Krzysztof Michalski: Die Flamme der Ewigkeit: Eine existentielle Interpretation Nietzsches 9783495825587, 9783495492383


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German Pages [289] Year 2022

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Table of contents :
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Vorwort
I Nihilismus
II Die Zeit fließt, das Kind spielt
III Gut und Böse, Freude und Schmerz
IV Vernunft, die schmerzt
V Die Zeit ist nahe
VI Der Tod Gottes
VII Die Flamme der Ewigkeit
VIII Ewige Liebe
IX Das unstillbare Verlangen nach den nächsten Augenblicken. Von der ewigen Wiederkunft des Gleichen
Nachbemerkung der Herausgeber
Anmerkungen
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Krzysztof Michalski: Die Flamme der Ewigkeit: Eine existentielle Interpretation Nietzsches
 9783495825587, 9783495492383

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Krzysztof Michalski

Die Flamme der Ewigkeit Eine existentielle Interpretation Nietzsches

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495825587

.

B

Krzysztof Michalski Die Flamme der Ewigkeit

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

© Adam Walanus https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

Krzysztof Michalski

Die Flamme der Ewigkeit Eine existentielle Interpretation Nietzsches Herausgegeben von Ludger Hagedorn, Piotr Kubasiak und Klaus Nellen Aus dem Polnischen von Thomas Weiler

Verlag Karl Alber Baden-Baden

https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

Krzysztof Michalski The Flame of Eternity An Existential Interpretation of Nietzsche’s Thought This book is an attempt to read Nietzsche anew with regard to the old question of the conditio humana. The reader will not find one answer, but many, and the paths to them often long and winding. The author takes as guiding clues key concepts and metaphors of Nietzsche’s thought that can be traced back to antiquity and still remain influential today. He places Nietzsche in dialogue with the multitude of voices that bear witness to the pursuit of the mystery of human existence – from Greek philosophy to the New Testament and the Church Fathers to classical thinkers and writers of the modern age. There are many books on Nietzsche. Some excel by their erudition and analytical incisiveness, others by their aesthetic quality. But rarely do we find one that combines both: learning and beauty. Michalski’s book has this merit. Leszek Kołakowski

The author: Krzysztof Michalski (1948–2013) was a Polish philosopher and public intellectual. He taught in Boston and Warsaw. In the 1990s his thinking, influenced by the phenomenological and hermeneutic tradition, led him to Nietzsche. Michalski was convinced that philosophy is inseparably connected to responsibility. His commitment arising from this conviction was to the idea of Europe as an indivisible cultural and spiritual space. In 1982, he founded the Institute for Human Sciences in Vienna, a place of intellectual exchange between East and West.

https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

Krzysztof Michalski Die Flamme der Ewigkeit Eine existentielle Interpretation Nietzsches Dieses Buch ist der Versuch, Nietzsche mit Blick auf die alte Frage nach der conditio humana neu zu lesen. Der Leser wird nicht die eine Antwort finden, sondern viele, und die Wege dorthin sind oft weit und verschlungen. Als Leitfäden dienen dem Autor Schlüsselbegriffe und -metaphern in Nietzsches Denken, die sich bis in die Antike zurückverfolgen lassen und bis in unsere Gegenwart wirken. Der Autor setzt Nietzsche in einen Dialog mit den vielstimmigen Zeugnissen der Suche nach dem Geheimnis der menschlichen Existenz – von der griechischen Philosophie über das Neue Testament und die Kirchenväter bis zu klassischen Denkern und Schriftstellern der Moderne. Es gibt viele Bücher über Nietzsche. Einige zeichnen sich durch ihre Erudition und analytische Schärfe aus, andere durch ihre ästhetische Qualität. Doch nur selten finden wir eines, das beides vereint: Gelehrsamkeit und Schönheit. Dieses Verdienst hat Michalskis Buch. Leszek Kołakowski

Der Autor: Krzysztof Michalski (1948–2013) war ein polnischer Philosoph und öffentlicher Intellektueller. Er lehrte in Boston und Warschau. Sein Denken, geprägt von der phänomenologischen und hermeneutischen Tradition, führte ihn in den 1990er Jahren zu Nietzsche. Michalski war davon überzeugt, dass Philosophie untrennbar mit Verantwortung verbunden ist. Sein daraus entspringendes Engagement galt der Idee Europas als eines unteilbaren geistigen Raums. 1982 gründete er in Wien das Institut für die Wissenschaften vom Menschen, eine Stätte des intellektuellen Austauschs zwischen Ost und West.

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Die polnische Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel Płomień wieczności. Eseje o myślach Fryderyka Nietzschego im Verlag Społeczny Instytut Wydawniczy Znak © Krzysztof Michalski 2007

This book has been published with the support of the ©POLAND Translation Program

Eine Publikation in Kooperation mit dem Institut für die Wissenschaften vom Menschen, Wien

Deutsche Erstausgabe © VERLAG KARL ALBER – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2022 Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Umschlagmotiv: Fra Angelico, Szenen aus dem Leben der Wüstenväter Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper

www.verlag-alber.de

ISBN 978-3-495-49238-3 (Print) ISBN 978-3-495-82558-7 (ePDF)

https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

Inhalt

Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

I Nihilismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16

II Die Zeit fließt, das Kind spielt . . . . . . . . . . . . . .

34

III Gut und Böse, Freude und Schmerz . . . . . . . . . . .

53

IV Vernunft, die schmerzt . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70

V Die Zeit ist nahe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

VI Der Tod Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 VII Die Flamme der Ewigkeit

. . . . . . . . . . . . . . . . 122

VIII Ewige Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 IX Das unstillbare Verlangen nach den nächsten Augenblicken. Von der ewigen Wiederkunft des Gleichen Nachbemerkung der Herausgeber

194

. . . . . . . . . . . . . . 267

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

7 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

Vorwort

Dem Andenken Józef Tischners gewidmet

Gegenstand dieses Buches ist die Ewigkeit, der Ewigkeitsbegriff. Ausgangspunkt ist Nietzsche. Nietzsches Denken fügt sich, wie ich meine, gerade durch den Ewigkeitsbegriff zu einem kohärenten Ganzen: Dieser originale und gleichzeitig fest in der Tradition verwurzelte Begriff Nietzsches gab seinen zeitgenössischen Lesern ebenso zu denken wie uns heute. In Nietzsches Büchern und Notizen tritt die Ewigkeit unter der Bezeichnung ewige Wiederkunft des Gleichen auf. Der Ewigkeitsbegriff ist aber nicht nur dort präsent, wo von der ewigen Wiederkunft die Rede ist; er findet sich in nahezu allen Texten, von den ersten Versuchen bis zu den letzten Seiten vor Ausbruch der Krankheit. Das intellektuelle Schaffen Nietzsches ist von Anfang bis Ende eine Reflexion über das menschliche Leben, wie es vergeht, wie es Neues hervorbringt; und damit über die Zeit. Denn die Zeit, so Nietzsche, ist ohne die Ewigkeit nicht zu fassen; ohne die Ewigkeit bliebe unverständlich, wie die Zeit fließt, was es bedeutet, dass sie zerstört, dass sie erschafft. Die Ewigkeit ist also, so verstehe ich Nietzsche, eine Dimension der Zeit, ihr Kern, ihr Wesen, ihr Antrieb. Und nicht ihre unendliche Dauer. Nicht ihr Gegenteil, nicht der Diamant oder der Fels, dem »die Zeit nichts anhaben« kann. Die Ewigkeit ist die Antwort auf die Frage, warum aus »heute« »gestern« wird. Sie tritt eben darin zutage, dass die Zeit fließt. Daher ist in der durch Nietzsche eröffneten Perspektive die Ewigkeit ein physiologischer Begriff, denn im Begriff des Leibes wird die Verankerung unseres Lebens in der Zeit zum Ausdruck gebracht. Wenn nun die Ewigkeit in der Zeit zutage treten soll, dann muss eben unser physisches Sein in der Zeit, unser »Leib«, ihr Ausdruck sein. Der Leib: die Haare fallen aus, die Muskeln erschlaffen, das Gedächtnis lässt nach. Doch das ist nicht alles. Der Begriff des Leibes, so Nietzsche, verweist auf etwas, das größer ist als dieses Ausfallen, Erschlaffen und Nachlassen. Auf etwas, das größer ist als der Zerfall. Davon zeugt die Konfrontation mit dem Tod, davon zeugt die Liebe. 9 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

Vorwort

Angesichts des Todes verlieren alle bislang bekannten Begriffe und alle Wörter ihren Sinn, sie passen nicht mehr. Was helfen einem da Begriffe wie »mehr« oder »weniger«, was ist da »zerbrochen«? Der Tod ist nicht ein weiterer Schritt des Lebens; wenn ich sterbe, bin ich nicht »kränker«. Der Tod ist der Schritt in den Abgrund, der radikale Bruch der Kontinuität. Der Tod übersteigt mein Wissen, die Konfrontation mit dem Tod stellt mich vor eine Wand des Nichtverstehens. Vor ein Geheimnis. Ist nicht die Liebe gerade dadurch »stark wie der Tod«, dass sie – wie der Tod – alles umwälzt, was wir glaubten verstanden zu haben, und so den Gang des bisherigen Lebens unterbricht? Der Leib: Unser physisches, zerbrechliches, zwangsläufig wechselhaftes, unaufhaltsam vergehendes Sein ist also auch ein Zeichen? Ein Symbol? Ein Handausstrecken nach dem Geheimnis? Einem Geheimnis, das sich Worten und Begriffen entzieht, das im Lächeln der geliebten Person liegt, in der von Entsetzen begleiteten Hoffnung angesichts des unausweichlich nahenden Endes all dessen, was ich sehe, fühle und denke. Der Tod und die Liebe offenbaren die grundsätzliche Diskontinuität unseres physischen Seins in der Welt, die Tatsache, dass in jedem Augenblick unseres Lebens jegliche Bedeutung ausgesetzt wird und, um mit Nietzsche zu sprechen, »die Uhr meines Lebens Athem [holte]« 1, die Uhr, die den Rhythmus der Ereignisse misst: gestern Seminar, heute Einkäufe, morgen Reise. In dieser Unterbrechung, die kürzer als jeder messbare Moment ist, in diesem Riss, diesem Spalt, diesem Sprung – in diesem Augenblick – ist alles, was bisher war, in Frage gestellt, und gleichzeitig eröffnet sich die Chance, ganz von vorn zu beginnen. Genau das ist die »Ewigkeit«. Ihr haben wir es zu verdanken, dass das scheinbar allumfassende Bedeutungsnetz – die Welt – »vergeht« und »wird«, aber nicht »ist«. »Ewigkeit« ist also ein Begriff, der unser Leben in seiner physischen, materiellen, körperlichen Realität charakterisiert, immer, nicht nur feiertags. Ein Begriff, der auf die Unmöglichkeit verweist, irgendeinen Moment unseres Lebens zu einem inhaltlichen Ganzen zu fügen, einem Ganzen beliebigen Inhalts. Ewigkeit ist die innere Differenziertheit unseres Lebens, der Unterschied zwischen dem, was bekannt ist, bekannt sein kann und dem »Mehr«, das sich aller Erkenntnis, allem Wissen entzieht. »Diess Leben – dein ewiges Leben!« 2, notiert Nietzsche. Vielleicht ist nur in einem solchen Leben, das sich nicht zu 10 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

Vorwort

einem Ganzen fügen lässt, einem gesprungenen, mit dem unausweichlichen Riss der Ewigkeit gezeichneten Leben Raum für Gott. Betrachtet man das Leben als Kette zusammenhängender Augenblicke zwischen Geburt und Tod, Frühstück und Abendessen, dann muss diese Unterbrechung, das Zerspringen, das kurze Atemholen natürlich eine Bedrohung, eine Krankheit, eine pathologische Erscheinung sein. Wir kranken an der Ewigkeit. Ihr chronischer Zustand ist die Zeit; Liebe und Tod sind die Krisis. Aber ist es andererseits nicht auch pathologisch, die Krankheit gerade in dem zu sehen, was unser Leben ausmacht, in unserer eigenen Vitalität? Ist es nicht auch pathologisch, dass wir die grundsätzliche Diskontinuität unseres Lebens, die Tatsache seines »Vergehens« und »Werdens«, seines »Fließens«, als Krankheit ansehen, die wir zu heilen versuchen? Dass wir diesen Spalt mit Begriffen ausfüllen und den Sprung jedes Augenblicks mit Erkenntnis stopfen wollen, dass wir die innere Differenziertheit mithilfe einer grundlegenden Wahrheit zu beseitigen suchen, um so unser ganzes Leben kohärent und verständlich zu machen? Eben diese Krankheit nennt Nietzsche Nihilismus. Er erkennt ihn in zahlreichen Erscheinungen der modernen Kultur, in der Geschichte als wissenschaftlicher Disziplin, in der Wissenschaft überhaupt. In der Moral, als dem Versuch, eine allumfassende Rechnung von Gut und Böse aufzumachen. In der Religion, besonders im Christentum, wenn »Gott« dort die »Wahrheit« ist, deren Kenntnis (und sei es erst zukünftig, erst »im Jenseits«) es ermöglicht, alle (zumindest die wichtigsten) Probleme zu lösen und absolute Sicherheit zu erlangen. Kann dieser Nihilismus überwunden werden? Nein, natürlich nicht. Nicht in dem Sinne, wie mein Organismus eine Grippe oder eine Lungenentzündung überwinden kann. Ist Leben nicht (notwendigerweise) das Bestreben, »heute« mit »gestern« und »morgen« zu verbinden, Kontinuität herzustellen, Unterschiede aufzuheben? Kann Leben also ohne das Werkzeug dieses Bestrebens auskommen, ohne diese Wahrheit mit ihrem Universalitätsanspruch? Der Nihilismus ist die Krankheit, ihr Symptom der Mensch, wie er ist, das menschliche Leben. Gleichzeitig gilt: Ja, der Nihilismus kann überwunden werden. Jeder Augenblick meines Lebens bietet eine neuerliche Chance, birgt er doch die Möglichkeit, aus der Kontinuität von »gestern« und »morgen« auszubrechen, die Möglichkeit der Befreiung, des Neu11 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

Vorwort

anfangs. Deutlich wird dies in der Konfrontation mit dem Tod, auch in der Liebe, der »ewigen Liebe«. Die Überwindung ist jedoch keine endgültige, nicht einmal eine momentane, kein: heute im Nihilismus, morgen nicht mehr. Leben ist ständige Überwindung des Nihilismus, eine nicht nachlassende Spannung zwischen dem Bestreben, Kontinuität herzustellen und aus ihr auszubrechen. Ein Begriff, den Nietzsche bei der Analyse dieser Spannung häufig verwendet, ist »Unschuld«. Unschuldig sein, heißt »jenseits von Gut und Böse« sein: wie Adam und Eva im Paradies, wie das Liebespaar, für das Außenwelt, künftige Pflichten und Schuldigkeiten, Zukunftspläne verschwinden. Wie ein Neugeborenes. Unschuld ist die Unterbrechung der Kontinuität aufeinander folgender Augenblicke. Die so verstandene Unschuld liegt also außerhalb meines Erinnerungsvermögens (das war nicht »gestern« oder »vorgestern«, ich finde sie nicht, wenn ich die Spur der aufeinander folgenden Augenblicke immer weiter zurückverfolge). Sie liegt auch außerhalb meines Willens (ich erlange sie weder »morgen« noch »übermorgen«, wenn ich in entgegengesetzter Richtung gehe). In diesem Sinne ist die Unschuld etwas Unmenschliches, Übermenschliches (Nietzsche gebraucht in diesem Zusammenhang auch den Terminus Übermensch), und doch ist sie die Möglichkeit, die im Alltag verborgen liegende Chance, sich von Regeln, Prinzipien, Ansichten, Anordnungen und Begriffen zu befreien, die Chance auf Wiedergeburt, die Überwindung seiner selbst, immer wieder neu: Sie ist das menschliche Leben. Der Befreiungsversuch, der Versuch, zur unerreichbaren Unschuld zurückzukehren, der Versuch des Neuanfangs ist, so schreibt Nietzsche mehrfach, eine Kunst. Kunst: nicht die Beschäftigung einiger weniger, sondern der untergründige Strom unseres Lebens, gegen den Nihilismus. Wenn das so ist, kann die Überwindung des Nihilismus kein Aktionsplan sein und »jenseits von Gut und Böse« kein Schlagwort, das anzeigt, wohin die Menschheit zu gehen hat. Nietzsche ruft nicht zu amoralischem Verhalten auf, er propagiert keinen Mustermenschen, führt uns keine ideale Gesellschaft vor Augen. Die Überwindung des Nihilismus ist unser Leben als grenzenloses (und in diesem Sinne alles Menschliche übersteigendes), unablässiges Streben nach einem Neuanfang. Streben nach der Rückkehr zur Unschuld, die nie ein realer Zustand unseres Lebens war. Streben nach einem Ausbrechen aus der Zeit. Streben nach der Umwandlung unseres Lebens in eine unbeschränkte Möglichkeit. 12 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

Vorwort

Der Nihilismus und seine Überwindung, die Kontinuität der aufeinander folgenden Augenblicke (und ihr unablässiges Zerspringen, der Neubeginn, die Ewigkeit, der Augenblick; das zu einem Lebenslauf, zur Geschichte, zu irgendeinem Sinn zusammengefügte Leben) und das ewigkeitskranke, zum Unbekannten, Geheimnisvollen hin offene Leben lassen sich also nur aufeinander bezogen begreifen. Aufeinander bezogen, nicht als begriffliche Einheit. Keine Logik, auch keine »dialektische«, vermag den einen Pol mit dem anderen zu verbinden. Die Spannung zwischen beiden ist nicht die Spannung der logischen Negation. Sie tritt nicht in Begriffen zutage. Oder besser: nicht nur in Begriffen. Der Nihilismus ist nicht zu begreifen, wenn er losgelöst vom Widerstand betrachtet wird, von der Wut auf die erdrückende Last der Begriffe, die Last des Seienden (ich bin doch immer ein Mehr); wenn seine Überwindung ohne den Schmerz betrachtet wird, den sie verursacht (schmerzt es etwa nicht, alles aufzugeben?) und ohne die Freude über die Befreiung. Diese Wut, dieser Schmerz und diese Freude sind aus Nietzsches Sicht Bedingungen für die Möglichkeit einer Reflexion über das Leben, über die conditio humana, über Zeit und Ewigkeit. Ohne sie sind das nur leere Begriffe. Nietzsches Reflexion über das menschliche Leben – über seine Zeit und damit auch über die Ewigkeit, die diese Zeit zum Zerspringen bringt und sie erst ermöglicht – ist also, wenn ich sie recht verstehe, vor allem eine Analyse von Begriffen, eine Analyse unseres Wissens. Sie ist der Versuch zu zeigen, dass Begriffe – unser Streben nach Wissen, nach der Fügung der Vielfalt unseres Lebens zu einer Einheit – dass unsere Begriffe notwendig, aber immer unzureichend sind, dass der Versuch, sie zu einer Einheit zu fügen, unausweichlich, aber vergebens ist. Dass Begriffe unumgänglich sind und sich nicht zu einem kohärenten Ganzen verbinden lassen. Was auch eine Chance ist, eine unendliche (da all unser mögliches Wissen über uns selbst übersteigende) Chance. Eine Chance auf Kreativität, ewige Liebe und Hoffnung im Tod. Auf Gott? Der Terminus »Leben« verweist, ähnlich übrigens wie die ihn nach Nietzsche erläuternden Termini Übermensch, Wille zur Macht oder ewige Wiederkunft des Gleichen, eben auf jene Unmöglichkeit der Ganzheitlichkeit, auf die Vergeblichkeit des unausweichlichen Strebens. Und auf jene Chance. Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, dass Nietzsche so häufig zu Metaphern greift. Dies entspringt nicht (nur) seinem Bedürfnis nach Illustration, sondern vor allem der Überzeu13 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

Vorwort

gung, dass ein seinem Wesen nach unvollständiges Wissen nicht ohne sie auskommt. Die zentrale Metapher ist in meinen Augen die des Feuers, die archaische Metapher des ewig lebendigen Feuers, die metaphorische Flamme der Ewigkeit. Für Nietzsche ist sie das Bild, in dem sich das Wissen mit dem Leben verbindet, die aufeinander folgenden Augenblicke mit dem Augenblick, der die Folge unterbricht; das Bild für die unauflösbare Spannung und das regellose Spiel, das bewirkt, dass unsere Begriffe schmerzen – brennen – und zerspringen, wenn sie uns ins Unbekannte befreien. In einer seiner frühesten, erst posthum veröffentlichten Arbeiten schreibt Nietzsche: »Ein Werden und Vergehen […] ohne jede moralische Zurechnung, in ewig gleicher Unschuld, hat […] allein das Spiel des Künstlers und des Kindes. Und so, wie das Kind und der Künstler spielen, spielt das ewig lebendige Feuer, baut auf und zerstört, in Unschuld – und dieses Spiel spielt der Aeon [die Ewigkeit, aber auch die Zeit – KM] mit sich.« 3 * Das vorliegende Buch setzt sich aus neun Essays zu unterschiedlichen Aspekten des Ewigkeitsbegriffs zusammen, der das Hauptthema des Buches darstellt. In den Texten wird der Versuch unternommen, die nach Ansicht des Autors für Nietzsche zentralen Begriffe zu interpretieren. Den Kulminationspunkt bildet die Diskussion des Begriffs der ewigen Wiederkunft des Gleichen, der seinerseits die anderen strukturiert. Die Nietzsche-Interpretation unternimmt den Versuch, ihn im Kontext seiner Zeit zu verorten. Dabei werden nicht nur tatsächliche historische Bezüge hergestellt, sondern auch intellektuelle Verwandtschaftsbeziehungen zu Philosophen, Dichtern und Autoren wie Hegel, Kafka, Kierkegaard, D. H. Lawrence, Marx, Rilke und auch Brzozowski schienen hier von besonderer Bedeutung. Zudem soll gezeigt werden, in welcher Tradition philosophischen und religiösen Denkens Nietzsche steht. Warum wurde der Kontext des religiösen Denkens hier für wesentlich befunden? Das Schaffen Nietzsches kann ja mit Recht als ein »Ringen mit Gott« bezeichnet werden. Das bei Nietzsche zweifelsfrei am häufigsten zitierte Buch ist die Bibel in der Luther-Übersetzung (wenngleich es sich in der Regel um versteckte Zitate handelt). Allgemein bekannt ist, dass Nietzsche ein erbitterter Kritiker des Christentums war. »Gott ist tot« ist vermutlich sein bekanntester Satz. 14 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

Vorwort

Doch möglicherweise, zumindest ist der Autor davon überzeugt, kann die radikale Kritik, der Nietzsche unsere Begriffe und unser Wissen unterzieht, den Weg zu einem Religionsverständnis bahnen, das auch einen Geist zu überzeugen vermag, der in der wissenschaftsgesättigten Moderne mit ihrer Vielfalt von Bedeutungen und Kulturen lebt. Bei der vorliegenden Nietzsche-Interpretation wurde natürlich häufig auch auf die Werke Dritter zurückgegriffen (wenngleich gewiss nur ein Bruchteil der Sekundärliteratur berücksichtigt werden konnte). In erster Linie sind hier wohl Martin Heidegger, HansGeorg Gadamer, Gilles Deleuze, Emmanuel Lévinas, Paul Ricœur und Emil Cioran zu nennen. Von Gadamer stammt die Einsicht, dass einen Denker verstehen heißt, anzunehmen, dass er Recht hat. Daher wurde versucht, in Nietzsches Begriffen und Metaphern überzeugende Argumente zu erkennen, ihre Kraft zu ergründen und sie für den Leser spürbar zu machen. Der größte intellektuelle Dank gebührt allerdings zwei polnischen Denkern: Leszek Kołakowski, von dem ich, seit ich als Student seine Vorlesungen zu Leibniz und Erasmus gehört und in einem (langen) Zug Religiöses Bewusstsein und kirchliche Bindung 4 gelesen habe, und von dem ich bis heute lesen und denken lerne; und Józef Tischner, der mich in den langen Jahren unserer Freundschaft gelehrt hat, Ideen wie auch Menschen zu verstehen. * Ältere Versionen und Auszüge mancher der in diesem Buch enthaltenen Essays sind auf Polnisch in Gazeta Wyborcza, Kwartalnik Filozoficzny, Rzeczpospolita, Res Publica, Tygodnik Powszechny, Zeszyty Literackie und Znak erschienen. Die Grundlage meiner Beschäftigung mit Nietzsche bildete die von Giorgio Colli, Mazzino Montinari, Wolfgang Müller-Lauter und Karl Pestalozzi herausgegebene Kritische Gesamtausgabe (Berlin, New York: Walter de Gruyter, 1967 ff.). Selbstverständlich habe ich auch den Arbeiten weiterer Herausgeber und Übersetzer von Werken Nietzsches und anderer Autoren viel zu verdanken, sie können hier nicht alle genannt werden.

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I Nihilismus 1 Neugierde auf die Welt kann bekanntermaßen den Weg zur Philosophie weisen. Dies geschieht, wenn sich die Neugierde weder mit Informationen zu diesem oder jenem Ereignis oder ihrem Zusammenhang befriedigen lässt, noch mit der Entdeckung der Ursachen bestimmter Phänomene. Kurz, wenn es darum geht, die Welt zu verstehen und nicht nur ein Fragment von ihr. Erst wenn wir verstehen, wie sie ist, erst wenn wir die universale und ewige Ordnung der Dinge entdecken, kann diese Art der Neugierde auf die Welt befriedigt werden. Philosophie, die aus dieser Neugierde erwächst und sie zu befriedigen sucht, ist der Versuch, unwandelbare und universale Strukturen zu finden, die ein Verstehen der Welt, wie sie ist, ermöglichen, sie ist der Versuch einer universalen Theorie. Neugierde ist selbstverständlich nicht das einzige Motiv für die Hinwendung zur Philosophie. Andere sind Zorn oder Schmerz, ein Uneinssein mit der Welt, wie sie ist. Die Welt, wie sie ist, schmerzt, drückt, erregt, nicht nur irgendein Teil dieser Welt, eine Situation oder Institution, eine Tatsache. Die Regulierung eines Teilbereichs der Realität – die Begradigung eines Flusses, der vorher immer wieder das Umland überschwemmt hat, die Befreiung von einem aggressiven politischen Regime oder die Entwicklung eines Medikaments für eine bislang unheilbare Krankheit – vermag diesen Schmerz nicht zu lindern. Erst eine neue, universale Ordnung wäre in der Lage, uns diesen Schmerz zu nehmen, den Zorn verrauchen zu lassen, uns mit der Welt zu versöhnen. Philosophie, der ein Uneinssein mit der umgebenden Welt zugrunde liegt, ist der Versuch, ein Heilmittel, eine Therapie, einen Ausweg aus der Krise zu finden, sie ist ein Befreiungsversuch. Sie will Neues schaffen – Wandel statt Beschreibung. Sie ist in erster Linie Aktionsprogramm, nicht Theorie. Wäre es nun nicht besser, zwei verschiedene Bezeichnungen für 16 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

I · Nihilismus

so unterschiedlich motivierte Vorgehensweisen zu verwenden, die Suche nach einer ewigen und universalen Ordnung einerseits und den Versuch, die schmerzende und Widerspruch hervorrufende Welt zu ändern andererseits? Ist es sinnvoll, sie beide »Philosophie« zu nennen? Ich denke schon. Ich sehe einen gewichtigen Grund, der dafür spricht. In beiden Fällen geht es nämlich, wie deutlich wurde, um »Ganzheit«, in beiden Fällen geht es um die »Welt« und nicht einen ihrer Teile. In der Philosophie als Theorie geht es darum, die »Welt« zu verstehen, in der Philosophie als Aktionsprogramm soll sie verändert werden. Dieser universalistische Ansatz rechtfertigt es in meinen Augen, beide Vorgehensweisen als »Philosophie« zu bezeichnen. Zumal sie sich nicht so stark voneinander unterscheiden wie das Schuster- vom Schneiderhandwerk. Hier unterscheiden sich nicht zwei Betätigungen voneinander, die sich auf unterschiedliche Objekte beziehen und sich damit, zumindest im Prinzip, gegeneinander abgrenzen lassen. Mit ihrem universalen Anspruch kennt die Philosophie in beiden Bedeutungen keine Grenzen, sie kann also nicht einfach den eigenen Acker bestellen, ohne beim Nachbarn vorbeizuschauen. Mit anderen Worten: die beiden Philosophiebegriffe ergänzen sich nicht, sie konkurrieren miteinander. Aus der Perspektive der Philosophie als Theorie erfordert eine »Veränderung der Welt«, so wünschenswert sie auch sein mag, zunächst ein Verstehen der Welt, während für die Philosophie, die dem Uneinssein entspringt, erst der Schmerz, den die »Welt« uns zufügt, bewirkt, dass wir von ihr wissen. Uneinssein mit der Welt und Verstehen der Welt sind also nicht zwei voneinander getrennte Akte, sondern ein und derselbe.

2 Nietzsche hat die Philosophie vor allem im letzteren Sinne verstanden. Für ihn ist der Mensch krank, genauso die Welt, in der er lebt, und die Aufgabe der Philosophie sei es, Mensch und Welt aus den Klauen dieser Krankheit zu befreien. Was ist nun Nietzsche zufolge mit der Welt, in der wir leben, nicht in Ordnung, welches Krankheitsbild hat er ausgemacht? Ist die Krankheit heilbar und wenn ja, wie muss die entsprechende Therapie (lies: Philosophie) aussehen? Zur Beantwortung beider Fragen ist die Auseinandersetzung mit dem Begriff des Nihilismus erforderlich. 17 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

I · Nihilismus

Nietzsche fragt: »[W]as bedeutet Nihilism? – daß die obersten Werthe sich entwerthen.« 1 Was ist ein Wert? Gehen wir von einer allgemeinen und formalen Definition aus: Werte sind Normen, Prinzipien, Regeln, die die Ordnung unseres Lebens in all seinen Bereichen bestimmen, die Ordnung der Erfahrung ebenso wie die materielle oder physische Ordnung, die Moral ebenso wie das Wetter. Die Ordnung der uns umgebenden Welt wird durch einen Kanon von Regeln bestimmt. Diese Regeln wollen wir mit Nietzsche Werte nennen, die Frage nach dem Warum soll an anderer Stelle beantwortet werden. Werte ordnen nicht nur, meint Nietzsche, sie unterliegen auch selbst einer Ordnung. Daher können wir auch von »höheren« und »niederen« (diesen höheren untergeordneten) Werten sprechen und nicht zuletzt von obersten Werten, also jenen, denen alle anderen untergeordnet sind. Was heißt es nun, dass die »Werthe sich entwerthen«? Dies geschieht, wenn sie ihre ordnende Funktion verlieren, wenn sie ihre zwingende Kraft verlieren, wenn die Realität sich ihnen entzieht, entgegenstellt und widersetzt. Nihilismus sei gegeben, so Nietzsche in dem oben angeführten Zitat, wenn dies den obersten Werten widerfahre, wenn also die unsere Realität organisierenden Grundprinzipien unser Leben nicht mehr strukturieren, es nicht mehr ordnen. Wenn das so ist, ist der Nihilismus, von dem Nietzsche spricht, keine Anschauung, zumindest nicht in erster Linie. Und er ist insbesondere nicht die Anschauung, nach der alles keinen Sinn hat, nach der all unser Tun bedeutungslos ist und das, was wir für »Alles« halten, in Wirklichkeit »Nichts« ist. Der Nihilismus, den Nietzsche meint, ist in erster Linie etwas Geschehendes und keine zutreffende oder unzutreffende Annahme über die Realität. Der Nihilismus ist also ein Ereignis oder eine Ereigniskette, ein historischer Prozess und, wenn überhaupt, erst danach eine Einstellung, eine Anschauung oder ein Standpunkt. Die Überwindung des Nihilismus kann folglich nicht darin bestehen, »nihilistische« Einstellungen oder Ansichten als verkehrt oder unmoralisch zu entlarven und ihre Anhänger von anderen, nicht nihilistischen zu überzeugen. Zur Überwindung des Nihilismus muss vor allem die Realität modifiziert werden, das Geschehende, nicht irgendwelche Anschauungen.

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I · Nihilismus

3 Warum sollten wir das, was um uns herum geschieht, Nihilismus nennen? Was ist geschehen, dass der historische Prozess, dass die Geschichte eben diese Bedeutung erhalten hat? Gott ist tot – das ist geschehen, sagt Nietzsche. Gottes Tod ist das wichtigste, ja, überhaupt das einzig wesentliche »Ereignis«, er verleiht allem anderen seine Bedeutung. Was bedeutet das? Was bedeutet es, dass Gott tot ist? Zuerst soll versucht werden zu klären, was das »Leben« Gottes bedeuten kann. Wann »lebt« Gott? Das ist gewiss der Fall, wenn der Glaube an Gott das Zusammenleben der Menschen organisiert und den Sinn ihres Handelns – und damit der Welt, auf die dieses Handeln bezogen ist – bestimmt. Aber nicht nur dann. Er lebt sogar noch, wenn das Christentum (Nietzsche geht es vor allem um den christlichen Gott) seinen Einfluss verliert, die Menschen aber weiterhin ihre Welt an einem letzten Ziel ausrichten (wenngleich dieses Ziel nicht mehr Gott heißt, sondern »Fortschritt«, »soziale Gerechtigkeit« oder anders) und darin die eine, allumfassende Ganzheit suchen. Selbst dann noch, meint Nietzsche, »lebt« Gott. Wenn Nietzsche also von »Leben« oder »Tod« Gottes spricht, meint er nicht die Existenz oder Nichtexistenz eines übernatürlichen oder überirdischen Wesens. Damit ist Gottes Tod nichts, was einem solchen Wesen widerfahren wäre, er ist in diesem Sinne kein »Ereignis«. Nietzsche meint vielmehr die Ordnung, in die wir (selbst wenn wir nicht mehr an die Existenz Gottes glauben und die Kirchen ihre gesellschaftliche Position eingebüßt haben) die uns umgebende Welt zu bringen bemüht sind. »Gott lebt«, wenn wir in der uns umgebenden Welt einen letzten Sinn oder eine allumfassende Ganzheit suchen, wenn diese Suche unsere Welt in eine zielgerichtete, ganzheitliche Ordnung bringt. Doch diese Suche ist vergebens. Die Welt, in der wir leben, lässt sich für Nietzsche nämlich nicht auf ein letztes Ziel hin ausrichten. Dinge, Personen, Ereignisse und Gedanken lassen sich nicht zu einer einzigen, allumfassenden Ganzheit fügen. Alle Versuche, alle Projekte, sich die Welt so untertan zu machen, das »Christentum« genauso wie der »Fortschrittsglaube« oder »Sozialismus«, sind von vornherein zum Scheitern verurteilt. In der uns umgebenden Welt gibt es keine endgültige Form. »Es wird nichts damit [mit dem Dasein – KM] erzielt und erreicht« 2, sagt Nietzsche, die Vielfalt der Formen 19 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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lässt sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Die uns umgebende Welt ist eine Welt des unablässigen Wandels und der irreduziblen Vielfalt – eine werdende Welt. Vielleicht ist aber die uns umgebende Welt nicht die wahre Welt, vielleicht ist sie nur eine Illusion? Vielleicht ist diese Welt des unablässigen Wandels, der irreduziblen Vielfalt, die werdende Welt nur eine Täuschung, hinter der die wahre Welt verborgen liegt? Vielleicht kann erst in dieser verborgenen, wahren Welt die Suche nach einem letzten Ziel und einer allumfassenden Einheit von Erfolg gekrönt sein? Vielleicht haben wir das letzte Ziel und das allumfassende Ganze nicht dort gesucht, wo es zu finden ist? Vielleicht lebt Gott, nur eben nicht hier, in dieser Scheinwelt des Wandels und der Unterschiede, sondern jenseits davon, in der Welt, wie sie wirklich ist? Es gibt aber jenseits der uns umgebenden werdenden Welt, in der wir leben, keine andere. Sie ist, meint Nietzsche, die einzige wahre Welt. Nach einer wahren Welt »hinter« der uns umgebenden Welt des Wandels zu suchen ist ebenso vergeblich, wie in ihr ein letztes Ziel oder ein sie restlos umfassendes Ganzes zu suchen. Früher oder später müssen wir notwendigerweise zu der Überzeugung kommen, dass die »ideale Welt« und die »Wahrheit an sich« der Philosophie, Religion oder Wissenschaft genauso ein Menschheitstraum sind wie das »letzte Ziel« oder das »allumfassende Ganze«. Die werdende Welt ist die einzig reale. Gott ist tot. Und deshalb, so argumentiert Nietzsche, können wir uns der Realität der uns bekannten Welt, der Welt des unablässigen Wandels nicht erfolgreich widersetzen (da sich »hinter« ihr nichts verbirgt, keine »wahre Welt«), gleichzeitig sind alle Versuche, die Welt nach den Kategorien »Zweck« oder »Einheit« zu ordnen, zum Scheitern verurteilt. »Gottes Tod« bringt uns in eine unmögliche Situation: Er konfrontiert uns mit der unwiderlegbaren Realität einer Welt des unablässigen Wandels und der irreduziblen Unterschiede und beraubt uns gleichzeitig der bislang gebräuchlichen Mittel, sie zu ordnen und ihr somit einen Sinn und einen Wert zu verleihen. Die Situation ist unmöglich, unerträglich, krisenhaft – eine Krankheit im Endstadium. Und gleichzeitig die Möglichkeit ihrer Überwindung. Die Unmöglichkeit, den Status quo zu akzeptieren, zwingt zur Suche nach einem Heilmittel, nach neuen Instrumenten zur Ordnung unserer Lebenswelt, nach neuen Werten. Nietzsche schreibt: 20 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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»Auf diesem Standpunkt giebt man die Realität des Werdens als einzige Realität zu, verbietet sich jede Art Schleichwege zu Hinterwelten und falschen Göttlichkeiten – aber erträgt diese Welt nicht, die man schon nicht leugnen will … – Was ist im Grunde geschehen? Das Gefühl der Werthlosigkeit wurde erzielt, als man begriff, daß weder mit dem Begriff ›Zweck‹ [Ziel – KM], noch mit dem Begriff ›Einheit‹ [Ganzes – KM], noch mit dem Begriff ›Wahrheit‹ [Sein – KM] der Gesammtcharakter des Daseins interpretirt werden darf. Es wird nichts damit erzielt und erreicht; es fehlt die übergreifende Einheit in der Vielheit des Geschehens […] man hat schlechterdings keinen Grund mehr, eine wahre Welt sich einzureden … Kurz: die Kategorien ›Zweck‹, ›Einheit‹, ›Sein‹, mit denen wir der Welt einen Werth eingelegt haben, werden wieder von uns herausgezogen – und nun sieht die Welt werthlos aus …« 3

Es sei denn, wir können uns von der Krisensituation, in der wir uns befinden, abwenden und all das vergessen. Noch einmal Nietzsche, der die Arten der Selbstbetäubung aufzählt: »Im Innersten: nicht wissen, wohinaus? Leere. Versuch, mit Rausch darüber hinwegzukommen. Rausch als Musik […]. Rausch als blinde Schwärmerei für einzelne Menschen (oder Zeiten) […] Versuch, besinnungslos zu arbeiten, als Werkzeug der Wissenschaft: das Auge offen machen für die vielen kleinen Genüsse z. B. auch als Erkennender. […] die Kunst um ihrer selber willen ›le fait‹, das ›reine Erkennen‹ als Narcosen des Ekels an sich selber. Irgendwelche beständige Arbeit, irgend ein kleiner dummer Fanatismus«. 4

Kunst, Wissenschaft, Ideologien und Zeitvertreib sind nach Nietzsche Betäubungsmittel, Versuche der Konfrontation mit »Gottes Tod« und der Notwendigkeit zur Neuordnung unserer Welt zu entfliehen. Gott ist tot, die bisherigen Werte ordnen unsere Lebenswelt nicht mehr. Wir können sie nicht ertragen, sie aber auch nicht negieren. Was also tun? Schlafen, um nichts zu sehen, zu hören und zu verstehen (die zeitgenössische europäische Kultur stellt uns, so Nietzsches Überzeugung, ein unerschöpfliches Arsenal von Schlafmitteln zur Verfügung), oder neue Werte schaffen, eine neue Weltordnung, die Werte umwerten. Was ist nun der Nihilismus? Der Nihilismus ist in Nietzsches Sprachgebrauch vor allem eine Situation, in der die Welt ohne Werte erscheint, eine Welt nach »Gottes Tod«. Der Realität der Welt kann man nicht entfliehen, man kann sie aber auch nicht bemeistern, alle bisherigen Verfahren sind gran21 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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dios gescheitert. Eine unerträgliche Situation der Zerrissenheit, eine Situation der Ohnmacht, die keinen Ausgleich erlaubt. Eben diese Situation, der Nihilismus, ist der Ursprung der Philosophie, wie Nietzsche sie versteht, der Philosophie, die als Reaktion auf den Schmerz, den die Welt bereitet, versucht, sie zu ändern. Auch den Prozess, der zu dieser Situation geführt hat, können wir, wie Nietzsche nachweist, genauso wohl begründet Nihilismus nennen. Denn eben weil die Werte, die wir der Welt eingelegt haben, versagen und ihre ordnende, organisierende Funktion nicht erfüllen, sieht die Welt wertlos aus. Das Projekt (das Einlegen) jener Werte – des letzten Ziels, des allumfassenden Ganzen, der Wahrheit an sich – ist also der Anfang des Nihilismus. Die in der kritischen Situation, in der wir uns heute befinden, kulminierende Krankheit beginnt mit dem Versuch, unsere Lebenswelt nach diesen Werten zu ordnen. Wir werden uns also nicht vom Nihilismus befreien können, wenn wir wieder nach diesen Werten leben und die Welt durch ihre Brille betrachten. Im Gegenteil, so schlagen wir zwangsläufig den Weg zum Nihilismus im Sinne der oben beschriebenen Krisensituation ein. Der Nihilismus ist keine Krankheit der Anschauungen oder Haltungen, sondern ihrer historischen Motivation, eine Krankheit des gesamten Lebens; allerdings wird der Versuch einer neuerlichen Organisation des Lebens nach Mustern, von denen wir uns beim Eintritt in die Krise des Nihilismus entfernt haben, uns nicht von ihm befreien. Im Gegenteil. Die Werte, deren Ablehnung den Nihilismus ausmacht, können uns nicht vor ihm retten, sie liegen ihm ja eigentlich zugrunde. Nihilismus ist eine kritische, unerträgliche Situation, in der unsere Welt wertlos erscheint, eine Krankheit, die dazugehörige Krankengeschichte, schließlich die Infektion, mit der alles anfing: der Versuch, das Leben so zu ordnen, wie es sich nicht ordnen lässt. Der Versuch, das Leben nach Werten zu ordnen, die ihm widersprechen.

4 In welchem Sinne können wir hier davon sprechen, dass das Projekt eines Wertesystems »notwendigerweise« zu der nihilistischen Krise führt, die uns Nietzsche zufolge heute plagt? Auf welcher Grundlage kann ich behaupten, diese Krise sei eine unerträgliche Situation und 22 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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sie führe zu dem Projekt neuer Werte, zu einer Umwertung aller Werte? Worin liegt die »Logik«, die die verschiedenen Elemente der oben ausgeführten Sequenz miteinander verbindet: Suche nach dem letzten Ziel und dem allumfassenden Ganzen – Scheitern – Versuch der Welt des unablässigen Wandels zu entfliehen: Projekt der »wahren Welt«, die sich hinter der Illusion einer sich wandelnden Realität verbirgt – erneutes Scheitern – Krise, die uns mit der Notwendigkeit einer Umwertung aller Werte konfrontiert? Die Frage soll noch konkreter gefasst werden. Sie zielt nicht einfach auf die Konstruktion einer Reihe historischer Ereignisse. Die obige Analyse ist nicht einfach eine Kritik der modernen europäischen Kultur, in der Nietzsche lebte. Sie ist mehr als das. Im Nihilismus der historischen Situation, in der Nietzsche sich befindet, will er den Nihilismus der conditio humana ausfindig machen, die notwendige Verbindung zwischen Nihilismus und seiner Überwindung. Damit ist die Frage nach der »Notwendigkeit« dieser Verbindung die Frage nach der Logik des Geschehens selbst, sie ist völlig verschieden von der Frage etwa nach den Ursachen des Zweiten Weltkriegs. Sie sucht zu ergründen, warum auf ein Stadium menschlichen Lebens überhaupt ein anderes, warum auf ein Faktum ein nächstes folgt. Sie fragt nicht danach, warum auf den Feudalismus der Kapitalismus folgte oder auf den Totalitarismus die Demokratie, sondern warum überhaupt etwas folgt. Was ist der Motor des historischen Wandels, dieses Wandels, den wir Zeit nennen? Was bewirkt, dass er sich überhaupt vollzieht? Oder noch einmal anders formuliert: die »historische Notwendigkeit« im oben dargelegten Sinne werden wir dann verstehen, wenn es uns gelingt, das Jetzt, den Moment, in dem wir uns gerade befinden, als im Wortsinne zukunftsträchtig zu begreifen; wenn es uns gelingt, die Zukunft als elementaren Bestandteil dieses Moments zu begreifen. Eine so verstandene »Logik der Geschichte« werden wir gewiss nicht erkennen (dieses Argument ist einem Essay Leszek Kołakowskis über die Verständlichkeit des historischen Ereignisses entlehnt), wenn wir uns auf eine Logik stützen, die wir anderwärtig kennen und die losgelöst ist von der historischen Erfahrung. Das Erkennen einer »Logik innerhalb der Geschichte« und die Anwendung anderwärtig bekannter Rationalitäts- und Verstehenskriterien auf den historischen Prozess können keine Antwort auf die Frage sein, die uns hier beschäftigt. Denn so würden wir die Geschichte auf Logik reduzieren 23 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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und den eigentlichen Gegenstand der Frage, die »Historizität« des historischen Prozesses ausklammern, diese einfache und doch so schwer verständliche Tatsache, dass die Geschichte »im Gange« ist, dass sich überhaupt etwas ändert. Wenn wir den Übergang von einer historischen Situation zur nächsten in demselben Sinne »verstehen« wie den Übergang zwischen zwei Gliedern eines Syllogismus (oder einer anderen logischen Regel), verliert die Geschichte für uns (das Subjekt des »Verstehens«) ihren spezifischen Charakter, sie wird zu einer Sequenz von Argumenten statt von aufeinander folgenden Ereignissen. Eine Logik, die sich losgelöst von der historischen Erfahrung verstehen ließe, hält Nietzsche für reine Fiktion. Wir können die Geschichte und ihre Logik, die Historizität der Geschichte, also nur verstehen, wenn wir uns direkt auf sie beziehen. Eine »ahistorische« Perspektive, ein Standpunkt »jenseits« der Geschichte, der uns helfen würde, sie zu verstehen, ist Unsinn, so etwas gibt es nicht. »Geschichte« ist in diesem Zusammenhang eine weitere Bezeichnung für die Welt, in der wir leben, die werdende Welt, die Welt des unablässigen Wandels und der irreduziblen Vielfalt. Die Versuche, ein Ziel, ein Ganzes, eine Wahrheit »dahinter«, den »transzendenten Sinn« der Welt, in der wir leben, zu finden bzw. die Versuche, diese Welt zu verstehen, indem wir sie auf ein »externes« Bezugssystem abbilden, sind, wie oben dargestellt, grandios gescheitert. All unser Wissen ist nur im Kontext unseres irreduzibel vielfältigen, unablässig sich wandelnden Lebens verständlich, daher ist eine »anderwärtig« bekannte Logik ausgeschlossen. Ein Verständnis von Geschichte, ihrer »Logik«, nicht nur einer bestimmten Ereigniskette oder eines einzelnen historischen Prozesses, sondern der Geschichte insgesamt, der Geschichte in ihrer Historizität, ist für Nietzsche nur »von innen« möglich, also nur aus der Perspektive des Beteiligten. Wir sind es, die durch unser Tun, durch die Handlungen, die unser Leben ausmachen, der Geschichte ihren Sinn verleihen, sie als Geschichte verständlich machen, sie zu einer Ereigniskette formen, »ihr einen Wert einlegen«. Noch einmal sei an das oben angeführte Nietzsche-Wort erinnert: »Was ist im Grunde geschehen? […] [D]ie Kategorien ›Zweck‹, ›Einheit‹, ›Sein‹, mit denen WIR [Hervorhebung KM] der Welt einen Werth eingelegt haben, werden wieder VON UNS [Hervorhebung KM] herausgezogen – und nun sieht die Welt werthlos aus …« Also kann nur für uns, nur aus der Perspektive des aktiven Sub24 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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jekts (das der Welt Werte einlegt und sie wieder herauszieht) verständlich werden, weshalb die von uns eingelegten Kategorien zurückgezogen werden, weshalb die wertlos erscheinende Welt unmöglich (unerträglich) ist und uns damit zu einer Umwertung aller Werte zwingt, kurz, weshalb Geschichte verläuft. Die »Notwendigkeit« des Übergangs von einem Stadium zum nächsten ist nicht die Notwendigkeit der logischen Deduktion, sie ist nur aus der Perspektive des die Geschichte formenden Subjekts verständlich, sie ist die Notwendigkeit unseres Lebens. Die zukunftsträchtige Gegenwart, der notwendig zum folgenden hinführende gegenwärtige Moment, setzt ein aktives Subjekt voraus. Ohne dieses Subjekt müsste die Historizität der Geschichte – also die Tatsache, dass auf die Gegenwart die Zukunft folgt – unverständlich bleiben. Oder anders ausgedrückt: Geschichte ist nur als unsere Geschichte real, für das an ihr teilnehmende Subjekt, nicht aber für den distanzierten Beobachter. Geschichte ist kein von uns unabhängig ablaufender Prozess, ist nicht wie ein Regenschauer, vor dem man sich unter ein Dach flüchten kann. Geschichte verläuft nur insofern, als sie uns betrifft.

5 Die Geschichte, die wir kennen, ist Nihilismus, eine Krankheit, die zur aktuellen Krisis führt, die uns wiederum mit der Notwendigkeit der Umwertung aller Werte und der damit einhergehenden Überwindung des Nihilismus konfrontiert. Wir wollen nun versuchen zu ergründen, wie diese Überwindung des Nihilismus, die Umwertung aller Werte aussehen könnte. Zuallererst sollen dabei die Werte genauer betrachtet werden, die zum Nihilismus führen. Weshalb sind die Versuche, die Welt mit ihrer Hilfe zu ordnen, unweigerlich zum Scheitern verurteilt? Um diese Frage beantworten zu können, muss zuerst eine noch grundsätzlichere geklärt werden: Wie lassen sich Werte überhaupt begründen? Man kann versuchen, sich dafür auf die »Wahrheit an sich«, die »Welt der Ideen« oder auf »Gott« zu berufen, also auf eine Realität jenseits der unablässig sich wandelnden Welt unseres Lebens. Aus dieser Perspektive ist etwas richtig oder falsch, gut oder böse unabhängig davon, was wir tun oder wollen, was wir sagen oder was 25 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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mit uns geschieht (ganz gleich, ob das so ist, weil Gott es so will oder weil diese Fragen letztlich von idealen, also überzeitlichen Gesetzen geregelt sind). Der Sinn so verstandener Werte konstituiert sich mit anderen Worten auch aus ihrer Losgelöstheit von unserem Leben. Das scheint auch der gesunde Menschenverstand nahe zu legen: Die Naturgesetze gelten schließlich unabhängig davon, was in unserem Leben geschieht, und die Logik regelt die Korrektheit unserer Gedanken ebenfalls ohne Rücksicht darauf, wie unser Leben verläuft. Aber was tun mit der Tatsache, dass für Nietzsche, wie oben dargestellt, die Begriffe »Wahrheit an sich«, »Welt der Ideen« und »Gott« losgelöst von der unablässig sich wandelnden und irreduzibel vielfältigen Welt unseres Lebens keinen Sinn ergeben? Wenn das so ist, muss die Überzeugung, dass die Werte von ihr unabhängig sind, absurd sein. Wo sollten sie denn herkommen, wenn nicht aus der Welt, in der wir leben? In dieser Situation lautet die Frage nach der Begründung von Werten: Wie bringt unser Leben die Werte hervor, die es organisieren? Die einzige Möglichkeit zur Begründung von Werten ist nach Nietzsche also die Bezugnahme auf das Leben, aus dem sie sich ableiten. Die Frage nach der Begründung von etwas – der konsequente Versuch, etwas zu verstehen – führt also notwendigerweise zur Genese der jeweiligen Erscheinung. Um das Wertesystem, das unser Leben (wenn auch vielleicht mit Einschränkungen und fatalen Folgen) organisiert, verstehen und begründen zu können, müssen wir seine Genese ergründen und die Frage beantworten, auf welche Weise das Leben dieses System hervorgebracht hat. Ein Philosoph, der die Werte verstehen und ihre Begründung erkennen will, muss »Historiker«, »Genealoge« und »Archäologe« sein. Ein ähnliches Argument findet sich bei Marx oder später bei Husserl. Nach Marx erfordert das Verständnis der modernen Wissenschaft die Bezugnahme auf ihre (gesellschaftliche) Genese, nach Husserl erfordert das Verständnis der Geometrie ein Aufdecken der Geschichte menschlichen Handelns, dem die Geometrie entsprungen ist. Das oben vorgetragene Argument lässt sich auch anders formulieren: Der Versuch, die Werte unabhängig vom Leben zu begründen (aufzudecken), ist, so könnte man sagen, der Versuch, die Welt als Ganzes zu bewerten, den Wert der Welt an sich aufzudecken. Das ist nur möglich, wenn wir ein Bezugssystem zugrunde legen, für das die Welt an sich wertvoll erscheinen kann oder eben nicht. Erst die Bezugnahme auf ein solches System, auf eine andere, »wahre« Welt, 26 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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ließe eine Entwertung oder Bestätigung unserer Lebenswelt zu, eine negative oder positive Bewertung des Lebens insgesamt. Doch es ist sinnlos, so Nietzsche, von einer »wahren« Welt zu sprechen, von einer »anderen«, als der wandelbaren und vielfältigen, in der wir leben. Das Werden hat nämlich »gar keinen Werth, denn es fehlt etwas, woran es zu messen wäre, und in Bezug worauf das Wort ›Werth‹ Sinn häthtei.« 5 Die Welt, das Leben ist der einzig mögliche Wertmaßstab. Das Leben schafft die Ordnung, die seine vielfältigen, veränderlichen Formen organisiert, es kann aber selbst nicht bewertet werden, sein Wert bleibt sich in jedem einzelnen Augenblick gleich, die Summe der durch das Leben geschaffenen Werte bleibt sich gleich. Dies ist eben der Kern des Nihilismus, die Antwort auf die Frage, was nicht in Ordnung ist mit den Werten, die den Nihilismus hervorbringen – ihr Anspruch, die Welt an sich bewerten zu wollen, das Leben an sich. Die Umwertung aller Werte beruht also nicht auf der Affirmation des Lebens, wie es ist, im Unterschied zum Projekt von Werten, die diesem Leben entgegenstehen. Das Leben findet keine Werte vor, keine von ihm losgelöste Ordnung, der es entsprechen könnte oder auch nicht. Das Leben selbst bringt die Werte hervor, denen es entspricht. Das heißt natürlich nicht, dass jeder nach Belieben die Regeln für sein Verhalten bestimmt, oder mehr noch, Regeln, an die sich alle anderen halten müssten, ja, alle Dinge. Gemeint ist vielmehr, dass nach Auffassung Nietzsches diese Regeln nicht fertig sind, bevor wir anfangen etwas zu tun, vor diesem (in welchem Sinne auch immer) unserem Leben. Die Affirmation des Lebens ist damit kein zusätzlicher, reflexiver Bewertungsakt, sondern das Leben selbst. Wir sollen nicht eine Werteordnung, ein Regelwerk (das das Leben negiert, also nihilistisch ist) durch ein anderes (lebensbejahendes) ersetzen. Wir sollen nicht nach »Gottes Tod« etwas anderes an seinen Platz stellen, »den Menschen« beispielsweise, »die Natur« oder »das Leben«. Die Umwertung der Werte, die Nietzsche meint, ist der Versuch, Werte anders zu begründen. Werte (die Weltordnung) sollen in dieser anderen Perspektive (der Umwertung) aus einem von nihilistischen Fiktionen (letztes Ziel, allumfassendes Ganzes, Wahrheit an sich) befreiten Leben fließen. Die Umwertung aller Werte tritt ein, wenn die unser Leben organisierenden Regeln (die Werte) als Erzeugnisse eines ausschließlich sich selbst überlassenen Lebens behandelt werden und nicht als »von außen« diktiert. Wenn das Leben ein gänzlich ungezwungenes Schaf27 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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fen wird und nicht die Reaktion auf eine »von außen« gestellte Aufgabe ist. Die Umwertung der Werte soll das Leben befreien, anstatt es (vergeblich) kontrollieren zu wollen. Das bedeutet, dass es für eine radikale Umwertung der grundlegenden Werte nicht ausreicht, diese anders zu fassen. Eine Umwertung aller Werte ist möglich, da sie eine Möglichkeit meines oder deines Lebens ist. Hier geht es nicht um eine intellektuelle Operation. Philosophie kann nach Nietzsches Auffassung nur dann zum Heilmittel für die Krankheit der Welt werden, wenn in der Fügung »Lebensphilosophie« das »Leben« nicht nur Objekt ist, sondern auch Subjekt, wenn die »Lebensphilosophie« das Leben selbst ist, nicht nur seine Theorie. Der Akt des Verstehens und der Akt der Umsetzung sind hier nicht voneinander zu trennen. Eingangs habe ich Werte als Regeln einer Ordnung definiert. Nun ist, wie ich denke, deutlich geworden, was Nietzsche dazu bewegt hat, die Ordnungsregeln Werte zu nennen. Wir wissen bereits, dass keine Weltordnung »von außen« auferlegt sein kann (denn es gibt kein »Außen«). Wir wissen weiterhin, dass folglich jede Ordnung von unserem Leben hervorgebracht wird, durch unser Handeln, unser Tun und Lassen. Die Ordnung, an der sich unser Leben orientiert, entsteht mit ihm, im Laufe dieses Lebens. In diesem Sinne können seine Regeln als Werte bezeichnet werden, sie schätzen ein, wie und wie viel etwas für das Leben wert ist, in dem sie entstehen. Für genau dieses Leben eröffnen sie genau diese Möglichkeiten. Nietzsche nennt in diesem Zusammenhang die Werte auch Lebensbedingungen – Bedingungen, die bewirken, dass sich das Leben im gegebenen Fall genau so und nicht anders entwickelt.

6 Ist »Wahrheit« auch nur ein Wert, nur eine Lebensbedingung? Gewiss, sagt Nietzsche, Wissen erhält erst in Verbindung mit einem bestimmten Leben einen Sinn, erst mit der Wichtigkeit, die das Wissen für dieses Leben hat, wird es bedeutungsvoll. Wissen und Erkenntnis sind von der Selbstaffirmation des Lebens nicht zu trennen. Das bedeutet (berücksichtigt man, dass die Affirmation des Lebens wie oben ausgeführt kein sekundärer Akt der Akzeptanz einer bereits bestehenden Sache ist, sondern der Akt des Lebens selbst): Wissen und Handeln sind nicht zu trennen. Wenn uns unsere Erkenntnis etwas 28 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Wesentliches über die Welt mitteilt, so geschieht das nur, weil wir genau so und nicht anders leben. Ein aus seinem Element, dem Leben, gerissenes Wissen, ein sich selbst überlassenes Bewusstsein oder Denken wäre dumm, orientierungslos und blind. Das Leben eröffnet uns die Welt, das Leben schenkt uns Wissen. Die Krankheit des Lebens ist zugleich eine Krankheit des Wissens, eine Erscheinungsform der Dummheit. Nietzsche meint: »Wir können nur eine Welt begreifen, die wir selber gemacht haben«. 6 Die Überzeugung, dass jedes Wissen abhängig ist von der Situation, in der es entsteht (eine Überzeugung, die Nietzsche mit Husserl und Heidegger teilt), ist keineswegs relativistisch. Relativistisch wäre die Behauptung, verschiedene Situationen definierten verschiedene Wahrheiten und daher könne es nicht eine gemeinsame Wahrheit geben. Eine solche Behauptung ginge von einer Außenperspektive aus, aus der Situationen als verschieden und gleichwertig (die eine nicht besser als die andere) definiert werden können. Und genau diese Annahme zieht Nietzsche in Zweifel. Eine Außenperspektive auf jede Lebenssituation ist Unsinn, ein anderes Leben als meines, ein anderer Wahrheitsanspruch wird immer aus meiner Perspektive wahrgenommen, ist also immer besser oder schlechter (nie gleichwertig) und nur in diesem Sinne verschieden. Im Grunde ist Wahrheit immer meine Wahrheit, sie ist nur im Kontext des Lebens sinnvoll, das ich als meines bezeichnen kann. Es ist vergebliche Müh, dieses Leben von außen darstellen zu wollen wie eine Schmetterlingsart im Museumsschaukasten. Nietzsche definiert seinen Standpunkt bisweilen als Perspektivismus: »die Welt [in der wir leben – KM], hat keinen Sinn hinter sich, sondern unzählige Sinne«. 7 Wir sehen die Welt immer aus der Perspektive der Situation, in der wir uns gerade befinden. Doch Nietzsches Perspektivismus steht nicht in Opposition zum Absolutismus, der Auffassung, Wissen sei unabhängig von der Situation möglich, in der das wissende Subjekt sich befindet. Nietzsche versucht vielmehr, Bedingungen für die Sinnhaftigkeit jedweder Ansicht zu formulieren. Der »Absolutismus« erfüllt diese Bedingungen nicht (ebenso wenig der Relativismus), er ist unsinnig. Sich selbst überlassene Begriffe sind also dumm, Bewusstsein, Begriffswissen ist sekundär. Es reicht nur soweit, wie das Leben trägt, dem es entstammt. Die Welt tritt nur in der Interpretation durch unser Handeln zutage, nur in dieser Perspektive, nur als Katalog von 29 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Werten, die im Laufe des Lebens entstehen, nur für den Beteiligten sichtbar, nicht für den Betrachter. Jeder Versuch, die Welt an sich zu begreifen (als unabhängig vom konkreten Leben eines Subjekts) und ihr Wesen in Begriffe zu fassen, bringt eine Fiktion hervor, die zudem das Leben verstümmelt, dem sie entstammt. Das ist Nihilismus und, damit einhergehend, dumm. Wenn Nietzsche voraussetzt, dass unsere Lebenswirklichkeit eine Welt des fortwährenden Wechsels und der irreduziblen Vielfalt, eine Welt des Werdens, ist und dass sie demzufolge weder ein universelles Ganzes ist, noch irgendeinem Ziel entgegenstrebt, dann setzt er nicht einfach einer (wahren) These über die Welt eine andere (falsche) entgegen. Es geht ihm um mehr. Er versucht unsere Sensibilität zu verändern und das Potenzial zu realisieren, das, wie Nietzsche meint, im Leben jedes Einzelnen steckt. Er versucht, den Nihilismus zu überwinden, alle Werte umzuwerten.

7 Die Umwertung aller Werte ist, wie bereits erwähnt, eine Notwendigkeit, mit der uns, wie Nietzsche meint, die Krise konfrontiert, in der wir leben. Entstanden ist die Krise letztlich aus der Negation des Lebens, die im auf die Krise zusteuernden Projekt der Werte angelegt ist. Die Negation – und schließlich auch unsere daraus sich ergebende nihilistische Geschichte und unsere aktuelle nihilistische Krise, der Nihilismus insgesamt – hat also, wenn man so will, auch eine positive, eine schöpferische Seite (ähnlich der Krisis einer Krankheit): Sie bedingt die Möglichkeit zur Selbstüberwindung, zur Umwertung aller Werte. Nihilismus als historischer Prozess ist also nicht nur die Geschichte der Götterdämmerung (der lebensfeindlichen Werte), sondern auch der Weg, sich von ihnen zu befreien. Anders ist diese Befreiung nicht möglich. Bedeutet das aber nicht auch, dass wir, Nietzsche getreulich folgend, der Geschichte schlussendlich durch die Hintertür ein letztes Ziel verschafft haben, das ihren gesamten bisherigen Verlauf organisiert? Dass wir entgegen unserer ursprünglichen Intention die Negation des Lebens, den Nihilismus, in die Mühlen der Geschichte geworfen haben, auf dass er in ihr positive Ergebnisse hervorbringe (Umwertung aller Werte) und damit letztlich die Selbstnegation?

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Nein, keineswegs. Nietzsche äußert sich folgendermaßen zur Frage der Negativität: »Der Abfall, Verfall, Ausschuß ist nichts, was an sich zu verurtheilen wäre: er ist eine nothwendige Consequenz des Lebens, des Wachsthums an Leben. Die Erscheinung der décadence ist so nothwendig, wie irgend ein Aufgang und Vorwärts des Lebens: man hat es nicht in der Hand sie abzuschaffen. Die Vernunft will umgekehrt, daß ihr ihr Recht wird … Es ist eine Schmach für alle socialistischen Systematiker, daß sie meinen, es könnte Umstände geben, gesellschaftliche Combinationen, unter denen das Laster, die Krankheit, das Verbrechen, die Prostitution, die Noth nicht mehr wüchse … Aber das heißt das Leben verurtheilen … Es steht einer Gesellschaft nicht frei, jung zu bleiben. Und noch in ihrer besten Kraft muß sie Unrath und Abfallsstoffe bilden. […] Alter schafft man nicht durch Institutionen ab. Die Krankheit auch nicht. Das Laster auch nicht.« 8

Die Negativität bedarf für Nietzsche mit anderen Worten keiner zusätzlichen Begründung, negative Erscheinungen in unserem Leben müssen nicht gerechtfertigt werden, indem man sich auf ihren zukünftigen Nutzen beruft. Negativität ist kein Mechanismus, der künftige positive Ergebnisse herstellt, kein Stoff zum Erreichen eines künftigen Ziels. Niedergang, Verfall, Aggressivität und Ausschuss sind genauso, im selben Maße positive Erscheinungen des Lebens wie Wachstum und Blüte. Die Umwertung aller Werte und die damit einhergehende Überwindung des Nihilismus ist keine Negation der Negation, sie beruht nicht auf einer Abschaffung der Negativität in dieser Welt. Negativität – also auch der Nihilismus – ist ein elementarer Bestandteil der Welt. In der Fröhlichen Wissenschaft schreibt Nietzsche: »Der Reichste an Lebensfülle […] kann sich […] selbst […] Zerstörung, Zersetzung, Verneinung [gönnen]; bei ihm erscheint das Böse, Unsinnige und Hässliche gleichsam erlaubt, in Folge eines Ueberschusses von zeugenden, befruchtenden Kräften, welcher aus jeder Wüste noch ein üppiges Fruchtland zu schaffen im Stande ist.« 9

Eben diese Überzeugung Nietzsches sichert ihm nach Ansicht von Stanisław Brzozowski einen Platz im Pantheon der Philosophie: »Bis heute wird es nicht als Verlust, Verbrechen und Niederlage empfunden, dass es nicht mehr dieses oder jenes Krümelchen menschlicher Seele geben wird; dabei hat doch der Mensch nichts außer ihm, ihm allein. Für diese Revolte, für den heiligen Zorn über den Menschen, für die Liebe zu allem, was in ihm ist, für die Einsicht, dass jeglicher Inhalt des mensch-

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lichen Lebens kostbar ist, die einzige Kostbarkeit, Quelle aller anderen, dafür wird Nietzsche in Ewigkeit in die Philosophie eingehen, als großer Erneuerer, als Schöpfer moralischer Energie.« 10

Nietzsches Überzeugung lässt sich auch noch anders formulieren: Das Leben – das wandelbare, vielfältige, endlos sich ereignende Leben – muss in jedem einzelnen Moment verständlich sein. Um das Leben verstehen zu können, muss man sich nicht auf ein Bezugssystem »außerhalb« des jeweiligen Moments berufen, etwa ein künftiges Ziel, um in diesem Moment erkennen zu können, was beizubehalten und was zu verwerfen ist. »Verständnis« ist also die Affirmation des Moments Leben, eine bedingungslose Selbstbejahung, eine Affirmation, die auch Aggressivität, Ausschuss und Negativität einschließt. Hier geht es nicht um eine adäquate Beschreibung oder eine »wahre« Theorie (derartiges begründet ja, wie gesehen, Fiktionen wie die von der »Wahrheit an sich«), sondern um affirmatives Schöpfertum. Ein Schöpfertum, das sich in der beständigen Befreiung des Lebens von den Fesseln der Fiktion, von drohenden Krankheiten und lebensfeindlichen Begriffen äußert, in der unablässigen Überwindung des eigenen Nihilismus. Wo liegt die Grenze solchen Schöpfertums? Was ist das Pfand in diesem Spiel, in der Konfrontation mit dem Nihilismus? Nietzsche sagt: »[W]ir machen einen Versuch mit der Wahrheit! Vielleicht geht die Menschheit dran zu Grunde! Wohlan!« 11

8 Fassen wir zusammen: Nietzsches Philosophie entspringt dem Uneinssein, der Erregung über die Welt, dem von der Welt verursachten Schmerz. Erst wenn wir lernen, mit diesem Schmerz umzugehen, wenn wir seine Kraft erkennen, werden wir die Welt, wie sie ist, verstehen. Dies erfordert die Konfrontation mit dem Nihilismus; nicht nur mit nihilistischen Ansichten oder Haltungen, sondern vor allem mit dem Nihilismus des Geschehenden, dem Nihilismus unseres Lebens. Unser Leben ist nämlich von Grund auf nihilistisch, ein elementarer Bestandteil des Lebens ist dessen Negierung, die im Projekt der das Leben zu einem rationalen Ganzen fügenden Werte verborgen liegt. Dafür können wir weder das Leben, noch die Geschichte mit ihren (angeblich) ehernen Gesetzen verantwortlich machen. Le32 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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ben und Geschichte fliegen nicht ohne unser Zutun dahin wie ein Karussell, das man besteigen und nach einer Weile wieder verlassen kann. Geschichte ist nur als unsere Geschichte real, sie geschieht nur in unserem Tun. Wenn das so ist, dann krankt unser Tun und die darin sich ausdrückende Kraft am Nihilismus. Symptome dieser Krankheit sind Fiktionen (wie »Gott« oder »Wahrheit an sich«), die unser Denken und unsere Hände solange gefesselt halten, bis wir ihre Genese ergründet haben. Das Ergründen der Genese, das Zu-TageFördern des Lebens und seiner Krankheit, der Kraft und der krankenden Begriffe, mit denen wir unser Leben zu fassen versuchen, ist, so Nietzsche, Aufgabe der Philosophie. Sich selbst überlassene Begriffe sind leer und dumm. Wenn sie etwas sagen, wenn wir mit ihrer Hilfe etwas verstehen, so nur dank der Sensibilität, die dem Leben eigen ist, das wir leben. Wenn die Philosophie die Genese der Begriffe aus dem durch den Nihilismus verunstalteten Leben heraus offenbart, trägt sie zur Überwindung des Nihilismus bei und damit zur Entstehung neuen Lebens und neuer Sensibilität. Zur Befreiung eines unserem Leben innewohnenden freien, affirmativen Schöpfertums. Ist die Überwindung des Nihilismus nicht auch die Überwindung des Menschen, dieser Hautkrankheit 12, an der Nietzsche zufolge die Welt leidet? Aber das ist eine andere Geschichte.

33 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

II Die Zeit fließt, das Kind spielt 1 Nietzsche schreibt auf der ersten Seite seines Essays Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben: »Betrachte die Heerde, die an dir vorüberweidet: sie weiß nicht was Gestern, was Heute ist, […] kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblickes«. 1 Was ist mit diesem Bild gemeint? Wenn es keinen Unterschied gibt zwischen Gestern und Heute, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, dann ist auch kein Raum für die Erinnerung, dann gibt es nichts zu erinnern. Die Herde erinnert sich an nichts. Nicht dass sie etwas vergäße, was ihr einstmals zugestoßen wäre – alles, was ihr zustoßen könnte, geschieht »in diesem Augenblick«, für die weidende Herde gibt es kein »einstmals«. Der Augenblick, in dem die Kuhherde lebt, ist also nicht der »jetzige«, keine »Gegenwart«, die zwischen dem liegt, was war und dem, was wird, kein Moment, dem etwas vorangegangen ist und auf den etwas folgen wird. Mit Nietzsche gesprochen: »vorher ein Nichts, nachher ein Nichts«. 2 Für die Kuhherde existiert keine Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Da aber die Zeit als Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Voraussetzung für das Erinnern ist, erinnern sich die Kühe an nichts. Und deshalb sind sie glücklich. Ist doch die Erinnerung an das Vergangene eine »Last«, eine »Kette«, ein »Gespenst«. 3 Die Erinnerung stört das Erleben des Augenblicks, indem sie Dinge zurückruft, die nicht mehr sind. So schafft sie Raum für Schwermut und Überdruss, Schmerz und Kampf und verhindert damit ein unbekümmertes Sich-Versenken in das, was im Augenblick ist. Die Kuh lebt ganz und gar in dem, was sich gerade ereignet. Sie wird nicht (wie wir) von der »unsichtbaren und dunklen« 4 Bürde des Gestern niedergedrückt, sie muss nicht (wie wir) an der Kette zerren, die an das Vergangene bindet, sie fürchtet nicht (wie wir) die Gespenster der Vergangenheit. Deshalb betrachten wir die weidende Kuhherde mit Eifersucht. 34 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

II · Die Zeit fließt, das Kind spielt

2 Aber vielleicht sind die Kühe ja auch einfach glücklich, weil sie dumm sind (was doch recht offenkundig der Fall zu sein scheint). Vielleicht ist ihr Glück lediglich die andere Seite ihrer Dummheit, entspringt die einfache, unbekümmerte Ruhe des Augenblicks, in dem sie leben, dem schlichten Gemüt des Idioten. Sicher wäre das so, wollte man annehmen, dass die Perspektive desjenigen, der die weidende Herde betrachtet, der objektiven Realität entspricht, die Perspektive der Kühe dagegen nicht, kurz, dass der Schauende die Welt, wie sie ist, sieht, während die Kühe sie verzerrt wahrnehmen, subjektiv (also nicht objektiv begründet) vereinfacht. Wollte man also annehmen, dass die Zeitfolge – die Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – objektiv existiert und nur die dummen (weil vergesslichen) Kühe sie nicht erkennen (daher ihr Glück)? Ist das tatsächlich so? Ist die Perspektive des Menschen, der die weidende Herde betrachtet, tatsächlich die Perspektive des »objektiven Wissens«, die der Herde dagegen die Perspektive ihrer »subjektiven Verzerrung«?

3 Betrachten wir die »Herdenperspektive« genauer. Zunächst einmal merkt Nietzsche an, dass nicht nur Kühe, sondern auch Kinder nicht zwischen »Gestern« und »Heute« unterscheiden, auch das Kind »[spielt] zwischen den Zäunen der Vergangenheit und der Zukunft in überseliger Blindheit« 5 (ist also völlig in den erlebten Augenblick versunken). Der Anblick eines spielenden Kindes führt mir etwas Fremdes vor Augen, das gleichzeitig vertraut ist. Beim Betrachten des Kindes wird mir bewusst, dass das weltvergessene Glück der weidenden Kuhherde ebenfalls etwas mir Nahes, etwas Eigenes ist; etwas, das ich besaß und verloren habe, vielleicht zwangsläufig, mit Sicherheit endgültig. Es ist gewissermaßen der Anblick des einst unwiederbringlich verlorenen Paradieses. Cioran verwendet ein anderes Bild, um, wie mir scheint, denselben Gedanken auszudrücken: »The regret of not being plants brings us closer to paradise than any religion. One is in paradise only as a plant. But we left that stage a long time

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ago: we would have to destroy so much to recover paradise! Sin is the impossibility of forgetfulness. The fall – emblem of our human condition – is a nervous exacerbation of consciousness. Thus a human being can only be next to God, whereas plants sleep in him the sleep of eternal forgetfulness. The more awake we are, the greater the nostalgia that sends us in quest of paradise, the sharper the pangs of remorse that reunite us with the vegetable world.« 6

Später, in den Reden Zarathustras, schrieb Nietzsche über das spielende Kind: »Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen.« 7 Das Kind kennt keine Vergangenheit, es kennt also auch keine Schuld. Nicht, weil es noch nie etwas Böses getan hätte, sondern weil für jemanden, der keine Vergangenheit hat, der Schuldbegriff keinen Sinn ergibt. Daher ist im Spiel des Kindes jede Bewegung erstmalig, Anfang und Ende zugleich (wie jeder Punkt eines Kreises). Das Spiel ist also erfüllt, vollendet in jedem Moment seiner Dauer, nichts fehlt ihm, auf nichts ist es gerichtet. Es ist wie das rollende Rad, das doch niemand angestoßen hat und das nirgendwohin rollt. Die Bewegung dieses Rades ist nur aus sich selbst heraus verständlich, nicht aber in Relation zu einer äußeren Instanz. Daher ist das Spiel des Kindes eben affirmativ, »ein heiliges Ja-sagen«. Hier ist nicht einfach gemeint, dass das Kind gern spielt. Die »Affirmation«, von der hier die Rede ist, ist keine Bewertung, die eine Distanz zu ihrem Objekt erfordert (wie zum Beispiel, wenn ich sage, dass ich gern Fangen spiele, Verstecken aber nicht). Das Kind »affirmiert« das Spiel durch sein Spielen, das Spiel selbst ist bereits die hier gemeinte Affirmation, jeder (in sich erfüllte, vollkommene, sich selbst genügende) Moment des Spiels.

4 »Und doch«, schreibt Nietzsche in den Unzeitgemäßen Betrachtungen über das spielende Kind, »muss ihm sein Spiel gestört werden: nur zu zeitig wird es aus der Vergessenheit heraufgerufen. Dann lernt es das Wort ›es war‹ zu verstehen, jenes Losungswort, mit dem Kampf, Leiden und Ueberdruss an den Menschen herankommen, ihn zu erinnern, was sein Dasein im Grunde ist – ein nie zu vollendendes Imperfectum.« 8 Stellen wir uns die Mutter vor, die das im Hof spielende Kind 36 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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zum Essen ruft. Für das vom Spiel beanspruchte Kind (»Ene mene dubbe dene dubbe dene dalia ebbe babbe bembio bio bio buff« – und wieder und wieder, ohne Ende …) wird es immer zu zeitig sein. Das wird ihm jedoch erst bewusst, wenn die Mutter es ruft und sein Spiel unterbricht. Erst mit der Unterbrechung des Spiels werden Zeitangaben überhaupt sinnvoll, erst dann erhalten »zu zeitig« oder »später« (bitte! nur noch ein bisschen!), »es war« (das Spiel, das leider Vergangenheit wurde) und »es ist« (das vermaledeite Mittagessen) eine Bedeutung. Solange das Spiel andauert, sind es hohle, sinnentleerte Wörter. Früher oder später »MUSS [Hervorhebung KM] ihm sein Spiel gestört werden«, schreibt Nietzsche. Die Störung des Spiels ist also kein Zufall, kein Fehler, der sich korrigieren ließe. Sie liegt in der Natur der Sache. Anders gesagt: Spiel und Störung sind zwangsläufig miteinander verbunden. Ohne Störung bliebe das Spiel unverständlich. Und umgekehrt: Die Unterscheidung zwischen »es war«, »es ist« und »es wird sein«, die zeitliche Differenzierung ist eben die Störung des ursprünglich nicht differenzierten »Augenblicks«, ohne sie muss er unverständlich bleiben. In diesem Sinne ist der »Augenblick« die »Quelle« oder die »Basis« der Zeit. Ohne ihn wäre die Zeit (die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) unverständlich. Erst hier, mit dieser »Störung«, beginnt das menschliche Leben: Die Differenzierung der Zeit ist Voraussetzung für die Möglichkeit des Erinnerns und schließlich für Kampf, Leiden und Überdruss, wozu das Kind oder die Kuh außer Stande sind, kennen sie doch den Unterschied zwischen »es war« und »es wird sein« nicht und sind damit der Erinnerung beraubt. Kämpfen und leiden können wir erst, wenn wir das Wort »es war« verstehen. Und nur wer leiden und kämpfen kann, ist ein Mensch, manifestiert sich doch in Leiden und Kämpfen das Wesen des Menschseins, der (zeitlich) unvollendete Charakter der menschlichen Existenz (das nie zu vollendende Imperfectum). Der Verlust des Paradieses, des Versunkenseins im erlebten Augenblick des unbekümmerten, glücklichen, kindlichen Spiels ist Voraussetzung für die Möglichkeit, ist der Beginn des zu Leiden und Überdruss, Schwermut und Kampf bestimmten menschlichen Lebens. Wenn das so ist, nehmen Kampf, Leiden und Überdruss kein Ende, jedenfalls nicht solange wir leben. Das (menschliche) Leben hat immer eine Vergangenheit und eine Zukunft, deshalb ist ihm das ungestörte Glück des spielenden Kindes unerreichbar. 37 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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5 Was kann es bedeuten, wenn der zeitlose Augenblick, in dem das spielende Kind und die weidenden Kühe leben, die »Quelle« oder die »Basis« des zwischen Vergangenheit und Zukunft sich erstreckenden menschlichen Lebens ist? Kehren wir noch einmal zum spielenden Kind zurück. Inwiefern ist mir das Glück des im erlebten Augenblick versunkenen Kindes verwehrt? Ist es mir ebenso verwehrt wie die Möglichkeit eines zwanzig Meter weiten Satzes nach vorn? Nein, nicht das ist gemeint. Der Anblick des spielenden Kindes berührt mich ja, was ich da sehe, ist mir nicht völlig fremd, es ist das Paradies, in dem ich war, auch wenn es verloren ist. Bedeutet das nun, dass das Spiel des im Augenblick lebenden Kindes für mich heute mit Wehmut und Rührung erinnerte Vergangenheit ist, das Glück der vergangenen Kindheit? Nein, auch das kann nicht gemeint sein. Der zeitlich nicht differenzierte Augenblick, den das Bild des spielenden Kindes vorstellt, ist natürlich kein Ereignis in der Zeit, nicht einer von vielen »Augenblicken«, nicht eines dieser ganzen »Gestern«, »Heute«, »Morgen« oder »Später«. Die Annahme, der Augenblick ginge der Zeitfolge voraus (was der Vergleich des Augenblicks mit der Quelle der Zeit oder des darin eingeschlossenen Glücks des kindlichen Spiels mit dem verlorenen Paradies oder der Störung des zeitlosen Augenblicks mit dem Hereinrufen der ungeduldigen Mutter nahelegen könnten), wäre gänzlich unsinnig. Das Spiel des im erlebten Augenblick versunkenen Kindes und das von Kampf und Leiden erfüllte Leben des Erwachsenen sind nicht einfach aufeinander folgende Ereignisse. Wenn das so ist, kann die Beziehung zwischen dem Augenblick (in den versunken das Kind spielt) und dem zwischen Vergangenheit und Zukunft sich erstreckenden Leben in keiner Weise eine kausale sein. Es kann also nicht gemeint sein, dass der Mensch Kind ist, bevor er erwachsen wird und dass sein Kindsein mit gewissen (für die weitere Entwicklung wichtigen) Annehmlichkeiten verbunden war, an die er sich als Erwachsener wehmütig erinnert, in dem Wissen, die Fähigkeit sie zu empfinden unwiederbringlich verloren zu haben. Es kann auch nicht gemeint sein, dass Kühe (oder Pflanzen) bezogen auf den Menschen ein früheres Evolutionsstadium darstellen, dessen Spuren in späteren Stadien offenbar werden. Es geht vielmehr um eine Beziehung anderer Art. Der Augen38 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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blick vergeht nicht. Um »vergehen« zu können, müsste er Teil der Zeit sein, ein »Jetzt« oder »Einst«, er ist aber zeitlich nicht differenziert. Wie für Christen das Paradies und sein Verlust in jedem Moment ihres Lebens gegenwärtig sind und ihm den einzig möglichen Sinn verleihen, so ist auch der Augenblick in jedem Moment der Zeit gegenwärtig. Ohne diese Gegenwart, ohne das ständige Sprudeln der Quelle, würde die Zukunft nicht auf die Vergangenheit folgen, wäre also das menschliche Leben nicht möglich. Der zeitlich nicht differenzierte Augenblick, so Nietzsche, »ist einer umhüllenden Atmosphäre ähnlich, in der sich Leben allein erzeugt, um mit der Vernichtung dieser Atmosphäre wieder zu verschwinden.« 9 Das spielende, im erlebten Augenblick versunkene und in diesem Sinne unhistorische Kind ist für mich – den mit Vergangenheit und Erinnerung beladenen und in diesem Sinne historischen Menschen – das Bild einer anderen, nicht menschlichen und in diesem Sinne unerreichbaren Wirklichkeit. Aber nicht in demselben Sinne wie der Anblick eines Dreiecks oder eines Marsmenschen. Das spielende Kind ist keine Metapher für ein anders geartetes Wesen, es steht vielmehr für eine integrale Dimension meines eigenen Lebens, ohne die sein spezifischer Charakter – das Vorhandensein von und damit einhergehend die Erinnerung an Vergangenheit und somit Leiden, Kampf und Überdruss – unmöglich wäre.

6 Nietzsche formuliert diesen Gedanken auch noch anders: Erinnerung sei nur eingeschränkt möglich, absolute Erinnerung sei Nonsens. Erinnerten wir uns an alles, verschütteten wir die einzige Quelle, aus der Erinnerung fließt, wir untergrüben ihre einzige Voraussetzung. Nietzsche schreibt: »Denkt euch das äusserste Beispiel, einen Menschen, der die Kraft zu vergessen gar nicht besässe, der verurteilt wäre, überall ein Werden zu sehen: ein solcher glaubt nicht mehr an sein eigenes Sein, glaubt nicht mehr an sich, sieht alles in bewegte Punkte auseinanderfliessen und verliert sich in diesem Strome des Werdens«. 10

Die vollständige Erinnerung an alles wäre die genaue Wiederholung dessen, was war oder genauer, sie wäre identisch mit dem, was war. Das Leben des Menschen, der sich an alles erinnert, wäre identisch 39 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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mit dem Erinnerten. Es wäre ein Leben, das keinen Raum hätte für das, was jetzt ist oder für das, was sein wird. Absolute Erinnerung ließe keinen Raum für jemanden, der sich heute erinnert, was gestern war, sie untergrübe schon die Möglichkeit des Lebens und damit ihrer selbst. Zwar unterscheidet sich der Mensch von Kuh, Pflanze oder Kind durch die Fähigkeit des Erinnerns und damit letztlich durch das Unterscheidenkönnen von Vergangenheit und Zukunft, und doch ist auch die entgegengesetzte Fähigkeit (das Blockierenkönnen der Erinnerung, das Verdrängenkönnen der isolierten Vergangenheit) ein integrales Unterscheidungsmerkmal. Ohne sie wäre die Fähigkeit des Erinnerns undenkbar. Der Mensch ist, sogar unbedingt, auf die Fähigkeit angewiesen, das Unhistorische empfinden und in diesem Sinne »vergessen« zu können. Dabei ist nicht Vergessen im herkömmlichen Sinne gemeint, nicht dass einmal erinnerte Ereignisse oder Namen gegen unseren Willen bisweilen aus unserem Gedächtnis verschwinden. Vielmehr geht es um die Fähigkeit, die Wirklichkeit als zeitlich nicht differenziert empfinden zu können, um eine Sensibilität, für die die Bezeichnung »es war« unsinnig ist. Eine Sensibilität, wie sie metaphorisch im Bild des spielenden Kindes oder der weidenden Kuhherde vorgestellt wird. Diese lebensnotwendige Vergessenheit, die Vergessenheit, ohne die kein Erinnern möglich wäre, ist die Rückkehr ins verlorene Paradies des kindlichen Spiels. Meine Erinnerung – mein Bewusstsein des Unterschieds zwischen Vergangenheit und Zukunft, mein Bewusstsein von Zeit – reicht also weiter als das, was erinnert werden kann, es reicht über sich selbst hinaus bis zu seinem »Anfang«, seiner »Quelle«, die nicht mehr erinnert werden kann wie das Gewitter gestern oder der Küchengeruch des Elternhauses. Anders gesagt: Meine Erinnerung ist notwendigerweise mit Vergessenheit unterfüttert, sie ist unvollkommen, notwendigerweise krank. Notwendigerweise, da ohne diese Vergessenheit, ohne diese Krankheit, keine Unterscheidung zwischen »es war« und »es wird sein« möglich wäre, und damit auch kein Erinnern. Interessanterweise schreibt Nietzsche von einer so verstandenen Vergessenheit als einer Fähigkeit oder einem Vermögen: es ist eine Kraft, nicht einfach ein Fehlen (wie z. B. Gedächtnisschwäche), eher etwas, das wir tun, als etwas, das mit uns getan wird, eher Aktivität als Passivität. Der Begriff ist positiv besetzt, nicht negativ. Nietzsche schreibt: »Vergesslichkeit ist keine blosse vis inertiae, […] sie ist viel-

40 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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mehr ein aktives, im strengsten Sinne positives Hemmungsvermögen«. 11

7 Wie ist nun aber die Erinnerung mit der Vergessenheit verbunden, wie die Fähigkeit zur Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft mit dem Verwischen dieser Unterscheidung, wie die Zeit mit dem zeitlosen Augenblick? Wo ist das Prinzip ihrer Einheit zu finden, der Grad ihrer Verbundenheit? Nietzsche schreibt: »Um diesen Grad […] zu bestimmen, […] müsste man genau wissen, wie gross die plastische Kraft eines Menschen, eines Volkes, einer Cultur ist, ich meine jene Kraft, aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben, Wunden auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene Formen aus sich nachzuformen.« 12

Kurz gesagt: Die Synthese aus Erinnerung und Vergessenheit, aus Zeit und zeitlich nicht differenziertem Augenblick vollzieht sich im Leben jedes Menschen (bzw. jedes Volkes und jeder Kultur) immer wieder aufs Neue. Das Leben ist so und nicht anders, seine Intensität ist so und nicht anders, seine Kraft entscheidet darüber, wie viel wir vergessen und wie viel wir erinnern werden. Ich möchte noch einmal zu dem Fragment aus den Unzeitgemäßen Betrachtungen zurückkehren, dessen Anfang ich bereits zitiert hatte: »Das Unhistorische [der zeitlich nicht differenzierte Augenblick – KM] ist einer umhüllenden Atmosphäre ähnlich, in der sich Leben allein erzeugt, um mit der Vernichtung dieser Atmosphäre wieder zu verschwinden. Es ist wahr: erst dadurch, dass der Mensch denkend, überdenkend, vergleichend, trennend, zusammenschliessend jenes unhistorische Element einschränkt, erst dadurch, dass innerhalb jener umschliessenden Dunstwolke ein heller blitzender Lichtschein entsteht – also erst durch die Kraft, das Vergangene zum Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehenen wieder Geschichte zu machen, wird der Mensch zum Menschen: aber […] ohne jene Hülle des Unhistorischen würde er nie angefangen haben«. 13

Der zeitlich nicht differenzierte Augenblick, die »Zeit« des kindlichen Spiels, die keinen Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft kennt, ist Voraussetzung für die Möglichkeit menschlichen Lebens, 41 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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seine umhüllende Atmosphäre. Aber das menschliche Leben fängt erst mit der Störung des kindlichen Spiels an, erst dann, wenn der zeitlich nicht differenzierte Augenblick (das uns umhüllende Element) eingeschränkt wird. Natürlich ist nicht gemeint, dass mit dem Beginn menschlichen Lebens die Grenzen des es umhüllenden Elementes festgelegt werden, dass dieses Element, die das menschliche Leben umhüllende Atmosphäre, nun nur noch bis zu einer bestimmten Stelle reicht und nicht weiter. Vielmehr ist die »Einschränkung« in demselben Sinne zu verstehen, in dem die Welle eine »Einschränkung« des Meeres und die geometrische Figur eine »Einschränkung« des Raumes ist, als Binnendifferenzierung. Der Mensch wird zum Menschen, wenn aus dem nicht differenzierten Augenblick Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erstehen. Diese Differenzierung ist der Lichtschein – erst jetzt, mit dem Auftreten der Unterschiede, erscheint etwas, das Gegenstand des Wissens sein kann – in der undifferenzierten Atmosphäre; in der Dunstwolke, sind alle Kühe grau. Erst jetzt, nach dem Aufblitzen des Lichtes, kann die das menschliche Leben schützende Atmosphäre überhaupt als Dunstwolke bezeichnet werden, erst jetzt zeigt sich, dass diese Atmosphäre nicht durchsichtig ist, dass in ihr nichts zu sehen ist, vorher wäre eine solche Charakterisierung unsinnig gewesen. Wenn es kein Licht gibt, ist auch noch nichts dunkel, durchsichtig oder trübe. Das spielende Kind weiß schließlich auch nicht, dass es sich nicht erinnert, es weiß nicht um sein Nichtwissen. So verstanden kann der Lichtblitz nicht allmählich kommen, die Differenzierung ist da oder nicht, selbst der kleinste Unterschied ist ein Unterschied. Es ist wie mit dem ersten Wort oder der Geburt eines Kindes: Die Welt ersteht von Neuem, plötzlich, in einem einzigen, unteilbaren Moment, auf einen Streich. Daher ist es auch ein »heller blitzender Lichtschein«. Wie vollzieht sich nun diese Differenzierung? Wie ersteht die Vergangenheit aus der Dunstwolke des nicht differenzierten Augenblicks? Das geschieht erst, wenn das Vergangene zum Leben gebraucht und aus dem Geschehenen Geschichte gemacht wird. Also vermag erst das menschliche Leben durch die eingeschränkte Macht der Erinnerung die Vergangenheit aus dem Dunkel des nicht differenzierten Augenblicks zu holen. Erst in der Perspektive menschlichen Lebens, in der durch die Erinnerung eingeschränkten menschlichen Perspektive ist Raum für das, was jetzt ist und für das, was sein wird, also für »Gegenwart« und »Zukunft«. Erst in dieser Perspektive 42 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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ist, anders ausgedrückt, die Unterscheidung von »Zukunft«, »Gegenwart« und »Vergangenheit« sinnvoll. Also lebt Geschichte auch erst in dieser Perspektive, sie ereignet sich, geschieht, hat eine Zukunft. Andernfalls stirbt Geschichte, sie hört auf, Geschichte zu sein. Vergangenheit ist etwas, an das ich mich erinnere oder erinnern sollte, eine Kette, die meine Möglichkeiten einschränkt, die Last eingegangener Verpflichtungen, das Gespenst begangener Sünden. So verstandene Vergangenheit ist Teil der lebendigen Geschichte, ihre andere, untrennbar damit verbundene Seite ist die Zukunft – all die Zwänge, Möglichkeiten, Verbindlichkeiten, die zu sühnende Schuld. Vergangenheit und Zukunft in diesem Sinne sind Dimensionen des menschlichen Lebens, dieses Imperfectums. Lebend – also denkend, überdenkend, vergleichend, trennend, zusammenschließend – erschließt sich der Mensch eine Zukunft und damit auch eine Vergangenheit, das menschliche Leben ist der plötzliche Lichtschein, der aus dem Dunkel holt, was sein wird und was war. Das menschliche Leben führt die Unterscheidung zwischen Zukunft und Vergangenheit in den nicht differenzierten, unhistorischen Augenblick ein und schränkt ihn so ein, »differenziert« zwischen den Augenblicken, die »Heute«, »Gestern« oder »Morgen« heißen. Die Zeit fließt nicht aus sich selbst, das menschliche Leben bewirkt, dass sich die Vergangenheit von der Zukunft unterscheidet oder genauer: Die Vergangenheit unterscheidet sich von der Zukunft in dem, was wir tun, und nur hier, im menschlichen Leben, ist die Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft sinnvoll. Zeit ist ohne Relation zum menschlichen Leben ein leerer Begriff, gleichzeitig beruht menschliches Leben im Grunde auf der Abgrenzung von Vergangenheit und Zukunft, menschliches Leben ist im Wesentlichen Zeit. Die menschliches Leben schaffende Kraft des Vergessens und Erinnerns ist zugleich die Kraft, die die Vergangenheit von der Zukunft scheidet. Menschliches Leben ist im Wesentlichen, so Nietzsche, die Kraft, Vergangenheit und Zukunft zu öffnen.

