreiben, wenn es ein synonymes Prädikat G gibt, so daß wir sagen können „F wird ebenso verwendet wie G". Wittgenstein sagt: „Einem der, sagen wir, nur Französisch spricht, werde ich diese Wörter durch die entsprechenden französischen erklären. Wer aber diese Begriffe noch nicht besitzt, den werde ich die Worte durch Beispiele und durch Übung gebrauchen lehren. - Und dabei teile ich ihm nicht weniger mit, als ich selber weiß". 36 Entscheidend ist der letzte Satz des Zitats: Der Lehrende selbst, der den Gebrauch eines Prädikats beherrscht und weiß, was es bedeutet, kann seinen Sinn nicht zureichend beschreiben; er hat eine Kompetenz, aber keinen Katalog von Anwendungsfällen, kein Handbuch, das alle Fälle regelt. Für die realistische Semantik gibt es Begriffe, wie es Dinge gibt. Sie sind zwar von einer anderen Kategorie als diese, aber sie sind doch Entitäten einer objektiven Realität, und es ist nicht einzuse36
Wittgenstein (1953), § 208.
132
3 Sprache
hen, wieso sie sich nicht ebenso gut beschreiben lassen sollten wie Dinge. Nach der operativen Auffassung sind Begriffe hingegen Weisen des Auffassens von Objekten; sie können nicht vollständig beschreibbar sein, weil sie selbst nicht nur Gegenstand, sondern immer auch Mittel der Beschreibung sind - wenn auch nicht Mittel ihrer eigenen Beschreibung.
3.3 Sprache, Denken, Wirklichkeit Bevor wir uns im nächsten Abschnitt der Frage des Nutzens der operativen Sprachauffassung zuwenden, wollen wir in diesem Abschnitt ihre erkenntnistheoretische Seite etwas näher betrachten. Wir gehen dazu von einem Problem der realistischen Semantik aus. In ihr sieht man Begriffe meist als dasselbe oder etwas Ähnliches an wie Attribute, und Propositionen als dasselbe oder etwas Ahnliches wie Sachverhalte. Sofern man systematisch zwischen Begriffen und Attributen oder Propositionen und Sachverhalten unterscheidet, werden Begriffe und Propositionen als etwas Subjektives, Mentales oder Konzeptuelles aufgefaßt, Attribute und Sachverhalte hingegen als etwas Objektives, das nicht dem Denken zuzurechnen ist, sondern der Realität, auf die es sich bezieht. Das kann freilich auch eine Sprache sein oder selbst etwas Seelisch-Geistiges; um unnötigen Komplikationen zu entgehen, nehmen wir für das folgende jedoch an, es sei die physische Welt. Bei einer erkenntnistheoretisch-realistischen Auffassung dieser Welt im Sinn von 2.3 haben wir es dann mit zwei voneinander unabhängigen Bereichen zu tun: mit der Natur und dem Denken, das sich darauf bezieht. Physische Objekte wie Steine und Sterne gehören fraglos zur physischen Realität. Sie müssen dann aber auch eine objektive Beschaffenheit haben; man kann sie nicht als bloße, lediglich numerisch verschiedene Individuen ansehen. Denn erstens besteht die Verschiedenheit zweier Objekte darin, daß sie unterschiedliche Eigenschaften haben, so daß man eigenschaftslose Individuen auch nicht unterscheiden könnte. Zweitens wäre die Anwendung bestimmter Begriffe auf bloße Individuen willkürlich, da es an ihnen nichts gibt, was solche Anwendungen legitimieren würde.
