endlich/philosophieren: Die anthropologisch-existentielle Wende der Phänomenologie 9783495999516, 9783495999509


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Vorwort
1. Hinführung
2. Existentielle Anthropologie
2.1. Phänomenologische Vorstellung des Irrationalen
2.2. Existentielles Philosophieren
3. Reflexion des Welt- und Selbstverständnis.
3.1. Ein existenz-phänomenologischer Weg
3.2. Philosophie, Philosophieren, der Philosophierende
3.3. Phänomenologische Besinnung
3.4. Der Mensch und seine Geschichten
3.5. Die Wissenschaften im Horizont existentieller Besinnung
4. Reflexion der Reflexionen des Welt- und Selbstverständnisses
4.1. Der Eigen-Sinn phänomenologischen Philosophieren
4.2. Wirkliche radikale Selbst-Besinnung
4.3. Die wesentliche Wirklichkeit des Irrationalen
4.4. Radikalisierung phänomenologischer Tradition
4.5. Lebensweltliche Relevanz existentieller Phänomenologie
4.6. Existentielle Reflexion und herausfordernde Inter-Personalität
5. Fragile Selbst- und Welterfahrung
5.1. Der existentiell-wirkliche Horizont unseres Daseins
5.2. Wege des existentiellen Selbst-Selbst-Verständnis
6. Erzählte Identität
6.1. Ineinander praktisch verschlungenes Welt- und Selbst-sein.
6.2. Die existentielle Bedeutung der Ordnung unserer ›Geschichten‹.
7. Die Entfaltung phänomenologischer Reflexion
7.1. Sich selbst als Philosophierenden in den Blick rücken
7.2. Existentielle Phänomenologie und die transzendentale Phänomenologie Husserls
7.3. Die Form philosophischer Grundlagen-Forschung für unser Da-und-So-Sein
8. Phänomenologisch-Existentielle Reflexion als Sinn-Verstehen
8.1. Existentielle Reflexion als Hermeneutik
8.2. Die praktische Bedeutung existentieller Reflexion der Reflexionen
8.3. Die quälende Frage nach Sinn
8.4. Die Wissenschaften und die existentielle Sinn-Frage
8.5. Die philosophischen Erzählungen als Form von Sinn
9. Sinn-haben, – Sinn-verstehen als Wir-Leistung
9.1. Uns umgreifender gemeinsamer Sinn
9.2. Ordnung – Sinn – Lebenswelt
10. Lebenswelt als Gestalt und Gestaltung existenz-phänomenologischer Reflexion
10.1. Transzendentale und existentielle Perspektive
10.2. Lebenswelt reflektiert So-in-der-Welt-Sein
10.2.1. Reflexion der Reflexionen der Kunst-Werke.
10.2.2. Selbst-Sein und Welt-Habe als Leistung existentieller Reflexion.
10.3. Existentielle Bedeutung von Wahrheit, Irrtum, Lüge,
10.4. Lebenswelt als Horizont existentieller Reflexion
11. Interpersonale Perspektive der ›Transzendenz‹
11.1. Uns ist es gegeben, auf keiner Stätte zu ruhen.
11.2. Phänomenologische Spur des Selbst-Selbst-Verstehens
11.2.1. Reflexion existentieller Phänomenologie
11.2.2. Sich-verlieren und sich-finden können. Erste Hinweise.
11.3. Zwei Perspektiven
11.4. Unsere Geschichten
11.4.1. Gestalt und Gestaltung unserer Geschichten der Reflexion
12. Philosophie und Literatur
12.1. Phänomenologische Reflexion der literarischen Reflexionen als existentielle Grundlagen-Forschung
12.1.1. Existentielle Reflexion in Literatur und phänomenologischen Philosophieren.
12.2. Symphilosophie
12.2.1. Der existentielle Text literarischer Werke
12.2.2. Anschluss-suchen an den existentiellen Horizont der Romantik.
12.2.3. Existentielle Reflexion der Reflexionen als hermeneutische Bewegung.
12.2.4. Existentielles Philosophieren als Selbst-Selbst-Verstehen
12.3. Selbst-Selbsterfahrene Menschen-Bilder
12.3.1. Bilder ›existentieller Transzendenz‹.
13. Phänomenologische Reflexion der Reflexionen der Literatur.
13.1. Existentielle Fragen phänomenologisch fragen
13.2. Existenz-phänomenologisches Philosophieren
13.2.1. Existentielle Geltungs-Fragen
13.2.2. Existentielle Reflexionen entlang der Korrelation ›Philosophie und Literatur‹.
13.2.3. Ästhetische Gestaltung philosophischer Reflexion
14. Epilog
14.1. Kunst und Literatur phänomenologisch vorgestellt als Gestalt und Gestaltung existentieller Reflexion
14.2. Selbst-Philosophieren so-weit wir selbst selbst-zu-schauen vermögen.
Literatur
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endlich/philosophieren: Die anthropologisch-existentielle Wende der Phänomenologie
 9783495999516, 9783495999509

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Fermenta philosophica

Wolfgang Gleixner

endlich/philosophieren Die anthropologisch-existentielle Wende der Phänomenologie

https://doi.org/10.5771/9783495999516 .

Fermenta philosophica

Wolfgang Gleixner

endlich/philosophieren Die anthropologisch-existentielle Wende der Phänomenologie

https://doi.org/10.5771/9783495999516 .

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99950-9 (Print) ISBN 978-3-495-99951-6 (ePDF)

1. Auflage 2022 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2022. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495999516 .

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Hinführung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2. Existentielle Anthropologie

9 19

. . . . . . . . . . . . .

35

2.1. Phänomenologische Vorstellung des Irrationalen .

36

2.2. Existentielles Philosophieren

. . . . . . . . . . .

42

3. Reflexion des Welt- und Selbstverständnis. . . . . .

51

3.1. Ein existenz-phänomenologischer Weg . . . . . .

51

3.2. Philosophie, Philosophieren, der Philosophierende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

3.3. Phänomenologische Besinnung . . . . . . . . . .

61

3.4. Der Mensch und seine Geschichten . . . . . . . .

64

3.5. Die Wissenschaften im Horizont existentieller Besinnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74

4. Reflexion der Reflexionen des Welt- und Selbstverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

4.1. Der Eigen-Sinn phänomenologischen Philosophieren . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

4.2. Wirkliche radikale Selbst-Besinnung

. . . . . . .

83

4.3. Die wesentliche Wirklichkeit des Irrationalen . . .

95

4.4. Radikalisierung phänomenologischer Tradition . .

107

4.5. Lebensweltliche Relevanz existentieller Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . .

118

4.6. Existentielle Reflexion und herausfordernde InterPersonalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

123

5 https://doi.org/10.5771/9783495999516 .

Inhaltsverzeichnis

5. Fragile Selbst- und Welterfahrung . . . . . . . . . .

131

5.1. Der existentiell-wirkliche Horizont unseres Daseins

132

5.2. Wege des existentiellen Selbst-Selbst-Verständnis

139

6. Erzählte Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

157

6.1. Ineinander praktisch verschlungenes Welt- und Selbst-sein. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

158

6.2. Die existentielle Bedeutung der Ordnung unserer ›Geschichten‹. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

162

7. Die Entfaltung phänomenologischer Reflexion . . .

167

7.1. Sich selbst als Philosophierenden in den Blick rücken

167

7.2. Existentielle Phänomenologie und die transzendentale Phänomenologie Husserls

. . . .

173

7.3. Die Form philosophischer Grundlagen-Forschung für unser Da-und-So-Sein . . . . . . . . . . . . .

184

8. Phänomenologisch-Existentielle Reflexion als SinnVerstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

199

8.1. Existentielle Reflexion als Hermeneutik . . . . . .

202

8.2. Die praktische Bedeutung existentieller Reflexion der Reflexionen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

207

8.3. Die quälende Frage nach Sinn . . . . . . . . . . .

215

8.4. Die Wissenschaften und die existentielle Sinn-Frage

225

8.5. Die philosophischen Erzählungen als Form von Sinn

237

9. Sinn-haben, – Sinn-verstehen als Wir-Leistung . . .

261

9.1. Uns umgreifender gemeinsamer Sinn . . . . . . .

263

9.2. Ordnung – Sinn – Lebenswelt . . . . . . . . . . .

276

10. Lebenswelt als Gestalt und Gestaltung existenzphänomenologischer Reflexion . . . . . . . . . . .

295

10.1. Transzendentale und existentielle Perspektive . . .

297

6 https://doi.org/10.5771/9783495999516 .

Inhaltsverzeichnis

10.2. Lebenswelt reflektiert So-in-der-Welt-Sein . . . . 10.2.1. Reflexion der Reflexionen der Kunst-Werke. 10.2.2. Selbst-Sein und Welt-Habe als Leistung existentieller Reflexion. . . . . . . . . . .

302 304

10.3. Existentielle Bedeutung von Wahrheit, Irrtum, Lüge,

310

10.4. Lebenswelt als Horizont existentieller Reflexion . .

323

11. Interpersonale Perspektive der ›Transzendenz‹ . . .

339

11.1. Uns ist es gegeben, auf keiner Stätte zu ruhen. . . .

339

11.2. Phänomenologische Spur des Selbst-SelbstVerstehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.1. Reflexion existentieller Phänomenologie 11.2.2. Sich-verlieren und sich-finden können. Erste Hinweise. . . . . . . . . . . . . . .

308

343 347 351

11.3. Zwei Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . .

354

11.4. Unsere Geschichten . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4.1. Gestalt und Gestaltung unserer Geschichten der Reflexion . . . . . . . . . . . . . . .

368

12. Philosophie und Literatur . . . . . . . . . . . . . . .

383

12.1. Phänomenologische Reflexion der literarischen Reflexionen als existentielle Grundlagen-Forschung 12.1.1. Existentielle Reflexion in Literatur und phänomenologischen Philosophieren. . . .

374

384 393

12.2. Symphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.1. Der existentielle Text literarischer Werke 12.2.2. Anschluss-suchen an den existentiellen Horizont der Romantik. . . . . . . . . . . 12.2.3. Existentielle Reflexion der Reflexionen als hermeneutische Bewegung. . . . . . . . . 12.2.4. Existentielles Philosophieren als SelbstSelbst-Verstehen . . . . . . . . . . . . .

407 417

12.3. Selbst-Selbsterfahrene Menschen-Bilder . . . . . 12.3.1. Bilder ›existentieller Transzendenz‹. . . . .

438 447

418 424 429

7 https://doi.org/10.5771/9783495999516 .

Inhaltsverzeichnis

13. Phänomenologische Reflexion der Reflexionen der Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

463

13.1. Existentielle Fragen phänomenologisch fragen . . .

465

13.2. Existenz-phänomenologisches Philosophieren . 13.2.1. Existentielle Geltungs-Fragen . . . . . 13.2.2. Existentielle Reflexionen entlang der Korrelation ›Philosophie und Literatur‹. 13.2.3. Ästhetische Gestaltung philosophischer Reflexion . . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

469 471

. .

477

. .

489

14. Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

497

14.1. Kunst und Literatur phänomenologisch vorgestellt als Gestalt und Gestaltung existentieller Reflexion

498

14.2. Selbst-Philosophieren so-weit wir selbst selbst-zuschauen vermögen. . . . . . . . . . . . . . . . .

510

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8 https://doi.org/10.5771/9783495999516 .

Vorwort

›Es ist heute, während die Möglichkeiten extensiver Daseinserweite­ rung ins Unermessliche gestiegen sind, eine Enge fühlbar geworden, welche der existentiellen Möglichkeit den Atem zu rauben scheint. Seitdem dieses bewusst wurde, ist eine Verzweiflung oder in deren Ver­ gessen eine Bewusstlosigkeit in das menschliche Treiben gekommen, die objektiv betrachtet ebensogut Ende wie Anfang sein können.‹1 (Karl Jaspers)

Um das wenigste zu sagen, – wir befinden uns in schwierigen, uns tatsächlich belastenden Lagen. Leben, hier und jetzt, also ein Leben in herausfordernden, wahrlich aufregenden Zeiten. Wer möchte dem ernsthaft widersprechen? Zurecht sorge man sich daher um sich selbst und um das große Ganze. Man habe Angst vor der Zukunft. – Da sind beispielsweise, und gewiss nicht mehr zu übersehen, ›die globalen Krisen‹. Etwa, ökologisch, politisch, ökonomisch, gesellschaftlich und sozial, kritisch zu nennenden Lagen; die systemisch noch dazu aufein­ ander verweisen, und so potenziert, uns noch wuchtiger angehen; sogar, wie man sagt, endgültig über den Kopf zu wachsen scheinen. Dabei wäre hier das unberechenbare, oft wahnsinnig anmutende Verhalten einiger der ›Mächtigen‹ noch gar nicht auf dieser Rechnung. – Wirklich und wahrhaftig eine uns zurecht ängstigende Lage. Weil eine wirklich umfassende Gefährdung der Menschheit. Dass da und dort Endzeitstimmung aufkomme, kann also nicht verwundern. Nicht mehr bloß ›das Abendland‹ stünde hier und jetzt zur Disposition (Oswald Spengler), sondern ›die Welt des Menschen‹. Kurzum, unsere Gegenwart, und die Zukunft unserer Kinder. Apocalypse now! Nicht eine Untergangsstimmung wäre damit das entscheidend neue. Diese Vorstellungen finden sich, dann und wann, in beinahe allen Kulturen. Sondern hier und jetzt, ihre, wortwörtlich, ›ganz und gar umfassende Globalisierung‹. – Und dazu kommen noch die Mensch tief berührenden existentiellen Fragen. Invariant; wie zeitlos da. Fragen, die sich gerade heute scharf stellen. Immer noch also, und 1

Die geistige Situation der Zeit. (Hier) Berlin. New York 1979. S 183

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Vorwort

nach wie vor präsent: Woher? Wohin? Wozu überhaupt? – Fragen, die wir vernünftig-aufgeklärte Menschen, vor anderen, sogar vor uns selbst, zu verschweigen suchen. Uns ›peinlich‹ anmuten. Abzutun uns verpflichtet fühlen, als kindliche (kindische) Reminiszenzen! Mythi­ sche Restbestände. Metaphysisches Klimbim! – Und dann noch, als wäre das nicht schon genug an ›Unordnung‹, die Bibliotheken (und auch Bestsellerlisten) füllenden, Analysen und Deutungen, die ein ›wirklich wirkliches Begreifen‹ dieser uns belastenden Lagen vorstel­ len; und gleich passende Therapien mitliefern; (›Man solle, müsse nur …‹). – Und die Wissenschaften? Sie scheinen selbst untereinander schon uneins zu sein; und auch ihrer Bedeutung in dieser Gesellschaft nicht mehr wirklich sicher zu sein. Selbst also irritiert und perturbiert. – Das alles im Blick, lediglich von einer gewissen ›Unübersichtlich­ keit‹ sprechen zu wollen, wäre also geradezu geschönt. (Es brauche lediglich klare vernünftige Information; entsprechende pädagogische Konzepte; politisch-aufgeklärte Strategien; optimierte Kommunika­ tion) Und wie bisher weiterhin unverdrossen am ›Projekt Moderne‹ arbeiten zu wollen; der Linie folgend nun ›noch mehr, noch bestimm­ ter, noch entschiedener das Gleiche tun‹, könne doch nur noch als absurde Aufforderung gelesen werden! – Der Frage können wir nicht ausweichen: ob es überhaupt noch Sinn mache, noch einmal, aus dieser oder jener wissenschaftlichen, weltanschaulichen, philosophi­ schen oder theologischen Perspektive, das problematische, düstere, beängstigende Panorama ›unserer Welt‹ vorzuführen? Vielleicht auch noch einmal (psychologisches, soziologisches, ökonomisches, ökolo­ gisches) Lösungsmodell dagegenzusetzen versuchen? Verändern wir die Perspektive. – Sollte der Sieg der ›vernünfti­ gen Aufklärung‹, das drängt sich hier auf, doch nicht so vollständig, triumphal, endgültig und beglückend (gewesen) sein? Vielleicht, aus welchen Gründen auch immer, gar nicht sein können? – Wobei, füge ich hinzu, schon der ›Entwurf der Symptome‹, diese (doch wohl) konstitutiven Akte, die uns Krisis und Krankheit der Moderne ›objek­ tiv-beschreibend‹ vorzustellen glauben, uns beunruhigen sollten.2 – Das wird uns begleiten. 2 Ich denke hier beispielsweise an Hans Sedlmayr. Seit 1900 sei offenkundig, die Welt, der Mensch und die Natur entfremden sich. »Beherrschender Affekt wird die Verzweiflung und die Angst. Neues Erkalten der Formen, zugleich Zersetzung. Die Zustände wechseln fortwährend zwischen äußersten Extremen. Tiefe Gespaltenheit. ›Der Patient vermag seine Gedanken nicht mehr zusammenzuhalten. (…). Zeitweiser

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Vorwort

Vor diesem Hintergrund nun die sich von Anfang an anders positionierende Absicht dieser existenz-phänomenologischen Arbeit. – Wir lesen unsere ›faktischen Lagen‹ und ihre Deutungen, phäno­ menologisch streng als ›Reflexionen‹. ›Reflexionen‹, die es selbst wiederum existentiell zu schauen, als wirklich-wirklich zu reflektieren gelte. Das gestalte die wortwörtlich philosophisch-radikale Wendung (nun) existentieller Reflexion der Reflexionen unseres Da-und-SoSeins. Entschieden phänomenologisch gefasst als endlich wirklich Philosophieren. – Wirklichkeitsfremd? der herausfordernden proble­ matischen Welt-Lage nicht angemessen? abstrakt? ein Glasperlen­ spiel? Gespräche im Elfenbein-Turm? – Im Gegenteil! Schau doch selbst hin und dir selbst einmal wirklich zu! Wir leben nicht nur in und mit diesen und jenen (sozialen; gesellschaftlichen; ökonomischen; politischen) ›Krisen‹; sondern wir selbst sind für uns selbst zuerst ›die entscheidende Krisis‹.3 Das sei Segen oder, je nach Perspektive, der Fluch der Aufklärung. Die Verantwortung für unsere ›Lagen‹ könne nicht mehr den Göttern oder dem Gott zugeschoben werden. Auch ein Hinweis auf Schicksal stellt uns nicht ruhig. Der Mensch als So-in-der-Welt-Sein wird wirklich und wesentlich auf sich selbst verwiesen.4 – Gleich also was uns auch immer angeht, uns heraus­ fordert, uns als für uns Bedeutsam vorgestellt, oder als Lösung, als Heil, angeboten werde, (und das ist wahrhaftig nicht wenig), es wäre als erstes zu lesen als Aufforderung: selbst selbst-zu-reflektieren.5 – Das zeichnet vor, Form und Gestaltung phänomenologischen Phi­ Sprachverlust (›Dadaismus‹). Große motorische Unruhe, Hast, Gejagtheit. Bedürfnis, den Zustand fortwährend zu verändern. Labilität.« (Verlust der Mitte. Die Bildende Kunst des 19. Und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit. Salzburg. (Dritte Auflage). S 202) 3 Dazu meine Arbeit: Krisis und Geltung. Probleme des Anfangs. Berlin 1999 4 Carl Schmitt verweist hier auf einen möglichen Zusammenhang. Ende des 18. Jahrhunderts, fände sich, weit verbreitet, Phantasien über die Macht geheimer Bünde. Etwa der Macht von Jesuiten, Freimaurern, Illuminaten. »In der Vorstellung einer geheimen, ›hinter den Kulissen‹ ausgeübten Macht, die sich in den Händen weniger Menschen vereinigt und es ihnen ermöglicht, mitüberlegener Bosheit unsichtbar die Geschichte der Menschen zu lenken, in solchen Konstruktionen des ›Geheimen‹ mischt sich ein rationalistischer Glaube an die bewusste Herrschaft des Menschen über die geschichtlichen Ereignisse mit einer dämonisch-phantastischen Angst vor einer ungeheuren, sozialen Macht und oft noch mit dem säkularisierten Glauben an eine Providenz.« (Politische Romantik. Berlin19915. S 115) 5 Vielleicht im Sinne R. M. Rilke (in einem Brief): »Wir haben keinen Grund gegen unsere Welt Misstrauen zu haben, denn sie ist nicht gegen uns. Hat sie Schrecken, so sind es uns unsere Schrecken, hat sie Abgründe, so gehören diese Abgründe uns, sind

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Vorwort

losophierens. Wenn wir uns »den Sinn unserer Zeit deutend, diesem großen Ziel zuwenden, so müssen wir uns auch klar machen, dass wir es nur in einer Weise erreichen können, nämlich wenn wir mit dem Radikalismus, der zum Wesen echter philosophischer Wissenschaft gehört, nichts vorgegebenes hinnehmen, nichts Überliefertes als Anfang gelten und uns durch keinen noch so großen Namen blenden lassen, vielmehr in freier Hingabe an die Probleme selbst, und die von ihnen ausgehenden Forderungen die Anfänge zu gewinnen suchen.«6 – Das ist wahrlich leichter gefordert als wirklich getan. Gerade weil wir wis­ senschaftlich uns über uns aufgeklärt vermeinen; oder, zumindest so zu meinen, vernünftig-zu-sein, man uns ausdrücklich nahelegt. Wir modernen Menschen, denen ein wissenschaftlich-rationales Selbstund Welt-Verständnis selbstverständlich zu sein habe. (›Möchtest du denn den ewig gestrigen zugerechnet werden?) Wer wenn nicht wir, wüsste denn was der Mensch wirklich-wirklich sei; und praktisch als Vernunft-Wesen‹ auch zu sein habe. Biologie, Psychologie, Psy­ choanalyse, Neurowissenschaften sei Dank. – Und so verwechseln wir uns selbst, mit dem uns von diesen Wissenschaften vorgeführten ›anthropologischen Schemata‹. – Hier setzt das phänomenologische Projekt ›endlich-philosophie­ ren‹ ein. Als Gestalt und Gestaltung existenz-phänomenologischen Philosophierens. Das ist systematisches Philosophieren mit Blick auf uns selbst als wesentlich wirkliches und wirklich wesentliches Da-und-So-Sein. – Sich selbst und seine Reflexionen so vorzustellen, heißt sich buchstäblich als In-der-Welt-Sein zu reflektieren. Und sich damit einer kaum zu bändigenden Fülle von Fragen zu stellen. Immer aber, gleich was uns dabei beschäftigen mag, als Gestalten und Gestaltungen unseres wirklich wirklich spannenden So-Da-Sein. Dazu gehört, und sogar vor allem, auch unser Philosophieren selbst. – Und auch das lässt sich nicht leugnen. Dass als ›irrational‹ abgetane Fragen, Fragen, die nicht selten sogar in den Bereich des Pathologi­ schen abgedrängt wurden und werden (denken wir etwa an Freud und seinen Kreis), nach wie vor virulent sind. Aufklärung hin, wis­ senschaftliche Vernunft her. Nicht nur, dass wir überhaupt da sind (›warum überhaupt‹?), sondern dass wir so-da-sind, wie wir da-sind. Hier und jetzt! Irritiert und pertubiert! Und uns so fragen und fragen Gefahren da, so müssen wir versuchen, sie zu lieben.« (Brief an einen jungen Dichter. S 47; zit. nach: Alfred Schütze. Rainer Maria Rilke. Stuttgart 1938. S 74 f.) 6 Logos. 340

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Vorwort

können, wie wir fragen. Und unser ›irrationales‹, auch (und gar nicht so selten) ›irrsinniges‹ Denken und Handeln; unser Verhalten zur Welt, zueinander, uns selbst gegenüber! Unser Denken, Zweifeln, endlos Reflektieren; und lieben, hassen, verzweifelt-sein; hoffen, glauben, beten. Dabei nie zur Ruhe finden; jedes Wort immer wieder von neuem um und umwenden. – Wahrhaftig bemerkenswert ist, dass wir uns immer noch nicht einfach leben lassen (können). Uns endlich also pragmatisch ausrichten auf praktisch-vernünftige Ziele. Gestaltungen, Taten, all die Möglichkeiten etwa, die das Leben für uns lebenswerter, also, ›leichter‹, ›bequemer‹, ›lustvoller‹ machten. Man folge hier nur Faust. Handeln anstatt sich in Worten zu verlieren. Das gebe zweifellos Sinn! Stattdessen zwingen wir uns immer wieder, und immer wieder von Anfang an nach uns selbst zu fragen. Und dieses fragen-fragen sogar selbst wieder theoretisch in ›Frage zu stellen‹. Der Mensch wahrlich ein sich selbst quälendes Wesen!7 (Auch das ein uns Menschen zugehöriges Wesensmerkmal. Mich wundert, dass dem in der anthropologischen Literatur so selten Aufmerksamkeit geschenkt wird.) Wie eine Endlosschleife! Für einen ›praktisch-vernünftigen Menschen‹, der mit ›beiden Beinen fest auf der Erde‹ stehe, kaum mehr nachzuvollziehen.8 – Alles in allem durchaus verständlich; und trotzdem ein Missverständnis. Ein sogar grobes, verhängnis­ volles Missverständnis, das die gerade praktische Bedeutung, den unaufhebbar existentiellen Anspruch des Philosophierens, schon die Bedeutung philosophischen Fragens, verkennt. Philosophieren (vor­ gestellt nicht in einem engen ›Schulbegriff‹) ist lebensbegleitendes und -stützendes, sogar lebensbegründendes Reflektieren. Kurzum, dieses phänomenologische Philosophieren ist ›engagiert‹! Missver­ stehen des Philosophierens ist also missverstehen unseres irritierten und perturbierten In-der-Welt-Seins. – Dieses Da-und-So-Sein ist 7 Vgl. dazu, nach wie vor gültig, Pascal: »Zurückgekehrt zu sich selbst, bedenke der Mensch, was er ist, demgegenüber, was ist, er betrachte sich als verirrt in diesem versprengten Winkel der Welt und von diesem engen Verließ aus, wo er sich befindet – ich meine damit das Universum – lerne er die Erde, die Königreiche, die Städte und sich selbst nach seinen wahren Wert einschätzen.« (19788.. S 42) 8 Denken wir hier beispielsweise an die witzige Karikatur die Wilhelm Busch vom ›Philosophen‹ gibt: ›Auch sonst noch lachen viele,/Besonders jene ewigen Heite­ ren,/Die, unbewusst den Mund erweitern,/Zum Lachen bis an beide Ohren./Sie freuen sich mit Weib und Kind/Schon bloß, weil sie vorhanden sind./Ich dagegen, der ich sitze/Auf der Betrachtung höchster Spitze,/Weit über allem Was und Wie,/Ich bin für mich und lache nie.‹ (Der Philosoph)

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Vorwort

nicht – auch wenn es uns immer wieder angetragen wird – leicht zu nehmen. (Denken wir an Ingeborgs Bachmanns Gedicht ›Reklame‹) Da ist wortwörtlich eine ›Schwere‹ (eine Schwermut)9 unseres Weltund Selbst-seins, die das (oft bemängelte) Schwierige philosophischer Reflexion widerspiegelt; und, auch umgekehrt. – Deshalb also könne es auch keinen ›Königsweg der Philosophie‹ geben. Und so sind auch die umlaufenden (gelegentlich durchaus witzigen) Bilder vom weltfremden Philosophen (kuriosen Bewohner des Elfenbeinturms) ganz und gar unzutreffend.10 Dass wir es, gleich wie wir uns als So-in-der-Welt-Sein auch immer einstellen, mit unseren ›Reflexionen‹ zu tun haben, kann wohl kaum geleugnet werden. Theoretisch und praktisch; ob wissenschaft­ lich, ästhetisch oder streng philosophisch. Das schaut und begreift unsere ›wirkliche Wirklichkeit‹. Auch phänomenologische Reflexion der Reflexionen gestaltet also keineswegs Rückzug oder Flucht in weltloses, geschichts- und wirklichkeitsvergessenes ›Refugium‹; oder in ein ›Reich der Ideen‹. Ganz im Gegenteil. Es führt, ja stößt hinein in den unaufhebbar fragilen, existentiellen Grund all unserer Lagen. Erst von dort aus bestimmen sich nun auch die praktischen Fragen, Herausforderungen, Bedeutungen, Grenzen und auch positi­ ven Möglichkeiten unserer Selbst- und Welt-Erkenntnis. Kurzum, davon bin ich überzeugt, ohne philosophische reflexive Reflexion unserer Reflexionen wird es keine ›wirklich nachhaltig tragende Aufklärung‹ für unser, uns nicht nachlassend, herausforderndes, in Spannung versetzendes Da-und-So-Sein geben können. Also, keine Möglichkeit, endlich, ein wirkliches und wesentliches, ein konstrukti­ ves Selbst- und Welt-Verständnis zu setzen. – Dass diese existentielle Reflexion der Reflexionen über die (schon ›klassisch‹ zu nennenden) geltungstheoretischen Zuwendungen zum ›Akt der Reflexion‹ hin­ ausreicht, darf nicht übersehen werden. Wobei ›hinausreicht‹ meint: unser ›wirkliches darüber hinaus‹; und nicht ohne weiteres: ›darüber hinweg‹. Kurz, die ›geltungstheoretischen Reflexionen‹ bleiben in unserem Blick. (Vor allem die Reflexionen Hans Wagners.) Diese letztmöglich radikale Wendung der Reflexion bleibt aber die Fassung Romano Guardini. Vom Sinn der Schwermut. Mainz 19944 Beispielsweise Jean Paul. Denkt an Philosophen »der den ganzen Tag sich lebendig anatomieret und – wie man besondere Hunde für die Experimente in der Hundegrotte hält – zugleich die Grotte und sein eigener Hund ist, den er stündlich in der Todesluft des Idealismus erstickt und in der gemeinen Lebensluft des Realismus erweckt.« (Clavis Fichtiana. In: Werke. Band 6. München. Wien 1975. S 1021) 9

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der Reflexionen als Vorstellung wesentlich wirklichen und wirklich wesentlichen So-in-der-Welt-Sein. Noch zwei kurze Hinweise. – Existenz-phänomenologisches Philosophieren ist schlicht Entfaltung der Reflexion der Reflexionen. Immer wieder radikale reflexive Reflexion von Anfang an. Das schließt jeden sich selbstgewiss gebenden Dogmatismus aus.11 Ist es doch geradezu ›konstituieren‹ der existentiellen Irritation und Perturba­ tion des So-Philosophierenden selbst. Ein, man mag wollen oder nicht, Bewegen und Bewegt-werden. Unentwegt! Schaut man auf sein eigenes Mühen für sich ›sicheren, not-wendigen Grund‹ zu entwerfen; und, die nicht zur Ruhe kommenden Denkbewegungen in der Geschichte, wird man Hölderlin zustimmen (müssen): es scheint uns wirklich zugelost, ›auf keiner Stätte ruhen‹ zu dürfen. – Und so könnte der Titel eines Buches von Ernesto Grassi somit auch über unserem existentiell-phänomenologischem Philosophieren stehen: ›Reisen ohne anzukommen‹.12 Das alles im Blick wird klar, welche nie endgültig einzulösende Herausforderung Philosophieren überhaupt, und nicht nur existentielle Reflexionen vorstellen.13 Auch für sich 11 Das bestimmt, Gott sei Dank, nicht nur das Philosophieren existentieller Phäno­ menologie. Beispielsweise, Dieter Henrich mit diesem Anliegen, dieser Konzeption: »Als die Instanz, die noch an den Grenzen des Wissens die menschliche Vernunft zur Geltung bringt, unterliegt die Philosophie (…) inneren Spannungen, die ihre Denkanstrengungen immer wieder in gegenläufige Richtungen lenken. Denn für keine philosophische Konzeption kann ein zwingender und abschließender Beweis ihrer Richtigkeit geführt werden. (…). So groß also auch die Überzeugungskraft einer Konzeption ist – sie kann niemals zu einer Grundtheorie werden, auf deren Verlässlichkeit jede Folgetheorie aufbauen muss (…).« (2006). S 20; 21 12 Reisen ohne anzukommen. Südamerikanische Meditationen. Hamburg 1955 13 Husserl verweist darauf: »Eine Unvollkommenheit in echter Wissenschaft bleibt bei all dem, scheint es, unüberwindlich, nämlich die Unvollkommenheit in Hinsicht auf extensive Vollständigkeit. Aber es ist nicht gesagt, ob nicht in der theoretisch erkennbaren Gegenständlichkeit, z. b. in der Idee der Natur, Unendlichkeit möglichen Fortschreitens der Erkenntnis notwendig beschlossen ist, ob also die Idee strenger Wissenschaft nicht die Idee einer methodischen Einheit ist, innerhalb unendlicher Seinshorizonte systematisch immer neue Aufgaben stellen und lösen zu müssen (…).« (Hua. XXVIII. S!79) – Bei Novalis ist ›der Trieb zum Philosophieren eine unendliche Tätigkeit‹; »und darum ohne Ende, weil ein ewiges Bedürfniß nach einem absoluten Grunde vorhanden wäre, das doch nur relativ gestillt werden könnte – und darum nie aufhören würde. Durch das freywillige Entsagen des Absoluten entsteht die unendliche freye Tätigkeit in uns – das Einzig mögliche Absolute, was uns gegeben werden kann und was wir nur durch unsere Unvermögenheit ein Absolutes zu errei­ chen und zu erkennen, finden. Dies uns gegebene Absolute läßt sich nur negativ erkennen, indem wir handeln und finden, dass durch kein Handeln das erreicht wird,

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Vorwort

selbst. Immer wieder drängt sich nach vorne: das fragile Sosein und die ›maßlose‹ Sehnsucht des philosophierenden Menschen. – Das ist ganz in der Ordnung unseres Philosophierens. Und weiter. Dem (wie man es nennt) ›Irrationalen‹ dabei sogar eine existentielle Bedeutung zuzuschreiben, kann auf Unverständnis stoßen; sogar groben Missverständnissen ausgesetzt sein. Das lasse sich mit Blick auf die Geschichte (vor allem) des 20. Jahrhunderts durchaus ver­ stehen. Dass dieses phänomenologisch-existentielle Denken aber nicht gleichzusetzen sei, mit, sich in eine ›lebensphilosophische Enge‹ zurückziehendes Philosophieren, oder mit diesen oder jenen naiv-rückwärtsgewandten Träumereien, (von den verhängnisvollen Pseudophilosophien sei sowieso ganz geschwiegen), das wird, so hoffe ich, diese Arbeit selbst belegen können. – Die mit der Geschichte der Phänomenologie vertrauten, werden zurecht auf eines verweisen. Unbestreitbar sind hier die Unterschiede, ja, Gegensätze zur Phänomenologie Husserls. Dass er jeden Ver­ such ›existenz-phänomenologisch‹ zu Philosophieren entschieden ablehnte, ist bekannt. Daran hat er wahrlich nie einen Zweifel gelassen.14 Nicht nur wäre so ausgerichtetes Philosophieren nie und nimmer ›Phänomenologie‹, (es bleibe nämlich ganz und gar ›naiv‹); sondern, für ihn das noch größere Übel, es sei eine ernsthafte Gefähr­ dung der Philosophie, der Wissenschaft überhaupt; und sogar der, sich im Horizont ›der Vernunft‹ bewegen sollenden, ›abendländischen Kultur‹. – Dabei fasst er (etwas undifferenziert) zusammen die (unter­ schiedlichen) Lebensphilosophien, Existenzphilosophie, anthropolo­ gische Reflexionen und die Daseinsanalyse Heideggers. Ohne hier auf Unterschiede der Form, Gestaltung, Begründung, Intention, zu ach­ ten. Husserl vermeint hier unabhängig von Einzelfragen eine ›für uns‹ tiefe Gefährdung ausmachen zu können. Gleich wie dieses Philoso­ phieren sich im Einzelnen nämlich positionierte, das verhängnisvolle Ergebnis wäre bei allen gleich: ›Psychologismus‹, ›Relativismus‹, was wir suchen.« (Fichte-Studien. In: Novalis Band 2. Das philosophisch-theoretische Werk. Herausgegeben von Hans-Joachim Mähl. Darmstadt 1999. S 180 f.) 14 »Im Menschen allein, und zwar in einer Wesenslehre seines konkret-weltlichen Daseins, soll das wahre Fundament der Philosophie liegen. Man sieht darin eine notwendige Reform der ursprünglichen konstitutiven Phänomenologie, eine Reform, durch die sie allererst die eigentliche philosophische Dimension erreiche. Eine völlige Umkehrung der prinzipiellen Stellungnahme wird also vollzogen. (….) Die phäno­ menologische Philosophie soll völlig neu vom menschlichen Dasein her aufgebaut werden.« (Hua. XVII. S 164)

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Vorwort

und als Konsequenz: ›uns theoretisch und praktisch schwächender Skeptizismus‹. – Diese Bedenken sind ernst zu nehmen. Und können nicht mit leichter Hand abgetan werden. Schon allein nicht mit Blick auf den (wer möchte da widersprechen) bedeutenden Philosophen und die leidenschaftliche Forscher-Persönlichkeit Husserls. – Wie existenz-phänomenologische Reflexionen sich hier einord­ nen lassen, (oder eben nicht), wird diese Arbeit selbst vorführen. – Allerdings, richtig ist, dass wir Husserls Weg transzendental-wissen­ schaftlichen Philosophierens ausdrücklich nicht mitgehen können; das gilt für uns von Beginn und Anfang an als gesetzt. Hinzugefügt sei, trotzdem bleibt unser Philosophieren ein Philosophieren, das sich (zumindest) in ›Sichtweite‹ phänomenologischer Tradition zu halten versucht. Und zuletzt noch diese kurze Anmerkung. Sie lässt aufmerken, auf das mich (auch ganz persönlich) tragende Philosophieverständnis. – Philosophierende, die mit phänomenologischem Arbeitsstil etwas näher vertraut sind, werden sich möglicherweise an der Vielzahl der Fußnoten stören. Scheint dies doch ein Philosophieren vorzustel­ len, das nicht (wie es Phänomenologie auszeichne) ausschließlich selbst-schaut, systematisch selbst-reflektiert, der ›philosophischen Sache‹ zugewandt. Dazu sei wiederholt, was ich im Vorwort meiner Arbeit: Krank-Sein als existentielle Gestalt. Einleitung in eine phäno­ menologische Anthropologie,15 angemerkt habe. – Gerade ein sich phänomenologisch konsequent auf ›die Sache‹ ausrichten, evoziert Perspektiven, Wahrnehmungen, Bilder dieser ›Sache‹; in den Blick gerückt, von diesen oder jenen Philosophen, Literaten, Wissenschaft­ lern.16 Auch das sind Vorstellungen, Reflexionen, der uns zugängli­ chen Wirklichkeit. Es wäre dem Leser als Mitphilosophierenden, aber auch mir gegenüber unredlich, diese sich mir (gerade mit Blick auf ›die Sache‹) aufdrängenden Perspektiven aus Geschichte und Gegenwart zu verschweigen. Sie also nicht in unseren Blick zu rücken. – Wobei dies selbstverständlich nicht von einem systematisch ausgerichteten und so grundgelegten Denken entbindet. »Ich mache bei anderen Anleihen, ich mache es mit meinen eigenen Gedanken: das ist kein

Baden-Baden 2018 Dass hier und auch im Folgenden immer auch Philosophinnen, Wissenschaftle­ rinnen, Künstlerinnen, mitgemeint sind, sei eigens unterstrichen. Ich möchte den, sowieso nicht leicht zu lesenden Text, nicht weiter sprachlich komplizieren. 15

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Scheitern der Wahrnehmung des anderen, sondern eben das ist die Wahrnehmung des anderen.«17

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Maurice Merleau-Ponty. Der Philosoph und sein Schatten. In: (1984). S 45

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›Die Philosophie beginnt aus eigener Kraft, sie setzt einen Anfang‹.18 (Paul Ricoeur)

Mit ›philosophischer Anthropologie‹ werden Namen wie Max Scheler, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen, oder Adolf Portmann, verbunden. Einschließlich der, inzwischen zur gehobenen Bil­ dungssprache gehörenden Begriffe wie, ›Umwelt‹; ›Weltoffenheit‹; ›Gefühlsdrang‹; ›Exzentrizität‹; ›Sozialwelt‹; u. ä. – Die Schriften der Genannten setzen zwar voraus, mehr oder weniger ausdrück­ lich, mehr oder weniger energisch vorgetragen, dass, ›philosophi­ sche Anthropologie‹ nicht ein philosophisches Fach oder Thema, neben anderen zu sein habe; und ihr eine fundamentalere Perspek­ tive zugestanden werden müsse. Verbleiben aber selbst, trotz ihrer Fülle an beeindruckenden Fakten und wissenschaftlich originären Vorstellungen, innerhalb traditionellen philosophischen (und auch wissenschaftlichen) Selbstverständnisses.19 Kurz, einem (im weites­ ten Sinne) ›Wissenschaftsbegriff‹, der, der Reflexion des Menschseins nur einen, wenn auch bedeutenden, Fächer zuweist; zuweisen könne. Das, so oder so umfasste, Forschungsobjekt ›Mensch‹, hier und jetzt,

(1974). S 173 Husserl in einem Ms. aus dem Jahre 1932. Sicher auch ein Versuch, sich mit dem Philosophieren Schelers und Heideggers auseinanderzusetzen: »Die Anthropologie umfasst alles Naturerfahren, alles Naturmeinen, ob nun des einzelnen Menschen oder das des vergemeinschafteten und im besonderen wissenschaftlich vergemein­ schafteten Menschen, (…). So umfasst sie also von den naturwissenschaftlichen Personalitäten her alle gewordenen und verharrenden wissenschaftlichen Gebilde, die naturwissenschaftlichen Wahrheiten, Theorien. Dabei sind eben diese Menschen als Personen thematisch im universalen Thema Menschheit überhaupt als universaler menschlicher Personalität, und Menschen können gar nicht thematisch sein, ohne dass ihr intentionales Leben, ihr Vorstellen, Denken, Fühlen, Handeln, thematisch wird – und so ihre Leistungsgebilde.« (Universale Geisteswissenschaft als Anthropologie. Sinn einer Anthropologie. In: Hua. XV. S 482) 18

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innerhalb eines neuzeitlich philosophisch-vernünftigen und wissen­ schaftlichen Gesamtsystem.20 – Die philosophische Intention existentieller Phänomenologie ord­ net sich, wortwörtlich, ›radikal philosophischer‹. Anthropologische Reflexionen sollen leisten, so der phänomenologische Anspruch, fundamental-existentielle Grundlagen-Forschung unseres wesentlich wirklichen Da-und-So-in-der-Welt-Seins. Das phänomenologische Philosophieren selbst dabei ausdrücklich eingeschlossen. Nicht einge­ führt also als deskriptiver Begriff einer Möglichkeit der Philosophie (oder der anthropologischen Wissenschaften) neben anderen. Eine möglichst vorurteilsfreie, objektive Vorstellung des ›Thema Mensch‹. Sondern als existentielle Reflexion der wirklichen und möglichen Selbst-Selbst-Erfahrung des Menschen. Seinen Reflexionen. Das ist nicht zuletzt die reflexive Reflexion der Reflexionen, die den ›Anfang des Philosophierens‹ selbst mit vorzustellen hat. Ein Selbstverständ­ nis, das, (das sei nicht vergessen) zumindest hintergründig als Beun­ ruhigung, die gesamte Philosophiegeschichte hindurch getragen hat. Also, wir werden sehen, Wesen und zugleich Herausforderung der Philosophie, des Philosophierens vorstellt. Auch die, seit Heidegger so prominent gesetzte ›Seins-Frage‹,21 findet dort und nur dort (und nirgends sonst) ihre ›Ortschaft‹. – Das sind, um von Beginn an keiner Fehldeutung Raum zu geben, selbstverständlich Reflexionen (auch) mit praktischer Absicht. Konkret in den Blick gerückt als die wesent­ liche Wirklichkeit unserer Existenz; unseres lebensweltlichen So-DaSeins. Reflexionen, die uns hier und jetzt wirklich als Sollen, Wollen, und Müssen, unaufhebbar existentiell zugehörig sind. Von dort her und daraufhin bestimmt sich theoretisch und praktisch nun auch das, was man gemeinhin und allgemein gewendet als: der Mensch und seine Ordnungen zu beschreiben sucht. Gleich ob Gestalt und Gestaltungen der Kunst, Religion, Wissenschaft, oder der Philoso­ 20 Martin Buber fasst es so: »Der philosophische Anthropolog aber muss nicht weniger als sein leibhafte Ganzheit, sein konkretes Selbst einsetzen. Und mehr noch. Es genügt nicht, wenn er sein Selbst als Objekt des Erkennens einsetzt. Die Ganzheit der Person und durch sie die Ganzheit des Menschen erkennen kann erst dann, wenn er seine Subjektivität nicht draußen lässt und nicht unberührter Betrachter bleibt. Sondern er muss in den Akt der Selbstbesinnung in Wirklichkeit ganz eingehen, um der menschlichen Ganzheit innewerden zu können.« (Das Problem des Menschen. Heidelberg 19714. S 20) 21 Vgl. (beispielsweise): Karl Heinz Haag. (Hg.) Die Lehre vom Sein in der modernen Philosophie. Frankfurt/M. 1963

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phie. Was immer sich Mensch wie zeigt, er sich als ›dieses da‹ vorstellt, zurechtlegt, oder, so mag es scheinen, aus seinem Innersten her sich ihm gewaltsam selbst aufdrängt, sind, ›im Grunde‹ Gestaltungen der Gestalt seines wesentlich wirklichen Da-und-So-Seins. Einschließlich seines sich selbst-selbst-vorstellens; vorstellen-könnens. Kurzum, also existentielle Reflexionen! Denken wir an, Gottesbilder, wissen­ schaftliche Erkenntnisse, philosophische Einsichten, oder ästhetische Perspektiven (das Schöne; das Erhabene; das Tragisch, das Komische; oder auch Sinn-suchen, -haben, -verstehen); oder selbst dieses, wie es scheint, ganz alltägliche. Etwa Erfahrungen von Gesundheit und Krankheit.22 Oder von Leben, Arbeiten, Lebenswelt-konstituieren.23 Das nun aber als wesentlich wirklich zu fassen braucht Refle­ xionen der Reflexionen. Das ist radikales Philosophieren. Noch kon­ kreter. Existenz-phänomenologische Reflexionen mit Blick auf unser wesentlich wirkliches, – schauen wir nur genau hin und zu – ›von Anfang‹ an, eigenartig herausfordernd-irritierendes Leben. ›Unser Leben‹ dabei selbstverständlich nicht eingeengt auf ›biologische Wirklichkeiten‹. – Das sind Leistungen, die wir Philosophierenden als existentielle Reflexionen gemeinsam (!) zu erbringen haben. – Das ist, kurz und knapp, methodisches Hinschauen auf uns selbst und unsere Reflexionen. Dieses miteinander Philosophieren, auch über Räume und Zeiten hinweg, ist phänomenologisch von eigener Bedeutung.24 Dass ›phänomenologisches Hin-Schauen‹ sich streng methodisch veranstaltet, sich also nicht vorstellt als außer-ordent­ lich geniale Leistung, oder gar als ein irgendwie ›mystischer Akt‹, sollte, dabei unsere Reflexionen selbst im Blick, keiner ausführlichen Begründung bedürfen. Schon die erfolgreiche Geschichte phänome­ Vgl. beispielsweise Karl Jaspers. Es sei »selbstverständlich, dass der Inhalt der Psychosen aus dem geistigen Besitzstand der Menschengruppe stammt, aus der der Kranke hervorgeht. In früheren Zeiten war im Wahn häufiger von Tierverwandlungen (Lykanthropie), Dämonomanie (Besessenheitswahn) usw. die Rede, jetzt mehr von Telefon, Telegraphie ohne Draht, Hypnose und Telepathie. Früher gab der Teufel Rippenstöße, jetzt werden die Kranken durch elektrische Apparate misshandelt.« (1946). S 614; dazu auch meine Arbeit (2018) 23 Dazu. Lebenswelt Großstadt. Eine phänomenologische Studie. Freiburg/Mün­ chen 2015 24 Schon Husserls ›Traum‹‘ war« »ein philosophisches Lehrsystem, das nach gewalti­ gen Vorarbeiten von Generationen, von unten her mit zweifelssicherem Fundament wirklich anfängt und wie jeder tüchtige Bau in die Höhe wächst, indem Baustein um Baustein gemäß leitenden Einsichten als feste Gestalt dem Festen angefügt« wird. (Logos. 291) 22

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nologischen Philosophierens (einer Arbeitsphilosophie) ist im Übri­ gen beredt genug. – Methodisch eingeführtes Selbst-Schauen und Hin-Schauen auf uns selbst wird tatsächlich der Stab und Stecken für unser existenz-phänomenologisches Philosophieren. (Halt-geben; Grund-suchen; Abwehren). Phänomenologisches Philosophieren als schlichte Arbeitsphilosophie. Ich denke aber auch darüber hinaus, wenn auch oft genug vergessen, sollte es die unverzichtbare Grund­ gestaltung überhaupt jeder philosophischen Reflexion stellen.25 – Wir Philosophierende, die hier und jetzt als So-in-der-Welt-Sein philosophieren, rücken uns also selbst in unseren Blick. Ausdrücklich wir uns selbst! Das ist, unser wesentlich wirkliches und (nicht zu vergessen) wirklich wesentliches Da-und-So-Sein stellt den Leitfa­ den existentiellen Philosophierens. Letztmögliche Reflexionen der Reflexionen, die nicht wirklich weiter (tiefer) sinnvoll hinter-dacht werden können.26 Dass das aber auch über die, beispielsweise von Max Weber eingeführten, bloßen Beschreibungen hinausgeht, wird sich zeigen.27 – Das ist nun kein Rückzug hin zu einer (nennen wir es) verstiegen-abstrakten Egozentrik; keine narzisstische Vorstellung; kein idealistischer Subjektivismus; oder gar pathologisches Bild des ›Grübelwahn eines Einzelnen‹. Einer, vielleicht als trivial, dumm, oberflächlich diffamierten Alltags-Welt, und unseren Wissenschaften (gleichsam) den Rücken zuwendend, und sich im ›Elfenbeinturm‹ unwirklich und a-sozial mit sich selbst zu befassen.28 Sondern es 25 Max Webers ›ironische Zurechtweisung‹ (›Wer ›Schau‹ wünscht, gehe ins Licht­ spielhaus‘) betrifft unser Philosophieren also nicht. (Die protestantische Ethik I. Gütersloh 1984. S 23) 26 Selbst als streng eingeführte, dicht und eng durchdachte Geltungstheorie, kann diesen Reflexionen nicht ausweichen. Vgl. Z. B. Hans Wagner. Es bedürfe »im Ganzen des philosophischen Systems nicht nur der spekulativen Setzung der Faktizität des Subjekts, sondern der inhaltlichen Ausarbeitung dieser auf dem geltungstheoreti­ schen Weg bloß gesetzten Faktizität.« (19672). S 339 27 Soziologische Reflexionen ›reflektieren‹ das Verhalten eines Menschen, ohne diese Reflexionen nun selbst (und zwar korrelativ) zu reflektieren. Z. B. »Das reale Handeln verläuft in der großen Masse seiner Fälle in dumpfer Halbbewusstheit oder Unbewusstheit seines ›gemeinten Sinns‹. Der Handelnde ›fühlt‹ ihn mehr unbestimmt, als dass er ihn wüsste oder ›sich klar machte‹, handelt in der Mehrzahl der Fälle triebhaft oder gewohnheitsmäßig. Nur gelegentlich, und bei massenhaft gleichartigem Handeln oft nur von Einzelnen, wird ein (sei es rationaler, sei es irratio­ naler) Sinn des Handelns in das Bewusstsein gehoben.« (Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 19855. S 10) 28 Etwa Claudio (Hofmannsthal: Der Tor und der Tod): »Was weiß ich denn vom Menschenleben?/Bin freilich scheinbar drin gestanden,/Aber ich habe es höchstens

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bleibt unaufgebbar, eine Grundleistung, die zumindest jedem wirk­ lichen Philosophieren vorzuliegen habe. Dieses auf sich selbst so aufmerken sollen (und können), wird phänomenologisch nun nicht mehr hervorgerufen und grundgelegt durch ein Staunen über die Besonderheiten des Menschen; seine Mächtigkeit und bezwingende Kraft gegenüber der (auch gegen die) Natur. (Denken wir an das erste Chorlied aus der Antigone.) Ebenso wenig mit Blick auf das besondere Verhältnis des Menschen zu den unsterblichen Göttern oder dem allmächtigen Gott. (Etwa beispielhaft mit den Erfahrungen der Psalmen; oder des Hiob). Oder allgemeiner, als ein Lobpreis des Kosmos, in dem Mensch sich (vielleicht auch panentheistisch) trotz allem als Mikrokosmos großartig gespiegelt und eingefugt erlebt.29 – Nun ist es die erschütternde Erfahrung eines (vielleicht sogar: wesentlichen) Unbehaust-seins, die Menschen der Moderne herausfordert. Nicht nur anthropologisch. Sondern wirklich in ihrem breit erfahrenen So-in-der-Welt-Sein. Ein historisch unvergleichlich haltlos-sein.30 – Wir so existentiell reflektierenden Menschen werden uns bewusst, dass in allen uns angehenden Angelegenheiten, Mensch ganz und gar auf sich selbst gestellt ist und bleibt. Bewusst-haben meint, endlich verinnerlicht-haben. Es mag uns genehm sein oder

verstanden,/Konnte mich nie darein verweben./Hab mich niemals dran verloren./Wo andre nehmen, andre geben,/Blieb ich beiseit, im Inneren stummgeboren./Ich hab von allen lieben Lippen/Den wahren Trank des Lebens nie gesogen,/Bin nie, von wahrem Schmerz durchschüttert,/Die Straßen einsam, schluchzend, nie! Gezogen./ (…) Und auch das Leid! Zerfasert und zerfressen/Vom Denken, abgeblaßt und ausge­ laugt!« 29 Etwa noch bei Goethe: »Wenn die gesunde Natur des Menschen als ein Ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als in einem gro0en, schönen, würdigen und werten Ganzen fühlt, wenn das harmonische Behagen ihm ein reines, freies Entzücken gewährt – dann würde das Weltall, wenn es sich selbst empfinden könnte, als an sein Ziel gelangt aufjauchzen und den Gipfel des eigenen Werdens und Wesens bewundern.« (Goethes sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden. Stuttgart und Berlin 1902. Band XXXIV. S 12. Zit. nach Emil Staiger. Die Zeit als Einbildungs­ kraft des Dichters. Untersuchungen zu Gedichten von Brentano. Goethe und Keller. München 1976. S 130) 30 »Kants Sternenhimmel glänzt nur mehr in der dunklen Nacht der Erkenntnis und erhellt keinem der einsamen Wanderer – und in der neuen Welt heißt Mensch-sein: einsam sein – mehr die Pfade.« (Georg Lukács. Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. (1920) Bielefeld 2009. S 27)

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nicht.31 Man kann diese existentiellen Grund-Fragen, davon gehen wir aus, weder (beispielsweise) an Theologie noch Wissenschaften weiterreichen. Beides wäre phänomenologisch: wahrnehmen eines naiven, im Grunde wortwörtlich ›hoffnungslosen Glaubens‹. – Da sind allein schon diese, schon auf den ersten Blick eigenartig beunru­ higenden Vorstellungen. Ein irritiertes Welt- und Selbst-Verständnis, das weder historisch noch systematisch auf ein-eindeutig wissen­ schaftliche Begriffe zu bringen sei. Weder psychologische, soziolo­ gische, biologischen Hinweise, noch diese oder jene theologischen Perspektiven, scheinen unser So-in-der-Welt-Sein für uns wirklich zu klären. Unsere, wie auch immer gestalteten, Suchbewegungen beruhigen zu können. – Phänomenologisch vorerst als Beschreibung einer Problemlage eingeführt. Einerseits also, man achte nur auf seine eigene Befindlichkeit, persönlich beunruhigend; andererseits aber entwirft und festigt sich gerade so durch diese Reflexionen das verwirrte, irritierte, sich seiner selbst nicht mehr gewisse SelbstBewusstsein des modernen Menschen.32 Sicher eigenartig paradox. Schauen wir nur genau hin. Wir werden uns nicht nur mit unserer ›existentiell prekären Lage‹ auffällig. Sagen wir, das Menschsein im Allgemeinen. Das finden wir schon in den Tragödien; oder in den Psalmen; oder (sicher auch philosophisch lesenswert) im Buch ›Kohelet‹.33 Sondern wir erleben uns hier und jetzt ganz und gar, sozusagen, auf Gedeih und Verderb, ›praktisch‹ auf uns gestellt. (›Wer wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen‹?) – 31 ›Nun soll ich in die Fremde ziehen!/Wohin, wohin, dass Gott erbarm;/Nicht, wo die Friedensrosen blühen,/Nicht, wo im Geist so sonnenwarm/Die Worte wie Gebete glühen;/Nein, in die Brust – den Wespenschwarm/Vergeblicher, erstarrter Mühen,/Ins eigne Herz, zum eigenen Harm/Soll ich nun in die Fremde ziehen!‹ (Clemens Brentano) 32 Entsprechend vage reflektiert sich auch der Selbstbezug des Menschen und sein Blick auf ›das Moderne‹. Dazu Hugo von Hofmannsthal: man treibe heute, so schreibt er, »Anatomie des eigenen Seelenlebens oder man träumt. Reflexion oder Phantasie, Spiegelbild oder Traumbild. Modern sind alte Möbel und junge Nervositäten. Modern ist das psychologische Graswachsenhören und das Plätschern in reinphantastischen Wunderwelten. Modern ist Paul Bourget und Buddha; das Zerschneiden von Atomen und das Ballspielen mit dem All; modern ist die Zergliederung einer Laune, eines Seuf­ zers, eines Skrupels; und modern ist die instinktmäßige, fast somnambule Hingabe an jede Offenbarung des Schönen, an einen Farbakkord, eine funkelnde Metapher, eine wundervolle Allegorie.« (Reden und Aufsätze I. hrsg. Von Schoeller/Hirsch. S 176) 33 »Ich beobachtete alle Taten, die unter der Sonne getan werden. Das Ergebnis: Alles ist Windhauch und Luftgespinst. Was krumm ist, kann man nicht gerade biegen, was nicht da ist, kann man nicht zählen.« (Koh. 1,14 – 15)

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Dabei ist es schon dieses sich zu diesen existentiellen Reflexionen gedrängt erfahren, immer wieder; und immer wieder von Anfang an, das uns unsere als prekär erlebte Lage aufdringlich vorführt. – Nur an uns selbst können wir unsere Fragen, und unser Fragen, richten. Es gilt nun, ›metaphysisch gewendet‹, der klassische therapeutische Satz: Du (wirklicher Mensch) bist das Problem! Nur Du (wirklicher Mensch) bist für dich die Lösung! – Das also erfahren wir mit uns selbst. Ein sich selbst für sich und durch sich selbst herausgefordert vorfinden; So-Da-Sein als Herausforderung und gerade so auch als Potential. Dazu, und nicht zu vergessen, die eigenartige Möglichkeit, als ganz und gar nicht selbstverständliches Potential: einfach selbst hin- und sich selbst zuzuschauen! – Das sind Vorstellungen, die sich nicht mehr nur in existentiellen Sonderlagen, oder dann und wann, nach vorne drängen. – Und dazu noch dieses. Wir reflektieren uns, immer wieder, und immer wieder von Anfang an; gleich ob die uns zur Verfügung stehenden Möglich­ keiten, sich überhaupt als hinreichend, als tauglich für eine Lösung herausstellen. – Und so gilt philosophisch, ›als erstes‹ systematisch selbst auf sich selbst aufzumerken. Wirklich streng aufzumerken. Systematisch zu schauen. Das ist radikal zu reflektieren.34 – Das Wahrnehmen dieser unserer existentiell prekären Grunderfahrung – gesetzt als die bestimmende Perspektive und Leistung der Moderne – kann aber nur der erste Schritt für existentielles Philosophieren sein. Es braucht nicht nachlassend, systematische phänomenologi­ sche Entfaltung. Eingeführt als methodische Bewegung der Reflexion selbst, die sich, von Beginn an, ausrichtet auf wesentlichen Anfang (d. i. Arché; Prinzip) unseres wirklichen Da-und-So-Seins. Kurzum, sich philosophisch als reflexive Reflexion der Reflexionen radikal weitertreiben.35 – Phänomenologisches Fragen nach den ›Anfang‹ soll nun nicht in irgendein metaphysisches Dickicht führen. Etwa, Vorstellungen von ›absolutem Anfang‹; Ideen, die hochspekulativ gebaut sind; verstie­ 34 Aus der Perspektive Martin Bubers: »Vorbei ist die Beruhigung, eine neue anthro­ pologische Bangigkeit ist emporgekommen, die Frage nach dem Wesen des Menschen steht vor uns in all ihrer Größe und ihrem Schrecken wie nie zuvor, und nicht mehr in philosophischer Gewandung, sondern in der Nacktheit der Existenz.« (19714). S 57 35 Damit wäre diese Definition nicht hinreichend: »Anthropologie ist der Versuch, im philosophischen Gespräch Lebenserfahrungen auszutauschen« (Wilhelm Kamlah. Philosophische Anthropologie. Sprachliche Grundlegung und Ethik. Mannheim. Wien. Zürich 1973. S 42)

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gene Denkfiguren; abstrakte, lebensfremde Philosopheme. Welche Antworten, und ob überhaupt, wir für unsere existentiell irritierende und perturbierende (selbst erfahrene) Lage finden, bleibt offen. Wobei im Übrigen nicht dieses oder jenes Fragen, oder diese oder jene Antworten, von vorne herein in Acht und Bann gesetzt werden dürfen. (Seicht; nicht-wesentlich¸ willkürlich; bedeutungslos; u. ä.). Verweisen sie doch in jedem Fall hin (mehr denn je) auf äußerst angespannte Suchbewegungen des Menschen nach sicher fundiertem Welt- und Selbst-Verständnis. Eine existentielle Dramatik, die, man mag wollen oder nicht, hintergründig virulent bleibt. Gleich also ob Mensch zu glauben meint, er müsse sich als Aufgeklärter selbst zur ›vernünftigen Ordnung‹ rufen; oder sich selbstverständlich durch wissenschaftliche Vernunft begrenzen lassen. (›Was nicht sein darf, kann nicht sein‹!) – Das im Blick setzen wir diese Reflexionen, entsprechend diesem phänomenologischen Selbstverständnis, exis­ tenz-phänomenologisch. So gewendet schlicht als wirklich-radikales Selbst-Fragen; als existentielle Reflexion der Reflexionen. – Man sollte meinen, das ist etwas, dem Mensch hier und jetzt als sich wirklich und wesentlich ungesichert erlebendes In-der-Welt-Sein (als ›metaphysisch Obdachloser‹) nicht mehr ausweichen könne.36 Als Arbeit an einem ›existentiellen Grund‹, der diese unterschiedlichen Suchbewegungen selbst, ›von Anfang‹ an, überhaupt und trotzdem als ›existentiell sinnvoll‹ wahrnehmen lasse. Das sind wir! Das gehört uns zu! Das haben wir für uns zu leisten! – Im Übrigen bliebe existenz-phänomenologischer Anspruch auch dann noch bestehen, wenn es zuträfe, dass »die Anthropologie als philosophische Grund­ wissenschaft« durch Erkenntnisse der Naturwissenschaften (denken wir hier vor allem an die Neurowissenschaften) ›aufgehoben‹ worden wäre.37 -

36 Beispielsweise bei Paul Natorp so: mit welchem Recht Philosophie absoluten Anfang fordere: »den Anfang, der schlechthin nichts hinter sich, alles vor sich habe? Welches ›Alles‹? Offenbar das Alle der Entwicklung vom Nullwert des Seins und Sinns zu jedem Nichtnullwert, mit der nie erreichten noch zu erreichenden, im schon erklärten Sinne nur idealen Grenze des Allen, das nichts mehr vor oder über sich, alles nicht sowohl hinter als in und unter sich habe.« (2000). S 76 37 Walter Schulz: »Die Fragen, die den Menschen betreffen, werden heute kaum noch als philosophische Probleme angesehen, sondern in immer stärkerem Maße von den konkreten Wissenschaften und der Praxis her angegangen.« (Philosophie in der veränderten Welt. Pfullingen 1972. S 420)

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Nun könne hier aber eines nicht übersehen werden. An anthro­ pologischen Reflexionen scheint wahrhaftig kein Mangel. Ganz im Gegenteil. Anthropologische Themen (im weitesten Wortverständ­ nis) erfreuen sich einer hohen Aufmerksamkeit. Sind, so mag es sogar scheinen, durchaus beliebte Modethemen. Anthropologische Literatur fülle buchstäblich, ganz offensichtlich, Bücherregale. – So drängt sich die Frage auf, ob es überhaupt noch Sinn mache, anstatt auf ›ernste, drängende Herausforderungen der Gegenwart‹ zu achten, – man denke beispielsweise nur an die dichten Problemanzeigen: Ökologie; Flucht- und Wanderbewegung; Überbevölkerung -, wiede­ rum nur uns selbst (›der philosophierende Mensch und seine Refle­ xionen‹) in den Blick zu rücken? In diesen Zeiten so ausschließlich ›existenz-anthropozentrisch‹, zu denken könne sogar als eine der Ursachen gegenwärtiger Probleme benannt werden. – Ein Vorwurf, der nicht nur existentielles Philosophieren begleitet. Kritik, die nicht unbeachtet bleiben darf. Sondern die es wortwörtlich wiederum von Anfang zu reflektieren gilt. – Und dann noch dieses. Wer sich mit phi­ losophischer oder naturwissenschaftlicher Literatur zu anthropologi­ schen Fragen beschäftigt, sich über deren Bedeutung klar zu werden versucht, sogar selbst dies existentiell zu reflektieren beansprucht, sei daran erinnert, dass es höchst unklug wäre, ›Systeme‹ einführen zu wollen, »solange die Probleme, die sie aufklären sollen, noch nicht genau formuliert sind.«38 (Gregory Batesons) – Dies vorausgesetzt, ist es also grundsätzlich nicht zielführend, – ›uns endlich auf uns selbst zu besinnen‹ -, und nur einen weiteren traditionellen Entwurf ›philosophischer Anthropologie‹ dabei vorlegen zu wollen. Entspre­ chend der Formel: ›mehr von dem Gleichen‹. Oder, frei nach Karl Valentin: zwar schon alles gesagt, aber noch nicht von jedermann. – Ungeklärt sind schon Gestalt und Gestaltung, die Form unse­ rer existentiellen Grundfragen. Sie bewegen uns und unser In-derWelt-Sein nach wie vor. Man mag darauf achten oder nicht. – Als erstes braucht es phänomenologische Reflexionen anthropologischer Reflexionen. ›Anthropologische Reflexionen‹ dabei nicht allzu eng begriffen. Das sind Reflexionen, die ›breit‹ auf existentiellen Sinn und existentielle Form anthropologischer Reflexionen und deren Bedeu­ tung für das (für unser) Philosophieren selbst aufmerken. Deswegen, so könnte es scheinen, durchaus ›zurecht‹ der Vorwurf rücksichtslo­ sen Selbstbezugs. Vielleicht könne man diese phänomenologischen 38

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Vorstellungen auch als eine Art Propädeutik für ›existentielle Anthro­ pologie‹ lesen. – Phänomenologisch zu leisten wäre also, arbeiten für den Aufbau des (unseres) Fragehorizonts hier und jetzt, der die exis­ tentiell-letztmöglichen Voraussetzungen für philosophische Anthro­ pologien erst zu tragen (das ist zu ›konstituieren‹) imstande wäre. Wobei wiederum existentielle Reflexion der Anthropologie so die Perspektive freilegte, für die weiteren (philosophischen, auch wissen­ schaftlichen) Möglichkeiten, uns mit den tatsächlich bedrängenden Fragen endlich zu positionieren. – Da sind beispielsweise, die, – nach wie vor ungelösten -, Herausforderungen wie, nach was wir überhaupt fragen, wenn wir nach uns selbst fragen. Zusammengefasst als gera­ dezu ›klassisches‹ Fragen-fragen nach unserem existentiellem Selbst; unserer wirklichen Wirklichkeit und unserem wirklichem Wesen. Und darüber hinaus. In welchen Zusammenhängen, Vorkommnissen, Gestaltungen, werden wir uns selbst überhaupt zur existentiellen Herausforderung? Kurz, wer oder was treibt, wer oder was zwingt uns geradezu, immer wieder, und immer wieder von Anfang an, uns mit uns selbst, unserem In-der-Welt-Sein, so zu beschäftigen? ›Reflexi­ onsgeschichten‹, die im Übrigen gar nicht dramatisch genug erzählt werden können. Und welche dieser unterschiedlichen Gestaltungen unserer-selbst als Selbst denn eine Antwort auf unsere existentiellen Fragen vorstellen könne? Ist doch schon dieses selbst sich radikal fragwürdig werden können (und auch müssen), und ›letztendlich‹ nicht nur philosophierend (denken wir an Wissenschaften, Religion, Kunst) eine Antwort zu suchen, alles andere als selbstverständlich. Weder mit Blick, beispielsweise, auf ›die Natur‹; auch nicht histo­ risch oder biographisch. – Welche Antworten auch immer wir uns vorstellen, ob sie uns (dich oder mich) ›faktisch‹ zur Ruhe kommen lassen oder nicht, an einem können wir existenz-philosophisch fest­ halten. Radikal reflexive Reflexion der Reflexionen bestimmt die Ausrichtung und ist, eigenartig genug, gerade so auch philosophi­ sches Fundament jeder theoretischen Selbstfassung und praktischen Selbstbestimmung. Es rückt wirklich uns selbst und unsere wirkliche und wesentliche Wirklichkeit in unseren phänomenologischen Blick. Das also sind wir, wir die so radikal zu reflektieren vermögen. – Man wird fragen: Das soll es gewesen sein? Wirklich nicht mehr? Aus der Perspektive beeindruckender Tradition philosophi­ scher Spekulation eher bescheiden. Wir werden nun sehen, dass allein schon diese existentielle Wendung unser Da-und-So-Sein wirklich wirklicher zu reflektieren erlaube. – Wir hantieren also, ganz im

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Sinne Husserls, gleichsam, nur mit ›gültigem Kleingeld‹. Unser exis­ tenz-phänomenologisches Vorhaben habe daher also diese ›schlichte‹ Gestaltung. Sich ausdrücklich einzulassen ausschließlich auf unsere Wirklichkeiten und wirklichen Möglichkeiten eigener Reflexionen. Wir reflektieren als wesentlich wirkliches So-in-der-Welt-Sein. Die­ ses phänomenologische Philosophieren ist eingeführt schlicht als existentiell-radikale Suchbewegung; und bleibt es auch. – So scheint tatsächlich, auch auf den zweiten Blick, existenz-phänomenologisches Philosophieren als kein allzu ehrgeiziges Projekt. Nichts was Philo­ sophieren überfordern sollte. – Und doch ist es ein Mitarbeiten an einem wahrhaftig herausfordernden Auftrag phänomenologischer Philosophie. Sogar allgemein ein der Philosophie, der Wissenschaft, der Kunst, (als ›Funktionäre des Menschseins‹; so Husserl), zuge­ wiesenes Projekt. An dem es festzuhalten gilt; trotz des tatsächlich (faktisch) immer wieder Scheiterns. – Das Scheitern ist sogar ganz in unserer existentiellen Ordnung. Ein Projekt, das wir im Übrigen nicht zuletzt auch aus Husserls ›Krisis-Abhandlung‹ selbst herausle­ sen; und, zugegeben sicher gegen seine Absicht, radikal-existentiell reflektieren. – Gerade angesichts unserer verworrenen, uns ganz zurecht ängstigenden (politischen, gesellschaftlichen, ökologischen) Lagen hier und jetzt, scheint es unbedingt erforderlich, die wesentli­ che Wirklichkeit und das wirkliche Wesen des Menschen, als sein Welt- und Selbst-sein, sein Welt- und Selbst-Haben, endlich in den Blick zu rücken.39 Und das existenz-phänomenologisch; entschieden leidenschaftlich; ohne Zorn, ohne Tadel, auch ohne Klagen. Kurz und dicht zusammengefasst: was der Mensch um Himmels und seiner selbst willen, denn wirklich und wesentlich sei und vielleicht auch, was er wirklich sein könne? Dafür braucht es systematisches phänome­ nologisches Philosophieren. Phänomenologisches Philosophieren, das rar geworden zu sein scheint. Man lasse sich nicht täuschen von den unzähligen Veröffentlichungen, die ›Phänomenologie‹ und ›phänomenologisch‹ im Titel führen. – Das was Husserl in der Einleitung zu seiner ›Logik‹ (Formale und transzendentale Logik) als Lage vorstellt, gilt im Grunde für uns auch heute. »Der moderne Mensch von heute sieht nicht wie der ›moderne‹ der Aufklärungsepoche in der Wissenschaft und der durch sie geformten neuen Kultur die Selbstobjektivierung der menschlichen Vernunft oder die universale Funktion, die die Menschheit sich geschaffen hat, um sich ein wahrhaft befriedigendes Leben, ein individuelles und soziales Leben aus praktischer Vernunft zu ermöglichen. (…) Man lebt so überhaupt in einer unverständ­ lich gewordenen Welt, in der man vergeblich nach dem Wozu, dem dereinst so zweifellosen, vom Verstand wie vom Willen anerkannten Sinn fragt.« (FTL. S 9) 39

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Von Beginn an braucht es dafür Klarheit über die Perspektive die­ ses phänomenologischen Schauens, unserer existenz-phänomenolo­ gischen Reflexion.40 – Etwa, wie wir existentiell Philosophierenden uns überhaupt, man sagt (so leichthin) als ›Subjekt‹ und ›Objekt‹ zugleich in den Blick bekommen; oder, über uns wirklich und wesent­ lich Auskunft geben können. Also zu leisten ist, Schauen-Schauen; Reflexion-reflektieren. Und das, ohne unser existentiell-radikales Philosophieren in einer dogmatischen Position zu verfestigen; oder in eine spekulativ-aporetische Lage zu bringen.41 – Das braucht phänomenologische Methoden. Methoden, die nicht von dort oder da her zufällig zusammengerafft werden. Sondern eingeführt und geordnet als auf uns selbst gerichtetes Schauen-Schauen. Und weiter: Reflexionen, die diese Reflexionen reflektieren; nicht zuletzt auch eine phänomenologische Sprache, die unsere existentiellen Leistungen (wir als Reflektierende) überhaupt umfassen könne.42 Und das alles im miteinander (nach-)vollziehbar. – Wobei es aber, Tradition hin oder her, für uns, phänomenologisch noch gar nicht feststehe, noch nicht ausgemacht sei, welches Spre­ chen ›mit Blick auf uns selbst‹ anthropologisch, existentiell passend, angemessen wäre. Ob beispielsweise (horribele dictu) vielleicht sogar Dichtungen, der Kunst oder sogar eine dem Mythos entnommene Sprache der Bilder, der Metaphern, der Symbole, hier letztmögliches (ausdrücklich nie letztgültiges) Wort zustehe.43 Die wirkliche und wesentliche Wirklichkeit unseres Da-und-So-Sein, gleichsam, ›über den Köpfen neuzeitliche strenger Wissenschaft und aufgeklärt wis­ senschaftlicher Philosophie hinweg‹, endlich aufscheine.44 – Das mag Vgl. dazu meine Arbeit: (2019) Vgl. beispielsweise: »Ich will mich, mich selbst erkennen. Indem ich mich aber selbst zu erkennen suche, gehe ich über mich selbst hinaus. Was ich erkannt habe, ist meine psycho-physische Konstitution, meine Seele, mein Ich u. dgl m. Aber ist dieses eine Antwort auf die ursprüngliche Frage? Ich wollte mich selbst erkennen. Bin ich es aber noch selbst, den ich erkannt habe?« (Bernhard Groethuysen. Philosophische Anthropologie. München und Berlin 1928. S 5) 42 Das ist alles andere als einfach. Denken wir an die ›anthropologischen Entwürfe‹ Freuds. Gregory Bateson schreibt: »Die Psychoanalyse irrte erheblich, als sie Wörter benutzte, die zu kurz sind, und deshalb konkreter erscheinen als sie sind.« (Ökologie des Geistes. Frankfurt/M 1985. S 126) 43 Vgl. beispielsweise: Erich Neumann. Ursprungsgeschichte des Bewusstseins. (Hier) Düsseldorf und Zürich 2004 44 Aus einer kunsthistorischen Perspektive, beispielsweise Karl Schefold: mit Blick auf griechische Dichtung. »Die epischen Dichtungen sind die umfassendsten Welt­ 40

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für unser fraglos wissenschaftlich geordnetes Welt- und Selbst-Ver­ ständnis befremdend, bizarr anmuten. Rückwärtsgewandt; ›aus der Zeit‹ gefallen; nicht ernst zu nehmen! Wenn überhaupt noch etwas Geltung beanspruchen dürfe, dann wären es die wissenschaftlichen Leistungen. – Eines aber könne in keinem Falle geleugnet werden; und sollte allein schon zu denken geben. Dass der Dichtung zumindest eine ›philosophische Bedeutung‹ zukomme, ist eine (heute zwar nicht mehr sehr prominent gesetzte) Perspektive, die die abendländische Geistesgeschichte begleitet habe.45 Und das nicht nur ›verschämt‹ hintergründig. Ernst Robert Curtius, beispielsweise, nimmt diese Frage: wem hier das entscheidende Wort zu sprechen zustünde nicht weniger ernst, als wir es tun. Aus seiner philologischen Perspektive aber, glaubt er, sei dies entschieden zugunsten des Dichters, der Dichtung.46 – Dieser Streit darf nun nicht rubriziert werden unter eine der, nicht nur geistesgeschichtlich, verbreiteten, nicht selten, erbittert ausgetragenen ›Konkurrenzen‹ zwischen unvereinbar scheinenden Welt-Anschauungen. (Hinter denen wiederum handfeste materielle Interessen stehen mögen.) Vielmehr führt er vor, eine, Mensch-sein selbst zugehörige Spannung seiner Vermögen der ›äußeren‹ Weltund ›inneren‹ Selbstzuwendung. – Lesen wir es existenz-phänome­

bilder, die wir besitzen, die lyrischen Gedichte die unmittelbarste Antwort auf den göttlichen Anruf, die Dramen der Klassik die tiefsten Deutungen der menschlichen Existenz.« (Propyläen Kunstgeschichte. Die Griechen und ihre Nachbarn. Frankfurt. Berlin 1990. S 15) 45 Vgl. (beispielsweise) Ernesto Grassi. Kunst und Mythos. (hier) Berlin 2013. Vor allem. Kap. VII 46 »Ein ewiger Streit besteht seit Platon zwischen dem Dichter und dem Denker. Aber der Dichter ist der Überlegene, denn die Probleme lösen sich ihm nicht im Begriff, sondern in der Gestalt. Die Arbeit des Gedankens ist nie am Ende, aber die Gebilde des Dichters ist vollendete Form. Er sagt das Unsagbare in der Sprache der Symbole. Wir empfangen aus seiner Hand ein gegliedertes Gefüge der Welt, gereinigt von allem Faserwerk philosophischer Begriffe.« (Goerge, Hofmannsthal und Calderon. In: Kritische Essays zur europäischen Literatur. (1950) Frankfurt/M 1984. S 180); bei Heidegger so: »Weil nun aber die Dichtung, wenn wir sie mit dem Denken vergleichen, auf eine ganz andere und ausgezeichnete weise im Dienst der Sprache steht, wird unser Gespräch, das der Philosophie nachdenkt, notwendig dahin geführt, das Verhältnis von Denken und Dichten zu erörtern. Zwischen beiden, Denken und dichten, waltet eine verborgene Verwandtschaft, weil beide sich im Dienst der Sprache verwenden und verschwenden. Zwischen beiden aber besteht zugleich eine Kluft, denn sie ›wohnen auf getrenntesten Bergen‹“. (Was ist das – Die Philosophie? Pfullingen 19817. S 30)

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nologisch also bis auf weiteres als ›unser‹ existentielles Potential.47 (»Der Künstler kommt ganz allein in seinem Gestalten ›zu sich selbst‹. Die ›eindrückliche‹ Darstellung leistet für ihn eben das, was für einen aus ursprünglichen Motiven denkenden Philosophen die begriffliche Explikation bedeuten muss. – Das Medium des Ausdruck ist verschieden – nach der besonderen geistigen Organisation -, aber es ist jeweils ein notwendiges Medium, die uns gemäße Mittlerschaft zu uns selbst.«)48 Die bisherigen Schritte dicht zusammengefasst: Phänomenolo­ gisches Arbeiten wird eingeführt als Möglichkeit radikaler existentiel­ ler (reflexiver) Reflexion ›entlang‹ unserer wirklich-wirklichen Inten­ tionalität. Reflexion unserer so vielfältigen ›Reflexionen‹.49 – Legen wir dafür eine viel besprochene Forderung Heidegger so zu recht. Der Mensch habe sich selbst auf eine andere Art ›zu begreifen‹, über sich zu befinden und zu sprechen, selbst-zu-schauen, als über beliebige Sachlagen, Weltstücke, Ding-Gestaltungen, über Objekte. Diese erkenntnistheoretischen oder ontologischen Perspektiven wür­ den uns nicht gerecht. Sollte dem ernsthaft widersprochen werden können? Die Wissenschaften verfehlten also schon mit ihrer sich selbst-begrenzenden Sprache, ihrem objektiven Begreifen-können und -wollen, ihrer selbstvergessenen intentionalen Ausrichtung, grundsätzlich und von Anfang an, die wesentliche Wirklichkeit unse­ res eigenartig unvergleichlichen In-der-Welt-Seins. Auch mit Blick auf sogenanntes, allgemein ›praktisch Menschheitliches‹. Einschließ­ lich ihrer selbst, als sich so ausrichtenden, interessierten, sich ord­ 47 »Platons Homerkritik ist der Gipfelpunkt des Streites zwischen Philosophie und Poesie, der zu Platons Zeit schon ›alt‹ war. Dieser Streit ist in der Struktur der geistigen Welt begründet. Er kann daher immer wieder aufflammen (wir werden das im italienischen Trecento sehen), und die Philosophie wird dabei immer das letzte Wort haben: denn die Posier antwortet ihr nicht. Sie hat ihre eigene Weisheit.« (Ernst Robert Curtius. Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Tübingen und Basel 199311s S 211) 48 Fritz Kaufmann. Das Reich des Schönen. Bausteine zu einer Philosophie der Kunst. Stuttgart 1960. S 35) 49 Forderung es hier nicht mit naturwissenschaftlichen Perspektiven genug sein zu lassen, beispielsweise auch bei Günter Rager: »Für eine Anthropologie ist deshalb zu fordern, dass wir uns die ganze Weite des Zugangs offen halten, also auch unser Alltagswissen, die philosophische Reflexion, die Aussagen des Glaubens und die Erkenntnisse aller jener Wissenschaften zur Geltung zu bringen, die sich in irgendeiner Weise mit dem Menschen beschäftigen.« (Mensch sein. Grundzüge einer interdisziplinären Anthropologie. Freiburg. München 2017. S 16)

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nenden Leistung und Leistungsvermögens. Weil sie diesen ›ontologi­ schen‹ Wesensunterschied nicht im Blick haben; nicht einmal in den Blick bekommen können (und vielleicht auch nicht wollen).50 – Das was wir selbst für uns selbst als Existenz ›bedeuten‹, lasse sich in kei­ nen engen naturwissenschaftlichen Begriff, keine handhabbare Defi­ nition ›des Menschen‹ (als dieses oder jenes ›Objekt‹; aber auch nicht idealistisch, an und für sich; als absoluter Begriff; unbedingte Idee) pressen. Sollte man zumindest meinen! – Je eindringlicher, empiri­ scher, rationaler, kurz: wissenschaftlicher, Mensch sich mit sich selbst als Forschungs-Objekt ›Mensch‹ befasse, umso erschütternder, die Erfahrung des ›Zurückbleibens‹ hinter der selbsterfahrenen, existen­ tiell ›bestimmten‹ Wirklichkeit seines wesentlich wirklichen In-derWelt-Seins.51 – Phänomenologisches Philosophieren, als Vorstellung eines wirklichen Da-und-So-Seins, schaut nun selbst hin und dabei sich selbst wirklich umfassend zu. Und ordnet sich theoretisch selbstschauend und praktisch existentiell.52 Es beansprucht weder einen streng wissenschaftlichen Begriff, (existentielles Philosophieren ist keine, auch nicht im Sinne Husserls, strenge Wissenschaft!), noch eine ›metaphysische Tiefe‹ des Menschseins vorstellen zu können. Son­

50 Dazu auch aus einer anderen Perspektive: »Die Schwierigkeit, das Menschsein wissenschaftlich zu begreifen, (…), liegt in der verwirrenden Mischung, die es an durchaus alten und absolut neuen Charakteristika zeigt. Angesichts dieser Verbindung scheiden sich die Geister. Die einen, die allzu einseitig Zoologen sind, lassen uns in der niederen tierischen Masse versinken: sie sehen nur die Evolution. Die anderen, in naiver Weise Spiritualisten, isolieren uns und machen aus unserer Gruppe eine Art auf den großen Wassern der Welt wurzellos treibendes Wrack: sie sind nur für die Diskontinuität empfänglich.« (Teilhard de Chardin. Die Schau in die Vergangenheit. Olten 1965. S 96) 51 Der Mensch und die menschliche Psyche, so Christian G. Allesch, wäre als »Gegenstand wissenschaftlicher Forschung« zu komplex »als das eine exakte Erfas­ sung und eine vollkommene gegenstandsgerechte Theorienbildung abzusehen wäre.« (Humanismus, Humanität und Humanrelevanz in der Psychologischen Forschung. In: Anthropologische Aspekte der Psychologie. Festschrift für Wilhelm Josef Revers. Salzburg 1979. S 27) 52 ›Ordnen‹ dabei durchaus als ein ›phänomenologisches Deuten‹. Das bleibt im Horizont phänomenologischer Philosophie. Vgl. dazu Rudolf Boehm. Dabei wäre ›Interpretation‹ »weder eine bloße ›Enthüllung‹, noch eine reine ›Schöpfung‹ von etwas im *objektiven‘ Sinne des Ausdrucks. Sie ist Erhellung, aber nicht von etwas, was so, wie die Interpretation es beleuchtet, zum Voraus schon da oder gegeben war. Sie ist Schöpfung, aber nicht des Gegenstandes, den sie dar- und auslegt, sondern des Sinnes, den sie ihm gibt.« (Vom Gesichtspunkt der Phänomenologie. Husserl-Studien. Den Haag1968. S 226)

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dern den spannenden Horizont unseres wirklichen und wesentlichen Selbst- und Weltverständnisses. Das ist, die, auch gelebten, Spannun­ gen, den Riss zwischen Da- und So-Sein des Menschen reflektieren. Oder vielleicht auch so. Unser phänomenologisches Philosophieren als existentielle Leistung, die diese konstitutive Grund-Form der Gestalt und Gestaltungen unseres wirklichen und wesentlichen Daund-So-in-der-Welt-Seins uns selbst selbst-vorführe.53 – Das sind, lassen wir uns darauf ein, (wenn man so will) ›existentielle Refle­ xionen‹ diesseits von Idealismus und jenseits von Naturalismus.54 Phänomenologisches Philosophieren führt sich ein ausdrücklich als eine Philosophie der Erfahrung; reflexive Reflexionen der Reflexionen unseres wirklichen und wesentlichen Selbst-Erfahrens. Kurz, richtet sich aus auf unser uns wirklich umfassendes Selbst-Sein und unsere Welt-Habe; kurzum, schaut und reflektiert wirklich wirkliche Erfah­ rung wirklichen Da-und-So-Seins.55 – Das fordert umfangreiche, vielleicht auch ›umständlich‹ schei­ nende, nicht aber ›metaphysisch tiefe‹ Reflexionen.