8 Ich sehe also, wenn ich die weidende Herde betrachte, Folgendes: Wesen, die den Unterschied zwischen »es war« und »es wird sein« nicht kennen und die darin spielenden Kindern gleichen, da auch diese ganz und gar im Augenblick versunken (der, so betrachtet, kein zwischen 43 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Vergangenheit und Zukunft eingezwängtes »Jetzt« ist) und deshalb ohne Erinnerung und folglich glücklich sind. Indem ich dies alles sehe, wird mir bewusst, wer ich bin, der ich die weidende Herde betrachte: Ein Wesen, das sich über den gegebenen Augenblick hinaus in Vergangenheit und Zukunft bewegt, belastet mit der Erinnerung an das, was war, und demzufolge nicht mehr glücklich, sondern leidend, kämpfend und voller Überdruss. Was ich sehe, ist mir dabei nicht fremd, daher empfinde ich bei der Betrachtung der weidenden Herde und in Gedanken an das spielende Kind Eifersucht und Rührung. Der Anblick der weidenden Herde oder des spielenden Kindes ist für Nietzsche also ein Bild für eine fundamentale Dimension meiner eigenen (menschlichen) Existenz. Vergangenheit, Erinnerung und damit Leiden, Kampf und Überdruss, die über mein Menschsein entscheiden, wären nämlich nicht möglich ohne diese andere Sensibilität, die den Unterschied zwischen »es war« und »es wird sein« verwischt. Diese Sensibilität, das unhistorische Empfinden, ist in diesem Sinne die »Quelle« der Zeit als einer Abfolge aus »es war«, »jetzt« und »es wird sein« und zugleich das »Fundament« des Menschlichen. Die Zeit ist also kein »Fluss«, kein »Strom«, in den ich jeden Moment hinein- und heraussteigen kann und der fließt, egal, was mit mir geschieht. Der Mensch, seine Lebenskraft, trennt die Vergangenheit von der Zukunft, die Kraft des menschlichen Lebens zerteilt den nicht differenzierten Augenblick und erschafft so »Vergangenheit«, »Gegenwart« und »Zukunft«. Diese Kraft des menschlichen Lebens ist die Fähigkeit zu erinnern und damit zu leiden und zu kämpfen, gleichzeitig aber auch die Fähigkeit zu vergessen und glücklich zu sein. Wenn das so ist, kann natürlich keine Rede davon sein, dass die glückliche Kuh, mit der wir unsere Überlegungen begannen, dass die sich im erlebten Augenblick vergessen habende Kuh eine Metapher für die Dummheit ist und sich ihre Perspektive von der des sie betrachtenden Menschen unterscheidet wie ein Irrtum von der Wahrheit oder eine »subjektive« Perspektive von einer »objektiven«. Dann ist auch keineswegs richtig, dass die Zeitfolge eine »objektive« Realität ist, die Erwachsene erkennen können, geistig noch unterentwickelte Kinder oder dumme Kühe aber nicht. Andererseits folgt aus der Tatsache, dass ich mich nicht ohne Grund nach dem einfachen Glück der Kindheit, nach diesem unwiederbringlich verlorenen Paradies sehne, auch nicht, dass ich die Welt als Kind etwa besser und 44 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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vollkommener erkannt hätte, als ich sie als Erwachsener sehen kann (oder dass die Kuh besonders klug wäre). Das Glück des Kindes oder der Kuh und das Leiden des Erwachsenen, das kindliche Spiel und die Kämpfe der gereiften Menschen, der Segen des Vergessens und das Gespenst, die Last und die Kette der Erinnerung sind zwei Seiten ein und desselben, zwei Dimensionen der conditio humana.

9 Im Folgenden sollen einige Konsequenzen betrachtet werden, die sich aus der beschriebenen Perspektive ergeben. Wie bereits festgestellt, lässt sich das Gegensatzpaar »objektiv« – »subjektiv« nicht auf die oben analysierte Nietzsche-Metapher anwenden (auf den mit Eifersucht und Rührung die weidenden Kühe oder das spielende Kind betrachtenden Menschen). Mehr noch, aus der Perspektive, die diese Metapher eröffnet (wenn ich sie recht verstehe), erhält der Gegensatz eine gänzlich andere als die gewohnte Bedeutung. Wenn die Vergangenheit nur in Unterscheidung zur Zukunft real ist, einer Unterscheidung, die durch das menschliche Leben hervorgebracht wird, wenn, anders formuliert, der Terminus »Vergangenheit« (ähnlich wie »Gegenwart« und »Zukunft«) ohne Relation zum menschlichen Leben bedeutungslos ist, so muss das Wissen um die Vergangenheit diese Relation suchen, anstatt nach ihrer Eliminierung zu trachten. Indessen ist gerade die (als »Objektivität« bezeichnete) Eliminierung jeglicher Verbindung mit dem eigenen Leben nach Auffassung Nietzsches das Wissensideal unserer Zeit, ein Ideal, das die Wissenschaft unserer Zeit eingeimpft hat, insbesondere die Geschichtswissenschaft. Man verstehe unter Objektivität, so Nietzsche, »einen Zustand im Historiker, in dem er ein Ereigniss in allen seinen Motiven und Folgen so rein anschaut, dass es auf sein Subject gar keine Wirkung thut«. 14 Um diesen Zustand erreichen zu können, muss der Wissenschaftler sämtliche Gefühle, Emotionen und persönliche Interessen gegenüber dem Untersuchungsgegenstand beiseite schieben, damit ihm dieser völlig gleichgültig wird. Der Historiker muss sich selbst vergessen, alles »Subjektive« muss, um mit Michel Foucault zu sprechen »den Tod nachahmen, um ins Reich der Toten einzutreten …« 15 Der nach »Objektivität« strebende Historiker kann, anders ausgedrückt, Geschichte nur insoweit verstehen, als sie tot ist. Nietzsche schreibt: 45 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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»Ein historisches Phänomen, rein und vollständig erkannt und in ein Erkenntnissphänomen aufgelöst, ist für den, der es erkannt hat, todt: denn er hat in ihm den Wahn, die Ungerechtigkeit, die blinde Leidenschaft, und überhaupt den ganzen irdisch umdunkelten Horizont jenes Phänomens und zugleich eben darin seine geschichtliche Macht erkannt. Diese Macht ist jetzt für ihn, den Wissenden, machtlos geworden«. 16

Wahn, Ungerechtigkeit und blinde Leidenschaft bestimmen die historische Kraft des jeweiligen Phänomens in dem Maße, wie sie den verstehen Wollenden betreffen, wie sie ihn angehen, auf ihn wirken. Als (»objektiv« beschriebenes) Erkenntnisphänomen ist es dieser Wirkungsmacht beraubt und damit – wie das verstehen wollende Subjekt – aus dem »Wirkungszusammenhang« (um ein Wort HansGeorg Gadamers zu gebrauchen) der lebendigen Geschichte herausgenommen. Ich verstehe die Vergangenheit in dem Maße, wie ich mit ihr verbunden bin, wie ich sie in den Horizont meines Lebens einzubinden verstehe, wie ich ihre Wirkungsmacht erfahre. Daher kann Vergangenheit nicht zum reinen Gegenstand, zum Erkenntnis-»Objekt« werden und das Wissen um die Vergangenheit nicht zur »objektiven« Wissenschaft.

10 Aus dieser Perspektive verliert die Frage, ob unser Wissen um die Vergangenheit »wahr« oder »falsch« ist, ihre Dramatik. Das bedeutet nicht, dass sie nicht mehr wichtig wäre, sie ist aber bestimmt nicht mehr die wichtigste. Wenn »Wahrheit« ein Charakteristikum von Erkenntnis ist und »Objektivität« verlangt, also die Herauslösung aus einem Kontext von Wechselwirkungen zwischen dem Lauf der Dinge und dem menschlichen Handeln, wenn sie also eine kalte, folgenlose Erkenntnis ist, muss die Frage, ob etwas »wahr« ist oder nicht, ergänzt werden um eine zusätzliche Abwägung der Folgen, um eine Einschätzung der Bedeutung, die objektives Wissen nicht leisten kann. Oder anders ausgedrückt: Die Frage, ob »Wahrheit« im oben dargelegten Sinne für uns von Bedeutung ist oder nicht, wird anderswo entschieden, darüber befindet nicht die »objektive Erkenntnis«. Das bedeutet natürlich nicht, dass der Begriff »objektive Wahrheit« völlig unbrauchbar wäre oder derartige »Wahrheit« unter bestimmten Bedingungen nicht von großer Bedeutung sein könnte. Es 46 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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bedeutet lediglich, dass wenn mein eigenes Leben Voraussetzung der Wahrheitssuche, Voraussetzung der objektiven Erkenntnis ist, erst dieses Leben, erst die Einschätzung in Bezug auf dieses Leben die Wichtigkeit und damit die Bedeutung der Erkenntnis ans Licht bringen kann. Die Wissenschaft, insbesondere die um Objektivität bemühte Geschichtswissenschaft, »bedarf […] einer höheren Aufsicht und Ueberwachung; eine Gesundheitslehre des Lebens stellt sich dicht neben die Wissenschaft«. 17 Erst die ins Leben eingeschriebene »objektive Wahrheit« erhält eine Bedeutung. Erst als solche wird sie zu einer Wahrheit, über die man sich freuen, oder für die man sterben kann. Aus diesem Kontext gerissen, wird die Wahrheit gleichgültig, sie zeitigt keine Folgen. Der Mensch, dem diese Operation gelungen ist, büßt in der Konsequenz das eigene Menschsein ein. Nietzsche schreibt: »Es giebt sehr viele gleichgültige Wahrheiten; es giebt Probleme, über die richtig zu urtheilen nicht einmal Ueberwindung, geschweige denn Aufopferung kostet. In diesem gleichgültigen und ungefährlichen Bereiche gelingt es einem Menschen wohl, zu einem kalten Dämon der Erkenntniss zu werden«. 18

Mit anderen Worten: Wenn Vergangenheit wie Gegenwart und Zukunft kein endloser Weg ist, den der Mensch einmal betreten hat und dereinst verlassen wird, wenn sich die Vergangenheit im Handeln jedes Menschen immer wieder neu erschließt, kurz, wenn Vergangenheit (Zeit) und menschliches Leben nicht voneinander zu trennen sind, ist »objektives« Wissen über die Vergangenheit ein quadratischer Kreis. Oder genauer: Objektives Wissen über die Vergangenheit ist abstraktes, aus dem Kontext des Lebens gerissenes Wissen, sekundäres Wissen (was nicht bedeutet, dass es unter bestimmten Bedingungen nicht brauchbar wäre). »Leben« und »Zeit« sind nicht voneinander unabhängig, ihre Beziehung als Gegensatz von »Subjekt« und »Objekt«, von »Subjektivität« und »Objektivität« aufzufassen, wäre ein Trugschluss. So fragt Nietzsche: »Denn welches ist doch der Gegensatz zwischen dem Thun und Treiben der Menschen und dem Gange der Dinge?« 19

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II · Die Zeit fließt, das Kind spielt

11 Die oben dargelegte Überzeugung teilt Nietzsche mit (von ihm selbst und im Bezug aufeinander) so verschiedenen Autoren wie Marx oder Husserl. Auch Marx war der Auffassung, »objektive Wahrheit« erhalte ihre Bedeutung erst im Kontext menschlichen Lebens (ständige kollektive Umwandlung der vorgefundenen Welt). Auf der Suche nach dieser Bedeutung müssen wir uns also anderer Werkzeuge bedienen als die um Objektivität bemühte Wissenschaft. Husserl, der Autor der Cartesianischen Meditationen und der Krisis, war ebenfalls überzeugt, dass zum Verständnis der (für die moderne Wissenschaft konstitutiven) Forderung nach objektiver Wahrheit ein Vordringen zu den dahinter liegenden Motivationen erforderlich sei, eine genealogische Analyse, die sich nicht durch die Wissenschaft, insbesondere nicht durch die Geschichtswissenschaft ersetzen lasse. Im Unterschied zu Marx und Husserl war Nietzsche jedoch der Ansicht, das Verständnis werde im Leben erreicht, in dem Leben, das immer »meines« ist. Damit ist die Suche einer Perspektive außerhalb dieses Lebens von vornherein zum Scheitern verurteilt. Es gibt kein »Subjekt«, kein »Bewusstsein«, deren Sinn nicht in meinem Leben entstünde, immer wieder von Neuem. Weder das im Klassenbewusstsein des Proletariats verkörperte universelle Bewusstsein der Gattung Mensch (wie Marx es wollte), noch das reine, transzendentale Bewusstsein, das die phänomenologische Analyse in unseren vielfältigen Verstehensakten sucht (wie Husserl es wollte), ist solch ein Subjekt. Das Bewusstsein ist eine Funktion meines Lebens, von ihm losgelöst ist es sinnlos. Es ist also kein Bewusstsein möglich, dessen Identität unabhängig von jemandes konkretem Leben wäre. In meinem Tun und Lassen entscheidet sich definitiv, wer ich bin und was die Welt ist, entscheidet sich der Sinn der Vergangenheit und des Strebens nach ihrer Wahrheit. Das Leben ist, so Nietzsche, eine »dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrende Macht.« 20 »Dunkel«, weil das Leben Voraussetzung alles Wissens ist und nie ganz dessen Gegenstand sein kann. Eine »treibende Macht«, da das Leben keine statische Struktur, kein System ist, in Relation zu dem man etwas verstehen könnte. Das Leben lässt sich nur lebend verstehen, nur in meinem Tun und Lassen, das Leben ist wirklich (deshalb ist es nie fertig, nie endgültig bestimmt). »Unersättlich sich selbst begehrend«, da das Leben sich nicht »von außen« verstehen lässt, da jede »Außen«-Perspektive, jede 48 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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transzendente Ordnung in Bezug auf das Leben Illusion ist. Das Leben strebt nicht nach etwas, seine Dynamik ist nicht der Versuch, etwas nicht Vorhandenes zu erreichen, das Leben erfüllt sich nicht mit dem Erreichen irgendeiner Zielmarke. Anders ausgedrückt: Das Leben definiert die Grenzen des Verstehbaren. Um etwas verstehen zu können, müssen wir es in den Kreis unseres Lebens integrieren, es uns einverleiben, uns aneignen. Oder mit Nietzsche gesprochen: Es ist eine Frage der Wirkungsmacht, der Kraft, nicht nur des Arguments. Mein Handeln, meine Kraft und die Intensität meines Lebens erschließen erst den Raum für Argumente, sie sind das Element, in dem Argumente erst wichtig und überzeugend werden können. Wenn das so ist, trügt die Hoffnung (die Marx wie Husserl wohl gehegt haben), dass ein Heraustreten aus dem Horizont des eigenen Lebens, die Aneignung und Integration von bislang Fremdem letztlich eine begriffliche Assimilation, ein Akt des Verstandes ist. Der universale Verstand, dessen Existenz zu dieser Hoffnung berechtigen würde, ist für Nietzsche eine Fiktion. Die Wahrheitsforderung schafft keinen gemeinsamen Raum, in dem ein Verstehen von Andersartigem möglich wäre. Nicht mein Verstehen, nicht das Finden eines gemeinsamen Nenners ermöglicht mir die Aneignung von etwas, das ein anderes, fremdes Leben in sich trägt. Vielmehr wird erst durch die Aneignung des Fremden ein Verstehen möglich. Aneignung ist also vor allem eine Frage von Dominanz oder Unterordnung. Dominanz oder Unterordnung bedingen und beschränken damit das Verstehen von bislang Fremdem. In der Konfrontation von bereits Vertrautem mit Neuem und Fremdem (einem fremden Menschen, einem archaischen Brauch, einer plötzlichen Empfindung), deren Ergebnis der Horizont ist, der unsere Verstehensmöglichkeiten absteckt und innerhalb dessen sich unser aller Leben abspielt – in dieser Konfrontation stehen nicht nur Begriffe auf dem Spiel, sondern das Leben.

12 Führen die oben dargelegten Argumente Nietzsches, indem sie die Universalität der Forderung nach objektiver Wahrheit relativieren, am Ende nicht zu einer Apotheose der Kraft und des faktischen Erfolgs? Nein, keineswegs, meint Nietzsche:

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»Wer aber erst gelernt hat, vor der ›Macht der Geschichte‹ den Rücken zu krümmen und den Kopf zu beugen, der nickt zuletzt chinesenhaft-mechanisch sein ›Ja‹ zu jeder Macht, sei dies nun eine Regierung oder eine öffentliche Meinung oder eine Zahlen-Majorität […]. So seid ihr die Advocaten des Teufels und zwar dadurch, dass ihr den Erfolg, das Factum zu eurem Götzen macht: während das Factum immer dumm ist und zu allen Zeiten einem Kalbe ähnlicher gesehen hat als einem Gotte.« 21

Das »Faktum« ist ein abstrakter Begriff. »Faktizität«, »Vergangenheit«, »was geschehen ist« sind doch nur aus der Perspektive meines Lebens betrachtet, was sie sind, das Leben entscheidet endgültig über ihre Bedeutung. Und das immer wieder aufs Neue. Schließlich ist das Leben notwendigerweise zur Zukunft hin geöffnet, es wird eher, als dass es ist, und so ist auch seine andere Dimension, die Faktizität, die Vergangenheit, niemals abgeschlossen, fertig, beendet. Wenn das so ist, kann Geschichte kein natürlicher Prozess sein, dessen Zwangsläufigkeit sich ein für alle Mal feststellen ließe. Jedes Leben ist die Chance eines neuen Anfangs, jedes Leben kann die Geschichte von Neuem beginnen lassen. Es kann ihr eine neue Bedeutung verleihen, ihre inneren Regeln und die Kriterien, nach denen der in der Geschichte erzielte Erfolg bemessen wird, neu definieren. Wenn das menschliche Leben die Zeit erschafft, wenn sich erst hier Vergangenheit und Zukunft scheiden, kann Geschichte kein vom menschlichen Leben unabhängiger »objektiver« Prozess sein, dessen ehernen Gesetzen der Mensch sich beugen muss und bei dem von vornherein klar ist, was »gewinnen« und was »verlieren« bedeutet. Faktum und Vergangenheit sind mir nicht gleichgültig, ob ich mir dessen bewusst bin oder nicht. Sie erscheinen nur am Horizont dessen, was mir wichtig ist, nur in der Perspektive dessen, was nötig ist. Mehr noch, was wichtig und nötig ist, lässt sich nicht vorab und nicht endgültig sagen. Wenn nur mein Leben die Frage beantworten kann, wer ich bin, wenn sich erst hier, in meinem Leben, entscheidet, was es bedeutet, Pole, Europäer, Mensch zu sein, wenn es kein Subjekt gibt, dessen Bedeutung unabhängig von meinem Leben bestimmt werden kann, dann ist es natürlich unsinnig, von universalen »Bedürfnissen« der Gattung Mensch zu sprechen oder davon, was für den Menschen insgesamt wichtig oder unwichtig ist. Leben heißt Prioritäten setzen, entscheiden, was wichtig ist und was nicht, immer wieder von Neuem, immer von Anfang an. Die »Fakten« sind nur in dieser Perspektive, wie sie sind, jedes »Faktum« hat also für mich ein »Gewicht«, ist eine Last, ein Gespenst oder eine Kette, jedes betrifft 50 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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mich irgendwie, auch wenn ich nie endgültig wissen werde, wie und warum. Wenn das so ist, ist es dann nicht eine Dummheit, Faktum und Erfolg zu vergöttern? Und lässt sich schließlich eine idiotischere Perspektive denken als den Relativismus? Dieser geht ja nicht davon aus, dass objektive Erkenntnis das Leben begründet, sondern vom Gegenteil. Das in der Neuzeit dominierende Ideal der Objektivität führt, so Nietzsche, zu einem lebensgefährlichen Relativismus, da die Perspektive des objektiven, universalen Verstandes den Unterschied zwischen dem, was wichtig für mein Leben ist und dem, was möglicherweise für einen anderen wichtig sein könnte, nivelliert. »[I]n allen Zeiten war es anders«, lautet nach Nietzsche die Botschaft des wissenschaftlichen Objektivismus, »es kommt nicht darauf an, wie du bist.« 22 Die Kraft, mit der jemandes Leben sich etwas ihm Fremdes zu eigen machen kann und die Dominanz, die erst den Raum für Argumente öffnet, ist also nicht blind, faktisch, naturgegeben. Sie hat immer schon eine Bedeutung für mich, einen Sinn. Es ist die Kraft meines Lebens, also ist es unsinnig, sie isoliert von diesem Leben zu behandeln. Es ist eine Kraft, die sich nicht von außen messen lässt wie die Körperkraft eines Menschen oder eines Tieres. Und weil mein Leben seinem Wesen nach immer zur Zukunft hin geöffnet ist, weil mein Leben, wie wir gesehen haben, ein immer neues und immer neuartiges Aufreißen von Vergangenheit und Zukunft ist, kann die Bedeutung meiner Lebenskraft ihrem Wesen nach jederzeit auch radikalen Veränderungen unterliegen. Deshalb ist auch jedes neue Leben die Chance eines neuen Anfangs, einer neuen Antwort auf die Frage, wer wir sind und was die Welt ist, in der wie leben.

13 Fassen wir zusammen: Die weidenden Kühe, das spielende Kind und der eifersüchtig und gerührt sie betrachtende Mensch sollen uns (das ist, denke ich, Nietzsches Anliegen in der zweiten unzeitgemäßen Betrachtung) das menschliche Leben vor Augen führen: konzentriert im erlebten Moment und dabei, nein, eben deshalb die Vergangenheit von der Zukunft fortreißend. Das Leben, das sich zwischen »gestern« und »morgen« erstreckt und daher beladen ist mit Erinnerung und Schuld und gleichzeitig unschuldig und ohne Erinnerung, das Leben,

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II · Die Zeit fließt, das Kind spielt

das jeden Moment neu aus der Zeit entsteht, die Verbindung von Zeit und Ewigkeit, die Krankheit des Lebens. Eine so verstandene conditio humana hat weitreichende Konsequenzen. Wenn die »Vergangenheit« eine Dimension menschlichen Lebens ist, kann sie nicht allein ein »Objekt« sein, das aus dem Kontext »subjektiver« Wirrungen des Lebens gerissen werden müsste, um erfasst werden zu können. Eine solche »Objektivierung« hätte, so Nietzsche, im Gegenteil zur Folge, dass wir uns der einzigen Möglichkeit berauben, das Geschehene zu verstehen. Vergangenheit kann in dem Maße verstanden werden, wie sie auf das jetzige Geschehen wirkt, auf mein (gerade erlebtes) Leben. Und das gilt nicht allein für die Vergangenheit. Objektive Wahrheit wird nach Auffassung Nietzsches überhaupt erst verständlich, wenn sie in jemandes Leben integriert ist, erst als jemandes Wahrheit, erst, wenn jemand die Verantwortung für sie übernimmt. Jedoch existiert keine Instanz, die mir diese Verantwortung abnehmen könnte. »Transzendentales Bewusstsein«, »Wesen des Menschseins« und ähnliche Ideen sind für Nietzsche gefährliche Illusionen. Ich kann mich an keine derartigen Instanzen wenden, wenn ich etwas Fremdes, von mir Verschiedenes, Neues verstehen möchte. Ich bin allein auf die Fähigkeit meines Lebens angewiesen, sich etwas anzueignen – auf seine Kraft. Es gibt Unterschiede, so ließe sich der Gedanke Nietzsches auch formulieren, die sich nicht mit gegenseitigem Verständnis überwinden lassen, Unterschiede, deren Überwindung Dominanz oder Unterordnung bedeutet. Wenn das so ist, bergen die Begriffe und Bilder, die mein Denken und meine Weltsicht organisieren, Kampfstrategien, vielfältige Konfrontationstaktiken und Pläne zum Einsatz meiner Kraft. Also muss ich vorsichtig mit ihnen umgehen, ihnen mit Misstrauen begegnen, sie bedeuten nicht immer das, was sie zu bedeuten vorgeben. Meine Lebenskraft ist aber andererseits nicht blind, als »meine« bedeutet sie immer schon etwas für mich, hat sie immer schon eine Bedeutung, auch wenn sich diese, aus demselben Grund, nicht ein für alle Mal ausmachen lässt. Jeder Augenblick meines Lebens ist, indem er neue Bedeutungs- und Relevanzoptionen eröffnet, eine Chance für eine neue Lösung, eine neue Antwort auf die Frage, was die Kraft meines Lebens ist und welche Folgen sie zeitigt.

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III Gut und Böse, Freude und Schmerz 1 Auch wenn wir viel wissen, über uns selbst wissen wir am allerwenigsten, behauptet Nietzsche in den ersten Sätzen seiner Genealogie der Moral. 1 Im Grunde wissen wir überhaupt nicht, wer wir eigentlich sind. Descartes war da bekanntermaßen anderer Ansicht – das Einzige, was wir mit Bestimmtheit wüssten, sei eben, wer wird sind. Wir könnten irren in unserer Einschätzung des Restes der Welt (wenn wir beispielsweise im Dunkeln einen Busch für einen uns entgegenkommenden Menschen halten, wenn wir falsch addieren oder jemandes Motive nicht richtig beurteilen), wir könnten aber, so Descartes und nach ihm noch viele andere, nicht irren in Bezug auf das, was uns selbst anbelangt oder zumindest auf das, was uns eigentlich ausmacht, unsere Gedanken, Gelüste und Begierden. In diesem Fall wüssten wir, wie es wirklich ist. Und wenn wir auch häufig, bald willentlich, bald ungewollt, andere in die Irre führten, so doch nie uns selbst. Wie naiv! – kommentiert Nietzsche diese Einschätzung. Die Menschen irren auch in Bezug auf sich selbst und das nicht nur von Zeit zu Zeit, nicht zufällig, sondern in aller Regel. Wir selbst sind (wie auch die Welt, in der wir leben) in der Regel anders, als wir zu sein glauben. Besonders häufig irren wir uns über unsere Motive und die Bedeutung unseres Tuns. Descartes’ Überzeugung, wir wüssten über uns selbst mehr und Genaueres als über den Rest der Welt, basiert nach Nietzsche auf einer ganzen Reihe von Irrtümern. Irrig sei vor allem bereits die Vorstellung von einem »Subjekt«, einem Bewusstsein, das ist, was es ist, unabhängig davon, was sich außerhalb abspielt (unabhängig beispielsweise davon, dass mir der Fuß kribbelt oder dass es regnet) und infolgedessen Gegenstand des Wissens sein kann, unabhängig von den Schattenseiten und Unsicherheiten, die mit dem Eingebundensein in die Welt einhergehen. Denn in Wirklichkeit sind wir, wer wir 53 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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sind, so Nietzsche, in Abhängigkeit davon, was wir tun. Die Identität jedes Einzelnen ist das ständig sich verändernde Ergebnis unserer bewussten, aber auch unserer verborgenen Gelüste und Bestrebungen, der Winde, der Gewohnheiten, des erfolgreichen (oder erfolglosen) Verdauungsprozesses, unseres Verliebtseins, unserer Begierden und unseres Schnupfens – unseres Eingebundensein in die Welt. Wir sind, was das von uns gelebte Leben aus uns macht. Das Bewusstsein, so Nietzsche, ist nur eine Funktion des Lebens, ein Werkzeug, dessen sich das Leben manchmal (nicht immer) bedient. Daher ist die Vorstellung, wir könnten unsere Gedanken, Gelüste und Begierden unabhängig von unserem Leben kennen, mit dem sie alle unauflöslich verknüpft sind, unsinnig. »In Hinsicht auf das Ungeheure und Vielfache des Für- und Gegeneinanderarbeitens, wie es das Gesammtleben jedes Organism darstellt, ist dessen bewußte Welt von Gefühlen, Absichten, Werthschätzungen ein kleiner Ausschnitt. […] Der Grundfehler steckt immer darin, daß wir die Bewusstheit, statt sie als Werkzeug und Einzelheit im Gesammt-Leben, als Maaßstab, als höchsten Werthzustand des Lebens ansetzen«. 2

Das Bewusstsein ist nur ein unselbständiger Teil meines Gesamtlebens und kein stets gleichbleibendes, meine Identität bestimmendes Subjekt, nicht die Grundlage, auf der alle Ereignisse eintreten, die mit mir zu tun haben. Damit ist das »Subjekt« im Sinne eines Bewusstseins, das sich unabhängig vom Leben begreifen ließe, das dessen Teil und Werkzeug ist, ein Irrtum. Im Übrigen lässt sich nicht nur das Bewusstsein nicht losgelöst vom gelebten Leben begreifen, die Identität eines jeden Dinges entsteht nach Nietzsche erst im Laufe dessen, was mit ihm geschieht. Die Überzeugung, dass (zumindest gewisse) Dinge sind, was sie sind, und nicht erst dazu werden, ist ein weiterer Irrtum, der der cartesianischen These zugrunde liegt, ein vielleicht sogar noch grundlegenderer als der vorherige. Nichts ist, was es ist, unabhängig davon, was im Leben mit ihm geschieht. Nichts ist also ein für alle Mal, was es ist. Dabei geht es Nietzsche nicht allein darum, dass Holz morsch wird und Menschen sterben. Nicht nur die Identität der Dinge, sondern auch die der ihnen eine Bedeutung verleihenden Begriffe entstehen seiner Ansicht nach erst im Laufe des Lebens, das wir leben. Mit anderen Worten: Das Leben ist ein Prozess nicht nur des stetigen Wandels der Dinge, sondern auch des stetigen Wandels ihrer Bedeutungen. Ein Auseinanderbrechen kann sich als Wachstum entpuppen, 54 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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der Tod als Neubeginn, je nachdem, auf welches Bedeutungssystem wir das Geschehene beziehen. Und auch dieser Bezugsrahmen ist einem stetigen Wandel unterworfen, nicht nur das, was sich darin abspielt. Oder noch anders formuliert: Geschichte (das Leben, das wir leben) ist Wandel nicht nur in dem Sinne, dass eine Phase auf die andere folgt, Erwachsensein auf Jugend und, wenn wir Glück haben, anschließend noch das Alter. Auch nicht nur in dem Sinne, dass ich selbst mich im Laufe der Geschichte als ihr Subjekt ändere, wenn ich klüger und kahler werde. Auch der Sinn der von mir erlebten Geschichte wandelt sich, auch die Fragen: »Was geschieht eigentlich?« und »Was ist das eigentlich für eine Geschichte?« werden nie endgültig beantwortet. Wenn wir also den Sinn einer Sache verstehen wollen (etwa eines sittlichen Gebots oder des Verhaltens von jemand), genügt es Nietzsche zufolge nicht, sich auf den Ursprung dieser Sache zu berufen, ihre Ursache und ihren Zweck. Denn Ursprung, Ursache und Zweck können einem Wandel unterliegen. Der Ursprung eines sittlichen Gebots kann aufhören, wesentlich für dieses Gebot zu sein, seine ursprüngliche Ursache kann für die heutigen Folgen völlig bedeutungslos sein, sein einstiger Zweck grundsätzlich verschieden von seinem jetzigen. »[Es] giebt für alle Art Historie gar keinen wichtigeren Satz als jenen, […] dass etwas Vorhandenes, irgendwie Zu-Stande-Gekommenes immer wieder von einer ihm überlegenen Macht auf neue Absichten ausgelegt […] wird; […] und die ganze Geschichte eines ›Dings‹, eines Organs, eines Brauchs kann dergestalt eine fortgesetzte Zeichen-Kette von immer neuen Interpretationen und Zurechtmachungen sein, deren Ursachen selbst unter sich nicht im Zusammenhange zu sein brauchen, vielmehr unter Umständen sich bloss zufällig hinter einander folgen und ablösen. […] Die Form ist flüssig, der ›Sinn‹ ist es aber noch mehr …« 3

Halten wir fest, dass, wenn obiges Argument stichhaltig ist, nicht nur die Unterscheidung in wandelbare Dinge (wie das Wetter) und nicht wandelbare Dinge (wie das Dreieck) unzulässig ist. Unzulässig ist auch die Auffassung des Gesamtlebens oder der Geschichte als Realisierung eines anderwärtig verständlichen Ideals, als Streben (und sei es unvollendet) nach einem anderwärtig bekannten Ziel etc. Mit anderen Worten: Was uns geschieht (die Geschichte), hat kein Subjekt; nichts (kein Ideal, kein Ziel, keine Ursache und kein Zweck) steht außerhalb der Geschichte (streng genommen ergibt die Fügung 55 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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»außerhalb der Geschichte« keinerlei Sinn), jegliche Identität entsteht erst im Laufe der Geschichte, nie kann sie unabhängig von ihr sein. Somit ist es naiv (mit Descartes und seinen Nachfolgern) zu glauben, dass unser Bewusstsein das vor ihm ablaufende Leben von außen betrachtet und die Schattenseiten und Risiken des Lebens es daher im Grunde nichts angehen. Wie ein Regenbogen integraler Bestandteil einer Landschaft ist, ist das Bewusstsein ein unveräußerliches Element des Lebens, das nicht losgelöst von ihm verstanden werden kann. Naiv ist es auch zu meinen, dass irgendein Sinn sich losgelöst vom Leben verstehen ließe, das doch seinen Kontext darstellt, jeglicher Sinn entsteht erst in seinem Verlauf. Naiv ist es, anders ausgedrückt, an ein Bezugssystem zu glauben, das von unserem gelebten Leben unabhängig wäre und das den Dingen und ihren Beziehungen zueinander, den Menschen und ihren Gewohnheiten, einen endgültigen Sinn verleihen könnte. Der Gedanke, dass wir uns selbst besser kennen als den Aufbau eines Atoms oder die Motive unserer Widersacher, ist unsinnig, mehr noch, es ist unsinnig zu denken, dass wir uns selbst, den Aufbau eines Atoms oder die Motive unserer Freunde, ja, überhaupt irgendetwas ein für alle Mal verstehen könnten. Die Naivität Descartes’ reicht Nietzsche zufolge noch weiter. Naiv ist nicht allein der (irrige) Glaube, wir könnten uns besser verstehen als den Rest der Welt und das sogar, zumindest im Prinzip, restlos. Naiv ist schon die Überzeugung, dass wir uns überhaupt verstehen wollen, dass wir tatsächlich wissen wollen, wer wir eigentlich sind. Wir täuschen uns, wenn wir glauben, dass dem Verhältnis zu uns selbst der Wille zur Wahrheit zugrunde liegt. Das ist mitnichten der Fall. Unsere Unwissenheit über uns selbst ist, so Nietzsche, keine bloße Ignoranz (die sich beseitigen lässt oder auch nicht) wie die Ignoranz des Babys, das den Geschmack von Heringssalat noch nicht zu schätzen weiß. Wir kennen uns nicht, weil wir uns selbst in die Irre führen. Die Vorstellung eines selbständig die Welt betrachtenden Subjekts, die Vorstellung einer von ihrem Entstehungsprozess unabhängigen Identität und schließlich grenzenloses Selbstvertrauen sind die drei Irrtümer, die Nietzsche am Grunde der seit Descartes verbreiteten Auffassung freilegt, wir wüssten, wer wir eigentlich sind.

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2 Weshalb betrügen wir uns denn selbst? Wie ist das überhaupt möglich? »›Wille zur Wahrheit‹ [bedeutet] nicht ›ich will mich nicht täuschen lassen‹, sondern […] ›ich will nicht täuschen, auch mich selbst nicht‹ : – und hiermit sind wir auf dem Boden der Moral. Denn man frage sich nur gründlich: ›warum willst du nicht täuschen?‹ namentlich wenn es den Anschein haben sollte, – und es hat den Anschein! – als wenn das Leben auf Anschein, ich meine auf Irrthum, Betrug, Verstellung, Blendung, Selbstverblendung angelegt wäre […]. Es könnte ein solcher Vorsatz [Wille zur Wahrheit – KM] vielleicht, mild ausgelegt, eine Don-Quixoterie, ein kleiner schwärmerischer Aberwitz sein; er könnte aber auch noch etwas Schlimmeres sein, nämlich ein lebensfeindliches zerstörerisches Princip … […] Frage […]: wozu überhaupt Moral, wenn Leben, Natur, Geschichte ›unmoralisch‹ sind? Es ist kein Zweifel, der [voraussetzungslos – KM] Wahrhaftige […] bejaht damit eine andre Welt als die des Lebens, der Natur und der Geschichte; und insofern er diese ›andre Welt‹ bejaht, wie? muss er nicht eben damit ihr Gegenstück, diese Welt, unsre Welt – verneinen? …« 4

Die verborgene Voraussetzung des Willens zur Wahrheit, die Voraussetzung jeglichen Wahrheitsanspruchs ist Nietzsche zufolge also die Moral, ein Komplex aus Regeln und Kriterien, die dem Leben, das wir leben, fremd sind, die es verneinen. Damit hat in Nietzsches Augen jegliches Wissen einen (mehr oder weniger deutlich ausgeprägten) moralischen Charakter: »Es giebt gar keine andern als moralische Erlebnisse, selbst nicht im Bereiche der Sinneswahrnehmung« 5, schreibt er. Die Aufgabe, die Nietzsche sich stellt, besteht in der Sichtbarmachung dieser Voraussetzung; der Weg, auf dem er dies zu bewerkstelligen beabsichtigt, soll die Genealogie der Moral sein. Es ist die Geschichte eines – unseres – Selbstbetrugs, die Geschichte der Entstehung und der allgemeinen Akzeptanz von Verheimlichungsmechanismen, der Institutionalisierung des Scheins, eine Geschichte des Werdens und Wachsens gesellschaftlicher Lügeninstrumente, eine Geschichte, ohne die, so Nietzsche, die europäische Kultur, wie wir sie kennen, unverständlich bleiben muss, wie schließlich auch die darin sich äußernde conditio humana. Gewiss handelt es sich nicht um Geschichte im herkömmlichen Sinn. Diese Genealogie kann nicht einfach die Illustration einer anderwärtig bekannten These sein, nicht nur eine Erzählung darüber, wie die Menschen zu diesem oder jenem anderwärtig verständlichen 57 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Ergebnis gekommen sind. Das Ergebnis ist ohne die Genealogie unverständlich. Wenn nicht nur die Identität der Dinge, sondern auch die Identität der sie interpretierenden Begriffe erst im Laufe unseres Lebens entsteht, ist der einzig mögliche Weg zu ihrem Verständnis, Dinge und Begriffe in den Kontext ihrer Abstammungsgeschichte zu stellen, sie auf die Art und Weise zu beziehen, wie sie im Leben entstehen und wachsen, eben ihre Genealogie. Die Mechanismen, die den modernen Menschen zum Selbstbetrug führen, die Mechanismen der Lüge, funktionieren nach Nietzsche innerhalb eines gewissen Systems. Dieses System ist um die Unterscheidung von gut und böse organisiert. Wir kennen es gemeinhin unter der Bezeichnung Moral. Wie jeder andere Sinn ist auch die Unterscheidung zwischen gut und böse, so Nietzsche, nicht einfach gegeben, sie wird nicht einfach von jedem neugeborenen Kind auf der Welt vorgefunden. Wir können sie also nicht verstehen und begründen, indem wir uns auf ein unwandelbares Bezugssystem berufen, auf außerhistorische Quellen (Gott beispielsweise), auf Zwecke, die der Menschheitsgeschichte einen Sinn verleihen (beispielsweise Nützlichkeit), oder auf Ursachen, welche die Geschichte in Gang setzen (beispielsweise die verkommene oder edle Natur des Menschen). Um diesen Unterschied verstehen zu können, müssen wir herausfinden, wie er entsteht. Nietzsche zufolge entsteht er im Verhältnis der Menschen zueinander. Das Problem, vor dem wir stehen, sollte also als Frage formuliert werden: Wie sieht die gesellschaftliche Genese der Unterscheidung zwischen gut und böse aus? Die Geschichte der Entstehung von Moral, die Genealogie der Moral, ist nach Nietzsches Auffassung in keinem Fall die Geschichte des Verhältnisses Mensch-Gott oder Mensch-Natur, es ist die Geschichte des Verhältnisses der Menschen untereinander. Stellen wir uns einmal, wie Nietzsche vorschlägt, eine Welt ohne Unterschied zwischen gut und böse vor, eine Welt, in der die Menschen sich nicht in gute und böse einteilen lassen, sondern in gute und schlechte. Diese zweite Unterscheidung hat wenig mit der ersten gemein. »[D]as Urtheil ›gut‹ [als Gegensatz zu schlecht – KM] rührt nicht von Denen her, welchen ›Güte‹ erwiesen wird! Vielmehr sind es ›die Guten‹ selber gewesen […], welche sich selbst und ihr Thun als gut, nämlich als ersten Ranges empfanden und ansetzten, im Gegensatz zu allem Niedrigen, Nied-

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rig-Gesinnten, Gemeinen und Pöbelhaften. […] [Eine solche] Werthungsweise […] agirt und wächst spontan, […] ihr negativer Begriff ›niedrig‹ ›gemein‹ ›schlecht‹ ist nur ein nachgebornes blasses Contrastbild im Verhältnis zu ihrem positiven, durch und durch mit Leben und Leidenschaft durchtränkten Grundbegriff ›wir Vornehmen, wir Guten, wir Schönen, wir Glücklichen!‹« 6

Ausgangspunkt der Bestimmung von gut (als Gegensatz zu schlecht, nicht zu böse) ist also, so argumentiert Nietzsche, die spontane Akzeptanz des Ichs, die Selbstbejahung, das uneingeschränkte Einverständnis mit dem eigenen Sein. Wer nicht ist wie ich, ist aus dieser Perspektive schlecht. Wenn ich einverstanden bin mit meinem Sein, nicht, weil ich keine andere Wahl hätte, weil ich es als Notwendigkeit akzeptierte, nicht im Vergleich mit anderen oder im Ergebnis einer Plus-Minus-Rechnung, sondern spontan und unmittelbar, dann mache ich mein Leben zum Maßstab, dem die anderen genügen können oder eben nicht. Können sie es nicht, sind sie nicht wie ich, sie sind schlecht. Gut ist in dieser Bedeutung, wie gesehen, eine Bestimmung, die sich nicht auf die anderen bezieht, sondern auf mich, eine positive Bestimmung, keine negative. Wer also in diesem Sinne gut ist, ist notwendigerweise auch aktiv und nicht passiv. Er selbst legt ja den von ihm akzeptierten Maßstab des Gutseins fest und ist nicht davon abhängig, dass ein anderer dies tut. Schließlich findet der Gute Freude und Glück in seinem Tun, nicht in dessen Konsequenzen, nicht, weil sein Handeln ihm Geld, Ruhm oder die Wertschätzung der anderen einbrächte. Nein, die anderen spielen hier nur eine untergeordnete Rolle, die Freude liegt darin, dass ich ganz einfach agiere (wenn ich gut bin). Ich bin gut, wenn ich glücklich bin mit dem Leben, das ich lebe, ungeachtet aller Konsequenzen. Für den (in diesem Sinne) guten Menschen sind Glück und Handeln nicht voneinander zu trennen. Die Unterscheidung zwischen gut und böse ergibt sich nach Nietzsche dagegen aus der Umkehrung der obigen Perspektive. Dem so entstandenen neuen Standpunkt liegt nicht mehr die uneingeschränkte und spontane Akzeptanz des eigenen Lebens zugrunde, sondern die Ablehnung, die Negation der restlichen Welt, vor allem die Negation der anderen Menschen. Von diesem Standpunkt aus bin ich gut, weil ich nicht böse bin wie die anderen, im Verhältnis zu denen ich mich negativ bestimme (als »einziger Gerechter« unter Betrügern und Verrätern, als »Hort der Moral« in einer durch und durch verderbten Welt etc.). Mein Gutsein ist also das Produkt einer (negativen) Bezugnahme auf die anderen, ein indirektes Ergebnis der 59 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Negation von etwas, das ich nicht bin, eine Frucht des dialektischen Prozesses zwischen mir und den anderen und nicht mehr wie im oben geschilderten Fall das Ergebnis einer spontanen Selbstbejahung. Mein Gutsein ist negativ bestimmt, nicht positiv. Jemanden als gut anzusehen, ist von diesem Standpunkt aus eine Reaktion auf das Böse der anderen, nicht das spontane Setzen des eigenen Maßstabs. Gutsein in diesem Sinne ist passivisch, anders als das Gutsein in der vorher dargelegten Bedeutung. Und schließlich ist hier von Freude über das eigene Tun keine Spur mehr, in der neuen, umgekehrten Perspektive verschwindet das vormals mit dem Handeln untrennbar verbundene Glück. Glück und Handeln, Freude und Leben scheiden sich hier, das Leben macht Freude (wenn es Lohn statt Strafe bringt: Gesundheit, Geld, Glück, fremdes Unglück) oder auch nicht, das Handeln führt zum Glück oder auch nicht, aber Glück ist nicht mehr dasselbe wie Handeln, Freude nicht mehr dasselbe wie Leben. Das heißt natürlich, dass diese Wörter – »Glück«, »Freude« – jetzt, vom neuen Standpunkt aus betrachtet, ihre Bedeutung vollkommen verändern. Ein Leben ohne Glück und Freude wird zur Last, zur Kette, zur Bürde, zum Los, während Glück jetzt als »Narcose, Betäubung, Ruhe, Frieden, ›Sabbat‹, Gemüths-Ausspannung und Gliederstrecken« 7 auftritt. Wir haben es hier, so könnte man sagen, mit zwei Lebensstrategien zu tun: einerseits mit der Strategie des Kalküls, für die Glück und Freude Ergebnisse sind, der Lohn für eine erfolgreich ausgeführte (moralische) Rechenoperation, und andererseits der Strategie, die keine Berechnung anstellt, für die jegliches Kalkül bedeutungslos ist, da Glück und Zufriedenheit die Fülle, das Übermaß, das Überfließen des Lebens selbst sind. Wie kommt es nun zu dieser Umkehrung der Perspektiven? Für Nietzsche ist sie das Ergebnis des Sklavenaufstands. Die Sklaven sind jene Schlechten, denen es nicht gelingt, den anderen und der Welt ihren Maßstab der Dinge aufzuzwingen, denen es nicht gelingt, die Welt nach ihrem Willen zu verändern, kurz, denen es nicht gelingt, gut zu sein. Daher versuchen sie, die Schlechten, auf anderem Wege gut zu werden – sie versuchen, die Spielregeln zu ändern. Da sie im bisherigen Spiel stets verlieren, versuchen sie es durch ein anderes zu ersetzen, und zwar durch eines, das ihnen die Möglichkeit zu siegen gibt, ja, das für sie die Möglichkeit der Niederlage ausschließt. Mit anderen Worten: Sie versuchen den Dingen eine neue Bedeutung zu verleihen. Daher errichten sie eine »Werkstätte, wo man Ideale fabrizirt« 8, in der »Schwäche zum Verdienste umgelogen werden 60 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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[soll] […]; die Ohnmacht, die nicht vergilt, zur ›Güte‹ ; die ängstliche Niedrigkeit zur ›Demuth‹ ; die Unterwerfung vor Denen, die man hasst, zum ›Gehorsam‹«. 9 Der Sklavenaufstand ist erfolgreich, wenn es den Schwachen, den Elenden, den Schlechten tatsächlich gelingt, eine neue Sicht auf die Welt hervorzubringen, wenn es ihnen tatsächlich gelingt, den Dingen neue Bedeutungen zu verleihen und neue Ideale zu fabrizieren. Wenn es ihnen gelingt, neue Spielregeln einzuführen (Nietzsche nennt solche Regeln bekanntlich Werte) und die Menschen dazu zu bringen, die Dinge und ihr Denken nach diesen Regeln auszurichten. Das neue Spiel, das die Schlechten vorschlagen, die Schwachen (da sie nach den bisherigen Regeln verlieren), die Gemeinen, die Elenden, dieses neue Spiel, in dessen Folge die Dinge eine andere Bedeutung bekommen, nennt Nietzsche eben Moral. Moral ist also für Nietzsche die Ordnung der zwischenmenschlichen Beziehungen, der die Unfähigkeit konsequenten Handelns zugrunde liegt, ein Leben, das nicht gelingt, eine Schwäche, die sich nicht beseitigen lässt. So verstandene Moral ist das Ergebnis einer Kompensationsreaktion (Nietzsche nennt sie Ressentiment), einer imaginären Reaktion. Da ich außer Stande bin, ein spontanes, aktives Leben zu führen, das vor Freude und Glück überquillt, greife ich in meiner Phantasie zu Kompensationsmitteln, die mich die eigene Schwäche, das eigene Versagen nicht erkennen lassen.

3 Es hat den Anschein, als breite Nietzsche hier vor uns ein Bild des verlorenen Paradieses aus, einer primitiven, spontanen, fröhlichen Welt, in der die Menschen einst glücklich lebten, um dann der Kultur genannten fortschreitenden Degeneration anheim zu fallen, die ihre Fähigkeit zum wahren, erfüllten, glücklichen Leben zusehends schwächte und sie durch neue Ziele und Bedürfnisse ersetzte, die sich keineswegs aus diesem Leben ergeben. Mit diesem Bild scheint uns Nietzsche dazu aufzufordern (und zumindest auf den ersten Blick scheint er genau dies hier zu tun), die verderbte zeitgenössische Kultur zu verwerfen (»[G]enug! genug! Ich halte es nicht mehr aus. Schlechte Luft! Schlechte Luft!« 10, ruft er in eindeutiger Reaktion auf diese Kultur in der Genealogie der Moral) und zum früheren, gesunden Lebensstil zurückzukehren. Die in uns allen, in jedem bür61 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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gerlichen Dutzendmenschen, der im Café seine Zeitung liest, schlummernde »prachtvolle nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie« 11 muss, scheint Nietzsche hier zu sagen, in ihr natürliches Element zurückkehren, in die wahre Welt, in die Wildnis, wo es keine Wege, Parkbänke und Würstchen mehr gibt. Wenn Nietzsche das tatsächlich so gemeint haben sollte, hätte er sich damit in eine lange, bisweilen als romantisch-konservativ bezeichnete Tradition gestellt, neben Rousseau in seiner Bewunderung für den »edlen Wilden« und den fernab des Zivilisationslärms auf Feldwegen wandelnden Heidegger. Doch nicht darum ging es ihm. Die blonde Bestie, von der Nietzsche schreibt, ist nicht der brutale Blonde, von dem Hitler und Goebbels träumten. Nietzsche erzählt uns nicht die wehmütige Geschichte von der guten alten Zeit, die wieder Realität werden muss. Seine These ist eine andere: Moral, also diejenigen Verhaltensregeln, denen die Unterscheidung gut-böse zugrunde liegt, ist nur im Kontext eines Verhaltens verständlich, das mit gut im Unterschied zu böse nicht viel gemein hat. Der Unterschied zwischen gut und böse lässt sich nur in der Spannung zum Unterschied zwischen gut und schlecht verstehen, nur im Kontext dieser Unterscheidung. Nietzsches Genealogie der Moral beschreibt also kein Verhältnis aufeinander folgender Zustände (wie Tag und Nacht oder Barbarei und Zivilisation), denn die »vorhistorische« Welt der Guten und Schlechten, mit der die Geschichte unserer Moral ihren Anfang nimmt, ist immer präsent, immer von Neuem möglich. Hier geht es also auch nicht um den bloßen Gegensatz zwischen Glück (in dem die blonde Bestie lebt) und der Abwesenheit von Glück (in die uns die degenerierende Kultur treibt). Die Welt der blonden Bestie, die Welt, in der die Unterscheidung zwischen gut und böse nicht das dominierende Prinzip menschlichen Handelns darstellt, ist kein Paradies im Sinne eines bereits erreichten Zustandes der Befriedigung, der vollsten Zufriedenheit, der höchsten Erfüllung. Ja, die blonde Bestie ist glücklich, aber ihr Glück ist nicht »Narcose, Betäubung, Ruhe, Frieden, ›Sabbat‹, Gemüths-Ausspannung und Gliederstrecken«. Dieses Glück oder zumindest der Traum davon ist für die Menschen bestimmt, deren Leben und Handeln zum »Glück« (der Befriedigung über einen Erfolg, der Zufriedenheit mit dem Erreichen eines Ziels) hinführt oder auch nicht, aber nicht dieses »Glück« selbst ist. Die Metapher von der blonden Bestie offenbart uns eine andere Form von Glück. Dieses »Glück« ist einfach das erlebte Leben, so wie es ist, 62 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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ohne Bewertung »von außen« (denn es gibt kein »Außen«), es ist spontanes Handeln, ist letztlich die bedingungslose Akzeptanz des eigenen Seins. Eine Akzeptanz, die der Akt des Lebens selbst zum Ausdruck bringt und die nichts zu tun hat mit der Akzeptanz eines Angebots, das wir nach sorgfältiger Abwägung des Für und Wider annehmen und das wir auch hätten ablehnen können.

4 Wenn das so ist, dann schließt das Glück, von dem jetzt die Rede sein soll, Schmerz, Leiden, Konflikt und Tod nicht aus. Nietzsche meint sogar, dass wir im Gegenteil mit der Entdeckung dieser uns im Alltag unbekannten Erscheinungsform des Glücks gleichzeitig auch das untrennbar mit ihm verbundene Grauen entdecken. In Nietzsches Augen ist unsere Welt schließlich grausam; Schmerz, Leiden, Konflikt und Tod lassen sich nicht aus ihr entfernen. Schmerz, Leiden, Konflikt und Tod bringen die Bedeutung der conditio humana mit hervor, der Mensch lässt sich anders nicht denken, wie Farbe nicht ohne Raum gedacht werden kann. Wie es ein Glück ohne Berechnung und ohne Kalkül gibt, Glück und Freude nicht als Belohnung, nicht als Frucht des Erfolges (der Gegensatz von gut und schlecht soll uns diese verborgene Schicht unseres Lebens zeigen), so gibt es in unserem Lebens auch, wie derselbe Gegensatz demonstrieren soll, Schmerz, Leiden und Konflikt, die nicht Strafe oder Konsequenz einer Niederlage sind, Schmerz, Leiden und Konflikt, bei denen die Frage nach dem Warum sinnlos ist. Nietzsche leitet aus dieser Überzeugung weitreichende Folgerungen ab: Wenn es so ist, dann sind alle intellektuellen und emotionalen Interpretationsstrategien, die uns helfen sollen, mit dem Grauen der Welt (oder anders ausgedrückt: mit unserer Schwäche) fertig zu werden, Betrug, Täuschung, Irreführung. Alle Theodizeen, die den Schmerz nach dem Tod eines Freundes mit einem guten letzten Ziel begründen, alle Dialektiken, die uns davon überzeugen wollen, die heute erlittene Niederlage zu verstehen, indem wir ihren Platz in der Logik der Dinge erkennen, sind Betäubungsmittel, Narkotika, die zu Schläfrigkeit, zu Unwissenheit und zur Flucht vor dem Grauen des Lebens führen. Sie sind aus Schwäche fabrizierte Ideale, die aus der Welt einen gemütlichen Ort machen, an dem man in Ruhe seine Zeitung lesen kann, »süße« Ideale, die die Welt mit einer 63 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Schicht aus zuckriger, klebriger Milde überziehen. Dabei schmeckt das Leben, wie es ist, bitter. Leiden, Schmerz und Tod sind untrennbar mit seiner Freude verbunden. Eine Religion oder Philosophie, die Trost verheißt, ist in Nietzsches Augen (süßer) Betrug.

5 Sie ist ein Betrug, eine Negierung des Lebens (seiner immanenten Freude, seines Leidens), hat aber doch auch positive Effekte. Die Moral (diese durch unsere Schwäche motivierte Flucht vor dem Grauen und vor der Freude des Lebens auf der Jagd nach gut und böse) ist keine gewöhnliche Entartung, kein wiedergutzumachender Fehltritt, keine Grippe, die sich auskurieren ließe. Nietzsche hält die Moral zwar für eine Krankheit, aber eher in dem Sinne, wie die Schwangerschaft eine »Krankheit« ist, nicht die Lungenentzündung. Die Moral bereichert nämlich wie die Schwangerschaft den Organismus, der sie erlebt, sie ist also nicht nur destruktiv, sondern auch schöpferisch, produktiv. Indem sie die Welt mit zuckrigem Schein überzieht (und sie so für die Schwachen und Verlorenen zu einem wohnlichen Ort macht), indem sie die Bezeichnungen von den Dingen reißt und ihnen neue aufklebt (wir erinnern uns: aus Schwäche wird Verdienst, aus Ohnmacht, die nicht vergilt, Güte, aus Niedrigkeit Demut, etc.), verleiht die Moral der Realität eine neue Dimension und verkompliziert sie. Dadurch wird ein Bedarf an Verstand geschaffen, der zur Interpretation fähig ist, ein Bedarf an Geist. Nietzsche bemerkt, »dass erst auf dem Boden dieser wesentlich gefährlichen Daseinsform des Menschen […] der Mensch überhaupt ein interessantes Thier geworden ist, dass erst hier die menschliche Seele in einem höheren Sinne Tiefe bekommen hat und böse geworden ist – und das sind ja die beiden Grundformen der bisherigen Überlegenheit des Menschen über sonstiges Gethier! …« 12

Für jemanden, den es nicht kümmert, was die anderen tun und meinen, der die Dinge so nimmt, wie sie aus seiner Perspektive aussehen, der spontan agiert, ohne mögliche Gewinne oder Verluste einzukalkulieren, für einen solchen Menschen ist die Fähigkeit, zum Kern der Sache vorzudringen und nicht auf Anhieb sichtbare Motive und Konsequenzen aufzudecken (mit einem Wort: der Geist) verzichtbar. Nur die Schwachen und Verlorenen sind auf Kalkül, Verstand und Geist 64 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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angewiesen: »Die menschliche Geschichte wäre eine gar zu dumme Sache ohne den Geist, der von den Ohnmächtigen her in sie gekommen ist«. 13 Der Unterschied zwischen gut und schlecht und der Unterschied zwischen gut und böse, das überschäumende, sich selbst bejahende Leben und das produktive Netz, das seine Begriffe und die Regeln der Negation miteinander verknüpft (die Moral), sind nicht zwei separate, unabhängige gesellschaftliche Institutionen oder aufeinander folgende Phasen unserer moralischen Evolution, vielmehr sind es zwei untrennbar miteinander verbundene Seiten des menschlichen Lebens.

6 Was ergibt sich daraus nun für das Verständnis von Nietzsches Genealogie der Moral? Die Genealogie der Moral ist, wie sich gezeigt hat, kein Bericht über eine Kette von Ereignissen wie etwa der Bericht über den Peloponnesischen Krieg. Sie ist insbesondere kein Bericht über ein goldenes Zeitalter, das der grauen Realität des heutigen Europa vorangegangen wäre, über den Garten Eden, aus dem wir vertrieben wurden, um in der Wüstenei der Moderne unser Dasein zu fristen. Sie ist keine Gegenüberstellung von »wahr« (das Leben der Guten, Edlen und Starken) und »falsch« (das von der Moral entstellte Leben der Schlechten, Elenden und Schwachen). Sie ist auch durchaus keine Kontrastierung zweier voneinander unabhängiger Zustände. Die Genealogie der Moral ist der Versuch, die Dynamik hinter unseren Moralvorstellungen darzustellen, die unaufhebbare Spannung, die sich aus der Tatsache ergibt, dass diese Vorstellungen Ausdruck des Lebens sind und damit jede von ihnen über eine Macht verfügt, die verwunden und zerstören kann, aber auch helfen oder befreien. Die Genealogie der Moral ist ein Bericht über das menschliche Leben hier und jetzt, über das in seiner Tiefe lauernde Grauen und die Flucht vor ihm (und sei es nur wie heute die Flucht in den angenehmen Schlummer zeitgenössischer Kultur), über die Potenz des menschlichen Lebens, die den einzig möglichen Sinn in die Welt setzt, der in ihr zu finden ist, und über die unvermeidliche Schwäche, die Lug und Trug in die Welt bringt, um sie gleichzeitig wohnlich und interessant zu machen.

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Moralvorstellungen, so legt die genealogische Analyse der Moral nahe, fallen zwangsläufig einseitig aus, sie sind Hilfsmittel in einer Auseinandersetzung, die einer Sache zum Sieg verhelfen wollen. Die Lösung dieser Streitfragen, die Entscheidung, welches die rechte Sache ist, kann aber nicht auf dem soliden Fundament rein objektiven Wissens erfolgen. Was recht ist und was nicht, was wahr ist und was falsch, was gut ist und was nicht, ja selbst was ein Erfolg ist und was eine Niederlage, lässt sich nicht entscheiden, indem man sich auf ein unabhängig von dem ausgefochtenen Streit existierendes Bezugssystem beruft, auf einen fertigen Sinn, der nur darauf wartet, entdeckt zu werden (»›stark‹ und ›schwach‹ [sind] relative Begriffe« 14, schreibt Nietzsche). Nein, über Richtigkeit, Wahrheit, Güte und Erfolg entscheidet der Streit, in den wir eingebunden sind, das Spiel, dessen Einsatz alles umfasst, auch seine Regeln. Das Leben, unser Leben ist eine ununterbrochene Konfrontation mit den anderen, die sich nicht restlos umformen lässt in die unvoreingenommene Suche nach der rechten Lösung, nach dem Gemeinwohl, nach der uns verbindenden Wahrheit. Folgen wir Nietzsches Argument, so ist Moral etwas Universales, aber nicht, weil die Bedeutung moralischer Gebote und Verbote universal wäre. Was sollte das auch heißen? Moral ist etwas Universales, weil alle Begriffe einen, bisweilen verborgenen, moralischen Gehalt haben, jeder Begriff ist eine Waffe in irgendeinem Kampf. Jeder Moralbegriff birgt den Anspruch, dass die Dinge so zu sein haben und nicht anders, einen Anspruch, dessen einziges Maß die Ansprüche der anderen sind. Damit ist jeder Begriff der Einwirkung der anderen ausgesetzt und folglich problematisch, provisorisch, brüchig. Auch Nietzsche, auch die Genealogie der Moral, sieht nicht, beschreibt nicht, wie es ist. Die Wörter, Argumente und Metaphern, die Nietzsche verwendet, um uns seine Genealogie der Moral darzulegen, sind unverständlich ohne den Kontext von Zustimmung oder Ablehnung, sie lassen sich nicht auf gewöhnliche Meinungsunterschiede reduzieren. Sie wollen verletzen oder Begeisterung wecken, Widerspruch oder Solidarität ernten. Denn nur Wörter, die begeistern oder verletzen können, so Nietzsche, lassen sich auch verstehen. Die einzige Möglichkeit uns zu überzeugen, ist für Nietzsche, uns in den Streit hineinzuziehen, der uns unmittelbar angeht, oder besser, den Beweis zu erbringen, dass wir, ob wir wollen und darum wissen oder nicht, längst in diesen Streit verwickelt sind – einen Streit um 66 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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die Ausgestaltung der Kultur, in der wir leben, der gleichzeitig ein Streit um den Sinn des Menschseins ist.

7 Die Überzeugung, dass die Moral, die wir kennen, immer hochproblematisch ist, dass unser Wissen darüber, was gut ist und was böse, nicht auf einem unerschütterlichen Fundament ruht und auch nicht ruhen kann, dass selbst unser guter Wille uns irreleiten kann, diese Überzeugung ist ein in religiösen Texten häufig wiederkehrendes Motiv. Das in Begriffen nicht zu fassende, allem Wissen sich entziehende Absolute erscheint in manchen religionsphilosophischen Darstellungen wie ein grelles Licht, das die Brüchigkeit und die Relativität aller Begriffe, all dessen, was wir wissen können, all unseres Verhaltens an den Tag bringt – das »Absolute«, das wie das Licht selbst erst auf diese Weise zum Vorschein kommt. Das Ergebnis einer so verstandenen Konfrontation mit dem Absoluten ist das von der conditio humana nicht zu trennende Grauen und die Flucht vor ihm, beispielsweise die Flucht des schwachen, entsetzten Menschen ins Vergessen. Aber auch die nur vor dem Hintergrund dieses Grauens verständliche Freude, das Glück, die Seligkeit (oder zumindest die Hoffnung darauf), die Rettung und »Erlösung« bringen können, ergeben sich aus dieser Konfrontation. Ich wüsste keinen besseren Zeugen dieser Weltsicht als Pascal. Unsere Begriffe, schreibt er, scheitern hoffnungslos an der sich ihnen ständig entziehenden Realität: »[W]ir können unsere Gedankenbilder noch so sehr über die vorstellbaren Räume hinaus ausweiten, wir bringen doch nur Atome im Vergleich zu den wirklichen Dingen hervor.« 15 Auch unsere Vorstellung von einer natürlichen Ordnung, einer beständigen, stabilen Natur, die unser Denken und Verhalten ausnahmslos begründen könnte, ist hohl: »Die Väter fürchten, daß die natürliche Liebe der Kinder erlischt. Was ist also diese Natur, die vom Erlöschen bedroht ist?« 16 »Es gibt nichts, was man nicht zu etwas Natürlichem macht. Es gibt nichts Natürliches, was man nicht verschwinden lassen kann.« 17 Die auf beweglichen, sich wandelnden menschlichen Entscheidungen, Konventionen und Gewohnheiten beruhenden scheinbar »bewundernswerte[n] Regeln für die öffentliche Ordnung, die Moral und das Recht« bergen den »böse[n] Kern des Menschen, dieses figmentum malum« (das Elend – also die Unbe67 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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ständigkeit und Brüchigkeit der conditio humana), der von all diesen Ordnungen »nur verhüllt [wird]. Er ist nicht aufgehoben.« 18 Was ist nun daran so entsetzlich, sich all das bewusst zu machen? Entsetzlich ist die Machtlosigkeit meiner Begriffe, das Fehlen jeglicher Stütze, das Hängen im Nichts und schließlich auch dieses Nichts selbst, vor dem es offensichtlich kein Entrinnen gibt: »Der letzte Akt ist blutig, so schön die Komödie auch in allem übrigen sein mag. Schließlich wirft man uns Erde aufs Haupt, und das ist für immer.« 19 Was soll der Mensch in dieser Lage tun? Hinter einem Hasen herjagen oder über einem schwierigen mathematischen Problem brüten: »Woher kommt es, daß […] man ihn so von all diesen schmerzlichen und beunruhigenden Gedanken frei sieht? Man braucht nicht darüber zu erstaunen. Man hat ihm gerade einen Ball zugespielt, und er muß ihn seinem Gefährten zuwerfen.« 20 Ins Nichtwissen fliehen, ins Vergessen. Doch wird eine solche Flucht keinen dauerhaften Trost bringen (»Laufen sollen sie, laufen, damit die Finsternis sie nicht verschlinge« 21, schrieb Augustinus, Pascals Vorfahr im Geiste). Nur im Vertrauen auf Gott können wir Trost finden – aber sind wir zu diesem Vertrauen in der Lage? Wie eng ist diese Weltsicht doch mit der Nietzsches verwandt! Und in einer bestimmten Interpretation Pascals gleichzeitig auch so verschieden. Wenn nämlich Pascal annimmt, dass das Gottvertrauen die Überzeugung ist, es existiere eine uns verborgene Wahrheit über uns. Wenn er annimmt, dass sich das Elend und Grauen der conditio humana von einem ihnen übergeordneten Standpunkt aus verstehen ließen, dass es eine Perspektive gibt, aus der das Leben jedes einzelnen Menschen die immer gleiche, sich wiederholende Tragödie ist, die zwischen den nicht durch, sondern für ihn festgelegten Polen Verdammnis und Erlösung oszilliert, die Tragödie der Suche nach Errettung und der Flucht vor ihr. Wenn Pascal annimmt, die Wandelbarkeit und Verschiedenartigkeit menschlicher Schicksale füge sich ein in die uns verborgene, von einem anderen geschriebene immer gleiche Geschichte von Paradies, Schuld, Vertreibung und der Chance auf Rückkehr. Das Elend des Menschen ist dann die Wahrheit über uns, die im Verstehen der Größe Gottes offenbar wird: Auf Erden gibt es nichts, schreibt Pascal, »Auf Erden gibt es nichts, was nicht entweder das Elend des Menschen oder die Barmherzigkeit Gottes […] zeigt«. 22 Kurz, wenn Pascal annahm, die Ordnung unseres Lebens stütze sich auf eine »Wahrheit«, eine Perspektive, aus der man die Welt 68 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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sieht, wie sie ist, dann unterscheidet sich seine Weltsicht in diesem Punkt radikal von der Nietzsches. Die Wahrheit, schreibt Nietzsche, wie wir gesehen haben, ist kein endgültiges Bezugssystem, kein Rahmen, der mein Leben verständlich machen könnte. Die Wahrheitssuche, der Wille zur Wahrheit, beinhaltet moralische Motive, die uns auf die ein oder andere Weise mit anderen Menschen verbinden. Damit ist jede Wahrheit eine stärkere oder schwächere Macht, eine Bedrohung oder eine Chance für jede andere. Die unablässig sich verändernden Machtverhältnisse, der ständige Kampf, die Konfrontation und der Streit lassen sich nicht auf ein unveränderliches Muster zurückführen, es gibt keine von ihm unabhängigen Regeln, keine ehernen Gesetze. Wenn »Gott« für dieses Muster, für diese Regeln und Gesetze steht, dann ist Gott tot. Damit ist für Nietzsche, anders als für Pascal, das menschliche Schicksal keine »Tragödie«, nicht die ewige Wiederholung der immer gleichen Geschichte. Das Leben jedes Einzelnen, so Nietzsche, schreibt ständig alles neu. Es wählt nicht nur zwischen vorgegebenen Optionen (Erlösung und Verdammnis), sondern bringt auch seine eigenen immer neuen hervor, immer wieder neu. Das Grauen des menschlichen Lebens lässt sich, wie auch die ihm eingeschriebene Freude, nicht in einen Rahmen von Begriffen fassen, die von diesem Leben unabhängig sind. Das menschliche Elend – die Brüchigkeit unserer Begriffe, das Risiko unseres Handelns – erwächst nicht aus der Tatsache, dass wir den uns auferlegten Standards nicht gewachsen sind. Menschliche Größe zeigt sich nicht im Bestehen der Prüfung vor einem strengen Richter. Der Mensch ist, wozu er sich macht, und genau hier liegt in Nietzsches Augen der Horror unserer Existenz verborgen: Im Risiko, das jeder Schritt mit sich bringt, in der unvermeidlichen und grenzenlosen Unsicherheit, die aus ihm folgen kann. Schrecken und Glück in einem, nicht voneinander zu trennen, denn auch das Glück schöpft, so Nietzsche, aus derselben Quelle wie das Grauen – aus dem Risiko, der Unsicherheit, aus dem schöpferischen Charakter unseres Tuns.

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IV Vernunft, die schmerzt 1 Zarathustra spricht: »Es kehrt nur zurück, es kommt mir endlich heim – mein eigen Selbst, und was von ihm lange in der Fremde war und zerstreut unter alle Dinge und Zufälle.« 1 Eine mögliche Lesart dieses Satzes wäre: Der Zufall ist etwas Fremdes. Dabei ist nichts, was mir auf meinem Lebensweg, in meiner Erfahrungswelt begegnet, mir gänzlich fremd. Alles, was mir begegnet, ist mir zu einem gewissen Grad vertraut. Vertraut insofern, als seine Bedeutung – die Bedeutung dessen, was ich erlebe und erfahre: Berge, Dreiecke, Verrat, Verantwortung – sich auf mich bezieht, vertraut insofern, als es ein Bestandteil meiner Welt ist. Wenn ich das verstehe, verstehe ich auch, dass alles, was mir im Leben begegnen kann – die Welt – für mich eine Einheit darstellt und in diesem Sinne meine Welt ist. Damit verliert der Zufall seine Daseinsberechtigung. Dinge, die in keinerlei Beziehung zu mir zu stehen schienen, die fremd und in diesem Sinne zufällig waren, kehren nun heim, sie erweisen sich als Elemente meiner Identität. Noch einmal Zarathustra: »Für mich – wie gäbe es ein Ausser-mir? Es giebt kein Aussen!« 2 Das bedeutet natürlich nicht, dass die Welt, die in meinem Leben zutage tritt, traut und zahm wäre, nicht wild, ohne Bedrohungen und Gefahren, ohne Widerstände, meinem Willen unterworfen, nach meinen Vorstellungen formbar. Nein, so ist es natürlich nicht, und doch, so lehrt Zarathustra, steht alles, was mir begegnet, die Berge, auch die bedrohlichen, widerständigen, in diesem Sinne »fremden«, die Dreiecke, aber auch die mir (noch) unverständlichen Formeln und die verborgenen Geheimnisse, die mir nahestehenden Menschen, aber auch die mir plötzlich aus unerfindlichen Gründen fremd gewordenen, auf die ein oder andere Weise in Beziehung zu meiner Existenz und sei diese nur potenziell. Das gilt natürlich auch umgekehrt: Meine Seele, meine Identität ist undenkbar ohne all die Berge und Dreiecke, ohne Verrat und Liebe, ohne diesen Widerstand, ohne diese Geheimnisse und Gefahren, mit 70 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

IV · Vernunft, die schmerzt

denen ich im Laufe meines Lebens konfrontiert werde und die ich alle zusammen als »Welt« bezeichne. »Zu jeder Seele gehört eine andre Welt« 3, spricht Zarathustra. Das Ich fügt mit seiner Existenz, meiner Identität, die Dinge zu einem Ganzen, dem Ganzen meiner Welt, aber dieses Ich, diese meine Identität ist ein unverständliches, dumpfes Rauschen, wenn ich versuche, es außerhalb der Welt zu verstehen, außerhalb des von mir zusammengefügten Ganzen.

2 Bisweilen spricht Zarathustra vom Zufall jedoch in einer anderen, auf den ersten Blick entgegengesetzten Bedeutung: »›Von Ohngefähr‹ – das ist der älteste Adel der Welt, den gab ich allen Dingen zurück, ich erlöste sie von der Knechtschaft unter dem Zwecke […], als ich lehrte: ›bei Allem ist Eins unmöglich – Vernünftigkeit!‹« 4 Hier meint Zufall, das »von Ohngefähr«, nicht die Opposition vertraut/fremd, hier geht es um die Opposition rational/irrational. »So whenigi Vhernunfti ahlsi mhöglichi – das ist, artiger geredet: Zufall« 5, notiert Nietzsche. Zufall ist nun alles, was sich einer rationalen Betrachtung entzieht, was nicht unter Berücksichtigung eines Dritten verstanden werden kann, das es nicht ist, unter Berücksichtigung von etwas anderem (Knechtschaft unter dem Zwecke). Mit anderen Worten: Zufall ist all das, was nicht als Teil eines Ganzen verstanden werden kann. Und nach Zarathustra gibt es viele solcher Dinge. Oder anders ausgedrückt: Eine solche Rationalität ist nicht allumfassend, es bleibt prinzipiell immer etwas außen vor. Es gibt kein allumfassendes, restloses Ganzes, die Welt ist kein Ganzes. Oder noch anders: Die Welt ist unweigerlich vielfältig, in ihr gibt es Unterschiede, die sich nicht beseitigen lassen, Unterschiede ohne einen gemeinsamen Nenner, ohne gemeinsamen Bezugspunkt. Unterschiede, die sich der Vernunft entziehen, über die man sich nicht verständigen kann. »Thatsächlich sind wir eine Vielheit, welche sich eine Einheit eingebildet hat. Der Intellekt […] hat die Vielheit sich aus dem Sinne geschlagen« 6, notiert Nietzsche. Dem kann man nur schwer zustimmen. Wie sehr haben wir uns doch an den Gedanken gewöhnt, dass alle Unterschiede sich endgültig verstehen lassen (und dass damit die »rationale« Verständigung keine 71 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

IV · Vernunft, die schmerzt

Grenzen kennt). Wie verführerisch ist doch das Bild der Welt als eines wohlgeordneten Kosmos, eines Gartens, in dem alles seinen Platz hat. Aber die Welt als Garten ist eben nicht Realität, sondern nur eine durch Worte geschaffene Illusion: »Es erquickt mich so, dass ihr schwätzt: wo geschwätzt wird«, spricht Zarathustra, »da liegt mir schon die Welt wie ein Garten. Wie lieblich ist es, dass Worte und Töne da sind: sind nicht Worte und Töne Regenbogen und ScheinBrücken zwischen Ewig-Geschiedenem?« 7 Hinter den Regenbogen und Wortbrücken verbergen sich nach Zarathustra Unterschiede, die sich nicht auf etwas anderes zurückführen lassen, die sich nicht durch Verstehen ausräumen und beseitigen lassen, die in diesem Sinne ewig geschieden sind. Sehen wir uns diese Unterschiede genauer an. Hier geht es nicht um Unterschiede wie den zwischen Mann und Frau, Hund und Katze, meinem Nachbarn und mir, die sich ja, zumindest potenziell, verstehen lassen. Wenn ich den Unterschied zwischen Mann und Frau »ewig« nenne, dann meine ich bestimmte Eigenarten, die mir an ihnen auffallen und die sich meiner Einschätzung nach nicht in Einklang bringen lassen wie Quadrat und Dreieck oder warm und kalt. Ich weiß, was sich hier unterscheidet: Menschen, Tiere, geometrische Figuren, Temperatur. Solche Unterschiede, die ich wahrnehmen kann, die Gegenstand der Erkenntnis sein können, setzen ein tertium comparationis voraus, sie unterscheiden sich hinsichtlich etwas von ihnen Verschiedenem, lassen sich erfassen, in einem gemeinsamen Bezugssystem verstehen. Mehr noch, diese Unterschiede setzen einen »äußeren«, »objektiven« Standpunkt voraus, einen Betrachter, der diesen Unterschied objektiv feststellen und in Beziehung zu dem System verstehen kann, innerhalb dessen sich die Glieder voneinander unterscheiden, einen Betrachter, der ihren gemeinsamen Nenner finden kann. Anders ausgedrückt: Solche Unterschiede setzen einen Betrachter voraus, den der wahrgenommene Unterschied nicht unmittelbar betrifft, wie mich der Unterschied zwischen Zitronenfalter und Kohlweißling nicht betrifft, wenn ich sie mir im Naturkundemuseum hinter Glas anschaue. Dagegen kann ich die Unterschiede, von denen Zarathustra meiner Ansicht nach spricht, nicht nur nicht erfassen, weil ich momentan dazu nicht in der Lage bin (vielleicht morgen, wenn ich ausgeschlafen bin, oder vielleicht könnte es mein Freund, weil er intelligenter ist als ich). Vielmehr kennen diese Unterschiede kein tertium comparationis, sie haben keinen gemeinsamen Nenner, kein Beziehungssystem, 72 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

IV · Vernunft, die schmerzt

innerhalb dessen sie verständlich wären. Diese Unterschiede kann kein aufmerksamer, unvoreingenommener Betrachter über den Schaukasten gebeugt aus einer »äußeren«, »objektiven« Perspektive beschreiben. Eine solche Perspektive ist nicht allumfassend, sie kann es gar nicht sein. Kein Betrachter kann sich über alle Dinge, über die Welt beugen. Es gibt keine allumfassende Perspektive, lehrt Zarathustra, dieser Begriff ist unsinnig. Wenn das so ist, ist jede Ordnung, die wir entdecken oder herstellen, begrenzt, sie hat eine andere, unbekannte, dunkle Seite. Dann ist der Unterschied zwischen unserer Ordnung und dem Rest, zwischen dem Garten, den wir uns in der Welt angelegt haben, und dem, was sich jenseits des Zaunes befindet, von grundsätzlich anderer Art als der Unterschied zwischen Blau und Weiß, zwischen Dreieck und Quadrat, zwischen einer Frau und mir. Nur eine so verstandene Vielheit der Welt ist unabänderlich und unaufhebbar, unabhängig davon, wie weit oder tief unser Verständnis der Welt reicht. Wir können noch so lange und noch so emsig suchen, einen allgemein gültigen gemeinsamen Nenner werden wir in ihr nicht finden. Auf solche Unterschiede, die sich nicht zähmen, verstehen und so beseitigen lassen, auf Unterschiede, die sich aus dem unüberwindbaren Anderssein der Welt ergeben, verweist nun der Begriff des Zufalls. Wenn sich aber die Vielheit der Sache, von der ich gerade spreche, nicht erfassen lässt, wenn sie nicht erkannt werden kann – und in diesem Sinne zufällig ist – woher weiß ich dann von ihr? Wie erfahre ich von ihr? Ich weiß von ihr insofern – so stelle ich mir Nietzsches Antwort auf diese Frage vor –, als die Dinge mich verletzen (auch wenn ich nicht weiß warum), als sie mir einen (nicht fassbaren) Widerstand entgegensetzen, als sie für mich ein unkalkulierbares Risiko bedeuten oder in mir ungeahnte Kräfte freisetzen, mir überraschende Horizonte eröffnen. Nur auf diese Weise »erfahre« ich von der irreduziblen Vielheit der Welt. Ich »erfahre« in Anführungszeichen, da es sich nicht um ein in Begriffe gefasstes Wissen über Dinge und ihre Struktur handelt. Das »Wissen«, von dem ich spreche, das Wissen über die unvermeidliche Vielheit der Welt, liegt im Schmerz verborgen, in der Angst, in der Befreiung, in der Erfahrung eines Zusammenpralls mit dem Anderssein der Welt, das sich nie endgültig in Begriffe fassen lässt. Nur so, nur im Zusammenprall mit dem unfassbar Anderen, tritt die Welt, wie sie ist, die Welt in ihrer Vielheit, zutage. 73 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

IV · Vernunft, die schmerzt

Damit sind die Unterschiede, die nicht durch eine universale Vernunft oder eine universale Rationalität eingeschränkt sind, gefährlich. Eine unabänderlich vielfältige Welt ist gefährlich. Wenn allumfassende Vernunft eine Illusion ist, gibt es keine Garantie dafür, dass alle Dinge sich (irgendwann, jemals) zusammenfügen, ohne einander zu stören. Es gibt keine Sicherheit, dass die Welt, die ich mir errichtet habe, dass meine Welt sich in die Harmonie aller Dinge einfügt. Der Konflikt, und es ist ein uneingeschränkter Konflikt mit offenem Ausgang, lässt sich niemals endgültig ausräumen. Oder anders ausgedrückt: Krieg – grenzenlose Konfrontation – ist unvermeidlich. Nicht nur als notwendiges Übel, sondern auch, sogar vor allem als elementarer Bestandteil des Lebens, ja, als dessen Wesen. »Ein Grundirrthum ist der Glaube an die [Möglichkeit allgemeiner – KM] Eintracht und das Fehlen des Kampfes – dies wäre eben Tod!« 8 Krieg ist in diesem Kontext eine andere Bezeichnung für die Unterschiede, denen die Vernunft hilflos gegenübersteht. Daher lehrt Zarathustra: »die Weisheit […] ist ein Weib und liebt immer nur einen Kriegsmann.« 9 Ich sage damit ausdrücklich nicht, dass Zarathustra hier ein Loblied auf den Krieg singt, etwa weil der Krieg für die Entwicklung der Gattung Mensch notwendige Tugenden fördert wie Mut, Risikobereitschaft, Solidarität angesichts von Gefahr etc. Auch ein Lob des »gerechten Krieges« ist hier nicht gemeint. Nein, der Krieg, von dem hier die Rede ist, kann nicht Gegenstand von Lobliedern oder Objekt der Rechtfertigung sein. Schließlich gibt es keinen Standpunkt, von dem aus er von außen beurteilt werden könnte. Krieg ist die Perspektive auf das radikal Andere, also Neue, Unvorhersehbare, Unfassbare und damit unendlich Gefährliche. Noch einmal Zarathustra: »Ihr sagt, die gute Sache sei es, die sogar den Krieg heilige? Ich sage euch: der gute Krieg ist es, der jede Sache heiligt.« 10 Wenn der Begriff Krieg auf den nicht fassbaren und damit potenziell gefährlichen Unterschied zwischen der Welt, wie wir sie uns eingerichtet haben, und dem unbezwingbaren Anderssein, mit dem wir ständig von neuem konfrontiert werden, verweist, dann lässt sich dieser Krieg selbst natürlich in keiner Weise bestimmen, definieren, bewerten, weder verdammen noch heiligen. Moral oder Vernunft lassen sich auf ihn nicht anwenden. Im Gegenteil, all unsere Begriffe, all unsere Werte sind erst im Kontext des Krieges verständlich, erst wenn wir ihre Funktionen in der Konfrontation (»im Krieg«) der eigenen Welt mit jenem Anderen erkennen, das hinter jeder Ecke 74 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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lauert. Erst wenn wir unsere Begriffe und Werte mit etwas konfrontieren, das sich radikal von ihnen unterscheidet, erfahren wir, was sie wert sind. »Gut und Böse, und Reich und Arm, und Hoch und Gering, und alle Namen der Werthe: Waffen sollen es sein«. 11 Waffen im Kampf, in der Konfrontation mit dem Anderen, dem Unbekannten, dem Fremden. Diese Konfrontation, der Krieg, ist also an sich weder »gerecht« noch »ungerecht«, weder gut noch böse, sie ist jenseits von Gut und Böse. Sie kann aber »schön« sein: »Dass Kampf und Ungleiches auch noch in der Schönheit sei und Krieg um Macht und Übermacht […]. Also sicher und schön laßt uns auch Feinde sein, meine Freunde! Göttlich wollen wir wider einander streben!« 12 Schön unterscheiden wir uns, wenn wir die Unterschiede nicht unter scheinbar von ihnen unabhängigen Begriffen verstecken, wenn wir nicht versuchen, sie zu verstehen und sie zu zähmen, indem wir ihnen unabhängige moralische Kategorien überstülpen. (»›Feind‹ sollt ihr sagen, aber nicht ›Bösewicht‹« 13). Schön unterscheiden wir uns, wenn wir uns wie die Götter unterscheiden, die ihren Unterschieden selbst eine Bedeutung beimessen und diese nicht von anderswo entlehnen. Schön unterscheiden wir uns, wenn wir zur Konfrontation mit der Vielheit, dem Anderssein, der Fremdheit der Welt bereit und in diesem Sinne tapfer sind. (»Was ist gut? Tapfer sein ist gut.« 14) Schön unterscheiden wir uns, wenn wir jeden Moment bereit sind, unsere Gewohnheiten, Rechte, Begriffe, unsere eigene Welt dem Risiko der Konfrontation auszusetzen, in der das Ausmaß der Niederlage unbekannt ist. Schön kann ich mich unterscheiden, wenn ich verstehe, dass »[a]uch meine Feinde zu meiner Seligkeit [gehören].« 15 Zarathustra lehrt also, dass nicht böse Absichten (von denen man irgendwann befreit werden kann) oder die eine oder andere individuelle oder gesellschaftliche (heilbare) Krankheit die Welt, in der wir leben, in Gefahr bringen. Das Leben selbst ist gefährlich. Weil es unabänderlich offen ist für Unerwartetes und Neues, weil es eine unablässige Konfrontation mit dem Anderen, dem Fremden ist und damit nie bleiben kann, was es ist. Erst im Zuge dieser irreduziblen Vielfalt des Lebens, im Zuge des Lebens-Krieges erlangen die Dinge eine ganz bestimmte Bedeutung, werde ich der, der ich bin. Nein, die Welt liegt nicht wie eine noch nebelverhangene Landschaft vor uns, die darauf wartet, entdeckt zu werden. Nein, die Vernunft ist kein mildes Licht, welches das Dunkel der Unwissenheit und 75 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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mit ihm die Gespenster und Ängste des Aberglaubens vertreibt. Nein, die Vernunft ist kein Wissen über eine im Alltag verborgene Harmonie der Dinge. »Ihr kennt nur des Geistes Funken: aber ihr seht den Ambos nicht, der er ist, und nicht die Grausamkeit seines Hammers! […] In Allem aber thut ihr mir zu vertraulich mit dem Geiste […]. Ihr seid keine Adler: so erfuhrt ihr auch das Glück im Schrecken des Geistes nicht.« 16

Vielleicht meinte Heraklit etwas Ähnliches: »Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König. Die einen erweist er als Götter, die anderen als Menschen, die einen macht er zu Sklaven, die anderen zu Freien.« 17 Wenn das so ist, dann ist meine Identität, die Bedeutung des kleinen Wörtchens »ich«, nicht gegeben, fertig, an jedem Punkt meines Lebens identisch. Nein, mit jedem neuen Schritt – mit der Mut erfordernden Konfrontation mit dem Unbekannten, mit dem Schmerz der Trennung von Liebgewonnenem – wird diese Bedeutung neu geschaffen. Alles, was ich über mich weiß, alles was mir gehört, mir eigen ist, wird jeden Augenblick wieder in Frage gestellt. Meine Identität muss also die Bereitschaft enthalten, alles, was ich denke und fühle aufzugeben: »noch auf deinen eigenen Kopf zu steigen […] Auf deinen eigenen Kopf und hinweg über dein eigenes Herz!« 18 Sie muss die Bereitschaft enthalten, von mir selbst zu abstrahieren: »Von sich absehn lernen ist nöthig, um Viel zu sehn«. 19 Von sich absehen, wie man im Moment ist. Ich muss bereit sein, wie die Schlange aus meiner Haut zu schlüpfen, um ich selbst zu bleiben. Ich muss bereit sein, mein Haus zu verbrennen, mich von dem zu distanzieren, was mir nahe ist, zu ignorieren, was mir bislang wichtig war. Nicht nur, um ein neues Haus, neue Freunde und neue Werte zu finden, sondern um noch weiter zu gehen, immer weiter, ohne die trügerische Hoffnung, irgendwann für immer einen Hafen zu erreichen, Ruhe, Wärme, Geborgenheit. Alles, was diese Hoffnung nährt, alle Begriffe und moralischen Sanktionen, die eine Situation, einen Zustand als Ende der Wanderung, als endlich sichere Zuflucht, als Haus, das nie mehr verlassen werden muss, erscheinen lassen, sind Götzen. »Wahrhaftig – so heiße ich Den, der in götterlose Wüsten geht und sein verehrendes Herz zerbrochen hat. Im gelben Sande und verbrannt von der Sonne schielt er wohl durstig nach den quellenreichen Eilanden, wo Lebendiges unter dunkeln Bäumen ruht. Aber sein Durst überredet ihn nicht,

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diesen Behaglichen gleich zu werden: denn wo Oasen sind, da sind auch Götzenbilder.« 20

Das Leben ist unabänderlich vielfältig und damit seinem Wesen nach gefährlich, denn es ist eine unablässige Konfrontation mit dem radikal Neuen, Unfassbaren, Fremden. Mit dem Zufall. Streng genommen dürfte ich nicht schreiben »das Leben ist« dies oder jenes, so oder anders. Da es offen ist für das Neue und Andere, »ist« das Leben nie. Weil es »sich immer wieder selber überwinden muss!« 21 Nein, Zarathustra möchte uns durchaus nicht davon überzeugen, dass das einfach wäre. Er redet uns nicht ein, wenn wir nur auf ihn hörten, könnten wir alles, was uns jetzt lieb und wert ist, hinter uns lassen, wie ein Model, das bei einer Modenschau zwischen einem Auftritt und dem nächsten die Garderobe wechselt. Die Schlange kann vielleicht schmerzfrei aus ihrer Haut schlüpfen. Wir nicht. Uns schmerzt es. Es ist schmerzlich, seine Welt aufzugeben, alles aufzugeben, was einem lieb und teuer ist, seine Gewohnheiten, auch die unbewussten, alles aufzugeben, was man weiß. Das ist nicht nur Verkleidung, keine Maske, hinter der ich stecke, wie ich wirklich bin – ich bin es, ich, wie ich bin, es ist meine Haut, ein integraler Bestandteil meines Körpers. Sie abzuziehen schmerzt. Doch niemand tut mir hier Gewalt an, keine fremde oder böse Macht – mein eigenes Leben, mein sich stets selbst überwindendes Leben führt mich den schmerzhaften Weg fort von jedem Ort, an dem ich heimisch geworden bin. So bleibe ich, solange ich lebe, offen für Neues, Anderes, Unerwartetes. Für die Welt in ihrer irreduziblen Vielfalt. So verstehe ich – mit meinem Leben, nicht mit seinen Begriffen – die Welt, die mich umgibt. »Geist ist das Leben, das selber in’s Leben schneidet: an der eignen Qual mehrt es sich das eigne Wissen« 22, lehrt Zarathustra. Nur so, mit Hilfe der Wunden, die es sich selbst beibringt, wird das Leben empfänglich für die Welt. Erst das solchermaßen zerrissene Leben wird offen für die Welt, erst in ihm tritt die Welt zutage. Nietzsche beklagt sich mit Zarathustra über seine Zeitgenossen: »Das verwegene Wagen, das lange Misstrauen, das grausame Nein, der Überdruss, das Schneiden in’s Lebendige – wie selten kommt das zusammen! Aus solchem Samen aber wird – Wahrheit gezeugt!« 23

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3 Lässt sich nun der Begriff des Zufalls mit dem oben Gesagten in Einklang bringen? Ist mir alles, was mir im Leben widerfährt, im Grunde genommen eigen und vertraut, wenngleich ich das vielleicht nicht auf den ersten Blick zu erkennen vermag? Und ist damit der Zufall als etwas mir gänzlich Fremdes unmöglich, wie ich eingangs geschrieben habe? Oder kann ich mir vielmehr umgekehrt die Welt nicht aneignen, und mein Leben ist eine unablässige Konfrontation mit dem Fremden, Neuen, Unerwarteten, ist der Zufall also als etwas Unfassbares eine zentrale Kategorie meines Lebens? Das ist nur scheinbar ein Widerspruch. Er liegt nur dann vor, wenn ich annehme, ich wüsste oder könnte zumindest wissen, wer ich bin. Wenn ich annehme, meine Identität könnte, zumindest dem Grundsatz nach, endgültig festgelegt sein. Wenn ich annehme, ich könnte – auch wenn das Erreichen des Ziels unendlich weit entfernt ist – jemals etwas werden, dies oder jenes. Beispielsweise ein völlig freies, unendlich vernünftiges oder glückliches Wesen. Wenn wirklich alles, was mir widerfährt (zumindest potenziell) mir eigen ist und in diesem Sinne vertraut (wenn also der Zufall im ersten Sinne eine Illusion ist), dann gilt tatsächlich, dass es auch für den Zufall im zweiten Sinne, das unfassbare Fremde, keinen Raum gibt. Doch meine Identität ist eben keine stabile, starre Einheit, auch nicht im tiefsten Inneren des unsteten Alltagslebens oder in unendlich weiter Ferne. Meine Identität wird in jedem Moment meines Lebens neu in Frage gestellt – sofern es offen ist für bislang Fremdes, für Anderes, für Situationen, in denen meine bisherigen Begriffe und meine bisherige Fähigkeit, mir etwas anzueignen, nicht mehr funktionieren – jeder Moment fordert mir eine neue Selbstbestimmung ab. Meine Identität ist im Werden, sie überwindet sich unablässig, keiner ihrer Zustände ist endgültig, so Nietzsche. Mit anderen Worten: Ich werde nicht nur niemals endgültig nur dieser oder jener sein, mit keiner Definition vollständig zu charakterisieren, mit keinem Begriff zu fassen, ich kann auch nicht dieser oder jener werden, ich bin nicht auf dem Weg zur Realisierung irgendeines Begriffs, Wesens oder Ideals. Das bedeutet, dass die Konfrontation mit dem Fremden, Neuen, Unerwarteten ein unverzichtbarer Bestandteil meiner Identität ist. Sie macht mich zu dem, der ich bin. Immer wieder aufs Neue. Meine »innere Identität«, schreibt Lévinas, wie ich meine in Fortführung dieses Gedankens von Nietzsche, »bedeutet gerade die Unmög78 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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lichkeit […] der Identifikation von Ich und Anderem, die unmögliche Synthese von Ich und Anderem.« 24 Die Welt, davon versucht Zarathustra seine Zuhörer zu überzeugen, die Welt ist kein in sich geschlossenes Ganzes. Diese Annahme wäre absurd, nicht zu begründen. Die Welt fügt sich erst durch das, was ich in meinem Leben tue, zu einem Ganzen, allerdings ist dieses Ganze, meine Welt, so zerbrechlich und hinfällig wie ein Tonkrug. Die Welt, meine Welt, wird beständig unterminiert. Um sie verstehen zu können, muss ich das Dynamit wittern, das unter ihrer Oberfläche lagert, die Sprengkraft der Möglichkeit, auf etwas radikal Neues, Anderes, Fremdes zu stoßen, etwas, das die mir bekannte Welt in Frage stellt und mich zu einem radikalen Umdenken zwingt. Eine Welt, verstanden ohne den in ihr lagernden Sprengstoff, ohne die Möglichkeit von Explosion, Zerfall und Sprengung, ist eine Abstraktion. Aber nur so, abstrakt, als (zumindest potenziell) fertige, feste Struktur, lässt sich die Welt überhaupt erfassen, eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Sie wird uns also immer durch die Maschen des Begriffsnetzes gehen, mit dem wir sie einzufangen versuchen. Demnach ist es wahr, es gibt keinen Zufall. Alles, was mir widerfährt, ist mir in gewissem Sinne eigen, betrifft mich irgendwie. Das schließt aber den Zufall in einem anderen Sinne nicht aus, Zufall als etwas an den bisherigen Kriterien gemessen gänzlich Neues, Fremdes und Unfassbares. Dieser Zufall lauert hinter jeder Ecke, er begleitet mich in meinem Leben auf Schritt und Tritt, und fördert so den unabänderlich provisorischen, vergänglichen – und damit gefährlichen – Charakter meines Lebens zutage. Er zeigt, dass mein Leben nicht nur dies oder jenes ist, sondern dass es sich auch und vor allem unablässig selbst überwindet. Damit ist nicht die schlichte Tatsache gemeint, dass wir uns immer in dem bislang angehäuften Wissen einrichten, dass wir uns an bereits bekannte Begriffe und Unterschiede gewöhnen. Immer wieder tauchen ja (unerwartet, zufällig) neue Begriffe auf, Indianer oder Marsianer, Unterschiede, von deren Existenz wir bislang nicht wussten, die unser Wissen erweitern. Vielmehr ist ein Unterschied gemeint, der nicht nur dieses oder jenes Fragment meines Wissens, nicht nur diesen Aberglauben oder jene Gewohnheit in Frage stellt, sondern meine bisherige Identität (»Krzysztof Michalski«) und damit die Ordnung der Welt, in der ich lebe. Der Zufall in diesem Sinne betrifft mich so direkt und unmittelbar wie nur möglich, ohne ihn wäre ich nicht, der ich bin und meine Welt wäre nicht, die sie ist. 79 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Mit anderen Worten: Dieser Zufall, dieses Fragezeichen, ist beteiligt an der Konstituierung meiner Identität, der Bedeutung des »Ich«. Die Welt ist mein, und sie ist gleichzeitig offen für Neues, Fremdes, ist zusammenhanglos und undurchsichtig. Auf diese Weise sind die beiden Zufalls-Begriffe miteinander verknüpft.