3.3
Sprache, Denken, Wirklichkeit
133
Physische Gegenstände müssen also eine bestimmte objektive Beschaffenheit haben, und das drücken wir so aus, daß sie Attribute haben. Dann ist es aber auch etwas Reales, daß die Objekte bestimmte Eigenschaften haben oder in gewissen Beziehungen zueinander stehen, d.h. es gibt auch reale Sachverhalte. Also: Keine objektive Realität ohne objektive Attribute und Sachverhalte. Faßt man Begriffe und Propositionen als etwas Konzeptuelles auf, so gehören sie nicht zur Natur. Wir bilden Begriffe, während es keinen Sinn macht, von einer Bildung von Attributen zu reden. Eine realistische Auffassung der physischen Welt legt also eine Unterscheidung von Begriffen und Attributen sowie von Propositionen und Sachverhalten nahe. Dieser Ansatz führt jedoch zu folgenden Schwierigkeiten. Die Anwendung eines Begriffs besteht darin, daß wir einem oder mehreren Gegenständen ein Attribut zuschreiben. Wir begreifen z.B. ein Ding als rot, oder etwas als größer als etwas anderes, und ,rot' und .größer sein als' sind Attribute. Jedem Begriff entspricht also ein Attribut. Umgekehrt können wir Attribute nur durch Begriffe erfassen. Jedem angebbaren Attribut entspricht also auch ein Begriff. Eine analoge Korrespondenz besteht zwischen Sachverhalten und Propositionen. Wie verträgt sie sich aber mit dem realistischen Verständnis der Natur als einer in ihrer Beschaffenheit von unserem Denken unabhängigen Realität? Sagt man, einem einstelligen Begriff entspreche nur dann eine Eigenschaft, wenn es Objekte gibt, auf die er zutrifft, so bedeutet das, daß der Umfang von Eigenschaften nie leer ist. Mit dem letzten resedagrünen Objekt würde also auch die Eigenschaft Resedagrün vergehen, so wie sie mit dem ersten resedagrünen Objekt entstanden ist. Eigenschaften entstehen aber weder, noch vergehen sie. Sagt man hingegen, nur natürlichen Begriffen entsprächen Eigenschaften, so daß z.B. dem Begriff ,ein Stern oder ein Regenschirm sein' keine (echte) Eigenschaft entspricht,37 dann steht man 37
G. Bealer spricht in (1982) von Cambridge properties und erwähnt den Begriff ,grue', den N. Goodman als Beispiel für sein Neues Rätsel der Induktion verwendet hat - ein sehr gutes Beispiel für einen Begriff, dem man intuitiv keine Eigenschaft, keine Qualität zuordnen möchte. Bealers Unterscheidung geht von der Konzeption aus, Attribute seien das,
134
3
Sprache
vor dem Problem, daß es keine generellen Kriterien für „Natürlichkeit" gibt. Einen Begriff wird man als „natürlich" bezeichnen, wenn er in fruchtbaren Theorien eine Rolle spielt, so daß wir mit ihm wichtige Gemeinsamkeiten erfassen. Welche Attribute es in der Realität gibt, hängt für den Realisten aber nicht von unseren Theorien und Uberzeugungen ab. Die Charakterisierung eines Stoffes als phlogistonhaltig war einmal natürlich, ist es heute aber nicht mehr. Ist also die Eigenschaft der Phlogistonhaltigkeit verschwunden? Oder war das nur eine vermeintliche Eigenschaft? Wir verwenden zudem normalerweise nur solche Begriffe, die wir als relevant für sachliche Unterschiede und Gemeinsamkeiten ansehen, gehen also davon aus, daß jedem Begriff, den wir verwenden, eine Eigenschaft entspricht. Es gibt ferner logische Kriterien für die Existenz von Attributen, und auch das ist für den Realisten problematisch. Während es eine empirische Frage ist, welche Gegenstände existieren, ist es keine empirische, sondern eine logische Frage, welche Attribute und Sachverhalte es gibt. Wir haben keinen Grund anzunehmen, daß mit einem Attribut F nicht auch nicht-F ein Attribut ist, daß mit zwei Attributen F und G nicht auch F-und-G ein Attribut ist, usf. Die Menge der Attribute ist also abgeschlossen gegenüber logischen Operationen, und das ist schwer verständlich, wenn Attribute unabhängig von unserem Denken sind. Vom operativen Ansatz her gesehen ist die übliche Unterscheidung von Begriff und Attribut wie von Proposition und Sachverhalt eine nutzlose Verdoppelung von Attributen bzw. Sachverhalten. Neben die physische Außenwelt stellt man damit im Sinn des Piatonismus nur eine zweite, geistige Außenwelt. Begriffe als Weisen des Begreifens werden zu Pseudo- Gegenständen, und ebenso Propositionen. Nach den Überlegungen des letzten Abschnitts fällt der Unterschied von Mentalem und Objektivem mit dem von Denken und Gedachtem, von Akt und Inhalt zusammen. Das Mentale besteht in Aktivitäten des Denkens, Attribute und Sachverhalte gehören dagegen zu deren intentionalen Inhalten. Die Korrespondenz von Begriffen und Attributen, von Propositionen was die logische, kausale oder phänomenale Ordnung der Welt bestimmt (S. 185). Das läuft auf Attribute als natürliche Begriffe hinaus.