Dazu dieser Phänomenologie-Begriff von Max Scheler: »Die Phänomenologie ist weniger eine abgegrenzte Wissenschaft als eine neue philosophische Einstellung, mehr eine neue Techne des schauenden Bewusstseins als eine bestimmte Methode des Denkens.« (Die deutsche Philosophie der Gegenwart. Ges. Werke VII. S 309) 54 Vgl. dazu Merleau-Ponty. »Die Phänomenologie ist letztlich weder ein Materialis­ mus noch eine Philosophie des Geistes. Ihre eigentliche Leistung besteht darin, die vortheoretische Schicht aufzudecken, in der beide Idealisierungen ihr relatives Recht erhalten und überwunden werden.« (1984. S 50) 55 Ludwig Binswanger schreibt: Die Bedeutung der Phänomenologie liege (eben auch für die Psychiatrie) darin, »dass sie uns mit großer Energie zurückführt auf die schlichte einfache Betrachtung der Phänomene, uns lehrt, nur das gelten zu lassen, was wir wirklich gesehen haben, in sinnlicher oder kategorialer Anschauung, und uns hüte vor der Vermengung des Geschauten mit jedweder noch so gut fundierten Theorien.« (Über Phänomenologie. In:(1994). S 45 53

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›Dieselben Denker jedoch, die zu der Einsicht gelangten, dass expressive Formen von fundamentaler Wichtigkeit für das menschliche Begriffsver­ mögen sind, sahen auch, dass nicht nur die Wissenschaft, sondern auch Mythos, Analogie, metaphorisches Denken und Kunst durch symbolische Modi bestimmte geistige Tätigkeiten sind.‹56 (Susanne K. Langer)

Der Mensch ist wesentlich wirkliches Da-und-So-in-der-Welt-Sein. Diese Vorstellung unserer, für uns wesentlichen Wirklichkeit, ist keiner phantastischen Spekulation geschuldet; auch kein Nachbeten einer bestimmten Terminologie; oder der Versuch besonders originell sein zu wollen. Sondern phänomenologisch eine genaue Beschrei­ bung unseres So-Da-Seins.57 Das was wir unser ›Selbstverständnis‹, unsere ›Identität‹ nennen, uns wie selbstverständlich zuschreiben, dann wissenschaftlich (psychologisch, soziologisch) zu begreifen suchen, setzt diese Erfahrung(en) voraus. Selbstsein ist also in jedem Fall wirkliches und wesentliches In-der-Welt-Sein.58 Dieser Gedanke trägt und bestimmt auch unsere phänomenolo­ gische Reflexion der Reflexionen. Welche vertrackte Vielschichtigkeit sich hier nun, schon für den Versuch ›schlichter Beschreibung‹, auftut,

56 Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst. 1965. S 7 f. 57 Aus einer anderen Perspektive Viktor von Weizsäcker: »Auch hat die neuere Analyse der Sinneswahrnehmung und der Motorik gezeigt, dass die Grenze zwischen Organismus und Umwelt, zwischen dem, was in der Haut und außer der Haut ist, immer überschritten wird, so dass die Grenze zwischen Lebewesen und Milieu nur von der jeweiligen Untersuchungsart abhängt, wie eine zufällige methodische Einstellung dasteht.« (19672). S 105 58 Von dort aus, wird auch das ohne weiteres verständlich: dass »die Gewohnheiten und Interessen auch der Oberfläche etwas über den Menschen aussagen, d. h. über die Richtungen zur Welt hin, in denen er seine Antriebe festgelegt hat.« Arnold Gehlen. (2016). S 398

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können wir nicht zuletzt an Husserls mühsamen ›Zeichnungen‹ von unserem Selbst-Sein und unserem Welt-Haben ablesen.59

2.1. Phänomenologische Vorstellung des Irrationalen Dem ›Irrationalen‹ soll existenz-phänomenologisch tragende Bedeu­ tung zugesprochen werden. Für unser wirkliches Da-und-So-Sein sowieso; aber auch für das Philosophieren selbst. Man wird dies (möglicherweise) als ›lebensphilosophischen Unsinn‹ abtun. Als ein denken, das man schon als überwunden geglaubt habe. Spätestens mit Neukantianismus und vor allem analytischer Philosophie (Wie­ ner und Berliner Kreis). Auch die Phänomenologie Husserls habe hier sich doch eindeutig positioniert. Wer hier und jetzt in allem Ernst immer noch fordere, noch dazu im Namen phänomenologi­ scher Reflexion: der Mensch solle nicht nur auf seine ›Irrationalität‹ hin (wirklich und wesentlich) ›abgestellt‹ werden, sondern diesem ›Irrationalen‹ auch theoretische Bedeutung zuspreche, und, um den Irrsinn ›zu krönen‹, auch Gestalt und Gestaltung des Philosophieren selbst, aus dieser Perspektive, notwendig ›existentiell‹ zu bestimmen suche, habe sich endgültig außerhalb der Forschergemeinschaft der Philosophen gestellt.60 Im Übrigen nicht nur der philosophischen. – Man betrachte, um den Blick etwas zu fokussieren, doch nur die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Wer könnte die verheerende, 59 Beispielsweise: »So wie ich als identisches Ich, das Zeit und Welt hat, fortdauerndes Ich bin und für mich selbst seiend als durch die Zeit hindurch verharrend dadurch, dass ich in jeder Gegenwart und Primordialität aktuell oder vermöglich mit den inten­ tionalen Modifikationen (intentionalen Abwandlungen, Wiederholungen) meiner selbst nach Ich und Habe in vergemeinschaftlicher Deckung bi, ebenso bin ich mit den Anderen als in meiner aktuellen Gegenwart (…) sich wirklich oder vermöglich als meine intentionalen Modifikationen konstituierenden Anderen und ihren modifi­ zierten Gegenwarten und dauernden Seinsweisen in Gemeinschaft, und vermöge die­ ser Gemeinschaft ist für mich ›die‹ Welt nicht als bloß meine aus meiner Primoridia­ lität, sondern als Gemeinwelt.« (Hua. XV. S 488 f.) 60 Vgl. dazu beispielsweise Ernesto Grassi. »Das intellektuelle, rationalistische, rein ›formale‹ denken hat im abendländischen Bereich heute durchwegs den Vorrang erhal­ ten. Dies bedeutet, dass das wissenschaftliche Denken meistens auf eine rein ›formale‹ Stringenz reduziert wird. Das heißt, dass ein ›Wahrheitswert‹ von Äußerungen nur im Bezirk der ausgewählten Prämissen Geltung hat, der sich durch rationale Deduktion ergibt.« (Die Macht der Phantasie. Zur Geschichte des abendländischen Denkens. Königsstein/Ts. 1975. S XVI)

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2.1. Phänomenologische Vorstellung des Irrationalen

ja entmenschlichende Kraft und Wirkung der ›Irrationalität‹, der damit einhergehenden theoretischen und praktischen ›Unvernunft‹, ja, ›Vernunft-Feindschaft‹ übersehen. ›Irrationales Denken und Han­ deln‹ führe zu destruktiven, sogar mörderischen, inhumanen Mus­ tern. Eine unheimliche, düstere Abgründigkeit des Menschen breche auf; scheint ihn zu überfluten. Und, das den Menschen wohl auszeich­ nende, seinen ›Logos‹, zu destruieren. Wer die Geschichte (und nicht nur die des 20. Jahrhunderts) auch nur oberflächlich betrachte, wird dem nicht widersprechen können. – Und wir (Soziologen, Psycholo­ gen, Pädagogen, Politiker, vor allem auch Philosophen) täten gut daran, hier ›vernünftig aufzuklären‹; wo nötig, Unvernunft ›zurück­ zudrängen‹, ›einzuhegen‹, ›auszuschalten‹; – vielleicht sogar mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Irrationales Denken verdiene keine Toleranz. Es dürfe auch nicht geschont werden? Hier könne der ›Beruf der Intellektuellen‹ sich in die Pflicht nehmen lassen; und auch praktisch Verantwortung für vernünftiges Menschsein übernehmen. So zu denken und tun bestimme zurecht das Arbeiten am ›Projekt der Moderne‹; als die Vollendung der Aufklärung; der auch praktischen Entfaltung der Vernunft; Verwirklichung der neuzeitlichen Idee der Humanität. – Gerade die Philosophie der Aufklärung, das könne nicht geleugnet werden, habe hier großartiges geleistet.61 Ihrer Intention der philosophischen, ästhetischen, wissenschaftlichen, politischen Aufklärung gilt es weiter zu folgen.62 Ihre Arbeit an und mit Vernunft fortzuführen, und, die Schrecken des 20. Jahrhunderts vor Augen, sogar zu intensivieren und auszubauen. Dagegen scheint existentielle Phänomenologie wie aus unserer aufgeklärt fortschrittlichen Zeit gefallen. Nicht nur das. Man könne sie sogar (weniger wohlwollend) als verhängnisvolle Regression bestimmen. Und das allein schon mit Blick auf ihre, wie man zu wissen glaubt, abstrakten Vorstellungen. Ein Philosophieren, das ganz offensichtlich das Dringliche der Gegenwart, die praktische Verantwortung für die Zukunft, also die ökologischen, ökonomischen, gesellschaftlichen Herausforderungen nicht beachte. Ihren Rückzug Dass Georg Lukacs hier Widerspruch anmeldet, ist bekannt. Wie kaum ein anderer hat er diesen, wie er es sieht, fundamental zerstörerischen Irrationalismus durch die ›moderne Geschichte‹ vorgeführt. Und selbst noch bei denen aufzuspüren geglaubt, wie etwa Max Weber, die sich doch selbst auf der Seite der Vernunft vermeinten. Vgl. Die Zerstörung der Vernunft. Darmstadt und Neuwied 1984 62 Vgl. dazu Ernst Cassirer. Die Philosophie der Aufklärung. Gesammelte Werke Band 15 61

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in ›Innerlichkeit‹ als radikale Reflexion anzupreisen versuche. Viel­ leicht sogar deshalb nun selber zur Belastung werde. Und das nicht nur für das Philosophieren selbst. – In jedem Fall aber, dicht zusam­ mengefasst, mit ihrer Behauptung, ›Irrationales‹ habe wesentliche Bedeutung auch für Philosophieren, für die Philosophie, selbst für die Wissenschaften, sich diskreditiere. Mit Blick auf die schwierige Geschichte der neuzeitlichen Philosophie ein Affront; gelesen als Provokation; zumindest vorgetragen ohne tiefere Kenntnisse der Geschichte der Philosophie der letzten Jahrhunderte. Sei doch gerade diese endlich ›wissenschaftliche‹ Philosophie, dieses streng methodi­ sche Philosophieren berufen, ›Aufklärung‹ zu fördern, zu entfalten, für die Zukunft der Menschheit zu sichern. Darin müsse jedes Philo­ sophieren sich wiederfinden, sich sammeln können. Gleich welcher Richtung, oder Schule. – Gott sei Dank aber könne es nicht sonderlich schwierig sein, gegen diese ›simplen‹ Versuche (Irrationales philoso­ phisch und existentiell wieder stark machen zu wollen) vernünftig zu argumentieren, zu opponieren. – Beispielsweise so. Auch diese ›phi­ losophische‹ Vorstellung des Irrationalen als Bedeutung und Grund für unser So-in-der-Welt-Sein, brauche doch wohl Argumente. Wer nun Argumente setzt, versuche vernünftig zu argumentieren; zu begründen; gebrauche also die (unsere) Vernunft; behauptet damit in jedem Fall: rational zu denken. Versuche damit seine Position nachvollziehbar, das ist – und es kann nicht anders sein – eben vernünftig, zu entfalten. Das sei notwendige Voraussetzung etwas (das mag sein was es wolle) überhaupt in Geltung zu setzen; einen Diskurs zu führen; überzeugen zu können. Kurzum, dass sich ›Irratio­ nales‹ also nur ›rational‹ vorstellen und verteidigen lassen, zeige doch (auch demjenigen, der den Alleinvertretungsanspruch der Vernunft zu bestreiten scheine) wo die Prioritäten, die Sicherheiten, der Sinn, unseres Daseins liegen sollten. Für eine erste Orientierung genügen zunächst einige wenige Hinweise. Gilt uns doch das Hinschauen auf das eigene Philosophie­ ren als nie abgegolten. Es wird uns als nicht nachlassende Herausfor­ derung begleiten und immer wieder beunruhigen. – Schon ein grobes Missverständnis wäre es aber, unsere existentielle Reflexion des (schon praktisch nicht weniger unbedingten) ›Irrationalen‹ als strik­ ten Gegenbegriff zur Vernünftigkeit zu behaupten. Vielleicht sogar gleichzusetzen mit diesen oder jenen ›nihilistischen‹ (ästhetischen, politischen, gesellschaftlichen) Erscheinungen. Als könne es ernsthaft phänomenologisch um eine ›Destruktion der Vernunft‹ gehen. Auch

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2.1. Phänomenologische Vorstellung des Irrationalen

Husserl hat sein Philosophieren selbstverständlich neuzeitlich zu ordnen versucht. Unser phänomenologisches Arbeiten selbst, also Form und Inhalt existentieller Reflexion der Reflexionen wird für sich selbst sprechen. Als ein systematisches Philosophieren. Ein Philoso­ phieren, das sich ausdrücklich endlich selbst ›in Szene setzen muss‹; und es auch kann. Es bleibt ein ›dialogisches‹ Philosophieren im mit- und auch gegeneinander. Das wird die Entfaltung existentieller Phänomenologie als ›Arbeitsphilosophie‹ (reflexive Reflexion der Reflexionen) leisten und vorzuführen. Konkret, existenz-phänome­ nologisches Philosophieren als reflexive Reflexion der Reflexionen unseres wirklichen So-in-der-Welt-Sein. Und um nun nicht (zugege­ ben, die Gefahr ist groß) eine unpassende Assoziation auszulösen. Weder Bergson, Dilthey, Nitzsche, noch Klages oder Stefan George stehen hier dafür Pate.63 Existenz-phänomenologisches Philosophie­ ren kann selbstverständlich auf Vorstellungen aus der Philosophieauch Literatur- und Kunst-Geschichte (auch zustimmend) verweisen, und tut es auch, nicht aber als phänomenologische Reflexion, darauf bauen. – Zwei mögliche Fehldeutungen, Verengungen oder Missver­ ständnisse scheinen hier auf. Sie verweisen aufeinander. Auch hier genügen fürs erste einige wenige Anmerkungen. Das verweist, das nur am Rande, nicht zuletzt auf die ganz und gar nicht eindeutige Herkunft neuzeitlicher Philosophie. Eben das neuzeitliche Vernunft­ verständnis und (zumeist vergessen) der dazugehörige Kontrast, der Gegen-Begriff der (im weitesten Sinne) ›Irrationalität‹.64 – Wenden wir es für uns konstruktiv. Und zwar gelesen als Herausforderung, die unser existenz-phänomenologisches Philosophieren von Anfang an, mit im Blick zu halten habe. Ausrichten wird unsere Reflexionen vor allem, dass eine enge, oder abwertende Definition von ›Irrationa­ Zurecht verweist Otto F. Bollnow auf das Problematische ›lebensphilosophischer Irrationalität‹. »Es ist eine gewisse Unbestimmtheit in ihrem ganzen Weltbild. Die Bevorzugung der ›pathischen‹ Seiten des menschlichen Lebens wirkt sich in der Nei­ gung zu einem bloßen Sich-treiben-lassen und in der Vernachlässigung einer bewusst verantwortlichen Lebensgestaltung aus. (…). Um diesen Gefahren zu entgehen, wird es allgemein darauf ankommen, gegenüber den Übertreibungen des Irrationalismus die notwendige Funktion der Vernunft und des Verstandes im menschlichen Leben wieder sichtbar zu machen.« (Die Lebensphilosophie. Berlin. Göttingen. Heidelberg 1958. S 142) 64 Als eine erste Orientierung Heinz Heimsoeth. Die sechs großen Themen der abendländischen Metaphysik und ihr Ausgang im Mittelalter. Darmstadt 19583 63

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lität‹, die phänomenologische Intention, die Reflexion der Reflexio­ nen unseres Da-und-So-Seins, nicht erreicht. Nicht erreichen kann! (Schau einfach hin und deinem Denken selbst zu.) Eines scheint für das Denken der Gegenwart als grundsätzlich gesetzt. Man könne, ja müsse jedes Bedenken gegen die Vorstellungen wissenschaftlich-ver­ nünftiger Aufklärung von Anfang an entschieden zurückweisen. Als fortschrittshemmend; inhuman; vor allem auch praktisch gefährlich. Defätistisch für das im Grunde optimistische ›Projekt Moderne‹! – Also, schon durch, da und dort vielleicht auch nur implizit, diffa­ mierend begriffene Einordnung: ›irrational‹, werde jeder anderen Perspektive, grundsätzlich, jede Glaubwürdigkeit abgesprochen. Als ob es genüge, ohne weiteres eine wertende Unterscheidung, eine sicher gesetzte Dichotomie (›Licht‹ oder ›Dunkelheit‹) einzuführen, als gültig zu behaupten.65 Eine, wie man vermeint, klare Grenze zwischen ›der Vernunft‹ und ›dem Irrationalen‹ ziehen zu können. Einem Wünschenswerten, Konstruktiven und als Widerspruch, Rück­ ständigem, sogar moralisch Verwerflichem. – Es stünde also geradezu a priori fest, was ›gutes‹ Mensch-sein ausmache; was Mensch mit Blick auf sein ›Sein‹, brauche, zu brauchen habe; von woher sein Wesen begriffen werden könne. Von dort her könne auch von vorne herein (das Recht des Guten) bestimmt werden, was hier und jetzt überhaupt noch ernsthaft als diskussionsfähig und -würdig gelten könne.66 Bist du nicht für neuzeitliche Aufklärung, arbeitest du nicht mit an diesem weltumspannenden Projekt wissenschaftlich-vernünf­ tiger Moderne, – denkst und handelst du gegen die Interessen der Menschheit. Kurzum, und frei nach Luk. 11,14: ›wer nicht für uns ist, ist gegen uns! Wer nicht mit uns sammelt, der zerstreut‹. – 65 Eine intensive Auseinandersetzung finden wir in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Beispielsweise (und sogar vor allem) bei Karl Mannheim: substantielle Rationalität sei zu begreifen als »Denkakt, der in einer gegebenen Situation Einsicht in den Zusammenhang der Ereignisse vermittelt. Alle falschen Denkakte oder alles was überhaupt kein Denkakt ist (wie z. B. unbewusste oder bewusste Triebe, Impulse, Wünsche und Gefühle) bezeichnen wir dagegen als ›substantiell irrational‹.« (Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus. Darmstadt 1958. S 62) 66 Es werde dabei schon eines vergessen, so Viktor von Weizsäcker (beispielsweise): »Der Gedanke als ein logischer ist wie ein Stelzfuß, der ohne die Tätigkeit des anderen Beines nicht vom Fleck kommt. Es mag eine Überzeugung sein, wenn das Denken als das Resultat von unbewussten Gefühlen (Logophanie) erklärt wird. Es wird wohl eine zeitgebundene Übertreibung sein, wenn diese Abhängigkeit des Denkens, des Verstandes, der Vernunft von Gefühlen behauptet wird. Aber ebenso vorübergehend ist die Autonomie der Vernunft.«

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2.1. Phänomenologische Vorstellung des Irrationalen

Welch ein Missverständnis mit Blick auf unser Philosophie­ ren! Als ob es existenz-phänomenologisch um die ›Zerstörung der Vernunft‹ (Lukács) gehe; damit auch Destruktion der doch unbe­ streitbaren Leistungen der Aufklärung und der rational geordneten, neuzeitlichen Wissenschaften durch erneute Einführung grundloser Irrationalität.67 Man wieder dem (im Übrigen oft zu Unrecht trak­ tierten) ›dunklen Mittelalter‹ das Wort zu reden versuche. Dunkles Geraune anstelle klaren Philosophierens, anstatt fundierten wissen­ schaftlichen Argumentierens. ›Geistersehen‹ also wieder hoffähig machen zu wollen. (Man denke nur an Rudolf Carnaps beißende Sprach-Kritik an Heideggers Philosophieren.) – Existentielle Phäno­ menologie konstruiert gerade umgekehrt ›wirklichkeitsgerechter‹. Und das ist tatsächlich weder Aufklärung noch mythologisches Däm­ merlicht. Kein ›Entweder – Oder‹; Vernunft oder Nicht-Vernunft; wissenschaftliche Rationalität oder irrationale Intuition.68 Du hast dich von vorneherein und endgültig ohne selbst-selbst-zu schauen zu entscheiden! – Was immer man uns also vorzugeben versucht. Wir schauen selbst hin und unserem Hinschauen selbst zu. Schauen hin auf die wirkliche Wirklichkeit unseres (ich mag es gut heißen oder nicht) irritierten So-in-der-Welt-Seins; auf unsere Lebenswelt hier und jetzt. Entfalten existentielle Reflexion der für uns wirklichen Reflexionen. Leisten so philosophische Grundlagen-Forschung für unser So-in-der-Welt-Sein. Das ist tatsächlich geradezu ein, wenn man es so nennen möchte, ›phänomenologischer Positivismus‹. Ein ›Positivismus‹, ohne aber in einen naiven Szientismus zu verfallen. Genauso wenig wie wir uns zu spekulativen Überschwang hinreißen lassen. – Das ist die Perspektive unserer selbstgeleisteten Arbeitsphi­ losophie. Eines Philosophierens, das sich nicht auf ein dogmatisch enges: ›nur von dort her‹, oder ›nur darauf hin‹ einschränken oder, von dieser oder jener Autorität, zwingen lasse. Stattdessen immer wieder an uns selbst die Aufforderung, hinzuschauen auf unser wirkliches und wesentliches Da-und-So-in-der-Welt-Sein. Also, nicht nachlas­ Der ›bittere Rat‹ den Mephistos Fast gibt bleibt uns selbstverständlich im Sinn: ›Verachte nur Vernunft und Wissenschaft/Des Menschen allerhöchste Kraft,/Lass nur im Blend- und Zauberwerken/Dich von dem Lügengeist bestärken,/So habe ich doch schon unbedingt.‹ 68 Es sei – so Karl Mannheim in den Wissenschaften – »eine unglückliche Gewohn­ heit, alles das, was sich nicht messen lässt, in herabsetzender Weise ›intuitiv‹ zu nennen, als ob echte Wahrnehmung nur durch quantitative Messungen möglich ist.« (Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus. Darmstadt1958. S 272) 67

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send: existentielle Reflexion der Reflexionen unsere Erfahrungen mit uns selbst. Erfahrungen, die sich phänomenologisch nicht (schau doch einfach hin!) als deckungsgleich, nicht als identisch mit ›der neuzeit­ lichen Vernunft‹ vorstellten; und anders als die (idealistischen oder positivistischen) ›Philosophen der reinen Vernunft‹ zu wissen mei­ nen, auch nicht von dort her (wie auch immer) wirklich gründlich zu bestimmen sind. Oder allein daraufhin – ›unser menschheitliches Projekt der Aufklärung‹ – ausgerichtet werden dürfen. Denken wir in diesem Zusammenhang – hier gleichsam nur im Vorbeigehen – kurz an eine, nicht nur in der Philosophie, breit diskutierte anthropologi­ sche Perspektive Max Schelers. ›Vernunft‹ fundiere sich doch erst, so fasse ich es für mich zusammen, in und durch, im weitesten Sinne, ›irrationale Potenzen‹. Diese stellten sich, im Allgemeinen, beispiels­ weise, als ›Interessen‹, als ›Motivationen‹, ›Ideen‹, kraftvoll vor, und ließen sich als eigene Gestalt, aber nicht in pure Vernunft-Zusam­ menhänge einordnen; als (oder durch) ›reine‹ Vernunft ›assimilieren‹. Also von dort her umfassend ›rational‹ bestimmen; wissenschaftlich festlegen, philosophisch begründen. Dass das die anthropologischexistentielle Bedeutung, auch das je eigene Leistungsvermögen, der Vernunft nicht mindert, sondern geradezu herausfordert, sogar erst ermöglicht, stellt Scheler im Besonderen heraus.69 –-

2.2. Existentielles Philosophieren Eines sollte uns von Anfang an zu denken geben. Und das wird unsere Reflexionen ausrichten.70 Zusammengefasst: Aufklärung hat die existentiellen Fragen des neuzeitlichen Menschen nicht geklärt, vielleicht auch nicht klären, nicht befrieden wollen; vielmehr seine Verzweiflung reflektiert und so verschärft. – In einem scheinen unterschiedlichste philosophische Richtungen nun übereinzukom­ 69 Vielmehr zeige »die Geschichte eine im großen und ganzen zunehmende Ermäch­ tigung der Vernunft, aber eben nur durch und auf Grund einer zunehmenden Aneignung der Ideen und Werte durch die großen triebhaften Gruppentendenzen und Interessenverzahnungen zwischen ihnen. Auch hier müssen wir uns eine weit bescheidenere Auffassung von der Bedeutung des menschlichen Geistes und Willens auf den Gang geschichtlicher Dinge zu eigen machen.« (Max Scheler. (201018. S 50) 70 Dazu auch Ernst Robert Curtius. »Es gehört zum guten Ton des intellektuellen Europas, von Tod und Ewigkeit nicht zu sprechen. Aber ist diese Verdrängung nicht mitschuldig an vielen Nöten unter denen wir leiden.«? (1984). S 240

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2.2. Existentielles Philosophieren

men. Philosophische Reflexion verändere radikal die Perspektive auf ›Welt‹ und ›Selbst‹. Philosophieren sei also in jedem Fall eine Leistung, die den so Reflektierenden aus der Naivität seines unmit­ telbaren Welt- und Selbstbezug herauszutreten lasse. Dies geradezu erzwinge. Wo dies nicht geschieht, werde nicht wirklich philosophiert. Phänomenologisch vorgestellt wird es, als eigenartig-existentielle Einstellung. Eine Leistung, die ausdrücklich als unsere Möglichkeit in den Blick zu rücken, und selbst wiederum zu reflektieren ist. Und zwar ausdrücklich als Gestalt und Gestaltung wesentlich wirklichen Da-und-So-Sein. Kurzum, als wirkliche Denkhandlungen wirklicher Menschen. Leibhaftes, sozial gebundenes, biographisch und histo­ risch geordnetes So-in-der-Welt-Sein. – Wahr ist, dass »prinzipi­ ell nicht einem Gegenstand zu begegnen« sei, der nicht auf diese oder jene »Bewusstseinsgestaltungen« bezogen werden könne (und müsse)71. Diese Perspektive – in der alle Geltungstheorien (cum grano salis) übereinstimmen – setzt sich aber nicht ›weit‹, nicht ›radikal‹ genug. Bewusstseinsakte und selbstverständlich auch die geltungstheoretischen reflexiven Reflexionen dieser Vorstellungen, verweisen immer, wirklich immer auf wirkliches Da-und-So-Sein. – Das engt Philosophieren nun nicht ein; sondern weitet ihren Forschungshorizont. Philosophieren verwirklicht sich so ausdrücklich als ›existentielle Grundlagen-Forschung‹;72 ein Schauen-Schauen auf uns und unser In-der-Welt-Sein. Im phänomenologischem Blick aber nicht mehr nur die Form, die geltungstheoretisch ideale Leistung der Reflexion, der ›reine‹ reflexive Akt (das ›Aktgefüge‹);73 sondern auch die existentielle, irritierte und perturbierte wirkliche Wirklichkeit des So-Reflektierenden selbst. So stellt sich also gerade ›die Philosophie‹ vor als ›Dokument‹ eines ›sich-im-Grunde-nicht-mehr-auskennen‹. Philosophische Reflexionen leisten Wirklichkeit und Möglichkeit des wirklichen Menschen als unser Da-und-So-in-der-Welt-Sein. Gera­ deso ›er-fährt‹ der Reflektierende nun den letztmöglichen Horizont seines Welt- und Selbst-Verständnisses. Ein Selbst-Sein, das sich reflektieren, aber nicht mehr weiter ›sinnvoll hinterdenken‹ könne. Das ist, anders als es neuzeitliche Philosophie der Vernunft vorstellt, unentwegt ein ›Bewegen‹ und ›Bewegt-werden‹. – Nie ist es so, Hua. XXVIII. S 191 Dazu meine Arbeit. Bewusstsein und Existenz. Eine phänomenologische Studie. Berlin 2012. 73 In bislang unerreichter Dichte bei Hans Wagner: Philosophie und Reflexion. München. Basel 19672 71

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als stünde Philosophierender als selbstbewusst Beobachtender, Han­ delnder, Reflektierender, auf einem, von Anfang an ›sicher-unbeding­ ten Grund‹. Einem fraglos gewissen ›Außerhalb‹ von der fraglichen Welt. – Dass zeichnet auch den Unterschied zu den ›auf Objektivität‹ sich ausrichtenden Forschungsakten der Wissenschaften; den, wie man meint, selbstvergessenen Leistungen der, ›Wissenschaft-trei­ benden‹. – Auffällig ist nun und darf im Weiteren nicht übergangen werden, dass phänomenologische Reflexion der Reflexionen unseres Da-undSo-Seins, ›repulsiv‹ immer auch ein Licht auf das Philosophieren und uns, die Philosophierenden, selbst wirft. Und das von Beginn und Anfang an. – Zunächst einmal durchaus als problematische Vorstellung. (Man denke nur an den ›Psychologismus‹). Ein dichter historischer und systematischer Verweisungszusammenhang; der insgesamt darauf aufmerksam zu machen scheint, dass Philosophie­ ren, dass Philosophie, auch nach zweieinhalbtausend Jahren, höchst unsicher in ein unbestimmt Offenes verweist. Vor Augen als ein nie wirklich abgegoltener Auftrag; eine bleibende Herausforderung. Immer gefährdet durch Subjektivismus, Relativismus, Psychologis­ mus, und (geradezu folgerichtig) Skeptizismus; oder umgekehrt, grundlos metaphysische Spekulationen. Man mag es, beispielsweise dann, ›das Sein‹, ›das Absolute‹, ›Gott‹, nennen. Es bleibt, und darauf achten wir, ein ›Horizont‹, der sich immer wieder entzieht; und der (eigenartig genug) den reflektierenden Menschen selbst, für sich selbst, in den Blick rückt. Als irritiert und perturbiert. – Kurzum, Philosophieren nun gewendet (und wiederum folgerichtig) als wort­ wörtlich existentielle Herausforderung. Eine nach wie vor existentiell wirkliche Beunruhigung. Eine Beunruhigung, die das heutige, sich ›wissenschaftlich‹ zu ordnen versuchende Philosophieren‘, unbeachtet liegen lässt. Und wenn es dem überhaupt noch Aufmerksamkeit schenkt, es polemisch als ›unwissenschaftlich-irrationale‹ Reminis­ zenz an vorwissenschaftliche (mythologische) Zeiten abtut. Für heu­ tiges auf Vernunft, auf Wissenschaft hin abgestelltes Philosophieren wird es als endgültig erledigt markiert. Mag Kunst, Literatur, oder Theologie sich damit beschäftigen.74 – 74 Sehr entschieden bei Hans Reichenbach. Die wissenschaftliche Philosophie bestehe darauf, »dass die Frage nach der Wahrheit in der Philosophie im gleichen Sinn gestellt werden muss, wie in den Wissenschaften. Sie macht nicht den Anspruch darauf, die absolute Wahrheit zu besitzen, deren Existenz sie für die empirische

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2.2. Existentielles Philosophieren

Man mag dazu sich zunächst stellen, wie man es seiner Welt­ anschauung nach für richtig halte. Eines kann aber in keinem Fall übersehen, kann nicht geleugnet werden. Dass Mensch nach wie vor fortfährt, nach sich selbst zu fragen. Offensichtlich, so scheint es, ein fragen müssen. Wahrhaftig, wie man sagt: nach Gott, der Welt und sich selbst. Nicht nur philosophisch beredt! Wortwörtlich eine ›Reflexion‹, die sich, was immer auch der Anlass war, nicht (nie) mehr wirklich zu beruhigen scheine. – Wer möchte das mit Blick auf sich selbst, und, nicht zu vergessen, der Kultur- und im besonderen Religions-Geschichte‘, ernsthaft leugnen. – Philosophisch werden diese Reflexionen systematisch geordnet und weiter als Reflexion der Reflexionen entfaltet und (wie eigenartig) sogar intensiviert. Und nicht mehr nur nebenbei und gelegentlich. Etwa, wie man sagt, wenn ›unerwartete Schicksalsschläge‹ es erzwingen. (›Warum ich‹?) Sondern philosophisch so zu reflektieren wird für uns, gerade hier und jetzt, ein Erstes und Grundlegendes. Wenn man so sagen will: Vollendung unserer Tragik.75 – Dabei rückt phänomenologisch in den Blick, nicht nur dieses nach-sich-fragen-müssen; und dieses zumin­ dest hintergründig (mit) erlebte, unbedingte sollen der Reflexion, als existentiell bedeutsam. Dem nun gleich, und oft vergessen, das sich so fragen-können und dürfen. Fluch oder Segen? Lesen wir es phänome­ nologisch schlicht als ein uns unbedingt zugehöriges Potential. – Das ist mit Blick auf die Geschichte, alles andere als selbstverständlich. Hier verweisen Kultur-, Gesellschafts- und politische Geschichte auf­ einander. Überhaupt wird diesem unserem In-der-Welt-Sein-können und -dürfen, philosophisch zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt.76 Wissenschaft bestreitet. Sofern sie sich auf den augenblicklichen Zustand unserer Erkenntnis bezieht und die Theorie dieser Erkenntnis entwickelt, ist die neue Philo­ sophie selbst empirisch und mit empirischer Wahrheit zufrieden.« (Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie. Braunschweig 1977. S 445) 75 »Die Welt des Epos beantwortet die Frage: wie kann das Leben wesenhaft werden? Aber zur Frage gereift ist die Antwort erst, wenn die Substanz schon aus weiter Ferne lockt. (…) So wie die sich ins Leben entladende, lebengebärende Wirklichkeit des Wesens den Verlust seiner reinen Lebensimmanenz verrät, so wird dieser problemati­ sche Untergrund der Tragödie erst in der Philosophie sichtbar und zum Problem (…).« (Georg Lukács. Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen großer Epik. (1920) Bielefeld 2009. S 26) 76 Dazu Hans Wagner. »Unter bestimmten Bedingungen kann sich das Subjekt, statt sich als geworfen zu betrachten, mit ebensoviel Recht als sich geschenkt betrachten. Die Grundwahrheit ist offenbar dieselbe im einen wie im anderen Fall: dass das Subjekt da ist, ohne dafür der Grund zu sein. Ist es dort ein auferlegtes Seinmüssen, so ist es

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2. Existentielle Anthropologie

Dieses sich mit sich selbst (wer oder was bin ich denn wirklich wirklich? was bestimmt den Wert meines In-der-Welt-Seins?) und seiner Welt (warum so und nicht anders? warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts?) im Grunde nicht auszukennen, umreißt – zunächst sehr vage – die existentielle Grund-Frage unseres Da-undSo-Seins. – Und darüber hinaus lasse sich nun so radikal-reflektiert (zunächst einmal) ›die Un-Ordnungen‹ unseres Da-und-So-Seins entdecken.77 Eine ›umfangreiche‹ (sprechen wir nicht von ›tiefe‹) Grund-Frage also, die das Philosophieren nicht nur unter anderem zu reflektieren hat. Sondern sie bestimmt und durchdringt Philoso­ phie und Philosophieren ganz und gar. Sie ist, wenn man so will, der, jedes Philosophieren begleitende und letztendlich auch rechtferti­ gende ›Kontext‹. Gleich ob es sich erkenntnistheoretisch, ontologisch, metaphysisch begreift; ob es sich mit Religion, Kunst, Gesellschaft, Geschichte oder den Wissenschaften beschäftigt. – Diese (möglicher­ weise auch unspezifische) Beunruhigung, die uns mit Blick auf unsere existentielle Lage, unser fragil erlebtes So-in-der-Welt-Sein erfasst hat, verschärft sich sogar, wenn wir (beispielsweise) die Antworten aus Psychologie, Medizin, Soziologie und Theologie, (schon) auf unser existentielles Fragen-fragen, vorstellen. (Es gebe hier vernünf­ tigerweise ›nichts‹ zu fragen. Ein durchschnittlich gesunder Mensch sei seinem Leben zugewandt.) Wir werden an uns selbst irre; verzwei­ feln an uns selbst.78 – Ob also dieses sich So-Fragen nicht doch pathologische Züge aufweise; und der, sich diesem Fragen (diesem, wie man sagt: ›leeren Grübeln‹) Aussetzende nicht einer Therapie bedürfe? (›Grübelwahn‹). Es bestehe hier und jetzt doch wahrlich hier ein geschenktes Seindürfen.« (Philosophie und Reflexion. München/Basel 19672. S 354) 77 Mir scheint, die ›Diagnose‹, die ›die Philosophie‹ Boethius vorstellt, auch für uns noch zutreffend: »Ich kenne nun auch die andere und größere Ursache deiner Krankheit, (…), du weißt nicht mehr, was du selber bist.« (Trost der Philosophie. Herausgegeben und übersetzt von Ernst Gegenschatz und Olof Gigon. 20022. S 24) 78 Vgl. dazu (den heute fast vergessenen) Teilhard de Chardin. Es stehe außer Frage, »dass eine Urform der menschlichen Angst an die Erscheinung des Ichbewusstseins gebunden und daher ebenso als ist wie die Menschheit. Doch ebensowenig zweifelhaft scheint mir die Tatsache, dass die Menschen von heute infolge der Wirkung eines Bewusstseins, das sich immer stärker sozialisiert, ganz besonders zur Unruhe neigen – mehr als jemals in der Geschichte. (…) Doch wir sind noch weit davon entfernt, die Wurzel dieses Angstzustandes genau zu erkennen. Irgendetwas bedroht uns, irgend­ etwas fehlt uns mehr denn je – und dennoch können wir dieses Etwas nicht benennen.« (Der Mensch im Kosmos. (1955) München 1994. S 231 f.)

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2.2. Existentielles Philosophieren

kein Anlass mehr sein Selbst-Sein und Welt-Haben so grundsätzlich in-Frage-zu-stellen. Haben denn die ›modernen‹ Wissenschaften nicht auch uns selbst, unsere Lebenswelt, rational vermessen und vernünftig geordnet? Wir sind gut eingefaltet ›von der Wiege bis zur Bahre‹. Selbstverständlich, und um es auch hier nicht zu vergessen, einschließlich des aufgeklärten Philosophierens, der philosophischen Sprache, des vernünftig Philosophierenden. – Ein Versprechen sei daraus zu entnehmen, zumindest für die Zukunft. Man denke nur an den ›grundsätzlichen Optimismus‹ der Philosophen des Wiener- und Berliner Kreises. (André Malraux, das nur am Rande, aber titelt dage­ gen ein kurzes Kapitel seiner vielgelesenen: ›Psychologie der Kunst. Das imaginäre Museum.‹ mit, ›Gegen den Optimismus des Abend­ landes. – Der ganze Mensch wird in Frage gestellt‹.) – Diese uns ange­ botenen Vorstellungen kurz und knapp so zusammengefasst. In jedem Falle könne gesuchte umfassende Perspektive auf uns selbst, und die Ordnung unseres In-der-Welt-Seins, gerechtfertigt werden, nur als eine ›wissenschaftlich-vernünftige‹.79 Welche der Wissenschaften diesen Anspruch nun wirklich wirklich erfüllen könne, darüber dürfe gestritten werden; darüber herrsche ein kreativer Wettbewerb; eine wissenschaftlich selbst produktive Uneinigkeit.80 Darüber mag man also streiten; selbstverständlich aber ›wissenschaftlich‹ und nicht philosophisch sich damit auseinandersetzen. Das sei ganz in der Ordnung wissenschaftlichen Arbeitens und Fortschreitens. – Ist damit nun wirklich alles klar und einsichtig für uns? ›Die auf­ geklärte Vernunft habe gesprochen, diese unsere ›Sache‹ ist entschie­ 79 Dazu (beispielsweise) Richard von Mises. »Der bisherige Verlauf der Entwicklung menschlicher Erkenntnis lässt eine Tendenz zu immer deutlicherer und entschiede­ nerer Scheidung zwischen religiös-metaphysischer und wissenschaftlicher Gedanken­ gänge hervortreten; der Anwendungs- und Geltungsbereich der letzteren dehnt sich auf Kosten der ersteren mehr und mehr aus. In der Fortwirkung dieser Tendenz kann man ein Kennzeichen der abendländischen Kulturentwicklung erkennen, (…).« (Kleines Lehrbuch des Positivismus. (1939) Frankfurt/M 1990. S 500) 80 Für Karl Mannheim (beispielsweise) könne es nur die Soziologie sein. »Die Aufgaben, vor die sich der menschliche Geist auf den verschiedenen Gebieten gestellt sieht, hängen im Grunde miteinander zusammen. Dieser Zusammenhang ist jedoch nur dem Soziologen sichtbar. Die einzelnen Psychologen, Pädagogen und Philosophen haben sich so sehr auf ihre besonderen Aufgaben eingestellt und sind so sehr mit den Schwierigkeiten und den Einzelheiten ihres Gebiets beschäftigt, dass sie gar nicht sehen können, warum sich im Lauf der Geschichte gerade diese und keine anderen Aufgaben stellen konnten.« (Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbruchs. Darmstadt 1958. S 243)

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den‘! Den Wissenschaften sei Dank! – Schauen wir selbst genauer hin. Da ist auf den ersten Blick tatsächlich nichts wirklich Rätselhaftes.81 Wohl aber wenn wir etwas deutlicher auf uns selbst aufmerken. Dieses sich selbst-so-fragen (können; sollen; und müssen), immer wieder und immer wieder von Anfang an, scheint deswegen heraus­ fordernd, wuchtig, uns existentiell bedrängend, gerade weil keine wissenschaftlich-vernünftige Antwort wirklich zu genügen scheint. Es ist sogar, als ob diese sehr komplexen Antworten (›auf alles und jedes‹) mit unseren, im Grunde, existentiell schlichten Fragen, nichts zu tun hätten. Jede Antwort, jede Erklärung unserer Irritation, die Wissenschaft, auch Theologie oder wissenschaftliche Philosophie vorstellen, findet vor sich weiterhin die wirklich wirkliche Möglichkeit existentieller Beunruhigung. Die bleibenden vor allem praktischen Grund-Fragen unseres Daseins. Wie ein Schatten, der uns unlösbar zu begleiten scheint. – Gewiss, erst mit dem vernünftigen Menschen kommt ›Wahrheit‹, ›Geltung‹, in einer gewissen Weise, auch ›Sinn‹ in die ›Welt‹; aber auch ›Wahnsinn‹; ›Irrsinn‹; Verzweiflung und Angst. Ich denke dabei, an nun überhaupt sich selbst und seine Lagen ›auf den Begriff bringen‹ zu können. Auch das verweist nicht weniger auf unser gespanntes Da-und-So-Sein. Und fordert philosophisch praktisch und theoretisch heraus. Es stellt uns ganz sicher auch nicht ruhig, sie als ›Schein-Fragen‹ zu markieren; und wissenschaftlich und philosophisch als ›sinnlos‹, leer, praktisch nutzlos, als (so sagt man) ›metaphysisch-irrational‹ beiseiteschieben zu wollen. An auf­ geklärte Vernunft des neuzeitlichen Menschen zu appellieren. ›Sei ohne Sorge‹! ›Bleib mit deinem Handeln und Denken im Horizont unserer ›allgemeinen‹ Vernunft‘! – Wir erfahren uns aber selbst, 81 Dazu beispielsweise: Siegfried Kracauer. »Infolge der Überspannung des theo­ retischen Denkens sind wir dieser Wirklichkeit, die von leibhaftigen Dingen und Menschen erfüllt ist und deshalb konkret gesehen zu werden verlangt, in einem entsetzenerregenden Maße ferngerückt.« (1977). S 118; oder: Viktor von Weizsäcker. »Zuerst sieht es für den Verstand so aus, als ob es eine Lehre vom Menschen gebe, die man als Anthropologie bezeichnen kann. Es sieht auch so aus, als ob es eine allen Menschen gemeinsame Struktur gebe. (…). Dann aber stellt sich heraus, dass solche Strukturen auch unzutreffend sein können, indem sich Menschen finden, die solche Strukturen mit guten Gründen für sich ablehnen oder vermissen lassen.« (19672) S 265; oder auch: Günter Eich. »Das Verzwickte unserer Situation ist es, dass die Antworten da sind, bevor die Fragen gestellt werden, ja, dass viele uns wohlgesinnten Leute meinen, da es so gute Antworten gäbe, solle man auf die Fragen überhaupt verzichten.« (Darmstädter Rede. Bei der Entgegennahme des Georg Büchner Preises. In: Akzente 1960. S 41)

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2.2. Existentielles Philosophieren

was immer man uns vorrechnet, mit unserem wirklichen In-der-WeltSein, nach wie vor, als im Grunde irritiert und perurbiert. – Man mag es drehen und wenden. Es ist so, weil wir wirklich so sind. Diese existentiellen Erfahrungen konstituieren immer noch, immer wieder, unser So-in-der-Welt-Sein. Gleich wie wir uns dazu stellen mögen, und welche vernünftigen Vorlagen die Wissenschaften bieten. Sie werden beispielsweise als je eigene Perspektiven, persönliche Haltungen (nur kein Aufhebens davon machen); als vielleicht auch nur verworren präsente Beunruhigung, (bloß eine vorübergehende Stimmung); oder aber als wirkliche bedrückend Lagen; so oder so, sie werden alltäglich gelebt; sind und bleiben praktisch virulent. Wer könnte sich davon ausnehmen? Es braucht, soviel scheint offensichtlich, auch philosophisch einen radikalen Perspektivwechsel. Zumindest also das. Vielleicht finden wir gerade so ›Antworten‹ auf unsere bedrängenden existen­ tiellen Fragen? Vielleicht sind aber schon phänomenologische Ent­ faltung und Reflexion (als andauernde Akte) dieser existentiellen Grund-Frage, die hier philosophisch letztmögliche Leistung. Auch das kann nicht mehr ausgeschlossen werden. Ob es also überhaupt uns zufriedenstellende Antworten gebe, geben könne, bleibt offen. Aber auch das wäre eine Antwort. – Der Satz ›Philosophie mache nichts leichter‹, so scheint es, bewahrheitet sich. Es steht nicht einmal fest, was hier überhaupt als philosophische Antwort gelten könne.

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3. Reflexion des Welt- und Selbstverständnis.

›Und da gehen die Menschen hin und bestaunen die Gipfel der Berge, die ungeheureren Fluten des Meeres, die breiten Wasserfälle der Flüsse, die Größe des Ozeans und die Bahnen der Sterne, aber sie vergessen sich selbst.‹82 (Augustinus)

Zumindest eines wird sich deutlicher vorstellen lassen; wird, nach und nach, auch klarer in den phänomenologischen Blick rücken. Gleich wie immer das Ergebnis durch unterschiedlich philosophi­ sches Selbstverständnis, beispielsweise, erkenntnistheoretisch, onto­ logisch, anthropologisch, gewichtet werden könne. Wir selbst, als existentiell Philosophierende, werden mit diesem unserem Welt- und Selbstverständnis endlich endlich sichtbar. Und zwar, als ›gespannt‹ zwischen Da-und-So-Sein; wir, die wir uns, irritiert und perturbiert, radikal herausgefordert erleben; sich gerade so, als lebend und erle­ bend, aber nun auch reflektieren können, sollen und müssen. Die großen idealistischen Träume der Philosophie sind ausgeträumt.

3.1. Ein existenz-phänomenologischer Weg Phänomenologisches Philosophieren entfaltet sich als ›miteinanderphilosophieren‹. Das ist ›horizontal‹ und ›vertikal‹ ausgerichtetes Philosophieren. Genauso, Schritt für Schritt gemeinsam, auch in Spannung und Widerspruch, gilt es nun unsere Reflexionen ›radikal weiter zu treiben‹. Zu Philosophieren innerhalb einer Gemeinschaft der Philosophierenden. Das kann gar nicht anders sein.83 Da wir auch Bekenntnisse (Confesssiones). Zehntes Buch. (Hier) Stuttgart 1989. S 261 Bei Husserl so: »Das Uns oder Wir erstreckt sich von mir aus zu den gegenwärti­ gen und vergangenen und künftigen Anderen, den für mich ›gegenwärtigen‹ usw., und unter dem Titel der vergangenen zu meinen Vorfahren und den unbekannten Vorfahren meiner Vorfahren in der endlosen Generationskette mit all den ihren Personalitäten zugehörigen Horizonten.« (Hus. XV. S 61) 82

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für uns die existentiellen Herausforderungen phänomenologischer reflexiver Reflexion nicht beiseitelegen können. Der Anfang phäno­ menologischen Philosophierens, könne nie ein für alle Mal als gesi­ chert gelten. Auch das Philosophieren, das uns aus der Vergangenheit zukomme, ist Gestaltung unserer systematischen Reflexionen. Wie immer wir zu den Leistungen, dieses oder jenes Philosophen, die­ ser oder jener philosophischen Ausrichtung, auch stehen. Immer sind wir Philosophierende als wesentlich wirkliches, als endliches So-in-der-Welt-Sein, mit unseren Erfahrungen, vor. Und so genügt es auch nicht, phänomenologisches Philosophieren, beispielsweise, als wesentlich ›sachbezogen‹ (›zu den Sachen selbst‹) zusammenzu­ fassen. Man wird fragen, und das zurecht, was denn ›die Sache‹ sei, um die sich phänomenologisches Philosophieren da im Grunde mühe? Auf die wir uns auszurichten hätten? Die unser Philosophieren verpflichten solle? – Das Erste für uns ist aufzumerken und sich darauf ausdrücklich einzulassen, dass ich selbst es bin, der Philosophiert. Sich selbst als gedrängt erlebt, (sich) radikal zu reflektieren. Und ich bin-es-wirklich auch selbst, der diese Reflexionen, so scheint es tatsächlich, auch für sich selbst nur leisten könne. Es dafür auch nicht hinreiche, die Reflexionen anderer lediglich (irgendwie) ›deskriptiv‹ oder ›herme­ neutisch‹ aufgearbeitet, nachzuvollziehen‘. – Lassen wir uns darauf systematisch ein, wird einsichtig eine (hoffentlich konstruktive) Spannung zu Husserls transzendentaler Phänomenologie. Es sind ja nicht nur unterschiedliche Wege. Sondern stellt vor, eine, so mag es zunächst scheinen, grundsätzlich unterschiedliche Intention und Fundierung des Philosophierens, der Philosophie. Für Husserl selbst wäre existentielle Phänomenologie grundsätzlich ein verhängnisvol­ ler Irrweg.84 Die Alternative scheint also zu sein: transzendentale oder existentielle Phänomenologie. Nun etwas allgemeiner gefasst: Mensch finde sich immer noch vor in und mit einer Welt, die Rätsel aufgibt. Das sich so entfaltende ›neugierige‹ Menschsein dabei selbst, wissenschaftliche Theorien hin Schon Ludwig Landgrebe macht aber darauf aufmerksam: Husserls »Reduktion auf das reine Bewusstsein ist de facto Reduktion auf das Bewusstsein je meiner als des einsamen Ich, des Solus ipse, und zwar auf mich selbst, der ich faktisch bin in meiner geschichtlichen Lage. (…). Diese Faktizität meines Daseins als dieses Menschen in seiner geschichtlichen Situation wird einfach hingenommen und nicht weiterbefragt;“ (Philosophie der Gegenwart. Berlin 1957. S 35) 84

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3.1. Ein existenz-phänomenologischer Weg

oder her, einbegriffen. Schon allein, dass wir uns überhaupt vorfinden, und so vorfinden wie wir uns vorfinden. Beispielsweise, als Natur, in der Geschichte, mit Lebenswelt, im Mit- und Gegeneinander. Und weiter, mit Möglichkeiten, sich selbst theoretisch und praktisch zu orientieren; Leben (dorthin, dahin) auszurichten; und schließlich auch sogar radikal sich zu reflektieren. Warum überhaupt? Gibt mein, unser Leben Sinn? Kurzum, dass wir also so sind wie wir sind; uns so fragen wie wir fragen. Gleich ob man zufriedenstellende Antworten darauf wirklich finde; das stehe (immer wieder) auf einem anderen Blatt. Aber auf welchem? – Eines drängt sich unserer irritierten und perturbierten Reflexion dabei als gewiss auf. Geradezu eine existentielle Selbst-Selbst-Erfahrung. Unsere uns beunruhigenden Vorstellungen können sich nicht mit den von wissenschaftlichen Vernunft gesetzten und legitimierten Mustern des Welt- und SelbstVerständnis (›das ist die Wirklichkeit‹) zufrieden geben. Schon die (vielleicht sagt man ›lächerliche‹) ›Unruhe unseres Herzens‹ lässt es nicht zu. Mögen die wissenschaftlich Aufgeklärten die Nase rümpfen! 85 – Eines vergessen wir nicht. Es ist uns genauso verwehrt. Jeder Versuch sich diesen Fragen unmittelbar (›naiv‹) zuwenden zu wollen, bleibt phänomenologisch ausgeschlossen. – Von Anfang an müsse, daran führe kein Weg vorbei, ein phänomenologisch Philosophieren­ der, auch sich selbst und mit seinen Reflexionen in den Blick rücken. Und dürfe sich dabei geltungstheoretisch nicht auf diese oder jene Wissenschaften, den Vorschriften dieser oder jener philosophischen Tradition (die phänomenologische dabei hier mit eingeschlossen) stützen. Von den, mit diesen und jenen wissenschaftlichen und philo­ sophischen Entwürfen (zumindest) implizit mit-gesetzten Geltungs­ ansprüchen, machen wir keinen Gebrauch. Sie werden sozusagen in eine ›Klammer‹ gesetzt. – Dass das aber nicht bedeute, sich aus der Geschichte der Wissenschaften, der Philosophie, auch der Kultur überhaupt, herausnehmen zu wollen (zu können), braucht keiner langen Ausführungen. Schon als bloße Absicht wäre das ein ganz und gar absurdes Unternehmen! 85 Sind wir mit unserem Selbstverständnis (beispielsweise) über die Reflexionen Pascals hinausgekommen? »Denn, was ist zum Schluss der Mensch in der Natur? Ein Nichts vor dem Unendlichen, ein All gegenüber dem Nichts, eine Mitte zwischen Nichts und all. Unendlich entfernt von dem Begreifen der äußersten Grenzen, sind ihm das Ende aller Dinge und ihre Gründe undurchdringlich verborgen, unlösbares Geheimnis, er ist gleich unfähig, das Nichts zu fassen, aus dem er gehoben, wie das Unendliche, das ihn verschlingt.« (19788. S 43)

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3. Reflexion des Welt- und Selbstverständnis.

3.2. Philosophie, Philosophieren, der Philosophierende Existentielle Fragen bleiben also in den Wissenschaften zumeist unbeachtet. Gelten selbst in der Philosophie der Gegenwart kaum weiterer Rede und Entfaltung wert. Schnee von gestern! Es berühre, so sagt man, nicht die jetzt relevanten gesellschaftlichen sozialen, ökologischen, oder politischen Fragen. Trage nichts zu ihrer Lösung bei. Dieses Philosophieren sei nicht nur zu vage, unwissenschaftlich und praktisch bedeutungslos für die Arbeit am ›Projekt Moderne‹. Sondern müsse sogar als gesellschaftlich problematisch markiert werden. Man denke nur an den sich ausbreitenden ›Irrationalismus‹. – Ein krasses Missverständnis! Diese Fragen verdichten nämlich nicht nur das uns (wie invariant) existentiell bewegende. Sondern geben auch den tatsächlich drängenden erkenntnistheoretischen, ontologi­ schen, auch psychologisch und soziologische relevanten Fragen, letzt­ möglichen Grund. Sogar die wissenschafts- und geltungslogischen Reflexionen fänden erst hier ihre (eben) existentielle Ordnung. – Wir bleiben also auf unserem Weg. Das ist die zunächst schlicht scheinende Form: existentielle Fragen-fragen. Die theoretische, vor allem praktische Bedeutung wird gar nicht verborgen bleiben kön­ nen. – Existentielle Phänomenologie reflektiert Mensch also nicht nur als ideales Für-sich-sein; oder als metaphysisch-theologische Sonderform. Sondern schlicht als wesentlich wirkliches In-der-WeltSein. Diese unsere wesentliche Wirklichkeit darf gerade philosophisch in keinem Fall übersprungen werden. Diese existentielle Reflexion reflektiert dabei als Form eines irritierten und perturbierten Da-undSo-Seins. Aber nicht eingeführt als bedauernswertes Defizit. Als eine zu überwindende Lage. Sondern als unser konstruktives Potential. Dass diese existentielle Befindlichkeit aber nichtsdestoweniger ent­ schieden radikale Reflexionen brauche, vor allem wenn wir sie auf Geltung hin einzurichten versuchen, liegt auf der Hand.86 Philoso­ phierend reflektiert der Philosophierende also, er mag reflektieren was immer er reflektiert, sich selbst. Sein wesentlich wirkliches Leben-leben. Hintergründig ein sollen, können, dürfen! Der Philo­ sophierende wird dabei, gesetzt er reflektiert wirklich entschieden radikal, sich nicht nur allgemein, abstrakt als Mensch-sein auffällig. (Denken wir beispielsweise an den ›Daseins-Begriff‹ Heideggers). 86

Vgl. z. B. Hans Wagner. Die Würde des Menschen. Würzburg 1992

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3.2. Philosophie, Philosophieren, der Philosophierende

Sondern als einer, der, gerade durch diese Gestaltung existentieller Reflexion, sich auf je-seine Gestalt, sein ihm auffälliges Selbstund wirkliches Welt-Verständnis bezieht. Sogar nun so, sich selbst phänomenologisch als ›dieser-eine-da‹ gar nicht mehr ausweichen kann.87 ›Ich bin es wirklich selbst‹, der herausfordernd reflektiert. Das sind phänomenologisch entfaltet konstitutive Leistungen. Und zwar Leistungen wirklichen, also leibhaften, geschichtlichen, kurz, exis­ tentiellen In-der-Welt-Seins. Selbst noch radikal-philosophisches Denken der Gedanken, der Ideen, als unbedingte theoretische Form und praktisch ausgerichtete normative Formung, bleibt Ausdruck unserer wirklich existentiellen Wirklichkeit. Es verweist selbst noch als bloße Geltungsbehauptung, mit ihrer impliziten Geltungsdiffe­ renz, auf unsere wirkliche Zeitlichkeit und wirkliche Geschichtlichkeit. Wir selbst sind also letztendlich der nicht-weiter-hinter-denkbare Horizont für jedes, auch jedes streng geltungstheoretische, Philoso­ phieren. – Hierher gehört nun auch dass dieses Philosophieren selbst, als radikal existentielle Reflexion der Reflexionen, philosophisch nicht selbstverständlich werden darf. Etwa als ein ›schauen auf‹, ›bedenken von diesen oder jenen Sachen‹, ›konstruieren von wissenschaftslo­ gischen Formen‹ (u. ä.), selbst-vergessen, ihre Form ›existentieller Radikalität‹ aus den Augen verliere. Damit die existentielle GrundLage, als wirklich und wesentlich für Reflexion nicht mehr weiter beachte. Als könne man die philosophische Reflexion seines Philo­ sophierens, nach einer knappen Einführung, als ›erledigt‹ zurück­ lassen. Das hieße für Philosophieren, sich endgültig als radikale Perspektive aufzugeben. Und sich als eine Art Fach-Wissenschaft einzuführen; oder mit Blick auf diese oder jene Wissenschaft, (z. B. Psychologie, Soziologie; oder auch: Wissenschaftstheorie; Logik; oder Philosophiegeschichte) zu begrenzen. – Und tatsächlich. Unter der Überschrift: ›Philosophieren‹, beschäftigt man sich gegenwärtig, so scheint es, mit allem und jedem. Von Ökologie, über Politik, Gesell­ schaft, bis zu den Religionen. Das ist zwar in der philosophischen Ordnung der Reflexion der Reflexionen. Bedenklich aber ist es, dass sich diese Reflexionen von denen der Wissenschaften im Grunde nicht mehr wirklich unterscheiden. Philosophieren also als existenti­ Schon bei Montaigne: »Seit mehreren Jahren richte ich alle meine Gedanken nur auf ein Ziel: auf mich selbst; ich registriere und studiere nur, was in mir vorgeht. Wenn ich etwas anderes beobachte, so buche ich es sofort in seinem Verhältnis zu mir oder, besser gesagt, als mein inneres Erlebnis.« (Die Essais. Hier: Leipzig 1953. S 195)

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elle Gestalt, das ist, der Philosophierende sich selbst als irritiertes Da-und-So-Sein, nicht mehr im Blick halte. – Philosophie ist weder ›Universal-Wissen‹; noch könne sie ernst­ haft als Wissenschaft im neuzeitlichen Sinne ›begriffen‹ werden. Philosophie hat sich zu entfalten ausdrücklich als strenges Philoso­ phieren wirklichen So-in-der-Welt-Seins. Nur auf den ersten Blick scheint dies als Tautologie. Philosophieren sich vorzuführen, erfor­ dert, – unsere verworrene Gegenwarts-Lage dabei immer mit im Blick -, die Reflexion der existentiellen Form der Philosophie, des Philosophierens und des Philosophierenden selbst zu reflektieren. Über eines ließe sich dabei ohne weiteres auch mit strengen Gel­ tungstheorien Übereinstimmung herstellen. »Dieses Beisichsein im Modus der Rückkehr aus dem Außersichsein nennen wir Reflexion.«88 ›Philosophische Reflexion‹ also, im weitesten Sinne, als Gestaltung einer ›radikalen Rückkehr zu sich selbst‹. Existentielle Phänomenolo­ gie wäre, das ernst genommen, wirklich eingeführt als ›Erste Philo­ sophie‹. Gestaltung philosophisch letztmöglichen Selbst-Selbst-Ver­ ständnisses. Existenz-phänomenologisch ›Erste Philosophie‹ ist dabei systematisches Philosophieren eines wirklich Philosophierenden. Das ist phänomenologisches Arbeiten als reflexive Reflexion der Reflexionen. Diese radikale Selbst-Gestaltung verweist als exis­ tentielle Reflexion nun auf uns selbst; auf uns, die ›vertikale‹ und ›horizontale‹ Gemeinschaft der Philosophierenden. ›Philosophischer Gedanke‹ bleibt an wirkliches philosophisches Denken – und das auch als Reflexion der Reflexionen – gebunden. Mag er sich auch noch so entschieden auf Absolutes, auf Unendlichkeit, auf Gott, sich auszu­ richten versuchen. Schon die Eigenart, die Form der Reflexion zwingt Philosophierenden, auf sich selbst aufzumerken. Ein Selbstbezug, der Reflexion nicht mehr zur Ruhe kommen lassen kann. Auch dort, wo Reflexion in die Vorstellung einer geltungstheoretisch absoluten Position ›getrieben zu werden scheint‹. Man zu wissen vermeine, dass theoretisch kein ›darüber-hinaus‹, kein fundamentalerer Erkenntnis­ gewinn mehr zu fassen wären. (›Die nun unbedingte Bedingung für alle anderen Möglichkeiten abschließend erreicht wäre‹.) Hier bleibt der Reflektierende selbst, der diese Reflexionen leistet – weil er sich existentiell herausgefordert erlebt – unbedacht. Die, beispielsweise, transzendentalen Theorien der Reflexion schaffen nur abstrakte Ein­ sichten in willkürlich konstruierte ›Vernunft-Räume‹. Was denn, 88

Hans Wagner. (19672) S 36

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3.2. Philosophie, Philosophieren, der Philosophierende

so bleibt zu fragen, dieses ›transzendentales Bewusstsein‹ wirklich sei, von dem behauptet werde, dass es reflektierend zu sich selbst als unbedingt zurückkehren könne; sich so als ›reines, absolutes Bewusstsein‹ entdecke? – Vorerst genügt es sich selbst als streng Philosophierenden, als Reflektierenden der Reflexionen, nicht aus den Augen zu verlieren. – In jedem Falle werde ich dabei nun ›meiner selbst bewusst‹, als wirklich wirkliches So-in-der-Welt-Sein. Das ist ein sich selbst als Selbst-reflektierender, wirklich gewahr werden. Existentielle Phänomenologie denkt sich dabei nicht als Rückzug in private Innerlichkeit. Vielmehr immer vorgestellt und geleistet als wir Philosophierende. Im Miteinander, Gegeneinander, in Freundschaft oder als Streitende, halten wir uns im Horizont unse­ rer möglichen Wirklichkeit. Das sind offensichtlich praktisch nie bloß begrenzte theoretische Akte. Beispielsweise, als ob ›Philosophieren‹ ausschließlich innerhalb einer begrenzten Berufszeit, Berufsordnung, in Ausübung einer wissenschaftlichen Profession, stattfinde. Sondern ›wir wirklich Philosophierenden‹ haben praktisch so unser Leben zu leben. Selbst noch das strenge Denken abstrakter Gedanken als theoretisch möglichst ›reine Form‹, reflektiert, radikal vollbracht, schließlich als Gestaltung unserer existentiellen Verstörung. Dass existentielle Phänomenologie also nicht nur die Gruppe der, sagen wir, ›Berufs-Philosophen‹ umfasse, wird nicht verborgen bleiben.89 Der Philosophierende reflektiert selbst als existentielle Reflexion der Reflexionen; das umfasst selbstverständlich auch als Gestalt und Gestaltung historischer und biographischer Wirklichkeiten. Im Übrigen dabei nicht unähnlich einem ›Kunstschaffenden‹.90 – Ent­ faltet soll hier also werden ein wesentliches Grund-Stück unseres wirklichen Welt- und Selbst-Verständnis; auch als die existentielle Grund-Lage phänomenologischen Philosophierens. Entfaltet entlang einer, so mag es zunächst scheinen, bloß anthropologisch eingeführter Schnittstelle. Schon allein das, so wird man sagen, reiche aus, diese Vorstellungen als ›Psychologismus‹, ›Subjektivismus‹, aus strenger Dazu Ernst Robert Curtius. »Die Philosophie tritt uns als eine Wissenschaft entgegen, die man auf Universitäten studieren kann. Sie ist ein Fach. Sie ist ein Beruf. Es gibt Menschen, die sich dienstlich mit Philosophie beschäftigen, oft ein ganzes Leben lang. Ist das die einzige Existenzform der Philosophie? Haftet ihr nicht etwas Fragwürdiges an?« (1984). S 271 90 Das mag möglicherweise das Vertrauen in philosophische Reflexion nicht gerade festigen. Glaubt man doch da und dort zu wissen, dass Kunst ein ›liederliches Abenteuer‹ sei. (Thomas Mann. Der Tod in Venedig) 89

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3. Reflexion des Welt- und Selbstverständnis.

Phänomenologie endgültig auszugliedern. Wie sollte von dort aus denn Philosophieren geltungssicher gestaltet werden können? Diese existentiellen Reflexionen wäre damit nicht mehr als die Vorstellung einer zeitgeistgebunden Literatur? Ein ›Philosophieren‹ das schon Husserl zumindest klar unterschieden wissen wollte, von strenger phänomenologischen Reflexionen.91 Hinzu komme, und das wird das Misstrauen sicher nicht verringern, noch dieses. In unserem phäno­ menologischen Blick sei, so wird man sagen, ›naiv hingenommen Wirklichkeit‹. Die Wirklichkeit, die als alltäglich vertraute Vorstel­ lung, zuerst und zumeist wie selbstverständlich praktisch und ohne weiteres von uns gelebt werde. Also existentielles Philosophieren, das dränge sich auf, keineswegs erkenntnis- und geltungstheoretisch fragwürdig aufscheine und grundsätzlich beunruhige.92 – Das alles sei, einschließlich der Bedenken Husserls, für das wei­ tere, nicht mehr aus den Augen verloren. Es kann mit Blick auf unser radikales Selbstverständnis auch von uns selbst gar nicht übergangen werden. Das wird noch einsichtiger, wenn wir auf den mit unse­ rem phänomenologischen Philosophieren verbundenen Anspruch zu sprechen kommen. – Verdichten wir unsere weitere Arbeitslinie so. Das Interesse bleibe gerade aus ›sachlichen Gründen‹ existenz-phäno­ menologisch gerichtet. Und geradeso ausdrücklich in der Grund-Ord­ nung phänomenologisch-systematischen Philosophierens. – Da ist vor allem unser methodisches Selbst-Selbst-Schauen. Das ist unser systematisches Arbeiten mit und an der radikal existentiell grundle­ genden reflexiven Reflexion der Reflexionen. Für uns wiederum auch praktisch ein können, sollen, müssen unseres Selbst-Bewusstsein. – Dieses Selbst-Bewusstsein aber, lässt man sich so darauf ein, gibt von Anfang an Rätsel auf. Es lasse sich, so scheint es zunächst, nur abstrakt zum Prinzip unseres Denkens, unserer Gedanken, unse­ res Selbst-Seins, ›destillieren‹. Eine Einsicht, die das nachidealisti­ sche Philosophieren (auf die eine oder andere Art) zurecht kritisch anmerkte. Es gehe also darum, Reflexionen einzuführen, die das »Unsere Erwägung vollzieht sich von der Höhe der wissenschaftlichen Kultur unserer Zeit aus, die eine Zeit zu gewaltigen Mächten objektivierter strenger Wissen­ schaften ist. Für das neuzeitliche Bewusstsein haben sich die Ideen Bildung oder Weltanschauung und Wissenschaft – als praktische Idee verstanden – scharf getrennt, und sie bleiben von nun an ab für alle Ewigkeit getrennt.« (Logos. 323) 92 Dazu auch Paul Natorp (den man sicher nicht in die Lebensphilosophie verorten könne): »Leben aber, Erleben, ist des Beweises so unfähig wie unbedürftig.« (Philoso­ phische Systematik. (Unveränderter Nachdruck) Hamburg 2000. S 8) 91

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3.2. Philosophie, Philosophieren, der Philosophierende

konkret Selbst-Bewusstsein, für den Reflektierenden (für wen oder was denn sonst?) noch einmal ›radikaler‹ in den Blick rückt. – Das ist die Leistung einer ›Phänomenologie des existentiellen Selbst-SelbstBewusstseins‹. Konkret der Entwurf praktischer Theorie oder theore­ tischer Praxis für unser wesentlich wirkliches So-in-der-Welt-Sein. – Wir können diese ›existentiell radikalen Fragen‹ phänomenologisch nicht beiseitelegen; philosophisch nicht auf sich beruhen lassen. Und das schon mit Blick auf uns wirklich leibhaft Philosophierenden. Von dort her entscheidet sich nämlich theoretisch und praktisch, ob Mensch wirklich seinem, ihm wie auch immer präsenten, Da-und-SoSein‚ überhaupt trauen‘ kann. Ob er sich selbst grundsätzlich, seiner Selbst-Wahrnehmung, seinem Welt-Haben, vertrauen könne. Etwa diesem: ›das bin ich‹; ›so bin ich geworden‹; ›das sind und waren meine Wahrnehmungen‹; ›so sind meine Vorstellungen‹; ›das sind die für mich geltenden Werte‹. Man bedenke nur: was es schon für all­ tägliches ›Selbst- und Welt-Verständnis‹ praktisch bedeute, wenn die Fähigkeit abhandenkomme, »über irgendetwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.«93 Wahrnehmungen, Erfahrungen, Vor­ stellungen, Erinnerungen, Handlungen, nicht mehr klar, eindeutig, sich ›selbst‹ (das sind wirklich meine; das war ich; bin ich, werde ich wirklich sein; dafür habe ich die Verantwortung zu übernehmen; u. ä.) zuordnen, zuschreiben zu können. Das ist, sich ›Selbst‹ (reflexiv) nicht mehr als ›zusammenhängender Sinn‹ (dieses ist meine mir zugehörige Biographie) vorstellen, sich nicht mehr als zeitliches In-der-Welt-Sein ›erzählen‹, sich nicht mehr intentional-bezogen wissen; als ›Identität‹ eines wirklich wirklichen In-der-Welt-Seins begreifen, ordnen und einordnen zu können. Darüber haben die phänomenologisch arbeitenden Psychiater wesentliches vorgestellt.94 Dies aber nun ausschließlich als Herausforderung für Psychiatrie und Medizin, Psychologie und Soziologie, zu setzen, greift zu kurz; geht existenz-anthropologisch mit Blick auf ›Geltung‹ fehl. Schon allein weil sogenanntes ›krankes‹ gar nicht so eineindeutig, ein für alle Mal von ›gesundem‹ Welt- und Selbstverständnis‘ unterschieden werden könne. So als gebe es wesentlich unterschiedliche Qualitäten (einen unbedingt-invarianten Maßstab) menschlichen Selbstverständnisses. 93 Hugo von Hofmannsthal. Der Brief des Lord Chandos. (Hier) Frankfurt/M 2002. S 25 94 Dazu auch meine Arbeit: Krank-sein als existentielle Gestalt. Einleitung in eine phänomenologische Anthropologie. Baden-Baden 2018

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3. Reflexion des Welt- und Selbstverständnis.

›Ontologisch‹ fundierte ›ideale‹ Normen für ›rechtmäßiges‹ In-derWelt-Sein. Und man jenseits von willkürlichen Vereinbarungen zwei­ felsfrei ›wissenschaftlich‹ bestimmen, empirisch gesichert festlegen könne, was (ontisch, anthropologisch, existentiell, vielleicht auch theologisch) ein für alle Mal ›der Mensch‹, oder was endgültig als ›Wahnsinn‹, zu markieren und ›auszusondern‹, vielleicht (wie auch immer) zu therapieren wäre. Wer oder was, und aus welchen Grün­ den, bestimmt (sich) die ›gültige‹ Perspektive für unsere wirklich wirklichen Ordnungen? Unser ›gutes‹ Selbst-Sein, unser konstruk­ tives Welt-Haben? – Lassen wir uns noch nicht festlegen. Ein phä­ nomenologisch weites Kriterium für unser Miteinander-sein, nennt Ludwig Binswanger. Immer wieder ›sachlich-konsequenter‹ Umgang mit Sachen und Sachverhalten, mit den Anderen, mit uns selbst.95 Schauen wir also weiter hin und zu. Einer Erfahrung wird in die­ sem Zusammenhang nicht wirklich widersprochen werden können. Wohl kaum ein Mensch heute, wird nicht davon erzählen können. Jedem von uns geschieht es nämlich, zumindest dann und wann, dass sogenannte Selbstverständlichkeiten problematisch werden; ›unser Welt-Haben Probleme mache‹ (daran könne man eigentlich gar nicht zweifeln, aber …); ›etwas‹, wie man sagt, einem aus der Bahn werfe; vielleicht sogar ›man sich plötzlich selbst wie fremd erscheine‹. Vielleicht sogar die abgründige Erfahrung mache, eines ›unfassba­ ren Irrsinns‹. Das sind (schau auf dich selbst) Widerfahrnisse; sind unsere wirklichen Lagen; und sind nicht weniger wirklich, als unsere ›alltägliche‹ als ›normal‹ geführte lebensweltliche Ordnung.96 Wer möchte das ernsthaft bestreiten. Um dies auszumachen, brauche es nun nicht diese oder jene wissenschaftlich-objektive Diagnose; lang­ wierige Untersuchungen; psychologische und soziologische Studien; weithergeholte Erklärungen (das Schicksal; der Fluch der Götter; der Inkonsequenz besage dann »die Unmöglichkeit, die ›Sachen‹ in der unmittelbaren Begegnung sein zu lassen, m. a. W. die Unmöglichkeit eines ungestörten Aufenthaltes bei den Sachen.« (1994). S 335 96 Etwa die, alles andere als außergewöhnliche, ›Erfahrung‹, die Georg Trakl festge­ halten hat. (Verfall) ›Am Abend, wenn die Glocken Frieden läuten,/Folg ich der Vögel wundervollen Flügen,/Die lang geschart, gleich frommen Pilgerzügen,/Ent­ schwinden in den herbstlich klaren Weiten.// Hinwandelnd durch den dämmervollen Garten/Träum ich nach helleren Geschicken/Und fühl der Stunden Weiser kaum mehr rücken./So folg ich über Wolken ihren Fahrten.// Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern./Die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen./Es schwankt der rote Wein an rostigen Gittern,// Indes wie blasser Kinder Todesreigen/Um dunkle Brunnenränder, die verwittern,/Im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen.‹ 95

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3.3. Phänomenologische Besinnung

Sündenfall); auch nicht diese oder jene philosophischen Reflexionen. – So schlicht also; so vertraut; und doch, wie wir glauben, Menschen von alters her als Herausforderung bedrängend: ›was hat das zu bedeuten‹? ›wer bin ich wirklich‹? wer und was bin ich wesentlich?97 – Das fragt also ausdrücklich noch keine metaphysisch abgehobenen Fragen. Und fordert als Antwort ganz und gar nicht spekulativen Konstruktionen.

3.3. Phänomenologische Besinnung Unseren philosophischen Anfang erarbeitet phänomenologische Besinnung.98 Das ist radikal schauen wirklich auf sich, damit einge­ schlossen, auf uns selbst; und, in jedem Fall dann Schauen-schauen.99 Das schließt an, an unbedingt zugehörige Möglichkeiten der Refle­ xion, des Reflektierens; es ist das Potential des Menschseins.100 – Phänomenologisches Philosophieren entfaltet sich als Leistung methodischer Bewegung existentieller Reflexion der Reflexionen. Zunächst jeder, jede für sich selbst mit entschiedenem Blick auf sich selbst. Das ist kein Widerspruch zu einem gemeinsamen Philoso­ Nicht also: »Was für ein Wesen ist der Mensch, sondern ›Wer bin ich‹? Die erste Frage wird Ödipus von der Sphinx gestellt; ihr Rätsel zu lösen. Hat etwas Spannendes und, wenn die Lösung gefunden ist, Heiteres. Wenn aber Ödipus nach Schuldigen sucht, der Theben verseucht, und alle Finger immer unerbittlicher auf ihn deuten, bis er sich die Augen ausreißen muss und in die vollkommene Isolierung verstoßen wird, ist es mit der Heiterkeit vorbei. Es ist kein ›Fall von‹, jeder Rückgriff auf irgendein Gemeinsames (…) ist verwehrt. Er ist mit seinem Schicksal allein. Und in dieser Ein­ samkeit muss er, für sich selbst, nicht für alle, die Frage ›Wer bin ich‹? stellen.« (Hans Urs von Balthasar. Theo-Dramatik. Band I. Prolegomena. Einsiedeln1973. S 454 f.) 98 Vgl. dazu Krisis/510; Beilage XXVIII. Anmerkung 1. Besinnung »ist ein beson­ derer Fall derjenigen Selbstbesinnung, in welcher sich der Mensch als Person auf den letztlichen Sinn seines Daseins zu besinnen sucht. Es muss ein weiterer und engerer Begriff von Selbstbesinnung unterschieden werden: die reine Ichreflexion und Reflexion auf das gesamte Leben des Ich als Ich und die Besinnung im prägnanten Sinn der Rückfrage nach dem Sinn, dem teleologischen Wesen des Ich.« 99 Wobei dieses ›sich-selbst-wahrnehmen‹ hier als ›phänomenologisches Schauen‹ Reflexion, sogar Reflexion der Reflexion mitumfasst. 100 Bei Jean Paul so: ›Besonnenheit‹ »setzt in jedem Grase ein Gleichgewicht und einen Wechselstreit zwischen Tun und Leiden, zwischen Sub- und Objekt voraus. In ihrem gemeinsamen Grade, der den Menschen vom Tier, und den Wachen vom Schla­ fen absondert, fordert sie das Äquilibrieren zwischen Äußerer und innerer Welt;“ (Vorschule der Ästhetik. Werke Band 9. München. Wien 1975. S 56 f.) 97

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3. Reflexion des Welt- und Selbstverständnis.

phieren. Genauso wenig wie eine Rückkehr zu transzendentaler Phä­ nomenologie; zu einem idealistischen Philosophieren. Wie anders sollten wir aber uns, unser So-Da-Sein, unsere Lebenswelt, auch in den Blick rücken können? Nur dadurch, die Voraussetzungen zu schaffen, die Möglichkeiten der Form unserer Reflexionen als Möglichkeiten jeweiligen Menschseins zu reflektieren. – Um hier Fehldeutungen von Beginn an keinen weiteren Raum zu geben, dazu noch diese kurze Anmerkung. Phänomenologisches Schauen als methodische Besinnung, ist nicht gleichzusetzen, den, aus der Tradition der Mystik bekannten, kontemplativen Welt- und Selbst-auflösenden Akten. Oder sonst einer sich irgendwen überlassenden oder irgendwas passiv hingebenden Haltung oder Technik. Phänomenologisch gerichtetes Selbst-Selbst-Schauen ist von Anfang an bewusst konstitutive Leis­ tung existentieller Reflexion der Reflexionen. Es kann im Übrigen weder induktiven noch deduktiven Methoden zugerechnet werden. So kann ›phänomenologischer Weg‹ auch weder durch »idealische Menschenkenntnis«,101 noch durch ›naturalistisch‹ begriffene (z. B. neuro-biologische) Anthropologie ersetzt werden.102 – Dass also phä­ nomenologisches Selbst-Selbst-Schauen nicht in die Nähe mystischer, spiritueller Absichten, Absichten, gerückt werden dürfe, sollte damit keiner weiteren Ausführung mehr bedürfen. – Um noch kurz bei weiteren Missverständnissen zu bleiben. Auch diese Fehldeutung gehört hierher und braucht unsere Aufmerksamkeit. Existentielles Philosophieren führe sich ein, so ein möglicher Vorwurf, als ›ahisto­ risches Philosophieren‹. Noch dazu wenn es sich ausdrücklich phä­ nomenologisch grundlegt. Als versuchten wir ernsthaft existentielle Reflexionen ohne Besinnung auf Geschichte und Geschichtlichkeit des Menschen. Eine Deutung vielleicht auch geschuldet der missver­ standenen phänomenologischen Auseinandersetzung mit Historis­ mus und der Einführung der ›Methode der Einklammerung‹. (Dieser Vorwurf wird bekanntlich gegenüber phänomenologischen Philoso­ phieren insgesamt erhoben.) Schauen wir auf uns und unserem Denken zu. – Geschichtlich fundiert sind wir, ob wir es jeweils Vgl. Eduard Spranger. (1972). S 202 Dazu (beispielsweise) Hans Jonas: »Auch nicht die vollständigste äußere Bestandsaufnahme eines Gehirns bis in seine feinsten Strukturen und Funktionswei­ sen hinein ließe das Dabeisein von Bewusstsein ahnen, wüssten wir darum nicht durch eigene innere Erfahrung – eben durch das Bewusstsein selbst.« (Materie, Geist und Schöpfung. Kosmologischer Befund und kosmogonische Vermutung. Frankfurt/M 1988. S 15 f.) 101

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3.3. Phänomenologische Besinnung

wahrhaben oder nicht, schon praktisch mit unseren lebensweltlichen Horizont, unserem wirklichen So-in-der-Welt-Sein. Eingestellt in unsere Geschichte. Ob wir also darauf aufmerken oder nicht. Das bestimmt und ordnet schon unsere Sprache und unser Denken.103 Kurzum, Geschichte ist der uns unabdingbar mitgegebene Horizont. Frei nach Dilthey, was der Mensch sei, erfahre er (erst) mit seiner Geschichte. So ist diese, sich geschichtlich entfaltende Lebens-Welt, für Mensch und sein Mensch-sein gewiss der auch philosophisch nicht weiter sinnvoll hinter-denkbare Horizont für Da-und-So-Sein. Diese wirkliche Wirklichkeit könne nun zwar nicht wissenschaftlich ›tiefer‹ hinter-dacht, wohl aber phänomenologisch existentiell umfas­ sender entfaltet werden. Sie stellt, so reflektiert, die wahrgenommene Bedingung, zu überhaupt radikaler Selbstvergewisserung. Man denke beispielsweise nur an die Reflexion der Sprache; des Sprechens; der Bilder; Symbole; Begriffe; überhaupt der Formen des Denkens, u. ä.104 Vorstellungen dieses ›Horizonts‹ unseres So-in-der-Welt-Sein, innerhalb dem wir uns selbst nun auch philosophisch letztmöglich ›hell‹ werden können. Es darf also gerade dieser geschichtlich ent­ faltete, phänomenologische Lebensweltbegriff nicht mehr aus den Augen verloren werden. Vorgestellt aber – und das zeichnet den phänomenologischen Blick auf Geschichte aus – als Korrelat unseres wesentlich wirklichen So-in-der-Welt-Seins. (Man denke nur an Husserls ›Krisis-Abhandlungen‹) Er lässt sich weder soziologisch verengen, noch, sagen wir, geographisch ›objektivieren‹; genauso wenig wissenschaftlich (psychologisch, soziologisch), oder irgendwie individualistisch-beliebig auflösen. Er ist weder nur als physikali­ scher, biologischer, soziologischer, psychologischer Raum-Begriff noch historisierend als Versuch einer objektiven Zeit-Vorstellung; oder als bloße transzendentale Form, zu begreifen. Vielleicht auch so gewendet. Diese ›unsere geschichtliche Lebenswelt‹ übersteigt die Erfahrungen eines bloß-objektiven Außen und ›transzendiert‹ aber auch bloße, wie auch immer erfahrene, innere seelische Gestaltung. Ernst Robert Curtius beispielsweise schreibt kurz und knapp: »Die Konvergenz von Naturerkenntnis und Geschichtserkenntnis zu einem neuen ›offenen‹ Weltbild ist der wissenschaftliche Aspekt unserer Zeit.« (199311. S 17) 104 Vgl. dazu Ernst Wolfgang Orth. »Wenn es in der Philosophie um das Denken des Selbst und der Welt geht, so ist sie immer auch ein aktuelles Denken aus der Lage und Situation, in der der philosophische Mensch sich befindet.« (Zur Phänomenologie des philosophischen Textes. In: E. W. Orth (Hg.) Zur Phänomenologie des philosophi­ schen Textes. 1982. S 11) 103

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3. Reflexion des Welt- und Selbstverständnis.

(Vielleicht mit Goethe: »nichts ist drinnen, nichts ist draußen, denn was innen, das ist außen.«). – Vorläufig diese (nicht einfachen) Schritte dicht zusammenge­ fasst: ›Lebenswelt‹, unser So-in-der-Welt-Sein, werden eingeführt als phänomenologische Gestaltungen unseres existentiellen Refle­ xionsbegriffs. Diese ›wirkliche Ortschaft‹ unseres philosophischen Denkens wird konstituiert als Bewegung existentieller Reflexion der Reflexionen. Im Übrigen gilt das auch ›umgekehrt‹. (Darauf werde ich zurückkommen.) So ist jeder Versuch ›anfänglichen SelbstSelbst-Verstehen‹ (können), das ein Philosophierender den Suchbe­ wegungen seiner Reflexionen zugrunde legt, möglichst weit gefasst ›historischen‹ Bedingungen geschuldet. Gleich wie weit auch immer, wie radikal die systematischen Reflexionen der Reflexionen der Refle­ xionen (›horizontal‹ und ›vertikal‹ losgelöst vorgestellt) ›getrieben‹ werden. (Man denke nur an Fichtes Wissenschaftslehre.) – Und das macht weiter aufmerksam auf etwas, das unbedingt hierhergehört. Eine Selbstverständlichkeit (als Bedingung unseres So-Da-Sein), die wir phänomenologisch nicht mehr aus dem Blick verlieren dürfen. Der wirkliche Mensch ist wesentlich leibhaftes Dasein.105 Auch die Leib­ lichkeit ist von Anfang an notwendige Form unserer geschichtlichlebensweltlichen Existenz. Nichts weniger als eine Reflexion, die sich ebenfalls als wirklich aufdrängt und als wesentlich vorstellt. Kurzum, die mit der wesentlichen Wirklichkeit unseres So-in-der-Welt-Sein unlösbar verbunden scheint.106

3.4. Der Mensch und seine Geschichten Das alles bestimmt phänomenologisch-existentielles Welt- und Selbstverständnis. Zunächst allgemein und möglichst weit gefasst, als Frage nach der ›wirklich wirklichen Ordnung‹ des Menschen. Das ist letztendlich immer fragen nach sich selbst und der uns selbstver­ ständlich zugehörigen Lebenswelt. Also, nach unserem, zuerst und Kurz und knapp bei Max Scheler: »Der Zusammenhang von ›Ich‹ und ›Leib‹ (…) ist ein Wesenszusammenhang.« (20007). S 399) 106 Max Scheler schreibt (und dem wird man auch heute kaum widersprechen wollen): »Die Philosophen, Mediziner, Naturforscher, die sich mit dem Problem von Leib und Seele beschäftigen, konvergieren immer mehr zur Einheit einer Grundan­ schauung: Ein und dasselbe Leben ist es, das in seinem Innesein psychisch, in seinem Sein für andere leibliche Formgestaltung besitzt.« (201018. S 53) 105

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3.4. Der Mensch und seine Geschichten

zumeist fraglos genommenen, Selbst-Sein und Welt-Haben; unserem Hier und Jetzt. – Nicht, als ob dies ausdrücklich schon ›strenges Philosophieren‹ voraussetze. Vielleicht sogar nur als theoretisches Konstrukt lebensferner Philosophie Relevanz habe. Vielmehr sind es zuerst und zumeist alltägliche Reflexionen und Handlungen, die konstruktiv die Gestalt und ›gelebten‹ Gestaltungen eines In-derWelt-Sein begleiten, unterstützen, ausbauen, irgendwie auch hinrei­ chend rechtfertigen. Als irgendwie, vielleicht auch nur ›hintergrün­ dig‹, immer schon gelebtes ›Wahr‹, ›Schön‹, ›Gut‹! Das muss nicht begriffen sein, nicht zurückgeführt werden auf einen ›unbedingten Sinn‹. Unser alltägliches Selbst-Verständnis, beispielsweise, ergreift sich nicht durch methodisch organsierte psychologische oder philo­ sophische Introspektion. Genauso wenig wie praktisches Welthaben und Weltverstehen entsteht und entfaltet wird als Leistung ›objektiv‹ vermeinter wissenschaftlicher und philosophischer Reflexion. Sehen wir noch näher hin und uns selbst dabei weiterhin zu. – Der Mensch also phänomenologisch in den Blick gerückt als wesent­ lich wirkliches und wirklich wesentliches So-in-der-Welt-Sein. Sich selbst erlebt er sich ›zugänglich‹ durch seine Reflexionen. Und nun weiter gefragt: Wie es um dieses alltägliche Selbst- und Welt-Ver­ ständnis in dieser unserer wirklichen Wirklichkeit nun ausdrücklich (wesentlich) bestellt sei. Das treibt voran die existentielle Reflexion der Reflexionen. Wir lassen uns nun beunruhigen durch Herausforde­ rungen, die, das lässt sich nicht übersehen, die Wissenschaften und das wissenschaftliche Philosophieren ›im Grunde‹ schon als geklärt, als begriffen voraussetzen. Zumindest als ›etwas‹, das selbstverständ­ lich mit empirisch arbeitenden, rational ordnenden, vernünftig-wis­ senschaftlichen Blick zugänglich gemacht werden könne. Sei es auch nur um ihre ›Irrationalität‹, ihre ›Sinnlosigkeit‹ festzustellen. – Damit können wir uns philosophisch nicht beruhigen. Schon allein mit Blick auf das Potential der Reflexion. Das ist die Entfaltung unseres ›offenen‹, ›weiten‹ Selbst-Verständnis, das, wir werden sehen, nicht nur schon jedem alltäglichen In-der-Welt-Sein (der Lebenswelt), sondern, schließlich und endlich, (man mag darauf achten oder nicht) auch wissenschaftlicher und philosophischer, und genauso, literarischer und ästhetischer Reflexion zugrunde liege. Eine eigene ›Gewissheit‹, die vor jeder wissenschaftlichen und philosophischen Zuwendung schon geleistet scheint. Jede Reflexion könne selbst wieder reflektiert werden. Eine ›Gewissheit‹, die unseren Vorstell­ ungen von Wissenschaft und Philosophie (ihrer Funktion) Hohn zu

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3. Reflexion des Welt- und Selbstverständnis.

sprechen scheine. – Woher also, so fragen wir, dann unsere philo­ sophisch selbst-gewissen Reden und Vorstellungen ihre Sicherheit, Selbstvertrauen, ihr Selbstverständnis nähmen? Und, was dieses vonsich-selbst-wissen, schon dieses von seinem So-Da-Sein praktisch überzeugt-sein, existentiell (nicht nur erkenntnis- und wissenschafts­ theoretisch) noch bedeutete? – Entfalten wir zunächst unser Hinschauen auf dieses unser So-inder-Welt-Sein. – Da ist schon dieses ungeheure, uns in allen Lagen begleitende: ›Ich-bin-mir-meiner-selbst-bewusst‹; ›kann über mich selbst (wenn ich es will!) praktisch verfügen‹; ›kann mich theoretisch reflektieren‹. Immer wieder und in jedem Fall. Hierher gehört auch ›mein Leib‹, den ›ich habe‹, und wohl auch irgendwie ›bin‹. Mein Leib, der für mich, gleich wie die philosophischen Perspektiven auch seien, als selbstverständlich da ist; wortwörtlich als mein Da; in allen Lagen; mir zugehörig als ›mein mich tragendes Grund-Organ‹. (›Wo du nicht bist, kann ich nicht sein‹). Oder auch dieses. Ich kann von mir ›erzählen. Auch über mein Geworden-sein, meine Erlebnisse, Handlungen, Widerfahrnisse. Gestaltet von mir, immer im Modus der ›Gegenwart meines In-der-Welt-Sein‹. Ich kann also ›über mich‹ Auskunft, und, sollte es gefordert sein, ›Rechenschaft geben‹.107 Kann sogar, auch das gehört hierher, diese Geschichten, für andere, auch für mich, ›zurechtlegen‹; variieren, ausschmücken; kann lügen; auch, eigenartig genug, mich über mich selbst täuschen. – Das wäre, sagt man, doch selbstverständlich und alltäglich. Gewiss! Das nimmt diesen Leistungen nichts von ihrem erstaunlich ›kon­ stitutiven Potential‹. – In einem scheinen unterschiedlichste wis­ senschaftliche, philosophische mit diesem alltäglichen Selbst- und Weltverständnisse, zumindest im großen Ganzen (cum grano salis) und im Grunde übereinzukommen.108 Man sagt beispielsweise etwa, 107 »Es ist eine der Leistungen der Philosophie, (…) ihrer Zeit solche Grundformen des persönlichen Selbstverständnisses zu liefern.« (Eduard Spranger. Schillers Geis­ tesart gespiegelt in seinen philosophischen Schriften und Gedichten. In: Gesammelte Schriften XI. Erzieher zur Humanität. Heidelberg 1972. S 185) 108 Wobei auch in Psychologie und Soziologie die Herausforderungen gesehen werden. Beispielsweise Gerhard Schulze: »Wer sich selbst befragt, ist mir ungleich größeren Ungewissheiten konfrontiert, als wer die umgebenden Dinge erforscht. Hier liegt die soziologische Bedeutung der Reflexionsintensivierung, die mit dem Übergang von einem außenorientierten zu einem innenorientierten Leben verbunden ist.« (Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt/New York 19934. S 52)

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3.4. Der Mensch und seine Geschichten

dass diese Möglichkeiten ausgezeichnete Leistungen des Menschen wären. Vorstellungen seiner, im Vergleich mit der Tierwelt herausra­ genden, sogar damit ganz und gar ›unvergleichlichen‹, Eigenart. Die moderne Anthropologie gebe darüber erschöpfend Auskunft. Diese und ähnliche Potentiale verdichten sich nun, reflektieren, oder werden ›gekrönt‹, in und mit ›der Vernunft‹ des Menschen. Mensch sei das Lebewesen das ›Logos‹ habe. Bekanntlich der Grund-Satz unseres Philosophierens. Das begleite den abendländischen Menschen, theo­ retisch und praktisch, als sein Selbst-Verständnis. Wie man dies sich nun philosophisch, theologisch, oder nun wissenschaftlich, zurecht­ legte, bewertet, reflektiert habe, stehe auf einem ganz anderen Blatt. – Etwa, das vernünftige Dasein des Menschen erscheine in der sich evolutionär entfaltenden Natur, wahrhaftig als ontologisch neue Qua­ lität. Unbestreitbar wachse Mensch zwar aus der Natur; und genauso unbestreitbar ›übersteige‹ (›transzendiere‹) er diese ›natürliche‹ Her­ kunft triumphal; oder, wird von ihr (›wollte er es überhaupt‹?) gelöst, getrennt, herausgerissen, entfremdet.109 Oder auch so. Die Vernunft des Menschen führe vor, was die Natur zu leisten imstande sei. Gleich ob es als (vielleicht auch nur vorläufiges) Ergebnis von ›Zufall und Notwendigkeit‹, oder als zielgerichtete Vollendung vorgestellt, begriffen werde. Ein vorbestimmter oder zufälliger oder natürlicher Weg von der Natur zur Geschichte; vielleicht sogar noch zu einem ›jenseits der Geschichte‹; zu einem ›Punkt Omega‹. – Das sind uns mehr oder weniger vertraute Perspektiven. Fassen wir es zunächst phänomenologisch so. Gleich wie im Einzelnen es sich fassen lasse, damit dokumentiere sich in jedem Fall ein Prinzip, das so eine bloß ›naturalistisch‹ gelesene Ordnung der Natur, (ob man will oder nicht) geradezu zu ›transzendieren‹ scheine; und nun mit Neuzeit und Aufklärung durchaus zurecht sogar eindrücklich philosophisch als fundamental nach vorne gestellt werde. Kurzum, der Mensch, man mag es also betrachten wie auch immer, als der ›erste Freigelassene der Natur‹. (Herder) – Zumindest also das.110 Dass diese ›eigen-artige‹ Gestalt und Gestaltung unseres Menschseins auch zu überschießen­ Ernst Robert Curtius verdichtet es (mit Verweis auf Scheler) so. Beispielsweise: »Auge und Ohr dienten ursprünglich der Sicherung im Lebenskampf. In den bildenden Künsten und der Musik sind sie Organe zweckfreien, idealen Schaffens geworden:“ (199311. S 19) 110 Wieweit die psychoanalytische Anthropologie, trotz Freuds, scheinbar, das Menschsein wirklich durchdringende tiefen-psychologische Perspektive, eine ent­ scheidende Ausnahme bilde, wäre eigens zu verhandeln. Wir behalten es im Blick. 109

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den Spekulationen führte, darf uns nicht aus dem Blick geraten. Auch sie werden von uns gelesen als Reflexionen, die existenz-phänomeno­ logisch, nichts weniger als selbstverständlich Möglichkeiten unseres So-in-der-Welt-Sein vorstellen. Auch diese Reflexionen sind damit nicht zuletzt auch praktische Herausforderungen. Vorstellungen, die sich jedem bloß theoretisch gerichteten ›rationalen‹ Philosophieren immer wieder von Anfang an entziehen. (Denken wir beispielsweise an das ›Leben‹ als nicht weiter ›sinnvoll‹ hinter-denkbares Prinzip. Eine ›Irrationalität‹, die sich einer Philosophie der Vernunft zu entzie­ hen scheint.) – Das alles nehmen wir als Bestätigung und zugleich als Heraus­ forderung für phänomenologisches Philosophieren. Vor allem noch entschiedener selbst systematisch hinzuschauen phänomenologisch radikal-existentiell auf uns selbst. – Ein Schauen sozusagen entlang unserer wesentlich wirklichen Welt- und Selbst-Wahrnehmung. Gel­ tungsansprüche, der uns wie auch immer vorgestellten (im weitesten Sinne) philosophisch-anthropologischen Theorien, setzen wir weiter in die ›Klammer‹. Ausdrücklich auch die, uns selbst, als philosophisch selbstverständlich vertrauten. Unumgänglich bleibt also weiter selbst existenz-phänomenologisch zu philosophieren. Philosophieren in der Form, unser Wahrnehmen-wahrnehmen, Reflektieren-reflektieren, Schauen-schauen. Dass das hier nicht als bloße, wissenschaftlich zurecht immer wieder problematisierte, ›Introspektion‹ begriffen wird, daran sei noch einmal erinnert. Existenz-phänomenologisches Schauen meint keinesfalls grüblerisches in-sich-selbst-versenken, ein sich-in-sich-verlieren. Und die ›Welt‹ als bloß abgeleitet, sekundär, hinter sich zu lassen.111 Von Anfang an, um auch dieses Missverständ­ nis in diesem Zusammenhang kurz noch anzusprechen, reflektiert der sich phänomenologisch besinnende, zu-überschauen, existenz-philo­ sophisch zu umfassen-versuchende Mensch, nicht als ›Objekt‹, nicht als irgendein, wenn auch ausgezeichnetes, ›Stück Natur‹. Sondern als eigenartige, einzigartige wesentliche Gestalt und zeitliche-histo­ rische Gestaltung eines Vermögens, einer Leistung: der reflexiven Durchaus vergleichbare Reflexionen auch bei Karl Jaspers (was sicher kein Zufall ist). »Da wir, was der Mensch sei, nur erfahren durch uns selbst – und zwar in unserem Umgang mit Menschen und Welt, mit Philosophie und Wissenschaften, mit der Geschichte, – oder da ein Grund in uns selber notwendig ist, aus dem wir leben, wenn wir Menschen erforschen, so muss dieser Grund, wir jeweils selbst als das Werkzeug unserer Erkenntnis gegenwärtig sein.« (1946). S 625 111

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3.4. Der Mensch und seine Geschichten

Reflexion der Reflexionen. Das ist konstitutiv geleistetes, letztmögli­ ches Selbst-Selbst-Wahrnehmen wesentlich wirklichen und wirklich wesentlichen Da-und-So-Seins.112 Schauen wir nun noch genauer hin auf uns selbst die jetzt SoSchauen-Schauen. – Phänomenologisches Philosophieren ist also, theoretisch und praktisch, radikal angelegte existentielle Reflexion wesentlich wirklichen So-in-der-Welt-Seins. Diese Phänomenologie entfaltet sich, richtet sich aus, setzt sich in Geltung, als existentielle Reflexion der Reflexionen. Das schließt ein, ist davon gar nicht zu trennen, praktisches Arbeiten an sich-selbst (irritiert und pertur­ biert) als wirkliche selbst-bewusste Identität. (Nicht nur als ›Ziel‹, sondern als selbstverständlicher ›Grund‹ jedes überhaupt möglichen Leistens.) – Eigenartig wie uns Menschen immer noch und immer wieder Fragen nach (unserer) wirklichen Wirklichkeit umtreiben. Wissenschaftliche Einsichten scheinen unser Fragen, diese existenti­ ellen Fragen, also nicht ruhig stellen, nicht einmal ›im Zaum‹ halten zu können. Und der Rat, es in diesem Falle, sich mit dem bloßen Fragen zu begnügen, wirkt auf den, davon in Atem gehaltenen, intellektuell abstrakt. Ob also, Wittgenstein hin oder her, ›hinter‹, ›unter‹ oder ›über‹ diesen ›augenscheinlich präsenten, auch wissenschaftlich ›gesi­ cherten‹ Vorstellungen, der ›objektiven Faktizität‹ ›unserer Welt‹, ein umfassender, wirklich wesentlicher Grund-Horizont sich ausmachen ließe? Ein für uns unbedingt sicherer Halt; ein unerschütterlicher Grund? Eine uns tragende Ordnung? Ist es nicht das, was das Philo­ sophieren von Beginn vorzustellen beanspruchte? – Wie also hier philosophisch arbeiten, ohne spekulativ außer Rand und Band zu geraten? Aus der ›wissenschaftlichen Enge‹ hin zu ›metaphysischen Erzählungen? Wieder Anschluss suchen an theologische, vielleicht sogar mythologische Modelle? – Vorgestellt wird phänomenologisch ›die‹ Welt als unsere; so oder so als einsichtig, in den Blick gerückt, bewertet, bestimmt, geordnet; gleich wie, in jedem Falle zunächst als ›Text‹. Also Refle­ xionen intentionaler Gestaltungen. Darüber kann es also keinen Streit geben. Zunächst gleich wie Welt zurechtgelegt werde. Ob als Kosmos oder Chaos, Zufall oder Notwendigkeit. Selbst der Gott, das Sein und das Nichts bleiben nicht ohne (sagen wir) ›Geschichten‹. Nehmen wir es vorerst ganz schlicht. Es sind ›Geschichten‹, die wir präsent halten, die uns ausrichten; die wir (irgendwie) leben 112

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und erzählen und, nicht zu vergessen, die uns erzählen. Alles, wirk­ lich alles, einschließlich wir selbst, unser So-Miteinander, unser So-in-der-Welt-Sein, ist in ›Geschichten‹ als unser ›lesbarer Text‹ verwoben.113 Nur so ist ›Selbst-Sein‹ und ›Welt-Haben‹ überhaupt möglich. Man denke beispielsweise an die Form der ›Erinnerung‹; das wunderbare ›konstitutive‹ Vermögen ›sich-erinnern zu können‹; und auch, nicht weniger wunderbar, sich erinnern müssen. Das ist immer Herstellung einer intentionalen Welt-und Selbst-Ordnung; und geleistet nie anders als in und mit, schon so oder so gestalteten, erzählten, reflektierten lebensweltlichen Zusammenhängen; Kontex­ ten, Horizonten. Man denke beispielsweise an Absicht, oder Hoff­ nung, Befürchtung, Freude, Sehnsucht; ganz allgemein, an Stimmun­ gen; usw. Vorstellbar als Grund-Formen; präsent (zur Verfügung) als mögliche Erzählungen von ›Geschichten‹ unserer Welt-Wirklichkeit; unseres So-in-der-Welt-Seins. Wortwörtlich, das so-da (so nehmen wir es wahr) als selbstverständliche Mitteilungen unserer Wirklich­ keit. Gebaute Wirklichkeiten, die sich also mit unseren Geschichten eigenartig ›transzendieren‹; sich uns so ›zur Verfügung‹ halten. Die Frage drängt sich auf, ›wohin‹ denn transzendieren wir uns, und auch ›aus welchem Grund‹? Beides wird uns auf uns selbst verweisen. – Zunächst aber schauen wir auf diese für uns selbstverständlichen, so geordneten, so präsenten ›Reflexionen‹. Phänomenologisch exis­ tentiell breit und umfassend in unseren Blick genommen. Beispiels­ weise unsere gelebten Wirklichkeiten von ›Welt‹ und ›Selbst‹. Präsent als sinnlich; und vorgestellt, geleistet etwa als Bild, oder Metapher; oder auch (sogar zuerst und zumeist) begriffen als ›Leergestaltung‹, ›Leermeinung‹. Gleich wie: phänomenologisch immer aber gesetzt als Reflexionen unsers wirklichen In-der-Welt-Seins. Selbst unsere, abstrakt scheinenden, phänomenologische Reflexion von Reflexionen davon nicht ausgenommen. Diesseits jeder möglichen wissenschaft­ lichen (z. B. biologischen, psychologischen, soziologischen) oder phi­ losophischen (idealistischen; biologistischen) Deutung, sind es phä­ nomenologisch in jedem Fall, grundlegende existentielle Leistungen. Wir sprechen nicht nur von erkenntnistheoretischer, ontologischer, 113 Dazu gehört auch dieses, auf das Hannah Arendt aufmerksam macht: »Descartes‘ ›Cogito me cogitare, ergo sum‹ ist einfach deshalb nicht schlüssig, weil diese res cogitans überhaupt nicht erscheint, wenn sich ihre cogitationes nicht in gesprochener oder geschriebener Sprache äußern, die bereits auf Hörer und Leser hinorientiert ist und sie voraussetzt.« (Vom Leben des Geistes. Band 1. Das Denken. München. Zürich. 1979. S 30)

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3.4. Der Mensch und seine Geschichten

sprachphilosophischer oder ästhetischer Relevanz. Ist doch die erlebte und dann auch philosophisch reflektierte Gegenwart eines ›Ich-bin‹ – seit Descartes eingeführt als unbedingte geltende Welt- und SelbstVorstellung -, die Erzählung einer Geschichte. – Es kann also nicht anders sein. Wie immer man dies gestalten, es für sich selbst, oder andere in den Blick rücken mag. – Schauen wir nun noch genauer hin und uns zu. Ohne positivis­ tische Engführung und ohne spekulativ ins Grundlose zu verirren. Lesen wir dies phänomenologisch zunächst schlicht als Vermögen für uns ›Ordnung‹, (wiederum) horizontal und vertikal, herstellen zu können. Mit dabei immer die Vorlage eines dann, gleich wie präsenten, wie auch immer erlebten, ›Grund-Text‹ unseres Da-undSo-in-der-Welt-Sein. Die Folie für unser nun überhaupt Welt- und Selbst-Haben können. Eine uns unwillkürlich zukommende, wesent­ lich Gestalt und wirkliche Gestaltung ›strömenden‹ Welt-Verständ­ nisses und Selbst-Bewusstseins. Deutlich wird uns im Übrigen das eine nie ohne das andere. Gleich also wie wir uns dazu auch stellen, wissenschaftlich, philosophisch, literarisch, ästhetisch; oder wie wir es uns dann als ›die Wirklichkeit‹ in den Blick rücken. Es bleibt, so scheint es, als ›Bedingung jeder Wirklichkeit und Möglichkeit‹ lebensweltlich hintergründig präsent.114 Vielleicht so wie sich die Grammatik zum alltäglichen Sprechen verhält. – Denken wir wiederum nur an ganz alltägliches. Beispielsweise, an Phantasie, Erinnern, unwillkürliche Assoziationen, Einfälle, Pläne schmieden; auch, und hier nicht zu vergessen, die uns bedrängenden ›Geschichten aus dem Leib‹; die je eigenen ängstigenden oder erfreuenden ›Leiberzählungen‹.115 Nur so werden sie zu verstehbaren Mitteilungen unseres Da-und-So-Sein. Etwa, wie, als was und dass sich beispielsweise überhaupt Schmerzen, Leiden, oder Wohlsein, Lust, Freude, (u. ä.) vorstellen; den Menschen, sein In-der-Welt-Sein, er mag wollen oder nicht, unwillkürlich aus­ 114 Dazu Martin Buber: sowie »wir etwas als Zeit erfahren, die Zeitdimension als solche uns bewusst wird, ist bereits das Gedächtnis im Spiel; mit anderen Worten: die reine Gegenwart kennt kein spezifisches Zeitbewusstsein.« (19714) S 48f 115 Vgl. dazu aus der Perspektive einer Kultursoziologie Gerhard Schulze: „»Ästhetik geht durch den Körper; das Schöne und das Hässliche ist, bei aller Vernetzung mit Gedanken, Bildern, Erinnerungen, Assoziationen, bei aller Intellektualität der Wahrnehmung formaler Muster, in der körperlichen Erfahrung verankert, auch wenn wir uns dessen oft nicht bewusst sind. Das Erleben der Welt ist immer auch ein körperliches Erfühlen.« (Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt/; 19934. S 106)

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3. Reflexion des Welt- und Selbstverständnis.

richten, ordnen und bestimmen. Ihn zu sich selbst, er mag wiederum wollen oder nicht, in eine Beziehung setzen. Zur weiten Reflexion geradezu zwingen. Und sei es auch nur als ›Schmerzvermeider‹, ›Lustsucher‹, als ›Neinsager‹; als Lernender, der sich etwas zuordnen vermag. Das uns ›unwillkürlich‹ so einfallende, uns angehende, sich jeder willkürlichen Reflexion (der Reflexion), sogar jeder ausdrücklich festlegenden Wahrnehmung, zu entziehen scheinende, ist selbstver­ ständlich nicht nichts. Zumindest ist es als ›Erinnerung‹ präsent. Und wird, eigenartig genug, geradeso, wiederum unwillkürlich, Sediment (Muster) unserer wesentlichen Wirklichkeit; geradezu wie eine ›chro­ nische Gestaltung‹ unseres So-in-der-Welt-Seins.116 – Das stellt nun vor, ohne jeden spekulativen Überschuss, die existentielle Ordnung des Menschen als leibhaftes Da-und-So-in-der-Welt-Seins. Jede mei­ ner, unserer, willkürlich eingeführten und unwillkürlich geglaubten Vorstellungen, bleibt in Wirklichkeit umfasst von einer sie begren­ zenden Grund-Form. Eine immer als selbstverständlich gelebte Gestaltung unseres Da-und-So-Seins. Immer da als ›unser erfahrenes fragiles Leben‹; unsere Geschichten; ›meine mir präsente Biographie‹. Wie immer wir es also drehen und wenden. Unsere ›Welt‹ geschieht uns im Grunde, bei allem Irrsinn, eigenartig geordnet. Kommt also jedem In-der-Welt-Sein zu als letzt-mögliche, wissenschaftlich viel­ leicht unfassbare, nicht weiter hinterdenkbare Gestalt. Und ist gerade so unsere existentielle Ordnung. Das umfasst auch den Wahnsinn, die Nacht der Verzweiflung, die Erfahrung des Nichts (denken wir an Heidegger) genauso, wie den Horizont philosophischer Reflexion dieser Reflexionen. Keine weitere, darüber hinausreichende HinterDenklichkeit scheint philosophisch noch möglich. Nennt das also die unüberschreitbar existentiellen Grenzen für unser Da-und-So-Sein (ohne es begreifen zu können)? Abschluss selbst nun auch für unsere philosophisch-radikalen Reflexion der Reflexionen all der überhaupt möglichen (wissenschaftlichen, ästhe­ tischen, lebensweltlich-alltäglichen) Reflexionen? Das ist wahrhaftig für radikales Philosophieren eine entscheidende Herausforderung. 116 Dazu (beispielsweise) eine Vorstellung von Nathalie Sarraute. »Es sind undefi­ nierbare Bewegungen, die sehr rasch an den Grenzen unseres Bewusstseins vorbei­ gleiten; sie befinden sich am Ursprung unserer Gesten, unserer Worte, der Gefühle, die wir bekunden, die wir zu empfinden glauben und die zu bestimmen möglich ist. Sie schienen mir und scheinen mir immer noch die geheime Quelle unserer Existenz zu bilden.« (Zeitalter des Misstrauens. Essays über den Roman. Frankfurt/M 1975. S 7 f.)