4 Damit erhält auch der Begriff der Notwendigkeit eine neue Bedeutung. Wenn der Begriff der universalen Rationalität eine Illusion ist, dann ist auch der Begriff der allgemeinen Notwendigkeit, die die Welt regiert, unsinnig. Die »allgegenwärtigen und unfehlbaren Naturgesetze« und die »ehernen Gesetze der Historie« sind Fiktion. »[H]üten wir uns, von irgend einem Gesetz […] zu behaupten, dies herrsche in ihm [dem All – KM] und sei eine ewige Eigenschaft« 25, notiert Nietzsche. Kann man in dieser Situation noch von »Notwendigkeit« sprechen? Durchaus, wenn ich Nietzsche hier richtig verstehe. Nur dass »Notwendigkeit« dann nichts Bestehendes ist, nichts, was der Entdeckung und des Verstandenwerdens harrt. »Notwendigkeit« ist jetzt eine sich mir bietende Möglichkeit, ein Zustand, den ich erreichen kann, die Einheit des Willens, die Integration all meines Tuns in ein Ganzes. Wenn mir das gelingt, verschwindet die »Notwendigkeit« in einem anderen Sinn, »Notwendigkeit« als Erfordernis, als Dilemma, als Situation, in der ich etwas Bestimmtes tun muss, weil mir die Umstände keine andere Wahl lassen. Es verschwindet die von außen verordnete »Notwendigkeit«. Einheit, Notwendigkeit des Willens ist nicht möglich, solange der Zwang, das von den äußeren Umständen diktierte Erfordernis – die durch den Widerstand der Dinge erzwungene »Notwendigkeit« – nicht überwunden ist. »Oh du mein Wille! Du Wende aller Noth du meine Nothwendigkeit!« 26, ruft Zarathustra sich zu. So verstandene Notwendigkeit steht also auch in Opposition zum Zufall. Sie ist die Überwindung jeder neuen Situation, jeder Lage, in der ich mich befinde, insofern, als diese Lage mir »zufällig« erscheint, von außen auferlegt, unverfügbar. »Und wahrlich«, spricht Zarathustra, »mancher Zufall kam herrisch zu mir: aber herrischer noch sprach zu ihm mein Wille, – da lag er schon bittend auf den Knieen«. 27 80 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Zufall im Sinne der Welt, die mich nicht betrifft, die mir unverfügbar ist, existiert also nur für denjenigen, der die Situation, in der er sich befindet, nicht überwinden kann, der dem Druck der Umgebung nachgibt, der zulässt, dass diese Umgebung, dass eine vorgefundene Situation definitiv bestimmt, wer er ist; der schwach ist: »›Zufall‹ nennen es die Schwachen. Aber ich sage euch: was könnte zu mir fallen, was nicht meine Schwere zwänge und an sich zöge? Seht doch, wie ich mir jeden Zufall erst in meinem Safte koche: und wenn er gar ist, heißt er mir ›mein Wille und Schicksal‹.« 28

5 Die Welt, so Zarathustra, ist wie der Himmel über mir: »Oh Himmel über mir, du Reiner! Tiefer! Du Licht-Abgrund! […] Oh Himmel über mir, du Reiner! Hoher! Das ist mir nun deine Reinheit, dass es keine ewige Vernunft-Spinne und -Spinnennetze giebt«. 29 Der Himmel über mir – die Welt, die mich umgibt. Diese Welt ist rein wie der Himmel, denn keine Definition, kein Charakteristikum, keine Qualität, an die wir denken könnten, kann ihr etwas anhaben. Diese Welt ist nicht traurig, verregnet, heiter, bergig – vielmehr ist sie das natürlich auch, aber nicht bis zuletzt, sie ist immer noch mehr, immer noch ein undefinierbares, flüchtiges »Mehr«. Als beträfen sie all diese Definitionen eigentlich gar nicht. In eben diesem Sinne ist sie auch tief: Wenn ich glaube, sie erreicht und endlich verstanden zu haben, wie sie ist, wenn ich glaube, ihr auf den Grund gekommen zu sein, dann zeigt sich, dass das eine Illusion war, dass vor mir, unter mir und über mir noch dieselbe Tiefe ist wie ehedem. Die Welt ist, wie der Himmel, unendlich, sie ist ein Abgrund. Denn die Welt ist ja ein Ganzes, zusammengefügt aus meinem Tun, dabei ein Ganzes, das offen ist für das radikal Neue und Fremde, unterminiert mit dem Sprengstoff der unfassbaren Zukunft. Sie ist der unerreichbare Horizont meines stets aufs Neue sich überwindenden Lebens. Denkt aber nicht, so warnt uns Zarathustra, die Welt sei, da sie kein »Etwas« ist, ein »Nichts«: »auch euer Nichts ist ein Spinnennetz und eine Spinne, die von der Zukunft Blute lebt.« 30 Dieser Begriff des Nichts ist ebenso wie der Begriff der Welt als eines Ganzen das Produkt einer vorgeblich universalen Rationalität. Die Verneinung der Welt als eines Ganzen ist genauso Mythos, Illusion und Lüge (so 81 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Nietzsche) wie ihre Bejahung. Die mich umgebende Welt ist nicht leer, sie ist immer schon irgendwie, ist immer schon erfüllt vom Inhalt meines oder deines Lebens, dessen Horizont sie darstellt, wenngleich dieser Inhalt nie endgültig ist, nie abgeschlossen sein wird, sondern stets offen bleibt für künftige Veränderungen, Revisionen und Revolutionen. Der Begriff der Welt als eines allumfassenden Ganzen und sein Widerpart, der Begriff des Nichts, haben keine Designate. Falls sie einen, vielleicht verborgenen, Sinn haben – einen untergründigen Pulsschlag – dann speist sich dieser (wie jeder Sinn) aus dem für Neues, Unerwartetes und Fremdes offenen Leben, das diese Begriffe negieren. Aus dem Leben, das kein rationales Projekt zu fassen vermag. Es ist also gleichgültig, so versucht Nietzsche uns zu überzeugen, ob wir uns die uns umgebende Welt als geordneten Kosmos vorstellen (selbst wenn die Ordnung dieses Kosmos unendlich kompliziert und uns jetzt nicht zugänglich ist, auch nicht morgen, vielleicht auch nie), oder ob wir sie als Nichts, Unordnung und Chaos wahrnehmen. Beide Vorstellungen sind unsinnig, indem sie das Leben negieren, das Leben, wie es ist, in seiner irreduziblen und unendlichen Vielfalt. Wie eine blutsaugende Spinne verunstalten sie das Leben und lassen es degenerieren. Die Negation der universalen Vernunft ist keine Affirmation des Nichts, kein Votum für den (so verstandenen) Nihilismus. Aber bedeutet das nicht, dass ich hier – entgegen aller Erklärungen – die Welt mit Zarathustra in Abgrenzung zu anderen, konkurrierenden Darstellungen beschreibe, »Welt, wie sie ist« 31? Stelle ich nicht eine Behauptung über ihre Struktur auf, dass nämlich ihr Sinn sich stets dem Verstehen entzieht und sie damit »tief« und »rein« wie der Himmel ist? Nein, das habe ich nicht getan. »Höhe«, »Tiefe« und »Reinheit« sind nicht Merkmale eines Objektes, das ich betrachte. Die Welt ist kein solches Objekt. Der hohe, tiefe, reine Himmel über mir ist keine Metapher für ein solches Objekt. »In deine Höhe mich zu werfen [oh, Himmel! – KM] – das ist meine Tiefe!«, spricht Zarathustra. »In deine Reinheit mich zu bergen – das ist meine Unschuld!« 32 Hier geht es also nicht um eine Beschreibung der Welt, die besser oder wahrer wäre als andere. Der reine Himmel über mir ist vielmehr ein Appell an mich, an das Leben, das ich lebe. Er appelliert an die in mir schlummernde Kraft, die mich über jede vorgefundene Situation hinaus-

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führt, an das in mir verborgene Potenzial, das unter keinen Umständen realisiert werden kann. »Dich schauend [oh, Himmel! – KM] schaudere ich vor göttlichen Begierden.« 33 Die Invokation des (hohen, reinen, unendlichen) Himmels ist also aus dem Munde Zarathustras offensichtlich gleichzeitig ein Zeugnis der conditio humana. Der Anblick des Himmels ruft in mir im Alltag schlummernde göttliche Begierden wach, »göttliche«, weil unendliche, nicht zu befriedigende. Angesichts des reinen, unendlich hohen Himmels ist mein Leben noch etwas anderes als bloß Streben nach Glück oder Ruhm, nach der Einhaltung moralischer Regeln oder nach Pflichterfüllung. Es ist die Überwindung seiner selbst, die kein Ende kennt, das unablässige Aufgeben all dessen, was ich mir als das Meine angehäuft habe, es ist die göttliche Begierde. Die Beschreibung der Welt, wie sie ist, ist also gleichzeitig – davon wollen uns Zarathustra und Nietzsche meiner Ansicht nach überzeugen – ein Ausdruck des Willens, sie zu überwinden, jede Erscheinungsform der Welt zu überwinden, die ich antreffe. Vernunft ohne praktisches Streben ist ein Abstraktum, vergleichbar dem Begriff einer Welt, die ich wie einen Schmetterling im Schaukasten des Museums betrachten kann. Jede Erscheinungsform der Welt, die ich antreffe, ist nur im Kontext meines Versuches, sie zu überwinden, verständlich, der gleichzeitig der Versuch ist, mich selbst zu überwinden, wer immer ich eigentlich sein mag.

6 Dieses Verstehen bedeutet gleichzeitig ein Akzeptieren, so Zarathustra: »Zum Segnenden bin ich worden und zum Ja-sagenden«. 34 Für diesen Segen, für die Akzeptanz der unabänderlichen Vielfalt der Welt, die Akzeptanz der Unterschiede als solcher, bedarf es natürlich mehr als bloßer Worte. Es genügt nicht, »Ja« zu sagen (zum Unterschied), wo ich bislang (auf der Suche nach der im Unterschied verborgenen Einheit) »Nein« sagte. Denn sind nicht Worte »Regenbogen und Schein-Brücken«? Grundlage dieser Affirmation der Welt kann nicht die Erkenntnis sein, dass die Welt »gut« ist oder »die bestmögliche«, dass sie, recht verstanden, glücklich macht. Denn greifen nicht Worte immer zu kurz, um die Welt, wie sie ist, erfassen zu können? Jetzt sind Taten gefragt, nicht Worte, es geht ums Leben, 83 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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nicht nur um Erkenntnis. Es geht um meine Offenheit für das unerwartete Neue der Welt, für das alle bisherigen Begriffe übersteigende Fremde, für ihren mir bislang unbekannten Widerstand. Ich segne die Dinge, ich sage ja zu ihnen, wenn mein Leben – nicht meine Worte – die Welt in ihrer irreduziblen, unfassbaren, undurchsichtigen Vielfalt zutage fördert. Es geht also bei dieser Affirmation der Welt, der Affirmation, zu der Zarathustra uns aufruft, nicht um die »wahre Erkenntnis« der Welt, nicht um ein Vordringen zur tatsächlichen Struktur der Dinge (der »irreduziblen Vielfalt«). Es geht nicht darum, Sicherheit darüber zu erlangen, wie es wirklich ist. Die Weisheit, die Zarathustra sucht, gründet sich nicht auf solche Sicherheit. Gewiss, Zarathustra sagt: »selige Sicherheit fand ich an allen Dingen« 35, das bedeutet aber nicht, dass er darin eine universale Struktur erkannt hätte, einen gemeinsamen Nenner und damit einen Grund unter seinen Füßen. Im Gegenteil, sicher ist sich Zarathustra nur, dass es diese Struktur, diesen gemeinsamen Nenner nicht gibt, oder anders formuliert, dass diese Struktur, dieser gemeinsame Nenner, Unsinn ist. Schließlich ist jeder Schritt in meinem Leben, jede neue Erfahrung der mich umgebenden Welt zufällig, nicht endgültig festgelegt. Oder anders ausgedrückt: Mit jeder meiner Erfahrungen beginnt die Welt von Neuem. Die selige Sicherheit, die Zarathustra in allen Dingen gefunden hat, ist die Sicherheit, »dass sie […] auf den Füssen des Zufalls – tanzen.« 36 Sie tanzen und liegen nicht etwa fein säuberlich ausgerichtet in Erwartung ihrer Entdeckung da. Sie tanzen auf den Füßen des Zufalls und nicht nach einer vorgegebenen Ordnung, einem fertigen Muster, einem Drehbuch. In diesem Tanz, in jedem einzelnen seiner Schritte, tritt die Welt – »alle Dinge« – erst zutage. Nur eine solche Weisheit ist für Zarathustra möglich, eine Weisheit, die »alle Dinge nur mit dem Zufalle zu sich gängelt«. 37 Die Notwendigkeiten sind nicht bindend, ganz gleich ob es sich um Kausalketten, logische Zusammenhänge oder strukturelle Abhängigkeiten handelt. Eine Weisheit, die mich lehrt, dass jede Erfahrung ein neues, endloses Feld von Möglichkeiten eröffnet, in dem der Sinn des angetroffenen Gegenstandes – aber auch meine Identität – erst werden. Eine Weisheit, die mich bereit macht für die unabänderliche Zusammenhanglosigkeit, die Diskontinuität der Welt, die Begegnung mit der ihr unweigerlich innewohnenden Fremdheit. Eine Weisheit, die mir Mut macht, die mich tapfer sein lässt. Eine Weisheit, die tanzend 84 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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»alle Dinge […] zu sich gängelt« in einem tapferen, für das Neue und Andere offenen Leben. Weise ist, wer empfänglich ist für das Unerwartete, Fremde, Unfassbare – für den Zufall. Weise ist, wer sein Leben nicht bloß an das Vorgefundene anpasst, auch nicht an Ideale, die nicht heute, auch nicht morgen, sondern irgendwann einmal erreicht werden können (Glück, soziale Gerechtigkeit, allgemeiner Wohlstand, etc.). Weise ist, wer mit seinem Leben über das Gegebene, Vorgefundene, Erträumte und Geplante hinausstrebt – »zu den Sternen«. »Ich sage euch«, ruft uns Zarathustra zu: »man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.« 38 Erst dann, erst wenn mein Leben sich nicht vorgefundenen Regeln unterordnet, ja, überhaupt keinen Regeln (denn in der stetigen Selbstüberwindung muss es sie ständig neu schaffen), erst dann kann ich etwas hervorbringen, das mich übersteigt, erst dann werde ich zu einem Ort, an dem eine neue Gestalt der Welt zutage treten kann. Die Bejahung der Vielfältigkeit der Welt, das Segnen der Dinge, zu dem Zarathustra uns aufruft, ist also nicht bloß ein Ja-Sagen zur Verschiedenheit der Dinge. Ich bin es, der mit seinem Leben – das sich in keinen Rahmen pressen lässt, das ungehemmt, chaotisch und wild ist – den Dingen erst gestattet, in ihrer bislang ungeahnten Differenziertheit zutage zu treten. Ich offenbare die Zerbrechlichkeit, die Fehlbarkeit ihrer jeweiligen Bedeutung und eröffne vor ihnen das grenzenlos Neue und Fremde ihrer Zukunft. Mein ungehemmtes, chaotisches, wildes – schöpferisches – Leben spannt über jedem Ding den reinen, tiefen, abgründigen Himmel auf: »Das aber ist mein Segnen«, spricht Zarathustra: »über jedwedem Ding als sein eigener Himmel stehn, als sein rundes Dach, seine azurne Glocke und ewige Sicherheit: und selig ist, wer also segnet!« 39 Weise ist, wer das Leben kennt, wie es ist. Das bedeutet aber nicht – so verstehe ich diesen Gedanken Zarathustras –, dass die Beziehung zwischen Weisheit und Leben eine Beziehung zwischen »wahrem Wissen« und »Realität« wäre. Nicht weise, dumm ist nicht derjenige, der denkt, dass zwei und zwei fünf ergibt und nicht vier, nicht derjenige, der denkt, das Leben sei anders (ewig, angenehm, einfach) als es in Wirklichkeit ist (zu kurz, leidvoll, gefährlich). Das Leben ist nicht unabhängig von meiner Weisheit so oder anders, unabhängig von meinem Wissen über es, einem Wissen, das ich nicht allein mit meinem Bewusstsein erlange, nicht nur sehend, tastend, hörend, verstehend und anschließend das Gesehene, Gehörte und 85 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Verstandene in Begriffssäckchen packend, sondern auch, ja zuallererst mit jeder Bewegung meines Körpers, jedem neuen Schritt in meinem Leben. Ich habe mir das Leben immer schon – bis zu einem gewissen Grad – angeeignet, es »verstanden«, an das angepasst, was ich über es weiß, es mit einem Netz von Bedeutungen überzogen, die früher oder später darauf verweisen, was ich tue oder was ich tun kann: Hier ist ein Haus, da ein Berg, da ein Hammer und da ein Dreieck. Aber eben nicht ganz. Denn das Leben ist ja immer mehr als ich über es weiß und wissen kann, es entzieht sich ja ständig dem Netz der Bedeutungen, in dem ich es einfangen will. Das Leben hat ja immer auch diese andere Seite, das andere, fremde Gesicht. Es unterscheidet sich von dem, was ich das Meine nennen kann, durch einen abgrundtiefen, unüberwindbaren Unterschied. Leben und Weisheit gleichen sich also bis zu einem gewissen Grad. »Von Grund aus«, so Zarathustra, »liebe ich nur das Leben […]! Dass ich aber der Weisheit gut bin und oft zu gut: das macht, sie erinnert mich gar sehr an das Leben! […] was kann ich dafür, dass die Beiden sich so ähnlich sehen?« 40 Ähnlich sind sie sich, aber nicht identisch, bis zu einem gewissen Grad gleich – aber auch verschieden. Das Leben wird nie sein wie die Weisheit, auch wenn es gern würde. Denn das Leben ist der Versuch sich einzunisten, sich niederzulassen und die Welt als das Meine einzurichten, sie mir anzueignen, es ist (auch) ein Streben nach (irgendeiner) Ordnung. »Und dass ich dir gut bin und oft zu gut, Das weisst du«, spricht das Leben zu Zarathustra, »und der Grund ist, dass ich auf deine Weisheit eifersüchtig bin.« 41 Die Weisheit bekommt das sich ihr ständig entziehende Leben nie zu fassen, eben weil sie es selbst mit hervorbringt. Ist der beste Beleg dafür nicht der Tod, belegt die unwiderlegbare Tatsache, dass ich sterben werde nicht, dass mir das Leben durch die Finger rinnt, wie weise ich auch sein mag? »›Oh Zarathustra‹«, spricht das Leben zu dem von Weisheit erfüllten Zarathustra, um die es ihn so beneidet, »›du bist mir nicht treu genug! Du liebst mich lange nicht so sehr wie du redest; ich weiss, du denkst daran, dass du mich bald verlassen willst.‹« 42 Kann es da verwundern, dass angesichts der beiderseitigen Niederlage, der unausweichlichen endgültigen Niederlage des Verstandes, der sich das Leben niemals anzueignen vermag, für den das Leben immer das unüberwindbar Fremde bleibt, und angesichts der unwiderruflichen Niederlage der Tat, die die Welt einzurichten niemals im Stande ist, weshalb die jeder Tat innewohnende Sehnsucht nach 86 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Ordnung, Übersichtlichkeit und Stabilität ungestillt bleiben muss – kann es da verwundern, dass mit dem bitteren Geschmack der Niederlage auf der Zunge das Leben und der weise Zarathustra in Tränen ausbrechen? »Und wir sahen uns an und blickten auf die grüne Wiese, über welche eben der kühle Abend lief, und weinten mit einander. – Damals aber war mir das Leben lieber, als je alle meine Weisheit.« 43

7 Das menschliche Leben ist also – so lautet, denke ich, Zarathustras Botschaft – irreduzibel vielfältig und durchweg gefährlich. Immer wieder neu versuchen wir, uns darin ein Haus zu bauen, immer wieder neu versuchen wir, all die Fragmente der Welt, in der wir leben, zu einem Ganzen zu fügen, das Leben zu ordnen, daraus »unsere Welt« zu machen. Doch wird es uns niemals gelingen, die Bedrohung durch Katastrophe und Zerstörung, die Bedrohung durch das Ende aus dieser Welt zu schaffen, wir werden niemals Gewissheit darüber erlangen, ob unser nächster Schritt nicht der Schritt in den Abgrund wird, in dem alles verschwindet, was vorher vertraut, lieb, heimelig, geordnet war (»ich bin immer am Abgrunde« 44, notiert Nietzsche). Mit anderen Worten: Integraler Bestandteil unseres Lebens ist der Zufall, die neue, unerwartete, fremde Seite meines Lebens. Das Leben ist in jedem Augenblick zerrissen, zusammenhanglos, gesprungen – differenziert. Und diese Differenz, daran sei noch einmal erinnert, ist nicht ein Unterschied zwischen linker und rechter Seite, ist nicht wie der Unterschied zwischen den Scherben der eben zerbrochenen Vase, ist nicht gleichgültig. Das Andere, Neue, Fremde, Unerwartete stellt in jedem Moment meines Lebens alles in Frage, was ich bin, betrifft mich also, und das nicht zufällig, es bringt den Sinn meiner (zerbrechlichen, bedrohten) Identität mit hervor. Es schmerzt. Wenn das so ist, hatte Zarathustra recht, als er sagte, es gebe keinen Zufall im Sinne von etwas, das mich überhaupt nicht betrifft. Dieser Begriff hat tatsächlich keinerlei Bedeutung. Auch die Fremdheit, das Anderssein, der ewig der Rationalität sich entziehende Zufall bin ich, ist die andere, geheimnisvolle Seite meines ständig sich selbst überwindenden Lebens. Zarathustra lehrt also nicht Relativismus oder gleichgültige Toleranz, er hat auch keinen Nihilismus gelehrt. Die Differenziertheit unseres Lebens, wie er sie versteht, eignet sich nicht für die Prämisse 87 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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des milden Blicks, der in der Welt viele unterschiedliche Wege zu Wohl und Wahrheit erkennt und dabei kein Argument für einen dieser Wege hat, der den anderen vorzuziehen wäre. Nein, sagt Zarathustra, dieser Blick wäre Selbstbetrug, er zeugte von verborgener Schwäche. Die Differenziertheit der Welt wird immer aus der Perspektive dessen gesehen, der ich bin, vom Standpunkt meines Lebens aus. Mit anderen Worten: Mein Leben ist immer eine Herausforderung für die Welt, genauso wie die Welt, die mir im Laufe meines Lebens begegnet, eine Herausforderung für mich ist, für jeden Ziegel des Hauses, das ich mir errichtet habe, für jede Zelle meines Körpers, jeden Winkel meiner Seele. So zu leben ist schwierig, ja, unmöglich. Deshalb erfinden wir ständig neue Werkzeuge, welche die unabänderliche Vielfalt und die Bedrohlichkeit des Lebens negieren. Eine solche Werkzeugsammlung ist, so Nietzsche, die Kultur, in der wir leben, eine Kultur der Gleichschaltung [im Original deutsch, Anm. d. Übers.], nihilistisch und relativistisch. Das Idealbild des Menschen in dieser Kultur – Zarathustra nennt ihn den letzten Menschen – ist ein Mensch, der mit den anderen in Gleichheit lebt. Das Ideal gesellschaftlichen Lebens in dieser Kultur ist die Gleichheit, in gewisser Hinsicht die Identität aller Teilhaber. Gewiss, Unterschiede sind möglich, allerdings müssen sie innerhalb eines vorgegebenen Rahmens bleiben und sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen wie »Zivilisation«, »Menschlichkeit«, »Rationalität«, mithin »rational« fassbare Unterschiede sein. Wer diesen Rahmen verlässt und in diesem Sinne »anders denkt«, ist verrückt. »Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig in’s Irrenhaus.« 45 Oder er ist ein Verbrecher. Auch die Moral ist in dieser Kultur, so Nietzsche, ein Mittel zur Einebnung der Unterschiede, eine Methode zu ihrer Entschärfung. Wie der Begriff der universalen Rationalität, so ist auch unsere Moral eine Ordnung mit Universalitätsanspruch, ein Spinnennetz, das unsere nihilistische Kultur unserem Leben überzuwerfen versucht, um die Unterschiede auflösen zu können, die uns und damit die Welt teilen, um ihnen ihre Gefährlichkeit zu nehmen. Die Annahme eines universalen Verstandes und einer universalen Moral sind in unserer Kultur verankerte Strategien zur Beseitigung der Gefahr und des Unterschiedes. Das war nicht immer so, meint Nietzsche. In der Morgenröthe schreibt er: »Ehemals giengen die Denker gleich eingefangenen Thieren ingrimmig herum, immer nach den Stäben ihres Käfigs spähend 88 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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und gegen diese anspringend, um sie zu zerbrechen: und selig schien der, welcher durch eine Lücke Etwas von dem Draussen, von dem Jenseits und der Ferne zu sehen glaubte.« 46 Ob Nietzsche mit seiner Einschätzung der Vergangenheit Recht hat, spielt hier keine Rolle. Vielleicht geht auch in unserem tiefen Inneren unter der Oberfläche einer angeblich allgemein gültigen Rationalität und Moral solch ein Tier um. Wenn ja – und ich denke, dass uns Nietzsche eben dies sagen will –, dann ist unsere nihilistische und relativistische Kultur nur die eine Seite unseres Lebens.

89 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

V Die Zeit ist nahe 1 Nietzsche war, wie wir gesehen haben, der Auffassung, alles Wissen habe moralischen Charakter. Dies gilt auch, und in besonderer Weise, für die Wissenschaft. Unabhängig vom Inhalt wissenschaftlicher Thesen wird Wissenschaft aus bestimmten Gründen betrieben und ist damit Ausdruck bewusster oder unbewusster Präferenzen des jeweiligen Wissenschaftlers, Ausdruck dessen, was er für gut befindet und was für schlecht. Wissenschaft hat auch eine solche moralische Bedeutung, was freilich nicht heißt, dass es ihre einzige wäre, dass es keine andere gäbe. Verweilen wir noch einen Moment bei diesem Gedanken. Es geht Nietzsche hier wohlgemerkt nicht allein um die Ausweitung unseres Wissens über Wissenschaft, um unser Wissen über die Funktion, die ihr zukam oder noch zukommt. Vielleicht auch darum. Vor allem aber, so denke ich, geht es ihm darum, im Nachdenken über die moralische Bedeutung der Wissenschaft etwas über die conditio humana zu erfahren, die in ihr zum Ausdruck kommt. »Erfahren«, »zu wissen bekommen« hat in diesem Kontext eine besondere Bedeutung. Aus der Tatsache, dass Wissenschaft bemäntelte Moral ist, folgt nämlich nach Auffassung Nietzsches nicht, dass wir unter der Verkleidung eine wahre Gestalt, im Bettlergewand den Prinzen entdecken, wenn wir die Verkleidung nur erkennen. Reißen wir die Maske herunter, entdecken wir nicht die nackte Wahrheit, verwandeln wir nicht scheinbar wahres Wissen in tatsächlich wahres Wissen. Wenn wir eine Maske herunterreißen, erweitern wir lediglich unseren Handlungsspielraum. »[D]ie Zerstörung einer Illusion«, so Nietzsche, »[ergiebt] noch keine Wahrheit, sondern nur ein Stück Unwissenheit mehr, eine Erweiterung unseres ›leeren Raums‹, einen Zuwachs unserer ›Oede‹«. 1 Es geht hier also um »praktisches« (oder anders: »moralisches«) Wissen, um das Erkennen einer neuen, weitgehend verborgenen Perspektive des Lebens. Ist denn aber die Wissenschaft, das wissenschaftliche Arbeiten, 90 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

V · Die Zeit ist nahe

Wissenschaft als gewisses organisierendes Moment des Lebens, so bedeutsam für die Fragen, die über die conditio humana entscheiden, für die sogenannten großen oder letzten Fragen? Ich möchte damit nicht die ebenfalls spannende Frage aufwerfen, ob wissenschaftliche Erkenntnisse der Menschheit eher zum Segen oder zum Fluch gereichen, vielmehr interessiert mich, ob in dem von Wissenschaft durchdrungenen Alltagsleben, in allem was wir tun, um zu diesen segensreichen oder verhängnisvollen Erkenntnissen zu kommen, nicht auch eine Antwort auf die letzten Fragen verborgen liegt, auf die Frage nach dem Sinn des Lebens und des Todes. Nietzsche war bekanntlich der Ansicht, dass sich eben dort Antworten finden lassen. Er sah die Wissenschaft zudem in einer langen Traditionslinie: »[E]s [ist] immer noch ein metaphysischer Glaube, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht, auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, [nehmen] auch unser Feuer noch von dem Brande, den ein Jahrtausende alter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Plato’s war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit göttlich ist … Aber wie, wenn dies gerade immer mehr unglaubwürdig wird, wenn Nichts sich mehr als göttlich erweist, es sei denn der Irrthum, die Blindheit, die Lüge, – wenn Gott selbst sich als unsre längste Lüge erweist?« 2

Um diesen jahrtausendealten Glauben und Nietzsches Interpretation desselben aber verstehen zu können, müssen wir uns wohl der Apokalypse des Johannes und der bis heute geführten Diskussion um ihre eigentliche Bedeutung zuwenden.

2 Die Apokalypse (Offenbarung) des Johannes von Patmos ist »die Offenbarung Jesu Christi, die ihm Gott gegeben hat, seinen Knechten zu zeigen, was in der Kürze geschehen soll; und er hat sie gedeutet und gesandt durch seinen Engel zu seinem Knecht Johannes« (Offb 1,1) 3. Das, »was in der Kürze geschehen soll«, ist das (schreckliche) Ende der Welt, die wir kennen, und der Beginn eines neuen Lebens, dessen Herrlichkeit unsere Vorstellungskraft übersteigt. Die Frage, die niemanden ruhen lässt, der über die Bedeutung dieser Erzählung nachdenkt, ist: Was heißt eigentlich in der Kürze? 91 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

V · Die Zeit ist nahe

»[D]ie Zeit ist nahe« (Offb 1,3), mahnt Johannes. »Der Eimer ist dem Brunnen nahe und das Schiff dem Hafen; die Reise ist nahe der Stadt, das Leben seinem Ende« 4, heißt es in einem vergleichbaren nichtkanonischen Text. Wie ist das zu verstehen? Vielleicht wie ein kosmisches oder historisches Ereignis, eine Flut oder ein Zusammenstoßen der Erde mit einem Meteoriten, ein Ereignis, das irgendwann eintreten wird, wenngleich wir noch nicht wissen wann – kommenden Freitag, in einem Monat, in (gebe es Gott) hundert Jahren? Wenn das so ist, weiß ich ungefähr, was geschieht. Nein, nicht nur ungefähr, eigentlich weiß ich es sogar sehr genau. Die apokalyptische Vision des Johannes bietet mir für diese Lesart ein ausgearbeitetes Drehbuch an, hier ist kein Raum mehr für wirklich Neues. Ein Drehbuch, das auch für mich eine mehr oder weniger große Rolle vorsieht, mit oder ohne Happy End. Was da geschehen soll, betrifft mich nicht unmittelbar, sondern weist mir lediglich wie allen anderen einen Ort in diesem von mir unabhängig sich ereignenden Geschehen zu, diesem Ereignis, das alle betrifft, dieser Flut, dieser kosmischen Katastrophe, dem Ende der mir bekannten Welt. Einstweilen muss ich mich auf all das vorbereiten und mir die Zeit des Wartens, bis es dann soweit ist, irgendwie einrichten. So verstanden verschiebt die Apokalypse das wichtigste Ereignis im Leben eines Christen, den Beginn des neuen Lebens, aus der mich hier und jetzt umgebenden Welt ins »Jenseits«, aus meinem Leben in die Zeit »nach dem Tod«. »Die Zeit ist nahe« – wenn ich diese Zeit als außerordentliches Ereignis mit mir bekannten Konturen (z. B. eine Flut) definiere, auf das ich mich beizeiten entsprechend vorbereiten kann (Sandsäcke horten), verlege ich sie vom momentan erlebten Augenblick in eine unbestimmte Zukunft, auf später. Damit kann ich, wenn ich tatsächlich gut vorbereitet bin, ruhig schlafen. Vielleicht geht es hier aber doch um etwas anderes, nicht um ein Ereignis, einen ausgesuchten Augenblick in der Zeit, sondern um jeden einzelnen. Vielleicht geht es darum, dass jedem Augenblick, jedem Moment (und nicht nur dem einen, noch unbekannten, kommenden Freitag oder in hundert Jahren) das mögliche Ende, die Grenze, der Rand dieser Welt innewohnt – und auch der Neuanfang, die Überschreitung der Grenzen des Bestehenden, die Möglichkeit einer radikal neuen Welt. Wenn das so ist, dann ist das, was geschehen soll, das, was Gott Jesus offenbart hat und dieser dem Engel und dieser wiederum Johannes, damit dieser es uns erzähle, dann ist das, 92 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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was geschehen soll, bereits geschehen, oder besser: es geschieht gerade, in jedem Moment meines Lebens, jetzt genauso wie kommenden Freitag. Die Apokalypse ereignet sich in jedem Augenblick, Christus kommt in jedem Moment unseres Lebens und reißt uns damit aus der Welt, die wir vorfinden, aus der Welt, die wir kennen, und befreit uns zu der neuen. Diese Apokalypse ist nun kein Drehbuch mehr, in dem ich neben allen anderen einen festen Platz habe. Diese Apokalypse betrifft mich unmittelbar, mich, genauso wie die anderen, wir können also nicht vorher wissen wie. Damit ist es unsinnig (würde jemand sagen, der die Johannes-Apokalypse in diesem Sinne versteht), Johannes’ Metaphern wörtlich zu nehmen, als verbindliches Drehbuch: zuerst die Öffnung der Siegel, dann der wilde Ritt, dann die Posaunen, etc. Ich kann mich also auf das Ende der mir bekannten Welt und den Beginn der neuen mit der Ankunft Christi nicht vorbereiten wie auf eine Flut oder den Zusammenprall der Erde mit einem Meteoriten. Ich muss anders leben, ab sofort, jeden Moment, und keine Sandsäcke aufschichten. Auch habe ich keine Wartezeit mehr, die Posaunen von Jericho schallen schon jetzt. Ich habe keine Zeit mehr, meine Dinge zu ordnen und mit dem Gefühl, meine Aufgabe gut erledigt zu haben, Karten zu spielen, bis der Richter wiederkommt. »Jesus wird bis an das Ende der Welt mit dem Tode ringen. Während dieser Zeit darf man nicht schlafen« 5, schreibt Pascal. Die Zeit der Apokalypse lässt sich, so verstanden, also nicht in eine bestimmte oder unbestimmte Zukunft verschieben, die Zeit der Apokalypse ist die Zeit, in der ich jetzt lebe. Damit habe ich keine Chance auf Frieden, Sicherheit, oder einen ruhigen Schlaf mit dem Gefühl, jederzeit gut vorbereitet aufstehen zu können. Die Erzählung des Johannes von Patmos vom Ende der uns bekannten Welt und von der Geburt der neuen trägt, wie wir gezeigt haben, die Spannung zweier möglicher Interpretationen in sich. Einerseits kann es die Erzählung einer zukünftigen historischen oder kosmischen Katastrophe für die Menschheit insgesamt sein, eine Erzählung, die den Zuhörer so umfassend mit Informationen über das Bevorstehende versorgt, dass dieser sich darauf vorbereiten kann. Diese Erzählung, welche die Katastrophe in eine unbestimmte Zukunft verschiebt, eröffnet einstweilen die Möglichkeit von Ruhe und Sicherheit. Die so verstandenen apokalyptischen Schriften, so der Theologe Gerhard von Rad, »wollen trösten und durch den Hinweis auf die Nähe der Wende zum Ausharren ermahnen.« 6 Andererseits kann die Erzählung des Johannes auch als symbolischer Bericht von 93 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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der conditio humana verstanden werden und nicht als Erzählung über künftige Ereignisse: als ein Bericht über das menschliche Leben, in dem Christus in jedem Augenblick (und nicht nur zu einem ausgewählten Katastrophentermin) stirbt und aufersteht und in dem somit die Welt endet und neu beginnt. Damit wäre der Bericht keine objektive Mitteilung über eintretende Ereignisse (bezogen auf die Menschheit oder das All), sondern ein an jeden einzelnen gerichteter, schlafraubender Appell, mit dem Ende der Welt vor Augen zu leben, sofort, nicht erst später, hier und jetzt, nicht erst irgendwann – ein Appell zu wachen.

3 Was hat nun die Wissenschaft, die moderne Wissenschaft, wie wir sie heute kennen, damit zu tun? Wie verhält sich das wissenschaftlich organisierte Leben mit seinem direkt oder indirekt formulierten Alleinanspruch auf Rationalität zu dieser apokalyptischen Vision der conditio humana? Pascal hat zu diesem Thema viel zu sagen. Jeder Versuch, sich selbst und seinen Platz in der Welt mithilfe neuer wissenschaftlicher Begriffe zu verstehen, führt laut Pascal unweigerlich zu Orientierungslosigkeit und Verzweiflung: »Wenn ich die kurze Dauer meines Lebens betrachte, das von der vorhergehenden und der darauffolgenden Ewigkeit aufgesogen wird […] und den kleinen Raum, den ich ausfülle und den ich noch dazu von der unendlichen Unermeßlichkeit der Räume verschlungen sehe, die ich nicht kenne und die mich nicht kennen, so gerate ich in Schrecken und erstaune, mich eher hier als dort zu sehen, denn es gibt keinen Grund, warum es eher hier als dort ist, warum jetzt und nicht vielmehr früher.« 7 »Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume erschreckt mich.« 8

Was ist in einer solchen Lage zu tun? Wie ist dieses – verglichen mit der eben entdeckten Unendlichkeit der Zeit – zwangsläufig kurze Leben zu leben? Die Erzählung von der kosmischen Katastrophe, die das Ende der uns bekannten Welt bedeutet, um Raum für eine glückliche neue zu schaffen, kann uns nun keinen Trost mehr spenden, in Pascals Welt der unendlichen Zeit und der unendlichen, gleichgültigen Räume ist für sie kein Platz. Und doch gilt es, einen Ausweg zu finden, eine Entscheidung zu treffen, Orientierungslosigkeit und Verzweiflung sind schlechte Ratgeber. Dabei ist jede 94 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Entscheidung unumkehrbar, denn jeder Moment meines Lebens ist unwiderruflich dahin, eine zweite Chance gibt es nicht. Und ich muss jede dieser Entscheidungen ganz allein treffen, niemand kann mir das abnehmen, denn das Leben, über das ich entscheide, ist so sehr meines, dass ich es nicht gegen das eines anderen eintauschen kann. Die Konfrontation mit dem Tod führt mir das deutlich vor Augen: »Man wird allein sterben. Man muß also handeln, als wäre man allein.« 9 Diese unumkehrbare und einsame Entscheidung, die nicht auf später verschoben oder einfach vergessen werden kann, alles, was ich tue, lässt sich auf eine einzige Frage reduzieren (so Pascal): Ist die Seele unsterblich oder nicht? Das bedeutet freilich nicht, dass jeder Mensch in der Lage sein müsste, diese Frage und eine gut begründete Antwort darauf formulieren zu können. Zurecht hält Pascal die Fähigkeit, Begriffe zu bilden, nicht für wichtiger als die Fähigkeit, Holz zu hacken oder Kartoffeln zu schälen. Unsere Antwort auf die zentrale Frage geben wir mit unserer Lebensführung. Entweder leben wir in der Welt, als wären wir hier in der Fremde, nur auf der Durchreise, nur für einen Moment, oder wir leben so, als wäre die uns bekannte Welt unser einziges Zuhause: »Man muß diesen unterschiedlichen Voraussetzungen entsprechend jeweils anders in der Welt leben: 1. (Wenn es sicher ist, daß man immer in ihr sein wird), wenn man immer in ihr sein könnte. […] 5. Wenn es sicher ist, daß man nicht lange in ihr sein wird, und ungewiß, ob man noch eine Stunde in ihr sein wird. Diese letzte Voraussetzung ist die unsrige.« 10 Unsere Entscheidung hat weitreichende Konsequenzen. Und obwohl jeder Einzelne die Entscheidung für sich selbst treffen muss, liegt sie doch nicht ganz bei uns. Ob wir unser Zuhause anderswo finden können, außerhalb der uns bekannten Welt (ob wir also gerettet werden), liegt, so Pascal, an Gottes Gnade. Die Fallbrücke, über die wir nach Hause gelangen können, ins Jenseits, muss (wie später Jacob Taubes sagte 11), von der anderen Seite heruntergelassen werden, nicht von uns. Oder anders ausgedrückt: Das Wissen, das wir selbst erlangen können, das Wissen über die uns bekannte Welt, reicht nicht aus. Wir müssen über diese uns bekannte Welt hinausgehen und die Hand nach dem Unbekannten und radikal Neuen ausstrecken können. Und dafür bedarf es, so Pascals Gedanke, der göttlichen Intervention. Bleibt sie aus, verlieren wir uns für immer in der Welt und fallen der ewigen Verdammnis anheim, ohne zweite Chance. 95 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Für Pascal ist – ähnlich wie, wir erinnern uns, für Nietzsche – das menschliche Leben ein stetes Wandern am Abgrund. Jeder Augenblick, jeder Schritt bedeutet eine nicht in unserer Macht stehende Wahl zwischen Erlösung und Verdammnis, eine Wahl zwischen der Öffnung für das Unbekannte und Zukünftige, das mit den uns vertrauten, »weltlichen« Kategorien nicht Fassbare einerseits und andererseits dem Sichverlieren in dem, was ist, was vertraut und bekannt scheint, tatsächlich aber zu Orientierungslosigkeit und Verzweiflung führt. »Zwischen uns und der Hölle oder dem Himmel gibt es nur das Leben, das die vergänglichste Sache der Welt ist.« 12 Niemand lebt freilich gern am Abgrund. Daher suchen wir uns verschiedenste Beschäftigungen: Aufgaben, Spiele, Sorgen, Geld, Fremdsprachen, Tanz, Politik, Sex oder Mathematik. Nur um die Aufmerksamkeit davon abzulenken, dass der nächste Schritt den Eintritt ins Paradies, das ewige Heil bedeuten könnte oder aber den Sturz in den bodenlosen Abgrund, ohne Wiederkehr. Nur um das unendliche Risiko zu vergessen, dass jeder Schritt, immer wieder neu, alles auf eine Karte setzt; dass es kein Geländer gibt, welches uns vor dem Abgrund schützen könnte, keinen Halt für den Strauchelnden: »Wir brennen vor Verlangen, einen festen Halt und eine letzte, beständige Grundlage zu finden, um darauf einen Turm zu errichten, der sich bis zum Unendlichen erheben soll, aber unser ganzes Fundament kracht auseinander und die Erde tut sich bis in die Tiefen auf.« 13 Dies ist die zweite, am weitesten verbreitete Antwort auf die zentrale Frage des menschlichen Lebens: das Vergessen, die Flucht in das, was ist, die Eingliederung in bereits existierende Angelegenheiten oder Mechanismen, in das Vorgefundene; der Versuch, die Zeit auszufüllen, damit mich ihre Leere nicht mit ihrer apokalyptischen Dimension konfrontiert – mit mir selbst. Pascal nennt diese Antwort »Zerstreuung« und denkt dabei nicht nur an die Wildschwein- und Hasenjagd, das Ballspiel oder den Tanz (seine am häufigsten angeführten Beispiele), sondern an alles, was wir tun und was uns von der wichtigsten Wahl unseres Lebens, von der in der Zeit verborgenen Ewigkeit abbringt. Pascal denkt dabei auch oder sogar in besonderer Weise an die Wissenschaft, diese neue Möglichkeit der Zerstreuung, die umso gefährlicher ist, als sie auf intelligente Menschen besonders anziehend wirkt (wenn schon Vergnügungen, so Pascal, dann in der Mathematik). Aber auch die wissenschaftliche Betätigung ist wie alle anderen Formen der Zerstreuung nur vertane Zeit. Dabei haben wir doch keine Zeit, »die Zeit ist nahe«, jetzt, im Moment, in 96 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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diesem Augenblick findet das Jüngste Gericht statt, entscheidet sich, ob ich verdammt werde oder erlöst. Pascal ist offenbar zutiefst davon überzeugt, dass die Apokalypse sich in jedem Augenblick ereignet und nicht einmal, irgendwann, dass sie kein objektives Ereignis ist wie ein Gewitter, sondern jeden einzeln betrifft und dass sie eine Herausforderung für das individuelle Leben jedes Einzelnen ist. Die Funktion der trostreichen – wenn auch entsetzlichen – Erzählung vom bevorstehenden Ende der Welt, die die Welt der modernen Wissenschaft ins Reich der Fabel verbannt hat, übernimmt nun eben diese Wissenschaft als neue Zerstreuungsmöglichkeit, die uns, effektiver als andere, Beschäftigung, Sinn und Halt gibt.

4 Auch Nietzsche sieht in der Wissenschaft eine Art Zerstreuung. Aber sie unterscheidet sich doch von den anderen. Die Wissenschaft (als Gesamtheit der Tätigkeit von Wissenschaftlern) ist, so Nietzsche, Betrug. Nicht irgendeiner, sondern der entscheidende, zentrale, größte Betrug, die Selbsttäuschung des modernen Menschen. Worin besteht nun nach Nietzsches Auffassung dieser Betrug? Zunächst einmal ist die Wissenschaft ein Apparat, eine Institution und das nicht etwa zufällig, sondern aus einer inneren Notwendigkeit heraus: »[D]ie Forschung ist nicht Betrieb«, so Heidegger später, »weil ihre Arbeit in Instituten vollzogen wird, sondern die Institute sind notwendig, weil die Wissenschaft in sich als Forschung den Charakter des Betriebes hat.« 14 Der Wissenschaftsbetrieb weist jedem einzelnen Forscher seinen Platz im Glied zu, bietet ihm an, Rädchen im System zu sein, einem System, das langsam arbeitet, vielleicht endlos lang, aber doch zuverlässig, da es die Ziele zu erreichen sucht, die es sich selbst vorgibt. So kann jeder einzelne Forscher das Gefühl haben, etwas Sinnvolles zu tun, unabhängig von seinen eigenen Erfolgen, er spürt unabhängig von seinem mäandernden Einzelschicksal Boden unter den Füßen. Der Wissenschaftler wird um den Preis seiner außerbetrieblichen Persönlichkeit zum Funktionär der ihn definierenden Institution. »Die Voraussetzung der wissenschaftlichen Arbeit«, notiert Nietzsche: »ein Glaube an den Verband und die Fortdauer der wissenschaftlichen Arbeit, so

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daß der Einzelne an jeder noch so kleinen Stelle arbeiten darf, im Vertrauen, nicht umsonst zu arbeiten.« 15

So arbeitet der Wissenschaftler für die Zukunft wie eine Ameise, die zum Nutzen künftiger Ameisen Blättchen, Hölzchen und Nadeln zusammenträgt. Mehr noch, er arbeitet in dem Gefühl, dass mit der Menge gesammelter Blättchen und Nadeln auch die Wahrscheinlichkeit zunimmt, dass es in Zukunft noch arbeitende Ameisen geben wird, dass es überhaupt eine Zukunft geben wird. Der Wissenschaftler par excellence ist aus dieser Perspektive der mittelmäßige. Die Wissenschaft als Institution stützt sich auf die Breite Basis des Mittelmaßes, arbeitet für sie und bedient sich ihrer. Für Nietzsche steht fest: Die »Menschen, auf die hesi am meisten ankommt […], werden die Verzögerer […], die Langsam-Aufnehmenden, die Schwer-Loslassenden, die Relativ-Dauerhaften inmitten dieses ungeheuren Wechselns und Mischens von Elementen sein […] die Mediokrität, als die Bürgschaft und Trägerin der Zukunft.« 16 Mit der Eingliederung in den langsam, da endlos, da nicht auf ein letztes Ziel hin arbeitenden Wissenschaftsapparat (oder gibt es ein Ziel, nach dessen Erreichen die Wissenschaft nicht mehr weiterarbeiten und dabei ihrem Rationalitätskriterium ebenso gut genügen könnte wie vorher?), mit der Eingliederung in den Wissenschaftsapparat also, entsteht ein Gefühl von Stabilität und Sicherheit. Oder anders: Man wird sich der Zukunft immer sicherer. Um dieses Ziel zu erreichen, nivelliert der Wissenschaftsbetrieb Unterschiede, räumt mögliche Konflikte aus und stellt Kontinuität her, wo wir vorher keine erkennen konnten, Stetigkeit im Wandel. Er macht aus der Welt einen Garten, in dem die geharkten Wege immer zu dem vorab festgelegten Ziel führen. Je effizienter der Apparat arbeitet, desto ruhiger können wir uns schlafen legen, wir, die wir verständig, tugendhaft und glücklich sind – und überzeugt, dass anderntags die Welt noch immer an derselben Stelle stehen wird. Nietzsches Zarathustra will diese Ruhe stören und uns aus diesem friedlichen Schlaf reißen: »es ist Zeit! Es ist die höchste Zeit!« 17, ruft er. Der Traum der wissenschaftlichen Vernunft ist ein Vorhang, hinter dem sich, so Zarathustra, eine unbekannte Seite des menschlichen Lebens verbirgt, ohne die das Leben nicht Leben und der Mensch nicht Mensch wäre. Wenn wir weiterschlafen, verschlafen wir das Wichtigste. Wer der Versuchung der Wissenschaft erliegt und den Traum 98 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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vom Garten, von Ordnung und Sicherheit träumt, bezeugt für Nietzsche nur seine eigene Schwäche: Jede Einheit kündet von Trägheit, und wenn ihr, die modernen Menschen, Rädchen im Getriebe des Molochs Wissenschaft werdet und es euch in der von ihr eingerichteten Welt bequem macht, offenbart ihr damit nur eure Faulheit, Behäbigkeit und Feigheit. Mut wäre nämlich vonnöten, um akzeptieren zu können, dass die Zukunft keinesfalls gewiss ist – weder ist gewiss, was geschehen, noch, ob überhaupt etwas geschehen wird. Die Zukunft ist die unendliche Offenheit für den Wandel in jedem erlebten Moment; damit ist die Zukunft als solche in jedem Moment, den ich erlebe, in Frage gestellt. In jedem Moment, den ich erlebe, stirbt die Welt und wird neu geboren, was freilich nicht bedeutet, dass ich, Krzysztof Michalski, ein Gott wäre, der die Welt zerstören oder erschaffen kann, sondern dass die Zukunft sich nicht außerhalb meiner selbst ereignet, nicht unabhängig von mir wie ein Regenschauer im Mai. Wenn das stimmt, ist die Zukunft zwar ungewiss, sie hängt aber notwendigerweise damit zusammen, was mit mir geschieht, und nur wenn ich sie – aus Schwäche, Faulheit oder Feigheit – sicherstellen will wie das Amen in der Kirche, wie den Donner nach dem Blitz, hebe ich diesen Zusammenhang auf. Nur Schwäche und Schläfrigkeit können also mich und meine wie auch immer definierte Verantwortung tilgen, also auch dich und deine Verantwortung, ihn und seine Verantwortung und damit letztlich die zwischen uns bestehenden Unterschiede. Und wer könnte garantieren, dass diese Unterschiede sich immer friedlich und harmonisch beilegen ließen? Wenn ihr also, sagt uns Nietzsche, als Rädchen im modernen Wissenschaftsgetriebe für eine sichere und unendliche Zukunft arbeitet, träumt ihr den Traum von der Welt als Garten und verliert die andere Erscheinungsform der Welt aus dem Blick: Die Welt, die beunruhigt, da ihre Zukunft notwendigerweise stets in Frage gestellt ist, die Welt, die bedrohlich ist, da sich die Konflikte nicht aus ihr entfernen lassen. Die Welt, in der keine Zeit zum Schlafen ist, da sich in jedem Augenblick immer wieder neu der Sinn des Lebens jedes Einzelnen entscheidet. »Der Welt ihren beunruhigenden und änigmatischen Charakter nicht abstreiten wollen!« 18, mahnt Nietzsche. Gewiss, eine solche Welt ist bedrohlich und entsetzlich. Aber nicht in dem Sinne, wie der Anblick eines gereizten Bären, der auf einen zustürmt. Nietzsche entwirft kein Weltbild, das er für wahr 99 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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(und entsetzlich) hält, damit wir es an die Stelle des falschen (weil beruhigenden) Bildes setzen, das die moderne Wissenschaft zeichnet. Die Welt ist bedrohlich und entsetzlich, so scheint Nietzsche zu sagen, weil wir selbst sie mit zusammenhanglosen Sinnfragmenten einrichten, die uns seit Generationen überliefert sind, weil wir in ihr keine prästabilierte Harmonie vorfinden. Die Welt ist bedrohlich und entsetzlich, weil wir, jeder Einzelne, dafür verantwortlich sind, was mit ihr geschieht. »Wir« bedeutet keineswegs, »alle zusammen« (wenn jetzt noch nicht zusammen, wann dann?), nicht gemeinschaftlich, in fröhlicher Eintracht, sondern auch gegeneinander, getrennt durch nicht zu überbrückende Unterschiede, im Konflikt. Mehr noch, wir wissen von vornherein, dass wir die Welt nicht endgültig einrichten können (um dann wie Gott nach getaner Arbeit zu ruhen), schließlich eröffnet sich in jedem erlebten Augenblick von neuem die Perspektive grenzenlosen Wandels, die ungewisse Zukunft. Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, dass ein Bedürfnis nach Stabilität und Ordnung geweckt wird, ein Hunger nach verlässlicher Zukunft, nach Frieden und nach Sicherheit, die keinen ständigen Kampf um ihr Recht erfordert; ein Verlangen, die Verantwortung abzuschieben; eine Sehnsucht nach einer Welt als geordnetem, und sicheren Garten, an dessen Früchten und Schatten wir uns zumindest eine Zeit lang ergötzen können. Die Wissenschaft als Lebensweise, das zeigt uns Nietzsche, ist ein modernes Angebot zur Befriedigung dieses Bedürfnisses. Die Metaphern und Begriffe, die Nietzsche zur Darstellung dieser für die wissenschaftliche Rationalität verborgene Seite des Lebens verwendet, knüpfen häufig an die apokalyptischen Texte der Bibel an. Hören wir noch einmal Zarathustra: »Die Feigen fallen von den Bäumen, sie sind gut und süss; und indem sie fallen, reisst ihnen die rothe Haut. Ein Nordwind bin ich reifen Feigen. Also, gleich Feigen, fallen euch diese Lehren zu, meine Freunde: nun trinkt ihren Saft und ihr süsses Fleisch! Herbst ist es umher und reiner Himmel und Nachmittag.« 19 Die Idylle dieses Bildes ist trügerisch. Herbst, Nachmittag und der kalte Nordwind künden vom bevorstehenden Winter, von der hereinbrechenden Nacht, vom Ende. Und davon handeln auch die reifen, fallenden und damit ebenso vom Ende kündenden Lehren Zarathustras, vom Ende all dessen, was wir gewohnheitsmäßig Welt nennen. Ein Ende, das zugleich ein Anfang ist: »Und was ihr Welt nanntet, das soll erst von euch geschaffen werden« 20, sagt Zarathustra kurz darauf. Die von den Bäumen fallenden Feigen, das Ende, der Tod 100 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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der bisherigen Welt sind gleichzeitig ein Appell, schöpferisch tätig zu werden, alles neu zu erschaffen: »Ja, viel bitteres Sterben muss in eurem Leben sein, ihr Schaffenden!« 21 Zarathustras apokalyptisches »Es ist die höchste Zeit!« ist also nicht an den gerichtet, der ich bin, an all die Merkmale und Eigenschaften, die ich im Laufe meines Lebens erworben habe. Sie alle stehen schon im Zeichen des nahenden Winters, des unausweichlichen Endes, gehen diesem Ende entgegen. Zarathustras Ruf weckt vielmehr in mir – in uns allen – das Potenzial zur vollkommenen Erneuerung, das Kind, das eben geboren wird. »Dass der Schaffende selber das Kind sei, das neu geboren werde« 22, formuliert Zarathustra. Deutlich ist hier der Widerhall des Neuen Testaments zu hören: »Kinder, es ist die letzte Stunde!« (1. Joh 2,18), rief Johannes. Und Markus gab zur Antwort: »An dem Feigenbaum lernet ein Gleichnis: wenn jetzt seine Zweige saftig werden und Blätter gewinnen, so wißt ihr, daß der Sommer nahe ist. Also auch, wenn ihr sehet, daß solches geschieht, so wisset, daß es nahe vor der Tür ist.« (Mk 13,28 f.) Darum schlaft nicht, sondern »wachet und betet; denn ihr wisset nicht, wann es Zeit ist.« (Mk 13,33) Nietzsche ist sich der Zweideutigkeit der apokalyptischen Motive bewusst, von der oben die Rede war. »Was heisst ›frohe Botschaft‹ ?«, schreibt er im Antichrist. »Das wahre Leben, das ewige Leben [also das Ende des uns bekannten Lebens und der Neuanfang – KM] ist gefunden – es wird nicht verheissen, es ist da, es ist in euch […]. Jeder ist das Kind Gottes – Jesus nimmt durchaus nichts für sich allein in Anspruch«. 23 So bringt Jesus ans Licht, dass die Apokalypse unserer Lebenszeit eingeschrieben ist. Der Apostel Paulus verlegt dagegen, so Nietzsche, das Ende der bisherigen Welt und den Anfang der neuen und damit auch »das Schwergewicht jenes ganzen Daseins hinter dies Dasein«. 24 Die Apokalypse ist dann keine Dimension des von uns gelebten Lebens mehr, sondern ein zukünftiges Ereignis, das hauptsächlich von Johannes, aber auch von Markus angekündigt wird: »Aber zu der Zeit […] werden Sonne und Mond ihren Schein verlieren, und die Sterne werden vom Himmel fallen […]. Und dann werden sie sehen des Menschen Sohn kommen in den Wolken mit großer Kraft und Herrlichkeit.« (Mk 13,24–26)

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5 Am Anfang dieses Kapitels standen die Offenbarung des Johannes und zwei ganz unterschiedliche Interpretationsansätze. Nach dem ersten ist die Apokalypse eine Erzählung darüber, was geschehen wird, über die dereinst eintretende Katastrophe, über einen bestimmten, gesonderten Zeitpunkt. Also nicht über den Moment, den ich gerade erlebe, nicht über den Augenblick, in dem ich mich gerade befinde. Wenn das so ist, kann die so verstandene Apokalypse auch ein Mittel sein, all die folgenschweren Schrecknisse, die uns da bevorstehen sollen, zu verzögern und auf später zu verschieben: Wenn dies alles tatsächlich eintritt, so doch nicht jetzt, sondern irgendwann einmal, vielleicht sogar in einer Stunde oder morgen (Gott möge es verhüten!), jedenfalls aber nicht in diesem Moment. Mehr noch, wenn die Apokalypse eine Erzählung über ein zukünftiges Ereignis ist, eine kosmische Katastrophe, dann betrifft sie die anderen Menschen, die in der Zukunft mit ihr konfrontiert werden, genauso wie mich. Ich bin dieser entsetzlichen Aussicht also nicht einsam ausgeliefert, sondern kann mich mit den anderen beraten, Angst und Verantwortung teilen, mich vorbereiten. Wenngleich die Erzählung vom Kataklysmus, der das Ende der uns bekannten Welt bedeutet, vor den Augen des Lesers grauenerregende Schrecknisse ausmalt, ist sie im Grunde ein Trostwort, ein Argument dafür, sich in der bestehenden Welt bis auf weiteres häuslich einzurichten. Aber nicht bis zuletzt. Ein Körnchen Unruhe, das auch diese Auslegung nicht zu beseitigen vermag, liegt in der Ankündigung, dass all das – das Ende dieser Welt und die Geburt der neuen – »in der Kürze« eintreten wird. Vielleicht erzählt die Apokalypse ja auch gar nicht von einem gesonderten Zeitpunkt, sondern von jedem Moment, jedem einzelnen Augenblick. Vielleicht wird sie sich auch nicht irgendwann ereignen, sondern sie findet schon statt, jetzt, augenblicklich, im eben erlebten Moment. Wenn das so ist, entfällt die Möglichkeit, das, was eintreten soll, in die Zukunft zu verlegen, ein Verschieben der Apokalypse auf später ist unmöglich, die Zukunft vollzieht sich jetzt. Auch ist keine Zeit, sich auf sie vorzubereiten. Und man kann in keiner Weise und zu keiner Zeit seine Verantwortung ihr gegenüber und den Horror vor ihr mit anderen teilen. Wenn sich die Apokalypse in jedem erlebten Augenblick meiner Zeit ereignet, stehe ich ihr unwiderruflich allein gegenüber. 102 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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So verstanden spendet die Apokalypse keinen Trost, sie ermöglicht kein häusliches Sich-Einrichten in der bekannten Welt. Im Gegenteil, sie entblößt die Fragwürdigkeit und Vorläufigkeit jeglicher Bindung an unsere Umgebung, aller Gewohnheit, aller Selbstverständlichkeit, aller Glücks- und Ruhemomente. Unter dem zunehmenden Einfluss der Wissenschaft hat der moderne Europäer, wie wir am Beispiel Pascals gesehen haben, die narrative Interpretation der Apokalypse ins Reich der Fabel verwiesen. Entsetzt angesichts des ewigen Schweigens von Raum und Zeit, kann der Mensch des 17. Jahrhunderts nicht mehr glauben, dass einmal irgendwelche Reiter kommen sollen, um mit all dem aufzuräumen. Und doch ist auch Pascals Sicht der Welt und der conditio humana in einer der unterschiedenen Bedeutungen apokalyptisch, denn auch für ihn ist die Ewigkeit in jedem Augenblick der Zeit gegenwärtig, jeder Moment unseres Lebens bedeutet eine Wahl zwischen ewigem Heil und ewiger Verdammnis. Doch auch in der Welt Pascals kann der Mensch ohne Trost nicht leben. Wo soll er ihn aber finden, wenn doch die apokalyptischen Reiter weder Entsetzen auslösen noch Trost spenden können? Die Wissenschaft, das von der Wissenschaft geformte Leben, nimmt den Raum ein, den die Reiter verlassen haben; die Wissenschaft, diese neue Form der Zerstreuung, die uns an die Welt bindet, wie sie ist und uns darüber vergessen lässt, dass diese Welt nicht der rechte Ort für uns ist; eine Zerstreuung, die faszinierender ist als all die anderen Spiele, als Jagden und Vergnügungen und damit auch wirkungsvoller. Nietzsche wird diese Funktion des Tröstens und Stützens später als Narkotisierung bezeichnen. Der Wissenschaftsapparat erfüllt diese Funktion besser als sein mythischer Vorgänger, verspricht er doch mit der Beherrschung der Welt gleichzeitig die Beherrschung der Zukunft, die wir uns Untertan machen und deren wir uns versichern können. Damit geht auch die Verschiebung des Endes der uns bekannten Welt (und des Neubeginns) ad calendas graecas einher und die einstweilige Inanspruchnahme der Welt ohne apokalyptische Ängste. Aber wie die bedrohlich-tröstlichen Geschichten von goldenen Pferden, Huren und diamantenen Städten die Unruhe, mit der mein Leben hier und jetzt jeden in ihm angehäuften Sinn in Frage stellt, nicht gänzlich verdecken konnten, so scheitert daran auch die moderne Wissenschaft, die unser Leben auf eine verlässliche Grundlage stellen möchte. Wenn wir dem Lärm ihrer gemächlich ratternden Räder aufmerksam lauschen, lässt sich – undeutlich, im Hintergrund 103 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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– das Beben des Bodens unter unseren Füßen vernehmen, vielleicht sogar Hufgetrappel.

6 Hierin liegt nun nach Nietzsches Auffassung der moralische Charakter der modernen Wissenschaft, ihre Lüge, ihr Betrug (oder auch – ihr Nihilismus): im Versuch, unsere Aufmerksamkeit von der Apokalypse abzulenken, vom Ende alles Bestehenden und vom Neubeginn, die jedem Augenblick unserer Zeit innewohnen; im Versuch uns davon abzulenken, dass »die Zeit nahe ist«, so nahe wie nur möglich – schon da. Diese Funktion ist älter als die Moderne. Auch die Wahrheit, die Gott Jesus offenbart hat, dieser dem Engel und dieser wiederum Johannes, der sie schließlich uns weitergegeben hat, auch die Wahrheit kann diese Funktion erfüllen. In dem Sinne, dass »auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen […] unser Feuer noch von jenem Brande [nehmen], den ein Jahrtausende alter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube […], dass Gott die Wahrheit ist«. 25 Das bedeutet jedoch nicht, dass wir diesen Brand löschen, den Glauben überwinden oder den Betrug aufdecken könnten. Nein, ohne diesen Betrug, so Nietzsche, könnten wir nicht leben. Gemeinsam mit der Apokalypse, die jedem Augenblick eingeschrieben ist, entscheidet er über unser Leben. Diesen Betrug »aufzudecken«, bedeutet für Nietzsche, ein Potenzial zu erschließen, eine verborgene Lebensmöglichkeit, Leben als Möglichkeit. »Daß die Lüge nöthig ist, um zu leben, das gehört selbst noch mit zu diesem furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins …« 26, notiert er. Bei den beiden Sichtweisen der Apokalypse, von denen hier die Rede war, handelt es sich also nicht einfach um zwei Begriffsinterpretationen, eine richtige und eine falsche. Es sind zwei Seiten der conditio humana, die sich nicht unterschieden lassen wie Rot und Grün, Quadrat und Dreieck oder richtig und falsch. Wenn das so ist, muss jede Erzählung der Apokalypse, auch die des Johannes, enigmatisch und irreparabel unklar sein, eine Erzählung über die Natur des Menschen, in der Angst von Trost so wenig zu trennen ist wie die Suche nach einem Halt in der Wahrheit zu trennen ist von der Überzeugung der Nichtigkeit aller Dinge.

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VI Der Tod Gottes 1 Entsinnen Sie sich des Berichtes über die letzten Momente im Leben des Sokrates, wie sie Platon im Phaidon festgehalten hat? Darin erzählt Phaidon, ein Freund des Sokrates, seinem Bekannten Echekrates von seinem letzten Gespräch mit Sokrates. Sie diskutierten über den Tod. Allerdings unterschied sich diese Diskussion insofern von allen anderen zuvor, als Sokrates, verurteilt von den Mächtigen Athens, in ihrem Verlauf Gift trank und starb. Seine Freunde und Gefährten, unter ihnen Phaidon, waren gekommen, um Abschied zu nehmen. Sie waren bekümmert, niedergeschlagen und blickten sorgenvoll und betrübt in die Zukunft, eine Zukunft ohne Sokrates. Doch Sokrates zeigte sich heiter und zuversichtlich. Er bereitete sich auf den Tod vor, wie auf eine spannende, wenngleich lange Reise. Sokrates versicherte seinen Freunden, ihre Trauer sei unangebracht, sie sollten sich eher wie er seines bevorstehenden Todes freuen. Denn der Tod sei nicht das Nichts, nicht wie das Verwelken einer Blume oder das Verschimmeln eines Käses. Er müsse auch kein Schritt ins Unbekannte sein. Ein Wissen über das, was uns nach dem Tode erwartet, ist möglich, wenngleich schwer zu erlangen. Der Tod des Menschen, sagt Sokrates seinen Freunden, ist eine Befreiung, der Anfang des wahren Lebens. Nur wer all dies nicht weiß, so Sokrates, der begegnet dem eigenen Tod mit Unruhe oder gar Furcht und beweint die Freunde, die er gehen lassen muss. Die Angst vor dem Tod erwächst aus Ignoranz, sie ist töricht. Sind wir richtig auf den Tod vorbereitet, haben wir nichts zu fürchten, im Gegenteil, wir dürfen uns sogar freuen. Wenn wir uns vor Reisen zu hinlänglich bekannten Orten nicht zu fürchten brauchen, wäre es doch kindisch, sich nach einem gut gelebten Leben vor dem Tod zu fürchten. Einfach warme Sachen, Regenmantel und Wechselschuhe einpacken, schon kann es losgehen. Sokrates erklärt seinen ihn beweinenden Freunden, er sei zutiefst davon überzeugt, dass »ein Mann, welcher wahrhaft philo105 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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sophisch sein Leben vollbracht, müsse getrost sein, wenn er im Begriff ist zu sterben, und der frohen Hoffnung, daß er dort Gutes in vollem Maß erlangen werde, wann er gestorben ist. […] Nämlich diejenigen, die sich auf rechte Art mit der Philosophie befassen, mögen wohl, ohne daß es freilich die Andern merken, nach gar nichts anderm streben, als nur zu sterben und tot zu sein.« 1 Was macht nun das wahre Leben aus, das volle Maß des Guten, das, will man Sokrates glauben, erst nach dem Tode erlangt werden kann? Wohin gehen wir nach dem Tod und was sollen wir dahin mitnehmen? Sokrates argumentiert folgendermaßen: Das Leben lässt sich nicht mit unserer Alltagserfahrung unter Berufung auf das Gesehene, Gehörte und Gefühlte begreifen. Jeder Versuch, das Leben zu begreifen, führt notwendigerweise über diese Erfahrung, über die Welt der Sinne hinaus. Wie könnten wir sehen, wenn wir die geometrischen Figuren nicht kennten, die wir doch nicht sehen können (höchstens entsprechend angeordnete Dinge)? Wie könnten wir hören, wenn wir die Gesetze der Harmonie nicht kennten, die wir doch nicht hören können? Wie könnten wir wissen, was schön ist, was wahr und was gut, wenn wir nicht wüssten, was Schönheit, Wahrheit und das Gute sind, die doch in der Welt unserer Alltagserfahrung nicht vorkommen, selbst wenn diese Welt (für die Klugen und Glücklichen unter uns) voller schöner Frauen, wahrer Theorien und guter Taten ist? Dieses notwendige Mehr an Bedeutung (notwendig, damit sich unsere sinnliche Alltagserfahrung zu einem verständlichen Ganzen fügt), das über unsere sinnliche Alltagserfahrung hinausgeht, dieses Mehr nennt Sokrates Ideen. Wodurch unterscheiden sich nun Ideen von Sicht- oder Hörbarem von den Alltagsdingen? Vor allem dadurch, dass das Sicht- und Hörbare Anfang und Ende hat, nicht aber die Ideen. Draußen im Garten fällt ein Apfel vom Baum, bestimmt platzt er bei der Landung auf und verfault langsam – die Gravitationsgesetze sind jedoch ewig, immer gleich, die Zeit kann ihnen nichts anhaben, genauso ewig sind die geometrischen Figuren, die Gesetze der Harmonie, die Schönheit oder die Wahrheit. Wer über die Welt der Alltagserfahrung hinausgeht, so argumentiert Sokrates, der geht auch über die Zeit hinaus. Um alles verstehen zu können, was wird und vergeht, altert, zerfällt, fault, was sich wandelt, also um die Welt unseres Alltagslebens verstehen zu können, müssen wir uns auf das berufen, was nicht wird und nicht verfault, was sich nicht wandelt – auf die Ideen. 106 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Leben ohne Ideen, so Sokrates, ist nur ein leeres Wort, ist Nonsens. Erst die ewigen, unzerstörbaren Ideen verleihen dem Leben seinen Sinn, lassen es zu dem werden, was es ist, zu seiner Wahrheit. Wenn wir nun das Leben um uns verstehen können, haben dann nicht auch wir Menschen auf diese Weise teil an der Welt der Ideen? Genau das ist der Kern von Sokrates’ Argument: Unsere Fähigkeit zu verstehen, so behauptet er, zeigt, dass wir mehr sind als bloße Dinge, die man berühren oder hören kann. Unsere Fähigkeit zu verstehen zeigt, dass der Mensch mehr ist als ein Erdklumpen oder ein Stein. Mehr als ein Knäuel aus Muskeln und Nerven. Mehr als der Leib, dieser »Wind, der dahinfährt und nicht wiederkommt« (Ps 78,39). Die Fähigkeit, das Leben zu verstehen, zeigt, dass auch wir alle etwas in uns tragen, das nicht zerfällt, nicht verfault, dem die Zeit nichts anhaben kann: die Seele. Dank ihrer leben wir. Leben, Ideen und Seele sind also untrennbar miteinander verbunden, und wenn das so ist, dann ist die Seele – dieser Teil von mir, dank dessen ich über die mich tagtäglich umgebende Sinnenwelt hinausgehen und sie so verstehen kann – dann ist die Seele unsterblich. Die unsterbliche Seele ist unsere Öffnung hin zur Wahrheit über das Leben, nicht der mit der Zeit vermodernde Leib: »Und sie [die Seele – KM] denkt offenbar am besten, wenn nichts von diesem sie trübt, weder Gehör noch Gesicht noch Schmerz und Lust […] wenn wir je etwas rein erkennen wollen, [müssen] wir uns von ihm [dem Leib – KM] losmachen und mit der Seele selbst die Dinge selbst schauen.« 2

Demokrit soll sich in konsequenter Befolgung dieser Empfehlung die Augen ausgestochen haben, damit die sichtbare Welt ihn nicht vom Denken ablenke. »Das ist natürlich falsch«, kommentiert Borges diese Überlieferung, »wenn auch als Geschichte sehr hübsch.« 3 Wenn wir also wahres Wissen erlangen wollen, müssen wir sterben. Der Tod, die vollständige Trennung der Seele vom Leib, ist eine notwendige Bedingung für die Erkenntnis der Wahrheit. »Und dann erst offenbar werden wir haben, was wir begehren und wessen Liebhaber wir zu sein behaupten, die Weisheit, wenn wir tot sein werden, […] solange wir leben aber nicht.« 4 Bereits jetzt ist deutlich zu sehen (jedenfalls möchte Sokrates es so), dass Philosophen keinen Grund haben, den Tod zu fürchten, sondern dass sie sich auf ihn freuen sollten (»Das Nichts schreckt einen Philosophen nicht« 5, weiß Monsieur Homais, der Apotheker in Madame Bovary). Philosophen sollten sich zu Lebzeiten auf den Tod 107 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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vorbereiten und versuchen, die Seele möglichst unabhängig vom Leib zu machen, damit sie nach dem Tod auch ohne den Leib weiterzuleben vermag (wie man sich auf eine anstrengende Reise in kalte Länder vorbereitet, indem man Gymnastikübungen macht und warme Unterwäsche einpackt). »In der Tat also, o Simmias, trachten die richtig philosophierenden danach zu sterben und tot zu sein ist ihnen unter allen Menschen am wenigsten furchtbar.« 6 Bei Montaigne ist zu lesen, »[d]aß Philosophiren sterben lernen heisse«. 7 So lautet das Argument, mit dem Sokrates Phaidons Bericht zufolge die Freunde zu überzeugen versucht, die ihn in seinen letzten Stunden begleiten. Ist das Argument stichhaltig? Hat Sokrates die Abschied nehmenden Freunde tatsächlich überzeugt? Fürchten sie nun den Tod nicht mehr und freuen sich gemeinsam mit Sokrates, dass er von ihnen geht? Was sagt ihr dazu, Phaidon, Simmias, Kebes? »Da sagte Kebes lächelnd: So tue denn so als fürchteten wir uns, und versuche uns zu überreden. Lieber jedoch nicht, als ob wir selbst uns fürchteten, aber vielleicht ist auch in uns ein Kind, welches dergleichen fürchtet. Dieses also wollen wir versuchen zu überzeugen, daß es den Tod nicht fürchten müsse wie ein Gespenst.« 8

Was meint Kebes, wenn er von dem Kind spricht, das in uns allen ist? Worauf bezieht sich diese Metapher? Vielleicht geht es um Folgendes: Ich bin trotz meines Alters und meiner Erfahrung insofern immer noch ein Kind, als ich mehr bin als »Mensch«, »rationales Subjekt« und »Philosoph«. Als Philosoph, als rationales Subjekt hat Sokrates mich (so wollen wir annehmen) überzeugt; ich weiß, dass ein anständig denkender Mensch den Tod nicht zu fürchten braucht. Aber das bedeutet noch nicht, dass ich, Krzysztof Michalski (oder eher der kleine Krzyś?) aufgehört hätte, ihn zu fürchten; schließlich muss ich sterben, ich, Klein-Krzyś, und davor fürchte ich mich auch, nicht davor, dass der »Mensch«, das »rationale Subjekt«, der »Philosoph« stirbt (es ist schon traurig, dass Schmetterlinge nur einen Tag leben, aber es gibt trotzdem bald Abendbrot). Ich, Klein-Krzyś, möchte getröstet werden, ich möchte, dass man mich an der Hand nimmt und beruhigt: Hab keine Angst, Klein-Krzyś, ist nicht so schlimm. Indem er das Kind in uns anspricht, fragt Kebes also im Grunde: Vermag die Einsicht ins Wesen des Lebens, die du, Sokrates, uns, dei-

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nen Freunden (und über Platon auch uns, deinen späteren Zuhörern), bietest, die einsame Seele in ihrer Todesangst zu beruhigen? Was kann Sokrates darauf antworten? Vermag das Argument (der untrennbaren Einheit von Leben, Seele und Ideen und der daraus resultierenden Unsterblichkeit der menschlichen Seele) das Kind in uns zu überzeugen? Sokrates’ Antwort könnte wie folgt ausfallen: Nein, natürlich kann ich das Kind, das, wie ihr sagt, in jedem von uns ist, nicht überzeugen. Ich kann ihm höchstens ein Märchen darüber erzählen, wie schön und glücklich das Land ist, in das wir nach dem Tod kommen, so wie man Kindern zum Einschlafen im dunklen Zimmer von Rittern und fernen Landen erzählt. Ich kann nur den Vernünftigen überzeugen, jemanden, der denken kann, der erwachsen ist. Die Angst vor dem Tod ist unvernünftig; um das zu verstehen, muss man aufhören, Kind zu sein. Ich kann nichts tun, wenn sich Krzysztof Michalski weiterhin wie Klein-Krzyś verhält, wie ich auch nichts tun kann, wenn jemand nicht glauben will, dass zwei und zwei vier ist. Das Wissen um Leben und Tod fußt (wie das Wissen um die Gesetze der Arithmetik) auf verständlichen, festen, ewigen Grundlagen (Ideen). Natürlich, so könnte Sokrates auch antworten, ist die unvernünftige Angst des Kindes (in uns) nicht ganz unverständlich. Kein Mensch, auch nicht das Kind oder der unreife, unkluge Mensch, verharrt in der begrenzten Welt der Alltagserfahrung. Jeder geht, ob er will oder nicht und ohne sich dessen bewusst zu sein, in Gedanken notwendigerweise über das hinaus, was er sieht, hört oder berühren kann, über das, was ihm bekannt und vertraut ist. Daher seine Unruhe. Vorerst – denn wenn der Mensch erwachsen und klug wird, wenn er das Wesen des Lebens und die daraus resultierende Unsterblichkeit der Seele begreift, hört er auf, sich zu fürchten. Aus Sokrates’ Perspektive ist also in der vernünftigen Welt der Erwachsenen kein Platz für die Angst vor dem Tod. Indem wir das unwandelbare, ewige Wesen des Lebens verstehen, können wir die Furcht vor der Zeit ablegen und im fortschreitenden Verfall unseres Leibes – in der Mühe, die das Aufstehen aus einem Sessel plötzlich bereitet, den immer häufiger auftretenden Zipperlein, der bitteren Niederlage beim Versuch, den Bus noch zu erwischen – erfreuliche Zeichen der nahenden Befreiung erkennen, die Vorboten des kommenden Frühlings. Dadurch haben wir auch die Möglichkeit, unser Leben rechtzeitig (bevor wir sterben) in die angemessene Ordnung zu bringen, 109 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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den Leib und seine Bedürfnisse zu zügeln und die Seele möglichst unabhängig vom Leib zu machen. Das Leben hat seine innere, grundlegende Ordnung, seine Wahrheit. Wer sich von zufälligen Leidenschaften, plötzlichen Begierden, zeitweiligen Wünschen oder Ängsten (beispielsweise der Angst vor dem Tod) leiten lässt, stört diese Ordnung, er lebt schlecht. Wer das unwandelbare Wesen des Lebens erkennt, ermöglicht der Seele, sich von den Launen und der Unruhe des Leibes freizumachen und bringt so Ordnung und Ruhe in sein Leben. Er kann dann besonnen und gerecht leben, wie es ja Sitte und Tradition gebieten (Sokrates lebte offenbar in anderen, glücklicheren Zeiten). Dafür wird er nach seinem Tod belohnt: »Also, sprach er [d. i. Sokrates – KM], sind auch wohl die glücklichsten unter diesen die, und kommen an den besten Ort, welche der volksmäßigen und bürgerlichen Tugend nachgestrebt haben, die man dann Besonnenheit und Gerechtigkeit nennt […]? Wieso sind diese die glückseligsten? [fragt Kebes – KM] Weil doch natürlich ist, daß diese wiederum in eine solche gesellige und zahme Gattung gehen, etwa in Bienen oder Wespen oder Ameisen, oder auch wieder in diese menschliche Gattung, und wieder ganz leidliche Männer aus ihnen werden.« 9

Recht verstanden stört der Tod die Ordnung des Lebens nicht und stiftet keinen Unfrieden, vielmehr eröffnet erst dieses rechte Verständnis den Blick auf die im Alltag verborgene Ordnung des Lebens und somit die Möglichkeit wahren Friedens. Dies ist Sokrates’ Botschaft, von der Phaidon Echekrates erzählt. Wenn wir klug werden, können wir (endlich!) leben wie die Ameisen – ohne Chaos, ohne Unfrieden. Sokrates beglaubigt diese Botschaft mit seinem Tod. In Phaidons Bericht stirbt er den Tod eines braven Bürgers, der sich um Alltagsdinge kümmert, die er geordnet zurücklassen möchte. Er gleicht dem vorausschauenden Reisenden, der noch ein letztes Mal kontrolliert, ob alles in Ordnung ist, das Gas abgedreht, die Fenster verriegelt, bevor er aus dem Haus geht. Und dann der Tod – gespannte Erwartung, aber nichts, was man fürchten müsste (endlich werde ich Mallorca sehen!). »Als ihm nun schon der Unterleib fast ganz kalt war, da enthüllte er sich, denn er lag verhüllt, und sagte, und das waren seine letzten Worte: ›O Kriton, wir sind dem Asklepios einen Hahn schuldig, entrichtet ihm den, und versäumt es ja nicht.‹« 10

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Später, in einer anderen Zeit, fand Epikur andere, äußerst treffende Worte, mit denen er dieselbe Weltsicht beschrieb: »Vor der Gottheit brauchen wir keine Angst zu haben. Der Tod bedeutet Empfindungslosigkeit. Das Gute ist leicht zu beschaffen. Das Schlimme ist leicht zu ertragen.« 11 Hat sich Platon, der den Bericht des Phaidon über die letzten Stunden im Leben des Sokrates für uns aufgezeichnet hat, wie seine Gefährten von Sokrates überzeugen lassen, die mit ihm über den Tod diskutierten? Wir wissen es nicht. Er war nicht dabei. »Platon aber«, so lässt der Autor des Dialogs den Phaidon sagen, der uns alles berichtet, »Platon aber, glaube ich, war krank.« 12

2 Wie drastisch ist der Unterschied zu den letzten Worten Jesu, wie sie uns Matthäus überliefert! Der gekreuzigte Jesus, so schreibt Matthäus, »schrie […] laut und sprach: Eli, Eli, lama asabthani? das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Mt 27,46) Kurz darauf »schrie [er] abermals laut und verschied.« (Mt 27,50) Hier stirbt keiner, der weiß, was ihn nach dem Tode erwartet. Christus begibt sich nicht gut vorbereitet auf eine lange, spannende Reise. Er erteilt keine letzten Aufträge vom Kreuz herab (»Maria Magdalena, bevor ich’s vergesse …«). Er stirbt in größter Unruhe, in verstörender Unsicherheit und mit dem Gefühl, einsam und von allen verlassen zu sein, auch von seinem Gott und Vater. Sein Tod trifft ihn unvorbereitet. Alles bisher Erlernte, alles Getane erweist sich nun als unbrauchbar, vermag das undurchdringliche Dunkel der Zukunft nicht zu erhellen, kann ihn nicht beruhigen. Was hat es zu bedeuten, dass Christus in Angst und Ungewissheit stirbt? Wie kann es sein, dass Gott sich fürchtet, wie kann Gott aus der Ruhe geraten? Wo kann die Ursache für diese Unruhe liegen? Erwarten wir von Gott nicht eher, dass er weiß, statt nicht zu wissen, also eher Gewissheit als Unruhe? Erwarten wir von ihm angesichts seines Todes nicht ein Verhalten, wie das des Sokrates, der im Wissen um das Wesen von Leben und Tod so sterben konnte, als setzte er sich (im Sommer) in den Zug von Warschau nach Krakau? Wovor fürchtet sich Christus also? Fürchtet er das Nichts, wie das kleine Kind in jedem von uns, wie Klein-Krzyś, der Angst hat,

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allein im dunklen Zimmer zu bleiben, in dem er nichts mehr sehen kann, was er kennt, was er gewohnt ist, was er mag? Halten wir uns noch einen Moment bei dieser Angst auf, der Angst vor dem Nichts. Sie ist keine Angst vor diesem oder jenem, vor einem Überfall, einer Grippe oder einem Bären. Das Nichts ist nichts von alledem, es kann nicht Gegenstand unserer Angst sein. Wenn ich sage, ich hätte in meiner Todesangst Angst vor dem Nichts, meine ich das Ende, den Zerfall, die Vernichtung all dessen, was ich kenne und mir vorstellen kann, all der Belanglosigkeiten, Gefühle, Gleichungen, Begriffe, Pflichten, all dessen, was ich mit »etwas« benennen kann. Die Perspektive des Todes rückt dieses »Nichts« in den Blick, die Grenze alles möglichen Wissens und damit das Ende des Menschen in mir, des Menschen, den ich kenne, des Menschen, der sieht, fühlt, läuft und weiß. Das Ende meiner Welt. D. H. Lawrence schreibt: »Wissen ist menschlich, und im Tod wissen wir nicht, in ihm sind wir nicht menschlich.« 13 Der Tod ist nicht »etwas«, das verstanden werden könnte. Der Tod ist die Vernichtung aller Verstehensvoraussetzungen, aller Bedingungen, anhand derer wir etwas denken können, so auch uns selbst. Damit zieht uns die Todesperspektive den Boden unter den Füßen weg, nimmt uns jeglichen Halt, beraubt uns der Aussicht auf Sicherheit, Gewissheit und Ruhe. Der Tod offenbart die Begrenztheit aller Begriffe, er ist nicht zu fassen. William Hazlitt scheibt: »we cannot imagine ›this sensible, warm motion, to become a kneaded clod‹ – we are too much dazzled by the waking dream around us to look into the darkness of the tomb.« 14 Deshalb versetzt uns der Tod in Unruhe und Angst. Wenn nun der Schrei Gottes am Kreuz Ausdruck dieser Unruhe und Angst ist, steht die Überlieferung nach Matthäus im Widerspruch zu den Worten des Sokrates, wie sie uns Phaidon wiedergibt. Die Konfrontation mit dem Tod führt uns (so verstehe ich Matthäus) etwas Unvorstellbares und Undenkbares vor Augen und nicht, wie Sokrates es wollte, den einzig wahren Gegenstand des Wissens, die Ideen. Wir begegnen hier keinem möglichen Gegenstand des Wissens, auch die Worte »wir« und »ich« verlieren jeden vormaligen Sinn. Auf die Frage nach dem Tod – nach seiner vom Leben verschiedenen Bedeutung, seiner vom Leben verschiedenen Wirklichkeit oder einfach nach dem, was danach kommt – auf diese Frage gibt es keine Antwort und kann es keine geben. Mit Gadamer gesprochen: »Weiß irgend jemand von uns, was er weiß, wenn er weiß, daß er sterben 112 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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muß? Ist unser Fragen nach dem Tode nicht immer und notwendig ein Verdecken […] von etwas Undenkbarem, dem Nichtsein?« 15 Wenn das so ist, dann ist der Tod nicht allein für Ignoranten unbegreiflich, nicht nur für aus diesen oder jenen Gründen minderbemittelte Geister, nicht nur (wie Phaidons Sokrates es will) für Menschen, die im Gefängnis ihres verfallenden Leibes eingesperrt sind. Sondern auch für Gott. Der Tod hat nichts mit einem hochkomplizierten mathematischen Problem gemein, das nur Gott zu lösen im Stande wäre. Hier gibt es nichts zu wissen. Gottvater kann seinen am Kreuz sterbenden Sohn nicht trösten, indem er ihm die Lösung des grauenerregenden Rätsels verrät. Noch einmal Gadamer: »Wenn Jesus in der Lage des Sterbenden Gott anruft, kann das nicht helfen. Denn […] ein Wissen, von dem aus der Tod begreiflich und erträglich würde, [darf] niemals unterstellt werden.« 16 Aber wir wissen ja vom Tod, wir wissen, dass wir sterben müssen. Auch Gott weiß das, Gott, der am Kreuz stirbt, Gott, der Mensch geworden ist. Was ist das für ein Wissen? Wenn der Tod nicht zu fassen ist, dann weiß ich um ihn anders, als ich um den Geburtstag von Tante Stasia nächsten Freitag weiß. Lévinas schreibt: »Jeder Tod ist ein Skandal, ein erster Tod« 17 (was natürlich auf Tante Stasias Geburtstag nächsten Freitag nicht zutrifft). Wir mögen noch so viel wissen über den Verfallsprozess des Leibes, den klinischen Tod, das Erlöschen des Bewusstseins, wir mögen die Bestattungsrituale und den Umgang mit dem Tod in unserer Kultur und in anderen Kulturen kennen, und trotz alledem ist mein Tod (und auch der deine) einmalig, einzigartig, empörend. Er lässt sich nicht verallgemeinern. Der Tod betrifft mich anders, radikaler und unfassbarer als jede andere Beziehung und jedes Verhältnis, er betrifft mich nicht als Exemplar einer Gattung, nicht als Mitglied einer Gesellschaft oder als Angehörigen einer Berufsgruppe, sondern er betrifft mich, nur mich allein, der ich diesmal durch niemanden vertreten werden kann. Niemand kann schließlich für mich sterben. Der Tod ist mir näher als jeglicher Charakterzug und jegliche Situationsbeschreibung, er ist in höherem Maße mein als der mir liebste Mensch, als die wichtigste Aufgabe. Mehr noch, ohne ihn, ohne den Tod, gibt es mich nicht. Der Tod definiert mich: mich, das einmalige Individuum, nicht irgendeinen Einzelfall unter vielen. Erst die Todesperspektive macht das Leben, das ich lebe, zu meinem Leben. Damit ist der Tod die intimste Charakteristik meines Lebens. Ich lebe – das heißt, ich werde sterben. Aber was das heißt, dass ich ster113 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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ben werde, das kann ich niemandem erklären, dafür gibt es keine Begriffe. Mein »Wissen« vom Tod ist mein Leben. Mein Leben, das durchwirkt ist mit einer nie gänzlich zu stillenden Unruhe, unterminiert von Angst, die ständig hervorzubrechen droht. Ein Leben, an dem Begriffe notwendigerweise scheitern müssen. Nicht Ignoranz ist es, was mich das Nichts fürchten heißt, wie es auch keine Ignoranz, keine momentane, unverständliche Schwäche ist, die sich im Schrei des sterbenden Gottes äußert. In dieser Unruhe, dieser Angst, dieser chronischen Schwäche tritt die Spezifik meines Lebens zutage. Meine conditio humana. Wenn die Konfrontation mit dem Tode mein Leben an jedem einzelnen Tag charakterisiert, nicht nur an Feiertagen, dann ist jeder Augenblick, nicht nur der eine, letzte, von ihr gezeichnet. Der Tod ist nicht nur einer von vielen Augenblicken (wenn auch der wichtigste) meines Lebens, nicht ein Ereignis unter vielen. Kein Moment, kein Augenblick meines Lebens ist verständlich, ohne den darin verborgen liegenden Bezug zum Tod, ohne Bezug zum Nichts der Welt, ohne die Negation alles Vertrauten, alles Begreiflichen. Die Möglichkeit des Weltendes, die Apokalypse, ist in jeden Augenblick, jeden einzelnen Moment meines Lebens eingeschrieben. Diese Möglichkeit zerreißt die Kontinuität meiner Zeit. Die Zeit ist nun nicht mehr bloß ein emsiges Anhäufen von Sinn, ein schrittweises Schaffen von Identität von früh bis spät, von Sonntag bis Sonnabend. Zwischen früh und spät, heute und morgen, zwischen »jetzt« und »gleich« tut sich der bodenlose Abgrund des Nichts auf, des Endes all dessen, was ich kenne, was ich kennen kann, was mir Halt gibt. Bei Kafka ist zu lesen: »Wunderbare, gänzlich widerspruchsvolle Vorstellung, daß einer, der zum Beispiel um drei Uhr in der Nacht gestorben ist, gleich darauf, etwa in der Morgendämmerung, in ein höheres Leben eingeht. Welche Unvereinbarkeit liegt zwischen dem sichtbar Menschlichen und allem andern! Wie folgt aus einem Geheimnis immer ein größeres! Im ersten Augenblick geht dem menschlichen Rechner der Atem aus. Eigentlich müßte man sich fürchten, aus dem Haus zu treten.« 18