3.3 Sprache, Denken, Wirklichkeit
135
und Sachverhalten ergibt sich in unserem Ansatz einfach daraus, daß Begriffe als Arten des Begreifens ihren Inhalten eindeutig entsprechen. Der Grad der Sicherheit des Begreifens bleibt ja z.B. offen, wenn ich es nur als Begreifen von Objekten als rot oder als quadratisch charakterisiere. Damit sind die angesprochenen ontologischen und erkenntnistheoretischen Fragen allerdings noch nicht beantwortet. Kann man Attribute und Sachverhalte tatsächlich als Konstituenten einer bewußtseinsunabhängigen Realität ansehen? Gibt es in ihr eine feste Zahl bestimmter Attribute? Das Problem einer Relativierung der Natur auf menschliches Denken und Sprechen, ist uns schon im Abschnitt 2.3 begegnet, als wir die Natur als Gegenstand unserer Erfahrung beschreiben mußten oder als das, worüber wir mit unserer physikalischen Sprache reden. Als Realisten gehen wir von einer Beschaffenheit der Welt an sich aus. Wir sagen, daß wir Sachverhalte denkend erfassen, nicht aber bilden, und daß es Sachverhalte gibt, die wir nicht kennen und nicht ausdrücken können. Das alles ist zwar soweit richtig, würden aber Sachverhalte ganz unabhängig von menschlichem Denken existieren - nicht nur bestehen - , so müßten wir uns doch wohl, ähnlich wie bei Objekten, auch ein falsches Bild von ihrer Beschaffenheit machen können, und das ergibt keinen Sinn. In unseren Erfahrungen zeigt sich uns die Natur, die Erfahrungsinhalte legen wir aber immer schon mit unseren Begriffen aus. Da wir keinen externen Standpunkt einnehmen können, ist die Natur für uns allein in Gestalt solcher Erfahrungsinhalte faßbar. Man kann also Attribute und Sachverhalte nicht aus dem Bezug zu unserem Denken lösen. Das kann man nicht einmal für Objekte tun: Wir fassen eine erfahrene Situation so auf, daß da bestimmte Objekte mit bestimmten Attributen sind. An früherer Stelle wurde einmal betont, daß unsere Wahrnehmung meist schon als Wahrnehmung von bestimmten Objekten strukturiert ist, von Gestalten z.B., die sich von einem Hintergrund abheben. Das ist aber nicht immer so. Verbinden wir in einem gleichseitigen Dreieck die Mittelpunkte der Seiten miteinander, so entsteht eine Figur, die mehrere Auffassungen zuläßt. Wir können sagen, sie bestehe aus zwei Dreiecken, von denen eines dem anderen eingeschrieben sei; oder sie bestehe aus vier gleichseitigen Dreiecken, zusammengefügt zu einem gleichseiti-
136
3
Sprache
gen Dreieck; oder sie bestehe aus einem Trapez, auf dem ein Dreieck stehe usf. Wir legen ferner Persistenzkriterien für Objekte fest. Existiert z.B. das 'Schiff des Theseus' immer noch, selbst wenn an ihm im Laufe der Zeit jedes Teil durch ein neues ersetzt wurde? Entstehen aus einem Regenwurm, der von einem Spaten zertrennt wurde, zwei neue, oder ist eine Hälfte mit dem alten Wurm identisch? Nicht nur Begriffs- und Theorienbildung hängen zusammen, wie oft betont wird, sondern beides hängt auch mit der Annahme und Unterscheidung von Objekten zusammen.38 Im Gegensatz zu Begriffen und Propositionen als Aktformen sind also Attribute und Sachverhalte zwar der objektiven Realität zuzurechnen, unser Bild dieser Realität ist aber grundsätzlich eine Innenansicht. Wir erfassen die objektive Beschaffenheit der Natur im System unserer Begriffe und beschreiben sie mit unserer Sprache; eine Abstraktion von unserem Begriffssystem, unserer Sprache, unserer Erfahrung ließe von ihr nichts