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3.4. Der Mensch und seine Geschichten

Die erste Frage ist nun, als was und wie kommen existentiell denn all diese Vorstellungen, Widerfahrnisse, diese Muster vor?117 – Um sich hier zurechtzufinden, braucht es einen Umweg über die Möglichkeit unseres Philosophierens. Zumindest können diese Fragen phänomenologisch reflektiert werden, (wir tun es doch genau ›in diesem Augenblick‹). In unseren Blick werden sie gerückt als Vorstellung einer ›existentiellen Ordnung‹. Das stellt eine phäno­ menologisch ›konstituierte Wirklichkeit‹ vor. Diese Reflexionen, ein­ schließlich der möglichen Reflexionen der Reflexionen, sind, auch das scheint klar, Entfaltungen in der Zeit. Phänomenologisch gewendet, reflektiert sich nun, wie wirklicher Mensch (auch wir selbst als Phi­ losophierende) seine im Grunde wirklich präsente ›innere Zeitlich­ keit‹, sein als (ver)fließend erlebtes In-der-Welt-Sein (Sosein), und zugleich sein wirklich wesentliches Dasein reflektiert; zu reflektieren vermag. Selbst also seine ›Geschichtlichkeit‹ als Gegenwärtig, sein Gewesen-, und Zukünftig-sein organisiert, ordnet und wertet; sich selbst vorstellt, erzählt und sich so mit seinen (unseren) Geschichten ›präsent‹ hält. Das ist ein sich selbst (so konstituiert) leben und erleben können. Das sind keine erkenntnistheoretischen oder ontolo­ gischen Vorstellungen. Es reflektiert als existenz-phänomenologische Entfaltung unsere möglichen Wirklichkeiten und wirklichen Möglich­ keiten als ›Identität‹; wie also Dasein sein Sosein selbst in und mit seinen ›Geschichten‹ wirklich lebt und erlebt; und leben und erleben muss. Also kurzum, die Gestalt und Gestaltung unseres Selbst-Seins und Welt-Habens. Diese existentielle Grund-Gestalt unseres Da-und-So-Seins liegt nicht in unserer Hand! Wohl aber ihre Reflexion. Fassen wir diese Reflexionen phänomenologisch nun als Reflexionen zunächst so. – Jeweiliges Hier-sein, Selbst-sein, ist in der Regel wohl kaum zu bestreiten; ist aber auch nie bloßes willentliches, vernünftiges oder gar wissenschaftlich geordnetes ›hier und jetzt‹. Als müssten wir für unser Selbst-Verständnis auf, beispielsweise, Theorien der Psychologie und Soziologie warten. Zu diesem selbstverständlichen So-Da-Sein gehört wirklich und, das drängt sich jedermann auf, auch notwendig, ein unserem willkürlichen Wollen entzogenes: ›woher‹, ›woraus‹, ›wohin‹. Schon das das, was als Vergangenheit, Zukunft, Gegenwart, ineinander-verschränkt und auseinander-hervorgeht, unser gelebtes 117 Dazu (anregend) Barbara Duden. Geschichte unter der Haut. Stuttgart 1987; Elisabeth Bronfen- Das verknotete Subjekt. Hysterie in der Moderne. Berlin 1998

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3. Reflexion des Welt- und Selbstverständnis.

In-der-Welt-Sein erst verwirklicht und reflektiert.118 (Wir uns viel­ leicht mit der Variabel ›Schicksal‹ zurecht zulegen versuchen.) Identi­ tät, Intentionalität und Zeitlichkeit eines Da-und-So-Seins verweisen phänomenologisch also wirklich und, wie es scheint, ohne weiteres, aufeinander. Bilden aber nun, wenn man so will, ein in ›Geschichten‹ präsentes Korrelationsgefüge.119 Von hier aus, und nur von hier aus, öffnet der phänomenologische Blick auch die weiteren existentiellen Grund-Fragen; beispielsweise nach ›Sinn für uns‹, ›Sinn-haben‹, Sinn-vorstellen und -entwerfen‘.120 So bleiben wir auch mit unseren existentiellen Reflexionen, es kann phänomenologisch nicht anders sein, im Horizont unseres wesentlich wirklichen So-in-der-WeltSein.

3.5. Die Wissenschaften im Horizont existentieller Besinnung Unterschiedlichste Wissenschaften versuchten und versuchen immer wieder diesen anthropologischen Horizont, diese Grund-Lage und Erfahrung menschlichen Da-und-So-Seins, sich zuzuordnen, zu begreifen, zu katalogisieren und kategorisieren; und entsprechend 118 Dazu Emil Staiger: Vergangenheit, die Geschichte unseres Lebens »ist der Grund auf dem wir stehen. Nur von da aus können wir ein Künftiges ins Auge fassen und entschlossen sein zum Ziel. Wem aber seine Vergangenheit verloren geht, dem ist der Boden unter den Füßen weggezogen. Er gerät in einen Taumel, und wir nennen ihn haltlos.« (1976). S 69 119 Vgl. dazu auch diese psychologische Perspektive der ›Leipziger Schule‹ (um Felix Krüger). Albert Wellek schreibt: ›Struktur‹ eingeführt als »ein Gefüge von Anlagen, Bereitschaften, Einstellungen, Begabungen, Funktionen im Individuum, aber auch an den Gemeinschaften; ferner – nach deren Bilde – die Gefüge objektiv-geistiger Ganzheit, der ›selbstgeschaffenen Gebilde‹ des Menschengeistes. (…) In allen Fällen ist ›Struktur‹ gemeint als ein (in sich) Seines von ontologischer und damit metaphy­ sischer Realität, ›relativ überdauernd‹ und konstant, das als ›tragender Grund‹, mithin als Substanz allem dem zugrunde liegt, was sich an Prozessen, d. h. an Erlebnissen (Vorgängen und Zuständen) in der Seele oder im Bewusstsein ereignet oder vollzieht.« (Ganzheitspsychologie und Strukturtheorie. Zwölf Abhandlungen zur Psychologie und philosophischen Anthropologie. Bern und München19692. S 17) 120 Dazu Fritz Kaufmann: »Der Vollsinn eines Seienden erschließt sich uns im Rückgang auf die Ursprünge seiner intentionalen Konstitution. ›Kundiger böge die Zweige der Weiden, wer die Wurzeln der Weide erfuhr‹ – diese Verse Rilkes lassen sich sowohl auf den Philosophen als auch auf den Dichter, den Rilke meint, anwenden.« (1960).S 199

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3.5. Die Wissenschaften im Horizont existentieller Besinnung

ihren, stillschweigend vorausgesetzten, Möglichkeiten rational ein­ zurichten Man denke beispielsweise an Perspektiven der Sprach­ psychologie; Soziologie; Kommunikationswissenschaften; auch an die unterschiedlichsten naturwissenschaftlich gerichteten Anthropo­ logien. Fundiert in Biologie, Medizin und Neurowissenschaften; und dann noch, nicht zu vergessen, für uns von besonderer Bedeutung, mit Blick auf Kunstwissenschaften; Poetik und Literaturwissenschaften. Die, nicht nur wissenschaftliche Bedeutung dieser Reflexionen für unser neuzeitlich-modernes aufgeklärtes Selbst-Verständnis kann nicht bestritten werden. Auch die Philosophie hat das zur Kenntnis zu nehmen. (Unbenommen davon bleiben für uns auch die natur-wis­ senschaftlichen Geltungs-Behauptungen eingeklammert.) Diese wissenschaftlichen Reflexionen sind Leistungen, die den Horizont der existentiellen Wirklichkeit menschlichen In-der-WeltSeins immer schon voraussetzen. Gleich ob sie darauf aufmerken oder (das wird die Regel sein) nicht. Und selbstverständlich ist dabei immer auch mit vorausgesetzt, unser, für uns letztmögliches, existentielles Selbst-Bewusstsein. Diese Bindungen bleiben von den Wissenschaf­ ten, ihre ›Logik‹ ernstgenommen unbeachtet. Und das zurecht. Das aber ist gerade das, was phänomenologisch herausfordert; uns nicht zur Ruhe kommen lassen kann. Nicht mit Blick auf die Vielfalt der sehr unterschiedlichen Einsichten; nicht selten sogar innerwissenschaft­ liche Uneinigkeit, Streit und auch Widersprüchlichkeit vorgelegter Theorien, Perspektiven, sogar der Methoden. Das ist doch ganz in wissenschafts-theoretischer und -praktischer Ordnung. Sondern die philosophische Unruhe hat andere Gründe. ›Ich-selbst‹ bleibe für ›mich selbst‹ gefordert. Gefordert als wesentlich wirkliches, sich so oder so oder so, unter anderem auch wissenschaftlich und philoso­ phisch reflektieren könnendes Da-und-So-in-der-Welt-Sein. Ich bin nun aber da, von Grund auf, irritiert und perturbiert! – Schon dieses sich über wissenschaftliche Ordnung ›hinaus-reflektieren‹ wollen, muss wissenschaftlicher Vernunft ›unvernünftig‹, vielleicht sogar ›pathologisch‹ scheinen. Selbstverständlich gilt das wiederum alles, und ohne Abstriche, auch für das, uns Philosophierenden, durch die Geschichte der Philosophie vermittelte. Also, auch ein Rückgriff auf diese oder jene philosophischen Traditionen, die phänomenologische dabei eingeschlossen, beruhigt uns genauso wenig. Das erinnert daran, dass sich mit Philosophiegeschichte vertraut machen, nicht systematisches Philosophieren als reflexive Reflexion der Reflexionen,

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3. Reflexion des Welt- und Selbstverständnis.

ersetzen könne. Darauf hat schon Husserl eindringlich aufmerksam gemacht. – Dicht zusammengefasst. Das uns immer wieder von Anfang an bewegende, beunruhigende existentielle Fragen nach der Möglichkeit des Grundes, der Geltung, eines möglichen Sinn für unser Selbst-Sein und Welt-Haben, kann, weder durch Verweis auf wissenschaftliche Vorstellungen, noch, um die am häufigsten bemühten philosophi­ schen Perspektiven zu nennen, idealistisch oder naturalistisch, ruhig gestellt werden. Allgemeiner, mit keinem Verweis auf diese oder jene Wissenschaft, oder philosophische oder (tiefen)psychologische Schule, kulturelle Tradition, oder (diese oder jene) Theologie, als endgültig entschieden, als ein für alle Mal ›beruhigt‹ beiseitegelegt werden.121 Und das, gerade weil wir uns als ›Kinder der Aufklärung‹ zu verstehen haben. Von diesen ›Einklammerungen‹, das sei ausdrück­ lich wieder eigens festgehalten, ist die Tradition phänomenologischen Philosophierens nicht frei gestellt, davon nicht losgelöst. Kurzum, es brauche immer wieder und immer wieder von Anfang an, SelbstSelbst-Schauen. – Diese zugegeben ›schwierige Haltung‹ gegenüber den Wissenschaften und dieser eigenartig skrupulöse Selbstbezug sogar gegenüber den eigenen Reflexionen, darf phänomenologischem Philosophieren nie aus den Augen geraten.

Vgl. z. B. Hans Urs von Balthasar: »Der Psychologie die Frage ›Wer bin ich‹? vorzulegen, scheint von vorneherein wenig aussichtsreich, es mag sich um die klassische oder um die moderne handeln, weil sie als ›Logie‹ sich mit der Psyche überhaupt, die allen Menschen gemeinsam ist, befasst und nicht mit der Besonderheit der Einzelperson, diese allenfalls von allgemeinen Gesetzen her verstehen und – als Analyse oder Therapie – heilend behandeln wird.« (Theo-Dramatik. Erster Band. Prolegomena. Einsiedeln 1973. S 474) 121

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4. Reflexion der Reflexionen des Weltund Selbstverständnisses

›Die Vernunft ist nicht auf der Suche nach Wahrheit, sondern nach Sinn. Und Wahrheit und Sinn sind nicht dasselbe.‹122 (Hannah Arendt)

Sollte, so wird man sagen. das Ergebnis unserer Reflexionen tatsäch­ lich nur sein, dass damit endgültig alle neuzeitlichen Wege eines sicher gebauten wissenschaftlichen und philosophischen Welt- und Selbst-Verständnisses, verbaut, existentiell verstellt, ›relativiert‹ wer­ den? Absurderweise noch dazu durch das eigene Philosophieren? – Schauen wir weiter hin und unserem Philosophieren zu. Existen­ tielle Reflexionen bleiben als phänomenologisches Schauen, Vorstell­ ungen unserer wirklichen Wirklichkeit. Ein Selbst-Selbst-Schauen unseres Welt-Habens und Selbst-Seins. Das ist auch, das mag zunächst verwundern, arbeiten an letztmöglicher (ausdrücklich nicht letztgültiger) Hinter-Denklichkeit des Da-und-So-Seins. Damit also nicht nur die Vorstellung, unseres wirklich irritiertem So-Seins; son­ dern philosophierend sich Einlassen in die existentiellen Spannungen unseres wesentlichen Dasein.

4.1. Der Eigen-Sinn phänomenologischen Philosophieren Dieses Schauen-schauen bestimmt also den weit gespannten, umfas­ send-vorsichtigen, phänomenologischen Arbeitsstil. Phänomenolo­ gisches Philosophieren arbeitet dabei ›skrupulös‹. Immer bereit sich durch eigene Erfahrungen, eigenes Schauen, selbstgeleistete Reflexio­ nen, korrigieren zu lassen; und sich soweit zurückzunehmen, bis, auch im Philosophierenden selbst, wieder ›Einvernehmen‹ erreicht werden könne. Die Voraussetzung dafür ist, was Emmanuel Levinas, als die Besonderheit der Philosophie überhaupt nennt: die Modali­ 122

Vom Leben des Geistes. Band 1. Das Denken. München. Zürich 1979. S 25

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4. Reflexion der Reflexionen des Welt- und Selbstverständnisses

tät des sich-selbst-Misstrauen.123 Nicht gleichzusetzen ist dies mit einem bloß ›methodischem Zweifel‹ (Descartes). Existenz-phänome­ nologisches Philosophieren könne tatsächlich auch ›aporetisch schlie­ ßen‹. Das mag ›progressivem‹ Denken zurückgeblieben, veraltet, unpassend scheinen. Die praktischen Folgen dieser Haltung wären kraftloser Pessimismus, Defätismus, Irrationalismus.124 Zumindest Zeit-Verschwendung. ›Unserer Zeit‹, ihren unleugbar drängenden Forderungen könne Mensch an seiner Vernunft, seinen Wissenschaf­ ten zweifelnd, nicht mehr gerecht werden. Menschheit habe wirklich und wahrhaftig keine Ressourcen mehr frei zu ›umständlicher‹ Besin­ nung; nutzlose Grübeleien. Für bloß ›spielerische‹ philosophische Reflexionen. ›Der Worte sind wahrlich genug gewechselt‹! – Phäno­ menologisches Philosophieren stellt sich trotzdem vor als existentielle Besinnung. Von Beginn an traditionell als ›Selbst-Besinnung für den Anfang‹ unserer Reflexionen; also Anfang als Prinzip, der keiner weiter zurückreichenden Fundierung mehr bedürfe. Diese Selbstbe­ sinnung finden wir zwar schon in der Philosophiegeschichte; (denken wir an Boethius). Die Bewegungen unserer Reflexionen ordnen sich nun ausdrücklich existentiell. Immer noch und immer wieder treibt uns also die Suche nach einer uns haltgebenden existentiellen Ord­ nung. Und das fordert, nach wie vor, die Reflexion der Reflexionen der Reflexionen. Schauen wir hin auf Gestalt und Gestaltung der philosophi­ schen Selbst-Besinnung. Phänomenologische Selbst-Besinnung als systematischer Vollzug, ist Leisten und Leistung eines wirklich Phi­ losophierenden.125 Dazu gehört nun auch sich durch Vorstellungen, Vgl. Die Unvorhersehbarkeit der Geschichte. Freiburg. München 2006. S 172 Susanne K. Langer fasst Irrationalismus so: »Der Irrationalismus ist nicht Ein­ sicht, sondern Verzweiflung, eine unmittelbare Anerkennung der Triebe, Bedürfnisse und damit der eigenen geistigen Ohnmacht.« (2018). S 567. – Existenz-phänomeno­ logisch stattdessen so: Irrationalismus ist Einsicht in die uns wirklich und wesentlich zustehende Verzweiflung; und geradeso ein Durchbrechen geistiger Ohnmacht durch existentielle Reflexion der Reflexionen. Vgl. Dazu meine Arbeit: Reflexion und Verzweiflung. Essen 2003 125 ›Besinnung‹ als dem Philosophieren zugehörig, findet sich (beispielsweise) auch bei Paul Natorp. »Philosophie will sein radikales, bis zur Wurzel, zum erreichbar Letzten zurückfragendes Besinnen. Sie will also nicht abziehen vom Leben, als ob man nur leblos sich besinnen, nur besinnungslos leben könnte; sondern sie zielt auf das Leben gerade in seiner Ganzheit. Ganzes Leben will doch sein: Leben in und aus der Wahrheit. So ist philosophisches Besinnen selbst Leben, ein wesentlicher Grundzug echten Lebens.« (2000). S 2 123

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4.1. Der Eigen-Sinn phänomenologischen Philosophieren

Perspektiven, Reflexionen, der Wissenschaften, der Wissenschaftsge­ schichte und der philosophischen Tradition anregen, auch beunruhi­ gen zu lassen. Es sind ja wirkliche Möglichkeiten der Reflexionen unseres In-der-Welt-Seins. Das darf sich aber nicht als fraglose, end­ gültige ›Bindung‹ auswirken. Genommen als (beispielsweise) ›prak­ tische Verpflichtung-auf diese oder jene Wissenschaft‹. Der Eigensinn phänomenologischen Philosophierens, die Verpflichtung systemati­ scher Reflexion, darf in keinem Fall zurückgestellt werden. (Die Wissenschaften haben gesprochen, unsere Sache sei entschieden!) Systematische Reflexion ist das der Philosophie unbedingt zugehö­ rige, verpflichtende Selbstverständnis; und damit der philosophischen Selbstverantwortung des Philosophierenden geschuldet. In phäno­ menologische Form gebracht als reflexive Reflexion der Reflexionen. Und gerade so umfasst phänomenologische Reflexion folgerichtig auch dieses phänomenologische Philosophieren und den Philoso­ phierenden selbst. Immer wieder und immer wieder von Anfang an also ein Schauen-schauen; Reflexionen reflektieren. Das schließt ein, philosophieren über philosophieren; philosophieren über das Selbst­ verständnis des Philosophierenden; eine Philosophie der Philosophie. Ein, vielleicht als ermüdend empfundenes Leisten, dem sich aber kein Philosophieren entziehen dürfe. Es entspricht nämlich dem ›schauen­ den Wesen‹ der Philosophie, des Philosophierens; sind also keine verstiegenen oder außergewöhnlichen Denkfiguren. Tatsächlich sind phänomenologische Reflexionen wenig originell. Sondern durchaus eine, der, aus der Philosophiegeschichte vertrauten, ›Arbeitsphiloso­ phien‹; ein seiner nicht einfachen ›Sache‹ verpflichtetes Philosophie­ ren. (Man denke nur an die beeindruckende Lebensarbeit Husserls.) Der so Philosophierende schaut selbst hin und sich selbst zu. Lässt sich, der Form nach letztendlich, nur von seinem Schauen-Schauen leiten.126 Und so bleibt phänomenologischem Philosophieren jede modische Pose, auch jedes ›manieristische Gehabe‹, jede anbiederndkonforme Attitüde, jede interessant-ästhetische Gestaltung fremd. Hat damit auch keine Tauglichkeit für das Feuilleton. Die ›Umständ­ lichkeit‹, die Schwere, ist ›unserer Sache‹ geschuldet. Aber gerade als existentielle Reflexion der Reflexionen irritierten In-der-Welt-Seins bleibt phänomenologisches Philosophieren praktisch relevant. – Dass ›phänomenologische Sache‹ Vorstellung der reflexiven Reflexion sei, das Schauen selbst mit-schaut, ließe den Vorwurf eines ›naiven Objektivismus‹ ins Leere laufen. 126

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4. Reflexion der Reflexionen des Welt- und Selbstverständnisses

Das was existenz-phänomenologisch bewegt sind nie bloß diese oder jene ›pädagogisch‹ oder ›historisch‹ in den Blick gerückten Herausforderungen. Wie und ob, beispielsweise, die Gedanken Kants, Hegels, Nietzsches, Wittgensteins, für die (das) ›Fragen der Moderne hermeneutisch zurechtgelegt‹, welche ihrer Vorstellungen, Gedan­ ken, Ideen, von uns, für uns, utilitarisiert werden können. Oder, als ob es philosophierend (aus diesen oder jenen Gründen) nur noch um ›auslegende‹ Gestaltung, Entfaltung, Verwaltung der Philo­ sophie als Geistes-Geschichte gehen könne. Selbstverständlich hat philosophiegeschichtliches Arbeiten phänomenologisch seine volle Berechtigung. Phänomenologisches Philosophieren bleibt aber, als reflexive Reflexion der Reflexionen, in jedem Fall systematisches Philosophieren. Selbst dort wo es phänomenologisch ausdrücklich Philosophiegeschichtliches in den Blick rückt. (Auch da könnte auf Husserl selbst verwiesen werden. Vor allem: Hua. VI; und VII.) So erfüllt sich die Form phänomenologischen Philosophierens theore­ tisch und praktisch als methodisch geleistete reflexive Reflexion der Reflexionen wesentlich wirklichen Da-und-So-Seins. Zurück zu unserer phänomenologischen Besinnung und SelbstSelbst-Besinnung. In existentielle Form gebracht werden soll sie als nicht nachlassende Reflexion der Reflexionen; als streng phäno­ menologisches Philosophieren durch uns wirklich Philosophierende. Man sollte meinen, da besinnliche Reflexionen, seit Jahrtausenden immer wieder geleistet worden sind, (denken wir nur an die Tragö­ dien), sollte sich doch auch das existentielle Selbstverständnis des Menschen gründlich verändert haben. Den Menschen endlich auf sich selbst als wesentlich irritiertes und perturbiertes Da-und-So-Sein aufmerksam gemacht haben. Mit allen praktischen Konsequenzen. Gleichsam das Ende einer langen Reise zu sich selbst. – Diese Wahr­ nehmung existentieller Grund-Wirklichkeit sollte eröffnet haben die wirklich wesentliche Aufklärung unseres So-in-der-Welt-Seins. Eine umfassendere Perspektive für wirkliche und wesentliche Selbstund Weltwahrnehmung; und auch praktisch konstruktiv, ein existen­ tielles Selbst- und Weltverstehen. Eine ›Anthropologie‹ diesseits verstiegener idealistischer Spekulationen, und jenseits naturalistischbiologistischer Simplifikationen. Hierher gehören auch Reflexionen der Kunst, der Religionen, der Mythen als (nicht weniger) existen­ tielle Formen; als unser uns irritiert und perturbiert reflektieren. Eingeschlossen dabei die eigenartigen Leistungen des überhaupt Her­ stellens und Verstehen-können von ›Texten‹, ›Erzählungen‹, ›Meta­

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4.1. Der Eigen-Sinn phänomenologischen Philosophieren

phern‹, ›Bildern‹. Das sind konstitutive Reflexionen der Reflexionen unserer Wirklichkeiten. Nicht zuletzt nun auch mit Blick auf das Philosophieren selbst. Dass nämlich unser Philosophieren sich gerade so selbst wirklicher, wesentlich radikaler reflektieren könne; das ist, sich selbst dadurch besinnlicher gestalte und existentiell verwirkliche. – Das alles ist aber für das große Ganze unserer philosophischen Weltund Selbst-Gestaltung ausgeblieben. Es verweist auf die dominanten historischen Gestaltungen vor allem des neuzeitlichen Philosophie­ rens. Das in Wirklichkeit, trotz der, oft zur Schau gestellten, ›radikalen Gesten philosophischer Reflexion‹ immer nur das geleistet hat, was die rationale Wissenschaft, und die daran gebundenen Teile der ›aufgeklärt‹ sich vorstellenden Gesellschaft gefordert haben. Existentielle Phänomenologie entfaltet sich systematisch als besinnlich geleistete Selbst-Selbsterfahrung des wirklichen Men­ schen. Das ist phänomenologische Entfaltung radikal-existentiel­ ler Reflexion der Reflexionen. Phänomenologisches Philosophieren behauptet sich gerade mit dieser existentiellen Radikalität, als Gestalt und Gestaltung ›letztmöglicher‹, nie letztgültig abgeschlossener, phi­ losophischer Reflexion.127 So ist existentielle Phänomenologie auch kein Dokument selbstgefälliger Überheblichkeit. Als ob es phänome­ nologisch ernsthaft ein Ziel sein könne, eine, wie auch immer, vorge­ stellte Philosophiegeschichte überheblich ›abzuräumen‹. Im Gegen­ teil. Diesen, nicht weniger als ›fragil‹ konstituierten Prozess historisch geleisteten Philosophierens, setzen wir nun selbst als ›Ergebnis‹ existentiellen Philosophierens. Das kann mit Blick auf uns selbst, gar nicht anders sein. Sind es doch immer Reflexionen unserer wirklichen Lage; immer philosophieren eines irritierten und perturbierten Daund-So-Seins. Gelesen als wirkliches und wahrhaftiges (immer ernst zu nehmendes) Arbeiten an einer von Grund auf erschütterten SelbstErfahrung. Wir finden dieses fragile Selbstverständnis nicht zuletzt nun auch dort, wo diese oder jene wissenschaftlichen, theologischen, literarischen oder ästhetischen Fragen selbstvergessen vorgestellt,

127 Sehr nachdrücklich auch bei Karl Jaspers. »Die Vielheit der Methoden und Aspekte, dies Zerrissene des Menschseins als Gegenstand der Forschung, das Unge­ schlossene ist die Grundwahrheit der Erkenntnis des Menschen im Ganzen. Der Versuch, den Menschen im Ganzen abschließend und überblickend zu fassen, muss scheitern. Jede Fasslichkeit ist eine endliche, herausgegriffene, ist nicht der Mensch selbst.« (1946). S 633

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4. Reflexion der Reflexionen des Welt- und Selbstverständnisses

entfaltet, reflektiert werden.128 Gleich wie die ›Ergebnisse‹ auch gewe­ sen sein mögen, (beispielsweise, scholastisch-eng; hochspekulativ; verzweifelt; zynisch-nihilistisch; transzendental). Von uns existenti­ elle eingeholt – immer ›vorläufig‹ – als Leistung der Reflexionen eines Philosophierenden. – Wir treiben diese Reflexionen weiter. In Form existentieller Reflexion der Reflexionen. Das und so ist Gestaltung philosophischer Grundlagen-Forschung für unser So-in-der-Welt-Sein. Ein philoso­ phisches Arbeiten diesseits jeder Dogmatik unbedingter Philosophie der Vernunft oder eines sich eng an diese oder jene Wissenschaft ›anschmiegenden‹ Philosophierens. Sondern gesetzt als selbst-selbst­ kritische Arbeit der reflexiven Reflexion der Reflexionen. Mögliche Verfestigungen unseres eigenen Philosophierens lösen wir als exis­ tentielle Reflexionen selbst wieder auf. Eine philosophische (phäno­ menologische) Leistung, die sich bewusst als Leistung eines selbst irritierten Philosophierenden führt und behauptet. Sich also selbst als so gestaltet nicht mehr, gleich was sonst noch in den Blick gerückt werde, aus den Augen verliert. – Dicht zusammengefasst. Die Entfaltung phänomenologischexistentieller Philosophie gestaltet sich als existentielle Reflexion der Reflexionen unseres wirklichen So-in-der-Welt-Seins. Sie werden phänomenologisch selbst als Möglichkeiten existentieller Reflexion wesentlich wirklichen Da-und-So-Seins eingeholt, vorgestellt und gewürdigt. Als unsere Reflexionen, die es, den Anspruch phänomeno­ logischen Philosophierens ernst genommen, radikal existentiell zu reflektieren gilt. – Noch einige Sätze zu dieser ausdrücklich existen­ tiellen Leistung und unserem Leisten, das wir als ›philosophische Grundlagen-Forschung‹ eingeführt haben.129 Eine ›Zweideutigkeit‹ ist dabei ganz in der Ordnung existenz-phänomenologischen Philo­ Eines darf nicht übergangen werden. Auch in der Literatur (denken wir an den ›modernen Roman‹ findet sich eine als radikal eingeführte Reflexion. Zurecht verweist (beispielsweise) Hans Reiss darauf hin, dass, etwa Joyce, Virginia Woolf, Proust, Kafka, Musil, nicht nur eine Geschichte erzählten, sondern »das Erzählen selbst zum Thema der Erzählung werden« ließen; sie analysierten »den Stoff und die Erzählungsart« und auch das Erzählen selbst. Und sogar die Analyse »des eigenen Bewusstseins wurde zum Thema für den modernen Erzähler.« (Stil und Struktur im modernen europäischen experimentellen Roman. In: Akzente. Zeitschrift für Dichtung. 1958. S 203) 129 Vgl. dazu meine ersten Versuche: Die transzendentale Phänomenologie als philo­ sophische Grundlagenforschung. Vorarbeit zu einem phänomenologischen Positivis­ mus. Berlin 1986 128

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4.2. Wirkliche radikale Selbst-Besinnung

sophierens. Zum einen vorgestellt als existenzielle Reflexion der Reflexionen unserer erlebten (auch unwillkürlich gelebten) Spannung zwischen Da- und So-Sein; zwischen wesentlicher Gestalt und wirk­ licher lebensweltlicher Gestaltung. Als zweites, und davon als ›Kor­ relat‹ nicht zu trennen: unser Arbeiten an diesem unserem Selbstver­ ständnis selbst; diesem sich-selbst-grundlegenden Reflektieren des irritierten und perturbierten Selbst- und Welt-Verständnis. – Das setzt sich als radikale Leistung reflexiver Reflexion. Als Aufbau einer Gestalt eines Selbst-Selbst-Verständnis; das jede darüber hinauswol­ lende, spekulative, oder wissenschaftlich-objektiv gerichtete HinterDenklichkeit ins Leere verweist. Es bleibt aber trotzdem, in jedem Fall, ein selbstbewusst-fragiles Philosophieren. Ein Denken, das die phänomenologischen Forschungsakte eines So-Philosophierenden, dieses sich für sich selbst reflektieren, als letztmöglich‘, und nicht mehr ›letztgültig‹ ausweisen. Ein strenges Philosophieren ohne auf phan­ tastische oder auf diese oder jene wissenschaftlich engen Begrün­ dungsfiguren zurückgreifen zu müssen. – Im Vorrübergehen sei hier dann noch auf eines hingewiesen. Im Blick phänomenologischer exis­ tentieller Reflexionen ist nicht nur die soziologische und psychologi­ sche Wirklichkeit deines und meines In-der-Welt-Seins, unsere fak­ tische Lebenswelt; sondern auch unser, nicht weniger wirkliches ›Wesen‹. Selbst schon diese Frage selbst (die uns bedrängt): was denn dieses ›Wesen‹ unseres So-Da-Seins sei, eine primäre oder woher auch immer abgeleitete natürlich-wesentliche Wirklichkeit, oder eine metaphysische Chimäre, oder eine wissenschaftliche Hilfskonstruk­ tion, verweist zumindest schon auf seine anthropologische-existen­ tielle Bedeutung. Darauf werden wir zurückzukommen. –

4.2. Wirkliche radikale Selbst-Besinnung Existentielle Reflexion der Reflexionen entfaltet und gestaltet also als radikale Suchbewegung den ›Anfang der Philosophie‹.130 Schon die Ausrichtung dieses Philosophieren unterscheidet sich von dem ›selbstsicheren Vorstellungen‹ philosophischer Tradition. Von end­ gültiger Verwirklichung ist hier eben (noch) nicht die Rede. Existenti­ elles Philosophieren als höchst eigenartige Leistung des dabei radikal 130

›Anfang‹ ist nicht gleichzusetzen mit ›Beginn‹.

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4. Reflexion der Reflexionen des Welt- und Selbstverständnisses

auf sich selbst aufmerkenden Reflektierenden. Allein schon das ist eine bemerkenswerte Möglichkeit unseres Welt- und Selbstverständ­ nisses. Mit Blick auf das nicht-menschliche Leben, unserer wie man sagt ›Mitgeschöpfe‹, alles andere als selbstverständlich. Philosophie­ ren als radikale existentielle Reflexion verweist also auf ein wahrhaftig ungeheuerlich anmutendes anderssein des Menschen. Es führt vor sein erstaunliches, auch ihn selbst erschreckendes sich-selbst-erfah­ ren-können. (Denken wir an das ›erste Chorlied der Antigone‹). – Kurzum, zumindest dann als systematisch vollzogene Reflexion nicht alltäglich; und im Vollzug anstrengend; mühsam; umständlich; für manche sicher zu mühsam, zu umständlich; aber wir vermögen, wenn wir es wollen, ›auch so zu denken‹. Philosophie brauche also nicht, wie Cicero es Sokrates zuschreibt, eigens vom Himmel auf die Erde geholt zu werden. – Philosophieren konstituiert nun nicht nur wesentliche Selbst-Gestalt, die sich phänomenologisch als SelbstSelbst-Verständnis vorstellt und reflektiert; sondern auch praktisch das dem Menschen eigentümliche Welt-Haben und Selbst-Sein. Das ist sich selbst-selbst-erfahren (können) als wesentlich wirkliches und wirkliches wesentliches In-der-Welt-Sein. Das entwirft auch Gestaltungen der Entfremdung. Die ›Mutter aller Entfremdung‹: gegen; in, in jedem Falle aber, anders als ›die Welt‹ sein. – Diese phä­ nomenologische Erfahrung unserer Erfahrungen drängt sich selbst als ›korrelative‹ Vorstellung auf; als Bewegung unserer (meiner) Reflexion, die als Gestalt nicht mehr weiter sinnvoll hinter-denkbar zu sein scheint. Ich bin Mensch als So-in-der-Welt-Sein; erfahre uns als Gestalt und Gestaltung (Da-Sein und So-Sein) der existentiellen Reflexion der Reflexionen meines, unseres vielfältigen intentionalen Welt-Bezugs und Selbst-Verständnis.131 Von dort her, von unseren ›weiten‹ Möglichkeiten unseres Selbst-Seins und Welt-Habens nun immer wieder herausgefordert zu werden, gehört diesem unserem So-in-der-Welt-Sein unbedingt zu. – Das scheint auch ganz in der Ordnung der Reflexion. Das Philosophieren leiste von Anfang an selbst seine philosophische Grund-Gestalt der reflexiven Reflexion; aber auch umgekehrt, dieses Potential erfülle und rechtfertige doch erst Philosophieren. Das ist, wir haben davon schon gesprochen, auch ein praktisches Potential. Und uns aus der neuzeitlichen Phi­ ›Wir sind nicht einig. Sind nicht wie die Zug-/vögel verständigt. Überholt und spät,/so drängen wir uns plötzlich Winden auf/und fallen ein auf teilnahmslosen Teich./Blühn und verdorren ist uns zugleich bewusst./‘ (Die Vierte Elegie)

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4.2. Wirkliche radikale Selbst-Besinnung

losophie her gut vertraut. So zeichnet sich phänomenologisch vor, der letztmöglich wirkliche (theoretische und praktische) Grund unse­ res Philosophierens als nicht nachlassende Reflexion. Reflexion der Reflexionen der Reflexionen als Bewegung existentieller Akte. Eine Dynamik, die weder theoretisch noch praktisch, nun willkürlich, dau­ erhaft zum Stillstand gebracht, für immer eingefroren werden könne. Schon diese gespannte Aufmerksamkeit des Philosophierens selbst als Leistung eines wirklich wirklichen, eben ›ganzen‹ Men­ schen, und die Wahrnehmung seiner, ihm zustehenden, existenti­ ellen Herausforderung, bedürfen nun selbst wiederum Akte eines ›Philosophierens. – Offensichtlich ein Zirkel, der vom Philosophie­ renden hohe, und nicht nachlassende Aufmerksamkeit fordert. Vor allem nicht nur ein Aufmerken auf sein Philosophieren, sondern vor allem auch auf sich selbst als Philosophierenden. Um sich überhaupt unüberbietbar radikal in der Form existentieller (reflexiver) Reflexion – das ist kein Zustand sondern ein Prozess – erst erfahren und ›erfül­ len‹ zu können. Die Aufforderung an sich selbst, und von sich selbst her, bestünde also darin sich radikal selbst zu besinnen. Systematisch und ohne Zorn und Tadel. Und das immer wieder von Anfang an. Dieses phänomenologisch sich-besinnen, ist keine Bußübung. Auch nicht die Ausführung einer psychoanalytischen Methode. Sondern sich selbst, sein Leisten, Leistungsvermögen und seine Leistungen, seine Reflexionen, sein reflektiertes So-in-der-Welt-Sein, gründlichradikal (geltungstheoretisch letztmöglich) in den Blick zu nehmen. Bis wie weit – nicht wie ›tief‹ – reichen unsere existenz-phänomeno­ logischen Reflexionen? Das wäre der Erste notwendige Schritt für jedes Philosophieren! Dies sollte theoretisch keine allzu großen Schwierigkeiten, und praktisch wenig Umstände machen. Sei doch ›nur‹ eine Form gründ­ lichen Nachdenkens. Schon allein dass dieses sich-philosophischbesinnen keine eigenen Räume und Zeiten, keine Apparaturen brau­ che; nicht einmal, wie man zu wissen glaubt, eigene ›Techniken‹ und ›Methoden‹. ›Herumphilosophieren könne doch jede und jeder‹! Also scheine auch nichts selbstverständlicher, als auf sich selbst als ›dieser Eine da‹ der denkt, in Unterschied zu anderen und zur Welt, zurück­ kommen zu können. Lediglich, so könnte man sagen, eine Frage der Bereitschaft, und des Willens und der Muße zur existentiellen Reflexion. (›Nicht Jedermann könne sich eine solche ›unproduktive Spielerei‹ leisten‘.) Wer möchte dem ernsthaft im großen Ganzen widersprechen. Und überhaupt, ist es nicht das, was Mensch von

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4. Reflexion der Reflexionen des Welt- und Selbstverständnisses

Kindesbeinen an, ungezählte Male, aus unterschiedlichen Anlässen, und ohne weiteres, sowieso immer wieder vollziehe? Etwa, sich dieser oder jener Ereignisse aus seiner Biographie erinnern; oder Gewissens­ erforschung ›treiben‹, sich einer Schuld bewusst werden, oder eben nicht; sich über etwas, mit Blick auf sich klar zu werden versuchen; Einblicke geben (anderen oder auch sich selbst) in seine ›Gefühlswelt‹; zumindest hat wohl jeder schon, aus welchen Anlass auch immer, einen ›Lebenslauf‹ verfasst. Oder vielleicht auch sich, in ernster Sorge um sich selbst, selbst-wahrzunehmen versucht; oder, sich in seiner Angst, als auf sich selbst zurückgeworfen erlebt; oder, sich mit seinem schuldig-geworden-sein ›ganz‹ allein, unausweichlich selbst erfahren müssen. Oder, sei es auch nur ein Zweifel, ein Bedenken, das sich ›tief‹ im Menschen ›zu Wort meldet‹; und ›allein‹ beunruhigt. Oder, wer hat nicht schon selbst sein eigenes Zagen, Zaudern, Erschüttert-sein leibhaft erlebt. (Der Schreck ist mir in die Glieder gefahren; ich spüre wie mein Herz heftig schlägt.) Oder vielleicht auch, wie man sagt, willentlich der hektischen Welt, dann und wann, den Rücken zugewandt, und sich einfach entspannt auf sich selbst zurückgezogen. (›Da war ich ganz bei mir‹). – Kurzum, Selbstwahrnehmung brauche nur jederzeit mögliche ›Einstellungsänderung‹. Eine Veränderung der Aufmerksamkeits-Richtung. Eine dem Menschen (so mag es schei­ nen) ›natürlich‹ zugehörige Disposition; prozesshafte Gestaltungen, die sich diskret vollziehen ließen. Sich selbst ›besinnlich‹ in den Blick zu nehmen, sich nehmen zu können, dafür brauche es wahrlich keine schwerfälligen, umständlichen, langatmigen philosophischen, nicht einmal psychologische Reflexionen. Genauso wenig wie theologische, spirituelle Anleitungen. Im Übrigen, was wäre einem Menschen denn vertrauter, zugänglicher, und wohl auch gewisser, als sein eigenes Da-und-So-Sein? Dieses, Ich bin für mich jederzeit da! Kann in jedem Fall auf mich selbst zurückkommen! Das bin ich! So bin ich geworden! So weit bin ich gekommen! Ein Dasein sein, das mit vollem Recht (zu sich) sagen kann: ›Ich bin‹! (Nur der Tod wird mich wirklich ›von mir‹ scheiden!) Wobei dieses ›Ich bin‹ ›meiner selbst gewiss‹, nicht anschließt an das durch Descartes gesetzte ›sum‹. Sondern ›Ich bin‹ (vor jedem ›künstlich‹ scheinenden Zweifel) als die Selbstbestätigung eines wirklichen So-in-der-Welt-Seins. Ein gewisses So-Da-Sein, das einschließt Bewusstsein je eigener Fragilität, Angst, Sorge und auch die: eigenartig ›freudige‹ und auch ›schmerzhafte‹ leibhafte SelbstGewissheit. Frei nach Hölderlin. ›Einmal lebt ich, und mehr bedarf

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es nicht.132 – Ohne diese Reflexionen, diese Haltungen, abwerten zu wollen; (leben wir nicht selbst so), es fehlt ihnen die entscheidende existentielle reflexive Reflexion. Es sind und bleiben Perspektiven sich selbst, selbstverständlich ›wie von außen‹ zu betrachten. Wir haben zuerst und zumeist tatsächlich mehr Bewusstsein über uns als Selbst-Selbstbewusstsein.133 – So steht hier, die entschieden radikale existentielle Reflexion noch aus. Und trotzdem sind schon diese Per­ spektiven für uns ein existentielles Potential, das philosophisch kaum überschätzt werden könne. So sollte es nicht verwundern, dass dieses ›Reflexionen‹, diese schon alltägliche, vielleicht auch bloß als hin­ tergründig, präsente Selbst-Gewissheit, nun existenz-phänomenolo­ gisch wesentlich als wirklich eingeführt, radikalisiert und gefestigt, als der für uns unbedingte Horizont auf scheint. Ausdrücklich phäno­ menologisch eingeführt als aktives Vermögen, als Leistung (potentia aktiva) unseres Da-und-So-Seins. Das gibt die Möglichkeit für eine radikale Wende für reflexive Reflexion der Reflexionen. Von der aus anthropologische, erkenntnistheoretische, ontologische, ästhetische, selbst metaphysische Grundfragen, nun einer endgültigen Antwort zugeführt werden können. – Man könne nun sogar sagen, dieses existentielle Philosophieren ›liege dem Menschen irgendwie im Blut‹; gleich ob er zunächst darauf achte oder nicht, ob er dem nun (hier und jetzt) wirklich entspreche oder nicht. – Schauen wir aber noch genauer hin und uns selbst dabei zu. Besinnen wir uns, so wird sich unser uns reflektieren, phänomenologisch immer vielschichtiger, auch problematischer, ver­ wirrender, und fragiler vorstellen. Ohne Belang sollte (zumindest zunächst) sein, welcher philosophischen Tradition, welche Schule, oder Weltanschauung, wir uns verpflichtet wissen. Vielleicht werde der sich so bestimmt reflektierende durch eine ungewöhnliche oder außergewöhnliche Erfahrung herausgefordert. Schockartig herausge­ rissen aus dem alltäglich gelebten ›Hier und Jetzt‹. Vielleicht auch eine nur eine ganz undramatisch ›still bohrende‹ Reflexion. Wie auch immer. Gewöhnlich klären, wenigstens verdeutlichen sich Fragen, je intensiver, breiter, ausführlicher und systematischer man sich Vielleicht im Sinne der letzten sechs Zeilen die Rilke uns mit seinen ›Sonetten an Orpheus‹ mitgibt: ›Sei in dieser Nacht aus Übermaß/Zauberkraft am Kreuzweg deiner Sinne,/ihrer seltsamen Begegnung Sinn.// Und wenn dich das Irdische vergaß,/zu der stillen Erde sag: Ich rinne./Zu den raschen Wasser sprich: Ich bin.‹ 133 Jean Paul. Vorschule der Ästhetik. Werke. Band 9. S 59 132

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damit auseinandersetze. Wie man sagt, es sich durch den Kopf gehen lasse. Nicht so hier. Je weiter, radikaler, also existentieller wir unsere ›Reflexionen treiben‹, – der Anlass mag sein wie er will -, je ›bruta­ ler‹ werden wir mit einer uns kaum fassbaren, verwirrenden Unge­ heuerlichkeit unseres So-in-der-Welt-Seins konfrontiert. Die alltäg­ liche Selbstverständlichkeit des ›Ich-bin-mir-meiner-Selbst-gewiss‹, zumindest das, die unser alltägliches Tun und Denken begleitet, uns hintergründig Halt gibt, wird eigenartig brüchig. Oder so, scheint sich immer weiter zu entziehen, aufzulösen, je ausdrücklicher, je entschiedener, methodischer, Mensch sich selbst als wirklich und wesentlich zu fassen und einzuholen versucht. Dafür brauche es nicht einmal die von Descartes vorgestellten metaphysischen Bedenken. (Genius malignus). – Schwer dafür die passenden Worte zu finden. Man versuche doch nur jetzt sich auf sich zu besinnen. Also dieses, sich hartnäckig aufdrängende, je eigene, intuitive doch so gewiss schei­ nende Selbstverständnis (Ich war; Ich bin; Ich werde sein) wirklich einmal, wirklich (jetzt) sich vorzustellen; in seinen Blick zu rücken. Da lässt es einem radikal Besinnenden sich nicht mehr verbergen. Immer beunruhigender bedrängt den Sich-Selbst-Reflektierenden, trotz der (kaum zu leugnen) ›Evidenz‹ seines alltäglichen In-der-Welt-Seins, die Frage nach sich selbst als wesentliches und wirkliches Selbst.134 Wer oder was er (›Ich‹) selbst denn wirklich wesentlich wäre? Was denn das bedeute, nicht irgendwas oder irgendwer zu sein: sondern › dieser eine da, der jetzt dieses da wahrnimmt, denkt, der reflektiert‹? Der von sich und seiner Geschichte zu wissen vermeint. Ob denn, ›mit Blick auf sich selbst‹, die sich so breit auffächernden Erinnerungen trügen? Ob diese als so selbstverständlich präsente Lebensgeschichte (selbst wenn es nur Fragmente wären) wirklich durch ein wesentliches Selbst erlebt und zusammengehalten wird? Sollte diese von mir wahr­ genommene Angst, diese Sorge ›um mich‹, in Wirklichkeit eine ›leere Intentionalität‹ vorstellen? Man möchte ausrufen: wenigstens das! 134 Man lese nur Peter Huchels Gedichte (Die Sternenreuse. Gedichte 1925 – 1947). (Beispielsweise): Caputher Heuweg. ›Wo bin ich? Hier lag eines die Scho­ berstange./Und schüttelnd die Mähne auf Leine und Kummet/graste die Stute am wiesigen Hange./Denn Mittag wars. Bei Steintopf und Krug/ruhten die Mäher müde im Grummet.// Am Waldrand, wo schackernd die Elstern schrien,/stand halb in der Erde ein Mann und schlug/mit Axt und Keil aus Stubben den Kein./Wann war dieser Sommer? Ich weiß es nicht mehr./Doch fahren sie Grummet, der Sommer weht her/vom Heuweg der Kindheit, wo ich einst saß,/das Schicksal erwartend im hohen Gras,/den alten Zigeuner, um mit ihm zu ziehn.‹

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– So oder so, zumindest ein leichter Hauch Misstrauen bleibt selbst für den seiner Wirklichkeit sicher Vertrauenden (›für solche Marotten habe ich wirklich keine Zeit‹); es bleibt vielleicht auch nur als hinter­ gründige Beunruhigung; eine eigenartige Unruhe. (Herauszulesen aus einigen der (großartigen) Woody Allen Filmen.) – Ob man diese ›Nachdenklichkeit‹ schon Philosophieren nennen mag oder nicht, ist dabei fürs erste ohne Belang. Und selbst wenn philosophierender Mensch sich das neuzeitliche Mantra immer wieder vorsage: Ich denke, ich bin! bleibt als reale Gefahr für uns heutige. ›Der Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit‹.135 Diese ›Ur-Entfremdung‹. – Man denke beispielsweise an etwas ganz und gar nichts Ungewöhn­ liches. Etwa an, möglichweise als ›ungehörig‹, unpassend erlebte Wünsche. Da sind die sich unwillkürlich einstellenden, aufsteigenden Bedürfnisse, Begierden, Vorstellungen, Gedanken. Sie bedrängen und fordern Erfüllung, zumindest aber Aufmerksamkeit. Ein, wer möchte es leugnen, ganz und gar unspektakulärer, alltäglicher Vorgang. Es (denken wir an den Jargon der Psychoanalyse) drängt sich kräftig nach vorne. Überlagert möglicherweise ›mein‹ Selbst-Verständnis. (›Ich erwarte von mir: edel sei der Mensch, hilfreich und gut‹!) Es mag uns gerade passend scheinen oder nicht.136 – Schon das könnte die uns ›theoretisch‹ begleitende Selbst-Sicherheit gefährden; zeigt es doch ›mein‹ Selbst zumindest als, in auch praktisch bedeutenden Fragen ›uneins‹; vielleicht sogar, dies weiter getrieben, als ›fragil‹. (Was bedeutet den dieser bekannte Satz S. Freud: ›nicht Herr im eignen Haus zu sein‹?) Dieses Wünschen, Begehren, diese oder jene Gedanken, und dazu noch die (möglichen) Wertungen stellen sich, so scheint es, quer zu dem zuerst und zumeist als sicher geglaubtem Selbst-Verständnis. Schon allein Entwürfe (von wem entworfen?) wie: ›Das passt überhaupt nicht zu mir‹! ›Das entspricht nicht meinem wahren (!) Wesen‹! Widerstrebt meiner Natur‘! ›Das ist mir ganz und gar fremd‹! Oder auch: ›im Grunde bin ich ganz anders‹! – Und trotzdem greifen diese ›abwegigen‹ Gedanken in mir Raum. Ich mag wollen oder nicht. Oder man denke an das Träumen und den Wolfgang Blankenburg. Der Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit. Ein Beitrag zur Psychopathologie symptomarmer Schizophrenie. Berlin 2012 136 Harald Schultz-Hencke schreibt: »Irgendwann, – in den allermeisten Fällen wissen wir nicht wann und warum gerade dann, – steigen, wie wir uns auszudrücken pflegen, aus der Tiefe unseres menschlichen Daseins Impulse, Antriebe, Bedürfnisse der verschiedensten Art auf.« (Lehrbuch der Traumanalyse. Stuttgart 19722. S 9) 135

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Traum. Sollte das ›Traum-Ich‹, diese Frage drängt sich geradezu wie von selbst auf, wirklich konform sein meinem ›wachen Ich‹? Führt es nicht ein erschreckendes, wenn auch faszinierendes137 Eigenleben ›in‹ und (trotz allem) ›mit‹ mir; die Vorführung einer eigenen, unge­ zügelten, asozialen, vielleicht auch abenteuerlichen ›Identität‹? Ein Verhalten, (›ich schreibe mir dieses So-gewesen-sein im Träumen ja wirklich zu) das, wie man sagt, ›mir in (wirklicher) Wirklichkeit nicht einmal im Traum‹ (!) in den Sinne gekommen wäre. Sind das nicht höchst eigenartige Reden ›Ich als Träumender‹; ›Im Traum habe ich …‹ Das Traum-Ich scheint in manchen Träumen ›unerzogen‹; seine Handlungen sogar ohne irgendeine Moral. Und dazu noch dieses; und das mag bei näherer Betrachtung, uns heftiger, tiefgreifender erschüttern: Ich stelle mich träumend als geschichts-, grund- und haltlos vor. – Welch eigenartige Erfahrungen! Ohne stabile Präsenz, ohne verlässliche Identität. Dazu auch die Destruktion, der mich in der wirklichen Wirklichkeit haltenden inneren Zeitlichkeit. Da kann es nicht Wunder nehmen, dass die Frage uns tief erschrecke, ob unser Leben selbst in (einer mir verborgenen) Wirklichkeit, nichts weiter als solch eine haltlose, zufällige Zusammenstellung flüchtiger Träume wäre? – Denken wir schließlich in diesem Zusammenhang, (mit all dem kurz beschriebenen eng verwoben) noch an diese oder jene befremdenden, beschämenden Erinnerungen. Erinnerungen, wie man sagt, an ›sich selbst‹ und ›sein Leben‹. Reminiszenzen, die einem Menschen vielleicht nun eigenartig fremd scheinen und sogar quälen. Wieder die Frage: wer kennt das nicht? Als ob das, was sich Mensch in seinen Erinnerungen, als seine Vergangenheit aufdrängt, Täuschung sein müsse; der seiner wirklichen Wirklichkeit nicht entsprechen könne, dürfe. Ein gar nicht so selten gehörter Satz: ›Das kann so nicht gewesen sein. Oder, ›da war ich nicht bei mir selbst‹. U. ä. (Man erinnert sich hier gewiss an den oft bemühten Satz Nietzsches: Das habe ich getan, sagt mein Gedächtnis; das kann ich nicht getan haben, sagt mein Stolz.) – Ohne es bis zum Äußersten zu treiben. Zumindest diese Frage wird unabweisbar: Bin ich, was oder wer immer ich bin, überhaupt ›Herr im eigenen Haus‹? (Eine Frage, die hintergründig die Geistes- und Kunstgeschichte der Moderne mitbestimmte.) Und nun noch nachgeschoben: was wäre denn, dieses ›je eigene Haus‹ überhaupt? – Man mag es für sich nun zusammenstellen, wie es beliebt. Dass also ›Identität‹; oder 137

Aber auch dieses ›Eingeständnis‹ kann verunsichern.

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›die Persönlichkeit‹ eines Menschen sich bei genauerem Hinsehen, nicht leicht auf einen Begriff bringen lasse, braucht keiner theoretisch weitausholenden psychologischen Begründung. Wer könnte unserem Dichter da nicht zustimmen: ›Zwei Seelen wohnen ach in meiner Brust‹; – ich füge hinzu: ›ach, wenn es denn nur zwei wären‹!) – Gleich ob Wissenschaften diesen beunruhigenden Fragen außer­ halb pathologischer Perspektive überhaupt Bedeutung zugestehen oder nicht. Oder ob neuzeitliche Philosophie der Vernunft dies über­ haupt als ernstzunehmendes philosophisches Thema wahrzunehmen bereit ist. (Descartes Zweifel ist eingeführt und wird gepflegt nur als methodische Denkfigur!) Es bedrängt Mensch unwillkürlich; wirk­ lich und praktisch existentiell durchdringend. Fordert gerade von uns ›Aufgeklärten‹ Aufmerksamkeit für unser wirkliches Da-undSo-Sein. Das sind uns durchdringende, oft hintergründig virulente Wirklichkeiten, die nicht wissenschaftlich begriffen, rational einge­ holt werden können. Sich zurückziehen auf: ›was nicht (mehr) sein dürfe, könne auch nicht (mehr) sein‹, ist uns Philosophierenden nicht gestattet. Es braucht existentiell-befriedigendere Antworten. Vielleicht sogar schon passendere Fragen. Sind es doch unleugbar unsere alltäglichen Herausforderungen, die sich hier philosophisch zu existentiellen Grund-Fragen aufschichten. Nehmen wir beispielsweise die Reflexionen der Kunst, der Lite­ ratur, der Lyrik im Besonderen, und, nicht zuletzt auch die, vielleicht immer hintergründig mitpräsenten Wissenschaften, beim Wort. So scheint es, dass gerade mit der Neuzeit und der Moderne‚ sich Irrita­ tion und Perturbation des Menschen mit Blick auf sich selbst, und ›seine Welt‹, sein Selbst- und Welt-Verständnis, verschärft hätten.138 Zumindest könne ein um sich greifen existentiellen Sorgens, nicht überhört werden. Vernünftige Aufklärung hin oder her. (Nicht nur Viktor Frankl macht darauf aufmerksam.) Die Bedeutung, die das 138 Zumindest werde – Descartes hin, Kant her – eine verwirrende Komplexität unse­ res Welt- und Selbstverständnisses, unseres So-in-der-Welt-Seins, immer offensicht­ licher. Auch eine ›Psychologie der Persönlichkeit‹ verbleibe, schließlich und endlich, bei sehr allgemein anmutenden, anthropologischen Beschreibungen. Beispielsweise Hans Thomae: Es könne, so schreibt er, nicht übersehen werden, dass Individualität nicht »eine fixierte, primär durch endogene Faktoren bestimmte Größe ((sei)), sondern ein System von Vorgängen, in denen es ›weltoffenes‹, d. h. ein sowohl der Gegenwart wie der Zukunft und Vergangenheit erschlossenes Wesen jeweils seinen ›Ort‹ zu bestimmen sucht.« (Das Individuum und seine Welt. Eine Persönlichkeitstheorie. Göttingen 1968. S 585)

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für das Philosophieren, die Philosophie selbst, hat, kann dabei gar nicht übersehen werden. Sind es doch, nicht zuletzt, ›Grund-Fragen der Reflexion‹, die repulsiv auch das Philosophieren selbst ausrich­ ten; es nicht zur Ruhe kommen lassen (können). – Das verweist wiederum auf den, nun als brüchig erlebten, Zusammenhang unseres Da-und-So-in-der-Welt-Seins; also auf die ›Notwendigkeit‹ existen­ tieller Reflexion. Wer Philosophie der Existenz nur als modische Attitüde abzutun versuche, gehe (schon mit Blick auf sich selbst) ganz und gar in die Irre. Ob man wirklich die bedrängenden exis­ tentiellen Fragen überhaupt nicht wahrnehmen, nicht ernst, nicht ›schwer‹ nehmen könne? Diese Grund-Fragen, wer und was bin ›ich‹ denn wirklich-wirklich? Und damit eng verknüpft, wer oder was ›hält mich‹ in meiner Sorge, Angst, Verzweiflung; ›stiftet, ange­ sichts dieser irritierenden Selbst- und Welt-Erfahrungen, tragenden, unerschütterlichen Sinn‹? ›Wohin soll ich mich jetzt, nach dem die ›großen Erzählungen‹, zweifelhaft, sogar unglaubwürdig, in jedem Fall relativ, geworden sind, wenden; hinwenden, »wenn Gram und Schmerz mich drücken«? – Wobei dies nicht als irgendein Muster von ›Ursache – Wirkung‹ zu denken ist. Etwa als eine historisch, oder biographisch mehr oder weniger zufällig gesetztes, klar, eindeutig zu begreifende Ereignisfolge‘. Die durch das rationale Muster begriffen werden könne: als erstes dieses, dann das andere, und schließlich und endlich dann der Schluss (die vernünftige Einsicht), so und nicht anders! Sondern ein wirkliches und wesentliches ineinander verschränkt-, verflochten-sein mit unserer wirklich wesentlichen Gestalt (Da-Sein) und willkürlichen und unwillkürlichen Gestaltung unserer Reflexionen (Sosein). Ob man also ›hinter‹ all dem, uns Menschen hier und jetzt zurecht beunruhigenden, uns verunsicherten Erfahrungen, soziologisch, kulturgeschichtlich den zwangsläufigen Untergang (zumindest) des Abendlandes (O. Spengler), oder den selbstverschuldeten Verlust der Mitte wahrzunehmen habe,139 bleibe dabei dahingestellt. Wir werden in anderem Zusammenhang darauf zurückkommen. – Nicht zufällig begleiten unterschiedlichste Reflexionen, der, wie auch immer vorgestellten, Krisen, die Entfaltung der Moderne.140 Wahr ist aber auch dieses. Ängstigende Erfahrungen nicht nur trotz, 139 Hans Sedlmayr. Verlust der Mitte. Die Bildende Kunst des 19. Und 20. Jahrhun­ derts als Symptom und Symbol der Zeit. Salzburg 1948. Vor allem S 145 ff. 140 Vgl. dazu meine Arbeit: (1999)

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4.2. Wirkliche radikale Selbst-Besinnung

sondern zu beachtlichem Teil, wegen wissenschaftlichen, gesellschaft­ lichen Fortschritt. Ob das vielleicht sogar überhaupt der Preis sei, den, aufgeklärter, vernünftiger Mensch zu zahlen habe?141 Diese Frage scheint durchaus berechtigt. Also, mag man ausrufen, gerade deshalb brauche es wirklich vernünftiges Philosophieren! Was die­ ses Philosophieren zu sein habe, liege für aufgeklärt-vernünftigen Menschen geradezu auf der Hand. Die Zeit sei dafür reif, um, – die bekannte These Comtes etwas weiter zu fassen -, diejenigen vernünftigen Gedanken, Ideen, Formen der Philosophie, endgültig in Wissenschaft aufzuheben. Und genauso entschieden mythologisches, metaphysisches, kurz, irrationales aus ›gesellschaftlichen Portfolie‹ zu entfernen. Somit dem ›wissenschaftlichen Zeitalter‹ endgültig auf die Sprünge zu helfen; also, das Projekt ›Aufklärung‹ zu verwirklichen helfen.142 Es drängt sich aber der Verdacht auf, dass Philosophie der Gegenwart nicht nur wenig zur Lösung der ›Lebensnöte‹ der Men­ schen beizutragen habe (könne und wolle); sondern vielmehr selbst mit eigener Konfusion ringe; (man denke, beispielsweise, nur an die Versuche sich Bedeutung bei den Wissenschaften zu verschaffen). Und dadurch sogar ›lebensfern‹ die Hilflosigkeit des Menschen ver­ stärke. Kurz, vielleicht selbst mit zur ›Krise der Moderne‹ gehöre. Man betrachte aus dieser Perspektive einmal die neuzeitliche Geschichte der Philosophien, des Philosophierens und der Philosophen. – Ob also, so ist zu fragen, neuzeitliche Philosophie und ›wis­ senschaftliches‹ Philosophieren diese vielbesprochene existentielle Problem-Lage des modernen Menschen mit befördert, sogar intensi­ viert habe?143 Aber vielleicht muss es sogar so sein. – Wir schauen 141 Dagmar Nick. ›Hybris‹/ wir sind nicht mehr die gleichen./Uns ätzte das Leben leer./Es gibt keine mystischen Zeichen,/es gibt kein Geheimnis mehr.// Wir trei­ ben durch luftlose Räume/erloschenen Angesichts./Die Nächte verweigern uns Träume,/die Sterne sagen uns nichts.// Wir haben den Himmel zertrümmert./Das Weltall umklammert uns kalt./Der Tod lässt uns unbekümmert./Wir haben Gewalt.‘ 142 Erwin Chargaff wurde nicht müde darauf aufmerksam zu machen, dass hier, in Naturwissenschaft und sich wissenschaftlich begreifenden Philosophierens, geradezu religiös anmutendes Pathos sich zeige. 143 Bei Husserl so: »Wissenschaftstheoretische Probleme sind ein Hauptthema der Philosophie unserer Epoche, und so liegt der Gedanke nahe, die Besinnungen in Form einer Kritik der zeitgenössischen philosophischen Versuche zu führen. Aber das wäre in der verwirrten Lage unserer Philosophie ein völlig hoffnungsloses Unternehmen, wo ja die philosophische Literatur ins Ungemessene angeschwollen ist, aber so sehr der Einheitlichkeit der Methode entbehrt, dass es fast so viele Philosophien gibt als Philosophen.« (FTL/S 10)

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4. Reflexion der Reflexionen des Welt- und Selbstverständnisses

weiter ohne Zorn und Eifer hin und uns selbst zu. Zurück zu dem Selbstverständnis unseres Philosophierens. Existenz-phänome­ nologisches Philosophieren ist reflexive Reflexion der Reflexionen des Menschen; wortwörtlich ›methodische Wahrnehmung‹ unseres wesentlich wirklichen und wirklich wesentlich fragilen, irritierten Soin-der-Welt-Sein.144 Unserer Welt-Habe, unseres Selbst-Seins. Nötig sei tatsächlich mehr denn je ernsthaftes Philosophieren! ein Philoso­ phieren aber‚ das sich unseren existentiellen Herausforderungen zu stellen vermag? Und theoretisch und praktisch ›Ordnung‹ in unser irritiertes Welt- und Selbst-Verständnis einführe. Wenigstens für uns sinnstiftende Perspektiven offenhalten könne. – Mögliche Leistun­ gen, allein schon weil phänomenologisches Philosophieren sich mit der Reflexion existentieller Fragen selbst (als) notwendig reflektiere. Hier könne sie ihre Bedeutung für uns, ihre auch praktische Rele­ vanz, und zugleich ihr Selbstverständnis klären und vorführen. Dazu gehört auch, traditioneller Selbstverständlichkeit, oft auch Selbstge­ fälligkeit neuzeitlich-wissenschaftlicher Philosophie nicht mehr zu folgen. Und damit, dass es uns nicht mehr möglich scheint, von ›der Philosophie‹ so ohne weiteres zu sprechen. Dass also für unser phänomenologisches Philosophieren, die Form der Philosophie als philosophisch ungeklärt zu gelten habe. Dass wendet sich gegen jenes Philosophieren, das Form, Ausrichtung, Ordnung der Philosophie verbindlich, endgültig in reine Vernunft und strenge Wissenschaft zu begreifen sucht. (Man denke hier auch an ›Meister Husserl‹ selbst.)145 Das sind ausdrücklich philosophische Fragen. Fragen, die nicht nur Vorstellung, Umfang, die Wirklichkeit der neuzeitlichen Philosophie­ geschichte, sondern grundsätzlich das Wesen des Philosophierens selbst betreffen. An der gesuchten ›Geltungs-Ordnung der Philoso­ phie‹ denkt vorbei, wer ›Wesens-Fragen‹ grundsätzlich, und von vorne

144 Dazu auch die Perspektive Ernst Cassirers: »Die Wirkung, die der Mensch auf die Außenwelt übt, besteht nicht einfach darin, dass das Ich als ein fertiges Ding, als eine in sich abgeschlossene ›Substanz‹, die äußeren Dinge in seinen Kreis herüberzieht und sie für sich in Besitz nimmt. Alles echte Wirken ist vielmehr so beschaffen, dass es sich im doppelten Sinne als bildend erweist: das Ich drückt nicht nur seine eigene, ihm von Anfang an gegebene Form den Gegenständen auf, sondern es findet, es gewinnt diese Form erst in der Gesamtheit der Wirkungen, die es auf die Gegenstände übt und die es von ihnen zurückempfängt.« (Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken. Darmstadt 19949. S 239) 145 Z. B. Krisis. §§ 4; 5; 6.

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4.3. Die wesentliche Wirklichkeit des Irrationalen

herein als bloß spekulativ-metaphysische Konstruktionen abtut.146 Das stellt nicht eng umgrenzte theoretische Fachfragen. ›Wesensfra­ gen‹ (nicht zu verwechseln mit metaphysisch-spekulativen Fragen) aus dem systematischen Philosophieren überhaupt auszugliedern versuchen, bedeute daher ›Verkürzung‹, sogar ›Deformation‹ der Möglichkeit der reflexiven Reflexion der Reflexionen unserer Wirk­ lichkeit. Dass das nicht nur phänomenologische Perspektiven vor­ stelle, ist bekannt. Allerdings trennen sich die Wege schon mit der Frage, wo und auf welche Weise, aus welchem Grunde man ›Wesen‹, oder ›wesentliches‹, begreifen, reflektieren oder ›existentiell schauen‹ wolle und könne? Ob Wesentliches beispielsweise präsent werde, als ›Struktur oder System der faktischen Oberfläche‹; oder bloße begriff­ liche Konstruktion (eine geltungstheoretische Hilfsstruktur) wäre; oder ein Etwas ›hinter‹, ›über‹ oder ›unter‹ der faktischen Wirklichkeit unseres wirklichen So-in-der-Welt-Seins. – Was aber, wenn das von uns existenz-phänomenologisch gesuchte ›Eigentliche‹ sich nicht irgendwo dahinter, darüber oder darunter (unserer Welt-Habe, unse­ res Selbst-Seins) vorzustellen sei? Und auch keine bloß erkenntnis­ theoretische Konstruktion vorstelle? Sondern von uns phänomeno­ logisch wirklich-wirklich zu ›Schauen‹ wäre. Zu Schauen ausdrücklich als Gestalt der ›phänomenologischen Oberfläche‹. ›Herauszulesen‹ also aus den alltäglichen und auch besonderen Gestaltungen unseres Da-und-So-Seins. Aus diesen und jenen Reflexionen unseres In-derWelt-Seins. Unser existentielles Philosophieren sich also zu leisten, zu entfalten habe als: ›Phänomenologie der Oberfläche‹? –

4.3. Die wesentliche Wirklichkeit des Irrationalen Schauen wir weiter hin und unserem Hinschauen zu. – Kurz zusam­ mengefasst. Auch zweieinhalbtausend Jahre philosophischer Refle­ Dazu aus einer ganz anderen Perspektive. Manfred Geier schreibt. »Seitdem ›linguistic turn‹, den die Erkenntnis- und Bewusstseinsphilosophie in unserem Jahrhundert genommen hat, sind uns Fragen nach dem Wesen, sei´s der Zeit, des Zeitbewusstseins oder der Zeitlichkeit, suspekt. An die Stelle der Wesensanalyse ist die linguistische Betrachtungsweise getreten, die den Gebrauch unserer ›Zeit-Sprache‹ untersucht.« (Den Tod erlebt man nicht. Sprachwissenschaftliche Überlegungen zum Augenblick des Sterbens in den Texten Dashiell Hammeth. In: Christian Thomsen. Hans Holländer. (Hg.) Augenblick und Zeitpunkt. Studien zur Zeitstruktur und Zeitmetaphorik in Kunst und Wissenschaft. Darmstadt 1984. S 431) 146

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4. Reflexion der Reflexionen des Welt- und Selbstverständnisses

xion (von den Wissenschaften und den Religionen schweigen wir in diesem Zusammenhang ganz) haben offensichtlich nicht hingereicht, diesen ›existentiellen Grund-Fragen‹, eine, für uns irritierten und per­ turbierten Menschen, zufriedenstellend-beruhigende Antwort vor­ zustellen. Ja, und dabei noch schwerwiegender, nicht einmal die anthropologische Bedeutung und die philosophische Form dieser Frage, überhaupt diese existentielle Bedrängnis, zu klären vermocht. Dies aber, davon gehen wir schon mit Blick auf uns selbst aus, setzte praktisch die Bedingung für ein ›wirklich gutes, wahres, schönes, ein sinnvolles, lebenswertes Leben‹.147 Ist es nicht das, was Mensch nach wie vor – auch in dieser ›Schönen Neuen Welt‹ – sucht; sogar zurecht zu fordern vermeint. Ausdrücklich, (›für mich soll es rote Rosen regnen‹), oder seinem Handeln, der Ausrichtung seines Lebens als implizite Vorlage zugrunde legt. Nun, vielleicht nicht ein ›glückliches‹ aber ein ›sinnvolles Leben‹ dürfe man sicher als Menschenrecht fordern. (Ob es sich erfüllen lasse, stehe aber auf einem anderen Blatt.) Hinzugefügt sei noch dieser bekannte Satz der Kommunikationswissenschaft: ›Die Bedeutung der Botschaft bestimme selbstverständlich der Empfänger‹! Also jeder Mensch für sich als dieses sich-selbst-wahrnehmende, für-sich-selbst-verant­ wortliche So-in-der-Welt-Sein. Ob das nun nicht auch philosophisch geltend gemacht werden könne; vielleicht sogar müsse?148 Mit allen Konsequenzen eines Relativismus. – Zumindest auf den ersten Blick scheinen diese Perspektiven mit unseren bisherigen existenz-phänomenologischen Reflexionen 147 Spannend auch diese (soziologische) Vorstellung von Gerhard Schulze: »Die naive Theorie des Erlebnisses betrachtet das, was außen liegt (zusammengefasst im Begriff der Situation), als notwendiges und hinreichendes Mittel, um das Innenleben zu steuern. Doch das Projekt des schönen Lebens ist durch noch so raffinierte Komposition der äußeren Umstände allein zu verwirklichen. Es kommt darauf an, wie wir das situative Material verarbeiten. Am Ziel sind wir erst dann, wenn wir uns in bestimmter Weise sehen – das ›Was‹ des Wollens ist nichts Äußeres, sondern das Gelingen einer Reflexion von Ursprungserlebnissen als schön.« (Die Erlebnisgesell­ schaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt/New York 19934. S 61) 148 Nur auf den ersten Blick mag das mit lebensphilosophischer Perspektive Diltheys übereinkommen. Er schreibt: »Jedes Leben hat einen eigenen Sinn. Er liegt in einem Bedeutungszusammenhang, in welchem jede erinnerbare Gegenwart einen Eigenwert besitzt, doch zugleich im Zusammenhang der Erinnerung eine Beziehung zu einem Sinn des Ganzen hat. Dieser Sinn des individuellen Daseins ist ganz singulär, dem Erkennen unauflösbar, und er repräsentiert doch in seiner Art, wie eine Monade von Leibniz, das geschichtliche Universum.« (Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. (Hier) Frankfurt/M 1981. S 246)

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4.3. Die wesentliche Wirklichkeit des Irrationalen

durchaus kongruent zu sein? Schauen wir aber noch etwas genauer hin. Klammern wir als erstes auch hier die Geltungsansprüche der umlaufenden, aus der philosophischen, theologischen und wissen­ schaftlichen Tradition angebotenen ›Sätze‹ ein. Jeweilige Geltungsan­ sprüche einzuklammern heißt nun nicht die jeweiligen Erfahrungen ausklammern, oder sogar sie durchzustreichen. (Was selbst ein selbst­ herrlicher Dogmatismus wäre.) Wir nehmen sie ausdrücklich als ›Möglichkeiten‹ für die phänomenologische Reflexion unserer Refle­ xionen zur Kenntnis. Gleich also wie es mit deren Geltung stehe. Jede ›Reflexion‹ existentiell reflektiert, stellt in jedem Fall eine wirkliche Möglichkeiten gespannten Da-und-So-Seins vor. Zumindest also das. – Eines fällt sofort ins Auge. Mein So-Da-Sein steht einem sich als (wie man sagt) offensichtlich ›irrational‹ aufdrängenden im Grunde nicht fremd gegenüber. Als ob es in unsere Welt immer schon als ›ein­ gepreist‹ gelte. Es mag mich als ›vernünftig-aufgeklärten Menschen‹ entsetzen. Ändert aber nicht an dieser eigenartig selbstverständlichen Vertrautheit damit. Trotz der, mir oft unerklärlichen, Wucht dieses unwillkürlich mich Bedrängenden, ist mir nie so, als hätte ich und unsere Welt damit ganz und gar nichts zu schaffen. Es mag mir damit recht sein oder nicht. Auch das, so scheint es, gehört mir und uns selbst selbstverständlich zu. – Nun ist es sogar so, als ließe ausgerechnet ›aufgeklärtes Selbst-Bewusstsein‹ hier keine andere Wahl. Nichts was sich Mensch hier und jetzt aufdrängt, ihn bedrängt, ob Gedanken, Vorstellungen, Emotionen, konstruktives oder destruktives, kann er, – anders als, denken wir an Homers Achill – der Einflüsterung eines Gottes, eines Dämons, einer nicht-menschlichen Macht, zuweisen, sich so als ›fremd‹ zurechtlegen. Dem also (vielleicht) besondere gewichtige, außer-ordentliche Bedeutung geben, oder, jede ›persön­ liche‹ Verantwortung von sich weisen. Spätestens für neuzeitlich aufgeklärtes Bewusstsein habe zu gelten: Ich-bin es wirklich immer selbst, der sich selbst, auch mit seiner (möglichweise) problemati­ schen Unwillkürlichkeit, seiner Irrationalität‚ gegenübertritt‘. Mag man auch Zuflucht suchen bei tiefenpsychologischen Modellen; schließlich und endlich bleibt auch das Unbewusste mein, zumindest unser (C. G. Jung) Unbewusstes. Schöpferisches Wertvolles ebenso wie peinliches, destruktives Verhalten. Wir schreiben es uns selbst zu. Sagen wir also, wir hätten einzusehen, dass es im Grunde, sozusagen, immer ›Fleisch von meinem (unserem) Fleische‹ sei. Als dieses je mein Selbst-Bewusstsein (es mag ›geworden sein‹, wie auch immer), das auch unwillkürlich gestimmtes, irrational aufgelegtes, so oder so

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aus- und eingerichtetes In-der-Welt-Sein mit zu umfassen scheine. Und zu verantworten habe. Was also auch immer; letztendlich können wir es uns selbst als Verdienst zurechnen, oder andererseits, es uns als Schuld anrechnen (lassen). Und noch weiter und darüber hinaus. Auch die Reflexion der Reflexionen, die Geschichte der Reflexion, lasse sich davon nicht lösen. Es ist uns keine Vorstellung, keine Perspektive möglich, kein Gedanke denkbar, der dieses wesentlich wirkliche Selbstverständnis unseres Da-und-So-Sein zurücklassen könnte. Und, Ich-bin es wiederum wirklich selbst, der sich nun ausdrücklich auf sich einlässt, radikal einlassen kann; oder eben nicht; sich selbst zu fassen in der Lage sei; oder eben nicht. Allemal sind es meine Leistungen. Ich Selbst bleibe in jedem Fall im Spiel. Als ein ›leibhaftes‹ So-in-der-Welt-Sein, das den wirklichen und möglichen Horizont für sich selbst stellt. – Von dort her bestimmt sich auch die grundlagenphilosophische Bedeutung phänomenolo­ gisch-existentieller Reflexion. Von uns und für uns, ›von Anfang an‹, in den Blick gerückt als phänomenologische Grund-Voraussetzung für existentielles Philosophieren. Oder so, eingeführt als der von uns nicht mehr weiter sinnvoll hinter-denkbare Horizont, innerhalb dem sich jedes, auch philosophisch existentiell-radikales Reflextieren wirklich zu bewegen hat. Das ist unser Horizont, der von uns in Wirklichkeit nicht zurückgelassen, nicht überstiegen werden kann; der von uns selbst in Geltung zusetzen und zu verantworten sei. Das beschreibt die letztmöglich unbedingte ›Ortschaft‹ jeder überhaupt möglichen Reflexion. Von dort aus ›exponiert‹ sich nun auch jede weitere theoretische oder praktische Maßnahme der Philosophie, des Philosophierens. Mit Blick auf unsere phänomenologische Reflexion der Reflexionen unseres alltäglichen In-der-Welt-Seins selbst, ist es die Möglichkeit sich selbst mit sich selbst wesentlich wirklich und wirklich wesentlich auseinanderzusetzen. Und wieder werden wir weiter herausgefordert. Schon dieses immer wieder und immer wieder reflektieren zu können, darf als Leistung philosophisch selbst nicht unreflektiert hingenommen werden. Vor allem nicht diese sich auf sich selbst als Da-und-So-Sein beziehende radikale Reflexion; als irri­ tierter Reflektierender mit seinen Reflexionen sich selbst reflektieren zu können. – Es sind also in jedem Falle unsere Reflexionen. Refle­ xionen, die wir selbst wieder radikal zu reflektieren im Stande sind. Das erfahren wir selbst als uns eigenes ›offenes‹ Leistungsvermö­ gen. Diese Reflexionen werden philosophisch reflektiert ausdrücklich innerhalb unseres uns zugehörigen lebensweltlichen Horizonts. Nur

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von hier aus – und nie wirklich darüber hinweg – können schließlich auch unsere breit eingesetzten Daseins-Modi, phänomenologisch als existentielle Gestaltungen unseres So-in-der-Welt-Seins eingeführt und entfaltet werden. Die geltungstheoretischen Konsequenzen (auch Bedenken und Fragen) dieser phänomenologischen Reflexion unserer phänomeno­ logischen Reflexionen liegen geradezu auf der Hand; und müssen nicht mühsam gesucht, oder konstruiert werden. – Da sind bei­ spielsweise sehr ernst zu nehmende phänomenologische Bedenken. Einwände, die schon von Husserl selbst vorgebracht, nicht auf die leichte Schulter genommen werden dürfen. Ganz gewiss nicht von uns, die ja selbst phänomenologisch zu arbeiten beanspruchen. Vor allem ob sich dieses existenz-phänomenologische Philosophieren nicht ganz offen in einer Schleife eines ›Anthropologismus‹ oder ›Psychologismus‹, auflöse? Als ein Relativismus, der phänomeno­ logisch strenges Philosophieren von Grund auf zersetze. – Diese Bedenken werden uns auch weiter begleiten. Eines sei bei all dem nicht vergessen. Es darf als Gestalt existentieller Phänomenologie nicht aus den Augen verloren werden Und mag auch diesen irri­ tierenden Selbst-Erfahrungen (zumindest) praktisch eine deutlich positiv-konstruktive Wendung geben. Eine Wendung auch mit Blick auf unser phänomenologisches Philosophieren. – Schauen wir hin auf die von uns also ausschließlich selbst zu leistende Sicherung der Bedeutung für existentieller Reflexion der Reflexionen. Nicht nur wird damit nicht ein erkenntnistheoretischer Relativismus, oder prak­ tisch ein destruktiver Abgrund der Hoffnungslosigkeit eingeführt; ein ›Nihilismus‹ als Konsequenz. Als wäre Philosophieren nichts weiter als eine endlose Suchbewegung. Nicht als ob jede Sorge und Beunruhigung unser Sosein (jemals) beiseitegelegt werden könne. Wir werden sehen, dass phänomenologisches Philosophieren in der Tat ernsthaft verunsichert; uns grundsätzlich herausfordert; sogar, sich selbst immer wieder von Grund auf, in irritierende existentielle Verunsicherung zwinge. Das ist radikale Reflexion. Sich dabei aber nicht nur nicht in bedeutungslose Abstraktionen, eine bodenlose Leere verliere, sondern sich so für unsere Hier und Jetzt als praktisch ›notwendig‹, als haltgebend, sinnstiftend, vorstelle. Schon allein mit der Erfahrung unseres Können, Sollen, Dürfen.149 Hinzukommt fol­ 149 Günter Kunert. (Achtzeiler) ›Auf toten Flüssen treiben wir dahin,/vom Leben und dergleichen Wahn besessen./Was wir erfahren, zeigt sich ohne Sinn,/weil wir uns

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gerichtig nun dieses. Es rückt mit diesen Reflexionen in unseren Blick. Fordert praktisch heraus; und ordnet vor allem unser phänomenologi­ sches Philosophieren endgültig als existentielle Reflexion. – Schauen wir zunächst hin auf diese wiederum wohl jedermann vertrauten Erfahrungen. Mensch erfährt sich von Kindesbeinen an gedrängt zu fragen; Fragen zu stellen nach diesem und jenem.150 Immer wieder beunruhigt, fasziniert und praktisch herausgefordert durch die eigen­ artig aufdringliche Rätselhaftigkeit (nichts scheint selbstverständlich; alles scheint fraglich) seiner (unserer) Welt. Schließlich tritt endlich der Mensch für sich selbst in seinen Blick. Mensch frägt dann, was immer ihn zu beschäftigen scheint, dann hintergründig immer auch nach sich selbst. Als ein So-in-der-Welt-Sein, dem sich Staunenswer­ tes, Rätselhaftes, Herausforderndes, Beängstigendes, Freudebereiten­ des, Lustvolles, zuträgt, wortwörtlich (intentional) zusteht. Das alles gestaltet sich, wie wir wissen, nicht nur als individuelle Suchbewe­ gung. Sondern (etwas abstrakt) als unser existentielles Muster; das, ontogenetisch und phylogenetisch, jeden Mensch immer wieder in ein bleibend Offenes, in ein jeweiliges Werden zwingt. – Ob das Segen oder wieweit es Verhängnis für Mensch und Menschengeschlecht sei, darüber wird gestritten. Begleitet (wie ein ›Kontrapunkt‹) Neuzeit und Moderne.151 Man mag es für sich selbst zurechtlegen, wie man selber längst vergessen./Vom Augenblick beherrscht und eingefangen,/zerfällt der Tag, der Monat und das Jahr./Und jede Scherbe schafft Verlangen/nach Ganzheit: wie sie niemals war.‹ 150 Dazu (beispielsweise) Jean Piaget. Bärbel Inhelder. Die Psychologie des Kindes. Frankfurt/M 1977. Vor allem S 82 ff. 151 Beispielsweise die bekannte Deutung des Bildes Angelus Novus (Paul Klee) durch Walter Benjamin: So müsse der Engel der Geschichte aussehen. »Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. (…) Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. (…) er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradies her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Der Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das was wir Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.« (Über den Begriff der Geschichte. Gesam­ melte Schriften. Abhandlungen. I. – 2. Frankfurt/M 1991. S 697 f.); ganz anders Teil­ hard de Chardin: »Lassen wir diese Pessimisten beiseite, die anscheinend weder die Geschichte noch die Vernunft noch ihr Herz jemals befragt haben. (84) wir glauben an den Fortschritt und wir erkennen ihn um uns herum in der Ausweitung der wis­ senschaftlichen Entdeckungen, im Ansatz der kollektiven Organismen, im Erwachen der humanitären Gefühle und der Sympathien für das Universelle. – ›Quantitative Fortschritte: additive Erkenntnisse, nichts anderes‹! so sagt man. Wirkliche qualitative

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es für richtig halte. Phänomenologisch entscheidend bleibt dabei aber, dass alles Fragen nach Welt und Welt-habe, Selbst-Sein und Selbst-Verständnis, den Fragenden selbst immer wieder mit in sein Fragen (seine Zweifel; sein Hoffen; sein Vertrauen) stellt. Ob er dies wahrnimmt, oder wahrzunehmen bereit ist, steht auf einem anderen Blatt. – Das berührt die Gestaltung unserer Reflexionen selbst; und gibt phänomenologisch weiter zu denken. Es lässt als erstes aufmerken, auf ein wahrhaftig großartig starkes Potential. Zumindest darüber sollte wohl kaum Streit möglich sein. Wirkliches Da-und-So-Sein reflektiert sich (nicht nur philosophisch) immer sowohl als Sub­ jekt, als auch als Objekt der Reflexion. Das sind selbstverständlich scheinende Gestaltungen konstitutiver Perspektiven, die aber, zuerst und zumeist, unauffällig, fraglos, mit unserem So-in-der-Welt-Sein, unserem Selbst-Sein, übereinzukommen scheinen.152 Es sind für uns aber selbstverständlich scheinende Erfahrungen, die nicht mühsam gesucht oder philosophisch-spekulativ erst konstruiert werden müss­ ten. Das ist keineswegs erstaunlich. Allerdings sind es ›Reflexionen‹, die gerade selbst wiederum schon als ›unser Potential‹ herausfordern. Nicht zuletzt auch weil sie Mensch, den Reflektierenden, ›rücksichts­ los‹ in ein Offenes stellen. Uns also, ob es genehme ist oder nicht, fortgesetzt in eigenartiger ›Schwebe‹ halten. Nicht zulassen, dass wir ›mit uns‹ zur Ruhe, in Einklang kommen. Was immer du zu wissen meinst, dir theoretisch angeeignet hast, gelesen, übernommen, von diesem oder jenem der dir als ›Meisterdenker‹ präsentierten, du wirst als Philosophierender diesen wuchtigen existentiellen Erfahrungen, deinen dich irritierenden Selbst-Erfahrungen, nicht (mehr) auswei­ chen können.153 Verstörend ist also vor allem, dass gerade wir als und organgische Fortschritte, werden wir antworten.« (85) (Mein Universum. Olten und Freiburg im Breisgau 1965) 152 Ich denke hier auch an die sehr bekannte Differenzierung von Max Scheler: »Der Gegensatz, den wir im Menschen antreffen und der auch subjektiv als solcher erlebt wird, ist von viel höherer und tiefgreifender Ordnung ((als der von Leib und Seele oder Körper und Seele oder Gehirn und Seele)): es ist der Gegensatz von Geist und Leben.« (201018.. S 58) 153 Vgl. z. B. Pascal: »Wohin ich auch schaue, ich finde ringsum nur Dunkelheit. Nichts zeigt mir die Natur, was nicht Anlass des Zweifels und der Beunruhigung wäre; fände ich gar nichts, was eine Gottheit zeigt, würde ich mich zur Verneinung entscheiden; sähe ich überall die Zeichen eines Schöpfers, so würde ich gläubig im Frieden ruhen. Da ich zu viel sehe, um zu leugnen, und zu wenig, um gewiss zu sein, bin ich beklagenswert, (…). Mein Herz wünscht von ganzer Seele zu wissen, welches

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zweifellos ›endliches Dasein‹, in ausweglos offene, endlose Horizont gestellt erleben. – Das stellt phänomenologisch vor die Frage nach der selbstgewissen Selbst- und Welterfahrung neuzeitlicher Philosophie. (Husserl hat sich bekanntlich sein ganzes Forscherleben daran ›abge­ arbeitet‹. Vorgestellt hat er es aus jeder für ihn nur denkbar neuzeit­ lich-traditionellen Perspektive. Ohne zu einem zufriedenstellenden Ergebnis gekommen zu sein.) Diese Erfahrungen, sollte man also mei­ nen, würde Philosophieren der Gegenwart ausdrücklich reflektieren. Walter Schulz verweist zurecht darauf, dass, im Gegensatz dazu, ›phi­ losophische Anthropologie‹ sich nach wie vor immer noch innerhalb traditioneller Horizonte bewege. Sich beispielsweise an Dualismen ›Geist und Körper‹, oder ›Vernunft und Trieb‹ ((u. ä.)) abarbeiteten.154 Von unserer Existenz her gesehen sind das, das Wesentliche unseres So-in-der-Welt-Sein nicht beachtende ›Einzelfragen‹. Von dort aus, könne man nun den wirklich Philosophierenden selbst, der irritiert und pertubiert reflektiert, nicht mehr in den Blick bekommen. Man denke hier (beispielsweise) an die Arbeiten Max Schelers. – Aber selbst das denken wir positiv als konstruktive Möglichkeit für existen­ tielles Philosophieren; setzen es phänomenologisch als konstitutives Potential sich so seiner selbst als Existenz zu vergewissern wollen. (Das Scheitern ändert daran nichts.) Wir erfahren uns selbst, gleich von wo aus wir denken, wohin wir uns zu bewegen versuchen, ob unsere Akte des Denkens zu gelingen scheinen oder nicht, existentiell reflektiert, zumindest als irritiertes und pertubiertes Da-und-So-Sein. Es ist kein Begriff denkbar, der nicht, existentiell gewendet, dieses fragile Mensch-sein ›zurückspiegelt‹. (Nichtanders als all unsere Ideen, Bilder, Werke.) So erfahren wir unser Selbst-Sein und unsere Welt-habe, entlang unserer ›Reflexionen‹. Diese ergreifen wir wiede­ rum selbst phänomenologisch als reflexive Reflexion. Nach sich (wie auch immer) selbst-fragen, – ein wollen, müssen, sollen -, verweist also in jedem Fall, auf unsere wirkliche existentiell-fragile Lage; auf uns selbst als irritiertes und perturbiertes So-in-der-Welt-Sein. Zurecht schreibt Kurt Goldstein, dass das, was man unter ›Geist‹ verstehe, davon abhänge, was man unter ›Leben‹ und unter‘ Natur‘

das wahre Gut ist, um ihm zu folgen, nichts würde mir zu teuer für die Ewigkeit sein.« (19788. S 119) 154 Philosophie in der veränderten Welt. Pfullingen 1973. S 461 f.