Das vom »Wissen« um den Tod durchdrungene menschliche Leben gleicht einem Vulkan: Irgendwo in der Tiefe lodert ein nie verlöschendes Feuer, bereit alles zu verzehren, was in diesem Leben scheinbar von Dauer, endgültig errungen, ein für alle Mal festgelegt ist, jeglichen Sinn und jedes Objekt des Wissens. Das Feuer, das nichts 114 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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verschont, was wir kennen oder erkennen könnten. Das Feuer, das nicht nur den »Leib des Todes« (Röm 7,24) verbrennt; kein Teil von mir, auch nicht die »Seele« ist ein Diamant, dessen sich dieses Feuer nicht bemächtigen würde. Nichts kann ins Jenseits hinübergerettet werden. Was sollte das auch bedeuten, das »Jenseits«? Was soll das heißen, »nach dem Tod«? Wenn der Tod alle Verstehensvoraussetzungen, wenn er die Möglichkeit zu wissen zerstört, sind das nur hohle, nichtssagende Worte. Das Feuer des Nichts. Oder vielleicht das Feuer Gottes? »[D]u Gott«, betete einst Augustinus, »[der du] wie ein Feuerbrand […] verzehrest«. 19 Und der Prophet Micha warnte die Samariter: »Denn siehe, der Herr wird ausgehen aus seinem Ort und herabfahren und treten auf die Höhen im Lande, daß die Berge unter ihm schmelzen und die Täler reißend werden, gleichwie Wachs vor dem Feuer zerschmilzt« (Mi 1,3 f). Aus der Perspektive der Begriffe, die wir kennen, der Erfahrungen, die wir gesammelt haben, aus der Perspektive all dessen, was wir wissen, ist der Tod ein Nichts. Er ist vollkommen unverständlich und transzendent. Er hat keinen Sinn. Das Leben (soweit es mir bekannt, vertraut und verständlich ist) und der Tod sind einander völlig fremd, sie haben nichts gemein, passen nicht zusammen. Wenn wir über den Tod nachdenken, sollten wir also nicht auf Metaphern zurückgreifen, die sich auf die Welt beziehen, die wir kennen. Der Tod ist nicht der Defekt eines Mechanismus, kein Zertrümmern eines zerbrechlichen Gegenstandes, keine Auflösungserscheinung eines komplizierten Systems. Wenn ich vom Tod sage, er sei ein Nichts, das Ende der Welt, meine ich eben diese Fremdheit, diese Transzendenz, dieses Nichtzusammenpassen, und nicht die Zerstörung eines Objektes, die Grenze einer Zeit oder eines Raumes. Wir haben es hier also auch nicht mit zwei voneinander unabhängigen Bereichen zu tun, dem Reich des Lebens und dem Reich des Todes, dem Bekannten und dem (noch) Unbekannten. Der Tod enthüllt nicht etwa eine bislang unbekannte Landschaft vor unseren Augen. Sokrates’ Erzählung von dem Land, in das die Seele nach dem Tod kommen soll, ist vielleicht schön, gewiss aber unwahr oder besser – sinnlos. »Dort aber bestehe die ganze Erde aus […] noch weit glänzenderen und reineren [Farben] als diese [die wir kennen – KM]. Denn ein Teil sei purpurrot und wunderbar schön, ein anderer goldfarbig, ein anderer weiß, aber viel weißer als Alabaster oder Schnee […]. Auf dieser so beschaffenen nun

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wachsen verhältnismäßig eben solche Gewächse, Bäume, Blumen und Früchte. Eben so haben auch die Gebirge und die Steine nach demselben Verhältnis ihre Vollendung und Durchsichtigkeit und schönere Farben […]. Die Erde also sei mit alle diesem geschmückt, und außerdem noch mit Gold und Silber und dem übrigen der Art, […] so daß sie zu schauen ein beseligendes Schauspiel sei.« 20

In Wirklichkeit gibt es keinen Ort, an dem das Leben endet und das Reich des Todes beginnt. Der Tod (seine Sinnlosigkeit, seine Unfassbarkeit, sein Geheimnis) durchdringt mein Leben, liegt in allem verborgen, was ich als Lebender weiß. Der Sinn meines Lebens, also auch ich selbst, meine Identität, lässt sich ohne diese andere, dunkle Seite nicht verstehen, ohne diese Sinnlosigkeit, dieses Nichtzusammenpassen, diese Transzendenz. Die Todesperspektive bringt damit etwas in mein Leben ein, das ich mir nicht aneignen kann, das sich meinem bisherigen Wissen nicht einverleiben lässt. Eine radikale Fremdheit, eine nicht auszugleichende Differenz, einen Riss, der sich nicht mehr kitten lässt, einen Spalt, der nicht überbrückt werden kann. Im Antichrist schreibt Nietzsche: »Der ganze Begriff des natürlichen Todes fehlt im Evangelium: der Tod ist keine Brücke, kein Übergang [in eine andere Welt – KM]. […] Die ›Todesstunde‹ ist kein christlicher Begriff«. 21 Immer verständlicher wird mir die Ursache für die Unruhe Jesu am Kreuz, die sich in seinem Schrei entlädt. Es ist nicht einfach eine Unruhe angesichts eines wichtigen, vielleicht des wichtigsten Ereignisses im Leben, sondern eher das Hervorbrechen der nicht zu stillenden Unruhe, die die Todesperspektive in jedem Moment unseres Lebens birgt. Der Tod ist der »Stachel im Fleisch« des Lebens, ein Stachel, den man nicht ziehen kann. Die im Alltag verborgene und doch ständig präsente Todesperspektive sprengt jeden Moment unser Wissen über die Welt und unsere Identität. Oder besser: Erst mit der Erkenntnis, dass es jeden Moment zu dieser Explosion kommen kann, zu diesem Erdbeben, dass es unmittelbar bevorsteht, jetzt gleich losbrechen kann, dieses lodernde Feuer in mir, das alles zu verzehren bereit ist – erst mit dieser Erkenntnis verstehen wir das Wesen des menschlichen Wissens über die Welt, eines Wissens, das sich nie in Begriffe fassen lässt, das Wesen des menschlichen Lebens, die conditio humana. Indem die Todesperspektive jeden Moment meines Lebens mit der Möglichkeit des Nichts zerreißt und ihm eine radikale, nicht mehr auszugleichende Diskontinuität zumisst, öffnet sie mein Leben für 116 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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etwas gänzlich Neues, gibt ihm die Möglichkeit, eine gänzlich neue Gestalt anzunehmen. Der Paulus kann nun den Saulus ablösen, der »Übermensch« den Menschen, der »auferstandene Leib« den Krzysztof Michalski. Ich spreche hier nicht von einer Form, die ich bereits kennen würde, nicht von einer Mutation, Verwandlung, Entwicklung oder Evolution. Vielmehr geht es darum, alles hinter uns zu lassen, was wir jetzt wissen und was wir vorhersehen können. Der »auferstandene Leib« ist nicht dasselbe Ich in schönerer, stärkerer, gesünderer und klügerer Gestalt. Aus der Perspektive des radikal Neuen löst sich die bisherige Identität in Luft auf, das »Ich«, das ich kenne, wird zu einer Folge toter Buchstaben. Simone Weil betete: »Vater, reiß aus mir weg diesen Leib und diese Seele, um sie zu dem zu machen, was dein ist, und laß in Ewigkeit nichts bestehen von mir als nur dieses Weggerissensein selbst.« 22 Die Perspektive des Todes, des Nichts, bedeutet also auch die Erwartung von etwas bislang völlig Unbekanntem, von etwas, das sich nicht mit den mir bekannten Begriffen fassen lässt, die Erwartung eines Neuanfangs. Wenn das so ist, dann zwingt uns die Todesperspektive nicht zur Einhaltung irgendwelcher Regeln, dann kann sie keine Ethik, keine Erwartungstugend begründen. Ganz anders verhält es sich mit der Reiseperspektive, sie fordert uns eine besonnene, sorgfältige Vorbereitung ab. Auf den Tod können wir uns, anders als auf eine Krakau-Reise, nicht vorbereiten. Sämtliche Fahrpläne, Zugtickets, Landkarten, Reiseführer, Wörter- und Handbücher, alle Hilfsmittel für die Zukunftsplanung werden in der Todesperspektive sinn- und bedeutungslos. Das Leben zeigt sich hier von seiner unangenehmen Seite: Offenbar kann man sich in ihm nicht endgültig niederlassen, sich nicht einrichten, man kann in ihm keinen sicheren Halt finden. Keine Ethik, keine Institution vermag diesen Halt zu vermitteln, die Todesperspektive enthüllt ihren provisorischen, relativen Charakter. Damit untergräbt die meinem Leben eingeschriebene Todesperspektive jede Ethik, jede menschliche Institution. Wenn nun der Tod nicht nur das Ereignis ist, welches das Leben beendet, wenn er nicht die Brücke ist (denn was sollte das bedeuten?), die das Leben in der Zeit (ist ein »Leben jenseits der Zeit« nicht ein »viereckiges Dreieck«?) mit dem ewigen Leben (ist das nicht ein Oxymoron?) verbindet, wenn der Tod, die Möglichkeit des Todes in erster Linie bedeutet, dass mein Leben jeden Moment zerrissen und so für etwas Neues geöffnet wird, zeigt sich uns dann in der Konfrontation 117 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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mit dem Tod nicht auch die Welt von einer bislang unbekannten Seite? Nicht mehr nur als Ort, den wir mit dem Tod verlassen (all die Belanglosigkeiten, Gefühle und Aufgaben), nicht mehr nur als Ort, dessen Sinn (zumindest grundsätzlich) durch das bestimmt wird, was ich berühren, sehen und verstehen kann? Die Perspektive meines Todes verleiht der Welt, in der ich lebe, einen neuen Sinn, der prinzipiell unvollendet, offen, provisorisch ist. Oder anders ausgedrückt: Die Todesperspektive zeigt, dass die Welt, genau wie ich selbst, mehr enthält, als sie zu fassen vermag. Das »Wissen« vom Tod, das in jeder Sekunde meines Lebens alle Poren meines Körpers durchdringt, ist also nicht nur eine natürliche Quelle der Angst. In der Konfrontation mit dem Nichts, dem Ende alles mir Bekannten und Vertrauten, öffnet es mich zugleich für die Möglichkeit von etwas radikal Neuem und gänzlich Unbekanntem. Es zeigt die berstende Welt, die Welt, die immer mehr ist, auch wenn es auf die Frage »Was mehr?« keine Antwort gibt. Man könnte also sagen, dass die Todesperspektive nicht nur Angst auslöst, sondern auch Sehnsucht. Eine unstillbare Sehnsucht, denn im Unterschied zu Hunger oder zu einem Begehren weiß ich nicht, wonach ich mich sehne und wodurch diese Sehnsucht gestillt werden könnte. Hören wir noch einmal den betenden Augustinus: »Was für ein Lichtstrahl ist’s, der mich trifft, mein Herz durchbohrt und doch nicht verletzt? Ich schaudere und erglühe«. 23 Das Gewebe meines Lebens ist also von Sehnsucht erfüllt, einer Sehnsucht, die als metaphysisch bezeichnet werden kann, da sie sich auf nichts richtet, was von dieser Welt wäre, die ich kenne und in der ich zu Hause bin. Eine unendliche Sehnsucht, da sie nicht erfüllt werden kann und somit über alle Dinge hinausweist. Ein Durst, der nicht gestillt werden kann, anders als ein Bedürfnis nach etwas (Geld), ein Begehren nach jemandem (wer, sage ich nicht) oder eine Neugier (wer gewinnt?). Ein Feuer der Begierde, das keine Befriedigung zu löschen vermag. Kann sich nicht gerade hier, in diesem ewigen Feuer, in dieser unendlichen Sehnsucht nach Fremdem, Neuem, Unerwartetem, Gott dem Menschen zeigen? »[D]er Busch [brannte] mit Feuer und ward doch nicht verzehrt« (2.Mose 2,3). Eben das, denke ich, will uns der Bericht des Matthäus sagen: Der Schrei Christi am Kreuz offenbart die Welt als den Ort des Wartens auf Gott. Wenn das alles stimmt, dann ist das menschliche Leben auf radikale Weise unendlich frei. Wenn jeder Augenblick meines Lebens von 118 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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seiner möglichen Zerstörung und Vernichtung bestimmt wird, wenn in jedem Augenblick meines Lebens das verborgene Feuer brennt, das es jeden Moment unerwartet und radikal verändern kann, dann bedeutet das doch auch, dass mich nichts endgültig bindet, kein bereits erlangtes Wissen, keine schon festgesetzten Bedingungen. Die Tatsache, dass ich lebe, befreit mich aus jeder Situation, ermöglicht mir eine Distanz zu all meinem Tun, ermöglicht mir die Freiheit. Montaigne schreibt: »Die Vorbereitung zum Tode ist die Vorbereitung zur Freyheit. […] Die Kunst zu sterben, befreyet uns von aller Unterwürfigkeit, und allem Zwange.« 24 Es ist also kein Wunder, dass der Tod – diese Spur, diese weder für die Augen noch für den Verstand zu erfassende Berührung mit dem Unbekannten, welche die Zerbrechlichkeit jeden Augenblicks, seine Öffnung hin zu einer nicht vorhersehbaren Zukunft und damit meine grenzenlose Freiheit enthüllt – es ist kein Wunder, dass dieser Tod nicht zu begreifen ist. So wie die Schilderung Phaidons von Sokrates’ Tod der Athener Jugend ein Beispiel für die rechte Haltung gegenüber dem Tod und mithin ein Beispiel für ein gutes Leben vermitteln sollte, so soll auch Christi Tod am Kreuz in der Schilderung des Matthäus, wie ich sie verstehe, ein Zeugnis der conditio humana sein, dessen, was im Leben wichtig ist, worauf es ankommt. Gott ist Mensch geworden, um den Menschen die Wahrheit über sie vor Augen zu führen. Matthäus berichtet uns von Christi Tod, auf dass uns der Schrei des Gekreuzigten für immer in den Ohren gelle und wir wissen, wer wir sind. »Jesus wird bis an das Ende der Welt mit dem Tode ringen. Während dieser Zeit darf man nicht schlafen« 25, schrieb Pascal. Die Unruhe Jesu soll sich auch uns mitteilen. Leben, wahrhaft leben, bedeutet, unablässig auf das Unbekannte zu warten und zu wachen. Mit dem Schlaf zu kämpfen, zu dem uns das Alltagsleben mit seiner scheinbaren Ordnung und der daraus erwachsenden Ruhe verführt. Oder mit Augustinus gesprochen: »So lag die Last der Welt, wie es wohl im Schlafe geschieht, süß und drückend auf mir, und meine Gedanken, die ich sinnend auf dich richtete, glichen den Versuchen derer, die aufwachen wollen, aber vom tiefen Schlummer überwältigt wieder zurücksinken.« 26 Die Angst und die Sehnsucht, die mir angesichts des Todes das Herz durchbohren, lassen nicht zu, dass ich mich in Alltagssorgen verliere, im Heute, im Bekannten, sie lassen mich nicht einschlafen.

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Jesu Sterbensschrei ist überall zu hören, wohin ich auch gehe. Lévinas schreibt: »Ich kann nicht einen Augenblick ruhig für mich sein«. 27 Aber das Leben bringt seine eigenen Zwänge mit sich – wir müssen schlafen. Daher schaffen wir uns Werkzeuge, die uns das Ganze erleichtern: Institutionen, Verhaltensmuster, und ja, auch die Moral. Um nicht hören zu müssen, um vergessen und einschlafen zu können. Hilfsmittel zur Zerstreuung (Pascal), Anaesthetika (Nietzsche). Rufen wir uns noch einmal die Forderung des Sokrates ins Gedächtnis: Lasst uns leben wie die Ameisen – ohne Chaos, ohne Unfrieden! »Jetzt verstehe ich klar«, sagt Zarathustra nach seiner Begegnung mit dem Prediger der Tugend »was einst man vor Allem suchte, wenn man Lehrer der Tugend suchte. Guten Schlaf suchte man sich und mohnblumige Tugenden dazu!« 28 Jesu Schrei in der Schilderung des Matthäus-Evangeliums soll aufwecken, aus dem Schlaf reißen. Er soll uns also bewusst machen, dass wir bislang geschlafen haben. Dass die Wirklichkeit, in der wir bislang gelebt haben, nicht die endgültige, absolute Form der Wirklichkeit ist. Wenn wir aufgewacht sind, erkennen wir die Zerbrechlichkeit all dessen, was uns umgibt, all dessen, was wir vorher für fest, für solide und unerschütterlich hielten. Im Wachzustand sehen wir Schuttberge, wo im Schlaf Häuser stehen, wir wachen auf und die Erde bebt, wir verlieren den Boden unter den Füßen. Die Ordnung der Welt, die Institutionen, die unser Leben stabilisieren, die Begriffe, die uns diese Welt verstehen lassen, und schließlich ich selbst, meine Identität, mein Sein – alles offenbart seinen Interims-Charakter, seine allgegenwärtige Anfälligkeit, seine Verletzlichkeit. Der Verdacht, dass wir schlafen, während wir uns für wach halten, quälte bekanntlich auch Descartes. Nie lasse sich dieser Verdacht aus dem Alltagsleben restlos ausräumen, auch wenn der gesunde Menschenverstand ihn ständig beiseite zu schieben versuche. Der einzig wirksame Schutz dagegen ist, wie Descartes nachwies, die Mathematik. Zwei und zwei ist vier, ob ich nun schlafe oder wache. Vom mathematischen Standpunkt aus wird der Unterschied zwischen Schlafen und Wachen, zwischen Traum und Leben bedeutungslos. Aber heißt das nicht auch, dass die Mathematik, die Wissenschaft (wie das Wissen von den Ideen in Phaidons Bericht über Sokrates) jegliche Bedeutung verliert, wenn wir nach dem Sinn des menschlichen Lebens fragen, nach der conditio humana? Wie dem auch sei, das cartesianische Argument der Nichtunterscheidbarkeit des Lebens in Wachzustand und Traum bringt die Über120 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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zeugung ins Wanken, dass die Gestalt der Welt, wie wir sie aus unserer Alltagserfahrung kennen, die wahre ist, dass dies die Welt ist, wie sie ist. Das bedeutet freilich nicht, dass sie nur ein Phantom wäre, ein Traumgebilde, dass diese Welt so überhaupt nicht existierte. Auch Descartes war nicht dieser Ansicht. Möglich ist jedoch ein Standpunkt (hätte Descartes gesagt, weshalb ich ihn hier anführe), der zeigt, dass diese Wirklichkeit beschränkt ist, eindimensional und damit relativ. Wie ein Traum. Der schreiende Jesus aus dem Evangelium des Matthäus möchte uns aus diesen Träumen reißen, er will uns nicht einschlafen lassen. Sein Schrei will uns aus jedem Traum reißen, uns dazu zwingen, weiter anzukämpfen gegen die Trägheit der Glieder und des Geistes, die Resignation, die Versuchung von Ruhe und Ordnung. Gegen die bequeme Identifikation mit den bestehenden Institutionen, Tugenden und Begriffen. Gegen die Versuchung des Schlafes. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Platons Phaidon und das Matthäus-Evangelium zwei Erzählungen über den Tod sind, zwei Sichtweisen der Natur des Menschen. In Christi Schrei am Kreuz, von dem Matthäus berichtet, klingt eine Auffassung vom menschlichen Leben an, die sich radikal von der des Sokrates (wie Phaidon ihn verstanden hat) unterscheidet. Für Phaidons Sokrates sind das wirklich Wichtige im Leben die Ideen, die ewige Ordnung der Welt, deren Verständnis zu ungestörter Ruhe und Gelassenheit angesichts des nahenden Todes führt. Sokrates wollte uns Begriffe geben, die beruhigen und die Unruhe angesichts des Todes abmildern. Das Zeugnis des Matthäus, wie ich es verstehe, ist radikal anders. Es spricht von der unausweichlichen Gegenwart des Unbekannten in jedem Augenblick meines Lebens, einer Gegenwart, die jegliche auf Bekanntem basierende menschliche Sicherheit zerreißt, die alle Ruhe, alle Gelassenheit zerstört; die die Kontinuität der Zeit aufreißt, indem sie jeden Moment des Lebens für das Nichts öffnet und ihm so die Möglichkeit des absoluten Endes und die Chance des Neuanfangs einschreibt. Zwei Sichtweisen des Todes, zwei Sichtweisen der conditio humana – vielleicht ist die unauflösbare Spannung zwischen ihnen mehr als der Gegensatz wahr/falsch, vielleicht macht gerade diese Spannung den einzig möglichen Sinn menschlichen Lebens aus.

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VII Die Flamme der Ewigkeit 1 »Seit wir zu sprechen begannen bis zu diesem Moment, merkst du, dass wir älter geworden sind. Du kannst das Wachsen deiner Haare nicht sehen, und doch, während du hier stehst, während du hier bist, während du irgendetwas tust, während du sprichst, wachsen deine Haare an dir, wenn auch nicht so schnell, dass du gleich einen Barbier aufsuchen müsstest. […] So fliegt dein Leben dahin.« 1 »Lass einige Jahre vergehen. Lass den Strom fließen, wie er es stets tut, mitten durch irgendwelche Gräber von Toten.« 2

Dies sind die Worte des Aurelius Augustinus, Bischof von Hippo, im 5. Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Wie lange gibt es diese Stadt nicht mehr! Und doch berühren mich diese Worte nach so vielen Jahrhunderten noch, wie sie sicherlich die Gläubigen berührt haben, die in seiner Kirche versammelt waren. Woher rührt ihre Kraft? Worum es hier geht, ist nicht leicht zu verstehen. Heute kann das entsprechend bewehrte Auge, anders als damals, ohne größere Schwierigkeiten den Haaren beim Wachsen zusehen. Aber das Vergehen können wir auch heute nicht erkennen. Weder mit bloßem noch mit bewehrtem Auge lässt sich der Wandel vom Seienden zum Vergangenen beobachten, vom »Jetzt« zum »Einst«. Gewiss, ich kann die Veränderungen in meinem Gesicht unschwer erkennen, wenn ich mein Spiegelbild mit einem alten Foto vergleiche. Aber wo im Spiegel oder auf dem Foto ist das Merkmal, das mir verrät, dass das Gesicht auf dem Foto einmal war und das im Spiegel jetzt ist? Ich kann es nicht entdecken. Daher ist die Erfahrung des Vergehens, das Wissen darum, dass die mir bekannte Welt einmal vergangen sein wird (und ich mit ihr) nie ganz frei von dem Irrealitätsverdacht, der zumeist mit dieser Erfahrung einhergeht, dem Verdacht, sie resultiere aus der Begrenztheit unserer Perspektive, und in der Realität vergehe nichts. Wenn wir nicht sehen können, wie etwas vergeht, vielleicht vergeht dann ja tatsächlich nichts? Wenn ich mein Gesicht im Spiegel betrachte, sehe 122 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

VII · Die Flamme der Ewigkeit

ich Falten, Müdigkeit und graue Haare, die es auf dem alten Foto nicht gibt, doch weder hier noch dort kann ich ein »Heute« oder ein »Gestern« erkennen. Vielleicht gibt es in der Realität tatsächlich kein »Heute« und kein »Gestern«, vielleicht unterscheiden sich die Dinge in der Realität nicht auf diese Weise? Vielleicht sind nur die Dinge real und nicht ihre Abfolge? Gewiss, wir sehen die Dinge aufeinander folgend, gestern dies, heute jenes und übermorgen noch etwas anderes. Aber vielleicht ist das nur so, weil wir sie nicht zusammen sehen können, während das aus einer anderen, besseren Perspektive möglich ist. Vielleicht gibt es eine (göttliche? wahre?) Perspektive, aus der alles gleichzeitig ist – das Ich vom Foto und das Ich im Spiegel? »[A]nderes und immer wieder anderes kreist um die Seele«, formulierte einst Plotin diesen Verdacht: »bald ein Sokrates, bald ein Pferd, immer eins von dem Daseienden; der Intellect ist alles. Er hat also in sich selbst alles an derselben Stelle ruhend und ist allein und ist immer gegenwärtig, niemals zukünftig noch vergangen; denn nichts ist dort vergangen, sondern es steht immer, da es mit sich identisch ist und gleichsam mit sich selbst in dieser Lage zufrieden.« 3 Die Gegenwart der Dinge scheint der Überzeugung von der Vergänglichkeit der Welt zu widersprechen – die Welt, die ich sehe, ist. Die Überzeugung, dass auch ich einmal vergangen sein werde, erscheint als noch größerer Skandal. Widerspricht die Vorstellung, dass ich einmal nicht mehr sein werde, die Vorstellung einer Welt ohne mich, nicht noch dem letzten Krümchen meiner Erfahrung, ist sie nicht völlig absurd? Unabhängig davon, was ich – auf andere Weise abstrakt – von der Welt weiß (dass alles ein Ende hat), von den anderen weiß (dass sie sterben)? Die scheinbar unbestreitbare Selbstverständlichkeit, mit der die Welt für mich existiert, und die Absurdität der Vorstellung meines künftigen Nichtseins in dieser Welt wecken ein spontanes Misstrauen gegenüber dem Gedanken des Vergehens. Dieser Gedanke lässt sich auch folgendermaßen formulieren: Die Mittel, die mir zur Verfügung stehen, um das Gesehene zu verstehen und auszudrücken – meine Begriffe, meine Wörter –, scheinen für das Erfassen des Seienden eingerichtet zu sein; die Welt, wie ich sie sehe, wie ich sie kenne, ist, sie vergeht nicht. Das Vergehen (der Welt und meiner selbst mit ihr) scheint vor jeglicher Kategorisierung gefeit, es entzieht sich Wörtern und Begriffen, verschließt sich dem Wissen. Und doch möchte man die These, die Zeit sei eine Illusion, als unsinnig verwerfen. Widerspricht jemand, der diese Behauptung auf123 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

VII · Die Flamme der Ewigkeit

stellt, nicht (auch) unserer Erfahrung? Ich weiß schließlich noch genau, wie ich am Grab meines Freundes stand und die Zeit zerriss in ein »Jetzt« ohne ihn und ein »Einst«, als er noch da war. In solchen Momenten löst sich die Vergangenheit von der Gegenwart, sie wird widerständig, fremd, verwandelt sich in Stein, wird zur Last. Und schmerzt. Oder eher: In solchen Momenten spaltet sich die Zeit auf in Gegenwart und Vergangenheit und hinterlässt eine Wunde, eine schmerzende Wunde. Denn, so schreibt Borges, das zeitliche »Nacheinander [ist] ein unerträgliches Elend«. 4 Es stimmt also, wir können das Vergehen nicht sehen. Es stimmt, dass das Vergehen in der hellen Gegenwart der Welt (und meiner selbst in ihr) nur eine Illusion zu sein scheint, ein böser Traum, Unsinn. Und doch ist die Überzeugung, dass jedes Ding vergänglich ist, tief in unsere Erfahrung eingeschrieben – ich sehe das Vergehen zwar nicht, aber ich spüre es. »Du fühlst«, schreibt Nietzsche, »daß du Abschied nehmen wirst, bald vielleicht – und die Abendröthe dieses Gefühls leuchtet in dein Glück hinein. Achte auf dieses Zeugniß: es bedeutet, daß du das Leben, und dich selber liebst und zwar das Leben, so wie es bisher dich getroffen und dich gestaltet hat […] Wisse aber auch! – daß die Vergänglichkeit ihr kurzes Lied immer wieder singt und daß man im Hören der ersten Strophe vor Sehnsucht fast stirbt, beim Gedanken, es möchte für immer vorbei sein.« 5

Was uns die Erfahrung lehrt, scheint sich also innerlich zu widersprechen, die Intuitionen lassen sich kaum miteinander vereinbaren: Unsere Erfahrung liefert uns Beweise für die Realität von Vergehen und Zeit und widerspricht ihr gleichzeitig. Versuchen wir auf Nietzsches Spuren darüber nachzudenken.

2 »Raum ist […] eine subjektive Form. Zeit nicht« 6, notiert Nietzsche im Sommer 1882. Was meint er damit? Wenn Zeit keine subjektive Form ist, dann ist sie objektiv oder anders: real. Das heißt, die Welt verändert sich, unablässig, unausweichlich, die Welt wird, die Welt vergeht – dieser Wandel, dieses Werden, die Zeit, sind nicht bloß eine subjektive Illusion. Vergesst die Ewigkeit, die aus der Zeit einen Traum macht, for124 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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dert Nietzsche. Tragt die Theorien zu Grabe, die euch überreden wollen aufzuwachen, den Zeit-Schleier zu lüften, damit ihr hellwach der Welt Aug in Auge gegenübertreten könnt, wie sie (angeblich) ist. Das sind alles faule Tricks und Spielereien. Oh, ich weiß sehr wohl, warum ihr euch so leicht beschwatzen lasst, warum ihr so eifrig nach Fluchtwegen sucht – die Zeit schmerzt. Der Tod verängstigt. Der Schatten des Geheimnisses, des Nichtverstehens, der sich nicht aus dieser unablässig sich wandelnden Welt schaffen lässt, irritiert, verleitet dazu, das sich Wandelnde zu ignorieren und etwas zu suchen, das nur ist. Und doch ist dies eure einzige Realität: dieser Schmerz, diese Angst, dieses Nichtverstehen. Die Zeit. Vor der Zeit gibt es kein Entrinnen – das ist auch eine Botschaft des Christentums, die in der griechischen und römischen Welt, wo sie aufkam, revolutionär war. Die Frage nach deinem Sein, deinem Schicksal, dem Sinn deines Lebens, so predigten die Christen den Griechen und Römern, entscheidet sich hier, jetzt, in deiner stets zu kurzen Lebenszeit, nirgends sonst. In dieser Zeit, die du nur einmal erleben kannst, ohne zweite Chance, unwiderruflich, so wie »Christus einmal für unsre Sünden gelitten hat, der Gerechte für die Ungerechten, auf daß er uns zu Gott führte« (1.Petr 3,18). Die Zeit (und mit ihr der Schmerz des Vergehens, die Todesangst, die Unverständlichkeit der sich wandelnden Welt) ist auch für Christen real, auch für Christen ist die Zeit keine Illusion. Wie äußert sich nun dieser unumkehrbare Wandel, das Werden, und was bedeutet es, dass die Welt vergeht? Nietzsche beantwortet diese Frage mit mehreren Gleichnissen. Dabei handelt es sich nicht um bloße Heuristik, nicht um den Versuch, einen anderwärtig bekannten Sinn zu illustrieren. Ohne Gleichnisse geht es nicht. Sie lassen sich nicht aus der Antwort entfernen, der Sinn dessen, was mit der Welt und mit uns geschieht, lässt sich nicht ohne sie erzählen. »Aber von Zeit und Werden«, notiert Nietzsche, »sollen die besten Gleichnisse reden: ein Lob sollen sie sein und eine Rechtfertigung aller Vergänglichkeit!« 7

125 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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3 Eines der Gleichnisse, die das Vergehen preisen und begründen, ist Heraklits Bild von der Welt als Fluss. Es ist wahr, sagt Nietzsches Zarathustra mit Heraklit: »Alles ist im Fluß«. 8 Tatsächlich beobachten können wir das nicht, der Fluss der Zeit entzieht sich den Instrumenten, mit denen wir wahrnehmen und verstehen. Nietzsche schreibt, »wir sind nicht fein genug, um den muthmaaßlichen absoluten Fluß des Geschehens zu sehen«. 9 Aber jenseits unserer Wahrnehmung, unter der Oberfläche der Phänomene »gärt und gärt, ein Fluß der Dunkelheit« 10 – der dunkle Fluss des Vergehens. Unablässig, ohne Anfang und Ende. »›Wie?‹«, nimmt Zarathustra einen Einwand vorweg. »›Alles wäre im Flusse? Balken und Geländer sind doch über dem Flusse!‹ ›Über dem Flusse ist Alles fest, alle die Werthe der Dinge, die Brücken, Begriffe, alles ›Gut‹ und ›Böse‹ : das ist Alles fest!‹« 11 Gewiss, das ist schon richtig, manche Dinge gehen zu Bruch, zerfallen, sterben – aber doch nicht alle. Zumindest Begriffe von universaler Bedeutung, zumindest Begriffe wie Gut und Böse; selbst wenn sich ringsum alles wandeln sollte, so bleiben sie doch bestimmt unverändert, ihnen kann die Zeit doch nichts anhaben! Hier wird deutlich, dass Nietzsche Hölderlin gelesen hat: »Und alles soll vergehn?« 12 (der konsternierte Pausanias zu Empedokles). So »sagen die Tölpel« 13, erklärt Zarathustra (und auch Empedokles weist Pausanias zurecht: »Thöricht Wesen! schläft und hält / Der heilge Lebensgeist denn irgendwo / Daß du ihn binden möchtest, du den Reinen?« 14). Nietzsche duldet keine Kompromisse: Nein, der Fluss der Zeit kennt keine Hindernisse, er hält niemals irgendwo an, der »Heilge Lebensgeist« schläft und hält nie, die Dinge lassen sich nicht einteilen in wandelbare und unwandelbare, in diejenigen im Fluss (in der Zeit) und die anderen (ewigen, überzeitlichen). Es gibt keine Befreiung vom Fluss der Zeit, auch nicht in der Moral. Nur die Wahnsinnigen suchen danach: »›Oh wo ist die Erlösung vom Fluss der Dinge […]?‹ Also predigte der Wahnsinn« 15, spricht Zarathustra. Ein Kompromiss wäre ohnehin unmöglich, in diesem Fall gilt (für Nietzsche) tertium non datur. Wer glaubt, dass zumindest manche Dinge, wenn schon nicht alle, von der Zeit unberührt bleiben (Dreiecke zum Beispiel, die im Gegensatz zum offensichtlichen Beispiel der Frau Müller nicht altern), wer an die Existenz über den Fluss der Zeit gespannter Brücken und Stege glaubt, der stellt die Existenz 126 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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des Flusses selbst in Frage. Wenn wir glauben, dass etwas, irgendetwas außerhalb der Zeit existiert, dann glauben wir nicht mehr an die Realität des Wandels insgesamt. Diese beiden Überzeugungen lassen sich nicht miteinander vereinbaren. Mit dem Glauben an ein überzeitliches »Etwas« legt sich ein Schatten des Zweifels auf die Realität der Zeit – »dort«, nicht »hier« (glauben wir dann), ist die Welt, wie sie ist. Wenn etwas Unwandelbares existiert, fällt es schwer zu glauben, dass alles sich wandelt, dass die Zeit real ist. Nietzsche stützt diesen Gedanken gerne mit folgendem Argument: »Wenn die Welt überhaupt erstarren, vertrocknen, absterben, Nichts werden könnte, oder wenn sie einen Gleichgewichtszustand erreichen könnte, oder wenn sie überhaupt irgendein Ziel hätte, das die Dauer, die Unveränderlichkeit, das Ein-für-alle-Mal in sich schlösse (kurz, metaphysisch geredet: wenn das Werden in das Sein oder ins Nichts münden könnte), so müßte dieser Zustand erreicht sein. Aber er ist nicht erreicht: woraus folgt …« 16

Die Überzeugung, dass etwas Unwandelbares existiert, wird, so argumentiert Nietzsche hier, häufig mit der These formuliert, das Werden, der Wandel, mit dem wir zweifellos tagtäglich zu tun haben, habe ein Ziel, wie weit dieses auch entfernt sein mag. Anders ausgedrückt: Das Werden sei ein Werden von »etwas« (der Freiheit beispielsweise oder des menschlichen Schicksals, das sich am Ende der Tage erfüllt, oder des Wesens des Menschseins, das mit einem Quäntchen Glück und der gewaltigen Anstrengung der Arbeiterklasse am Ende im Kommunismus Wirklichkeit wird, etc.). Dem hält Nietzsche entgegen: Wenn das Werden der Welt ein Ziel hätte (wenn also ein sich nicht weiter wandelnder, überzeitlicher Zustand möglich wäre, ein Zustand, in dem »sein« und »werden« unterschiedliche Bedeutungen hätten), dann wäre dieser Zustand in der Unendlichkeit der bisher vergangenen Zeit bereits erreicht. Wenn die Welt »etwas« wird, warum ist dieses Etwas, dieses letzte Ziel dann trotz der Unendlichkeit der vergangenen Zeit noch nicht Realität? Denken wir noch einen Moment darüber nach – um dieses Argument wirklich zu verstehen –, was es bedeuten kann, dass die »Zeit unendlich ist«, was bedeutet »Unendlichkeit der bisher vergangenen Zeit«? Sicherlich geht es dabei nicht um den objektiven, unendlichen 127 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Verlauf, der von einem »Einst«, das »irgendwo in der Unendlichkeit« liegt, »bis heute« andauert; ein solcher Begriff wäre gänzlich unverständlich. Er setzte ja voraus, die Zeit hätte keinerlei Richtung, es wäre also gleichgültig, ob ich mich in ihr rückwärts (von der Gegenwart zur Vergangenheit) oder vorwärts (von der Vergangenheit zur Gegenwart) bewegte. Dabei ist eine Zeit ohne Richtung doch eine Zeit ohne Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft, und was ist das für eine Zeit, in der sich die Vergangenheit nicht von der Zukunft unterscheidet? »[W]enn ich die Richtung [der Zeit] (vorwärts oder rückwärts) als logisch indifferent setzte, würde ich den Kopf […] als Schwanz zu fassen bekommen«; 17 die Begriffe »Vergangenheit« und »Zukunft« (und damit auch »unendliche Vergangenheit« und »unendliche Zukunft«) ergeben keinen Sinn mehr. Die Zeit als Schlange, die sich in den eigenen Schwanz beißt, wird zum Rad, zur Negation ihrer selbst. Die einzige Möglichkeit, die Zeit als unendlich zu verstehen, ist nach Nietzsche, »von diesem Augenblick an rückwärts rechnend zu sagen ›ich werde nie dabei an ein Ende kommen‹ : wie ich vom gleichen Augenblick vorwärts rechnen kann, ins Unendliche hinaus.« 18 Also erhält die Unendlichkeit der Zeit erst aus der Perspektive dieses Augenblicks, in dem ich mich befinde einen Sinn, da erst aus der Perspektive dieses Augenblicks die Zeit eine Richtung erhält und somit die Begriffe »Vergangenheit« und »Zukunft« einen Sinn haben. Zu sagen »die Zeit ist unendlich« ist also nichts anderes als zu sagen, dass aus der Perspektive dieses Augenblicks, den ich gerade erlebe, der Begriff »Ende der Zeit« unmöglich ist. Wenn Nietzsche nun schreibt, dass wenn die Zeit irgendein Ziel hätte, dieses bereits erreicht sein müsste, meint er damit Folgendes: Wenn ich aus der Perspektive eines Menschen, der eine Vergangenheit hinter sich und eine Zukunft vor sich hat, von einem »Ende der Zeit« spreche, erzähle ich Unsinn, aus dieser Perspektive ergibt der Begriff keinen Sinn. Er ist nur sinnvoll, wenn ich den Wandel, den Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft, meine Perspektive des Heute verneine. Wenn die Welt einem finalen Zustand, einem Ende, einer Zeitgrenze zustrebt, ist die Tatsache des jetzt sich vollziehenden Wandels gänzlich unverständlich. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff des Anfangs. Wenn ein (überzeitlicher) Zustand möglich wäre, aus dem die Zeit fließt, wenn ein (unwandelbarer) Anfang möglich wäre, mit dem die sich wan128 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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delnde Welt begann, dann wäre es gänzlich unverständlich, wie die Welt diesen Zustand hätte verlassen können, wie sie begonnen hätte, sich zu wandeln. Wenn ein Zustand möglich ist, der nicht wird, ein Zustand ohne Vergangenheit (»Anfang«) oder ohne Zukunft (»Ende«), dann ist es unmöglich, den Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft und das Werden zu erfassen. Die Zeit ist nichts, was passiert wäre (wie verschüttete Milch), die Zeit ist nicht geworden, sie wird auch zu nichts. Die Zeit wird einfach, ohne Anfang und ohne Ende. Nietzsche schreibt: »Die Welt besteht; sie ist nichts, was wird, nichts, was vergeht. Oder vielmehr: sie wird, sie vergeht, aber sie hat nie angefangen zu werden und nie aufgehört zu vergehen […] Sie lebt von sich selber: ihre Excremente sind ihre Nahrung …« 19

Wenn die Welt, auf die ich schaue, die Welt, in der ich lebe, sich tatsächlich wandelt, wenn meine Anwesenheit in diesem Augenblick nicht vollständig, nicht umfassend ist, wenn dieser Augenblick geborsten ist, wenn er einen Sprung aufweist, durch den das Nichts des Gewesenen und des Kommenden in ihn eindringt, wenn der Unterschied zwischen der Zukunft vor mir und der Vergangenheit, die hinter mir liegt, real ist – kurz, wenn die Welt tatsächlich vergeht und nicht einfach ist (was Nietzsche ja annimmt), dann haben Vergehen, Wandel und Werden nie angefangen und werden auch nie aufhören. »Wäre sie [d. i. die Welt] überhaupt eines Verharrens und Starrwerdens, eines ›Seins‹ fähig, hätte sie nur Einen Augenblick in allem ihrem Werden diese Fähigkeit des ›Seins‹, so wäre es wiederum mit allem Werden längst zu Ende […]. Die Thatsache des […] Werdens beweist, daß die Welt kein Ziel, keinen Endzustand hat und des Seins unfähig ist.« 20

Es gab keinen Anfang, und es wird kein Ende geben, kein Augenblick der Zeit kann dies sein. Aus der Perspektive des Anfangs oder des Endes wäre der Wandel gänzlich unverständlich. Tertium non datur. Daher weisen die Tölpel Zarathustra nicht nur auf das hin, was der Fluss der Zeit nicht erreicht, sie fragen ihn auch: »›Sollte nicht alles – stille stehn?‹« 21 Ist der Fluss der Zeit nicht eine Fata Morgana, ist die wahre Welt, die Welt, wie sie ist, die ganze Welt, nicht unwandelbar wie die Brücken und Geländer, wie die universalen Begriffe, wie Gut und Böse? 129 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Nein, so ist es eben nicht, der Fluss der Zeit kennt keine Grenzen, beteuert Zarathustra und mit ihm Nietzsche, der Fluss der Zeit ist eben die Welt, wie sie ist, die vergehende Welt ohne Anfang und Ende. Eine andere gibt es nicht. Wenn der Fluss der Zeit weder Anfang noch Ende hat, wenn er weder ein Werden noch eine Verwandlung einer Sache in eine andere ist, dann kann die Zeit auch nicht Destruktion, Zerfall und Korruption von etwas sein, das am Anfang, vor der Zeit war und das, hätte die Zeit nicht begonnen, hätte sie nicht angefangen zu fließen, heil, unberührt, unversehrt und unschuldig gewesen wäre. Aus demselben Grund ist die Zeit nicht nur ein »Noch-nicht« und kann es auch nicht sein, sie kann keine Erwartung, keine Hoffnung auf etwas sein, das kommen wird, um ihr ein Ende zu setzen. Denn »Anfang« oder »Ende« der Zeit sind so unsinnige Begriffe wie ein »quadratischer Kreis« oder »die ewig junge Frau Müller«. Bedeutet das dann, dass man die Zeit überhaupt nicht verstehen kann? Kann man die Zeit anders fassen als aus der Perspektive dessen, was in ihr wird, was sich wandelt (oder auch nicht), wie man eine Krankheit nur als pathologischen Zustand eines Organismus verstehen kann, der sonst normal ist, in Ordnung? Lässt sich Zeit anders verstehen, denn als »dunkler Fluß der Zerstörung […] ein dunkler Fluß der Verderbnis« 22 oder andererseits als »[d]er silberne Fluß des Lebens, der sich weiter wälzt und die ganze Welt zu einer strahlenden Helligkeit vorantreibt, immer weiter zum Himmel, auf den Weg in ein strahlend helles, ewiges Meer« 23? Als Degeneration der ehemals gesunden Natur des Menschen, als stufenweise Korrosion des Gottesgeschenks unter dem Einfluss der Sünde, als großer Fluß, der dem Tode zuläuft, oder als Weg in die lichte Zukunft, ins Paradies, zur Erlösung, zum Sozialismus, zur Demokratie, zum Ende mit Engeln und Fanfaren? Kurzum, ist der Wandel nicht nur aus der Perspektive von etwas Unwandelbarem verständlich, die Störung der Identität nur aus der Perspektive des Identischen? Dieser Auffassung ist etwa Edmund Husserl. Husserl sucht die Lösung des Zeit-Rätsels (»warum fließt sie?«) in einer der Alltagserfahrung nicht zugänglichen Tiefenstruktur des Bewusstseins – um schließlich die Quelle der Zeit in der Spaltung des Bewusstseins zu finden, die ihm durch den Bezug (die Intention) zu den Objekten eingeschrieben ist, in der Störung der ursprünglichen bewussten Einheit durch die Intention, die den Sinn der Objekte hervorbringt. Husserl sieht also den Zeitunterschied (den Unterschied zwischen 130 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Vergangenheit und Zukunft), er sieht die Diskontinuität und das Werden der Zeit aus der Perspektive der Einheit, der Kontinuität, aus der Perspektive des nicht (mehr oder noch nicht?) werdenden Seins: »das Bewußtsein der Andersheit [setzt][…] eine Einheit voraus« 24, schreibt er. Dieser Auffassung ist auch Leszek Kołakowski. Geschichte – schreibt er in Kultur und Fetische 25 über den scheinbar unablässigen Wandel des uns umgebenden Lebens – kann nicht als bedeutsame Struktur verstanden werden, wenn wir nicht von einer außerhistorischen Essenz ausgehen, die in ihren Zeitläuften Gestalt annimmt. Ohne die Annahme einer solchen Struktur ist die Geschichte ewig dunkel. Nietzsche würde Husserl und Kołakowski vorwerfen, sie suchten »festes Land im Meere des Werdens« 26 in der Überzeugung, dass anders, ohne die Entdeckung dieses Landes, das Werden nicht verstanden werden kann. Aus ihrer Perspektive lässt sich das Werden verstehen, wo es nicht mehr wird, und die Zeit, wo sie »stille steht«, nicht mehr fließt. So nimmt es nicht wunder, dass aus dieser Perspektive die Zeit immer ein »Weniger« ist, Destruktion oder Progression, der Weg zu etwas hin (oder von etwas weg), das sie selbst nicht ist, eine Erwartung, ein Schatten, ein Mangel. Die Zeit kann verstanden werden wie eine Fata Morgana (denkt Kołakowski wie vor ihm Husserl und andere), allerdings nur insofern, als in ihr die wahre (überzeitliche) Realität durchschimmert. Nietzsche ist hingegen, wie wir gesehen haben, der Auffassung, eine »wahre«, außerhalb der Zeit »verharrende« Realität sei Unsinn, so etwas gebe es nicht. Nur die Tölpel beharrten darauf. Die »wahre« Realität »verharrt« nicht, sie »fließt«. Das »Sein […] ist wechselnd, nicht-mit-sich-identisch […] [d]as Bleibende ist nur vermöge unserer groben Organe da.« 27 Wenn wir behaupten, die Welt »verharre«, sie »fließe« nicht, so irren wir, meint Nietzsche. Aber diesem Irrtum liegt nicht einfach Dummheit zugrunde, unsere Organe irren. In Nietzsches Argumentation bedeutet dies keineswegs, dass wir einen anderen, von den Organen unabhängigen Zugang zur Realität hätten, der uns wissen ließe, wie es wirklich sei (dass die Welt »fließe«, nicht »verharre«). Keine Unzuverlässigkeit der Sinne ist hier gemeint, die sich mathematisch korrigieren ließe, auch nicht die Begrenztheit der Erkenntnis, die der wissenschaftliche Fortschritt Zug um Zug überwindet, keine behebbare Fehlleistung. Gemeint ist der »Irrthum«, auf den »unsere 131 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Organe (zum Leben) […] eingerichtet [sind]«, 28 also sind jene Organe, von denen Nietzsche schreibt, Organe zum Leben, lebensnotwendige Organe. Die Annahme einer selbstidentischen Welt (der »Irrtum« der Tölpel) – so lässt sich dieser Gedanke Nietzsches auch formulieren – ist also eine Bedingung, die Leben ermöglicht. Anders ausgedrückt: Um leben zu können, müssen wir denken, müssen wir wissen, und Wissen verlangt einen selbstidentischen Gegenstand. Um leben zu können, müssen wir den Tisch sehen (und um ihn herumgehen), der uns den Weg versperrt, den Geruch wahrnehmen (und seinen Ursprung aufspüren), den Donner hören (und uns eine Weile verstecken), kurz, um leben zu können, müssen wir wissen von der Welt, wie sie ist. Voraussetzung dieses Wissens ist eine selbstidentische, dauerhafte Welt. Ohne dieses Wissen gäbe es kein Leben. Damit kann die unablässig sich wandelnde Welt – der Fluss der Zeit – nicht Gegenstand des Wissens sein: »Unser Intellekt ist nicht zum Begreifen des Werdens eingerichtet.« 29 Der absolute Fluss des Werdens »könnte im strengen Sinne nicht ›begriffen‹, nicht ›erkannt‹ werden«. 30 Oder anders ausgedrückt: »[D]ie letzte Wahrheit vom Fluß der Dinge verträgt die Einverleibung nicht«. 31 Die Einverleibung ist unmöglich, weil diese Wahrheit nicht in dem Sinne »wahr« ist, wie der Tisch auf meinem Weg zur Tür steht, wie ich einen verlockenden Duft erschnuppere, wie ich es donnern höre. Weil es keine »Wahrheit« ist, die ich wie all die anderen in mein Leben integrieren, ihm einverleiben kann, ja muss, um leben zu können. Vom Fluss der Zeit kann ich nicht in diesem Sinne wissen, er lässt sich in meinem Leben nicht fassen, passt grundsätzlich nicht zu ihm. Die Dummheit derer, die nach den Grenzen des Flusses der Zeit suchen, lässt sich also nicht mit der Ignoranz desjenigen vergleichen, der nicht weiß, wie es wirklich ist. Diese Dummheit kann ich, solange ich lebe, nicht ablegen; sie ist lebensnotwendig. Wir wollen dieses Argument noch einmal anders formulieren. Wenn unsere Fähigkeit zu leben sich, wie Nietzsche meint, auf die Annahme stützt, die Welt sei im Grunde unwandelbar, dauerhaft und überzeitlich, dann bedeutet dies, dass unsere Fähigkeit zu leben auf die Existenz einer passiven, nicht schöpferischen Seite unseres Lebens angewiesen ist. Für diese Passivität spricht schon die Tatsache, dass wir etwas wissen. Diese Tatsache setzt doch die Existenz eines unabhängigen Objektes voraus, das wir wissen können, auf das ich 132 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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mich als wissendes Subjekt einzustellen habe. Einstellen und entdecken, nicht erschaffen. Die unwandelbare, »stille stehende« Welt, ist damit, so Nietzsche, »eine rechte Winter-Lehre, ein gut Ding für unfruchtbare Zeit, ein guter Trost für Winterschläfer und Ofenhocker.« 32 Das Unfruchtbare, Unschöpferische und Passive in uns, unsere Trägheit, die uns am Ofen sitzen und die bestehende Welt akzeptieren lässt, ist die zweite Seite unserer Fähigkeit etwas zu wissen. Damit ist nicht gemeint – das möchte ich für alle Fälle anfügen – dass Wissenschaftler dumm und faul sind und zu wenig Kinder zeugen. Vielmehr geht es um eine elementare Seite unseres Lebens, um die unausweichliche Dummheit, die unüberwindliche Passivität und die daraus notwendigerweise erwachsende Trägheit, der das Bild einer ewig und unwandelbar immer gleichen Welt entspricht. »Im Grund steht Alles still« 33 (Empedokles zu Pausanias in Hölderlins Empedokles: »ist doch / Das Bleiben gleich dem Strome den der Frost / Gefesselt« 34), und das ist so, weil das von mir gelebte Leben passiv, unschöpferisch und unfruchtbar ist. Das Leben als Voraussetzung für die Möglichkeit jeglichen Wissens. Wissen über die Welt als Dummheit, als Ausdruck von Passivität, Trägheit und Unfruchtbarkeit – ist das nicht auch ein altes christliches Motiv? Es geht doch um mich, darum, wie ich lebe. Nicht um eine unabhängig von mir existierende Welt (oder ihr Nichtvorhandensein). Die Behauptung, dass alles fließe, ist in diesem Zusammenhang zu verstehen. Ihr Bezugspunkt, ihre notwendige Basis ist die These, dass »alles stille steht«. So ergeht es uns (alles scheint stillzustehen), wenn wir die Welt passiv akzeptieren, wenn wir uns mit dem Vorgefundenen arrangieren, wenn wir die Realität nicht erschaffen, sondern nur zu erfahren suchen, wie sie ist. Damit die These, dass alles fließt, wahr wird, muss unser Leben mehr sein als das. Dass alles fließt, ist dann für Nietzsche nicht bloß eine Beschreibung der Welt, eine These, dass es so sei und nicht anders, dass die Welt »fließe« und vergehe, anstatt zu »verharren« und zu »sein«. Wenn Nietzsche von dieser Überzeugung als der letzten Wahrheit spricht und die gegenteilige Auffassung (dass alles stille steht) als Irrtum qualifiziert, meint er nicht zwei sich widersprechende Behauptungen (eine zutreffende und eine verfehlte) über die Wirklichkeit, welche unabhängig von diesen Behauptungen ist, wie sie ist (also 133 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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»fließt« oder nicht). Er legt keine Bedeutung für die Termini »Welt«, »Wissen« und ihr »Verhältnis« zueinander, für »Irrtum« oder »letzte Wahrheit« fest, vielmehr bringt das Bild vom Fluss der Zeit diese Termini in einen gemeinsamen Kontext, in dem sie, so Nietzsche, überhaupt erst eine Bedeutung erlangen können – den Kontext des von uns gelebten Lebens. Somit ist der Begriff der Zeit, der Fluss der Zeit, hier nicht die Beschreibung einer Welt, die unabhängig von meinem Tun wäre. Nietzsche spricht nicht von einer solchen Welt, wenn er sagt, dass in ihr alles »fließt« (und nicht »verharrt«), es handelt sich nicht um eine physikalische oder kosmische These. Die »Welt«, die gegebene, vorgefundene Realität, an die man sich anpassen muss, um leben zu können, ist eine Projektion des passiven, ermatteten Lebens. »Die Zeit ist unendlich, grenzenlos«; »der Wandel hört nie auf«; »das Werden ist absolut, endet nie««; »alles fließt« – das sind keine Thesen über die Weltordnung, über den Kosmos. Sie sind Ausdruck der Überzeugung, dass das Eis, der gefesselte Strom der Zeit, jeden Augenblick schmelzen und dieser Strom weiterfließen kann, um die nächsten Dämme zu unterspülen und neue Brücken mit sich fortzureißen; um die scheinbar unerschütterlichen Fundamente weiterer Gestalten ins Wanken zu bringen, die wir für dauerhaft, stabil und unwandelbar halten. Sie sind Ausdruck der Überzeugung, dass das Leben eine Sprengladung in sich trägt, die diesen Eispanzer aufsprengt, dass es das Potenzial des Vergehens birgt. Entgegen allen Versuchen, es aufzuhalten. Immer wieder neu. Es sei darauf hingewiesen, dass das »Leben«, von dem hier die Rede ist – das Leben, das den Fluss der Zeit fließen lässt – ebenso wenig eine Beschreibungskategorie ist. Nietzsche beschreibt das Leben nicht, wie man das Wetter oder Kopfschmerzen beschreibt, das »Leben« ist kein solches Beschreibungsobjekt. Es ist überhaupt kein Objekt. Begriffe in den »Kontext des Lebens« zu stellen, bedeutet nicht, sie einfach der entsprechenden Kategorie zuzuordnen, es geht nicht um eine methodologische Hilfestellung zur Unterscheidung von Dreiecken und Kartoffeln. Gemeint ist vielmehr, dass diese Begriffe – wie alle Begriffe, wie unser gesamtes Wissen – von unserem Tun nicht zu trennen sind. Dass sie sich ohne ihre expressive Funktion nicht denken lassen, dass sie auch Ausdruck unserer (mehr oder weniger großen) Anstrengung sind, die wir gemeinhin Leben nennen. Wenn ich sage (wenn Nietzsche sagt), dass »alles fließt«, meine ich den Umstand, dass dieser Anstrengung nichts widersteht, dass sie 134 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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auf keine unüberwindlichen Hindernisse trifft, dass sie sich, anders ausgedrückt, mit nichts zufriedengeben kann – dass diese Anstrengung nichts erreichen will. Mir geht es hier um die Bedingungen einer adäquaten Verwendung von Begriffen, nicht um die Beschreibung eines Objektes (des »Lebens«). Kann vor diesem Hintergrund der »Fluss« eine geeignete Metapher für die Zeit sein? Ein Fluss ist Wasser in Bewegung, der Weg des Wassers von einem Ort zu einem anderen, von der Quelle zur Mündung, der Wandel eines A zu einem B. Wenn nun die Zeit, der Wandel, das Werden weder Anfang noch Ende haben, gibt es weder »Quelle« noch »Mündung«, keinen Zustand A, der in einen Zustand B übergehen könnte. »Heute« unterscheidet sich nicht von »morgen«, wie sich die »Weichsel bei Sandomierz« von der »Weichsel bei Danzig« (oder die junge von der alten Frau Müller) unterscheidet, der Unterschied ist gänzlich anderer Natur. Das Vergehen ist kein Prozess, bei dem ein Gegenstand in einen anderen übergeht. Sonst würden »[d]ie Augenblicke vergehen als wären sie Dinge« 35, wie Lévinas kritisch gegen Husserl anmerkt. Die Zeit ist anders als der Fluss kein Prozess, innerhalb dessen sich »etwas« verändert, was immer es auch sei, die Zeit ist keine Umwandlung einer Sache in eine andere. Der Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft – die Zeit – lässt sich nicht auf den Unterschied zwischen zwei Zuständen reduzieren. Der Fluss der Zeit ist also nicht ein Fluss wie die Weichsel. Die Weichsel beginnt an einem Ort und endet an einem anderen, sie schwillt an und geht wieder zurück, fließt schnell und dann wieder langsamer – sie lässt sich zu etwas in Beziehung setzen, das sich relativ zu ihr nicht verändert, an dem sie gemessen werden kann. Die Weichsel lässt sich vom Ufer aus betrachten. Der uferlose, grenzenlose Fluss der Zeit nicht. Er kennt kein Maß. Deshalb ist die Flussmetapher, das Bild strömenden Wassers, einer andauernden Bewegung irgendwoher irgendwohin vielleicht nicht der glücklichste Ausgangspunkt zum Verständnis der Zeit. Vielleicht müssen wir andere Begriffe zu Rate ziehen als »Bewegung« oder »Veränderung«, wenn wir die Realität als ein Werden, die Welt als Zeit begreifen wollen, wenn wir verstehen wollen, wie es sein kann, dass dieser Augenblick, das »Heute«, das »Jetzt« notwendigerweise ein »Morgen«, ein »Später« hervorbringt, wenn wir den Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft verstehen wollen. 135 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Und doch können wir aus der Diskussion um die Metapher vom Fluss der Zeit etwas lernen: dass alles fließt, dass die Welt sich also verändert, dass sie wird, endlos, unablässig; dass diese Behauptung nur aus der Perspektive des Augenblicks, in dem ich mich gerade befinde, in dem ich lebe, einen Sinn ergibt, sich also nicht unabhängig von meinem Tun und Leben verstehen lässt; dass das grenzenlose Werden kein Werden von etwas ist, also auch kein Zerfall, keine Degeneration, kein Annäherung an ein Ziel, keine Himmelsleiter; dass aus diesem Grund der unablässige Wandel, der Fluss der Zeit, nicht Gegenstand des Wissens sein kann wie der Baum draußen vor dem Fenster oder die Mathematik, dass er keine Information über die Welt ist, die sich zu anderen hinzuzählen ließe, kein Wissensinhalt, ohne den wir nicht leben könnten. Schließlich konnten wir lernen, dass die Zeit fließt, dass in Abhängigkeit von der Anstrengung, die unser Leben ist, die Welt sich verändert. Wenn diese Anstrengung nachlässt, schläft der Lebensgeist ein, dann wird der Strom vom Frost gefesselt. »[D]agegen aber«, gegen diese Perspektive des Winters, so Zarathustra, »predigt der Thauwind« 36, der den Sommer verheißt. Dieser Wind, der heiße Atem des nahenden Sommers, lässt alles bislang Gefrorene schmelzen, bis »Geländer und Stege in’s Wasser gefallen [sind]«. 37 Zarathustra fragt: »[I]st jetzt«, da der heiße Wind aus dem Süden, da der Schirokko weht, »nicht Alles im Flusse?« 38 Zu der Flussmetapher tritt hier nun offenbar eine weitere, die Metapher des Windes. Auf sie soll im Folgenden näher eingegangen werden.

4 »Es scheint in der Sprache des Thauwinds geschrieben«, schreibt Nietzsche über sein Buch Die fröhliche Wissenschaft, »es ist Uebermuth, Unruhe, Widerspruch, Aprilwetter darin, so dass man beständig ebenso an die Nähe des Winters als an den Sieg über den Winter gemahnt wird, der kommt, kommen muss, vielleicht schon gekommen ist …« 39 Der Wind ist in Nietzsches Werken eine Metapher für den »Geist« (»Sturm[…], welcher ›Geist‹ heisst« 40), für die Seele, die »das Recht [hat], Nein zu sagen« 41, für den Geist, der zerstört, der alles 136 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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niederreißt, was beständig ist und so alle Schranken, Grenzen und Blockaden aufhebt – der befreit. Der Geist-Wind ist der »Wind der grossen Freiheit« 42, wie Nietzsche in Ecce Homo schreibt. Insofern ist auch der Wind eine Metapher für Werden und Vergehen. Für diesen Wind stellt selbst der Tod kein Hindernis dar, der Geist-Wind »[reisst] den Burgen des Todes die Thore auf«. 43 Aus der so eröffneten Perspektive verliert auch der Tod seine Endgültigkeit. Er ist nicht länger starr, unveränderlich, nicht mehr Grenze, Damm, Felswand, auf die der Fluss der Zeit trifft, ohne sie überwinden zu können. Was kann es nun bedeuten, wenn selbst der Tod für den Geist kein Hindernis darstellt, wenn auch er nicht die Grenze des Vergehens ist? Ich werde auf diese Frage noch zurückkommen. In diesem Gedanken Nietzsches klingt auch ein biblisches Echo an. Auch für Gott sei der Tod keine unüberwindliche Grenze, schrieb Paulus an die Römer, nicht für den Gott, »der da lebendig macht die Toten« (Röm 4,17). Was ist dieser Wind, dieser Geist? Wo kommt er her? »Ich selber bin der Wind …« 44, notiert Nietzsche. Der heiße Wind, der den gefrorenen Fluss wieder fließen lässt, der Hauch, der Atem meiner Seele, der Hauch, der Atem, der meine Seele ist. Die Seele ist ein warmer Hauch, eine »Ausdünstung« 45, soll Heraklit Aristoteles zufolge bemerkt haben. Doch was heißt das – meine Seele, wer bin ich in diesem Kontext? Wohl nicht Krzysztof Michalski, Philosophiedozent gewissen Alters. »Eine Macht wohl will ich sein«, schreibt Nietzsche, »wo ein Wind hin zieht, will ich in ihm mitziehn«. 46 Ich bin also ein Wind, sofern ich eine Macht bin, sofern ich stark bin. Und ein solcher »starker Wind ist Zarathustra«. 47 Ich bin also Wind, Geist und Freiheit in dem Maße, wie ich Zarathustra gleiche, wie ich ihm in seiner Macht ebenbürtig bin. Wer ist, was ist Zarathustra? Zarathustra ist der starke Wind, der Geist-Wind, der keine Hindernisse auf seinem Weg kennt – ich als Zarathustra, Zarathustra in mir. Alles in mir, was sich meiner Passivität, meiner Trägheit und Fruchtlosigkeit widersetzt. Alles, was sich meiner Anpassungsfähigkeit an das, was ist, und meiner Befangenheit darin widersetzt. Ich bin Zarathustra in dem Maße, wie ich schöpferisch, aktiv und frei bin, wie ich mich der vorgefundenen Welt nicht anpasse, sondern eine neue 137 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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erschaffe. Zarathustra ist die Macht, meine Lebenskraft, die Macht, die eine (mehr oder weniger große) Veränderung allein durch die Tatsache bewirkt, dass ich bin. Die Macht, die den Wandel bewirkt, die macht, dass es fließt. Also ist Zarathustra das Element in mir, das dafür verantwortlich ist, dass kein Merkmal, keine Eigenschaft oder Fähigkeit, noch mein Charakter ganz mir gehören. Er ist der Wind, der »tiefe Atem, schrecklich, unmenschlich, der nicht für unsere Lungen bestimmt ist.« 48 Oder anders ausgedrückt: »Zarathustra« bezeichnet die Tatsache, dass meine Existenz, mein Leben sich auf nichts Seiendes reduzieren lässt. Auf die Frage: »Wer ist Zarathustra?« gibt es also keine einfache Antwort (Zarathustra ist nicht X, Y oder Z). Das ist keine Frage wie: »Was ist eine Forelle?« »Zarathustra« bezeichnet die Tatsache, dass der »heiße Wind weht«, dass das »Eis schmilzt« und »Geländer und Stege ins Wasser fallen«; dass die Welt wird, dass die Zeit fließt. Nietzsche hat einen Namen für diese Tatsache: »Leben«. »Zarathustra«, jener starke Wind, ist das Prinzip des Lebens, ist die werdende, sich wandelnde, fließende Welt – die Welt, die lebt. Will man die Frage beantworten, wer Zarathustra ist, muss man also eine Geschichte erzählen, eine Lebensgeschichte und dabei wissen, dass diese Geschichte wie das Leben nie angefangen hat und nie enden wird, dass es anders ausgedrückt Zarathustra nicht gab, bevor diese Geschichte anfing (weil sie nicht anfing), und ihn nicht mehr geben wird, wenn sie geendet haben wird (weil sie nicht enden wird). Wenn das so ist, lässt sich niemals endgültig ermessen, was sich in dieser Geschichte ereignet hat, es gibt nicht die eine, endgültige Antwort auf die Frage nach dem »Sinn des Lebens« (und wenn »verstehen« heißt, die letzte Antwort zu finden, dann kann man das Leben auch nicht verstehen). Das Buch Also sprach Zarathustra ist also nicht zufällig in Erzählform gehalten. Dies ist nicht nur eine Möglichkeit, eine Lehre anschaulich zu präsentieren, die sich auch anders darstellen ließe. Vielmehr geht es nicht anders. Es gibt keine Lehre Zarathustras, die losgelöst von dieser Erzählung existierte. Auch mein Kommentar wäre (nicht nur aufgrund meiner Fehler und Unstimmigkeiten) grundsätzlich unverständlich ohne die Geschichten, aus denen ich lebe – die Geschichten aus dem Zarathustra. Und nicht nur die Geschichten aus dem Zarathustra. Solche Geschichten werden auch andernorts erzählt. Vor allem im Alten und 138 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Neuen Testament. Die Metapher vom Wind der Freiheit, vom Hauch, vom Atem, der Totes zum Leben erweckt, ist uns doch auch von dort gut bekannt. Beispielsweise aus der Genesis, die berichtet: »Und Gott der Herr machte den Menschen aus einem Erdenkloß, und blies ihm ein den lebendigen Odem in seine Nase. Und also ward der Mensch eine lebendige Seele.« (1. Mose 2,7) Oder vom Psalmdichter, der Gott und die Schöpfung besingt: »[D]u nimmst weg ihren Odem, so vergehen sie und werden wieder zu Staub« (Ps 104,29). Oder schließlich aus den Weissagungen Hesekiels, der berichtet, wie er in einer Vision die Wiederbelebung blanker Gerippe sah: »Und ich sah, und siehe, es wuchsen Adern und Fleisch darauf, und sie wurden mit Haut überzogen; es war aber noch kein Odem in ihnen. Und er sprach zu mir: Weissage zum Winde; weissage, du Menschenkind, und sprich zum Wind: So spricht der Herr: Wind komm herzu aus den vier Winden und blase diese Getöteten an, daß sie wieder lebendig werden!« (Hes 37,8–9) (Überall wird hier zur Bezeichnung von »Odem« und »Wind« derselbe Ausdruck »rûaḥ« verwendet.) Dieser Geist-Wind, der Zarathustra-Wind raubt einem den Schlaf, treibt einen vom warmen Ofen fort. »Brause Wind, Brause! Nimm alles Behagen von mir!« 49, notiert Nietzsche. Dieser Wind ist es, der uns daran hindert, uns in der bestehenden Welt einzurichten, der Welt, die zur Anpassung einlädt. Dieser Wind zeigt mir, dass die mich umgebende Welt, die mich in sich einschließen will, unvollständig, unbeständig und löchrig ist. Kafka schreibt: »Zwischen den jungen Frauen oben im Park. Kein Neid. Genug Phantasie, um ihr Glück zu teilen, genug Urteilsfähigkeit, um zu wissen, daß ich zu schwach bin für dieses Glück, genug Narrheit, um zu glauben, daß ich meine und ihre Verhältnisse durchschaue. Nicht genug Narrheit, eine winzige Lücke ist da, der Wind pfeift durch sie und verhindert die volle Resonanz.« 50

Der Wind, der Unruhe stiftet. Die Unruhe, die der Geist-Wind stiftet, ist nicht zu verwechseln mit der Angst vor einer äußerlichen Gefahr, der Unruhe angesichts eines Ereignisses, das mir bevorsteht. Nein, die Unruhe, für die der Wind (Zarathustra) steht, kommt nicht von außen, sie ist in mir, in jedem Einzelnen. Diese Unruhe ist unveräußerlicher Bestandteil meines Wesens; sie erwächst aus der Tatsache, dass ich nie einfach gänzlich nur ich selbst bin, nicht nur irgendein A oder B, dass ich nie gänzlich zu Hause bin, bei mir selbst, am warmen Ofen, in meiner Identität. Niemand ist das. 139 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Daher vermag auch kein Wissen – über die ewige Ordnung der Dinge, über den Kosmos, über diese oder jene Rahmenbedingungen, über ein Bezugssystem, ein Ziel oder eine Mission, die meinem Leben einen endgültigen, Ruhe verheißenden Sinn verleihen könnten –, kein solches Wissen mich zu beruhigen oder meine innere Unruhe zu lindern. Jeder Versuch, derartiges Wissen zu erlangen, ist nur eine Projektion meiner Schwäche, ein Versuch, vor dem Leben davonzulaufen; das vergebliche Unterfangen, vor dem starken Wind Schutz zu suchen. In Nietzsches nachgelassenen Fragmenten findet sich die Anmerkung, er verspüre »[t]iefe Abneigung, in irgend einer GesamtBetrachtung der Welt ein für alle Mal auszuruhen« 51. Hier liegt natürlich die Gefahr des warmen Windes – er ist gefährlich für jede Identität, jeden Sinn, jede Institution, die wir als unsere, als eigene, als Zuhause ansehen. Bedenkt also, dass »das Eis, das uns noch trägt, so dünn geworden [ist]: wir fühlen Alle den warmen unheimlichen Athem des Thauwindes – wo wir noch gehen, da wird bald Niemand mehr gehen können!« 52 Der warme Wind weht, und alles fließt. »[A]lle Geländer und Stege [sind] in’s Wasser gefallen«. 53 Vor dem entfesselten Fluss der Zeit gibt es kein Entrinnen. Indem er das Bestehende zerstört, befreit uns der Wind des Geistes auch und eröffnet uns neue Lebensformen, er schenkt uns unbeschränkte Freiheit. Daher ruft Zarathustra: »›Wehe uns [wie wir sind]! Heil uns [wie wir sein können]! Der Thauwind weht!‹ – Also predigt mir, oh meine Brüder, durch alle Gassen!« 54 Hier klingen die Worte nach, die Gott an Jeremia richtete: »Predige alle diese Worte in den Städten Juda’s und auf allen Gassen zu Jerusalem« (Jer 11,6). Wir wissen schon, dass es hier nicht um die Verkündigung einer eben entdeckten Wahrheit geht (Heureka! Ein in Wasser getauchter Körper … usw.). Die Kunde vom warmen Wind ist ein Aufruf, alles Bestehende aufzugeben. In jedem Haus, das ich mir baue »blies mir [der Wind] durch’s Schlüsselloch und sagte ›Komm!‹« 55 (Zarathustra) »Und der Geist und die Braut sprechen: Komm!« (Johannes in seiner Offenbarung, Offb 22,17) »In jedem Haus« – also ruft dieses Komm! nicht dazu auf, von einem Ort (Sodom und Gomorrha) zu einem anderen (sauberen und anständigen) zu wechseln. Dieser Aufruf, jedes Haus zu verlassen, weist ins Nirgendwo. Mit anderen Worten: Die Kunde, dass der warme Wind weht, verweist auf das Ende aller uns bekannten Dinge. Dieses Ende setzen 140 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Wind, Sturm, Geist, heißer Atem – Zarathustra. Und das nicht irgendwann in der Zukunft, nicht an einem bestimmten Tag, sondern jetzt, augenblicklich, in diesem Moment. Denn alles, was uns beständig, unwandelbar und ewig erscheint, ist nur aus Eis geformt und zerschmilzt unter dem warmen Wind, unter dem heißen Atem. Es ist die Kunde vom Ende der bestehenden Welt (des gefrorenen Flusses), wenn der starke Wind weht, wenn Zarathustra eintritt, wenn mein Leben die Kraft aufbringt, sich von allem Seienden loszureißen. »Komm!« (Offb 6,1), lautet auch das Kommando, auf das hin sich die apokalyptischen Reiter in Bewegung setzen. Dieses Komm! lässt sich auch noch ganz anders interpretieren, als Aufruf zur ewigen Ruhe für uns, die wir von den Sorgen des Alltags gequält werden. Etwas Ähnliches hatte wohl Ignatius von Antiochia im Sinn, als er schrieb: »[I]n mir ist […] ein lebendiges Wasser, das in mir redet und zu mir spricht: Komm her zum Vater!« 56 Die Unruhe, von der sich, so denke ich, Ignatius frei machen wollte, ist die Unruhe, die wir in der Welt vorfinden: Sorge um die Nächsten, Angst vor Krankheit, Unruhe durch Neugierde, Ehrgeiz, Begehren. Eine Unruhe, die wir (für gewöhnlich) mal verspüren, dann wieder nicht, um in den Ruhezeiten einen Vorgeschmack der ewigen Ruhe beim Vater zu erhaschen und uns nach ihr zu sehnen. Die Unruhe, von der Nietzsche schreibt, ist dagegen der Geist, das Wesen des Lebens. Eine Unruhe, die sich nicht beschwichtigen lässt, die kein Ende kennt. Aus ihr lebt die Welt und vergeht sie, wie Ortega y Gasset eindrucksvoll schildert: »Für die menschliche Phantasie war der Wind nicht von ungefähr immer das Sinnbild des Göttlichen, des reinen Geistes. […] Sein Wesen ist die Unruhe. Und das ist, so oder so, letztlich auch das Wesen des Geistes: eine Unruhe, eine Schwingung zu sein über der toten Masse des Alls.« 57

Was lehrt uns also die Windmetapher, wie Nietzsche sie verwendet? Zuallererst, dass die Suche nach der Quelle der Zeit notwendigerweise zugleich eine Erzählung über die conditio humana ist. Dass die Antwort auf die Frage: »Was ist Zeit?« gleichzeitig auch eine Antwort auf die Frage: »Wer bin ich?« erfordert. Und zugleich, dass die Verquickung dieser beiden Fragen, die Unmöglichkeit, den Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft losgelöst von meinem oder deinem Leben zu verstehen, losgelöst von diesem Leben, das Wind, Geist und Atem ist, das jede bestehende Form sprengt, das alle Hindernisse überwindet, alle Fundamente unterhöhlt, kurz: losgelöst 141 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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von diesem Leben, das die Zeit ist – dass also die wechselseitige Bedingtheit dieser beiden Fragen eine endgültige Antwort auf die je einzelne unmöglich macht. Nicht Begriffe können sie beantworten, nur das Leben selbst. Mit jedem Schritt, jeder Geste und Handlung immer wieder neu und damit niemals endgültig. Denn: »Nur Ideen sind endgültig, statisch und einzigartig« 58, wie D. H. Lawrence schreibt. Nicht aber das Leben. Leben ist Streben nach Veränderung. Ein Streben, das jedes Hindernis zu überwinden vermag und in diesem Sinne grenzenlos ist. Nietzsche nennt es auch Wille zur Macht. Hier wird deutlich, dass das »Ich« in diesem Kontext keine bekannte Größe ist, wie könnte es auch eine sein? Ich weiß nicht nur nicht, wer ich bin, ich kann es auch gar nicht endgültig wissen. Diese Frage muss notwendigerweise und unabänderlich offen bleiben. Das Leben, dieses Streben nach Überwindung der bestehenden Welt, ist immer meines (oder anders: die Welt ist nur verständlich im Kontext meines Strebens, das angeblich Seiende zu überwinden), aber auch das »Ich« lässt sich nur über dieses Streben definieren und kann daher nie ein ausschließliches Resultat ergeben, niemals dies und nichts anderes, niemals eine endgültige Antwort. Diese meinem Leben innewohnende Kraft, dieser starke Wind ist Zarathustra. Nicht jemand, nicht etwas, keine Institution. Eine unfassbare, undefinierbare, unsichtbare Kraft – windgleich. So führt die Windmetapher, wie ich finde, weiter als das Bild des Flusses, beziehungsweise hilft sie, dieses erste Bild besser zu verstehen. Sie verweist nämlich anders als die Flussmetapher nicht mehr auf die Bewegung von Dingen, suggeriert nicht mehr, der Übergang einer Sache in eine andere sei identisch mit dem Übergang von Vergangenheit in Zukunft. Der Wind, das Symbol des Geistes (der heiße Wind, der heiße Atem, meine Lebenskraft, »Zarathustra« in mir) sprengt und schmelzt das Eis, das den Fluss der Zeit gebunden hat. Er untergräbt jegliche Identität, jegliche Forderung nach einem »Sein« jenseits der Zeit, immer und unwandelbar. Der heiße Wind: hierin ist die Windmetapher verbunden mit dem nächsten Bild, dem des Feuers.

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5 Bei Plutarch, so Hegel, »findet sich ein Ausdruck vor, der bizarr erscheinen kann, nämlich der, daß die trockenste Seele die beste sei.« Und Hegel kommentiert diesen Ausdruck: »trocken heißt hier aber feurig, so ist die trockenste Seele das reine Feuer, […] die Lebendigkeit selbst.« 59 Trockener Atem, heißer Wind, Feuer – die Lebendigkeit selbst. Die Feuermetapher ist natürlich älter als Plutarch. Die Tradition, auf die ich mich hier beziehe, beginnt bei Heraklit: »Diese Weltordnung, dieselbige für alle Wesen, schuf weder einer der Götter noch der Menschen, sondern sie war immerdar und ist und wird sein ewig lebendiges Feuer, erglimmend nach Maßen und erlöschend nach Maßen.« 60 Was Heraklit hier meinte, lässt sich nur schwer sagen. Für unser Problem ist als Ausgangspunkt die Interpretation der Stoiker wichtig, die später in abgewandelter Form auch unter den Kirchenvätern verbreitet war. Für die Stoiker ist das Universum vom Element des »Feuers« erfüllt, das in ihm ruht wie ein Schwamm in den Tiefen des Meeres (so eine weitere Metapher von Augustinus 61). Oder anders formuliert: Die Welt ist für die Stoiker ein ewig aktiver Vulkan, der immer wieder ausbricht und den aus erstarrter Lava entstandenen Berg zerstört, unter dem er verborgen liegt. Lassen wir nun den Stoiker Seneca zu Wort kommen, der an Marcia schrieb: »Vielleicht ersteht ein Trost für deinen Sehnsuchtskummer aus dem allgemeinen Schicksal; so laß dir denn gesagt sein: es wird nichts stehen bleiben, wo es jetzt steht, der Zeiten Ablauf wird alles darniederwerfen und mit sich fortführen. Nicht nur mit den Menschen wird das Schicksal sein Spiel treiben – denn welch winzigen Teil vom Bereiche der Schicksalsmacht stellt die Menschheit dar –, nein, auch mit Örtlichkeiten und Erdstrichen und Weltteilen. Ganze Berge wird es versinken lassen und anderwärts neue Felsenmassen emporsteigen lassen; Meere wird es verschlingen, Flüssen einen anderen Lauf geben, den Völkerverkehr zunichte machen und dadurch die Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit des Menschengeschlechtes auflösen. An anderen Stellen wird es ganze Städte in ungeheuren Abgründen verschwinden lassen, wird sie durch Erdbeben ins Wanken bringen, wird aus den untersten Tiefen den Pesthauch empordringen lassen, wird alles bewohnte Land überschwemmen, wird alle Geschöpfe durch das Versinken des Erdkreises töten und durch gewaltige Feuermassen alles, was sterblich

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ist, versengen und in Brand stecken. Und ist die Zeit gekommen, wo die Welt, um sich zu erneuern, sich vertilgt, da wird sich dies alles durch seine eigenen Kräfte zunichte machen; Gestirne werden gegen Gestirne prallen, und alles, was jetzt in bester Ordnung sein Licht ausstrahlt, wird bei dem allgemeinen Weltenbrande eine einzige Feuermasse bilden. Auch wir seligen Geister, in die Ewigkeit entrückt, werden, wenn es der Gottheit gefällt, den ganzen Weltenbau von neuem zu beginnen, auch unserseits nicht ausgeschlossen werden von dem allgemeinen Zusammenbruch und Untergang, und werden in die alten Urbestandteile umgewandelt werden.« 62

Die Welt wird einst in einem allumfassenden, endgültigen Feuer vergehen, genauso wie dein Schmerz, deine Sorgen, deine Trauer und deine Erinnerungen, Marcia. Nichts Sterbliches wird bestehen bleiben, bestehen bleibt nur, was so gut ist, dass es ewig ist. So reinigt das apokalyptische Feuer die Welt und führt sie zu ihrem ursprünglichen Zustand der Unschuld zurück, damit sie aus der Asche von neuem erstehe. Es gibt also keinen Grund, über einem Verlust in maßlose Verzweiflung zu geraten (wie du, Marcia, über den Verlust deines Geliebten). Auch Verzweiflung, auch Trauer werden vergehen. So will es das gemeinsame Schicksal aller Menschen und aller Dinge. Wenn du das verstehst und mit deinem Denken und Leben zum Beständigen und Ewigen zurückkehrst, findest du Trost und entdeckst die Freude wieder. In diesem Weltbrand haben später die Kirchenväter (ob sie nun die Auffassung der Stoiker von seiner periodischen Wiederkehr geteilt haben oder nicht) das Feuer des Jüngsten Gerichts erkannt, das Feuer, das die Sünder erwartet, um den Makel der Sünde in ihnen zu tilgen und ihre Seelen zu reinigen, sie auf die Aufnahme bei Gott vorzubereiten. Dabei konnten sie sich auf Paulus berufen, der an die Korinther schrieb: »So aber jemand auf diesen Grund baut Gold, Silber, edle Steine, Holz, Heu, Stoppeln, so wird eines jeglichen Werk offenbar werden: der Tag des Gerichts wird’s klar machen. Denn es wird durchs Feuer offenbar werden; und welcherlei eines jeglichen Werk sei, wird das Feuer bewähren. Wird jemandes Werk bleiben, […] so wird er Lohn empfangen. Wird aber jemandes Werk verbrennen, so wird er Schaden leiden; er selbst aber wird selig werden, so doch durchs Feuer.« (1.Kor 3,12–15) »For when from our evils we cause vices and passions to come upon God’s creation, which is good from the beginning, then we are mixing brass, tin, and lead with silver and gold. Fire then becomes necessary to purify it. And

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that is the reason one must take great care that, when we come to that ire, we may pass through it unscathed. Like gold, silver, and precious stone that are without a trace of adulteration, may we not so much burn in the conflagration as be tested.« 63 »[U]nd seine [d. i. des Sünders] Herrlichkeit wird er anzünden, daß sie brennen wird wie ein Feuer. Und das Licht Israels wird ein Feuer sein, und sein Heiliger wird eine Flamme sein, und sie wird seine Dornen und Hecken anzünden und verzehren auf einen Tag.« (Jes 10,16–17)

Das Feuer, von dem hier überall die Rede ist, ist die Prüfung, die Messlatte für unser Leben. Sie scheidet das Gottähnliche in uns, also das Beständige, Ewige, dem das Feuer nichts anhaben kann (Gold, Silber, edle Steine) vom Rest, der niederer Herkunft ist (Holz, Heu, Stoppeln, Kupfer, Zinn und Blei, Dornen und Hecken) und in Flammen aufgehen muss. Was in uns wirklich wichtig ist, die Spur Gottes, ist nicht gefährdet, nicht einmal im Feuer. Dieser Teil verbindet uns mit dem göttlichen Logos, wie das weißglühende Eisen mit dem Feuer. 64 Da wir gottähnlich sind, müssen wir nicht fürchten zu verbrennen. Dieses Wissen schenkt uns Sicherheit, Ruhe, Trost. So reinigt uns das Feuer und heilt uns von der Welt-Krankheit. Es tilgt das Böse in uns – das Böse, und nur das Böse verbrennt: »Und der Teufel […] ward geworfen in den feurigen Pfuhl und Schwefel, da auch das Tier und der falsche Prophet war; und sie werden gequält werden Tag und Nacht von Ewigkeit zu Ewigkeit. […] Und der Tod und die Hölle wurden geworfen in den feurigen Pfuhl. Das ist der andere Tod. Und so jemand nicht ward gefunden geschrieben in dem Buch des Lebens, der ward geworfen in den feurigen Pfuhl.« (Offb 20,10;14–15) Das Feuer vernichtet das Böse, oder andersherum: Was vergeht, ist nicht wert zu bestehen, ist böse. Die Zeit ist als solche böse. Der Tod ist böse. Nach dem reinigenden Bad in den Flammen bleibt in uns nur das Gute, Ewige, das die Zeit nicht kennt. Die auflodernden, zwischen Erde und Himmel tanzenden Flammen gleichen (in dieser Lesart) den Armen der Menschen, die sich in sehnsüchtiger Erwartung der Loslösung von Zeit, Unruhe, Angst und Tod zum Himmel der Ewigkeit und Ruhe recken. Aber vielleicht kann nicht nur Heraklit unterschiedlich interpretiert werden? Vielleicht lassen auch die Geschichten des Alten und Neuen Testaments eine andere Deutung zu? 145 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Hegel meint: »Es ist mehr eine Vorstellung der Phantasie, was Heraklit gesprochen haben soll von einem Weltbrande, daß nach einer gewissen Zeit […] die Welt in Feuer untergehe. Wir sehen aber sogleich aus den bestimmtesten Stellen, daß dieser Weltenbrand nicht gemeint sei, sondern es ist dies beständige Verbrennen, […] das allgemeine Leben, der allgemeine Prozeß des Universums.« 65 Das Feuer ist also für Hegel eine Metapher für das Leben, einfach für das Leben. »Das Feuer […] ist diese absolute Unruhe, absolutes Auflösen von Bestehen, – das Vergehen von Anderen, aber auch seiner selbst; es ist nicht bleibend.« 66 Das eben macht das Leben aus: unablässiger Wandel, unablässiges Werden. Leben ist nicht der Übergang von einem Zustand zu einem anderen. Hier ist nicht gemeint, dass das Leben bald so ist, bald anders (wie ein Schauspieler oder ein Hochstapler). Jede Form des Lebens birgt notwendigerweise die Relation zu etwas anderem (zu sich selbst als Anderem, Vergangenen, Zukünftigen), keine Identität, die wir im Leben entdecken können, ist verständlich ohne den ihr innewohnenden Begriff der Differenzierung (dass sie vergeht). Werden und Vergehen, dieser Prozess ist für Hegel nichts, was mit uns geschieht, obgleich es auch nicht geschehen könnte. Er ist kein Fluss, in den man steigen könnte, um ihn später wieder zu verlassen. Werden und Prozess sind jeder Form des Lebens einzeln eingeschrieben. Keine Form des Lebens lässt sich losgelöst von diesem Werden begreifen. Kein sich wandelndes, werdendes, vergehendes Subjekt lässt uns Wandel, Werden und Vergehen begreifen, argumentiert Hegel. Wir glauben lediglich, den Wandel verstanden zu haben, wenn wir zwei Zustände eines seiner Subjekte voneinander unterscheiden können, ein »Vorher« und ein »Nachher« (die dicke Frau Müller von derselben und nach ihrer Abmagerungskur doch nicht mehr gleichen, schlanken Frau Müller). Nein, sagt Hegel, die Differenzierung, die Bezugnahme auf eine andere Form des Selbst (also Wandel, Werden, Prozess) sind konstitutiv für den Sinn jedes einzelnen Zustandes. Daher eignet sich das Feuer, diese »absolute Unruhe« nach Hegels Auffassung so gut als Metapher für den Prozess des Lebens, für das Leben als Prozess. »Feuer« ist nach dieser Lesart nicht mehr die Bezeichnung eines (periodisch oder nicht periodisch) auftretenden Ereignisses, des (unendlich sich wiederholenden oder einmaligen) Weltendes, ist (bezogen auf das Leben) keine Intervention von außen, die die Spreu vom Weizen trennt, Stroh von Gold, Vergängliches von Ewigem, wahrhaft 146 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Seiendem. »Feuer« ist hier die Bezeichnung für das, was es tatsächlich ist – das Leben selbst. Und mehr noch: Dieses »Feuer« ist auch mir, dem Subjekt gegenüber kein äußerlich ablaufender Prozess. Es ist nichts, was mir widerfährt, keine mir unentrinnbar auferlegte Prüfung, um festzustellen, was ich wert bin. Nein, sagt Hegel, das Lebensfeuer bin ich selbst, es ist meine Identität, beziehungsweise mein »Ich« ist eben die Identität, ist Wandel, Werden und Vergehen. Das Vergehen sowohl meiner gesamten Umwelt als auch meiner selbst, eines ist ohne das Andere nicht zu begreifen. »Feuer« – Werden, also »Sein« und gleichzeitig »Nichtsein«, nicht »Etwas«, das ist, sondern die Existenz, das Sein selbst. Im Vergleich von Leben, von Sein mit dem Feuer wird deutlich, dass es sich nicht aus der Perspektive von »Etwas« verstehen lässt (was immer es auch wäre), dass es sich nicht aus der Perspektive einer Identität als mit sich selbst identisch verstehen lässt. Denn das ist es ja nicht. Jeder Augenblick des Lebens ist zerrissen, nicht identisch, innerlich unweigerlich differenziert – er wird. Das eben bedeutet, dass er »ist«. Hegel hat diese Zerrissenheit, diese Verschiedenheit, diese Seinswunde wohl erkannt. Dabei hat er versucht, sie wieder zu schließen, zu versöhnen, zu heilen, da er der Auffassung war, nur so könne er sie verständlich machen. So ist das Werden (meiner selbst und der Welt) nach Hegel ein Prozess, der irgendwo irgendwie anfängt und irgendwo endet, ein Prozess, dessen Bestandteile von Anfang bis Ende durch eine innere Logik (»Dialektik«) miteinander verbunden sind und so ein verständliches Ganzes bilden. Was in der Differenziertheit anders ist, wird so angeeignet und assimiliert. Die Differenziertheit, die Zerrissenheit des Seins und sein Werden werden so in einen Rahmen gefasst, in dem sie fassbar, verständlich werden. Zwar unterscheiden sich für Hegel die Augenblicke des Werdens nicht mehr wie die Dinge, zwar identifiziert er den Unterschied zwischen einem Augenblick des Lebens und einem anderen nicht mehr mit dem Unterschied zwischen zwei Objekten (wie die dicke Frau Müller und die, die ein paar Pfunde verloren hat), zwar versteht er das »Andere«, worauf sich jeder Augenblick des Seins bezieht, nicht mehr als »anderes Objekt«, »anderen Inhalt«, und doch bindet auch Hegel die Andersartigkeit, auf die sich zwangsläufig jeder Augenblick meines Seins bezieht, die andere Seite der Existenz, kraft seiner (dialektischen) Logik an das Gegebene und macht beides zu einem Ganzen.