Greifbares übrig. Wir können nicht davon ausgehen, das System unserer gegenwärtigen Begriffe reiche aus, alle sachlichen Unterschiede zu erfassen. Die Begriffe, die wir mit der normalen Sprache übernehmen, haben sich für die Orientierung in der Welt bewährt, und es ist gerechtfertigt, die bewährten Begriffen entsprechenden Attribute als real anzusehen. Es kann aber durchaus sein, daß wir in Zukunft für die Beschreibung von Erfahrungen und bei der Formulierung neuer Theorien nicht mehr mit unserem gegenwärtigen Begriffssystem auskommen werden und es erweitern oder modifizieren müssen. Aus dieser Perspektive ist es nicht erstaunlich, daß das System der Attribute, die wir annehmen, dem System unserer Begriffe entspricht, und daß es logische Existenzkriterien für angenommene Attribute gibt. Mit der Bildung von Attributkombinationen entstehen im übrigen keine neuen sachlichen Unterschiede; aus den einfachen Eigenschaften, die ein Objekt hat, ergibt sich, welche logischen Eigenschaftskombinationen es hat. Die triviale Relativität unserer Sicht der Welt bzgl. unserer begrifflichen und sprachlichen Mittel, von der hier die Rede war, hat nichts mit einem ontologischen Relativismus à la Goodman zu tun, der die eine, objektive Realität streicht und an ihre Stelle die Vielzahl der Sicht38
Vgl. dazu Kutschera (1998b).
3.4
Semantische Antinomien
137
weisen als eine Pluralität von „Welten" setzt - wovon sie dann Sichtweisen sind, bleibt freilich offen. 39
3.4 Semantische Antinomien Die operative Konzeption der Sprache ist nur dann brauchbar, wenn sie sich erstens zu einer detaillierten Sprachtheorie ausbauen läßt. Vollständigkeit ist dabei nach den Überlegungen zur Nichtobjektivierbarkeit von Bedeutungen und zu den Grenzen von Theorien menschlichen Denkens und Sprechens zwar nicht erreichbar, es wäre aber jedenfalls eine funktionstüchtige Theorie interessanter Sprachfragmente zu entwickeln. Zweitens muß die operative Konzeption sich, zumindest in einigen Punkten, der realistischen überlegen erweisen. Da Darlegungen zum Ausbau der Theorie nicht in dieses Buch passen, beschränke ich mich darauf, den Nutzen der operativen Auffassung gegenüber der realistischen an einem Punkt zu verdeutlichen: der Analyse der semantischen Antinomien. Ich werde zunächst vier charakteristische Beispiele für solche Antinomien angeben und dann den Ausweg der realistischen Semantik skizzieren. Erst danach komme ich wieder auf die operative Konzeption zurück, um zu zeigen, daß sich von ihr her eine intuitiv bessere Lösung anbietet. Antinomien sind beweisbare Widersprüche. Semantische Antinomien ergeben sich bei einer Einführung von Namen für die Ausdrücke einer Sprache in diese selbst und einem semantischen Prädikat, das die Beziehung zwischen sprachlichen Ausdrücken und ihren Extensionen darstellt - es genügt auch, ein Prädikat für die Beziehung speziell zwischen Sätzen und ihren Wahrheitswerten anzugeben oder, äquivalent, ein Wahrheitsprädikat. Die Antinomien treten schon in extensionalen Sprachen auf, in denen den Wörtern und Sätzen nur Extensionen zugeordnet sind. Sprachen, in denen es möglich ist, über semantische Eigenschaften ihrer eigenen Ausdrücke zu reden, nennt man semantisch geschlossen. Deutsch z.B. ist eine semantisch geschlossene Sprache, denn man kann deutsch über die Bedeutungen deutscher Wörter und die 39
Vgl. z.B. N. Goodman (1978), und zur Kritik Kutschera (1989b).