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sich vorstelle.155 Das sind, wortwörtlich immer selbst ›fragwürdige Erfahrungen‹. Erlebt von uns als bedrängende Aufforderung, als Möglichkeit, vielleicht sogar als Last, auch darüber hinaus sich aus­ zurichten, sich zu entfalten suchen, ›Reflexionen‹ immer weiter zu reflektieren. Das scheint unserem Selbstverständnis (es kann nicht anders sein) wesentlich zuzugehören. Immer wieder also Fragen und Fragen-fragen, Reflexionen und Reflexionen-reflektieren; sich in ›Schwebe halten‹, in Bewegung sein, jeden erreichten Stand wieder aufs Spiel setzend, ohne aber philosophierend dabei grundsätzlich jeden ›Halt‹ zu verlieren. Uns selbst gerade also so aufgegeben zu sein scheinen. Gleich ob von einem Gott oder der ›List der Natur‹. – Wir für uns selbst also phänomenologisch als fortdauernde existentielle Herausforderung. Nicht mehr soll bisher gesagt sein. – Das ist eine ›wunderliche Ungeheuerlichkeit‹, dass wir gerade mit diesem radikalen Fragen-können, irritiert und perturbiert, uns philosophisch sicher als In-der-Welt-Sein erfahren-sollen. – Man hat daraus unterschiedlichste anthropologische, philosophische Vor­ stellungen von uns selbst eingeführt. Wir als, je nach Perspektive, ›freigelassene der Natur‹, oder ›zur Freiheit verurteilte‹, als ganz und gar sich-selbst-überlassene; u. ä. (So kann es auch nicht weiter verwundern: ›Freiheit ruft die Vernunft, Freiheit die wilde Begierde‹ (Schiller/Der Spaziergang). – Offensichtlich beeindrucken anthropo­ logische Reflexionen zunächst als ›aporetische Erfahrungen‹. Das bestimmt auch unser weiteres Philosophieren als phänomenologisch existentielle Bewegungen der Reflexion. Reflexionen, die, sie mögen uns ›zufriedenstellen‹ oder nicht, immer wieder aufs Neue und von Anfang an, systematisch zu leisten sind. Natürlich beunruhigt dabei auch, was das denn wäre, das uns, anders als manche PhilosophenGenerationen vor uns, nicht mehr zur Ruhe kommen lasse? Ob es uns also an Selbstsicherheit, Selbstvertrauen, Selbst-Gewissheit fehle? Ausgerechnet uns wissenschaftlich Aufgeklärten. (Welch eine Ironie!) – Schon dieses uns Fragen-können und sollen reflektieren wir phänomenologisch als existentielles Potential. Und dazu gehört auch die Reflexion unserer eigenartigen existentiell fragil erlebten Lage. – Denken wir zunächst an die Erfahrung des überhaupt Erfahrenkönnens. Und an diese Möglichkeit, der immer weiter drängenden 155 Der Aufbau des Organismus. Einführung in die Biologie unter besonderen Berücksichtigung der Erfahrungen am kranken Menschen. (1934) Paderborn 2014. S 82)

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und bedrängenden Erfahrungen unserer Welt-Habe und unseres Selbst-Seins. Wir erleben nun unser irritiertes und perturbiertes In-der-Welt-Sein, wir mögen uns sorgen, ängstigen, tief verstört sein, immer wieder, ausgerichtet auf Möglichkeit von Antwortenfinden-können. Das schließt ein selbst unser existentiell radikales Fragen. Diese dichte Zusammenfassung, unserer uns ›im Grunde‹ tief beunruhigenden Lage. Auch darauf solle, müsse es Antworten geben. Antworten also auf, nennen wir es allgemein, ›metaphysische‹ Grund- und Sinn-Fragen. Das scheint mit Blick auf unsere ›zerstrit­ tene‹ Denkgeschichte, wirklich und wahrhaftig erstaunlich! Gleich wie, zumindest zwinge dies, die Geschichte, oder unser Alltag mag erlebt sein wie auch immer, selbsthinzuschauen auf diese spannende existentielle Lage unseres So-Da-Seins. Zum einen scheint diese oder jene inhaltlich gebundenen Hoffnung offensichtlich schon der bloßen Möglichkeit des immer weiter Fragen-könnens und -müssens (›warum‹?) nicht standhalten zu können. Zum anderen erleben wir aber auch eine unzerstörbare Hoffnung; immer wieder trotz allem überhaupt hoffen zu können. Eine Möglichkeit, die jede faktische Erfahrung unseres, in Wirklichkeit tatsächlich fragil erlebten In-derWelt-Sein, zu überdauern scheine. (»Ich stelle hier also fest, dass die Hoffnung nicht für immer ausgeschaltet werden kann und dass sie selbst die befallen kann, die sich von ihr befreien wollen.«)156 Wo stehen wir? Haben wir uns nicht weit von dem entfernt, was wirkliche Menschen in wirklicher Lebenswelt wirklich bewegt? Diese Frage drängt sich Philosophierende selbst immer wieder auf. Ob diese Reflexionen nicht bloß ›ins Leere‹ führende, intellektuelle Spielereien vorstellten. Fernab der den Menschen schon sehr handfest fordernden Alltäglichkeit. Von den großen politischen, gesellschaft­ lichen, sozialen Krisen ganz zu schweigen. Von dort her gesehen scheine diese Philosophieren wie ein ›Glasperlenspiele‹. (Denken wir an die bissigen Bemerkungen Wilhelm Busch.) Gleichsam als phantastische Vermessung abstrakter Spekulation. Solche Reflexion tue zwar niemanden weh; brauche aber auch nicht weiter zu interes­ sieren. Wenn überhaupt noch Philosophieren, dann wenigstens mit Albert Camus. Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. (1942) Hier 1961. S 93; vgl. dazu auch Jean Paul. »Wenn sogar der gewöhnlichste Mensch das Leben und alles Irdische nur für ein Stück, für einen Teil ansieht: so kann nur eine Anschauung und Voraussetzung eines Ganzen in ihm diese Zerstückung setzen und messen. (…) so wohnt schon im irdischen, ja erdigen Herzen etwas ihnen Fremdes, (…).« (Werke 9. 1975. S 61) 156

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der Absicht: ›Hoffnung‹ als reales gesellschaftliches, soziales, ökolo­ gisches und politisches Prinzip endlich praktisch mit Leben zu füllen. Also tätige Mitarbeit am vernünftigen ›Projekt Moderne‹. So müsse man als praktisch interessierter, engagierter Mensch immer wieder (mit Marx) daran erinnern: dass es auch für das Philosophieren nicht darauf ankomme, die Welt verschieden zu interpretieren, sondern sie positiv zu verändern. – Kritik, die zur Kenntnis zu nehmen ist. Die Vorbehalte gegen­ über unserem Philosophieren bleiben in unserem Blick. Phänome­ nologisches Philosophieren lässt sich aber weiter ein auf die ver­ wirrenden Erfahrungen unserer existentiellen Spannung. Und das ohne sie irgendwie glätten zu wollen. Etwa wissenschaftlich; auch ohne sie über den Leisten der neuzeitlichen Vernunft zu schlagen; ohne Wirkung und Ursache zu verwechseln. – Dazu gehört, es kann für phänomenologisches Philosophieren nicht anders sein, eine anhaltende Unzufriedenheit mit eigenem Philosophieren. Das fordert weiter systematisches Philosophieren. Immer wieder von Anfang an. Konkret, existentielle Reflexion der Reflexionen unseres Da-und-SoSeins. Phänomenologisch angelegt als methodisches Selbst-SelbstSchauen. Das ist Leistung und zugleich Ziel unseres existentiellen Philosophierens. – Gleich womit also ein Philosophierender beginnt, zu beginnen vermeint, welchem Thema er sich aus welchen Gründen zuwendet, in welchen Horizonten er sich bewegt, (etwa, Geschichte, Religion, Gesellschaft, Kunst, oder auch Wissenschaft) was immer ihn (an Gott, Welt und Mensch) interessieren mag, sein reflektieren gestaltet sich als philosophisch erst durch systematisches Schauen auf sich selbst; auf-sich-selbst, der jetzt sich selbst-reflektiert. (Nimm deine ernstzunehmenden Bedenken, ob dies überhaupt möglich sei, mithinein in diese Reflexionen.) Diese radikale Bewegung existenti­ eller Phänomenologie markieren wir als reflexive Reflexion der Refle­ xionen. Das umfasst als Ideal alle theoretischen und praktischen Perspektiven und Absichten unseres Da-und-So-Sein. Unser phäno­ menologisches Philosophieren bleibt also ein Philosophieren, das sich gerade der wirklichen und wesentlichen, der Wirklichkeit des Menschen verpflichtet weiß. Wahr ist, es ist ein existentiellen Phi­ losophierens, das sich nicht in diesen oder jenen Fächer neuzeitlichPhilosophie einordnen lasse. Wir philosophieren hier als wirkliche Menschen, erschüttert; Reflektieren mit unseren irritierenden und perturbierenden Selbst und Welt-Erfahrungen. Wer oder was sollte uns denn sonst vor uns selbst stellen? Philosophie werde also (das

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drängt sich auf) erst mit existentiellen Philosophieren wirklich radi­ kal. – Nicht als ob mit dieser existentiellen Wende, der vielbemühte (oft missverstandene) phänomenologische Aufruf: ›zu den Sachen selbst‹! gleichgültig beiseite geräumt werde. Wir bleiben, das kann auch gar nicht anders sein, ausgerichtet, eingestellt, verpflichtet auf die uns wirklich angehenden ›Sachen‹. Und das sind aber, genau gelesen, ›unsere Reflexionen‹. Wir haben es also Philosophierend mit unseren Reflexionen zu tun. Nicht mit einer dahinter, davor, darüber liegenden ›objektiven (›eigentlichen‹) Realität‘. Oder einer uns durch die Wissenschaften entdeckten, übergebenen, ›wirklichen Wirklichkeit‹.157 Sondern unsere ›phänomenologischen Reflexionen‹ sind zusammengefasst ›wirklich die Welt für uns‹; vorgestellt als unsere Welt-Habe und unser Selbst-Sein. (»Habe ich Welt, so habe ich Erinnerungen, Vergegenwärtigungen jeder Art und habe dadurch Bewusstsein von Vergangenheit, Zukunft, von meiner und Anderer etc.«)158 Und diese Reflexionen sind (als unsere Reflexionen) phä­ nomenologisch selbst wieder zu reflektieren. Phänomenologisches ›unserer Sache‹ verpflichtetes Philosophieren, reflektiert als reflexive existentielle Reflexion unserer Reflexionen. So erfasst (und das sind selbstverständlich selbst konstitutive Akte) sich reflektierendes SoDa-Sein selbst; erfasst sich als wesentlich wirkliches und wirklich wesentliches So-in-der-Welt-Seins.159 157 Ludwig Landgrebe (Husserl-Schüler) schreibt dazu: Zu den Sachen selbst sei Intention nach unverkürzter Wirklichkeit. Und zwar so: »Nicht die Welt und das Seiende im ganzen hinzunehmen in der Auslegung, die sie bereits durch die Wissen­ schaft erfahren hat, als ob das wissenschaftliche Weltbild schon die Welt selbst in sich schlösse, sondern zurückzufragen hinter diese Auslegung, danach, was das Seines vor seiner Auslegung durch die Wissenschaft ist, und diese Auslegung selbst als ein Resultat des Auseinandersetzung des Lebens mit der Welt zu begreifen, war der Sinn jener Forderung.« (Philosophie der Gegenwart. Berlin 1957. S 14) 158 Hua. XV. S 491 159 Aus einer anderen Perspektive diese Vorstellung von ›Sachlichkeit‹ der Forschun­ gen. Ein Zugang, der, existenz-phänomenologischen Philosophieren, durchaus auch vertraut ist. »Wir verstehen (…) unter Sachlichkeit nicht sowohl eine Rationalisierung des Begegnenden als vielmehr dieses: es, das Begegnende selbst begegnen und sich zeigen lassen, wie es in seinem unverfälschten Eigenbestand ist. Die Begriffe sind uns dafür vielfach nur Mittel des Hinweises, niemals Ersatz der Sachen selbst. Und wenn es schon der Triebe und der Gefühle, der Leidenschaften und nicht bloß des Geistes bedarf, um eine Sache sich darstellen zu lassen – wer möchte leugnen, dass nicht auch dieses der Sachlichkeit dient: das von der Leidenschaft Gesehene zum Aufleuchten zu bringen durch Beschränkung der leidenschafts- und geistbedingten Verfälschungstendenzen?« (Hans Kunz. Die Metaphysik von Ludwig Klages und

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4.4. Radikalisierung phänomenologischer Tradition

4.4. Radikalisierung phänomenologischer Tradition Dass Mensch sich philosophisch ›so in sachlichen Bezug‹ zu Welt und Weltstücken und zu sich selbst zu setzen hat, es auch kann, und diesen Bezug selbst wiederum zu reflektieren vermag, zeichnet ihn also aus.160 Damit aber nicht genug. Schon diese Leistung ist für uns eine ausgezeichnete Herausforderung. Die Erfahrungen der Reflexion unserer lebensweltlich-weiten Wirklichkeit, die die Möglich­ keiten unseres Werdens und Geworden-seins, und, das alles sam­ melnd, unsere Endlichkeit, einschließt. ›Ich‹ als Philosophierender, bin und bleibe (mein Denken mag sich selbstvergessen hinwenden wohin auch immer) eingebunden in unsere wirkliche Lebenswelt. Das ist natürlich eingeordnet auch in eine wirkliche Gemeinschaft von Menschen. Wir, die als So-in-der-Welt-Sein (man mag es selbst begreifen oder nicht) uns als wirklich ›wirklich erfahren‹; dazu gehört auch unser werden, geworden- und gewesen sein. Ein uns in allen Lagen begleitende ›fragile Selbstverständlichkeit‹. Wirklich-wirklich da-sind-wir also ›als‹ (nicht nur ›in‹) Gemeinschaft, die ausdrück­ lich, für uns ganz unwillkürlich, nicht nur ›synchrone Ordnungen‹ umfasst. Auch die Philosophie, ›mein Philosophieren‹ selbst, ent­ faltet sich als unsere Leistung. Das sind Fragen, die nicht nur für Geltungstheorie Relevanz haben. Dem aber, eigenartig genug, nicht die philosophische Aufmerksamkeit gegeben wird, die es verdient. Das unterstreicht noch einmal eindringlich das, hier von Beginn an deutlich nach vorne gestellte. Dass phänomenologisch-existentielles Philosophieren keineswegs Rückzug in eine private Innerlichkeit bedeute. (Eine ›naive Ich-Philosophie.) Genauso wenig wie philoso­ phische Gestaltung einer, zurecht als problematisch geltenden, bloß psychologischen Introspektion. Vielmehr ist es von Anfang an ange­ legt als unser Philosophieren; ausdrücklich Öffnung wirklich Philoso­ phierender (du und ich als wir), die wirklich gemeinsam Reflektieren auf unsere ›Welt-Habe‹ und unser ›Wir-Sein‹. Phänomenologisch erarbeitet, als existentielle Reflexion der Reflexionen dieser oder jener ›Wirklichkeiten‹ für uns; konstituiert als die uns gemeinsame Lebenswelt; unser So-in-der-Welt-Sein – Das ›präzisiert‹ die Span­ nungen existentieller Phänomenologie mit idealistischen und natura­ ihre Bedeutung für die Persönlichkeitsforschung. In: Martin Heidegger und Ludwig Klages. Daseinsanalytik und Metaphysik. München 1976. S 45) 160 Vgl. dazu: Max Scheler. Die Stellung des Menschen im Kosmos

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listischen (biologistischen; psychologistischen) Perspektiven. Es sind konstruktive Spannungen. Sind also selbst philosophische Heraus­ forderungen. So bleiben diese Reflexionen als Reflexionen unseres ›gespannten‹ (sich ordnen wollenden und müssenden) Da-und-SoSein, mit seinen unterschiedlichen lebensweltlichen Horizonten, mit in unserem Blick. Der Form der Reflexion ist damit aber noch nicht radikal genüge getan. Führen wir es uns vor. Existentiell-phänomenologische Refle­ xion der Reflexionen fundiert sich selbst, letztmöglich, als reflexive Reflexion. Soweit unsere phänomenologische Vorstellung. Das for­ dere schon das Selbstverständnis existentiellen Philosophierens als philosophische Grundlagen-Forschung; also das Arbeiten an der Sinnstiftung für unser irritiertes So-in-der-Welt-Seins. Das verän­ derte, das konnten wir nicht übergehen, die Vorstellung ›was‹ den unsere ›philosophische Sache‹ in Wirklichkeit sei. Also, die ›Sache‹, die uns von Anfang an bewegt und die existenz-phänomenologisches Philosophieren zu reflektieren habe. Eines dürfe nun mit Blick auf diese so geleistete wirkliche Wirklichkeit des Menschen als sicher gesetzt gelten. Der philosophierende Mensch, also wir selbst, du und ich als wesentlich wirkliches So-in-der-Welt-Sein, reflektiert selbst weder (nur) biologisch (›der Geist wohnt im ganzen Menschen‹)161 noch nur idealistisch als ›reiner Geist‹. Schon das schlichteste Leis­ ten und die einfachste Leistung eines sich reflektierenden Daseins (etwa, mein mich hier und jetzt an diesem Ort zu dieser Stunde wahrnehmen), erfährt und entfaltet sich selbst existentiell immer umfassender. Ein immer auch über ›das Aktuelle‹ hinausreichend. – Ohne hier auf einzelne erkenntnistheoretische und anthropologische Modelle genauer einzugehen, nur ein Hinweis auf defizitäre Perspek­ tiven. Sowohl naturalistische als auch die, (im Einzelnen unterschied­ lichen), idealistischen Perspektiven ›des Menschen‹, ›des Mensch­ seins‹, sehen an sich selbst, den So-Philosophierenden und seine wirklichen Leistungen vorbei. Es sind (und wollen sein) ›objektive Vorstellungen‹, und als das, philosophisch reduktive Vorstellungen. Die wirkliche Wirklichkeit, und unsere uns zugehörigen Reflexionen, also grundsätzlich einschränkend. Sie mögen sich, wie auch immer, theoretisch entfalten, und geltungstheoretisch-sicher in Position zu bringen versuchen. Auch ein ›geltungstheoretischer Rückzug‹ auf reine, transzendentale Vernunft, verengt nämlich nicht weniger den 161

Ernst Jünger. An der Zeitmauer. Stuttgart1959. S 120)

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4.4. Radikalisierung phänomenologischer Tradition

philosophischen Blick. Hinzugefügt sei aber, dass damit idealistischen und naturalistischen (biologistischen, psychologistischen) Entwür­ fen, keineswegs jede philosophische Bedeutung für anthropologische Wissenschaften, für existentielles Philosophieren, abgesprochen wer­ den könne. – Kurzum, Sein, so auch Karl-Otto Apel,162 könne in keinem Fall, auf Seiendes, und Welt nicht auf bloß innerweltlich (faktisch) vorkommende Gegenstände reduziert werden. Da sind also unsere Erfahrungen von ›ontologisch‹ zu nennen­ den Spannungen, die uns mit unserer lebensweltlichen Lage, immer auf uns selbst als wirkliches So-in-der-Welt-Sein, verweisen. All diese idealistischen, naturalistischen, szientistischen Entwürfe fassen unser wesentlich wirkliches, unser irritiertes und perturbiertes Soin-der-Welt-Sein nicht wirklich. Ein solches Philosophieren könne grundsätzlich nicht das erfüllen, was hier und jetzt, als Erstes für uns zu leisten wäre. Das phänomenologisch geforderte, philosophisch unverzichtbar radikale Schauen-Schauen unseres wirklichen In-derWelt-Seins. Diese begrenzten Perspektiven können und wollen nicht unserem, für uns notwendigen Schauen auf uns selbst, und auf unsere reflexive Reflexion wirklich genügen. Diese wissenschaftlichen oder philosophischen Reflexionen, bleiben also, ob sie darauf achten oder nicht, immer Reflexionen unseres wesentlich wirklichen So-in-derWelt-Seins. Phänomenologische Philosophie verwirklicht sich ausdrücklich als existentielle Reflexion der Reflexionen. Diese Gestaltung die, exis­ tenz-phänomenologisch modifiziert, für Reflexionen als verlässlicher Leitfaden genommen, jeder philosophischen Arbeit Halt gibt und Richtung weist. Ein sich ausrichten auf uns, als intentional geordne­ tes So-in-der-Welt-Sein. Das ist eine Einstellung auf unser Weltund Selbst-Verständnis, die im Übrigen phänomenologisches Philo­ sophieren nicht für sich alleine beanspruchen kann. (Wäre es so, wäre es mehr als verwunderlich.) Von uns werden aber existentielle Konse­ quenzen gezogen. Es kann also auch hier nicht verborgen bleiben, dass existenz-phänomenologische Reflexionen trotz allem fest eingefügt bleiben im Horizont traditionellen Philosophierens. – Schauen wir nun noch genauer hin. So liegt auch dieses für uns geradezu auf der Hand. Es kann von uns nicht mehr übergangen werden. Der existen­ tiell-phänomenologische Philosophierende reflektiert als So-Reflek­ 162 Karl-Otto Apel. Transformation der Philosophie. Band 1. Sprachanalytik. Semio­ tik. Hermeneutik. Frankfurt/M 1973. S 94

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tierender – mit der Form ›existentielle Reflexion der Reflexionen‹ – wirklich selbst. Erfährt dabei, gerade als so radikal Reflektierender, sich selbst als irritiertes und perturbiertes Da-und-So-Sein. Sogar als bestürzend ungesichert, haltlos, fragil. Als wortwörtlich fragwürdig. Und das aus jeder Perspektive. Ob mit Blick auf Natur, Geschichte, oder die eigene Biographie. – Ist das nicht das glatte Gegenteil von dem, was Mensch von seinem mühseligen Philosophieren praktisch erwarte? Etwa, Seelenruhe, gehobene Gestimmtheit, Bestätigung sei­ ner Größe, wenigstens, Freiheit von Angst; epikureischer Gleichmut gegenüber seinem Sterben-müssen. Vielleicht sogar ein ›heimkehren aus Entfremdung‹. Nicht-zur-Ruhe-kommen können und dürfen, nennt aber die Erfahrung wirklichen Philosophierens. Diese Reflexio­ nen sind sogar herausragende Leistung des Philosophierens. Weshalb dann, sicher dann eine naheliegende Frage, überhaupt noch dieses Philosophieren? Scheint es doch, als ob gerade existenz-phänomeno­ logisches Philosophieren nicht nur keinen stabilen Sinn zu machen imstande sei, (neupositivistische Schulen mögen sich bestätigt füh­ len); sondern sogar darüber hinaus auch noch ›die letzten Reste‹ von vertraut-scheinendem, alltäglichem Selbst- und Weltverständnis, gewollt oder nicht, endgültig unterminiere. Aber auch für moderne wissenschaftliche Philosophie sei dieses (so scheint es, grüblerische; selbstbezogene) Philosophieren ein Ärgernis. Und zwar werde der mühsam erworbene Rang neuzeitlicher Philosophie der Vernunft, oder als erkenntnistheoretische Dienstleisterin für die Wissenschaf­ ten, oder als gefragte Ratgeberin für Politik und sogar Wirtschaft, suspekt und beschädigt. Nicht zu Letzt sei dieses Philosophieren damit auch für die universitäre Philosophie selbst defätistisch. Bei­ spielsweise mit dem Ansinnen, auch die ›geltungs‹-sichernde ›reine Vernunft‹ existentiell zu binden, und dadurch psychologistisch zu relativieren. Ist es nicht das, was schon Husserl selbst immer wie­ der als die Grundgefahr für ›streng wissenschaftliche Philosophie‹ beschrieben hatte. – Man sollte aber meinen, einem ernsthaft radikal Philosophierenden könne, unabhängig von jeweiliger Schule, und Ausrichtung, und unabhängig von Absicht und Intention, zumindest eines nicht verborgen bleiben können. Würde schon »in das vitale Lebensgefühl kein Bruch kommen, so würde es mit dem weltausgrei­ fenden Denken niemals ganz ernst werden.«163 Gerade das schließt Dieter Henrich. (2006). S 74; dazu auch Hegel: Die besondere Form, die eine Philosophie trägt: einerseits entspringe sie aus »der lebendigen Originalität des Geis­

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die phänomenologische Reflexionen von Wissenschaft und Philoso­ phie mit ein. – Spannend ist nun, dass auch Husserl dem bis hierher zustimmen könnte. Er würde sich sogar bestätigt sehen können. Wir rücken dies aber weiter, in eine davon radikal verschiedene Perspek­ tive. Und zwar, als unser sich-wirklich-selbst-erfahren und, davon nun nicht zu lösen, Philosophieren als uns wirklich verunsichernde existentielle Erfahrung. Für Husserl verbliebe unser Philosophieren gerade daher in einem ›vor-phänomenologischen Raum der Refle­ xion‹.164 Für uns aber leuchtet eine entscheidende Erfahrung auf. Wirklich eine Möglichkeit letztmöglicher existentielle Bewegung; phänomenologisches Philosophieren hier ausdrücklich selbst als ›letztmöglich‹ mit eingeschlossen. Aber auch eine Bewegung, die Mensch zwar als endlich, fragil in seine Schranken weist; zugleich aber, die Reflexion zu einem wirklich wesentlichen ›darüber-hinaus-seinkönnen‹ eröffne. Das mag beim ersten Hören unerhört, vielleicht auch widersprüchlich, unsinnig, klingen. Auch zu abgehoben, zu spekula­ tiv, zu abgedroschen, um überhaupt ernsthaft vorgestellt zu werden? Es fasst aber nicht zuletzt auch unsere ›praktischen‹ Intentionen. Es eröffnet nämlich die Vorstellung der Reflexion einer ›Philosophie der Hoffnung‹. Um Missverständnisse auszuschließen. Ausdrücklich nicht mehr als eine ›Reflexion‹. Nicht eingeführt mit diesen oder jenen trostversprechenden Inhalten. Surrogat für den neuzeitlichen Glaubwürdigkeitsverlust theologisch-religiöser Inhalte.165 Sondern, als eine ›Aussicht‹, die den Menschen, überhaupt die Bewegungen des Menschseins, in eine nicht-nachlassende, unerhörte existentielle tes (…), der in ihr die zerrissene Harmonie durch sich hergestellt und selbstständig gestaltet hat, andererseits aus der besonderen Form, welche die Entzweiung trägt, aus der das System hervorgeht. Entzweiung ist der Quell des Bedürfnisse der Philosophie, und als Bildung des Zeitalters die unfreie, gegebene Seite der Gestalt.« (Differenz des Fichte`schen und Schelling`schen Systems der Philosophie. (1801) Hamburg 1962. S 12) 164 »Der Mensch erfasst in der inneren Erfahrung sein aktuelles Erleben, sein Vorstellen, Urteilen usw. in seiner originären Gegenwart, einer Gegenwart, die ohne weiteres einen in der objektiven Zeit zu bestimmenden Zeitpunkt vertritt, wie das Erlebnis selbst ein Vorkommnis ist in der räumlich-zeitlichen Wirklichkeit. Der Phänomenologe aber erfasst in seiner phänomenologischen Reflexion keine objektive Zeit, kein Vorkommnis des Menschen, auch nicht des Menschen, er selbst – alles Objektive verfällt der phänomenologischen Reduktion, (…).« (Hua. XXV. S 109) 165 ›Freilich, wehe, wie fremd sind die Gassen der Leid-Stadt,/wo in der falschen, aus Übertönung gemachten/Stille, stark, aus der Gußform des Leeren der Ausguß/prahlt: der vergoldete Lärm, das platzende Denkmal.‹ (Die zehnte Elegie)

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Spannung versetzte. Man könne hier vielleicht sogar von einer dem Menschen zufallenden ›Gnade der Reflexion‹ sprechen. Eine ›Gnade‹ allerdings, die er sich immer wieder mühsam zu erarbeiten, damit zu ›verdienen‹ habe. Wenn man so will die Möglichkeit eines ›irratio­ nalen Selbstverständnis‹; das Mensch aber nicht fraglos, gleichsam von selbst (›objektiv‹) zukomme. Sehr frei nach Goethe, als unser Erbe müsse es mühsam erworben werden! – Auch hier scheint sich die schon angesprochene Spannung existenz-phänomenologischen Philosophierens zu neuzeitlichem Vernunft-Denken zu bestätigen. Husserls ›idealistische‹ Phänomenologie dabei ausdrücklich mit ein­ geschlossen.166 Dies kann ja gar nicht übersehen werden. Kann nicht verdeckt, soll nicht geleugnet werden. Diese Spannung aber soll, anders als Husserl es sich in harter Ablehnung zurecht gelegt hat, phänomenologisches Philosophieren fördern. Als Besinnung auf die (Husserl hat es nicht gesehen) existentielle Potenz systematisch-phä­ nomenologischen Philosophierens. – So zusammengefasst. Von neuzeitlich fundamental-absoluter Selbstgewissheit, sind wir existenz-phänomenologisch Philosophie­ rende weit entfernt. Wir schauen selbst hin auf uns selbst. Uns scheint es naiv, Philosophieren, philosophische Reflexionen, (natur-)wissen­ schaftlich oder, ein für alle Mal, transzendental-vernünftig (sicher und fest) ordnen zu wollen. 167 Der Philosophierende verliert das aus den Augen, was ihn philosophisch herausfordert; seine Reflexionen in Wirklichkeit nicht zur Ruhe kommen lässt. Sich selbst als irritier­ tes und perturbiertes Da-und-So-Sein. – Dass umgekehrt Husserl existentiellen Philosophieren vorwirft, es mit ›naiver natürlicher Einstellung‹ genug sein zu lassen, ist nicht ohne Witz. Und das 166 »Ich kann nicht anders, als in der transzendentalen oder konstitutiven Phänome­ nologie die rein ausgewirkte und zu wirklich wissenschaftlicher Arbeit gekommene Transzendentalphilosophie zu sehen.« (Phänomenologie und Anthropologie. Vortrag in den Kantgesellschaften von Frankfurt, Berlin und Halle. (1931). In: Hua. XXVII. S 168) 167 Dazu beispielsweise auch dieser Einwand Emmanuel Levinas. »Dass eine Hand­ lung durch die Technik, die sie doch wirkungsvoll und leicht machen soll, vereitelt werden kann; dass eine Wissenschaft, dazu bestimmt die Welt zu umfassen, sie der Desintegration ausliefert; dass eine Politik und eine Verwaltung, die vom Ideals des Humanismus geleitet sind, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und den Krieg aufrechterhalten – all das sind Umkehrungen vernünftiger Projekte, Umkehrungen, welche menschliche Kausalität und eben dadurch auch die als Spon­ tanität und Akt verstandene transzendentale Subjektivität disqualifizieren.« (Huma­ nismus des anderen Menschen. Hamburg 1989. S 87 f.)

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nicht nur für Außenstehende. Wir haben ja wirklich existentiell eine Gewissheit. Und zwar, das mag verwundern, gerade unsere existenti­ elle Beunruhigung. Eine Gewissheit, die sich auch durch die gesetzten Grenzen wissenschaftlicher Vernunft, oder mit diesem oder jenem System wissenschaftlicher Philosophie, nicht aufheben lasse.168 So kann man kann also zurecht von einer für uns gewissen ›Unruhe des Herzens‹ sprechen. Für die aufgeklärte, wissenschaftliche Vernunft ein bleibendes Ärgernis! Existentielle Reflexionen reflektieren also nie anders als im Hori­ zont wirklich wirklichen In-der-Welt-Seins. Phänomenologisch in Bewegung gesetzt und gehalten gerade durch die Möglichkeit (die uns zugehörige Potenz) der Reflexion der Reflexionen unseres irritiertem und perturbiertem Selbst-Seins. – Das sind doch, kaum zu bezweifeln, wirklich wirkliche Erfahrungen. So konstituiert sich, existenz-phäno­ menologisches Philosophieren gerade als Reflexion der Reflexionen unseres Selbst-Seins und Welt-Habens. Das schließt als Leistung ein, unser existentielles Philosophieren selbst. Kurzum, Reflexionen, die wir, weiter irritiert, existenz-phänomenologisch selbst zu beglei­ ten haben. – Philosophieren von uns vorgestellt, als Leistung wirk­ lich Philosophierender. Kurzum, Reflexionen wesentlich wirklichen So-in-der-Welt-Seins. Das ist phänomenologisch nun wirklich und wesentlich unüberschreitbar. Ein Philosophieren mag sich ordnen und organisieren wie es wissenschaftlichem, vernünftigem Denken über­ haupt möglich ist. Es wird immer wieder zurückverweisen auf einen wirklich Philosophierenden. Existentielle Reflexionen, als Reflexio­ nen eines So-in-der-Welt-Seins, scheinen also als unüberschreitbar auf; wenn man so will: ein ›phänomenologisch gesetzter Limes‹.169 –

Dazu nun eine spannende Notiz Husserls: »Februar 1930. Dass die Welt an sich rational unbestimmt ist und auch das im letzten Sinn transzendental Seiende. Die Unmöglichkeit, das Seiende letztlich durch Wahrheiten an sich zu erkennen.« (Hua. XV. S XXXI/Einleitung des Herausgebers Iso Kern) 169 Auch mit dieser Perspektive: »Das harmlose Spiel des Lebens büßt seinen Spiel­ charakter ein. Nicht, weil die Leiden, die es bedrohen, das Leben unangenehm werden lassen, sondern weil die Unmöglichkeit, diese Leiden zu unterbrechen, und das quä­ lende Gefühl des Angekettet-Seins den Grund dieser Leiden bildet. Die Unmöglich­ keit, aus dem Spiel auszusteigen und die Spielzeuge wieder ihrer Nutzlosigkeit zu überlassen, kündigt den genauen Zeitpunkt an, an dem die Kindheit endet. Die Unmöglichkeit wird so für den Begriff des Ernstes selbst konstitutiv.« (Emmanuel Levinas. Auswege aus dem Sein. Mit den Anmerkungen von Jacques Rolland. Ham­ burg 2005. S 10 f.) 168

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Nicht wenige werden sagen: philosophisch eine ›problematische‹ Perspektive. Husserl habe zurecht sich dagegen positioniert. – Dass existentielle Phänomenologie sich selbst herausgefordert, ja genötigt sieht, sich selbst zu klären, kann wirklich nicht verwundern. Sogar unabhängig von diesen Einwänden. Schon allein mit Blick auf den Anspruch phänomenologischen Philosophierens letztmögliche exis­ tentielle Grundlagen-Forschung für wirkliches Da-und-So-Sein ein­ führen zu wollen. Unsere phänomenologische Selbst-Reflexion und wir Philosophierenden selbst brauchen philosophische Aufmerksam­ keit. Vor allem, ob und welchen Anspruch auf Geltung philosophische Reflexionen überhaupt noch zugestanden werden könne? Und dann, ob ein solches ausdrücklich existentielles Philosophieren, über bloß subjektive Wahrhaftigkeit eines Philosophierenden hinausreiche? (Er habe es mit seinem Philosophieren zumindest ehrlich gemein.) – Nun ist aber existentielle Bedeutung für uns schon offensichtlich. Sind es doch schließlich ›praktische‹ Fragen die den So-Philosophierenden bewegen. Wir rücken also in jedem Fall selbst in unseren Blick; einschließlich unserer Reflexionen, unseres existentiellen Philoso­ phierens. Und zwar immer als irritiert, perturbiert. Als ›im Grunde fragiles‹ Da-und-So-Sein. – Was könne also, das ist die Frage, von einem selbst grundsätzlich so verunsicherten (sich immer wieder auch verunsichernden) Philosophieren praktisch und theoretisch überhaupt noch zu erwarten sein? Doch wohl nichts weiter als eine immer weitere Entfaltung subjektiv gedrückter Befindlichkeit. Ein Philosophieren in ›Furcht und Zittern‹ (Kierkegaard). Die Inszenie­ rung eines ›erbarmungswürdigen Jammerkreises‹. Das mag vielleicht für Psychologen und Therapeuten noch von Interesse sein. Mit Blick auf die, man mag davon halten was man will, beachtlichen Leistungen, neuzeitlicher Philosophie, aber ein versagen!170 Es liege auf der Hand, dass gerade existentielle Phänomenologie ihre Perspektive, Form, methodische Gestaltung, ihre theoretische und praktische Relevanz, selbst zu rechtfertigen habe. Daran führe kein Weg vorbei. Das liegt wortwörtlich in der Natur der Sache dieses Philosophierens. Schon die Logik phänomenologischen Philo­ sophierens fordert Reflexion der Reflexion; eine reflexive Reflexion. Als Rechtfertigung unseres Philosophierens reicht es nicht, auf die 170 Mit der Leistung neuzeitlicher Philosophie, grundgelegt durch Descartes, gehe die »Naivität, in der die Welt als selbstverständlich seiende vorausgesetzt ((werde)) – als selbstverständlich vorgegebene durch die Erfahrung« verloren. (Hua. XXVII. S 167)

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historische und systematische Bedeutung phänomenologischer Phi­ losophie zu verweisen. Dazu kommt noch diese allgemeine wohl­ vertraute Herausforderung. Zwar scheint theoretisch (abstrakt; als Idee) der Bau vernünftig-stimmiger Welt- und Selbst-Ordnung ohne weiteres möglich. Aber die existentiellen Erfahrungen wirklichen So-in-der-Welt-Seins, lassen sich praktisch nicht ohne weiteres auf­ heben, nicht einmal glätten. Das oft leidvolle, wirkliche gelebte Leben spottet eben jeder Theorie. Man achte doch nur auf sein eigenes unruhiges Herz. (Unruhig selbst dann noch, wenn ein Leben, wie man sagt, in ruhigen Bahnen zu verlaufen scheint.) Das sind nicht nur erkenntnistheoretische Fragen. Man mag es sich zurechtlegen wie auch immer. – Von besonderer Bedeutung ist also für unser phä­ nomenologisches Philosophieren, das hier praktisch aufscheinende ›problematische‹ Selbst- und Welt-Verständnis, unsere existentielle Selbst- und Welt-Erfahrung. Entfaltet als existentielle Reflexion der Reflexionen unseres wirklichen Da-und-So-Seins. Phänomenologi­ sches Philosophieren findet sich geradezu ›natürlich‹ einbezogen (und lässt sich einbeziehen) in praktisch existentielle Grundfragen. Etwa, ›ich kenne mich hier und jetzt mit mir und meiner Welt nicht mehr aus‹! ›Ich erfahre mich selbst als grundsätzlich irritiert und perturbiert‹! ›Ich habe Angst‹! Das sind Fragen, die nicht einmal explizit ausgesprochen werden brauchen (und sie werden es auch nicht); sondern vielleicht nur hintergründig da und virulent (›leben­ dig‹) sind. Etwa, als allgemeine, sich nirgends festmachen lassende Unruhe, Beunruhigung, Sorge, Hysterie. (›Ich weiß nicht was soll es bedeuten, dass ich so traurig‹: so unruhig, ängstlich, in Sorge, nervös, aufgebracht, (u. ä.) bin.) Man mag dies (sicher die Regel) als irrational abtun, oder als ›krank‹ diffamieren; vielleicht sich auch tiefenpsychologisch vernünftig zurechtlegen. Für uns sind es zunächst schlicht Fassungen unserer möglichen Reflexionen. Schau also phä­ nomenologisch genau hin auf uns und unsere Lebenswelt. Diese, vielleicht sogar uns selbst zuerst und zumeist verborgene existentielle Grund-Lage unseres Da-und-So-Sein bestimmt, ordnet, richtet uns nicht weniger unerbittlich aus, als die offen einsichtig vernünftigen Ordnungen unserer, wie man glaubt, ›wirklichen Welt‹. Und ist also auch nicht weniger wirklich. Arnold Gehlen ordnet dies kurz und knapp: »Die grundsätzlich irrationale, nicht wissenschaftsfähige und

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4. Reflexion der Reflexionen des Welt- und Selbstverständnisses

nicht direkt kontrollierbare ›breite‹ Erfahrung hat ihre Wahrheit: es ist die Gewissheit.«171 Mag dieses Unternehmen existentieller Phänomenologie, unser fragiles Welt- und Selbst-Verständnis einsichtig, letztmöglich zu klä­ ren, möglicherweise auch scheitern (das ist nicht auszuschließen); an einem ist festzuhalten: Wie immer wir es philosophisch drehen oder wissenschaftlich (psychologisch; soziologisch, biologisch) wenden. Jeder Versuch ›hinter‹, oder ›über‹ oder ›unter‹ (also ein irgendwie objektiv darüber-hinaus, darüber-hinweg) unser wesentlich wirkli­ ches Da-und-So-in-der-Welt-Sein zu denken, zu schauen, zu philo­ sophieren, scheint ausgeschlossen. Erzeugt nun wirklich bloße Chi­ mären; ist ein sich über sich selbst und seine Welt-Haben täuschen. Auch die fantastischste literarische Vorstellung, oder äußerst pro­ gressive, historisch rücksichtslose Kunst, oder metaphysisch-theo­ logische Spekulationen, die Wahrnehmung einer Offenbarung aus einer geglaubten Transzendenz‘, verbleiben im Horizont unseres wirk­ lichen Da-und-So-Seins. Wer vollzieht denn ›Sezession‹; organsiert ›Metatheorien‹, leistet ›Kritik‹, ist ein ›Hörer des Gotteswortes‹ (K. Rahner), führt was auch immer ein, und behauptet sich als Beob­ achter, der sich selbst zu beobachten in der Lage sei? Und selbst noch die außergewöhnlichsten ›mystischen Erfahrungen‹, (deren Möglichkeit hier nicht bestritten werden sollen) bleiben wortwörtlich Vorstellungen intentionaler Bezüge eines wirklichen Menschen; sind und bleiben also Möglichkeiten, konstituierte Gestaltungen seines wesentlich wirklichen Welt- und Selbsterfahrens. Wortwörtlich also, unsere Reflexionen. – Fassen wir diese Schritte kurz, knapp und dicht zusammen. Über die wirkliche Wirklichkeit unseres wesentlich wirklichen Da-und-Soin-der-Welt-Seins scheint kein hinauskommen zu sein. Weder wis­ senschaftlich, oder philosophisch, oder auch sonst wie. Wir sind wesentlich wirkliches So-Da-Sein in und mit unserer wirklichen Lebenswelt. Und das ist in jedem überhaupt denkbaren Falle der Hori­ zont innerhalb dem jedes uns überhaupt mögliche Welt- und Selbst­ verständnis spielt. So ist es natürlich auch der Horizont, der nun die Vorstellung von (irgendeiner) ›Transzendenz‹ für uns erst ermöglicht; das ist für uns intentional verwirklich. Etwa als unser Sehnsuchts-, Hoffnungs- oder Raum des Glaubens. Vielleicht auch nur scheinbar so ›simpel‹ wie: »am Ende der Straße steht ein Haus am See; Orangen­ 171

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baumblätter‘ liegen auf dem Weg« (Peter Fox). – Da trifft wortwörtlich die Rede von ›der Immanenz der Transzendenz‹ wirklich zu. Das mag wie ein Widerspruch zu dem bislang gesagten scheinen. Und vor allem hoch spekulativ mit Blick auf unseren gewöhnlichen Alltag und die gesammelten Erfahrungen aus der Geschichte. Führen doch, daran sei festgehalten, tatsächlich auch alle Wege der Religionen, der Mystik, oder dieser oder jener Utopien, letztlich doch wieder zurück zu unse­ rem wirklichem So-in-der-Welt-Sein. Wir selbst sind es tatsächlich, die sich auch so disponieren können. Entscheidend bleibe daher, schon für die Entfaltung des schlichtesten hermeneutischen Aktes ›der Sitz im Leben‹. Das wissen bekanntlich selbst die Theologen. Und doch reflektiert sich auch phänomenologisch, der selbstverständlich prä­ sente, vertraute Gedanke eines ›wirklich über alltägliches Welt- und Selbst-Verständnis hinaus reichen-zu-können, möglicherweise sogar, so solle es auch sein. Als ob wir dazu, von woher auch immer, gedrängt werden; oder, warum auch immer, uns selbst dazu drängen. Wir uns erst in einem darüber-hinaus-sein ›ganz‹ zu fassen und zu bestimmen in der Lage seien. Als ob diese faktische, wissenschaftlich bestimmt werden könnende Welt, für uns nicht genug sein könne.- Daran ist wahrlich nichts Mystisches; die Vorstellung eines ›Spiritismus‹. Denken wir hier auch an die existentiell bedeutsamen Möglichkeiten der, nennen wir es mit Karl Jaspers‚ ›Grenzerfahrungen‹. Für uns wirkliche existentielle ›Reflexionen‹ eines ›Anderen‹ und (es kann nicht anders sein) zugleich uns, gerade so, zugehörigen.172 Denken wir beispielsweise hier nur an, hoffen, glauben, lieben. Allerdings, und wieder diese phänomenologische Wendung, auch diese Erfahrungen bleiben unumstößlich, existentielle Reflexionen unseres gespannten Da-und-So-Seins. Hinzugefügt sei noch dieses. Dies sind wirkliche und mögliche existentielle Erfahrungen; sind also nicht Ideen der Ver­ nunft.

Hier hat, inzwischen wenig beachtet, Karl Jaspers die Richtung gewiesen. »Weil wir Erscheinungen, nicht Sein an sich selbst erkennen, stoßen wir erkennend an Grenzen, die wir durch Grenzbegriffe fühlbar machen. Grenzbegriffe wie ›Sein an sich‹ sind nicht leer, sondern durch Gegenwärtigkeit erfüllbar, sie treffen nicht einen Gegen­ stand, sondern das mich mit allem Gegenständlichen Tragende und Umgreifende.« (1946). S 623 172

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4. Reflexion der Reflexionen des Welt- und Selbstverständnisses

4.5. Lebensweltliche Relevanz existentieller Phänomenologie Existenz-Phänomenologisches Philosophieren bleibt also in jedem überhaupt denkbaren Fall: ein Schauen, eine Reflexion wesentlich wirklichen Welt- und Selbstverständnisses. Das rundet sich nicht als nur kognitive, sondern erst als existentielle Leistung. Also als auch praktische Gestaltung der reflexiven Reflexion der Reflexionen wesentlich wirklichen Da-und-So-Seins. Das ist immer gelebt als leibhaft-da- und wir-sein. ›Mein‹ Schauen ist nicht zuletzt Leistung ›horizontal‹ und ›vertikal‹ geordneter Gemeinschaft. Von uns phä­ nomenologisch nun weiter radikal entfaltet; mit Blick auf unser Schauen-Schauen selbst. Und weiter als Schauen des Schauens eines So-Schauenden. Eigens Erkenntnistheorien vorstellen ist eines; sich zu fragen, was es existentiell bedeute, dass Mensch sich so ›zu stellen‹ versuche, ein anderes. Das sind, lassen wir uns darauf ein, wirklich wahrhaftig erstaunliche Leistungen. Die Entfaltung einer sich selbst grundlegende, praktisch selbst-bestimmende konstitutive Potenz. Die sich als Vollzug zwar ›praktisch legitimiert‹. Während es als Vorstellung geltungstheoretischer Vorstellungen uns philosophisch tatsächlich immer noch Rätsel aufzugeben scheint. Zunächst verweist es auf uns selbst. Auf uns, als Gestalt und Selbst-Gestaltung wesentlich wirklichen und wirklich wesentlichen Da-und-So-Seins. Wir erfahren uns als irritiert und perturbiert. Zugleich aber auch ist unser So-Schauen-können (und müssen), als dieses Schauen eines sich selbst Schauen-könnenden eine kon­ stitutive Leistung. Die Erfahrung einer theoretischen und prakti­ schen Potenz. Unser uns wirklich auszeichnendes und philosophisch herausforderndes Selbstverständnis. »Zum Sehen geboren – zum Schauen bestellt!« (Goethe. Das Türmer Lied) – Das setzt sich auch als Vorstellung existenz-phänomenologischer Korrelationsfor­ schung. – Das alles darf nicht fehlgedeutet, oder zu eng gefasst werden. Existentiell-phänomenologisches Philosophieren gestaltet sich in keinem Fall als (sagen wir) bloß ›passives Nachzeichnen‹ einer, möglicherweise schon beispielsweise realistisch, naturalistisch oder rationalistisch gedeuteten, also immer irgendwie letztendlich ›objektiv‹ (vielleicht als ›wissenschaftliches Geltungsgebilde‹) schon vor-liegenden wirklichen Wirklichkeit. Als wäre das, was uns heraus­ fordert, bloß ein im weiten Wortverständnis beeindruckt werden, von,

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4.5. Lebensweltliche Relevanz existentieller Phänomenologie

– uns woher auch immer übergebenen – ›wirklichen, wahren, gelten­ den Objekten‹. Ein Philosophieren ›darüber‹, sich dann in deskripti­ ven oder ›wissenschaftstheoretischen‹ Akte (nachstellen logischen Ordnens) erschöpfe; oder sich spekulativ versteige. – Aber weder ein naiver Sensualismus noch irgendein reiner Idealismus erfassen unser wirkliches Selbst-Selbstverständnis und das ›intentional-leib­ hafte Korrelat‹ unsere wirkliche Welt-Habe. Also all das, was man hier gemeinhin als ›objektiv‹ vorstellt, und als wissenschaftliche und philosophische Norm setzt, und von bloß ›subjektiv‹ erfassten entschieden abzusetzen vermeint, braucht als unsere Reflexion selbst Reflexion. Das so als ›objektiv‹ begriffene ist nicht endgültiges, absolut-unbedingtes, wahres Ur-Muster aus dem ›platonischen Ide­ enhimmel‹. (Die als wesentlich vorhandene, wirkliche Wirklichkeit.) Sondern selbst immer Gestaltung einer Möglichkeit unseres existenti­ ellen Welt- und Selbst-Verständnis. Unsere uns mögliche Vorstellung unserer Wirklichkeit. Geleistet, das ist willkürlich und unwillkürlich konstituiert, als Gestalt der ›horizontal‹ und ›vertikal‹ angelegten Intersubjektivität. Das ist auch praktisch, die gelebte Wirklichkeit unserer Welt, die ›ich‹ erfahre; an der ich als wir mitteilhabe; in und mit der ›ich‹ mich nun auch selbst ›weiter‹, umfassender verwirklichen, reflektieren könne.173 Unsere phänomenologische Reflexion entfaltet sich also zurecht als existentielle Reflexion der Reflexionen; Reflexionen, von diesem oder jenem Vorhandenen. Das sind immer konstitutive Leistungen wirklicher Menschen. (Kurz und knapp schreibt Erwin Straus. ›Der Mensch denkt, und nicht das Gehirn‹.)174 ›Unsere Wirklichkeit‹ also, unser So-in-der-Welt-Sein, wird phänomenologisch geschaut und reflektiert als Reflexionen unseres wirklichen Welt- und Selbstsein.175 – 173 Dazu Hans Wagner: »Denn eben die Allheit der Selbstbeziehungen der Intersub­ jektivität auf die Welt und die Weltstücke (ihrer theoretischen, sittlichen, planenden, entwerfenden, in Kunst, Recht, Staat, Wissenschaft, Wirtschaft und Technik usw.) sowie die reflexiven Selbstbeziehungen auf ihr Sein und Leisten selbst; ä sie sind das, was objektiver Geist heißt.« (19672). S 362 174 Vom Sinn der Sinne. Ein Beitrag zur Grundlegung der Psychologie. Berlin. Göt­ tingen. Heidelberg. 19562. S 112 ff. 175 Dazu beispielsweise R. Panikkar: »Verstehen ist ein riskanter und wagemutiger Prozess, weit entfernt davon unverbindlich und unpersönlich zu sein. Die ganze Person ist in dem Prozess des Verstehens eingegangen. Die menschliche Intelligenz kann in Wirklichkeit ihre Funktion nicht ohne Beteiligung von Liebe und ohne Einsatz der ganzen Person wahrnehmen.« (Verstehen als Überzeugtsein. In: Hans-Georg

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4. Reflexion der Reflexionen des Welt- und Selbstverständnisses

Davon gehen wir selbstverständlich aus. Ich bin! Du bist! Wir sind! Unsere Welt ist wirklich! Und wirklich möglich ist dann auch unser existentielles Welt- und Selbstverstehen. Wobei noch offen bleibt, wie dieses unser Leisten als Leistung wirklichen Welt- und Selbst-Selbst-Verstehens praktisch sich entfalte und vor allem theo­ retisch letztmöglich rechtfertige. – Eines aber drängt sich von selbst auf und kann, das alles im Blick, nicht mehr geleugnet werden. Näm­ lich die praktische Ausrichtung unseres Philosophierens. Ein krasses Missverständnis wäre es also, unser phänomenologisches Philoso­ phieren als abstrakte, spekulative und lebensfremde ›Theorie‹ zu behaupten. Ohne jede Bedeutung (wissenschaftlichen Wert) für das Selbstverständnis der aufgeklärten Menschen. Nichts als ein weiterer (verfehlter) Versuch sich an die bedeutende Geschichte der Phänome­ nologie Husserls anzulehnen. Oder als ginge es vielleicht darum den Faden ›romantischer Ideologie‹ fortzuspinnen. Dem ›kalten Rationa­ lismus‹ der Aufklärung, eine ›heimelige Philosophie‹ des ›ganzen Menschen‹, der ›harten Zivilisation der Moderne‹ ›wahre Kultur‹, ›abstrakter Vernunft‹ ›umfassenden Geist‹, entgegenzusetzen.176 – Phänomenologisches Philosophieren ist gerade als existentielle Refle­ xion der Reflexionen, praktisch lebensweltlich relevant. Es reflektiert unser irritiertes So-in-der-Welt-Sein, unsere Welt-Habe und SelbstSein, praktisch konkret. Diese phänomenologischen Reflexionen sind also wirklich die geltungstheoretische Fundierung menschlichen Welt- und Selbst-Verstehens. Sind philosophische Grundlagen-For­ schung‘ für die Reflexionen unseres Da-und-So-Seins. (Von der prak­ tischen Relevanz als ›methodisches Instrument‹ für Medizin, Psycho­ logie und Psychotherapie, schweigen wir hier noch ganz. Denken wir an Ludwig Binswanger, Erwin Straus und Wolfgang Blankenburg.) – Dicht zusammengefasst. Neuzeitliche ›Erkenntnistheorie‹ begreift sich bekanntlich als Überwindung spekulativer Metaphysik. Als Eröffnung geltungstheoretisch sicherer Perspektiven für Wis­ senschaft und Philosophie. Die ›phänomenologischen Reflexionen‹ eröffnen nun darüber hinaus ›die Moderne‹. Nicht durch ›Überbie­ tung‹ neuzeitlichen Philosophierens der Vernunft, sondern durch eine (wortwörtlich) ›Verwirklichung des Philosophierens‹. Neuzeit­ Gadamer. Paul Vogler (Hg.) Neue Anthropologie. Philosophische Anthropologie. Zweiter Teil. Stuttgart 1974. S 165) 176 Vgl. Wolf Lepenies. Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wis­ senschaft. München. Wien 1983. S 245 ff.

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4.5. Lebensweltliche Relevanz existentieller Phänomenologie

liches Philosophieren wird von uns radikal gewendet. Eingeführt und verwirklicht als existentiell-phänomenologisch geleistetes Weltund Selbstverstehen. In letztmögliche Form gebracht als Reflexion der Reflexionen. Führt also aus, die uns letztmögliche (nicht mehr letztgültige) Bedingung für unsere wirkliche Welt-Habe. (Als nicht nachlassende reflexive Reflexion der Reflexionen). Und korrelativ, davon nicht zu trennen, die Gestalt und Gestaltung unseres wirkli­ chen und wesentlichen Selbst-Seins. Als Können, Sollen, Müssen und Dürfen. – Das also stellt die existentielle Grund-Ordnung des ontologischen und anthropologischen Horizonts. Die theoretische und praktische Bedeutung existentiell-phänomenologischen Philoso­ phierens ist als Reflexion der Reflexionen ausdrücklich nicht auf (traditionelle) Philosophie begrenzt. Das ist der Horizont, innerhalb dem sich auch die Wissenschaften (denken wir an Soziologie, Psycho­ logie, Psychiatrie und Medizin) zu bewegen haben.177 (Das von den Leistungen dieser Wissenschaften selbst wiederum umgekehrt ein unser phänomenologisches Philosophieren bewegendes ›Feedback‹ erfolgt, wäre ein eigenes Thema.) – Ob das, die Frage ist berech­ tigt, existenz-phänomenologisches Philosophieren nicht einstelle in Spielarten des (sogenannten) ›Psychologismus‹ und ›Soziologismus‹? Für Husserl bekanntlich eines der Hauptübel neuzeitlicher Philoso­ phie. (»Überall ging die vorherrschende Tendenz der neuesten Zeit dahin, den ursprünglichen naiven Naturalismus zum voll bewussten Prinzip zu erheben und all die idealen Gegenständlichkeiten, die als Objekt dieser Disziplinen auftreten, zu naturalisieren, also die

Deren Bedeutung für existentielles Philosophieren nicht übersehen werden kann. Unabhängig von phänomenologischer Perspektive, die, vor allem, Psychoanalyse als Möglichkeit ›anthropologischer Reflexion‹ ernst nimmt, wird Tiefenpsychologie immer bestimmter auch philosophisch (von unterschiedlichen ›Schulen‹) in den Blick gerückt. Vgl. beispielsweise, Wilhelm Kamlah. »Dass der bedrängte und engagierte Mensch eben bedrängt und hilfsbedürftig ist, dies ist von der Tiefenpsychologie gesehen worden, und obzwar auch Freud den Menschen als einen Mechanismus von Trieben, von Drang und Verdrängung, viel zu sehr nach dem Vorbild von Physik und Physiologie zu deuten versuchte, könnte doch die Begegnung der Anthropologie mit der Tiefenpsychologie auf ihrem heutigen Stande eines Tages förderlich sein, zumal dann, wenn der dialogische Umgang des Arztes mit den Patienten als ein integraler Bestandteil der dieser medizinischen Wissenschaft selbst verstanden wird.« (Philosophische Anthropologie. Sprachliche Grundlegung und Ethik. Mannheim. Wien. Zürich. 1973. S 20) 177

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4. Reflexion der Reflexionen des Welt- und Selbstverständnisses

reine Erkenntnis dieser Wissenschaften in empirische umzudeuten. Es geschieht in Form des Psychologismus und Biologismus.«178) – Vergewissern wir uns noch einmal unserer philosophischen Lage. Das ist Hinschauen auf die Reflexionen der Bewegungen der Reflexionen; auf die Gestaltungen, die wir schlicht ›Philosophieren‹ nennen. Diese Reflexionen sind, daran halten wir fest, keine engen Leistungen abstrakten Denkens. Kein intellektuell leeres Spiel. Kein bloß interessantes Training zu folgerichtigen Denken. Vergleichbar vielleicht dem Schachspiel. Sondern ganz praktisch Selbst-Erfahrung der existentiellen Grund-Gestalt des Menschen. Oder so, unser Philo­ sophieren eingeführt als konstitutive Leistung und Leisten-könnens, also als wirkliche und wesentliche Gestaltungen unseres irritierten So-in-der-Welt-Seins. Das schließt ein existentielle Reflexion der Reflexionen der Wissenschaften, der Künste, der Theologie; und, nicht zuletzt auch unseres Philosophieren selbst. Oder noch einmal anders. Unsere ausdrücklich als ›letztmöglich‹ eingeführten existen­ tiellen Akte radikaler reflexiver Reflexion der Reflexionen, rücken ›unser Selbst-Sein‹ und unsere ›Welt-Habe‹, als Leistungen unserer wirklichen konstitutiven Selbst- und Welt-Erfahrung in unseren Blick. Wir reflektieren dabei selbst als wesentlich wirkliches und wirklich wesentliches (›spannendes‹) Da-und-So-Seins. – Das Philosophieren wird dabei selbst eine, sich selbst immer wei­ ter herausfordernde Leistungen. Wir werden, lassen wir uns wirklich darauf ein, auf eine geradezu ›klassisch‹ zu nennende Herausforde­ rung aufmerksam. (Ich denke dabei auch an die ›frühe Romantik‹.) Wortwörtlich eine Herausforderung, die sich in jeder unserer Refle­ xionen ›spiegelt‹. Also, eine Vorstellung, die unserem sich-erfahrenkönnenden Mensch-sein als unbedingt wesentlich zugehörig sich reflektiere. Unser uns so Selbst-Selbst-Erfahren, obwohl als ›Zwang‹, oder als ›Pflicht‹ bleibt im Grunde aber ein Akt der Freiheit. – Das ist unsere existentielle Erfahrung. Sie kann mit ihrer existentiellen Bedeutung kaum überschätzt werden. Diese Selbst-Erfahrung ordnet auch dort, wo dies nicht als Begriff eigens in den Blick rückt (und philosophisch geltungstheoretisch herausfordert), die Dynamik und das Selbstverständnis der Geschichten des Menschen. Also, nicht als ob diese Vorstellungen, virulent erst geworden wären, mit der aufgeklärten Neuzeit. Schon der Anfang der Philosophie, ist ohne das (vielleicht auch nur ›stille‹) Selbstverständnis eines trotz allem 178

Hua. XXVIII. S 195 f.

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4.6. Existentielle Reflexion und herausfordernde Inter-Personalität

grundsätzlichen ›frei-seins‹ nicht denkbar. Zumindest als ein vorzu­ stellen, hinschauen, entwerfen, als ob ›die Gedanken frei‹ seien. – Dass eine ›Idee der Freiheit‹, die, wir werden sehen, unsere phäno­ menologischen Reflexionen nicht nur theoretisch kreuzt, sondern ihre existentiell herausfordernde praktische Bedeutung wirklich frei­ legt.179 –

4.6. Existentielle Reflexion und herausfordernde InterPersonalität Sowohl die philosophische Bewegung selbst (als reflexive Reflexion der Reflexionen), als auch die Ausrichtung des Philosophierenden (existentielle Reflexion), sind, zumindest außer-gewöhnlich. Sowohl mit Blick auf die Geschichte der Kulturen, als auch auf uns selbst; denken wir an die Ordnung unserer Lebenszeit. Oder denken wir auch an die Mühe, sich in dieser radikalen existentiellen Einstellung, die­ sem konstitutiven Selbst-Selbst-Bezug zu halten. Das sollte uns aber gerade nicht mutlos machen, sondern im Gegenteil uns in unserem nicht leichten Philosophieren bestärken. – Dass existenz-phänome­ nologisches Philosophieren nicht diesen oder jenen idealistischen Spekulationen zugeschlagen werden dürfe, sollte hier keiner weiteren Diskussion mehr bedürfen. Existentiell Philosophierende bleiben auch als radikal Reflektierende, wirklich irritiertes und perturbier­ tes In-der-Welt-Sein.180 Existenz-phänomenologisch letztmögliches Selbst-Selbst-Verständlich reflektiert immer als gespanntes wesent­ Eindrucksvoll bei Ernst Jünger so: »In dieser Freiheit verbirgt sich das große Thema des Abendlandes, an ihr werden Männer und Mächte geprüft. Sie geht dem Raum und der Herrschaft voraus, in denen sie sich darstellt und beschränkt. Sie schafft eine Fülle von zarten, verletzlichen Beziehungen. Wir stoßen auf sie als auf ein Erstes, das sich nur ahnen lässt, doch das Europa besser und stärker als Meere, Gebirge und Bollwerke umgrenzt.« (Der Gordische Knoten. Frankfurt/M 19544. S 80) 180 Damit trifft der Vorwurf den Hans Jonas, den er vor allem gegenüber Husserls Vorstellungen erhebt, existentielle Phänomenologie nicht: Die Philosophie habe, in Nachfolge Descartes, auf die Herausforderungen der Naturwissenschaften mit einer »sozusagen komplementären Expurgation ihres Gegenstandes dem Rumpf-Ich des reinen Bewusstseins, des subjektiven Idealismus« zu antworten versucht, »besonders der transzendentalen Art, in der sich die Deutschen hervortaten. Husserls reines Bewusstsein weiß zwar von einer ›Lebenswelt‹ zu erzählen, aber nur als Datum ›für‹ es, sich konstituierend in ihm oder gar konstruierend von ihm: es selber ist nicht Teil davon, nicht abhängig damit verwoben, und so kommt auch der Leib nur als erlebter 179

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4. Reflexion der Reflexionen des Welt- und Selbstverständnisses

lich wirkliches Da-und-So-Sein. Zu triumphalen Selbstbewusstsein haben wir keinen Anlass. – Gerade das stellt einerseits nicht nach­ lassende Herausforderungen, zugleich verweist es aber auch auf das Potential für unsere existentielle Phänomenologie. Es weitet in jedem Fall den Blick auf die nicht zu leugnenden Bedingungen der Reflexionen des, sinnvoll nicht weiter hinter-denkbaren Horizont‘ unseres wirklich wirklichen So-in-der-Welt-Seins. – Eines drängte sich von Beginn an auf. Schon alltägliches mitein­ ander sprechen, miteinander umgehen, vor allem dann aber unsere philosophischen Reflexionen selbst, lassen nicht zu, es zu übersehen. Es wahrzunehmen braucht nur einen ruhigen Blick auf je eigenes Denken und Handeln. Die Erfahrung meiner selbst als Selbst, als dieses für mich ›exklusive‹, in allen Lagen mich begleitende In-derWelt-Sein, reflektiert sich in Wirklichkeit, nie anders als immer schon geleistetes, grundsätzliches miteinander Da-und-So-Sein. Jeder Versuch hier einen ›für mich‹ unbedingten Anfang zu bestimmen, für mich ›geltungssicher festzulegen‹, scheitert. Ich kann uns nicht (weder theoretisch noch praktisch) entweichen. Wohin ich mich auch zu wenden versuche, ›ich‹ finde uns (gleichsam) immer ›schon‹ vor. Das scheint soziologisch und psychologisch trivial. Bestimmt aber die selbstverständlich existentielle und anthropologische GrundWirklichkeit des Menschen ganz wesentlich; begreift die wesentliche Eigenart unseres Menschseins. Gestalt und Gestaltung unserer Weltund Selbst-Erfahrung; unseres Welt-Habens und Selbst-Seins. Diese Gestalt und verwirklichte Gestaltung unseres So-Da-Seins reflektiert sich als eine für Mensch horizontal und vertikal wesentliche Bindung. Das ist, was phänomenologisch als ›Interpersonalität‹ eingeführt und philosophisch als unumgänglich reflektiert wird.181 Fragen, die Husserl intensiv beschäftig haben. Es sind Reflexionen, die sich schon mit Blick auf Ordnung, und Erfordernisse unseres alltäglichen In-der-Welt-Seins praktisch fordern.182 – Zunächst aber ein Wechsel vor, nur als ›Phänomen‹, nicht wirklich.« (Materie, Geist und Schöpfung. Frankfurt/M 1988. S 63 f.) 181 Dazu: Michael Theunissen. Der Andere. Berlin 1977 182 Aus seiner geltungsphilosophischen Perspektive Hans Wagner: Überall »ist der Selbstbezug der vereinzelten Subjekts geltungsbeschränkt, geht die Geltungsforde­ rung über das vom vereinzelten Subjekt Leistbare hinaus und involviert sie die Forde­ rung des Zusammenschlusses der Einzelsubjekte zu gemeinsamer Anstrengung aller Subjekte zur Intersubjektivität – um das Höchste, welches im Rahmen der Faktizität überhaupt möglich ist, erreichen zu lassen: eine höchstmögliche Beschränkung der

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4.6. Existentielle Reflexion und herausfordernde Inter-Personalität

der Perspektive. Eine scheinbar umständliche, aber nichts weniger als von unserer ›Sache‹ her sich fordernde Reflexion unserer existen­ tiellen Reflexionen. Phänomenologisch unumgänglich mit Blick auf die korrelative Ordnung der Bewegung der Reflexion als existenti­ elle Leistung. Also eine Reflexion, die dem Leistungsvermögen der Reflexion selbst zugehörige Entfaltung. Dass dieser nun erforderli­ che Umstand unser phänomenologisch-existentielles Philosophieren nicht einfacher macht, braucht nicht weiter zu beunruhigen. Es scheint für Philosophie, wie man sagt, keinen Königsweg zu geben. Auch Versuche einer Pädagogik, eines Curriculum, für Philosophieren hat schon von ihrer ›Thematik‹ her Grenzen. Sind wir doch selbst als wirklich verwirrtes Da-und-So-Sein für uns selbst in jedem Fall mit in unserem Blick. Immer mit einer ›unbegrenzt scheinenden Vielfäl­ tigkeit‹ unseres So-in-der-Welt-Sein, die sich philosophisch nicht so ohne weiteres auf Begriffe bringen lasse. Um von den philosophischen Reflexionen der Anthropologien der Wissenschaften (Psychologie; Psychiatrie; Medizin; Biologie), ganz zu schweigen. Die Grenzen der Seele und unserer Existenz sind nicht unmittelbar auszuloten, nicht einfach zu ›begreifen‹, (denken wir an Heraklit).183 Um also nun die Leistungen, Formen, Gestaltungen, und existentielle Bedeu­ tung, dieser uns wesentlichen Interpersonalität phänomenologisch fassen zu können, braucht es existentiell radikale Reflexionen. Das verwundert mit Blick auf uns selbst nicht; und kann gar nicht anders sein. Und zwar sind zunächst zu leisten, Reflexionen, der je eigenen Erfahrung des je eigenen Erfahrens. Einschließlich, der, so in unse­ rer philosophischen Erfahrung lebend, zugänglichen Modalitäten dieses Selbst-Selbst-Erfahrens. Das nun vorgestellt als existentielles, und nicht als erkenntnistheoretisch ausgerichtetes Fragen. Es baut sich dabei eine eigenartige ›Spannung‹ auf; eine Spannung und ausdrücklich kein unlösbarer Widerspruch.184 Eines bleibt zunächst Beschränktheit, Endlichkeit und Bedingtheit der Leistungen faktischer Subjektivität.« (19672) S 357 183 Dazu auch Jean Paul: »Überhaupt sieht die Besonnenheit nicht das Sehen, sondern nur das abgespiegelte oder zergliederte Auge; und das Spiegeln spiegelt sich nicht. Wären wir uns unserer ganz bewusst, so wären wir unsere Schöpfer und schrankenlos. Ein unauslöschliches Gefühl stellet in uns etwas Dunkles, was nicht unser Geschöpf ist, über alle unsere Geschöpfe. So treten wie, wie es Gott auf Sinai befahl, vor ihn mit einer Decke über den Augen.« (Werke. Band 9. S 60) 184 Ronald Laing schreibt: »Meine Erfahrung und meine Aktion ereignen sich in einem sozialen Feld reziproker Influenz und Interaktion. Ich erfahre mich – identifi­

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4. Reflexion der Reflexionen des Welt- und Selbstverständnisses

aber gewiss. Ich arbeite selbstverständlich auch mit dieser ›meiner‹ für mich einführenden Leistung philosophischer Reflexion, im Horizont, der Ordnung unseres Philosophierens. Mein jeweiliges Beginnen bleibt getragen von der Ausrichtung auf einen letztmöglichen Anfang der (unserer) Philosophie. Dazu gehört auch das unterschiedliche Arbeiten an diesem ›Anfang‹. Eine, so scheint es auf den ersten Blick, paradoxe Anmutung. Von Anfang an diese Gestalt gemeinsam geleisteter Reflexion der Reflexionen unseres Da-und-So-Seins. Also, von Anfang an, ein theoretisches Miteinander-Philosophieren, dem sich schlechterdings kein Philosophierender praktisch entziehen kann. Ich bin also existentiell nur in meinem Blick, weil wir in unserem Blick sein können.185 – Nun zu sagen, das mag so sein, weil Mensch für sich (unter anderem) auch interpersonal reflektieren könne; also innerhalb eines mehr oder weniger geschichtlich zufälligen, faktisch gesellschaftlichen und sozialen Horizont sich befinde, trifft diesen ›unbedingten‹ Bezug mit seiner wesentlichen Bedeutung nicht. Eine soziologisch Perspektive kann ja nicht einmal lebensweltlich wirkliche Gestaltung dieser ›existentiellen Spannung‹ unseres So-in-der-WeltSein feststellen und als notwendig begreifen. Noch weniger die, für uns, als dieser Philosophierende, wesentliche existentielle Gestalt der Inter-Personalität. Ein ganzes Bündel von neuen Fragen drängt sich hier dem existentiell Philosophierenden auf. Und lässt schon den phänome­ nologischen Umfang der sich hier nun weiter stellenden Heraus­ forderungen ahnen. Dass das sich nicht erschöpfen lasse, durch soziologische, psychologische und geistesgeschichtliche Antworten, (beispielsweise entwicklungspsychologische Untersuchungen der Gestaltung, Genese ›der sozialen Identität‹ des (der) Menschen, des Menschseins), führen doch schon die Reflexionen unserer ›wirklich endlosen‹ Reflexionen vor. Offensichtlich aber scheint, mit Blick auf meine und unsere Selbst- und Welt-Erfahrungen, dass sich hier phä­ nomenologisch eine ›wirkliche‹ existentielle Spannung (eine Frage zierbar durch mich und andere als Ronald Laing – als erfahren und behandelt von anderen, die auf jene Persson, die ich ›mich‹ nenne, Bezug nehmen als ›dich‹ oder ›ihn‹ oder eingruppiert als ›einen von uns‹, ›einen von ihnen‹, ›einen von euch‹.« (Phänomenologie der Erfahrung. Frankfurt/M 19736. S 18) 185 Hans Wagner dazu: »Nur im Gefüge der Intersubjektivität ist Subjektvereinzelung (Einzelsubjektivität) möglich, nur als Leistung der Einzelsubjekte ist Intersubjekti­ vität möglich; die Monade ist ebenso Funktion der Monadengemeinschaft wie die Monadengemeinschaft Funktion der einzelnen Monaden.« (19672) S 355

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4.6. Existentielle Reflexion und herausfordernde Inter-Personalität

der ›Priorität‹) aufdrängt. Eine Spannung, die vor allem unser existen­ zielles Philosophieren nicht zur Ruhe kommen lassen kann. Schon Husserl selbst könnte auch hier wiederum als Zeuge aufgerufen wer­ den. Der nächste kleine Schritt. – Unsere alltäglichen Erfahrungen philosophierend reflektiert, vorurteilslos geschaut, wird man zumin­ dest einem kaum widersprechen können: So wenig wie es für den wirklichen Mensch ›Welt an sich‹ als Wirklichkeit gibt, existiert ein wirklicher Mensch selbst losgelöst als ›reines an und für sich‹. (Auch hier die Aufforderung: schau einfach selbst hin und zu!) Selbst radikal idealistisch Philosophierender kann für sich keine Wirklichkeit rekla­ mieren, keine Perspektive einführen, die von seinem wirklich-gelebten So-in-der-Welt-Sein losgelöst wäre. Könne also nicht wirklich Abso­ lutes für sich selbst wahrnehmen, Unbedingtes rein schauen. (Das darf nicht verwechselt werden, mit der Möglichkeit, eine Art Variable für den Gedanken ›Unfassbares‹, beispielsweise die Idee ›Gott‹ zu setzen.) Schon dass wir überhaupt von ›wahrnehmen‹, ›schauen‹, ›reflektieren‹ sprechen, verweist auf unsere Perspektive. Wir sind wirklich da, wahrnehmend, erkennend, reflektierend, geordnet in allen überhaupt ›denkbaren‹ Fällen (praktisch und theoretisch) als bleibende Korrelation. Wir bleiben auch ›in Gedanken‹ (oder ›Träu­ men‹) wirkliches So-in-der-Welt-Sein. Und erfahren uns und unser Denken reflektierend entlang dieser Korrelation. Wir können uns hier selbst in keinem Falle ›außen vor lassen‹. Die Frage, was das den erkenntnistheoretisch und ontologisch, vor allem aber existen­ tiell, für unsere theoretischen und praktischen Vorstellungen von ›Welt‹, ›Selbst‹, ›Welt-Habe‹, ›Selbst-Sein‹, ›Sinn-für-uns‹, bedeute, wird uns weiter phänomenologisch führen. – Da mag es dem einen oder der anderen nun aber als widersprüchlich klingen, dass auch existentiell-phänomenologisches Philosophieren trotzdem von ›inva­ riantem Wesen‹, ›letztmöglichen Anfang‹ überhaupt, und ganz tradi­ tionell, von ›sicherer Geltung‹ spreche. Wir haben uns mit diesen Vorstellungen auch nicht zurückgehalten. Könne man also sagen, dass existenz-phänomenologische Reflexionen, entgegen ihren, sich so bescheiden gebenden Ansprüchen, im Grunde doch auf der Linie tran­ szendentaler Phänomenologie, der Bewusstseins-Phänomenologie Husserls, verbleiben (müssen)? Zumindest versuchten, sich irgend­ wie daran anzuschließen? Dort, der Irrungen und Wirrungen unserer wirklichen Wirklichkeiten überdrüssig, Geltung und Sicherheit für existentielle Reflexionen suchten? Dass also existentielle Reflexion

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4. Reflexion der Reflexionen des Welt- und Selbstverständnisses

der Reflexionen nun nicht nur unser wirkliches In-der-Welt-Sein deskriptiv in den phänomenologischen Blick rücke; sondern, um es ›fundieren‹ zu können, sich doch wieder einem invarianten, ›unbe­ dingten‹ Wesen unseres (›meines‹) So-in-der-Welt-Sein anschließe? Dann also doch, ›Zurück zur transzendentalen Phänomenologie‹! ›Zurück zu Husserl‹! Die ›Geltungsfrage‹ für unser Selbst-Sein und unsere Welt-Habe, führe das Scheitern unseres existentiellen Philo­ sophierens vor. – Gerade umgekehrt. Durch diese, herausfordernden, philosophisch entscheidenden Fragen lässt sich das Leistungsver­ mögen existenz-phänomenologischen Philosophierens vorführen. Schauen wir also noch genauer hin und unserem Philosophieren zu. Wahr ist, der existentiell Reflektierende habe auf sich selbst phänomenologisch aufzumerken als wirklich wesentliches Da-undSo-Sein. Das meint schlicht auf sich selbst und die Leistungen seines Philosophierens. Und zwar als ein Leistungsvermögen, das nun nicht mehr weiter sinnvoll hinter-dacht werden könne. Das fordert schon das Selbstverständnis existentieller Phänomenologie als ›philosophische Grundlagen-Forschung‹ für unser So-Da-Sein. Daran bleiben wir gebunden. Genau daran haben wir unser endliches Philosophieren von Beginn an auch ausgerichtet. Letztmöglicher, also nicht letztgültiger Sinn für unser So-in-der-Welt-Sein! Nicht mehr und nicht weniger! – Wir lesen dies existenz-phänomenologisch als fundamentale Erfahrung unserer spannenden und gespannten Identi­ tät. Dazu gehören auch unsere Selbst-Erfahrungen. Vor allem, die Vorstellung existentieller Leistungen; also die Möglichkeit der Refle­ xion der Reflexionen unseres wirklichen In-der-Welt-Sein vollziehen zu können; (z. B. der Wissenschaften; der Kunst; der Religionen). Schließlich dann radikal gewendet, die geschaute korrelative SelbstSelbst-Erfahrung; und der nie nachlassenden Spannung zwischen unserem Dasein und Sosein. – Damit wird tatsächlich auch, gleich den Absichten ›transzendentaler Phänomenologie‹, jeder Anspruch eines skeptischen Subjektivismus, oder existentialistischen Relativismus entschieden zurückgewiesen. Aber auch alle Versuche idealistisches Denken neu beleben zu wollen. So werden mit unserer existentiellen Gestaltung phänomenologischer Arbeit, wirklich eigene Geltungsan­ sprüche angemeldet. Und zwar ›Geltungsansprüche‹, die nicht über unser wesentlich wirkliches So-in-der-Welt-Sein hinwegzudenken brauche. Das ist ein Schauen-schauen-können einer für uns tatsäch­ lich wesentlichen Wirklichkeit; ein Philosophieren unseres tatsäch­ lich irritierten Da-und-So-Seins. Das uns führende ›Geltungsvermö­

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4.6. Existentielle Reflexion und herausfordernde Inter-Personalität

gen‹ ist also die (konstitutive) Leistung unseres Vermögens radikal zu philosophieren. Unsere reflexive Reflexion der Reflexionen, die wirkliche und wesentliche Erfahrung existenz-phänomenologischen Philosophieren. –

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5. Fragile Selbst- und Welterfahrung

›Windhauch, Windhauch pflegte Kohelet zu sagen, Windhauch, Windhauch, alles ist Windhauch.‹186

Aber wohin wird diese existentielle Reflexion der Reflexionen uns Reflektierende denn philosophisch wirklich führen? Und dann vor allem auch, innerhalb welchen Horizonten ich für meine und unsere Erfahrungen (die für mich nicht weniger präsent und heraufordernd sind) nun wirklich und wahrhaftig Geltung behaupten könne? – Gleich wie weit (nicht wie ›tief‹) unsere Reflexion der Reflexionen auch reichen werden, zumindest an das eine weiß sich phänomenolo­ gisches Philosophieren grundsätzlich sicher gebunden. Es bestimmt die Entfaltung der existentiellen Reflexion unsers Da-und-So-Seins; gesetzt als ›existentielles Prinzip‹ unseres Philosophierens; und damit nun aber Grundlage auch für die Entfaltungen phänomenologischen Philosophierens überhaupt. Als existentielle Reflexion der Reflexio­ nen. Etwa als Phänomenologie der Kunst; der Religion; der Psycholo­ gie; auch der Psychiatrie; Medizin; u. ä. Möglich bleibt philosophisch also in jedem Fall, es mag mit dem letztgültigen Ausweis philosophi­ scher Geltung zunächst stehen wie es mag, ein weites Schauen-können theoretischer und praktischer Welt- und Selbsterfahrung unseres wirklichen So-in-der-Welt-Sein. Das ist nicht wenig. Unleugbar eine evidente Leistung unseres phänomenologisch wirklichen SelbstSelbst-Schauen als existentielle Reflexion der Reflexionen. Da ist also der uns in jedem Fall wirklich vorliegende, geschaute, philosophisch wirklich zugängliche Horizont unseres wesentlich wirklichen So-in-der-Welt-Seins. Das schließt für uns selbstver­ ständlich ein, sich irren können; täuschen und getäuscht werden; und, auch hier nicht zu vergessen, die Erfahrungen der, (nennen wir es) für uns nicht weniger wirklichen und wesentlichen, existentiellen Grenzlagen unseres So-Da-Seins. Und, schließlich sogar, und nicht zuletzt, auch das gehört unserem endlichen Philosophieren zu: ein 186

AT. Buch Kohelet. Vorspruch

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5. Fragile Selbst- und Welterfahrung

durchaus mögliches Scheitern; vielleicht auch die Erfahrung einer Aporie, in der die Vorstellungen unserer existenz-phänomenologi­ schen Reflexionen sich dann wiederfinden. Aber das allein wäre schon die Mühe unseres Philosophierens wert. Um einen Satz Ernst Jüngers zu bemühen, vielleicht ist ja gerade ›diese Unlösbarkeit‹, »ein Hinweis auf den Rang«.187

5.1. Der existentiell-wirkliche Horizont unseres Daseins Da legt sich also diese eine Frage quer, die (mag man es sich auch mit Ernst Jünger ›großartig‹ zurechtlegen) zurecht gründlich beun­ ruhigen sollte. Nicht nur uns Philosophen. Ob nicht ein sich auf diesen existentiellen Weg einlassen, überhaupt einem Eingeständnis gleichkomme, Nachdenken über unser Dasein, ende in jedem Fall (geradezu notwendig) aporetisch? Es scheine sogar, als wollten wir uns selbst auf ein Scheitern unseres Philosophierens schon hier einstimmen. Warum dann überhaupt noch weiter sich auf ein so wohl aussichtsloses Unternehmen einlassen? Man fühle sich an die bekannte Gestaltung ›selbsterfüllender Prophezeiungen‹ erinnert. Kurzum, existenz-phänomenologisches Philosophieren mühe sich nicht mehr um die so bedeutende Herausforderung neuzeitlicher Philosophie; um die Sicherung, der, die gesamte Wissenschaftsge­ schichte umtreibende Geltungs-Frage. ›Die Katze sei, nach vielem herumreden, aus dem Sack‹! Generationen von Philosophierenden (denken wir nicht zuletzt auch an Husserl selbst) hätten sich, diese Perspektive ernst genommen, daran abgearbeitet. Hätten diese Frage als Herzstück neuzeitlichen Philosophierens eingeführt. Ob wir diese wahrhaftig ›bewundernswerte Tradition‹ neuzeitlichen Philosophie­ rens (bis hin zu Hans Wagner, Wolfgang Cramer,188 u. a.) allen Erns­ tes beiseite zu räumen versuchten. Ob wir diese Botschaft verkünden wollten: Wahrheit, Geltung, Sinn, sei in der Wirklichkeit für uns ›arme verwirrten Menschen‹ unerreichbar! Was es hier noch zu tun gebe, könne, solle, müsse, durch Wissenschaften (etwa, Psychologie, Soziologie, auch Geschichtswissenschaften) geleistet werden. Sollte also vielleicht ›lebensphilosophischer Perspektivismus‹, und ›Relativis­ An der Zeitmauer. Stuttgart 1959. S 161 Hans Wagner. Philosophie und Reflexion; Wolfgang Cramer. Grundlegung einer Theorie des Geistes.

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5.1. Der existentiell-wirkliche Horizont unseres Daseins

mus‹, die existenz-philosophisch einzig mögliche ›Wahrheit‹ sein? Sollte ein solcher Relativismus die Konsequenz existentieller Refle­ xion stellen? Man sei geneigt zu sagen, ein solcher ›Unfug‹ eines kraft­ losen Denkens sei wohl das Ende der Philosophie. Man versuche nun bloß nicht diese Not existentieller Geltungsfindung in eine Tugend der Wahrhaftigkeit umzubiegen. Als eine Aufforderung sich heroisch, vielleicht sogar nihilistisch einzulassen auf die, doch wohl zugestan­ denermaßen, bereits von Anfang an als ›aporetisch‹, vielleicht sogar ausdrücklich als ›sinnlos‹, entdeckte existentielle Reflexion der Refle­ xionen. Und man sage auch nicht, dass ›die Trauben der Wahrheit, uns endlichen Menschen sowieso nicht bekommen würden‹! – Noch einmal also, warum dann noch so-philosophieren? Warum, wenn es mit dieser Form existentiellen Reflektierens, außer verzweifelten Fragens, sowieso kein Darüber-Hinauskommen, keinen objektiven Halt, keine fundierten theoretischen Einsichten, keine praktischen Sicherheiten für unsere Suchbewegungen geben könne? – Das könne doch nur als Witz abgelegt werden, dieses leeres Fragen-fragen, als letztmöglich philosophische Leistung behaupten zu wollen. Sollte also Einführung, Entfaltung phänomenologischer Reflexionen, als Art existentieller Dauerschleife, die einzig mögliche Antwort auf unsere wirkliche, vielleicht sogar wesentliche Lebens-Not sein? (›Vie­ len Dank auch‹!) – Sollte es nun ernsthaft verwundern, wenn eine solches ›defätistisches‹ Philosophieren, ein geradezu ›pathologisch‹ zu nennender ›Grübelwahn‹, als ›Irrationalismus‹ abgelehnt werde? Gott sei Dank, verpflichteten sich immer mehr Philosophen und Philosophinnen auf die gesellschaftlichen, sozialen, ökologischen, politischen Notwendigkeiten. So könne man der Verpflichtung, weiter aufgeklärt vernünftig philosophieren nur zustimmen. Das ist philoso­ phisch beizutragen, die drängenden Herausforderungen der Zeit einer vernünftigen Lösung zuzuführen. – Diese Fragen verschärfen sich nun nicht zuletzt auch mit Blick auf unseren Anspruch, philosophische Grundlagen-Forschung für unser Da-und-So-Sein einführen zu können. Ein Anspruch, der für phäno­ menologisches Philosophieren nicht zurückgestellt werden dürfe. – Eines, sollte man meinen, könne von keiner Seite wirklich geleugnet werden. Unsere ›existentielle Lebens-Not‹ ist alles andere als ein abstrakt-irrationales Gebilde. Eine, mit Blick auf die ›robuste alltägliche Praxis‹, den vielbesprochenen ›handfesten‹ gesellschaft­ lichen, ökonomischen, ökologischen Herausforderungen, bloß exis­ tenz-philosophisch irrationale Konstruktion. – Und doch muss immer

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wieder, gegen den Trend der Gegenwartsphilosophien, an diese exis­ tentielle Wirklichkeit unseres irritierten und perturbierten So-in-derWelt-Seins erinnert werden. Das ist die Aufforderung sich wirklich zu-erinnern. Sich seiner selbst und seiner wesentlich wirklichen Lage zu besinnen; das wäre das Erste einer philosophischen Reflexion. Von dort her und daraufhin bestimmt sich alles Weitere. Nicht zuletzt dann auch die uns tatsächlich bedrängenden sozialen, gesellschaftlichen, ökologischen Fragen. – Existentiell-irrationale Sinn-Fragen sind, schon diesseits jedes Philosophierens, die, hintergründig präsenten Grund-Fragen unseres wirklichen Da-und-So-Seins.189 Das wahrzunehmen braucht keine hochkomplexen wissenschaftlichen Untersuchungen. Für eine erste Vorstellung seiner selbst, braucht Mensch also keine ausufernden spekulativen Konstruktionen. Immer wieder genüge selbst-hin-zuschauen; das ist zunächst schlichtes nachdenken über sein Verhalten, seine Lebensordnung; u. Ä. – Wir lesen dies phänomenologisch als Aufforderung nun diese Fragen existentiell zu fragen. So fragend, die Fragen immer umfassender, radikaler zu entfalten. Zunächst also gleich, wie und durch welche Lagen auch immer wir im Einzelnen herausgefordert werden; uns herausfordern lassen. (Auch dieses sich herausfordern lassen, herausgefordert werden, reflektiert eine aktive Leistung unseres So-in-der-Welt-Seins.) An einem müsse dabei in jedem Fall phänomenologisch festgehalten werden. Und man sollte wiederum annehmen, das könne philosophisch nicht übersehen wer­ den. Für unser Philosophieren, unsere existenz-phänomenologische Reflexion der Reflexionen, bleibt der Leitfaden, unsere Reflexionen der wirklicher Welt-Habe und wirklichen Selbst-Sein. Für uns prak­ tisch präsent als diese uns selbstverständliche Lebenswelt, als unser wesentlich wirkliches So-in-der-Welt-Sein. Das ist keine Tautologie. Das ist, phänomenologisch, unser als Reflexion sich entfaltendes, als reflexive Reflexion sich konstituierendes und radikalisierendes, wirkliches und wesentliches Welt-Verständnis und Selbst-Bewusst­ sein. Es drängt sich phänomenologisch also auf: ›wir und unsere Welt als Reflexionen unserer Reflexion‹. Das schließt selbstverständlich Schon allein mit Blick auf diese Lage: »Diese modernen ›Tode‹ – Gottes, der Metaphysik, der Philosophie und damit auch des Positivismus – habe erhebliches historisches Gewicht erlangt, denn seit Beginn unseres Jahrhunderts sind es nicht mehr bloß Gegenstände der Beschäftigung für eine geistige Elite, sondern ungeprüfte Voraussetzungen für fast jedermann.« (Hannah Arendt. Vom Leben des Geistes. Band 1. Das Denken. München. Zürich. München 1979. S 20) 189

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wiederum uns als wirkliche Philosophierende mit ein. Gleichsam uns selbst; wortwörtlich wirklich dich, der dieses jetzt liest; und mich, der ich das, (für dich ›irgendwann einmal‹), geschrieben habe. Wir philosophieren, es kann nicht anders sein, selbst, wirklich leibhaft, sozusagen, mit Fleisch und Blut. Mit anderen Worten. Diese phä­ nomenologische Reflexion selbst reflektiert als wirkliche, radikale Leistung und als Geleistetes, eines selbsteingesehenen Leistungsver­ mögens eines wirklichen (irritierten) So-in-der-Welt-Seins. Allein schon die Möglichkeit der Reflexion der Reflexionen bestimmt unsere existentielle Wirklichkeit So-Da-zu-sein. Gleichsam als Erfüllung des ›Mantra‹ für unsere radikalen Reflexionen: Du kannst! Du sollst! Du willst! Das weist hin auf Stab und Stecken existentieller Phänomeno­ logie. – Auch Husserl setzt, in der Spätphase seines Denkens, ›die natürliche Welt- und Selbst-Habe‹ als ›Ausgangsort‹ phänomenolo­ gischen Philosophierens. »Ich bin« – schreibt er an Roman Ingarden – »zur Überzeugung gekommen, dass nur eine wirklich konkret explizierende Emporleitung von der natürlichen Welt- und SeinsHabe überhaupt zur ›transzendental‹-phänomenologischen Einstel­ lung und eine konkrete Begründung der Methodik und universalen Problematik der Transzendentalphänomenologie nützen kann; dass im wirklichen Durchführen allein gezeigt werden kann, dass hier eine totale Wendung der Philosophie im Werke und eine unausweichliche Notwendigkeit ist.«190 – Das geht durchaus mit der ›Ortschaft‹ unserer existentiellen Reflexionen überein. Nur verbleiben existen­ tiell-phänomenologische Reflexionen dauerhaft eingestellt auf diese Reflexionen unserer wesentlich wirklichen ›Welt- und Selbsthabe‹. Für Husserl, wir haben davon gesprochen, eine ›verhängnisvolle Naivität‹. ›Verhängnisvoll‹, wie er meint, nicht nur für die ›philoso­ phischen Wissenschaften‹ selbst. – Aber der Vollzug unserer exis­ tentiellen Reflexionen bindet unser Philosophieren, Die (reflexive) Reflexion der Reflexionen ›lebensweltlicher Horizonte‹ unseres Soin-der-Welt-Seins, hat schon die Bedeutung umfassender wesentlich wirklicher ›Konstitution‹ eingeführt; hat damit die Naivität eines schlicht unmittelbaren ›Zuerst und Zumeist‹ reflexiv durchbrochen. Ohne sich aber (im Unterschied zum Philosophieren Husserls) unserer wesentlichen Wirklichkeit spekulativ (transzendental) zu 190 Brief an Roman Ingarden (11. Juni 1932); Hua. XV. Einleitung des Herausgebers. S LXIII.

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entäußern; und sich dadurch in ein ›absolut Unbedingtes‹ (›reiner Vernunft‹) zu überheben. Das was wir jetzt für uns selbst phänomenologisch ohne weiteres in den Blick rücken, ist also tatsächlich ›unser strömendes‹ Bewusst­ seinsleben. (Wobei wir schon die Möglichkeit dieser Leistung, dieses ›können‹, als existentiell bedeutsam vorstellen.) Konkret erfahren und phänomenologisch markiert als, beispielsweise, ›meine Wahr­ nehmungen-von ‘, ›mein Wissen-über ‘, ›meine Erinnerungen-an‹. Selbstverständlich auch, und sogar im Besonderen, meine Erfahrun­ gen – sie mögen mich täuschen oder nicht – mit mir selbst und anderen; oder meine Erinnerungen; und selbst noch Erinnerungen an Erinnerungen; oder auch meine ›Wünsche‹, ›Sehnsüchte‹, ›Träume‹. Selbst noch dieses Zimmer hier ›spricht‹ jetzt von mir und meiner Welt; und zugleich auch von uns und unserer Welt. Die Frage drängt sich auf, was sich denn gerade mit diesen Akten, ontologisch wie vor­ stellen lasse. Aber auch das wird existenz-phänomenologisch in den Blick gerückt, als ›Reflexion der Reflexionen meiner selbst‹. Mir bei­ spielsweise präsent (›verfügbar‹ gehalten; auch ›verfügbar‹ gemacht) als meine ›Biographie‹; ›unsere Geschichte‹; oder ›unsere Kultur‹ und ›Lebenswelt‹. Das sind wortwörtlich ›Reflexion‹ (ausdrückliche und passive ›Konstitution‹) meines und unseres In-der-Welt-Sein. Immer als Möglichkeiten eines überhaupt Selbst-Seins und Welt-Habens. – Und die (ontologisch) wirklich wirkliche Welt? Sie mag nicht so sein, wie wir es gerne hätten; mag uns vielleicht kalt und fremd scheinen; es mag uns sogar sein, als ob ›die Welt‹ sich gegen uns wende, an ihr selbst aber als: ›das ist unsere (meine) Welt‹ zu zweifeln, fällt uns (in der Regel) nicht ein. So reflektiert sich uns die, von uns zuerst und zumeist alltäglich gelebte, von uns selbst schon unwillkür­ lich geleistete leibhafte Welt-Habe und unser selbstverständliches In-der-Welt-Sein. Das scheint auch zu sein, unleugbar ›je meine‹ evidenten Selbst- und Welt-Erfahrungen. Diese zunächst schlicht alltäglich gelebte Selbst- und Welt-Gewissheit erfährt sich (auch als sich-erinnern; oder wünschen, hoffen; u. ä.) immer im Modus ›gewis­ sen hier und jetzt‹. Erfahrungen von Krisen, Irritationen, auch Sorge, Angst und mögliche Verzweiflung, diese oder jene Stimmungen, selbst noch da und dort sich aufdrängende Zweifel und Selbst-Zweifel, sind ausdrücklich mit eingeschlossen. Und auch Träume, Utopien, auch ›mystische Erfahrungen‹, ›religiöse Muster‹, bleiben eingefaltet in diesen unseren Horizont. –

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Not tue, das im Blick, wirkliches existenz-phänomenologisches Philosophieren. Beispielsweise, eine ›Phänomenologie der Verzweif­ lung‹.191 Oder auch eine ›Phänomenologie der Hoffnung‹; oder eine ›Phänomenologie der Liebe‹.192 – Das sind im Besonderen existen­ tielle Reflexion der Reflexionen, die uns Menschen nicht zur Ruhe kommen lassen (können). Not tue, all das endlich in unseren Blick rücken, was uns ausrichtet, treibt und zieht. Einschließlich unserer ›nicht zu verortenden‹ Sehnsucht. (›Es redet trunken die Ferne/Wie von künftigem, großem Glück‹. (Eichendorff) – Umständlich? Viel­ leicht missverständlich? Bizarr? Zurückgeblieben? Naive Romantik? In jedem Falle werde dieses Philosophieren unserer problematischen Zeit nicht gerecht! – Schauen wir weiter selbst hin und uns selbst zu. Unsere bisherigen Reflexionen so zusammengefasst. Ich ›lebe‹ zuerst und zumeist meine ›Reflexionen‹; oder, ich-bin-für mich-alsgewiss-da, da, in und mit meinen ›Reflexionen‹. Das ist in jedem Fall, als wirkliches und wesentliches Selbst-Sein als In-der-Welt-Sein! – Phänomenologisch weiter reflektiert, existentiell dicht gesammelt, als wesentlich wirkliches selbst-selbstverständliches Da-und-So-Sein. Wiederum einschließlich dieser unserer ›verzweifelten‹ (irritierten und pertubierten) philosophisch gespannten Suchbewegungen selbst; der existentiellen (reflexiven) Reflexion der Reflexionen. Die Ort­ schaft unseres Philosophierens ist also Gestalt und Gestaltung unse­ res (an)gespannten Da-und-So-Seins. In den phänomenologischen Blick gerückt als Ich-bin-wirklich-leibhaft-selbst-So-da. Das ist jeder­ mann auch praktisch vertraut. Und wird von uns, so scheint es, ohne Mühe alltäglich gelebt. Man wird also sagen, kaum weiterer Rede wert; das und so ist unser Leben. Von hier aus solle nun aber noch dichter an uns ›selbst‹ heran­ gerückt werden. Schauen wir phänomenologisch also noch genauer hin. Schon praktisches Selbstsein und alltägliche Welterfahrungen, lassen sich nämlich keineswegs sicher in Worte fassen, deskriptiv bestimmen; oder gar geltungsgewiss auf den philosophischen Begriff bringen. Mühsam ist es allein schon, die existentielle Gestaltung unseres wirklichen In-der-Welt-Seins phänomenologisch deskriptiv vorzustellen. Schon das führt uns an Grenzen wissenschaftlicher und

Vgl. dazu meine Arbeit: Reflexion und Verzweiflung. Essen 2003 Ludwig Binswanger. Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins. Aus­ gewählte Werke Band 2. Heidelberg 1993 191

192

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philosophischer Theorie der Anthropologie‘.193 Aber dies einfach als metaphysische Schein-Fragen beiseitelegen, lässt unser irritiertes und perturbiertes Da-und-So-Sein genauso wenig zu. (»Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.«)194– Ich bin also So-Da als Leib-Sein. Nicht nur als: ich habe auch noch einen (vergänglichen) Leib. Ich bin gerade so, als Leib-Haben und Leib-Sein und nicht anders, wirklich selbst. Als der sich jetzt und hier selbst so-wahrnimmt; beispielsweise, in diesem Raum ist; sitzt; liegt; am Fester steht; sich bewegt. Oder, sich (weshalb auch immer) bedrängt fühlt; (ein ›bedrückender Raum‹; ›ein Raum voller Erinnerungen‹); sich unwohl fühlt; (›mein Herz wird mir eng‹). Oder, sich an dieses oder jenes (wie eigenartig) ›gleichgültig‹ erinnert. Oder, vielleicht Schmerzen hat; (›ein dumpfer Druck in meinem Schädel‹); oder auch nur, mögliche Schmerzen befürchtet; (›diese Rückenschmerzen möchte ich nicht noch einmal erleben‹). Oder auch das. Die Nähe eines Anderen leibhaft spüren, als angenehm, oder, so oder so, als erregend erlebt. Oder auch, schreibt, liest; dies oder jenes ordnet; dies oder das plant; mit etwas umgeht; spielt; beschäftigt ist; Musik hört; oder sich vor etwas fürchtet, oder sich für die Zukunft erhofft; u. ä.195 – Gleich wie, immer bin ich es wirklich selbst der so eingestellt, intentional bezogen ist. Das ist wirklich leibhaft Da-Sein mit allen Sinnen; mit meinen, wie auch immer zurechtgelegten Erfahrungen, meinen Geschichten, und selbstverständlich unserer, von mir wie auch immer verstandenen, bewussten Geschichte; unserer Welt; das ist, kurzum, existentiell-Da-Sein. Dieses wesentlich wirkliche, leibhafte, existentielle So-Da-Sein lässt sich phänomenologisch nun weiter als wesentlich wirklich beschreiben, und mit seinen Reflexionen weiter entfalten. Und auch mit seinen ›Grenzen‹ reflektieren. – Ein interessanter Satz bei L. Wittgenstein: »Das Subjekt gehört nicht zur Welt, sondern ist eine Grenze der Welt.« (Tractatus locico-philososophicus. Frankfurt/M 1963. 5.632) 194 Wittgenstein. TL. 6.52) 195 Phänomenologisch gehören hierher auch diese Vorstellungen unseres In-derWelt-Seins. »Außer der Sprache gehört zur pathetischen Äußerung (…) auch die Gebärde. Wir kennen die zum Himmel gereckten Arme, die den auf die Erde gestellten Menschen überhöhen und den sichtbaren Ursprung der Bewegung beteuern – (…). Andere pathetische Gebärden sind gegen die Hörer gerichtet: die Hand, die einen horizontalen demonstrativen Bogen von der Brust des Sprechenden weg beschreibt und Raum schafft für die Intention, die Finger, die geballte Faust, die den Begriff wie ein Ding ergreifen und einschlagen in die bestehende Welt.« Emil Staiger. (19688) S 153 193

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5.2. Wege des existentiellen Selbst-Selbst-Verständnis

Das also ist phänomenologisches Philosophieren als existenzi­ elle Reflexion der Reflexionen. Ein Philosophieren ohne den Blick von unserem wirklichen und auch wesentlichen So-Da-Sein zu lösen. -

5.2. Wege des existentiellen Selbst-Selbst-Verständnis Die bisherigen Schritte dicht zusammengefasst. – Existenz-phäno­ menologisches Philosophieren ist Leistung wesentlich wirklichen Inder-Welt-Sein. Nicht verdrängt wird, dass das Reflexionen sind, die das neuzeitliche-aufgeklärte, wissenschaftliche Philosophieren nicht mehr wirklich bewegen. Und eher selten ausdrücklich als philoso­ phische Herausforderung, überhaupt als ernstzunehmende Bedräng­ nisse des modernen Menschen, bewusst reflektiert werden. Was vernünftiger Weise nicht sein dürfe, könne für das wissenschaftliche Denken (›normalerweise‹) auch nicht sein. Wenn diese Perspektiven überhaupt noch vorgestellt werden, dann von den Wissenschaften zur weiteren ›Aufklärung‹; und zur ›Richtigstellung‹. Also als Fragen für die Geschichtswissenschaften; der Soziologie; der Psychologie; vielleicht sogar (praktisch-therapeutisch) der Psychoanalyse. – Was immer man uns auch wissenschaftlich vorträgt, uns prak­ tisch zu verpflichten sucht, es bleiben eine Vielzahl beunruhigender ›Reflexionen‹. ›Reflexionen‹, die selbst immer wieder herauszufor­ dern, und uns so radikal weitertreiben. Nun kann versucht werden diesen (man wird sagen) ›irrationalen‹ Bewegungen genehme Rich­ tung zu geben. Eine passende, aufgeklärte Erfüllung vorzuhalten. So das, entsprechend gesetzt, immer noch (irgendwie) beispielsweise von ›Gott‹, ›Sein‹, ›Mythos‹, ›Sinn‹; oder auch, ›Glück‹, ›Angst‹, ›Schicksal‹, (u. Ä.) gesprochen werden dürfe. Aber das uns selbst (wie unwillkürlich) Beunruhigende, fordert eine darüberhinausgehende, im Grunde radikale Einstellungsänderung. Eine, es mag uns recht sein oder nicht, existentielle Perspektive, die als konstitutiver Akt die unbestrittenen Leistung(en) unserer aufgeklärten, wissenschaftlichen Welt auf ›irrationalen Sinn‹ hin abzustellen versucht. Die uns von den Wissenschaften, der aufgeklärten Vernunft bereitgestellten Ant­ worten, reichen uns also nicht. (Man betrachte doch nur die eigenen Denkbewegungen.) Also eine Suche nach uns letztmöglich tragenden ›Wirklichkeiten‹ für unser irritiertes So-Da-Sein. ›Wirklichkeiten‹, die als Reflexion der Reflexionen wiederum selbst radikal-existentiell

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reflektiert, uns mit unseren Möglichkeiten des nicht mehr weiter hin­ ter-denkbaren Selbst- und Welt-verständnisses (dabei bleibt es) vor uns selbst als Da-und-So-Sein stellen. – Dieser phänomenologische Entwurf einer wesentlich korrelativ bestimmten, existentiell-leibhaf­ ten Selbst-Gewissheit, ist nicht in eins zusetzen, mit dem ausdrücklich allgemein und abstrakt vorgestellten: ›cogito ergo sum‹. Ist nicht zu verwechseln mit dieser Selbstgewissheit – einer erkenntnistheo­ retischen Selbstbestimmung – als unbedingt geltungsgewiss begriffe­ nen neuzeitlich ›transzendentalen Grund‹, von dem aus neuzeitliche Philosophie und Wissenschaft sich als absolut gewiss zu ordnen versucht haben. – Dieses idealistische oder ein naturalistisches oder auch positivistisches Philosophieren mag nun aufgrund seiner, sich idealistisch oder positivistisch so, sich einschränkenden Perspektiven, tatsächlich ein, für diesen bestimmten Horizont, unbedingt-geltendes vorstellen können. In Wirklichkeit aber ist dies die Vorstellung einer abstrakten Konstruktion. Eine erkenntnistheoretische Reduktion. Der Preis dafür ist das Zurückdrängen des wirklich wirklichen, im Grunde ›unberechenbar-irrationalen‹ Menschen aus der Philosophie. Philosophisch präsent scheint er nur noch als geltungstheoretisches Problem, auf das zu achten, das es zu neutralisieren, zu erziehen, oder dass es irgendwie ›aufzuheben‹ gelte. Ohne Zweifel, für wirkliches Philosophieren die Gefahr eines Subjektivismus, Psychologismus; und als Konsequenz, theoretischer und praktischer Relativismus. (Vor dem Husserl immer wieder eindringlich gewarnt hat.) – Dieses neuzeitlich-wissenschaftliche Philosophieren, wäre also, aus unserer existentiellen Perspektive, ein Abdrängen, ein Verdrängen, unserer wirklichen, unserer vollen existentiellen Wirklichkeit.196 Mit anderen Worten, ein Abblenden des Umfangs unseres ganzen, lebendigen, auch ›unvernünftigen‹ Da-und-So-in-der-Welt-Sein.197 Für existen­ 196 Erwin Chargaff schreibt: »Der Anspruch, klar zu sehen in einer trüben und ver­ worrenen Welt, klingt sehr gut auf dem geduldigen Papier; aber indem er den Strom der Einbildungskraft in wenige schmale Kanäle voraussagbarer Rationalität zwingt, hat er mehr Menschen elend gemacht als glücklich; er hat ihnen das Leben und das Sterben schwerer gemacht.« (Kritik der Zukunft. Stuttgart 1983. S 39 f.) 197 Dazu auch, aus einer anderen Perspektive, Adolf Portmann. »Unser Welterleben ist ein großes und in seiner Wirkweise unbekanntes Ganzes, das verstandesmäßige Erkennen ein Teil, die imaginäre Macht ein zweiter. Wir können es nicht genug vor uns hinstellen, dass das Leben in seinem Gesamten immer mehr ist als das, was eine bestimmte Zeit mit allen ihren rationalen Kräften von ihm in diesem Augenblick aus­ zusagen vermag. Die Grundlage unseres Daseins bleibt außerwissenschaftlich.« (Welterleben und Weltwissen. Zwei Vorträge. München 11964. S 611 f.)