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Er wirft das Netz der Rationalität über die Andersartigkeit, die Differenziertheit. Er eignet sie sich an. Auf diese Weise kuriert er die Zerrissenheit des Lebens. Oder anders ausgedrückt: Die Zerrissenheit, die Differenziertheit des Seins (aufgrund derer »sein« »werden« bedeutet) ist auch für Hegel eine Wunde, die es zu heilen gilt, eine pathologische Erscheinung, die der medizinischen Behandlung bedarf – die Zeit ist eine Infektion des Seins. Wenn wir das Spiel der Flammen aufmerksam beobachten, scheint Hegel zu sagen, können wir darin ein Muster erkennen, eine Regelhaftigkeit, eine Logik. Auch das Feuer (und damit das Werden) gehorcht einer Logik, es brennt nach einer gewissen Ordnung. Und deshalb können wir es verstehen. Auch Hegel betrachtet also letztlich das Feuer (Werden, Wandel, Zeit) aus der Perspektive von Identität, Ordnung und Einheit; auch in seinen Augen symbolisiert das Feuer einen (notwendigen und damit verständlichen) Mangel, Störung und Zerfall (von Identität, Ordnung, Einheit). Auch Hegel ist der Auffassung, das Leben lasse sich in Wissen fassen, und so könne die durch die Zeit bedrohte Fülle gefunden werden, Ganzheit, Ruhe, Trost. Auch für Hegel kann das Wissen ein Heilmittel für die von der Zeit geschlagenen Wunden sein. Heidegger unternimmt einen weiteren Versuch, die Metapher zu deuten: »Im ›Feuer‹ sind die Bezüge des Lichtenden, des Glühenden, des Lodernden und eine Weite Bildenden, aber auch des Verzehrenden, des in sich Zusammenschlagens und Zusammensinkens und Verschließens und Verlöschens wesentlich. Das Feuer flammt und ist im Entflammen die Scheidung zwischen dem Lichten und dem Dunklen; das Entflammen fügt das Lichte und das Dunkle gegen- und ineinander.« 67 Damit bildet das Entflammen, das Sich-Entzünden des Feuers (schlagartig, wie könnte es sich auch »schrittweise« oder »langsam« entflammen?) eine »Weite«, in der erst etwas hervortreten kann. Mit einem Mal, in einem Augenblick scheidet das Entflammen blitzartig Licht und Dunkel voneinander und schafft erst die Möglichkeit, dass die Wörter »Dunkel« und »Licht« in Abgrenzung zueinander einen Sinn erhalten. Dieser Moment des Entflammens, der Blitz, definiert, so argumentiert Heidegger, das Wesen des Feuers. Das habe auch Heraklit schon gewusst: »Das Seiende […] steuert der Blitz.« 68 Heidegger kommentiert: »Unter Blitz versteht er [Heraklit] nämlich das ewige Feuer«. 69 148 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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In der Interpretation Heideggers symbolisieren Feuer und Flammenspiel das Leben als Spiel, in dem alle Unterschiede immer wieder neu erstehen und vergehen und das damit die Voraussetzungen der Möglichkeit alles Seienden erschafft und zerstört. Ein Spiel, das sich auf nichts anderes zurückführen lässt und das nicht mit äußerlichen Voraussetzungen erklärt werden kann. Ein Spiel, dem kein Plan zugrunde liegt und das keiner inneren Logik gehorcht; eine Differenzierung, die nie aufhört, nie ein Ende erreicht. Leben als »Feuer« ist eine Einheit, die Unterschiede nicht verbirgt und sie nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringt. Das Spiel der Flammen symbolisiert die Differenziertheit, deren einzelne Bestandteile, das sich in ihr Unterscheidende, durch keine Logik, keine Dialektik, keine Regeln oder Gesetze miteinander verbunden sind. In diesem Feuer-Leben kann nichts bestehen bleiben, nichts überdauern, nicht einmal es selbst. Dieses Feuer ist keine anderwärtig bekannte, stabile Struktur, kein Bezugssystem (und in diesem Sinne Steg, Geländer), das uns verstehen ließe, was in ihm geschieht. »Feuer« ist nun (wenn wir Hegel und Heidegger folgen und nicht den Stoikern) ein metaphorischer Ausdruck für die Art und Weise, wie die Welt existiert, eine metaphorische Antwort auf die Frage, was es bedeutet, dass etwas »ist«. Ein Leben, das sich mit keiner Logik, keinem Wissen fassen lässt, ein Leben, das hinter den (scheinbar) unwandelbaren Erscheinungsformen der Dinge lodert. Nietzsche schreibt: »Sähest du feiner, so würdest du alles bewegt sehen: wie das brennende Papier sich krümmt, so vergeht alles fortwährend und krümmt sich dabei.« 70 Dieses Feuer ist es, das Nietzsches Zarathustra in die Welt bringt. Zu Beginn der Nietzsche-Erzählung steigt Zarathustra aus den Bergen ins Tal hinab. »[W]illst du […] dein Feuer in die Thäler tragen?« 71, wird Zarathustra von einem Einsiedler gefragt, dem er unterwegs begegnet. Ja, genau das hat Zarathustra vor, den Menschen das Feuer zu bringen, sein Feuer, das Feuer, das er ist; die Seelen der Menschen zu entflammen. »Meine Lehre«, spricht Zarathustra, »schritt heraus aus meinem Feuer.« 72 Die Lehre kommt »aus meinem Brande« 73, aus dem Feuer, das »zu Geist« 74 werden will. Feuer zu Geist – so entsteht der heiße Wind. Nietzsche-Zarathustra schreibt an anderer Stelle in den Notizen aus dem Nachlass über sich, über den Weisen: »Er ist einer großen Feuersbrunst gleich,

149 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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die ihren eigenen Wind mit sich bringt, und von ihm gesteigert und weiter getragen wird.« 75 In diesem Sinne weise ist jemand, der die Hitze der Flammen unter der kalten Oberfläche der Phänomene wahrnimmt, jemand, der »das Gefühl der Hitze in Dingen [hat], welche sich für alle Anderen kalt anfühlen«. 76 »Ein Brand […] will ich heißen allen trockenen Seelen« 77, lässt Nietzsche Zarathustra sagen. Die trockenen Seelen sind jene, die für das Feuer empfänglich sind, die entflammbaren (hier sei noch einmal an das Plutarch-Zitat bei Hegel erinnert). »Dürres Gras und Steppe seid ihr mir«, notiert Nietzsche-Zarathustra, »aber ich will laufende Feuer aus euch machen«. 78 Ihr seid, sagt uns Zarathustra, »wie dürres Gras […] und mehr, als nach Wasser, nach Feuer lechzend« 79, wie die ausgetrockneten Knochen der Toten, die in der Vision des Propheten Hesekiel auf einem Feld verstreut liegend darauf warten, dass Gott ihnen das Leben wiedergibt (vgl. Hes 37,1–14). »Mein Buch«, schreibt Nietzsche über Also sprach Zarathustra an einen Freund, »ist wie ein Vulkan«. 80 Glühende Lava soll aus ihm fließen, die die Seelen derer entflammt, die lesen und verstehen. (Der Vulkan, dasselbe Bild wie bei den Stoikern, aber eine völlig abweichende Interpretation! Bei den Stoikern stand der Vulkan für die Ordnung der Welt, die regelmäßig in alles Sterbliche verzehrenden Flammen steht. Für Nietzsche ist der Vulkan Zarathustra, der in mir die Kraft des Seins weckt, meine Seele und damit die Welt entflammt und bewirkt, dass alles, was ich berühre, nicht nur dies oder jenes, sich wandelt und nicht fortdauert.) Indem er also unsere Seelen in Brand steckt, will Zarathustra uns das Leben geben, das Leben in uns befreien. Denn, so formuliert Nietzsche: »Leben – das heisst für uns, Alles, was wir sind, beständig in Licht und Flamme verwandeln, auch Alles, was uns trifft«. 81 Zarathustra steckt unsere Seelen in Brand und ruft uns so ins Leben. Oder anders ausgedrückt: Zarathustra ist das Feuer, das in uns lodert, wenn wir leben. Kein ungefährliches Feuer – denn keine schon erreichte Form des Menschseins, keine bisherige Lebensweise, keine Erscheinungsform der Welt, keine Institution hat ihm etwas entgegenzusetzen. Alles, was uns bisher als Menschen ausmachte, gerät ins Wanken, beginnt zu bröckeln und ist in Frage gestellt. Auch alles, was uns am teuersten, am liebsten, am vertrautesten ist, ja, dies sogar zuallererst, denn gerade das Teuerste, Liebste, Vertrauteste bindet uns am stärksten an das Seiende, das Bestehende, das Hier und 150 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Jetzt. »Das verehrende Herz zerbrechen, (als man am festesten gebunden ist).« 82 notiert Nietzsche, das ist Zarathustras Forderung an uns. Er fordert es von uns, aber auch von sich selbst, auch er »zerbricht sein Herz gegen seine Freunde, gegen seine Thiere, gegen alles, was er geliebt hat«. 83 »Es schlage das WORT Gottes Seinen Zahn in uns«, schreibt Origenes. »Es brenne unsere Seelen aus, daß wir, Ihm lauschend, sprechen: ›War nicht unser Herz brennend in uns?‹« 84 Ihr müsst also »nicht nur die lästigen Ketten von euch werfen«, warnt uns Nietzsche, »die Stunde muß kommen, wo ihr vor euren Liebsten flieht. Dein Weib mußt du verlassen können, dein Land, deinen Nutzen, deinen werthesten Glauben«. 85 D. H. Lawrence beschreibt, als wollte er Nietzsche sekundieren, einen solchen Moment, in dem Herzen brechen: »Also gehen sie hinunter ans Meer, die Meergeborenen. Die Wikinger sind wieder auf Wanderschaft. Familien zerbrechen. Fahr übers Meer, fahr übers Meer, drängt das Herz. Verlasse deine Liebe und dein Zuhause. Verlasse deine Liebe und dein Zuhause. Liebe und Zuhause sind tödliche Illusionen. Frau, was habe ich mit dir zu schaffen? Es ist vorbei. Consummatum est. Die Kreuzigung ins Menschsein ist vorbei. Kehren wir zurück zu den wilden, beunruhigenden Elementen: zur zerstörerischen endlosen See. Oder zum Feuer.« 86

Erst dieses Feuer macht dich frei. Lawrence schreibt über aufbrechende Seeleute, diese sind auch Zarathustras bevorzugtes Publikum, und das ist kein Zufall. Wie der Seiltänzer oder der Künstler lebt auch der Seefahrer gefährlich. Diese Berufe erfordern die Bereitschaft, das Bestehende aufzugeben und das Unbekannte zu riskieren, was immer es auch bringen möge. Daher ist für Nietzsche auch das Leben des Seemanns, des Seiltänzers oder des Künstlers ein Beleg für das Leben, wie es ist. Ein Beleg für die dem Leben eingeschriebene Unruhe, das in ihm lodernde Feuer. Die Unruhe, die sich nicht lindern lässt. Das Feuer, das nicht gelöscht werden kann. Solange ich lebe. Daher gilt: »Baut eure Städte an den Vesuv! Schickt eure Schiffe in unerforschte Meere! Lebt im Kriege mit Euresgleichen und mit euch selber!« 87 Dieser Aufruf richtet sich an niemanden (im Besonderen) und an alle, er richtet sich an das Leben in jedem Einzelnen, das Leben, das sich in keiner Form, keiner Charakterisierung und keiner Identität einschließen lässt. 151 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Zarathustras Aufgabe ist es, das in uns schwelende Feuer zu entfachen, das in der oder jener Gestalt eingetrocknete Leben zu befreien. Seine Worte sollen wie Glut, wie glühende Lava, wie ein heißer Atem sein, der alles Eis zum Schmelzen bringt, das den Fluss der Zeit gefangen hält, wie ein Brand in der verdorrten Steppe, wie ein Feuer, das die trockenen Knochen der Toten verzehrt, wie ein Hammer, der die versteinerten, bereits erstorbenen Formen des Lebens zerschlägt. Wenn ich in diesem Zusammenhang mit Nietzsche von »Freiheit« und »Befreiung« spreche (die uns Zarathustras Feuer bringt), meine ich natürlich nicht meine Freiheit, es geht mir nicht um die Befreiung Krzysztof Michalskis von seinen bislang so widrigen Lebensumständen. Es geht auch nicht um die Befreiung des möglicherweise in mir verborgenen wahren Menschen, eines Wesens der Gattung Mensch, eines Potenzials, das in mir realisiert werden und mich dem Ideal des Menschen näher bringen könnte, wären da nicht all die ärgerlichen Umstände (die Unterdrückung des Menschen durch den Menschen beispielsweise). Nein, die Freiheit, von der hier die Rede ist, ist absolut, sie kennt keinerlei Maß. Es ist die Freiheit des Lebens, die sämtliche Hindernisse überwindet und in Flammen aufgehen lässt, die Freiheit des Lebens, die jegliche Identität unterminiert und verbrennt. Damit ist der Mensch (der Mensch, den wir kennen, den wir uns vorstellen können, jede Erscheinungsform des Menschen) »das, was überwunden werden muß.« 88 Nicht, um irgendein Ideal zu erreichen, nicht, um den Menschen durch eine andere, bessere Gattung zu ersetzen (den »Übermenschen«). Nein, denn diese Überwindung kennt ja kein Maß, sie erfolgt nicht im Namen irgendeiner Sache, sondern sie ist Ausdruck der absoluten Freiheit des Lebens, die wie ein Feuer jede Erscheinungsform des Menschen verbrennt, jeden Maßstab, jedes Ideal, jede Identität. Eine Überwindung, die einen Schritt ins Unbekannte bedeutet, ins Nichts. »Hier halte ich den Hammer«, lässt Nietzsche den gereiften und glücklichen Zarathustra sagen, »der ihn [d. i. den Menschen] überwindet!« 89 Und er will uns lehren, »[w]ie man mit dem Hammer philosophirt« (so der Untertitel der GötzenDämmerung). (Einige Jahre später schreibt Kafka in einem Brief an einen Freund: »[E]in Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.« 90) Erinnert das nicht an die Worte, die Gott Jeremia sagen lässt: »Ist mein Wort nicht wie Feuer […] und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt?« (Jer 23,29) 152 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Natürlich wollen nicht alle einem solchen Aufruf folgen. Es wäre ja auch naiv zu glauben, dass Worte, die die Seele verbrennen, die das Herz in Brand stecken, die alles, was uns bisher lieb und teuer war, bedrohen, dass diese Worte allgemeine Begeisterung hervorrufen. Zarathustra will ein Brand sein und damit auch »eine Gefahr […] allen trockenen Seelen« 91, daher fragt der Einsiedler ihn, der das Feuer in die Stadt trägt, auch: »Fürchtest du nicht des Brandstifters Strafen?« 92 Und tatsächlich stößt bereits die erste Rede Zarathustras zu der Menge der auf dem Marktplatz versammelten Stadtbewohner auf Desinteresse und unverhohlene Abneigung: »›Wir hörten nun genug […]!‹ Und alles Volk lachte über Zarathustra.« 93 Kann es überhaupt gute Zuhörer für Zarathustra geben? Wenngleich es nach Nietzsches Auffassung bestimmte historische Gründe dafür gibt, dass die Vertreter der heutigen Kultur mehr als andere versuchen, gegen Zarathustra immun zu sein, so ist er in der Darstellung Nietzsches doch eine Gefahr nicht nur für uns, nicht nur für unsere Kultur. Jede »Cultur ist nur ein dünnes Apfelhäutchen über einem glühenden Chaos« 94, notiert Nietzsche. Wir sind und waren alle, wir werden alle wie dürres Gras sein, das auf das Feuer wartet. Jede Kultur bildet also Abwehrmechanismen aus, jeder Mensch, jede trockene Seele lechzt nach Wasser, Schutz und Trost. »Und es begab sich, da Jesus diese Rede vollendet hatte, entsetzte sich das Volk über seine Lehre«, ist bei Matthäus zu lesen (Mt 7,28). Das Volk verlacht Zarathustra, wundert sich, entsetzt sich über seine Worte, denn Zarathustra (der heiße Wind, der Brandstifter, der Hammer) will Herzen und Seelen entflammen, zerschlagen, was uns am teuersten ist. Zarathustra bringt also Unruhe und Risiko, Freiheit, während die Menschen, denen er begegnet, in Ruhe gelassen werden wollen. Auf eben diesem Bedürfnis, dem Bedürfnis, »diebessicher und feuerfest« 95 zu werden, beruht nach Nietzsche die moderne Gesellschaft. »[D]ie Sicherheit betet man jetzt als die oberste Gottheit an« 96, schreibt er an ähnlicher Stelle. Und nicht selten wird Gott als Beschützer vor der Gefährdung des Lebens angesehen: »Ihr glaubt, wie ihr sagt, an die Nothwendigkeit der Religion!«, notiert Nietzsche. »Seid ehrlich! Ihr glaubt nur an die Nothwendigkeit der Polizei, und fürchtet euch vor Räubern und Dieben für euer Geld und eure Ruhe!« 97 »Unsre Schritte klingen ihnen zu einsam durch die Gassen«, sagt der Einsiedler zu Zarathustra von seinen Zeitgenossen. »Und wie 153 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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wenn sie Nachts in ihren Betten einen Mann gehen hören, lange bevor die Sonne aufsteht, so fragen sie sich wohl: wohin will der Dieb?« 98 Dieselbe Unruhe, dieselbe Angst, dasselbe Bedürfnis, die Tür zu schließen und behütet zu schlafen, hatte Paulus im Sinn, als er schrieb: »[D]er Tag des Herrn wird kommen wie ein Dieb in der Nacht.« (1.Thess 5,2) Daher sind für Nietzsche heute diejenigen die falschen Propheten, die uns mit der Illusion ewiger Ruhe irreführen und uns dazu überreden wollen, die Gesellschaftsordnung auf dieser Illusion aufzubauen. Schließlich sind Ruhe und Frieden in Ewigkeit eine lebensfeindliche Fata Morgana, ist das Leben doch seinem Wesen nach unruhig, riskant und offen für Unbekanntes und Neues. Derlei falsche Propheten hatte schon Hesekiel seinerzeit im Sinn, diejenigen, die das »Volk verführen und sagen: ›Friede!‹, so doch kein Friede ist.« (Hes 13,10) Denn »[s]o spricht der Herr: Wehe euch, die ihr Kissen macht den Leuten unter die Arme und Pfühle zu den Häuptern, beide, Jungen und Alten, die Seelen zu fangen.« (Hes 13,18) Und uns alle warnt Gott mit Hesekiel: »[I]ch will an eure Kissen […] und will sie von euren Armen wegreißen« (Hes 13,20). Nietzsche wirft seinen Zeitgenossen vor, sie seien nicht mutig genug, die Worte Zarathustras zu verstehen: »Du hast nicht den Muth, dich zu verbrennen und zu Grunde zu gehen: und so wirst du niemals ein Neues. Das, was uns heute Flügel Farbe Kleid und Kraft ist, soll morgen nur Asche sein.« 99 Doch fiel es jemals jemandem leicht, dies zu verstehen? Kann dieser Mut, der Mut zur Selbstverbrennung, zum ständigen Krieg gegen sich selbst je die natürliche Verhaltensweise irgendeines Menschen sein? Alles, was ich bin, alles, was wir sind, jede Erscheinungsform der Welt ist künftige Asche, sagt uns Nietzsche mit Zarathustra: »Unsere ganze Welt ist […] Asche«. 100 »Sähest du feiner«, könntest du die Feuerzungen inmitten der lachenden Menge auf dem Marktplatz sehen, hinter der Geschäftigkeit, die unseren Alltag scheinbar so wichtig macht und uns so stark beansprucht. Noch einmal Zarathustra: »Wehe dieser grossen Stadt! – Und ich wollte, ich sähe schon die Feuersäule, in der sie verbrannt wird!« 101 Die Kritik der modernen Kultur (dieser Versicherungsgesellschaft gegen Feuer und Diebstahl) geht hier einher mit einem Wort über die Natur des Menschen (dass der Mensch insofern lebt, als er sich selbst überwindet). Daher sind die Worte Christi Zarathustra auch so nahe: »Weh euch, die ihr hier 154 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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lachet!« (Lk 6,25) Oder: »Ich bin gekommen, daß ich ein Feuer anzünde auf Erden; was wollte ich lieber, denn es brennete schon!« (Lk 12,49) Zarathustra ist der für unsere Augen unsichtbare heiße Wind, der das Feuer des Lebens entfacht und damit die seiende Welt in Brand steckt – er ist der Geist. Die Flamme, die zugleich Vernichtung und Befreiung bringt, Befreiung des unablässig sich wandelnden Lebens, des immer Neuen. Die Feuersäule, die das Ende verheißt (für diejenigen, die den Mut haben zu sehen und die bereit sind, in See zu stechen) und gleichzeitig den Anfang. Zarathustra sagt von sich: »und bin ich sonst unsichtbar, so will ich an den Masten einsamer Schiffender und Entdecker als Flamme sichtbar werden.« 102 Und noch einmal ein Bibelzitat, diesmal aus dem Alten Testament: »Und der Herr zog vor ihnen her […], daß er den rechten Weg führte […] in einer Feuersäule« (2.Mose 13,21). Was hat nun die Analyse der Feuermetapher erbracht? Sie vereint alle drei behandelten Metaphern: Das in die Seele eingegossene Feuer gebiert den heißen Wind, der das Eis zum Schmelzen bringt und damit den Fluss der Zeit befreit. Das Feuer ist in erster Linie ein Bild für die radikale Diskontinuität der menschlichen Existenz. Bin ich dürres Gras in Erwartung des Feuers, in dem ich verbrenne, ist mein Leben seinem Wesen nach ein untergründig loderndes Feuer, das mich, mein ganzes Ich, jeden Moment in Flammen aufgehen lassen kann, ein Feuer, das es mir nicht gestattet, lange stillzustehen, mich einzurichten, zu schlafen, das mich meine Liebste und mein Haus verlassen heißt. Bin ich ein solches Feuer, so wohnt jedem Augenblick meines Lebens die Chance eines Neuanfangs inne, die Chance, ganz von vorn zu beginnen, mit dem Nichts. Dieser Neuanfang ist absolut, eine Geburt aus der Asche, oder besser: aus dem Nichts alles anderen. Genau genommen ist »neu« hier der falsche Ausdruck, da »neu« die Abgrenzung zu etwas »Altem«, »Vergangenen«, »Vormaligen« voraussetzt, während das Lebensfeuer erst mit diesem Moment beginnt, gänzlich neu, also auf nichts zurückverweist, das »alt« oder »vergangen« wäre, von dem es sich unterscheiden könnte. Wenn ich von »zwei verschiedenen Momenten« in meinem Leben spreche (der Spaziergang gestern und der Arztbesuch heute), meine ich eine andere Art Moment (aufeinander folgende Zeiteinheiten, Augenblicke) und eine andere Art Unterschied (zwei verschiedene Zustände). Ich setze dann eine Kontinuität (der aufeinander 155 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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folgenden Augenblicke) voraus und etwas, das in dieser Kontinuität einem Wandel unterliegt (mein Lebenslauf). Die Feuermetapher zeigt dagegen das Zerreißen dieser Kontinuität, sie lässt mein Leben in jedem Augenblick als absolute Nicht-Kontinuität zutage treten, als absolute Differenziertheit, absoluten Anfang. Wenn wir eine Antwort auf die Frage nach der Zeit, nach Quelle und Natur des Vergehens suchen wollen, so müssen wir eben – dies lehrt meines Erachtens die Feuermetapher – bei diesem unwiederbringlichen, einen Augenblick des Lebens ansetzen. Der Vergleich zweier (oder mehrerer) Augenblicke, zweier Zustände führt hier nicht weiter. Er zeigt uns höchstens den Unterschied zwischen einem faltigen und einem glatten Gesicht, zwischen Pickel da und Pickel weg, lässt uns aber in diesem Gesicht keine Spur finden, die bezeugen könnte, dass es nicht mehr ist, dass es vergangen ist. Um erkennen zu können, dass ein junges Gesicht auf einem Foto »war« und nicht »ist«, muss man von anderswoher wissen, was »war« heißt. Der Unterschied zwischen zwei Augenblicken – Spaziergang einerseits, Arztbesuch andererseits – kann uns nicht erklären, warum der Arztbesuch »war«, der Spaziergang aber »gerade ist«. Vergehen, Werden und Zeit bedeuten einen Unterschied anderer Art als jegliche Differenzierung von Zuständen oder Augenblicken. Vergehen, Werden und Zeit sind jeglicher Identität (also auch dem »Spaziergang« und dem »Arztbesuch«) vorausgehende innere Differenzierungen dieses einen (wenngleich nicht eines unter vielen) Augenblicks, der brennt, der restlos verbrennt, der »ins Nichts zurückfallen müsste, wie von einem lichtlosen Blitzstrahl vernichtet.« 103 Nur in diesem Sinne »ist« er. Zwei Augenblicke können sich voneinander unterscheiden wie die »Vergangenheit« von der »Gegenwart« oder der »Zukunft«, wenn dieser Unterschied (die Zeit) bereits gesetzt ist. Wenn jeder Augenblick für sich genommen, ohne den Kontext der anderen »wird« und »vergeht«. Wenn das Leben zerrissen ist, radikal diskontinuierlich. Ohne die radikale Diskontinuität des Lebens, ohne diese einzigartige Differenziertheit, die die Feuermetapher offenbart, bliebe die Zeit unverständlich. Jener einzigartige Moment, der einzige Moment des Seins, nicht einer unter vielen, ist der Moment, in dem ich mich befinde, ist meine Präsenz in der Welt. Wenn ich von »Moment« spreche, meine ich hier nicht »diesen Moment« (»heute«) im Unterschied zu »jenem« (»gestern«, »morgen«), vielmehr geht es mir darum, wie ich bin. Erst dank 156 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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der Tatsache, dass ich so und nicht anders bin – dass ich seiend brenne –, wird alles »Gestern«, »Heute« und »Morgen« überhaupt möglich. Die Zeit ist also nicht unabhängig von meinem Tun, vom Tun der Menschen. Die Zeit detoniert mit jeder meiner Gesten, jeder Bewegung und jedem Schritt. Mein Leben unterminiert mit jedem Moment die bestehende Welt und stellt alles in Frage, was »ist« und was »fortdauert«. Die Zeit fließt, die Welt vergeht dank der Flamme meines Lebens. Anders ausgedrückt: Wenn »sein« »werden« bedeutet, dann ist der einzige Sinn, den »Sein« und »Existenz« für mich haben können, derjenige, welcher mein Leben dieser Existenz verleiht. »Sein« und »Leben« sind nicht voneinander zu trennen. Mein Leben, das menschliche Leben ist der einzige Weg, das Werden, die unablässig werdende Existenz zu verstehen. Es sei noch einmal daran erinnert, dass wenn ich »Leben« sage, »mein Leben« oder »menschliches Leben«, ich mich nicht auf historische, soziologische oder biologische Begriffe beziehe. Ich spreche nicht von der »Gattung Mensch«, von der »Menschheitsgeschichte« oder davon, was wir über die Spezifika menschlichen Verhaltens in der Gesellschaft wissen. Oder genauer – ich spreche nicht nur davon. Wenn ich »menschliches Leben« sage, versuche ich nicht, es vom Leben der Ameise oder des Kamels abzugrenzen, ich gehe nicht davon aus, dass ich (wenn auch vielleicht nicht endgültig) weiß, was das ist, ein Mensch. Ich weiß es nämlich nicht, kann es nicht wissen. Wenn ich »menschliches Leben« sage, setze ich kein »Subjekt« dieses Lebens voraus, keinen »Menschen«, der diesen Prozess, das »Leben«, verständlich macht (dieses »Leben« beispielsweise im Unterschied zum Leben von Ameise oder Kamel). Das »Leben«, von dem ich spreche, hat kein Subjekt, oder besser: es hat nicht ein Subjekt. In jedem Moment des Lebens wird sein Subjekt (ein Subjekt) neu geschaffen. Das Leben stellt in jedem Moment jegliche Form des Menschseins, auch jede biologische, gesellschaftliche oder historische Form in Frage. Ja, es stellt sogar das Menschsein selbst in Frage, alles, was irgendwer irgendwann irgendwo für sein innerstes Wesen hält. Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muss. Warum bezeichne ich dann das Leben überhaupt als »meines«, »unseres« oder als »menschlich«? Weil das »Leben«, von dem hier die Rede ist, sich in unseren Verrichtungen, unseren Gesten abspielt, in dem, was wir tun. Und nur dort. Freilich ist die Bedeutung des kleinen Wörtchens »wir« offen und nie bis zuletzt definierbar. 157 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Nicht ich bin das Subjekt des Lebens, sondern Zarathustra in mir. Zarathustra, also kein Schuster, kein Zimmermann, kein Priester, Philosoph oder Zöllner, nicht jemand, nicht dieser oder jener. Gleichzeitig sind wir alle potenziell Zarathustra, denn wir tragen alle die Kraft in uns, zu überwinden, was wir sind. Und unser Leben ist ein »Feuer«. Der Versuch, die fließende Zeit zu verstehen, führt offenbar zwangsläufig zur Frage nach dem Menschen, andererseits ist die Erzählung über die Natur des Menschen untrennbar mit der Erzählung von der werdenden Welt verbunden. »Die Zeit ist die Substanz, aus der ich gemacht bin, die Zeit ist ein Fluß, der mich davonreißt, aber ich bin der Fluß; […] sie ist ein Feuer, das mich verzehrt, aber ich bin das Feuer« 104, schreibt Borges. Und ich? Wer bin ich? Wer ist der Mensch? »Dieses reißende, zu Asche zerfallende […] Feuer«, schreibt Stanisław Brzozowski in seinem Tagebuch, »dieses ewige Beginnen, bodenlos, haltlos […], das ist der Mensch.« 105 Eine andere Antwort ist nicht möglich. Die fundamentale, wesentliche Charakterisierung des Lebens, das wir leben, wird von Nietzsche bekanntlich als Wille zur Macht bezeichnet. Von diesem Willen zur Macht sagt Nietzsche im Zarathustra, er sei »die Glüh-Geissel der härtesten Herzensharten«, er sei »die düstre Flamme lebendiger Scheiterhaufen«, er sei »das Erdbeben, […] die […] Zerbrecherin übertünchter Gräber; das blitzende Fragezeichen neben vorzeitigen Antworten.« 106 Kurz, er kennzeichne das Leben als ein kein unüberwindbares Hindernis kennendes Streben nach Veränderung, einer Veränderung, die sich nicht in RationalitätsSchemata oder Plänen (von …- nach …) darstellen lässt. Einer Veränderung, die jegliche Kontinuität, jegliche Gemeinsamkeit mit dem Vergangenen und dem möglicherweise Kommenden zerreißt, die jeden Moment des Lebens aus dem Kontext der anderen Momente reißt und damit auch aus dem Kontext der Zeit als einer Abfolge von Augenblicken, als der Unterscheidung zwischen »gestern« und »heute«. Leben als Flamme – der verbrennende Moment ohne Verbindung zu dem, was war, und dem, was sein wird. In diesem Sinne: Ewigkeit. Leben, Wille zur Macht, ein Streben, das alles überwindet, was die Abfolge von Momenten, die Kontinuität der Zeit Schritt für Schritt um mich herum anhäuft und mich zu dem macht, der ich bin – Michalski und nicht Frau Müller – ein Streben, das mich so auf die Ebene der Ewigkeit erhebt. 158 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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»[D]er unendlich kleine Augenblick ist die höhere Realität und Wahrheit, ein Blitzbild aus dem ewigen Flusse« 107, notiert Nietzsche. Ein »Blitzbild aus dem ewigen Flusse« – die Ewigkeit als eine Dimension der Zeit, ohne die die Zeit unverständlich bleiben müsste, dies ist die einzige Ewigkeit. Eine andere gibt es nicht. Die Ewigkeit als unendliche Dauer, als Gegensatz zur Zeit ist eine Illusion. »Alles Unvergängliche – das ist nur ein Gleichniss!« 108, spricht Zarathustra. Und noch eine Notiz Nietzsches aus derselben Zeit: »gegen den Werth des Ewig-Gleichbleibenden […] der Werth des Kürzesten und Vergänglichsten, das verführerische Goldaufblitzen am Bauch der Schlange vita«. 109 Das »blitzende Fragezeichen« hinter allem, was uns endgültig erscheint, das »Blitzbild aus dem ewigen Flusse«, das »verführerische Goldaufblitzen am Bauch der Schlange vita« – für Nietzsche wie für Heidegger konzentriert sich das Wesen des »Feuers« im Bild des diskontinuierlichen, jähen, momentanen Blitzes. Dieser Feuer-Blitz, der meinem Leben unausweichlich eingeschrieben ist, zerreißt das Gewebe dieses Lebens und macht jeden Augenblick zu einem möglichen Neuanfang. Damit stellt er den Moment außerhalb eines Gefüges von »gestern« oder »heute«, rückt ihn in die Perspektive der Ewigkeit und bewirkt, dass das Leben fließt und nicht steht, dass ein Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft überhaupt möglich ist. Wenn aber dieses »Feuer«, das das Leben ist, die Kontinuität der Augenblicke zerreißt und jeden einzelnen zu einem einzigartigen Moment macht, einem absoluten Anfang, ist es dann verwunderlich, dass das Leben – und mithin Zeit und Vergehen – schmerzt? Die Kontinuität der Augenblicke ist es doch, die mein Leben so aussehen lässt, wie ich es kenne: alles, was ich bin, Krzysztof Michalski, alles, was mir teuer ist, meine Erinnerungen, mein Lebenslauf. Ein Zerreißen dieser Kontinuität, ein Herausreißen aus dem Kontext, in dem ich wurde, was ich bin, bereitet mir Schmerzen. Dann sind diese Schmerzen identisch mit dem Leben, ohne diese Schmerzen ist Leben nicht zu denken. Das »Feuer«, das die Kontinuität der Augenblicke sprengt, aus denen allmählich mein Haus, der Sinn meines Lebens, meine Identität entstanden sind, hinterlässt eine tiefe Wunde in mir, die nicht verheilen kann, solange ich lebe. Eine Wunde, die schmerzt. Die Bedeutung der Worte »Wunde« und »Schmerz« ist hier völlig verschieden von der bei Hegel. Gewiss, die Zeit sprengt die Kontinuität meines Lebens, jeder Augenblick meines Lebens ist ein Feuer, das alles Bestehende verzehrt, ein Blitz, der in alles Seiende ein159 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

VII · Die Flamme der Ewigkeit

schlägt. Das schmerzt. Aber für diesen Schmerz gibt es kein Heilmittel. Es handelt sich hier nicht um ein Leiden, dass gelindert werden müsste. Dieser Schmerz, dieses Leiden ist eben das Leben. Origenes schrieb: »Das Feuer hat eine doppelte Kraft: die eine, wodurch es erleuchtet, die andere, wodurch es brennt … […] es erleuchtet freilich das Feuer, das Jesus auf die Erde zu senden kam, ›jeden Menschen, der in diese Welt kommt‹, es hat aber dennoch selbst etwas Brennendes an sich, wie jene bekennen, die sagen: ›Brannte nicht unser Herz innen in uns, als Er uns die Schriften eröffnete?‹« 110

Natürlich schmerzt das brennende Herz. Aber was wäre das für ein Herz, das nicht brennt? Lou Salomé schreibt über Nietzsche: »Nietzsches Genialität entsprang dem lebensvollen Feuer hinter seinen Gedanken, welches sie in einem so herrlichen Lichte ausstrahlen liess, wie sie es auf dem Wege der logischen Einsicht allein nicht hätten gewinnen können.« 111

Und an anderer Stelle: »[J]edesmal bedarf es einer höhen Gluth der Seele, wo es zu höchster Klarheit, zu hellem Licht der Erkenntniss kommen soll, – aber nie darf diese Gluth in wohlthuender Wärme ausströmen, sondern muss verwunden mit sengenden Feuern und brennenden Flammen: auch hier gehört, – wie er es […] ausdrückt, – ›das Leiden zur Sache.‹« 112

Aber kann man mit diesem »Wissen« leben? Im Feuer? Kann man leben, wenn man die kalte Oberfläche der Dinge ignoriert, das dünne Apfelhäutchen über der Gluthitze, über dem brennenden Feuer? Wie soll man mit diesem alles verschlingenden Feuer fertig werden, in einem Leben, in dem es doch darum geht, die fallende Tasse noch rechtzeitig aufzufangen und daran zu denken, Butter einzukaufen? Wie kann man mit dieser offenen, nicht verheilenden Wunde leben, die die zerrissene Kontinuität des Lebens hinterlassen hat, von der Geburt bis jetzt, von gestern bis heute, von jener Ecke bis zu dieser Tür, durch die ich gleich gehen werde, um Butter zu kaufen? Die Kontinuität des Lebens, die doch bestimmt, wer ich bin, durch die ich mich mit dem umgebe, was mir vertraut, lieb und teuer ist? Es geht nicht, natürlich kann man so nicht leben, »die letzte Wahrheit […] verträgt die Einverleibung nicht …« 113 »Wer ist unter uns, der bei einem verzehrenden Feuer wohnen 160 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

VII · Die Flamme der Ewigkeit

möge? wer ist unter uns, der bei der ewigen Glut wohne?«, heißt es bei Jesaja (Jes 33,14). Nur: »Saints live in flames« 114, schreibt Cioran. (Und tatsächlich: Piero Camporesi zitiert aus einer Heiligenvita des 18. Jahrhunderts, dass nach dem Tod des heiligen Joseph von Copertino »the body was then opened and embalmed with sweetsmelling herbs and spices. The surgeon found in the process not only that the pericardium was dry but also that the ventricles were devoid of blood, indeed the heart itself was dry and desiccated, not through the natural burning of a fever, but through the supernatural flame of Divine Love; a phenomenon which the surgeon had encountered previously during his experience and therefore attributed in this case.« 115) Doch wir gewöhnlichen Sterblichen brauchen zum Leben Kontinuität, Wissen (das eine Welt zugrunde legt, die ist und nicht brennt), passives Sich-Eingliedern, Schlaf. Um leben zu können, halten wir uns an dieser oder jener Gestalt fest, dieser oder jener Rolle, flüchten wir uns in Institutionen, umgeben uns mit Welt, harten Fakten und Realität. Die Zeit beäugen wir argwöhnisch. Nietzsche will uns mit Metaphern, die stärker sind als jede Interpretation, zeigen, dass dies nicht die letzte Realität ist. Dem Leben wohnt, so Nietzsche, auch die absolute Unruhe inne, der Stachel im Fleisch, den man nicht ziehen oder sich zu eigen machen kann; die Unruhe, dieser Stachel ist eben das Wesen des Lebens. Nietzsche will uns die Flammen hinter allem zeigen, was wir sehen und wissen. Er will uns das alles verzehrende Feuer zeigen, die Gluthitze unter der kalten Oberfläche der Dinge. Er will uns lehren, »Alles, was wir sind, beständig in Licht und Flamme zu verwandeln, auch Alles, was uns trifft«. 116 Das bedeutet aber nicht, dass Nietzsche uns eine andere Welt zeigen möchte, eine Welt, die hinter der uns umgebenden (vorgeblichen) Illusion verborgen liegt, hinter all den Wänden, die der Kopf nicht einzurennen vermag, hinter den Fußwegen, auf denen ich mir die Knie aufschlage, hinter den Steinen, die mir auf den Kopf fallen könnten; eine andere Welt, die uns der Verantwortung für die, in der wir leben, entheben würde, indem sie sie relativiert. Nein, das ist selbstverständlich nicht gemeint. Es gibt keine andere Welt. Schon der Begriff einer anderen Welt, die sich hinter der, über die wir etwas wissen können, verbirgt, ist unsinnig. Es gibt nur die Welt, die uns umgibt. »Dahinter« ist nichts zu sehen. Flammen und Gluthitze sind 161 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

VII · Die Flamme der Ewigkeit

keine Vision einer anderen Welt, das Feuer, von dem hier die Rede ist, ist unsichtbar. Wenn ich sage, Nietzsche will uns dieses Feuer zeigen, so ist dieser Begriff metaphorisch zu verstehen. Das Feuer brennt hier, nicht irgendwo da draußen, das Feuer ist das Leben, unser Leben, mein Leben hier und jetzt. Hier ist also nicht das Wissen über eine andere Welt gemeint. Es geht überhaupt nicht um Wissen, nicht um einen Zuwachs an Weltwissen, die Ergänzung um ein weiteres Stückchen einer bislang unbekannten Seite der Welt. Das »Feuer« ist keine Struktur, keine Weltordnung, die sich erkennen und beschreiben ließe. Das »Feuer« kann nicht Gegenstand des Wissens sein. Es gibt kein »Wissen über das Feuer«, das unser bisheriges Wissen ersetzen könnte. Die Feuermetapher lehrt vielmehr, dass all meinem Tun, jedem Moment meines Lebens ein Blitz innewohnt, der alles verbrennt, was ich weiß, oder anders ausgedrückt, dass mein Leben das Potenzial zur uneingeschränkten Freiheit hat, dass es bedingungslos schöpferisch ist. »Als Schaffen«, notiert Nietzsche, »ist alles Erkennen ein Nicht-erkennen«. 117 Das Leben ist wie ein Feuer, also bezieht sich jeder Moment meines Lebens nicht nur auf die anderen Momente, sondern auch auf ihr Nichtsein, auf die Ewigkeit, die man nicht wissen kann. Die radikale Diskontinuität des Lebens stellt in jedem Augenblick all mein Wissen in Frage. »Die größte Gefahr ist der Glaube an das Wissen und Erkanntsein d. h. an das Ende des Schaffens.« 118 Es gibt also kein Wissen über das Feuer des Lebens; ein Wissen über die Ewigkeit, die unser Leben durchdringt, ist nicht möglich. Nur die Unruhe, nur der Schmerz des Lebens (dieser unverzichtbare Horizont all unseres Wissens, der unerlässliche Hintergrund alles Wissens, als des unseren) zeugen von diesem Feuer. Aus dieser Perspektive betrachtet, ist Wissen, sind Worte Asche. »Und wenn aus dieser Asche die Lohe aufsteigt, glühend und heiß, gewaltig und stark und Du hineinstarrst, wie vom magischen Zauber gebannt, dann – – – Aber in dieses keusche Gedenken, da kann man sich nicht hineinschreiben mit ungeschickter Hand und grobem Handwerkszeug, das kann man nur in diese weißen, anspruchslosen Blätter.« 119

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VIII Ewige Liebe 1 Was ist denn die Liebe – so die leitende Frage Plotins in der 3. Enneade: »ein Gott oder ein Dämon, oder eine Leidenschaft [Affection] der Seele«? 1 Liebe – wie zahlreich sind ihre Erscheinungsformen, wie unterschiedlich all die Facetten, all die Augenblicke, auf die wir dieses Wort beziehen! Sie auf einen gemeinsamen Nenner bringen zu wollen, wäre unsinnig. In der enormen Vielfalt von Bedeutungen liegt auch das verborgen, wovon ich schreiben möchte: die ewige Liebe. Diese Liebe ist eine Spur der Ewigkeit. Sie ist die Gegenwart der Ewigkeit in der Zeit. Die Entdeckung des »Jetzt«: hier, unter dem Apfelbaum, wenn ich dich bitte, mich wie ein Siegel auf dein Herz zu legen, wie ein Siegel auf deinen Arm (vgl. Hld 8,4–6) – die Entdeckung des »Jetzt«, das »immer« bedeutet. Sie ist ein Aussetzen der Zeit. Wenn »jetzt« so viel wie »immer« heißt, wird der Unterschied zwischen »jetzt« und »gestern«, zwischen »jetzt« und »morgen«, wird die Zeit bedeutungslos. Hier unter dem Apfelbaum verschwinden Vergangenheit und Zukunft, hier verliert der Tod seinen Stachel: »Denn Liebe ist stark wie der Tod« (Hld 8,6). Eine solche Liebe pflanzt die Unendlichkeit ins Leben von Herrn Meier und Frau Müller, in meines und deines, in das Leben zwischen Geburt und Tod. Sie steckt den Samen der Unsterblichkeit in die Erde des alltäglichen Lebens. Eine solche Liebe bewirkt, dass alles, was mich und dich an die Zeit bindet, bedeutungslos wird und verschwindet. Nur wir beide sind noch da. »Wer ist sie, die hervorbricht wie die Morgenröte, schön wie der Mond, klar wie die Sonne, gewaltig wie ein Heer?« (Hld 6,9) Du bist es, meine Geliebte, gleich, ob du Frau Müller oder Capulet heißt. Gleich, ob ich Michalski heiße. Liebend sind wir am Ende der Welt (das heißt nicht »in Australien«, sondern dort, wo die Welt endet, wo sie nicht mehr ist, jenseits des Weltendes). Liebend sind wir hier, an diesem Ort, aber auch nirgends, weder in Verona noch in Köln, weder hier noch dort. Die Zeit tut sich 163 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

VIII · Ewige Liebe

vor uns auf, und wir sehen den Himmel. Wir sind im Himmel. »Hier ist der Himmel, / Wo Julia lebt«. 2 Liebe – der Ort, wo die Erde den Himmel berührt. Rilke schreibt: »Und nun ist nichts an ihm. Und er ist nackt wie ein Heiliger. Hell und schlank. […] Die Turmstube ist dunkel. Aber sie leuchten sich ins Gesicht mit ihrem Lächeln. Sie tasten vor sich her wie Blinde und finden den Andern wie eine Tür. Fast wie Kinder, die sich vor der Nacht ängstigen, drängen sie sich in einander ein. Und doch fürchten sie sich nicht. Da ist nichts, was gegen sie wäre: kein Gestern, kein Morgen; denn die Zeit ist eingestürzt. Und sie blühen aus ihren Trümmern. Er fragt nicht: ›Dein Gemahl?‹ Sie fragt nicht: ›Dein Namen?‹« 3

Vielleicht meinte Plotin eine solche – ewige – Liebe, wenn er Gott oder den Himmelsgeist in der Liebe suchte. Vielleicht spricht das Hohelied von einer solchen Liebe: »Ihre Glut ist feurig und eine Flamme des Herrn« (Hld 8,6). Wenn das so ist, wenn Gott gemeint ist und der Riss in der Zeit, durch den der Himmel in mein Leben kommt, wenn so das Menschliche mit dem Göttlichen in Verbindung tritt, wenn hier das Absolute in mein und in dein Leben bricht, in die Zeit, dann tritt vielleicht in der Liebe, von der ich hier schreiben möchte, mehr zutage als meine Empfindung für Jadzia und Jadzias Empfindung für mich. Vielleicht offenbart sich in dieser Liebe, in dieser Unruhe, die uns beide aus dem Alltagstrott reißt, aus dem Bekannten und Vertrauten, noch etwas anderes: das Leben, wie es ist. Vielleicht offenbart sich hier, wer wir sind (darüber hinaus, dass ich Krzysztof bin und du Jadzia), vielleicht offenbart sich hier die conditio humana. Denn »es ist weder unsere Geschicklichkeit, noch ist es unsere Beharrlichkeit, noch sind es unsere Augenbrauen, die uns zu dem machen, wer wir sind; es ist unsere Liebe.« 4

2 Nietzsche fragt: »[W]as ist amor, was deus, wenn ihnen jeder Tropfen Blut fehlt? …« 5 Nichts. Die Frage ist rein rhetorisch. Es gibt keine blutleere Liebe, nicht zufällig wird ihr das Herz als Organ zugeschrieben. Das Pochen des Blutes in den Schläfen, die bebenden, blutdurchpulsten Organe der im Liebesakt vereinigten Partner. Das offene und fröhliche, aber zu anderen Zeiten auch leere, gebrochene, wehe Herz. 164 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Liebe bereitet Schmerz. Ein Schmerz, der von der Ekstase nicht zu trennen ist, der Schmerz der Vereinigung und der Trennung, der Schmerz des Scheidens aus der Welt und des neuen Eintritts. Liebe verleiht der Welt sogar einen neuen Geruch. Flaubert schreibt über Madame Bovary: »Die Erinnerung an Rodolphe hatte sie im Innersten ihres Herzens versenkt; und sie lag da feierlicher und unbeweglicher als die Mumie eines Königs in einem Grabgewölbe. Diese große einbalsamierte Liebe hauchte einen Duft aus, der alles durchdrang und die Atmosphäre unbefleckter Reinheit, in der sie leben wollte, mit Zärtlichkeit durchtränkte.« 6 Und die Liebe hat ihren eigenen Geschmack, sie ist süß. Nach Johannes vom Kreuz brennt die Liebe, und diese Flamme ist auch »köstlich und süß« 7. Seltsam ist diese Süße, jedenfalls von ganz anderer Süße als Zucker oder das Happy End eines seichten HollywoodFilms. Wie schwierig, ja unmöglich ist es, sie mit irgendetwas zu vergleichen. Diese Süße scheint »nicht von dieser Welt« zu sein, sie ist gewissermaßen »überirdisch«. Sie schmeckt nach Ewigkeit. Piero Camporesi schreibt: »It was thought that there rained down on earth like a heavenly sweat (›coeli sudor‹) or an undefinable saliva from the stars (›quaedam syderum saliva‹), or a secretion/excrement of the air (›purgantis se aëris succus‹), a honey in the form of a gentle dew, the principal antidote to putrefaction, and thwarter of bodily decay«. 8 Himmlischer Tau, Schweiß vom Himmel, Speichel der Sterne und überirdische Süße in den Mündern der Liebenden, Süße der Ewigkeit. Genau hier, im Schweiß der verschlungen sich liebenden Leiber, im Speichel der verbundenen Münder gelangt die Ewigkeit ins menschliche Leben. Blut, Herz und Schmerz, Duft und Süße – die menschliche Liebe ist also verkörperte Liebe. Denn »nur verkörperte Seelen können wirklich lieben«. 9 Und so kommt im Lieben – im Schmerz, im Druck auf dem Herzen, im Pulsieren des Blutes, in der besonderen Süße der Welt und der neuen Beschaffenheit der Luft – die Unendlichkeit in mein Leben. Sie berührt mich. Ewigkeit ist letztlich ein physiologischer Begriff, eine Dimension unseres leiblichen Daseins in der Welt. Mit anderen Worten: Es gibt jenseits der Zeit keine gesonderte Sprache, um die Ewigkeit auszudrücken. Die Ewigkeit ist der Zeit eingeschrieben, und die Liebe, die ewige Liebe, bezeugt dies.

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VIII · Ewige Liebe

3 Aber stellen sich unsere Begriffe und unsere Phantasie nicht gegen diese Interpretation? Widerspricht sie nicht den seit Jahrhunderten bekannten und noch heute lebendigen Argumenten und Metaphern, die in der Ewigkeit – und mit ihr in der nach der Ewigkeit greifenden Liebe – den Gegensatz des Leibes, die Negation der Sinne und die Überwindung des Schmerzes sehen? Zurück zu Plotin: »Eros [mag] als von ihr oder mit ihr [d. i. Aphrodite – KM] geboren bezeichnet werden. […] Die himmlische [Aphrodite] nun […] muss die göttlichste Seele sein, welche […] oben blieb […] und […] keinen Antheil an der Materie hat. […] Man kann sie mit Recht als einen Gott […] bezeichnen«. 10 Der Versuch, diesen Gott – die Liebe – zu erreichen, verlangt, so Plotin, die Loslösung von allem Materiellen, also auch von allem, was wir »Leib« nennen, vom Blut, vom Schmerz, von den Sinnen. Für dieses Unterfangen ist der Leib nur verachtenswerter Ballast. Plotin vertrat diese Überzeugung nicht als erster, er sollte auch nicht der letzte bleiben. Der menschliche Leib sei nichts anderes »als stinkendes Sperma, ein Sack voller Exkremente, ein Futter für die Würmer« 11, schrieb einige Jahrhunderte später Bernhard von Clairvaux. Und bereits im zwanzigsten Jahrhundert sekundiert ihm einer der nihilistischen Helden aus Célines Reise ans Ende der Nacht: »Schließlich sind wir nichts als Säcke voll lauwarmer, halb verfaulter Innereien.« 12 Gregor von Nyssa schreibt, der Leib, der »vergängliche Menschenkörper«, sei nichts anderes als »Tierfell«. »Was wir aber mit dem Tierfell überkommen haben, ist die Begattung, die Empfängnis, die Geburt, der Schmutz, die Mutterbrust, die Nahrung, die Entleerung, das bis zur Reife fortschreitende Wachstum, die Vollkraft, das Alter, die Krankheit, der Tod.« 13 Der Leib ist ein Gewand, denn das Wesen des menschlichen Lebens, die »Seele«, hat mit dem Leib nichts gemein. Daher ist das Gewand auch ein »Totengewand«. »Wer, o Seele, gebot dir, einen Leichnam zu tragen?« 14, fragt denn auch ein anderer Gregor, der von Nazianz. Der Leib ist – aus dieser Perspektive – ein (teuflisches?) Gefängnis für den Teil des Menschen, der sein Menschsein ausmacht und ihn über Würmer, Schweine und wilde Tiere erhebt. Daher ist der Leib – Blut, Schmerz, Sinne – eine Gefahr für mein Menschsein, er bedroht den Sinn meines Lebens und muss folglich streng kontrolliert wer166 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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den. Wenn der Funke der Ewigkeit im Menschen nichts mit flammenden Wangen und erhitztem Blut gemein hat, wenn er »die himmlische [Aphrodite]« ist, die »keinen Antheil an der Materie hat«, wird der Leib (die flammenden Wangen, das pulsierende Blut) »Gewand«, »Leiche«, »Grab«, »Gefängnis«, »Fessel«, »Last«, denn er hindert den Funken daran, sein Feuer zu entfachen. Er ist dann sogar ein gefährlicher »Feind«, eine Quelle der Unruhe, des Chaos, des Krieges und der Gewalt, denn er stört die göttliche Ordnung. Schließlich ist er auch »Vorhang«, »Schatten« und »Nacht«, denn er verschleiert den Blick auf die himmlische Aphrodite, auf die Ewigkeitsperspektive. Wenn dem so ist, können wir nur noch das »Fleisch des Leibes […] abtödten«. 15 Genau dies haben zahlreiche Einsiedler, Mönche, Heilige und solche, die es werden wollten, versucht. Oder gibt es vielleicht noch eine andere Möglichkeit, die himmlische Aphrodite zu erblicken, eine andere Chance auf ewige Liebe? »Man sah an jenen Seligen vor immerwährender Kniebeugung die Knie mit einer dicken Haut überzogen; die Augen sind vom beständigen Weinen wie ausgetrocknet, und tief in die Augenhöhle eingefallen. […] Ihre Wangen waren verwundet, und von der Feuergluth der über selbe herabrollenden Thränengüsse der Buße gleichsam verbrannt. Ihr Angesicht war wie verwelkt, und durch Blässe entstellt; ja es würde zwischen ihnen und den Todten, wenn man sie verglichen hätte, kein Unterschied mehr statt gefunden haben. Voller Schmerz war die Brust und blau, da immerwährende Schläge dieselbe verwundeten, und Blut floß aus den Striemen der Wunden, die die Schläge der Faust auf der Brust wieder aufrissen. […] Wo war hier […] ein reines und vor Frost und Kälte schützendes Kleid? Alles war da zerrissen, voller Schmutz und Ungeziefer. […] Pestgeruch dampfte von den in Eiter und Fäulniß übergegangenen Wunden des Körpers […]. Ihre Gebeine hingen an der Haut, und sie selbst waren wir Heu vertrocknet. […] Bei ihnen hättest du gesehen Zungen, die gleichsam vor Durst brannten, und lechzend wie die der Hunde aus dem Munde hingen. Einige […] trinken nur so viel, als hinreicht, um vor Durst nicht zu sterben. Einige aber werfen, wenn sie nur ein wenig Brod genossen, daß übrige mit der Hand weit weg, […] da sie wie unwürdige Thiere gehandelt hätten.« 16

Der Leib wurde vielfach für einen Hort des Zerfalls und der Zersetzung schon zu Lebzeiten gehalten, was im Falle der Aussätzigen, so glaubte man im Mittelalter, besonders drastische Züge annahm. Der Tod macht uns alle gleich, Aussätzige wie scheinbar Gesunde, indem er das wahre Wesen des Leibes als eine verwesende Leiche offenbart. Für die Erben unseres leiblichen Daseins in der Welt hielt man im 167 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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verwesenden Leib entstehende Würmer. Plinius war der Auffassung, aus der zerfallenden menschlichen Wirbelsäule könne sich eine Schlange entwickeln. Plotin verachtete Porphyrius zufolge seinen Leib so sehr, dass er sich nicht wusch (und schließlich an Diphtherie starb). Als er seine letzten Worte gesprochen hatte, »kroch eine Schlange unter der Bettstatt hindurch, auf der er lag, und schlüpfte in ein Loch in der Wand, und er gab seinen Geist auf«. 17 Im Folgenden sollen die Motive für diese Angst und diese Verachtung des eigenen Leibes näher betrachtet werden. Zuallererst gilt festzuhalten, dass sich der Leib wandelt, »Leib« bezeichnet die Wandelbarkeit des Menschen. Und Wandel wird als Bedrohung empfunden, wenn er als Degeneration, Zerfall und Vergehen aufgefasst wird. Da der Leib einem so verstandenen Wandel unterliegt, ist er ein sichtbares Zeugnis des Verfalls der menschlichen Existenz, der Vergänglichkeit des Menschlichen und letztlich der Sterblichkeit des Menschen. Dagegen ist nach Plotin und vielen weiteren Philosophen unser Menschsein gerade von dem in uns bestimmt, was sich nicht wandelt – die Seele, der vom Staub des Leibes verschüttete Funke, der nur darauf wartet, befreit zu werden und als ewige Flamme aufzulodern. Die Spur der himmlischen Aphrodite. Liebe, ewige Liebe ist so betrachtet der Versuch, den Staub abzuschütteln und die Flamme zu befreien, also zu disziplinieren, zu kontrollieren und abzutöten, was in uns wandelbar, vergänglich und sterblich ist – den Leib. Etwas Ähnliches wollten die ägyptischen Mönche erreichen, die im dritten und vierten Jahrhundert unserer Zeitrechnung »aus der Welt« in die Wüste flohen. Aber ist das nicht auch ein ideales Ziel für die Torturen (oder eine geheime Sehnsucht danach), denen Heerscharen von Joggern und Fitnesscenter-Kunden im zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhundert ihre Körper aussetzen? Auf den ersten Blick scheint es sich um gegensätzliche Phänomene zu handeln. Die einen (die Mönche) verabscheuen scheinbar ihren Körper, während die anderen (die Fitness-Fanatiker) ihn vergöttern. Tatsächlich wollen aber beide dasselbe: den Wandel aufhalten, den Fluss einfrieren, der mein Leib ist (»Fluss ist keine schlechte Bezeichnung für den Leib« 18 – schrieb Origenes). Sie wollen den Leib in einen unendlich harten Diamanten verwandeln, der nicht degeneriert und verfällt, sondern ewig währt. Sie wollen kurzum die Negation der Leiblichkeit

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als Ausdruck des Wandels und somit der Degeneration, der Vergänglichkeit und des Todes. Der Wandel muss aufgehalten werden, denn er bedeutet Degeneration, Zerfall und Tod. Wenn »Leib« unsere Anfälligkeit für Degeneration, Zerfall und Tod bezeichnet, muss er diszipliniert und eingeschränkt werden, am besten eliminiert. Kann ich das selbst tun, indem ich mich in die Wüste flüchte oder mich stundenlang in einem stickigen Studio quäle? Oder muss ich doch auf eine Intervention von außen warten, auf die Posaunen von Jericho, die mich zum Jüngsten Gericht rufen (und von dort aus vielleicht ins Paradies, wo ich einen unwandelbaren »Geistleib« erhalte) oder auf eine revolutionäre wissenschaftliche Erkenntnis? Wer weiß. Wie dem auch sei, das Leben, das wahre Leben hat aus dieser Perspektive nichts mit Vergänglichkeit und Wandel zu tun, es ist in diesem Sinne nicht »leiblich«. Wenn ich wahrhaft leben will, muss ich meinen »Leib« loswerden. Der Leib wandelt sich nicht nur, er differenziert auch. Vor allem unterscheidet er den Mann von der Frau. Auch dieser Umstand lässt den Leib vielen als Last erscheinen, als Gefahr, als Gegenstand der Verachtung. Weshalb? Weshalb ist der Unterschied zwischen Mann und Frau hier so wichtig? Wofür stellt er eine Bedrohung dar? Der Unterschied ist deshalb so bedrohlich und damit wichtig, weil er (wie zahlreiche Autoren nachzuweisen versuchten) besonders augenfällig von der menschlichen Degeneration und Vergänglichkeit zeugt, weil er den unaufhaltsam nahenden Tod verheißt. Der Geschlechtsunterschied zeugt nämlich von der Notwendigkeit der Fortpflanzung, der Notwendigkeit von Nachkommen – eine Notwendigkeit, da Kinder unsere einzige Möglichkeit sind, das eigene Leben über den Tod hinaus zu verlängern. Die einzige Möglichkeit für uns Sterbliche. Wäre der Tod nicht unser Los, müssten wir nicht sterben, wäre das menschliche Leben kein Strom, der durch den Zerfall des Leibes fließt, dann gäbe es auch nicht das Bedürfnis, diesen Strom aufzuhalten. Dann gäbe es auch keine Notwendigkeit, Kinder zu zeugen und all den Verrichtungen nachzugehen, die schließlich zur Zeugung führen. Die Notwendigkeit, von der hier die Rede ist, manifestiert sich (aus dieser Perspektive) im Verlangen, der scheinbar unwiderstehlichen sexuellen Lust. Es ist wohl kein Zufall, dass in frühchristlicher Zeit »Notwendigkeit« als griechischer Euphemismus für das männ-

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liche Geschlechtsteil verwendet wurde. Die Notwendigkeit, die Lust bindet uns an den Zerfall des Leibes, an den Tod. Auf die beiden Liebenden unter dem Apfelbaum, so meint der eine oder andere, fällt auch deshalb unausweichlich der Schatten des Zerfalls, der Vergänglichkeit, des Todes. Vielleicht gab es den Unterschied der Geschlechter früher noch nicht, mutmaßen manche. Vielleicht waren Mann und Frau einst eine Einheit. Platon etwa hat von dieser Einheit und ihrer Spaltung erzählt, aufgrund derer wir auf der Suche nach der fehlenden Hälfte durch die Welt irren. Vielleicht unterschieden sich Mann und Frau einst auch harmonisch voneinander (und bildeten in diesem Sinne eine Einheit); zu einer Zeit, in der der Unterschied nicht durch die Lust belastet war und nicht das Siegel des Todes trug (im Paradies?). Heute jedoch, so wurde vielfach behauptet, seien unsere Geschlechtsorgane Wunden, die noch immer brennen und kaum vernarbt sind, Wunden, die beim Verlust jener (wie auch immer verstandenen) ursprünglichen Einheit entstanden sind, beim Verlust des wahren Lebens. Nach dieser Auffassung zeugen die Organe von unserer Degeneration und unserer Vergänglichkeit und künden von unserem Tod. Bisweilen versuchen wir daher in einem von unbewusster Angst getriebenen Kraftakt zur Überwindung dieses fatalen Unterschiedes, unsere Organe zu verbinden, um auf diese Weise die verlorene Einheit wiederherzustellen. Vergebens. Dies ist nicht der richtige Weg (so das angeführte Argument). So erreichen wir einzig die Erhaltung unserer Art. Die Zeit, die jeden Winkel unseres Lebens degenerieren lässt, fließt trotz allem wie immer in dieselbe Richtung – dem Tode zu. So nimmt es nicht wunder, dass von diesem Standpunkt aus die Verbindung zweier Leiber im Liebesakt »die befleckte Übung [ist], die aus dem furchtbaren Feuer kommt, welches gekommen ist aus dem Fleischlichen von ihnen« 19, wie es in der Sophia Jesu Christi heißt. Was den Unterschied zwischen Mann und Frau hier so gefährlich, so bedrohlich erscheinen lässt, ist offenbar die Lust, die uns unserer Freiheit beraubt, das »furchtbare Feuer«, eine auf Männer und Frauen wirkende Anziehungskraft, die mächtiger ist als der Wille. (Dieser Umstand gestattet einigen Autoren ein milderes Urteil über die körperliche Liebe. Nicht die körperliche Liebe an sich sei verwerflich, argumentiert beispielsweise Augustinus. Erst die Lust beflecke sie. 20 Die Macht der Lust macht aus der Ordnung Chaos, aus der Harmonie eine potenziell gefährliche Differenz. Es gibt also keinen 170 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Grund, warum körperliche Liebe nicht auch im Paradies stattgefunden haben soll, nur eben ohne Lust.) Die Lust entflammen lässt vor allem die Frau (die darüber schrieben, waren Männer: Mönche, Priester, bärtige Theologen und Philosophen). »A woman’s body is fire« 21, lautet eine Sentenz der Wüstenväter, ein Feuer, das es mit allen Mitteln zu löschen gilt. »A brother was tested by temptation in Scetis. The enemy brought into his mind the memory of a beautiful woman which troubled him deeply. By God’s providence it chanced that a visitor came from Egypt and arrived in Scetis. When they met to talk, he told the brother that his wife was dead (she was the woman about whom the monk was tempted). When he heard the news, he put on his cloak at night and went to the place where he had heard she was buried. He dug in the place, and wiped blood from her corpse on his cloak and when he returned he kept it in his cell. When it smelt too bad, he put it in front of him and said to his temptation, ›Look, this is what you desire. You have it now, be content‹. So he punished himself with the smell until his passions died down«. 22

Und Clemens von Alexandrien verweist auf das Ägypterevangelium, in dem es heißt, »der Heiland selbst habe gesagt: ›Ich bin gekommen, den Werken des Weibes ein Ende zu machen‹, des Weibes, das heißt, der Begierde, den Werken, das heißt, dem Entstehen und dem Vergehen.« 23 Die Wüstenväter glaubten, mit der vollständigen sexuellen Enthaltsamkeit ein radikales Mittel gegen den Verfall im Geschlechtsunterschied gefunden zu haben. Ihrem Beispiel sind viele Männer gefolgt (Origenes soll sich selbst entmannt haben, um nie mehr in die Fänge der Versuchung zu geraten), auch viele Frauen. Die Jungfräulichkeit sollte den fatalen Unterschied der Leiber neutralisieren, die Wunde des Geschlechtsverkehrs heilen und somit unserer Körperlichkeit eine andere Bedeutung verleihen, sie von der Lust und damit vom Tod befreien. Vor diesem Hintergrund bedeutete die Jungfräulichkeit den Versuch, zum »reinen«, nicht der Degeneration unterworfenen Leben zurückzukehren, den Versuch der Rückkehr ins Paradies. Es ist gewiss kein Zufall, dass in der biblischen Überlieferung die erste Erwähnung eines sexuellen Kontaktes zwischen Adam und Eva nach ihrer Vertreibung aus dem Paradies zu finden ist (vgl. 1.Mose 4,1). Der jungfräuliche Leib wurde zum Leib in einem neuen Sinne, neu aus der Sicht der zerbrechlichen, schmerzenden, alternden, von

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der Lust gebeutelten, sterblichen und stinkenden Leiber der gewöhnlichen Menschen. »Christina the Astonishing and Lutgard of Aywières exuded healing oil and saliva; Dorothy of Montau swelled with mystical pregnancy in the presence of the Eucharist; Alice of Schaerbeek and Lidwina of Schiedam shed bits of fragrant skin as they lay paralyzed and dying. The bodies that experienced these emanations and breaches were those that were also wonderfully closed; they did not eat or waste away, excrete or menstruate, sicken or stink when death arrived«. 24

Die jungfräulichen Leiber waren Fremdkörper innerhalb des scheinbar unaufhaltsamen und unumkehrbaren Wandlungsprozesses und der damit einhergehenden schrittweisen Degeneration. Als unabhängig von dem potenziell verhängnisvollen Geschlechtsunterschied, der untrennbar mit Vergänglichkeit und Tod verbunden ist, galten die jungfräulichen Leiber (vielen) als Abglanz der Ewigkeit, als Erinnerung an das Paradies und gleichzeitig als Verheißung. Als Zeugnis, dass der Verfall, den die Zeit uns aufzwingt, nicht unüberwindbar ist, dass er abgewendet werden kann. Dass immer Zeit ist für einen Neuanfang und die Rückkehr ins Paradies, das Ausstrecken der Hände gen Himmel. Die Frauen und Männer, denen es gelungen war, die Lust zu besiegen und ihre Körperlichkeit auf die Ewigkeit und den Himmel auszurichten und nicht auf den Tod und die Erde, galten vielen Menschen in der Spätantike, im Mittelalter und noch in der Renaissance als die Krone der Menschheit. Oben habe ich nach dem Widerstand gefragt, den viele alte, aber bis heute unser Weltbild prägende Begriffe und Metaphern der These entgegenbringen, die Ewigkeit sei ein physiologischer Begriff, eine Dimension unseres leiblichen Daseins in der Welt, die sich vor den Geliebten in ihrer Umarmung auftut. Dieser Widerstand ist offensichtlich beträchtlich. Der »Leib« benennt im Denken und der Vorstellungswelt vieler die gefährliche und bedrohliche Wandelbarkeit des menschlichen Lebens. Das Wort steht für Degeneration und Zerfall, für die Krankheit, die das Leben früher oder später mit zunehmenden Schmerzen zum Tode führt. Der »Leib« bezeichnet auch den gefährlichen, bedrohlichen Unterschied zwischen den Menschen, der mit unseren Geschlechtsorganen besiegelt ist. Gefährlich und bedrohlich ist er, weil auch er uns durch sein Symptom an den Tod

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bindet, durch die Lust, welche die ewige Ordnung stört und die ewige Harmonie gefährdet. Wir alle, so sagen viele Heilige und Philosophen, tragen die Aussicht auf das Unwandelbare, auf die ungestörte Einheit und in diesem Sinne auf die Ewigkeit in uns – auf die himmlische Aphrodite. Diese Aussicht ist die Liebe, die ewige Liebe. Der »Leib« ist all das, was uns an den zerstörerischen Wandel und den Unterschied bindet, der die Harmonie untergräbt: Schmerz und Sinne bedrohen diese Aussicht. Also müssen wir dem Leib widerstehen, ihn negieren und überwinden und so den Wandel befrieden, des Unterschieds Herr werden. Wir müssen ihm seine Gefährlichkeit nehmen, ihm den Stachel ziehen, die Bindung an den Tod auflösen. Ewige Liebe ist aus dieser Perspektive die Sehnsucht nach der Flucht vor dem Leib, der Flucht vor der Erde, die Sehnsucht nach dem Himmel, nach dem Paradies. Bernhard von Clairvaux meint: »If we love this unstable and fragile life, which we maintain with a great struggle, […] how much more must we love eternal life: there we endure no struggle, where there is always pleasure, complete happiness, blessed freedom and bliss, where men will be like the angels of God. There will be no sadness there, no distress, no fear, no suffering, no death, but enduring health will always abide there.« 25

Und bei Piero Camporesi ist zu lesen: »The hortus deliciarum, the Garden of Eden […] was a place immune to putrefaction, where neither human beings nor the fruits of the earth suffered degeneration. It was rather like a warm refrigerator or an enchanted embalming laboratory, where matter that would normally perish, survived intact from year to year. Both body and fruit are as though ›fixed‹ in eternity, time stands still for ever.« 26

Die Zeit steht still, Leid, Mangel und Unruhe verschwinden, es gibt keinen Tod, nur unendliche Freude. Als Zeugen für den Widerstand gegen die Körperlichkeit habe ich hauptsächlich Heilige, Mönche und Philosophen des frühen Christentums angeführt, da in ihren ungewöhnlichen, für den heutigen Leser oft schockierenden Worten die Beziehungen von Begriffen und Metaphern bisweilen kräftiger und unmittelbarer ausfallen als in Worten und Assoziationen, die uns näher liegen. Und diese Beziehungen sind nach wie vor lebendig. Nietzsche formulierte sie erneut in seiner Vision vom letzten Menschen, einem Ideal des Menschen, 173 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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das seiner Meinung nach der europäischen Kultur der Moderne als höchstes Ziel eingeschrieben ist. Dieser letzte Mensch (so stellt Nietzsche ihn vor), empfindet keinen Schmerz bzw. nur einen sanften, angenehmen. Er wird nicht krank. Er stirbt auch nicht, und wenn er doch einmal sterben sollte (solange es noch nicht gelungen ist, das Problem Tod zu lösen), so ist das Sterben angenehm. Seine Beziehungen zu anderen Menschen sind ungefährlich, Meinungsverschiedenheiten arten nicht aus (»sonst verdirbt es den Magen« 27), man versöhnt sich schnell wieder. Mit einem Wort: Der letzte Mensch kennt weder Wandel noch Unterschied, da diese schmerzhaft, unbeschränkt und damit gefährlich, tödlich sind. Er mag trainieren, joggen und Geschlechtsverkehr haben – Körperlichkeit ist ihm fremd. Denn Körperlichkeit ist auch Schmerz, Leid, Krankheit und Tod. Denn Freude und Süße des Lebens sind von Schmerz und Tod nicht zu trennen. Wir leben Nietzsche zufolge in einer Kultur, die bei allem scheinbaren Körperkult die Körperlichkeit unseres Daseins in der Welt negiert. In einer Kultur, die ein Arsenal von Techniken und Mitteln zur Beseitigung von Schmerz, Leid, Krankheit und Tod aus unserem Leben ist. Eine Schachtel mit Betäubungs- und Schlafmitteln, mit Narkotika, die uns eine möglichst angenehme Existenz ermöglichen, bis die Techniken und Mittel soweit ausgefeilt sind, dass sie ihren Zweck erfüllen. Dann werden unsere Leiber nicht mehr zerfallen. Wir werden ewig gesund sein. Für jeden Schmerz werden wir die entsprechende Narkose zur Hand haben. Wir werden alle 33 Jahre alt sein und aussehen wie die Gestalten aus den Hochglanzillustrierten. Wie im Paradies. Liebe in diesem Paradies ist pure Pornographie. »Ich sehe sie ganz genau vor mir, die Zukunft … Wie eine Sex-Orgie ohne Ende … Und dazwischen Kinofilme … Ist ja jetzt schon fast so weit …« 28, lässt Céline einen seiner Nihilisten sagen. Wüstenväter, mittelalterliche Heilige, letzte Menschen: »Fühlt ihr nicht an solchen Gestalten […] etwas tief Änigmatisches und Unheimliches? Seht ihr das Schauspiel nicht, das sich hier abspielt, das beständige Blässer-werden […]? Ahnt ihr nicht im Hintergrunde irgendeine lange verborgene Blutaussaugerin, welche mit den Sinnen ihren Anfang macht und zuletzt Knochen und Geklapper übrig behält, übrig läßt? – ich meine Kategorien, Formeln, Worte«. 29

Kategorien, Formeln, Worte, die die Körperlichkeit des menschlichen Daseins in der Welt und damit die Realität der Liebe negieren, die die 174 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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einzige Möglichkeit negieren, wie Ewigkeit für uns Wirklichkeit werden kann.

4 Nun gut, Knochen und Geklapper, leere Worte, vielleicht ist aber doch etwas Wahres daran? Vielleicht lässt sich das Ewige im Menschen, sein wahres Leben – und damit die Liebe, die ewige Liebe, die ihn nach diesem Leben greifen lässt – tatsächlich nicht versöhnen mit »Begattung, Geburt, Mutterbrust, Nahrung, Entleerung, Alter, Krankheit, Tod« 30, kurz: mit dem Leib? Nietzsche formuliert: »Inwieweit verträgt die Wahrheit die Einverleibung? – das ist die Frage, das ist das Experiment.« 31 Sie ist kaum zu ertragen (das Wort »Wahrheit« erhält in diesem Kontext eine neue Bedeutung). In einem Punkt hatten die zitierten Heiligen und Mönche bestimmt Recht: Die Gegenwart der Ewigkeit in meinem Körper ist eine Krankheit, ein Kampf, ein Ringen. Cioran schreibt: »We carry in our blood the poisonous dregs of the absolute, it prevents us from breathing yet we cannot live without it.« 32 Die Liebesflamme brennt und verwundet, so mächtig, dass sie den Liebenden »ganz in Liebe zerfließen läßt« 33, schreibt Johannes vom Kreuz. Es ist wahr, Liebe ist süß, aber diese Süße brennt. Ihre Berührung ist lähmend, so dass die Seele sterben müsste, »wenn Gott nicht der Schwäche ihrer Natur zu Hilfe kommen und sie mir seiner Rechten stützten würde«. 34 Was macht diese Krankheit aus? Julia:

Romeo: Julia: Romeo:

[…] zwanzig Jahre Sind’s bis dahin [bis morgen um neun – KM]. Doch ich vergaß, warum Ich dich zurückgerufen. Laß hier mich stehn, derweil du dich bedenkst. Auf daß du stets hier weilst, werd ich vergessen, Bedenkend, wie mir deine Näh’ so lieb. Auf daß du stets vergessest, werd’ ich weilen, Vergessend, daß ich irgend sonst daheim. 35

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Wenn ich bei dir bin, Julia, wenn ich bei dir bin, Romeo, vergesse ich alles, was war. Was geht es mich jetzt an? Ich vergesse meine und deine Bande, die Verwandtschaften und Zwänge (»Er fragt nicht: ›Dein Gemahl?‹«) – was hat das jetzt für eine Bedeutung? Ich vergesse auch, was sein soll. Ich denke nicht an die Folgen. Ob du schwanger wirst. Ob uns hier jemand entdeckt und es zum Skandal kommt. Ob wir heiraten werden. Ob wir dann lange und glücklich miteinander leben werden. Das alles ist nicht wichtig. Hier ist es zu eng für Hoffnungen, wie es auch keinen Platz für Verpflichtungen gibt und keinen Raum für Zukunft oder Vergangenheit. Es gibt nur das »Jetzt«, was war und was wird, verschwindet. Es ist also nicht wichtig, wer du bist. Es ist nicht wichtig, wer ich bin (»Sie fragt nicht: ›Dein Namen?‹«). Wenn ich bei dir bin, hört die Welt, wie sie ist, auf zu existieren. Es gibt keinen Namen als Antwort auf die Frage: Wer bist du, Liebste? Jetzt, wenn ich bei dir bin, jetzt, wenn ich dich liebe, gibt es weder Vergangenheit noch Zukunft. Die Liebe weist über die Zeit, über die Welt hinaus. Dieses »Jetzt«, der durch die Liebe aus der Zeit gerissene Augenblick, ist für Octavio Paz »unsere Ration Paradies«. 36 Er ist unser Himmel. Romeo:

[…] Hier ist der Himmel, Wo Julia lebt, und jeder Hund und Katze Und kleine Maus, das schlechteste Geschöpf, Lebt hier im Himmel, darf ihr Antlitz sehn; Doch Romeo darf nicht. Mehr Würdigkeit, Mehr Ansehn, mehr gefäll’ge Sitte lebt In Fliegen als in Romeo. Sie dürfen Das Wunderwerk der weißen Hand berühren 37

Kafka notierte über Felice: »Manchmal glaubte ich, daß sie mich verstehe, ohne daß sie es wußte, zum Beispiel als sie mich, damals, als ich mich unerträglich nach ihr sehnte, an der Untergrundbahnstation erwartete, ich in meiner Sucht, nur möglichst rasch zu ihr zu kommen, die ich oben vermutete, an ihr vorüberlaufen wollte und sie mich still an der Hand ergriff.« 38

Ein aus der Zeit gerissener Augenblick, eine flüchtige Berührung: »Das Wenigste gerade, das Leiseste, Leichteste, einer Eidechse Ra176 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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scheln, ein Hauch, ein Husch, ein Augen-Blick« 39, aber kein Moment im Sinne von Zeitabschnitt, Montag, sechs Uhr früh. In dieser flüchtigen Berührung »stürzt die Zeit ein«, ohne dass ein Krümchen, ein Datum von ihr zurückbliebe. Noch einmal Zarathustra: »Was geschah mir: Horch! Flog die Zeit wohl davon? Falle ich nicht? Fiel ich nicht – horch! in den Brunnen der Ewigkeit?« 40 Liebe – und ewige Liebe sogar im Besonderen – ist also nicht der Versuch, den Augenblick, den Sonntagnachmittag im Garten, am Fluss ins Unendliche zu verlängern. Nietzsche schreibt: »Alle Liebe denkt an den Augenblick und die Ewigkeit – aber nie an ›die Länge‹.« 41 Der Liebesakt ist ein Sprung ins Dunkel, ins Unbekannte. Somit ist die Liebe kompromisslos, rücksichtslos, selbstlos. »Ich habe alles vorbehaltlos dahingegeben« 42, schreibt Heloisa über ihre Liebe zu Abaelard. Ich habe alles vorbehaltlos dahingegeben, weil ich alles dir gebe. Die Geste der Darbringung seiner selbst – in einem Augenblick – die Geste der völligen Selbstentleerung, der Zerschlagung all meiner Spielereien, auch der wichtigsten wie Mathematik oder Heimat, diese Geste, die Liebe, entfremdet die Liebenden vollständig von ihrer Umwelt. Natürlich ist das nicht das Ergebnis einer bewussten Entscheidung. Augustinus hatte Recht, das Liebesopfer, die Zerstörung der Zeit durch die Liebe, ist notwendigerweise physisch, materiell, körperlich (lustvoll) und nicht bewusst oder rational. Daher auch die Tendenz, sich in der Umklammerung zweier Leiber auszudrücken: »Lege mich wie ein Siegel auf dein Herz, wie ein Siegel auf deinen Arm« (Hld 8,6). In der Umklammerung der Leiber, in einer Anstrengung von absurder Intensität – ohne jegliche Berücksichtigung von Vernunft, Anstand und Maß – aus sich heraus zu gehen, um gänzlich zum anderen zu werden, um sich restlos mit ihm zu vereinigen. In der unkontrollierbaren Umklammerung der Leiber, zu nah für das Bewusstsein, zu stark für den Willen. In der Umklammerung zweier unendlich angespannter, von kochendem Blut erfüllter Leiber, kopflos, besinnungslos, blind, heraus aus mir, hin zu dir, zur Vereinigung mit dir. Um mich jemandem opfern zu können, muss ich die Bande mit allem, was mir teuer ist, zerreißen. Um mein Herz opfern zu können, muss ich es herausreißen. Liebe ist ein Aus-sich-hinaus-gehen, ist Selbstaufgabe, Selbstopfer, ist Gewalt an allem, was ich bin und was du bist. »Nimm […] deinen einzigen Sohn, den du lieb hast, und gehe hin […] und opfere ihn« (1.Mose 22,2). 177 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Kann eine solche Operation schmerzfrei verlaufen? Die Berührung der Liebe heißt mich, aus mir herauszugehen, aufzugeben, was ich war, mich zu opfern. Damit zerreißt sie das Gewebe meiner und deiner Wirklichkeit. Sie schmerzt. Diese Wunde gibt den Blick auf den Himmel frei, sie hebt uns in den Himmel; für einen Augenblick, der zu kurz ist, als dass er noch etwas außer dir und mir aufnehmen könnte. Sie hebt uns in die Ewigkeit. So verstandene Ewigkeit ist (auch) eine Bürde, ein Fluch. Ein Vulkan, der alle Zwänge, Institutionen und Beziehungen bedroht. Liebe, ewige Liebe ist ihrem Wesen nach subversiv. Sie bringt das Seiende ins Wanken. »Die Liebe vermischt die Erde mit dem Himmel. Das ist die große Subversion« 43, schreibt Octavio Paz. Wenn das so ist, verheißt der Himmel, der sich über den Liebenden auftut, die Ewigkeit, die in der Berührung beider ausbricht, verheißt »unsere Ration Paradies« mitnichten Stille, Rast und Ruhe. Hier geht es nicht um einen Ort, an dem uns »ewige Ruhe« erwartet. Cioran schreibt: »I am bent over under the weight of a curse called eternity, a poison of youth, a balm only for corrupt hearts.« 44 Wahre Ewigkeit – die Ewigkeit, die sich auftut, wenn die Umarmung der Liebenden die Zeit verwirrt – ist eine schmerzhafte Krankheit, die alle Kontinuität, alle Stabilität und Ruhe untergräbt. Damit kann die Ewigkeit auch kein »Ort« sein, an den wir gelangen, wenn wir die »Zeit« verlassen haben. Wir können die Zeit nicht verlassen; man kann nicht aus ihr heraustreten, wie man aus der Küche ins Esszimmer tritt. Auch die unter dem Apfelbaum, auch Romeo und Julia, Heloisa und Abaelard können das nicht. Auch sie sind nicht anderswo. Auch sie sind hier, wenngleich so eng aneinandergebunden, wenngleich allem anderen gegenüber so gleichgültig und so fremd, hier unter dem Apfelbaum, hier im dunklen Turmzimmer. Und gleich geht es wieder los, gleich beginnt es zu regnen, gleich rutsche ich im Schlamm aus, gleich scheißt mir ein Vogel auf den Kopf, kommt der Ehemann zurück. Schon der Schlag des Herzens – »bumm«, und wieder »bumm« und noch einmal »bumm« – erinnert sie daran, dass sie in der Zeit sind, dass er ihr Lehrer ist und sie seine Schülerin, dass sie eine Capulet ist und er ein Montague. Bei Lukrez heißt es: »Wie in dem Traum dem Dürstenden oft das Getränke versagt bleibt, Das ihm die brennende Glut in den Gliedern zu löschen vermöchte,

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Und statt dessen nur Bilder des Wassers ihn täuschend umgaukeln, Daß er beim Trinken inmitten des reißenden Stromes verdurstet, So äfft Venus die Liebenden oft mit den Bildern der Liebe, Da sie sich selbst in der Nähe am Sehn nicht ersättigen können Und kein Stück mit der Hand von dem Reize der Glieder erhaschen, Wenn sie den Leib auch ganz im Liebestaumel durchirren. Endlich wenn Glied sich dem Gliede geeint, um die Blüte der Jugend Auszukosten, im ersten Gefühle der kommenden Wonne, Wenn sich Venus bereitet das weibliche Feld zu besamen, Pressen mit Gier sie die Brust an die Brust; es vermischt sich des Mundes Speichel, sie pressen den Zahn in die Lippen mit keuchendem Atem: Doch umsonst, sie können ja nichts dem Körper entreißen Oder mit ihrem Leib sich ganz in den andern versenken.« 45

Jedes Stückchen Zeit, jede Minute, die die Liebenden an Vergangenheit und Zukunft, an die Zeit bindet, ist wie ein Messer, das sie voneinander trennt. Einem Fragment Hegels über die Liebe zufolge enthält die Pflanze »Salz und Erdtheile«, also ihr fremde Substanzen; daher könne sie verwesen. 46 Ähnlich verhalte es sich mit den Liebenden. Was in ihnen aus der Welt, aus Vergangenheit und Zukunft, aus der Zeit ist, ist wie Sand im Getriebe, in ihrem Streben nach Ewigkeit. Sie werden ihn nicht los, sie sind immer noch sterblich. Sie können nicht alle Unterschiede zwischen sich ausräumen, nicht zu einer vollständigen Einheit werden. Sie können der Zeit nicht durch die Liebe entkommen. Sie sterben immer noch. Zwei Liebende in der Zeit: Romeo und Julia, Abaelard und Heloisa, Jadzia und Krzysztof. Liebend hören sie auf zu sein, wer sie waren, hören sie auf, jemand oder etwas zu sein. Sie geben sich ganz einander hin und verlieren damit ihren Ort und ihr Datum, ihre Last, die sie an ein »Hier« und ein »Jetzt« fesselt. Sie setzen zum Flug an, um durch den leeren Himmel zu schweben, wo kein Oben und Unten, kein Links und kein Rechts zu erkennen sind. Und doch sind sie gleichzeitig auch hier, sie bleiben im Hier und Jetzt. Sie verlassen die Zeit nicht. Sie ist immer noch Julia und er Romeo, das ist Jadzia und das bin ich. Der Flug und die Bindung an den Ort, das »Jetzt« (Montag) und das »Jetzt« (immer und nie), die Zeit und die Ewigkeit sind nicht zwei verschiedene Zustände. Sie sind eine Einheit. Das Herz, das den Rhythmus der Zeit misst, und das Herz, das gleichzeitig Julia zufliegt, ist ein und dasselbe. 179 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Emily Dickinson schrieb: »Was he afraid, or tranquil? Might he know How conscious consciousness could grow, Till love that was, and love too blest to be, Meet – and the junction be Eternity?« 47

Die Ewigkeitskrankheit Liebe ist also keine Krankheit wie jede andere. Wir werden nicht von Zeit zu Zeit von ihr befallen, um dann wieder zum Normalzustand zurückzukehren (oder zu sterben). Anders als eine Grippe oder die Syphilis hinterfragt und untergräbt diese Krankheit die Bedeutung von »Gesundheit« und »Normalität«. Wenn es uns gelänge, den Ewigkeitsvirus aus unserem Blut zu entfernen, wären wir nicht wieder »gesunde«, »normale« Menschen. Wir wären keine Menschen mehr. Der Versuch, über uns hinauszugehen, über jedes »Hier« und »Jetzt«, das Bestreben, sich von der Zeit loszureißen, ist zum Scheitern verurteilt, denn es führt uns nur zum nächsten Augenblick, vom Montag zum Dienstag. Das unablässige Hinterfragen all dessen, was bisher immer »menschlich« war und damit die ständige Bezugnahme auf das »Übermenschliche«, diese Krankheit ist die conditio humana. So sind wir. »[M]eine Seele ist das Lied eines Liebenden« 48, sagt Zarathustra von sich. Nietzsche notiert: »Alle Zeichen des Übermenschlichen erscheinen als Krankheit oder Wahnsinn am Menschen.« 49 Aber wir können ohne das Übermenschliche nicht leben. Wahnsinn und Krankheit – die Ewigkeitskrankheit – sind unser Leben. Irgendwo tief in unserem Gedächtnis und unseren Erwartungen, in unseren Zwängen und Hoffnungen, die uns an das Vergangene und das Kommende binden – in der Tiefe der Zeit – verbirgt sich ein Wurm, der Erreger der Ewigkeitskrankheit, der die Zeit zerfrisst, an ihr nagt, sie zersetzt. Manchmal bricht diese Krankheit unvermittelt und unerwartet aus und verschärft sich: Das ist die Liebe. Nun wissen wir schon etwas mehr über die Süße, diesen Geschmack der Ewigkeit, den die Liebe in den Mündern der Liebenden hinterlässt. Ja, die Liebe ist süß, ihr Fehlen schmeckt bitter. Aber diese Bitternis schmeckt nicht einfach nach Leere, sie ist keine bloße Mangelerscheinung (wie die Bitternis durch Zuckermangel im Organismus). Diese Bitternis ist im Gegenteil ein Symptom jener Ewigkeitskrankheit, das pochende Bewusstsein der nie verheilenden Wunde. 180 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Das Charakteristikum der Liebe, das Ansetzen zum Flug, zur Ewigkeit, ebenso wie die Last, die zum Nest hin zieht, der Sturz in die Zeit ist gleichzeitig das Charakteristikum der conditio humana. Octavio Paz schreibt: »Liebe ist das Wiedererkennen – in der geliebten Person – dieser Gabe des Fliegens, die alle Menschen auszeichnet. Das Mysterium der conditio humana liegt in der Freiheit: sie ist Sturz und sie ist Flug. Darin auch liegt der ungeheure Reiz, den die Liebe auf uns ausübt.« 50 Wenn die Flamme der Liebe alles verbrennt, was ich sonst bin, wenn sie die Zeit verbrennt – wenn ich dir alles gebe, was ich bin –, dann bin ich immer noch ich, derselbe, aber in einem neuen, bislang verborgenen, in Namen, Funktionen und Interessen verstrickten Sinn. Die Liebe legt in mir und dir eine bislang unbekannte und unbenannte Identität frei. So tritt auch die Verfassung zutage, die uns Menschen eint, die an der Ewigkeit krankenden Tiere.