138
3
Sprache
Wahrheit deutscher Sätze reden.40 Ebensowenig wie die mengentheoretischen Antinomien, von denen im nächsten Kapitel die Rede sein wird, sind die semantischen nur formale Spielereien. Sie sind vielmehr Herausforderungen, denen sich jede Theorie der Sprache stellen muß, und sie können Ausgangspunkt für ein tieferes Verständnis von Sprache sein - ähnlich wie die mengentheoretischen Antinomien zu einem besseren Verständnis von Mengen als Konstrukten menschlichen Denkens geführt haben. Bevor wir zu den semantischen Antinomien kommen, noch ein Hinweis: In der realistischen Semantik ist von sprachlichen Ausdrücken, von Namen, Prädikaten oder Sätzen als rein syntaktisch bestimmten, graphischen Objekten die Rede;41 sie sind unabhängig von ihrer evtl. Bedeutung wie ihrem evtl. Bezug bestimmt, und ihre Deutung besteht nach realistischer Auffassung im Herstellen konventioneller Zuordnungsrelationen zwischen Ausdrucksobjekten und Dingen bzw. Attributen oder Sachverhalten. Normalerweise reden wir von „Sätzen" hingegen so, daß nur bedeutungsvolle Ausdrücke Sätze sind und die Bedeutung zum Satz gehört; entsprechend für Namen und Prädikate. Im ersteren, rein syntaktischen Sinn reden wir im folgenden von Namen, Prädikaten und Sätzen im weiteren Sinn, im letzteren Sinn von Namen etc. im engeren Sinn. Um das Gemeinte zu verdeutlichen, bezeichnen wir Sätze i.w.S. auch als „Sätzew" und Sätze i.e.S. als „Sätzee", usf. Schreiben wir ,,W(x)" für „der Satz χ ist wahr", so lautet die Wahrheitskonvention von Tarski:42 T: Ist a ein Name für den Satz A, so gilt: W(a) genau dann, wenn A. Sie gilt nur für Sätzee, denn drückt der Satz A keinen Sachverhalt aus, so kann man ihn auch nicht als wahr oder falsch ansehen, so 40
41
42
Für das Verständnis des folgenden ist eine Vertrautheit mit den Unterscheidungen zwischen Verwendung und Erwähnung von Ausdrücken sowie von Anführung und Quasianführung nützlich, da wir ihnen hier der Kürze wegen nicht immer gerecht werden können. Vgl. dazu Quine (1951a), Kap. 1. Genauer gesagt ist ein N a m e wie „Max" kein konkretes, physisches Objekt, sondern ein Typ solcher Objekte. Vgl. dazu oben 2.1.