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tielles Philosophieren schließlich eine Missachtung der ›Warum– überhaupt-Fragen‹. Gerade sie aber verdichten die Urintention des Philosophierens. Daran halten wir fest. Unser wirkliches und wesentliches Daund-So-Sein lasse sich nicht in Prokrustesbett wissenschaftlicher und philosophische Theorien ein-zwingen. – Und trotzdem können wir an diesen, in allem Ernst, großartigen Leistungen neuzeitlicher Philosophie und Wissenschaft nicht so ohne weiteres vorbeigehen. Ob das nun unsere existentiellen Reflexionen, das ist die Frage, vor eine philosophisch herausfordernde, problematische Alternative, vielleicht sogar eine ausweglose Aporie stelle? Etwa, wissenschaftlich zu philosophieren, oder, sich aus der Forschergemeinschaft aufgeklär­ ter Philosophen endgültig zu verabschieden! Aber selbst etwas gemä­ ßigter scheinende Vorlagen für Einordnung unseres Philosophierens, sehen vor, existentielles Philosophieren in subjektive Beliebigkeit (als eine eigenartige Literatur) auszumustern. Mit anderen Worten: der Preis für die Einlösung der ›erkenntnistheoretischen Geltung‹ wäre ein Verzicht auf die ›Wahrnehmung‹ unserer existentiell-fließenden, auch irrationalen Wirklichkeit; wir existentiell Reflektierenden hätten uns (blieben wir bei unseren Reflexionen) mit philosophisch und wissenschaftlich ungesicherten, bloß ›subjektiven‹ Welt- und SelbstVerständnis abzufinden? Und sich also auch in ›weltanschauliche Literatur‹ einzuordnen. Das wäre die uns angetragene Alternative. Entweder sich einfügen in eine (wir haben gesagt) ›abstrakte Sicher­ heit‹; oder sich einer (so sagt man uns) Verwirrung durch Relativis­ mus und Skeptizismus auszusetzen? – Wir legen uns die Lage unseres Philosophierens so zurecht. Entweder sich einordnen in den Horizont der Aufklärung, der eng geführten wissenschaftlichen Vernünftigkeit; oder sich der Möglichkeit der Gestalt und möglichen radikalen Gestal­ tung der Reflexion der Reflexionen weiterhin zu stellen. Sich also wie bisher der existentiellen Herausforderung durch unser irritiertes und perturbiertes Da-und-So-Sein weiter phänomenologisch anzu­ nehmen.198 Wir tun weiter das, was uns phänomenologisch möglich ist. Wir schauen noch genauer hin auf uns und schauen unserem Zuschauen selbst-kritisch zu! Das ist weiterhin wahrnehmen und 198 Dazu auch E. R. Curtius. „ So stehen sich gegenüber ein Absolutismus der Vernunft, der das Leben ertötet, und ein Relativismus des Lebens, der die Vernunft zersetzt. Beide Geisteshaltungen sind für uns unmöglich geworden. Denken und Leben vertragen es nicht, in Gegensatz gebracht zu werden.« (Ortega Y Gasset. In: 1984. S 260)

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reflektieren unserer lebensweltlichen Wirklichkeit, unseres irritierten So-in-der-Welt-Seins. Kurzum, die Reflexion der Reflexionen der uns (so und so) präsenten Lebenswelt. Schon eine solche (man könnte durchaus sagen) ›Phänomenologie der Oberfläche‹ reflektiert für uns wesentliches. Ich-bin, davon gehen wir phänomenologisch aus, leib­ haft-da. Ich existiere wirklich. Das ist, selbst-bewusst-selbst-Da-Sein als dieser für sich bestimmte Eine; da immer auch mit Anderen; da nie anders als mit unserer Welt. Ein So-Da-Sein, das dieses und jenes von sich weiß oder zu wissen glaubt. Auch Wahrnehmungen, Erinnerungen, Gedanken hat; das, das gehört dazu, für sich praktisch eine Ordnung herstellen könne. Beispielsweise, das habe ich selbst erlebt; das weiß ich gewiss (dafür lege ich die Hand ins Feuer); daran glaube ich; ich kann mich nur ungenau erinnern; so hat man mir es erzählt; das habe ich irgendwann gelesen (usw.). Darüber hinaus nun auch einzusehen in der Lage sei: Erinnerungen, Wahrnehmungen, Perspektiven, können trügerisch sein‘. Sich irren, täuschen, getäuscht werden, ist in diese lebensweltliche (dazu gehört auch die wissen­ schaftlich) Wirklichkeit ›eingepreist‹. Und selbstverständlich auch, dass Mensch, mit Blick auf sein Handeln, seine Werte, sein Erzählen, sein Sich-erinnern, Stellung beziehen könne. – Ich bin also einer, der offensichtlich von sich selbst und seiner Welt manches (sogar vieles) zu erzählen weiß. Und wiederum, stimmiges, lügenhaftes, phantastisches, (usw.); mitsamt diesen und jenen zugehörigen Modi. Sogar, auch das ist bemerkenswert, wisse, dass ›unendlich vieles‹ nicht gewusst werde. – Uns werde so vorgeführt, wer möchte es bestreiten, ein wahrhaftig eigenartiges, erstaunliches, sogar rätsel­ haftes In-der-Welt-Sein. Das sogar noch ›ein-darüber-hinaus-sein‹, für noch ›allgemeineres‹ Welt- und Selbst-Haben einzuschließen scheine. – Welche anthropologischen Selbst- und Weltverständnisse man immer, und mit welcher Absicht, sich auch zurechtlege. Gleich wel­ cher Theorie der Zuschlag gegeben werde; die Begründung dafür also mag sein wie sie wolle. Jede Perspektive, sie mag sich als zutreffend herausstellen, oder nicht, braucht in jedem Fall Gestal­ tung und Vorstellung; also eine konsistente Form. Wir werden hier aufmerksam auf eine notwendige Grundform unseres wirklichen Soseins. Zumindest hintergründig präsent als die Voraussetzung für unser So-in-der-Welt-Sein. Das ist, Mensch-sein heißt Geschichtenund Geschichte-haben; und als wirkliche Möglichkeiten parat-haben; erzählen können; dies sich (sogar vor allem) selbst zu erzählen wissen;

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sich selbst mit seinen Geschichten in einen Zusammenhang (mein und unser In-der-Welt-Sein) ordnen. (Sei es auch nur ›dicht‹ wie bei Kaspar Hauser, der dieses eine von sich und seiner Welt vorstellen, erinnern, wissen konnte: ›ein Reiter möchte ich werden, wie mein Vater gewesen ist‹!) – Unsere Lebenswelt, unser So-in-der-WeltSein also ›gesponnen‹ mit und aus Geschichten. Man denke doch nur (beispielsweise) an die so selbstverständlichen Ordnungen der Wahrnehmungen, Erinnerungen, des Wertens. Etwa diese alltägliche Leistung: ›ich erzähle etwas‹; und irgendwer hört mir zu. Das ist sich selbstverständlich bewegen mit und innerhalb eines dichten, komplexen Systems. Ein sich-sich-bewegen (im Denken; mit Wor­ ten, der Grammatik; usw.); zugleich notwendig eine fortdauernde Gestaltung, eine Konstitution des leistenden Grund-Gefüges unseres wirklichen Da-und-So-Seins (Husserl würde es Bewusstseinsstrom nennen). Die auch leibhafte Ordnung unseres wirklich wirklichen So-in-der-Welt-Seins. Das ist nicht nur intentional ausgerichtet sein und bleiben auf wirkliche Welt-Haben; und auch leben-bleiben (können) innerhalb intersubjektiver Ordnungen; vertrauen auf ein Netzwerk, von unseren Symbolen. Und nicht zuletzt eingestellt blei­ ben auf Selbst-Selbsterfahrung und Selbst- und Weltbestimmung. – Phänomenologisch nun wahrgenommen als Leistung der Reflexion. In einem ausdrücklichen Wortsinn, sind es praktisch ›reflektierte‹ Rückkoppelungsschleifen‘, die erst unsere Wirklichkeit ›erzählen‹, als Korrelat unserer Welt-Habe und unseres Selbst-Sein konstituieren. Das führt vor, die Möglichkeit immer weitere, geradezu endlose Entfaltung der Reflexion der Reflexionen unserer wirklich wirklichen Welt- und Selbst-Vorstellungen. Selbstverständlich daraus wiederum nicht entlassen, unsere hier existenz-phänomenologisch vorgeführte, als ›letztmöglich‹ behauptete, reflexive Reflexion der Reflexionen. – Hier gibt die Rede von ›der Bedingung für alle Möglichkeiten für In-der-Welt-Sein‹ wirklich Sinn. Wohin phänomenologische Refle­ xion der Reflexionen nun auch immer ausgreift. Über diese so ver­ anstaltete, bewusste wirkliche Wirklichkeit menschlichen Welt- und Selbstverständnis, unser uns so präsentes existentielles Da-und-Soin-der-Welt-Sein, wird sie nie hinauskommen können. Mensch hat von sich selbst, seinem Selbstverständnis, seinem Wissen von Welt und seinem Sein und den Anderen, soweit er auch immer ausholen, und, im allgemeinen und besonderen, zu sehen vermag, tatsächlich nur unsere, und darin eingebaut, seine ›Geschichten, die Möglichkeit seines ›Erzählens‹ von Welt und Selbst‘.

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Das erscheint ohne weiteres eingängig. Wiederum schon mit Blick auf uns selbst; uns hier und jetzt genau so Reflektierenden. Weltund Selbstverständnis des Menschen braucht in jedem überhaupt denkbaren Falle, für sich selbst präsente Gestaltung. Selbst noch die abstrakteste ontologische, metaphysische erkenntnistheoretische, Theorie fasst sich als (und mit) ›Geschichten‹. – Und so stellen Menschen sich selbst und ihre Welt-Habe, ihr So-in-der-Welt-Sein vor, und werden so vorgestellt, als (wie auch immer) in Form gebrachte ›Texte‹. Ein ›endlos scheinendes Gewebe‹, das sich so (›nach welchem Grund-Muster? das ist eine uns umtreibende Frage) immer weiter ausspinnt. Bis der ›Faden‹ für ein wirkliches So-Da-Sein reißt; die ›letzte Geschichte‹ für diese-eine-da, erzählt ist. – Diese ›Texte‹ sind ganz offensichtlich nicht zuletzt eine ›gesellschaftliche Interpunktion‹. Immer auch von dort her geordnet; eingeordnet, und auch verwirklicht. Die wirkliche Grundordnung unseres In-der-WeltSeins, – ohne dass wir zuerst und zumeist darauf achten.199 Das alles ist ganz ausdrücklich nicht eingeengt auf vergleichsweise ›späte‹ Kulturtechniken. Naheliegend etwa, die Ordnung des Schriftlichen, die auf die ›ontologische‹ Ordnung jeweiliger Welt (wie ein ›Spiegel‹) aufmerksam mache. Denken wir beispielsweise an einen in eine literarische Form gebrachten ›geschlossenen‹ Text. Die, wie man dann sagt, ›Welt Homers, oder der ›Kosmos Dantes‹ widerspiegele. Das sind schon ›ontologische Kunst-Stücke‹ mit Blick auf die wirkliche und auch mögliche Wirklichkeit des Menschen und sein So-in-derWelt-Sein. Existentiell-phänomenologisch soll das nun etwas breiter ein­ geführt werden. Zunächst hingeschaut auf die uns vertrauten Vor­ stellungen, Bilder, Symbole; und die Modelle, der, wie auch immer gestalteten Lagen, Perspektiven; als aktive und passive Leistungen unseres In-der-Welt-Seins. Also so zusammengefasst, als die Wirk­ lichkeiten und wirklichen Möglichkeiten, die Menschen theoretisch und praktisch (und sei es auch nur in Gedanken) umgreifen und ver­ wirklichen. All das, das irgendwie, in umfassenden Wortsinn, ›gele­ sen‹, ›erzählt‹, und ›verstanden‹, natürlich auch ›missverstanden‹,

So verwundert auch nicht: man müsse sich fragen, so Helmut Schoeck, »ob es überhaupt eine anthropologische Problemstellung ohne jede soziologische ›Kategorie‹ geben« könne. (Geschichte der Soziologie. Ursprung und Aufstieg der Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft. (1964) Freiburg i. Breisgau 1974. S 11) 199

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werden könne.200 Wiederum auch Täuschungen, Irrtümer, Lügen, Wahnsinn; als Ordnungen eigener Qualität; auch sie bleiben natürlich unserer Welt zugehörig; und werden auch von uns verstanden; sind also nichts weniger als uns auszeichnende ›Geschichten‹. – Wohin Mensch mit Blick auf sein wirkliches Mensch-Sein und seine wirkli­ che Welt-Habe (einschließlich auch, ›so hätte es sein-sollen‹!) auch immer zu rücken versucht (einschließlich Utopien; etwa klassenlose Gesellschaft; eine Welt in der Wolf und Lamm gemeinsam weiden; oder auch, unaufhaltsamer Niedergang; die Sterne werden vom Him­ mel fallen); wieweit also auch immer Wahrnehmung, Erinnerung, Phantasie, Wünschen, Ängste, auch Sehnsucht und Hoffen, (›über den Wolken, da muss die Freiheit wohl grenzenlos sein‹; der Messias wird kommen) reichen, immer wieder ist, und bleibt Mensch gebun­ den durch Form und Gestaltung seiner ›Geschichten‹ und den ihn geradeso bindenden ›Horizont‹.201 – Kurzum, unser Leben, unsere Welt werden vorgestellt, gestaltet, erfahren nie anders als durch Geschichten. Das sind unterschiedliche Geschichten. Erzählungen von Unglück oder Heil; oder schlicht von Alltag; markiert als Visionen, Traum, oder vorgestellt als nüchterne Analyse. Geschichten, Texte von Vernunft, Unvernunft, Irrsinn, Emotionen, Aufstieg und Fall. Oder auch von den grundsätzlichen Grenzen unseres Lebens (›ein Leben währt 70 Jahre, wenn es hoch kommt 80‹). Und selbst noch Versuche dagegen zu opponieren, Grenzen zu verschieben, ›Sezession zu treiben‹, um, ganz neue Erfahrungen‘ zu machen, vielleicht end­ lich ›ordnungsfreie Räume‹ sich zu erschließen (der »Rausch wird gefeiert, weil das Leben zu eng ist.«)202 bleiben gebunden, man mag 200 Das schließt ein, was Gerhard Schulze aus seiner Perspektive ›Stil‹ nennt. »Als Stil sei nun die Gesamtheit der Wiederholungstendenzen in den alltagsästhe­ tischen Episoden eines Menschen definiert. Erlebnisorientiertes Handeln gerinnt im Stil zu einem stabilen situationsübergreifenden Muster. Stil schließt sowohl die Zeichenebene alltagsästhetischer Episoden ein (Kleidung, Mobiliar, besuchte Veranstaltungen, Fernsehinhalte usw.) als auch die Bedeutungsebene (insbesondere Genuss, Distinktion, Lebensphilosophie.« (Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt/New York 19934. S 103) 201 Vgl. dazu auch aus geltungstheoretischer Perspektive: Hans Wagner: »Zwischen der Innerlichkeit des Selbstbezugs auf Welt- und Weltstücke und der Äußerung (dem Symbol) herrscht also durchgehend und grundsätzlich wechselseitige Implikation: ohne die Innerlichkeit eines Selbstbezugs gibt es nichts zu äußern, ohne Äußerung gibt es keine vollbestimmte Innerlichkeit für den Selbstbezug.« (19672) S 361 202 Ferdinand von Schirach. Alexander Kluge. Die Herzlichkeit der Vernunft. München 20172. S 35

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es registrieren oder nicht, innerhalb der wesentlichen Wirklichkeit unseres, nie anders als so präsenten, sich so formenden, erzählenden So-in-der-Welt-Seins. Da ist zum einen also das historisch und biographisch (wie man sagt) bewusst mit Absicht gesetzte; das also der Vernunft ausdrücklich zugeschriebene; zum anderen aber, das uns Menschen von der Wiege bis zur Bahre begleitende, unwillkürliche Geschehen; dazu gehört nicht zuletzt die Gestaltung unsers leibhaften So-in-der-Welt-Seins. Eingeholt und präsent dann für uns als unsere ›Erzählungen‹ von Zufällen und Schicksal. – Nicht als ob es nun wirklich möglich wäre, hier einfachste ontologische Bausteine und Zusammenhänge unseres Welt- und Selbstverständnisses, für sich stehend, losgelöst aus dem Gesamt-Gefüge (und der Gesamtverantwortung) unseres Da-und-So-Seins herauszubrechen. Märchenhaft sauber, rein, ver­ nünftig getrennt; nur ›die Guten ins Töpfchen‹. Oder, soziologische oder tiefenpsychologische ›Kategorien‹ oder ›Ur-Muster‹ ausgemacht werden, die, unser Welt- und Selbst-Sein, wissenschaftlich endgültig erklären könnten. Einschließlich des leider immer noch unaufgeklär­ ten Denkens und Handelns mancher Zeitgenossen. In unserem Blick bleiben wirklich wir selbst. Phänomenologisch schlicht als wesentliche Gestalt und wirkliche Gestaltung der uns zugänglichen Wirklichkeiten und wirklichen Möglichkeiten So-inder-Welt-zu-sein. Als phänomenologisch sicher scheint zumindest, dass Welt-Haben, und Selbst-Sein, immer auf komplexe ›Spiele‹ der Reflexion wirklichen Da-und-So-Seins verweisen. Welt-Haben und Selbst-Sein werden dabei phänomenologisch als unauflöslich zusammengehörend in den Blick gerückt. Als ein Zusammenspiel willkürlicher und unwillkürlicher Leistungen unseres Da-und-SoSeins. Hinzugefügt sei ausdrücklich, dass also selbstverständlich diese und jene sogenannten ›irrationalen‹ Gestaltungen nicht ausge­ grenzt werden können. Das alles wird vorgestellt als uns zugehörige Leistungen (einschließlich des uns unwillkürlich Zufallenden), als Potential existentieller Reflexionen. – Offensichtlich, das vergessen wir in keinem Fall, umfasst das auch die philosophische Arbeit radi­ kalen Selbst-Selbst-Verstehens. Selbst das, was neuzeitliches Philo­ sophieren als ›intellektuelle Anschauung‹ herausfordert, bliebe daran gebunden. Phänomenologisches Philosophieren kann also für sich, auch als radikal-reflexive Reflexion der Reflexionen, ausgerichtet auf ›letztmögliche Einsichten‹, keine Ausnahme, keine irgendwie ›abso­ lute Position‹ beanspruchen. Ein ›rücksichtslose‹, von wirklichem

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Menschsein entbundene Philosophie ist nicht einmal theoretisch denkbar; schon mit Blick auf die letzten Endes immer praktische Leistung des Philosophierens. Jedes Philosophieren bleibt, was immer es sich vorstellen mag, Philosophieren eines wesentlich wirklichen Menschen. – Existenz-phänomenologisches Philosophieren nimmt für sich als theoretische Gestaltung nicht unbedingte Vernünftigkeit in Anspruch. Oder behauptet sich als Reflexion ›reiner Vernunft‹. Sondern weiß sich selbst gerade als phänomenologisch strenges Schauen, als Reflexion der Reflexionen, geordnet, gestaltet, in Form und Geltung gebracht als ›Erzählung‹ wirklicher irritierter und perturbier­ ter Menschen. Unser existentielles Philosophieren bleibt, selbst noch im entworfenen ›theoretisch‹ letztmöglichen Grunde, ›praktische‹ Reflexion der Möglichkeiten eines wesentlich wirklichen Da-und-SoSeins. Konkret gesetzt also als Selbst-Schauen-können; eine radikale Vorstellung existentieller Reflexion möglicher Reflexionen. Streng wissenschaftliches Philosophieren wird sich also bestätigt sehen. Existentielle Phänomenologie reflektiert im Grunde wirklich als anthropologische Gestalt und Gestaltung. Die Konsequenzen lägen also auf der Hand. – Wir aber fragen, wie denn sonst Philosophiert werden könne? Hier konkrete Beispiele zu fordern, sollte sich erüb­ rigen. Man schaue doch seinen Reflexionen, seinem ›wissenschaftli­ chen Philosophieren‹ selbst zu. – Denken wir, bildhaft konkret, an ein ›Gewebe‹, ein ›Geflecht‹; etwas abstrakter ein ›System‹ von wortwört­ lich unseren, sich wie auch immer vorstellenden und sich aufdrän­ genden Wahrnehmungen. Für uns phänomenologisch reflektiert als je mein intentional eingestellter, zeitlich geordneter ›Bewusstseins­ strom‹. Nicht übersehen werden kann, dass dies bereits Fassung unserer Reflexion ist; damit wirklich und wesentlich auf uns verweist. – Dieser ›Bewusstseinsstrom‹ (Husserl) wird phänomenologisch eigenartig zusammenhängend erfahren, geschaut als ein ›Ganzes‹, auch dort wo nur ein ›Fragment‹ aufscheine; und ›reflektiert‹ als immer erfahren von einem ›wirklichen Bewusstsein‹; ›letztendlich‹ dem Selbstverständnis eines: ›Ich-bin-wirklich-es-selbst‹.203 Wobei Husserl schreibt: »Durch unser waches Leben geht als eine kontinuierliche Einheit die eine Erfahrungswelt. Wir haben von Moment zu Moment zwar immer neue Wahrnehmungen und, einzeln betrachtet, immer neues Sonderwahrgenommenes; aber allgemein gesprochen fügt sich alles ohne unser Zutun zu einer überschaubaren Erfahrungseinheit zusammen und zwar so, dass wir in der Überschau immer sagen müssen, in einer Erfahrung, einer einzigen, alle Wahrnehmungen und Erinnerungen zu einem Strom verbindenden Erfahrung erscheint die eine Welt, von der immer neue 203

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diese Leistung der Konstitution, diese aktiv und passiv vollzogene ›Zusammenstellung‹ einer er- und gelebten ›Ganzheit‹, selbst wie­ derum eigens in den phänomenologischen Blick zu rücken ist. Für unser Philosophieren eine wirkliche Herausforderung.204 Das lässt nämlich immer weiter aufmerken auf meine und unsere selbstver­ ständlich geltende Ordnung des Welt-Haben und Selbst-Sein. Aus dieser Ordnung kann sich also auch der philosophisch Schauende nicht herausnehmen. Von dort aus reflektieren und bestimmen sich nun auch die überhaupt möglichen ontologischen Muster für uns. Immer sind ›Welt-Habe‹ und ›Selbst-Sein‹ für uns Philosophierende als Reflexionen präsent. Also, Ich als So-in-der-Welt-Sein bin da, als ›geformtes existentiell korrelatives Sinn-Gefüge‹. Trotz aller in der (meiner und unserer) ›Wirklichkeit‹ immer möglichen Lücken, auch Widersprüche, Unstimmigkeiten, Verzerrungen, Fehldeutungen, und auch ›erkenntnistheoretischen Zweifel‹. Auch das sind unsere Erfah­ rungen, unsere Geschichten. So wird phänomenologisch zurecht von unserer wirklichen Welt als einer ›Welt der (unserer) Geschichten‹ gesprochen. Und ist es nicht das, was jedem Philosophierenden zumindest hintergründig, als Motivation vorliegt; ihn bewegt, und selbst noch jedes noch so abstrakt scheinende Philosophieren prak­ tisch verpflichtet und in unsere Wirklichkeit zurückbindet.205 Hier ist noch etwas genauer hinzuschauen. Die Geschichte der Philosophie führt vor, dass diese zunächst ›phänomenologisch‹ stim­ mige Perspektive der Reflexion, wird sie selbst nicht reflektiert, zu verstiegenen, unsere Wirklichkeit zu übersteigen versuchenden Spekulationen (geradezu) einzuladen scheine. Denken wir hier nur an unterschiedlichsten Spielarten des Idealismus. Unser ›Bewusstseins­ Bereiche zu aktueller Wahrnehmung kommen, um dann erinnerungsmäßig unser eigen bleiben.« (Hua. IX. S 59) 204 Beispielsweise Edith Stein: »Es ist nun höchst wunderbar, wie dieses Ich, unbe­ schadet seiner Einzigkeit und unaufhebbaren Einsamkeit, eingehen kann in eine Lebensgemeinschaft mit anderen Subjekten, wie das individuelle Subjekt Glied wird eines überindividuellen Subjekts und wie im aktuellen Leben einer solchen Subjekt­ gemeinschaft oder eines Gemeinschaftssubjekts sich auch ein überindividueller Erleb­ nisstrom konstituiert.« (Beiträge zur philosophischen Begründung der Psychologie und der Geisteswissenschaften. Tübingen 19702. S 119) 205 Dazu auch die Einsicht Wolfgang Cramers. »Eine Philosophie der Subjektivität, die aus Gründen ihrer Fragestellung die Subjektivität auf ›Bewusstsein‹ reduziert, kann grundsätzlich nicht mehr zum Menschen zurückkommen. Jeder Idealismus dieser Spezies hat Schiffbruch erlitten und muss scheitern.« (Grundlegung einer Theorie des Geistes. Anhang. Frankfurt/M 19753. S 100)

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strom‹ ist phänomenologisch nicht vorzustellen als reine, unbedingte (oder vielleicht auch nur private) Innenwelt. Diese psychologistische Perspektive verbaute ein für alle Mal den Weg zurück zu unserem wirklichen So-in-der-Welt-Sein. Und so zu der Möglichkeit Reflexion und Ordnung der uns irritierenden Spannungen unseres Da-und-SoSeins vorstellen zu können. Die Herausforderung des Philosophie­ rens liegen dabei schon in der Reflexion der Wahrnehmung unseres In-der-Welt-Seins; und dann im Übergang zum Schauen; und vor allem in der Leistung des Schauen dieses Schauens. Und so reflektieren wir uns selbst existenz-phänomenologisch also wirklich schlicht, breit und umfassend. Und dabei alle ›großen‹ philosophischen Theorien zunächst eingeklammert. In unserem exis­ tenz-phänomenologischem Blick zunächst also unser Leben; unsere Lebenswelt; unser So-in-der-Welt-Sein. ›Welt‹ und ›Selbst‹ reflektie­ ren sich uns, von Anfang an als ›Welt-Haben‹ und ›Selbst-Sein‹. Das ist immer als ›vorläufig‹ schon gestaltet; wir sind uns präsent als ›narrative‹ Ordnung von unseren Geschichten. Nehmen wir dabei den Titel ›Geschichten‹ nicht allzu eng. Phänomenologisch eingeführt als, wie auch immer wahrgenommene (›getextete‹) Gestaltungen; als so oder so gesetzte Zusammenhänge, unterschiedlichste intentio­ nale Bezüge; ›Kollektionen‹, die erinnert, wie auch immer tradiert, erzählt (werden können). Vor allem aber alltäglich selbstverständlich, als unsere Wirklichkeit willkürlich und unwillkürlich gelebt (weiter­ gesponnen) werden. Die Problematik phänomenologisch (so mag es scheinen) so ohne weiteres deskriptiv von ›Leben‹, und ›gelebt werden‹, von ›Welt‹ und ›Selbst‹, ›Gestaltung und ›Gestalt unseres In-der-Welt-Seins‹ zu sprechen, haben wir nicht aus den Augen ver­ loren. Das wird uns weiter beschäftigen. Von diesen ›Gestaltungen‹ aus, reflektieren wir phänomenologisch nun aber unsere ›existentielle Gestalt‹. Was wäre denn, so fragen wir zunächst, ein ›Subjekt‹ ohne diese intentional lebendige Gestaltung dieses so wahrgenommenen, gelebten Selbstverständnisses und wirklichen Weltbezugs? Kurz, was bliebe von einem Bewusstsein, vor allem seinem wirklichen In-der-Welt-Sein, wenn diese ›zusammenhängende Ordnung‹, diese, (zunächst sicher naiv) vorgestellten, erinnerten, erzählten, reflektier­ ten ›Geschichten‹, diese, sich gerade so in zeitlichen und örtlichen Zusammenhang bringende Selbst- und Weltwahrnehmungen weg­

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fielen?206 Dass das nicht nur eine abstrakte erkenntnistheoretische Frage sei, erfahren wir gleichsam an uns und mit Blick auf uns selbst.207 – Und nun weiter. Ob es, diese Frage drängt sich nun mit nachvorne, überhaupt noch ein unbedingtes Selbst ›hinter‹ diesen unterschiedlichsten Vorstellungen gebe, geben könne; (wie sollte es denn von uns erfahren werden können?). Das wäre ein von sei­ nen ›Geschichten‹ nicht ganz und gar verschlungenes oder darin aufgehobenes Subjekt? Ein, sagen wir es paradox: ein ›Inhalt‹ ohne jeden Inhalt. Eine von all dem losgelöste absolute Invariante mensch­ lichen Daseins. – Die versuchten Fassungen sind bekannt. Beispiels­ weise, die Seele; der Geist, geistige Substanz; das Pneuma; oder, weniger antiquiert, ein neurobiologisch fundierter und erklärbarer ›Beobachter‹. Als ›Ort‹ der Großhirnrinde ›biologisch‹ bestimmbar; nun wenigstens das. – Wie auch immer, in jedem Fall brauche es ein ›Unbedingtes‹. Ein ›reines Ich‹ als Wirklichkeit, jenseits dieses, als bloß faktische Erzählung erlebten. Einen geltungssicheren Halt jenseits der in Wirklichkeit relativen Wirklichkeit unseres So-in-derWelt-Seins. Unseres, sogar nur mehr oder weniger zusammenhän­ gend geordneten Selbstbewusstseins. Vielleicht auch (die Zweifel verstärken sich) nur vermeintlich verstanden; vielleicht nichts weiter als eine sich immer weiter spinnende Illusion. Ein sich halt- und grundlos strömender Lebensstrom‘ unseres wesentlich nur faktischen So-in-der-Welt-Seins? Menschen-Leben dann nur noch der Traum eines Schatten. (Pindar) – Wäre es für uns existentiell Verunsicherten nicht das Beste, zurückzukehren zu dem geltungssicheren Ich denke; Ich bin? Und dann phänomenologisches Philosophieren tatsächlich mit der Form eines ›Neu-Cartianismus‹ aufzubauen?208 –

206 Dazu noch einmal Husserl: »Von der Welt haben wir oder gewinnen wir man­ nigfaltiges Wissen und Wissenschaften; aber erst muss, sagten wir, eine Welt, erst müssen Dinge, Vorgänge und dergleichen schlicht erfahren sein, damit Denktätigkeit ins Spiel treten und Wissen über die Dinge zu höchst wissenschaftlichen Theorien über sie (die Idealität der Wahrheit) gestalten kann. Die letzten Substrate aller Gedanken und aller sonstigen aus geistiger Aktivität erwachsenden idealen Gebilde liegen in der Erfahrungswelt.« (Hua. IX. S 58) 207 Das was beispielsweise Wittgenstein für ›Dinge‹, ›räumliche Sachverhalte‹ fest­ stellt, gelte, anthropologisch modifiziert, auch für unser So-in-der-Welt-Sein. »Wenn wir uns räumliche Gegenstände überhaupt nicht außerhalb des Raumes, zeitlich nicht außerhalb der Zeit denken können, so können wir uns keinen Gegenstand außerhalb der Möglichkeit seiner Verbindung mit anderen denken.« (TLP. 2.0121) 208 Dazu die ersten Sätze Husserls in: Hua. I.

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Da ist zunächst die Frage, was dieses denn eigentliche sei, sein könne, sein müsse, das sich so in Geschichten verdecke, verzerre, vergesse und verirre? So lebe, vielleicht sogar, warum auch immer, so ›selbstvergessen‹ leben müsse? Dann auch, durch wen oder was auch immer, verdeckt, verzerrt werde? – Halten wir uns vorerst an wenig Strittiges. Mit Wilhelm Schapp könne man davon sprechen, dass wir Menschen augenscheinlich faktisch in Geschichten verstrickt seien.209 Und daher schon vor allem ausdrücklichen Philosophieren, die bange Frage: was denn Ich selbst praktisch wäre? Welchen Stellen­ wert Ich mir selbst zuschreiben, Ich reklamieren könne? Ein Dasein, das für sich selbst, selbstsicher, verlässlich, festzuzustellen in der Lage wäre, so bin ich also, ich war so, und im Grunde werde ich sicher nie anders als So-Da-Sein! – Die Form der metaphysischen, theologischen und wissenschaftlichen Vorstellungen, Perspektiven, Grundlagen, sind uns (eigenartig) vertraut. Ohne im Einzelnen darauf einzugehen dicht zusammengefasst. Entweder ein merkwür­ diger (metaphysischer) Dualismus, oder der Entwurf einer rigiden monistischen Anthropologie. Beispielsweise, wir selbst im Grunde eine ontologische? transzendentale? transzendente? Gestalt; die sich mit diesen mehr oder weniger zufällig scheinenden Gestaltungen zeige, vorführe, behaupte, vielleicht sogar erst so verwirkliche? Ein im Grunde sich in seiner Wahrheit selbst verborgenes eigentliches Dasein, von dem man sagen könne, es habe, erlebe, erleide, oder es mache diese und jene Geschichten.210 Oder umgekehrt, ob hinter (oder: über; unter; neben) den sich vorstellenden, reflektierenden Menschen, letztendlich wirklich (das ist wissenschaftlich) nichts wei­ ter zu finden wäre, als diese irgendwie zufälligen Geschichten? Wir, 209 »Wenn wir uns unserem Selbst nähern wollen, so können wir das nicht über die Wissenschaften, nicht über Sachverhalte, sondern nur über Geschichten. Wir selbst sind da nicht blutleere gespenstige Beziehungspunkte, die Sachverhalte intendieren, sondern in Geschichten verstrickte Helden, Könige, Ritter, Priester, Seher, Heilige, Propheten, Dichter oder jemand aus dem Volke, alle mit ihren Sondergeschichten, wobei aber diese Geschichten alle vom Beginn der Tage an bis heute zusammen­ hängen, eine Einheit bilden, in der der Armseligste so gut einen Platz hat, wie – und hier sieht man deutlich, wie sich die Kreise schließen – der Prophet und der Religionsstifter.« (Wilhelm Schapp. Philosophie der Geschichten. Leer/Ostfriesland 1959. S XII) 210 Zumindest die Sehnsucht ›Ich bin mit meinen eigentlichen Namen‹ bei Gott eingetragen und so in seinem Blick. Eine (wenn auch exegetisch nicht korrekte) Vorstellung bei Jes. 43, 1: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich befreit,/ich habe dich beim Namen gerufen,/du bist mein.

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5. Fragile Selbst- und Welterfahrung

Du und Ich mitsamt unserer Individualität und Sozialität restlos aufgingen, in unseren, deinen, meinen Geschichten. Dasein darüber hinaus nichts weiter als ›im Ganzen betrachtet‹ ein verworrener, sinnfreier Text! Eine ganz und gar faktisch-zufällige Sammlung von ›Erfahrungen‹, die (von wo her auch immer) immer wieder mit jeder neuen Erfahrung überschrieben werde. Unser Leben vergleichbar als ›Palimpset‹. Schließlich und endlich bloß eine Aneinanderreihung von Belanglosigkeiten; vielleicht erklärbar (im Kleinen) als ›Reiz und Reaktion‹; oder sich selbst genügenden ›Assoziationen‹, denen auch mit besten Willen, kaum durchgehend wirklich Sinn, oder gar eine metaphysische Bedeutung, und philosophisch nicht einmal ein sich durchhaltend evidentes ›Selbst-Selbstverständnis‹ (das bin ich nun wirklich und wesentlich) zugesprochen werden könne. (Das gelte selbst für individuell als tragisch erlebtes Leben.) Im Grunde könne man also über naturwissenschaftliche Erklärung ›kausaler Muster‹ (biologisch; somatisch; physiologisch) unseres In-der-WeltSein nicht mehr wirklich hinauszukommen. ›Hinter‹ den Geschichten eines Da-und-So-Seins reflektieren zu wollen, greife über ›Biologi­ sches‹, ›Psychologisches‹, ›Soziologisches‹ hinaus ins Leere. Auch die zwar nicht zu bestreitenden Möglichkeiten der ›Erzählungen‹ eines irgendwie Darüber-hinaus, sind nichts weiter als wiederum tie­ fen-psychologisch, soziologisch, kulturanthropologisch, sogar letzt­ endlich physiologisch, erklärbare ›phantastische Geschichten‹; haben aber mit Blick auf ›die Wirklichkeit‹ unseres wirklichen Da-und-SoSeins hier und jetzt keine ›weiterhinausreichend (transzendente) Bedeutung‹. (Stünden doch, so in etwa der vielzitierte Satz Carl Vogts: ›die Gedanken zum Hirn, etwa in dem selbst Verhältnis als die Galle zur Leber, oder der Urin zu den Nieren‹.) Dass für uns phänomenologisch Schauenden damit keineswegs schon das ›letzte Wort‹ gesprochen sein kann, lässt sich ohne weiteres zeigen. Allein schon, dass dieses so denken, wie wir es (schon) zu denken versuchen, uns immer wieder in Bewegung halte. Uns Menschen nicht zur Ruhe kommen lassen scheint, uns also endlos weitertreibe.211 Soweit wir unsere Geschichte überhaupt einzusehen 211 Ich denke hier an Peter Huchels: ›Keine Antwort‹: ›Aufs schwimmende Nebel­ haupt/der Eiche/setzt sich die Krähe./Der Katzenbalken ist leer.// Schatten von dürrem/Weingerank/an der Zimmerdecke./Zeichen,/von eines Mandarinen Hand/geschrieben.// Das Alphabet,/das du besitzt,/reicht nicht aus,/Antwort zu geben/der wehrlosen Schrift.‹

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vermögen. Das führt weit in Zeithorizonte zurück, vor den ersten Versuchen der Philosophie und Wissenschaften. – Denken wir nur an die Bestimmung der Lage des Menschen als ›De profundis‹. Gerade das aber lasse (seltsam genug) Welt- und Selbst-Sein nicht als sinnlos zu; und verweist Mensch (so oder so) darüber hinaus.212 – Nicht mehr und nicht weniger soll zunächst gesagt sein. Es drängt sich uns geradezu wie von selbst auf. Und auch für neuzeitlich Aufgeklärte als wirklich nach vorne. – Schau also auf die Geschichte; schau auf dich selbst! Ob wir zweifeln, verzweifeln, es bloß hinnehmen, oder zustimmen, wir führen es genauso vor. Als ob uns in jedem Fall (›wir hintergründigen Gnostiker‹) die wissenschaftlichen Erzählun­ gen nicht genügen können. (Es wäre, nur am Rande, eine spannende Geschichte die Funktion der Astrologie hier einzuordnen.)213– Unklar bleibt bei alldem schon, das darf nicht aus den Augen verloren werden, auf welche Weise und woher und woraus diese so unterschiedlichen ›Geschichten‹ sich herstellen; und sich (das ist die praktische Frage) ›unbedingt‹ verantworten (lassen). – Da ist als erstes eine geradezu schlicht anmutende Frage. Woraus sich denn die Form dieses unseres (schon alltäglichen) Selbst- und WeltWahrnehmens, und ihr erzählter Bezug zu- und ineinander, selbst rechtfertigen. Sie weitet sich phänomenologisch zu Reflexionen der Zusammenstellung, auch Gestaltung und Ordnung dieser ›Beziehun­ gen‹. Das ist nicht mehr und nicht weniger als die Frage nach der existentiellen Leistung der Konstitution von Welt-Habe und SelbstSein durch ›unsere Geschichten‹. Und dann schließlich diese Reflexio­ nen radikal gewendet mit Blick auf uns selbst, als wesentlich selbst ›unlösbar‹ (Schapp) in Geschichten verstricktes Da-und-So-Sein. Das schließt beispielsweise ein, wie sich diese Vorstellung unbedingten Selbstseins herstellt. Und eng damit verflochten, von woher (vielleicht auch ›durch was‹) diese ›Geschichten‹ hergestellt und legitimiert wer­ den. Zusammenhängende Geschichten mit denen wir uns innerhalb einer (darauf vertrauen nicht nur die Wissenschaften) ›objektiven‹ Wirklichkeit nicht nur ›sicher‹ bewegen können; beispielsweise, sich Dazu Günter Kunert. (Achtzeiler) ›Auf toten Flüssen treiben wir dahin,/vom Leben und dergleichen Wahn besessen./Was wir erfahren, zeigt sich ohne Sinn,/weil wir uns selbst längst vergessen./Vom Augenblick beherrscht und eingefangen,/zer­ fällt der Tag, der Monat und das Jahr./Und jede Scherbe schafft Verlangen/nach Ganzheit: Wie sie niemals war.‹ 213 Trotz allen Vorbehalten im Einzelnen, zumindest anregend: Ernst Jüngers. An der Zeitmauer. Stuttgart 1959 212

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erinnern; auf etwas hinweisen; beschreiben; ein Erlebnis mitteilen; ästhetisch ausgestalten; u. ä. Sondern, die (im Nachtrag und im Vorlauf) unser existentielles Selbstsein und wirkliches Welthaben erst konstituieren. Phänomenologisch gelesen, eine Leistung ent­ lang dieser sich so in Form bringenden Grund-Ordnung unserer existentiellen (auch leibhaften) Intentionalität Auch philosophische oder wissenschaftliche Reflexionen bleiben mit ihren Perspektiven, Reflexionen, Vorlagen, selbstverständlich eingestellt, in diesen so geleisteten Horizont,. All die vielfältigen Versuche wissenschaftlich, beispielsweise soziologisch, psychologisch, historisch, sogar linguis­ tisch, unseren ›Lebens-Text‹, diese ›Geschichten‹ unseres Selbstund Weltverstehens begreifen zu wollen, sind doch selbst schon Leistungen, die sich hier mit ihren Reflexionen existentiell einordnen. Ohne diese Ordnung, objektiv gerichtet, verstehen zu können. Das darf nicht bloß als erkenntnistheoretische Herausforderung begriffen werden. (Dass sie das selbstverständlich auch sind, verges­ sen wir nicht.) Und so darf phänomenologisches Philosophieren auch diese Fragen und überhaupt unser Fragen, nicht einer Wissenssozio­ logie, oder psychologisierenden Sprachtheorie weiterreichen. Es mit ihren Erklärungen genug sein lassen wollen. Sie sind und bleiben philosophisch unsere existentielle ›Sache‹. Eine existenz-phänome­ nologische Herausforderung. Und das allein schon mit Blick auf Mensch begleitende, ihn umfassend verunsichernde Lage seines Soin-der-Welt-Seins. Wie wir es also auch drehen und wenden, unser irritiertes und perturbiertes Dasein, reflektiert auch als aufgeklärtes, alles andere als Selbst Selbst-Gewiss. Man denke nur an die bewegte Geistes-, Kunst- und Religionsgeschichte der letzten 250 Jahre. Von Grund-auf Selbst-Gewiss sein, wäre aber philosophisch die mindeste Voraussetzung für alle weiteren erkenntnistheoretischen, ontologi­ schen, anthropologischen Leistungen; also die notwendige Bedingung der Reflexionen des existentiellen Sinn für unser (auch wissenschaft­ liches) Welt- und Selbst-Verstehens. – Was oder wer denn nun, so fragen wir also, unserem als irritierend fragil erlebten Da-undSo-Sein, ein sicheres und sinnvolles Selbst- und Weltverständnis einstellen könne? Also eine Vorstellung, die anfallenden Selbstzweifel standhalte und uns Menschen wirklich wesentlich ›durch unsere Zeit‹ trage? Vielleicht etwas pathetisch, mit der wir sinnvoll leben und gelassen sterben können. Die Wissenschaften? Die Kunst? Die Theologie? Die Philosophie? Oder, ob das Leben, mein, dein und unser Dasein, nichts weiter sei, als ein Sturz einer Zufälligkeit der

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Evolution ins Ungewisse; ins Nichts?214 (Man denke beispielsweise an die eindrucksvollen Bilder der letzten Szenen des Films ›Das siebte Siegel‹ von Ingmar Bergmann). Sollte also wirklich die letztmögliche Antwort, die hier uns verbleibe, ein heroischer Nihilismus sein? Oder vielleicht auch sich einfach einem als blind vorgestellten Schicksal überlassen?215 ›Wer spricht vom Siegen? Überstehen ist alles‹! Oder, mit den Worten der verzweifelten Christine Lavant: ›Her mit dem Kelch, ich trinke was ich muss‹! –

›Doch uns ist gegeben/Auf keiner Stätte zu ruhen,/Es schwinden, es fallen/Die leidenden Menschen/Blindlings von einer/Stunde zur anderen,/Wie Wasser von Klippe/Zu Klippe geworfen:/Jahrlang ins Ungewisse hinab.‹ (Hölderlin); ›Die Welt – ein Tor/Zu tausend Wüsten stumm und kalt!/Wer das verlor,/Was Du verlorst, macht nirgends Halt.‹ (Nietzsche); oder ein ›Bild‹ von Ernst Jünger. Das Entsetzen. Das Abenteuerliche Herz. Zweite Fassung. Sämtliche Werke. Band 9. S 185 f. 215 Gottfried Benn: ›Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch -:/geht doch mit anderen Tieren um!/Mit siebzehn Jahren Filzläuse,/zwischen üblen Schnauzen hin und her,/Darmkrankheiten und Alimente,/Weiber und Infusoruien,/mit vierzig fängt die Blase an zu laufen -:/meint ihr, um solch Geknolle wuchs die Erde/von Sonn bis zum Mond -? Was kläfft ihr denn?/Ihr sprecht von Seele – was ist eure Seele? (Aus: Der Arzt) 214

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6. Erzählte Identität

›Die Fabulierfunktion hat sich vom biologisch zweckmäßigen Erzeugen von Fiktionen zur Schaffung von Göttern und Mythen erhöht und sich endlich von der religiösen Welt ganz abgelöst, um freies Spiel zu wer­ den.‹216 (Ernst Robert Curtius)

Während wir aber so sprechen, werden wir weiter, ob es uns genehm ist oder nicht, auf die Bedeutung unseres Selbst-Seins und WeltHabens eingestellt. Das was existenz-phänomenologisch also als ›narrative Identität‹ (Paul Ricoeur) zusammengefasst werden könne. – So fragen wir weiter, wie es um unser, als aufgeklärt, neuzeitlich oder modern eingeführtes Selbstverständnis in Wirklichkeit bestellt sei. Unser Selbst- und Weltverständnis das zuerst und zumeist prak­ tisch-selbstverständlich gelebt wird; ohne auf dessen wissenschaftlich oder philosophisch vorgestellte ›theoretischen Hintergründe‹ aufzu­ merken. Ob nun dieses so vertraut scheinende Selbst- und Weltver­ ständnis, auch über die alltäglich-durchschnittliche Erfahrung hinaus, das zu leisten imstande wäre, was wir von ihm für unser, trotz allem auch im Alltag als gefährdet, als fragil erlebten In-der-Welt-Sein zu fordern hätten. Vielleicht auch nun stillschweigend glauben, voraus­ setzen zu dürfen und können. Nämlich auch in als krisenhaft erlebten, uns belastenden Lagen existentiell tragenden Grund, Halt und Sinn zu ermöglichen.217 Zumindest, dann wenn erforderlich, wenn ›es Not‹ tue, es, wie man sagt, ›darauf ankomme‹, uns ›positiv‹ im Leben halten Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Tübingen und Basel 199311. S 19 Bei Teilhard de Chardin so: »Tatsächlich, (…), stellen sich 99 Menschen von 100 diese Fragen niemals eindeutig: ›Lohnt es die Mühe, zu leben‹? Sie sehen darin kein Problem, weil das Leben sie noch automatisch mitreißt, wie es die unvernünftigen Wesen mitgerissen hat, die allein bis zum Menschen hin die Arbeit der Evolution geleistet haben. Doch das Problem existiert in Wirklichkeit, und es ist vorauszusehen, dass es sich der Menschheit mit wachsender Schärfe in dem Maße stellen wird, wie das von ihr verwirklichte Werk kostbarer und schwerer wird. Dürfen wir wirklich hoffen, ein dauerhaftes Werk zu vollbringen, oder kneten wir einfach nur Asche?« (Mein Universum. Olten und Freiburg i. Br. 1965. S 11) 216 217

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6. Erzählte Identität

zu können; und uns mit überzeugenden Gründen ein lebenswertes Dasein zu entwerfen im Stande sehen. Mag da kommen was da will. Nicht zuletzt auch mit Blick auf sein Ende. Kurzum, ein geradezu ›metaphysisches Urvertrauen‹. Dass Mensch gerade hier und jetzt sich als selbst herausgefordert erlebt, und sich mit diesen ihn so-quälenden Fragen allein auf sich selbst verwiesen sieht, kann gar nicht verborgen bleiben. Und darüber hinaus nun auch bei den Fragen, die man im großen Ganzen als ›metaphysisch‹ (vielleicht sogar ›theologisch‹) nennen könnte. Die traditionellen ›Sinnstiftungsagenturen‹, davon gehen wir Aufgeklär­ ten selbstverständlich aus, reichten für ›Seelenfrieden‹ nicht mehr hin. Denken wir dabei nicht nur an die Kirchen. Ihre Angebote an Mensch genügten selbst dem Gutwilligsten, den Frömmsten nicht mehr. In unserem Blick aber auch die säkularen ›großen Erzählun­ gen‹. Vorstellungen, die, vor allem als Erben der jüdischen und christlichen Religion, die Hoffnungen der Neuzeit sammelten. Das Scheitern des Marxismus (beispielsweise), so sagt man, sollte wohl auch die letzten der optimistischsten Utopisten auf den ›harten Boden anthropologischer Wirklichkeit‹ zurückgeführt haben. (Das mag uns schmecken oder nicht.) Und auch ob moderner Staat, aufgeklärte, humane Gesellschaft, oder sonst eine der sozialen Institutionen, dafür stattdessen einstehen könnte, scheint nicht weniger zweifelhaft. Ganz abgesehen davon, dass diese Systeme, zumindest in der Regel, sich (mit guten Gründen) auch nicht als Surrogate für existentielle Bedürfnisse anbieten wollen. –

6.1. Ineinander praktisch verschlungenes Welt- und Selbstsein. Nach wie vor soll gelten, keine voreiligen Schlüsse; keine spekula­ tiven Konstruktionen; dabei gleich ob naturalistische; idealistische; szientistische; oder skeptische. – Unser miteinander-arbeiten haben wir eingeführt als phänomenologisches Sich-Besinnen. Methodisch geordnet und gesichert als gemeinsames Schauen, als existentielle Reflexion der Reflexionen. Dieser phänomenologische Weg konstitu­ iert also unser gemeinsames Leisten; oder so, unsere Leistung als Vollziehen gemeinsamer (!) existentieller Reflexion der Reflexionen. Als ersten methodisch sicheren Schritt unser phänomenologischen

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6.1. Ineinander praktisch verschlungenes Welt- und Selbst-sein.

Besinnung haben wir eingeführt und ein Stück weit entfaltet als Hinschauen und Besinnen auf uns Philosophierende selbst; auf uns, die, nicht weniger irritiert und perturbiert philosophieren. Dieses phänomenologische Selbst- und Weltverständnis entfaltet sich wei­ ter, konkret und vorsichtig, Schritt für Schritt, als reflexive Reflexion der Reflexionen unseres In-der-Welt-Seins. So ist phänomenolo­ gisches Philosophieren also wirklich eine wirkliche Tätigkeit, ein praktisches Handeln; als erstes und grundlegendes mit sich und für sich selbst, ein sich-selbst-selbst-klären wollen.218 Geleistet werden soll existentielles Selbst-Selbst-Verstehen unseres Da-und-So-Seins. Phänomenologisches Philosophieren ist also als Leisten und Leistung ›gesichert‹, mit Blick auf die Reflexionen unseres wirklichen und wesentlichen In-der-Welt-Seins. Unser Dasein vermag sich zwar tat­ sächlich mit dieser Möglichkeit der Reflexion der Reflexionen selbst zu reflektieren. Das sind aber Reflexionen, das ist uns nicht verborgen geblieben, die gerade als Leistungen endlichen Da-und-So-Seins, nie als ›vollendet‹, als, im traditionellen Sinne, geltungssicher gelten und sich philosophisch abschließen können. Das also noch einmal in großen Zügen, Absicht und Grundlage phänomenologisch-existentiellen Philosophierens. Ein Philosophie­ ren, das sich wortwörtlich als Arbeitsphilosophie vorstellt; und sich als philosophische Grundlagen-Forschung, immer wieder an sich selbst zu erinnern hat; sich geradeso ›skrupulös‹, Schritt für Schritt selbst zu entfalten sucht. Das ist schlicht als Theorie; aber herausfordernd in der praktischen Durchführung. – Nun die nächsten kleinen Schritte; unser phänomenologisches Philosophieren dabei selbst immer wei­ ter mit im Blick. Denken wir wieder an die Leistungen des Verste­ hens unseres existentiellen Welt- und Selbst-Verstehens. Diese, uns ›normalerweise‹ selbstverständlich scheinende Gestaltung unseres In-der-Welt-Seins reflektiert sich phänomenologisch als Erfahrung von Geschichten; Geschichten und immer wieder Geschichten, die sich als meine Biographie und (für das ›große Ganze‹) all unsere Geschichte verdichten. In Anlehnung an Heidegger kann von einem ›Existential‹ gesprochen werden. Das zu sehen fordert nun wahrhaftig keine breite anthropologische Entfaltung. Dass bei sich selbst und anderen wahrzunehmen, braucht daher auch nicht den Umweg über diese oder Bei Wittgenstein (zumindest vergleichbar) so: »Die Philosophie ist keine der Naturwissenschaften. (Das Wort ›Philosophie‹ muss etwas bedeuten, was über oder unter, aber nicht neben den Naturwissenschaften steht.) (4.111) (….) Die Philosophie ist keine Lehre, sondern eine Tätigkeit. (…).« (4.112) 218

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jene hermeneutische Theorie. Wir erfahren es phänomenologisch selbst mit uns selbst. In unserem Blick also, wie unser Selbst-Sein und Welt-Haben sich in und mit unseren ›Geschichten‹ reflektiert. Als unser präsenter ›Bewusstseinsstrom‹ konstituiert und (als ›Korrelat‹) gelebt wird, und sich immer weiter entfaltet; als ›mein Text‹ sich unwillkürlich ›fortspinnt‹. Auch von dort her brauche es eine Revision des cartesianischen Selbst- und Weltverständnisses. ›Geschichten‹ ordnen also, praktisch und theoretisch, Wirklichkeit und Wesen unse­ res In-der-Welt-Seins. Unser So-in-der-Welt-Sein ist nur so und nie anders für uns da; und ist auch wissenschaftlich nur so zu begreifen. Dem wird wohl von keiner (soziologischen, psychologischen, philo­ sophischen) Seite her widersprochen werden können. Wobei diese ›Geschichten‹ nicht irgendwie ›über dem wirklichen Leben‹ schwe­ ben. Etwa bloß als nachträglich erzählte Fassung gelebten, wirklich wirklichen Lebens. Eine Art Hilfskonstrukt für ›soziale Ordnung‹; nur eine erkenntnispraktische relevante Merkhilfe um sich (auch gemein­ sam) an gelebtes Leben erinnern zu können. Wie man es vielleicht sich vorstellt, als geschuldet fortschrittlicher Bewusstseinslage, nun auch in zusammenhängende Sätze ein In-der-Welt-Seins zu fassen versuchen; Abbildung einer immer schon vorhandenen, ›natürlichen Objektivität‹. Der Evolution sei Dank. Sondern Mensch selbst, als Da-und-So-Sein, lebt in seiner Wirklichkeit (Welt-Haben) nur mit und aufgrund seiner ›Geschichte(n)‹. ›Lebt‹, meint beispielsweise, nimmt wahr; ordnet; verändert; entwirft; bewegt sich theoretisch und praktisch; oder widerspricht (auch sich selbst); stimmt zu; bewer­ tet; reflektiert; usw. usf. Selbst was wir gemeinhin ›Seele‹, ›Geist‹ oder ›Leib‹ nennen, ist für uns ›da‹, reflektiert (konstituiert) sich, als Vielzahl von meinen und unseren Geschichten. – Wirklich ein unlösbares mit- und ineinander ausdrücklich korrelativer Akte der Menschen; kurz, die wirkliche Wirklichkeit für unser Da-und-So-inder-Welt-Sein. Ich-bin nicht nur mit meinen Geschichten, meiner, unserer Geschichte Da, sondern mein existentielles Selbst- und Welt-Verständnis entfaltet, konstituiert sich so-wahrgenommen und so-gelebt; und auch umgekehrt als gelebt und wahrgenommen. – Das beschreibt ein starkes wirkliches und wesentliches Vermögen. Dieses Wahrnehmen, Schauen, Reflektieren, Erzählen, das ist wirklich unser Leben-leben. Sich selbst und seine Welt wortwörtlich so erfahren, setzt voraus, sein Selbst-sein und sein Welt-haben zu konstituieren als wesentliche Gestalt und zusammenhängende Gestaltung von Geschichten. Phänomenologisch vorgestellt als Gestalt (Dasein) und

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6.1. Ineinander praktisch verschlungenes Welt- und Selbst-sein.

präsente Gestaltung (Sosein) unseres wesentlich wirklichen So-DaSein; deskriptiv und konstitutiv zugleich, als ineinander theoretisch und praktisch verschlungenes, zuerst und zumeist auch ›sinnerfülltes‹ Welt- und Selbst-Sein. Phänomenologisch als eine eigenartig ›end­ los scheinende‹ lückenlose Entfaltung von Reflexionen; Reflexionen schließen an Reflexionen und diese wieder an Reflexionen. Das und so ist, zunächst also ohne weiteres gelebt, lebendiges Inder-Welt-Sein. Zweifellos ist für mich: ich bin; wir sind; unsere Welt ist. Phänomenologisch haben wir diese ›Wirklichkeiten‹ gründlicher reflektiert, als Vorstellungen in einem fugenlos präsenten ›Bewusst­ seinsstrom‹. – Mensch also nimmt-wahr, erinnert, plant, gestaltet, oder auch ›treibt Wissenschaft‹ oder ›philosophiert‹, (usw.). Kurz, lebt theoretisch und, das darf nicht unterschlagen werden, praktisch sein wirkliches Da-und-So-in-der-Welt-Sein. Das ist, lebt es nie anders als Zusammenhang seiner, (wie man gemeinhin sagt) ›Innenund Außen-Welt‹. – Phänomenologisch haben wir dies nun dicht zusammengefasst, als Gestaltung ›existentiell-intentionaler Textur‹. Das sind näher betrachtet auch willkürliche, immer aber zugleich (zumindest hintergründig) unwillkürlich, ›passiv‹ gesetzte Akte und Aktinhalte. Auf die wir immer wieder, aus unterschiedlicher Per­ spektive, aufmerksam werden können. Im Grunde also existentielle Leistungen, (nicht bloß abstellbar auf ›reine Vernunft‹), die wirkliches und wesentliches Da-und-So-Sein weit, mit den überhaupt möglichen Reflexionen, immer mitumfassen. Einschließlich der ›aufgeklärten wissenschaftlichen‹ Vernunft, und diesen oder jenen Vernunftvermö­ gen. Und dann auch mitpräsent unser ›spannendes‹, selbstverständ­ liches Leib-haben und Leib-sein. Nicht zuletzt dann noch unsere Wirklichkeit ›sozialen Miteinanders. Und gilt selbst dort noch, wo mit Mensch, scheinbar ›ohne Sinn und Verstand‹ gehandelt‘ wird; sei es (wie man aus Verlegenheit sagt) das ›Schicksal‹; die ›Umstände‹; der ›Zufall‹; oder Willkürakte durch Mitmenschen.219. Man könne von ›Widerfahrnissen‹ sprechen. Als etwas, das, wie man sagt, wie unwillkürlich zu geschehen, über einen zu kommen scheine. Das Selbst mit Blick auf das Verhältnis: Handeln des Menschen und Naturereignisse gelte, es gebe »keine natural-kausale Verknüpfung zwischen dem Naturereignis als solchem und der Subjektleistung, welche Handlung heißt. (…) Erst durch seine Über­ nahme in den beherrschenden Selbst-, Welt- und Handelnsentwurf des faktischen Subjekts – und das impliziert: nur seinem Gehalt nach -, nicht als Naturales kann ein Naturales eine Subjektivität bestimmen; es muss erst in eine Motivation umgeformt werden.« Hans Wagner. (1967). S 396 219

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beschreibt wahrhaftig keine Ausnahme. Es gilt aber auch in diesem Fall der bekannte Satz Arnold Gehlens, dass Mensch nicht nur lebe, sondern immer auch sein Leben selbst führe. Aber wir erfahren (Theo­ rie hin oder her) wirklich auch umgekehrt, dass Mensch sein Leben nicht nur selbst führe; sondern er durch es gelebt werde. Das dürfe phänomenologisch nicht einfach übergangen werden. Wenn man so will, könne man es vorläufig und etwas umständlich als ›existentielle Rückkoppelungsschleifen‹ nennen.220 ›Irgendwie‹ ein sich unentweg­ tes selbst herausforderndes sich-erfahren (etwa als seinem Schicksal ausgeliefert sein), immer aber ein sich-selbst bedingendes existenti­ elles Ordnen, Gestalten, Reflektieren. So kann (zumindest vorerst) jede Gestaltung unseres In-der-Welt-Seins (einschließlich der Wider­ fahrnisse), von uns phänomenologisch als unsere Leistung, als unser Vermögen, in den Blick gerückt werden. – Und diese so erfahrene, korrelative Welt- und Selbst-Vorstellung, diese (eigenartige auch ›dialektische‹) Welt- und Selbst-Habe wirklich wirklichen Menschen, entwirft sich existenz-phänomenologisch mit den Vorstellung seiner ›Geschichten‹. – Nun mit Verweis auf die Tradition neuzeitlicher Phi­ losophie, hier vielleicht von ›transzendentalem Gefüge der Vernunft‹ zu sprechen, ginge fehl; träfe nämlich nicht die wesentlich-wirkliche Wirklichkeit des Menschen. -

6.2. Die existentielle Bedeutung der Ordnung unserer ›Geschichten‹. Fassen wir dies kurz zusammen. Und zwar schon mit Blick auf ›anthropologische Konsequenzen‹. Dafür braucht es nun ein hin­ schauen auf unsere Erfahrungen der praktischen Weite des Selbst­ seins und des dazugehörigen jeweilig Welthabens. Legen wir dafür einen bekannten Satz Wittgensteins so zurecht. Die Grenzen der möglichen Geschichten eines Daseins, bestimmen die wirkliche Wirklichkeit seines erlebten, gelebten, reflektierten In-der-WeltSeins. – Was immer ›ich-bin‹, ›überhaupt sein kann‹, ›ich bin es‹ so scheint es also, mit und aufgrund meiner und unserer ›Geschich­ 220 Sehr frei nach Gregory Bateson. Vgl. beispielsweise: Geist und Natur. Frank­ furt/M 1987. S 242 ff,

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6.2. Die existentielle Bedeutung der Ordnung unserer ›Geschichten‹.

ten‹.221 Das übersteigt einerseits naiven szientistischen Positivismus und verweist und bindet andererseits, genauso entschieden, jeden Idealismus in den Horizont unseres wesentlich wirklichen So-in-derWelt-Seins zurück. Ein Selbst- und Weltverständnis, das natürlich wiederum nicht allein phänomenologischem Philosophieren vorbe­ halten sein kann. Beispielsweise finden wir es, praktisch relevant, auch in therapeutischen Kontexten; etwa in systemisch ausgerichteten Familientherapien. Geschichten, so Helm Stierlin, seien »Sprachkon­ struktionen, die Lebenserfahrungen bändigen, ordnen und aufbe­ wahren, dabei Sinn stiften und im Lichte solchen Sinnes Verhalten anleiten. Sie sind ein Stoff – vielleicht der Stoff -, der es einem Selbst ermöglicht, sich sowohl auf Dauer seiner Identität zu versichern, als auch diese Identität durch neue Erfahrungen in Frage zu stellen, zu verändern und zu bereichern.«222 Gerade diese, also auch die syste­ misch-therapeutische Praxis hintergründig tragende Anthropologie, macht phänomenologisch auf existentiell bedeutsames aufmerksam. Es verweist nicht nur auf die ›Qualität‹, sondern schlicht auf den ›Umfang‹ der von uns gelebten ›Geschichten‹. Der Entwurf unseres existentiellen Horizontes, der in keinem Fall zurückgelassen werden kann. – Wahr ist, dass nicht einmal jede der ›Geschichten‹ meines So-in-der-Welt-Seins mir unmittelbar bewusst ist. Vielleicht sogar, selbst mit angestrengtester Aufmerksamkeit nicht werden kann. ›Es‹ bleibt meinem Bewusstsein entzogen. Das ändert aber nichts an der ›praktisch gelebten Präsenz‹ meiner mir, auch leibhaft, eingeschriebe­ nen ›Geschichten‹. ›Reflexionen‹, die existentiell reflektiert, auf die Weite unseres So-in-der-Welt-Seins aufmerksam machen. Dass das auch den Wesensbegriff unseres Da-und-So-Seins mitgestaltet, liegt auf der Hand. Mit anderen Worten, phänomenologisch ist zu zeigen (ein ›aufweisen können), dass jeder Versuch eines Philosophierens hinter unser so ›vorgestelltes‹ Da-und-So-Sein wirklich sinnvoll zu denken, vergebliche Liebesmühe wäre. Was ein ’Ding an sich‘ (um an eine vertraute Terminologie anzuschließen) sein könne, entzieht sich grundsätzlich unseren Möglichkeiten der Reflexion, des Schauens. 221 Bei Ludwig Binswanger findet sich diese Modifikation. »In der Lebensgeschichte entfaltet und gestaltet sich (…) das innere Wesen des Menschen, seine geistige Person und umgekehrt lernen wir aus der inneren Lebensgeschichte die geistige Person erst kennen, und nur aus ihr.« (1994. S 85) 222 Helm Stierlin. Ich und die anderen. Psychotherapie in einer sich wandelnden Gesellschaft. Stuttgart 1994. S 95

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6. Erzählte Identität

Weil wir uns selbst als So-in-der-Welt-Sein (schau doch deinem eigenen Denken zu) nie zurücklassen können. Weder ›biologisch‹ noch ›idealistisch‹. Frei nach Ludwig Binswanger, ich bin, mit meinem Erleben und dem Wissen um dasselbe »ein nicht weiter ableitbares Urphänomen.«223 Man mag sich hier zurecht auch an die Lebensphi­ losophie Diltheys erinnert fühlen. Das bleibt auch bei näherer Betrachtung, eine eigenartig beun­ ruhigende Erfahrung. Das, was Mensch für sich und für andere als selbstverständlich voraussetzt, eine sich ›durchhaltende Identität‹, ein ›stabiles Selbst‹, vielleicht auch nur einen ›festen Charakter haben‹, weicht immer weiter zurück; oder so, scheint das ›Wesen‹, oder etwas nüchterner, die ›Invarianz‹ zu verlieren. ›Es‹ wird geradezu ›unfassbar plastisch‹, im Sinne von beliebig ›formbar‹; sogar je energischer man ›sich selbst‹ oder den Anderen (wie man sagt) als ›wesentlich‹ zu fassen sucht. Sucht ein Mensch sich also seines So-Da-Seins zu vergewissern, gleich ob gelegentlich und nebenbei oder ausdrücklich im Sinne von, ›wenn ich insgesamt auf mein Leben schaue‹, findet er ›nichts weiter als Geschichten‹. Geschichten und immer wieder Geschichten. Auch nachträglich wissenschaftliche Versuche sich das Menschsein ›objektiv‹ zu erklären, zu deuten, es nun als ›wirkliche Wirklichkeit‹ zurechtzurücken, gestaltet sich als ›Geschichten‹. (Als wissenschaftlich theoretische Erzählungen; oder als Märchen; Mythen; Tragödien; Komödien; Alltagsgeschichten) – Die Frage drängt also nicht nur philosophisch nach vorne. Wer bin ich denn wirklich wesentlich? Und was denn dies sei, das da als ›die Person‹ (als principium individualis) vorgestellt werde; wir für uns selbst in Anspruch nehmen; und uns mit dieser Voraussetzung auch selbstgewiss reflektieren? Und welche Relevanz diesen Re-flexionen überhaupt noch zugestanden werden könne? Mit Blick auf uns und unser Selbstverständnis, unser Selbstsein und intentionalem Welthaben sprechen wir phänomenologisch also von einem ›Strom von Geschichten‹. Mehr oder weniger stimmige Geschichten, mehr oder weniger ›rund‹, für uns abgeschlossen; viel­ leicht nur bewusst als Fragment, nur ein (wie man sagt) ›Erinne­ rungsfetzen‹, ein ›Gedankenblitz‹, (›beim besten Willen, mehr fällt mir dazu nicht mehr ein‹). ›Geschichten‹, sich vielleicht ergänzend, aufeinander aufbauend, oder auch nicht (›wieso fällt mir gerade jetzt dieses ein‹); in Spannung zueinander stehen, sogar sich eindeutig 223

(1994. S 81)

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6.2. Die existentielle Bedeutung der Ordnung unserer ›Geschichten‹.

widersprechend. Heitere, komische, traurige, tragische, erotische, absurde ›Geschichten‹. Geschichten von uns willkürlich und unwill­ kürlich (›daran möchte ich jetzt wirklich nicht denken‹) erlebt und gelebt; phänomenologisch gelesen und zusammengestellt, als ›Texte unseres wirklichen und wesentlichen Da-und-So-Seins‹. Dass diese Fragen ›wer bin ich‹ und ›was bin ich‹ unlösbar aufeinander verweisen, darf uns nicht entgehen. Schauen wir näher hin, so sehen wir, sie sind keineswegs linear geordnet; und werden nicht einmal zeitlich folgerichtig vorgestellt. Das was wir uns als ›Lebenslauf‹ (mein Leben bisher) zurechtlegen, scheint mehr oder weniger als die willkürliche, ›pragmatische‹ Gestaltung einer, wiederum bedingten Perspektive. Aber ob und wieweit das wirklich so ist, ist damit nicht entschieden. Unabhängig davon aber bleibt es eine Perspektive, die sich wieder, schauen wir näher hin, mit und (sogar) als ›Geschichten‹ auflösen und ordnen lasse. Selbst noch unser phänomenologisches Philosophieren, als, man wird sagen, doch ganz und gar ›abstrakte‹, radikale Leistung der Reflexion der Reflexionen, gestaltet, entfaltet und rechtfertigt sich mit einer Vielzahl von ›Geschichten‹!224 Kurz und knapp, aus welcher Perspektive auch immer wir uns selbst in unseren Blick zu rücken versuchen. Nur von unseren ›Geschichten‹ her wäre unser Da-und-So-Sein für uns wissenschaftlich, philosophisch, literarisch in den Blick zu rücken und breit zu entfalten. Wir werden hier, wohl oder übel, nun also auch auf andere Ordnungsvorstellungen aufmerksam gemacht. Sie können von uns nicht ohne weiteres übergangen werden. Wobei aber die jeweiligen Geltungsvorlagen ›in der Klammer‹ bleiben. So sollte es nicht weiter verwundern, dass wir uns selbst auch in unterschiedlichste ›literarische Texte‹ (Romane, Erzählungen, Bio­ graphien) ohne weiteres einlesen und diese verstehen können; und darüber hinaus uns selbst sogar darin wiederzufinden glauben. Und das, ganz ohne explizit hermeneutische Theorie. – Das verschärft noch einmal unsere uns selbst betreffenden existentiellen Fragen. Was das es denn bedeute: ›Ich‹, als Vorstellung von Geschichten? Diese Rede von, ›Ich‹, könne mich in Geschichten anderer einlesen; mich sogar dort widerfinden, mich selbst (wortwörtlich) reflektieren? Mein ›Ich‹ erfahre sich ›entdeckt‹ durch das ›lyrisches Ich‹ eines Gedichts. 224 Binswanger präzisiert den Begriff von ›Lebensgeschichte‹. Das sei ein ›geistiger Zusammenhang »zwischen den Inhalten und Erlebnissen einer individuellen Person.« (1994. S 82)

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6. Erzählte Identität

Schauen wir phänomenologisch zunächst hin auf die Voraussetzung dafür, nämlich überhaupt sich erinnern, sich einlesen zu können. Das entdeckt etwas Beunruhigendes. Dass schon diese alltägliche Gestaltung, die so selbstverständlich entworfenen Biographien, nicht die wirklich gelebte, nicht die existentiell bewegende Wirklichkeit eines Da-und-So-Seins sein könne. Lassen wir uns weiter (nicht ›tiefer‹) darauf ein, drängen sich Spannungen auf. ›Spannungen‹, die mehr oder weniger bewusst gelebt, und die auch in der Geistesge­ schichte unterschiedlich benannt und gedeutet werden. Man denke hier beispielsweise an transzendental-idealistische Vorstellungen, oder auch an diese oder jene der tiefenpsychologischen Theorien, und dann auch an radikal existentiellen Perspektiven (beispielsweise Kierkegaard). Dazu ordnen wir auch unsere phänomenologisch-exis­ tentiellen Reflexionen. Auf eines sei auch in diesem Zusammenhang eigens aufmerksam gemacht. Unsere existentiellen Reflexionen sind keine naive; oder trotzige Hinwendung zu einen ›lebensphilosophi­ schen Antiintellektualismus‹. Obwohl wir tatsächlich ausdrücklich auch ›irrationale‹ Perspektiven auf unser Da-und-So-Sein sehr ernst nehmen. Wir phänomenologisch damit auch hinschauen auf unser ›Unwillkürliches‹, ›Irrationales‹, ›Unvernünftiges‹; denken wir doch nur an das immer auch Leibhafte unseres Da-und-So-in-der-WeltSeins. Das wirft im Übrigen auch, das hier nur am Rande, ein Licht auf die selten gewürdigte existentielle Leistung der Psychoanalyse. Eine Leistung, die philosophisch ausdrücklich als existentielle Reflexion zu setzen wäre. Man mag in der Psychoanalyse selbst dazustehen wie man es dort für richtig hält. Die Absicht dabei ist weder die psychoana­ lytischen Perspektiven phänomenologisch zu ›kolonialisieren‹, oder für die Philosophie zu ›instrumentalisieren‹ (sicher hätte Freud sich dagegen gewehrt); noch, umgekehrt, Philosophieren tiefenpsycholo­ gisch, also psychologistisch zu relativeren. Stattdessen der Versuch, mit diesen ›anthropologischen‹ (!) Reflexionen unsere existentielle Reflexion der Reflexionen noch umfassender zu verwirklichen.225

Vgl. dazu meine Arbeit: Krank-Sein als existentielle Gestalt. Einleitung in eine phänomenologische Anthropologie. Baden-Baden 2018

225

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7. Die Entfaltung phänomenologischer Reflexion

›Die Frage der Selbstbesinnung, die das Ich an sich selbst stellt, ist die, worauf es in diesem ganzen Leben als einem Ganzen des Strebens und im einzelnen sich tätig Verwirklichens hinauswill.‹226 (Edmund Husserl)

Da sind alles sehr schlichte existentielle Fragen. Fragen, mit Blick auf unser schon alltägliches Selbst- und Weltverständnis; auf das Erlebnis unseres fragilen Selbst-Sein und unserer Welt-Habe. Sie lassen sich nicht durch biologische, medizinische oder naturgeschicht­ liche Antworten beruhigen. – So reden diese Wissenschaften auch an dem, das phänomenologische Philosophieren bewegende vorbei. (Das ändert selbstverständlich nichts an ihrer für uns auch philoso­ phischen Bedeutung; sie bleibt selbstverständlich unbestritten.) Vor allem fordert nun weiter heraus, wie ›weit‹ (nicht wie ›tief‹) unsere existenz-phänomenologischen Reflexionen wirklich reichen. Wo für uns Menschen, das ist mitgefragt, sich unüberschreitbare Grenzen vorstellen lassen, (vielleicht auch von selbst zeigen). Von uns damit die Einsicht gefordert werde, bis hierher und nicht weiter! Dass auch das über bloß erkenntnistheoretisch entfaltete Lagen hinausreicht, liegt auf der Hand.

7.1. Sich selbst als Philosophierenden in den Blick rücken Phänomenologisches Philosophieren rückt den Philosophierenden selbst als wesentlich wirkliches Da-und-So-Sein immer entschiede­ ner in den Blick. Das kann, schauen wir nur auf uns selbst, – wir, die hier und jetzt miteinander Philosophieren, – nicht anders sein. Dass das an Platons Gestaltung der Philosophie, als Philosophieren 226

Hua. VI. Beilage XXIV. S 485

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7. Die Entfaltung phänomenologischer Reflexion

des Philosophierenden Sokrates erinnert, ist kein Zufall.227 Also eine Erörterung des Philosophierens und, davon nicht wirklich zu trennen, des Philosophierenden als wesentlich wirkliches Da-und-So-Sein. Es scheine uns, so könne man sagen, dass das Philosophieren selbst, (als Form der Reflexion), vom Philosophierenden diese Reflexion fordere. Der Philosophierende habe wortwörtlich ›als Erstes‹ sich selbst und sein Vermögen der Reflexion in seinen Blick zu rücken. Das fordert Reflexion radikal existentiell zu vollbringen. Reflexive Reflexion der Reflexionen. Also existentielles Philosophieren mit Blick auf den letztmöglichen Anfang. – Das darf nun nicht als ›prometheischer Triumph‹ missverstanden werden. Als sei philosophisch endlich klar, dass dem ›vernünftigen Menschen‹ für sich selbst, erkenntnistheore­ tisch, ontologisch, metaphysisch und ›praktisch‹ das ›letzte‹ Wort zu sprechen zufalle (und geradezu ›von Natur aus‹ zustünde). Nicht nur die Erfahrungen der Geschichte, (man denke doch beispielsweise nur an unser 20. Jahrhundert), sondern schon die anthropologische Wirk­ lichkeit unseres irritierten und perturbierten So-in-der-Welt-Seins, kann uns über uns selbst nicht in Zweifel lassen.228 Dass dieser Weg zu sich selbst, nicht weniger mühsam sich gestalte als zu den ›Welt-Dingen‹, eher schon herausfordernder, (vielleicht auch ›schmerzhafter‹), mag auf den ersten Blick verwun­ dern. Da bin ich doch; so bin ich; hier und jetzt über mich nachden­ kend; und darüber schreibend. ›Mensch‹ ist ›normalerweise‹ davon überzeugt, dass er über sich, seine, von ihm erlebte und gelebte 227 Vgl. dazu Bernhard Groethuysen. Das »ganz ursprüngliche Verhältnis von Philo­ soph und Philosophie kann gar nicht wieder von einer Philosophie aus aufgefasst wer­ den, weil es eben vor aller Philosophie liegt. Sokrates ist nicht aus einer Philosophie, aus einer philosophischen Idee abzuleiten, eine Art Personifizierung oder Symbol der Philosophie, sondern der Mensch, der sichtbare Mensch, der philosophiert, nicht ein ›Ich‹, wie es sich etwa von etwas individuell Erlebtem zu etwas Allgemeinem wandeln könnte, sondern ein Mensch, dem man begegnet, den man in der Darstellung sichtbar macht, der aus anderen Menschen spricht und dessen besondere Lebensschicksale stets mit anklingen.« (Philosophische Anthropologie. München und Berlin 1928. S 9) 228 Vgl. dazu (beispielsweise) auch Hermann Broch. Der Mensch sei wirklich auf sich selbst zurückverwiesen; gerade »um die Erde zu retten, auf dass sie nicht noch weiter in ein mit Konzentrationslagern gespicktes und verziertes Industriegelände sich ver­ wandle. Doch wenn er hierzu lediglich eine Umtaufung vornimmt, indem er das gött­ liche Recht einfach als Vernunftrecht bezeichnet, (das wesensgemäß gleichfalls logosabhängig wäre) oder es mit dem Namen Naturrecht belegt, ansonsten aber nach keinen neuen irischen Inhalten fandet, so hat er den Auftrag nicht erfüllt, sondern bloß eine atheistische Demonstration exekutiert.« (Menschenrecht und Irdisch-Absolutes. In (1997) S 190 f.)

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7.1. Sich selbst als Philosophierenden in den Blick rücken

Lebensgeschichte, sein Welt- und Selbstverständnis, Auskunft geben könne. Nun geschieht etwas Verwunderliches. Je mehr ›Ich‹ über mich, dieses von mir selbst reflektierte, oder auch, sich mir unwill­ kürlich reflektierende Da-und-So-Sein ›nachdenke‹, diese Versuche – welch eigenartiger Satz – ›an sich selbst heranzutreten‹, (›sich nahezukommen‹), scheine Ich mich von mir zu entfernen. – Ver­ suchen wir es noch einmal so. Denken wir an die Erfahrung unseres existentiell-irritiert-sein. Eine Lage, die sich wohl, zumindest dann und wann reflektiert, wohl jedermann aufdrängt. Wir leisten nun existentiell-phänomenologische Reflexion dieser Reflexionen. Klar ist, das ist eine philosophisch-systematische Herausforderung. Ein ›Sich-Leisten‹ (können), das phänomenologischem Philosophieren, nicht von irgendeinem Außerhalb, durch Irgendwas oder Irgendwen, vielleicht sogar ›kausal‹ aufgezwungen werde. Was schon praktisch nicht möglich wäre. Nicht nur gebe ich meinem eigenen existentiellen Drängen nicht irgendwie, mehr oder weniger unbestimmt und unge­ richtet nach. Sondern es ist, als reflexive Reflexion der Reflexionen, wenn man so will, geleistete Erfüllung ›existentieller Logik‹; reflexive Reflexionen, die dem Philosophieren, und Mensch als Philosophie­ rendem, als Möglichkeit selbst selbst-verständlich zugehören. Es hat so zu sein. – Erinnern wir uns, phänomenologisches Philosophieren wird vor­ gestellt als philosophische Grundlagen-Forschung des Da-und-Soin-der-Welt-Seins. Nie könnte also, beispielsweise, eine Philosophie der Kunst, der Religion, der Gesellschaft, (u. ä.) sich selbst, von ihrer ›speziellen Sache‹ her genügen; so durch sich selbst zu einem ›abschließend geltungssicheren Wort‹ kommen. Das verweist den Philosophierenden als radikal Reflektierenden (existentielle reflexive Reflexion), auf eine, immer wieder von Anfang an herausfordernde Fundierungsreihe für jedes Philosophieren. (Etwas, so scheint es, der Philosophie der Gegenwart zunehmend aus dem Blick gerät.) Das fordert, entwirft und entfaltet nun den von Beginn an vorgestellten Anfang phänomenologischen Philosophierens. Zunächst schlicht als nicht nachlassendes Arbeiten für den Anfang unserer philosophi­ schen Reflexionen. Das ist immer wieder und immer wieder von Anfang an unsere Reflexionen zu reflektieren. Offensichtlich ein endlos scheinendes, mühseliges Geschäft. Schwindlig machend! Man wird sagen: unpraktisch für unser Heute, das rasche Entscheidungen brauche; zu nichts tauglich; sogar absurd. Aber, es mag genehm sein oder nicht. Nur von dort her und auch darauf hin, entfaltet

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7. Die Entfaltung phänomenologischer Reflexion

sich jedes weitere theoretische und praktische Philosophieren eines wirklich Philosophierenden. Recht verstanden vollbringt sich also jedes Philosophieren als anthropologisch-existentielle Reflexion der Reflexionen wirklichen Da-und-So-Sein.229 Jede überhaupt mögliche Reflexion vollbringt sich als existentielles Potential für uns wesentlich wirkliche Menschen. Mit existentiellem Philosophieren treibt Mensch seine Möglich­ keiten der Reflexion bis ›an seine (existentielle) Grenzen‹. – Es mag nun scheinen, als ob dies sich historisch und wohl auch biographisch wie folgerichtig entfalte, und Mensch und Menschsein ›vernünftig‹ immer weitertreibe. Am Ende also, müsse ›reine Vernunft‹ und ›wissenschaftliche Ordnung‹ transzendentaler Philosophie stehen.230 Entspräche das nicht Platons Staatsidee? (Unabhängig davon ob man das gut heiße.) Oder, man denke an die Muster Hegels (›die List der Vernunft‹), Comtes (drei-Stadien-Gesetz); oder auch an die Perspektive Marx. Muster, die bei allen Unterschieden, an eine ›teleologische Grund-Ordnung‹ an ein letztendlich vernünftig-idea­ les Werden der Geschichte glauben. Unvernunft könne es in einer irgendwann ganz sicher humanen (vernünftigen) Welt nicht mehr geben. Als sei sie nur ein problematisches Hintergrundrauschen wahrer Menschheitsgeschichte gewesen. – Wie immer wir uns das im Einzelnen zurechtlegen, diese Vorstellungen schränken in jedem Fall die wirkliche Wirklichkeit des Menschen ein. Zumindest verzerre man so die Perspektiven auf unser wesentlich wirkliches Selbstsein und Welthaben. Ausgegliedert wird unser immer auch irrationales Da-und-So-Sein. Schon ob man die Entfaltung der Reflexion zurecht Dass dies möglich sei, wird immer wieder bezweifelt. Beispielsweise Hans F. Geyer. »Die indirekte Mitteilung der Existenz steht im Zentrum der Philosophie Kierkegaards. (…) Und was tun unsere ›Existenzphilosophen‹? Genau dasselbe was die ›Kanzelredner‹ Kierkegaards. Keine Spur mehr von der ›indirekten Mitteilung‹. Die Methode ist direkt geworden, ja sogar sehr direkt. Aus der ›Existenz‹ wird ein Begriff, mit dem man schaltet und waltet wie nur ein Hegel, aus der Wirklichkeit also eine bloße Möglichkeit.« (Werke Band 1. Philosophische Tagebücher I – III. Zürich 1997. S 35) 230 Bei Husserl so: Der maßgebliche »Begriff des reinen Bewusstseins ist im Grunde kein anderer als der Cartesianische Begriff des cogitatio oder vielleicht noch besser der des cogito als des durch Reflexion zu erfassenden ›ich nehme wahr‹, ich stelle vor‘, ›ich erinnere mich‹, ›ich erwarte‹, ›ich urteile‹, schließe‘, ›ich fühle Freude oder Trauer‹, ›ich begehre‹, ›ich will‹ usw., das alles genommen, wie es in der (nur passend geklärten, gereinigten, von den eigenen Cartesianischen Abzweckungen losgelösten) Methode der Ausschaltung alles möglichen Zweifel‘ Zugang Gestattenden sich ergibt.« (Hua. XXV. S 100) 229

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7.1. Sich selbst als Philosophierenden in den Blick rücken

unter den neuzeitlich vieldiskutierten Begriff ›Fortschritt der Ver­ nunft‹, ›Fortschritt der Menschheit‹, subsumieren könne, darf (gut begründet) bezweifelt werden. Zumindest eines könne nicht zu bestritten werden. Wir ver­ mögen uns selbst in unseren Blick zu rücken. Das ist nicht nur philosophisch herausfordernd; und ist schon als Möglichkeit durchaus eine beruhigende existentielle Erfahrung. Vielleicht komme uns auch von dort her, der wundersame ›Trost der Philosophie‹. Nun ist das aber auch eine Erfahrung, die uns als So-Sein (können, dürfen, auch müssen) in eine beunruhigende Spannung setzt. Reflexionen also fordern weitere Reflexionen. Und dabei drängen wir uns selbst als irritiert und perturbiert auf. In der Logik, dem Logos, oder der dynamischen Gestaltung der Reflexion liegt, gleichsam als nicht weiter-hinter-denkbare Gestalt, der Reflektierende selbst. Mit dieser der Reflexion zugehörig unruhigen Entfaltung der Reflexion, als Reflexion der Reflexionen, erfährt Mensch als Reflektierender sich selbst. Aber anders als das auf ›reine Vernunft‹ setzende, fortschritt­ liche Denken der Neuzeit zu wissen vermeint. Nämlich wahrhaftig bestürzend als im Grunde fragiles So-in-der-Welt-Sein.231 Schon dem eigenen Fragen, den eigenen Reflexionen ausgesetzt. Man denke die bekannte Frage, warum denn überhaupt etwas sei und nicht vielmehr nichts? (Heidegger). In den Blick gerückt, als Grund-Frage, die mit jedem Fragen des Menschen mitgefragt werde. – Für uns eine nüchterne phänomenologische Frage, die der Philosophierende nicht wirklich ausweichen könne. Eine Frage, die sich schon mit der Form der Reflexion einem philosophierenden Mensch aufdrängt. – Das ordnet (das ist zugleich, richtet methodisch aus; fundiert, erzwingt) radikal existentiellen Sprung phänomenologischen Philosophierens. Je nach Perspektive, ein Sprung ›zurück‹ oder ›nach vorne‹. Phänome­ nologische Reflexion reflektiert die Reflexionen in jedem Fall radikalexistentiell. So rückt der Reflektierende dabei sich selbst als irritiertes und perturbiertes Da-und-So-Sein (mit seinen Reflexionen) in seinen Blick. Selbst noch ein Scheitern der existentiellen Reflexion (etwa: 231 »Wer sich derart sehen wird, wird vor sich selbst erschaudern und wenn er sich so sich selbst vorstellt, geprägt in den Stoff, den die Natur ihm zuteilte, zwischen den beiden Abgründen des Unendlichen und des Nichts, wird er erbeben vor der Schau dieser Wunder, und ich glaube, dass, wenn sich seine Neugierde in Bewunderung verwandelt hat, er eher bereit sein wird, in Stille darüber nachzusinnen, als sie anmaßend erforschen zu wollen.« (Pascal. 19788. S 43)

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7. Die Entfaltung phänomenologischer Reflexion

›der Vorhang zu, und alle Fragen offen‹) dürfe noch als Bestätigung (als Leistung) gelesen werden. – Schauen wir phänomenologisch also noch genauer hin auf diese Möglichkeit sich radikal-reflexiv Selbst Selbst-Schauen zu können. Die gesamte Geschichte der Philosophie bestimmt sich von diesem ›Vermögen‹ her. Eine Möglichkeit, die uns zugleich auch als ein ›Bedürfnis‹ bedrängt. Ein dem Menschen, so scheint es, sich also auf­ drängendes Sollen. Das ist ein Schauen, das nun auch die neuzeitlichtranszendentale Form, die Idee eines absoluten Bewusstseins‘, noch einmal wirklich umgreift. Sie gerade damit als Leistung wirklichen Da-und-So-Seins (dem existentiell Philosophierenden) einführt; und so zu hinter-denken imstande ist. – Eine kurze Anmerkung um hier keiner Fehldeutung Raum zu geben. Unsere phänomenologisch existentielle Reflexion der Reflexionen begreift sich keineswegs als Behauptung erkenntnistheoretisch gültigen Fundaments. Nur anders bestimmt, trotzdem eine Vorstellung eines Philosophierens, das auf absolute Geltung aus wäre. Existentielle Reflexion als gesetzt an Stelle der neuzeitlichen transzendentalen Vernunft. Als ginge es nur darum, den Umfang transzendentaler Vernunft nur etwas auf ›wirkliche Welt‹ hin zu erweitern. Wobei geltungstheoretische Absicht, transzenden­ tale Funktion und Bedeutung aber unangetastet bliebe. Kurz, als ob es immer noch und weiterhin um die Erfüllung der ›Träume transzen­ dentaler, wissenschaftlicher Philosophie‹ ginge. Sagen wir es doch mit dem ›Husserl der Krisis-Abhandlungen‹: Dieser Traum erscheine für den illusionslos Philosophierenden endgültig ausgeträumt!232 Und schon gar nicht bewegt uns die Absicht, irgendwie endgültige Säkula­ risierung als philosophische Verwirklichung theologischer Ideen auf den Weg zu bringen. (u. ä.) Stattdessen reflektieren wir schlichter, unspektakulärer; phänomenologisch wirklicher. Ich, der hier und jetzt Philosophierende, bin und bleibe es wirklich immer selbst, der endlich, ich mag denken was immer ich will, als wesentlich wirkliches So-in-der-Welt-Sein reflektiert. Genauer, ›Ich bin‹ einer, der mit anderen (beispielsweise mit dir, der du das liest) als ›Wir‹ reflektiert. – Aus dem Scheitern, oder zumindest der ›Unzulänglichkeit‹ dieser ›metaphysischen‹ und anderer ähnlich gerichteter Versuche (um nicht missverstanden zu werden: jeder dieser Versuche ist ernsthaft zu 232 Die bekannte, viel diskutierte und umstrittene Stelle in: Hua. VI. Beilage XXVIII. S 508: »Philosophie als Wissenschaft, als ernstliche, strenge, ja apodiktisch strenge Wissenschaft – der Traum ist ausgeträumt.«

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7.2. Existentielle Phänomenologie und die transzendentale Phänomenologie

würdigen und phänomenologisch wertzuschätzen) wird offensicht­ lich, dass diese philosophischen Bewegungen jenseits historischer, biographischer Wirklichkeit unseres Da-und-So-Seins, sich nicht einmal selbst ›begreifen‹ können. Und dazu gehört nun auch, dass jeweiliges Welt-Haben und wirkliches Selbst-Verständnis sich schon praktisch nicht auseinander-dividieren lassen. Das ist mit Blick auf die Fundierungsversuche erkenntnis- und wissenschaftstheoretischer und ontologischer Vorstellungen nicht unerheblich. – Kurz und bündig zusammengefasst. Jedes philosophieren, ist immer reflektieren als wesentlich wirkliches So-in-der-Welt-Sein, ist ein Philosophieren fundiert in einer wirklichen Lebenswelt.