5 Das Kranken an der Ewigkeit ist auch ein Kranken am Tode, eine tödliche Krankheit. »Lieben und Untergehn: das reimt sich seit Ewigkeiten. Wille zur Liebe: das ist, willig auch sein zum Tode.« 51 Die Verbindung von Liebe und Tod wurde vielfach bezeugt. Beispielsweise von Jarosław Iwaszkiewicz: »Ist’s nicht auch Tod, was aus dem Liebeslächeln spricht? Birgt nicht auch jeder Kuss den Keim des Nichts?« 52

Es genügt, das eine und das andere zu betrachten, Liebe und Tod, um ihre Ähnlichkeit festzustellen. Oder genauer: um keinen Unterschied festzustellen. Gadamer beschreibt eine Szene bei Goethe, in der Pandora, die zum ersten Mal einen Liebesakt sieht, auf die Frage »Was ist das?« die Antwort erhält: »Das ist der Tod.« 53 Hier liegt keine bloße Verwechslung vor, beides kann zutreffend sein. Ein Zustand, in dem alles, was ich bisher kannte, alles, worauf ich mich bisher stützte, ins Nichts entschwindet. Bebende Leiber, die mit etwas Übermenschlichem ringen, etwas Fremdem, Neuem, Geheimnisvollen, Begehrten. Konvulsionen, Schreie. Ekstase? Agonie? Wer könnte sie unterscheiden? Wie die Liebe ist auch der Tod eine Macht. Eine radikale, jeg181 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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liches Hindernis überwindende Gewalt am Gewesenen und am Seienden. »[V]on keiner noch so gelinden [Todesart können wir behaupten], daß sie nicht unter Gewalt erfolgt« 54, schreibt Tertullian. Das gleiche gilt für die Liebe. Der Tod ist, anders ausgedrückt, wie die Liebe die Erfahrung einer radikalen Grenze, eines radikalen Unterschieds, die Erfahrung völliger Fremdheit. Augustinus hat, wie gesehen, versucht, diese Fremdheit als Ausbruch aus der Kontrolle und Revolte gegen den menschlichen Willen zu beschreiben. In beiden Fällen, im Tod wie in der körperlichen Liebe, stößt der menschliche Wille an eine Grenze, die er nicht überschreiten kann (jedenfalls nicht ohne Hilfe von außen, würde Augustinus relativieren). Wenn wir lieben, geraten unsere Körper ebenso außer Kontrolle, wie wenn wir sterben. Erektion, Orgasmus und Agonie führen uns diese Tatsache deutlich vor Augen (dieses Beispiel stammt von Augustinus, nicht von mir). Wie der Tod offenbart auch die Liebe die radikale Diskontinuität menschlichen Lebens. In beiden Fällen lasse ich das Vertraute, Bekannte, Eigene zurück und gehe in das »Land, in dem wir nicht geboren sind« 55, in die Fremde. Damit ist der »Wille zur Liebe« auch in dem Sinne identisch mit dem »Willen zum Tode«, dass die Liebe es gestattet, den Tod, das Leben mit dem Tod zu akzeptieren; dass sie die Integration des Todes in mein Leben gestattet. »Liebe ist stark wie der Tod«. Hier geht es mir nicht um die (stoische) Einsicht in die unausweichliche Tatsache, dass das Leben zu Ende geht. Ich meine etwas anderes: dass die Liebe – dieser Kataklysmus des bestehenden Lebens, die Katastrophe, in der alles auseinanderbricht, was ich mir bislang aufgebaut hatte – auch die Akzeptanz der radikalen Diskontinuität bedeutet, die Einsicht in eine nicht anzueignende Fremdheit, in Abschied ohne Hoffnung auf Wiederkehr. Also die Einsicht in ein Leben, dem der Tod eingeschrieben ist. Die Integration des Todes ins Leben, diese Aufgabe, das Ergebnis der Liebe, ist also keine Assimilation. Kein neues Fragment muss eingepasst, kein Loch gestopft, keine Wunde geheilt werden. Kein neues, diesmal allumfassendes Ganzes entsteht hier, keine ungestörte Identität, kein ruhiges, sorgenfreies Leben. Nein, das ist nicht gemeint. Der Tod ist kein »Etwas«, kein Objekt, das wir in ein größeres Ganzes einfügen müssten. Die Integration des Todes stört die Identität des Lebens. Sie zeigt, dass es sich nicht zu einem »Ganzen« formen lässt, 182 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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dass es nicht »Dies« oder »Jenes« sein kann. Sie fördert seinen diskontinuierlichen, (für das Unbekannte und Fremde) offenen und damit schmerzhaften Charakter zutage. Die Liebe bewirkt, dass der Tod »ins lebendige [schlüpft] / wie das messer ins fleisch«. 56

6 Dort, unter dem Apfelbaum, wenn ich liebe, findet der Tod seinen Platz im Leben nicht. Er ist nicht mehr Geißel, Damoklesschwert, Drohung von außen, er verliert seinen Stachel. Denn dort, unter dem Apfelbaum, finden er und sie – und damit das Leben – die Unschuld wieder. In diesem Sinne ist die Liebe die Rückkehr ins Paradies. Dort waren Adam und Eva, so erzählt es das 1. Buch Mose, noch unschuldig. Die Zeit war noch kein schmerzliches, unumkehrbares Vergehen, sie führte noch nicht zum Tod. Es gab die Zeit nicht, die wir kennen. Es gab also auch keinen Raum für Schuld oder Scham. Die Vertreibung aus dem Paradies bedeutete den Fall in die Zeit, in der sich Vergangenheit von Zukunft unterscheidet, in die Zeit, die vom Tod begrenzt wird. Damit wurde die Erinnerung an das Vergangene zu einer immer größeren Last, die Unschuld war dahin. Die Liebe, von der ich spreche, die ewige Liebe, stellt die ursprünglichen Gegebenheiten wieder her, von denen der Mythos erzählt. Die das Leben verzehrende Zeit verschwindet und mit ihr der Unterschied zwischen »es war« und »es wird sein«. Die Vergangenheit ist keine Last mehr (was schert mich die Welt?), für Schuld und Scham ist kein Raum mehr. Romeo und Julia, Abaelard und Heloisa, Jadzia und ich sind wieder unschuldig und schamlos wie Adam und Eva im Paradies. Aber nicht ganz. Ewigkeit und Zeit, Unschuld und Schuld (von denen das 1. Buch Mose als von aufeinander folgenden Ereignissen erzählt) sind hier in uns, in unserer Liebe, untrennbar miteinander verbunden, sie sind zwei Seiten derselben Medaille. Selbst unter dem Apfelbaum. Kafka schreibt: »Schuld und Unschuld wie zwei unlösbar ineinander verschränkte Hände, man müßte sie durchschneiden durch Fleisch, Blut und Knochen.« 57 Unschuld ist für uns nur möglich innerhalb des Zeit-Horizonts,

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nur als Versuch, die Zeit zu zerstören, sich ihr zu entreißen, abzuheben. Ein vergeblicher Versuch, wie wir wissen. Daher der Schmerz und die Scham, die sich wiedereinstellen. Keine Liebesscham mehr – was wären das für Liebende, die sich voreinander schämten? »Ein reines Gemüt schämt sich der Liebe nicht, es schämt sich aber, daß diese nicht vollkommen ist, sie wirft es sich vor, daß noch eine Macht, ein Feindliches ist, das der Vollendung Hindernisse macht« 58, wie Hegel schreibt. Die Scham, dass ich auch unter dem Apfelbaum mit dir immer noch Krzysztof bin und du Jadzia, dass wir geboren sind und sterben werden. Dass die Liebe uns nicht ganz verbrennt, dass etwas von uns zurückbleibt – die Asche der Welt. Wenn das so ist, dann ist die Liebe der Versuch, zu den im Alltag verschütteten Quellen unserer Unschuld zurückzukehren. Sie sind da irgendwo, immer, solange wir leben, ganz gleich, was wir verbrochen haben, wie schwer der Stein ist, mit dem die Zeit diese Quellen zugedeckt hat. Sie gluckern »[d]ort, am Grunde des menschlichen Tiegels, in jenem paradoxen Bereich, wo die Verschmelzung zweier Wesen, die einander wirklich erwählt haben, allen Dingen die verlorenen Farben der Zeitenfrühe unter andren Sonnen zurückerstattet«. 59 Nur sollte bitte nicht vergessen werden, dass diese Unschuld und dieses Paradies hier sind, nirgends sonst. Und dass die »andren Sonnen« brennen, dass aus den verborgenen Quellen eine alles Bestehende zerstörende Lava fließt, dass die Unschuld eine dem Leben der alltäglichen Zwänge feindliche Kraft ist. Dass die Ewigkeit eine Krankheit ist. Dass die Liebe, auch die glücklichste, tragisch ist. Liebend sind wir unschuldig – wie Kinder. Wir kehren zur verlorenen Unschuld zurück. Der Mythos des Paradieses verflicht sich hier mit einem anderen, nicht weniger alten Mythos, dem des Kindes. In alten Mythologien, so Kerényi, wurde das göttliche Universum bei seinem ersten Auftreten als »göttliches Kind« eingeführt. Der häufigste Name für dieses Kind war »Eros«. So nimmt es nicht wunder, dass der nächste Verwandte des göttlichen Kindes seinerseits ein Gott ist, Dionysos. Noch einmal Kerényi: »Anders verhält sich Dionysos zum Urkind. Er steht ihm so nahe, daß er […] der nächst-tiefste Ton nach jenem Grundton ist.« 60 Die Verbindung von Liebe und Rückkehr zur Unschuld, zur Kindheit ist also seit Langem bekannt. Das Bild des Eros-Kindes führt uns noch einmal deutlich vor Augen, dass die Rückkehr zur Unschuld – die Liebe – kein Programm 184 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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sein kann, weder ein intellektuelles, noch ein moralisches. Es geht nicht darum und kann nicht darum gehen, von einem Zustand (Ignoranz, Sünde) in einen anderen (Wissen, Seligkeit) überzuwechseln. Gewiss, die Liebe ist der Versuch, sich von Vergangenheit und Zukunft zu lösen und eine Distanz zum Gewesenen und Kommenden herzustellen, aber wem gelingt dies? Wer vermag sich vom Gewesenen zu lösen, vom Schmerz oder der Freude darüber, dass jener Moment nicht wiederkehrt, von der Hoffnung, dass es anders oder genau so weitergeht? Kann man das überhaupt wollen, kann man sich diesen Zustand herbeiwünschen? Was kann hier Gegenstand des Wissens sein? Nein, die Rückkehr zur Unschuld ist kein Wissenszweck, kein Aktionsprogramm. Wir alle, auch die Weisen und die Guten, sind »Suchende und Leidende« und können uns deshalb nicht von der Last der Zeit befreien und uns zum Flug aufschwingen. Erst »die Leichtigkeit des Kindes, sein leichtes Vergessen, seine Zeitlosigkeit, sein Aufgehen im Da des Augenblicks, sein Spielen, […] das sich ganz in sich selbst erfüllt« 61, führt uns die Unschuld vor Augen, die hier gemeint ist. Das Kind, das spielende Kind ist die Metapher der völligen Loslösung von der Zeit und damit der Befreiung von allen Zwängen und Erwartungen, von Schmerz und Mitleid. Nietzsche bezeichnet diese Befreiung als amor fati. Erst wenn er uns zu himmlischen Kindern verwandelt und so (von aller Schuld) erlöst, von der Zeit befreit haben wird, wird Zarathustra seine Mission erfüllt haben. Diese Befreiung ist der Ort, an dem die »strömende Leidenschaft […] stille geworden [ist]«. 62 Wenn ich in mir, in jedem beliebigen Augenblick meines Lebens, das spielende Kind gefunden haben werde. Wenn ich, anders ausgedrückt, verstanden haben werde, dass das von mir gelebte Leben mehr ist als irgendein Objekt des Wissens, mehr als alle Moral.

7 Die Liebe, so habe ich oben geschrieben, ist die Verschärfung der Krankheit, die den Menschen definiert und ausmacht. Einer Krankheit des Herzens, des Blutes und des Leibes. Einer schmerzhaften, aber auch süßen Krankheit. Des Krankens an der Ewigkeit. Am Tod. Und damit gleichzeitig ein Entzündungszustand, der unser leib-

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liches Dasein in der Welt definiert. Der demonstriert, was das ist, der »Leib«. Versuchen wir nun zusammenzufassen, was wir nach der bisherigen Analyse über den »Leib« sagen können. »Leib« bezeichnet vor allem die Wandelbarkeit des menschlichen Lebens, seine Vergänglichkeit, seine Anfälligkeit für Leiden, unsere Sterblichkeit. Die Haare fallen aus, die Haut wirft Falten, die Muskeln erschlaffen, bald schmerzt es hier, bald dort, immer häufiger; bis schließlich alles zerfällt und der Krzysztof Michalski, den ihr kennt, dieser »Leib«, nicht mehr ist. Aber das ist noch nicht alles. »Leib« meint auch noch etwas anderes. Unser leibliches Dasein in der Welt hat noch eine andere Seite, die von der ersten nicht zu trennen ist. »Wandelbarkeit« muss nicht nur Zerfall, Degeneration und Vergänglichkeit bedeuten. Sie kann auch die Fähigkeit zur Transformation, zur Umgestaltung sein. Schon früher hat uns das Christentum, wie oben dargelegt, diesen Gedanken nahegebracht. Die Leiber der Einsiedler, Heiligen und Jungfrauen wurden einer Disziplin unterworfen, die sie weg von Verfall und Tod führen sollte, himmelwärts. Cioran schreibt: »Sainthood is transfigured physiology. Every bodily function becomes a movement towards the sky.« 63 Ähnlich Nietzsche: Was der Körper »am liebsten« tut, »über sich hinaus zu schaffen.« 64 Ziel dieser Überschreitung ist nicht ein höheres Entwicklungsstadium. Die Transformation, die der Leib ist, verfolgt keinen bestimmten Zweck. Sie ist grenzenlos. Mit jedem neuen Schritt wird alles, was ich bin, jede bisherige Form des Werdens, in Frage gestellt. Unsere Leiber, so Nietzsche, sind letztlich eine Brücke hin zu dem, was über allen menschlichen Sinn hinausgeht, was gänzlich unbekannt ist, völlig fremd; hin zum verborgenen, in uns schlummernden Übermenschen. In der Liebe – in dem, was sich zwischen Mann und Frau unter dem Apfelbaum ereignet – tritt diese Bedeutung von »Leib« zutage. Denn eben im Lieben gehen wir alle über uns hinaus und stürzen uns ins Dunkel, ungeachtet des Risikos, ohne jede Sicherung … Als Begriff einer radikalen Transformation des Leibes muss zweifelsohne der Begriff der Auferstehung gelten. Wir sind bereits im Zusammenhang mit dem Begriff des Wandels als Degeneration einer seiner Erscheinungsformen begegnet: Auferstehung als ein Aufhalten dieses Wandels, also der Degeneration, des Zerfalls, des Vergehens. Eine Art perfekter Einbalsamierung des Leibes (der im Bedarfsfall mehrere gelungene Eingriffe der plastischen Chirurgie 186 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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und der Austausch mehrerer Organe vorausgehen). Im Ergebnis einer so verstandenen Auferstehung soll der Leib der destruktiven Macht der Zeit entzogen werden. Er soll wie ein unendlich harter, gänzlich durchsichtiger, unzerstörbarer Diamant werden. Aber in welchem Sinne könnte ein solcher Diamant noch als »Leib« bezeichnet werden? Kann wirklich noch von »leiblichem« Dasein in der Welt die Rede sein, wenn mein Leben kein Vergehen und den damit einhergehenden Schmerz mehr kennt? Auferstehung kann jedoch auch noch anders verstanden werden. Nicht so sehr als Verlängerung des (leicht korrigierten) bestehenden Lebens, sondern als zweite Geburt, Geburt zu einem neuen Leben. Lag der christlichen Neuinterpretation der platonischen Idee von der Unsterblichkeit der Seele nicht eben dieses Verständnis zugrunde? Geburt zu einem neuen Leben, die D. H. Lawrence so beschreibt: »the fall into the future, like a waterfall that tumbles over the edge of the known world into the unknown«. 65 Wo verläuft diese Grenze, die Grenze der bekannten Welt? Wo ist diese unbekannte Welt, dieses »Land, in dem wir nicht geboren sind«? Natürlich nicht an einem konkreten Ort. In diesem Sinne: nirgendwo. Und gleichzeitig: in jedem Augenblick meines Lebens, da ja jedem Augenblick meines Lebens die unausweichliche Diskontinuität innewohnt, der Bezug zur radikalen Fremdheit, zum absolut Unbekannten, zum (so verstandenen) Geheimnis. Da ja in jedem Augenblick meines Lebens die Wunde klafft, die uns empfänglich macht für die Ewigkeit. Wenn dem so ist, dann ist auch jeder Augenblick meines Lebens eine Auferstehung, eine Geburt zu neuem Leben, zu einem Leben mit bislang, im »vorigen« Leben, ungeahnten Möglichkeiten. Wo wäre das besser zu sehen, als in der Anspannung Romeos und Julias beim (vergeblichen) Versuch, sich dem anderen zu opfern und so jene unmögliche Einheit zu erreichen, die ihn und sie übersteigt, ohne sie zu vernichten; beim Versuch, das Neue, Fremde, sonderbar Süße zu erhaschen, das den Atem raubt, den Mund verschließt, die Worte benimmt? Die Liebe ist eine neue Geburt. Hier, in dieser Liebe, werfen Romeo und Julia den ganzen Ballast ihrer Vergangenheit, ihrer Schuld, ihrer Zwänge und allen Zierrats ab und werden wieder unschuldig, nackt, werden wieder zu Kindern. In diesem Sinne ist die Liebe der »Ort« (der Augenblick, wenngleich nicht Sekunde, Minute oder Monat) der Auferstehung, der »Ort« der Unsterblichkeit, der sich verborgen hält und alles sprengt. 187 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Unsere »Körperlichkeit«, die im Lieben zutage tritt, ist also Ausdruck des unendlichen Schöpfertums menschlichen Lebens. Ausdruck der Tatsache, dass unser Leben in jedem Augenblick bereit ist, neues hervorzubringen, das es übersteigt, das über es hinausgeht, das nicht erkannt werden kann. Der Leib ist mithin nicht nur Ausdruck der Vergänglichkeit unseres Lebens, er ist auch ein deutlich sichtbares Zeichen der neuen Geburt und in diesem Sinne der Unsterblichkeit. Der Leib ist kein zerfallendes Ding, in das wir eingeschlossen wären. Er ist das Bestreben, über sich selbst, über das Seiende hinauszugehen. Er ist die – bis zur Schmerzgrenze – nach der Ewigkeit ausgestreckte Hand. In diesem Kontext erhält auch der Begriff des Schmerzes und des Leidens eine neue Bedeutung: Die Schmerzen des menschlichen Leibes sind nicht allein Schmerzen des Zerfalls, der Zerstörung und des Abschieds. Sie sind auch Geburtswehen, Schmerzen der Hervorbringung von Neuem.

8 Ist dieses Verständnis von »Leib« nicht trotz allem dem christlichen verwandt? Die im Neuen Testament beschriebene Geschichte vom Leben und Tod Christi will uns erzählen, wer wir sind; sie ist die Geschichte der conditio humana. Die conditio humana muss ohne Gott unverständlich bleiben, lautet die Botschaft. Um uns zu helfen, sie zu verstehen, ist Gott Fleisch geworden, Leib. »Fühlet mich an und sehet; denn ein Geist hat nicht Fleisch und Bein, wie ihr sehet, daß ich habe« (Lk 24,39), spricht der auferstandene Jesus zu den Jüngern. Der Leib verbindet den leiblichen Menschen mit dem Fleisch gewordenen Gott. Die Menschwerdung Gottes ist, so steht im Neuen Testament zu lesen, vor allem eine Geschichte über die Liebe, die uns alles Seiende aufgeben heißt. Sie ist gleichzeitig die Geschichte eines Leidens, das größer ist als alle Schuld, eines Schmerzes, der nicht aus der eigenen Vergangenheit herrührt und der eine neue Welt erschließt. Sie ist schließlich eine Geschichte über den Tod als einen Schritt ins Dunkel und einen Neubeginn, über den Tod, der vom Leben akzeptiert und ins Leben integriert ist; über den Tod, der zeigt, was das Leben wirk188 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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lich ist: »[Wir] tragen allezeit das Sterben des Herrn Jesu an unserm Leibe, auf daß auch das Leben des Herrn Jesu an unserm Leibe offenbar werde.« (2.Kor 4,10) Die Geschichte der Menschwerdung Gottes ist die Geschichte des Kindes, das leidet, aber keine Schuld trägt; das liebt, dem aber alles fremd ist, was unser ist; das stirbt, aber auch von den Toten zu neuem Leben aufersteht. Die Geschichte über das Kind in uns. In einem Gedicht von Tadeusz Różewicz heißt es: »ich denke an den kleinen gott der blutete in den weißen tüchern der kindheit an den stachel der unsere augen münder zerreißt jetzt und in der stunde des todes« 66

9 Damit ist mein Dasein in der Welt, ist mein Leben unwiderruflich leiblich; der »Leib« ist Zerfall und Tod, aber gleichzeitig auch Streben, er ist die bis zur Schmerzgrenze nach dem Unbekannten, Neuen, Fremden, nach der Ewigkeit ausgestreckte Hand. Daher ist die Liebe – die Vereinigung zweier Leiber in Ekstase und Schmerz – Ausdruck der conditio humana. Hier wird offenbar, wer wir sind. Menschliches Leben als schmerzliche Transformation, Leben, das das Neue, Unbekannte in sich trägt – kann es da verwundern, dass in meinem Text die nächste metaphorische Figur (wieder) auftaucht, die Frau? Sobald der »Leib« im Mittelpunkt des Interesses steht, tritt auch die »Frau« auf. Die Körperlichkeit des menschlichen Lebens kommt zum Ausdruck in dem in jedem Augenblick präsenten, untergründigen Schmerz. Denn in jedem Augenblick meines Lebens, in jeder Geste, jeder Bewegung, wird das Kind geboren, mit dem die Welt von Neuem beginnt. Jeder Augenblick meines Lebens ist der Geburtsort von etwas, das sich nicht mit dem Seienden mischt, und das schmerzt. Diese Schmerzen sind von besonderer Art. Sie entstammen 189 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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nicht der Vergangenheit, gehen nicht auf alte Schuld zurück. Sie sind unverschuldet, lassen sich nicht begründen. Es sind Geburtswehen. Das auf diese Weise schmerzhafte Leben ist eine »Frau«, eine Gebärerin. Unser Leben ist auf radikale Weise schöpferisch. In allem, was ich tue, kann jedes Mal eine neue Welt entstehen. »Aber Leiden ist nöthig für den Schaffenden. Leiden ist sich-Verwandeln, in jedem Geborenwerden ist ein Sterben. Man muß nicht nur das Kind, sondern auch die Gebärerin sein: als der Schaffende.« 67 An anderer Stelle schreibt Nietzsche über diese Geburtswehen: »[D]er grosse Schmerz […] zwingt uns […], in unsre letzte Tiefe zu steigen und alles Vertrauen […] von uns zu thun. Ich zweifle, ob ein solcher Schmerz ›verbessert‹ –; aber ich weiss, dass er uns vertieft.« 68 Infolge dieses Schmerzes ist »[d]as Vertrauen zum Leben dahin: das Leben selbst wurde zum Problem. – Möge man ja nicht glauben, dass Einer damit nothwendig zum Düsterling geworden sei! Selbst die Liebe zum Leben ist noch möglich, – nur liebt man anders. Es ist die Liebe zu einem Weibe, das uns Zweifel macht …« 69 »Ja, das Leben ist ein Weib!« 70, schreibt Nietzsche. »Das Leben ist ein Weib«, das gilt auch in dem Sinne, dass es uns zweifeln macht. Dass es seinem Wesen nach problematisch ist, ein Geheimnis, das sich nicht ergründen lässt. Dass wir ihm nicht trauen können, da jeder neue Augenblick bewirken kann, dass alles Bisherige sein Gewicht, seine Bedeutung und seine Realität einbüßt. Dass es – wie eine Frau – verführerisch, launisch und unzuverlässig ist. Ein Schein, auf den gleich der nächste folgt. Ein Labyrinth ohne Ausgang. Die Wahrheit über das Leben entwischt uns andauernd, sie verbirgt sich hinter einer endlosen Folge von Masken, gaukelt uns etwas vor. Ja, dieses Entschwinden, die Masken, das Gaukelspiel ist erst das Leben. Es ist die »Wahrheit« des Lebens. Und die Wahrheit ist weiblich. »Wir glauben nicht mehr daran, dass Wahrheit noch Wahrheit bleibt, wenn man ihr den Schleier abzieht […]. Heute gilt es uns als eine Sache der Schicklichkeit, dass man nicht Alles nackt sehn, nicht bei Allem dabei sein, nicht Alles verstehn und ›wissen‹ wolle. ›Ist es wahr, dass der liebe Gott überall zugegen ist?‹ fragte ein kleines Mädchen seine Mutter: ›aber ich finde das unanständig‹ – ein Wink für Philosophen! Man sollte die Scham besser in Ehren halten […]. Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib […]?« 71

In der Bibel wird auch die Weisheit als weibliche Figur dargestellt (vgl. Spr 9,1–5; 1,20 ff; 8,1 ff). 190 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Das Leben ist leiblich – durch den charakteristischen Schmerz, die Geburtswehen der werdenden Mutter. Ein Leib, der von Wehen geschüttelt Neues hervorbringt. Ein Leib, der weit über sich hinausgeht, erfüllt von unstillbarer Sehnsucht und Verlangen. Dieser Schmerz, diese Wehen, diese Sehnsucht untergräbt jegliche Sicherheit, bringt alles Vertrauen ins Wanken und stellt alles Seiende in Frage. So wird die Welt vielfältig, unendlich. Sie zerfällt in eine Unzahl von Farben, Schattierungen, Bedeutungen, Fragmenten, die sich zu keiner Einheit fügen lassen. Das Leben ist wie eine Frau: launisch, verführerisch, Neues verheißend. Liebe ist Leben par excellence. Die Wanderprediger, Einsiedler und mittelalterlichen Heiligen, von denen oben die Rede war, hatten also nicht ganz Unrecht. Es stimmt schon: Wenn das Leben etwas mit dem Leib gemein hat, dann kommt der Frau eine tragende Rolle zu. Es stimmt: »A woman’s body is fire« 72. Dieses Feuer verführt dazu, in es hineinzuspringen und alles Eigene zu verbrennen, sich selbst zu verbrennen. Es stimmt, die Werke der Frau sind Entstehen und Vergehen. 73 Doch dieses Feuer, diese Versuchung, diese Werke sind das Leben selbst. Wenn Plotin der Liebe den Namen »Aphrodite« gab, war das also keine schlechte Wahl. Die himmlische Aphrodite – die Liebe, in der das Leben, wie es ist, zutage tritt, der Leib, der unter reißenden Schmerzen etwas gebiert, das über ihn hinausgeht, ihn übersteigt, zerstört, verletzt. Die Ewigkeit.

10 In der Liebe tritt das Leben, wie es ist, zutage, es entzieht sich aber den Begriffen. Es lässt sich nicht »erkennen«, nicht »wissen«. Was bedeutet das für das Wissen, für die Begriffe, die wir vom Leben und von uns selbst haben? Zunächst sei klargestellt, dass ich hier nicht von zwei Herangehensweisen an das Wesen des Lebens spreche, vom »Gefühl« (Liebe) einerseits und dem »Verstand« (Begriffe) andererseits. Ich rufe nicht dazu auf, zu lieben und darüber die Augen zu verschließen. Vielmehr liegt mir daran, mit der Diskussion des Begriffs der ewigen Liebe zum Verständnis der Natur der Begriffe selbst beizutragen. Es geht mir nicht um Verzicht auf den Verstand zugunsten der Liebe, 191 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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sondern um einen Verstandesbegriff, der ihr gerecht wird. Um einen Begriff der Rationalität, der Liebe als Quelle versteht und nicht als Widerpart. Welche Schlüsse lassen sich nun aus der Überzeugung ziehen, die Liebe sei Ausdruck der chronischen Krankheit der Welt, Ausdruck des Menschen, der Ewigkeitskrankheit? »Die Erde, sagte er [d. i. Zarathustra – KM], hat eine Haut; und diese Haut hat Krankheiten. Eine dieser Krankheiten heisst […]: ›Mensch.‹« 74 Der Mensch ist die Krankheit an der Ewigkeit, das heißt, die Quelle des Menschseins liegt in einem eigenartigen Schmerz. Unser Menschsein konstituiert sich und entsteht im Leiden, im Schmerz, dem Schmerz des Vergehens und Gebärens. Wenn dem so ist, dann kommt diesem Schmerz die Rolle des höchsten Tribunals zu, vor dem unsere Begriffe ihr Gewicht und ihre Bedeutung bezeugen müssen, ihre Rechtskraft für den Menschen. Dieser Schmerz ist das letzte Kriterium für die Wahrheit unserer Begriffe. Denn »nur der körperliche Schmerz«, so Kafka, ist »die eigentliche, unwidersprechliche, durch nichts außerhalb […] gestörte Wahrheit.« 75 Liebe, wahre Liebe, kann nicht schmerzfrei sein. Nietzsche schreibt: »Wir sind keine denkenden Frösche, keine Objektivir- und Registrir-Apparate mit kalt gestellten Eingeweiden, – wir müssen beständig unsre Gedanken aus unsrem Schmerz gebären und mütterlich ihnen Alles mitgeben, was wir von Blut, Herz, Feuer, Lust, Leidenschaft, Qual […] in uns haben.« 76

Unser Schmerz bestimmt also unsere Begriffe, der Schmerz, aus dem sie hervorgehen. Das Leiden – der Leib – ist Voraussetzung für die Möglichkeit unseres Wissens. Unsere Begriffe tragen unser Blut in sich, unsere Lust, unsere Leidenschaft. Sie leben. Sie strahlen noch – und zwar immer, wenngleich bisweilen kaum spürbar – die Wärme des Feuers aus, der Liebesflamme, die in der Tiefe unseres Lebens lodert. Origenes schrieb, unsere Fähigkeit zur Orientierung inmitten von Dingen und Menschen, unsere Identität (die »Seele«), sei das Ergebnis der Erkaltung des ursprünglichen Liebesfeuers. Wissen – erkaltete Liebe. Wenn dem so ist, werden unsere (noch warmen) Begriffe niemals fertig, nie endgültig. Sie formieren sich nie zu einem Muster, dass erklären könnte, wie es ist. Sie bleiben stets fließend, zerbrechlich, vorläufig. 192 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Wenn unsere Begriffe unserem Schmerz entstammen, haben Wissen und Erkennen kein Ende. Nietzsche schreibt: »Erkennen ist ein Begehren und Durst: Erkennen ist ein Zeugen. […] Als ein Schaffen ist alles Erkennen ein Nicht-erkennen. Das Durch-schauen wäre der Tod, der Ekel, das Böse.« 77 Dann aber brauchen wir uns nicht einzureden, dass wir mithilfe irgendwelcher Begriffe den Schmerz aus unserem Leben verbannen könnten, dass sie uns von der Ewigkeitskrankheit kurieren könnten. Sie tun es nicht. Sie sind ja selbst von dieser Krankheit gezeichnet. Wissen und Erkennen sind keine Schmerzmittel. Es gibt keinen wahren Trost. Keine Logik, keine Dialektik vermag diesen Schmerz zu stillen. Nur die Liebe. Ohne Liebe lässt sich nicht leben, nicht verstehen. Die Begriffe allein sind nicht ausreichend. Wir entkommen ihnen nicht, wie wir auch der Zeit nicht entkommen, deren Ausdruck sie sind. Aber es gibt auch noch diese Geste, die mich ausmacht, die den Sinn meines »Ichs« ausmacht, jenseits all dessen, was man über mich sagen kann, jenseits all meiner Charakterzüge, sozialen Rollen und unveränderlichen Kennzeichen. Die Geste des Hinausgehens über alles, über mich selbst, die Aufgabe meiner selbst, wie ich bisher war. Ohne diese Geste muss mein Leben unbegreiflich bleiben. Ohne die Geste, die sich in der Liebe äußert, wenn ich dir gegenüberstehe, nackt, nicht mehr Krzysztof, wenn ich dir gegenüberstehe, ich, der ich du bin, ich in dem süßen, allem anderen gegenüber gleichgültigen Bestreben, du zu sein.

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IX Das unstillbare Verlangen nach den nächsten Augenblicken. Von der ewigen Wiederkunft des Gleichen 1 Jener Abend im Żeromski-Park: Joasia und ich spielten Verstecken, ich lag auf der feuchten Erde im Gebüsch und wollte nicht rauskommen. Joasia lief lange die Wege ab – es dämmerte bereits – und rief: »Krzyś! Krzyś! Wo bist du?« Ich erinnere mich ganz genau, aber das war einmal, es ist nicht mehr. Es wird auch nie mehr sein. Es kehrt nicht wieder. Oder Vaters Hände, so bestimmt, so sicher. Ich hielt sie ganz fest, als ich im Kreis durch die Luft wirbelte wie auf einem Karussell. Als wollte ich zu diesem Augenblick zurückkehren, mir noch mehr von ihm einprägen – sein Gesicht, seine Worte, vielleicht unser Lachen? Aber ich werde nicht dahin zurückkehren. Ich bekomme keine zweite Chance. Und ich werde mich an nichts anderes erinnern können, »’s wird nie wieder sein wie im vergangnen Sommer«. 1 Menschen, Ereignisse, Dinge entziehen sich unserem Zugriff, entgleiten uns endgültig, unwiederbringlich, sie vergehen, werden vergangen sein, Vergangenheit. Wir können nicht zu ihnen zurück, etwas hindert uns daran. Alle anderen Barrieren, Mauern lassen sich einreißen, mit dem Bulldozer, dem Kopf, im Traum. Diese nicht. Die Vergangenheit kehrt nicht wieder. Der Fluss der Zeit fließt nur in eine Richtung. Gibt es einen handfesteren Beweis dafür als den Tod? Nietzsche schreibt in der Fröhlichen Wissenschaft: »Es macht mir ein melancholisches Glück, mitten in diesem Gewirr der Gässchen, der Bedürfnisse, der Stimmen zu leben: wieviel Geniessen, Ungeduld, Begehren, wieviel durstiges Leben und Trunkenheit des Lebens kommt da jeden Augenblick an den Tag! Und doch wird es für alle diese Lärmenden, Lebenden, Lebensdurstigen bald so stille sein! Wie steht hinter jedem sein Schatten, sein dunkler Weggefährte! Es ist immer wie im letzten Augenblicke vor der Abfahrt eines Auswandererschiffes: man hat einander

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mehr zu sagen als je, die Stunde drängt, der Ozean und sein ödes Schweigen wartet ungeduldig hinter alle dem Lärme – so begierig, so sicher seiner Beute. Und Alle, Alle meinen, das Bisher sei Nichts oder Wenig, die nahe Zukunft sei Alles: und daher diese Hast, dies Geschrei, dieses Sich-Uebertäuben und Sich-Uebervortheilen! Jeder will der Erste in dieser Zukunft sein, – und doch ist Tod und Todtenstille das einzig Sichere und das Allen Gemeinsame dieser Zukunft!« 2

Und bei Emily Dickinson ist zu lesen: »Wir wissen nie beim Fortgehn daß wir gehen – Ein Scherz – und zu die Tür – Das Fatum – folgt – schiebt hinter uns den Riegel – Wir sprechen nicht mehr vor –« 3

Wir alle werden einst dorthin gehen, wo es keine Wiederkehr gibt. Wir alle werden einst unwiederbringliche, nicht mehr zu ändernde Vergangenheit sein. Etwas, das nicht mehr ist.

2 Oder vielleicht doch nicht? Vielleicht ist die unaufhaltsame Abfolge auf das Nichts zustrebender Augenblicke nur eine Illusion, vielleicht ist es nicht die endgültige Wirklichkeit? Wie gern wollten wir das glauben! Das Vergehen, das definitive Vergehen schmerzt so sehr (so gern wollten wir, wenngleich vielleicht nicht alle und nicht immer, den bereits hinter uns liegenden Augenblicken noch einen weiteren hinzufügen, und noch einen, und noch einen …), dass wir die Worte von Propheten, Philosophen oder Dichtern, die uns die Irrealität der Zeit beweisen, mit dankbarer Begeisterung aufnehmen. Die Unumkehrbarkeit der Zeit für nichtig zu erklären, den Schmerz zu lindern, Hoffnung und Trost zu spenden – das sei, so dachten viele, ein Gebot der Weisheit. Bisweilen schien, beispielsweise bei den Griechen, die Betrachtung der Natur einen Weg aufzuzeigen, wie dies gelingen könnte. Der regelmäßige, immer gleiche Lauf der Sterne, das seit jeher identische Verhalten der Tiere, auf der Flucht, bei der Hatz, bei der Jagd. Der konstante Kreislauf des Lebens – Tag und Nacht, Geburt und Tod, und wieder von Neuem Tag und Nacht und Geburt. Die Natur schien in den Augen der Menschen, die sie seit Jahrhunderten beobachteten, keine Zeit zu kennen, jedenfalls keine unumkehrbare. Auf die Zu195 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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kunft (Nacht) folgt in der Natur wieder die Vergangenheit (Tag), bald Vergangenheit, bald Zukunft, Nacht und Tag, Tag und Nacht, ohne Unterschied. Bereits im 19. Jahrhundert stellt Schopenhauer 4 dann die rhetorische Frage, was es nun bedeuten könne, dass die Katze, der er eben bei ihrem Spiel im Hof zusehe, eine andere sei als diejenige, die hier irgendwo vor dreihundert Jahren gespielt habe. Und Czesław Miłosz schreibt: »Kleine Tiger wachsen auf, lernen zu jagen, gründen eigene Familien, alte Tiger sterben oder verlieren ihr Leben – auf eine Weise, wie wir es uns nicht vorstellen können – und das wiederholt sich unzählige Male, unzählige Male fallen auch die fürs Mittagessen erlegten Hirsche, und all das ereignet sich in einem Jetzt, das weder Vergangenheit noch Zukunft kennt.« 5

Die Natur, so lautet das Argument, kennt keine unumkehrbare Zeit, keine für immer verlorene Vergangenheit. Die immer gleichen Gesten, Formen und Figuren werden unendlich wiederholt in diesem rituellen Tanz, in dem nichts Neues geschehen kann. Hegel schreibt: »in der Natur geschieht nichts Neues unter der Sonne«. 6 Und an andere Stelle: »die Veränderungen in der Natur, so unendlich mannichfaltig sie sind, zeigen nur einen Kreislauff, der sich immer wiederhohlt«. 7 Auch der Tod ist aus dieser Perspektive eine solche Geste, eine Form, und kein einmaliges, unumkehrbares Ereignis – das Samenkorn erstirbt in der Erde, um einen neuen Baum hervorzubringen. Sich in diesen Tanz einzugliedern und die üblicherweise hinter dem Traum von der Eigenständigkeit des Menschen verborgene Einheit mit der Natur, die unverbrüchliche Gemeinschaft in seinen Bewegungen, seinen Muskeln und auf seiner Haut zu spüren, heißt, die Kette der Zeit zu zerreißen, die uns an das Nichts fesselt, heißt, ein Mittel finden gegen den Schmerz des Vergehens und die Angst vor dem Nichts. Noch einmal Schopenhauer: »so mag der Mensch […] mit Recht sich über seinen und seiner Freunde Tod trösten, durch den Rückblick auf das unsterbliche Leben der Natur, die er selbst ist.« 8 Eine der Erscheinungsformen, die diese Perspektive angenommen hat, ist der Begriff von der ewigen Wiederkunft des Gleichen. Die Zeit ist ein Kreis, die Welt kehrt immer wieder von Neuem zu ihrem Anfang zurück. Dieser Begriff tauchte als Mythos bereits in der Antike in den Vorstellungen verschiedener Kulturen des Nahen Ostens auf. Auch im alten Israel: »Solange die Erde steht, soll nicht 196 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht« (1. Mose 8,22), verheißt Gott Noah. Die Zukunft bringt nichts Neues mehr, keine Überraschungen, keine neuen Katastrophen. »Zukunft«, kommentiert Gerhard von Rad diese Stelle, »die Zukunft – aber schon dieser Begriff ist nicht recht passend! – ist das verlängerte Jetzt.« 9 Im antiken Griechenland entwickelte sich die Idee der ewigen Wiederkunft zu einem philosophischen Begriff. Er ist, so Eliade, der theoretische »Versuch zur ›Statisierung‹ des Werdens, zur Annullierung der Unumstößlichkeit der Zeit. Da alle Augenblicke und Situationen des Kosmos sich unaufhörlich wiederholen, erweist sich ihre Vergänglichkeit in letzter Analyse nur als scheinbar; unter dem Aspekt der Unendlichkeit bleiben jeder Augenblick und jede Situation an ihrem Platz«. 10 Der so verstandene Begriff der ewigen Wiederkunft des Gleichen hielt sich im europäischen Denken erstaunlich hartnäckig über mehrere Jahrhunderte. Er war beispielsweise in den Werken Platons zu finden, auch bei Epikur und den Stoikern. Im 18. Jahrhundert unterzog David Hume ihn einer sarkastischen Kritik und schrieb in den Dialogen über natürliche Religion, er werde »für die unsinnigste Theorie gehalten, die je aufgestellt wurde.« 11 Doch das änderte kaum etwas. Nur wenige Jahrzehnte später sollte Schopenhauer schreiben: »Wir können die Zeit einem endlos drehenden Kreise vergleichen: die stets sinkende Hälfte wäre die Vergangenheit, die stets steigende die Zukunft«. 12 Der Scheitelpunkt des Kreises, so Schopenhauer weiter, sei die stillstehende, immer gleiche Gegenwart. Damit »[gleicht] die Zeit einem unaufhaltsamen Strohm, und die Gegenwart einem Felsen, an dem sich jener bricht, aber nicht ihn mit fortreißt.« 13 Wie vor ihm Platon, Epikur oder Marc Aurel befindet Schopenhauer, der Humes Kritik ignoriert, dass wir nur über die Oberfläche der Erscheinungen schlittern, wenn wir die Zeit als unumkehrbare Abfolge von Augenblicken und den Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft als absolut und unumstößlich betrachten. Würden wir genauer hinsehen, tiefer blicken, dann könnten wir erkennen, dass der Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft nicht absolut ist, sondern relativ und dass im Grunde einfach alles ist, alles andauert. Die Augenblicke vergehen nur aus der Perspektive des eben Erlebten, nur insofern, meint Schopenhauer, als ich mich nicht vom »Hier und Jetzt« des erlebten Moments losreißen kann, als ich diesen Moment nicht aus der Distanz zu betrachten vermag. Gelingt mir dies aber, sehe ich das Erlebte aus der »Vogelperspektive«, aus der 197 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Perspektive der Zeit als einem Ganzen, erkenne ich, dass der eben erlebte Moment nichts Besonderes an sich hat, dass er nicht einmalig ist, sondern wie die anderen auch – wiederholbar. Dass er nicht vergeht, nicht ein für alle Mal im Nichts verschwindet. Ich verstehe dann, dass »vergehen« im Grunde »wiederkehren« bedeutet. Das ist tröstlich. Spuren dieser Tradition, des tröstlichen Glaubens an die ewige Wiederkunft aller Dinge, finden sich auch im Neuen Testament. Beispielsweise in der Apostelgeschichte: »Jesus Christus, welcher muß den Himmel einnehmen bis auf die Zeit, da herwiedergebracht werde alles, was Gott geredet hat durch den Mund aller seiner heiligen Propheten von der Welt an.« (Apg 3,20 f.) Origenes entwickelt diesen Gedanken dann weiter: »Denn immer ist das Ende dem Anfang ähnlich; und daher muß, so wie das Ende von allem eines ist, so auch ein Anfang von allem angenommen werden; und so wie die vielen Dinge ein Ende haben, so entspringen die vielen Unterschiede und Abweichungen aus einem Anfang. (Alle aber) werden wieder durch die Güte Gottes, die Unterwerfung unter Christus und die Einheit im heiligen Geist zu dem einen Ende gebracht, das dem Anfang gleicht.« 14

Doch bereits im Alten Testament ist auch ein anderes Zeitkonzept anzutreffen. Die zornigen, sorgenvollen Worte der Propheten zeugen von der tiefen Kluft, die die Geschichte Israels in ein bekanntes »Davor« und ein radikal neues »Danach« aufspalten wird, sie zeugen von dem »Feuervorhang« 15 (dem göttlichen Gericht), der die Kontinuität der Zeit zerreißt und die Zukunft eröffnet. Noch schwieriger ist die Überzeugung von der ewigen Wiederkunft aller Dinge mit der Geschichte in Einklang zu bringen, die das Neue Testament erzählt. Wie soll denn die Ansicht, dass alles Gewesene ewig wiederkehrt, mit dem Glauben an die Geschichte eines Gottes versöhnt werden, der einst an einem bestimmten Ort als Sohn eines Zimmermanns Mensch geworden ist? Mit dem Glauben daran, dass das Leben dieses Gott-Menschen von seiner Geburt bis zu seinem Tod rund dreißig Jahre danach das Weltgeschehen radikal verändert und Chancen eröffnet, die vorher nicht gegeben waren? Mit dem Anspruch der ungebrochenen Aktualität dieser Geschichte? Damit, dass es Teil ihrer sinnstiftenden Intention ist, auch mein Leben zweitausend Jahre später zu verändern, auch mir gänzlich neue, unbekannte und ungeahnte Möglichkeiten zu eröffnen? 198 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Wenn alles Gewesene wiederkehrt, wenn die Zeit einem Strom gleicht, der sich am Felsen des wahrhaft Seienden bricht, der ewigen Gegenwart, dann ist Jesu Tod am Kreuz, von dem das Neue Testament berichtet, ein Symbol, ein Archetyp, ein Zeichen des immer Währenden. Er ist kein einmaliges, einzigartiges tragisches Ereignis mehr. Nicht mehr die Tragödie eines jungen Juden, Jesus, im einsamen Todeskampf, hin- und hergerissen zwischen Angst und Hoffnung, damals, in diesem einen, einmaligen Augenblick, der die Welt verändert, völlig verändert hat. Dieses Ereignis – dieses Leben, diesen Tod – verstehen, heißt (wenn wir davon ausgehen, dass alles unendlich wiederkehrt), die in dieser Beschreibung steckende ewige Wahrheit entdecken: »So verhalten sich Götter«. Wie ein Zoologe das Verhalten von Amöben in bestimmten Situationen versteht. Aber bedeutet verstehen, dass »Jesus bis an das Ende der Welt mit dem Tode ringen [wird]« 16, tatsächlich nicht mehr als eine immer und ewig richtige Behauptung zu verstehen (»zwei und zwei ist vier«, »ein in Wasser getauchter Körper verliert so viel an Gewicht wie …«) und sie auf die eigene Situation anzuwenden? Ist der Bezug jenes Todes Christi am Kreuz zu mir, zu meinem Leben tatsächlich nur die Anwendung einer allgemeinen Wahrheit auf meinen Einzelfall? Lässt deshalb sein Tod mich, wie Pascal 17, nicht schlafen? So nimmt es nicht wunder, dass die Überzeugung von der ewigen Wiederkunft des Gleichen in der christlichen Tradition auf heftigen Widerspruch gestoßen ist. So schreibt beispielsweise Augustinus: »Nie jedoch wird rechter Glaube darauf verfallen, mit diesen Worten Salomos [Pred 1,9 f.] seien jene Umläufe gemeint, in denen sich Zeiten und zeitliche Dinge in endlosen Kreisen wiederholen sollen. Denn dann müßte, mit Verlaub zu sagen, Plato, der Philosoph, wie er in seinem Jahrhundert in der Stadt Athen und der Akademie genannten Schule seine Zöglinge lehrte, schon unzählige Male in weiter zurückliegenden Jahrhunderten, gewiß in sehr langen, aber doch festen Abständen, aufgetreten sein, derselbe Plato, dieselbe Stadt, dieselbe Schule und dieselben Schüler, und das müßte sich auch in zukünftigen Jahrhunderten stets von neuem wiederholen. Ausgeschlossen, so etwas zu glauben! Denn einmal nur ist Christus für unsere Sünden gestorben, ›auferstanden aber von den Toten stirbt er hinfort nicht mehr, und der Tod wird hinfort nicht über ihn herrschen [Röm 6,9]‹.« 18

Und übereinstimmend mit dieser Belehrung des Augustinus wurden im Umfeld des II. Konzils von Konstantinopel 553 u. a. folgende Auffassungen des Origenes bzw. Origenismus als Irrlehren verdammt: 199 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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»Wenn einer die erdichtete Präexistenz der Seelen und ihre daraus folgende phantastische Wiederherstellung vertritt – so sei er im Banne. […] Wenn einer sagt: Der Zustand der Intelligenzen werde der gleiche sein wie früher, als sie noch nicht herabgestiegen oder gefallen waren, so dass der Anfang gleich dem Ende ist und das Ende das Maß des Anfangs – so sei er im Banne.« 19 Wenn wir Christi Tod und Auferstehung als unwiederholbare Ereignisse verstehen, als Ereignisse eines unwiederholbaren, einzigartigen, individuellen Lebens, dann ist eine Zyklizität der Zeit unmöglich. Durch jenen Tod und jene Auferstehung wird die Vergangenheit von der Zukunft geschieden, die harte, irreduzible Realität dieser Unterscheidung steht uns deutlich vor Augen. Wenn also die Geschichte Jesu mich betreffen soll (und dies ist ja der Anspruch des Christentums, dass es eine Geschichte über mich ist), dann muss sie mich in der unwiederholbaren Zeit meines Lebens betreffen, zwischen der einstigen Geburt und dem künftigen Tod. Heute und nicht irgendwann. Dabei geht es nicht um mich als Exemplar einer Gattung, als Angehöriger einer Nation oder gesellschaftlichen Schicht, nicht um typische Verhaltensweisen oder Gesten. Und dennoch: Kann das Christentum darauf verzichten, die Realität der Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft in Zweifel zu ziehen? Kann es auf den Begriff der Ewigkeit verzichten, den uns doch die Betrachtung der Natur zu lehren scheint? Und wenn es das nicht kann, lassen sich die beiden Zeitbegriffe (die Zeit als ewiges »Jetzt«, dem das Vergehen nichts anhaben kann, und andererseits die Zeit als unaufhaltsames Vergehen, Zeit, die mein Leben schmerzlich und unumkehrbar, Stück für Stück absterben lässt, die unüberwindliche Zeit, die meine Freiheit einschränkt) miteinander in Einklang bringen? Die Zeit des Paradieses, jener »unverrückbare Felsen« (Hieronymus), die Zeit, die hier nichts zerstört, nichts durcheinanderbringt, nichts bezweckt, die Zeit, die in jedem Augenblick die Fülle ist, Zeit ohne Mangel, ohne Verlust, Zeit, in der sich die Zukunft nicht von der Vergangenheit unterscheidet; und andererseits die Zeit der Vertreibung aus dem Paradies, die Zeit, die alles zerstört, was sie umfängt, die Zeit, in der das Gewesene nicht wiederkehrt, die Zeit, die bis zum Tode fließt, die vom Nichts durchtränkte Zeit, die Zeit, die wir aus Erfahrung kennen?

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3 Die Verbindung dieser beiden scheinbar unvereinbaren, ja, einander ausschließenden Begriffe zu verstehen, die Verbindung von Ewigkeit und Vergehen, Paradies und Verlust und seine mögliche Wiederentdeckung – diese Aufgabe hat sich Nietzsche mit seiner Geschichte über Zarathustra, den Lehrer der ewigen Wiederkunft gestellt. Nicht zufällig hallt in Worten und Metaphern der Zarathustra-Geschichte so häufig die biblische Jesus-Geschichte nach. Der Zarathustra ist ein Versuch, diese alte Geschichte neu zu interpretieren. Die Zarathustra-Geschichte setzt in dem Moment ein, als der dreißigjährige Zarathustra seine Heimat verlässt und auf der Suche nach Einsamkeit ins Gebirge geht. Nach zehn Jahren im Gebirge beschließt er, ins Tal zurückzukehren, zu den Menschen. Im Gespräch mit der Sonne tut er sein Vorhaben kund. Wie die Sonne ihr Licht mit Mensch und Natur teilt, möchte auch Zarathustra seine Weisheit mit anderen teilen. Welche Funktion hat dieser Vergleich? Zunächst einmal teilt die Sonne ihr Licht auf eine andere Weise, als Krzyś Mroszkiewicz sein Brötchen mit uns teilte, das er für die Vesperpause zur Schule mitgebracht hatte. Die Sonne kann ihr Licht nicht teilen oder es eben sein lassen. Die Sonne scheint, und damit teilt sie ihr Licht, wie der Regen fällt. Die Sonne ist (in der metaphorischen Verwendung Nietzsches) wie ein ständig aktiver Vulkan, wie pausenlos überschäumende Milch, die Sonne ist Überfluss, ständiges Über-sich-hinaus-Weisen. Und schließlich genügt die Sonne sich selbst nicht, sie braucht etwas oder jemanden, mit dem sie ihr Licht teilen, dem sie es schenken kann. Sie braucht einen wie uns: »[W]ir […] nahmen dir deinen Überfluss ab« 20, spricht Zarathustra zur Sonne, als er mit seinen Tieren im Sonnenlicht steht. Auch die Weisheit, die Zarathustra über zehn Jahre im Gebirge angesammelt hat, bedarf eines Menschen, mit dem Zarathustra sie teilen kann: »Ich bin meiner Weisheit überdrüssig, wie die Biene, die des Honigs zu viel gesammelt hat, ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken.« Der Vergleich mit der Sonne präzisiert das Bild, die Weisheit, möchte es sagen, ist immer zu viel, sie bedarf immer der Hände, die sich ihr entgegenstrecken. Angesammelte, aber nicht mit anderen geteilte Weisheit ist wie eine Sonne, die nicht scheint, wie Regen, der nicht fällt, ein quadratischer Kreis. Weisheit ist, wie die Sonne, Überfluss, ein ungebremstes Über-sich-hinaus-Weisen, ein ständig aktiver 201 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Vulkan, pausenlos kochende Milch, ein »Becher, welcher überfliessen will«. 21 Und noch etwas lehrt uns der Vergleich mit der Sonne über die Weisheit. Zarathustra spricht die Sonne mit »du ruhiges Auge« 22 an. Wessen Auge ist das? Einige Zeit später begegnet Zarathustra im Wald tanzenden Mädchen und singt ihnen ein Tanzlied: »In dein Auge schaute ich jüngst, oh Leben!« 23 Die Sonne ist also das Auge des Lebens. Die Metapher für die Weisheit, die Sonne, ist eine Metapher für das Leben. Die Weisheit Zarathustras, von der hier die Rede ist, ist also weder eine Ansammlung korrekter Lehrsätze noch die Fähigkeit, sich diese anzueignen. Sie charakterisiert sein Leben, nicht nur sein Denken oder sein Bewusstsein. Die Weisheit Zarathustras liegt in seinem Tun, nicht, jedenfalls nicht in erster Linie, in seinem Denken. Sie ist der verborgene Nerv seines Lebens, das Wesen seiner Vitalität. Die Zarathustra-Geschichte ist eine Geschichte über den Sinn des Lebens. Und noch etwas: »Zarathustra will wieder Mensch werden« 24, schreibt Nietzsche, als Zarathustra beschließt, aus dem Gebirge hinabzusteigen und seine Weisheit mit den Menschen zu teilen, ohne die er nicht leben kann. Der »Becher, welcher überfliessen will«, ist also eine Metapher für die Menschwerdung Zarathustras. Zarathustra wird Mensch, und damit wird Zarathustras Leben menschliches Leben. So lehrt uns die Menschwerdung Zarathustras auch etwas über das menschliche Leben: Wie der an Weisheit überreiche Zarathustra Menschenhände braucht, die sich nach ihm ausstrecken, so ist der Mensch, das menschliche Leben, eine Hand, die sich nach etwas ausstreckt, das es selbst nicht ist (nach Zarathustra). Im Kontext der Geschichte Zarathustras und seines Hinabsteigens zu den Menschen erscheint das menschliche Leben grundsätzlich unvollständig, ungenügend, unvollkommen. Es übersteigt sich selbst nicht nur in dem Sinne, dass keines seiner Stadien endgültig ist, sondern auch in dem Sinne, dass es – immer, notwendigerweise, in jedem Akt – über das Menschliche hinausgeht. Auf unserem Leben liegt, so geht aus der Sonnen-Metapher hervor, ein sonniger Glanz, ein Abglanz des bereits nicht mehr Menschlichen. »Segne den Becher, welcher überfliessen will, dass das Wasser golden aus ihm fliesse und überallhin den Abglanz deiner Wonne trage!« 25 Auch die Geschichte von den Begegnungen, Gesprächen und Predigten Jesu beginnt bei Lukas im dreißigsten Lebensjahr der Hauptfigur (»Und Jesus war, da er anfing, ungefähr dreißig Jahre alt«, 202 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Lk 3,23). Wie Zarathustra sucht Jesus damals die Einsamkeit, Zarathustra im Gebirge, Jesus in der Wüste. Auch Christus kehrt zu den Menschen zurück, um seine Gute Nachricht mit ihnen zu teilen (»Und Jesus kam wieder in des Geistes Kraft nach Galiläa […]. Und er lehrte«, Lk 4,14 f.). Die Weisheit Gottes ist wie die Weisheit Zarathustras ein »Becher, welcher überfliessen will« (»Du […] schenkest mir voll ein«, Ps 23,5). Auch sie erscheint so in menschlicher Gestalt, Gott wird Mensch. Und wie Nietzsche berichten auch Matthäus, Markus, Lukas und Johannes nicht davon, auf welchem Weg der Theologe seine Erkenntnis gewonnen hat oder mit welch wundersamer Geschwindigkeit sich die intellektuellen Fähigkeiten ihrer Hauptfigur entwickelt haben. Auch die Weisheit Jesu kommt darin zum Ausdruck, wie er lebte, sie ist elementarer Bestandteil seines Lebens. Aus dem Kontext dieses Lebens gerissen, wäre sie eine Sammlung leerer Worte. Indem die Evangelisten so von Gott erzählen, wollen sie einen Menschen zeigen, in dem Gott gegenwärtig ist, wollen sie menschliches Leben als Streben nach Überwindung des eigenen Menschseins zeigen, als (möglicherweise vergebliches, aber jedem Augenblick des Lebens eingeschriebenes) Streben nach einem Hinausgehen über sich selbst, über das, was man ist und sein kann, hin zu Gott. Wie in Nietzsches Geschichte Zarathustra aus dem Gebirge hinabsteigt, und »Mensch werden [will]«.

4 Auf das Leben als überschäumenden Becher, auf das Leben als Mensch gewordene Göttlichkeit, auf das menschliche Leben, das dazu bestimmt ist, über alles Menschliche hinauszustreben, auf das Leben, auf dem der Sonnenglanz des Nichtmenschlichen liegt – auf diese unveräußerliche Seite menschlichen Lebens bezieht sich in Nietzsches Sprache der Begriff des Übermenschen. Er soll nun näher betrachtet werden. Gleich seine erste Rede zum Volk, mit dem er seine Weisheit teilen möchte, beginnt Zarathustra mit den Worten: »Ich lehre euch den Übermenschen.« Um gleich darauf fortzufahren: »Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll.« 26 Was bedeutet das? Vielleicht beginnen wir mit dem Gegenstück zum Übermenschen. In der Zarathustra-Geschichte ist dies der uns bereits bekannte 203 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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letzte Mensch. Wir erinnern uns, der letzte Mensch ist ein Mensch ohne Fehl, ohne Unzulänglichkeiten, ohne Krankheiten. Der letzte Mensch wird nicht krank (»Krankwerden […] gilt ihnen sündhaft« 27) und stirbt auch nicht (»der letzte Mensch lebt am längsten« 28). Er liebt nicht, wenn die Liebe alles Bestehende bedroht, wenn sie ein Feuer ist, das alle Tugend, alle Vernunft und alles bisherige Glück verzehrt (gern liebt er dagegen, wenn es nur angenehm und schmerzfrei abgeht: »›Was ist Liebe? […]‹ – so fragt der letzte Mensch und blinzelt« 29). Der letzte Mensch kennt keine Unterschiede, die sich nicht ausgleichen ließen, er kennt also auch keinen Kampf, der wichtiger wäre als das Leben. (»Man zankt sich noch, aber man versöhnt sich bald – sonst verdirbt es den Magen.« 30) Der letzte Mensch kennt also auch kein Entsetzen angesichts des gänzlich Unverständlichen, des Fremden, des Undurchsichtigen, der Nacht – angesichts des Todes. (»Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben.« 31) Er ist unendlich vernünftig und absolut tugendsam, so vernünftig und tugendsam, dass er jeglichen Gefahren entgeht. Mit seiner Vernunft und Tugend hat er das Glück gefunden, sichere Ruhe und ungestörten Schlaf. (»›Wir haben das Glück erfunden‹ – sagen die letzten Menschen und blinzeln.« 32) Nach diesem Ideal zu streben heißt, wie Zarathustra formuliert, »[g]uten Schlaf […] und mohnblumige Tugenden dazu« 33 zu suchen. Kurz, der letzte Mensch ist für Nietzsche das Ideal eines Menschen auf der Grundlage des existierenden Menschen. Zarathustra hält seine Zuhörer dazu an, sich von diesem Ideal abzukehren. »Was ist das Grösste, das ihr erleben könnt? Das ist die Stunde der grossen Verachtung. Die Stunde, in der euch auch euer Glück zum Ekel wird und ebenso eure Vernunft und eure Tugend.« 34 Der existierende Mensch, sein Glück, seine Vernunft und seine Tugend müssen überwunden werden. »Die Sorglichsten fragen heute: ›wie bleibt der Mensch erhalten?‹ Zarathustra aber fragt als der Einzige und Erste: ›wie wird der Mensch überwunden?‹« »Der Übermensch liegt mir am Herzen, der ist mein Erstes und Einziges, – und nicht der Mensch: nicht der Nächste, nicht der Ärmste, nicht der Leidendste, nicht der Beste – Oh meine Brüder, was ich lieben kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang ist und ein Untergang.« 35 Und noch ein Zarathustra-Wort: »Ich liebe Den, der über sich selber hinaus schaffen will und so zu Grunde geht.« 36 204 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Es geht also nicht um eine Idealisierung des existierenden Menschen, nicht um die Pflege bestimmter Merkmale und die Vernachlässigung anderer. Überwunden werden muss nicht nur der heute existierende Mensch oder der gestrige. Es geht nicht um die Überwindung einer bestimmten Erscheinungsform des Menschen, sondern um die Überwindung aller seiner Formen. Wenn Zarathustra uns »den Übermenschen lehrt«, versucht er, uns zu zeigen, was der Mensch ist, was er zu leisten vermag. Der Mensch ist nicht bloß dies oder jenes, nicht ein vernünftiges Tier oder ein lachen könnendes Wesen, er ist nicht einfach ein Geschöpf, das man wie einen Rasen stutzen, besprengen oder ausbessern kann. Der Mensch ist zuallererst die unablässige Überwindung seiner selbst, eine offene Frage ohne Enden oder Grenzen. Damit ist das Leben des Menschen unendlich riskant, ein Spiel, in dem es um alles geht. Alles steht auf dem Spiel: das Glück (das wir erreicht haben), die Vernunft (die wir bislang angesammelt haben), die Tugend (die wir uns bislang aneignen konnten). Es ist ein Spiel ums Menschsein, dessen Sinn immer wieder neu erfasst sein will. Der Mensch hat, so Zarathustra, das unbedingte Potenzial zur vollständigen Destruktion und damit zum radikalen Wandel, er trägt den Sprengstoff in sich, der das Bestehende zu zerreißen und den Weg zum Neuen freizulegen vermag. Er ist wie eine dunkle Wolke, aus der jeden Moment ein Blitz zucken kann. Auf diese Möglichkeit menschlichen Lebens bezieht sich der Begriff des Übermenschen. »Seht«, ruft Zarathustra der Menge zu, die sich auf dem Markt versammelt hat, »ich bin ein Verkündiger des Blitzes […]: dieser Blitz aber heisst Übermensch.« 37 Wenn Zarathustra vom Übermenschen spricht, meint er offenbar nicht die nächste (und vielleicht letzte) Stufe menschlicher Entwicklung, der Übermensch ist nicht die »blonde Bestie«, kein Stachanow, nicht der Mensch der lichten Zukunft, kein moderner Amerikaner. Der Übermensch ist auch nicht die höchste Stufe der Evolution, keine vom Homo sapiens verschiedene Gattung, zu der der Mensch bei Berücksichtigung der entsprechenden Methoden evolvieren könnte, kein Engel. Nietzsche schreibt in der Morgenröthe: »Wie hoch die Menschheit sich entwickelt haben möge – und vielleicht wird sie am Ende gar tiefer, als am Anfang stehen! – es giebt für sie keinen Übergang in eine höhere Ordnung, so wenig die Ameise und der Ohrwurm am

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Ende ihrer ›Erdenbahn‹ zur Gottverwandtschaft und Ewigkeit emporsteigen. Das Werden schleppt das Gewesensein hinter sich her: warum sollte es von diesem ewigen Schauspiele eine Ausnahme für irgend ein Sternchen und wiederum für ein Gattungchen auf ihm geben! Fort mit solchen Sentimentalitäten!« 38

Zarathustra ruft uns dazu auf, das Ideal des letzten Menschen zu verwerfen, aber nicht zugunsten eines anderen, konkurrierenden Ideals. Nicht darauf beruht der Gegensatz zwischen diesen beiden Begriffen. Der Übermensch ist kein Ideal, keine Korrektur des heute existierenden Menschen. Zwar charakterisiert Nietzsche mithilfe dieses Begriffs das menschliche Leben als unvollständig, ungenügend und unvollkommen, aber nicht, indem er es zu etwas oder jemandem in Beziehung setzt, das bzw. der der Mensch (jedenfalls heute noch) nicht ist. Im Gegenteil, der Begriff des Übermenschen charakterisiert den existierenden Menschen, das Leben des Menschen an sich, die conditio humana – der Übermensch ist der Sinn der menschlichen Existenz. Über die Dichter spöttelt Nietzsche im Zarathustra: »Wahrlich, immer zieht es uns hinan – nämlich zum Reich der Wolken: auf diese setzen wir unsre bunten Bälge und heissen sie dann Götter und Übermenschen«. 39 Der Übermensch ist kein solcher Balg auf einer Wolke, er ist überhaupt keine Bezeichnung, die sich auf etwas oder jemanden bezöge (wie »Affe« oder »Homo sapiens«). Der Übermensch, sagt Zarathustra, ist eine Brücke, er ist die unserem Leben innewohnende Möglichkeit, die es ihm nicht erlaubt, sich behaglich einzurichten, die es über jede bereits erlebte Situation hinausführt. Eine Brücke, die zu etwas hinführt, das über unseren Verstand, über unsere Begriffe geht. Eine Brücke, deren Vorhandensein unser gesamtes Leben bestimmt, jeden Augenblick (wie die Küste die Niederlande). Nicht nur einen (künftigen, entscheidenden oder letzten) Moment des Lebens, sondern das Leben insgesamt. »[E]ine Brücke und kein Zweck« 40, sagt Zarathustra. »Sie meinen«, kritisiert Stanisław Brzozowski einige Nietzsche-Interpretatoren, »der Übermensch sei einfach eine neu erschaffene Gattung, und wissen nicht, dass er überall unaufhörliche Gegenwart und Realität ist, dass alle Schöpfung immer und überall dieser Losung entspricht: über den Menschen!« 41

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Das Präfix »über-« in Übermensch bezieht sich also – wie auch das »über« in der Losung »Über den Menschen!« – nicht auf eine Ordnung, die der Mensch vorfindet, eine Hierarchie, in der der Mensch seinen Platz neben anderen Arten (»Existenzen«, »Geschöpfen«) hat, die ihrerseits »höher« oder »niederer« einzuordnen sind. Dieses »über« definiert das menschliche Leben als Bestreben, etwas aus ihm zu machen, das über dieses Leben hinausgeht. Es zeugt davon, dass das Leben nie nur »meines« sein kann, das Leben Krzysztof Michalskis (also jemandes, den ich kenne, wenn auch vielleicht nicht gut, nicht gänzlich, aber doch einigermaßen), nicht nur »unseres«, wie auch immer wir dieses »wir« verstehen wollen. Es zeugt davon, dass »mein«, dass »unser« Leben, wie sehr wir es auch bestimmen und wie viel wir auch von ihm wissen mögen, mehr ist als ich, als wir. Dass es damit über eine elementare, andere, fremde, dunkle Seite verfügt, an der das Wissen, jegliches Wissen scheitern muss, eine Seite, die nicht gewusst werden kann. Es sei angemerkt, dass das Wort »dunkel« in diesem Kontext eine Bedeutungserweiterung erfährt. »Dunkel« ist jetzt nicht mehr nur Mangel an Wissen. Eher Übermaß als Mangel – das Übermaß des Lebens selbst, ein Übermaß an Bedeutung über alles hinaus, was wir wissen und wissen können. Ein Lebensdunkel, das von jedem einzelnen Augenblick aus wahrnehmbar ist, ein Dunkel, von dem man sagen könnte, es sei tief, bodenlos, es sei geheimnisvoll, übervoll von Bedeutung. Und eben diese andere, dunkle Seite des menschlichen Lebens, Leben als ständiges Bestreben, über jede erreichte Form hinauszugehen, Leben als dauerndes, unendliches Risiko, diesen grundsätzlichen Charakter menschlichen Lebens sucht das Ideal des letzten Menschen zu verbergen, zu verschleiern, zu leugnen. Das Ideal des letzten Menschen ist der Versuch, das menschliche Leben in die Spinnweben der Vernunft und der Tugend einzuwickeln und ein ungetrübtes Glück zu erreichen, um so, wie oben dargestellt, die Krankheit, die rückhaltlose Liebe, den unversöhnlichen Unterschied und das unergründliche Geheimnis zu unterdrücken. Um den Tod zu überwinden. Dermaßen um seine dunklen Seiten gebracht, wird das Leben ruhig, ungefährlich, durchsichtig (also rational), und das für immer, bis ins Unendliche, ewig. Doch dieses ideale Leben, »das ewige Leben«, ist, so warnt der den Übermenschen lehrende Zarathustra, ein Widerspruch zum existierenden Leben und in diesem Sinne der Tod. »Überall ertönt die

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Stimme Derer, welche den Tod predigen […] [o]der ›das ewige Leben‹ : das gilt mir gleich«. 42 Leben, so legt es der Begriff vom Übermenschen nahe, ist etwas anderes. Leben kann nicht »ewig« sein im Sinne von und so weiter, endlos, ad infinitum, denn Leben ist ja ein unablässiges Zerreißen der Kontinuität, leben heißt unaufhörlich jegliche Form des Lebens zu überwinden, jede Situation, die es bestimmt, jede so verstandene Endlichkeit. Leben ist »der Becher, welcher überfliessen will«, das bedeutet aber nicht einfach, dass auf jeden Augenblick ein anderer und dann noch ein anderer und dann wieder ein anderer folgt. Jeder einzelne Moment des Lebens ist solch ein überfließender Becher, überbordendes Wasser, ein ausbrechender Vulkan. Etwas Ähnliches könnte Hegel gemeint haben, als er in Anlehnung an Schiller schrieb: »aus diesem Kelche schäumt Unendlichkeit«. 43 Das Leben lieben heißt, so lehrt es Zarathustra, bereit sein, jede seiner Formen zu verwerfen, jede Situation, in der ich mich befinden kann. Sich nicht krampfhaft und um jeden Preis an das vertraute Leben klammern, nicht alles Unbequeme, Schmerzhafte, Dunkle und Unerwartete einfach beseitigen wollen. »Eure Liebe zum Leben sei Liebe zu eurer höchsten Hoffnung: und eure höchste Hoffnung sei der höchste Gedanke des Lebens! […] [D]er Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll.« 44 Ich liebe das Leben, wenn ich in der Lage bin, »auf der Stelle fortzugehen und Habe, Frau und Kind zurückzulassen« 45, worum Gałczyński in seinen Notizen aus misslungenen Pariser Exerzitien betete. Mich befreien vom Bekannten, vom existierenden Menschsein. Hinein ins Dunkel, ins Fremde, Neue. Es kann nicht verwundern, dass aus der Perspektive des letzten Menschen die Liebe zum Leben, wie sie sich im Übermenschen manifestiert, als eine Störung des Normalen erscheint, als Trübung der Vernunft, als Krankheit. »Alle Zeichen des Übermenschlichen erscheinen als Krankheit oder Wahnsinn am Menschen« 46, notierte Nietzsche wenige Jahre, bevor seine Geisteskrankheit ausbrach. Diese Krankheit, das jegliche seiner Erscheinungsformen und jede Form meines Menschseins übersteigende Leben, ist schmerzhaft. Notwendigerweise, seinem Wesen nach und nicht zufällig. Aus einem Leben, das sich ständig selbst überwindet, lässt sich nicht alles bis auf die Freude beseitigen, ein solches Leben kann nicht nur angenehm sein. Der Kelch des Lebens ist voller Bitternis. Voller Bitternis, weil das Leben seine verschiedenen Formen hervorbringt, sich auf sie ein208 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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stellt, in ihnen Wurzeln schlägt, sich in ihnen einrichtet und sie gleichzeitig zerreißt, sie verlassen muss, weiter muss. Voller Bitternis, die von der Zerbrechlichkeit aller Formen zurückbleibt. Bitternis, die einen unstillbaren Durst auslöst, das Verlangen, über das Seiende hinauszugehen, den Durst nach dem Übermenschen. »Bitterniss ist im Kelch auch der besten Liebe: so macht sie Sehnsucht zum Übermenschen, so macht sie Durst dir, dem Schaffenden!« 47, sagt Zarathustra. Was für ein Unterschied zwischen Sehnsucht zum Übermenschen und dem Streben nach dem Ideal des letzten Menschen! Diese Sehnsucht ist nicht auf einen Zustand gerichtet, den ich erreichen möchte oder sollte. Sie hat nur sich selbst zum Gegenstand, wie auch die Liebe zum Übermenschen keinen Gegenstand kennt (»Er liebte nichts, ersehnte nichts / Und liebte doch und sehnte« 48, heißt es bei Słowacki). Der Durst nach dem Übermenschen ist dem Akt des Lebens selbst eingeschrieben, er ist die Definition des Lebens, das Leben selbst. Seine beständige, nicht zu beschwichtigende Unruhe. Aus der Perspektive eines Menschen, der nach dem Ideal des ewigen, ruhigen Lebens (des letzten Menschen) strebt, ist dieses Verlangen, diese Sehnsucht gänzlich unverständlich: »›Was ist Sehnsucht? […]‹ – so fragt der letzte Mensch und blinzelt.« 49 Der Übermensch – die innere Spannung des menschlichen Lebens, die Spannung zwischen dem Seienden und dem Dunklen, Unbekannten, Fremden, Neuen, dem es Übersteigenden. Das sich selbst überwindende, von innen her gesprengte Leben. Daher die Bitternis, der Durst, der Schmerz. Übermenschliche Bitternis, übermenschlicher Durst und übermenschlicher Schmerz, durch nichts zu versüßen, zu löschen oder zu stillen. Es gibt keine Arznei dafür, denn dieser Bitternis, diesem Durst und diesem Schmerz liegt kein Mangel zugrunde, der sich identifizieren und beheben ließe. Sie durchdringen zwar mein Leben, sind aber nicht »mein« wie mein Schmerz beim Zahnarzt oder mein Heimweh, sie stammen nicht aus meiner, nicht aus der mir vertrauten Welt. Sie sind »nicht von dieser Welt«. In eben diesem Sinne sind sie »übermenschlich« – »göttlich«. Die »übermenschliche«, »göttliche« Bitternis, der Schmerz »nicht von dieser Welt« hat auch noch eine andere Seite. Die nicht zu kontrollierende Unruhe des menschlichen Lebens, das ständige Streben über sich hinaus ins Unbekannte, diese unmenschliche Krankheit, das »Kranken am Übermenschen«, das in jedem erlebten Moment eine Spur nicht identifizierbarer Bitternis zurücklässt, 209 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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schafft gleichzeitig eine Distanz zum Seienden, ermöglicht eine Freiheit von jeder Situation, allen Bedingungen, jeder Bindung, jeder Verwurzelung. Die Bitternis des Abschieds von dem, was bislang mein war, der Schmerz der Geburt, der dem Seienden zugefügt wird, ist also gleichzeitig Freude über die Befreiung, Süße der Freiheit. »[I]n Wahrheit ist in jedem Augenblick […] Bitter und Süß bei einander und an einander geheftet« 50, schreibt Nietzsche in Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen. »Siehe! Ich bin meiner Weisheit überdrüssig, wie die Biene, die des Honigs zu viel gesammelt hat« 51, sagte Zarathustra zur Sonne, bevor er aus dem Gebirge ins Tal stieg. Zarathustras Weisheit, der Nerv, die Triebfeder, der Kern seines Lebens – und damit unser aller Leben – ist wie Honig. »Der Honig ist, nach Heraklit, zugleich bitter und süß« 52, schreibt Nietzsche an anderer Stelle. Unser Leben kennt also, so lehrt Zarathustra uns den Übermenschen, Süße und Bitternis, Freude und Schmerz, ohne sie würde unser Leben ersterben. In der Fröhlichen Wissenschaft meint Nietzsche, »diess müsste doch ein Glück ergeben, das bisher der Mensch noch nicht kannte«. 53 Nicht das Glück der ungestörten Ruhe, das der letzte Mensch anstrebt, sondern ein Glück, das nicht in erfüllten Wünschen oder Erwartungen, gewonnenen Spielen oder gestilltem Verlangen liegt, ein Glück, das sich daraus speist, dass das von mir gelebte Leben nicht nur mein Leben ist, sondern auch etwas Größeres, dass es im Glanz des Nichtmenschlichen erstrahlt: »eines Gottes Glück […], welches, wie die Sonne am Abend, fortwährend aus seinem unerschöpflichen Reichthume wegschenkt und in’s Meer schüttet und, wie sie, sich erst dann am reichsten fühlt, wenn auch der ärmste Fischer noch mit goldenem Ruder rudert! Dieses göttliche Gefühl hiesse dann – Menschlichkeit!« 54 Gold, die Farbe der im Meer versinkenden Sonne, das ist für Nietzsche eine Metapher für das Nichtmenschliche im Menschen, das Übermenschliche. Das »Göttliche« in ihm. Ohne diesen goldenen Glanz, ohne den »Übermenschen«, ohne »das Göttliche« muss das menschliche Leben unverständlich bleiben. Dabei hat doch derselbe Zarathustra, der der auf dem Markt versammelten Menge vom Übermenschen erzählt, erst kurz zuvor Gottes Tod verkündet. Zarathustra war einem Einsiedler begegnet, der sich, von den Menschen enttäuscht, in den Wald zurückgezogen hat, um dort, einsam, tanzend und singend, Gott Ehre zu erweisen. Bei dieser Begegnung denkt Zarathustra, Gott lebt doch gar nicht mehr, 210 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Gott ist tot, es gibt keinen Gott. Der tanzende Greis ist also keineswegs ein Heiliger, er ist ein armer Irrer, der sich im Wald und in seinen Illusionen verloren hat. Zarathustra sagt zu sich: »Gott starb: nun wollen wir, – dass der Übermensch lebe.« 55 Trennen sich dann an dieser Stelle nicht die Wege der beiden Erzählungen – die Erzählungen über die Reden und Abenteuer Zarathustras einerseits und die über die Worte und Taten Jesu andererseits? Ja, gewiss, wenn man in den von den Evangelisten überlieferten Worten Jesu die Verheißung von etwas erst zukünftig Eintretendem sehen will, eines künftigen Idealzustandes (Reich Gottes), in dem zumindest für manche die missliebigen Seiten der menschlichen Existenz verschwunden sein werden, eines Zustandes, der durch ein bestimmtes Verhalten erreicht werden kann, zum Beispiel durch den Lobpreis Gottes mit Tanz und Gesang wie ihn der greise Heilige im Wald praktiziert. Wenn das Reich Gottes ein Ziel ist, das man verfolgen kann oder gar muss und das man unter bestimmten Bedingungen erreichen kann, um dann für Millionen von Jahren, endlos glücklich zu sein. Wenn die Zusage des Reiches Gottes Ruhe und Sicherheit verheißt, zwar nicht für sofort, aber doch für später, vielleicht auch schon für bald. Wenn sie die Perspektive eines Happy End ist, das uns auch heute schon zu beruhigen vermag: Wir können ruhig schlafen, weil Gott, unser lieber »Herrgott« wie der gütig lächelnde Zuckerbäcker, der meinen Töchtern in seinem Lädchen an der Ecke seine Leckereien verkaufte, weil dieser liebe Gott »in seiner Liebe Alles so fügt wie es uns schliesslich am besten sein wird« 56, schreibt Nietzsche in der Morgenröthe. (»[E]in Gott, der zur rechten Zeit vom Schnupfen kurirt oder der uns in einem Augenblick in die Kutsche steigen heisst, wo gerade ein grosser Regen losbricht, ein […] Gott als Dienstbote, als Briefträger, als Kalendermann« 57, führt er später im Antichrist aus.) Wenn in den Worten Jesu Krankheiten und Konflikte, die wichtiger sind als das Leben, wenn die Unruhe des Nichtwissens, Schmerz und Tod nur vorübergehend sind, nur ein Mangel, ein pathologischer Befund, ein Hindernis auf dem Weg zum künftigen Glück, ein Hindernis zudem, das sich durch Tugend und von rechter Vernunft geleitetes Handeln ein für alle Mal beseitigen lässt. Wenn also im warmen Lichte des so verstandenen Evangeliums die Bitternis des menschlichen Lebens zum Zufall wird, also nicht mehr zwangsläufig ist, und die Süße nicht mehr wie der Honig bei Heraklit zugleich bitter ist. Wenn die conditio humana einem Unfallauto gleicht, 211 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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das Jesus zu reparieren verspricht, sofern wir uns entsprechend verhalten, auf dass es wieder wie neu sei und nie mehr Schaden nehme. Erinnert eine solche Interpretation der Lehren Jesu nicht an die Visionen des letzten Menschen, diesen Traum der jetzigen Menschen von Ruhe und Sicherheit? Vielleicht hat aber auch Heidegger recht, wenn er schreibt: »Für das christliche Leben gibt es keine Sicherheit«. 58 Nietzsche argumentiert ähnlich. Jesus verheißt keineswegs irgendeinen künftigen Zustand, erklärt er, er steckt den Menschen kein Ziel, das sie erst erreichen müssten. Das Reich Gottes ist schon da, es ist bereits Realität: »Das Himmelreich ist ein Zustand des Herzens […]; nichts, was ›über der Erde‹ ist. Das Reich Gottes ›kommt‹ nicht chronologisch-historisch, nicht nach dem Kalender, etwas, das eines Tages da wäre und Tags vorher nicht: sondern es ist eine ›Sinnes-Änderung im Einzelnen‹, etwas das jeder Zeit kommt und jeder Zeit noch nicht da ist …« 59

Und an anderer Stelle heißt es: »Die ›Seligkeit‹ ist nichts Verheißenes: sie ist da«. 60 Hier ist ein Anklang an das Evangelium nach Lukas zu hören: »Da er aber gefragt ward von den Pharisäern: Wann kommt das Reich Gottes? antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht mit äußerlichen Gebärden; man wird auch nicht sagen: Siehe hier! oder: da ist es! Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch.« (Lk 17,20 f) Das Reich Gottes ist also in Nietzsches Argumentation kein möglicherweise einmal erreichbarer Idealzustand, vielmehr ist es dem menschlichen Leben eingeschrieben, dem Leben jedes und jeder Einzelnen, jedem Augenblick, jedem Winkel dieses Lebens, »wie der Blitz oben vom Himmel blitzt und leuchtet über alles, was unter dem Himmel ist«. (Lk 17,24) Die Mission Jesu ist es nun, uns die Augen zu öffnen für diesen Blitz. Im Antichrist schreibt Nietzsche: »mit dem Wort ›Sohn‹ ist der Eintritt in das Gesammt-Verklärungs-Gefühl aller Dinge (die Seligkeit) ausgedrückt, mit dem Wort ›Vater‹ dieses Gefühl selbst, das Ewigkeits-, das Vollendungs-Gefühl.« 61 Ein ähnliches Bild ruft später D. H. Lawrence auf: »This vision itself, the flutter of petals, the rose, the Father through the Son wasting himself in a moment of consciousness, consciousness of his own infinitude and gloriousness, a Rose, a Clapping of the Hands, a Spark of Joy 212 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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thrown off from the Fire to die ruddy in mid darkness, a Snip of Flame, the Holy Ghost, the Revelation. And so, the eternal Trinity.« 62 Worin besteht nun diese Sinnesänderung, was ist das für ein Zustand des Herzens, was für ein Reich Gottes? Nach der Überlieferung des Evangelisten Lukas sagt Jesus zu der ihm nachfolgenden Menge: »So jemand zu mir kommt und haßt nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, auch dazu sein eigen Leben, der kann nicht mein Jünger sein.« (Lk 14,26) Es geht also nicht darum in unserem Leben bestimmte (gute) Merkmale zu selektieren und andere (schlechte) zu eliminieren, es geht nicht um eine Korrektur des existierenden Lebens. Es geht nicht um ein für Gutes, Böses oder mögliche Besserung empfängliches Herz. Vielmehr geht es um die Bereitschaft, dies alles aufzugeben, um ein Herz, das offen ist für »etwas das jeder Zeit kommt und jeder Zeit noch nicht da ist«. Ein so verstandenes Reich Gottes blendet die unbequemen, »negativen« Seiten unseres Lebens, die Krankheiten, die nicht zu schlichtenden Streitigkeiten, Unwissen, Schmerz und Tod nicht aus. Es bewahrt uns nicht vor dem Risiko. Es benimmt dem Geschmack des Lebens nicht die Bitternis, nur für die letzten Menschen ist das Leben ein Zuckerschlecken und Gott der Zuckerbäcker. Im Gegenteil, das Reich Gottes macht das Leben erst bitter bzw. produziert eine spezifische, »himmlische« Bitternis, die notwendige Beigabe zur Süße der »Seligkeit«. Ins Reich Gottes gelangt man also nur mit Furcht und Zittern. Wie anders sollte es sein angesichts der Aussicht, alles Liebgewordene aufzugeben. Darum »zitterst [du], wenn Gott aus einem Menschen blitzt«. 63 William James fordert, was, wenn ich ihn recht verstehe, auch Nietzsche hätte schreiben können: »Wir wollen also entschlossen [dem] optimistischen Evangelium den Rücken kehren; wir wollen nicht einfach allen Erscheinungen zum Trotz ausrufen ›Hoch lebe das Universum! – Gott ist im Himmel, alles ist mit der Welt in Ordnung [bzw. wird es einmal sein – KM].‹ Wir wollen statt dessen sehen, ob […] Schmerz und Furcht […] nicht eine tiefere Ansicht erschließen und uns einen vielseitigeren Schlüssel zur Bedeutung der Situation an die Hand geben können.« 64

Wenn man also Gott irgendwo finden kann (so verstehe ich Nietzsches Jesus-Interpretation), dann im menschlichen Leben, auf einer Wolke wohnt er gewiss nicht. Durch seine Flucht vor den Menschen in den Wald beraubte sich der greise Heilige der einzigen Möglich213 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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keit, Gott zu begegnen – unter den Menschen. »[N]icht anders wussten sie ihren Gott zu lieben«, sagt Zarathustra über den greisen Heiligen und seinesgleichen, »als indem sie den Menschen an’s Kreuz schlugen!« 65 Wenn die »Gottesliebe« die Gegenwart Gottes aus dem menschlichen Leben tilgt (wie im Falle des greisen Heiligen), stirbt auch Gott. Das Reich Gottes, das Jesus verkündet hat, ist in dieser Interpretation eine Seite des menschlichen Lebens, ähnlich dem Übermenschen, »das verführerische Goldaufblitzen am Bauch der Schlange vita«. 66

5 Ein weiterer Begriff, den Nietzsche zur Charakterisierung des Lebens gebraucht und den er im zweiten Zarathustra-Buch einführt (das erste ist dem Übermenschen gewidmet), ist der Wille zur Macht. »Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht« 67, sagt Zarathustra. Was bedeutet das? Was bedeutet Wille zur Macht? Zuallererst ist Wille zur Macht für Nietzsche ein Gegensatz zum »Willen zum Leben«, zum Wunsch, das bekannte Leben zu verlängern. »[W]o Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern […] Wille zur Macht!« 68, sagt Zarathustra. Wenngleich das Streben nach Fortsetzung natürlich ist, so ist es doch dem Leben wesensfremd, so die These, im Leben geht es nicht in erster Linie um Dauer, nicht darum, dass es so bleibt, wie es ist. »[W]o es Untergang giebt und Blätterfallen, siehe, da opfert sich Leben – um Macht!« 69 Untergang, Destruktion und Tod (also die Störung der Kontinuität) sind nicht einfach Negation und Gegensatz des Lebens, meint Nietzsche, sondern gehören zu ihm, bringen es mit hervor. Leben widerspricht sich seinem Wesen nach selbst, es opfert sich, riskiert, zerstört all seine Erscheinungsformen. Das macht es aus. »Die Liebe zum Leben ist beinahe der Gegensatz der Liebe zum Lang-Leben« 70, notiert Nietzsche 1882. Der Begriff Wille zur Macht bezieht sich auf die grundsätzliche Diskontinuität des Lebens. Das bedeutet nicht nur, dass es Dinge gibt, für die es sich lohnt, sein Leben darzubringen (wie »Macht« oder »Einfluss«), und dass das menschliche Leben im Unterschied zum Leben einer Amöbe kaum zu 214 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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verstehen ist, wenn man diese Opferbereitschaft nicht berücksichtigt. Nietzsche geht es um mehr. Die »Macht« im Ausdruck Wille zur Macht steht nicht für ein Objekt des Wollens, nicht für »etwas, das gewollt wird«. Hier ist nicht gemeint, der Mensch wolle im Grunde eher »Macht« (Einfluss, Stärke, Geltung) als die Fortsetzung des Lebens. Auch der »Wille« im Ausdruck Wille zur Macht hat hier keine eigenständige Bedeutung. Keine Veranlagung ist hier gemeint, die auch anders gerichtet sein könnte, kein »Wille«, der auch etwas anderes »wollen« könnte. Der Ausdruck Wille zur Macht bezieht sich also nicht auf die in anderen Zusammenhängen unzweifelhafte Tatsache, dass Menschen wollen oder eben nicht (im Unterschied zum Denken oder Schlafen), und auch nicht darauf, dass sie mal das Eine wollen (Einfluss), dann wieder etwas anderes (Pipi machen). Wille zur Macht ist bei Nietzsche ein Ausdruck, der sich nicht auseinandernehmen lässt, für sich genommen haben die Glieder keine eigenständige Bedeutung. Dieser Ausdruck charakterisiert das menschliche Leben als Ganzes – als Macht. Mit anderen Worten, wenn Nietzsche das Leben als Willen zur Macht bestimmt, meint er, dass das Leben sich der Welt nicht anpasst, sondern sie erschafft: »[W]as ihr Welt nanntet, das soll erst von euch geschaffen werden: eure Vernunft, euer Bild, euer Wille, eure Liebe soll es selber werden!« 71 »Wille« und Wille zur Macht sind also gänzlich verschiedene Begriffe, Wille zur Macht ist keine Sonderform des »Willens«. »Wille« als so oder so gerichtete Verfügung geht von einer bestehenden Welt aus, die bereits zu einem gewissen Grad fertig ist und einer festen Einteilung folgt (in das, was ich will, und jenes, was ich nicht will). Aus der Perspektive des Willens zur Macht ist die Welt dagegen ein Feld grenzenlosen Schaffens, sie ist frei formbar, unendlich offen für Veränderung, sie ist im Fluss. Nietzsche gebraucht bisweilen das Wort Kraft in derselben Bedeutung wie Wille zur Macht, im Vorwort zur Götzen-Dämmerung definiert er es folgendermaßen: »Das Zuviel von Kraft erst ist der Beweis der Kraft.« 72 Ich verstehe das so, dass die Kraft (der Wille zur Macht) nicht messbar ist. Es existiert kein äußeres Maß, das man an sie anlegen könnte. Leben verstanden als Kraft, als Wille zur Macht, ist Leben, das sich nicht beschränken lässt, weder auf das, was es bereits ist, noch auf etwas, das es sein könnte oder sollte. In diesem Sinne ist es ein »Zuviel«; ein durch den Willen zur Macht bestimmtes Leben ist immer mehr, als es im jeweiligen Moment ist, ist ein Zuviel, 215 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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ist schöpferisch. Leben ist Kraft, ist Wille zur Macht, da es stets über sich hinausgeht, wenn es immer neue Formen erschafft, die niemals endgültig sein können. Daher ist das Leben »unerschöpflich«, daher »schäumt« es, »fließt« es. Wenn Leben Wille zur Macht ist, kann es nicht verstanden werden im Bezug auf etwas, das es nicht ist, weder aus der Perspektive einer mehr oder weniger gelungenen Anpassung an die vorgefundene Welt, noch aus der Perspektive eines Ziels, das es erreichen soll. Leben – als Wille zur Macht – lässt sich nur aus sich selbst heraus verstehen, als durch keinerlei äußere Schranken behindertes Schaffen. Von Nietzsches Standpunkt aus betrachtet, hatte Darwin nicht recht mit seiner Interpretation des Lebens als eines Wettstreits um die beste Anpassung an die vorgefundene Welt, als eines Wettstreits ums Überleben. »[D]er Gesammt-Aspekt des Lebens ist nicht die Nothlage, die Hungerlage [im Sinne einer äußeren Beschränkung, eines äußeren Drucks – KM], vielmehr der Reichthum, die Üppigkeit, selbst die absurde Verschwendung« 73 (also ein Schaffen, das jeden Rahmen sprengt, das über jede selbst geschaffene Form hinausgeht). Auf andere Weise irrten in Nietzsches Augen auch die Stoiker. Auch sie sahen das Maß des Lebens außerhalb seiner selbst. Das Leben müsse sich der existierenden Welt anpassen, der Natur der Dinge. »Diese Denkweise ist mir sehr zuwider […]. [Der Stoicismus] ist endlich gezwungen, zu sagen: alles wie es kommt, ist mir recht, ich will nichts anders« 74, notiert Nietzsche. Besonders deutlich werde dies im Verhältnis zu Schmerz, Erregung und Leidenschaft. 75 Die Stoiker lehren, dass all dies zu meiden sei und wie das gelingt. Dabei sind Schmerz, Erregung und Passion Nietzsche zufolge nicht das Resultat einer unangenehmen Situation, in die das Leben aus diesen oder jenen Gründen geraten ist (sei es durch den Ratschluss Gottes oder die Naturgesetze), sondern sie sind Ausdruck des wirklichen Lebens. Sie sind ein unverzichtbarer, integraler Bestandteil des Lebens, das über alle bisherigen Formen hinauswächst, das all seine Formen zerstört, um neue zu erschaffen. Wille zur Macht ist ein Leben, das mit jedem Schritt über sich selbst hinausgeht und all seine bisherigen Formen opfert, ein Leben voller endogenem Schmerz, voller Erregung und Passion, ein »Erdbeben«, eine »furchtbare Lehrerin der großen Verachtung, welche Städten und Reichen in’s Antlitz predigt ›hinweg mit dir!‹« 76, um

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Raum zu schaffen für das bislang Unbekannte, Unvorhersehbare, Neue. Ungehindertes Schaffen. Offenbar erfüllt der Ausdruck Wille zur Macht in Nietzsches Begriffswelt eine ähnliche Funktion wie der Begriff des Übermenschen. Er charakterisiert das Leben in seiner Gänze als ein unablässiges Über-sich-Hinausgehen, als ununterbrochene Überwindung jeglicher seiner Formen. Welchen Gewinn bringt nun die Verwendung dieses neuen Begriffs? Zur Klärung sei zunächst folgende Frage gestellt: Gibt Nietzsche, wenn er mit Zarathustra »Leben ist Wille zur Macht« 77 sagt, vor, ein universelles Merkmal entdeckt zu haben, eine universelle Struktur des Lebens? Sagt Zarathustra »Leben ist Wille zur Macht« wie er auch sagen könnte »das Dasein ist grundsätzlich rosa« oder »alle Kühe sind blau«? Sicher nicht, das ist nicht gemeint. Wenn alle Formen des Lebens Ausdruck des Willens zur Macht sind, dann sind es auch die Begriffe, auch »Gedanken sind Kräfte« 78, notiert Nietzsche einmal. »Auch im Erkennen fühle ich nur meines Willens Zeuge- und Werde-Lust« 79, sagt Zarathustra. In der Erkenntnis ist »Wille zur Zeugung« 80, notiert Nietzsche am Rande dieses Abschnittes. Wissen schafft. Daher kann Wissen nicht vollkommen sein, das liegt in seinem Wesen und nicht an der Unzulänglichkeit oder mangelnden Reife seines Subjekts, des Menschen: »Alles Erkennen hat als Schaffen kein Ende«. 81 Oder anders: »Als ein Schaffen ist alles Erkennen ein Nicht-erkennen.« 82 Als »Macht«, als »Schaffen« hat das Wissen die Möglichkeit, noch nicht Existierendes hervorzubringen, Neues und damit Unbekanntes, Unnennbares. »Die größte Gefahr ist der Glaube an das Wissen und Erkanntsein, d. h. an das Ende des Schaffens« 83, notiert Nietzsche während er am Zarathustra arbeitet. Das ist »die größte Gefahr«. 84 Hier wird die Schwäche des Lebens deutlich, die Erschöpfung, ein Aufgeben des Lebens, der Schatten des Todes. Die Verbindung von Wissen und Leben schließt also, wie Nietzsche darlegt, das endgültige Wissen und Erkanntsein aus. Somit ist es nicht sinnvoll, von einer endgültigen, universellen Struktur des Lebens zu sprechen (wenn man den Willen zur Macht so verstehen wollte). Der Ausdruck Wille zur Macht wie ihn Nietzsche verwendet, bezieht sich schließlich nicht unmittelbar auf die Welt und ihre Ordnung, er charakterisiert in erster Linie unsere Begriffe (auch die

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Weisheit Zarathustras) als schöpferisch und damit vorübergehend, zerbrechlich. Kann es aber ein Wissen geben ohne den Glauben an das endgültige Wissen? Nein, ganz gewiss nicht. Hier würde auch Nietzsche mir beipflichten. Wenn er schreibt, dass »als ein Schaffen alles Erkennen ein Nicht-erkennen [ist]«, verwendet er das Wort »Erkennen« so, wie wir alle das Wort »Wissen« im Alltagsgebrauch. Ich »weiß«, dass ich auf meinem Nachhauseweg jetzt rechts abbiegen muss und nachher links, ich »weiß«, dass zwei und zwei vier ergibt. »Ich weiß« bedeutet, ich bin überzeugt, dass es »so ist, wie ich es weiß«. Diese Überzeugung bringt, unabhängig davon, ob ich tatsächlich recht habe, den Sinn meines »Wissens« mit hervor. Das Wissen strebt nach einer letzten Bestätigung, es macht einen Universalitätsanspruch und die Möglichkeit der Befriedigung dieses Anspruchs geltend, die Möglichkeit, es sei so, wie es verkündet. Ohne diese Möglichkeit ergibt Wissen keinen Sinn. Ohne die Überzeugung, dass es – für gewöhnlich, eigentlich, zumindest von Zeit zu Zeit – so ist, wie ich denke, könnte ich keine andere Überzeugung sinnvoll formulieren. Ich wäre völlig orientierungslos in dieser Welt. Wie könnte ich (außer im Irrenhaus) leben, wenn ich nicht davon überzeugt wäre, Krzysztof Michalski zu sein (wie verkehrt meine Vorstellung von mir selbst auch sein mag) und nicht Dreieck, Engel oder Bachstelze? Wenn also nicht aus anderen Gründen, so erhebt das Wissen doch als meines – als Bedingung meiner Orientierung in der Welt, als Bedingung für die Möglichkeit meines Lebens – den Anspruch, endgültig zu sein. Wenn das Wissen zu jemandem gehört, wenn es meines ist, wenn es Zarathustras (Weisheit) ist, dann strebt es nach Vollendung, nach Sicherheit, nach einem Abschluss. Als zu mir, zu jemandem gehörig, verbindet sich Wissen notwendigerweise mit der Möglichkeit des endgültigen Wissens und zeugt damit nach Auffassung Nietzsches von Erschöpfung, geschwächter Schaffenskraft, erlöschendem Leben. Als zu jemandem gehörig haftet Wissen, ja selbst der Weisheit Zarathustras, der Schatten des Todes an. Ein gewisser Johannes schrieb an seine Cordelia: »Meine Cordelia! Mein – was will dies Wort bedeuten? nicht etwas, das mir gehört, sondern dem ich gehöre, das meines Wesens Inhalt ist, das soweit mein ist, als ich ihm gehöre. ›Mein Gott‹, das ist ja nicht der Gott, der mir gehört, sondern der Gott, dem ich gehöre und ebenso auch, wenn ich spre-

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che: mein Vaterland […], meine Sehnsucht, mein Hoffen. Hätte es bisher keine Unsterblichkeit gegeben, so würde dieser Gedanke, daß ich Dein bin, den gewohnten Gang der Natur durchbrechen. Dein Johannes.« 85

So nachzulesen bei Kierkegaard im Tagebuch des Verführers. Zum Tanz der Mädchen, denen er im Wald begegnet, singt Zarathustra über sich, sein Leben und seine Weisheit. Von seiner Weisheit, die weiß, wie das Leben ist: wild, weil es sich in keine Form, in keine Formel pressen lässt; wandelbar, weil keine seiner Gestalten endgültig ist; schöpferisch, weil es Wille ist und Kraft, die jeden Widerstand bricht. Der weise Zarathustra hatte also das Leben scheinbar schon verstanden, seine Wahrheit gefunden, es im Netz seiner Begriffe gefangen (Übermensch, Wille zur Macht). Seine Weisheit war der Wahrheit und dem Leben so nahe gekommen, dass beide kaum noch voneinander zu unterscheiden waren: »[W]as kann ich dafür, dass die Beiden [d. i. meine Weisheit und mein Leben – KM] sich so ähnlich sehen?« 86 Ähnlich, aber doch nicht gleich, denn das Leben entzieht sich schließlich Zarathustras Weisheit, wie es sich unser aller Wissen entzieht. Das Wissen ist ja mein, wie die Weisheit Zarathustras ist, während das Leben wohl auch mein ist, aber nicht nur, nicht bis zuletzt. Es ist auch noch mehr, ist weder mein noch sein. Das Leben fließt über jede Form hinaus, überwindet jede seiner Gestalten, auch mich, auch den Zarathustra in mir. Zarathustra steckt solang er lebt – genau wie ich – mit seinem Wissen und seinen Begriffen den Horizont ab, innerhalb dessen er leben, sein Nest, sein Haus einrichten kann. Für das Leben aber, jene Kraft, die das Leben ist, für den Willen zur Macht ist dieser Horizont keine Beschränkung, kein Hindernis, keine Grenze. Das Leben ist in jedem Augenblick mehr als das. Alles, was mich ausmacht, alles, was das Wort »Ich« mit Inhalt füllt, kann jeden Moment zerplatzen wie eine Seifenblase – und wird dies eines Tages auch tun. Dann bin ich tot. Diese Perspektive ist mit meinem Wissen untrennbar verbunden, sie verleiht ihm einen bitteren Beigeschmack, verursacht Schmerzen. Das Wissen, ohne das ich nicht leben kann, das Zeugnis der Schwäche, die der Schatten des Todes auf mein Leben wirft, und das in diesem Wissen überschäumende Leben, die über jede Form hinausfließende und sich so allen Begriffen entziehende Kraft, das durch ein Zuviel möglicher Bedeutungen unergründliche Dunkel: der Wille zur Macht. 219 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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D. H. Lawrence schreibt: »Erkennen und Sein sind gegensätzliche, einander widersprechende Zustände. Je mehr man erkennt, desto weniger ist man. Je mehr man ist, also im Sein wurzelt, desto weniger erkennt man. Dies ist das schwere Kreuz des Menschen, sein Dualismus. Das Blut-Ich und das Nerven-Hirn-Ich.« 87 So nimmt es nicht wunder, dass die Weisheit Zarathustras bei aller Nähe zum Leben Trauer und ein Vorgefühl der Trennung beschleicht, als sie dem Leben Aug in Aug gegenübersteht: »Die Sonne ist lange schon hinunter, […] die Wiese ist feucht, von den Wäldern her kommt Kühle. Ein Unbekanntes ist um mich und blickt nachdenklich. Was! Du lebst noch, Zarathustra? Warum? Wofür? Wodurch? Wohin? Wo? Wie? Ist es nicht Thorheit, noch zu leben? – Ach, meine Freunde, der Abend ist es, der so aus mir fragt. Vergebt mir meine Traurigkeit!« 88 »Warum?«, »Wofür?«, »Wohin?«, »Wo?« – das sind weise Fragen, ohne deren Antworten man kaum leben kann. Um leben zu können, muss man dies oder jenes wollen, ein Ziel verfolgen, sich für einen Weg entscheiden. Doch das Leben, jedes Leben, ist auch mehr als eine Sammlung solcher Antworten, das Leben ist im Grunde auch töricht. Es gibt nie eine Antwort auf die Fragen nach dem »Wofür?«, »Warum?« oder »Wohin?« und kann auch keine geben. Diese Fragen können es nie ganz erfassen, das Leben ist immer zu groß, ist in jedem Augenblick mehr, als es gerade ist, kennt also kein letztes Ziel, keinen Bezugspunkt. Die Erschöpfung – der Abend – haucht uns die (falsche) Hoffnung ein, dass wir bis auf den Grund gelangen können. Das Leben selbst, das existierende Leben – der Wille zur Macht – will nichts und strebt nach nichts, beziehungsweise will nur sich selbst, ist Wille zum Willen, nicht mehr. Irgendwo jenseits aller meiner Begriffe liegt die mir unbekannte, dunkle Seite des Lebens. Von dort fällt auf mein Leben – wie auch auf Zarathustras Weisheit – der Schatten des Todes, die Verzweiflung und die Sehnsucht des Vergehens. Aber das ist nicht alles, der dunkle Streif, das Mein-nicht-Mein, das in meinen Begriffen ständig präsente Zuviel an Bedeutung, das sich nie in Sätze, in zusätzliches Wissen oder in die Beschreibung des (jenseits des bisher gewussten) Seienden übertragen lässt, situiert mein Leben auch jenseits meiner selbst, jenseits meines Wissens über mich und meine Welt, also auch jenseits meiner Trauer über die Trennung von dieser Welt, jenseits der Sorge, der Bangnis um dies alles. Der Begriff Wille zur Macht beschreibt also das Leben nicht auf dieselbe Weise, wie »blau« den Himmel beschreibt. Der Wille zur 220 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Macht charakterisiert unser Leben ausgehend von unseren Begriffen, von dem, was wir über unser Leben wissen und wissen können. Er verweist auf die innere Spannung des menschlichen Wissens, auf die ambivalente Beziehung zu seinem Ursprung, dem unbekannten, dunklen, immer neuen Leben. So ist es wenig überraschend, dass Nietzsche seinen Willen zur Macht dem Willensbegriff Schopenhauers als dem gemeinsamen Nenner aller Erscheinungen gegenüberstellt. Zu den »Ausschweifungen und Laster[n]« 89 Schopenhauers (der »sich vom eitlen Triebe, der Enträthseler der Welt zu sein, verführen und verderben liess« 90) rechnet Nietzsche »die unbeweisbare Lehre von Einem Willen« 91, also die Behauptung, es existiere ein in jedem Kontext identischer »Wille«, eine in der Vielfalt der Welt verborgene Einheit, deren Entdeckung es uns ermöglicht, das Rätsel der Welt in eine universelle Ordnung zu bringen. Und wie ließe sich die Existenz eines derartigen »Willens« beweisen? Wie kann ich die Existenz eines »Ichs« völlig unabhängig von meinem Tun beweisen, die Existenz eines Willens unabhängig von meinem Wollen, die Existenz eines identischen Daseins (einer Substanz, eines Subjektes, eines Daseins) völlig unabhängig von der Situation, in der dieses Dasein sich befindet, in der ich mich befinde? Das ist nicht möglich. Diese Begriffe widersprechen Nietzsche zufolge dem Wesen der Begriffe, sie gehen von der Unabhängigkeit des Lebens aus, dabei sind sie doch aus dem Leben gegriffen, sind Ausdruck des Lebens. Mein Tun, die Situation, in der ich mich befinde – also dieses Leben und kein anderes – ist Voraussetzung jeglichen Verstehens, jeglicher Begriffe. Daher gibt es entgegen Schopenhauer für Nietzsche keinen universellen und identischen Willen. »Schwäche des Willens: das ist ein Gleichniß, das irreführen kann. Denn es giebt keinen Willen, und folglich weder einen starken, noch schwachen Willen« 92, notiert Nietzsche im Jahre 1888. »Es gibt keinen Willen« – das bedeutet nicht, dass man auf der ganzen Welt keinen (universellen und identischen) »Willen« finden kann, wie man keine Kentauren oder Heupferde finden kann (wenn man nicht weiß, wo man suchen muss). Nein, bereits der Begriff eines solchen »Willens«, der Begriff eines gemeinsamen Nenners, auf den die Vielfalt des Lebens gebracht werden können soll (eines universellen und identischen Willens beispielsweise), ist unmöglich.