3.4
Semantische Antinomien
139
daß ein Satz der Form '... genau dann, wenn A' nach den üblichen logischen Regeln für „genau dann, wenn" keinen Wahrheitswert hat. Der Satz A ist deswegen zwar nicht sinnlos wie z.B. „Kwat korylliert", im Rahmen der extensionalen Logik ist er aber jedenfalls semantisch indeterminiert. In der klassischen Logik geht man vom Prinzip der Bivalenz aus: Jeder Satz ist wahr oder falsch. Das gilt ebenfalls nur für Sätzee, denn drückt A keinen Sachverhalt aus, hat also A keinen Wahrheitswert, so ist A zwar nicht wahr, aber das impliziert dann nicht, daß A falsch wäre. Beim Aufbau von Logiksprachen gibt man zuerst eine rein syntaktisch bestimmte Menge von Sätzen an, und sorgt dann dafür, daß all diesen Sätzenw durch die semantischen Regeln ein Wahrheitswert zugeordnet wird, daß alle Sätzew also auch Sätzee sind. Nun die vier Beispiele semantischer Antinomien:
1)
Der Lügner 43
Jemand sagt: „Dieser Satz ist falsch". Ist dieser Satz wahr, so trifft das zu, was er behauptet, er ist also falsch. Ist er aber falsch, so trifft das nicht zu, was er behauptet, er ist also wahr. Also ist er genau dann wahr, wenn er falsch ist. Daraus ergibt sich nach den Regeln der klassischen Logik: Der Satz ist zugleich wahr und falsch. Der naheliegende Einwand ist: Die Äußerung des Sprechers nennen wir ihn X - würde nur dann einen Sachverhalt ausdrücken, wenn X mit dem Kennzeichnungsausdruck „Dieser Satz" auf einen vorgegebenen Satz referieren würde, z.B. einen Satz, den ein anderer gerade ausgesprochen hat, oder den letzten Satz eines vorausgegangenen Berichtes. Dann ergibt sich aber kein Widerspruch. Dazu muß vielmehr der Ausdruck „Dieser Satz" in der Äußerung von X auf diese Äußerung selbst referieren. Zudem müßte, da das Wort „Satz" hier i.e.S. verstanden wird, auch ein 43
Der Lügner ist die älteste der semantischen Antinomien. Nach Dioge-
nes Laertius (De clarorum philosophorum vitis II, 108) geht er auf Eubulides zurück und findet sich bei Aristoteles in den
Widerlegungen.
Sophistischen
140
3
Sprache
Sinn der Äußerung von X schon gegeben sein, bevor sie vollendet ist. Der Sinn hängt aber wiederum davon ab, worauf sich der Ausdruck „Dieser Satz" bezieht. Die erste Reaktion des Hörers ist daher auch: „Welcher Satz?" Will sich X mit „Dieser Satz" auf seine Äußerung selbst beziehen, so mißlingt sein Referieren und das, was er äußert ist kein Satz e ; es ist insbesondere weder wahr noch falsch. Diesem Einwand, die Äußerung von X sei indeterminiert und kein Satz e , kann man jedoch begegnen, indem man von der Äußerung von X ausgeht: „Dieser Satz ist nicht wahr", wobei „Satz" im Sinn von Satz w zu verstehen ist und Sätze w ohne Wahrheitswert nicht wahr sind. Das Argument läuft dann so: Ist der Satz w , den X geäußert hat, wahr, so ist er eine sinnvolle Behauptung und es trifft das zu, was er behauptet, er ist also nicht wahr. Ist er hingegen nicht wahr, so trifft ja zu, was er beinhaltet, er ist also wahr. Daß der Ausdruck „Dieser Satz w " referiert, läßt sich wegen seiner Selbstbezüglichkeit anzweifeln. Nach dem Vorschlag von J. Lukasiewicz kann man sie aber vermeiden, indem man z.B. ein Satzpaar betrachtet: Im Hörsaal Zl stehe auf der Tafel nur der Satz „Der Satz auf der Tafel im Hörsaal Z2 ist nicht wahr", in Z2 stehe auf der Tafel nur der Satz „Der Satz auf der Tafel im Hörsaal Zl ist wahr". Dann wird man annehmen, daß die Ausdrücke „Der Satz auf der Tafel in Z2" und „Der Satz auf der Tafel in Z l " beide referieren, jedenfalls wenn das Wort „Satz" i.w.S. verstanden wird, und erhält den Widerspruch so: Ist der Satz in Zl wahr, so ist jener in Z2 nicht wahr, der Satz in Zl also nicht wahr; er ist also nicht wahr. Indeterminiert ist er nicht, denn er referiert auf den Satz w in Z2, und der ist entweder wahr oder nicht wahr. Wäre der Satz in Zl aber falsch, so wäre jener in Z2 wahr, der in Zl also wahr. Der Satz in Zl ist also sowohl wahr wie falsch. Rudolf Carnap erhält den Lügner einfach aus der Definition: :=
44
W".