7.2. Existentielle Phänomenologie und die transzendentale Phänomenologie Husserls Dieses radikal-existentiell angelegte Philosophieren lässt den SoReflektierenden, nicht nur sein Philosophieren, sondern auch sich selbst als prekär erfahren; als wirklich irritiertes und perturbiertes Da-und-So-Sein. Ein Philosophieren, das sich schon mit seinem Selbstverständnis absetzt, von neuzeitlicher (transzendentaler) Phi­ losophie der Vernunft. Offensichtlich scheint es also von einer ande­ ren Grund-Einstellung getragen zu sein. Sich, mit Blick auf sich selbst, nicht einlassen zu können, in neuzeitlich-aufgeklärtes Selbst­ vertrauen (natur-)wissenschaftlicher Vernunft. Der existenz-phäno­ menologisch Philosophierende geht nicht mehr davon aus, er könne philosophierend endgültig absolute Geltung ›herstellen‹, und für sich unbedingten Sinn seines Welt- und Selbst-Verständnis vergewissern; sogar für sich selbst gottgleich die ›Ordnung des Seins‹ bestimmen zu können. Und das jenseits der Geschichte. Ein und für allemal und auch in Zukunft für jedermann bindend. Dieses optimistisch ausgerichtete Denken schließt theoretisch und praktisch umfassend Denken, Wollen, Handeln; und die Form der Modi, wie Hoffen, Glau­ ben, ein. Man könne nun also (endlich) ernsthaft davon ausgehen, all diese Vermögen des Menschen vernünftig umreißen, und endgültig grundlegen zu können. Das erfülle mit Blick auf uns selbst auch ein (für Menschsein unbedingtes) ›Sollen‹, und zwar sich selbst ein für alle Mal, auf ›wissenschaftlichen‹ Begriff zu bringen. Dies wäre die Vollendung vernünftiger Aufklärung, die Verwirklichung eines menschheitlichen Projekts.

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Es kann mit Blick auf die wirkliche Wirklichkeit unseres gelebten In-der-Welt-Seins nicht verwundern, dass dieses (ohne jede Abwer­ tung) ›naive‹ Philosophieren uns nun nicht mehr erreicht. ›Naiv‹, nicht trotz, sondern wegen der Höhe des spekulativen Niveaus. Und es erstaunt, dass Husserl, das vor Augen, phänomenologisches Philoso­ phieren nicht aus diesem ›transzendentalen Idealismus‹ herausgelöst und verwirklicht hat.233 – Wir bleiben auf dieser Spur. Phänomenologisch-existentielles Philosophieren reflektiert sich selbst als wesentliche Grundmöglich­ keit unseres wirklichen Da-und-So-in-der-Welt-Seins. Mit allen Konsequenzen. Und entfaltet so existentielle Grundlagen-Forschung für unser wirklich wirkliches Welt- und Selbst-Verständnis. Auch für uns gilt als selbstverständlich: wir sollen und wir können uns reflektieren. Das ist wirklich existentielles Philosophieren; das sind Reflexionen, ›diesseits‹ jeden Idealismus und ›jenseits‹ des ›Natu­ ralismus‹. Nicht unbedacht bleiben darf, um sich nicht in unfrucht­ baren Auseinandersetzungen aufzureiben, dass diese Reflexionen als Selbst-Selbst- und die dazugehörigen Welt-Vorstellungen, für uns philosophisch mit zu dem Umfang der Leistungsmöglichkeiten unseres Da-und-So-Seins gehören. Zwar wiederum eine Selbstver­ ständlichkeit, die gerade deswegen aber phänomenologisch nicht unbedacht bleiben darf. Phänomenologisches Philosophieren arbei­ tet, das alles im Blick, als existentielle Reflexion der Reflexionen. Das schließt Fragen nach dem eigenen Leistungsvermögen und Leistungsumfang ein. Also die Reflexion unseres Potentials der reflexiven Reflexion ausdrücklich im Horizont unserer Lebenswelt. In anderen Worten, existenz-phänomenologisches Philosophieren ist reflexive Reflexion der Gestalt und Gestaltung der Lebenswelt; und ›Lebenswelt‹ reflektiert (umgekehrt) als ›notwendiges‹ Korrelat jeweiligen Da-und-So-in-der-Welt-Sein. Selbst noch philosophische Gedanken, Ideen, oder Forderung nach einer ›absoluten Vernunft‹, ›unbedingter Geltung‹, sind und bleiben Vorstellungen innerhalb eines bestimmten lebensweltlichen Horizonts. Man mag es also ›hoch schrauben‹ wie immer man es auch vermag. Es bleibt dabei, jedes Philosophieren radikal gewendet, – und das sollte doch wohl für 233 Er hat die Veränderungen mit Bedauern (vielleicht sogar mit Resignation) ver­ merkt. »Ein mächtiger und ständig wachsender Strom, wie des religiösen Unglaubens, so einer der Wissenschaftlichkeit entsagenden Philosophie überflutet die europäische Menschheit.« (Hua VI. S 508)

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7.2. Existentielle Phänomenologie und die transzendentale Phänomenologie

ein Philosophieren unumgänglich sein -, entfaltet sich als Reflexion wesentlich wirklichen So-in-der-Welt-Seins. Die grundlagenphiloso­ phisch entscheidende reflexive Reflexion der Reflexionen (das sei nicht vergessen) davon selbstverständlich nicht ausgenommen. – Dass das was uns selbst existentiell bewegt, (das sind praktisch nur am Rande diese oder jene erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Herausforderungen) hat unsere Reflexionen von Beginn an begleitet und ausgerichtet. Existenz-phänomenologisches Philosophieren lässt sich dabei ein auf die Spannung von Reflexion und der gerade uns vernünftig Aufgeklärten bedrückenden ›Verzweiflung‹. Wir schauen also hin auf uns selbst, die hier und jetzt mit Blick auf unser wirkliches So-Da-Sein philosophieren; philosophieren sollen. Das ist nun radi­ kal gesetzt, existentielle Reflexion der philosophischen Reflexion der Reflexionen.234 – Man wird sagen umständlich, manieriert, abstrakt, und praktisch ohne Bedeutung für unsere ›moderne Welt‹. Ein Glas­ perlenspiel nur um sich selbst drehend. – Ein tragisches Missverständnis. Existentielle Reflexion der Reflexionen ist im Gegenteil wortwörtlich ein konkretes und prakti­ sches (auch sozial und gesellschaftlich relevantes) Philosophieren. Für unsere Wirklichkeit als eine Notwendigkeit. Ein sich, mit Blick auf sein im Grunde fragil erfahrenes So-in-der-Welt-Sein (magst du dich dank wissenschaftlicher Vernunft auch ›im Augenblick‹ mächtig füh­ len), unentwegtes selbst-selbst-reflektieren müssen. – Gewiss bleibt es selbst auch für sich selbst ein unablässig, nicht nachlassend heraus­ forderndes Leisten. Wir erfahren uns, lassen wir uns einmal darauf ein wie gezwungen, schon alltägliches, selbstverständlich gelebtes, Welt- und Selbst-Verständnis, mit Blick auf uns selbst, zu reflektieren; und nun existenz-phänomenologisch selbst diese Reflexionen wieder (von Anfang an) zu reflektieren. Dieses richtet nun, nicht zuletzt, auch Kunst und Literatur aus; und trägt umgekehrt (repulsiv) auch mit dieser Breite wiederum unser existentielles Philosophieren. Unser phänomenologisches Philosophieren ist Philosophieren im Horizont unserer wirklichen Wirklichkeiten; unseres faktischen So-in-der-Welt-Seins. Dazu gehört auch was wir Philosophierenden, beispielsweise, als historisches Selbstverständnis der Philosophie, der Wissenschaften und der Kunst vorfinden. Das schließt weiter ein, dieses Aufmerken selbst auf diesen, das neuzeitliche Denken 234 Vgl. dazu meine Arbeit: Reflexion und Verzweiflung. Ein Beitrag zu einer Phäno­ menologie der Moderne. Essen 2003

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ausrichtenden (eigenartigen) Anspruch letztgültiger Geltung; und die damit verknüpften verschiedenen transzendentalen Gestaltungen des Philosophierens. Vorausgesetzt ist also wahrlich ein breit aufge­ fächertes Panorama neuzeitlichen Selbst- und Welt-Verständnisses. – Auffällig wird uns nun, dass vernünftige Aufklärung und die doch unbestreitbar so erfolgreichen Wissenschaften, unser irritiertes und perturbiertes existentielles Selbstwahrnehmen, nicht nur nicht geklärt haben, vielmehr nicht einmal bereit zu sein scheinen, uns dies überhaupt so vorzustellen. Sogar ihren normativen Anspruch auch gegenüber der existentiellen Reflexion, weiter verschärft haben. Ein ›weltanschaulicher Anspruch‹ der Wissenschaften, das kann nicht übersehen werden, den die Philosophie seit dem 19. Jahrhundert klaglos, sogar bereitwillig, hingenommen habe. Im Übrigen haben sich die Wissenschaften daher in ihrem Misstrauen dem reinen Philo­ sophieren gegenüber bestätigt gefunden. Es scheint, als ob den Wissenschaften und der, den Wissen­ schaften nacheifernden ›wissenschaftlichen Philosophie‹, die unver­ gleichlich anders gerichtete existenz-philosophische Einstellung, ihr radikales Fragen, nicht zur Klarheit gekommen sei. Das im Blick werden wir phänomenologisch Philosophierende nun wiederum auf uns selbst zurückverwiesen. Auf uns selbst als wesentlich wirkliches So-in-der-Welt-Sein. Auf unser Vermögen geradeso uns selbst radi­ kal zu schauen, unsere Reflexionen selbst zu reflektieren. Man wird vielleicht nun sagen, im Ganzen gesehen, ein ›armse­ liges‹ Philosophieren. Dürftig vor allem im Vergleich zu modernen Wissenschaften und der zeitgenössisch wissenschaftlichen Philoso­ phie. Man betrachte doch nur das Philosophieren (um einmal an ihn zu erinnern) Wolfgang Stegmüllers, oder das des Jürgen Habermas. Einem Philosophieren, das sich doch den großen Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft, zusammen mit den Wissenschaften, zumindest anzunehmen bereit zeige. – Die Einwände nehmen wir in jedem Falle ernst. Für den Anfang unseres phänomenologischen Philosophierens bleibt gerade deswegen aber systematisch weiter zu leisten, phänomenologische Selbst-Selbst-Rechtfertigung der Gestalt und Gestaltung existentieller Reflexion der Reflexionen unseres Daund-So-Sein. Gerade diese existentielle Perspektive verweist auf entschiedene Radikalisierung philosophischer Reflexion. Zumindest das könne wohl von jedermann mit-vollzogen-werden. Es mag dabei mit dem Erfolg stehen wie immer es will. – Eines aber kann schon jetzt nicht bestritten werden. Es sind in jedem Fall Reflexionen,

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7.2. Existentielle Phänomenologie und die transzendentale Phänomenologie

die nicht hinter die ›kritische Form‹ neuzeitlichen Philosophierens zurückfallen. Im Gegenteil philosophische Reflexionen endlich zu verwirklichen suchen. Gerade weil es ein umfassendes radikales Fragen nach der für uns letztmöglichen Wirklichkeit der Reflexionen selbst vorstellt. Eine also auch selbst-kritische Vorstellung der Refle­ xion, die, man mag es nur versuchen, nicht mehr weiter wirklich sinnvoll hinter-dacht werden könne. (Was läge denn, hinter, oder unter, oder über der Reflexion?) – Wieder dicht zusammengefasst. Existenz-phänomenologisches Philosophieren lässt sich nicht auf unbedingte gesetztes Apriori wissenschaftlicher Vernunft einschwö­ ren. Aus nachvollziehbaren Gründen. Schauen wir nur auf die Form unserer existentiellen Reflexion der Reflexionen. Da ist, was wir durchaus ›existentiellen Sprung‹ nennen können. (Eine mögliche Erinnerung an Kierkegaard drängt sich zurecht auf, darf aber ›histo­ risch‹ nicht allzu sehr strapaziert werden.) Gerade diese Möglichkeit erzwingt, theoretisch und praktisch, radikale Reflexion der Reflexion der Reflexion. Erst mit dem Schauen auf uns So-Philosophierende selbst, (vor uns diese Möglichkeit, die wir nicht ohne weiteres vollzie­ hen), erfahren wir Philosophieren, als der Form nach, unüberbietbar radikale Reflexionen; setzen eine existentiell uns selbst wirklich umgreifende Ordnung. Die Ordnung unseres So-in-der-Welt-Seins, die von uns nicht ›wirklich überstiegen‹ werden könne. Das ist unser aufmerksam-werden, in den Blick rücken, der eigentlichen Ortschaft der Philosophie, unseres Philosophieren. Wir sind es in jedem Fall selbst, als horizontal und vertikal gefugte Gemeinschaft der Philoso­ phierenden, die diese Leistung der Reflexion in dieser Gemeinschaft (und nirgends anders) vollbringen. Und eigenartig werden wir nun gerade so, auch wirklich aufmerksam auf uns selbst, als dieser je eine Philosophierende. (Ein Philosophieren, das damit auch Kierkegaards ›einsames Philosophieren‹ nicht aus den Augen verlieren kann.) – So ist also der vorläufige Stand unserer existentiellen (reflexiven) Reflexion der Reflexionen. Existentiell-phänomenologisches Philo­ sophieren als ›zurückkommen der Philosophierenden auf sich selbst als wesentlich wirkliches Da-und-So-Sein. Vorgestellt als sich selbst Grund-legen gerade als fragiles In-der-Welt-Sein; das ist existentielle Reflexion der Reflexionen des irritierten und perturbierten So-DaSein. Die Reflexion, die sich als reflexive Reflexion nun nicht mehr weiter sinnvoll zu hinter-denken in der Lage sieht. Eine Frage, sie hat uns schon verschiedentlich beschäftigt, spitzt sich hier nun weiter zu. Ob dieses existentielle Denken noch zurecht

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7. Die Entfaltung phänomenologischer Reflexion

in phänomenologisches Philosophieren eingeordnet werden könne? Ob es diesen Titel überhaupt so in Anspruch nehmen dürfe? (Über die Antwort Husserls kann es keinen Zweifel geben.) Das ist sowohl philosophiegeschichtlich als auch systematisch von Interesse. Die Grundmuster der Argumente dafür oder dagegen scheinen klar. Phänomenologisches Philosophieren, das haben wir selbst an keiner Stelle übersehen, ist unbestreitbar (und auf Dauer) mit dem Namen Edmund Husserl eng verbunden. Nach wie vor und ausdrücklich also nicht nur als geschichtliche Erinnerung. Jedes phänomenologi­ sche Philosophieren bleibt den Leistungen Husserls systematisch ver­ pflichtet; und das auch dort noch, wo ein von seinem Philosophieren abweichendes phänomenologisches Selbst- und Welt-Verständnis gesetzt werde. (In gewisser Weise steht Husserl zur Geschichte der Phänomenologie, wie Freud zur Geschichte der Psychoanalyse.) Hus­ serl wird zurecht sogar über diese phänomenologische Schultradition hinaus den bedeutenden neuzeitlichen Philosophen zugerechnet. Sein Philosophieren hat nicht nur unmittelbar und mittelbar die Philosophie, das Philosophieren des 20. Jahrhunderts nachhaltig bestimmt; es hat darüber hinaus Einfluss genommen auf die (im weiten Wortverständnis) ›Wissenschaften vom Menschen‹. Etwa, Psychologie, Psychiatrie, Medizin, Soziologie, Kunst- und Literatur­ wissenschaften. Gerade das ist für unser existentielles Philosophieren nun von besonderer Bedeutung.235 Dem Philosophieren müsse näm­ lich wieder ›die Weite‹ zugestanden werden, die der existentiellen Reflexion der Reflexionen unseres So-in-der-Welt-Sein zukomme. – So positioniert sich also existentiell-phänomenologisches Philoso­ phieren vor der traditionellen Trennung in ›theoretische‹ und ›prakti­ sche‹ Reflexion; und in ›Geistes-‚ und ›Natur-Wissenschaften‹. Das Erste für uns ist der radikalen Bewegung dieser Reflexionen selbst (zunächst) deskriptiv zu folgen; geschaut als Möglichkeit unseres wirklichen Da-und-So-Seins. Der Anspruch bleibt, zu arbeiten an existentieller Grundlagen-Forschung mit Blick auf wirklichen und, das schließt sich nicht aus, wesentlichen Mensch. Also existenti­ elle (reflexive) Reflexion der Reflexionen, die nun überhaupt erst ›geltungssichere‹ Vorlagen für ›theoretisches‹ Denken und ›prakti­ sches‹ Handeln vorzustellen erlaube.236 Mit diesem Grundverständ­ Vgl. dazu Gleixner (2018) Dieser Hinweis Husserls hat immer noch (in gewisser Weise: sogar zeitlose) Bedeutung: »Bloße Tatsachenwissenschaften machen bloße Tatsachenmenschen. (…)

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7.2. Existentielle Phänomenologie und die transzendentale Phänomenologie

nis arbeitet phänomenologische Reflexion auch für die existentielle Gestaltung der Reflexionen der Psychologie und Psychiatrie; und jeweiliger existentieller Therapie und Beratung. (Man denke hier vor allem an die Psychiater des ›Wengener Kreises‹.)237 Nicht nur die Vorstellungen, Intentionen, entworfenen Lagen, die Reflexionen dieser theoretischen und praktischen ›Wissenschaf­ ten vom Menschen‹ sind phänomenologisch im Blick zu behalten und existentiell zu reflektieren. (Dass dabei deren jeweiligen – gleich wie vorgetragenen – Geltungsansprüche eingeklammert bleiben, braucht an dieser Stelle sicher keiner weiteren Entfaltung.) Phänomenologi­ sches Philosophieren, darauf sind wir immer wieder aufmerksam geworden, fordert schon von ihrem ›grundlagenphilosophischen‹ Selbstverständnis her, nun auch existentielle Reflexion der Reflexio­ nen der Kunst, Literatur. Und das ist von einer ganz besonderen Bedeutung. So reflektiert sich nämlich besonderes anschaulich die Form existentieller Phänomenologie. Und phänomenologisches Phi­ losophieren kann so reflektiert, nicht zu einem dogmatischen Schul­ begriff verengt werden. Gesetzt es wird der eigne Anspruch und die Intention ernst genommen. Denken wir vor allem an die Grundfor­ derung systematischer Reflexion der Reflexionen. Phänomenologie, als reflexive Reflexion der Reflexionen wird schon von Husserl selbst als ›philosophische Bewegung‹ angelegt. Das darf nicht als bloß his­ torischer Hinweis abgetan werden. Dass ›Bewegungen‹ dieser Art, sich früher oder später, auch von ihrem Gründer lösen können, sich möglicherweise sogar gegen seine Intentionen richten, musste nicht nur Husserl erfahren. Helmut Kuhn diagnostizierte dem phänomeno­ logischen Philosophierens, schon mit Blick auf die ersten Jahrzehnte der Geschichte phänomenologischen Philosophierens, eine geradezu ›dynamisch‹ zu nennende Entfaltung. (Kantstudien 38/1933). Zwei­ fellos die ›Entfaltung‹ der dem phänomenologischem Philosophieren von Husserl selbst mitgegebenen Möglichkeiten. Die Geschichte der Phänomenologie zeige einen Zustand, den man, so schreibt er, ›eidetische Anarchie‹ nennen könne. Man betrachte nur die sich schon Gerade die Fragen schließt sie prinzipiell aus, die für den in unseren unseligen Zeiten den schicksalsvollsten Umwälzungen preisgegebenen Menschen die brennenden sind: die Fragen nach Sinn oder Sinnlosigkeit dieses ganzen menschlichen Daseins.« (Krisis. S 4) 237 Dazu: Torsten Passie. Phänomenologisch-Anthropologische Psychiatrie und Psy­ chologie. Eine Studie über den Wengener Kreis: Binswanger – Minkowski – Von Gebsattel – Straus. Hürtgenwald 1995.

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7. Die Entfaltung phänomenologischer Reflexion

in der ›Gründerära‹, deutlich unterscheidenden Perspektiven der Philosophen, die sich selbst der Phänomenologie zurechneten. Kuhn verweist beispielsweise auf Max Scheler. Mit seiner an »wahrhaft fruchtbaren Entwürfen reichen philosophischen Genialität«. Auf der anderen Seite könne man ›Phänomenologie‹ mit gleichem Recht »als philosophische Vorwissenschaft, als Bereitstellung des originär Gege­ benen für ein andersartiges begriffliches Verfahren interpretieren (N. Hartmann).« Und »inzwischen« (1933) habe nun auch »Heidegger durch Einführung origineller Konzeptionen, die sich unter dem Gesichtspunkt des Systems als ein Gefüge von Urformen der Subjek­ tivität (›Existentialen‹) darstellen, das konstruktive Moment ((der Phänomenologie)) zu seinem Recht gebracht.« Schließlich zeige, um auch das nicht zurück zu stellen, selbstverständlich auch die trans­ zendentale Phänomenologie selbst weiterhin »nicht weniger deutlich den Willen oder, wenn man so will, die Nötigung zum ((phänome­ nologischen)) System.«238 – Dass dies bei weitem noch nicht die Möglichkeiten vorstellte, die phänomenologisches Philosophieren Ende der 20er Jahre (zum Leidwesen Husserls) eingenommen hatte, sei hier zumindest im Allgemeinen noch festgehalten.239 – Gegen alle Bedenken, wird man darauf verweisen können, dass man dort nicht weniger, sich ›phänomenologisch methodisch‹ ›den Sachen‹ zuwendet, wie Husserl selbst. Wem wollte man hier also seine Zuge­ hörigkeit zu der ›von Anfang an‹ breit aufgestellten ›phänomenologi­ schen Bewegung‹ bestreiten? Es ehrt bekanntlich den Meister, wenn seine Schüler sich von ihm zu lösen imstande seien. (›Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schüler bleibt‹. (Nietzsche) – Bekanntlich wurde Husserl nun umgekehrt von seinen eigenen Schülern vorgeworfen, er habe die ›phänomenologische Per­ 238 Wieder in: Hermann Noack (Hrsg.) Husserl. Darmstadt 1973. Es trifft also sicher zu. »Husserl hinterließ den Grundriss eines unausgeführten Gebäudes von riesigen Ausmaßes, und keiner seiner Schüler konnte daran denken, es nach dem vorausliegenden Plan auch nur teilweise zu errichten.« (Helmut Kuhn. Der Weg vom Bewusstsein zum Sein. Stuttgart 1981. S 135) 239 Auch für die Geschichte der Phänomenologie gilt, was Heinrich Rombach für die Denkgeschichte der Philosophie im Allgemeinen festhält. Ein Gedanke sei nie ›Eigentum eines Denkers‹. »Zur Denkgeschichte der Philosophie gehört unablöslich die Interpretationsgeschichte. Jedes Denken bedarf der Interpretation, die, wenn sie ihrem Wesen entspricht, die noch nicht eingelösten Elemente des Gedankens hervor­ zieht. Sie richtet das Maß des Gedankens über den Denker auf;“ (Substanz. System. Struktur. Zur Ontologie des Funktionalismus und der philosophische Hintergrund der modernen Wissenschaft. Freiburg. München 1965. S 46)

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7.2. Existentielle Phänomenologie und die transzendentale Phänomenologie

spektive‹ (aus Verlegenheit?) wieder in neukantianische Tradition eingefügt; habe also den ursprünglichen phänomenologischen Ethos ›wirklichen‹ Philosophierens ungewollt ›idealistisch subjektiviert‹. Für Husserl ist das ein (geradezu verhängnisvolles) Missverständnis; eine Fehldeutung der, sein phänomenologische Philosophieren aus­ richtenden Intention. – Wahr ist, dass Husserl zeitlebens (von den LU bis zu den Krisis-Abhandlungen) um ein absolutes Fundament‘ für Selbst-Sein und Welt-Haben ringt. Um unbedingte Gewissheit für Philosophie, Wissenschaft und vor allem, nicht zu vergessen, für den wirklichen Menschen überhaupt.240 Ein Zusammenhang, den wir nicht übersehen können. Geleistet werden solle dafür die Reflexion ›transzendentale Ordnung‹; ein ›gewisses Fundament‹, das neuzeitlich traditionell durch Form und Entfaltung transzendentaler Subjektivität sich als unbedingt vorstelle. Die ›Unbedingtheit‹, die ›Reinheit‹ des ›Ich-denke‹ also methodisch vorgestellt und gesichert durch Aufbau von ›Denk-Handlungen der Vernunft‹. (Husserl gehört in die Tradition ›neuzeitlicher‹ (nicht ›moderner‹) Philosophie.) – Sieht man genauer hin und sich selbst zu, zeigt sich das als willkürliche Konstruktion; eine Reflexion eines wirklichen Da-und-So-Sein; die Verwirklichung einer unserer Möglichkeiten der Selbst- und WeltVergewisserung. Das Ringen Husserls zeigt sich auch darin, dass er selbst seine Reflexionen immer wieder umstellte, und auch in wesentlichen Fragen verändert hat. Nichts desto weniger aber blieb er zeitlebens davon überzeugt, dass sein Philosophieren sich immer innerhalb des Horizonts befinde, den er schon mit seinen Logischen Untersuchungen angelegt habe. Und dieser Horizont schließe exis­ tentiell-anthropologische Reflexionen grundsätzlich (›von Anfang an‹) aus; ein solches Philosophieren subsumiert er Zeit seines Lebens unter Psychologismus, Anthropologismus. Die Konsequenz eines solchen Denkens wäre ein verhängnisvoller Relativismus, dem der Titel ›Phänomenologie‹ entschieden abgesprochen werden müsse.241

240 Mit dem Philosophieren »entscheidet sich, ob das dem europäischen Menschen­ tum mit der Geburt der griechischen Philosophie eingeborene Telos, ein Menschen­ tum aus philosophischer Vernunft sei zu wollen und nur als solches sein zu können – in der unendlichen Bewegung von latenter zu offenbarer Vernunft und im unendlichen Bestreben der Selbstnormierung durch seine menschheitliche Wahrheit und Echtheit, ein bloßer historisch-faktischer Wahn ist, (…).« (Krisis. S 13) 241 Husserl hat dieses ›anthropologische Potential‹ seines phänomenologischen Phi­ losophierens verkannt. Als Verzerrung, sogar als Verfehlung gebrandmarkt. Er reiht

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7. Die Entfaltung phänomenologischer Reflexion

Gegenüber diesem Philosophieren könne es vonseiten ›der Phänome­ nologie‹ nur entschiedenen Widerstand geben. – Die Linie scheint klar. Vernunft, Wahrheit, Geltung, Sinn, ver­ sus Naturalismus, Subjektivismus, Relativismus, Ungewissheit für Dasein. Dass das für Husserl sich nicht in erkenntnis- und wissen­ schaftstheoretischen Fragen erschöpfte, ist bekannt. Hier verdichte sich die Grundentscheidung (zumindest) ›europäischen Menschen­ tums‹.242 (Im Blick Husserls die Lage Deutschlands und Europas in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts.) Eines blieb also für ihn immer gesetzt. ›Transzendentale Phänomenologie‹ als ›die Phänomenologie‹ sei das glatte Gegenteil von dem, was existentielles Philosophie­ ren sachlich und methodisch überhaupt vorstellen könne und auch wolle. – Dieses ›Urteil‹ Husserls kann uns nicht gleichgültig bleiben. Schauen wir also noch einmal (nun aus einer etwas anderen Perspek­ tive) hin auf die Geschichte der Phänomenologie. – Schon die histo­ rische Weite phänomenologischer Reflexionen (sie kann ja auch von Husserl nicht geleugnet werden) ist für existentielle Phänomenolo­ gie von besonderem Interesse. Phänomenologisches Philosophieren könne sich also, das lesen wir daraus, keineswegs erschöpfen in ›Hermeneutik‹ der Vorstellungen Husserls. Das stellt sich zunächst keinesfalls gegen ihn und sein phänomenologisch-transzendentales Philosophieren. Sondern es spricht ja gerade für ›sachgemäße‹ theo­ retische Gestaltung phänomenologischer Reflexion der Reflexionen; und praktisch (denken wir wieder an phänomenologische Psycholo­ gie, Psychiatrie, Psychotherapie) für die Potenz phänomenologischen Philosophierens. Hinzukomme, dass ein sich einzulassen auf die Bewegung (die Systematik) phänomenologischer Reflexionen, eine dogmatischen Verhärtungen unseres Philosophierens nicht mehr zulasse. Schon das wäre eine hoch zu veranschlagende Leistung. Das ist das eine. Ein anderes aber ist die uns gemeinsam verbindende ›Logik phänomenologischen Philosophierens‹. Sie bleibt für unser phänomenologisches Selbstverständnis von entscheidender Bedeu­ sich damit ein, in die Schulhäupter, die jedes Abweichen von ihren Vorlagen geradezu als Verrat brandmarkten. 242 »Die Krise des europäischen Daseins hat nur zwei Auswege: Den Untergang Europas in der Entfremdung gegen seinen eigenen rationalen Lebenssinn, den Verfall in Geistfeindschaft und Barbarei, oder die Wiedergeburt Europas aus dem Geiste der Philosophie durch einen den Naturalismus endgültig überwindenden Heroismus der Vernunft.« (Hua. VI. S 347 f.)

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7.2. Existentielle Phänomenologie und die transzendentale Phänomenologie

tung. Auch als Rechtfertigung unseres Philosophierens als phäno­ menologisches Philosophieren. Verdichtet nun sogar als Forderung Husserls, ein ›streng phänomenologisch Philosophierender‹ habe von Beginn an selbst zu denken. Das ist selbst hinzuschauen auf die ›Sache‹ und seine ›Reflexion dieser Sache‹. Allein so ließe sich systematisch ›Geltung‹ und ›Sinn‹ bestimmen,243 – Wir verstehen unsere existentielle Reflexion der Reflexionen ausdrücklich gerade als ernst nehmen, der, von Husserl selbst geforderten Selbst-Gestaltung eines strengen ›sach-bezogenen‹ Philosophierens. (Das ist nicht ohne Witz.) Nun kann diese Gestaltung systematischen Philosophierens, unsere existentielle (reflexive) Reflexion der Reflexionen, auch vor Husserls Ideen, Überzeugungen (es sind ja nicht weniger ›Glauben­ sätze‹), nicht Halt machen. Auch sie können die Forderung – diesem, dem Philosophieren selbst impliziten ›Grund-Gedanken‹ – ›systema­ tischen, selbst zu verantworteten Philosophierens‹, nicht außer Kraft setzen.244 Husserl hat doch auch selbst sein eigenes Denken, soweit er es vermochte, dieser phänomenologischen Grund-Forderung sys­ tematischen Philosophierens untergeordnet. – Der Kreis schließt sich. Phänomenologisches Philosophieren kann also zurecht ein Philosophieren sein, das nicht mit Husserls transzendentalen Vorstellungen der Phänomenologie, oder einer ›streng wissenschaftlichen Philosophie der Vernunft‹, übereinkommt. Diese, sich von der zu reflektierenden ›Sache‹ selbst her aufdrängen­ den existentiellen Spannungen liegen ausdrücklich im systematischen, nicht transzendental-dogmatisch geführten Verständnis phänomeno­ logischen Philosophierens. Man denke abschließend noch einmal an das Philosophieren der Münchener und Göttinger Phänomenolo­ gen. An ihre doch unbestreitbar, erkenntnistheoretischen, logischen, anthropologischen Leistungen. Unbestreitbar originäre Leistungen, »Aber zu Philosophen werden nicht durch Philosophien. Am Historischen hängen bleiben, sich daran in historisch-kritischer Betätigung zu schaffen machen und in eklektischer Verarbeitung oder in anachronistischer Renaissance philosophische Wis­ senschaft erreichen zu wollen: das gibt nur hoffnungslose Versuche.« (Logos/ 340) 244 Interessant ist, die Vorstellung Ludwig Landgrebe. Husserl ›sprenge mit seinen durchgeführten Analysen sein ›idealistisches Programm‹; und zwar »in einer ihm selbst verborgen gebliebenen Weise.« Gegenüber dieser programmatischen Selbstin­ terpretation (Vollendung der Cartesianischen Philosophie), »liegt die geschichtliche Bedeutung seines Werkes darin, dass gerade in dem Versuch, die neuzeitliche SubjektProblematik zu Ende zu denken, die Punkte hervortreten, an denen diese von innen her aufgelöst und überwunden wird. Damit wird auch für die Frage nach dem Menschen eine neue Basis vorbereitet.« (Philosophie der Gegenwart. Berlin 1957. S 29; 30) 243

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7. Die Entfaltung phänomenologischer Reflexion

die zurecht dem phänomenologischen Philosophieren zugeordnet werden. Immer noch von Bedeutung sind, vielleicht sogar gerade weil sie Husserls ›transzendentale Wende‹ nicht, oder nur eingeschränkt mitvollzogen haben.

7.3. Die Form philosophischer Grundlagen-Forschung für unser Da-und-So-Sein An dieser existenz-phänomenologischen Grundhaltung unseres Phi­ losophierens werden wir nun in jedem Fall festhalten. Es bleibt unser Stab und Stecken. Gleich wie wir uns als Philosophierende auch einstellen, uns positionieren, was uns bewegt und angeht; was immer uns philosophisch herausfordert, und die jeweiligen Reflexionen bindet; wirklich Philosophierende bleiben dabei für sich selbst als wirkliches Da-und-So-Sein mit im Blick. Philosophische Reflexionen lösen sich, was immer sie wie bewegen mag, nicht auf‘ in ›reine Vernunft‹. Unser existentielles Philosophieren (um nicht missver­ standen zu werden) denkt sich nicht als Wende gegen Vernunft. Es dürfe aber der philosophische Begriff ›Vernunft‹ nicht neuzeit­ lich eingeengt werden. Eingeengt auf rationalistische, idealistische, transzendentale Vorstellungen. Existenz-phänomenologisch bleibt ›Vernunft‹ intentional gebunden und geformt; und als unsere Vernunft rückgebunden in unser wesentlich wirkliches So-in-der-Welt-Sein. Die den philosophierenden Menschen, seit Parmenides umtreibenden Gedanken (man könne anthropologisch durchaus von ›Sehnsucht‹, vielleicht sogar von ›Gier‹, sprechen), ›unbedingte Geltung‹, ›zeit­ lose Invarianz‹, ›unveränderliches Sein‹, ›absoluter Sinn‹, setzen wir also in die Klammer. Und selbstverständlich beziehen wir unser phänomenologisches Philosophieren ausdrücklich auf uns selbst; auf uns als wirkliches, so reflektierendes So-in-der-Welt-Sein. – Das beschreibt die Grund-Einstellung existenz-phänomenologischen Philosophierens. Man könne zusammenfassend sagen, dass unsere existentielle reflexive Reflexion der Reflexion nicht weniger als die Verwirklichung der ›Ersten Philosophie‹ beabsichtige.245 Sicher 245 Bei Husserl so: »Der Name ›Erste Philosophie‹ würde dann hindeuten auf eine wissenschaftliche Disziplin des anfangs; er würde es erwarten lassen, dass die oberste Zweckidee der Philosophie für den Anfang oder für ein geschlossenes Gebiet der Anfänge eine eigene, in sich geschlossene Disziplin fordere, mit einer eigenen Proble­

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7.3. Die Form philosophischer Grundlagen-Forschung für unser Da-und-So-Sein

(davon ist auch Husserl ausgegangen) ein generationenübergreifen­ der, vielleicht sogar ein endloser Prozess. – Es kann nun Philosophierenden nie gleichgültig lassen, was Menschen (das schließt ihn selbst mit ein) heftig bewegt. Immer wieder die Forderung dies mit Blick auf ‚möglichen Anfang‘ zu reflektieren. So scheint existentielles Philosophieren als Bewegung der Reflexion (der Reflexionen). Vielleicht sogar, und nicht ausge­ schlossen, ein endloses Geschäft. Das scheint Husserls Bedenken gegen ein solches existentielles Philosophieren zu bestätigen. Auch er spricht zwar von ›einem langen Atem‹ den die Philosophierenden bräuchten. Er zweifelt aber nicht daran, dass Philosophieren, »nach gewaltigen Vorarbeiten von Generationen«, sicheren Grund, feste Gestalt gewinne.246 Aus dieser Perspektive wäre unser existentielles Philosophieren tatsächlich ein Irrweg. Vor allem dann auch praktisch verhängnisvoll. Ein Philosophieren, das die Verzweiflung der moder­ nen Menschen sogar verstärke. Reflexionen, die nämlich zwangs­ läufig (theoretisch und praktisch) in Subjektivismus, Relativismus, Skeptizismus endeten. Vielleicht rechnet man unser Denken sogar, den, die Moderne begleitenden (rechtskonservativen) ›Kulturpessi­ mismus‹ zu. (etwa, Paul de Lagarde; Julius Langbehn; Moeller van den Bruck);247 oder den, des Außenseiters, Alfred Seidel. (›Bewusstsein als Verhängnis‹). Mit Blick auf unseren Anspruch, philosophische GrundlagenForschung stellen zu können, können wir diese Zuordnungen nicht unwidersprochen lassen. Gewiss ist die Sorge, existentielles Phi­ losophieren führe (theoretisch und praktisch) zu ›Relativismus‹ nicht unberechtigt. Vergewissern wir uns also noch einmal der philosophischen Herkunft und dem Selbstverständnis existenz-phänomenologischen Philosophierens. – Als erstes vergessen wir nicht, dass phänomeno­ logisch sich besinnen, selbst schon einen konstitutiven Akte stelle (ausführe). Es entfaltet sich als bewusst angelegte reflexive Reflexion der Reflexionen. Das führt mit ein, auch praktische Gestaltung selbst­ verantworteten Leistens; und zwar als ein ›selbst-verantwortetes Tun‹ matik der Anfänge, nach geistiger Vorbereitung, nach exakter Formulierung und dann wissenschaftlicher Lösung. Aus innerer unablöslicher Notwendigkeit würde diese Disziplin allen anderen philosophischen Disziplinen vorangehen, sie methodisch und theoretisch fundieren.« (EP. I. S 5) 246 Logos. 291 247 Fritz Stern. Kulturpessimismus als politische Gefahr. München 1986

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7. Die Entfaltung phänomenologischer Reflexion

entlang selbst-selbstanschaulich gegebener Evidenzen. ›Ich selbst‹ vollziehe als wirkliches So-in-der-Welt-Sein (bewusst und ausdrück­ lich) diese existentiellen Reflexionen. Hier sollte es keinen scharfen Widerspruch geben. Vielleicht ist es diese Perspektive, die es rechtfer­ tigen zu scheint, nun sogar von einem ›phänomenologischem Positi­ vismus‹ zu sprechen. – Keinesfalls soll damit aber ein ›schwankendes‹ Philosophieren behauptet werden, dass unterschiedlichsten ›philo­ sophischen Bewegungen‹ (beispielsweise, Positivismus, Idealismus, Pragmatismus) zu genügen versuche. Eine unpassende Harmonisie­ rung, die naiv gesetzt weder dem einen noch dem anderen gerecht werden könne. (Sich seine Perspektiven mit einem ›Eklektizismus‹ zusammen zu klauben versuche.) Vor allem aber ist phänomenolo­ gisches Philosophierens nicht ein (heute so verbreitetes) andienen an ›neu-positivistischen Zeitgeist‹. Als ob mit dem ›neuen‹(?) angloamerikanischen Philosophieren die ›Krisis unseres Philosophierens‹ endlich einer ›echt wissenschaftlichen‹ Lösung zugeführt werden könne. Sondern phänomenologisches Philosophieren haben wir ein­ geführt als Verpflichtung zu ›wirklich sachbezogenen‹, systematisch radikaler Philosophie. Ob man diesem existenz-phänomenologischen Philosophierens einen ›irrationalen, metaphysischen Rückfall‹ hinter der, durch Kant (und durch Husserl bestätigt) gezogenen Linie für jedes Philosophie­ ren unterstellen könne, wird uns nun eigens beschäftigen. – Über eines sollte es keinen allzu heftigen Streit geben. Nicht nur nicht unter phänomenologisch Philosophierenden. Jedes Philosophieren entfaltet und verantwortet sich im Grunde ›letztendlich‹ systematisch; es arbeitet (führt sich ein; begründet sich) mit der Grund-Form: Reflexion der Reflexion. (Wie denn sonst?) Wir fügen nun hinzu, das sind immer Reflexionen, die ein Philosophierender (als wirkliches Da-und-So-Sein) radikal selbst-bewusst zu leisten habe. Philoso­ phieren reflektiert in Wahrheit und wahrhaftig also immer auch den Philosophierenden als wirklichen Philosophierenden. Oder so, der Philosophierende lässt sich selbst in und mit seiner Wirklichkeit nicht mehr aus seinem Blick. Das ist nicht weniger als ein streng systema­ tisch-philosophisches Arbeiten; ist fundierte existentielle Reflexion unseres wirklichen Welt- und Selbstverständnis. Und zwar, durchaus als kritische Form; als Möglichkeit sich durch dieses (auch) leibhafte Selbst-Selbst-Bewusstsein wirklich und wesentlich konstituieren zu können. Gerade deswegen wäre für existentielles Philosophieren wis­ senschaftliche Formung (die ja die Wissenschaft bindet) unpassend.

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7.3. Die Form philosophischer Grundlagen-Forschung für unser Da-und-So-Sein

Im Blick hier also immer auch und immer wieder ausdrücklich unser philosophisches Arbeiten selbst. Also Leistung (die Reflexion) und das Geleistete (die Reflexion der Reflexionen) unseres phänomenolo­ gischen Arbeitens. Gestaltet als existentielle, reflexive Reflexion des wirklichen Menschen. Selbst noch die Vorlagen, die Methoden, die Absicht, auch das transzendentale Selbstverständnis der ›klassischen‹ Phänomenologie werden existentiell radikalisiert. Man könnte positiv sagen, sie werden wortwörtlich jetzt verwirklicht. Unsere Absicht ist, um dieses viel bemühte Bild hier zu gebrauchen, transzendentale Phänomenologie vom ›Kopf auf die Füße‹ zu stellen.Man wird sicher widersprechen. Von unterschiedlichsten Seiten. Schauen wir also genau und kritisch hin auf unsere existentiellen Reflexionen. Es sind keineswegs philosophisch abseitige Gedanken. Existentielle Phänomenologie erfüllt mit diesen Reflexionen, den mehr oder weniger verdeckten, gerne übersehenen, oder bewusst geleugneten Grundanspruch jedes Philosophieren.248 Nämlich, exis­ tentielle Grundlagen-Forschung für menschliches So-in-der-WeltSein vorzustellen. Hinzugefügt sei, dass dieser Anspruch (dazu gehört sich selbst als Erstes in den Blick rücken zu müssen) ausdrücklich auch diesseits der scheinbar engen Zuordnung zu einer ›philosophischen Anthropologie‹ (oder den Geisteswissenschaften überhaupt) gelte. Kurzum, also, nicht als ein Sonderthema der Philosophie zuzuordnen sei. – Phänomenologisches Philosophieren ist, dicht zusammenge­ fasst, systematisch vollzogene Leistung existentieller Reflexion der Reflexionen. Ist Arbeiten an selbst-selbstverantworteten Anfang des Philosophierens überhaupt. Dieser Anfang, der sich also selbst durch unsere systematischen Reflexionen getragen weiß. Existentielles Phi­ losophieren reflektiert nie anders als mit Blick auf unser wirkliches und wesentliches Da-und-So-in-der-Welt-Sein. Nur als dieses sich immer wieder leisten, sich selbst vollziehen (können), wird Philoso­ phieren ihren, nach wie vor ihr Arbeiten ausrichtenden, ausrichten sollenden, Geltungs-Anspruch gerecht.249 Das ist ganz in der Ord­ 248 Husserls Absicht, der wohl kaum widersprochen werden kann: ein philosophi­ sches Lehrsystem brauche gewaltige Vorarbeit von Generationen, und müsse, wie jeder tüchtige Bau »von unten her mit zweifelssicherem Fundament« in die Höhe wachsen, »indem Baustein um Baustein gemäß leitenden Einsichten als feste Gestalt dem Festen angefügt« werde. (Logos. S 292) 249 Hedwig Conrad-Martius verweist auf die Forderung Husserls, dass jeder wahre Philosoph ein Anfänger zu sein und zu bleiben habe, »weil er immer wieder die ›Sache‹, um deren Klärung es geht, mit eigenen Augen zu sehen verpflichtet ist und

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7. Die Entfaltung phänomenologischer Reflexion

nung. Wir werden auf uns aufmerksam, als So-Da-Sein, das sich erst zu finden habe, um überhaupt für sich selbst (wirklich-wirklich) einstehen zu können. Wieweit das uns aber trägt bleibt immer noch offen. – Das alles im Blick mag man sich möglicherweise erinnern, (ob zurecht oder nicht, lassen wir hier auf sich beruhen) an den bekannten und viel traktierten Satz Fichtes aus der ersten Einleitung in die Wissenschaftslehre von 1794. Etwa, was für eine Philosophie man (für sich) wähle, hänge davon ab, was man (selbst) für ein Mensch sei. Zumindest aber ermöglicht es unser irritiertes So-in-der-WeltSein praktisch und theoretisch, vor sich und anderen verantworten zu können. Als unsere geltende Welt-Habe und unser uns zurecht vertrautes Selbst-Sein – Und so schauen wir also philosophierend immer wieder als Erstes auf uns Philosophierende selbst. Wirklich ich, wirklich du; wir, die ›Selbst‹ und ›Welt‹, als Vorstellungen unsers Da-und-So-Seins reflektieren können, und auch sollen. – Stellen wir uns beispielsweise diese Reflexionen vor. ›Werke‹, beispielsweise, der Kunst, Religion, Wissenschaft, auch der Philoso­ phie selbst, die wir existentiell reflektieren, wirken auf uns zurück; treiben unsere Reflexionen weiter. Dieses sich so entfaltende Selbst­ verständnis und Welthaben entzieht sich Versuchen, sie unter lineare Kausalordnung (einer eineindeutigen erkenntnistheoretischen und ontologischen Ordnung) zu begreifen. Sicher, wir selbst sind es wirklich, die mit unseren Reflexionen unsere Welt als So-in-derWelt-Sein konstituieren; als verlässlich für uns leisten. Aber genauso fordert diese ›Wirklichkeit‹ unsere Reflexionen immer weiter heraus Schon Form und (offene) Gestaltung unserer existentiellen Reflexion der Reflexionen sind dafür Beleg. ((›Wer wäre also mit Blick auf unsere ›wirkliche Wirklichkeit‹ ›Koch‹ und wer ›Kellner‹?)) – Schon der Aufbau dieser theoretisch und praktisch komplexen philosophi­ schen Akte als reflexive Reflexion der Reflexionen lässt uns nicht zur Ruhe kommen. Da ist die existentielle Form der Selbst-Selbstgestal­ tung, und praktisch gewendet die Vorstellung der daraus folgenden Selbst-Selbst-Verantwortung. Schon Anlass und Beginn des Philoso­ phierens, – die erlebte Herausforderung unseres irritiert- und pertur­ biert-seins und die Möglichkeit der Reflexion – ist ausgerichtet auf letztmögliches Selbst- und Welt-Verständnis. Eingeschlossen dabei sich in seiner Wesensdeutung derselben nicht auf irgendeine eigene oder fremde vor­ gefasste Meinung verlassen darf.« (Schriften zur Philosophie. Dritter Band. München 1965. S 395)

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7.3. Die Form philosophischer Grundlagen-Forschung für unser Da-und-So-Sein

auch die praktische Grund-Lage eines sinnvoll gelebten In-der-WeltSeins. Gewissheit-haben-können! Sinn und Seelenfrieden finden! Das was Mensch also auszurichten scheine, ist (wie paradox) eine treibende ›ungewisse Sicherheit‹.250 (»Endlos weit getrieben, von unsichtbarer Hand«. Witt/Heppner) Wir Philosophieren also nicht, wie man gemeinhin zu wissen vermeint, um sich endlich in eine feste dogmatisch Ordnung zurückziehen zu können. Sondern, es mag sein wie es wolle, um wirklich in Wahrheit-Da-Sein (zu können). Das schließt die ›Unruhe des eigenen Herzens‹ ein; das ›um sich selbst Angst zu haben‹. – Unumgänglich bleibt aber gerade deswe­ gen ein sich-selbst-rechtfertigen-wollendes (und könnendes) Philo­ sophieren. Ausgerichtet auf den Anfang als unseren existentiellen Grund für unser wirkliches Da-und-So-Sein. Philosophieren wird zu einer ›endlosen‹ Leistung, des immer wieder Beginnens-sollens exis­ tentieller Reflexionen; und wohl auch (um des Anfangs willen) immer wieder ein reflektieren müssen. – Das fordert die phänomenologisch methodisch eingeführte Einschränkung. Die unser systematisches Philosophieren begleitende Forderung, nicht auf vorgefasste Meinun­ gen, umlaufende Theorien (von wem auch immer) zu bauen; nicht auf diese oder jene Autoritäten oder gar Moden zu setzen. Stattdessen immer wieder ›von Anfang an‹ die Leistung der Wiederholung des Aktes der ›Urstiftung der Philosophie‹.251 Existentielle Phänomeno­ logie gestaltet und verwirklicht so die Idee der Ursprungsphiloso­ phie. Das rechtfertigt phänomenologisches Philosophieren nun auch praktisch als philosophische Grundlagen-Forschung des Da-und-SoSeins. – Ein Anspruch, der unser Philosophieren in Bewegung hält. Bei Jean Paul so: »Es muss eine höhere Wonne geben als die Pein der Lust, als das warme weinende Gewitter der Entzückung. Wenn der Unendliche sich ewig freut und ewig ruhet, so wie es am Ende, es mögen noch so viele ziehende Sonnen um gezogene Sonnen gehen, eine größte geben muss, welche allein still schwebt: so ist die höchste Seligkeit, d. h. das, wonach wir streben, nicht wieder ein Streben – nur im Tartarus wird ewig das Rad und der Stein gewälzt -, sondern das Gegenteil, ein genießendes Ruhen, das far niente der Ewigkeit, wie die Griechen die Insel der Seligen in den westlichen Ozean setzen, wo die Sonne und das Leben zur Ruhe niedergehen.« (Werke Band 9. S 78) 251 Schon 1932 beschreibt Emmanuel Levinas (geradezu ›poetisch‹) die Intention phänomenologischen Philosophierens: »Die Phänomenologie will genau genommen die Weisheit aus den flüchtigen Liebschaften, den ausgelassenen Spielereien und der kompromittierenden Gesellschaft mondäner Unterhaltungskünstler und Mode­ schwätzer heraushalten.« (Freiburg. Husserl und die Phänomenologie. In: Die Unvor­ hersehbarkeiten der Geschichte. Freiburg. München 2006. S 80) 250

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7. Die Entfaltung phänomenologischer Reflexion

Unsere phänomenologische Reflexion ist radikale existentielle Reflexion; ist also reflexive Reflexion der Reflexionen unseres wirkli­ chen Da-und-So-Seins. Allerdings nicht gesetzt als ein transzenden­ taler Triumph. Sondern wir erfahren uns selbst, als die, die, irritiert und perturbiert, nicht mehr umhinkommen, sich selbst (endlich) immer wieder in den Blick zu nehmen. Wir selbst als wirkliches So-in-der-Welt-Sein; mit unserer Fragilität, unserer Verzweiflung, Sorge, aber auch unserer Hoffnung, unserem Glauben- und Liebenkönnen; und auch mit unserer Möglichkeit Gestalt und Gestaltung dieser Reflexionen selbst wiederum reflektieren zu können. Das was man, in Anlehnung an Husserl, ›Akte höherer Stufe‹ nennen könnte. Kurz, sich wirklich und wesentlich vorzustellen mit den Gestalten unserer Endlichkeit; mit unseren (heimlichen, auch verheimlichten) problematischen und positiv beglückenden, immer aber, so oder so, sinnstiftenden Ressourcen. – Wirklich staunenswert, ja unheimlich ist also wahrhaftig vieles, nichts aber staunenswerter, unheimlicher für uns Menschen sind wir Menschen selbst. Wer möchte Sophokles da widersprechen? Was, so ist in allem Ernst zu fragen, bleibt uns mit Blick auf diese Lage noch zu tun? Ich antworte, unentwegt ausschauhalten nach uns selbst. Gerade dass Mensch nach seinem Wesen, seiner wesentliche Wirklichkeit, (was bin ich wirklich-wirk­ lich?) irritiert und perturbiert Ausschau halte, halten könne, halten müsse, mache möglicherweise schon sein ihn umfassendes Wesen aus. Eine Vorstellung, die nun nicht mehr als Verlegenheit oder gar als pseudotheologische Spekulation abgetan werden darf. Sondern das Potential, das jedermann mit sich selbst, – als radikale Reflexion – diesseits jeder Schulphilosophie, verwirklichen könne. Zumindest in einem sollten wir wieder ohne weiteres Überein­ kunft herstellen können. Das ›Wesen des Menschen‹ wird sicher nicht mehr zu denken sein als geheimnisvolle (beispielsweise gnostische) ›Substanz‹ (Pneuma); oder eine ›Idee‹, jenseits der für uns durch uns selbst fassbaren Möglichkeiten; als eine ›Gedanke Gottes‹. Sondern, es stellt sich uns phänomenologisch vor, als unsere konstituierte und zu entfaltende, vielgestaltige, existentielle wirkliche Wirklich­ keit unseres Da-und-So-Seins. – Phänomenologisch ›konstituiert und entfaltet‹ meint nicht spekulativ konstruiert und willkürlich philosophisch behauptet. Sondern vorgestellt als tatsächlich von uns vielgestaltig erfahrene wesentliche Wirklichkeit; eine wahrhafte Wirk­ lichkeit, die sich nicht mit dieser oder jener engen philosophischen, theologischen, oder auch psychologischen, soziologischen Definition

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7.3. Die Form philosophischer Grundlagen-Forschung für unser Da-und-So-Sein

endgültig ›auf einen wissenschaftlichen Begriff‹ bringen ließe.252 – Das und so ist also der wirklich wirkliche Mensch, der sich weder auf diese oder jene wissenschaftlich-eingeschränkten noch metaphy­ sisch-grundlosen Bestimmungen festlegen, dorthin ausrichten, und praktisch verpflichten lasse. So werden phänomenologisch sowohl idealistische als auch naturalistische, positivistische, szientistische Vorstellungen der Anthropologie ›existentiell-wirklich aufgehoben‹. Das im Blick bestimmt nun auch die weitere Entfaltung der Fra­ gen (und Antworten) für unser Philosophieren. Die Leistung Husserls besteht hier darin, dass gerade sein streng systematisches Philoso­ phieren diese Möglichkeiten zu einem existentiellen Philosophieren eröffnet habe. (Dass das nicht seine Absicht gewesen sei, braucht hier keiner ausführlichen Begründung mehr.) Für uns heißt das aber nun noch genauer, noch gründlicher, historisch auch ›rücksichtsloser‹ zu reflektieren. Konkret noch radikaler; existentiell unser wirkliches Wesen als wirkliches So-in-der-Welt-Sein zu reflektieren. Unsere existentiell-phänomenologische Reflexion des wirklichen Wesens bewegt sich keineswegs auf dünnem Eis ›blinder Begriffe‹; ist keine Vorstellung bodenlos-überbordender irrationaler Spekulation. (Wie­ der gilt, einfach hinzuschauen und diesem Hinschauen selbst wieder zuzuschauen.) Dazu gehört wiederum, es kann nicht anders sein, die Reflexion der Reflexionen des Selbstverständnisses existenz-phä­ nomenologischen Philosophierens; das ist zu leisten immer wieder und immer wieder von Anfang an. (Es mag enervierend sein; wo bleibe denn hier anthropologische Progression; und der Fortschritt der Philosophie‘?) Dass diese existentiell-anthropologischen Mög­ lichkeiten phänomenologischen Philosophierens, sich reflektierend erst nach und nach entdeckt, entfaltet, verwirklicht, (und nicht als lern- und lehrbare Formeln vorliegen), liegt selbst in der historischen und systematischen Ordnung dieses Philosophierens. Phänomenolo­ gisches Philosophieren fundiert sich als methodisch entfaltete exis­ 252 Phänomenologische Perspektive lässt sich weder auf Realismus (oder Positivis­ mus) der Wissenschaften noch auf spekulativen Idealismus festlegen. Das gilt im Übrigen auch für (darin oft missverstanden) Husserl selbst. Beispielsweise: »Überall ist jeweilige Objektivität für das anschauende und denkende Subjekt in einer Man­ nigfaltigkeit noematischer Strukturen konstituiert, und, zu diesen in Gegenrichtung gehörig, mannigfaltige Noesen, Weise der Subjektaffektion und Aktion. Überall konstituiert sich die Welt im cogito, aber dem cogitare als Titel für ein System von reflexiv schaubaren und beschreibbaren Akten entspricht ein cogitatum als ein System schaubarer und beschreibbarer Gehalte auf ontischer Seite.« (Hua.XXV. S 98)

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7. Die Entfaltung phänomenologischer Reflexion

tentielle reflexive Reflexion der Reflexionen des Menschen; gefasst als Vorstellungen wirklichen So-in-der-Welt-Sein. Das ist ein sicherer (vorsichtiger) Aufbau unseres philosophischen Selbstverständnisses entlang der Reflexionen unserer intentional geordneten Erfahrungen. Ist ein wirkliches Philosophieren Schritt für Schritt. Das sind Refle­ xionen meiner und deiner Erfahrungen. So rücken wir uns selbst miteinander (vielleicht auch ›gegeneinander) als ›gespanntes‹ wirkli­ ches und gerade so wesentliches Da-und-So-Sein in den Blick, sind also nicht mehr, uns selbst-vergessend, ausgerichtet auf abstraktes, konstruiertes Forschungs-Objekt ›Mensch‹. Oder kontrastieren uns anthropologisch nicht mit ›nicht-‚ oder Außermenschlichen; etwa mit der ›Pflanze‹, dem ›Tier‹ oder ›Gott‹, oder (auch das ist im Umlauf) mit ›der Maschine‹.253 – Für die nächsten Schritte unsere Reflexionen kurz zusammenge­ fasst; und dabei noch konkreter auf uns selbst (›wir irritiert Philoso­ phierenden‹) ausgerichtet. – Das ›wirkliche Wesen‹ des Menschen ist keine willkürliche Erfindung. Weder also eine wissenschaftliche Abs­ traktion, noch eine metaphysische Setzung; kein frommer Wunsch; keine utopische Hoffnung auf ›Irgendwanneinmal‹. Unser Philoso­ phieren ist als reflexive Reflexion der Reflexionen existentielle Bewe­ gung; ist ein ruheloses Unterwegs-sein mit Blick auf diese unsere wesentliche Wirklichkeit. Diese ›Bewegung‹ führt uns nun nicht von unserem wirklichen Selbst-Sein und Welt-Haben weg; sondern lässt uns bei uns selbst endlich als wesentlich wirklich ankommen. Philo­ sophische Reflexionen entfalten sich also als existentielle Reflexion der Reflexionen; Reflexionen, die sich nun selbst immer weiter (nicht ›tiefer‹) herausfordern. Keineswegs schwinge also Philosophierender sich auf zu ›unbe­ dingten Höhen‹; so als ob philosophierend ›göttliche Ideenschau‹ oder irgendeine ›absolute Erfahrung‹ vollzogen werden könne. Und Philosophieren, vergleichbar ›großer Kunst‹, geniale, außergewöhn­ liche Menschen erfordere. – Phänomenologisches Philosophieren bewegt sich vielmehr endlich-existentiell als reflexive Reflexion der Reflexionen unseres So-in-der-Welt-Seins. Endlos scheinende, müh­ Vgl. Ronald D. Laing. »Wir haben Erklärungsversuche gemacht: der Mensch als Tier, der Mensch als Maschine, der Mensch als bio-chemischer Komplex mit gewis­ sen Eigenarten. Größte Schwierigkeit aber bleibt, ein menschliches Verstehen des Menschen in menschlichen Begriffen zu erreichen.« (Phänomenologie der Erfahrung. Frankfurt/M 19736. S 23) 253

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7.3. Die Form philosophischer Grundlagen-Forschung für unser Da-und-So-Sein

same Reflexionen. (Wer bisher gefolgt ist, wird dem wohl nicht widersprechen.) Das kann in Wirklichkeit auch nicht anders sein. Unser Da-und-So-Sein ist nicht ›unbedingt‹ eingefugt, fest-gestellt, verschraubt; und (darauf werden wir immer wieder gestoßen) ist auch nicht einholbar mit einem wissenschaftlich engem Welt- und Selbstverständnis. – Reflexionen können also selbst immer wieder reflektiert werden. Dazu gehört auch eine Eigenart unseres Mitein­ ander-Philosophierens, die nun selbst nicht aus unserem philoso­ phischen Blick fallen dürfe. Die Entfaltung der Reflexion hin zur existentiellen Reflexion der Reflexionen (daran hängt im Übrigen auch die Erfahrung der praktischen Gestaltung unserer Freiheit) lässt Raum für immer weitergehende, umfassendere, sogar ganz andere Welt- und Selbstwahrnehmung. So rückt auch das sogenannte ›Irrationale‹ nicht nur als selbstverständliche Wirklichkeit für unser Mensch-sein in den Blick, sondern sogar als existentielles Potential des Philosophierens.254 Das mag uns aufgeklärten Menschen genehm sein oder nicht. (Was nicht sein darf, kann nicht sein!) Aber wir können diese Wirklichkeit gar nicht aus den Augen verlieren. Werden wir daran mit Blick auf uns selbst doch immer wieder ›erinnert‹. Wir werden aber auch nicht vergessen, dass Appelle an das Irrationale sich höchst zweischneidig verwirklichen können. Denn ›Irrationa­ les‹ umfasse, so Ernst Robert Curtius, „nicht nur das, was höher ist als alle Vernunft, sondern auch das Untervernünftige und das Unvernünftige. Das muss auch dem Geist- und Vernunfthass einer gewissen pseudoromantischen Richtung der heutigen Philosophie entgegengehalten werden.«255 Existenz-phänomenologische Reflexion der Reflexionen führe sich nicht nur im Blick auf unsere umfassende wirkliche Wirklichkeit vor, sondern fundiere sich nun sogar einschließlich des sogenannten 254 Ein weiter Begriff von Vernunft und Ratio auch (in Anlehnung an Thomas von Aquin) bei Josef Pieper. Eine Ausrichtung, die mit unserer phänomenologischen Perspektive durchaus vergleichbar zu sein scheint. »Ratio ist nicht die auf den Bereich des natürlicherweise Erkennbaren eigenmächtig sich einschränkende ›Vernunft‹. Ratio meint hier – ganz allgemein – die Kraft des Menschen, Wirklichkeit zu fassen. (…) ›Ordnung der Vernunft‹ also ist die Ordnung, die der dem Menschen in glauben und wissen offenbaren Wirklichkeit entspricht.« (Zucht und Maß. Über die vierte Kardinaltugend. München. S 28; 29) 255 Deutscher Geist in Gefahr. Stuttgart. Berlin 1932. S 20 f. Zit. nach: Dirk Hoeges. Kontroverse am Abgrund: Ernst Robert Curtius und Karl Mannheim. Frankfurt/M 1994. S 196

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7. Die Entfaltung phänomenologischer Reflexion

›Irrationalen‹. Das fordert von uns Hinzuschauen auch auf verdrängte, als für aufgeklärt-wissenschaftliches Philosophieren unpassend ver­ meinte Bedingung unserer Reflexionen. – Vor diesem Hintergrund, dieser Absicht, wird daher noch fordernder, Auskunft und Rechen­ schaft zu geben: woher oder wovon wir überhaupt die Sicherheit nähmen, diese unsere existentielle Reflexion, als Verwirklichung phä­ nomenologischer Grund-Gestalt zu behaupten? Es braucht zunächst wieder ein Hinschauen auf unser phänomenologisches Philosophie­ ren selbst. Nämlich was es für die phänomenologische Vorstellung des ›Wesens einer Sache‹ überhaupt brauche? Das führt ein die Bedingungen nicht nur um ›etwas‹ überhaupt zu erkennen; son­ dern um, phänomenologisch davon nicht zu trennen, ›etwas‹ kon­ stituieren zu können. – Wir werden dabei aufmerksam auf die Bedeutung der ›phänomenologischen Einstellung‹; und die von dort her geforderten Methoden. Das phänomenologische Philosophieren, das Husserl durch seine ›Logischen Untersuchungen‹ auf den Weg gebracht hat, sind sinnstiftende Leistungen einer ausdrücklich zu vollziehenden ›phänomenologischen Perspektive‹. Man kann sogar von einer ›Reihe von Denk-Handlungen‹ sprechen. Leistungen, die es diesem Selbstverständnis nach, aber wiederum eigenes zu reflek­ tieren gelte. Zusammengeführt als (nicht mehr nachlassend) streng systematisches Denken-Denken. – Reflexionen (als nun reflexive Reflexion), die nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der ›Krise der Philosophie‹ des ausgehenden 19. Jahrhundert gelesen werden müssen. Eine ›Krise‹, die die Philosophie dieser Jahrzehnte, unab­ hängig von einer Bindung an diese oder jene Schule, sich immer wieder selbst bescheinigte.256 Wobei nun aber für Husserl, und das ist von besonderer Bedeutung für uns, ›Krise der Philosophie‹ nicht nur Krise einer ›Fachwissenschaft‹ bedeutete. (Vergleichbar den viel besprochenen Grundlagenkrisen der Mathematik, der Physik, dieser Jahrzehnte.) Sondern er beschreibt ›die Lage‹ (vor allem) in seiner Spätphilosophie, darüber hinaus und umfassender, eben existentieller; als ernste, entscheidende Herausforderung der abend­ Beispielsweise Heinz Heimsoeth: »In weiten Bereichen der europäischen Bildung und Wissenschaft hatte die Philosophie im Verlaufe des späten 19. Jahrhunderts Einfluss und Interesse verloren. Es fehlte nicht an Stimmen, die ihre Rolle im geistigen Leben der Menschheit nur noch historisch sehen und verstehen wollten. (…) Es ist vielleicht die schwerste Krise, welche die europäische Philosophie je durchzustehen hatte.« (Wilhelm Windelband/Heinz Heimsoeth. Lehrbuch der Geschichte der Philo­ sophie. Tübingen 1957. Fünfzehnte durchgesehene und ergänzte Auflage. S 582); 256

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7.3. Die Form philosophischer Grundlagen-Forschung für unser Da-und-So-Sein

ländischen Kultur, ja, des abendländischen Menschen selbst. Diese Wahrnehmung eines schicksalhaften Zusammenhanges von (abend­ ländischer) Kultur und (abendländischer) Philosophie hat ihn, mehr oder weniger nachdrücklich vorgebracht, sein gesamtes Forscherleben herausgefordert. (Heidegger hat daran angeknüpft.) Und dass diese Erfahrung einer ›Krisis abendländischer Kultur‹, nach wie vor aktuell sei, braucht wohl kaum breiter Ausführung. Das macht wiederum auf­ merksam darauf, dass Husserls Phänomenologie wahrhaftig nicht in Erkenntnis- und Wissenschafts-Theorie, oder transzendentaler Logik ›aufgehe‹. Von ihm selbst sicher auch nicht so angelegt war. (Hier braucht es endlich eine Perspektive, die sein Philosophieren auch mit der von ihm als bedrückend wahrgenommen Lage des Abendlan­ des wahrnimmt.) In Husserl, schreibt Ludwig Landgrebe zurecht, lebte ein Hunger nach ›unverkürzter Wirklichkeit‹, »der allen großen Menschen in jener Zeit vor und um die Jahrhundertwende eigen war, der Drang aus den erstarrten und zum Selbstzweck gewordenen Institutionen hinaus, aus einer Kunst, die nur mehr Formenspiel war, aus einer Wissenschaft, die sich oft begnügte, selbstgenügsam, aufs äußerste verfeinerte Handwerk zu sein, zurück zur Ursprünglichkeit eines Lebens, das sich hinter den falschen Fassaden des Jugendstils verbarg.«257 Hinzugefügt sei noch, dies werfe auch ein Licht auf seine nicht nachlassende leidenschaftliche Auseinandersetzung mit Naturalismus, Psychologismus, und Historismus. Seiner Wahrneh­ mung nach Verderber der ›reinen‹ wissenschaftlichen Philosophie, eine praktische Folge ihrer Theorien wäre eine verhängnisvolle Ver­ zerrungen des menschlichen Selbstverständnis. – Husserl hat sich an diesen ›existentiellen‹ Fragen auf seine Weise, wahrhaftig buchstäb­ lich leidenschaftlich abgearbeitet.258 Das sollte auch unsere existentielle Phänomenologie neu sehen lassen. Dass wir, die Geschichte der Phänomenologie aus dieser Perspektive gesehen, zurecht also unser existentielles Philosophieren phänomenologisch nennen dürfen. Dass das mit dem Selbstverständ­ Edmund Husserl zum Gedächtnis. In: Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch (usw.) Amsterdam 1975. S 13 258 »Das naturalistische Vorurteil muss fallen. Nur aus diesem Vorurteil entspringt jener die natürliche Welt mechanisierende Determinismus, der die Welt zu einer prin­ zipiell unverständlichen und sinnlos dahinlaufenden Maschine macht. Ein Vorurteil, das den Naturalisten zugleich bind macht für die Leistung der gesamten historischen und der generalisierenden Wissenschaften von der personalen Geistigkeit und Kul­ tur.« (Hua. IX. S 143) 257

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7. Die Entfaltung phänomenologischer Reflexion

nis ›transzendentaler Phänomenologie‹ nicht übereinkommen könne, nehmen wir zur Kenntnis. – Wahr ist, wir haben existenz-phäno­ menologisches Philosophieren tatsächlich eingeführt und zu recht­ fertigen versucht, als reflexive Reflexion der Reflexionen wesentlichwirklichen Da-und-So-in-der-Welt-Seins. Der so-philosophierende Mensch rückt sich dabei selbst gerade durch sein radikal existentiel­ les Philosophieren wesentlich als irritiert und perturbiert in seinen Blick. Weit entfernt sind wir von einem Philosophieverständnis, das den vernünftig Philosophierenden geradezu triumphierend als den ›ideal Aufgeklärten‹ feiert.259 – Um diese Fragen nun vorerst abzuschließen. (Sie werden sich trotzdem immer wieder ›quer‹ stel­ len; und uns herausfordern.) Wie immer man im Einzelnen dazu stehen mag, man es sich vorstellt, entfaltet und, je nach seinem Vorverständnis, zurecht legt. Eines sollte man wohl ohne weiteres, zumindest historisch offensichtlich, aus all dem herauslesen können. Schlicht und ohne weitere Hinweise von der Phänomenologie, dem phänomenologischen Philosophieren, der originären phänomenologi­ schen Schule, zu sprechen, wäre schon historisch zumindest eine arge Verkürzung der Wirklichkeit. Darüber hinaus aber auch eine problematische Verengung phänomenologischen Philosophierens; vor allem eine Verleugnung ihrer Möglichkeiten systematisches Phi­ losophieren wirklich umfassender zu entfalten. So mag es also auch nur bei einer oberflächlichen Betrachtung verwundern, dass diese ›unruhige‹, auch existentielle (reflexive) Reflexion der Reflexionen, dieses phänomenologische Denken nicht auf den Bereich eines rei­ nen, klar gesetzten philosophischen Bereichs (der Vernunft) begrenzt geblieben ist. Anders als beispielsweise, trotz aller Unterschiede im Einzelnen, die Philosophie des Neukantianismus. (Daher scheint es nun auch angemessener, die unterschiedlichsten phänomenologi­ schen Reflexionen, nicht unter der Überschrift ›Schule‹, sondern weit

Bernhard Groethuysen legt sich das Selbstverständnis platonischen Philosophie­ rens so zurecht. »Der philosophische Mensch ist ein in sich vollendeter Typus, der ideale Mensch, in dem als in einer besonders gearteten Seele, die seelische Struktur, die seelische Hierarchie in einem sinngemäßen Über- und Unterordnungsverhältnis der seelischen Schichten zur Darstellung gelangt. Er ist der Schauende, der seiner Seele Bewusste, der Einsichtige, der Wache, der Mensch, der über dem Leben steht, der Freie. Aus dem Dumpfen, Unbewussten ist er zu klarer Bewusstheit, von Dunklen zur Helle gelangt.« (Philosophische Anthropologie. München und Berlin 1923. S 25) 259

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7.3. Die Form philosophischer Grundlagen-Forschung für unser Da-und-So-Sein

treffender als ›phänomenologische Bewegung‹ zu sammeln.)260 – Und es ist gerade auch diese ›offene‹ Vorstellung phänomenologischer Reflexion, die sich nach wie vor in den Wissenschaften auswirkt. Phänomenologische Reflexionen werden eingebaut in Formen und Methoden etwa der Psychologie, Psychiatrie und Medizin; und finden sich auch in Soziologie, Kunst- und Literaturwissenschaften. Die philosophischen Moden mögen nun sein wie immer es dem Zeit­ geist beliebt. Phänomenologie bleibt als ›breite Bewegung‹ nach wie vor systematisch relevant. Gerade wegen ihrer Möglichkeit Perspek­ tiven der unterschiedlichen wissenschaftlichen, ästhetischen, philo­ sophischen Reflexionen, einschließlich der existentiellen Reflexion selbst, zu sammeln, zu reflektieren. Dies zeigt ausdrücklich ihre wissenschaftsgeschichtliche und nicht nur philosophiegeschichtliche Präsenz. – Kurzum, ›phänomenologische Bewegung‹ veranstaltet sich also »als denkerische Tendenz und begriffliche Disziplin«. Phä­ nomenologisches Philosophieren erschöpft sich auch heute nicht als bloß historische Reminiszenz. Dazu Helmut Kuhn, man dürfe, schreibt er, sogar behaupten, dass, »überall dort, wo diese ((phänome­ nologischen)) Nachwirkungen ganz dahingeschwunden« seien, die Philosophie überhaupt aufgehört habe, »sie selbst zu sein.«261 Die existentielle Phänomenologie weiß sich ausdrücklich diesen Vorgaben, diesem Selbstverständnis dieser ›phänomenologischen Bewegung‹ verpflichtet. So gilt für unserer Philosophieren auch die phänomenologische Grund-Forderung ›sachbezogenen Philosophie­ rens‹. Von uns eingerichtet, als: ›zurück zur wesentlich wirklichen Wirklichkeit‹ unseres Da-und-So-Sein. Dafür brauche es existentielle Reflexion der Reflexionen. So bliebe nun aber zu fragen, ob es denn dann überhaupt noch wesentliche-Merkmale gebe, gleichsam ein ›Schibboleth‹, die es erlaubten, ein Philosophieren, sicher in den Horizont der phä­ nomenologischen Bewegung einzustellen (oder eben nicht)? Kurz, was diese zweifellos historische Vielfalt der Perspektiven, die sich selbst als ›phänomenologisch‹ setzten, in der Ordnung phänomeno­

Darüber scheint es auch Philosophiegeschichtlich keinen Streit zu geben. Vgl. beispielsweise, Poul Lübcke. Die phänomenologische Bewegung. In: Anton Hügli; Poul Lübcke (Hg.) Philosophie im 20. Jahrhundert. Band 1. Phänomenologie. Herme­ neutik. Existenzphilosophie und Kritische Theorie. Reinbek bei Hamburg 1992 261 H. Kuhn (1981). S 146 260

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7. Die Entfaltung phänomenologischer Reflexion

logischen Philosophierens verbleiben lasse (oder eben nicht)?262 Was denn als das Paradigma vorgestellt werden könne, für jedes, auch zukünftige ›phänomenologische Philosophieren‹? Ein erstes wäre sich methodisch streng ausrichten auf die Wahrnehmung vorgestellter Sache; und dazu gehöre weiter ›getrieben‹, die ›reflexive Reflexion der Reflexion der Sache‹. (Man denke an das ›Prinzip aller Prinzi­ pien‹).263 Das nehmen wir als die notwendige methodische GrundForm für jedes phänomenologische Philosophierens. Für uns zugleich der bleibende Bezug zu unserer wesentlich wirklichen Wirklichkeit. Von dort her fundieren wir (Husserl würde das sicher als Verzer­ rung zurückweisen) also auch unser existentielles Selbstverständnis phänomenologischen Philosophierens. So entfalten wir, kurz zusam­ mengefasst, unser phänomenologisches Hin-Schauen auf uns selbst als uns reflektierendes So-in-der-Welt-Sein. Also ein methodisch existentielles Sich-Selbst-Besinnen; ein theoretisches und auch prak­ tisches Ordnen des Philosophierens als existentielles Philosophieren eines wirklich Philosophierenden.

262 Sogar grundsätzlich in der Ordnung des Philosophierens. Vgl. dazu Dieter Hen­ rich: »Ins Philosophieren können Menschen von sehr weit voneinander abliegenden Feldern aus gezogen werden – von der Religion gleichermaßen wie von der Mathe­ matik, um nur zwei Wurzeln zu nennen. So liegen auch die Sonderbegabungen, die man in ihr antrifft, nicht eng beieinander.« (Die Philosophie im Prozess der Kultur. Frankfurt/M 2006. S 57 263 Vgl. Ideen I. § 24. Das Prinzip aller Prinzipien. (Hua III/1)

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8. Phänomenologisch-Existentielle Reflexion als Sinn-Verstehen

›Wenn wir ganz allgemein und vorläufig etwas Zentrales an dem was ›Sinn‹ ist, bezeichnen wollen, so ist es eine wesenhafte Verstehbarkeit oder Intelligibilität alles dessen, was in der gewachsenen Sprache unter ›Sinn‹ begriffen wird.‹264 (Hedwig Conrad-Martius)

Phänomenologisches Philosophieren verwirklicht sich also nicht in der Form unbedingter metaphysischer Sätze. Sondern (theoretisch und praktisch) als von uns zu leistenden Reflexionen unserer Wirk­ lichkeit. Die Reflexion der Reflexionen unseres Selbstseins und Welthabens greift nicht ins Leere. Und stellen sich auch nicht ab auf Konstruktion absoluter, reiner Vernunft. Existenz-phänomeno­ logisches Philosophieren setzt sich als letztmöglich philosophische Grundlagen-Forschung; das ist also als reflexive Reflexion der Refle­ xionen für irritiertes und perturbiertes wirkliches Da-und-So-Sein. Diese so in den Blick gerückte, ineinander verwobene korrelative Leistung phänomenologischen Philosophierens, und das überhaupt So-Ordnen-können unserer Reflexionen sind nicht fundiert durch eine festgeschriebene Tradition. Phänomenologisches Philosophieren rechtfertigt sich selbst immer wieder ausschließlich systematisch. Dieses systematische Philosophieren reflektiert nun auch selbst die (nicht nur philosophische Bedeutung) existentieller Reflexion. Wahr ist, dass die Herausforderungen, die sich mit dieser schlicht anmutenden Ausrichtung auf uns selbst aufdrängen, phänomenologi­ sches Arbeiten nicht zur Ruhe kommen lassen. Was diese gesuchte wirkliche Wirklichkeit denn für uns bedeute? In welchem Bezug Mensch als wirkliches So-in-der-Welt-Sein und sein wesentliches Menschsein stehen; und auch als Möglichkeit stehen können und vielleicht auch sollen? – Das alles sind nicht nur theoretische Fragen. Als ob es nur um die Befriedigung einer wissenschaftlichen Neugierde 264

Sinn und Sein. In: Schriften zur Philosophie. Dritter Band. München 1965. S 403

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8. Phänomenologisch-Existentielle Reflexion als Sinn-Verstehen

gehe. Oder etwas weitergesponnen, um Reflexion anthropologische objektiver Formen, oder noch allgemeiner um Wissenschafts-Theo­ rie der transzendentalen Logik der Geistes-Wissenschaften; u. ä. – Menschsein (Dasein) und Mensch als Sosein wohne, so sagt man zurecht, eine eigenartige Dynamik inne. Eine Lebenspotential; ein für uns praktisch präsentes (auch ›irrationales‹) Sollen. Erfahrbar etwa schon mit Blick auf die Deutungen geschichtlichen Werdens der Menschen; oder auch als ›Zurechtlegen einer Biographie‹; das ›biographische Selbstverständnis‹ des Einzelnen (finden und erfinden einer ›Lebensgeschichte‹). Im großen Ganzen zusammengefasst und markiert: als wissenschaftlich unfassbares leben, sich erfahren, sich selbst vorführen, ordnen können und sollen, und sich behaupten wollen (und scheitern). (Frei nach Rilke, ›wir ordnen, es zerfällt; wir ordnen es wieder und zerfallen selbst‹). Jedermann könne wenn er wolle, dies bei sich selbst wahrnehmen. Unser wirkliches Da-und-So-Sein ist phänomenologisch reflek­ tiert, die Vorstellung existentieller Spannung. Mit dieser phänome­ nologischen Perspektive, verlassen wir jede bloß biologische, natura­ listische Anthropologie. Das ist schon für die Reflexionen unseres historischen und biographischen Selbstverständnisses unabdingbar Voraussetzung. Das bleibt ausdrücklich in unserem Blick; bestimmt unsere existentiellen Reflexionen. Und hier nun weiter gefragt. Was dies denn sei, das uns fortgesetzt so in einer dramatischen Bewegung, in einer nicht nachlassenden Spannung zu halten scheine? Und das schon vor jedem Philosophieren. Ob denn dafür ein Grund, vielleicht eine Ursache oder zumindest ein Anlass ausgemacht werden könne? Etwa psychologisch, soziologisch, historisch? Mensch ein, von was und wem auch immer Getrieben- oder Gezogener? (Denken wir hier an psychoanalytische oder individualpsychologische Perspektiven.) Und ob die Ausrichtung ›himmelwärts‹, ›fortschrittlich‹, oder in Wirklichkeit sich unabdingbar (so in Hölderlins Schicksalslied) als ›Fallen‹ und ›Stürzen‹ gestalte? Wohin also ›die Reise‹ (für mich; für dich; für uns Menschen) gehe; ob es ein ›gutes Ziel‹, einen ›glückli­ chen Abschluss‹, einen Sinn für uns gebe? Ob unser Fortschreiten, wie Novalis meint, letzten Endes ›immer nach Hause‹ führe? (Welch ein tröstlicher Gedanke) Oder aber am Ende für uns, so Gottfried Benn, nur zwei Dinge vorstellbar blieben: ›die Leere und das gezeichnete Ich‹.265 – Schon dieses so fragen können, müssen und sollen gehört 265

Sämtliche Gedichte. Stuttgart 20024. S 320

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8. Phänomenologisch-Existentielle Reflexion als Sinn-Verstehen

als Wahrnehmung und Reflexion dieser Bewegung dem so-fragenden Menschen unbedingt zu. Ist selbst schon uns zugehörige existentielle Gestalt und historisch-faktische Gestaltung. – Das also ist die Lage in der Mensch als So-in-der-Welt-Sein sich vorfindet; die ihn nicht zur Ruhe kommen lässt; ja, nicht in Ruhe lassen kann. Dieses sich selbst wahrnehmen, begreifen, reflektieren ist schlicht Menschen-Leben leben266 Theoretisch und praktisch. Sich also, das ist das uns Eigene, nicht nur so und so in bestimmten Welt-Zuständen faktisch vorzufin­ den, und, mehr oder weniger, zurechtzufinden, (gerade so wie auch jedes Tier eine bestimmte Welt haben). Sondern Welt und Selbst als offene Ordnung oder Unordnung, als vertraut oder befremdend, als heimatlich bergend oder abweisend feindlich, sich zuzuordnen; es sich so als herausfordernd vor-, gegenüber- oder entgegenzustellen. Das ist sich selbst sinnhaft einzurichten; sich gerade als irritiertes und perturbiertes So-in-der-Welt-Sein zu reflektieren. Welt wird also erst als reflektierte unsere Welt-Habe; Dasein reflektiert sich erst als Sosein. Und sei es auch geleistet als eine abweisende, trotzige Hal­ tung; etwa, darauf lasse ich mich überhaupt nicht erst ein! ich nehme es ohne weiteres wie es kommt! Ich lebe, gleichsam, nur auf Sicht! geh mir einfach aus der (gegenwärtigen) Sonne! – Welt-Haben und So-Sein werden also durch das ›Selbst‹ bestimmt. Zunächst als ein auffällig werden, dass So-in-der-Welt-Sein als unsere Wirklichkeit, nicht einfach hingenommen werden brauche, solle, müsse; sogar nicht einmal könne. Sondern als Aufruf (unseres irritierten und perturbie­ ren So-Da-Sein) zu vernehmen; oder sagen wir, als Reflexion, auf eine erst zu begreifende, verstehende, gelebte Ordnung hin zu gestalten sei. – Dazu gehört allein schon die geradezu alltägliche Erfahrung, dass Wirklichkeiten für Mensch immer weitere Möglichkeiten zu implizieren scheinen. Oder so, dass wir – frei nach Musil – unser wirkliches In-der-Welt-Sein immer auch mit den uns konstitutiv zugehörigen, uns ›herausfordernden‹ (du kannst! du sollst!) Möglich­ keiten zu leben haben.267

266 Bei Boethius so: »Wisse, Menschenglück ist gar wankelmütig,/Wisse, flüchtig die Güter auch./Eins steht ewig fest als ein uns Gesetztes:/Nichts was irdisch erzeugt, beharrt.« (Trost der Philosophie. S 34) 267 »Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, dass er seine Daseinsberechtigung hat, dann muss auch etwas geben, dass man Möglichkeitssinn nennen kann. Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; und wenn man ihm von irgend etwas

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8. Phänomenologisch-Existentielle Reflexion als Sinn-Verstehen

8.1. Existentielle Reflexion als Hermeneutik Unser So-in-der-Welt-Sein, das drängt sich also auf, werde er- und gelebt, als (so scheint es bislang) unabweisbare Erfahrung unseres Könnens, Sollens, Müssens. – Die philosophische Form existentieller Phänomenologie ist radikale Reflexion dieser Reflexionen. Der Philo­ sophierende macht sich auf, sich systematisch selbst-selbst zu besin­ nen. Systematisch, seine Welt-Habe und sein Selbst-Sein als Refle­ xionen zu reflektieren. Das schließt geschichtlich und biographisch angelegtes Hinschauen (auch das sind Reflexionen) selbstverständ­ lich nicht aus. – Dass nun gerade dieses, so radikal angelegte existen­ tielle Philosophieren dokumentiere, dass Mensch sich nach wie vor und im Grunde nicht, immer noch nicht, mit sich selbst und seiner Welt auszukennen scheine, ist uns nicht verborgen geblieben.268 Wir also, trotz (vielleicht sogar wegen?) Aufklärung, Wissenschaften, Technik, wissenschaftlichem Philosophieren, nach wie vor, ›nicht sehr verlässlich zu Hause sind/ in der ((doch eigentlich)) gedeuteten Welt‹.269 – Phänomenologische Reflexion rückt gerade deswegen Welt- und Selbst-Verstehen, auch -Verstehen-können, einschließlich der eigenartigen Möglichkeit des ›nicht-verstehens‹, als konstitutive Akte in unseren Blick. Dazu gehören auch nicht-verstehen-wollen, oder, vielleicht auch (weshalb auch immer) nicht-können. Selbst­ verständlich miteinbezogen ist auch das ›uns begreifen-wollen der anthropologischen Wissenschaften‹. Und zu alldem gehört selbst­ verständlich wiederum unsere existentiellen Reflexionen selbst zu reflektieren. Phänomenologisches Philosophieren schließt also auch hier die eigene Leistung existentieller Reflexion der Reflexionen mit ein. Dass das nicht auf die (gefürchtet) ›Münchhausen-Paradoxie‹ (›Münchhausen-Trilemma‹) hinausläuft, wird sich uns später prak­ tisch zeigen. Weder brauche es einen Zirkelschluss, noch verlieren wir uns in unendlichem Regress; und rigide dogmatische Setzungen, haben sich uns von Anfang an sowieso verboten. Das sind mehrstu­ fige Reflexionen. Geführt als existentielles Philosophieren, das die erklärt, dass es so sei, wie es denn sei, dann denkt er: Nun es könnte wahrscheinlich auch anders sein.« (Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek bei Hamburg 1987. S 16) 268 Paul Natorp beschreibt es so: »Leben will ohne Zweifel sinnhaft und seines Sinnes gewiss sein, und doch kennen wir kaum ein anderes Leben, als solches, das von seinem Sinn fast nur dadurch weiß und nur dessen ganz gewiss ist, dass es ihn nicht hat, nicht seiner sicher ist, sondern ihn eben sucht, ihn vermisst, nach ihm fragt.« (2000). S 5 269 Duineser Elegien. Die Erste Elegie

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8.1. Existentielle Reflexion als Hermeneutik

Leistung, das Leisten, den Leistenden selbst, in den Blick rücken. Es sind systematisch und auch systematisch-historisch sich entfaltende Möglichkeiten der Besinnung, des Schauen, der Reflexion; und ein sich Selbst-Besinnen, ein Schauen-schauen; Reflexionen-reflektieren als bleibende Herausforderung. So bestimmt sich phänomenologisch unser wirkliches Welthaben und Selbst-Sein als ›eigenartiges Korrelat‹ der Reflexionen unseres wirklichen Welt- und Selbst-Verstehen. Ein Welt-SelbstHaben; und Selbst-Selbst-Sein. Existenz-phänomenologische Refle­ xionen also immer einschließlich der Reflexion unseres radikalen ›Arbeitens‹. Welt- und Selbst-Verstehen-können, und das Verstehen des Welt- und Selbst-Verstehens als das uns, auch im Horizont der Aufklärung, der Wissenschaften also zustehende Recht. Das scheint nun eine, mit Blick auf uns selbst, sowohl praktische ›Not­ wendigkeit‹, als auch die Erfüllung einer uns zugehörigen eigen­ artigen theoretischen Neugierde. – Eine kurze Anmerkung um ein (vielleicht sogar naheliegendes) Missverständnis nicht weiter stark zu machen. Dieses Philosophieren gestaltet sich zwar, theoretisch und praktisch als Ordnen des für uns existentiell-notwendigen Weltund Selbst-Verstehens; also als Reflexion unserer konstitutiven Leis­ tungen für unser Welt- und Selbst-Selbst-Sein. Keineswegs aber mit der bloßen Absicht einer (vordergründig) ›pragmatischen‹ oder ›technischen‹ Erfüllung; etwa um dies oder jenes in einen erkenntnis­ theoretisch stimmigen wissenschaftlichen Zusammenhang bringen zu können. Sondern wortwörtlich ›radikal-existentieller‹. Phänome­ nologisches Philosophieren führt eine existentielle Hermeneutik ein; ein Selbst-Selbst-Verstehen als Gestaltung der uns existentiell posi­ tiv zukommenden Erfahrungen irritierenden und perturbierenden wesentlich wirklichen So-in-der-Welt-Seins. Kurzum, Irritation und Perturbation als existentielles Potential phänomenologischen Philo­ sophierens. – Dass sich das nicht einklinkt, in einen historischen oder philologischen Begriff der ›Hermeneutik‹ braucht nicht vieler Worte. (Hier interessiert nicht die Geschichte der Hermeneutik, sowie sie sich in Philologie, Rechtswissenschaften und Theologie entfaltet hat.) – Dieses Welt- und Selbst-Verstehen, und das Verstehen des Weltund Selbst-Verstehen, sind sicher nichts weniger als erkenntnis- und wissenschafts-theoretische Herausforderungen. Dazu gehört auch das Fragen nach Form und Gestaltung des sich-selbst-in-den-Blickrücken (können). Aber eben nicht nur. Es sind phänomenologisch geschaut, immer auch existentielle Akte, die repulsiv auf die prekäre

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8. Phänomenologisch-Existentielle Reflexion als Sinn-Verstehen

Lage des Menschen, seines irritierten und perturbierten So-in-derWelt-Seins verweisen. Das besorgte Selbst-Interesse des Menschen, – auch das eingeführt als konstitutive Leistung -, zwingt geradezu auf sich selbst und sein als herausfordernd-erlebtes So-in-der-Welt-Sein aufzumerken. Immer wieder selbst; und immer wieder selbst von Anfang an. Das ist Philosophieren als phänomenologische Gestal­ tung der existentiellen Grund-Erfahrung. Reflexion unserer uns von Anfang an verwirrenden Lage. Ich kenne mich mit mir selbst und meiner und unserer Welt-Habe im Grunde nicht mehr aus! – ›Verstehens-Fragen‹ (Was ist das? Wie geht das? Habe ich das richtig verstanden? Was genau meinst du? oder auch, Ich verstehe dich nicht.) sind uns vertraut, sind alltäglich präsent. Von dort aus weitergefragt. Etwa, in welcher Weise, und ob überhaupt, sich die wis­ senschaftlichen und philosophischen Sprachen, dieses So-Sprechen, diese nun streng geordneten Symbol-Systeme, als ausdrückliche Reflexionen von Welt und Selbst von Alltagssprache unterscheiden? Zunächst wie immer wir das uns zurechtlegen. Verstehen selbst fordert als unsere Leistung in jedem Fall unser existentielles SelbstVerstehen. Also dieses so selbstverständliche überhaupt miteinan­ der-sein können; in den Blick gerückt als unser uns ›verstehen-kön­ nen‹. Dieses ›Verstehen-können‹ scheint uns im ersten Hinsehen undramatisch-gewöhnlich; beschäftigt aber unterschiedlichste Wis­ senschaften. (Schon das lässt aufmerken.) In unserem Blick also sind wir selbst als Herausforderungen für wissenschaftliche Reflexio­ nen des Verstehen, Verstehen-könnens; auch des Nicht-verstehens; Missverstehen, Missverstehen verstehen-können, usw. Ausgerichtet etwa, auf beispielsweise pädagogische, psychologische, kommunika­ tionstheoretische und -praktische, soziologische, und auch logische, erkenntnistheoretische Bedingungen unseres uns Verstehens. – Dass sich hier nicht nur (sogenannte) Geisteswissenschaften herausgefor­ dert sehen, kann nicht wirklich überraschen. Die Fragen, die sich hier stellen, beschränken sich schon bei literarischen Texte, oder Quellen und Funde aus der Vergangenheit, nicht bloß auf ›sinnentsprechendes Verstehen‹ oder ›sinnverfehlendes Missverstehen‹. Und so sehen sich nicht nur, im engeren Sinne, Literaturwissenschaften, sondern auch Psychologie, Soziologie, Linguistik, Theologie (sie sogar als eine der Urformen der Hermeneutik), Geschichtsschreibung, auch (in einem besonderen Sinne) Psychoanalyse, und, nicht zuletzt Phi­ losophie(Geschichte) gefordert. Verstehen beispielsweise eines litera­ rischen Textes ist also nur eine mögliche Gestalt ausgezeichneten

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8.1. Existentielle Reflexion als Hermeneutik

Verstehens. Phänomenologisch wäre nun auch diese Grund-Form der Hermeneutik eingeführt als Möglichkeit der existentiellen Reflexion der Reflexionen. Nämlich gerade in der (wie man sagt) ›Befragung eines Textes‹, ein phänomenologisch sich selbst (man mag es wollen oder nicht) ›ein-lesen‹, und sich selbst durch den Text auch befragen zu lassen, seinen existentiellen Anspruch wahrzunehmen.270 – Vor­ gestellt ist das (zunächst) als praktischer Zusammenhang, als dichtes alltäglich präsentes Gefüge von Sprache, Sprechen, Kommunikation, und existentiell als Welt-Habe, Selbst-Wahrnehmung. So scheint uns dies alles ohne weiteres und wie unwillkürlich zu geschehen. – Phänomenologisch reflektiert führt sich dies aber als Bedingung unser uns existentielles-Selbst-Verstehen vor. Es rücken also, diese ›hermeneutischen Fragen‹ phänomenologisch radikal reflektiert, die konstitutiven Möglichkeiten unseres Da-und-So-Seins selbst in den Blick. Und das schon mit der Unumgänglichkeit unseres existentiellen Fragen dieses Fragens; etwa, das uns fragen nach der Sprache, dem Sprechen, Hören, (usw.); nun immer breiter reflektiert als unser Vermögen, als ›repulsive Leistung‹ der Existenz; unseres wirklichen (irritierten und perturbierten) Da-und-So-in-der-Welt-Seins. Und nun noch einmal kurz geschaut auf die rational geordneten Sprachen der Wissenschaften; die Symbolsysteme der Kunst, der literarischen Sprache, der Poesie und geradezu notwendig auf dieses philosophi­ sche Sprechen selbst. Es bleiben nämlich dort (besonders auffällig) immer hintergründig existentielle, irrationale Spannungen unaufge­ löst. Mögen diese Wissenschaften auch ihre ›Sprache‹, ihr ›Sprechen‹, und ihre ›Hermeneutik‹, als für sich selbst ›transparent‹ begreifen. – Was immer man nun gegen diese existenz-phänomenologische Perspektive einwenden mag. Eines kann nicht geleugnet werden. Verstehen, verstehen-können (oder sich auch nicht verstehen), ver­ weist uns wirklich auf uns selbst. Wir sind so-da; wir, die wir uns verstehen und reflektieren können, sollen, müssen. – Schon allein das lässt nun noch weiter aufmerken auf die als existentiell-heraus­ fordernd, ja als bedrängend erlebten Erfahrungen unserer ›Welt‹ (als Welt-Habe) und unseres Daseins (als So-in-der-Welt-Sein). Kurzum, auf Vorstellen dieser und jener Möglichkeiten unseres Welt- und Selbst-Haben-könnens. Immer mit der vorausgesetzten Perspektive, trotz allem: zu können, zu dürfen, zu sollen. Diese existentiellen Rudolf Bultmann. Das Problem der Hermeneutik. In: Glauben und Verstehen. Zweiter Band. Tübingen 19682. S 228