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Der Wille zur Macht ist also nicht solch ein gemeinsamer Nenner. Er reduziert die Vielfalt des Lebens nicht. Er reduziert die Vielfalt der Situationen nicht, in denen das Leben (meines, deines oder Zarathustras) sich befinden kann, er bringt all diese Situationen nicht in ein System, bringt sie nicht alle miteinander in Verbindung. Die Behauptung, das Leben sei Wille zur Macht, sagt nicht aus, dass ohne Rücksicht auf die Unterschiede zwischen all diesen Situationen das Leben in jeder einzelnen »nur das Eine will« (wie Mroszkiewicz, wann immer er die Basia sieht). Gemeint ist vielmehr, dass der Begriff »ein Sinn«, »ein Inhalt«, der alle Augenblicke, alle Fakten des Lebens zu einem Ganzen zusammenschweißt, nicht existieren kann. Mit dem Begriff des Willens zur Macht möchte Nietzsche uns davon überzeugen, dass das Leben in jeder Situation etwas Neues, etwas radikal Fremdes in sich trägt. Damit ist es notwendigerweise vielfältig, beziehungsweise ist im Begriff des Lebens selbst die elementare Differenziertheit ohne Aussicht auf Einheit enthalten. Der Unterschied zwischen dem, was jeden Moment ist, und dem Unbekannten, Fremden, das sein kann; die unheilbare Zerrissenheit des Lebens, die Tatsache, dass es in jedem Augenblick ein Zuviel ist, das mit keinem Begriff, keiner Struktur und keiner Form zu fassen ist. Eine »innere« Differenziertheit, nicht aus der Perspektive eines Gegenstandes, der im Leben zerfällt oder entsteht (eines gemeinsamen Nenners?), nicht aus der Perspektive eines Zieles, auf das das Leben angeblich zusteuert. Dieser Unterschied ist anderer Art als der zwischen Gelb und Weiß oder der zwischen dem höchsten Glück der Menschheit und dem Niveau, auf dem wir uns gegenwärtig befinden. Eine Unterscheidung, die keine vorher existierende Identität (von Gelb, Weiß, Glück und dem Weg dorthin) annimmt, sondern jeglicher Identität vorausgeht, ja, die Bestandteil jeglicher Identität ist, die jeglicher Identität eingeschrieben ist. Denn jede Identität, jede Form, jede Struktur, jeder Begriff hat ja auch diese andere, dunkle Seite, die sich dem Wissen entzieht, und ist offen für das Fremde, Unerwartete. Das Leben – das Leben selbst, der Wille zur Macht – ist unabänderlich vielfältig, vermag also keine Wunden zu heilen und keine Misshelligkeiten beizulegen, vermag nicht zu beruhigen. »Höheres als alle Versöhnung muss der Wille wollen, welcher der Wille zur Macht ist«. 93 Wenn unsere Begriffe von einem Leben zeugen, das sich beständig selbst überwindet, so müssen sie im Kontext des Überwindungs-Kampfes verstanden und als Mittel in diesem Kampf gesehen werden, als »Waffen«, es gilt, in ihnen »klirrende Merkmale 222 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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davon, dass das Leben sich immer wieder selber überwinden muss« 94, zu hören. »Kampf sein muss [ich]« 95, sagt das Leben zu Zarathustra. Nietzsche hat noch eine weitere Bezeichnung für sein Anliegen: Schein. Das Leben ist im Grunde, seinem Wesen nach Schein, so schreibt er. Nicht in dem Sinne, dass es uns als »X« erscheint, während es (in Wirklichkeit) »Y« ist, sondern weil jede Erscheinungsform nicht nur ist, was sie ist, weil keine die »ganze« Wahrheit über das Leben ist oder sein kann, weil schon der Begriff »die ganze Wahrheit« im Bezug auf das Leben unsinnig ist. In der Fröhlichen Wissenschaft schreibt Nietzsche: »Was ist mir jetzt ›Schein‹ ! Wahrlich nicht der Gegensatz irgend eines Wesens, – was weiss ich von irgend welchem Wesen auszusagen, als eben nur die Prädicate seines Scheines! Wahrlich nicht eine todte Maske, die man einem unbekannten X aufsetzen und auch wohl abnehmen könnte! Schein ist für mich das Wirkende und Lebende selber«. 96 Daher erscheint das Leben, wie bereits deutlich wurde, in den Reden Zarathustras häufig in Gestalt der Frau. Die Frau ist in Nietzsches Augen eine Falschspielerin, funkelndes Sonnenlicht auf sich kräuselnden Meereswellen, Kleidchen, Blüschen, Strümpfchen, Schleifchen. Puder und Schminke. Sie ist und ist doch nicht. Lächeln, Versprechen, Verführung – und Leere, erhaschter Wind. »[V]ielleicht ist diess der stärkste Zauber des Lebens: es liegt ein golddurchwirkter Schleier von schönen Möglichkeiten über ihm, verheissend, widerstrebend, schamhaft, spöttisch, mitleidig, verführerisch. Ja, das Leben ist ein Weib!« 97 Es gibt kein hinter dem golddurchwirkten Schleier der Möglichkeiten verborgenes »wahres« Leben, wie hinter dem weiblichen Spiel mit dem Schein – hinter Kosmetik, Garderobe, Lächeln und Tränen – keine »Wahrheit« über die Frau (das nackte Weib) steckt. Der Schleier, das Spiel – sie sind bereits das Leben selbst, die Weiblichkeit. Wenn »Wahrheit« das Gegenteil von »Schein« ist, so ist sie auch das Gegenteil von Leben, ein Feind der Weiblichkeit. »[W]as liegt dem Weibe an Wahrheit! Nichts ist von Anbeginn dem Weibe fremder, widriger, feindlicher als Wahrheit, – seine grosse Kunst ist die Lüge, seine höchste Angelegenheit ist der Schein und die Schönheit. Gestehen wir es, wir Männer: wir ehren und lieben gerade diese Kunst und diesen Instinkt am Weibe: wir, die wir es schwer haben und uns gerne zu unserer Erleichterung zu Wesen gesellen, unter deren Händen, Blicken und

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zarten Thorheiten uns unser Ernst, unsre Schwere und Tiefe beinahe wie eine Thorheit erscheint.« 98

Hier ist nicht gemeint, dass Frauen lögen (›öfter als die Männer, dafür aber entzückend‹) und dass auch das Leben nur Lüge und Schein sei. Das Weib ist in diesem Kontext die Metapher für die unabänderliche Vielfalt; die Frau, die sich nicht dauerhaft in eine Form zwingen lässt, die in keiner Eindeutigkeit zu fassen und mit keinem Begriff einzufangen noch mit der Last des Seienden festzumachen ist. Wie das Leben. Wie die Frau ist auch das Leben leicht und töricht. »Lüge« und »Schein« in der hier gemeinten Bedeutung sind die Art und Weise, wie die Welt in unserem Leben zutage tritt. Auch jede Gestalt des Lebens birgt und verschleiert die dunkle, andere Seite, kann also nie nur die sein, die sie zu sein scheint. Wenn das so ist, wenn Leben Wille zur Macht ist und es keine Wahrheit gibt, der das Leben machtlos gegenübersteht, wenn Leben in keine Struktur passt und die Last des Seienden es nie seiner Leichtigkeit beraubt, dann gilt nach Zarathustra: »Wollen [im Sinne: Wille zur Macht – KM] befreit«. 99 Leben ist als Wille zur Macht absolut frei. »Wille – so heisst der Befreier und Freudebringer: also lehrte ich euch, meine Freunde!« 100 Das heißt gewiss nicht, der menschliche Wille müsste keine Grenzen kennen und alles sei erlaubt: »Wovor ich warne: […] die libertinage, das Princip des ›laisser aller‹ nicht mit dem Willen zur Macht zu verwechseln (– er ist dessen Gegenprincip)« 101, wird Nietzsche später notieren. »Wille« im obigen Kontext ist Wille zur Macht, also keine von »Verstand« und »Gefühl« zu unterscheidende menschliche Fähigkeit, die in unterschiedlichen Situationen identisch wäre und sich somit von ihnen trennen ließe. Die Freiheit, um die es hier geht, ist eher eine andere Definition des Zuviel, das das Leben in jedem Augenblick ist, seiner immanenten Leichtigkeit, der Tatsache, dass das Leben eine Kraft ist, eine Macht, die nichts vorfindet und alles erschafft. Ein so verstandenes freies, schöpferisches Leben – Wille zur Macht – sei, so formulierte Stanisław Brzozowski etwas später im Geiste Nietzsches, »der absolute Anfang, […] die Entstehung von etwas […], das sich aus keinem Begriff ableiten lässt […] – die Quelle alles Wahren, Guten, Schönen und Wirklichen«. 102 Setzt eine solche Deutung des Lebens nicht voraus, dass es keinen Gott gibt? Legt sie nicht nahe, dass zur Ausschöpfung dieses Frei224 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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heitspotenzials, des schöpferischen Charakters des Lebens die einengenden Bande angeblich äußerlicher (göttlicher?) Regeln gelöst, die Last der ihm aufgebürdeten Verpflichtungen und Aufgaben hinweggenommen werden müssen? Legt sie nicht Gottes Tod nahe? In der Tat: »Hinweg von Gott und Göttern lockte mich dieser Wille; was wäre denn zu schaffen, wenn Götter – da wären!« 103, spricht Zarathustra. Was bliebe vom Schaffen noch übrig, wenn ein Gott existierte, der Rahmen vorgibt, innerhalb derer die Menschen sich bewegen müssen, an die sie sich anzupassen haben? Wenn die Last der von Gott uns aufgebürdeten Verpflichtungen uns nicht vom Seienden abweichen ließe, wenn er uns mit Verantwortung und Schuld für bereits Getanes binden würde? Und gibt nicht der Jesus der Evangelien genau solche Rahmen vor, verkündet er nicht solche Verpflichtungen, um gleichzeitig all jene, die ihnen nicht nachzukommen vermögen, seines Mitleids zu versichern? Ruft er nicht seine Zuhörer auf, sie sollten seine Worte verstehen und ihr Leben nach ihnen ausrichten? Vielleicht impliziert Nietzsches Interpretation des Lebens als Wille zur Macht aber nicht nur eine Kritik des Christentums, sondern auch eine eigene Lesart der biblischen Jesus-Geschichte. Gottes Gegenwart im menschlichen Leben ist nach dieser Lesart nicht eine Art unverrückbarer Ordnung, die festlegt, was oben und unten, Wahrheit und Lüge, Gut und Böse ist. Die Worte Jesu wollen den Zuhörer nicht in erster Linie davon überzeugen, wie es ist. Paulus schreibt an die Korinther: »[M]ein Wort und meine Predigt war nicht in vernünftigen Reden menschlicher Weisheit, sondern in Beweisung des Geistes und der Kraft, auf daß euer Glaube bestehe nicht auf Menschenweisheit, sondern auf Gottes Kraft.« (1.Kor 2,4–5) Und an anderer Stelle desselben Briefes heißt es: »Denn das Reich Gottes steht nicht in Worten, sondern in Kraft.« (1.Kor 4,20) Die Worte des Paulus wollen – wie die Worte Jesu, die Paulus vermitteln möchte – nach dieser Interpretation die Wirklichkeit verändern, nicht nur die Sicht auf sie. Sie sind eine Kraft, die das Leben, an das sie sich richten, umgestalten und bislang ungeahnte Möglichkeiten in ihm freisetzen will. Gottes Wort soll mein Leben – schließlich ist es auch an mich gerichtet – dazu befähigen, die Last des Faktischen zu überwinden, die Last meiner bisherigen conditio, es öffnet das Leben für das Unerwartete und bildet in ihm die Fähigkeit zur Zukunft aus, seine Leichtigkeit. Diese Worte zu verstehen, sich die Botschaft zu eigen zu machen, bedeutet, sich von allem Seienden loszureißen; in meinem 225 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Leben eine untergründige Unruhe zu entdecken, die Ungeduld des gefangenen Vogels, der sich nur losreißen möchte, ohne zu wissen wohin, nur fort, fort in den freien Raum, die Ungeduld angesichts des bestehenden Lebens, die Paulus zu den Korinthern und den Thessalonichern trieb (»Darum habe ich’s auch nicht länger ertragen« 1.Thess 3,5), um seinen Zuhörern diese Unruhe weiterzugeben. Ungeduld, Unruhe, zugleich auch Not und Leiden, schließlich ist es nicht immer einfach, sich von allem Seienden loszureißen. Aber auch eine bislang nicht gekannte Freude, nicht über das Erreichen eines Ziels, die Erfüllung seiner Wünsche oder eine angenehme Überraschung, sondern Freude über die Befreiung von allem, was bislang mein war, Freude über die Leichtigkeit des Lebens, die überirdische Freiheit, Freude im »heiligen Geist«. »[U]nd ihr seid unsre Nachfolger geworden und des Herrn und habt das Wort aufgenommen unter vielen Trübsalen mit Freuden im heiligen Geist« (1.Thess 1,6). An die Hebräer schreibt Paulus: »[D]as Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer denn kein zweischneidig Schwert, und dringt durch, bis daß es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein«. (Hebr 4,12) Das Wort Gottes ist eine Kraft, ein Sprengsatz, der unser bestehendes Leben auseinanderreißt. Eben darin liegt seine Liebe zu den Menschen, eine Liebe, die nicht viel gemein hat mit Erbarmen, mit Mitleid, das die vorgefundene Wirklichkeit akzeptiert. »Denn die Liebe Christi dringt in uns« (2.Kor 5,14), sie drängt uns von dem Ort, an dem wir uns gerade befinden (Arme, Reiche, Glückliche, Unglückliche). Damit wir nicht bleiben, wie wir sind, damit wir »außer uns« (vgl. 2.Kor 5,13) geraten. Sie öffnet uns für das Unbekannte, Neue, Entsetzliche, Selige – für das Reich Gottes. Ähnlich spricht Zarathustra über den Willen zur Macht: »Aber zum Menschen treibt er mich stets von Neuem, mein inbrünstiger Schaffens-Wille; so treibt’s den Hammer hin zum Steine.« 104 (Man denke an Gottes Worte zu Jeremia: »Ist mein Wort nicht wie Feuer, spricht der Herr, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt?«, Jer 23,29) So versteht Zarathustra seine Liebe zu den Menschen (»Ich liebe die Menschen« 105, sagt er am Anfang des Buches zu dem Einsiedler). Eine Liebe, an die wir denken, so Nietzsche, wenn wir von der »großen Liebe« sprechen, eine Liebe, in welcher der Mensch über sich selbst hinausgeht, über alles (bislang) Menschliche, eine Liebe, die über die Akzeptanz des Vorgefundenen hinausgeht und damit über jegliches Mitleid und Vergebung. »[A]lle grosse Liebe ist noch

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über all ihrem Mitleiden: denn sie will das Geliebte noch – schaffen!« 106, spricht Zarathustra.

6 Damit, so Nietzsche, sind wir wir, die Menschen sind frei, völlig frei. Der Begriff des Willens zur Macht verweist auf die grundsätzliche, unabänderliche Freiheit menschlichen Lebens, eines Lebens, das ständig, ohne Unterlass all seine Erscheinungsformen zertrümmert. Leben, mein Leben, kennt keine Grenzen, wenngleich wohl jeder Einzelne – nur hierzu fähig, aber nicht dazu, zu schwach, zu dumm, erblich vorbelastet – auf solche Grenzen stößt. Im Grund sind unsere Möglichkeiten aber nicht beschränkt, irgendwo in der Tiefe unseres »Ich«, in der Tiefe unserer »Seele«, im Kern unseres »Lebens« sind wir völlig frei, grenzenlos schöpferisch, wenngleich unser Leben und Denken im Alltag von der existierenden Welt niedergedrückt wird. Wenn das aber so ist, wenn der Wille zur Macht das Wesen des menschlichen Lebens ausmacht, welches es alle möglichen Grenzen überschreiten lässt, wenn das menschliche Leben schöpferisch ist und sich in keinem Begriff fassen lässt, wenn unser Leben die Quelle ist, aus der unablässig alle Wirklichkeit sprudelt, wie ist dann die belastende, kaum zu ertragende Tatsache zu verstehen, dass ich nie mehr auf Vaters Arm zurückkehren, nie mehr meinen verstorbenen Freund sehen werde? Was tun in dieser Situation mit dem Augenblick, zu dem ich nicht mehr zurück kann, was tun mit der Vergangenheit? »Alles altert mit der Zeit«, »die Zeit lässt es schwinden« 107, schreibt Aristoteles. Wie lässt sich das mit der unbeschränkten Freiheit des Menschen vereinbaren? »Wille – so heisst der Befreier und Freudebringer: also lehre ich euch, meine Freunde! […] Wollen befreit: aber wie heisst Das, was auch den Befreier noch in Ketten schlägt? ›Es war‹ : also heisst des Willens Zähneknirschen […]. Ohnmächtig gegen Das, was gethan ist – ist er allem Vergangenen ein böser Zuschauer. Nicht zurück kann der Wille wollen; […] die Zeit [kann er] nicht brechen«. 108

Dann sind wir vielleicht am Ende überhaupt nicht frei? Vielleicht ist unsere angebliche Freiheit nur die Freiheit des Pferdes im Auslauf, des Tigers im Käfig? Vielleicht ist es nur eine Freiheit bis zu einer 227 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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nicht verrückbaren Grenze, der Grenze der unwiederbringlich verlorenen Vergangenheit? Entweder bin ich völlig frei, oder das Gewesene kehrt nicht wieder, und die Vergangenheit ist eine unüberwindliche Hürde. Kehrt denn das Gewesene wirklich nicht wieder? Vielleicht kann die Vergangenheit wiederkehren, vielleicht lässt sie sich irgendwie zur Wiederkehr bewegen? Vielleicht ist ja der Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft gar nicht endgültig, vielleicht lässt er sich verwischen, aufheben? Dies ist die äußerste Aufgabe, die Nietzsche Zarathustra stellt – zu beweisen, dass die Vergangenheit kein unverrückbarer Fels ist: »alles ›Es war‹ umzuschaffen« – damit es aufhört, ein unüberwindliches Hindernis zu sein, eine Last, die sich nicht abwerfen lässt, etwas, das ein für alle Mal gilt – und »[d]as Vergangne am Menschen zu erlösen« 109, damit es wiederkehren kann. Den Tod zu überwinden. Wie geht das? Zarathustras abgründlicher Gedanke will eine Antwort auf diese Frage sein, der Gedanke, in dem die wichtigsten bisherigen Inhalte seiner Reden zusammenfließen, ein Gedanke, zu dem die Begriffe Übermensch und Wille zur Macht hinführen, der Gedanke von der ewigen Wiederkunft des Gleichen. Nietzsches zentraler Gedanke, der seine Begriffswelt ordnet. Nietzsche scheint also hier an die lange Tradition dieses Begriffs anzuknüpfen, die ich eingangs beschrieben habe und mit Schopenhauer (den er immerhin, zumindest eine Zeit lang, als seinen Lehrer sah) zu sagen: »Wir können die Zeit einem endlos drehenden Kreise vergleichen«. Das Seiende, die Gegenwart, ist in diesem Zusammenhang der Fels, dem kein Vergehen etwas anhaben kann. Doch nein, Nietzsches Antwort fällt gänzlich anders aus, wie im Folgenden zu sehen sein wird. Er gibt keine direkte Antwort, sie verbirgt sich eher – nicht zufällig, meine ich – in einer Reihe stark metaphorischer Erzählungen und Gespräche Zarathustras. Er beginnt, indem er den Schiffsleuten auf dem Schiff, mit dem er unterwegs ist, von einer rätselhaften Vision erzählt, die er vor kurzem hatte. Die zentralen Figuren dieser Vision sind er selbst, Zarathustra, und sein Widersacher: »halb Zwerg, halb Maulwurf; lahm; lähmend; […] Bleitropfen-Gedanken in mein Hirn träufelnd« 110, beschreibt ihn Zarathustra. Zarathustra und der Zwerg erklimmen gemeinsam einen Berg und streiten während des Aufstiegs miteinander. Der 228 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Streit nimmt an Schärfe immer mehr zu, bis Zarathustra ihn auf die Spitze treibt: »Ich! Oder du!« 111, sagt er zu dem Zwerg. Worüber sind sie so uneins? »[D]u kennst meinen abgründlichen Gedanken nicht! Den – könntest du nicht tragen!« 112, sagt Zarathustra zu dem Zwerg. Zarathustra meint also offenbar, dass sein abgründlicher Gedanke den entscheidenden Unterschied zwischen ihm und dem Zwerg ausmacht. In diesem Augenblick bietet sich den Bergsteigern ein frappierendes Bild: Ein Tor, an dem zwei Wege zusammenkommen. Beide Wege beginnen in dem Tor und verlaufen jeweils in entgegengesetzter Richtung, beide verlieren sich im Unendlichen. Über dem Tor prangt die Aufschrift: »Augenblick«. Wir könnten also mutmaßen, dass eben dieses Bild, der Anblick des Tores – und das Gespräch, das Zarathustra und der Zwerg über seine Bedeutung führen (in der Erzählung für die Schiffsleute) – uns erklären soll, was dieser abgründliche Gedanke Zarathustras ist, der ihn so radikal mit dem Zwerg entzweit. Die beiden Wege, die im Tor des Augenblicks zusammenkommen, sind, so erklärt Zarathustra den Schiffsleuten, Vergangenheit und Zukunft. Sie kommen nicht einfach zusammen, »[s]ie widersprechen sich, diese Wege; sie stossen sich gerade vor den Kopf«. 113 Sie unterscheiden sich also. Hier, in diesem Augenblick tritt ihr Unterschied zutage. Hier, in diesem Augenblick unterscheidet sich die Vergangenheit von der Zukunft. Von hier aus, von diesem Ort – von diesem Augenblick an, dem Augenblick ihres Zusammenkommens – verlaufen Vergangenheit und Zukunft in entgegengesetzter Richtung bis ins Unendliche. Heißt das nun, fragt Zarathustra den Zwerg, dass sie jenseits dieses Augenblicks (des »Jetzt«) nie mehr zusammenkommen? Dass also der Unterschied zwischen ihnen nicht beizulegen ist, die Vergangenheit unwiederbringlich, die Zukunft unumkehrbar? Nein, antwortet der Zwerg, keineswegs: Die Zeit ist ein Kreis, alles kehrt an denselben Ort zurück. Wenn das stimmt, wenn der Zwerg recht hat, dann ist der Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft nicht endgültig, ist die Vergangenheit kein unüberwindliches Hindernis. Damit hätte der Zwerg (in diesem Fall) die Antwort gefunden, nach der wir gesucht haben, er hätte eine Perspektive eröffnet, in der der Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft verschwindet. Wer verstehen kann, dass Zeit die ewige Wiederkunft des Gleichen ist, dass wieder229 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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kehrt, was war, der braucht ihre zerstörerische Kraft nicht zu fürchten. Doch Zarathustra gibt sich mit der Antwort des Zwergs nicht zufrieden. Er weist sie erbost zurück, als wollte er sagen: »Die Zeit ist ein Kreis? Alles Gewesene kehrt zurück? Was für ein Unsinn!« Und doch wiederholt Zarathustra unmittelbar nach seinem Wutausbruch im Grunde das, was der Zwerg zuvor gesagt hat, nur in Form (scheinbar) rhetorischer Fragen: »Muss nicht, was geschehn kann von allen Dingen, schon einmal geschehn […] sein? Und wenn Alles schon dagewesen ist: was hältst du Zwerg von diesem Augenblick? Muss auch dieser Thorweg nicht schon – dagewesen sein? […] Und diese langsame Spinne, die im Mondscheine kriecht, und dieser Mondschein selber, und ich und du im Thorwege, zusammen flüsternd, von ewigen Dingen flüsternd – müssen wir nicht Alle schon dagewesen sein?« 114 Und muss das alles nicht ewig wiederkehren? Vielleicht hatte der Zwerg ja doch recht? An dieser Stelle bricht das Gespräch zwischen Zarathustra und dem Zwerg unvermittelt ab, ein Szenenwechsel findet statt. »Wohin war jetzt Zwerg? und Thorweg? […] Träumte ich denn? Wachte ich auf?« 115 Zarathustra erzählt, wie er – träumend? wachend? – einen jungen Hirten vor sich sah, »sich windend, würgend, zuckend, verzerrten Antlitzes, dem eine schwarze schwere Schlange aus dem Munde hieng.« 116 Er versucht, dem Hirten zu helfen, ihm die Schlange aus dem Schlund zu reißen – ohne Erfolg. Daraufhin schreit er bzw. schreit es aus ihm: »›Beiss zu! Beiss zu! Den Kopf ab! Beiss zu!‹« 117 Der Hirte befolgt diesen Rat, beißt der Schlange den Kopf ab, spuckt ihn weit von sich und lacht ein befremdliches, beängstigendes Lachen. »Niemals noch auf Erden lachte je ein Mensch, wie er lachte!« 118 »Oh meine Brüder«, kommentiert Zarathustra seine Vision für die Zuhörer, »[m]eine Sehnsucht nach diesem Lachen frisst an mir: oh wie ertrage ich noch zu leben!« 119 Hier endet die Erzählung Zarathustras. Was hat die Szene mit dem Hirten und der Schlange zu bedeuten? Einige Zeit (einige Seiten) später, kommentiert Zarathustra sie im Gespräch mit den Tieren, die ihn auf seinen Reisen begleiten, der Schlange und dem Adler (Der Genesende 120). Vor diesem Gespräch kommt es noch zu einer weiteren dramatischen Szene. Zarathustra versucht, wie er erzählt, die letzte Tiefe seines Lebens zutage zu fördern, den Abgrund, der sich in seinem Leben auftut. Wiederum geht 230 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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es offenbar um seinen abgründlichen Gedanken. Gleich ist es soweit, denkt Zarathustra, »[m]ein Abgrund redet, meine letzte Tiefe habe ich an’s Licht gestülpt!« 121 Und doch misslingt der Versuch im letzten Moment und Zarathustra verwirft angeekelt, was zutage tritt. Zarathustras Versuch, seinen abgründlichen Gedanken zutage zu fördern, sieht für die ihn betrachtenden Tiere aus wie der Anfall einer schweren Krankheit, von dem sich Zarathustra nicht so bald wieder erholt. Als er endlich wieder Lebenszeichen aussendet, versuchen die Tiere, ihm zu helfen, Gesundheit und das alte Leben wiederzuerlangen, und locken ihn mit den Verheißungen der vor ihm liegenden Welt: »Oh, Zarathustra, […] [t]ritt hinaus aus deiner Höhle: die Welt wartet dein wie ein Garten. […] Alle Dinge wollen deine Ärzte sein!« 122 Die Ordnung der Welt, die Ordnung, welche Genesung, Trost und Ruhe verheißt, sei die ewige Wiederkunft aller Dinge (sagen die Tiere): »Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, Alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins. […] In jedem Nu beginnt das Sein […]. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.« 123 Doch auch diesmal reagiert Zarathustra, ähnlich wie vordem im Gespräch mit dem Zwerg, der etwas Ähnliches gesagt hatte, mit Wut, diesmal gepaart mit Ironie: »Oh ihr Schalks-Narren und Drehorgeln! […] [W]ie gut wisst ihr, was sich in sieben Tagen erfüllen musste [den sieben Tagen seiner Krankheit – KM]: – – und wie jenes Unthier mir in den Schlund kroch und mich würgte! Aber ich biss ihm den Kopf ab und spie ihn weg von mir. Und ihr, – ihr machtet schon ein Leier-Lied daraus? Nun aber liege ich da, müde noch von diesem Beissen und Wegspein, krank noch von der eigenen Erlösung. Und ihr schautet dem Allen zu?« 124

Diese Reaktion Zarathustras ist sein oben erwähnter Kommentar zu der früheren Szene. Der mit der Schlange kämpfende Hirte aus der Traumerzählung für die Schiffsleute ist, wie sich nun herausstellt, Zarathustra selbst. Die heftige Attacke der Krankheit in der Szene mit den Tieren ist derselbe dramatische Kampf Zarathustras mit der Schlange aus der Außenperspektive der zuschauenden Tiere. Wenn das so ist, muss auch der Kampf des Hirten Zarathustra mit der Schlange ein Versuch gewesen sein, den abgründlichen Gedanken zutage zu fördern. Ähnlich übrigens wie in der ersten beschriebenen Szene, dem Streitgespräch zwischen Zarathustra und dem Zwerg vor dem Tor des Augenblicks. Alle drei Szenen behandeln offensichtlich 231 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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dasselbe Thema: den abgründlichen Gedanken Zarathustras und den Kontext, in dem Zarathustra ihn vorstellt, den Augenblick. Die Sequenz der drei Szenen (Zarathustra und der Zwerg am Torweg; Hirte und Schlange; Zarathustra und seine Tiere) wird nun verständlicher, denke ich. Zarathustra tadelt die Versuche seiner Tiere, ihm mit der Vision des ewigen Rads des Seins Trost zuzusprechen (»Oh ihr Schalks-Narren und Drehorgeln«), die Tiere »schauten nur zu«, wie er ihnen vorwirft, daher könnten sie nicht verstehen, worum es bei seinem Ringen gehe. Wir können uns nun denken, wovon Zarathustras Unmut über die Worte des Zwergs in der ersten Szene herrührt, als dieser beim Anblick des Tores erklärt, die Zeit sei ein Kreis. Wie später die Tiere tut der Zwerg nichts anderes, als auf den Augenblick zu schauen. Der Augenblick lässt sich aber nicht sehen, wie man ein Tor sehen und beschreiben kann. Den Augenblick verstehen kann erst derjenige (so legt Zarathustras Reaktion nahe), der wie der Hirte Zarathustra mit der Schlange kämpft, nicht aber, wer wie der Zwerg (und Zarathustra) am Torweg oder die Zarathustra betrachtenden Tiere einfach »dem allen zuschaut«. Nun ist klar, warum das Gespräch zwischen Zarathustra und dem Zwerg so unvermittelt abbricht und warum die Szenerie wechselt. Solange sich Zarathustra und der Zwerg wie in der ersten Szene nur darüber streiten, was sie sehen (das Tor des Augenblicks), muss der Unterschied zwischen ihnen unverständlich und der Konflikt ungelöst bleiben. Aus der Beobachterperspektive ist der Augenblick nicht zu fassen, so kann weder Zarathustras abgründlicher Gedanke erklärt werden noch der Unterschied zwischen Zarathustra und Zwerg. Zarathustras Widerspruch liegt also offenbar nicht darin begründet, dass die Aussage des Zwergs falsch und korrekturbedürftig wäre, sondern darin, dass der Anblick des Tores und der daraus hervorgehenden Wege der Vergangenheit und der Zukunft keine gute Verstehensgrundlage für den abgründlichen Gedanken darstellt. Dieser Gedanke soll, wie wir in der Szene mit den Tieren erfahren, der Abgrund sein, der sich in Zarathustras – in deinem, in meinem – Leben auftut, »mein Abgrund«, »meine letzte Tiefe«. Um diesen Abgrund verstehen zu können, genügt es nicht, ihn anzuschauen, wie man aus dem Fenster schaut (könnte Zarathustra sagen). Man muss tatsächlich an diesem Abgrund stehen, muss selbst kämpfen, leiden, sich freuen, muss selbst das abgrundtiefe Risiko tragen. Nicht also die Worte (des Zwergs) bedürfen in erster Linie der 232 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Korrektur, sondern die Situation, in der sie gesprochen werden; daher der Szenenwechsel. In der Folgeszene ist Zarathustra nicht mehr Beobachter, sondern wird im Kampf mit der Schlange des Hirten zum Beteiligten. Erst jetzt – erst für den Beteiligten, den Leidenden und Kämpfenden, den Empfindenden und Agierenden – wird der Augenblick verständlich, erhält der Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft einen Sinn. Der Augenblick ist kein Schauspiel, das ich aus der Distanz verfolgen kann. Er ist der »Ort«, an dem sich Vergangenheit und Zukunft treffen, der »Ort«, an dem der Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft entsteht, dieser Unterschied, den wir »Zeit« nennen. In dem, was ich gerade tue, in dem, was mit mir geschieht, scheidet sich die Vergangenheit von der Zukunft. Hier, in meinem Leben ereignet sich diese Unterscheidung. Mein Leben ist ein »Erdbeben«, es »schafft viel Verschmachten«, macht das Seiende zum Vergangenen und »macht neue Quellen offenbar« 125, die Quellen der Zukunft. Der Mensch, sagt Zarathustra, ist der »Weg zu neuen Morgenröthen«. 126 Mit anderen Worten: Der Augenblick, in dem ich mich gerade befinde, der Augenblick, in dem ich agiere und etwas erfahre, ist notwendigerweise offen, offen für die Zukunft, von Zukunft durchtränkt bis auf die letzte Faser. »Zukunft« meint in diesem Kontext nicht etwas, das einmal geschehen wird, die Momente nach demjenigen, in dem ich mich gerade befinde. »Zukunft« ist jetzt vor allem das Charakteristikum eben dieses Augenblicks, in dem ich mich befinde, sein offener Charakter, oder, anders ausgedrückt, das Zuviel an Bedeutung. Eben dieses Zuviel bewirkt, dass ich den Augenblick, in dem ich mich gerade befinde, in keinem Sinne »sehen« kann. Nun wird deutlich, warum der Augenblick, von dem die Rede ist, nicht »irgendein« Augenblick ist, nicht einer von vielen. Es kann nicht zwei Augenblicke geben, in denen ich mich gerade befinde (eine solche Aussage wäre unsinnig), also ist dieser Augenblick auch nicht »einer«. Eine Unterscheidung von Einzahl und Mehrzahl ist hier nicht möglich. Doch in welchem Sinne kann dann wiederkehren, was war? In welchem Sinne können Vergangenheit und Zukunft identisch sein? Von Zarathustras abgründlichem Gedanken haben wir uns schließlich eine Antwort auf diese Frage erhofft. Die oben beschriebenen Szenen deuten an, dass die Perspektive des Augenblicks eine unerlässliche Voraussetzung für das Verständnis dieses Gedankens ist. 233 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Wenn sich der Augenblick aber nicht aus der Distanz erfassen lässt, wenn er sich nicht »betrachten« lässt, was kann es dann bedeuten, dass er »wiederkehrt«? In welchem Sinne kann sich der Augenblick »wiederholen«? Wenn ich sage, ein Ton in einem Musikstück, ein Motiv in einer Melodie oder ein Wort in einem Text wiederhole sich, dann meine ich damit denselben Ton, dasselbe Motiv, dasselbe Wort, das noch einmal vorkommt. Wie könnte ich aber von einem Augenblick sagen, es sei »derselbe«, wenn der Augenblick sich doch darüber definiert, dass er sich (da konsequent offen) nicht endgültig definieren lässt? Wie kann ich behaupten, ein anderer, nächster Augenblick sei in Wirklichkeit derselbe wie jener, in dem ich mich gerade befinde, wenn ich sie doch nicht betrachten, also auch nicht vergleichen kann? Und schließlich: Was bedeutet »derselbe« Moment, was bedeutet »Wiederholung«, wenn sich Einzahl und Mehrzahl auf besagten Moment nicht anwenden lassen? Es scheint, als lasse sich der »Augenblick« nur unter der Voraussetzung als wiederholbar anerkennen, dass er in gewissem Sinne abgeschlossen, definiert und damit »betrachtet« werden kann; wie es der Zwerg oder die Tiere tun. Nur unter der Voraussetzung, dass der »Augenblick« (wie für den Zwerg und die Tiere) ein nach vorn und hinten begrenztes Stück Zeit ist: »diese langsame Spinne, die im Mondscheine kriecht, und dieser Mondschein selber, und ich und du im Thorwege, zusammen flüsternd, von ewigen Dingen flüsternd«. Wenn es einer von vielen – unendlich vielen – »Augenblicken« auf einem Zeitstrahl ist, ein Moment, dem unendlich viele frühere und in diesem Sinne »vergangene« vorausgehen und auf den unendlich viele »zukünftige« folgen. Nur dann lässt sich wohl sinnvoll von der »Wiederholbarkeit des Augenblicks« sprechen. Dies ist aber nicht der Augenblick, in dem ich dies schreibe – er ist undefinierbar, unwiderruflich offen für die Zukunft. Derselbe Augenblick, der eben vergangen ist, kann (wie es scheint) nur wiederkehren, wenn es gelingt, die Öffnung des Augenblicks für die Zukunft zu schließen (›die Zukunft kreuzigen‹ 127, nennt Zarathustra diese Operation). Nichts anderes tun der Zwerg und die Tiere, wenn sie Zarathustra von der ewigen Wiederkunft des Gleichen erzählen, als beschrieben sie irgendein Spektakel, einen Sonnenuntergang oder ein Gewitter draußen vor dem Fenster. Mit anderen Worten: Wenn ich die Welt betrachte wie ein Spektakel, »gleich dem, der bei einer Abzählung der Anwesenden sich 234 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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selbst mitzuzählen vergißt« 128 (so Heidegger bildhaft), dann verschwindet der Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft und die Welt wird (und ich in ihr) »Glied einer Abfolge von Begebenheiten, die im endlosen, kreisenden Einerlei immer wieder eintreffen.« 129 Eben dies ist die Perspektive des Zwergs, der Blickwinkel der Tiere, und daher erscheint ihnen die Zeit als Kreis, als ewige Wiederkunft aller Dinge. Nietzsche notiert im Frühjahr 1888 zum Phänomen der Zeit: »wenn ich die Richtung (vorwärts oder rückwärts) als logisch indifferent setzte [und genau das tue ich, wenn ich von mir absehe – KM], würde ich den Kopf, diesen Augenblick, als Schwanz zu fassen bekommen«. 130 Entweder ist die Welt, dieses Schauspiel, das Zwerg und Tiere betrachten, das Rad des Seins, das »ewig rollt« (doch was bedeutet dann, dass das Wiederkehrende die »Vergangenheit« ist? Was soll dann »Zukunft« bedeuten? Weshalb sollten wir dieses Rad »Zeit« nennen?), oder die Vergangenheit unterscheidet sich tatsächlich von der Zukunft, die Zeit ist real (doch in welchem Sinne könnten wir dann von ihrer Wiederholung sprechen?). Vergangenheit und Zukunft können nicht in dem Sinne gesehen werden wie das Blau des Himmels oder das Weiß des Schnees. Wenn wir auf die Welt sehen, wie wir aus dem Fenster schauen (wie Zwerg und Tiere), zerspringt die Zeit und zerfällt in kleine Stücke – die Spinne im Mondschein, wir im Torweg. Diese Bruchstücke sind nicht mehr die Zeit. War das schon? Oder wird es erst noch kommen? Wir wissen es nicht. Was ich sehe, ist. Es ist eine Illusion, zu glauben, wir sähen, wie alles vergeht. Die Worte »Vergangenheit« und »Zukunft« sind hier bedeutungslos. Der Unterschied zwischen »es war« und »es wird« ist unkenntlich. Die Zeit – der Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft – ist nicht mehr real. Und doch, lehrt Zarathustra, ist es ein realer Unterschied. Die Zeit ist real. Last und Schmerz der Vergangenheit sind real, desgleichen das Risiko der Zukunft und die Freude am Schaffen. Der Vorschlag des Zwergs und der Tiere, wie die Identität von Vergangenheit und Zukunft, wie die ewige Wiederkunft des Gleichen zu verstehen sei, ist also für Zarathustra inakzeptabel. Gewiss, Zarathustra will die Einheit der Zeit entdecken, aber er nimmt dafür nicht die Negation der Realität in Kauf. Er will die Identität von Vergangenheit und Zukunft verstehen, aber gleichzeitig auch den Unterschied zwischen beiden. Die ewige Wiederkunft des Gleichen und gleichzeitig die Zeit. Verstehen, wie die Vergangenheit mit der Zu235 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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kunft verknüpft ist und was sie von ihr trennt – diese Aufgabe hat er sich gestellt. »Und das ist all mein Dichten und Trachten, dass ich in Eins dichte und zusammentrage, was Bruchstück ist und Räthsel und grauser Zufall« 131, sagt Zarathustra. Euch, den Zuhörern, die Identität all dieser Bruchstücke zu zeigen, dieser Fragmente, dieser Überreste der zerschlagenen Zeit. Zeigen, dass sie trotz allem eine gewisse Einheit bilden, dass sie Teile eines bestimmten Ganzen sind, die Einheit, Ganzheit der Zeit. Wenn Nietzsche in den drei oben interpretierten Szenen den Augenblick beschreibt – jenen Kontext, in dem sein »abgründlicher Gedanke« verständlich werden kann – dann hat er eben diese Einheit im Sinn, diese Ganzheit. Er meint die Einheit, die Verknüpfung, den Nexus von Vergangenheit und Zukunft, versteht dabei aber Vergangenheit und Zukunft nicht als vergangene oder zukünftige Momente, nicht als »Gestern« oder »Morgen«, sondern als Charakteristikum jedes einzelnen Moments. Denn jeder Moment, jeder Augenblick »entschwindet«, »vergeht« gerade deshalb, weil er gleichzeitig »wird«, weil er ein »neuer Anfang« ist. Wie wollte man denn »Vergehen« verstehen, wenn nicht in Verbindung mit dem »Werden«, wenn nicht als andere Seite der Eruption bislang ungeahnter Möglichkeiten? Die Erde bebt (alles Seiende ist zerbrechlich, unbeständig – vergeht) und gleichzeitig entspringen aus ihr neue Quellen (alles beginnt von vorn). Die Verknüpfung, die Einheit von »Vergehen« und »Werden« bedingt den Unterschied. »Vergehen« und »Werden« (und in diesem Sinne auch »Vergangenheit« und »Zukunft«) sind nicht zwei aufeinander folgende Ereignisse, zuerst das Eine, dann das Andere. Nein, sagt Nietzsche, »Vergehen« und »Werden« bilden eine unverbrüchliche Einheit. Der Augenblick bezeichnet eben diese Einheit. Alles vergeht, eben weil alles neu beginnt. Eben weil »Zukunft« vor allem ein Charakteristikum jeden Moments, jeden Augenblicks ist, »Vergangenheit« charakterisiert ihn in demselben Maße. Nur deshalb können sich die Bruchstücke der Zeit in eine Folge von »es war« zu »es wird sein« begeben, zuerst das Eine, dann das Andere, gestern die »Spinne im Mondschein«, morgen vielleicht das »Lachen«. »Jedes Ding hat zwei Gesichter, eins des Vergehens, eins des Werdens« 132, notiert Nietzsche. Damit ist weder das Vergehen noch das Werden ein lokaler, begrenzter Wandel – fallende Blätter hier, wachsende Haare dort. Dieser 236 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Wandel hat keine Grenzen, er kann nicht eingegrenzt werden. Der »Wandel« von »es war« zu »es wird sein« lässt sich nicht auf etwas reduzieren, das mit einem ganz bestimmten Objekt geschieht, auf keinen objektiven Inhalt. Alles vergeht, nicht nur der welke Leib im Unterschied zu den beständigen Diamanten. Und alles entsteht neu. Alles – nicht nur dieses im Unterschied zu jenem; das Wort »alles« bezeichnet in diesem Kontext nichts Gegenständliches. Anders ausgedrückt: »es vergeht« und »es wird« sind andere Bestimmungen als »blau« oder »quadratisch«. Es ergibt keinen Sinn, von »allem« zu sagen, es sei blau; »es vergeht« oder »es wird« charakterisiert kein Objekt. Hier gibt es kein »Etwas«, das sich wandelt, nichts, was wird – keinen gemeinsamen Nenner, keine objektive Bedeutung, keinen gemeinsamen Inhalt. In diesem Sinne ist der Augenblick, diese Einheit von Vergehen und Werden, auch eine Ganzheit; für Nietzsche die einzig mögliche allumfassende, nichtobjektive Ganzheit. Wenn ich von »Werden« und »Vergehen« spreche, kann ich also nicht an Prozesse denken wie Verbrennen, Hausbau oder die Wiederkehr derselben Note in einem Kanon. »Vergehen« und »Werden« bestimmen die Art und Weise, in der die Welt – die ganze Welt, »alles« – zutage tritt. Heidegger sprach in diesem Sinne vom »Sosein«, der Art und Weise, wie etwas ist, in Abgrenzung vom »Seienden«. »Sein«, so verstehe ich Nietzsches Argument, heißt »vergehen« und gleichzeitig »werden«. »[S]ie [d. i. die Welt – KM] wird, sie vergeht, aber sie hat nie angefangen zu werden und nie aufgehört zu vergehen« 133, notiert Nietzsche im Frühjahr 1888. Also bedeutet »die Welt ist« soviel wie »sie wird und vergeht gleichzeitig«. Diese Aussage ist, wohlgemerkt, nicht zu verwechseln mit »die Welt wandelt sich« oder »sie bringt immer neue Formen hervor«. »Hüten wir uns zu denken, die Welt schaffe ewig Neues« 134, schreibt Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft. »Die Welt« ist schließlich kein »Etwas«, kein Ding, kein Objekt. Sie ist kein »Etwas«, das sich wandeln, vergrößern oder verkleinern könnte, das »neue« Eigenschaften hinzugewinnen könnte. »Die Welt« beschreibt die Art und Weise, in der etwas Seiendes ist. Wenn Nietzsche vom »durchgängig schöpferische[n] Charakter alle[n] Geschehens« 135 spricht, meint er also nicht, dass zu dem, was ist, ständig noch etwas Neues hinzukommt. Nein, alle Dinge vergehen und werden. So sind sie. Nichts Seiendes ist ein für alle Mal, es »ist« also nicht, sondern »vergeht«. 237 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Auf diese Weise – und nur in diesem Sinne – ist alles »offen für das Neue«, es »ist« nicht, sondern »wird«. Das sind zwei Seiten derselben Medaille. »Die Welt« ist die Ganzheit von Allem (die einzig mögliche Ganzheit »von Allem«), ist Alles als Ganzes; weil sich alles zu einer so gearteten Ganzheit fügt, weil alles vergeht und wird. Daher ist für Nietzsche ein anderes Wort für diese Ganzheit – ein anderes Wort für »Welt« – Kraft, nämlich eine »unveränderlich gleich große Kraft« 136, nicht in dem Sinne unveränderlich groß, wie ich von Leszek sage, er sei unveränderlich kleiner als ich, sondern in dem Sinne, dass diese Kraft nicht sinnvoll als kleiner oder größer bezeichnet werden kann. »Das unendlich neue Werden ist ein Widerspruch, es würde eine unendlich wachsende Kraft voraussetzen« 137, notiert Nietzsche 1881. Und Hölderlin schreibt: »Denn die Welt aller Welten, das Alles in Allen […] stellt sich nur […] im Untergange oder im […] Anfang von Zeit und Welt dar […]. Dieser Untergang oder Übergang […] fühlt sich in den Gliedern der bestehenden Welt so, daß in eben dem Momente und Grade, worinn sich das Bestehende auflöst, auch das Neueintretende, Jugendliche, Mögliche sich fühlt. Denn wie könnte die Auflösung empfunden werden ohne Vereinigung, wenn also das Bestehende in seiner Auflösung empfunden werden soll und empfunden wird, so muß dabei das Unerschöpfte und Unerschöpfliche, der Beziehungen und Kräfte […] empfunden werden«. 138

Der Augenblick: die Einheit von Vergangenheit und Zukunft; Vergangenheit und Zukunft – die Zeit – als Ganzheit. In diesem Sinne: Ewigkeit. Keine unendliche Abfolge von Momenten, sondern der »Ort«, der »Augenblick« der Zeit, an dem Vergangenheit und Zukunft zwei Seiten derselben Medaille sind. (»Wenn man Leben meint, spricht man von Augenblicken, meint man die Ewigkeit, vom Augenblick.« 139) Eine so verstandene Ewigkeit ist kein Gegensatz zur Zeit, sondern ein Teil von ihr, eine notwendige Dimension. Ihr Horizont. Notwendig, da ohne diesen Horizont die Zeit – der Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft und schließlich auch Vergehen und Werden – nicht möglich wäre. Ohne die Einheit müsste die Differenzierung unverständlich bleiben. Ihr Fehlen würde die Zeit in nicht miteinander verbundene Bruchstücke zerteilen, unter denen man vergebens nach Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft suchen würde.

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Berdjaev fragt: »Oder läge vielleicht die Zeit gerade im Schoße der Ewigkeit und hinge sie mit ihr zusammen?« 140 Nun wird meines Erachtens besser verständlich, welche Bedeutung Nietzsche dem Begriff des Scheins beimisst (»Schein ist für mich das […] Lebende selber« 141), oder wie Ryszard Przybylski in Anlehnung an Shelley schreibt, »Ewigkeit verwandelt das Sein in Schein« 142. Kein Augenblick des Lebens »ist« einfach, sondern er »wird« und »vergeht« zugleich, ist eine Einheit von »Werden« und »Vergehen«, ist Ewigkeit. Darum ist er auch immer etwas anderes, ist mehr, als er ist, in diesem Sinne ist er Schein, nicht weil ihm etwas innewohnt, ein »Wesen«, eine »Wahrheit« oder eine »Wirklichkeit«. Wegen der Ewigkeit, dieser Verknüpfung, dieser Einheit von Vergangenheit und Zukunft, ist keine Erscheinungsform des Lebens endgültig, ist das Leben ein nie gänzlich zu entschlüsselndes Rätsel. Es wandelt sich wie das Meer im Sonnenschein. Nicht umsonst sind Meer und Sonne Nietzsches Lieblingsmetaphern. Nun ist also deutlicher geworden, warum das Leben ein Weib ist, was es bedeutet, wenn sich Kierkegaard das Leben vorstellt wie »die Sonne der Weiblichkeit […] als hinausstrahlend in einer unendlichen Mannigfaltigkeit«. 143 Es ist die unaufhebbare Vielfalt von Vergehen und Werden, diese Vielfalt, die bewirkt, dass alle Erscheinungsformen des Lebens zerbrechlich sind und das Unbekannte in sich tragen. Eine Vielfalt, die sich der Tatsache verdankt, dass sie gleichzeitig Einheit, Ganzheit ist – Einheit und Ganzheit des Augenblicks, Einheit und Ganzheit der Ewigkeit. Noch einmal Kierkegaard, die Worte könnten aber auch aus dem Gespräch des Lebens-Weibs mit Zarathustra stammen: »Wenn ich dann die Mannigfaltigkeit dieser Welt gesehn und aber gesehn, betrachtet und aber betrachtet, […] so schiebe ich den Fächer zusammen, so sammelt das Zerstreute sich in dem Einen, die Teile in dem Ganzen.« 144 An dieser Stelle sei noch einmal daran erinnert, dass all diese Worte, »Augenblick« und damit auch »Ewigkeit«, »Zeit«, »Vergangenheit« und »Zukunft« erst im Kontext meines Tuns, meines Lebens einen Sinn erhalten. Den Augenblick, davon hat uns Nietzsche mit den Erzählungen der Abenteuer Zarathustras mit Zwerg, Schlange und seinen Tieren zu überzeugen versucht, den Augenblick kann nur der Beteiligte verstehen, nicht der Beobachter. Die Zeit, das bin ich; die Ewigkeit, das bin ich, mein Leben. Mein Leben erschüttert mit jedem Schritt alles Seiende, es löst ein Erdbeben aus und offenbart neue Quellen. Schöpferisches menschliches Tun enthüllt die Zer239 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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brechlichkeit alles scheinbar Seienden (das doch vergeht und wird). Mein Leben verbindet »heute« mit »einst«. »Wo wäre Zukunft und Vergangnes näher beisammen als bei dir?« 145, fragt Zarathustra das Leben und bringt damit die Sprengladung in das Seiende ein. Mein Leben eröffnet die Zukunft und drängt damit alles Seiende in die Vergangenheit. Deshalb kann Zarathustra im Gespräch mit dem Leben sagen: »ich hiess dich […] ›Umfang der Umfänge‹ und ›Nabelschnur der Zeit‹«. 146 Die Ewigkeit ist die Triebfeder meines Lebens. Zarathustra sagt über seine Botschaft an die Menschen: »Ich lehrte sie […] an der Zukunft schaffen, und Alles, das war, – schaffend zu erlösen.« 147 Das bedeutet, er lehrte die Menschen, sie selbst zu sein, lehrte sie zu leben. Die Ewigkeit, diese Verknüpfung von Vergehen und Werden, von Vergangenheit und Zukunft, ist »mein« oder »dein« nicht wie eine Hose oder ein Kugelschreiber, sondern wie ein Körper, wie ein Herz – intim, unveräußerlich, für immer, solange ich lebe. Die Ewigkeit durchzieht all mein Denken und Tun, sie bringt den Sinn des Lebens mit hervor, ohne sie müsste mein Leben unverständlich bleiben. Daher die für das Auge nicht zu erkennende Farbe (Gold), daher der unvergleichliche Geschmack (bittere Süße) – die Farbe und der Geschmack des Lebens, in denen die Welt zutage tritt. Mein Leben scheidet Vergangenheit und Zukunft voneinander und verknüpft sie gleichzeitig (schon für Plotin ist das Leben eine Weise, wie die Einheit auch die Vielfalt enthalten kann). Die Ewigkeit ist sein untergründiger Strom, sein nie verlöschendes Feuer. Seine Vitalität, die jegliche erreichte Form zerschlägt. Schließlich, notierte Nietzsche: »non alia sed haec vita sempiterna!« 148 Das ewige Leben ist kein Irgendwo, kein Irgendwann, keine andere Zeit, die uns erwartet, wenn die uns bekannte zu Ende geht. Nein, Nietzsche sagt: »Diess Leben – dein ewiges Leben!« 149 Von Ewigkeit durchtränktes Leben ist also Wille zur Macht, ist Kraft. Es ist stärker als jede Form, die es annehmen kann, also fließt es, wandelt sich, wird. Daher gibt es in meinem Leben keinen Moment, der ist, wie er ist, der selbstidentisch ist wie ein Stuhl oder ein Dreieck. Jeder Moment vergeht und wird aus sich selbst. Jeder Augenblick des Lebens weist aus sich selbst über sich hinaus, oder bildlicher ausgedrückt: Jeder Augenblick, jeder neue Anfang verlangt nach einem nächsten, nicht nach irgendeiner Situation, irgendeinem Moment, sondern eben nach der Verknüpfung von Ende und Anfang, Vergangenheit und Zukunft, Vergehen und Werden, d. h. nach dem

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Augenblick, unendlich. »[O]h wie sollte ich nicht nach der Ewigkeit brünstig sein« 150, spricht Zarathustra zum Leben. Hier geht es nicht um ein Verlangen – was wäre natürlicher? –, dass mein Leben nie zu Ende gehe, dass es andauere »und so fort«, »ohne Ende«. Es geht nicht um die »schlechte Unendlichkeit« 151 (so nannte Hegel die Unendlichkeit als Ergebnis der Überschreitung immer neuer, beliebiger Grenzen). Das unendliche, unstillbare Verlangen nach den nächsten Augenblicken, die so schmerzhafte Tatsache, dass ich die Zeit bin, bringt das Charakteristikum jedes einzelnen Augenblicks meines Lebens zum Ausdruck, seine innere Zerrissenheit, den Knacks, eben das Durchtränktsein mit Ewigkeit, das bewirkt, dass mein Leben – wie eine läufige Hündin – nicht zur Ruhe kommen kann, nicht bleiben kann wie es ist, nicht fortdauern kann. »Die Unendlichkeit [die wahre, nicht die »schlechte« – KM] ist das sich auf sich beziehende Selbstbestimmen, das Setzen einer immanenten, eigenen Bestimmtheit«. 152 Eben die eigene Bestimmtheit, das innere Charakteristikum des Lebens in jedem Augenblick – die Ewigkeit – bewirkt, dass die Zeit fließt, dass das Leben »in Gang« ist, ohne Ende. Man könnte es auch so ausdrücken, dass die von mir erlebten Augenblicke nicht aufeinander folgen wie Perlen auf einer Schnur, eine nach der anderen. Der heutige Tag ersetzt nicht einfach den gestrigen. »Das Gestern ist ins Heute gestorben, das Heute stirbt ins Morgen« 153, schreibt Plutarch. Der Tod, das Vergehen jeder Sekunde ist die Geburt, das Werden einer anderen. Jede einzelne Sekunde trägt also bereits den Übergang in sich, den Verweis auf die andere, sie »ist« bereits diese andere, sie »vergeht« also und sie »wird«, sie ist nicht. Sie ist Anfang und Ende zugleich. Wie der Punkt eines Kreises. Daher dient der Kreis Zarathustra auch wie einst Heraklit als Bild für die Zeit. Denn, so Heraklit, »gemeinsam ist Anfang und Ende beim Kreisumfang«. 154 Und Nietzsche notiert: »Das ist der Mensch: eine neue Kraft [sic! – KM], eine erste Bewegung: ein aus sich rollendes Rad«. 155 Wie oben bereits angeführt, sagt Zarathustra zum Leben: »ich gab dir neue Namen und […] hiess dich […] ›Umfang der Umfänge‹ und ›Nabelschnur der Zeit‹« 156 und (so ergänzt Nietzsche in den Notizen zu diesem Fragment) »ewiger Ring« und »Wiederkehr« 157. Wenn das Leben ist wie der Punkt eines Kreises, wenn es Anfang und Ende zugleich ist, wenn es also aus sich selbst heraus alles zerstört und alles von vorn beginnt, dann ist auch jeder seiner Augenblicke Reproduktion, Wiederholung – Wiederkehr. Und dies nicht zufällig, sondern grundsätzlich, jeder 241 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Augenblick ist unablässige Wiederkehr, immer neue Wiederkehr – ewige Wiederkehr. Nicht die Wiederholung eines Inhaltes, einer Erscheinungsform oder einer bestimmten Situation, sondern immer wieder neu, bis zur Unendlichkeit auf dem unendlichen Strahl der Zeit. »Ein aus sich rollendes Rad«, kein Karussell, wie es die Tiere wollten. Was ist, vergeht, verwandelt sich aus sich selbst heraus in Vergangenheit, denn gleichzeitig erwächst aus ihm Zukunft, eine Zukunft, die es von innen her sprengt. Das Leben des Menschen ist ein Kreis, ist ewige Wiederkunft insofern, als es in jedem Augenblick endet und von Neuem beginnt. Nicht, weil die Ereignisse dieses Lebens etwas wiederholten, das bereits geschehen wäre und noch unendlich viele Male geschehen würde. Nicht, weil es in einem Fragment der Zeit eingekapselt ständig an denselben Ort zurückkehrte wie ein Karussellpferd. Das Verständnis der ewigen Wiederkunft des Gleichen erwächst offensichtlich nicht aus dem Vergleich zweier oder mehrerer Zustände, zweier oder mehrerer Momente, nicht aus der distanzierten Betrachtung des Laufs der Dinge. Die ewige Wiederkunft des Gleichen ist etwas, das in diesem Augenblick mit mir geschieht, in diesem Augenblick meines Lebens. Der Zwerg und die Tiere, für die die Welt nur das Spektakel eines unablässig sich drehenden Karussells ist, können das nicht verstehen. Der Begriff der ewigen Wiederkunft des Gleichen hat also für Zarathustra (und für Nietzsche) einen ganz anderen Sinn als denjenigen, den ihm die Tiere (und vorher der Zwerg) verleihen. Doch Zarathustra weist ihre Interpretation nicht einfach zurück, er tut dies, wie oben ausgeführt, in der ersten Szene mit dem Zwerg voller Zorn, später auch mit Grauen und Ekel. »Sah ich je so viel Ekel und bleiches Grauen auf Einem Antlitze?« 158, fragt sich Zarathustra beim Anblick des Hirten, dem die Schlange im Schlund steckt. Und kurz darauf: »›Den Kopf ab! Beiss zu!‹ – so schrie es aus mir, mein Grauen, […] mein Ekel […] schrie mit Einem Schrei aus mir.« 159 Dieselbe Reaktion, Grauen und Ekel, zeigt Zarathustra auch auf die Vision seines Krankheitstraumes: »Ekel, Ekel, Ekel«. 160 Aus Zarathustras Perspektive handelt es sich hier nicht um einen einfachen Fehler, sondern um eine ekelerregende und gefährliche Attacke. Zarathustra und der Zwerg unterscheiden sich nicht nur voneinander, sie unterscheiden sich dramatisch. Woher kommt dieser Ekel, dieses Grauen, dieses Drama? 242 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Zarathustras Widerspruch gegenüber dem Zwerg ist bekanntlich nicht intellektueller Natur. Hier geht es nicht darum, dass der Zwerg (wie später die Tiere) »A« sagt, während Zarathustra denkt: »Nein, nicht ›A‹ ist richtig, sondern ›B‹.« Gewiss, der Zwerg sagt: »die Zeit […] ist ein Kreis« 161, aber Zarathustra sagt keineswegs: »Nein, die Zeit ist kein Kreis«, er setzt der Ansicht des Zwergs keine andere entgegen (ja, er ist sogar selbst der Ansicht, die Zeit sei ein Kreis). Ähnlich verhält es sich mit den Tieren. In beiden Fällen entzündet sich Zarathustras Widerspruch nicht am Inhalt des Gesagten, sondern an der Tatsache, dass die Tiere wie vordem der Zwerg dem, wovon sie reden (der Welt, der Zeit, dem Augenblick, der ewigen Wiederkunft) nur zuschauen. »By looking at life one begins to forget it« 162, könnte Zarathustra mit Cioran sagen. Doch was sollen sie tun, wenn sie erfahren wollen, wie es ist, wenn sie die Wahrheit erfahren wollen? Wie sonst ist das möglich, wenn nicht durch Distanzierung, durch die Einnahme eines Standpunktes, von dem aus ich dieses Seiende unabhängig von mir, meinen Schmerzen und Freuden betrachten kann? Zwei und zwei ist vier, die Erde dreht sich um die Sonne, das Gras ist grün, die Bank ist hart – so ist es, oder so ist es nicht. Was haben meine Leiden und Freuden, was hat mein Handeln damit zu tun? Und wenn das so ist, muss ich, so gut ich eben kann, von all dem (meinen Leiden, meinen Freuden) abstrahieren, erst dann kann ich erkennen, wie es ist. Dass der Zwerg und die Tiere dem Geschehen zuschauen, ist dann eine Metapher für die ideale kognitive Haltung, eine Metapher für das Wissen. Wissen, so könnte man auch sagen, geht davon aus, dass es so ist und nicht anders; ohne diese Annahme hätte Wissen keinen Sinn. Daher erfordert Wissen auch einen »Blick«, der aus dem Kontext meines Tuns gerissen ist, aus den wechselvollen Zeitläuften meines Lebens, den Blick, den der Zwerg auf den Torweg richtet oder die Tiere auf den mit seiner Krankheit ringenden Zarathustra. Wenn das so ist, kann die Welt, von der Zarathustra erzählt, nicht Gegenstand des Wissens sein, dann lässt sie sich nicht verstehen – »Welt«, die eben nicht »ist«, »Welt« im Sinne von »Alles«, im Sinne von alles in allem, das Vergehen und Werden von allem. Vergehen und Werden können wir nur »von außen« verstehen, nur aus der Perspektive von etwas, das selbst nicht wird und vergeht, das nicht »lebt«, das »ist«. »Wir können uns das Werden nicht anders denken als den Übergang aus einem beharrenden ›todten‹ Zustand in einen anderen beharrenden ›todten‹ Zustand« 163, notiert Nietzsche. Also können wir es 243 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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gar nicht denken. Die »Welt« – Werden und Vergehen – kann nicht gewusst werden. Das »irdische Feuer« (Hölderlin) verbrennt und zerstört stets etwas, Vergehen und Werden sind »himmlisches Feuer«, hier findet sich nichts dergleichen. Im »wirklichen« Zerfallsprozess löst sich immer etwas auf (der alternde Leib, das brennende Haus), dagegen ist das Vergehen »idealische« Auflösung, hier findet nichts Vergleichbares statt, es gibt kein zerfallendes Objekt. Daher »unterscheidet sich die idealische Auflösung von der sogenannt wirklichen […] dadurch, daß die Auflösung […] als reales Nichts erscheinen muß, so daß jedes Bestehende also Besondere, als Alles erscheint« 164, ist bei Hölderlin zu lesen. Das Wissen informiert uns über das, was ist. Wir sehen, was ist. Vergehen und Werden »ist« nicht. In diesem Sinne sind sie »nichts«. Sie sind nicht zu begreifen. Der Zwerg (wie die Tiere) denkt, er könne in der scheinbar chaotischen Vielfalt der Dinge eine konstante, unveränderliche Struktur entdecken, die diesem Chaos eine Ordnung verleiht, die aus dem Dschungel einen Garten macht: das Rad der Zeit, die ewige Wiederkunft des Gleichen. Damit werden ihnen Vergehen und Werden – also die Zeit, die Abfolge von Momenten – verständlich, denken sie. Aber sie irren. Nicht in dem Sinne, dass sie »A« für »B« halten, dass sie einen Fehler begehen, den Zarathustra später korrigiert. Die Tiere und der Zwerg irren, wie das Wissen überhaupt »irrt«. Sie irren, weil sie wie das Wissen davon ausgehen, dass die »Welt« (Vergehen und Werden) sich verstehen ließe wie die Eigenschaften eines Dreiecks oder die Verdunstung, dabei ist die »Welt« nicht zu begreifen. Vergehen und Werden sind nicht zu begreifen. Sie entziehen sich unseren Begriffen, entziehen sich dem Wissen. Wenn wir sie mit unseren Begriffen zu fassen versuchen, erhaschen wir nur Leere, Nichts. »Eine werdende Welt könnte im strengen Sinne nicht ›begriffen‹, nicht ›erkannt‹ werden«. 165 »Und wer zuviel begreift / dem geht das Ewige vorbei« 166, schreibt Rilke. Wissen ist also »Irrtum«, Wissen »irrt« immer. Und doch müssen wir erkennen, müssen wir wissen, um leben zu können. Wir brauchen die Konstanz und Identität des Seienden um uns. Haus, Heimat, Frau. Ein Ruhebänkchen. Wissen, Erkenntnis ist Ausdruck dieses Bedürfnisses, Zeugnis dieser Notwendigkeit. Das Leben, das wir leben, kapselt sich in jedem Augenblick in Begriffe ein, die uns 244 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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sagen, wie es ist. Der Wahrheitsanspruch des Wissens ist eine notwendige Bedingung für unser Leben, ist seine Selbstaffirmation. Leben, sagt Nietzsche, ist der »Wille zur Denkbarkeit alles Seienden«. 167 Der »Fehler« von Zwerg und Tieren – wie auch der »Fehler«, auf dem das Wissen aufbaut – ist also nicht korrigierbar. Doch nicht so, dass der Zwerg und die Tiere hier einen Fehler machten, den sie ebenso gut hätten vermeiden können. Somit tragen alle Begriffe, alles Wissen, eine innere, nicht aufzuhebende Spannung in sich. Sie gehen davon aus, dass etwas »ist«, das man wissen kann, und negieren damit das Leben (das vergeht und wird, aber nicht »ist«), zugleich sind sie aber notwendiger Ausdruck dieses Lebens. Die Negation des Lebens nennt Nietzsche wie bereits erwähnt Nihilismus. Die das Leben von innen her zersetzende Spannung bedeutet also, dass alles Wissen seinem Wesen nach nihilistisch ist. Der Nihilismus – die Verneinung des Lebens – liegt jeglicher Erkenntnis zugrunde. Alles, was wir wissen – nicht nur die ein oder andere Ansicht, nicht nur dies oder jenes Wissensfragment – ist durchdrungen von Nihilismus, auf Nihilismus gestützt, aus Nihilismus erwachsen, aus der Negation, der Verneinung des Lebens entstanden. Die Worte »Negation« und »Verneinung« könnten in diesem Kontext missverständlich sein. Sie könnten vermuten lassen, das »Wissen« und »Leben« durch irgendeine Logik miteinander verbunden sind. Dass ein Standpunkt existiert, von dem aus die zwischen ihnen bestehende Spannung in ein Netz von Begriffen gepackt, verstanden, begriffen werden könnte. Dass sie schließlich aufgehoben und eine Vereinigung beider Seiten vorgenommen werden könnte. So verstand Hegel den Gegensatz zwischen Wissen und Wirklichkeit: Wer ihr dialektisches Verhältnis erkenne, verstehe was sie miteinander verbindet, und versöhne sie somit. Dann kann gelten: »Beide Welten [die Welt des Wissens und die der Wirklichkeit – KM] sind versöhnt und der Himmel auf die Erde herunter verpflanzt.« 168 Und an anderer Stelle heißt es: »Die Vernunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart zu erkennen und damit dieser sich zu erfreuen, diese vernünftige Einsicht ist die Versöhnung mit der Wirklichkeit, welche die Philosophie […] gewährt«. 169 Aus dieser Perspektive erscheint jegliche Negation und Verneinung, jegliche Unzulänglichkeit, Schwäche und Krankheit des Wissens – und damit auch aller Schmerz, alles Unglück – unausweichlich und gleichzeitig vorübergehend als Weg zur endgültigen Versöhnung von Wissen und Wirklichkeit. Ähnlich 245 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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wir Marx in jedem Konflikt, jeder Art von Gegensätzlichkeit zwischen Denken und Wirklichkeit – und schließlich dem daraus resultierenden Leid – lediglich eine krankhafte Erscheinung auf dem Weg zur definitiven Versöhnung beider sieht: »Das Böse und das Leid erscheinen bei ihm [d. i. Karl Marx] als die Hebel der künftigen Emanzipation.« 170 Die Spannung zwischen Wissen und Leben, von der Nietzsche spricht, lässt sich jedoch mit keiner Logik fassen und abbauen. Sie kann nicht stärker oder schwächer sein, nicht steigen oder abnehmen. Wissen ist ohne sie nicht zu denken. In den Erzählungen und Reden Zarathustras wird diese Spannung – der Nihilismus – übertragen als Kampf (des Hirten mit der Schlange) dargestellt oder als Krankheit (die Krankheit Zarathustras, der die Tiere zuschauen). Anders als bei Marx oder Hegel ist dies aber ein Kampf, der nicht zu Ende geht, eine Krankheit, von der es kein Genesen gibt. Diesen Charakter der Verbindung von Wissen und Leben sollen in der Zarathustra-Erzählung meiner Ansicht nach eben die Metaphern des Zorns, des Grauens und des Ekels zum Ausdruck bringen. Im Unterschied zu den negativen Erscheinungen wie Leid und Ausbeutung bei Hegel und Marx sind dieser Zorn, dieses Grauen und dieser Ekel aber nicht vorübergehend. Sie sind bildhafter Ausdruck einer Konfrontation, in der nicht vermittelt werden kann, sie zeugen von einer Unstimmigkeit, die sich nicht in Wohlgefallen auflöst. Die Konfrontation mit dem Nihilismus, so legen es die Metaphern des Zorns, des Grauens und des Ekels nahe, endet nicht mit dem Moment der Versöhnung beider Seiten, nicht mit dem Augenblick der Erkenntnis einer gemeinsamen Rationalität. Die Seiten dieses Konflikts lassen sich nicht in eine Ordnung, nicht in ein sinnvolles Raster bringen, hier gibt es keine Mittler, keine Brücken, keinen gemeinsamen Nenner. Diese Konfrontation lässt sich nicht in Begriffe übersetzen, sie lässt sich nicht verstehen und damit beilegen, neutralisieren, im Begriff aufheben, wie es Hegel vorschwebt. Andererseits verraten die Metaphern des Ekels, des Grauens und des Zorns auch etwas über die Begriffe insgesamt und ihre Verbindung zum Leben, wenngleich sie sich nicht auf Begriffe reduzieren lassen. Sie verraten, dass Begriffe notwendigerweise unzulänglich sind, dass das Leben – Vergehen und Werden – mit ihnen nicht zu fassen ist, dass sie also zerbrechlich sind und aus sich heraus, von innen her zerrissen werden. Dass sie also keine solide Basis abgeben, keinen festen Boden unter den Füßen garantieren. Die Metapher des 246 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Ekels, den Zarathustra empfindet, hat schließlich noch eine weitere Bedeutung, sie bezeichnet auch die Übelkeit, die »Seekrankheit« desjenigen, vor dessen Füßen der Abgrund gähnt, desjenigen, der (wie Zarathustra) nicht mehr weiß, wo »es noch ein Oben und ein Unten« 171 gibt. Der Ekel zeugt also auch vom Verlust der Orientierung, vom Fehlen jeglichen Bezugspunktes, allen Gewichts. Wer orientierungslos ist, weder Bezugspunkt noch Gewicht hat, wird leicht, frei »wie ein Vogel« (ist aber eben kein Vogel, sondern an festen Boden unter den Füßen gewöhnt, daher die Übelkeit). Der Ekel ist also bei Nietzsche nicht nur eine Metapher für kompromisslosen Widerspruch oder Negation. Er zeugt auch von der in der Unangemessenheit der Begriffe zutage tretenden Fähigkeit zu uneingeschränkter Freiheit, zur Befreiung. Der Ekel, die Verachtung, ist »das Grösste, das ihr erleben könnt«, sagt Zarathustra seinen Zuhörern. Ekel vor dem existierenden Leben, vor allem, was es organisiert, strukturiert und ihm Gewicht verleiht, es verständlich macht; Ekel vor dem Glück (ein Ziel erreicht zu haben), Ekel vor der Tugend, Ekel vor der Vernunft. Ekel – keine logische Reaktion, kein Widerspruch im Namen eines höheren Ideals oder einer anderen, besseren Wirklichkeit. Ein »Ekel [der] selber Flügel [schafft]«. 172 Wenn also das Wissen nicht nur sagt, wie es ist, sondern auch seine Schwäche offenbart, seine Krankheit, deren Symptom der Ekel ist, dann ist Wissen nicht nur Negation, sondern auch Affirmation des Lebens. Nicht die Affirmation irgendwelcher Inhalte, kein Ja zum Leben, »wie es ist« oder wie es sein könnte. Kein spezieller Akt, in dem sich jemandes (mein) Verhältnis zum »Leben« manifestiert (als ob das Leben etwas wäre wie das Wetter oder Tante Ernas schlechte Manieren), sondern das dem Wissen unablässig sich entziehende, alle Begriffe übersteigende Leben selbst. In der Krankheit, im Zerspringen des Wissens tritt das Leben zutage. Nicht als dies oder jenes, nicht als bislang verkannter Inhalt, als ungeahnte, hinter den Begriffen verborgene Wirklichkeit, sondern als Aufhebung jeglicher Bedeutung, als Neuanfang, als Schaffen. Als Chance auf Freiraum, auf ein weites Feld. In diesem Sinne ist Wissen, das vom Nihilismus zerfressen ist und das Leben negiert, gleichzeitig eine Affirmation des Lebens. Leben und Wissen – in diesem Kontext handelt es sich also nicht um zwei verschiedene oder gegensätzliche Reihen von Merkmalen, Eigenschaften und Bestimmungen, hier das Eine, da das Andere, hier das Leben, da das Wissen. Nein, keineswegs, das Leben tritt eben in 247 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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diesem Ekel, in diesem Grauen zutage, in der Zerbrechlichkeit der Begriffe, auf die sie verweisen, in der Unruhe, aufgrund derer man sich nicht mit dem Vorgefundenen versöhnen will, in der unmenschlichen Freude über die Befreiung, und nur so. In der Krankheit des Lebens, in seinem inneren Kampf. In seinem Nihilismus. Das »Leben« ist keine (auf das Wissen bezogen) separate Ganzheit, kein separates Objekt oder Dasein, nichts, was irgendwo »ist«, und sei es außer Reichweite. Wenn ich also schreibe: »Wissen ist lebensnotwendig«, dann denke ich nicht an ein Wesen, eine Struktur oder den inneren Mechanismus eines Objektes oder Daseins (als spräche ich von den Eigenschaften des Dreiecks oder den Ursachen für Regen). Wissen ist insofern lebensnotwendig, als das Leben den Horizont unserer Begriffe darstellt, der erst durch ihre Vermittlung zutage tritt – als Öffnung der Begriffe hin zu etwas, das sie übersteigt, als ein Zerspringen, das sich nicht mehr in Begriffe fassen, also auch nicht mehr kitten lässt. Die Affirmation des Lebens, die Nietzsche in der Krankheit des Wissens verfolgt, in seinem inneren Zerspringen, in seiner Bodenlosigkeit, kann naturgemäß nicht »mein« sein – nicht ich, Krzysztof Michalski, bin sein Subjekt. Die Aufhebung jeglicher Bedeutung, der Neuanfang, das uneingeschränkte Schaffen weisen über alles hinaus, was mich als mich und als Menschen bestimmt, über alles, was mein und was menschlich ist. Damit eröffnet das Wissen auch über den Menschen hinausgehende, übermenschliche, ungeahnte Möglichkeiten, es erweist sich als »eine Botschaft von woanders her.« 173 Eine metaphorische Figur dieser Affirmation ist in den Texten Nietzsches bekanntlich der Übermensch, eine andere das Kind: »das Kind«, so sagt es Zarathustra, »[ist] ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, […] ein heiliges Ja-sagen.« 174 Ihr, dieser übermenschlichen Affirmation des Lebens – nicht der Befriedigung über das Erreichen eines Ziels oder der Freude an einem Sieg über den Gegner – entspringt das Lachen des Hirten Zarathustra nach dem Kampf mit der Schlange. Das Lachen, das von allem befreit, was ich bislang für mich hielt, von allem, was ich als menschlich kenne: »Wie dies Lachen mir die Fenster brach! Wie es mir die Eingeweide zerriß und das Herz aufschlitzte!« 175, klagt Zarathustra. Das übermenschliche Lachen: »Niemals noch auf Erden lachte je ein Mensch, wie er lachte!« 176 Und eben nach ihm, nach diesem Lachen – nach der Freiheit, die über alles Menschliche hinausgeht – »frisst [meine Sehnsucht] an mir« 177 (wieder Zarathustra) und bewirkt, dass 248 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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das existierende Leben, das Leben, das ich führe, wie es auch sei, kaum zu ertragen ist. Dass tief in seinem Inneren sein Glück, seine Vernunft und seine Tugend ekelerregend sind. Ekel, Grauen, Lachen, Sehnsucht – Metaphern, mit deren Hilfe Nietzsche die dem Wissen eigene Spannung wiedergeben will, die Verbindung zum Leben, die sich mit keinem Begriff und keiner Logik fassen lässt. Ekel, Grauen, Lachen – nicht nur diese Begriffe, nicht nur die Worte, die sie benennen. Worte reichen nicht aus, meint Nietzsche, Worte sagen, was ist, was wie ist, dieses so, jenes etwas anderes. Sie sagen, wie wir sind. Sie bringen einen Inhalt zum Ausdruck und bestimmen dadurch, drücken zu Boden, belasten. Zarathustra fragt: »[S]ind alle Worte nicht für die Schweren gemacht? Lügen dem Leichten nicht alle Worte!« 178 Die Worte lügen dem Leichten, denn sie verweisen ihrem Wesen nach auf dies oder jenes, sie deuten an, was ist und widersprechen damit der jenseits allen Inhalts verborgenen überirdischen Leichtigkeit des Lebens, die Unruhe ins Wissen bringt und alle Begriffe zerbrechlich werden lässt. Es gibt also keine Worte, in die Zarathustra dort am Torweg seine Antwort auf den Zwerg hätte fassen können, es gibt keine Worte für den abgründlichen Gedanken; kein Wunder, dass Zarathustras Erzählung an dieser Stelle abbricht. »Dann sprach es ohne Stimme zu mir: ›Du weisst es, Zarathustra?‹« 179, berichtet Zarathustra später von seinem Gespräch mit dem Leben. Was könnte er auf diese Frage antworten? Dieses »Es«, der abgründliche Gedanke, die ewige Wiederkunft des Gleichen, kann ja nicht gewusst werden, lässt sich nicht in Worte fassen. Wie lässt sich also die Ruhe, die Leichtigkeit, der Neuanfang, die ewige Wiederkunft, wie lässt sich der abgründliche Gedanke, den Zarathustra sucht, denken, wie lässt er sich begreifen? Zunächst einmal: Nietzsche kann bei seiner Suche nach einer Antwort nicht ohne Metaphern auskommen. Metaphern beziehen Worte auf etwas außerhalb ihrer Bedeutungen, verweisen auf ein Mehr an Sinn, das in ihnen verborgen liegt. Diese Funktion kommt auch den Worten in der Zarathustra-Geschichte zu: Sie bedeuten nicht nur, was sie bedeuten, sondern verweisen durch das metaphorische Mehr an Bedeutung auch auf die Situation, in der sie gesagt werden, auf etwas, das geschieht, auf etwas, das jemand tut. Dieser Jemand bin ich oder genauer: mein Leben, was mit mir geschieht. Dies ist der einzige Kontext, in dem die Antwort sinnvoll ist; mit anderen Worten, ich muss mich in Zarathustra wiedererkennen, da249 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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mit seine Geschichte sinnvoll wird. Aber ich, so lässt diese Geschichte vermuten, bin auch mehr als ich, ich bin Zarathustra, Fürsprecher des Lebens, Fürsprecher des Kreises, der über die menschlichen Möglichkeiten und die übermenschliche Anstrengung hinausgeht. Nicht zufällig antwortet Zarathustra in Erzählform, er erzählt von seinen Worten, aber auch seinen Abenteuern. Diese Erzählung ist nicht einfach eine Illustration seiner Gedanken, die auch anders dargestellt werden könnte, sie ist die einzig angemessene Form des Ausdrucks. Es gibt keinen Schluss, der der ganzen Geschichte einen Sinn verliehe und nach dem nichts Nennenswertes mehr geschähe – die Erlösung von der Geschichte der Sünde, die Emanzipation der Menschheit, die die Geschichte der Entfremdung des Menschen beendet, das Happy End (»Und nun begann für die beiden ein Leben, das nicht frei von Sorgen war, aber dennoch mehr Honig als Wermut bot« 180) oder die Katastrophe als Ende der Geschichte. Die Wiedergabe der Begegnungen und Reden Zarathustras endet nicht mit ein paar Sätzen, die den (angeblich) abgründlichen Gedanken erklären, sie endet nicht mit der Lösung des Rätsels um die ewige Wiederkunft. Die Zarathustra-Geschichte endet überhaupt nicht, wie sie auch nie anfängt. (»Nicht fremd ist mir dieser Wanderer«, sagt der Einsiedler am Anfang des Buches bei der Begegnung mit Zarathustra, »vor manchem Jahre gieng er hier vorbei.« 181) Sie endet nicht und sie beginnt nicht, denn jeder Augenblick – jeder Augenblick des menschlichen Lebens, das sie erzählt – »vergeht« und »wird« zugleich, ist seinem Wesen nach offen, unvollendet. Daher sagt Zarathustra auch, dass der abgründliche Gedanke, der Gedanke von der ewigen Wiederkunft, Mut erfordert. Mut – dieser bereits häufig erwähnte Begriff ist einer von Nietzsches Metabegriffen (wie Übermensch oder Wille zur Macht), ein Begriff, der auf die nie zu fixierende Grenze des Wissens verweist, auf seine prinzipielle Offenheit, seine Unerfülltheit. Ein Begriff, der den abgründlichen Gedanken in den Kontext meines Lebens stellen soll, den einzigen Kontext, in dem dieser »Gedanke« verständlich sein kann. Wenn in jedem Augenblick meines Lebens alles endet und alles neu beginnt, dann bewahrt mich kein Wissenszuwachs, auch nicht die unendliche Anhäufung von Wissen vor dem Schritt ins Dunkel, der jeder neue Augenblick ist, bewahrt mich nicht vor dem grenzenlosen Risiko. Die Zarathustra-Geschichte, so legt der Begriff des Mutes nahe, kann nur in dem Sinne »ganz« sein, wie auch mein Leben »ganz« ist, nur insofern, als in jedem Augenblick das Ganze »vergeht« und 250 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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»wird«, als in jedem Augenblick sein gesamter bisheriger Sinn in Frage gestellt wird. Insofern, als jeder Augenblick – in diesem Sinne – Wiederkunft ist, Wiederkunft des Gleichen. Nicht einmal der Tod ist die Grenze dieses Risikos, er ist kein Faktum, das in seiner Bedeutung unumstößlich wäre. Der dem Leben inhärente Mut, schreibt Nietzsche, »der schlägt noch den Tod todt, denn er spricht: ›War das das Leben? Wohlan! Noch Ein Mal!‹« 182 Aus diesem Grund erwählt Zarathustra auch die Schiffsleute als Hörer seiner Erzählungen. »Euch, den kühnen Suchern, […] euch, den Räthsel-Trunkenen, den Zwielichtfrohen, […] euch allein erzähle ich«. 183 Die Schiffsleute stehen für Mut und Risikobereitschaft und sind deshalb ein Publikum, das, so Zarathustra, offener für seine Botschaft ist als andere (»Zarathustra aber war ein Freund aller Solchen, die […] nicht ohne Gefahr leben mögen« 184). Eben diese ganze Geschichte ohne Anfang und Ende, beziehungsweise die Geschichte, die in jedem Moment anfängt und endet, ist Zarathustras Antwort auf die Frage des Lebens (»du weißt es?«), ist Nietzsches Antwort auf die Frage: Was bedeutet »den abgründlichen Gedanken denken«, was kann in diesem Kontext »Verstehen« bedeuten? Die Geschichte, die mein werden muss, um sinnvoll zu werden. Die Geschichte, in der jeder Augenblick als Anfang und Ende jeden bisherigen Sinn ins Wanken bringt, alles, was ich bin, mein ganzes »Ich« und somit alle Verbindungen zum Vorher und zum Nachher kappt und das Recht erwirbt, »Ewigkeit« genannt zu werden. (»Auf welche Weise ermöglicht das absolute Leben im Augenblick den Zugang zur Ewigkeit? […] Allein, die Ewigkeit wird nur durch die Ausschaltung der Beziehungen zugänglich […] Ist die Erfahrung der Ewigkeit […] kein Lebensverlust?« 185) Die Geschichte, die sich nicht auf den Punkt bringen lässt, die Geschichte ohne Moral, ohne Ziel. Der abgründliche Gedanke ist also kein separater Gedanke wie der an den in Wasser getauchten Körper oder der an Jadzia und was wir damals getan haben. Den abgründlichen Gedanken denken bedeutet nicht, etwas zu erfahren oder vorhandenes Wissen um ein weiteres Stück zu ergänzen. Der Begriff der ewigen Wiederkunft – Zarathustras abgründlicher Gedanke – ist kein Begriff wie jeder andere. Er ist kein Wissen über etwas. Eher seine Selbstbeschränkung, sein Zerspringen, die in ihm plötzlich auftretende Leerstelle, die zutage tritt in »Schauder Ekel Lachen«. 186 Eher ein nur metaphorisch auszudrückender Skeptizismus jeglichem Wissen gegenüber, einem 251 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Wissen, das an der Berührung mit dem Leben zerspringt. Eher die Offenbarung – im Leben, nicht in Worten oder Begriffen – einer zusätzlichen, gänzlich vom Inhalt unabhängigen Qualität aller Begriffe, ihrer Zerbrechlichkeit, ihres Bebens, ihrer Wärme, die von einem tief innen lodernden Feuer zeugt. Nietzsche schreibt, Zarathustra erzähle »das Geheimniß daß Alles wiederkehrt«. 187 Das bedeutet nicht, dass Zarathustra uns etwas verrät, was wir vorher nicht wussten. Nein, Zarathustra erzählt die ewige Wiederkunft als Geheimnis. Die ewige Wiederkunft ist ein Geheimnis, eine Botschaft, die nicht in den angesammelten Begriffen oder Gewohnheiten zu fassen ist, in nichts, was wir kennen und kennen können. Zarathustra erzählt dieses Geheimnis, so Nietzsche, »aus dem Glück des Übermenschen heraus« 188, aus einem übermenschlichen Glück. Nicht aus der Perspektive eines glücklichen Endes, sondern vom Standpunkt einer nicht menschlichen, allem Vertrauten fremden Affirmation des Lebens aus, einer Affirmation, die der ständigen, immer neu unternommenen Anstrengung, das Seiende zu überwinden, eingeschrieben ist, dem unendlichen Streit, dem nicht friedlich beizulegenden Konflikt. Wie grundverschieden sind doch diese Affirmation des Lebens und dieses Weltbild von denen Hegels (dieses Nietzsche-Opponenten im Verborgenen): »das verschlossene Wesen des Universums hat keine Kraft in sich, welche dem Mute des Erkennens Widerstand leisten könnte; es muß sich vor ihm auftun und seinen Reichtum und seine Tiefen ihm vor Augen legen«. 189 Kann es da noch verwundern, dass der so verstandene abgründliche Gedanke Nietzsches keinen Trost zu spenden vermag? Die Bemühungen von Adler und Schlange, den kranken Zarathustra mit ihrer Erzählung von der ewigen Wiederkunft aller Dinge zu trösten, sind zum Scheitern verurteilt. Ihre Erzählung sollte seinen Schmerz lindern, seine Unruhe beschwichtigen und heilen. Ihre lieblichen Worte, die Worte von der ewigen Wiederkunft sind »Regenbogen und Schein-Brücken zwischen Ewig-Geschiedenem«. 190 Sie versuchen, jeden Augenblick mit der Ordnung des Seienden, mit dem Kosmos, mit dem Garten, mit der harten Realität zu vereinen. Vergeblich, ganz vergeblich, denn schließlich ist die Einheit jedes Augenblicks zugleich auch seine elementare Zerrissenheit, die Begriffe vom Seienden werden ständig von »Vergehen« und »Werden« untergraben, unser Leben und Handeln zerstört (und schmerzt daher), es eröffnet neue, ungeahnte Perspektiven (und beunruhigt daher). Die 252 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Tiere versuchen, den Riss zu kitten, die Krankheit Zarathustras zu heilen. Sie versuchen, Vergangenheit und Zukunft zu einer inhaltlichen Einheit zusammenzufügen und darin eine Kontinuität zu entdecken, zu zeigen, dass sie nicht grundsätzlich verschieden sind, und damit dem Augenblick, in dem sich Zarathustra gerade befindet (und in dem er leidet) seinen offenen, dunklen, schmerzlichen, beunruhigenden Charakter zu nehmen. Aber das ist unmöglich. Der abgründliche Gedanke löst keinen Konflikt, heilt keine Krankheit, verbindet keine bislang unpassenden Teile. Das Leben ist eine Krankheit, es krankt am Nihilismus; Schmerz, Ekel und Entsetzen lassen sich nicht eliminieren. Deshalb sagt Zarathustra auch von sich, er sei der Fürsprecher des Lebens, der Fürsprecher des Kreises und zugleich der Fürsprecher des Leidens. Die Zarathustra-Geschichte ist nicht tröstlich. Sie gibt dem Leser kein Werkzeug an die Hand, mit dem er Leiden, Grauen und Ekel aus dem Leben entfernen oder zumindest bewirken könnte, dass das leidvolle, grauen- und ekelerregende Leben erträglich wird. Das Leben, so verkündet es die Geschichte, ist nicht zu ertragen. Im Fleisch des Lebens steckt ein Stachel, der sich nicht ziehen lässt. Ohne ihn wäre die Unruhe, die wir Leben nennen, nicht möglich, aufgrund dieses Stachels fließt das Leben: Ewigkeit. Die Hauptfiguren der Erzählung, der Zwerg und Zarathustra, werden, wie mir scheint, immer besser verständlich. Und auch der Unterschied zwischen beiden. Sie vertreten nicht richtige und falsche Ansichten, nicht in der Ansicht liegt der Unterschied. Sie vertreten auch nicht zwei verschiedene Prinzipien, zwei objektiv unterscheidbare Tendenzen. Gewiss, der Zwerg ist die metaphorische Gestalt des Wissens, der Geist der Schwere mit seinen Bleitropfen-Gedanken, der auf Zarathustras Schulter sitzt und ihn zu Boden drückt, zum »Hier und Jetzt«, der ihn an das existierende Leben bindet. Er ist das metaphorische Wissen, das sich wie die schwere Schlange im Schlund des Hirten Zarathustra verbeißt und ihn würgt, um ihm die (übermenschliche) Leichtigkeit, die Freiheit, das Leben zu nehmen. Und Zarathustra, der ›tanzende Gott‹, ist die Metapher des Lebens, eine Metapher seiner Leichtigkeit, die das Leben aus jeder Abgeschlossenheit und jeder Bestimmung befreit, eine Metapher für ein Leben, das nie einfach nur ist. Aber (so verstandenes) Leben und Wissen, Leichtigkeit und Schwere, Zarathustra und der Zwerg lassen sich nicht getrennt voneinander verstehen, sie sind keine eigenständigen Begriffe. Verständlich werden sie nur in ihrer unauflöslichen Wechsel253 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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beziehung, die keiner Logik folgt, also im Streit, im Kampf ohne Möglichkeit der Vermittlung, ohne gemeinsamen Nenner, ohne Aussicht auf ein Ende. »Verstehen« bedeutet also »teilnehmen«: Der Streit zwischen Zarathustra und dem Zwerg ist nur »verständlich«, wenn es mir gelingt, ihn auf mein Leben zu übertragen, mich in ihn einzuschreiben, ihn zu leben. Dieser Streit ist der immanente nicht zu kittende Riss des Lebens, meines Leben, des Lebens, das ich kennen kann, des Lebens, das ist, wie es ist – in einen Lebenslauf, auf einen Sinn gebracht, bemessen im Rhythmus der Augenblicke, heute dies, gestern jenes, morgen ein Drittes. Er ist das Zerreißen der Kontinuität. In jedem Augenblick: nicht irgendwann, sondern immer, also jenseits der Zeit als einer Abfolge von Momenten und in diesem Sinne ewig, die gesamte bisherige Bedeutung meines Lebens wird ausgesetzt, »die Uhr meines Lebens holte Athem«. 191 Aus der Perspektive des von mir gelebten, des existierenden Lebens bedeutet das natürlich Grauen, Krankheit und Wahnsinn, Zarathustra ist ein gefährlicher Irrer. Aber auch das Wissen ist für das Leben, der Zwerg für Zarathustra, nicht ungefährlich. Wäre es so, wie der Zwerg will, würde tatsächlich alles so wiederkehren, wie es ist, wäre das Seiende wie ein Fels, klein und groß, nieder und erhaben, wären Vergangenheit und Zukunft nicht durch einen Abgrund getrennt, sondern durch eine Kontinuität verbunden, dann fehlte dem Leben, dem immer neuen Anfang aus dem Schutt des Bestehenden, der Raum für Inspiration, der Raum zum Atmen. Daher rühren Zorn, Ekel und Grauen Zarathustras, als er sich dem Zwerg und seiner Interpretation der ewigen Wiederkunft widersetzt. Die Gefahr, die der Zwerg und Zarathustra füreinander bedeuten, ist unbenannt, unbestimmt und unbekannten Ursprungs, hier geht es nicht um Barbaren vor unserer Tür oder Bakterien im Urin. Es gibt ja nichts, was man erkennen könnte, hier greift keine Logik, Worte führen in die Irre. Deshalb charakterisiert Nietzsche in seiner Beschreibung des Streits beide Kontrahenten mit denselben Worten, Zarathustra wiederholt, was vorher der Zwerg gesagt hat, bei beiden geht es um die ewige Wiederkunft. Nicht nur der Zwerg ist ein Geist der Schwere, nicht nur das Wissen lastet, auch Zarathustras abgründlicher Gedanke ist ein Schwergewicht: »Wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er […] würde als das grösste Schwergewicht auf deinem Handeln liegen!« 192, sagt Zarathustra. Dieses Gewicht, so warnt er weiter, »würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen«. 193 Verwandeln und zermalmen, aber nicht wie 254 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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die Nachricht, dass Jadzia doch den Kowalski geheiratet hat, nicht weil man etwas erfährt, nicht wegen eines bestimmten Inhaltes. Der abgründliche Gedanke verwandelt und zermalmt, weil er alle Sinne und Worte für das grenzenlose Risiko öffnet, er ist der bedingungslose Mut, den jeder Augenblick, jeder Schritt meines Lebens erfordert. Jetzt symbolisiert der Zwerg die Leichtigkeit, er möchte mit seiner Erzählung dem Augenblick die Schwere nehmen: Welches Risiko fragt er, die Zukunft ist doch wie die Vergangenheit, Bäume wachsen, Flugzeuge landen, nach dem Sonntag kommt der Montag, und so weiter, wieder und wieder. Daher nämlich, antwortet Zarathustra, »hiess mich [dieser Muth] endlich stille stehn und sprechen: ›Zwerg! Du! Oder Ich!‹« 194 Der Unterschied zwischen Zarathustra und dem Zwerg ist nicht in den Worten zu suchen. Überhaupt handelt es sich nicht um einen Unterschied zwischen A und B, eher um eine Binnendifferenzierung des Lebens selbst, des Lebens, »das selber in’s Leben schneidet«. 195 Der Zwerg und Zarathustra, der Geist der Schwere und der tanzende Gott, die Ruhe, die das Wissen schenkt und das Risiko des Lebens – verbunden im nicht zu entscheidenden Kampf zweier menschlich-unmenschlicher Gestalten sind sie leer, solange ich sie mir nicht ins eigene Leben einschreibe. Conditio humana. Kehren wir zur Ausgangsfrage zurück: Ist eine Befreiung von der Zeit, von der Vergangenheit möglich, lässt sich der Stein der Vergangenheit verrücken? Nein, das ist nicht möglich, der Stein der Vergangenheit ist unverrückbar. Ich werde nie mehr mit Joasia spielen wie damals im Żeromski-Park, Vater wird mich nie mehr im Kreis durch die Luft wirbeln. Ich bin der Vergangenheit gegenüber machtlos, kann sie nicht zur Rückkehr zwingen. Nein, ich kann nicht »zurück wollen«, es gibt keine »Erlösung vom ewigen Fluss der Dinge«. Mein »Wille kann die Zeit nicht brechen«. Mein Wille. Der Wille Krzysztof Michalskis. Für mich, wie ich bin, gibt es keine Erlösung vom Fluss der Zeit. Der Wille kann die Zeit nicht brechen, kann die Vergangenheit nicht zur Wiederkehr bewegen, wenn es jemandes Wille ist, meiner, deiner, Basias, der Wille einer Person, irgendeines Individuums. Und wenn die Vergangenheit, von der ich spreche, ein Fragment der Zeit ist, ein Spiel, die Schlacht bei Tannenberg, wenn »es war« so viel heißt wie »es ist« nur mit einem anderen Datum, »ein heute, nur etwas weiter« 196, wenn ich sie »betrachten«, sie sehen kann. Als Betrachter der Vergangenheit 255 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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bin ich machtlos. Mein Wille ist machtlos. Mir bleibt nur Zähneknirschen, sie kehrt nicht wieder. Warum knirsche ich überhaupt mit den Zähnen? Warum möchte ich, dass das Vergangene wiederkehrt? Der Geist der Schwere ist der Grund dafür, meint Nietzsche, die für das Leben konstitutive Tendenz, sich an das »Hier«, das »Jetzt«, an dieses Haus, diese Frau und dieses Land zu binden. Die Tatsache, dass wir die Welt durch die Brille der Begriffe sehen, die uns sagen, wie es ist. Der Nihilismus. Der Nihilismus macht mich zu dem, was ich bin: Krzysztof Michalski, Pole, Homo sapiens. Ich will (wie könnte ich das nicht wollen?) mit allem, was ich angesammelt habe, das alles anhalten und lehne mich dagegen auf, dass dies nicht gelingt. Es gelingt nämlich nicht. Das soll Zarathustra mit seinen Wanderungen und Reden ja zeigen: dass jeder neue Moment, jeder Schritt im Leben alles unterminiert, alle Begriffe, alles »Hier und Jetzt« ins Wanken bringt. Das »es ist« wird ersetzt durch »es vergeht« und »es wird«. In diesem unendlich kleinen Augenblick (denn wo sollte seine Grenze liegen, wenn hier nichts »ist«, sondern alles »wird« und »vergeht«?), in diesem dimensionslosen Punkt, der nicht gesehen und nicht gewusst werden kann, endet alles und beginnt von Neuem, kehrt wieder. »In jeder Handlung die du thust ist alles Geschehens Geschichte wiederholt und abgekürzt« 197, notiert Nietzsche. Und genauso eröffnet sich für mich in jeder Handlung die Chance auf Erlösung vom ewigen Fluss der Dinge, von der Ereigniskette, die mein Leben formt. Aber diese Erlösung gilt nicht mir, nicht dem, der ich heute bin. Keines meiner Merkmale, meiner Eigenschaften, nichts, was mein ist, wird die Prüfung des Vergehens bestehen. Kein Inhalt kehrt wieder. Aber doch »etwas« in mir. Oder besser: alles. In jedem Augenblick wird mein gesamtes Leben in Frage gestellt, ich werde neu geboren, werde Kind, ohne Vergangenheit, ohne Zukunftsängste, ohne das Bestreben, das Vergehen aufzuhalten. Daher ist meine Identität niemals abgeschlossen. »Ich lehre euch die Erlösung vom ewigen Flusse« 198, sagt Zarathustra. Das bedeutet nicht, dass Zarathustra uns zeigen würde, wie der Fluss anzuhalten wäre. Im Gegenteil, Zarathustra lehrt ja, dass dieser Fluss nicht angehalten werden kann. Er lehrt, dass »sein« in jedem Augenblick des Lebens »vergehen« und »werden« bedeutet, dass jeder Augenblick gleichzeitig Anfang und Ende von allem ist: »der Fluß fließt immer wieder in sich zurück«. 199 Eben hier, in dieser Wiederkehr, in diesem Strudel, in diesem Augenblick eröffnet sich die 256 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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Chance, das Gepäck der Vergangenheit abzuwerfen, sich vom »Hier und Jetzt« loszureißen, von allem, was bislang mein war. Die Chance des Neuanfangs. Die Chance der Erlösung von allem Seienden. »[I]mmer wieder steigt ihr in den gleichen Fluß, als die Gleichen« 200, sagt Zarathustra. In »den gleichen Fluss«, denn jeder seiner Augenblicke, jeder Augenblick meines Lebens ist Anfang und Ende zugleich und in diesem Sinne »der gleiche«; »als die Gleichen«, denn in jedem dieser Augenblicke werde ich neu geboren. Nicht die Identität des Inhalts ist hier gemeint. Weder ist der Fluss in dem Sinne »gleich«, wie es die Weichsel bei Krakau und bei Danzig ist, noch bin ich der gleiche Krzysztof Michalski wie gestern, wenn ich heute in ihn steige. Es geht nicht um meine Wirklichkeit, nicht sie wird hier erlöst. Die Erlösung gilt mir als demjenigen, der ich sein kann. Die Vergangenheit – der Park, die Hände, das Gestern – kehrt nicht wieder. Und doch ist sie keine unüberwindliche Hürde, nicht für das in mir ständig neu beginnende Leben, nicht für das in jedem Augenblick meines Lebens zur Welt kommende Kind, das die Last des Vergehens nicht verspürt und es nicht aufzuhalten versucht. Den abgründlichen Gedanken denken heißt, die menschliche Wirklichkeit (noch einmal: mit dem Leben, nicht mit dem Wissen) nicht als bereits fertiges Ergebnis aufzufassen, nicht als etwas Seiendes, sondern als Vorbereitung des Unbekannten. Also gibt es für den Willen zur Macht trotz allem kein unüberwindliches Hindernis, selbst die Vergangenheit kann ihn nicht hindern. Nicht einmal der Tod. Das Leben, das ich lebe, ist frei, uneingeschränkt frei, nicht einmal ich selbst, keine meiner Erscheinungsformen begrenzt es, denn es ist in jedem Augenblick Ende und Anfang zugleich, Ewigkeit, die alles Bestehende zerstört und Offenheit schafft für das Unbekannte und Neue. Gewiss, schrieb Nietzsche in einer seiner frühesten Arbeiten (Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen), »[d]er Mensch ist bis in seine letzte Faser hinein Nothwendigkeit und ganz und gar ›unfrei‹ – wenn man unter Freiheit den närrischen Anspruch, seine essentia nach Willkür wie ein Kleid wechseln zu können, versteht«. 201 Ich kann nicht dafür sorgen, dass Dreiecke singen oder dass heute immer noch gestern ist. Doch mit jeder Geste, mit jeder Bewegung bringe ich alles Seiende ins Wanken, setze ich jegliche Bedeutung aus – und gehe damit ein grenzenloses Risiko ein und eröffne mir grenzenlose Möglichkeiten. Dass das noch nicht alles ist, dass die Menschen nicht nur schaffend leben, dass sie nicht wie das Feuer leben, fährt Nietzsche fort, 257 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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»das rührt daher daß ihre Seelen naß sind« 202, eingetaucht in den »feuchte[n] Schlamm« ihres Platzes im Leben und dass die Flamme der Ewigkeit sie nur mit Mühe entzünden kann. »Ich lehrte […] Ewigkeit und die Erlösung vom Flusse« 203 (des Seienden), sagt Zarathustra. Die Ewigkeit, dieser unendlich kleine Augenblick, der wie ein Blitz die Kontinuität meiner Geschichte zerreißt und alles verbrennt, was war. Der unendlich kleine Augenblick, mit dem mein Leben immer wieder neu die Kontinuität der Zeit, die Abfolge der Momente zerreißt und sie so zum Fließen bringt. Die Krankheit des Lebens. Die Quelle der Unruhe, die sich aus der Abfolge der Momente heraus nicht erklären lässt, die nicht gewusst werden kann. Die Quelle der Tragödie des menschlichen Schicksals. Die sengende, goldene Mittagssonne, der Augenblick, in dem die Schatten am kürzesten sind, ohne Verbindung zum Davor und Danach. Die Stille zwischen den Worten, in der »das Herz stirbt vor Furcht« (weil es alles verliert, was es vorher besaß) und gleichzeitig »vor Freude zittert, wie eine Saite« (wegen der neuen Geburt). Dieser Augenblick, in dem »das Herz […] Mal um Mal das Netz zerreißt […], das es selbst unvorsichtigerweise geknüpft hat«, dieser Augenblick, in dem es beginnt zu »zittern […] für die Ewigkeit, wie die Sterne«. 204 Zarathustra vergleicht die Ewigkeit mit dem »Aufblinken göttlicher Augen«. 205