4 4
Vgl. Carnap (1954), S. 2 1 4 f . Diese Formulierung findet sich schon bei O c k h a m in der Summa logicae III, cap. 38: „Significet A praecise hoc totum, A significat falsum'; tunc quaeritur, an A significat v e r u m sive falsum".
3.4
Semantische Antinomien
141
Ich verwende hier der Kürze wegen das logische Symbol -> für „nicht". ,,->W(a)" bedeutet also soviel wie „a ist nicht wahr". Das Zeichen „a " (d.h. der Buchstabe a) soll nach der Definition dasselbe bedeuten wie „„-iW(a)"", es ist also ein Name für den Satz ,,-(rer). Gilt aber dies, so, wieder nach Definition von r, ^^(rer), also rer. r enthält sich also selbst als Element genau dann, wenn es sich nicht selbst als Element enthält. Aus einem Satz A genau dann, wenn nicht-A' folgt in der klassischen Logik aber der Satz A und nicht-Aalso ein Widerspruch.
15
Der Brief datiert vom 22.6.1902. Vgl. Frege (1976), S. 212-215.
162
2)
4 Logik Die Antinomie von Shen Yuting nach
Montague
W.V. Quine hat in (1951a), S. 128ff. den Konstruktionsgedanken der Antinomie von Russell verallgemeinert und Shen Yuting hat in (1953) wiederum den Gedanken von Quine verallgemeinert. Richard Montague endlich hat die Konstruktion in (1955) eleganter formuliert: α) a ist eine gegründete Menge - symbolisch G(a) - genau dann, wenn es für alle Mengen x, deren Element a ist, ein Element y von χ gibt, das kein Element von χ enthält; der Durchschnitt xC\y von χ und y soll also leer sein. Danach gilt: β) a ist genau dann gegründet, wenn es keine Folge von (nicht notwendig voneinander verschieden) Klassen y¡,y2,··· gibt mit •••y»+iGyn und ... undy,ea. Setzt man nun c := fx: G(x)}-c ist also die Klasse aller gegründeten Klassen - , so erhält man wieder cec und nicht-(cec). Denn aus der Annahme cec folgt nach (α) wegen cefcj, daß es ein y gibt (nämlich c) mit y efcj und {cjf]y = 0; da aus ye{c) ] edoch y=c folgt, gilt damit ->(ceç). Daraus folgt aber andererseits mit (α), daß es ein b gibt mit ce£> und yΓ\bφ0 für alle y mit yeb (*), also cT\b=t&. Gilt nun aber dec und deb, so gilt nach (α): Für alle χ mit dex gibt es ein y mit yex und jf|x=0, also ein y mit yeb und yf)b-&, im Widerspruch zu ('"'). Das Gegründetsein von Mengen erweist sich von ihrer konzeptualistischen Auffassung her als eine grundlegende Eigenschaft. Oft spricht man statt dessen von der Fundiertheit von Mengen. Die wird so definiert: γ) Eine Klasse a ist fundiert genau dann, wenn jede nichtleere Teilmenge χ von a ein Element y enthält, dessen Durchschnitt mit χ leer. Sagt man ferner: δ) Eine Klasse a ist transitiv genau dann, wenn die Elemente der Elemente von a auch Elemente von a selbst sind, dann besteht folgender Zusammenhang: ε) Alle gegründeten Klassen sind fundiert und alle fundierten und transitiven Klassen sind gegründet.
4.2
3)
Die naive Mengenlehre und ihre Antinomien
Die Antinomie
von
163
Cantor
Eine Menge χ ist von kleinerer Mächtigkeit als eine Menge y, d.h. sie hat eine geringere Anzahl von Elementen - wir schreiben dafür x