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8. Phänomenologisch-Existentielle Reflexion als Sinn-Verstehen

Erfahrungen, die geradezu unwillkürlich (zumindest bei Gelegenheit) auch unser fragiles Mensch-sein überhaupt in den Blick rücken; uns gerade so, mit unseren Reflexionen, als wesentlich irritiert und perturbiert vorstellen. Das mag aufgeklärt-vernünftigen Menschen recht sein oder nicht. Ich mag also die Sterne befragen oder mich (beispielsweise) psychoanalytisch streng-reflektieren; ich führe mir so oder so dabei selbst vor: ›ich weiß nicht was soll Es bedeuten‹!271 – Also, ob wir im Alltag darauf eigens achten und reflektieren, uns ordnet, richtet aus, schon die, vielleicht auch nur schlicht gelebte Erfahrung uns im Grunde‘ selbst dunkel zu sein und zu bleiben. Man denke nur an unser ruhe- und rastloses Suchen und Forschen. (Auch nach einen Menschen, der, wie man sagt, mich endlich, endlich wirk­ lich verstehe.) Dieses uns vertraute, eigenartig paradox anmutende: ›evidente Ahnen‹. Die Mythen, die Religionen, die Künste sind hier ›beredter‹ als die vernünftigen Wissenschaften es bemerken. Dieses sich-selbst-verstehen können, sollen, wollen, und mit Blick auf unsere ›Lage‹ auch müssen, wird phänomenologisch einge­ führt als praktische und theoretische Herausforderung existentieller Reflexion der Reflexionen. Das Philosophieren selbst bleibt dabei nicht außerhalb dieser Fragen des Welt- und Selbst-Verstehens. Die Perspektive existentieller Phänomenologie unterscheidet sich schon damit deutlich von umlaufenden. auch den philosophisch eingeführten hermeneutischen Theorien; reiht sich dem neuzeitli­ chen (modernen) Philosophieren hier also nicht ein und zu. Schon unsere Intention ist anders gerichtet. Wirklicher, radikaler, entschie­ den existentieller! Wir reflektieren ›eingeschränkter‹; und zugleich auch, in einem bestimmten existentiellem Verständnis ›umfassen­ der‹. Verstehen-können überhaupt, und vor allem auch sich- und unsselbst, verstehen-müssen, und weiter, uns-selbst-verstehen-sollen, wird phänomenologisch eingeführt als anthropologisch-existentieller Grund-Akt. Selbst-Selbst-Verstehen also geradezu die Bedingung für wirkliches und wesentliches Verstehen. Als die Grundform endlichen Verstehen-Verstehen unseres Da-und-So-in-der-Welt-Sein. – Wobei diese phänomenologische Perspektive wiederum selbst gesetzt wird als Akt der existentiellen Philosophie; als die Möglichkeit eines Selbst271 Einmal aus einer anderen Perspektive: »Was lebt, erlebt sich noch nicht. Am wenigsten in dem, dass es treibt. Wodurch, worin es also beginn, noch ganz unten und doch in jedem Jetzt pulsend. Genau dieses anstoßende Jetzt ist dunkel, unser unmittelbares Bin und das Ist von allem. Was daran innen ist, wühlt als dunkel und leer.« (Ernst Bloch. Tübinger Einleitung in die Philosophie I. 19717. S 12)

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8.2. Die praktische Bedeutung existentieller Reflexion der Reflexionen

Selbst-Verstehens unseres irritierten Da-und-So-Seins. Das heißt, nicht nur den Akt philosophischer Reflexion reflektieren; sondern auch uns, ›die Philosophierenden‹ selbst, als wirklich reflektierendes So-in-der-Welt-Sein in den philosophischen Blick rücken. Das ist also der Form nach letztmögliche Reflexion ›auf den Weg‹ zubringen; oder so, arbeiten an einer philosophischen Hinterdenklichkeit, die zurecht philosophische Grundlagen-Forschung für unser Da-und-So-Sein genannt werden könne. Ausdrücklich festzuhalten ist, es sind in jedem Fall phänomenologisch konstitutive Leistungen unseres wesentlich wirklichen So-in-der-Welt-Seins. Existentielle Reflexion der Refle­ xionen als philosophische Gestaltung, ein ›Handeln‹, das die wesent­ lich wirklichen Bedingungen unseres So-in-der-Welt-Seins selbst entwirft und vorführt. Dazu gehört die existentielle Reflexion der Reflexionen der Wissenschaften; und nicht zuletzt die Reflexion der existentiellen Reflexion selbst, als reflexive Reflexion. –

8.2. Die praktische Bedeutung existentieller Reflexion der Reflexionen Vergewissern wir uns. Schauen wir hier wieder noch etwas näher hin und ordnen es anthropologisch umfassender ein. – Die Philoso­ phie ist Ergebnis eines Philosophierens. Und Philosophieren ist die Leistung eines wirklich Philosophierenden. Von dieser Zuordnung Philosophie-Philosophieren-Philosophierende interessiert uns jetzt eine von dort aus mögliche anthropologische Reflexion. Wir lesen daraus, dass Mensch sich selbst in seinen Blick rücken, sich-selbstzuschauen vermag. Wie immer wir uns unser So-Da-Sein auch vorstellen, uns zurechtlegen mögen, eines scheint uns immer als schon gesetzt. Der Horizont unserer Reflexionen kann in keinem Fall verlassen werden. Dagegen, so könnte eingewandt werden, spreche doch allein schon die Intention der Wissenschaften auf ›objektive Wahrheiten‹. Ob man sich also mit diesem existentiellen Philoso­ phieren von vorneherein nicht unnötige begrenze; sogar bizarre, den Fortschritt störende ›subjektive irrationale‹ Gedankenschleifen konstruiere? Sich in sich selbst als zufällig faktisches So-Da-Sein verschließe? – Gewiss, phänomenologisches Arbeiten entfaltet sich immer auch praktisch, als existentielles Selbst- und Welt-Verstehen. Welt-Haben und Selbst-Sein werden phänomenologisch erfahren als

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8. Phänomenologisch-Existentielle Reflexion als Sinn-Verstehen

schon praktisch geleistete Leistung unseres Leistens; als existentielle Reflexion der Reflexionen wirklichen Da-und-So-Seins. – Damit wird der Anspruch der phänomenologischen Geltungs- und Wissen­ schaftstheorien im Horizont unseres existentiellen Philosophierens gerade nicht eingeebnet. Wir bleiben dem phänomenologischen Grund-Anspruch verpflichtet philosophische Grundlagen-Forschung für unser verunsichertes Da-und-So-Sein einzuführen. Aber nie ist phänomenologisch existentielles Philosophieren ein Lebenswelt-fer­ nes, abstrakt-verstiegenes Spiel reiner Vernunft. Was immer wir also auch in unseren phänomenologischen Blick zu rücken versuchen. Es sind und bleiben Reflexionen (unsere reflexive Reflexion dabei nicht ausgenommen) wesentlich wirklichen Menschen. Reflexionen, die unserem irritierten und perturbierten Selbstverständnis nun sogar als Potential zugehören.272 Bleibt man nun mit seinem Philosophieren innerhalb transzen­ dentaler Ordnung, erfährt man es durchaus als stimmig, als ›gel­ tungssicher‹. Man scheitert aber, seine Reflexionen umfassend prak­ tisch, als Gestaltungen der reinen Vernunft, als transzendentale Gestaltung zu verwirklichen. Das Verdienst Husserls ist es, gerade mit seinem (leidenschaftlich) transzendentalen Philosophieren, mit all dem ihm zu Verfügung stehenden historischen Kenntnissen und systematischen Möglichkeiten, uns diese Problemlage, diese Aporie, vorgeführt zu haben. – Das alles vor Augen, sollte eine Konsequenz für unser Philosophieren unumgänglich sein. Ein Ergebnis, das sicher nicht allen Philosophierenden wird ›schmecken‹ können. Philoso­ phieren und seine existentielle Intention, Einstellungen, Perspekti­ ven, Methoden sind in einen ›unsere‹ Lebenswelt mitumfassenden Horizont zu stellen. Das benennt unser Da-und-So-in-der-Welt-Sein. Von dort her, und als konstitutiver Akt auch daraufhin, reflektiert es, nicht zuletzt auch sich selbst. Sicher das umfasst auch irgendwie ein ›darüber-hinausreichen‹; ein ›transzendieren‹; aber nur soweit wie unsere Reflexionen für uns selbst schon ›transzendent‹ vorstellen. – Zumindest die Spannungen zu neuzeitlichen Philosophien der Vernunft liegen nun frei. Etwa so in den Blick gerückt: ›Etwas‹ wird uns, wie auch immer vorstellig; wird anschaubar, wird reflektiert als ›Phänomen‹. Es reflektiert sich phänomenologisch also ausdrücklich 272 Vgl. dazu Emmanuel Levinas: »Philosophie als Schlaflosigkeit, als es erneutes Erwachen inmitten der Gewissheiten, die schon das Wachsein zum Ausdruck bringen, in Wirklichkeit aber noch oder immer Träume sind.« (Die Unvorhersehbarkeiten der Geschichte. Freiburg/München 2006. S 171)

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8.2. Die praktische Bedeutung existentieller Reflexion der Reflexionen

als Reflexion. Und bestimmt sich so entlang ›unserer Intentionalität‹. Das weitet die Begriffe der (auch wissenschaftlichen) ›Wirklichkeit‹ aus und verengt (fokussiert) sie zugleich ›anthropologisch‹. Die Mög­ lichkeit der Reflexion selbst werden also phänomenologisch selbst (›nur‹) entfaltet, werden ›weiter-getrieben‹ bis hin zur reflexiven Reflexion Reflexionen. Von dort her bestimmt sich nicht nur das wissenschaftliche Welt-Verständnis; sondern auch unser Selbstsein (das wissenschaftliches Welt-Verständnis zu leisten versucht); und schließlich sogar auch die möglichen Grenzen unseres ›gespannten‹ Da-und-So-Seins. Von diesen unseren theoretisch wahrgenommenen und praktisch ›gelebten‹ ›Gestaltungen‹ zurück, ›entlang‹ unserer Reflexionen, gilt es die existentiell-letztmöglichen wirklichen und wesentlichen Bedin­ gungen unseres Verstehen-könnens in den Blick zu rücken. Das ist phänomenologische Leistung reflexiver Reflexion der Reflexionen. Oder so, wortwörtlich unsere uns selbst reflektierenden, reflexiven Reflexionen. – Das sind keine, sich gleichsam ›wie von selbst‹ ein­ stellenden, herstellenden sich-rechtfertigenden Formen eines Selbstund Welt-Verständnisses. Philosophieren ist selbst-selbstbewusste Leistung. Eine der wesentlichen Eigenarten des wirklichen Menschen, die seine existentielle Reflexion geradezu erzwingen, verdichtet Ernst Bloch so: »Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.«273- Das begreift sich nicht als theoretisch-abstrakte Sicht auf Mensch-sein, oder, als ein geistreiches Epigramm. Sondern fasst zum einen, eine oft schmerzvolle Erfahrung unseres schon alltäglich gelebten praktisch fragmentierten Selbstverständnisses zusammen. (›Manchmal kann ich mich selbst nicht begreifen‹! ›Bin mir meiner selbst nicht mehr ganz gewiss‹! ›Schau in den Spiegel, und bin mir fremd!) Und fordert darüber hinaus sogar noch weiter, noch radika­ ler heraus. Es stellt nämlich eine kaum beachtete anthropologische Grund-Voraussetzung der Arbeit der Wissenschaften vor. Den Grund aller überhaupt möglichen theoretischen und praktischen Erfahrun­ gen unserer Suchbewegungen. Die Möglichkeiten der Wissenschaf­ ten bleiben nämlich anthropologisch ein-gebunden in Gestalt und Gestaltung unseres wirklichen Da-und-So-Seins. Die Reflexionen der Wissenschaften werden phänomenologisch in den Blick gerückt als Möglichkeiten für existentielle Reflexion. Gleich wie ›kritisch‹ 273

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8. Phänomenologisch-Existentielle Reflexion als Sinn-Verstehen

Wissenschaften sich ihrer ›Sache‹ zuwenden, sie in ihrer ›Eigenart‹ wirklich ›objektiv‹, von jeder subjektiv gebundenen Zufälligkeit selbst frei, allgemein zu begreifen suchen; wie intrikat auch immer wis­ senschaftliche Gebilde und ihre Formen sich bauen, sie bleiben im Grunde gebunden an schon alltäglich (wenn auch vielleicht nur hin­ tergründig) gelebte Möglichkeiten unseres irritierten So-Da-Seins; unserer letzten Endes ›natürlichen Einstellung unseres In-der-WeltSeins. Selbst noch die ›ungeheuerlichste‹ Perspektive der Astrophysik bleibt ›Menschen-Sache‹ (›der gestirnte Himmel über mir‹). – Man wird sagen: trivial. Und trotzdem darf es (zumindest) nicht philoso­ phisch als selbstverständlich übergangen werden. Für phänomenolo­ gisches Philosophieren bestätigt es wieder die Notwendigkeit des Hin-Schauens auf existentielle Grund-Leistungen; also der reflexiven Reflexion der Reflexionen des Menschen als wirkliches In-der-WeltSein. Diese philosophisch radikale Reflexion entdeckt die möglichen Akte der Selbst- und Weltgestaltung als existentielle Leistungen. (Dass das nicht in Psychologismus und Relativismus abgleitet, nicht versucht, Erkenntnisse der Wissenschaften ›aufzuweichen‹, wird uns noch beschäftigen.) Nun weitere kleine Schritte. – Da wären vor allem, nach wie vor und immer wieder, bestimmte existentielle Herausforderungen für unser Philosophieren. Vorstellig werden sie schon mit dem Hin­ schauen auf je mein und unser Leben. – Beispielsweise, So-Da-Sein erfährt sich praktisch in einer immer schon sprachlich erschlossenen Welt. Also einer uns (zweifellos) selbstverständlich vorgegebenen Welt. Ein In-der-Welt-Sein, in der (philosophisch) die Grenzen unse­ rer Sprache mit den Grenzen der (unserer) Welt gleichzusetzen sind. Aber auch einer Welt, als unsere Welt-Habe, in der unübersehbar Sinnlosigkeit, Irrtum, Irrsinn, als Möglichkeiten wirklichen In-derWelt-Seins aufscheinen.. Auch das gehört unserer Welt wirklich zu. Diese so wahrgenommene, erzählte, begriffene, so oder von uns selbst so festgestellte, er- und gelebte Wirklichkeit unseres So-in-der-WeltSeins scheint uns als selbstverständlich. Störendes, irritierendes, beängstigendes dabei integriert. Auch das könne man also verstehen. So sei es eben; und soweit man sehen könne, war es auch nie anders! Dass dieser Befund (etwa, ›Welt als Jammertal‹; oder als ›Midgard‹; u. Ä.) selbst wiederum verstörend und beängstigend wirke, darf nicht als ›überdreht‹ abgetan werden. Hierher gehörte auch die Feststel­ lung, dass, soweit wir überhaupt sehen können, der Mensch nie aufgehört habe, sich Mythen und Utopien von einer ›heilen Welt‹,

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8.2. Die praktische Bedeutung existentieller Reflexion der Reflexionen

einem ›goldenen Zeitalter‹ (als gewesen oder noch ausstehend) vor­ zustellen. – Nun mag man es sich hier und jetzt (für uns moderne Menschen) so zurechtlegen, dass beispielsweise schon die Frage, ›wie wirklich wohl die Wirklichkeit‹ nun wirklich wäre, bloß noch metaphysisch interessiere. Vielleicht dass nun dieses Fragen selbst Psychologen, Soziologen und Philosophen umtreibe. Für praktisch gelebtes Welt- und Selbstverständnis aber wären sie kaum weiterer Aufmerksamkeit wert. Praktisch stellen sich diese erkenntnis- und geltungstheoretischen oder ontologischen Grund-Fragen für und in unseren Alltag tatsächlich wohl eher selten.274 Man habe wahrlich mit der Organisation, der ›Bewältigung‹ seines Alltags genug zu tun! (Und auch ob ein ›Berufsphilosoph‹ sein Leben hier wirklich wesentlich anders gestalte, dürfe wohl mit Fug und Recht bezweifelt werden.) – Kurz und knapp, ›Welt‹ werde selbstverständlich gelebt als unsere geordnete Lebens-Welt; und das einschließlich aller Unge­ reimtheiten, aller Unsicherheiten. Sie ist also gerade so alltäglich gelebte, handfeste Wirklichkeit unseres So-in-der-Welt-Seins. Ist auf diese Weise im Übrigen auch erkenntnispraktisch ›natürlich sinnvolle Welt‹. Ich weiß in der Regel, im sogenannten ›Normalfall‹, wie ich mit ›unserer Welt‹, den Dingen und Sachlagen, umzugehen habe. Was man in diesen oder jenen Fällen, erwarten könne. Wie mit diesen oder jenen Widerfahrnissen (als ›Versicherungsfälle‹) umzugehen sei. – Und auch die Möglichkeiten des sich überhaupt täuschen-könnens, des getäuscht-werden, der Illusion, (u. ä.) ändern daran nichts. Noch die (dann und wann jeden Menschen überfallende) Frage, ob es sich überhaupt lohne, dieses Leben in und mit dieser Welt zu leben, gebe noch Sinn; oder es wird ihr ›Sinn gegeben‹.275 Selbst ein Suizid kann in unsere Welt als sinnvoll eingeordnet werden. (Etwa ›sich in gewissen Lagen, aus dem Leben zu verabschieden, gebe Sinn; sei wohl verständlich‹). Aus dieser Perspektive, achten wir darauf, scheinen Welt- und Selbstverständnis nur schwer voneinander zu trennen sein. Es sind ja praktisch gelebte Möglichkeiten jeweiligen So-in-der-Welt-Sein. – Auffällig scheint, das gehört hierher, dass die neuzeitlich ›horizontal‹ eingerichtete und in Geltung gesetzte Ordnung von Welthaben und Selbstsein sich ›normalerweise‹ selbst zu genügen scheine. Man 274 Dazu: Paul Watzlawick. Wie wirklich ist die Wirklichkeit. Wahn. Täuschung. Verstehen. München. Zürich 198412. 275 Beispielsweise Albert Camus. Der Mythos von Sisyphos.

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8. Phänomenologisch-Existentielle Reflexion als Sinn-Verstehen

könne auch sagen, ›sich nun so zu genügen habe‹. Selbst idealistische Spekulationen sehen sich, trotz aller Höhenflüge, außerstande, in anderen Regionen als der ›Menschen-Vernunft‹, heimisch zu wer­ den. Sich so ›hier und jetzt‹ zu verorten, benennt für den vernünf­ tig aufgeklärten Menschen keine Option, sondern eine praktische Verpflichtung. – Ernsthaft werde also kaum noch mit einem ›unbe­ dingten Letztsinn‹, einer ›vertikal‹ gesicherten ›göttlich absoluten Ordnung‹ (der Ewige habe gesprochen) gerechnet; als ob man hier und jetzt noch glaube, (mit allen Konsequenzen glaube), wirklich unüber­ bietbare Hinter-Denklichkeit leisten, damit den unbedingt-letzten Grund) erreichen zu können. (Selbst die Theologen argumentieren soziologisch, psychologisch, historisch.) Das sei also, so wird man sagen, praktisch kein Thema für unser wirkliches Lebens; und inter­ essiere uns auch theoretisch nicht mehr im Geringsten. (Von den Wissenschaften schweigen wir hier ganz). Um ein ›gutes Leben‹ hier und jetzt leben zu können, brauche man praktisch also anderes! Aber was? (can´t get no satisfaktion.) Das haben wir verinnerlicht. Es wird von uns praktisch auch so gelebt. – Alles, wirklich alles sei irgendwie unaufhörlich im Fluss. Schau doch nur hin wie die Moden wechseln! Und so kümmerten wir uns nicht wirklich um das Gerede von gestern und vorgestern. Selbst philosophisch finden wir ausdrückliches Fragen nach ›Sinn‹ sinnvoll nur wenn sie eingerückt sind, in Erkenntnistheorie, Ontologie, Sprachphilosophie, vielleicht noch entfaltet in anspruchsvollerer, Ratgeberliteratur.276 Dabei Fra­ gen und Antworten klar umrissen. (Etwa, es mache Sinn, die Rosen nach den Winterfrösten noch einmal energisch zurückzuschneiden.) Keinesfalls aber möchten wir vernünftig Aufgeklärten ›Sinnfragen‹ als eingebaut in allgemeine Ermahnungen, oder als Erbauung in pastoraler Sonntagspredigt vorgestellt bekommen. – Man schaue nun, jeder und jede auf sich selbst. Was immer man uns in und mit diesen Aussichten vorsetzt. Und wir auch geneigt sind, es als vernünftig anzuerkennen. Die Beunruhigung bleibt. Allein schon, dass ich es selbst bin, der trotz allem dies und das, und schließlich sich selbst, als irritiert und perturbiert einer Aufklärung bedürftig wahrnimmt, führt (welch eine Ironie) über diese ›rationalen‹ Vorstellungen hinaus.

Beispielsweise, und durchaus zu empfehlen: Wilhelm Schmid. Mit sich selbst befreundet sein. Von der Lebenskunst im Umgang mit sich selbst. Frankfurt/M 2004.

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8.2. Die praktische Bedeutung existentieller Reflexion der Reflexionen

Versuchen wir es also noch einmal so. Ein aufgeklärter Mensch, praktisch und auch theoretisch eingefügt in vernünftige Ordnung, sehe, so versichert man (man sagt es beschwörend auch sich selbst), keinen Grund mehr, grundsätzlich über wirkliche Welt und wirkliches Selbst ›hinausfragen‹ zu sollen, oder gar zu müssen. (Dass wir es ›können‹ sei die erklärungsbedürftige problematische Herausforde­ rung.)277 Die wissenschaftliche Vernunft stelle idealerweise, gerade weil empirisch und rational gesichert, das hinreichend sichere Fun­ dament ›unserer Welt‹. Sie entfalte sich als theoretischer und prak­ tischer Fortschritt. Schon dieses (scheinbar) ›kritische‹ Fragen nach wohin-mit-dem, und warum-überhaupt Fortschritt, sei angesichts der wissenschaftlichen Leistungen rational nicht verständlich; nicht ver­ nünftig.278 Kurz und knapp, den Wissenschaften, ihren theoretischen Leistungen und ihrem, ohne Zweifel auch praktisch relevanten Leis­ tungsvermögen sind wir wahrhaftig zu Dank verpflichtet. Sollte nun ein Fragen tatsächlich noch ernsthaft ›etwas‹ über wissenschaftlichaufgeklärte Perspektiven hinaus suchen (›warum überhaupt‹) dürfe es ohne weiteres und vor jedem Versuch einer Antwort, als ›nicht mehr unseren vernünftigen Sinn‹ entsprechend, als ›wissenschaftlich sinnund bedeutungslos‹ markiert und aus unserem gesellschaftlichen Diskurs ausgegliedert werden.279 Wer von uns möchte sich diesem Zug in wissenschaftlich aufgeklärte Zeit wirklich noch entgegenstel­ len. Möge sich also die Psychiatrie, die Theologie, vielleicht (auf ihre Weise) auch noch die Lyrik mit ›gefühlten‹ Irrationalitäten, mit 277 Den therapeutischen Wissenschaften sei Dank, dies seien Störungen, die ›beho­ ben werden können‹. So schreibt Albert Ellis (Begründer der Rational-Emotiven Therapie). Er könne »Folgendes versprechen: Je wissenschaftlicher, rationaler und realistischer Sie werden, desto weniger werden sie emotional befangen sein. Und im Laufe der Jahre werden Ihre Betrachtungsweisen sich konsolidieren und immer weniger neurotisch werden.« (Training der Gefühle. Heidelberg 2006. S 45) 278 Dagegen polemisiert Erwin Chargaff. Es gebe in unserer Zeit »Leute, die inniger an den Fortschritt glauben als je ein Heiliger an Gott und diese werden mit Recht darauf hinweisen, dass die hinderte von Millionen, die im kommenden Nuklearkrieg umkommen werden, an der Beulenpest nicht hätten sterben können, denn die haben wir überwunden. Eine wissenschaftlich rechtgläubige Biene saugt Honig selbst aus den Leichen von Hiroshima.« (Kritik der Zukunft. Stuttgart 1983. S 27) 279 Denken wir an Ingeborg Bachmanns Gedicht: ›Reklame‹. Wohin aber gehen wir/ohne sorge sei ohne sorge/wenn es dunkel und wenn es kalt wird/sei ohne sorge/aber/mit musik/was sollen wir tun/heiter und mit musik/und denken/heiter/ angesichts eines Endes/mit musik/und wohin tragen wir/am besten/unsere Fragen und den Schauer aller Jahre/in die Traumwäscherei ohne sorge sei ohne sorge/was aber geschieht/am besten/wenn Totenstille// eintritt

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8. Phänomenologisch-Existentielle Reflexion als Sinn-Verstehen

derartig sinnfreien Grübeleien, befassen!280 Psychiatrie und selbst Theologie versuchen, je auf ihre Weise, Irrationales vernünftig-zumachen. Also, das hartnäckige Wünschen nach dem ganz-anderen, die überbordenden Träume, Sehnsüchte, oder die Ängste, ›in unsere Ordnung‹ zu bringen. (Wobei, sei hier schon hinzugefügt, nur noch die ›Lyrik‹ unsere wirkliche Wirklichkeit umfassend auszumachen imstande sei.)281Fragen beispielsweise nach ›existentiellen Sinn‹ wer­ den also ganz folgerichtig, nicht nur aus dem wissenschaftlichen Dis­ kurs, sondern auch (beinahe geräuschlos) aus dem alltäglichen Leben ausgegliedert. Es sei etwas, das einen vernünftig-pragmatisch sich ordnenden Menschen, in und mit seiner technisch, wissenschaftliche geordneten Lebenswelt, theoretisch und auch praktisch nicht mehr wirklich tangieren könne. Wer trotz allem immer noch ernsthaft nach seinen, und unseren ›existentiellen Sinn‹ frage, müsse ›tatsächlich krank‹ sein! (S. Freud) Und wer irgendwelche Visionen habe, möge doch bitte zum Arzt gehen‘! Wir schauen trotzdem noch genauer hin und uns dabei selbst wieder zu. – Woher also diese uns als selbstverständlich vertraute Perspektive? Zunächst fällt historisch eines in unseren Blick. Die sich auf die wissenschaftliche Vernunft verlassende Neuzeit scheint sich nach und nach ein dafür passendes Menschen- und Welt-Bild zurecht­ gelegt zu haben. Die vorneuzeitlichen praktisch umfassenderen, aber auch irrationalen Lebenswelten, hätten sich dem Begriff gebeugt. Als ob man also tatsächlich die Wirklichkeit des Menschen, sein ›dahin­ strömendes‹ Da-und-So-Sein, wissenschaftlich ein- und aufteilen könne; theoretisch trennen in ›objektive‹, voneinander auch praktisch unterschiedene Schichten oder Zonen. Etwa, Leib, Seele, Geist, und vor allem, Vernunft; oder auch Zivilisation und Kultur; Erkennen und Fühlen; oder auch, und gerade von uns nicht zu vergessen, historisches und systematisches Philosophieren. ›Objektivitäten‹, die 280 Etwa Rilke: ›Nicht sind die Leiden erkannt,/nicht ist die Liebe gelernt,/und was im Tod uns entfernt,// ist nicht entschleiert./einzig das Lied überm Land/heiligt und feiert. (Wandelt sich rasch auch die Welt) 281 Hans Reichenbach gibt hier die Antwort: »Dieser Durchsetzung von Wissenschaft mit Dichtung kommt zugleich der Trieb entgegen, sich eine Phantasiewelt auszuden­ ken; und dieser Trieb kann stärker als die Suche nach Wahrheit werden. Man kann den Trieb in Bildern zu denken, ein außerlogisches Motiv nennen, da solches Denken keine Form von logischer Analyse darstellt, sondern psychologische Wünsche befriedigt, die nichts mit dem Intellekt zu tun haben.« Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie. (1953) Braunschweig 1977. S 118)

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8.3. Die quälende Frage nach Sinn

aber nicht als willkürliche Konstrukte vorgestellt und eingesehen; sondern ›ontologisch‹ als ob sie für sich selbst stehende Formen der wirklichen Wirklichkeit vorstellten.282 - Leitend ist dafür ein bestimmtes gesellschaftliches, politisches, ökonomisches Welt- und Selbst-Verständnis. Das sind Perspektiven, die selbst nicht reflektiert werden. So werden aus unserer wirklichen Wirklichkeit einzelne Gestaltungen als Muster isoliert, herausge­ hoben, und nicht nur für sich theoretisch betrachtet (daran wäre nichts auszusetzen), sondern mit einer ontologischen Dignität ›des Unbedingten‹ ausgestattet. – Existenz-phänomenologische Reflexion reflektiert diese Vorstellungen (ohne sie abzuwerten) ausdrücklich selbst als durchaus mögliche Reflexionen unserer Wirklichkeit. Im Blick dabei diese Leistungen also als unsere Möglichkeiten der Refle­ xion. So führen phänomenologische Reflexionen dieser möglichen Reflexionen nicht in noch abstraktere Regionen. (Man kann, sagen wir es so, ›den Teufel nicht mit dem Beelzebub austreiben‹.) Reihen sich auch nicht ein in wissenschaftskritische Betrachtungen. Sondern wir bleiben konsequent bei unserem mühsamen Arbeiten phäno­ menologischen Schauens. Sich Besinnen auf unser Besinnen. Refle­ xionen existentiell zu reflektieren. – So führt phänomenologisches Philosophieren auf uns selbst, die so-reflektieren-können; auf uns als wesentlich wirkliches So-in-der-Welt-Seins; auf uns selbst, die irri­ tiert und perturbiert auch wissenschaftlich-vernünftig zu reflektieren haben; und es können. -

8.3. Die quälende Frage nach Sinn Phänomenologisches Philosophieren entfalten wir weiter als existen­ tielle Suchbewegung; ein sich endlich selbst wahr-zu-nehmen. Dieses sich-selbst-besinnen, schauen, reflektieren-können, stellt also, wis­ senschaftlich zumeist als selbstverständlich übergangen, die GrundVoraussetzung für überhaupt etwas zu verstehen, zu begreifen und handeln zu können. – Diese konstitutive Potenz des Menschen als wirkliches So-in-der-Welt-Sein, überhaupt das sich-einstellen-kön­ nen, nicht zuletzt auf sich selbst, darf uns nicht mehr aus dem 282 Immer noch anregend: Franz Borkenau. Der Übergang vom feudalen zum bür­ gerlichen Weltbild. Studien zur Geschichte der Philosophie der Manufakturperiode. (1933) Darmstadt 1975

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8. Phänomenologisch-Existentielle Reflexion als Sinn-Verstehen

Blick geraten. Damit bleiben wir ausgerichtet auf eine der wesentli­ chen existentiellen Bedingungen existentiell-hermeneutischen Arbei­ tens.283 Die uns zur Verfügung gestellten neuzeitlichen philoso­ phischen Ordnungsmustern der ›reinen‹ Vernunft, die normativen Versicherungen der Wissenschaften für unser endlich aufgeklärtes So-Da-Sein, setzen wir in vertrauter Weise in die (phänomenolo­ gische) Klammer. Man wird zurecht fragen, was denn ›Mensch‹ (wir irritierten und perturbierten) stattdessen an die Hand gegeben werde, um sich mit sich selbst, und seines gleichen, und seiner Welt positiv, konstruktiv, zurecht zu finden. Mensch brauche doch wohl in jedem Fall, Wahrheit, Geltung, Sinn, als Ordnungslinien für sein In-der-Welt-Sein. Und das diesseits allen hochgeschraubten Philoso­ phierens. – Das führt uns wortwörtlich zurück zu der uns von Anfang an ›beunruhigenden Frage‹ nach existentiellen Sinn (für mich; für uns; für unsere Welt). Sie in einen wissenschaftlich-rationalen, oder philosophisch in erkenntnistheoretische oder ontologische Horizonte zu stellen befriedet sie nicht. (Husserl hat für seine transzendentale Phänomenologie allerdings beansprucht, diese, für uns so bedeuten­ den ›Sinn-Frage‹ (zumindest) gründlich umfassen zu können.)284 – Zuerst und zumeist fragen wir, wenn wir nach ›Sinn‹ fragen nicht einmal nach existentiellen Sinn. Sondern weitaus schlichter. Ob beispielsweise, dieses oder jenes Gestalten, oder diese oder jene Widerfahrnis, (u. ä.), irgendwie ›anschlussfähig‹ seien an meine und unsere gelebten Ordnungen. Vielleicht auch nur, ob es für dieses oder jenes Da, praktisch, praktikabel sei, oder, für diese oder jene Situation 283 Vgl. dazu auch (beispielsweise) Rudolf Bultmann: »Ein Verstehen, eine Interpre­ tation, ist – das ergibt sich – stets an einer bestimmten Fragestellung, an einem bestimmte Woraufhin, orientiert. Das schließt aber ein, dass sie nie voraussetzungslos ist; genauer gesagt, dass sie immer von einem Vorverständnis der Sache geleitet ist, nach der sie den Text befragt. Auf Grund eines solchen Vorverständnisses ist eine Fragestellung und eine Interpretation erst möglich.« (Das Problem der Hermeneutik. In: Glauben und Verstehen. Zweiter Band. Tübingen 19685. S 216) 284 »Das an sich erste Sein, das jeder weltlichen Objektivität vorangehende und sie tragende, ist die transzendentale Intersubjektivität, das in verschiedenen Formen sich vergemeinschaftende All der Monaden. Aber innerhalb der faktischen monadischen Sphäre, und als ideale Wesensmöglichkeit in jeder erdenklichen, treten alle die Pro­ bleme der zufälligen Faktizität, des Todes, des Schicksals auf, der in einem besonderen Sinne als ›sinnvoll‹ geforderten Möglichkeiten eines ›echten‹ menschlichen Lebens, darunter also auch die Probleme des ›Sinnes‹ der Geschichte, und so weiter aufsteigend. Wir können auch sagen, es sind die ethisch-religiösen Probleme, aber gestellt auf den Boden, auf den alles, was für uns soll möglichen Sinn haben können, eben gestellt sein muss.« (Hua. I. S 182)

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8.3. Die quälende Frage nach Sinn

passend wäre so zu ›tun‹; so zu ›denken‹; sich darauf einzulassen. – Auch das sind (was auch immer sonst) Selbst-Erfahrungen unter­ schiedlicher ›Welt-Lagen‹; sind also phänomenologisch (korrelativ) gelesen, konstitutive Leistungen wirklichen So-in-der-Welt-Seins; also Möglichkeiten von ›Welthaben‹ und Selbstsein. (Sind also selbst­ verständlich Leistungen der Reflexion der Reflexionen). Das eröffnet uns eine Möglichkeit ›existentielle Sinn-Fragen‹ weiter zu entfalten. Von der Breite möglicher Bedeutungen interes­ siert hier vor allem also die existentielle Bedeutung dieser ›Sinn-Frage‹ selbst. Das ist die für unser fragiles Da-und-So-Sein zumindest hintergründig immer präsente, uns begleitende Grund-Gestaltung, ein sinnvolles Leben-leben zu wollen; zu sollen; zu können; zu dür­ fen. – Eine Selbstverständlichkeit, die für unsere Alltäglichkeit aber nur da-zu-sein-scheint, als eine Leermeinung. Vielleicht auch uns als ›maskiert‹ präsent. Vom sogenannten ›kulturell Hochwertigen‹ bis hin zu den als ›trivial‹ markierten Vorstellungen,285 (›Nur die Kunst rechtfertige das Leben‹! ›Nur die Liebe lässt uns leben‹! u. ä.) In unseren phänomenologischen Blick gerückt als Möglichkeiten existentieller Reflexion. Selbst noch (etwas abstrakter) Resignation, Fatalismus, Nihilismus, Lebensverneinung, sind (wenn, vielleicht auch als problematisch geltende) Antworten auf diese Grund-Frage. – Sind es in Wirklichkeit gerade nicht diese vielfältigen ›Leistungen‹ unserer Suchbewegung, die (allerdings nicht nur) Philosophieren selbst ausrichten und es immer weiter treibe? Das verweist auch auf weitere Bedingungen dieser ›existenz-hermeneutischen Akte‹ (des Selbst-Verstehen und als Verstehen-können-überhaupt); und damit auch auf die Grund-Form des existentiellen Philosophierens. Phänomenologisch in den Blick gerückt als reflexive Reflexion der Reflexionen unseres als irritierend fragil erlebten So-in-der-WeltSeins. Jede überhaupt mögliche Fassung eines So-in-der-Welt-Sein erfährt sich doch, zumindest dann und wann genötigt, sich seiner selbst, mit Blick auf seine Lebensmuster zu vergewissern. Diese und jene gelegentliche Selbst-Vergewisserung (was ist gewesen? was wird sein?) phänomenologisch gesammelt und radikalisiert als Möglich­ keit sich selbst in und mit der wie auch immer erlebten existentiellen Beispielsweise, der 1998 so erfolgreiche Song: ›Wann kommt die Flut/Über mich/Wann kommt die Flut/Die mich berührt/Wann kommt die Flut/Die mich mit fortnimmt/In ein anderes großes Leben.‹ (Witt/Heppner)

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8. Phänomenologisch-Existentielle Reflexion als Sinn-Verstehen

Spannung seines je eigenen Da- und So-Seins zu reflektieren. Diese phänomenologisch reflexive Reflexion der Reflexionen dabei einge­ führt als nicht mehr weiter sinnvoll hinter-denkbare existentielle Bewegung der Selbst-Selbstvergewisserung. – Das ist alles andere als trivial. Für unser Da-und-So-Sein wird es eingeführt als die uns unabdingbar zugehörige existentielle Grund-Gestalt. Nicht als ob dieser phänomenologisch vorgestellte ›Grund-Sinn‹ uns doch noch (zu guter Letzt) hinweise, auf eine transzendente (oder auch bloß ›transzendentale‹) Über-Welt; einen absoluten Ideen-Himmel, irgendwelche jenseitige Wahrheiten. (Allerdings dabei bleibt es auch hier: die Bedeutung der Botschaft bestimmt der Empfänger.) Sondern sowohl Bewegung, als auch Gestaltung und Gestalt, bleiben für existenz-phänomenologisches Philosophieren in jedem denkbaren Fall, präsent als Korrelat unseres wirklichen, leibhaften, endlichen Da-und-So-Seins. Nur so ordnet sich hier und jetzt Wirklichkeit und Möglichkeit unseres wesentlich wirklichen In-der-Welt-Seins; unserer Welt-Habe und Selbst-Seins; unserer Lebens-Welt.286 – Allein dass trotzdem, verdeckt und offen, selbstbewusst oder verschämt, nach wie vor und, trotz aller möglicherweise historisch und biographisch erlebten Frustration, immer wieder, und immer wieder von Anfang an über ›existentiellen Sinn‹ und überhaupt Möglichkeiten eines ›unbedingten Sinnverstehen‹, oder die Angst vor ›Sinn-Verlust‹, ›Sinnlosigkeit‹, verhandelt werde, sollte zu denken geben. Oder, immer noch Menschen in Verzweiflung nach letzten Sinn und Halt ›schreien‹.287 (›Aus der Tiefe rufe ich zu dir‹). Schon die Literatur füllt darüber bekanntlich (nicht nur theologische) Bibliothe­ ken. Man denke nur daran, welche Bedeutung vor allem auch die Psychotherapie diesen Fragen aus Erfahrung praktisch zugestehe.288 286 Alfred Schütz und Thomas Luckmann setzen das so: »Sinn ist eine im Bewusstsein gestiftete Bezugsgröße, nicht eine besondere Erfahrung oder eine der Erfahrung selbst zukommende Eigenschaft. Es geht vielmehr um die Beziehung zwischen einer Erfahrung und etwas anderem.« (Strukturen der Lebenswelt. Konstanz 2003. S 449) 287 ›Ich will wissen, wie es mit mir ausgeht,/wie viele Tage ich noch zu leben habe./ Zeig mir, was für ein vergängliches Nichts ich bin./Mein Leben: nichts als ein paar Tage./Vor dir so gut wie nichts ist dies alles./eine Andeutung nur, ein gewisses Nichts/ist der Mensch (…) Und nun? Worauf soll ich hoffen? (Psalm 39.) Übertragen von Arnold Stadler. In: Die Menschen lügen. Alle. Frankfurt/M und Leipzig 2005) 288 Nachdrücklich bei Viktor Frankl. (Z. B.) Wovon »der Mensch zutiefst und zuletzt durchdrungen ist, ist weder der Wille zur Macht, noch ein Wille zur Lust, sondern ein Wille zum Sinn. Und auf Grund eben dieses seines Willens zum Sinn ist der Mensch darauf aus, Sinn zu finden und zu erfüllen, aber auch anderem menschlichen Sein in

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8.3. Die quälende Frage nach Sinn

– Nicht zuletzt aber wiederum die das phänomenologisches Philoso­ phieren tragende Forderung (unser Stab und Stecken): ›schaue auf dich selbst‹. Das ist ›Reflexion deiner je eigenen Ängste, Hoffnun­ gen, Sehnsüchte‹; deine Erfahrungen der wirklichen Wirklichkeit deines So-in-der-Welt-Seins. Schon etwas als ›sinnlos‹ zu markieren (überhaupt markieren zu können), weist hin auf ein existentiell bedeutsames, für uns ausgezeichnetes Potential. Ein Vermögen, uns sicher nicht weniger als unbedingt zugehörig. Und wiederum ist auch das nicht bloß von erkenntnistheoretischem oder psychologi­ schem Interesse. Dasein vermag sein Sosein nicht nur unmittelbar zu reflektieren; sondern dazu so oder so Stellung beziehen.289 – Etwas mit Blick auf sich selbst so verstehen zu können, führt also das Vermögen vor, ›Sinn‹ als eigene existentielle Qualität aus unse­ rem (schon alltäglichen) In-der-Welt-Sein herauslesen zu können. Das dokumentiert unser ausgerichtet-sein auf Sinn als Sinnstiftung. Sinnhaben also nicht vorgeführt als Zufall, oder als Schicksal, (man habe Sinn oder man habe Sinn eben nicht). Sondern Sinnhaben als eine existentielle Leistung. So wäre denn selbst noch das ›Neinsagen-können (Max Scheler) zu sich selbst‹ eine Möglichkeit unserer Sinn-Ordnung. Nichtweniger eine unser Welt- und Selbst-Haben durchdringende Selbstverständlichkeit. Das alles scheint uns zuerst und zumeist als ganz und gar nicht geheimnisvoll; einer ›tiefen‹ (psychoanalytischen; theologi­ schen; oder philosophischen) Erklärung bedürftig. Dokumentieren wir ›Sinn-Haben‹, ›Sinn-Brauchen‹, Sinn-Verstehen‘ (können) nicht alltäglich schon praktisch mit unserem auf uns selbst und aufeinander bezogenem Handeln? Ja sogar so, dass wir uns dieser Wahrnehmung, phänomenologisch gelesen, diesen ›konstitutiven Akten‹, gar nicht entziehen können. (Ein ›Zusammentreffen eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf einem Seziertisch‹, mag zwar aus dem ›all­ täglichen Rahmen‹ fallen, vielleicht mag uns das verstören, es fällt Form eines Du zu begegnen, es zu lieben.« (Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn. Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk. München. Zürich 19855. S 101) 289 Wolfgang Stegmüller fasst dies aus seiner ›analytischen‹ Perspektive so zusam­ men. Das Problem des Lebenssinn könne so formuliert werden: »Im Wissen um den Tod haben wir ein Wissen um das ›Nichtsein‹. Wenn man alle metaphysischen und religiösen Spekulationen über den Tod ausschließt, also von der Hypothese an ein späteres Weiterleben usw. absieht, besteht die Sinnfrage darin, ob man das Dasein dem Nichtsein vorziehen solle oder nicht.« (Metaphysik. Skepsis. Wissenschaft. Zweite verbesserte Auflage. Berlin. Heidelberg. New York 1969. S 209)

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8. Phänomenologisch-Existentielle Reflexion als Sinn-Verstehen

aber nicht aber aus unserem grundsätzlichen Sinn-leisten-können und -verstehen‘.)290 – Da mag es, das alles im Blick, dann doch etwas verwundern, dass immer noch (zumindest ›theoretisch‹) Unsicherheit darüber zu beste­ hen scheint, was ›existentieller Sinn‹ überhaupt philosophisch oder psychologisch bedeute. Oder gar, und darüber hinaus, ob dieses Fra­ gen nach ›existentiellen Sinn überhaupt‹ noch wirklich Sinn-mache? ›Sinn machen könne‹! Ob man dem also eine wissenschaftliche oder philosophische Bedeutung, die über beliebige subjektive (weltan­ schauliche) Fassungen hinausreiche, vernünftigerweise noch zugeste­ hen könne. Denn, das haben wir aufgeklärten Philosophen endlich begriffen: »Wenn sich eine Frage überhaupt stellen lässt, so kann sie auch beantwortet werden.«291 Allerdings auch nur dann. – ›Sinn‹ begreifen, und zwar als ›vernünftig-praktische‹ Möglichkeit unser wirklichen Wirklichkeit, falle also dann auch nicht aus wissenschafts­ theoretisch vorgestellten Ordnungen.292 – Ob dann dieses trotzdem immer wieder darüber hinaus Fragen, und diese Frage nach umfassen­ den, umfassenderen, Mensch bergenden ›existentiellen Sinn‹ zurecht, als bloße metaphysisch-theologisch-irratonale Reminiszenz endlich endgültig abgelegt; und auch rasch abgefertigt werden könne? Man habe sich um ein ›gutes Leben zu führen‹ ›am besten‹ innerhalb des wissenschaftlich vermessenen Horizonts aufzuhalten. Ein Wör­ terbuch der Psychologie beispielsweise kennt folgerichtig auch nur noch den Eintrag: ›sinnlose Silbe‹.293 – Die Aufgeklärten, also die ›Wissenden‹, die ›Hellen‹, mögen trotz allem nachsichtig urteilen. Manchen Menschen falle es schwer, aus metaphysischen Schlummer, aus irrationalen Träumereien aufzuwachen. Das brauche/müsse die wissenschaftlich Vernünftigen allerdings nicht davon abzuhalten, diese metaphysische, wissenschaftlich sinnlose Frage nach ›den exis­ tentiellen Sinn‹ philosophisch als problematische Schein-Frage zu Auch bei Husserl. »Schließlich hat jedes Weltobjekt, auch jeder bloß materielle Körper in der Welt als ›Objekt‹ den Sinn von etwas, das für jedermann da ist, für jedermann erfahrbar und auch durch Rekurs auf die Erfahrung Anderer bewährbar. Darin liegt, dass jedes Objekt auf die Gemeinschaft der miteinander Lebenden, miteinander Erfahrenden bezogen ist, also auch im Übergang in die transzendentale Einstellung mit diesem Sinn zum Phänomen wird. So hat die Welt einen durchgängig geistigen Sinn, (…).« (Hua. XV. S 110) 291 Ludwig Wittgenstein. Tractatus logico-philosophicus. 6.5 292 Wolfgang Stegmüller. Metaphysik. Skepsis. Wissenschaft. Zweite verbesserte Auflage. Berlin (usw.) 1969 293 München 19759 290

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8.3. Die quälende Frage nach Sinn

dechiffrieren. (Schlag nach bei Rudolf Carnap!) Vielleicht könne sie sogar philosophisch-kritisch gewendet, pädagogisch-utilitarisiert werden, für wissenschaftliche Erkenntnistheorie und Sprachphiloso­ phie? Als Leer- und Lernbeispiel wie Philosophieren nicht sein solle; wie weltanschaulich verunreinigtes Denken in ein Abseits der neu­ zeitlichen Vernunft führe, Mensch in einen metaphysisch-theologi­ schen Irrgarten umherirren lasse. Sogar Gesellschaften den Fortschritt erschwere. Vielleicht also dann doch rücksichtslos als pathologisches Muster dechiffrieren und dieses Fragen psychiatrischer Theorie und therapeutischer Praxis zuweisen. Frei nach Sigmund Freud: ›Wer hier und jetzt immer noch nach unbedingten Sinn des Lebens frage, müsse offensichtlich krank sein‹. Und dass das nach wie vor nicht gerade wenige zu betreffen scheine, führe nur die Macht dieser Menschheitsneurose vor. Umso größere Verantwortung falle den aufgeklärten Intellektuellen zu. Die unaufgeklärten, zum irrationalen neigenden Menschen sollten, wenn es sein müsse, zur Wahrheit auch gezwungen werden. Das mag zwar für die an ›anheimelndes Dämmerlicht‹ gewöhnte, eine schmerzhafte Erfahrung sein. Wobei auch das Aufklären für die Aufklärer nicht ungefährlich sein könne. Darauf hat schon Platon aufmerksam gemacht. Aber ist die Mög­ lichkeit einer ernsten, nüchternen, aber klaren Welt der Vernunft, nicht Opfer wert? – Wie auch immer, eines, so sollte man meinen, könne nicht weiter wirklich in Frage gestellt werden: Der Mensch, – zumindest in der sogenannten ›wesentlichen Welt‹ – lebe heute von Beginn an, wortwörtlich von der Wiege bis zur Bahre, in einer sozial und gesellschaftlich wohlgefügten Ordnung. Eine Ordnung, die auch ein vernünftiges Selbstverständnis einschließe; und es jeder­ mann grundsätzlich ermögliche, sich auf ›wirklich positive‹ Ziele hin auszurichten. Sie mögen noch so unbedeutend scheinen. Wenn wir die Ironie und den Pessimismus streichen, mag ›Candide‹ uns ernsthaft als Paradigma gelten. Sich nicht in dunklen Grübeleien, in metaphysisch-spekulativen Irrgarten zu verirren; jenseitigen Chimä­ ren nachzujagen; (und ›den lieben Gott‹, wie man so sagt, ›einen ›guten Mann‹ sein lassen); und unsere Energien nun tatsächlich nicht mehr ›sinnlos‹ zu vergeuden. Sondern auszurichten auf handfeste, pragmatisch-nützliche Ziele; auf Wahrheiten, die es doch wirklich gebe, von denen Mensch sich herausfordern lassen könne und solle. Dicht zusammengefasst. Endgültig als ausgemacht habe zu gelten, was für neuzeitlichen Menschen überhaupt wirklich ›Sinn-

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8. Phänomenologisch-Existentielle Reflexion als Sinn-Verstehen

mache‹!294 Das wäre die, mit Blick auf seine wissenschaftlich geschärften Sinne gelebte Erfahrung, die tatsächlich zugängliche Welt durch sein rationales Handeln Schritt für Schritt zu ordnen und zu optimieren. Da habe man wahrlich genug zu tun. Wer könne daran ernsthaft noch Anstoß nehmen? Darüber will ich nicht streiten. Aber auch nicht darüber: »Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.«295 Schauen wir also nur weiter auf uns selbst! Unsere ›Sinn­ suche‹ (die ›Sinnfrage‹) braucht keineswegs metaphysisch oder gar theologisch überhöht werden.296 Sie ist, Aufklärung hin oder roman­ tischer Irrationalismus her, auch ohne diese oder jene spekulative Übersteigerung oder szientistische Abwertung, schon für unser all­ tägliches In-der-Welt-Sein existentiell drängend genug; und so auch, zumindest hintergründig, anthropologisch fundamental. Sie stellt die praktische Grund-Frage; gerade für uns, die wir uns nicht selten von allen ›guten Geistern‹ verlassen glauben.297 ›Sinnsuche‹ könne also, schon mit Blick auf unser irritiertes So-Da-Sein philosophisch nicht als leeres Glasperlenspiel markiert, oder wissenschaftlich gar patho­ 294 Einstellung, Haltung, die ›Philosophie‹ des ›modernen, aufgeklärten Menschen‹ fasst Robert Musil (Der Mann ohne Eigenschaften) in dem Kapitel: ›Ulrich zeigt sich im Gespräch reaktionär‹ kurz und knapp: »Und wir sollen, erwiderte Walter mit Schärfe, ›auf jeden Sinn des Lebens verzichten‹?! Ulrich fragte ihn, wozu er eigentlich einen Sinn brauche? Es ging doch auch so, meinte er. (…) ›Was man im Leben braucht, ist bloß die Überzeugung, dass das Geschäft besser geht als das des Nachbarn. Das heißt deine Bilder, meine Mathematik, irgendjemandes Kinder und Frau; alles das, was einen Menschen versichert, dass er zwar in keiner Weise etwas Ungewöhnliches ist, aber in dieser Weise, keinerweise etwas Ungewöhnliches zu sein, doch nicht so leicht seinesgleichen hat.« (S 216) 295 Wittgenstein TLP. 6.52 296 Wobei gerade die (beispielsweise) sich in den Psalmen aussprechen existentiellen Fragen, alles andere als spekulativ und überhöht ›daherkommen‹. Z. B. Psalm 90. ›Alle unsere Tage gehen vor dir dahin./Unsere Zeit hauchen wir aus wie ein Aufstöh­ nen,/das ist alles./Unser Leben dauert vielleicht siebzig/Jahre, wenn es hochkommt, sind es achzig./Noch das schönste daran ist/nichts als Schmerz./Unser Leben ist kurz und schmerzlich.‹ (Übersetzt, nachgedichtet von Arnold Stadler. Vgl. Die Menschen lügen. Alle. Und andere Psalmen. Frankfurt/M und Leipzig 2005. S 64) 297 Beispielsweise auch: Ernst Jünger. »Wie lautet nun die furchtbare Frage, die das Nichts dem Menschen stellt? Es ist das alte Rätsel der Sphinx an Oedipus. Der Mensch wird nach sich selbst gefragt – kennt er den Namen des sonderbaren Wesens, das sich durch die Zeit bewegt? Er wird verschlungen oder gekrönt, je nach der Antwort, die er gibt. Das Nichts will wissen, ob ihm der Mensch gewachsen ist, ob Elemente in ihm leben, die keine Zeit zerstört.« (Der Waldgang. Frankfurt/M 1952. S 87)

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8.3. Die quälende Frage nach Sinn

logisiert werden. Mensch brauche schon für sein alltägliches Leben, angesichts der Erfahrungen ›prekären‹ In-der-Welt-Sein, wenigstens eine ›Spannung‹ hin auf möglichen Sinn. Diese ›Spannung‹ (die sich uns als Hoffnung, oder Glaube aufdrängt) legitimiert auch unsere philosophische Suche.298 Phänomenologisch radikalisiert als existen­ tielle Reflexion der Reflexionen. So stellt sich schon die Sinn-Suche selbst als ein anthropologisches Daseins-Prinzip vor. ›Sinn‹ ist kein ›schönes Ornament‹; etwas, das gehandelt werden könne, wenn, wie man sagt, materielle Lebensnot im großen Ganzen bewältigt wäre; als ob ›zuerst das Fressen komme, dann erst alles andere‹. Allein schon die Sinn-Suche selbst, also die Spannungen nach tragenden Sinn, stiftet Ordnung; die Möglichkeit, um eine als überwältigend gleichgültig erlebte Welt überhaupt ›bestehen‹ zu können. Sinn suchen (und Sinn brauchen; Sinn vermissen) ist damit selbst immer schon ›gespanntes Arbeiten am Sinn‹. Gleich ob ängstlich, skeptisch, resigniert oder mit Sehnsucht und Hoffnung.299 Noch entschiedener Walter Falk. »Man ist befugt, jeder Sinnsuche zu misstrauen, die für den Abgrund des Leids keinen Sinn weiß.« (Leid und Verwandlung. Rilke, Kafka, Trakl und der Epochenstil des Impressionismus und Expressionismus. Salzburg o. J. S 411) 299 Drei mögliche ›Anläufe‹; vorgestellt ohne jeden weiteren Kommentar. Günter Kunert. Achtzeiler: ›Auf toten Flüssen treiben wir dahin/vom Leben und dergleichen Wahn besessen./Was wir erfahren, zeigt sich ohne Sinn,/weil wir uns selbst lägst vergessen./Vom Augenblick beherrscht und eingefangen,/zerfällt der Tag, der Monat und das Jahr./Und jede Scherbe schafft verlangen/nach Ganzheit: wie sie niemals war‹. Adam Zagajewski. Gespräche mit Friedrich Nietzsche: ›Sehr geehrter Herr Nietz­ sche;/ich glaube, Sie zu sehen, ja,/auf der Terrasse des Sanatoriums, bei Sonnenauf­ gang,/wenn der Nebel fällt und Gesang die Kehlen/der Vögel sprengt.// Nicht groß von Wuchs mit einem Schädel, gewölbt wie ein Geschoß,/schreiben Sie Ihr neues Buch,/und seltsame Energie umbrandet Sie:/ich glaube, Ihre Gedanken zu sehen, die tanzen/wie große Heere.// Sie wissen, dass die dunkelhaarige Anne Frank gestorben ist,/auch ihre Freunde und Freundinnen,/die Altersgenossen und ihrer Freunde Freunde/und ihre Cousins.// Ich möchte Sie fragen, was ist Wort, was/Klar­ heit, warum brennen Worte/noch nach hundert Jahren, obwohl die Erde/so schwer ist.// Freilich, es gibt keinen Zusammenhang zwischen der Blendung/und dem dunk­ len Schmerz, der Grausamkeit./ Es gibt mindestens zwei Königreiche,/wenn nicht mehr.// Wenn es aber keinen Gott gibt und keine Macht,/die unterschiedliche Ele­ mente zusammenfügt,/was sind dann Worte, woher kommt/das innere Licht?// Und woher kommt die Freude? Wohn geht das Nichts?/Wo wohnt die Vergebung?/Warum verschwinden die kleinen Träume am Morgen/und die großen wachsen?‹ Christine Lavant. Wieder Nacht. ›Wieder Nacht und doppelt Nacht/links und rechts von meinen Augen/überm Scheitel, unterm Fußtritt/und ganz innendrin in mir,/ 298

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8. Phänomenologisch-Existentielle Reflexion als Sinn-Verstehen

– Dabei ist keineswegs entschieden, ob das auf ein ›Sinn-Apriori‹ (für uns) hinweise? Oder ob ›Sinn‹ sich nur als subjektiv-beliebiger Akt vorstelle. Vielleicht als pragmatisches Verhalten; etwa so zu leben als ob es Sinn für uns gebe, um sich gemeinsam, ohne weitere Störungen (existentieller Reflexionen) den Alltagsgeschäften zuwenden könne. In jedem Fall verweisen Sinn-Ordnungen (dazu gehört schon die Sinnsuche) auf uns selbst; sie reflektieren unser irritiertes und perturbiertes So-in-der-Welt-Sein. Diese Besonderheit unserer Lage darf uns nicht aus dem Blick geraten. Etwa, die Gestaltung, Intensität, Leidenschaft schon der Frage-Stellung; damit auch der ›Rückschlag‹ (die Repulsion) auf den Fragenden selbst. Nicht erst diese oder jene der möglichen Antworten entscheidet also über ihr theoretisches Potential und ihren praktischen Wert für unser irritiertes Da-und-SoSein. Überhaupt braucht die existentielle Bedeutung dieses Fragens nicht erst philosophisch oder psychologisch (oder auch theologisch) umständlich konstruiert werden. Sie wird schon, oft nur notdürftig verdeckt, in alltäglichen Lagen, in trivial scheinenden Vorstellungen mitgefragt; also geradezu praktisch gelebt. Und sei es verdeckt als ›Kyniker‹ oder ›Epikureer‹; oder als Patient einer Psychotherapie. Ver­ gleichbar also einem Schatten, eine lebenslange Begleiterin unseres wirklichen und wesentlichen In-der-Welt-Seins. Lebensbegleitend und lebensgestaltend, gleich ob man darauf achtet oder nicht. – Schauen wir so auf uns selbst werden wir auf uns selbst als irritiertes und perturbiertes Da-und-So-Sein aufmerksam. Das mag uns genehm sein oder nicht. Anderen mögen wir hier etwas vorma­ chen, uns selbst über uns selbst täuschen, wird auf Dauer nicht gelingen. Zumindest unser leibhaftes Sosein wird uns immer wieder an unser wirkliches In-der-Welt-Sein erinnern. Eine herausfordernde (vielleicht auch erschütternde) Welt- und Selbst-Wahrnehmung lasse sich also auch für den ›Abgeklärtesten‹ wohl kaum vermeiden. – Man denke beispielsweise jetzt an die eigenen Gefühle mit Blick auf sich selbst; und weiter, an die Wahrnehmung der Gefühle, die sich nun hier vielleicht, mit diesem, so wird uns gesagt, irrationalen Verlangen nach existentiellen Sinn einstellt. Von einem ›existentiellem Grunddort wo andere Obdach haben,/Licht von Krippe und Gestirn/und voll Vater-Mutter­ wärme,/drin die Christusknospe blüht.// Wieder kalt und doppelte Kälte,/Stein und Bein in allen Adern,/jede eine Eismeerstraße,/wo die Traumtier-Rudel flüchten/und mit ihren Hungerhufen/scharren nach der Elendsflechte,/ und mein Herz ein LappenIglu,/drin ein Wolf das Söhnlein frisst.‹

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8.4. Die Wissenschaften und die existentielle Sinn-Frage

Bedürfnis‹ zu sprechen trifft es; dies scheint unserer jetzt selbst ein­ gesehenen Perspektive, unserem reflektierten Selbstverständnis zu entsprechen.300 So verwundert doch diese eigenartige Verlegenheit, wenn Mensch sich seine vielleicht nur ›nebelhaft‹, vielleicht aber auch schmerzhaft erlebte Sehnsucht nach ›Sinn‹ eingestehen solle. Wer kennt das nicht, dieses um-die-Sache-herum-reden, es vielleicht zu rationalisieren, sich irgendwie vernünftig-zurecht-legen. – Und dass auch Philosophen, oder Theologen, von denen hier (nach wie vor) irgend-eine überzeugende Antwort erwartet werde, sich sogar im Grundsätzlichen nur selten einig scheinen; sogar, und nicht gerade selten untereinander heftig widersprechen, tut ihr übriges zu unserer Verwirrung. Sie seien es doch, so sagt man, die sich berufsmäßig damit auseinanderzusetzen hätten; oder es traditionell zumindest sollten. Wohin also soll Mensch sich in seiner, zumeist stillen, vielleicht sogar, vor sich selbst (soweit dies überhaupt möglich sei) verdräng­ ten‚ existentiellen Not‘ wenden? Eine praktische Not, die, das sei nicht vergessen, auch unsere geschichtliche Lage (unseren, wie man sagt, ›Zeitgeist‹) widerspiegelt.

8.4. Die Wissenschaften und die existentielle Sinn-Frage Unsere wissenschaftlich aufgeklärte Moderne scheint auf unsere existentiellen Fragen keine befriedigende Antworten zu wissen. Die Wissenschaften, die wissenschaftliche Philosophie erklären sich dafür nicht zuständig. Vielleicht appelliert man auch an uns als selbstver­ antwortliche Individuen. – Wenig ›Sinn‹ gäbe es phänomenologisch aber nun sich einzuordnen in diesen oder jenen der bekannten ›Jam­ merkreise‹. Diesem Arbeiten mit ›wilden Analogien‹ und bemühtdestruktiven Konstruktionen. Unterschiedliche Perspektiven, die darin übereinzukommen scheinen, die tatsächlich herausfordernde Leidenschaftlich vorgetragen bei Teilhard de Chardin. »Beweisen Sie mir, dass eines Tages nichts mehr von meinem Werk übrig bliebe, weil es nicht nur einen Tod des Individuums und einen Tod der Erde, sondern auch einen Tod des Universums gibt – und Sie töten in mir die Triebkraft allen Tuns. Versprechen Sie meinem Sein Jahrtausende personalen Lebens oder übermenschlichen Nutzen in etwas Größerem als es selbst. wenn am Ende dieses Zeitraums ihm die Vernichtung auflauert, so ist das genauso, wie wenn der Tod morgen über mich käme: ich würde nicht den kleinen Finger rühren, um besser zu werden.« (Mein Universum. Olten und Freiburg i. Br. 1965. S 13) 300

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8. Phänomenologisch-Existentielle Reflexion als Sinn-Verstehen

›Sinn-Frage‹ ausschließlich unter das Label ›Kulturverfall‹, ›Nieder­ gang der Werte‹, ›Verlust der Mitte‹, ›Untergang des Abendlandes‹, (u. ä.) zu stellen.301 Damit wäre unsere existentielle Suchbewegung endgültig den Geschichtswissenschaften, der Soziologie, der Psycho­ logie überantwortet. – Welche Optionen wären denn dann unserem ›sich und seinen Sinn suchenden‹ Da-und-So-Sein noch angemessen? Wirklich für uns, die wir in und mit dieser wirklichen Welt zu leben haben (und auch leben wollen). – Wohl kaum ein Mensch bei Verstand, werde nun ernsthaft vorschlagen, sich auszurichten an vorneuzeitlichen Jahrhunderten. Der angeblich ›guten alten Zeit‹. Oder gar pauschal ein ›zurück zur Natur‹ fordern. Zurecht dürfe gefragt werden, was man mit dieser Direktive denn meine? Welche ›Natur‹, welche ›Natürlichkeit‹ man mit einer solchen Weisung im Auge habe?302 Wirklicher Mensch bleibt als So-in-der-Welt-Sein wesentlich wirklich geschichtlich gebunden. Selbst noch seine mög­ liche Kritik, Opposition oder Auflehnung dagegen bleibt innerhalb geschichtlich gewordenen, sich so entfaltenden Horizont jeweiliger Lebenswelt. Und wieder gilt, es mag genehm sein oder nicht: Hic Rhodus, hic salta! Niemals könne Mensch, um diesen bekannten Satz zu bemühen, zweimal in den gleichen Fluss steigen; andere Wasser fließen nach. Und wirklich alles ohne zu verweilen ist in Bewegung.303 Beispielsweise, Hans Sedlmayer: Es gebe Symptome der Zeit die vorstellten, »dass es außer den individuellen Leiden so Erkrankter auch ein Leiden der Zeit gibt, dessen innerste Voraussetzungen offenbar sehr ähnlich sein müssen wie in jenen Erkrankungen und die ja auch von den gleichen ins Kollektive gesteigerten Lebensgefühlen begleitet werden: Angst, Melancholie, Verlust der Realität.« (Verlust der Mitte. Die Bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit. Salzburg o. J. – Schon bei Goethe: »Es geht uns alten Europäern übrigens mehr oder weniger allen herzlich schlecht; unsere Zustände sind viel zu künstlich und kompliziert, unsere Nahrung und Lebensweise ist ohne rechte Natur, und unser geselliger Verkehr ohne eigentliche Liebe und Wohlwollen. (…). Man sollte oft wünschen, auf einer der Südseeinseln als sogenannter Wilder geboren zu sein, um nur einmal das menschliche Dasein ohne falschen Beigeschmack, durchaus rein zu genießen.« (J. P. Eckermann. Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. (Hier) Leipzig 1968. S 614) 302 Ein ›Naturzustand‹ – so (beispielsweise) Hermann Broch – sei eben für uns Menschen nicht auszumachen. »selbst für den Primitiven, den ›Naturmenschen‹, ja für diesen erst recht ist die ›Zivilisation‹, in der er sich befindet, mit seiner Menschennatur identisch geworden; auch ein freiwilliger Robinson Crusoe kehrt nicht ›zur Natur‹ zurück, sondern vertauscht bloß eine Zivilisationsform mit einer anderen.« (Menschenrecht und Irdisch-Absolutes. In 1997, S 179) 303 Die Vorsokratiker. (Wilhelm Nestle). Heraklit. 58/58 a. 301

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8.4. Die Wissenschaften und die existentielle Sinn-Frage

Davon abgesehen, sich von den neuzeitlichen Wissenschaften und ihren Vorstellungen, ihren, wer möchte dies bestreiten, beachtlichen Leistungen zu distanzieren, löst sogar ein existentielles Unbehagen aus. Scheint es doch, als ob man damit sich von jedem festen Halt, jeder überhaupt noch möglichen Sicherheit, jeder uns vertrauten Ordnung endgültig verabschiede. Damit sprichwörtlich, ›den einzig noch verbliebenen Ast absäge, auf den man noch sitzen könne‹. Versuchen wir uns unsere Lage noch etwas genauer vorzustel­ len. Sich den Wissenschaften, ihren wissenschaftlichen Weltbildern anzuvertrauen, sei ein sich einbringen, sich einlassen können in ein ›Objektives‹, ›allgemein Gültiges‹. Das mag behagen oder nicht. Dies gebe uns, die wir uns als irritiert und perturbiert erfahren, wenn schon nicht ›Trost‹, dann zumindest Klarheit und irgendwie ein gemeinsa­ mes Schicksal.304 Verständlich sei diese Haltung, angesichts einer, als theoretisch unübersichtlich und praktisch anstrengend erlebten Welt. Ist es doch ein zumindest hintergründig immer präsenter Wunsch, ›einigermaßen gut‹ zurecht zu kommen; vielleicht sogar ›glücklich‹ leben zu dürfen. Wobei, sei hinzugefügt, Mensch, der sogenannten ›westlichen Welt‹, so scheint es, mehr sich ausrichte, nach ›Lebensfülle‹(viel haben) und ›Lebensgenuss‹ (eudaimonia), als nach ›Glück‹; (einem ›ewigen Augenblick‹; einem ›unbedingten Wert‹). – So sind und bleiben also, trotz allem, die neuzeitlichen und modernen Wissenschaften, und die sich darauf stützende gesell­ schaftliche Aufklärung, die ersten Adressaten für dieses Anliegen; diesem uns nun allein anvertrauten Lebensprojekt,305 einen haltge­ benden Rahmen, eine humane Ortschaft, für unser In-der-Welt-Sein zu entwerfen? Ob also, dicht zusammengefasst, diese Perspektive wissenschaftlicher Vernunft nun umfassend zu gelten habe; für unser alltägliches Leben, im gesellschaftlichen Miteinander, auch für Politik, Vgl. dazu Rudolf Bultmann. »Darin liegt ja die Sehnsucht des Menschen nach einer sogenannte Weltanschauung begründet, dass er sich angesichts der Rätsel von Schicksal und Tod auf sie zurückziehen kann, dass er sich gerade in dem Moment, wo seine Existenz erschüttert und fragwürdig ist, dessen entschlägt, diesen Moment ernst zu nehmen, um ihn vielmehr zu verstehen als einen Fall des Allgemeinen, ihn einzugliedern in einen Zusammenhang, ihn zu objektivieren und so aus seiner eigenen Existenz herauszuspringen.« (Glauben und Verstehen. Erster Band. Tübingen 19614. S 31) 305 ›Ach, wen vermögen/wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht,/und die findigen Tiere merken es schon,/dass wir nicht sehr verläßlich zu Hause sind/in der gedeuteten Welt.‹ (Duineser Elegien. Die erste Elegie) 304

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und sogar Religion, und für die philosophischen Reflexionen selbst. Zweifellos täte es uns ›modernen Menschen‹ in jedem Falle gut, rational gerechtfertigtes Suchen von irrational haltlosen Sehnsüchten zu trennen, und dies auch auf Dauer (endlich) zu unterscheiden lernen.306 – Das sei es auch, um nur einen Namen zu nennen, was Sigmund Freud (einer der Väter der Moderne) nicht Müde wurde zu fordern, Das Projekt ›aufgeklärte Moderne‘ dürfe, um unser selbst willen, nicht mehr aus den Augen verloren werden. Ob nicht von dort her sich nun das wahre ›Projekt der Menschheit‹ grundlege und erfüllt werden könne? – So stellten also wissenschaftlich legiti­ mierte Einsichten die Bedingungen für vernünftig gelebtes, das ist sinnvolles In-der-Welt-Sein. Ein sicher-aufgeklärt-sein ohne meta­ physischen Illusionen, auch ohne irrationale Irrlichtereien.307 Endlich das Ende selbstverschuldeten Unmündigkeit des Menschen. Was denn sonst als die wissenschaftliche Vernunft könne überhaupt noch Vorstellungen, Gedanken, Ideen und unser (gesellschaftliches) Leben als ›sinnvoll‹ rechtfertigen? Jenseits wissenschaftlich aufgeklärter Vernünftigkeit finde man nur ›ungewisses Meinen‹; ›ungesicherten Glauben‹, ›grundloses Behaupten; und damit Zank, Hader, Streit, sogar Krieg. (›Doxa‹, so ›die Alten‹; schon Parmenides habe dies gesehen). – Daran könne kein Zweifel mehr bestehen; (schon die Geschichte sei hier beredt genug). Ausschließlich ›wissenschaftlich aufgeklärte Vernunft‹ könne nachhaltig unser quälend-existentielles Suchen beenden; und den hier und jetzt überhaupt noch möglichen ›sinn- und bedeutungsstiftenden‹ Horizont für vernünftige Fragen und 306 Kann man dem Lernprogramm der ›Ration-emotiven-Therapie‹ nicht voll und ganz zustimmen: »1.Mensch du bist frei, bestimme dich selbst; 2. Kultiviere deine eigene Individualität; 3. Lebe im Dialog mit deinen Mitmenschen; 4. Deine eigene Erfahrung ist die oberste Autorität; 5. Lebe voll im Augenblick; 6.Es gibt keine Wahr­ heit außer derjenigen, die sich im Handeln bewährt; 7. Der Mensch vermag sich zumindest zeitweilig zu transzendieren; 8. Schöpfe die kreatives Potential aus; 9. Indem du dich selbst wählst, wählst du den Menschen; 10. Lerne bestimmte Grenzen im Leben zu akzeptieren.« (Albert Ellis. Die rational-emotive Therapie. Das innere Selbstgespräch bei seelischen Problemen und seine Veränderung. München 1977. S 115 f.) 307 Dazu S. Freud: »Eine auf die Wissenschaft aufgebaute Weltanschauung hat außer der Betonung der realen Außenwelt wesentlich negative Züge, wie die Bescheidung zur Wahrheit, die Ablehnung der Illusion. Wer von unseren Mitmenschen mit diesem Zustand der Dinge unzufrieden ist, wer zu seiner augenblickliche Beschwichtigung mehr verlangt, der mag es sich beschaffen, wo er es findet. Wir werden es ihm nicht verübeln, können ihm nicht helfen, aber auch seinetwegen nicht anders denken.« (Neue folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Werke 15. S 197)

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entsprechend vernünftiges Antworten uns zuweisen. – Das wäre nicht zuletzt auch für das phänomenologische Philosophieren selbst ein bedeutender Schritt hin zu der schon von Husserl leidenschaftlich geforderten wissenschaftlichen Dignität der Philosophie. Die Bewe­ gung ›vom Mythos zum Logos‹ könne sich jetzt endlich erfüllen; Philosophieren sich wissenschaftlich verwirklichen. – Ob also ein, jeden Menschen zumindest dann und wann über­ fallendes Miss- oder Unbehagen, oder seine (wer möchte es leug­ nen) vielfältigen Ängste, Sorgen, seine, auch unbestimmt scheinende Unruhe, seine Zweifel, diese, wie man sagt, ›Krisen‹, sich endgültig klären ließen durch rationale Gestaltung (beispielsweise) der gegen­ wärtigen ökonomischen, ökologischen, sozialen Lagen? Ob etwa konkret Psychologie, Soziologie, Ökologie, oder Wirtschaftswissen­ schaften, humane Perspektiven einzurichten in der Lage seien? Also unsere Bedarfe auf vernünftiges Sinn-haben erfüllen? Gerade also so ein befriedigendes sinnstiftendes Leisten, ein uns Menschen-gemä­ ßes, uns endlich befriedigendes Wollen, Sollen, Dürfen, eingeführt werden könne? Und auch das gehört hierher. Diese oft genug nur ›still‹ umlaufenden Leistungserwartungen an die Wissenschaften, vernünftige Durchblicke, stimmige Erklärungsmodelle für ›irrationa­ les‹, ›krankes‹, Selbst- und Welt-Verständnis vorzustellen; und pas­ sende Therapievorschläge zu entwerfen. Aussicht auf ›Gesundung‹ für jene, die immer noch irrational auf unbedingten, Welt- und Selbst-Umfassenden existentiellen Sinn‘ bestünden und daraufhin ihr Leben auszurichten versuchen. (Wie beunruhigend, dass man vielleicht sogar sich selbst von dieser ›Krankheit‹, diesem ›Krank­ sein‹ nicht freisprechen könne.) – Aus welcher Perspektive wir es auch immer betrachten. Es scheine immer darauf hinauszulaufen, als wären es doch die Wissenschaften, die wissenschaftliche Vernunft, die uns festen Grund bieten können. Das wissenschaftlich aufgeklärte Bewusstsein also hier und jetzt der einzig sichere Wege für uns zu verlässlich-handhabbaren und lebenswerten Wirklichkeit. Keine wei­ teren, echten alternativen Möglichkeiten für praktisch vernünftiges Gestalten seien sonst noch im Spiel um Mensch sozial und als Person zu ›befrieden‹. Nur so sei eine Zukunft des Menschen überhaupt noch denkbar. – Wir hätten uns daher nun auch philosophierend bewusst in den Dienst aufgeklärten und sinnvollen Lebens zu stellen. Das ist wissenschaftlich philosophierend die verunsicherten, verwirrten, da und dort überfordert scheinenden Menschen aufzuklären und so zu unterstützten bei der Erfüllung der einzig praktisch-vernünftig

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sinnvollen Ziele: arbeiten- und lieben-können.308 Das heiße nun auf vernünftige Weise, ›glücklich werden zu können‹. – Es sollte doch im aufgeklärten Zeitalter wissenschaftlicher Vernunft möglich sein, Mensch und die Menschheit auf diese gemeinsam erreichbaren Ziele endlich einzuschwören. Wenn man so will, die Ideen der Auf­ klärung des 17. und 18. Jahrhunderts zu verwirklichen. Also, theolo­ gisch-metaphysische Muster (vergeudete Energien) anthropologisch einzuholen und lebensweltlich relevant zu verwirklichen. (Man denke hier auch an die Philosophie Feuerbachs.) Nur das für uns überhaupt Mögliche könne wirklich werden; und nur Wirkliches gebe für uns Sinn! – Wer möchte da nicht aus vollem Herzen ausrufen: ›welch ein großartig-edles, menschheitliches Programm‹! Wir sagen aber, welch eine Naivität! Als ob die (faktische) Dominanz der Natur-Wissenschaften (seit etwa 300 Jahren), selbst­ verständlich und ohne weiteres einen umfassenden normativen Anspruch rechtfertige. – Eines könne phänomenologisch reflektiert dabei trotzdem nicht verborgen bleiben. Mensch und seine Welt, sein So-in-der-Welt-Sein, erscheinen als unverständlich, bizarr, ver­ zerrt, eben ohne Sinn, wenn sein Dasein herausgerissen werde, aus unserer historischen Ordnung. Dass das nur theoretisch mögliche Perspektiven sind, sei hinzugefügt. Aber es sind Perspektiven, die so einzunehmen möglich ist. (Ich denke beispielsweise, an einige der Geschichten Stanislaw Lem, oder an Fassbinders Film: Welt am Draht) Das ist existentiell bedeutsam; es reflektiert nämlich nicht weniger unser Da-und-So-Sein; und fordert gerade so (auch nur als theoretische Möglichkeit) unser existenz-phänomenologisches Phi­ losophieren. Ein Missverständnis wäre es existentielle Reflexionen als außer­ gewöhnlich zu markieren. Vielleicht sogar als verstiegene Reflexionen einer abseitigen Philosophie. (Man wisse doch, wer keine weiteren Probleme habe, mache sich eben welche.) In Wirklichkeit sucht Mensch tatsächlich schon diesseits strengen Philosophierens, und gelegentlich vollzogenen ›Spekulationen‹, praktisch konkrete Ant­ Albert Ellis fordert uns auf: »Arbeiten sie daran, rational zu denken, sich an die Realität zu halten, ihre Hypothesen über sich selbst, über andere und über die Welt zu überprüfen. Überprüfen Sie sie angesichts der besten Beobachtungen und Fakten, die Sie finden können. Hören Sie auf, das Unerreichbare anzustreben, geben Sie Ziele, die Sie nie erreichen können, auf. Hängen Sie Ihr Wunschdenken an den Nagel. Zerstören Sie rücksichtslos ihre kindischen Träumereien.« (Training der Gefühle. Wie Sie sich hartnäckig weigern, unglücklich zu sein. Heidelberg 2006. S 45) 308

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worten auf diese im Grunde für ihn gewöhnlichen Herausforderungen. Das dokumentiert nämlich schon sein alltägliches Leben in seiner alltäglichen Lebenswelt; etwa das selbstverständlich vollzogene Ord­ nen-Wollen seines Lebens; sein Wille im Grunde und im Ganzen sinnvoll leben zu können. Schau beispielsweise hin auf unser Arbei­ ten, Miteinanderleben, den Alltag-gestalten, lieben, Freundschaften pflegen; usw. usf. Wir leben praktisch-selbstverständlich genauso ausgerichtet auf Sinn-haben-wollen; und -können. Dafür brauche es also keine explizite theoretische Vorstellung; keine klaren Definitio­ nen, keine ›tiefen‹ philosophischen Reflexionen. Gleich wie immer wir uns also theoretisch drehen und wenden, wir leben zumindest doch praktisch, wie unwillkürlich ausgerichtet auf uns und unsere Welt umfassenden Sinn. Und wäre es auch nur, dieses, sicher nicht sehr reflektierte Gefühl: ›es ist mir, als hätte dies oder jenes. oder auch mein gesamtes Leben, so sein sollen, wie es war‹!309 – Das verwundert nicht. Soweit wir auch immer in der Geschichte zurückzu­ blicken vermögen, wir Menschen scheinen, in jeder Lage, geradezu ›unbedingt sinnbedürftig‹. Man mag das erklären wie auch immer. Ein der Evolution geschuldetes Ergebnis ›blinder Selektion‹; oder, eine (gnostische) Sehnsucht, die uns nie unsere eigentliche Heimat vergessen lasse. Unterschiedlichste, im weitesten Wortverständnis, ›kulturelle Wirklichkeiten des Menschen‹, reflektieren dies ganz praktisch. Wenn auch, vielleicht nur hintergründig. So kann dem positivistisch-oberflächlichen Blick möglicherweise die uns ausrich­ tende Hin-Ordnung auf Sinn, diese (nennen wir es) ›existentielle Intentionalität‹ wirklicher Menschen tatsächlich entgehen. Auch ruhig und ohne jede Polemik betrachtet, scheinen die Per­ spektiven vernünftig-wissenschaftlicher Aufklärung zumindest wie eine unwirkliche, unsere Lebendigkeit einschränkende Idee. Unwirk­ lich weil uns einschränkend mit Blick auf unser wirklich bewegtes So-in-der-Welt-Sein. Dass das diesen Reflexionen allerdings nichts von ihrer Bedeutung für uns nimmt, sei ausdrücklich wieder festge­ halten. – Wir dürfen diese (so haben wir es genannt) ›Spannungen auf Sinn‹ im Blick, in keinem Fall dabei uns selbst aus den Augen verlieren. Gleich ob wir hier und so für uns selbst eine persönlich zufriedenstellende Antwort zu finden hoffen, (oder nicht); oder, man 309 Es ist im Grunde das, was Adolf Portmann: ›primäres Welterleben, oder ›ursprüngliche Weltbeziehung‹ nennt. Eine »Einheit von Denken und Sinneserfah­ rung. Sie schenkt dem unmittelbaren Erleben die Welt um uns und in uns tiefes Vertrauen.« (Welterleben und Weltwissen. München 1964. S 8)

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diesen Fragen für moderne Gesellschaft überhaupt noch irgendeine Bedeutung zugestehen wolle, (das sei nun endgültig beliebige Privat­ sache; ein solches Philosophieren wäre dogmatisch und veraltet); oder, ob man nach wie vor philosophisch davon überzeugt wäre, dass diese oder jene Wissenschaft auch unsere existentiellen Sinn-Fragen in rationale Horizonte einweisen, und mit dieser vernünftigen Ord­ nung dann als aufgeklärt und pragmatisch für entschieden erklärt werden könnten; – in keinem Falle aber können wir phänomenolo­ gisch, die sich hier aufdrängenden existentiellen Herausforderungen unseres Da-und-So-Seins zurückstellen, ohne das Philosophieren selbst dabei aufzugeben.– Leichter gesagt, als Ideal gefordert, als praktisch getan. Selbst wenn wir uns nicht auf die Idee einer ›reinen Phänomenologie‹ (im Sinne Husserls) einzustellen versuchen, und es hier bei ›phäno­ menologischer Philosophie‹ belassen. So wären dann immer noch Herausforderungen unseres existentiellen Philosophierens, die wir nicht als trivial beiseitelegen dürfen. Etwa, die von Beginn an uns ausrichtende phänomenologische Grund-Einstellung auf letztmögli­ che Reflexionen. Und die auch unsere existentiellen Reflexionen zwingende philosophische Form reflexiver Reflexion. Zusammenge­ fasst als Selbstverständnis ›philosophischer Grundlagen-Forschung‹. – Zu leisten ist existenz-phänomenologisch also die Entfaltung refle­ xiver Reflexion der Reflexionen. Diese Philosophie als letztmögliche Grundlagen-Forschung für wesentlich wirkliches Da-und-So-Sein darf sich von umlaufenden Perspektiven anregen, (es sind ja Refle­ xionen), nicht aber steuern lassen. Und keiner Wissenschaft, keiner Kunst oder Religion, kann die Reflexion philosophischer Reflexion zugewiesen und zur endgültigen Entscheidung vorgelegt werden. Das also ist die Konsequenz unseres phänomenologisch-radikalen Selbstverständnisses. Für uns auch praktisch zurecht gelegt als Frage, was Mensch von existentieller Philosophie für sich selbst noch fordern (und erwarten) dürfe? – Entfalten wir diese Perspektive phänome­ nologisch noch etwas weiter. Eines kann kaum bestritten werden. Wie immer wir uns diese Frage ontologisch oder erkenntnistheore­ tisch zurechtlegen. Welt- und Selbstverständnis des Menschen, sein Selbstsein und Welthaben, gestaltet sich grundsätzlich im Modus eines ›Als-ob‹. Als-ob‘ je eigene Existenz (Da-bin-ich; So-bin-ich) irgendwie, soweit man sehen könne, immer schon gerechtfertigt sei. Selbst noch wenn einer sich wünschte, dieses oder jenes wäre besser nicht so geschehen, oder ›anders gelaufen‹. (Und noch der Wunsch

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›nicht geboren zu sein‹, ist, so gelesen, Vorstellung eines Sinn.) Es bleibt bei dem tragenden Grund-Gefühl, das ist meine (wenn auch viel­ leicht schmerzhafte, verhängnisvolle, tragische) ›Spur‹. – Zumindest die sinnstiftende Vorstellung je eigenen So-Da-Sein bleibt selbstver­ ständlich. Und das, gleich ob ein Mensch das für sich theoretisch begründen könne; oder daran überhaupt ein Interesse zeige. Vor allem gleich ob die Existenz des Menschen grundsätzlich wissenschaftlich einen ›Sinn mache‹, (braucht der ›Kosmos‹ uns); oder, als ›objektiv vernünftig‹ gelten und sich so philosophisch rechtfertigen lasse.310 – Um hier nun noch einmal abschließend auf die Haltung der Wis­ senschaften zu diesen Fragen zurückzukommen. Die Zurückhaltung der Wissenschaften bei diesen (und ähnlichen) Fragen ist ganz in der Ordnung ihrer ›vernünftigen Logik‹. Diese existentiellen Herausfor­ derungen übersteigen nämlich die selbst gezogenen Grenzen wissen­ schaftlicher Vernunft. Unsere sich selbstbegrenzenden neuzeitlichen Wissenschaften genügen sich darin theoretisch formal und praktisch (und pragmatisch) bestimmtes ›Herrschafts- und Leistungswissen‹ zu sein. (Max Schelers) Das ist nicht wenig. Aber für uns existentiell nicht genug. Die Wirklichkeit unseres irritierten und perturbierten So-Da-Seins bleibt für uns selbst fortdauernde, wahrhaftig eine blei­ bende Aufgabe; und lässt sich also nicht ein für alle Mal auf einen ›festen‹ Begriff bringen. Man wird sagen, das könne, dürfe doch nicht die ›letzte‹ Antwort stellen. Schon allein mit Blick auf die ›brutale‹ Menschheitsgeschichte. Soll denn unvernünftiges Leid sich endlos weitertreiben? (Darauf können wir nicht mehr bauen, dass ein Gott sagen werde, wie Mensch leide.) – Die Einbrüche des ›Irrationalen‹ als unfassbar einfach weiter hinzunehmen, das hieße ›neue SchicksalsMythologien‹ endgültig ins Recht setzen. Es brauche also für humanes Handeln theoretische und praktische Sicherheit durch Erkennen; und das erfordere wissenschaftliche Aufklärung, sogar eine – gewiss nicht ideologisch eng verstandene – ›positivistische Gestaltung‹. Und so könnte es aus dieser sich bewusst einschränkenden, nichts desto weniger humanen Perspektive tatsächlich scheinen, als ob Mensch mit seinem philosophischen Ausschau halten nach ›Sinn überhaupt‹ 310 Für Rilke kann es hier keinen Zweifel geben: ›Aber weil Hiersein viel ist, und weil uns scheinbar/alles das Hiesige braucht, dieses Schwindende, das/seltsam uns angeht. Uns, die Schwindensten. Ein Mal/jedes, nur ein Mal. Ein Mal und nichtmehr. Und wir auch/ein Mal. Nie wieder. Aber dieses/ein Mal gewesen sein, wenn auch nur ein Mal:/irdisch gewesen zu sein, scheint nicht widerrufbar‹ (Die Neunte Elegie)

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sich pathologisch in ein Haltloses transzendiere. Irrationale Träume­ reien des, von der ›Schwere, der Unübersichtlichkeit modernen Inder-Welt-Sein‹ überforderten Menschen. (S. Freud) ›Bleib auf dem Teppich‹, ruft man uns also von dort her zu. Also, ›der Erde treu blei­ ben‹; keine andere Wirklichkeit stünde dem Menschen ›wirklich‹ zur Verfügung. Und im Übrigen bestätige auch ein Blick in die Geschichte, dass es noch keiner mythologischen, theologischen, ästhetischen, philosophischen Vorstellung gelungen sei, die weite, geradezu uferlos große Sehnsucht, – vorgetragen als Behauptung; Idee; Utopie; oder verzweifelt gelebt als stiller Wunsch, – ›Sinn für uns‹, ›existentieller Sinn für Mensch und Mensch-sein‹, zu erfüllen? Ein irrationales Sehnen, das sich, so drängt es sich dem wissenschaftlich Aufgeklärten auf, als tatsächlich Unerfüllbares blind mache für die Wirklichkeit; und sich geradezu mit Hoffnungslosigkeit ›paare‹.311 Wortwörtlich verhängnisvolle-Utopie. Wieviel Energie habe ›Mensch‹ nicht schon an diese offensichtlich nichteinholbar diffus grundlosen Sehnsüchte verschleudert. Gegrübelt, unsinnige Fragen gestellt, die keine ver­ nünftigen, also wissenschaftliche Antworten zuließen. Sich dafür sogar (und gar nicht so selten; bis auf den heutigen Tag) untereinander verfeindet, bekriegt, massakriert (Mein Heiliges! Mein Gott! Mein Sinn!) Mag das für voraufgeklärte Zeiten, für archaisches Mensch­ sein, wenigstens historisch eingeordnet werden können, (sie wussten es nicht anders); nicht mehr aber für das wissenschaftlich-vernünftig aufgeklärte Hier und Heute. Da mag es also eigenartig scheinen, dass Mensch immer noch an ›irrationalen‹ mythologischen, theologischen, metaphysischen Remi­ niszenzen zu leiden scheine. Vielleicht ein problematisches Erbe unserer ›kollektiven Kindheit‹. So wie manches andere, was vielleicht sogar einmal ›Sinn gegeben habe‹, jetzt aber den wissenschaftlichen und humanen Fortschritt des Menschseins blockiere. – Ob man also, unsere Gefährdung durch uns selbst im Blick, nun als vernünftige Konsequenz, den ›sachlich-nüchternen Wissenschaften‹, der ›wissen­ schaftlich-vernünftigen, aufgeklärten Philosophie‹ (den ›Funktionä­ ren der Menschheit‹), nicht nur theoretisch sondern endlich auch praktisch nicht bloß noch mehr vertrauen, sondern endgültig das Dazu Ernst Robert Curtius: »Die Unendlichkeit des Begehrens ist eine Seelenge­ stalt, die nur das moderne Europa kennt: nicht die Antike, nicht das Morgenland, trotz der Wunder von Tausendundeiner Nacht.« (Widerbegegnung mit Balzac). In: (1984). S 99 311

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entscheidende Wort mit ›Macht zu sprechen‹ zugestehen sollte (sogar müsse)?312 (Man denke hier im Vorbeigehen auch an Platons ›Staat‹.) Das hieße praktisch, unser In-der-Welt-Sein, das Ordnen unserer Lebenswelt, – also, Erziehung; Bildung; gesellschaftliche und soziale Ordnung; Kunst und selbstverständlich Religion – endgültig ganz und gar in die ›Hände der Wissenschaften‹ zu geben? Nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer ›kühlen Selbst-Begrenzung‹ ihres nüch­ ternen Forschen und Leistens. Auch wer glaube, ›unsere Moderne‹ wäre schon Geschichte, würde wohl kaum auf die ›wissenschaftli­ chen und philosophischen Errungenschaften der Moderne‹ verzichten wollen. Warum also nicht, und das selbst eingesehen, aus gutem praktischen Grunde, aus Selbst-Interesse sagen: die wissenschaftliche Vernunft habe für uns zu sprechen; die ›Sachen des Menschen‹ seien grundsätzlich damit auch praktisch ›in guten Händen‹; in diesem Horizont werde unser Denken und Handeln pragmatisch ‚passend‘ entschieden! Man folge nur der unbestechlich-klaren Logik der Wis­ senschaften; und gestalte Leben, unser In-der-Welt-Sein, vernünftig, rational-geradlinig, nach ihren gerechtfertigten Prinzipien.313 Die ›neue schöne Welt‹ winke uns als Belohnung. Wir aufgeklärten modernen Menschen hätten, gerade mit Blick auf diese unsere pro­ blematischen irrational-regressiven Sehnsüchte, Phantasien, diesen, doch erwiesenermaßen Illusionen, erwachsen zu werden; hätten also nicht nur das ›Realitätsprinzip‹ zu akzeptieren. Sondern dadurch auch uns selbst ins ›rechte Licht‹ zu rücken. Einzusehen, dass endlicher

312 Sinn also eine beliebige, subjektive Kategorie. Hans Thomae beschreibt aus der Perspektive eines Psychologen konkrete Formen subjektiver Sinnsuche. Die Leistung »die Aufopferung für ein Ideal, die Hinwendung zum Absoluten, aber auch genauso die die Hingabe an den Alkohol, an die Pflege der eignen Erscheinung oder an den Genuss von neuen Daseinserfahrungen mittels einer Droge.« (Das Individuum und seine Welt. Eine Persönlichkeitstheorie. Göttingen 1968. S 588) 313 Beispielsweise und beredt die Positionen des Wiener Kreises. »Die Ethik, die sich früher entweder mit den Gesetzen eines Gottes oder doch zumindest mit Gesetzen ›an sich‹ – also mit Gesetzen, aus denen in bestimmten Sinn Gott eliminiert worden war (Kants kategorischer Imperativ) – befasste, wird nun durch Untersuchungen ersetzt, die es den Menschen ermöglichen, durch bestimmte Anordnungen oder bestimmte Methoden des Verhaltens Glück zu erlangen. Anstelle des Priesters finden wir den physiologischen Arzt und den soziologischen Organisator. Bestimmte Bedingungen werden auf ihre Glückswirklungen getestet, ebenso wie eine Maschine getestet wird, wieviel Gewicht sie heben kann.« (The Monist. Vol. 41; 1931. S 623. Otto Neurath. Gesammelte philosophische und methodologische Schriften. Band 1. Wien 1981. S 416)

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Mensch ohne Lenkung durch Vernunft und Wissenschaft, sogar für sich selbst eine Gefahr darstelle.314 Eine im Übrigen, andauernde Selbstgefährdung. (Von wegen: ›edel sei der Mensch, hilfreich und gut‹!) – So sagt man es uns; und so versuchen wir es uns auch selbst einzureden. Endlich vernünftig zu denken und zu handeln; ein Lernziel von Kindesbeinen an; und dann gerade so, in diesem, von den Wissenschaften, der wissenschaftlichen Philosophie, entworfenen Horizont, auch (im vernünftigen Rahmen versteht sich) ›glücklich‹ zu werden. Wer möchte da, schon mit Blick auf den Irrsinn des 20. Jahrhunderts, nicht aus vollem Herzen zustimmen. – Sigmund Freud habe hier für uns als einer der bedeutenden ›Förderer der Aufklärung‹ die Richtung gewiesen:315 Der ›Gott Logos‹(!) werde es, nein, müsse es endlich (endlich) richten! Die Größe und Wahrhaftigkeit Freuds bestünde im Übrigen gerade darin, dass er uns ›aufgeklärten Men­ schen‹ gerade keinen ›Rosengarten‹ versprochen habe.316 Kurz zusammengefasst. Man habe sich selbst als vernünftiges Dasein zu begreifen. Als Teil einer selbstverantwortlichen, selbstbe­ wussten, selbstbestimmten Menschheit. Das ist vernünftig-werden, vernünftig-sein, und in allen Lagen vernünftig-bleiben. Dass das auch über das Gelingen der (so oft beschworenen) Zukunft der Menschheit entscheide, liege geradezu auf der Hand. –

»Ist Ihnen nicht bekannt, wie unbeherrscht und unzuverlässig der Durchschnitt der Menschen in allen Angelegenheiten des Sexuallebens ist? (..). Und nun blicken Sie vom Individuellen weg auf den großen Krieg, deren noch immer Europa verheert, denken Sie an das Unmaß von Brutalität, Grausamkeit und Verlogenheit, das sich jetzt in der Kulturwelt breit macht. Glauben Sie wirklich, dass es einer Handvoll gewissen­ loser Streber und Verführer geglückt wäre, all diese bösen Geister zu entfesseln, wenn die Millionen von Geführten nicht mitschuldig wären?« (Sigmund Freud. Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalytik. Gesammelte Werke. Elfter Band. S 147) 315 Albert Ellis (beispielsweise): wir leben »in einer allgemein neurotisierenden Gesellschaft, in der die meisten Menschen mehr oder weniger psychisch gestört sind, weil sie dazu erzogen werden, offenkundigen Unsinn zu glauben, zu verinnerlichen und sich immer wieder damit zu infizieren, mit der unausbleiblichen folge, dass sie untüchtig, selbstdestruktiv und unglücklich werden.« (Die rational-emotive Therapie. Das innere Selbstgespräch bei seelischen Problemen und seine Veränderung. Mün­ chen1977. S 95) 316 Vgl. dazu die bekannten, abschließenden Sätze der ›Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. »Eine auf die Wissenschaft aufgebaute Weltan­ schauung hat außer der Betonung der realen Außenwelt wesentlich negative Züge, wie die Bescheidung zur Wahrheit, die Ablehnung der Illusionen.« (Gesammelte Werke. Band 15) 314

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8.5. Die philosophischen Erzählungen als Form von Sinn

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8.5. Die philosophischen Erzählungen als Form von Sinn Wir bleiben nach wie vor streng phänomenologisch ausgerichtet. Und so bleiben auch diese oder jene Perspektiven, Ideen; Vorlagen; Setzungen, (so überzeugend sie uns auch scheinen mögen) einge­ klammert. Für uns vorgestellt als bloße Geltungs-Behauptungen. Das ist, erinnern wir uns, kein dagegen opponieren, bestreiten, oder gleichgültig aus unsern Blickfeld stellen. Also nicht von Anfang an als bedeutungslos abtun; gleichsam ›unbesehen vom Tisch wischen‹. Sie bleiben in jedem Fall in unserem phänomenologischen Blick als Refle­ xionen eines wirklichen (irritierten) In-der-Welt-Seins. Perspektiven eines sich-orientieren wollen, können, vielleicht auch müssen eines Reflektierenden. Für uns selbst sind sie bereits als (uns mehr oder weniger vertraute) Möglichkeiten der Reflexionen präsent; gleich ob wir es im Einzelnen ausdrücklich veröffentlichen oder überhaupt darauf achten oder nicht. Phänomenologisch reflektiert werden diese Perspektiven (auch als erkenntnistheoretische und ontologische Vorlagen) zu existen­ tiellen Herausforderungen. Das fordert und nötigt phänomenologi­ sches Philosophieren noch ›breiter‹ und ›radikaler‹ hinzuschauen auf uns selbst als so-reflektierendes wirkliches So-in-der-Welt-Sein. Und dabei aufzumerken auch auf das uns in unserer Wirklichkeit wortwörtlich willkürlich und unwillkürlich Bewegende. Also nun auch die Reflexionen reflektieren, die unser In-der-Welt-Sein auch hintergründig ›ordnen. Etwa die vertraut-unvertrauten lebensweltli­ chen Gestaltungen, die unser Welt- und Selbstverständnisses wie selbstverständlich als vernünftig (begrüßenswert; gut) ausrichten. Denken wir beispielsweise an all die von uns als positiv goutierten Veränderungen unserer ›Welt‹. Das alles nur als wissenschaftlichen, philosophischen, oder‚ sozialen und gesellschaftlichen ›Fortschritt‹ historisch selbstverständlich hinzunehmen, einordnen, daran mitzu­ arbeiten und als ›die moderne Wirklichkeit‹ begreifen zu wollen, wäre schon eine phänomenologische Verengung. Von uns wahrgenommen: als wirklich existentielles, als auch wesentliches Potential der Refle­ xionen unseres Da-und-So-Sein. Ausdrücklich also eingeführt als systematischer Leitfaden für existentielle Reflexion der Reflexionen.