7 »Göttlicher« Augen … Erneut stoßen wir auf ein Paradoxon, auf das schon an anderer Stelle hingewiesen wurde: Zarathustra, der Gottes Tod verkündet hat, bezieht sich auf das Göttliche, und dies, als er von dem Gedanken spricht, den er für den wichtigsten überhaupt hält. Der Begriff der Ewigkeit, der ewigen Wiederkunft des Gleichen, vereint in sich, wie bereits deutlich wurde, die Hauptlinien von Nietzsches Denken. So kann es nicht verwundern, dass hier dieses Paradoxon erneut auftaucht, diesmal in besonders krasser Form. Das ist nicht nebensächlich. Nietzsche lebt, wie bereits deutlich wurde, von seinen ersten, jugendlichen Arbeiten an bis zu den letzten, vom Wahnsinn gezeichneten in den Geschichten der Bibel. Seine Texte sind durchsetzt mit Zitaten aus dem Alten und (vor allem) dem Neuen Testament, gespickt mit biblischen Metaphern und Begriffen. 258 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

IX · Das unstillbare Verlangen nach den nächsten Augenblicken

Sein Denken ist ein ununterbrochenes Sich Abarbeiten an jener Geschichte, die Matthäus, Markus, Lukas, Johannes und Paulus erzählen, ein Ringen mit Gott. Zweifellos war Nietzsche ein Kritiker des Christentums, das er in einigen Formen (die seiner Ansicht nach in seinem Umfeld vorherrschend waren) als Ausdruck des Nihilismus sah, als Symptom der Krankheit des Lebens. Der Gottesbegriff dient dann, so meinte er, als Stütze, als Ergänzung des Verstandes: »Und wo euer Verstand eine Lücke hat, da stellt ihr flugs den ärmsten aller Lückenbüßer hinein: ›Gott‹ ist sein Name.« 206 Religion, das Christentum in dieser Funktion, als Verlängerung des Verstandes, als Versuch, das Leben in von ihm unabhängigen Kategorien zu fassen, als Versuch, seine »Wahrheit« zu ergründen, zu erkennen, wie es »ist« – das ist Nihilismus. Nietzsche ist der Ansicht, dass eine solche Religion »das Schwergewicht des Lebens nicht in’s Leben, sondern in’s ›Jenseits‹ verlegt […], so hat man dem Leben überhaupt das Schwergewicht genommen.« 207 Man nimmt ihm also das Charakteristikum der unbegrenzten Möglichkeiten, das ihm eigene grenzenlose Risiko und verhüllt die Tatsache, dass es in ihm bei jedem Schritt um alles geht. Auf diese Weise erreicht man, »dass man mit dem ›Jenseits‹ das Leben tödtet …« 208 Wir sollten uns von der Heftigkeit dieser Kritik nicht täuschen lassen, sie will keinen Fehler korrigieren, keine Krankheit heilen, nicht den rechten Weg weisen. Es stimmt, Religion in diesem Sinne – Formen des Christentums, die die oben beschriebenen Funktionen erfüllen – ist nicht notwendig. Der Nihilismus ist es (in Nietzsches Augen). Schließlich bringt der Nihilismus den Sinn unseres Lebens mit hervor. Der Anspruch zu wissen, »wie es ist«, all die in unseren Worten und Taten angehäuften Sinne sind die notwendige Basis für jeden neuen Schritt, jede Reflexion. Daher lässt sich der Nihilismus nicht ein für alle Mal überwinden, und gleichzeitig ist jeder Schritt im Leben der Versuch, genau dies zu tun. Die Geschichte Jesu gibt für Nietzsche allerdings mehr her als das Material für eine nihilistische Interpretation des menschlichen Lebens. Sie zeigt in seinen Augen auch, wie bereits wiederholt erwähnt, die radikale Diskontinuität des menschlichen Lebens, seine absolute Freiheit, die alle mit der Zeit gewachsenen Bande zerreißt. »Man könnte, mit einiger Toleranz im Ausdruck, Jesus einen ›freien Geist‹ nennen – er macht sich aus allem Festen [aus Gesetzen, Begriffen, Worten – KM] nichts: das Wort tödtet, alles, was fest ist, tödtet.« 209 Es war Paulus, der, so Nietzsche, Jesu Botschaft in eine 259 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

IX · Das unstillbare Verlangen nach den nächsten Augenblicken

Doktrin gegossen, aus ihr eine Sammlung von Behauptungen über das Seiende gemacht und ihr so die stabilisierende, nihilistische Funktion zugewiesen hat, von der oben die Rede war. Vielleicht liest Nietzsche Paulus aber auch allzu einseitig. Vielleicht lassen sich in den Paulusbriefen (wie auch in anderen Büchern des Neuen Testaments) nicht nur Belege für Unterschiede zwischen der Zarathustra-Geschichte und der Geschichte Jesu finden, sondern auch Spuren der Verwandtschaft zwischen ihnen und den in beiden enthaltenen Visionen der conditio humana (Heidegger und Giorgio Agamben seien hier als Kronzeugen genannt). Spuren zum Verständnis des menschlichen Lebens, das an der Ewigkeit krankt, an der Apokalypse, die jeden seiner Augenblicke zeichnet. Vielleicht ist nach der hier vorgenommenen Analyse des Ewigkeitsbegriffs Nietzsches – der ewigen Wiederkunft des Gleichen – die Verwandtschaft dieser Texte (und nicht nur der Unterschied zwischen ihnen) besser verständlich. Nehmen wir also diese Spuren genauer in den Blick. »[W]ir werden aber alle verwandelt werden; und dasselbe plötzlich, in einem Augenblick« (1.Kor 15,51 f.), schreibt Paulus an die Korinther. Was meint er damit? Vielleicht, dass wir in einem – kurzen – Augenblick in der Zukunft, dem Augenblick, in dem das Reich Gottes, in dem der Messias kommt, in dem unsere Zeit endet, erlöst werden. Aber was heißt »plötzlich«, was heißt »in einem Augenblick«? Ist hier nicht gemeint, dass die Zeit »kürzer« ist als jeder uns bekannte Moment, als Jahr, Monat oder Sekunde? Und damit undatierbar? Eine Zeit, die nicht gemessen, nicht bestimmt werden kann? Wenn das so ist, welchen Sinn hat dann die Frage nach dem Wann? Mir geht es nicht darum, dass wir die Antwort auf die Frage »Wann wird das sein?« nicht kennen, die Frage selbst hat hier – wenn wir sie als Frage nach einem Datum verstehen wollen – keinen Sinn. Der »Augenblick«, das »Aufblinken göttlicher Augen« ist nicht wie ein Regenschauer oder die Schlacht bei Tannenberg ein Ereignis, das »einmal« anfängt und später endet. Dieser Augenblick ist mit der Zeit, in der ich lebe, mit der Abfolge von Momenten von gestern bis morgen nicht zu vergleichen. Heißt das dann nicht, dass hier von jedem Moment die Rede ist? Von etwas, das mit der Zeit insgesamt geschieht, nicht mit einem ihrer Fragmente? Wenn Paulus im ersten Brief an die Korinther schreibt: »Das sage ich aber, liebe Brüder: Die Zeit ist kurz« (1.Kor 7,29), will er also vielleicht gar nicht sagen, dass uns nur noch eine Viertelstunde oder zehn Jahre bleiben. Vielleicht meint er vielmehr: 260 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

IX · Das unstillbare Verlangen nach den nächsten Augenblicken

Die Zeit ist immer kurz, wir haben nie Zeit; jeder Moment ist zersprungen und damit offen für das Kommen des Reiches Gottes, die Ankunft des Messias. Eben dies Zersprungensein ist der Moment, der sich mit den Kategorien der zeitlichen Folge nicht erfassen lässt, der »Augenblick«. »[D]er Tag des Herrn wird kommen wie ein Dieb in der Nacht« (1.Thess 5,2), schreibt Paulus an die Thessalonicher – plötzlich, unverhofft, wir wissen nicht wann. In jedem Moment meines Lebens, jeder Moment muss also bereit sein für das Kommen. »So lasset uns nun nicht schlafen […], sondern lasset uns wachen« (1.Thess 5,6), schreibt Paulus weiter. Die Zukunft, von der, wenn ich ihn recht verstehe, Paulus spricht, charakterisiert also jeden erlebten Moment. Diese Zukunft ist selbst kein »Gestern«, kein »Heute« (nicht einer von vielen aufeinander folgenden Momenten), sie ist eine Zukunft, die sich nicht ereignet. Diese Zukunft – das Zersprungensein, die Öffnung jedes einzelnen Momentes – bringt in »einem Augenblick« die gesamte bisherige Zeit ins Wanken, stellt sie in Frage, »auf daß alle Dinge zusammengefaßt würden […], beide, das im Himmel und auf Erden ist« (Eph 1,10), sie hebt in einem Augenblick die gesamte gewesene Zeit auf und öffnet sie für eine radikal neue. Insofern ist diese Zukunft auch Vergangenheit, eine Vergangenheit, die kein »Gestern« ist, sondern der eben von mir erlebten Zeit eigen, ein Charakteristikum des »Jetzt«. Eine Vergangenheit, die nicht war. Zukunft und Vergangenheit nicht als einzelne Momente, sondern als ein und dasselbe, »ein Augenblick« – Ewigkeit. Ewigkeit – jedem Moment meines Lebens eingeschriebene Verwandlung der Zeit, Augenblick, der meine gesamte Vergangenheit aufhebt und die Zukunft völlig öffnet, Verwandlung, die, so Paulus, Jesus in unser Leben bringt, der Messias, der Erlöser. Ewigkeit – Berührung Gottes. In diesem Sinne ist die Verwandlung, die Paulus verheißt, das Reich Gottes, bereits da. Der Messias ist schon gekommen. Er ist in jedem Moment meines Lebens. Nietzsche fragt im Antichrist: »Was heisst ›frohe Botschaft‹ ? Das wahre Leben, das ewige Leben ist gefunden – es wird nicht verheissen, es ist da, es ist in euch«. 210 Also ist unser Leben mehr als die Geschichte eines Klempners oder einer Postbeamtin. Paulus schreibt an die Korinther und meint dabei offensichtlich alle, die ihn hören wollen: »[I]hr [seid] ein Brief Christi, […] geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht in steinerne Tafeln, sondern in fleischerne Tafeln des Herzens.« (2.Kor 3,3) 261 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

IX · Das unstillbare Verlangen nach den nächsten Augenblicken

Unsere Lebenszeit ist keine genau bemessene Abfolge von Momenten, in denen ich bin, nicht das Vorrücken der Zeiger, nicht der Fluss, auf den ich von außen schaue (wie die Tiere in der Erzählung Zarathustras meinen). Unsere wirkliche Lebenszeit ist die Zeit, die ich bin, die Zeit, die sich in jedem einzelnen Augenblick unter der Berührung Gottes zusammenzieht. Damit ist der »Wandel, dem wir alle ausgesetzt sind«, kein Wandel, der sich in der Zeit vollzieht, wie der Übergang von der Antike zum Feudalismus oder vom Kapitalismus zum Kommunismus. Hier ist nicht gemeint, dass in unserem Leben einst ewige Gesundheit und Glück an die Stelle von Tod, Krankheit und Leiden treten werden. Es ist auch nicht gemeint, dass die gegenwärtige Ordnung durch eine andere ersetzt wird, nein, dieser Wandel bringt keine andere, neue Welt hervor. Vielmehr ist er ein grenzenloses Freiheitspotenzial, das nach der Verheißung des Paulus mit der Ankunft Christi in unser Leben kommt, ein Leben, das grenzenlose Möglichkeit wird. »[I]st jemand in Christo, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden!« (2.Kor 5,17) Das Ergebnis der Berührung durch Gott, dieses »Aufblinkens göttlicher Augen«, ist kein neuer Inhalt, sondern eine Umwandlung, eine Transformation des Seienden, in deren Folge alle Dinge, all unsere Zusammenhänge, Begriffe, alle Gesetze fragwürdig und zerbrechlich erscheinen, vergänglich. »Das sage ich aber, liebe Brüder: Die Zeit ist kurz. Weiter ist das die Meinung: Die da Weiber haben, daß sie seien, als hätten sie keine; und die da weinten, als weinten sie nicht; und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die da kaufen, als besäßen sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, daß sie dieselbe nicht mißbrauchen. Denn das Wesen dieser Welt vergeht.« (1.Kor 7,29–31)

Es stimmt schon, wir alle sind Kinder unserer Zeit, wir entstammen dem, was einmal war und was uns den Horizont einer Zukunft eröffnet. Aber eben nicht nur. Wir alle haben nicht nur unsere jeweilige Vergangenheit, unsere Zukunft, unsere jeweilige Zeit, wir sind auch alle außer der Zeit – wir haben keine Zeit. Wir stammen nicht nur von unseren Eltern ab, unseren Vorfahren, früheren Evolutionsstadien, unsere Herkunft liegt auch jenseits der Kontinuität der Momente, jenseits des Fassungsvermögens eines Gedächtnisses. Das bedeutet, dass eine Antwort auf die Frage »Wer sind wir?« nicht möglich ist, ohne Bezug auf die »plötzliche Verwandlung«, das »Auf262 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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blinken der göttlichen Augen«, das allen bisher angehäuften Sinn ins Wanken bringt und damit den Raum öffnet, in dem gilt: »All journeys die here: wish and weight are lifted«. 211 Vielleicht ist eben dies die Bedeutung des Wortes »Paradies«: kein »Irgendwo«, kein »Irgendwann«, sondern ein tiefer Strom, die verborgene Dimension unserer Lebenszeit. Dadurch sind wir nicht nur Kinder unserer Zeit, sondern auch Kinder Gottes (»Jeder ist das Kind Gottes – Jesus nimmt durchaus nichts für sich allein in Anspruch« 212, schreibt Nietzsche im Antichrist). Kinder Gottes, ohne Vergangenheit, unbehelligt von der Abfolge der Momente, frei. »Es sei denn, daß ihr umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.« (Mt 18,3) Kann man das wollen? Kann man Kind werden wollen, ohne Vergangenheit, ohne bestimmte Erwartungen an die Zukunft, ohne die Abfolge der Momente (fragt Gadamer rhetorisch in einem wunderbaren Essay über Nietzsche 213)? Natürlich nicht. Das ist unmöglich. Die von Matthäus überlieferten Worte Jesu sind ebenso wenig wie die Reden Zarathustras ein Angebot an den Willen, eine Handlungsanweisung oder ein Aktionsprogramm, sie verweisen vielmehr auf die dem menschlichen Leben eigene, nicht aufzuhebende innere Spannung, den unablässigen Kampf zwischen dem Seienden, dem, was der Einzelne geworden ist, und der aus der inneren Zerrissenheit jedes Augenblicks resultierenden absoluten Freiheit, die mich nie ganz Vater, Sohn, Pole, Dozent sein lässt, mich nie ganz mit mir identisch sein lässt. Beider Worte offenbaren die unter der Kontinuität des Lebens verborgene Ungeduld, die in ihr versteckte Unruhe – eine Ungeduld und Unruhe, die schon die Tatsache, dass ich lebe, mit sich bringt, nicht nur ein Bewusstsein dieses Lebens – die mich nicht an einem Ort verweilen und ruhen lässt, die mich nicht sein lässt, der ich bin. Sie zeigen, dass das Leben, das ich lebe, »nicht länger [zu] ertragen« (1.Thess 3,5) ist. Vom Standpunkt der Zeit als einer Abfolge von Momenten aus betrachtet, aus der Perspektive meines Lebenslaufes, meines Platzes in der Gesellschaft, in der Ordnung der Dinge, ist die Verwandlung unter der Berührung Gottes, ist die Ewigkeit eine Krankheit. Ein Fieber. »Ich bin gekommen, daß ich ein Feuer anzünde auf Erden; was wollte ich lieber, denn es brennete schon! […] Meinet ihr, daß ich hergekommen bin, Frieden zu bringen auf Erden? Ich sage: Nein, sondern Zwietracht.« (Lk 12,49;51) Bei Berdjaev ist zu lesen: »Das Christentum bedeutet […], daß 263 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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die Ewigkeit, das heißt die göttliche Wirklichkeit, in die Zeit einzugehen vermag, daß sie die Kette der Zeit zu zerreißen, in ihr aufzugehen und als überwiegende Kraft zu erscheinen vermag. Die Geschichte […] ist ein beständiger Kampf, ein beständiges Widerstreben des Ewigen in der Zeit«. 214 Das bedeutet nicht, dass es ein Kampf zweier Ordnungen wäre, zweier Tendenzen, zweier Prinzipien, des Einen gegen das Andere. Die Ewigkeit – die Verwandlung, die Jesus in dieser Interpretation verheißt – eröffnet ja keinen eigenen Bedeutungsraum. Sie bedeutet eher die Unmöglichkeit der Stabilisierung, die Unmöglichkeit, irgendeine Bedeutung im Kontext des menschlichen Lebens abzuschließen. Daher gilt: »Der Begriff, die Erfahrung ›Leben‹, wie er [d. i. Jesus – KM] sie allein kennt, widerstrebt bei ihm jeder Art Wort, Formel, Gesetz, Glaube, Dogma.« 215 Der Kampf des Ewigen mit der Zeit lässt sich nicht als Ganzheit verstehen, beschreiben oder erklären, hier gibt es keine Logik, mit der jegliche Opposition aufgehoben werden könnte – wie Hegel dies mithilfe des Negationsbegriffs tut – als Schritt hin zu einer endgültigen Einheit. »Er [d. i. Jesus – KM] hat nie einen Grund gehabt, ›die Welt‹ zu verneinen […]. Das Verneinen ist eben das ihm ganz Unmögliche.« 216 Wenn das alles wahr ist, kann die Botschaft Jesu keine Doktrin oder Theorie sein, Jesus und mit ihm Paulus rufen nicht dazu auf, irgendwelche Thesen anzuerkennen. Agamben schreibt: »Es gibt keinen Inhalt des Glaubens. Das Wort des Glaubens auszusprechen bedeutet nicht, wahre Aussagen über Gott und die Welt zu verkünden. An Jesus Messias zu glauben, bedeutet nicht, etwas von ihm zu glauben …« 217 Jesus doziert nicht (»Das Herz und nicht die Vernunft nimmt Gott wahr« 218, schrieb Pascal). Jesus argumentiert nicht. Jesus »fehlt die Vorstellung dafür, dass […] eine ›Wahrheit‹ durch Gründe bewiesen werden könnte«. 219 Er redet in Bildern, in Gleichnissen (vgl. Mt 13,10). Er will anrühren: »seine Beweise sind […] ›Beweise der Kraft‹«. 220 Seine Gegenwart soll anrühren, soll das menschliche Leben verwandeln. Seine Botschaft »verstehen« – wie es Paulus von Römern, Korinthern und Thessalonichern wünscht – die Gegenwart Christi im menschlichen Leben zutage zu fördern, ist nicht dasselbe wie zu verstehen, dass zwei und zwei vier ist, oder jemandes DNA zu entschlüsseln. Es bedeutet »christlich« leben – wachen. Vom Standpunkt der Rationalität des bisherigen Lebens aus betrachtet, ist das eine unverständliche, verrückte – übermenschliche – Aufgabe. Denn eine so ver264 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

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standene Gegenwart Christi, die Berührung Gottes, bringt alles, was bislang über mich bestimmt hat, ins Wanken und kennzeichnet dabei jeden Augenblick meines Lebens mit der Hoffnung auf einen Neuanfang, auf die Wiederkehr der absoluten Kindschaft. Sie wirft die Kontinuität und Sicherheit meines Lebens um. Sie erfordert grenzenlosen Mut. So ist es nicht verwunderlich, dass, wie Ryszard Przybylski bemerkt, die Schifffahrt ein so beliebtes Bild für das christliche Dasein wurde, der Christ als Seefahrer: »unser Leben ist ein Meer«. 221 Aufgrund der Gegenwart Gottes wird, wie Paulus an die Römer schreibt, die Kreatur »frei werden vom Dienst des vergänglichen Wesens zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes.« (Röm 8,20 f.) Daher »sehnen [wir] uns auch bei uns selbst nach der Kindschaft und warten auf unsers Leibes Erlösung.« (Röm 8,23) Nicht in Worten, nicht in Begriffen. Es ist nicht dasselbe, wie etwas zu wollen, sei dieses Wollen auch noch so stark. »Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen« (Röm 8,26), diese Sehnsucht lässt sich nicht ausdrücken (»mit unaussprechlichem Seufzen«, Röm 8,26). Es ist das Sehnen und Seufzen des Lebens selbst – nicht meines Lebens, sondern des Lebens in mir – des Lebens, dessen Kontinuität durch die Berührung Gottes unterbrochen worden ist und so geöffnet wurde für das grenzenlose, unfassbare und damit furchterregende Risiko und zugleich für die unbegreifliche Freude, die Freude unter vielen Trübsalen, Freude im heiligen Geist (vgl. 1.Thess 1,6), geöffnet für eine bisher unbekannte Süße. »Gleich einer kleinen Imme […] / rief Gott, so rief noch keine Stimme« 222 – ohne Worte, in meinem Innern. Und dieser Ruf bewirkt, dass das Leben, das ich lebe, eng wird, zu klein, eben »nicht länger zu ertragen«.

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Nachbemerkung der Herausgeber

Zur Entstehung des Werkes Das vorliegende Buch ist aus einer langjährigen Auseinandersetzung des Autors mit dem Denken Friedrich Nietzsches hervorgegangen. Es besteht aus neun Essays, von denen einige in den 1990er und 2000er Jahren in der einen oder anderen Form in polnisch- und deutschsprachigen Zeitschriften erschienen. 2007 kam das Werk in polnischer Sprache im Krakauer Verlag ZNAK heraus. 2012 folgten Übersetzungen ins Englische und Russische, ein Jahr später ins Französische. 2009 wurde der Text von Thomas Weiler ins Deutsche übertragen. Mit dem Übersetzer der englischen Ausgabe 1, Benjamin Paloff, war der Autor in regem Austausch; aufgrund äußerer Umstände konnte er sich der deutschen Übersetzung, an der ihm sehr lag, nicht im selben Maße widmen. Nach seinem vorzeitigen Tod 2013 ging die unautorisierte Übersetzung in den Bestand des Krzysztof Michalski-Archivs am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) ein. Die Herausgeber der vorliegenden Ausgabe haben es sich zur Aufgabe gemacht, dieses noch vom Autor vorbereitete, lang gehegte Publikationsprojekt endlich zu realisieren. Die Redaktion wurde gemeinsam bewerkstelligt und die vorliegende deutsche Übersetzung unter Heranziehung der polnischen Originalfassung sowie der autorisierten englischen Übersetzung durchgesehen und vielfach adaptiert. Die polnische Originalausgabe verzichtet auf Literaturnachweise; sie wurden für die deutsche Fassung vom Übersetzer nachgetragen und von den Herausgebern ergänzt.

Zum Autor Krzysztof Michalski war ein polnischer Philosoph und öffentlicher Intellektueller. 1948 in Warschau geboren, schloss er sein Philosophiestudium an der dortigen Universität im Jahr 1978 mit einer Dissertation über Heidegger und die gegenwärtige Philosophie ab, 267 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

Nachbemerkung der Herausgeber

welcher 1988 seine Habilitationsschrift über das Problem von Logik und Zeit bei Edmund Husserl folgte (1997 englisch erschienen unter dem Titel Logic and Time. An Essay on Husserl’s Theory of Meaning). Seit den frühen 1970er Jahren stand Michalski in intensivem Austausch mit dem Prager Philosophen Jan Patočka, einem Schüler Husserls und Heideggers; nach dessen Tod 1977 rief Michalski in den frühen 1980er Jahren in Wien ein Archiv ins Leben, an dem bis heute die Schriften Patočkas gesammelt, erforscht und herausgegeben werden. Nach mehreren Studienaufenthalten in Deutschland und Lehrtätigkeiten an den Universitäten Kassel, Wien und Warschau wurde Michalski 1990 Professor für Philosophie an der Boston University und 1994 an der Universität Warschau. Sein wissenschaftliches Werk umfasst fünf Monographien sowie zahlreiche Artikel und Herausgeberschaften. 2 1982 gründete Michalski in Wien das Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM), dessen Rektor er bis zu seinem Tod war. Es war konzipiert als ein Institute for Advanced Study, das insbesondere den Austausch zwischen Wissenschaftlern und Intellektuellen aus dem Osten und Westen Europas fördern sollte. Das Institut entwickelte sich schnell zu einer Forschungsstätte, an welcher die Transformationsprozesse des sich wiedervereinigenden Europa in kritischer und praktischer Absicht reflektiert und mitgestaltet wurden.

Nietzsche und Die Flamme der Ewigkeit In den 1990er Jahren verschob sich die Aufmerksamkeit des Philosophen Michalski von der Phänomenologie zunehmend auf das Denken Friedrich Nietzsches. 1993 hielt er an der Boston University zum ersten Mal ein Seminar über Nietzsche, im folgenden Jahr an der Universität Warschau. Fortan beschäftigte er sich kontinuierlich mit der Philosophie Nietzsches, die für Michalski mehr und mehr zu einer Anregung für seine Auseinandersetzung mit der conditio humana, dem Drama der menschlichen Existenz und den letzten Fragen von Metaphysik und Religion wurde. Wie erklärt sich diese Verschiebung seiner philosophischen Perspektive? Michalski verstand sie jedenfalls nicht als einen Bruch, sondern eher als konsequente Fortsetzung seiner phänomenologischen Studien, wie er in einem aufschlussreichen Interview erläuterte:

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Nachbemerkung der Herausgeber

»Die Verbindung von Husserl, Heidegger und Nietzsche in meinem Denken ist keineswegs nur durch Zufall bedingt. Zwischen den Dreien besteht auch eine geistige Verwandtschaft. An Husserl und Heidegger faszinierte mich – das wurde mir im Laufe der Zeit immer deutlicher bewusst – gerade der Begriff der Zeit. Und das ist auch das Thema meiner Essays über Nietzsche. […] Das Problem der Zeit ist der (verborgene) Motor der Entwicklung von Husserls Phänomenologie. Die Kehrseite dieses Problems ist das Problem des Leibs; diese beiden Begriffe – ›Zeit‹ und ›Leib‹ – sind, so glaube ich, untrennbar miteinander verbunden […] Der ›Leib‹ ist nicht etwas, das ich habe, sondern etwas, das ich bin. Das ist die innere Struktur des menschlichen Lebens. Das Wort ›Leib‹ bezieht sich nicht auf ein ›Ding‹, sondern auf unsere Anwesenheit in der Welt; der Leib charakterisiert sie als eine zerbrechliche, als zerfallende, als sterbliche. Als zeitliche. […] In meinem Buch über die Husserlsche Theorie der Bedeutung sollte es daher ein Kapitel über den Körper geben.« 3

Doch erst in seinen Essays über Nietzsche sollte Michalski ausführlich auf das Problem der Leiblichkeit zurückkommen. In der Tat erscheint es dort im Kontext von Zeitlichkeit und Tod – ein Thema, das den Philosophen zunehmend beschäftigte. 4 Eine weitere tiefe Verbindung sah Michalski zwischen Nietzsches Philosophie und dem religiösen Denken. Die Aussagen Nietzsches, auf die er sich in der Flamme stützt, verwebt er eng mit Stimmen aus der christlichen Tradition, von den Evangelisten und Paulus über die Wüstenväter und Kirchenlehrer bis zu den Denkern der Neuzeit. Im selben Interview sagt er: »Im letzten und längsten Essay des Buches, einer Art Coda, auf die alle vorigen Essays hinführen, habe ich versucht, die ungeachtet aller Unterschiede vorhandenen Parallelen zwischen der Geschichte Zarathustras und der in den Evangelien erzählten Geschichte herauszuarbeiten. Unter allen Büchern, die er las, war die Bibel für Nietzsche zweifellos das wichtigste. In jedem zweiten Satz finden sich versteckte Bibelzitate. Nietzsches Denken ist ein Ringen mit Gott – kann ich ihn also nicht zu Recht einen religiösen Denker nennen?« Und einen nahen Verwandten Pascals und Kierkegaards? Oder des hl. Augustinus? Weniger im Hinblick auf dessen Lehren »als vielmehr in der impliziten Religiosität der Bekenntnisse oder seiner zahlreichen vom Drama der menschlichen Existenz erfüllten Predigten. Überall dort ist das religiöse Denken ein Einblick in die tiefe, herrliche und abscheuliche Pathologie des menschlichen Lebens, in die Pathologie, die unser Leben ist.«

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Nachbemerkung der Herausgeber

Wie auch Nietzsche selbst pflegt Michalski in seinen Essays einen persönlichen Stil, der sich oft ganz bewusst von den akademischen Konventionen absetzt. Viele seiner Beispiele entstammen literarischen Werken, und auch die Argumentation ist eher von klassischen literarischen und philosophischen Topoi inspiriert als dass sie sich auf die neueste Nietzscheliteratur stützte. Michalski erzählt über Nietzsche und mit Nietzsche von seinen eigenen philosophischen Fragen und ihren Anknüpfungspunkten in der Ideengeschichte. Und doch will er damit keineswegs die argumentative und diskursive Ebene verlassen, ihr vielmehr Prägnanz und Tiefendimension verleihen. Leszek Kołakowski, der vielleicht wichtigste polnische Philosoph des 20. Jahrhunderts und ein langjähriger enger Freund Michalskis, hat eben dies zum Ausdruck gebracht, als er feststellte: »Es gibt viele Bücher über Nietzsche. Einige zeichnen sich durch ihre Erudition und analytische Schärfe aus, andere durch ihre ästhetische Qualität. Doch nur selten finden wir eines, das beides vereint: Gelehrsamkeit und Schönheit. Dieses Verdienst hat Michalskis Buch.«

Die Flamme der Ewigkeit fand in Polen – wo der Autor eine bekannte Figur des öffentlichen Lebens war – eine breite Resonanz. Ansonsten wurde das Buch eher in der akademischen Welt wahrgenommen. 5 Wir hoffen, dass es mit der hier vorgelegten Übersetzung nun auch im deutschsprachigen Raum die Aufmerksamkeit findet, die es verdient. Wien, im August 2021

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Anmerkungen

Vorwort Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, KSA 4, 187. [Im Folgenden werden alle Werke von Nietzsche nach der Kritischen Studienausgabe (KSA: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin und New York: De Gruyter 1980) zitiert, und zwar nach dem Muster: Nietzsche, Titel des Werkes, KSA Bd.-Nr., Seitenzahl. Zitate, die in der KSA nicht enthalten sind, werden nach der KGW nachgewiesen (Nietzsche Werke. Kritische Gesamtausgabe (KGW), begründet von Colli und Montinari, fortgeführt von Wolfgang Müller-Lauter und Karl Pestalozzi, Berlin und New York: De Gruyter 1967 ff.). Anm. d. Hg.] 2 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1880–1882, KSA 9, 513. 3 Friedrich Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, 830. 4 Leszek Kołakowski, Świadomość religijna i wie kościelna, Warschau 1965. 1

I Nihilismus Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1885–1887, KSA 12, 350. Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1887–1889, KSA 13, 48. 3 Ebd. 4 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1882–1884, KSA 10, 660. 5 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1887–1889, KSA 13, 35 f. 6 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1884–1885, KSA 11, 138. 7 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1885–1887, KSA 12, 315. 8 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1887–1889, KSA 13, 255 f. 9 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, 620. 10 Stanisław Brzozowski, Kultura i życie [Kultur und Leben], Warschau 1973, 630. [Dem Zitat geht folgende Passage voraus: »Es gibt keine andere Sünde als jene gegen den Menschen: Etwas in sich selbst oder in einem anderen zu töten, ist die größte Sünde, nicht weil dieses Etwas nicht existieren sollte aufgrund irgendeines übermenschlichen oder überweltlichen Musters, sondern schlicht deshalb, weil es dieses Etwas nicht mehr geben wird …« Anm. und Übs. d. Hg.] 11 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1884–1885, KSA 11, 88. 12 Vgl. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 168. 1 2

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Anmerkungen

II Die Zeit fließt, das Kind spielt Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, KSA 1, 248. 2 Ebd. 3 Ebd. 4 Ebd. 5 Ebd., 249. 6 Emile Cioran, Tears and Saints, Übs. Ilinca Zarifopol-Johnston, Chicago 1995, 115. [Hervorhebung von KM. Wir geben hier und im Folgenden die englische Übersetzung der ersten Fassung wieder, da der deutschen Übersetzung (Frankfurt a. M. 2018) die vom Autor stark überarbeitete französische Version zugrunde liegt. Anm. d. Hg.] 7 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 31. 8 Friedrich Nietzsche, Nutzen und Nachtheil, KSA 1, 249. 9 Ebd., 252. 10 Ebd., 250. 11 Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, KSA 5, 291. 12 Friedrich Nietzsche, Nutzen und Nachtheil, KSA 1, 251. 13 Ebd., 252 f. 14 Ebd., 289. 15 Michel Foucault, »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, in: Michel Foucault, Von der Subversion des Wissens, hg. und übs. von Walter Seitter, Frankfurt a. M. 1993, 83. 16 Friedrich Nietzsche, Nutzen und Nachtheil, KSA 1, 257. 17 Ebd., 331. 18 Ebd., 287 f. 19 Ebd., 291. 20 Ebd., 269. 21 Ebd., 309 f. 22 Ebd., 300. 1

III Gut und Böse, Freude und Schmerz Vgl. Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, KSA 5, 247. Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1885–1887, KSA 12, 533 f. 3 Friedrich Nietzsche, Genealogie, KSA 5, 313 ff. 4 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, 576 f. 5 Ebd., 474. 6 Friedrich Nietzsche, Genealogie, KSA 5, 259 und 271. 7 Ebd., 272. 8 Ebd., 282. 9 Ebd., 281. 10 Ebd., 282. 11 Ebd., 275. 12 Ebd., 266. 1 2

272 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

Anmerkungen Ebd., 267. Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, 476. 15 Blaise Pascal, Gedanken über die Religion und einige andere Themen, Hg. Jean-Robert Armogathe, Übs. Ulrich Kunzmann, Stuttgart 1997, 199/72 (Nummerierung nach Lafuma/Brunschvicg). 16 Ebd., 126/93. 17 Ebd., 630/94. 18 Ebd., 211/453. 19 Ebd., 165/210. 20 Ebd., 522/140. 21 Augustinus, Confessiones / Bekenntnisse, lateinisch-deutsche Ausgabe, hg. von Kurt Flasch, Stuttgart 2009, Buch X, Kapitel 33, 511. 22 Pascal, Gedanken, a. a. O., 468/562. 13 14

IV Vernunft, die schmerzt Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 193. Ebd., 272. 3 Ebd. 4 Ebd., 209. 5 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1880–1882, KSA 10, 573. 6 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1880–1882, KSA 9, 582. 7 Friedrich Nietzsche, Zarathustra, KSA 4, 272. 8 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1880–1882, KSA 9, 490. 9 Friedrich Nietzsche, Zarathustra, KSA 4, 49. 10 Ebd., 59. 11 Ebd., 130. 12 Ebd., 131. 13 Ebd., 45. 14 Ebd., 307. 15 Ebd., 107. 16 Ebd., 134. 17 Heraklit, nach Hermann Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, Neunte Auflage, hg. von Walther Kranz, Erster Band, Stuttgart 1960, 22 B 53 (S. 162). 18 Friedrich Nietzsche, Zarathustra, KSA 4, 194. 19 Ebd., 194. 20 Ebd., 133. 21 Ebd., 130. 22 Ebd., 134. 23 Ebd., 251. 24 Emmanuel Lévinas, Gott, der Tod und die Zeit, Wien 1996, 122. 25 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1880–1882, KSA 9, 522. 26 Friedrich Nietzsche, Zarathustra, KSA 4, 268. 27 Ebd., 215 f. 28 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1882–1884, KSA 10, 605. 29 Friedrich Nietzsche, Zarathustra, KSA 4, 207 und 209. 1 2

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Anmerkungen 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46

Ebd., 216. Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1887–1889, KSA 13, 492. Friedrich Nietzsche, Zarathustra, KSA 4, 207. Ebd. Ebd., 209. Ebd. Ebd. Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1882–1882, KSA 10, 595. Friedrich Nietzsche, Zarathustra, KSA 4, 19. Ebd., 209. Ebd., 140. Ebd., 284. Ebd., 284 f. Ebd., 285. Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1882–1884, KSA 10, 112. Friedrich Nietzsche, Zarathustra, KSA 4, 20. Friedrich Nietzsche, Morgenröthe, KSA 3, 52.

V Die Zeit ist nahe Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1884–1885, KSA 11, 533. Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, 577. 3 [Die Bibelzitate werden nach der revidierten Fassung der Luther-Bibel angegeben: Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments. Revidierte Fassung der deutschen Übersetzung Martin Luthers (1912). Anm. d. Hg.] 4 SyrBar 85,10; zitiert nach Albertus Frederik Johannes Klijn: »Die syrische Baruch-Apokalypse«, in: JSHRZ – Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit V/1976, 183. 5 Pascal, Gedanken, a. a. O., 919/553. 6 Gerhard von Rad, Theologie des Alten Testaments, Bd. II, München 1968, 326. 7 Pascal, Gedanken, a. a. O., 68/205. 8 Ebd., 201/206. 9 Ebd., 151/211. 10 Ebd., 154/237. 11 Vgl. Jacob Taubes, Die politische Theologie des Paulus, München 1993, 105 f. 12 Pascal, Gedanken, a. a. O., 152/213. 13 Ebd., 199/72. 14 Martin Heidegger, »Die Zeit des Weltbildes«, in: Holzwege, Frankfurt a. M. 1977, 83 f. 15 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1885–1887, KSA 12, 206 f. 16 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1887–1889, KSA 13, 368. 17 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 167. 18 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1885–1887, KSA 12, 120. 19 Friedrich Nietzsche, Zarathustra, KSA 4, 109. 20 Ebd., 110. 1 2

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Anmerkungen 21 22 23 24 25 26

Ebd., 111. Ebd. Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, KSA 6, 200. Ebd., 216. Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, KSA 5, 401. Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1887–1889, KSA 13, 193.

VI Der Tod Gottes Platon, Phaidon, in: ders., Sämtliche Werke. In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung hg. von Walter F. Otto, Ernesto Grassi und Gert Plamböck, Bd. 3, Hamburg 1958, 64a. 2 Ebd., 65c. 3 Vgl. Jorge Luis Borges, »Die Unsterblichkeit«, in: ders., Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Band 4: Der Essays vierter Teil. Übs. Gisbert Haefs, München 2004. 4 Platon, Phaidon, a. a. O., 66e. 5 Gustave Flaubert, Madame Bovary, Übs. Cornelia Hasting, Zürich 2001, 448. 6 Platon, Phaidon, a. a. O., 67e. 7 Michel Eyquem de Montaigne, Essais, Bd. I, 1, XIX, Übs. Johann Daniel Tietz, Zürich 1996, 103. 8 Platon, Phaidon, a. a. O., 77e. 9 Platon, Phaidon, a. a. O., 82a,b. 10 Ebd., 118a. 11 Epikur, Fragmente, 44, in: Philosophie der Freude, Übs. Paul M. Laskowsky, Frankfurt a. M. 1988, 102. 12 Platon, Phaidon, a. a. O., 39b. 13 D. H. Lawrence, Liebende Frauen, Übs. Petra-Susanne Räbel, Zürich 2002, 322. 14 William Hazlitt, »On the Feeling of Immortality in Youth«, in: The Collected Works of William Hazlitt, ed. by A. R. Waller and A. Glover (vol. 12), London 1904, 151. 15 Hans-Georg Gadamer, »Der Tod als Frage«, in: ders., Gesammelte Werke Bd. 4, Tübingen 1987, 163. 16 Ebd., 170. 17 Emmanuel Lévinas, Gott, der Tod und die Zeit, a. a. O., 101. 18 Franz Kafka, 4. Dezember 1913, Tagebücher 1910–1923, Frankfurt a. M. 1995, 247. 19 Augustinus, Bekenntnisse, a. a. O., V, 3, 115. 20 Platon, Phaidon, a. a. O., 110c – 111a. 21 Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, KSA 6, 207. 22 Simone Weil, zitiert nach Emmanuel Lévinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg 1992, 303. 23 Augustinus, Bekenntnisse, a. a. O., XI, 9, 308. 24 Montaigne, Essais, a. a. O., 115. 25 Pascal, Gedanken, a. a. O., 919/553. 1

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Anmerkungen 26 27 28

Augustinus, Bekenntnisse, a. a. O., VIII, 5, 199 f. Emmanuel Lévinas, Gott, der Tod und die Zeit, a. a. O., 32. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 34.

VII Die Flamme der Ewigkeit Augustinus, Enarr. in Ps. 38, in: Migne, Patrologia Latina, Bd. 36, 423. [Übs. d. Hg.] 2 Augustinus von Hippo, Predigten zu den Psalmen II (Sermones 22–34), hg. von Hubertus R. Drobner, Frankfurt a. M. 2016, 1274. [Übs. d. Hg.] 3 Plotin, 5. Enneade, Erstes Buch, »Über die drei ursprünglichen Hypostasen«, nach der Übs. von Hermann Friedrich Müller (1878), www.zeno.org/nid/ 2000926275X. 4 Jorge Luis Borges, »Geschichte der Ewigkeit«, in: ders., Geschichte der Ewigkeit. Essays, Übs. Karl August Horst, München 1965, 24. 5 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1880–1882, KSA 9, 652. 6 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1882–1884, KSA 10, 9. 7 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 110. 8 Friedrich Nietzsche, ebd., 252. 9 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1880–1882, KSA 9, 554. 10 D. H. Lawrence, Liebende Frauen, a. a. O., 283. 11 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 252. 12 Friedrich Hölderlin, »Empedokles« [Erster Entwurf], in: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. I, München 1992, 832. 13 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 252. 14 Hölderlin, Empedokles, a. a. O., 832. 15 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 181. 16 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1887–1889, KSA 13, 375. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Ebd., 374. 20 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1884–1885, KSA 11, 556. 21 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 252. 22 D. H. Lawrence, Liebende Frauen, a. a. O., 284. 23 Ebd., 283. 24 Edmund Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, Husserliana X, 78. 25 Leszek Kołakowski, Kultura i fetysze. Zbiór rozpraw [Kultur und Fetische. Abhandlungen], Warschau 1967. 26 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Schriften 1870–1873, KSA 1, 823. 27 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1880–1882, KSA 9, 570; 554. 28 Ebd., 504. 29 Ebd., 500. 30 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1884–1885, KSA 11, 561. 31 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1880–1882, KSA 9, 504. 32 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 252. 1

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Anmerkungen Ebd., 252. Hölderlin, Empedokles, a. a. O., 832. 35 Emmanuel Lévinas, Gott, der Tod und die Zeit, a. a. O., 119. 36 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 252. 37 Ebd. 38 Ebd. 39 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, 345. 40 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 278. 41 Ebd. 42 Friedrich Nietzsche, Ecce Homo, KSA 6, 320. 43 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 175. 44 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1882–1884, KSA 10, 368. 45 Aristoteles, Über die Seele, hg. von Horst Seidl, Hamburg 1995, 21. 46 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1882–1884, KSA 10, 442 f. 47 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 126. 48 Jarosław Iwaszkiewicz, »Słońce w kuchni«, in: Opowiadania II, Warschau 1979, 132. [Übs. der Hg.] 49 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1882–1884, KSA 10, 483. 50 Franz Kafka, 16. Oktober 1921, Tagebücher 1910–1923, a. a. O., 397. 51 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1885–1887, KSA 12, 142. 52 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1884–1885, KSA 11, 12. [Hervorhebung KM, Anm. d. Hg.] 53 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 252. 54 Ebd. 55 Ebd., 205. 56 IgnRm 7,2. Zitiert nach Henning Paulsen, Die Briefe des Ignatius von Antiochia und der Brief des Polykarp von Smyrna, Tübingen 21985, 76. 57 José Ortega y Gasset, »Tod und Auferstehung« (1917), in: Gesammelte Werke, Bd. 1, Stuttgart 1996, 100. 58 D. H. Lawrence, »Richard Henry Dana’s ›Two Years before the Mast‹«, in: ders., Der Untergang der Pequod, Studien zur klassischen amerikanischen Literatur, Übs. Werner Richter, Europaverlag Wien-Zürich 1992, 162–185, hier 168. 59 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, »Philosophie des Heraklit«, in: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, ders., Werke in zwanzig Bänden, Bd. 18, Frankfurt a. M. 1971, 334. 60 Heraklit, nach Diels/Kranz, a. a. O., 22 B 30, 157 f. 61 Vgl. Augustinus, Bekenntnisse, a. a. O., VII, 5, 313. 62 Seneca, Trostschrift an Marcia, in: Philosophische Schriften I, hg. von Otto Apelt, Hamburg 1993, 253 f. 63 Origen, Homilies 1–14 on Ezekiel, Übs. Thomas P. Scheck, Mahwah, NJ 2010, 43. 64 In Anlehnung an Origenes. Vgl. Henry Chadwick, The Church in Ancient Society: From Galilee to Gregory the Great, Oxford University Press 2001, 516. 65 Hegel, »Philosophie des Heraklit«, a. a. O., 333. 66 Ebd., 330. 67 Martin Heidegger, Heraklit. Der Anfang des abendländischen Denkens, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 55, Frankfurt a. M. 31994, 161. 33 34

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Anmerkungen Ebd., 162. Ebd. 70 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1880–1882, KSA 9, 651. 71 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 12. 72 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1882–1884, KSA 10, 424. 73 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 119. 74 Ebd., 289. 75 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1875–1879, KSA 8, 408. 76 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, 418. 77 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1882–1884, KSA 10, 436. 78 Ebd., 351. 79 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 217. 80 Friedrich Nietzsche, Chronik zu Nietzsches Leben, KSA 15, 194. 81 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, 349 f. 82 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1884–1885, KSA 11, 160. 83 Friedrich Nietzsche, Nachbericht zu Zarathustra, KGW VI 4, 649. 84 Origenes, Geist und Feuer, hg. von Hans Urs von Bathasar, Salzburg/Leipzig 1938, 485. 85 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1882–1884, KSA 10, 402. 86 D. H. Lawrence, »Herman Melvilles ›Typee‹ und ›Omoo‹«, in: ders., Der Untergang der Pequod, a. a. O., 187 f. 87 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, 526. 88 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1882–1884, KSA 10, 601. 89 Ebd. 90 Franz Kafka, An Oskar Pollak, 27. Januar 1904, in: Briefe 1902–1924, hg. von Max Brod, Frankfurt a. M. 1958, 28. 91 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1882–1884, KSA 10, 436. 92 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 12. 93 Ebd., 16. 94 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1882–1884, KSA 10, 362. 95 Friedrich Nietzsche, Morgenröthe, KSA 3, 158. 96 Ebd., 154. 97 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1882–1884, KSA 10, 96. 98 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 13. 99 Friedrich Nietzsche, Nachbericht zu Zarathustra, a. a. O., 92. 100 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1880–1882, KSA 9, 472. 101 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 225. 102 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1882–1884, KSA 10, 443. 103 Jorge Luis Borges, »Geschichte der Ewigkeit«, in: ders., Geschichte der Ewigkeit. Essays, a. a. O., 118. 104 Jorge Luis Borges, »Eine neue Widerlegung der Zeit«, ebd., 176. 105 Stanisław Brzozowski, Pamitnik [Tagebuch], 2. 1. 1911, Krakau 1985, 72. 106 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 237 f. 107 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1880–1882, KSA 9, 502. 108 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 110. 109 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1885–1887, KSA 12, 348. 110 Origenes, Geist und Feuer, a. a. O., 491. 68 69

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Anmerkungen Lou Andreas-Salomé, Friedrich Nietzsche in seinen Werken, Wien 1894, 120 f. 112 Ebd., 19. 113 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1880–1882, KSA 9, 504. 114 Emile Cioran, Tears and Saints, a. a. O., 14. [Hervorhebung im Original. Anm. d. Hg.] 115 Piero Camporesi, The Incorruptible Flesh: Bodily Mutation and Mortification in Religion and Folklore, Übs. Tania Croft-Murray, Cambridge 1988, 36. 116 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, 349 f. 117 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1882–1884, KSA 10, 211. 118 Ebd. 119 Franz Kafka, An Selma K[ohn], 4. September 1900, Briefe 1902–1924, a. a. O., 9. 111

VIII Ewige Liebe Plotin, 3. Enneade, Fünftes Buch, »Über den Eros«, a. a. O. William Shakespeare, Romeo und Julia, Übs. Schlegel/Tieck, in: Sämtliche Werke, Bd. 4, Berlin 1975, 137. 3 Rainer Maria Rilke, Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke, in: Sämtliche Werke, Bd. I, Frankfurt a. M. 1987, 244 f. 4 In Anlehnung an Mechthild von Magdeburg, zitiert nach: Caroline Walker Bynum, The Resurrection of the Body in Western Christianity, Columbia University Press 1995, 340. [Übs. d. Hg.] 5 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, 624. 6 Gustave Flaubert, Madame Bovary, a. a. O., 296. 7 Johannes vom Kreuz, Die lebendige Liebesflamme, Gesammelte Werke Bd. 5, Übs. Urich Dobhan e.a, Freiburg im Breisgau 2000, 68. 8 Piero Camporesi, The Incorruptible Flesh, a. a. O., 157 f. 9 In Anlehnung an Mechthild von Magdeburg, zitiert nach Bynum, Resurrection, a. a. O., 340. [Übs. d. Hg.] 10 Plotin, 3. Enneade, Fünftes Buch, »Über den Eros«, a. a. O. 11 Piero Camporesi, The incorruptible flesh, a. a. O., 36. [Übs. d. Hg.] 12 Louis-Ferdinand Céline, Reise ans Ende der Nacht, Übs. Hinrich SchmidtHenkel, Hamburg 2003, 442. 13 Gregor von Nyssa, Gespräch mit Makrina über Seele und Auferstehung, § 18, »Widerlegung«. https://www.unifr.ch/bkv/kapitel2430.htm. 14 Gregor von Nazianz, De natura humana. Michalski zitiert frei nach dem polnischen Kompendium der Wüstenväter, hg. von Ryszard Przybylski, Pustelnicy i demony [Einsiedler und Dämonen], Krakau 1994, 74. Übs. d. Hg. 15 Johannes Klimakus, Die Leiter zum Paradiese, Übs. Franz v. Sales, Heppenheim 1987, 156. 16 Ebd., 156 f.; 151 f. 17 Porphyrios, Über Plotins Leben und über die Ordnung seiner Schriften, Übs. Richard Harder, in: Walter Marg (Hg.), Plotins Schriften, Bd. Vc, Hamburg 1958, 5. 1 2

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Anmerkungen Origenes, Fragment on Psalm 1.5, zitiert nach: Bynum, Resurrection, a. a. O., 64. [Übs. d. Hg.] 19 Die Sophia Jesu Christi, in: Gerd Lüdemann und Martina Janßen, Bibel der Häretiker, Stuttgart 1997, 264. 20 Vgl. Augustinus, Bekenntnisse, z. B. III, 1: »Doch waren mein leidenschaftliches Geben und Nehmen von größter Wonne erfüllt, wenn mir auch der Genuss körperlicher Leidenschaft vergönnt war. So besudelte ich die Quellader der Freundschaft mit dem Schmutz der Begierde, verdunkelte ihren Glanz mit der schrecklichen Finsternis der Lust«, a. a. O., 107; oder III, 8: »Denn das Band der Gemeinschaft, das uns mit Gott verbinden soll, wird auf schändliche Weise durchtrennt, wenn eben die Natur, deren Schöpfer er ist, durch die Verderbnis der Lust besudelt wird.« a. a. O., 133. [Anm. d. Hg.] 21 The Desert Fathers: Sayings of the Early Christian Monks, ed. by Benedicta Ward, New York 2003, 31. 22 Ebd., 39 f. 23 Clemens von Alexandrien, Teppiche: Wissenschaftliche Darlegungen entsprechend der wahren Philosophie (Stromateis), Drittes Buch, IX 63.2. Aus dem Griechischen übersetzt von Otto Stählin. Bibliothek der Kirchenväter, 2. Reihe, Band 17, 294. München 1936–1938. 24 Caroline Walker Bynum, The Resurrection of the Body in Western Christianity, Columbia University Press 1995, 224. 25 Bernhard von Clairvaux, Operum tomus quintus, Aliena dubia, notha, et supposititia, Lugduni 1679, 146. Zitiert nach: Piero Camporesi, The Incorruptible Flesh, a. a. O., 156. 26 Ebd., 251. 27 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 20. 28 Louis-Ferdinand Céline, Reise ans Ende der Nacht, a. a. O., 319. 29 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, 624. 30 Vgl. Fußnote 289 (Gregor von Nyssa, Gespräch mit Makrina über Seele und Auferstehung). [Anm. d. Hg.] 31 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, 471. 32 Emile Cioran, Tears and Saints, a. a. O., 118. 33 Johannes vom Kreuz, Lebendige Liebesflamme, Übs. P. Aloysius ab Immac. Conceptione, in: Johannes von Kreuz, Sämtliche Werke, Bd. 3, München 1924, 10. 34 Ebd., 27 f. 35 Shakespeare, Romeo und Julia, a. a. O., 113 f. 36 Octavio Paz, Die doppelte Flamme, Übs. Rudolf Wittkopf, Frankfurt a. M. 1997, 35. 37 Shakespeare, Romeo und Julia, a. a. O., 137. 38 Franz Kafka, 4. Mai 1915, Tagebücher 1910–1923, a. a. O., 346. 39 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 344. 40 Ebd. 41 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1882–1884, KSA 10, 88. 42 Abaelard, Die Leidensgeschichte und der Briefwechsel mit Heloisa, hg. von Eberhard Brost, Heidelberg 1979, 86. 43 Octavio Paz, Die doppelte Flamme, a. a. O., 156. 18

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Anmerkungen Emile Cioran, Tears and Saints, a. a. O., 54. Lukrez, Von der Natur der Dinge, IV Wahrnehmen, Denken, Begehren/Liebeswahn, 1095–1110. Der Text folgt der 1924 in Berlin erschienenen Übertragung durch Hermann Diels, die postum von Johannes Mewaldt herausgegeben wurde. 46 »Hegels Frankfurter Fragment ›welchem zwekke denn‹. Mitgeteilt und erläutert von Christoph Jamme«, in: Hegel-Studien Bd. 17 (1982). 47 »To know just how he suffered would be dear«, in: Collected poems of Emily Dickinson, New York 1982, 218. 48 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 136. 49 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1882–1884, KSA 10, 217. 50 Octavio Paz, Die doppelte Flamme, a. a. O., 115. 51 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 157. 52 Jarosław Iwaszkiewicz, »Do Izoldy«, in: Muzyka wieczorem, Warschau 1980, 32. [Übs. Thomas Weiler] 53 Vgl. Hans-Georg Gadamer, »Die Zeitanschauung des Abendlandes«, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 4, a. a. O., 135. 54 Tertullian, Über die Seele LII, in: Die Seele ist ein Hauch, Übs. Jan H. Waszink, Zürich, München 21986, 167. 55 Emmanuel Lévinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Übs. Wolfgang Nikolaus Krewani, München 1987, 36. 56 Tadeusz Różewicz, »Nichts«, Übs. Karl Dedecius, in: Gedichte, Stücke, Frankfurt a. M. 1983, 129. 57 Franz Kafka, 8. Dezember 1919, Tagebücher 1910–1923, a. a. O., 394. 58 Hegel, »Entwürfe über Religion und Liebe« (1797/98), in: Frühe Schriften, ders., Werke in zwanzig Bänden, Bd. 1, a. a. O., 247. 59 André Breton, L’Amour fou, Übs. Friedhelm Kemp, Frankfurt a. M. 1975, 11. 60 Karl Kerényi, Humanistische Seelenforschung, Stuttgart 1996, 90. 61 Hans-Georg Gadamer, »Nietzsche – der Antipode«, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 4, a. a. O., 462. 62 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 151. 63 Emile Cioran, Tears and Saints, a. a. O., 6. 64 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 40. 65 D. H. Lawrence, Study of Thomas Hardy and Other Essays, ed. by Bruce Steele, Cambridge University Press 1985, 52. 66 Tadeusz Różewicz, »Stachel«, Übs. Karl Dedecius, in: Gedichte, Stücke, a. a. O., 145 f. 67 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1882–1884, KSA 10, 213. 68 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, 350. 69 Ebd. 70 Ebd., 569. 71 Ebd., 352. 72 S. Anm. 298. 73 S. Anm. 300. 74 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 168. 44 45

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Anmerkungen Franz Kafka, Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe, hg. von Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit, Frankfurt a. M. 1990, 899. 76 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, 349. 77 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1882–1884, KSA 10, 211. 75

IX Das unstillbare Verlangen nach den nächsten Augenblicken. Von der ewigen Wiederkunft des Gleichen Jan Lechoń, »Na niebo wypływają białych chmurek żagle …« [Am Himmel ziehen weißer Wolken Segel auf …] in: Poezje, Wrocław 1990, 37. 2 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, 523. 3 »Wir wissen nie beim Fortgehn daß wir gehen …«, Übs. Gunhild Kübler, in: Emily Dickinson, Gedichte englisch und deutsch, München 2006, 471. 4 Vgl. Arthur Schopenhauer, Ueber den Tod und sein Verhältniß zur Unzerstörbarkeit unsers Wesens an sich, in: Sämtliche Werke, Bd. 3, Mannheim 1988, 551 f. 5 Czesław Miłosz, Piesek przydrożny, Krakau 1997 [Übs. d. Hg. Vgl. auch die deutsche Auswahlübersetzung: Czesław Miłosz, Hündchen am Wegesrand, Übs. Doreen Daume, München/Wien 2000.] 6 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, ders., Werke in zwanzig Bänden, Bd. 12, a. a. O., 74. 7 Ebd. 8 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille. Zweite Betrachtung, in: Sämtliche Werke, Bd. 2, Mannheim 1988, 326. 9 Gerhard von Rad, Theologie des Alten Testaments, Bd. II, a. a. O., 111. 10 Mircea Eliade, Kosmos und Geschichte. Der Mythos der ewigen Wiederkehr, Übs. Günter Spaltmann, Frankfurt a. M. 1984, 136 f. 11 David Hume, Dialoge über natürliche Religion, Stuttgart 1981, Teil 8, 77. 12 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille. Zweite Betrachtung, a. a. O., 329. 13 Ebd. 14 Origenes, Von den Prinzipien, I 6,2, in: Herwig Görgemanns und Heinrich Karpp (Hg.), Origenes, Vier Bücher von den Prinzipien, Darmstadt 31992, 217 und 219. 15 Vgl. Gerhard von Rad, Theologie des Alten Testaments, a. a. O., 191. 16 Pascal, Gedanken, a. a. O., 919/553. 17 Vgl. ebd. 18 Augustinus, Vom Gottesstaat, XII, 14, Übs. Wilhelm Thimme, Zürich 1955, 85. 19 Zitiert nach Herwig Görgemanns und Heinrich Karpp (Hg.), Origenes. Vier Bücher von den Prinzipien, a. a. O., Textanhang, »Die 15 Anathemismen von 553«, 825 und 831. 20 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 11. 21 Ebd., 12. 22 Ebd. 23 Ebd., 140. 1

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Anmerkungen Ebd., 12. Ebd. 26 Ebd., 14. 27 Ebd., 20. 28 Ebd., 19. 29 Ebd. 30 Ebd., 20. 31 Ebd. 32 Ebd. 33 Ebd., 34. 34 Ebd., 15. 35 Ebd., 357. 36 Ebd., 83. 37 Ebd., 18. 38 Friedrich Nietzsche, Morgenröthe, KSA 3, 54. 39 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 164. 40 Ebd., 16 f. 41 Stanisław Brzozowski, Kultura i życie [Kultur und Leben], Warschau 1973, 643. 42 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 57. 43 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1880–1882, KSA 9, 606. [Vgl. Friedrich Schiller, »Die Freundschaft« (1782): »Aus dem Kelch des ganzen Seelenreichs / Schäumt ihm – die Unendlichkeit.« Hegel schließt seine Phänomenologie des Geistes mit der folgenden Reformulierung: »aus dem Kelche dieses Geisterreiches / schäumt ihm seine Unendlichkeit.«] 44 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 59 f. 45 Konstanty Ildefons Gałczyński, »Notatki z nieudanych rekolekcji paryskich« [Notizen aus misslungenen Pariser Exerzitien], in: Siódme niebo [Siebenter Himmel], Warschau 1968, 154. 46 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1882–1884, KSA 10, 217. 47 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 92. 48 Juliusz Słowacki, »Wacław«, in: Dzieła Juliusza Słowackiego, Tom III [Juliusz Słowacki, Gesammelte Werke, Bd. III], hg. von Henryk Biegeleisen, Lwów 1894. 49 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 19. 50 Friedrich Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, 825. 51 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 11. 52 Friedrich Nietzsche, Philosophie im tragischen Zeitalter, KSA 1, 825. 53 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, 565. 54 Ebd., 565. 55 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 357. 56 Friedrich Nietzsche, Morgenröthe, KSA 3, 85. 57 Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, KSA 6, 234. 58 Martin Heidegger, »Einleitung in die Phänomenologie der Religion«, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 60, Frankfurt a. M. 1995, 105. 59 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1887–1889, KSA 13, 154. 60 Ebd., 158. 24 25

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Anmerkungen Friedrich Nietzsche, Antichrist, KSA 6, 207. D. H. Lawrence, »Foreword to Sons and Lovers«, in: ders. The Early Philosophical Works, hg. von M. Black, Cambridge University Press 1992, 137. 63 Juliusz Słowacki, »Odpowied na Psalmy Przyszłości Spirydionowi Prawdzickiemu« [Antwort auf die Psalmen der Zukunft von Spirydion Prawdzicki], in: Liryki i inne Wiersze, Dzieła, Tom I [Lyrische Werke und andere Gedichte, Werke, Bd. I], hg. von Juliusz Krzyzanowski, Wrocław 1949. 64 William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung, Übs. Eilert Herms, Freiburg i. Br. 1979, 137. 65 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 118. 66 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1885–1887, KSA 12, 348. 67 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 147. 68 Ebd., 149. 69 Ebd., 148. 70 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1882–1884, KSA 10, 88. 71 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 110. 72 Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, KSA 6, 57. 73 Ebd., 120. 74 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1880–1882, KSA 9, 653. 75 Vgl. Ebd., 653. 76 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 238. 77 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1885–1887, KSA 12, 161. 78 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1884–1885, KSA 11, 158. 79 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 111. 80 Ebd. 81 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1882–1884, KSA 10, 211. 82 Ebd. 83 Ebd. 84 Ebd. 85 Sören Kierkegaard, Tagebuch des Verführers, Übs. Emanuel Hirsch, in: Gesammelte Werke, Bd. 1, Düsseldorf 1956, 440. 86 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 140. 87 D. H. Lawrence, »Richard Henry Dana’s ›Two Years Before the Mast‹«, a. a. O., 164. 88 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 141. 89 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, 454. 90 Ebd. 91 Ebd. 92 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1887–1889, KSA 13, 394. 93 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 181. 94 Ebd., 130. 95 Ebd., 148. 96 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, 417. 97 Ebd., 569. 98 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, 171, 99 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 180. 100 Ebd., 179. 61 62

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Anmerkungen Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1887–1889, KSA 13, 451. Stanisław Brzozowski, Kultura i życie [Kultur und Leben], a. a. O., 614. 103 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 111. 104 Ebd. 105 Ebd., 13. 106 Ebd., 116. 107 Aristoteles, Physik. Vorlesung über die Natur, Erster Halbband, hg. von Hans Günter Zekl, Hamburg 1987, 223. 108 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 179 f. 109 Ebd., 249. 110 Ebd., 198. 111 Ebd., 199. 112 Ebd. 113 Ebd., 199 f. 114 Ebd., 200. 115 Ebd., 201. 116 Ebd., 201. 117 Ebd. 118 Ebd., 202. 119 Ebd. 120 Vgl. ebd., 270–277. 121 Ebd., 271. 122 Ebd., 271 f. 123 Ebd., 272 f. 124 Ebd., 273. 125 Ebd., 265. 126 Ebd., 248. 127 Vgl. ebd., 266. 128 Martin Heidegger, Nietzsches metaphysische Grundstellung im abendländischen Denken. Die ewige Wiederkehr des Gleichen, in: ders., Gesamtausgabe Bd. 44, Frankfurt a. M. 1986, 398 f. 129 Ebd. 130 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1887–1889, KSA 13, 375, 131 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 179. 132 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1882–1884, KSA 10, 203. 133 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1887–1889, KSA 13, 374. 134 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, 468. 135 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1882–1884, KSA 10, 174. 136 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1884–1885, KSA 11, 556. 137 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1880–1882, KSA 9, 525. 138 Friedrich Hölderlin, »Das Werden im Vergehen«, in: Sämtliche Werke (Kleine Stuttgarter Ausgabe, hg. von Friedrich Beissner), Bd. 4, Stuttgart 1962, 293 f. 139 Emile Cioran, Auf den Gipfeln der Verzweiflung, Übs. F. Leopold, in: Werke, Frankfurt a. M. 2008, 88. 140 Nikolaj Berdjaev, Der Sinn der Geschichte, Übs. Otto von Taube, Tübingen 2 1950, 103. 141 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 03, 417. 101 102

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Anmerkungen Ryszard Przybylski, Ogrody romantyków [Die Gärten der Romantiker], Krakau 1978, 128. 143 Sören Kierkegaard, Tagebuch des Verführers, a. a. O., 465. 144 Ebd., 466. 145 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 279. 146 Ebd. 147 Ebd., 248 f. 148 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1880–1882, KSA 9, 652. 149 Ebd., 513. 150 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 287. 151 Hegel, »Philosophische Enzyklopädie für die Oberklasse«, in: Nürnberger und Heidelberger Schriften 1808–1817, ders., Werke in zwanzig Bänden, Bd. 4, a. a. O., 16. 152 Ebd., 87 f. 153 Plutarch, De Eapud Delphos 18, 392 C. Zitiert nach: Christian Iber, »Zeit und vergängliches Werden bei Heraklit«, in: E. Angehrn u. a. (Hg.), Der Sinn der Zeit, Weilerswist 2002, 203. 154 Zitiert nach: Christian Iber, a. a. O., 204, Anm. 14. 155 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1882–1884, KSA 10, 207. 156 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 279. 157 Nietzsches Werke, Nachbericht zum ersten Band der sechsten Abteilung: Also sprach Zarathustra, hg. von M. L. Haase und M. Montinari, Berlin u. a. 1991, Bd. 6.4, 522. 158 Friedrich Nietzsche, Zarathustra, KSA 4, 201. 159 Ebd., 201 f. 160 Ebd., 271. 161 Ebd., 200. 162 Emile Cioran, Tears and Saints, a. a. O., 101. 163 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1880–1882, KSA 9, 499. 164 Hölderlin, »Das untergehende Vaterland …«, a. a. O., 75. 165 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1884–1885, KSA 11, 561. 166 Rilke, »Nächtlicher Gang«, in: Sämtliche Werke, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1987, 31. 167 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 146. 168 Hegel, Phänomenologie des Geistes, ders., Werke in zwanzig Bänden, Bd. 3, a. a. O., 431. 169 Hegel, »Vorrede«, in: Grundlinien der Philosophie des Rechts, ders., Werke in zwanzig Bänden, Bd. 7, a. a. O., 26 f. 170 Leszek Kołakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus, Bd. 1, München 1977, 472. 171 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, 481. 172 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 257. 173 Hans Georg Gadamer, »Nietzsche – der Antipode«, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 4, a. a. O., 458. 174 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 31. 175 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1882–1884, KSA 10, 452. 176 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 202. 142

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Anmerkungen Ebd. Ebd., 291. 179 Ebd., 187. 180 Henryk Sienkiewicz, Die Familie Polaniecki, Übs. Sonja Placzek, Regensburg o. J., 409. 181 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 12. 182 Ebd., 199. 183 Ebd., 197. 184 Ebd. 185 Emile Cioran, Auf den Gipfeln der Verzweiflung, a. a. O., 83 f. 186 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1869–1874, KSA 7, 69. 187 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1882–1884, KSA 10, 593. 188 Ebd., 593. 189 Hegel, »Konzept der Rede beim Antritt des philosophischen Lehramtes an der Universität Berlin«, in: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830. Dritter Teil. Die Philosophie des Geistes, ders., Werke in zwanzig Bänden, Bd. 10, a. a. O., 404. 190 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 272. 191 Ebd., 187. 192 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, 570. 193 Ebd., 570. 194 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 198. 195 Ebd., 134. 196 Cyprian Kamil Norwid, Vade-Mecum, Übs. Rolf Fieguth, München 1981, 83. 197 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1884–1885, KSA 11, 385. 198 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1882–1884, KSA 10, 205. 199 Ebd. 200 Ebd. 201 Friedrich Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, 831. 202 Ebd. 203 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1882–1884, KSA 10, 142. 204 Nach: Jan Lechoń, »Na Boskiej Komedii dedykacja« [Eine Widmung in der Göttlichen Komödie], in: Poezje, Wrocław 1990, 34. [Übs. d. Hg.] 205 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 143. 206 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1882–1884, KSA 10, 427. 207 Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, KSA 6, 217. 208 Ebd., 247. 209 Ebd., 204. 210 Ebd., 200. 211 Wystan H. Auden, Collected Poems, hg. von E. Mendelson, New York 2007, 293. 212 Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, KSA 6, 200. 213 Vgl. Hans-Georg Gadamer, »Nietzsche – der Antipode«, a. a. O., 454. 214 Nikolaj Berdjaev, Der Sinn der Geschichte, a. a. O., 108. 215 Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, KSA 6, 204. 216 Ebd. 177 178

287 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .

Anmerkungen Giorgio Agamben, Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt a. M. 2006, 152. 218 Pascal, Gedanken, a. a. O., 424/278. 219 Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, KSA 6, 204. 220 Ebd. 221 Ryszard Przybylski, Pustelnicy i Demony [Einsiedler und Dämonen], a. a. O., 47. [Übs. d. Hg.] 222 Jarosław Iwaszkiewicz, Ciemne ścieżki [Dunkle Pfade], Warschau 1982, 43. [Übs. Thomas Weiler] 217

Nachbemerkung der Herausgeber Krzysztof Michalski, The Flame of Eternity. An Interpretation of Nietzsche’s Thought. Translated from the Polish by Benjamin Paloff, Princeton University Press 2012. 2 Siehe hierzu die umfassende Bibliographie seiner Schriften auf der Website des IWM: https://files.iwm.at/km-biblio.pdf 3 »Płomień Nietzschego« (Die Flamme Nietzsches). Interview mit Paweł Dybel, in: Nowe Książki, Nr. 5 (2007). Übersetzung von Bernhard Hartmann. 4 So wurde 2004–2006 am IWM ein Projekt zu diesem Thema durchgeführt, dessen Ergebnisse in dem von Cornelia Klinger herausgegebenen Band Perspektiven des Todes in der modernen Gesellschaft, München/Wien 2008 erschienen. 5 Hier eine Auswahl: Existenz. An International Journal in Philosophy, Religion, Politics, and the Arts, Bd. 8, Nr. 1 (2013); das Heft enthält Artikel zu Michalskis Buch von Alan M. Olson, James Dodd, Babette Babich, Tom Rockmore, Sigridur Theorgeirsdottir und Lydia Voronina. Tamsin Shaw, »Nietzsche: ›The Lightning Fire‹«, in: The New York Review of Books, 24 October 2014, 53–57. James Dodd, »On Krzysztof Michalski’s The Flame of Eternity«, in: Transit_online, 11. 02. 2016. De Warren, Nicolas, A Momentary Breathlessness in the Sadness of Time. On Krzysztof Michalski’s Nietzsche, Vilnius: Jonas ir Jokúbas, 2018; ders., »The Rupture and The Rapture: Eternity in Jan Patočka and Krzysztof Michalski«, in: Miscellanea Anthropologica et Sociologica, Bd. 20, Nr. 1 (2019), 151–177. Einen breiteren Überblick über Werk und Leben Michalskis gibt Piotr Kubasiak, Zwischen Existentialismus und Politik: Europa und Geschichte im Denken von Krzysztof Michalski, Ostfildern: Matthias Grünewald Verlag 2020. 1

288 https://doi.org/10.5771/9783495825587 .