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– In unseren Blick rückt nun auch – und das kann für radikale Reflexion nicht anders sein – die, zuerst und zumeist verdeckten, Spannungen zwischen Da-Sein und So-Sein des Menschen. Eine anthropologische Grund-Bewegung, die, schauen wir nur genau hin, nicht nur das Philosophieren von Anfang an in Atem gehalten hat. Das Wirklich und das Wesentliche; die Gestaltung und die Gestalt, die Idee und die Verwirklichung, Sein und Sollen! Geschichtlich gesetzt und vorgeführt unter verschiedener Gestaltung. Man denke hier nur an die Geschichte (die Geschichten) der ›Kunst‹, der ›Religion‹ und auch der ›Wissenschaften‹.317 Diese phänomenologisch-existentiellen Reflexionen (Reflexion der Reflexionen) dürfen selbst nicht missverstanden werden. Bei­ spielsweise als bloß deskriptives Feststellen (oder gar ein daran Festhalten-wollen) unserer so oder so sich vorstellenden, so oder so begriffenen, faktischen Daseins-Lagen. Oder als ein weiterer Versuch die historische Eigenart moderner Welt nun auch phänomenologisch zu begreifen suchen. Vielleicht sogar kritisch abzurechnen; und dabei darüber hinaus humanere Modelle für die Zukunft vorzustellen. (An all dem wäre doch wahrhaftig kein Mangel.) Stattdessen immer wieder unser sich irritiert und perturbiert selbst-wahrnehmen können als unsere Kraft, Stärke, Energie, Leidenschaft, in den Blick zu rücken; einschließlich der (so drängt es sich uns auf) nicht zur Ruhe kommen­ den Gestalt und Gestaltung unserer existentiellen Reflexionen der Reflexionen. – Wir werden also auch hier, mit diesen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Fragen, radikal entfaltet auf uns selbst verwiesen. Als ›Subjekt‹ und ›Objekt‹, als ›Beobachter‹ und ›Beobach­ tetes‹, als existentielle reflexive Reflexionen der Reflexionen. Das sind unsere Reflexionen entlang unseres Welt- und Selbstverständnisses; unseres Welt-Haben und Selbst-Sein. Das umfasst die uns überhaupt möglichen theoretischen und praktischen Reflexionen. Also auch die schon vernünftig geordneten Reflexionen der Wissenschaften, oder der wissenschaftlichen Philosophie. – Existenz-phänomenologisch verweisen wir uns selbst auf uns selbst; radikal wesentlich wirklich auf uns selbst. Nicht (geltungstheoretisch; ontologisch; metaphysisch) 317 Hierher gehören die Vorstellungen, die Husserl gegen Dilthey glaubt vorbringen zu sollen; Vorstellungen, die es selbst nun existentiell zu reflektieren gilt. »Gewiss bedürfen wir auch der Geschichte. (…). Am Historischen hängen zu bleiben, sich darin in historisch-kritischer Betätigung zu schaffen machen und in eklektischer Verarbeitung oder in anachronistischer Renaissance philosophische Wissenschaft erreichen zu wollen: das gibt nur hoffnungslose versuche.« (Logos. 340)

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auf transzendentale Vernunft; die Seele; den Geist; das Subjekt an und für sich, oder das Gehirn. In unserem Blick wir selbst; als hier und jetzt wesentlich wirklich existierendes So-in-der-Welt-Sein. Als ein irritiertes und perturbiertes So-Dasein, das sich so, mit dieser wirklichen Wirklichkeit, seinem Welt-Haben und Selbst-Sein, in den Blick rücken, sich reflektieren kann, soll und sogar muss. Das ist auf den ersten Blick sicher verwunderlich genug. Ein phi­ losophischer Selbst-Selbst-Bezug, der erst wirklich und wesentlich die existentielle Spannung des Da-und-So-Seins konstituiert und als philosophisch konstituiert erfahren lässt.318 Uns aber wiederum phi­ losophisch erst recht herausfordert; uns gerade nicht zur Ruhe kom­ men lässt; und dadurch nicht nur das Philosophieren weitertreibt. – Es sind also phänomenologische Reflexionen, die, nicht mehr separiert in ›Innen‹ und ›Außen‹, ›Theorie‹ und ›Praxis‹, unser Selbst-Sein und Welt-Haben umfassen. Vielleicht lässt sich unser Da-und-So-Sein wirklich nicht schlicht auseinanderdividieren, theoretisch ein für alle Mal ordnen, begreifen, vernunftmäßig klar übersetzen. – Das mag uns zufriedenstellen oder nicht. Es beschreibt, dicht zusammenge­ fasst, Vorstellungen phänomenologisch radikaler Selbst-Besinnung. Die nach wie vor virulenten erkenntnistheoretischen Fragen nach Sinn, Wahrheit, Geltung, Wahrhaftigkeit, (u. ä.) werden also radikal gewendet, und reflektieren nun existentiell. Das schließt philosophi­ sche Streitfragen ein wie: ob ›hinter‹, oder ›jenseits‹, des geschichtlich gebundenen, leibhaft Einzelnen, eine allgemeine Menschennatur, ein allgemeiner Mensch, oder ein ›invariantes (vielleicht transzendentes) Wesen‹ ausgemacht werden könne? Existenz-phänomenologisch ist der ›wesentliche Mensch‹ der wesentlich wirkliche Mensch, der sich selbst, für sich selbst, in den Blick zu rücken vermag. - Wirklicher Mensch ist also nie anders als wesentlich wirkliches (irritiertes) Soin-der-Welt-Sein. Oder so, wesentliches Dasein ist immer wirkliches 318 Dazu aus einer ganz anderen Perspektive; Teilhard de Chardin: Das ›Geheimnis des Menschen‹ liege nicht »in den überholten Stadien seines (ontogenetischen oder phylogenetischen) Embryonallebens; es liegt in der geistigen Natur der Seele. Doch diese Seele, reine Synthese in ihrem Tun, entzieht sich der Wissenschaft, deren Wesen es ist, die Dinge in ihre Elemente und in ihre materiellen Antezedenzien zu analysieren. Nur der innere Sinn und die philosophische Reflexion können sie entdecken.« (Das Auftreten des Menschen. Olten und Freiburg i. Br. 1964. S 83); dazu auch der Biologe Adolf Portmann: Das Leben ist in seinem ›Gesamten‹ immer mehr »als das, was eine bestimmte Zeit mit allen ihren rationalen Kräften von ihm in diesem Augenblick auszusagen vermag. Die Grundlage unseres Daseins bleibt außerwissenschaftlich.« (Welterleben und Weltwissen. München 1964. S 62)

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Sosein. Es reflektiert sich als lebensweltlich eingeführtes, verwirklich­ tes In-der-Welt-Sein. – Dieses phänomenologisches Selbst- und Welt-Verständnis, unser existentielles Selbstsein und Welthaben, braucht auf Wider­ spruch sicher nicht lange zu warten. Sowohl vonseiten naturalisti­ schen als auch idealistischen (phänomenologischen) Philosophierens. – Beispielsweise schon dieses folgereiche Missverstehen existenti­ eller Absicht. In etwa so vorgestellt. Wir forderten doch, dass Wis­ senschaften und wissenschaftliche Philosophie, sich im Grunde auf unsere doch offensichtlich willkürlich existentiellen ›Reflexionen‹ (dazu noch) irritierten und perturbierten Da-und-So-Seins stützen sollten? Und damit zeige sich diese existentielle Reflexion ungeniert als Teil einer irrational-rückwärtsgewandten Bewegung. Wobei (das sei bei irrationalem Denken nicht verwunderlich) nicht einmal klar ausgemacht werden könne, was dieses existentielle Philosophieren eigentlich wirklich wolle. Dass es aber einen ›Verrat‹ an Husserl selbst darstelle, daran könne nicht mehr gezweifelt werden.319 – Man könne diese ›irrationalen Denkordnungen historisch in antiquierte Denkhorizonte einordnen. Irrationalismen, die die Geschichte der Wissenschaften und der Philosophie als Widerpart (als Schatten) begleiten. Man tue auch gut daran, diese Denkmuster sehr ernst zu nehmen; sie entschieden anzugehen. Sind es doch nach wie vor problematische Vorstellungen, die, wie es Wolf Lepenies zusammen­ fasst, »die Romantik gegen die Aufklärung, den Ständestaat gegen die Industriegesellschaft, das Mittelalter gegen die Moderne, die Kultur gegen die Zivilisation, die Innerlichkeit gegen die Außen­ welt, Gemeinschaft gegen Gesellschaft und das Gemüt gegen den Intellekt« ausspielen versuche.320 Sich damit gegen die Neuzeit und Dazu (beispielsweise) der, heute kaum mehr beachtete, Julius Kraft. Es gebe nicht nur politische, sondern auch »philosophische Demagogen«. Sie zu identifizieren sei nicht einfach. Vor allem »wenn philosophische Demagogen sich an die Rockschöße ernster Denker oder einfallsreicher Köpfe hängen. Ein ernster Denker war Husserl, und Scheler war gewiss ein einfallsreicher Kopf. Jedem, der es erlebte, muss es unvergesslich bleiben, Husserl in stundenlanger Vorlesung über die transzendentale Phänomenologie monologisieren und ihn zwischendurch Heideggers Ontologie als Purzelbäume eines aus den Fugen geratenen Menschen in einer aus den Fugen geratenen Gesellschaft (kurz vor dem Ausbruch des Dritten Reiches) verdammen hören.« (Von Husserl zu Heidegger. Kritik der phänomenologischen Philosophie. Hamburg 19773. S 8) 320 Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft. München. Wien 1985. S 245 319

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die Moderne stellten. Ausgerechnet die legetimen Hüter philosophi­ scher Aufklärung und des wissenschaftlichen Fortschritts sollten sich also solch einer ›irrationalen‹ Vorstellung fügen. Wahrhaftig eine Zumutung! Für ein streng wissenschaftlich gerichtetes Denken scheine existenzielles Philosophieren also als eine subjektiv-willkür­ liche Beliebigkeit; aufgeblasen zu einem philosophischen Prinzip. Ein irgendwie bloß subjektiv gefühltes Leben solle die Grundlage stellen für ein ›literarisch-ästhetisches Philosophieren‘. Man könne dies als Beleg nehmen, sogar als hinreichende Bestätigung lesen, dass diese existentielle Phänomenologie sich theoretisch und auch praktisch in ›irrationales Refugium‹ zurückzuziehen versuche. Und sich damit jedem vernünftigen Diskurs entziehe. Gestaltet es doch einen Rück­ zug in eine nur noch private Innerlichkeit. Bloßes Evidenzgefühl trage nie und nimmer als Geltungsgrund für unsere Reflexionen. Diesen Philosophierenden bleibe innerhalb eines Diskurses statt Argumen­ tation, doch nur noch ›der Appell‹. Das reiche (schon diesseits des Philosophierens) für Denken und Handeln in heutigen komplexen Lagen wohl kaum hin. Ganz zu schweigen von den geltungstheore­ tischen Erfordernissen wissenschaftlicher Arbeit. Erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch müssen diese existentiellen Reflexionen daher grundsätzlich und hart als ›Immunisierungsstrategie‹ markiert und endgültig aus wissenschaftlicher Arbeit, und ernstzunehmenden (auch transzendental-phänomenologischen) Philosophierens ausge­ gliedert werden. – Zu Unrecht also behauptet es sich als phänomeno­ logische Philosophie. Vorwürfe, die wir ernst nehmen. Und (positiv gewendet) Anlass für uns sind, noch entschiedener phänomenologische Reflexionen selbst zu reflektieren. Also sogar eine genehme Möglichkeit uns anbieten, unser Philosophieren auf Spur zu halten. – An einem halten wir aber als sicher begründet fest. Existentielle Phänomenologie erfahre sich genötigt, ihr philosophisches Denken nicht über einen bestimmten neuzeitlich-rationalen Leisten schlagen zu lassen. Als ob festzustehen habe, dass ein sich als strenge Wissenschaft begreifendes (und so sich ausrichtendes) Philosophieren, selbstverständliche die Erfüllung (und die Messlatte) der Philosophiegeschichte wäre. Gleich wie ein Philosophieren sich selbst ordnen und wohin es sich zuordnen mag, auf eines werden sich ernsthaft Philosophierende in jedem Fall einigen können. Nennen wir es den ›Logos‹ des Philo­ sophierens. Die Formen also, die Reflexionen zu erfüllen haben, die den Anspruch erheben Philosophie zu sein. Ein Philosophieren habe

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vor allem immer auch für sich selbst einzustehen; es habe sich selbst in Geltung setzen und halten; und schließlich auch für sich selbst zu sprechen. Das wäre, ohne hier weiter im Einzelnen darauf einzugehen, die ideale Grund-Form, das nach wie vor gültige Selbstverständnis systematischen Philosophierens. (Wobei im Übrigen schon die Rede von ›systematischen Philosophieren‹ als Tautologie gelesen werden könne.) Wohl kaum ein Philosophierender, gleich welcher Schule, Bewegung, oder auch Ausrichtung er sich verpflichtet weiß, werde dem grundsätzlich widersprechen wollen. Diese (geradezu) klassische Vorstellung der Philosophie, des Philosophierens hat sich phänome­ nologisch eigensinnig gestaltet und existentiell verfestigt. Vor allem die Reflexionen existentieller Phänomenologie erfüllen dies wirklich nun auch praktisch. Und das ausdrücklich ohne Trennung (etwa mit Blick auf eine Begründung) von phänomenologischer Theorie. Existentielle Phänomenologie fasst sich nämlich als Gestalt und Gestaltung möglicher Selbst-Selbst-Erfahrung des wesentlich wirk­ lichen (›ganzen‹) Menschen. Von Bedeutung ist diese existentielle Reflexion (der Reflexionen) auch für die Psychologie, die Medizin, die Psychiatrie, und die Kunst. (Wir werden darauf zurückkommen.) – Eine tatsächlich eigenartig, aus der Perspektive transzendentalen Philosophierens sicher problematische, unzureichende Begründungs­ leistung. Das mag die Bedenken ›klassischer‹ reiner Phänomenologie sogar noch verstärken. Diese phänomenologische Reflexion entfaltet sich ausdrücklich von Beginn an, mit Blick auf die Idee, das Ideal philosophisch unbedingten Anfangens. Bleibt also (ganz traditionell) streng der philosophischen Form verpflichtet. Mit Blick auf die Bewe­ gung der Reflexion als Leistung eines wirklich Philosophierenden aber ist es eine Abstraktion. – Die philosophische Leistung unseres existentiell-phänomenologischen Philosophierens ordnet sich daher wirklicher; nämlich als reflexive Reflexion der Reflexionen dieses, dem Menschen zuerst und zumeist vertraut scheinenden, Welt- und Selbstverständnisses. Verortet bleibt es also im Horizont unserer wirklichen Lebenswelt; unseres (leibhaften) So-in-der-Welt-Seins. Wir sind in keinem Fall spekulativ auf (irgend)ein unbedingtes, abso­ lutes ›Darüber-Hinaus‹ ausgerichtet. Kurz, existentielle Reflexion der Reflexionen gestaltet sich weder als ein Denken (sozusagen) außer Rand und Band, noch engt es sich transzendental oder positivistisch ein. (Das ist in jedem Fall der Preis, der für Einführung ›wissenschaft­ licher Philosophie‹ zu zahlen wäre.) –

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Man mag sich drehen und winden, sich ausrichten auf was und worauf auch immer. An uns selbst scheint kein Weg vorbei zu führen. Wir selbst als wirkliches Da-und-So-Sein sind und bleiben es, die so reflektieren. Selbst dann noch, wenn wir uns geltungstheoretisch als reines, transzendentales Subjekt einzuführen versuchen. Zurecht schauen wir also weiter auf unsere theoretische Gestalt und praktische Gestaltung; und unser Philosophieren als die Leistung einer sich aufdrängenden existentiellen Selbst-Selbst-Herausforderung. Wir selbst also als Da-und-So-Sein in unseren Blick gerückt und phäno­ menologisch entfaltet und existentiell reflektiert; immer soweit unser Schauen wirklich reicht. Das ›Prinzip aller Prinzipien‹ bestimmt und ordnet dabei die Reichweite und den Umfang unserer existentiellen Reflexion der Reflexionen unseres So-in-der-Welt-Seins. (Adorno macht in seiner bekannten Studie über Husserl auf einen spannenden Widerspruch, der mit diesem Prinzip gesetzt wird, aufmerksam. Eine Spannung, die auch für unsere existentielle Phänomenologie von besonderem Interessen ist.)321 – Wir ordnen uns mit unserer Reflexion unserer Reflexionen als eigengeartete ›existentielle Textur‹. Das zu sehen braucht keine außergewöhnliche, abstrakte Perspektive. Das ist (schauen wir auf­ merksam hin) präsent als Zusammenstellung der Reflexionen unseres irritierenden und perturbierenden Selbst- und Weltverständnis. Die­ ses sich-so-ordnen-könnens, schließt phänomenologisch die Refle­ xion dieses konstitutiven Leistungsvermögens selbst mit ein; also die Reflexion des So-Wahrnehmen, So-Schauen, So-Reflektieren; kurz, unseres überhaupt Philosophieren-könnens. Phänomenologisches Philosophieren reflektiert sich selbst als wirklich umfassendes konsti­ tutives Vermögen und eigen-artige Gestalt und praktische Gestaltung der Reflexion der Reflexionen. Ein Philosophieren also über das Phi­ losophieren. So entsprechen wir sogar der so oft bemühten ›radikalen transzendentalen Logik der Philosophie‹. Für uns aber ist es vor allem ein Arbeiten an einem existentiellen Selbst-Selbstverständnis. 321 »Der Phänomenologe will sich einmal nach jeder ›originär gebenden Anschauung‹ richten, ohne vorweg zu wissen, wie weit ihr Inhalt, ›vernünftig ausweisbar‹, allge­ mein und notwendig sei. Zugleich aber macht er zum Maße jeglicher ›Wirklichkeit‹, auch der originär gebenden Anschauung und schließlich der Gegebenheit selber eben den Vernunftcharakter, der in letzter Instanz koinzidiert mit der Einheit des Selbst­ bewusstseins.« (Zur Metkritik der Erkenntnistheorie. Studien über Husserl und die phänomenologischen Antinomien. In: Gesammelte Schriften 5. Frankfurt/M 1970. S 194 f.)

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Nichts was, beispielsweise, Psychologie oder Soziologie oder eine der Geschichtswissenschaften für sich wissenschaftlich zurechtlegen und für das Philosophieren geltungstheoretisch wissenschaftlich ent­ scheiden könnte. Das bleibt bisher offensichtlich noch ganz auf der Linie traditioneller Absicht des Philosophierens. Gerade aber diese der Form nach grundsätzlich unabgeschlossen scheinende Erfahrung der Reflexion, – es geht doch ›hinterm Horizont‹ zumindest faktisch immer noch wirklich weiter (wenn auch nicht ›wirklich tiefer‹), – zwingt den Philosophierenden sich selbst, mit seinen Reflexionen, seinem Reflektieren, bewusst existentiell umfassend-wirklich zu positionieren. Also mit dieser grundsätzlich ›offenen Erfahrung‹, diesen unberechenbaren Möglichkeiten in ein scheinbar Endloses (die faszinierende Gefahr jeden Philosophierens), nun ausdrücklich mit Blick auf sich selbst umzugehen. Sich philosophisch ordnen, sich ver­ pflichten, sich zu verankern als mögliche Selbst-Selbst-Erfahrungen eines wirklichen So-in-der-Welt-Seins. Sich so letztmöglich bei sich selbst rück-zu-versichern. Wirklich bei sich selbst, der so wahrnimmt, denkt, begreift, reflektiert; und sich damit (erstaunlich genug) Selbst und seine Welt existentiell zu reflektieren vermag. Und dennoch bleibt eine Beunruhigung. Nicht nur mit Blick auf die Geschichte der Philosophie. Wer oder was philosophiert wirklich? Philosophiert aus welchem Grund? – Wie selbstverständlich verweist gerade radikales Philosophieren wirklich auf den wirklich Philosophierenden; auf uns sich wirklich so irritiert und pertubiert als wirkliches Selbstsein und Welthaben Reflektierende.322 Philosophieren fundiert sich also letztmöglich als Philosophie der Existenz. Wir radikal-existentiell Reflektierende können uns nicht mehr selbst vergessen; uns nicht mehr auf eine abstrakt konstruierte ›Geltungsform‹ (oder unbedingte Erkenntnisformen) zurückziehen. – Zunächst einmal uns noch etwas allgemeiner, und zugleich etwas umfassender in den Blick gerückt. Was nehmen wir wahr, wenn wir uns selbst phänomenologisch zu schauen versuchen? Also wirklich uns selbst, als diese da, die so radikal zu reflektieren sich imstande erfahren. (Diese oder jene anthropologischen, psychologi­ schen, soziologischen Vorstellungen setzen wir auch hier als ›Gel­ tungsbehauptungen‹, ›Geltungsansprüche‹, in die phänomenologi­ 322 Bei Rilke vielleicht darüber ›Erstaunen‹, Triumph und Verpflichtung zugleich. …weil uns scheinbar/alles das Hiesige braucht, dieses Schwindende, das/seltsam uns angeht. Uns, die Schwindensten. (…) (Die Neunte Elegie)

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sche Klammer.) Wir schauen selbst hin und unserem Hinschauen dabei zu. – Schon unser alltägliches Da-und-So-in-der-Welt-Sein scheint uns als eigenartig willkürlich zusammengestellt. Dies da und jenes da fordert heraus; beispielsweise sind da Wahrnehmungen, Erinnerungen, Assoziationen, Stimmungen, Fühlen. Selbstsein und Welthaben aus dieser Perspektive der Reflexion sind uns präsent wie ein ›Konglomerat‹; locker oder strenger geordnet; im und mit dem ›Strom der Zeit‹, und mit meiner je eigenen ›Zeitlichkeit‹ verwoben. Präsent als ›Bewusstseinsstrom‹; in der Regel jeweils zentriert um etwas für uns (immer schon) ›Vor-liegendes‹. Die Frage drängt sich philosophisch auf, ›von wem wirklich‹, ›wodurch wirklich‹ geleistet? Diese Frage wird uns nicht mehr loslassen. Zumindest finden wir uns immer ‚mit uns‘ vor in unserer Welt. Phänomenologisch geschaut, reflektiert und vorgestellt, als eine Präsenz oder ein Zusammenge­ stellt-sein einer Vielzahl von Geschichten. Wirklichkeiten immer im Modus ›jetzt und hier‹. Meine Geschichten, unsere Geschichten. Geschichten vorgestellt aus unterschiedlichsten Perspektive. (Wir mögen darauf achten oder nicht.) ›Welt-Ordnungen‹, die so mag es scheinen, unser jeweiliges, nicht weniger unmittelbar evidentes Selbst-Bewusstsein nicht tangieren. Und trotzdem, gerade mit die­ sen so vorgestellten ›Zusammenstellungen der Wirklichkeit‹, gleich ob sie überhaupt erkenntnistheoretisch oder ontologisch im Blick sind, erfährt Mensch (wortwörtlich) sich selbst als wirkliches So-DaSein; als wirkliches So-in-der-Welt-Sein. Diese konstitutiven Akte unseres Welt- und Selbst-Erfahren, scheinen auf, wie selbstverständ­ lich, als unsere zusammenhängende Wirklichkeit; unser Welt-Haben und Selbst-Sein. Auf einen ersten Blick mag dies möglicherweise wenig überzeu­ gen. – Schauen wir also noch genauer hin und uns dabei zu. Wenn man so will erscheint uns unsere Welt-Habe und unser Selbst-Sein wie eine verwirrende ›Collage‹. Etwas abstrakter als ›diachrone‹ und ›synchrone‹ Zusammenstellung, sogar Zusammenwürfelung von, und zunächst ganz beliebig, Wahrnehmungen, Erinnerungen, Erken­ nen, Wünschen; oder Vorhaben, Enttäuschungen; von Lernerfahrun­ gen; auch Träumen; Sehnsüchten; Ängsten und Handlungen. Ein Gewebe aus theoretischen und praktischen Leistungen und Wider­ fahrnissen. Die Welt ist tatsächlich alles was der Fall ist. Fall ist das, von dem wie ›erzählen‹ können; was sich mir und uns als meine und unsere Geschichten verdichtet. (Allerdings, das darf uns schon hier nicht entgehen, ist mir immer, als bleibe ich als ›Mich-

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Beobachtender‹ davon unberührt.) – Zu dieser unserer Vorstellung gehören wiederum auch diese, das abendländische Philosophieren begleitenden Geschichten und Fragen. Von wem, von was ist diese ›Ordnung‹ veranlasst? geleistet? mit welcher Absicht? aus welchem Grund heraus? Und, immer wieder auch, ›wozu dies alles‹? warum überhaupt etwas sei und nicht vielmehr nichts? Oder mit Rilke: ›Warum Menschliches müssen – und Schicksal vermeidend, sich sehnen nach Schicksal‹?323 Schließlich und endlich gehören dazu, sogar vor allem, auch die Geschichten der wissenschaftlichen, litera­ rischen (›ästhetischen‹) und theologischen Reflexionen dieser ›Vor­ stellungen‹; und selbstverständlich wieder auch unsere existentiellen Reflexion der Reflexionen. – Phänomenologisch stellt sich dieses ›Welt-Haben‹ und ›SelbstSein‹ vorurteilslos umfassend vor als eigenartig ›irrationale‹ Gestalt und immer wieder herausfordernd als ›spannende‹ Gestaltung unse­ res Da-und-So-in-der-Welt-Seins.324 Dabei, auch das erfahren wir mit uns selbst, verweisen die sogenannten ›Innen-‘ und ›Außen-Per­ spektiven‹, geradezu fugenlos auf- und ineinander. Das eine ist doch nie ohne das andere. Immer ist Welt-Habe und Selbst-Sein da als gelebte existentielle Korrelation, die als intentionales ›Ganze‹ zumindest praktisch nicht getrennt werden können.325 Aber auch so, dass es phänomenologisch sich als gewaltsam vorführen würde, dies etwa durch willkürliche Definitionen ein für alle Mal für sich allein ›fest-stellen‹, ›fest-halten‹, und endgültig auf den Begriff bringen zu wollen. – So gestalten sich also unsere Erfahrungen, auch unsere Erfahrungen der Erfahrungen, wie von selbst; vor jeder ontologischen Die Neunte Elegie. Adolf Portmann verweist ›Welt‹ und ›Selbst‹ in einen unlösbaren ›geheimnis­ vollen‹ Zusammenhang. »Wenn wir hier auf die primäre Art der Weltbeziehung hingewiesen wird, so deshalb, weil in ihr wie im rationalen Denken eines der großen Geheimnisse des Lebens mächtig vor uns und in uns am Werk ist: die im Lebendi­ gen vorbereitete ursprüngliche Beziehung zur Welt. Sie zeigt sich in wenigen aber strengen Bindungen bei Pflanzen, in reicheren Möglichkeiten, aber doch beschränkt, bei höheren Tieren – nicht weniger streng im Aufbau ihrer erblichen Strukturen beim Menschen, aber bei uns des Wunders der Weltoffenheit, des unablässigen Eingliederns von Erfahrungen fähig.« (Welterleben und Weltwissen. München1964. S 46) 325 Dazu auch Karl Jaspers. »Immer kann sich der Mensch nur dadurch hervorbringen, dass er anderes ergreift, nur dadurch sich erkennen, dass er anderes denkt und erkennt, nur dadurch sich vertrauen, dass er einem anderen, der Transzendenz vertraut; daher ist die Art des Menschen dadurch bestimmt, was er weiß und was er glaubt.« (1946). S 638 323

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oder erkenntnistheoretischen Abstraktion; und zwar ausschließlich in unserem lebensweltlichen Horizont von ›Welt, Zeit und Sein‹. Konkretisiert als alltägliche Erfahrung unseres ›Welt-Haben und Selbst-Sein‹; phänomenologisch in unseren Blick gerückt als getex­ tetes, erzähltes Welt- und Selbst-Erfahren. – So-Da-Sein reflektiert sich für unsere Reflexion also mit ihren (wie auch immer) ›gelebten‹ Geschichten! Es lebt und erlebt sich gerade so als wesentlich wirkli­ ches So-in-der-Welt-Sein. Dass sich das aber nicht in jedem Fall als stimmig, widerspruch­ frei, linear geordnet, übersichtlich, und restlos vernünftig vorführe, braucht wahrlich keiner umfangreichen theoretischen Ausführungen. Und trotzdem finden wir uns (Ausnahmen bestätigen hier die Regel) zurecht.326 Selbst Erfahrungen von Dissonanzen, Unordnung, Regel­ losigkeit, Anomie, Chaos, sind als mögliche ›Geschichten‹ (geradezu selbstverständlich) schon eingepreist in unser wirkliches So-in-derWelt-Sein. Das sind dann nicht weniger uns vertraute Geschichten von nicht-geborgen-sein, von Heimatlosigkeit; von Unheimlichem; sich nicht mehr auskennen; von Wahnsinn. Wirkliches MenschenLeben sprengt jede der, noch so rational wissenschaftlich, noch so empirisch, statistisch gesichert oder vernünftig vorgetragenen Bestimmungen.327 All das uns sicher scheinende mündet (meist früher als uns lieb ist) ein in Ungewisses, Irrationales – und bleibt doch eingefügt in unser wirkliches Da-und-So-Sein. (Man denke beispielsweise an ›die Daten eines Lebenslaufes‹; ›die Dokumente der Geschichte Europas‹; ›die durch Wissenschaften gesicherten Vorstell­ ungen‹; u. Ä.) Wer möchte das, schon mit Blick auf eigene ›irrationale‹ Erfahrungen in Zweifel ziehen? (Schau doch wirklich einfach hin und dir zu!) – Dass der ›Lebenstext‹ (die existentielle Textur) eines Menschen eine berechenbare Gestaltung, etwa als schlicht linear, 326 ›Ohne unseren wahren Platz zu kennen,/handeln wir aus wirklichem Bezug./Die Antennen fühlen die Antennen,/und die leere Ferne trug …(Die Sonette an Orpheus. Erster Teil, XII) 327 Vorstellungen, die in unterschiedlichen psychologischen und philosophischen Schulen so, oder so ähnlich, vorgetragen werden. Beispielsweise Eduard Spranger schreibt: Das Seelenleben sei ein Zusammenhang, »in dem verschiedene Sinnrich­ tungen unterscheidbar sind und in dem oft genug objektiver Sinn und subjektiver Sinn in Widerspruch miteinander stehen. (…) wenn auch das Subjekt in der Regel geneigt ist, sich diesem objektiven Wertgesetz gemäß zu verhalten, so bleiben doch subjektiv bedingte Abirrungen nicht aus, die nur psychologisch zu verstehen sind.« (Lebensformen. Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persönlichkeit. München und Hamburg 1965. S 14)

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kausal geordnete Erzählung nicht zulässt, wird uns vor allem durch die Experimente der modernen Literatur vorgeführt.328 Man denke aber nicht nur an das (sogenannte) ›Absurde Theater‹. (Immer noch als ›bloßer Zerrspiegel‹ unseres So-Da-Seins abgetan‘.)329 – Dazu gehö­ ren umgekehrt auch die Versuche, beispielsweise Etwas idealerweise zu beschreiben. Vielleicht als eigentliche Wirklichkeit; als ideale Ord­ nung einer Vergangenheit; oder für die Zukunft die Lagen bestimmen zu wollen; vielleicht sogar statistische Einsichten dafür zugrunde zu legen, (mehr oder weniger) rationale Beweise einführen, (usw.); alle diese Versuche, uns und unsere Wirklichkeit (so oder so) festschrei­ ben zu wollen, kommen tatsächlich über das hier und jetzt schon vorausgesetzte ›unseres wirklich irrationalen So-in-der-Welt-Sein‹ nicht hinaus; Auch das als ›Unwirkliches‹‚ oder ›im Allgemeinen‹ oder als ›idealerweise‹ vorgeführte (berechnete), ist (und bleibt) das uns mögliche Unwirkliche, Allgemeine und Ideale. So verfügen wir zwar durchaus über einen abstrakt-formalen Begriff unseres In-derWelt-Seins. (Den Wissenschaften sei Dank.) Konstruktionen mit denen sich tatsächlich ›Rechnen‹ ließe. Das ist aber nicht unsere wesentlich wirkliche Welt. Der Rest ist auch hier Glauben (der mit Wissen verwechselt wird) an unbedingt herzustellende vernünftige Ordnung. An die Verwirklichung eines das Menschsein bestimmen­ den ›Gesetz der Aufklärung‹. Wenn nicht jetzt, dann irgendwann in der Zukunft. (Man fühlt sich an das ›Prokrustesbett‹ erinnert.) – Ich möchte hier nicht missverstanden werden. Nicht als ob diese und ähnliche Vorstellungen in jedem Fall und von vorneherein als ganz und gar naiv zurückzuweisen wären. Darauf kommt es hier nicht an. Vielmehr sind konstruktiv phänomenologisch ihre Bedeutung und lebensweltliche Grenzen in den Blick zu rücken. Als Reflexionen, die nun existentiell zu reflektieren sind. – Man schaue also weiter und immer wieder auf sich selbst; auf sein je eigenes irritiertes und H. A. und E. Frenzel. »Der chronologische und psychologische Zusammenhang wurde aufgelöst, eine andersartige Verknüpfung durch Assoziation, Präfiguration und durch Ein- und Überblendung sowie durch Montage hergestellt und so die Simultanität zeitlich und örtlich auseinanderliegender Geschehnisse erreicht.« (Daten deutscher Dichtung. Chronologischer Abriss der deutschen Literaturgeschichte. Band 2. Vom Realismus bis zur Gegenwart. (dtv.) S 581 329 Wolfgang Hildesheimer schreibt: »Ohnmacht und Zweifel, die Fremdheit der Welt, sind Sinn und Tendenz jedes absurden Stückes, das damit ein Beitrag zur Klarstellung der Situation des Menschen ist.« (Erlanger Rede über das Absurde Theater. In: Akzente. Zeitschrift für Dichtung. 2. Jahrgang 1960. S 552) 328

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perturbiertes Da-und-So-in-der-Welt-Sein. Und sei es auch nur beim Betrachten irgendeines schmalen Zeitfensters je eigener Biographie, das sich, wie man vielleicht sagt, eigentlich als relativ ereignislos zusammenfassen ließe.- Sollte dabei einem Schauenden seine exis­ tentielle Lage wirklich entgehen können? Man denke an irgendein (wie man zu wissen mein) gleichgültiges Ereignis aus seinem Leben; oder auch an ein sich ›gleichgültiges Erinnern‹. Auch dort findet sich, bei genauerer Betrachtung unberechenbares; Dunkelheiten; ja, Irrnis und Wirrnis. So dass man mit einigem Recht sagen könne: ›irrationale Ausnahmen‹ bestimmten soweit ich es sehe, auch die Wirklichkeit meines So-Da-Seins. Manches bleibe eben Rätselhaft.330 Dazu gehö­ ren sogar, ist man einmal dafür sensibilisiert, selbst die (das müsse doch so sein) gewiss vernünftigen Geschichten der Wissenschaften; überhaupt, der wissenschaftlichen Aufklärung; um von der Kunst, der Politik, den Religionen, und, nicht zu vergessen, der Philosophie und ihrer Geschichte einmal ganz zu schweigen. Unsere Welt-Habe also gestaltet, reflektiert sich, ist selbstver­ ständlich-da und wird von uns (selbstverständlich) erzählt mit unse­ ren Geschichten. Das sind uns mehr oder weniger vertraute Texte, Erzählungen und Bilderbögen. (Wie weit ich sie umfassend einsehe, verstehe oder gar begreife, überhaupt begreifen könne, bleibt hier außen vor.) – Das benennt phänomenologisch eine eigene ›onto­ logische Qualität‹ unseres So-in-der-Welt-Seins. Die existentielle Ordnung der Intentionalität unseres Selbst-Seins und Welt-Habens. Keineswegs vorgestellt als eine mehr oder weniger vage erkennt­ nistheoretische Analogie. Oder eingeführt bloß als ›Titel‹ für eine (nennen wir es) Quersumme individueller Erfahrungen (mit ›mir‹ und ›uns‹ und unserer Geschichte); sondern als unsere (hier und jetzt) wirkliche Wirklichkeit. Handfest und Praktisch, die für dich und mich als unsere wirkliche und mögliche ›Welt-Habe‹, auf wirkliches und mögliches Selbstverständnis unseres je eigenen So-in-der-WeltSeins wiederum ›bildend‹ einwirkt; und dann ›reflektiert‹ sich vorstel­ len lasse, als konstitutives Potential für die Konstitution der (wie man Dazu auch diese Einlassung Emmanuel Levinas zu einer Lage menschlichen Daseins. »Was dem Fall des Menschen so viel Bedeutung verleiht, ist eben, dass die Befriedigung nicht dem Verlangen des Bedürfnisses entspricht. Darin gründet die Rechtfertigung bestimmter Richtungen des Asketentums: Die Entsagungen des Fastens gefallen nicht allein Gott; durch sie nähern wir uns einer Lage, die das grundlegende Ereignis unseres Seins ist: dem Bedürfnis nach Evasion.« (Ausweg aus dem Sein. Mit den Anmerkungen von Jacques Rolland. Hamburg 2005. S 29) 330

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sagt) ›je eigene Identität‹. Wir haben existenz-phänomenologisch also wirklich ›die Wirklichkeit‹ vor unseren Augen.331 Wirklich die ganze, umfassende, wesentliche Wirklichkeit! Das im Blick bleibt weiter zu fragen: wie es denn wirklich stehe mit der (philosophisch auf die eine oder andere Art uns immer noch umtreibend) ›meta­ physischen‹ Bedeutung (oder möglichen Potenz) unseres Denkens; oder der Geltung der Gedanken, der Wahrheit der Ideen; oder, mit diesen oder jenen uns als ›objektiv‹ geltenden Gestaltungen der ›Transzendenz‹? Legen sie nicht, existentiell reflektiert, sogar das zuerst und zumeist verdeckte Fundament abendländischen Selbstund Weltverständnisses frei? Hannah Arendt weist auf etwas hin, dass, das im Blick, auch hier für das weitere nicht vergessen werden soll. Nicht die Fragen nach uns selbst und das existentielle Fragen (woher? wohin? warum überhaupt?), »die so alt sind wie die Men­ schen selbst« sind sinnlos geworden, »sondern die Art, wie sie gefasst und beantwortet wurden«. – Dass Mensch existentiell bedrängt werde, kann wohl kaum von keiner Seite ernsthaft geleugnet werden. Man mag es ›illusorisch‹ nennen, rückständig, oder als Defizit der Bildung, oder gar als ›pathologisch‹ abtun, es bleiben wirklichkeitssetzende ›Reflexionen‹. Wissenschaftlich erklärte Welt und so begriffener Mensch hin oder her, es ist nach wie vor präsent als ›meine und unsere Herausforderung‹. – Das hat Auswirkungen auf unser Philosophie­ ren. Vor allem ist es dieses sich um ›vernünftige Aufklärung‹, um ›wissenschaftliches Begreifen‹, um ›unbedingte Geltung‹ bemühte Philosophieren, das, schon mit seinen Fragen (um von den Antworten ganz zu schweigen) uns nicht mehr einleuchtet.332 Beispielsweise, als ob das, das als ›wissenschaftlich sinnlos‹ gelte, dem Begreifen können der wissenschaftlichen Vernunft sich entziehende, nun auch existentiell als bedeutungslos, für unser Leben ›wert- und sinnlos‹

331 Beispielsweise schreibt Edith Stein: »Es ist keine Frage, dass wir uns mit unserer Erfahrung hineingestellt finden in die Gemeinschaft aller Erfahrenden, dass Erfahrung uns letzten Endes als Gemeingut der Menschheit gilt. Mit all unserm Erfahrungswis­ sen wurzeln wir nicht nur in dem, was wir mit eigenen Sinnen wahrgenommen haben, sondern in dem, was wir von allen Seiten gehört, durch Überlieferung übernommen haben. Und umgekehrt: was wir erfahren, das erfahren wir nicht uns, sondern der Allgemeinheit, deren Erfahrungsschatz wir aufbauen helfen.« (Beiträge zur philo­ sophischen Begründung der Psychologie und der Geisteswissenschaften. Tübingen 1970. 2., unveränderte Auflage. S 133) 332 Vom Leben des Geistes. Band 1. Das Denken. München. Zürich 1979. S 20

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zu markieren und nun auch aus der Philosophie auszugliedern sei.333 Das mag methodologisch sogar nachvollziehbar sein, gerät aber in Widerspruch zur wirklichen Wirklichkeit unseres Da-und-So-Seins. Und daran hat sich ein Philosophieren zu messen. Wie aber nun mit unseren uns präsenten existentiellen Irritatio­ nen und Perturbationen umgehen? Diese praktische Frage wird noch drängender. Wir halten uns weiter fest an unsern phänomenologi­ schen Stab und Stecken. Das ist einfach selbst hinschauen und die­ sem Hinschauen selbst zuschauen. Bevor Mensch theoretisch ›Sinn‹ (haben, leben können) als mögliche oder unmögliche Perspektive für sein Welt- und Selbstverständnis ausdrücklich als Thema setzt und reflektiert (philosophierend ›festzustellen‹ versucht; in Frage stellt, oder verwirft),334 lebt und wirkt er bereits praktisch durch sein Weltund Selbstverständnis. Lebt und wirkt immer schon so, als ob er Sinn habe; es Sinn mache so zu leben, wie man eben lebt. Schon das ›Leben-wollen‹ gebe davon eine Vorstellung. Es geschieht eben, man mag es ausdrücklich nach vorne stellen oder nicht, ganz unwillkürlich! – Denken wir beispielsweise an diese grundsätzliche Perspektive; die Entscheidung, eines, wie man glaubt, wissenschaftlichen Begrei­ fens unserer anthropologischen Lage. Menschen-Leben habe keinen über das Biologische hinausreichenden ›Sinn‹. Also keine weitere, es darüber hinaus umfassende ›wesentlichere Bedeutung‹. Vorgestellter, behaupteter (sagen wir) ›transzendenter Sinn‹ sei also wissenschaft­ lich ›bedeutungslos‹. Eine metaphysisch-theologische Chimäre. – Aber schon dieses (naturalistische) Selbstverständnis stellt sich doch vor als Ergebnis einer Sinn-Suche; man mag so wollen oder nicht, auch eines Sinn-Verständnisses. Man glaubt doch zu wissen, dass diese Vor­ stellungen keinen ›Sinn‹ uns geben können. Das sind aber Einsichten in die Grund-Lage, Vorstellungen einer Grund-Ordnung, für unser So-in-der-Welt-Sein. Sind also, halten wir das fest, konstitutive Akte. – Es braucht hier noch eine Bestimmung unserer Sinn-Reflexionen. Es geht existenz-phänomenologisch nicht um metaphysisch, theolo­ 333 Man denke, beispielsweise, an die ›Denker‹ der ›wissenschaftlichen Weltanschau­ ung‹. (Wiener- und Berliner Kreis) 334 Ohne jedes Zugeständnis bei Freud: »Die Frage nach dem Zweck des menschlichen Lebens ist ungezählte Male gestellt worden; sie hat noch nie eine befriedigende Antwort gefunden, lässt eine solche vielleicht überhaupt nicht zu.« Und mit Blick auf den Wunsch des Menschen ›glücklich-sein‹: »die Absicht, dass der Mensch ›glücklich‹ sei, ist im Plan der ›Schöpfung‹ nicht enthalten.« (Das Unbehagen in der Kultur. (Hier) Frankfurt/M 1994. S 42)

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gisch, oder auch philosophisch ›letzten Sinn‹. Eine alles umfassende ›kosmische‹ Ordnung, auf die Mensch-sein, komme was wolle, teleo­ logisch bezogen bleibe. Erfahrung von Sinn überhaupt für mich und uns; Sinn, der zusammenfalle mit ›absoluten Seins-Sinn‹; vielleicht verdichtet als ›Weltgeist‹, der am Ende der Geschichte zu sich komme, uns jetzt aber schon ausrichte und zwinge. – Das ist etwas, das für uns hier und jetzt, für unser neuzeitlich aufgeklärtes Welt- und Selbstverständnis grundsätzlich ausgeschlossen bleibe; und auch für unsere existentiell-phänomenologischen Reflexionen. Es mag mir beispielsweise als religiösen Menschen nicht recht sein. Wir sind endgültig aus Welt als uns tragenden ›Kosmos‹ gefallen. ›Welt‹ (nur noch ein Abstraktum) das dränge sich auf, stehe uns gleich-gültig gegenüber; wir haben uns mit unserem fragmentierten, fragilen WeltHaben zu begnügen. (›Und die Welt, die ist euch gar nichts schuld:/ keiner hält euch, wenn ihr gehen wollt./ (B. Brecht) Man vergleiche es (soweit wir es sehen können) mit Zeiträumen, in denen Mensch sich irgendwie als ›eingestellt‹ in Welt erlebte (trotz aller erlebten Härten); alles, so scheint es uns, die Sterne, der Vogelflug, diese oder jene Naturereignisse; usw. noch zu ihm sprach.335 – Wir werden sehen, dass das, anders als es beispielsweise Friedrich Kracauer zu sehen vermeint, kein existentielles Defizit sein brauche.336 Wohl aber eine nicht nachlassende, eine nicht-leicht-zunehmende Herausforderung existenz-phänomenologischer Reflexion dieser Reflexionen. Mensch scheine, hier werden wir sicher übereinkommen kön­ nen, selbstverständlich ausgerichtet auf ›Sinn‹; auf ›Sinn-Haben‹ wollen; auch ›Sinn-Brauchen‹. Zumindest also das. Mehr soll vor­ erst auch nicht gesagt sein.337 – Man denke in diesen Zusammen­ 335 Dagmar Nick. Hybris. ›Wir sind nicht mehr die gleichen./Uns ätzte das Leben leer./Es gibt keine mystischen Zeichen,/es gibt kein Geheimnis mehr.// Wir trei­ ben durch luftlose Räume/erloschenen Angesichts./Die Nächte verweigern uns Träume,/die Sterne sagen uns nichts.// Wir haben den Himmel zertrümmert./Das Weltall umklammert uns kalt./Der Tod lässt uns unbekümmert./Wir haben Gewalt. 336 »Wenn der Sinn verlorengeht (im Abendland seit dem Erlöschen des Katholizis­ mus), wenn der bestimmt geformte Glaube mehr und mehr als beengendes Dogma, als lästige Fessel der Vernunft empfunden wird, bricht der durch den Sinn zusammen­ gehaltene Kosmos auseinander und die Welt spaltet sich in die Mannigfaltigkeit des Seienden und das der Mannigfaltigkeit gegenübertretende Subjekt.« (Soziologie als Wissenschaft. In Werke Band 1. Frankfurt/M 2006. S 12) 337 Etwa so: »Die Sinnbereiche sind in sich geschichtet. Die ›untersten‹, einfachen Typisierungen, auf Gegebenheiten von Natur und Sozialwelt bezogen, sind die Grundlage verschiedener Erfahrungs- und Verlaufsmuster. Auf der Grundlage dieser

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hang (als beiläufige Illustration) beispielsweise an die uns wohl vertraute, zumindest hintergründig präsente Grund-Ausrichtung des Menschen, ›glücklich-sein-zu-wollen‹; und der (nicht nachlassend) tragende Glaube, es auch ›zu-können‹. In unserem phänomenologi­ schen Blick hier als starke ›irrationale‹ Sehnsucht.338 (All die hier sich weiter daraus ergebenden Fragen bleiben außen vor.) Eine Sehnsucht, die sich bekanntlich bis zu der unbedingten Forderung versteigen könne, irgendwie und warum auch immer, Mensch habe ein ›Recht auf Glück‹. ›Glück‹ sei etwas, das Mensch von Natur aus zustehe. Phänomenologisches Philosophieren als existentielle Reflexion der Reflexionen bleibt der wirklichen und wesentlichen Wirklichkeit unseres Da-und-So-Seins verpflichtet. Dieses prinzipielle Hinschauen auf das was Mensch wie wirklich existentiell bewege, und ihn (er mag wollen oder nicht) ausrichte, ist keineswegs metaphysisch-spekula­ tive Fragen-fragen; kein absonderlich abwegiges-reflektieren; sich so in ein Absurdes zu versteigen. Wissenschaftlich abzulegen etwa als Vorstellung unaufgeklärter ›Reminiszenz theologischer oder philoso­ phischer Kindheit‹. Letzte mythologische Reste, die sich in unser säkulares, wissenschaftlich aufgeklärtes Zeitalter ›hinübergerettet‹ hätten. Gerne werden diese Erklärungen noch verbunden mit der Forderung: man möge nun endlich dafür sorgen, (durch Politik, den Medien, forcieren der Bildung, Volkserziehung) dass die ›naiven‹ Menschen zur Mündigkeit einer Selbstverantwortung hin erzogen werden. Ein Auftrag vor allem an Soziologie, Psychologie, Pädagogik, auch an die Medien und nicht zuletzt an die Politik. Die Erfüllung des, sagen wir, von Kant bis zu Freud (um nur diese beiden zu nennen) geforderten und immer wieder aufs Neue in Erinnerung gerufenen Programm der vernünftig-wissenschaftlichen Aufklärung. Zusammengefasst, sich aus ›selbstverschuldeter Unmündigkeit‹ her­ auszulösen. Die Philosophie habe mit dafür Sorge zu tragen, dass Mensch endlich erwachsen werde. Gleichsam endlich mit beiden Beinen auf seiner, auf unserer Erde bleibe. Und ›den Himmel den Typisierungen werden Handlungsschemata entwickelt; diese sind über Handlungsma­ ximen auf darüberstehende Werte gerichtet.« (Peter L. Berger. Thomas Luckmann. Modernität, Pluralismus und Sinnkrise. Die Orientierung des modernen Menschen. Gütersloh 1995. S 17) 338 Denken wir an Novalis (Hymnen an die Nacht): ›Die Sternenwelt wird zer­ fließen/Zum goldenen Lebenswein./Wir werden sie genießen/Und lichte Sterne sein./Die Lieb ist frei gegeben/Und keine Trennung mehr./Es wogt das volle Leben/Wie ein unendlich Meer/Nur eine Nacht der Wonne-/Ein ewiges Gedicht (..)‹.

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Engeln und den Spatzen‹ überlasse (Heinrich Heine). Ein großes, großartiges Programm. Wahrhaftig ein ›Menschheitsprojekt‹. Dagegen scheinen existenz-phänomenologische Absichten bescheiden; unspektakulär; beinahe schon philosophisch ärmlich. Methodisch gefasst als schlichter Appell: schau in jedem Fall einfach selbst hin und dir und deinem Schauen selbst zu! Das ist systema­ tischem Philosophieren verpflichtet bleiben. Also, eine Reflexion der Reflexionen unserer Welt-Habe und unseres Selbst-Sein; und immer nur soweit uns unser (nun gemeinsames) Schauen wirklich trägt. – Wir selbst sind es doch, die schon in alltäglichen Lagen, ›tatsächlich‹ unser In-der-Welt-Sein (zumindest dann und wann) als irritierend und perturbierend erfahren. Und dies wiederum, das scheint uns selbstverständlich, selbst zu reflektieren vermögen. Von dort her rücken wir noch radikaler uns als Philosophierende selbst philosophierend in den Blick.339 Unsere philosophischen Reflexionen, als die uns selbst zugeordneten Leistungen der Welt- und SelbstErfahrung, dabei wieder und immer wieder selbst (und gemeinsam) reflektierend. Gerade so bestimmen, verorten wir uns selbst als wesentlich wirkliches und wirklich wesentliches Da-und-So-Sein. Wir-Sind-wirklich-So-Da; da in und mit dieser unserer Welt-Habe. In unserem Blick als unsere reflektierte existentielle Gestalt und lebensweltliche Gestaltung unseres wirklichen und wesentlichen Soin-der-Welt-Seins.340- Erst diese existentielle reflexive Reflexion der Reflexionen‚ reflektiert nun letztmöglich, und wortwörtlich auch die, horizontal und vertikal umspannenden Ordnungen unseres Welt- und Selbst-Seins. Kurzum, unser So-Sein ist Da, als lebensweltlich ›einge­ faltetes‹; als wesentlich wirkliches In-der-Welt-Sein. Selbst die durch­ aus unterschiedlichen Perspektiven, Widersprüche, ja Zweifel, die unsere philosophischen Reflexionen begleiten, bleiben immer inner­ Dieter Henrich fasst das zurecht so: »Philosophisches Denken kommt in jedem Menschenleben spontan auf. Es wird also auch unter allen kulturellen Bedingungen zu irgendeiner ihm mehr oder weniger gemäßen Weise finden, sich zu realisieren.« (2006). S 67 340 Descartes kann die wirkliche Wirklichkeit nicht begreifen. Für Helmut Kuhn liegt die Herausforderung so: Das Reich der Sinnhaftigkeit »ist immer schon da, wir bewegen uns in ihm, noch ehe wir es gedacht haben, und die Schwierigkeit der Analyse besteht hier darin, die Vielartigkeit der Gestaltung auf seine ermöglichenden Bedingungen hin durchsichtig zu machen. Seiner Universalität wegen droht der Gegenstand zu verschweben und wir müssen ihn durch Negation umgrenzen.« (1981). S 259 339

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halb unserer Möglichkeiten. – Eine uns theoretisch und praktisch erschütternde und zugleich erhebende Selbstverantwortung. (Auch diese eigenartige Spannung, darf nicht als selbstverständlich abgetan werden.) – Recht verstanden ist dies durchaus ein ›transzendieren‹. Sich selbst als ›dieses-so-wesentlich-wirklich‹ einsehen (ein sich selbst konstituieren) ist auch ein sich überschreiten-können durch reflexive Reflexion unserer Reflexionen. Bewegungen, die so-weit wir über­ haupt unsere Geschichte zu schauen vermögen, dem doch endlichen Menschen wirklich zuzukommen scheinen. Uns also (als Leistung) ›zukommen‹, nicht aber ›einfach zwingend zufallen! – Führen wir es uns an wohl jedermann vertrauten Spannungen vor. Man denke etwa an die von C. G. Jung so dicht zusammengefasste Einsicht, dass wir Menschen, ohne Zweifel, »im ganzen genommen weniger gut sind«, als wir es uns selbst einbildeten oder selbst wünschten.341 Schon allein, dass wir uns immer wieder ermuntern, auffordern: nicht vom rechten Weg abzukommen; oder die Forderung, edel sei der Mensch, hilfreich und gut; oder die im Gebet vorgebrachte Bitte, erlöse uns von dem Bösen, führt uns, unser immer schon über uns-hinaus-sein vor. Und doch sind und bleiben wir es immer selbst, die uns als gespanntes So-Da-Sein gerade so vorstellen. Das beschreibt Anlass, Form und zugleich, und immer wieder von Anfang an, die wirklichen theoretischen und praktischen Herausforderungen unseres existenti­ ellen Philosophierens. Phänomenologisches Philosophieren, sagen wir, setzt ein und verwirklicht sich als existentielle Bewegung der Reflexion der Reflexionen. Und reflektiert sich so selbst als reflexive Reflexion. Das ist ganz in der Ordnung der ›radikalen‹ Möglichkeit der Reflexion. Ein eigenartiges über-sich-hinaus-wollen. Und wie immer wissenschaftliche Vernunft auch dazu stehen mag, letztendlich die Erfüllung eines ›existentiellen müssen‹. Man mag es verwirrend, umständlich, nicht zielführend finden. Dazu noch ein vorsichtiges Philosophieren dem jede mitreißende Leichtigkeit und dann auch noch die ›großen Themen‹ zu fehlen scheinen. Gerade aber mit diesen (vielleicht sogar) abstrakt und schwerfällig scheinenden systemati­ schen Bewegungen der Reflexion, findet Mensch und Menschsein sich auch historisch und biographisch wieder. Gerade als entschieden und radikal Philosophierende finden wir also zu uns selbst; zu uns als wirkliches (irritiertes und perturbiertes) In-der-Welt-Sein; als So-DaSein, das sich als wesentlich wirkliches So-Da-Sein zu reflektieren, 341

Psychologie der Religion. München 1951. S 79

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zu schauen, und in unserem Sinne, zu übersteigen vermag. – Das setzt philosophisch die Bereitschaft voraus, sich rückhaltlos in ›ein wirklich Offenes‹ zu stellen. Sich damit aber auch (irgendwie) nach ›vorne‹, oder nach ›oben‹ auszurichten, zu orientieren. (›Wirf aus den Armen die Leere/ zu den Räumen hinzu, die wir atmen; vielleicht dass die Vögel/die erweiterte Luft fühlen mit innigerem Flug.)342 – Das also bestimmt, dicht zusammengefasst, die Erfahrung des existentiellen Philosophierens; unser Vermögen der reflexiven Refle­ xion der Reflexionen eines Reflektierenden. Dieses Philosophieren setzt die Bereitschaft voraus, sich überhaupt so radikal auszurichten, einzustellen, so sich überhaupt orientieren zu wollen. Selbst noch die durchaus mögliche Erfahrung mit unserem Philosophieren (unserer Sinn-Suche) frustriert zu werden, lesen wir phänomenologisch als Bestätigung unseres Philosophierens, als Hinweis auf existentiellen Sinn.343 – Ein Philosophieren, ein herausfordernd angespanntes Leis­ ten; ein Sinn-suchen für uns, das ganz und gar nichts gemütliches, interessante, elitäres, nichts romantisches an sich hat. Nach dieser ausholenden Erinnerung zurück zur Ausgangsfrage. – Das was wir gemeinhin ›Sinn‹ nennen, zu begreifen, einzuholen, zu leben suchen, versteht sich schon für unseren Alltag als selbst­ verständlicher Horizont für wirkliches und wesentliches Da-und-SoSein. Das stellt eine für uns, zuerst und zumeist, im Hintergrund ver­ bleibende existentielle Grund-Ordnung unserer Lebenswelt, unseres So-in-der-Welt-Sein. – Phänomenologisch reflektiert als Form und Gestalt der Bedingung unserer lebensweltlichen Wirklichkeiten; und gerade so praktisch konkret vorgestellt, präsent, mit-da mit diesen oder jenen ›Inhalt‹. Das fällt bisher also nicht aus unserer (auch onto­ logisch) vertrauten ›Welt‹, unserer Welt-Habe und unseres SelbstSeins.344 Wir bewegen uns so eingestellt, auch mit den Möglichkeiten Duineser Elegien. Die Erste Elegie. Bei Viktor Frankl beispielsweise so: »Dem Psychiater von heute begegnet der Wille zum Sinn nicht selten in Form seiner Frustration. (…) Der existentiell frustrierte Mensch kennt nichts, womit er sein existentielles Vakuum, wie ich es nennen möchte, auffüllen könnte.« (Das Leiden am sinnlosen Leben. Psychotherapie für heute. Frei­ burg. Basel. Wien 1977. S 75) 344 Z. B. Peter L. Berger/Thomas Luckmann. Erfahrungen hätten zunächst noch keinen ›Sinn‹. »Indem sich aber ein Erfahrungskern vom Erlebnisgrund abhebt, wird vom Bewusstsein zugleich die Beziehung dieses Kerns zu anderen Erfahrungen erfasst. (…) So konstituiert sich die elementarste Sinn-Stufe. Sinn ist nichts anderes als eine komplexe Form von Bewusstsein: Er existiert nicht für sich allein, sondern hat 342

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phänomenologischer Soziologie und Psychologie. Diese phänomeno­ logisch-soziologischen, -psychologischen (-psychiatrischen) Refle­ xionen sind (wir haben davon schon gesprochen) Möglichkeiten, das uns existentiell bewegende auch praktisch in anthropologisch-lebens­ weltliches Spiel zu bringen.345 – Dieser, zunächst wie auch immer präsente ›Sinn‹ (für uns beispielsweise da als Sehnsucht, Hoffnung, Glauben; oder als selbstverständlich gedankenlos gelebte Praxis; oder ausgerichtet auf ein, wie man sagt, ›erfülltes‹ oder eben ›glückliches‹ Leben‘), reflektiert sich phänomenologisch als ›narratives Ereignis‹. Auch das ist für uns eine selbstverständlich vertraute und (wir mögen darauf achten oder nicht) notwendig Gestaltung. Unserer Da-und-So-Seins (die Ordnung von Selbst-Sein und Welt-Haben) stellt sich her (konstituiert sich) als zusammenhängende Rede und Verstehen dieses So-Vorgestellten. Phänomenologisch eingeführt als, auch unwillkürliche, Zusammenstellung haltgebender, existenti­ ell-tragender, sinnstiftender ›Erzählungen‹.346 Das sind keineswegs schon erkenntnistheoretische oder ontologische Perspektiven. Es sind existenz-phänomenologisch gelesen, zuerst und zumeist hintergrün­ dig präsent, praktische Vorstellungen gelebten ›Willens zu Sinn‹ (V. Frankl). Phänomenologisch zu lesen auch als Bestätigung, dass Menschsein (Mensch mag wollen oder nicht) auch ›Sein zum Sinn‹ sei. – Das sehen zu können, brauche sicher keine umständlichen theo­ retischen Hilfestellungen; keiner ausführlichen wissenschaftlichen

immer ein Bezugsobjekt. Sinn ist das Bewusstsein davon, dass zwischen Erfahrungen eine Beziehung besteht.« (Gütersloh 1995. S 11) 345 Alfred Schütz. Thomas Luckmann beschreiben es für eine phänomenologische Soziologie so: »Wenn das Ich auf seine eigenen Erfahrungen hinblickt, genauer: zurückblickt, hebt es sie aus der schlichten Aktualität des ursprünglichen Erfah­ rungsablaufs heraus und setzt sie in einen über diesen Ablauf hinausgehenden Zusammenhang. Dieser weist notwendig über das schlichte Engagement des Ich in seinen Erfahrungen hinaus. Ein solcher Zusammenhang ist ein Sinnzusammenhang;“ (Strukturen der Lebenswelt. Konstanz 2003. S 449) 346 Bei Husserl so: »Der Einheit der Rede entspricht eine Einheit der Meinung, und den sprachlichen Gliederungen und Formen der Rede entsprechenden Gliederungen und Formungen der Meinung. Diese aber liegt nicht äußerlich neben den Worten; sondern redend vollziehen wir fortlaufend ein inneres, sich mit den Worten ver­ schmelzendes, sie gleichsam beseelendes Meinen. Der Erfolg dieser Beseelung ist, dass die Worte und die ganzen Reden in sich eine Meinung gleichsam verleiblichen und verleiblicht in sich als Sinn tragen.« (FTL. S 26 f.)

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Erklärungsversuche.347 Sind es doch Erfahrungen mit uns selbst. So bestimmt sich schon die alltägliche Auswahl und vertraute Ord­ nung unserer Welt-Habe. Man betrachte doch nur unsere (für uns konstitutiven) biographischen Erinnerungen, (‚damals als ich‘; ‚und dann sind wir‘; ‚schließlich habe ich‘); genauso wie ein, ›nach vorne ausgreifen‹, ›in eine Zukunft entwerfen‹. Konstitutionen, was immer sonst noch, unseres wirklich sinnvollen In-der-Welt-Seins. Auch dort noch, wo Mensch schicksalhaftes Ungemach (wie man sagt) ›ereilt‹, oder mit Sorge und Angst sich auf kommendes Ungewisse einzustel­ len versucht. Auch das gibt Sinn; (wenn vielleicht auch nicht den gewünschten). – Denken wir auch in diesem Zusammenhang, an die ›schöne Literatur‹. Wobei die ›literarische Qualität‹ dabei nicht inter­ essiert. Etwa im Allgemeinen an Geschichten von Glauben, Hoffen, Lieben; oder an Ideen wie tragisch, episch, lyrisch; an Geschichten vom Scheitern, Verzweifeln, ›Sinn-Losigkeit‹, Leid; sogar Entfaltung nihilistischer Perspektiven; etwa, beispielsweise, einem scheinbar ganz und gar sinnlosen Sterben; u.Ä. Oder auch ganz und gar Abwegiges; Unheimliches; Spuk; Erzählungen von fremden Welten. Oder auch nur Geschichten, die lediglich Alltag als trivial-alltäglich (man mag sagen: ›naturalistisch‹) beschreiben; vielleicht auch (und wieder durch Geschichten) zu deuten versuchen.348 Nicht übersehen werden darf, dass der ‚Roman‘ tatsächlich ‚die Wirklichkeit‘ »von der Phantasie abhängig« mache (und nicht umgekehrt).349 Gleich wie, immer scheint zu gelten, wir haben uns und unsere Welt als unsere Möglichkeit der Welt-Habe verstanden! – Man denke hier auch an die alltäglichen umlaufenden Zusammenfassungen, dichte 347 Beispielsweise Lothar Paul. Geschichte der Grammatik im Grundriss. Sprachdi­ daktik als angewandte Erkenntnistheorie und Wissenschaftskritik. Weinheim und Basel 1978 348 Wilhelm Kamlah macht auf die ›philosophische Bedeutung‹ der Literatur auf­ merksam. Die Problematik des ›Leben-könnens‹ durchherrsche weithin die moderne Literatur. »Wo mehr als Unterhaltung geboten wird, da werden Menschen gezeigt, die in Schwierigkeiten und Konflikte verstrickt sind, die ›nicht mehr weiter wissen‹, die an sich selbst oder anderen die ›Leere‹ erfahren, in der sie leben, ohne eigentlich zu leben und so fort. Die Literatur ist heute – oder war bis vor kurzem – vielfach philo­ sophischer als die Zunftphilosophie, und der Schriftsteller wird mehr beachtet als der Philosophieprofessor, weil er ›wesentliche Lebensfragen‹ immerhin stellt, wenn auch nicht beantwortet.« (Philosophische Anthropologie. Sprachliche Grundlegung und Ethik. Mannheim. Wien. Zürich 1973. S 146 f.) 349 André Malraux. Psychologie der Kunst. Das imaginäre Museum. Hamburg 1957. S 20

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(durchaus ›ontologische‹) Sätze mit breiten (›weichen‹) Konnotatio­ nen. Etwa, ›es wäre so schön gewesen‹; oder: ›was nicht ist, kann noch werden‹; auch, ›aus Schaden wird man klug‹; und, ›wo die Nacht am Dunkelsten, ist der Morgen am nächsten‹; oder, ›allen Gewalten zum Trutz sich erhalten‹. Hier ordnet sich (beispielsweise) auch die immer wieder zitierte ›Kölner Lebensphilosophie‹ mit ihrer praktisch gelebten Einstellung ein: ›et hätt (irgendwie) noch immer jot jejange‹! Oder der bekannte Satz: ›wer weiß für was es gut war‹! (Das ›bedeutet‹ nicht weniger Wirklichkeit.) Zu diesen konstitutiven Bestimmungen gehören dann auch die uns nicht weniger vertrauten Selbstbestim­ mungen; etwa, ›so bin ich eben‹; ›dazu lasse ich mich nicht zwingen‹; ›dafür gebe ich mich nicht her‹; ›das geht mir gegen den Strich; ich bin dagegen‹; usw. usf. – Eines verbindet diese Ausdrücke mit unserem (wie man sagt) ›wirklichen‹ Welt-Haben; es sind verwirklichte (kon­ stitutive) Vorstellungen je eigener Sinn- und Seins-ordnung. Dazu gehört auch, und ist davon nicht zu trennen, unser Selbst-Sein- und Welt-Haben-Können in eine Zukunft hinein zu entwerfen; und es verstehen- und ›erzählen‹-zu können, auch dort wo wir, wie man sagt, uns und unsere Welt nicht wirklich wirklich-verstehen können, oder wollen. – Wir bauen, konstituieren und ›leben‹ unwillkürlich und willkürlich Sinnhorizonte; ›gestalten sie mit und werden mit gestaltet; und haben so gemeinsame Lebenswelt-Ordnungen. Also unsere Reflexionen! Unsere Spannungen! Oder auch unsere Wider­ sprüche! Die wir wiederum nun ›reflektieren‹ können. – Wenn wir also von ›Sinn‹ oder auch ›Sinnlosigkeit‹ sprechen, beschreiben wir unser konstitutives Verhältnis und wirkliches und wirklich mögliches Verhalten zu uns selbst und unserer Welt-Habe; zu uns als wirkliches So-in-der-Welt-Sein. Das ist (es mag uns immer bewusst sein oder nicht) ein Arbeiten (und eine Leistung) entlang unserer existentiellen Intentionalität; oder auch so, ein nicht nachlassendes Suchen nach Anschlussfähigkeit an ›gültige‹ Welt-Ordnung. – Um nun nicht missverstanden zu werden. Diese ›Welt‹, als konstituierte, präsente Welt-Habe, muss nicht in jedem Fall von uns in Fülle ›begriffen‹ sein; oder von Grund auf verstanden werden, nicht einmal klar vor jedermanns Augen stehen. So kann beispielsweise dies oder das nur als Art ›Leermeinung‹ virulent und (irgendwie) trotzdem einfach gelebt, gehandelt und ›verstanden‹ werden. Man denke hier nur an die Wirklichkeiten sinnlicher Wahrnehmung. So also stellen wir uns unsere Welt, trotz allen zweifelsohne selbst erfahrenen Wirrnissen, Schrecknissen, erlebter Unordnung

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und Irrsinns phänomenologisch als ›Kosmos‹ vor. Als ein für uns gemeinsam konstituiertes Welt-Haben‘. Zwar nicht mehr als das Ganze eines allumspannenden absoluten Welt-Sinn; eines, vielleicht sogar Werk eines göttlichen Plans; sondern immer noch großartig genug, als unsere Ordnung für unsere gelebte wirkliche Lebenswelt. Unser So-in-der-Welt-Sein. – Zusammengefasst. Wir sind grundsätzlich eingestellt auf ›Sinn‹. Das genüge um theoretisch und praktisch wirklich sinnvoll zu leben, zu denken und handeln zu können. Dafür brauchen wir kein meta­ physisch eingeführtes Fundament. Nicht als ob ich mich dagegen polemisch stelle. Sondern es kann für uns gar nicht mehr anders sein. Für uns als (auch über diese oder jene faktischen Lagen hinaus).inten­ tional ausgerichtetes In-der-Welt-Sein. – Was beeindruckt uns nicht alles als Übel; als schon alltägliche Beschwernis; als uns drückend Belastendes. Und dann noch unvorhergesehene Schicksalsschläge; Krankheiten; Schmerzen; Tod. Auch in der ›Natur‹ (kaum zu überse­ hen) alles andere als wohltuende ›Harmonie‹. Nicht wenige werden daher Nietzsche aus vollem Herzen zustimmen: ›Die Welt – ein Tor/ zu tausend Wüsten stumm und kalt‹. – Aber auch schicksalhafte Widerfahrnisse, Krieg; Krankheit; Unheil, und, nicht zuletzt, unser Sterben müssen, fallen hier nicht aus unserem sinnvollen Horizont So-Da-zu-sein. Sie teilen uns (sogar) entsprechend Sinn mit und sind als so vorgestelltes In-der-Welt-Sein für uns da. – So denken und handeln wir also in Sinn-Ordnungen. Wir können nicht anders. Auch dort noch wo wir uns dieser Vorstellung verweigern. Sinnvoll zu leben stellt die normale Grund-Form für Mensch-sein vor. Wir mögen wollen oder nicht – (Das gilt im Übrigen noch unabhängig davon, in welche für uns als verfügbar oder sogar als unverfügbar gedachte ›Transzendenz‹ wir ›Sinn‹ (oder auch Wahrheit und Gel­ tung) verlegen. Von woher oder auch woraufhin wir unsere ›Werte‹ als bestimmt denken. – Aus dieser existenz-phänomenologischen Perspektive kommt es auf die nicht in unserem Belieben liegenden, uns zugehörenden existentiellen Formen an; die Formen, die uns als ›anthropologische Potenz‹ zustehen; und sich einem willkürlichen Zugriff verweigern.)

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›Sein Ich verfehlt – und das ist schon ›Symptom‹ – das du, wenn auch die Rede an und für sich noch ganz ›vernünftig‹ zu sein scheint; denn zunächst redet der Wahnsinnige in ›pneumatologischen‹ und in der Folge erst auch in intellektuellem Sinne irre.‹350 (Ferdinand Ebner)

Das bisher entfaltete mag heftigen Widerspruch hervorrufen. Sogar unser phänomenologisches Grundprinzip, wirklich selbst-zuschauen, könne man, wie man meint, gegen unser Philosophieren selbst, wenden. Etwa, ob man denn ernsthaft an den Irrnissen und Wirrnissen, an so mancher offensichtlichen (wenn auch möglicher­ weise selbstverschuldeten) Ordnungs- und Sinnlosigkeit der Mensch treffenden Widerfahrnisse, ja sogar einer Absurdität und Wertlosig­ keit schon von Alltäglichstem vorbeisehen könne und als Philoso­ phierender dürfe?351 Von Fragen nach ›letztem‹ Sinn für Mensch und Menschsein überhaupt, sei dabei noch ganz geschwiegen. – Zweifellos sind da unsere Erfahrungen von uns Unverständlichem; von Irrsinn, (u. Ä.) die existenz-phänomenologisch nicht einfach übergangen wer­ den können; sich auch nicht mit leichter Hand zurückweisen lassen. Die gerade wir als Existenz-Phänomenologen uns besonders klar vor Augen zu führen versuchen. – Um hier also keine falsche Spur zu legen. Die Lebens-Welt als unseren selbstverständlich scheinen­ den Sinn-Horizont existenz-phänomenologisch verstehen, schließt gerade ein: wahrnehmen, reflektieren, von uns zusammenhanglos Das Wort und die geistigen Realitäten. Pneumatologische Fragmente. Innsbruck 1921. S 47 351 »Aufstehen, Straßenbahn, vier Stunden Büro oder Fabrik, Essen, Straßenbahn, vier Stunden Arbeit, Essen, Schlafen, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Frei­ tag, Samstag, immer derselbe Rhythmus – das ist sehr lange ein bequemer Weg. Eines Tages aber steht das ›Warum‹ da, und mit diesem Überdruss, in dem sich Erstaunen mischt, fängt alles an.« (Albert Camus. Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. (1942) (Hier) Gütersloh. S 20 f.) 350

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scheinenden ein; uns im Grunde unverständliches; also (wie man glaubt) Irrationales; etwa sinnloses Leiden; und Schmerz, Angst, Sterben müssen oder auch (das mag mir unbegreiflich sein) sterbenwollen; oder schon ein sich-grundsätzlich-nicht-mehr-auskennen, ein verwirrt sein; also praktisch und theoretisch bestürzende Erfahrungen von existentieller Aporie. Wer ist davon in seinem Leben wirklich unberührt geblieben? Der Wille zum Sinn kann sich phänomenolo­ gisch sogar vorstellen, es mag paradox anmuten, als, aus dem Leben sich verabschieden wollen und können. (Wie bei Ellen West.)352 Es bleiben, wenn nichts mehr zu bleiben scheine, das Fluchen, das Gebet, der Trotz, und das sich aus dem Leben verabschieden; aber vor allem bleibt die Reflexion.353 Das alles zeigt phänomenologisch die Wirklichkeit existentiellen Sinns; von uns registriert als Vorstellung von (in jedem Fall) Sinn-Entwerfen. Ein existentielles Aufbäumen als Akt der Selbstbestätigung; auch das nichts weniger als existentielle Sinnstiftung. Du sagst, das wäre ein schwacher Trost? Ich weiß. Es sollte auch beileibe keiner sein! – So wäre also phänomenologisch weiter zu entfalten, (um an diesem einen anzuknüpfen) existentiell zu reflektieren: Sinn-Haben, Sinn-Verstehen, Sinn-Leben, als die uns wirklich und wesentlich zuge­ hörige existentielle Herausforderung der Reflexion der Reflexionen. Dafür ist noch genauer hinzuschauen auf unsere wirkliche Lage; auf unser uns herausfordernd irrationales, unser fragiles Da-und-SoSein. – Hier prallen die unterschiedlichsten Vorstellungen aufeinan­ der. Aus nachvollziehbarem Grunde. Es geht nämlich wahrhaftig auch praktisch-existentiell um uns selbst. – In einem werden wir nicht in Widerspruch zueinander geraten. Wie immer man sich dazu auch positioniere; wie immer wir diese Fragen für uns selbst in den Blick rücken und uns deutend zurechtlegen. Gleich also, ob beispielsweise, idealistisch, naturalistisch, psychologistisch. Wirklich wesentlich Grund der ›Bestimmung‹ eines Menschen, ist immer Vgl. Ludwig Binswanger (1994) Dicht gestaltet bei Christine Lavant: ›Du hast meine einfachen Wege durch­ kreuzt/und mich am Kreuzweg allein gelassen/in einer unmenschlichen Land­ schaft./Fröstelnd redet mein Schatten mir zu/von der Fundkraft deines hochheiligen Namens,/der jede Richtung zum Ziele führt,/und vom treuen Gang der Gestirne./ Aber du wirst meinen Schatten verzehren,/die Gestirne verlöschen und deinen Namen/aus meinem Blut und Gedächtnis tilgen,/um mich ganz zu verwirren./Wem hast du meinen Engel geschenkt,/die Zuflucht meines entsetzten Herzens/und den Trost meiner Augen?/Du hast meine einfachen Wege durchkreuzt./Ich werde mich niemals wieder bekreuzen,/so bitter schmerzt mich dies Zeichen.‹ 352

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seine je eigene Intentionalität. Sie stellt in jedem Fall die theoretische und praktische Grund-Form seines In-der-Welt-Seins. Als konstitu­ tive Leistung seiner überhaupt möglichen Welt-Habe und seines Selbst-Seins. – So reflektiert sich auch diese phänomenologisch weite ›Erfahrung von Sinn‹ (unser Sinn-Haben; Sinn-Behaupten) ›entlang‹ unserer umfassenden, existentiellen Intentionalität. (Dass gerade so auch die Bedingung der Möglichkeit unseres phänomenologischen Philosophierens, als unsere reflexive Reflexion der Reflexionen, noch deutlicher in unseren Blick kommt, ist sicher kein Zufall.) -

9.1. Uns umgreifender gemeinsamer Sinn Schau also einfach weiter hin und unserem Philosophieren selbst zu. – Mensch als wesentlich wirkliches, als intentionales So-in-der-WeltSein, kann, das drängt sich phänomenologisch auf, nicht aus seinen ihm in jedem Fall zugehörigen ›existentiellen Sinn‹ herausfallen.354 Aus der Ordnung seines Da-und-So-in-der-Welt-Sein. – Also noch einmal noch genauer, und noch einmal von Anfang an hingeschaut auf unser So-Da-Sein. Wesentlich wirkliche Lebenswelt, unser So-inder-Welt-Sein werden schon für den Alltag als sinnvoll eingerichtet gelebt und erlebt; ›erzählt‹ und phänomenologisch reflektiert. Das präsentiere, so haben wir gesagt, keine beliebig-private Ordnung; keine zufällige individuelle Lage. (Einer hat es, eine andere eben nicht.) Horizontale Ordnungen der (im Plural) Lebenswelten werden konstituiert, in den Blick gerückt im gelebten miteinander (das setzte eine eigene Form der Erfahrung). Das schließt auch gegeneinander, oder nebeneinander leben ein. Auch das ist von anthropologischer Bedeutung. Lebenswelt ist wirklich als unwillkürlich ›von uns breit‹ gesetzt; und als Erfahrung von Möglichkeiten präsent; und kann auch nur so von uns als wirklich gelebt werden. Die Formen der Ordnungen sind für Mensch als In-der-Welt-Sein in jedem Falle schon da (die Inhalte mögen im Einzelnen sein wie und was auch immer) und wer­ den für ihn Sinn-relevant als unsere (einschließlich der auch nur mög­ 354 Noch einmal Berger/Luckmann: »Sinn ist nichts anderes als eine komplexe Form von Bewusstsein: Er existiert nicht für sich allein, sondern hat immer ein Bezugsobjekt. Sinn ist das Bewusstsein davon, dass zwischen Erfahrungen eine Beziehung besteht. Aber umgekehrt gilt: Der Sinn von Erfahrungen – und (…) von Handlungen – wird durchbesondere ›relationierende‹ Bewusstseinsleistungen erst hergestellt.« (Gütersloh 1995. S 11)

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lichen) ›Geschichten‹. Sind also da als so oder so modifizierte ›TextReihen‹. Präsent (vielleicht auch nur ›hintergründig‹) im Umlauf als unterschiedlich modifizierte und markierte ›Erzählungen‹. Sind es doch Varianten, oder Verwirklichungen eines dem In-der-Welt-Sein vorgegebenen ›Sujet‹. Selbst ›privatestes biographisches Material‹ bleibt hier für das große Ganze sozialer Lebenswelten anschlussfähig. – Das zu sehen, wahrzunehmen, zu schauen, braucht wiederum keine ontologischen, erkenntnistheoretischen, oder psychologischen, soziologischen Reflexionen. Nun ein Perspektivwechsel. Welche Bedeutung gerade hier ›der schönen Literatur‹ für uns (›wir irritierten, verwirrten modernen Menschen‹) zukomme, könne wohl kaum noch überschätzt werden. Zurecht schreibt Karl Markus Michel, dass sich eine ›zweite Welt der Illusion‹ »mitten in der geschichtlichen« breit gemacht habe; »welche von beiden an der anderen schmarotzt«, sei dabei keineswegs klar. Vielleicht, fügt er hinzu, »gibt es Geschichte nur, wo es Geschichten gibt und nicht umgekehrt.«355 – Wir schauen also hin auf ein uns schon vertrautes Hinschauen auf uns. Der Mensch erfahre sich selbst und andere nie anders als ›narrative Identität‹ (Paul Ricoeur) Wobei ›erfahren‹ phänomenologisch durchaus wortwörtlich zu lesen wäre. Ein sich nach und nach in unserer Lebenswelt und mit der Zeit entfalten. Bewusst und sich-selbst-bewusst-werden durch das, was man von sich und seinem In-der-Welt-Sein, der Lebenswelt, zu erzählen wisse. Ich-bin auch für mich das, was ich von mir selbst und uns zu erzählen wisse. Wortwörtlich ›Bewegungen‹ (Reflexion reiht sich an Reflexion) die man biographisch (›meine Gestaltung‹) und ›historisch‹ (›unsere Geschichte‹) als ›Identität‹ fassen, entfalten und für sich als selbstverständlich ablegen könne. ›Sedimente‹ aus der je meine und unsere Welt-Habe und Selbst-Sein sich zu konstituieren vermag. Dass das bei weitem noch nicht die Komplexität dieses uns selbst und unsere Welt-Habe zu konstituieren fasst, wird nicht verborgen bleiben können. Auf einem ersten Blick aber scheint das durchaus ganz vertraut. Dieses So-in-der-Welt-Sein wird von uns ›selbstverständlich‹ gelebt. Man wird vielleicht fragen, wo denn hier die erkenntnistheoretische oder ontologische ›Pointe‹ liege. Das was philosophisch nottäte sei anders gelagert. Philosophieren habe sich um die drängenden sozialen, gesellschaftlichen, politischen Fragen zu sorgen; habe mitzuarbeiten an der Vollendung der Aufklärung, dem 355

Über Romanlektüre. In: Akzente. Zeitschrift für Dichtung. 5. Jahrgang 1958. S 324

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vernünftigen Projekt der Moderne. Lassen wir uns aber phänomeno­ logisch auf unsere gelebten, sich entfaltenden, erzählten Erfahrungen ein, führt dies in die rätselhafte Grund-Spannung unseres Da-undSo-Seins. Sie stellt die existentiellen Bedingungen, die die bleibend entscheidenden Herausforderungen des Menschen als In-der-WeltSeins grundlegen. Unsere wirkliche Wirklichkeit So-Da-zu-sein, die uns trotz umfassenden, differenzierten Wissen von uns und unserer Welt philosophisch nicht zur Ruhe kommen lässt. Was das denn wäre, was uns immer noch und immer wieder in existentiellen Unfrieden stoße? – Phänomenologisch offensichtlich ist zumindest dies. Unsere ›Identität‹ ist als Selbst-Erfahrung in eins mit ›Welt-Habe‹; (›so bin ich‹; ›so nehme ich mich wahr‹; ›das weiß ich von mir und meiner Welt zu erzählen‹); also ich-bin wortwörtlich die Reflexion, der (wie auch immer) gelebten und erlebten Geschichten. Selbst-Sein und Welt-Habe rücken sich selbst in den Blick als verfasst, eingefaltet, versponnen in Symbole, Symbolsysteme, Symbolreihen. Vorstellungen, die für ein wirkliches So-in-der-Welt-Sein, einem ›Hier und Jetzt‹, immer vorauszuliegen scheinen; ja (zweifellos) voraus­ liegen müssen. Welt-Haben und Selbst-Sein als ›etwas‹, an dem jetzt mein So-Da, unwillkürlich partizipieren müsse. Dieses Dasein (als Gestalt) hat sich für mich praktisch (so muss es mir scheinen) immer schon als Sosein (Gestaltung) eingeführte. Setzt das also nicht voraus (die Frage ist berechtigt) einen Grund, eine ›jenseitige Ortschaft‹ unseres nie anders als faktischen Da-und-So-Sein? Also schließlich doch nun eine metaphysische Verortung. – Das berührt sicher allgemeine erkenntnistheoretische und ontologische Fragen. Aber eben nicht nur. Vorrangig interessieren uns nicht die, mit traditionellen Symbolbegriffen eingeführten Reflexionen.356 Sondern diese Vorstellungen sind für uns Reflexionen unseres So-Da-Seins. Wir reflektieren als erstes wirklich uns selbst und unsere Welt-Habe; einschließlich der Spannung unseres Da-und-So-Seins; Spannungen, die wir nicht weniger selbst erfahren. Das sind und bleiben existenzphänomenologische Reflexionen im Horizont unserer wirklichen Ordnungen; also existentielle Reflexion der Reflexionen unseres Soin-der-Welt-Seins. Dass dies unseren Alltag zumeist praktisch wenig

356 Vgl. z. B. Alfred Schütz/Thomas Luckmann. Strukturen der Lebenswelt. Kon­ stanz 2003. S 653 ff.

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aufzuwühlen scheine, und die Wissenschaften noch weniger beschäf­ tige, gehört als phänomenologische Herausforderung mithierher.357 Das drängt sich wie selbstverständlich auf, soweit wir es phäno­ menologisch auch immer zu denken, zu schauen versuchen. Menschsein als ideale Vorlage eines erkenntnistheoretischen oder anthro­ pologischen Philosophierens, umgreife durchaus auch wirklichen Menschen, ohne dass aber Mensch als dieses eine fragile In-der-WeltSein damit endgültig, restlos umfasst werden könne.358 Weder theo­ retisch; noch weniger praktisch-normativ; nicht einmal mit einem thematisch eng eingeschränkten Philosophieren. – Vielleicht deswe­ gen auch (trotz der doch beeindruckenden erkenntnistheoretischen und anthropologischen Leistungen moderner Philosophie) unsere existentielle Beunruhigung mit Blick auf uns selbst. Im Letzten also, so scheint es nun auch mit Blick auf unser Philosophieren, bleibt es bei einer ›theoretischen Fassungslosigkeit‹ unseres Da-und-So-Seins. Das unser phänomenologisch-existentielles Philosophieren sich hier nicht als Ausnahme vermeine, sollte keiner weiteren Ausführungen mehr bedürfen. – Man fühlt sich nun irgendwie an den märchenhaften Wettlauf zwischen ›Hase und den (wenig fairen) Igeln‹ erinnert. Kein Denken, Erleben, Wahrnehmen, Fühlen, Handeln, verlässt diesen Horizont unserer wirklichen Wirklichkeit. Jede wirklich und überhaupt mögliche, theoretische oder praktische Gestaltung eines »Es gibt gegenwärtig eine große Anzahl von Menschen, die ohne voneinander zu wissen, doch alle durch ein gemeinsames Los verbunden sind. (…) Ihre Tage ver­ bringen sie zumeist in der Einsamkeit der großen Städte, diese Gelehrten, Kaufleute, Ärzte, Rechtsanwälte, Studenten und Intellektuelle aller Art; und da sie in Büros sitzen, Klienten empfangen, Verhandlungen führen, die Hörsäle besuchen, vergessen sie wohl häufig über dem Lärm des Getriebes ihr eigentliches inneres Sein und wähnen sich frei von der Last, die sie heimlich beschwert. (…) Es ist das metaphysische Leiden an dem Mangel eines hohen Sinnes in der Welt, an ihrem Dasein im leeren Raum, das diese Menschen zu Schicksalsgefährten macht.« Siegfried Kracauer. (Die Wartenden). In: (1977). S 106 358 Am wohl eigenartigsten bei Teilhard de Chardin: Oberhalb der tierischen Bio­ sphäre habe man sich eine menschliche Sphäre vorzustellen, »die Sphäre der Refle­ xion, der bewussten Erfindung, der empfundenen Vereinigung der Seelen (die Noo­ sphäre, wenn man so will), und als Ursprung dieser neuen Entität ein Phänomen spezieller Transformation setzen, die das präexistente Erleben ergriff: die Hominisa­ tion.« (Die Schau der Vergangenheit. Olten 1965. S 94); interessant auch bei Ernst Jünger: »Das Bild unseres Planeten ist bereits sonderbar genug. Er hat eine neue Haut bekommen, eine Aura, die aus Bildern und Gedanken, aus Melodien, Signalen und Botschaften gewoben ist. Das ist, auch abgesehen von den Inhalten, eine Stufe der Erdvergeistigung – ja, trotz der Inhalte.« (An der Zeitmauer. Stuttgart 1959. S 138) 357

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Menschen und seiner ›Welt-Habe‹, bleibt in der für ihn schon vor-liegenden Gestalt unseres Daseins.359 Das ist der wesentlich wirklich existentiellen Grund-Lage für unsere überhaupt möglichen Gestaltungen. Aber, selbst Hinweise auf diese oder jene ›historische Gründe‹ (oder soziologische, psychologische oder ökonomische, u. ä.) für diesen uns vorliegenden wirklichen Horizont, ändert nichts an seiner uns doch auch ›übersteigenden‹ Gestalt. Es zeige lediglich dass es auch ›faktische‹ (historische. soziologische; ökonomische; soziale) Bedingungen wirklich gibt, die von uns ›vorgestelltes‹ Poten­ tial ›reflektieren‹. Es ist als ob man nach langen, ausgreifenden Wanderungen, immer wieder, man mag wollen oder nicht, zum Ausgangpunkt zurückkehre. Als ob unsere Wirklichkeiten reflektiert, für uns ein Irrgarten ohne wirklichen Ausgang vorstellten? Jeder dieser uns doch übersteigenden Gedanken, etwa das Sein, das Unbedingte, der Gott, die Welt, lässt sich nicht wirklich aus unserem Denken lösen. Wahrhaftig eine eigenartige Dialektik. Wirklich ein irritierendes Bescheid wissen über unser Welt-Haben und unser Selbst-Sein. (›Und wir: Zuschauer, immer überall,/dem allen zugewandt und nie hinaus!/Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt./Wir ordnens wieder und zerfallen selbst‹.)360 – Das wird uns bis zur letzten Seite nicht mehr loslassen. Schauen wir noch etwas genauer hin auf unseren Zeit-Raum, den wir vielleicht aus einer gewissen Verlegenheit, immer noch ›die Moderne‹ nennen. Nicht verborgen kann geblieben sein, dass mit ›der Moderne‹ auch die kulturellen, ästhetischen, philosophischen Mög­ lichkeiten der ›Kritik der Moderne‹ eingeführt und sogar zunehmend verschärft worden sind. Mit Blick auf die entsprechende Literatur, könne man sagen, sowohl ›quantitativ‹ (die Fülle) als auch ›qualitativ‹ (die Schärfe). Das kann nicht verwundern. Das sind beileibe keine bloß theoretischen Fragen und philosophisch abstrakte Herausforde­ rungen. Beispielsweise die Vorstellung, um sich ›treu‹ bleiben zu können, habe man entschieden schon gegen den Alltag der ›modernen 359 Vielleicht mit Goethe etwas ›pathetisch‹ so: ›Wie an dem Tag, der Dich der Welt verliehen,/die Sonne stand zum Gruße der Planeten,/so bist Du fort und fort gediehen/nach dem Gesetz, wonach Du angetreten./So musst Du sein, Dir kannst Du nicht entfliehen,/so sprachen schon Sibyllen, so Propheten/und keine Macht und keine Kraft zerstückelt/geprägte Form, die lebend sich entwickelt. 360 Aus, ›Die achte Elegie‹.

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Zeiten‹ (wie auch immer) zu opponieren; sich dieser inhumanen Lebenswelt zu entziehen; ein sich gleichsam querstellen zu sollen. Und sei es auch nur, um hier einen Begriff E. Jüngers zu bemühen, in einer Geste ›großer Verweigerung‹: mit Désinvolture! – Dass vor allem Kunst und Literatur schon um die Wende zum 20. Jahrhundert hier ›Reflexionen‹ anbieten, darf als bekannt vorausgesetzt werden. Man denke aber auch an die praktischen Versuche soziales Miteinan­ der neu und endlich, wie man glaubte, der ›Natur des Menschen‹ gemäß zu organisieren.361 – Nicht nur phänomenologisch scheinen diese Vorstellungen als ›Illusionen‹. Ist doch selbst die entschiedenste Kritik, (denken wir an Herbert Marcuse), oder harte Sezession, sogar Revolte, tatsächlich immer noch Verwirklichung der Möglichkeiten dieses ›modernen‹ Zeit-Raums. – Und darüber noch hinausgedacht. Vor allem greift ›Kritik‹ (schon als Möglichkeit des ›Leisten-sollens‹) hier und jetzt nicht nur als ein ›theoretisches Instrument‹. Denken wir an den modernen ›Kritiker von Beruf‹. Sondern praktisch schon für unser So-in-der-Welt-Sein als alltägliche Einstellung von Relevanz. Ein Akt der als Selbstverantwortung von uns nun sogar gefordert werde. Als uns unabdingbar zugehörig gesetzt als Verhalten eines modernes Selbst- und Welt-Verständnis. Als hätten wir diese Mög­ lichkeiten ›kritischer Reflexion‹ gleichsam ›mit der Muttermilch‹ auf­ gesogen. Eine nicht nachlassende Bewegung, ein sich selbst bewegen können und sogar müssen; Vorstellungen, Ideen, auch Perspektiven, in den Blick zu rücken, sich zueignen (kritisch zu diskutieren) und allein schon dadurch ›zu verflüssigen‹ und ›aufzulösen‹. Es scheint uns, als könnten wir nicht mehr anders. Wir werden (so sagt man) immer weiter gedrängt durch unsere uns verpflichtende historische Lage. Wenn man so will, eine fortgesetzte Steigerung der Leistungen unseres ›Reflexions-Niveaus‹. Und dass unsere moderne Erziehung sich – von der Kindestagesstätte an – diesem Ziel verpflichtet wisse, verstehe sich geradezu von selbst. (Kein Schultypus, der sich das nicht auf die Fahnen geschrieben hätte.) – Um es phänomenologisch Vgl. dazu Ulrich Linse. »Von Monte Verità bei Ascona bis Worpswede im Emsland blühen die Gemeinschaften, in denen die alte Einheit von Mensch und Natur erneuert und der Geist seiner eigentlichen Bestimmung zurückgegeben werden soll. Anarchistische, lebensreformerische und anthroposophische Lebensoasen wetteifern miteinander, die Erneuerung aller Lebensbereiche von Tanz bis Rechtschreibung bis zur Kleidung wird geprobt, und von der Revolution der Künste über die Revolution des Sexus bis zur Revolution der Gemeinschaft durch Erneuerung des Matriarchats ist nur ein Schritt.« (Barfüßige Propheten. Erlöser der zwanziger Jahre. Berlin 1983. S 16) 361

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zurechtzulegen und uns existentiell zuordnen zu können, denke man beispielsweise an die (wohl bekannte, immer wieder bemühte) Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Vor allem an die zurecht nach wie vor nicht nur philosophisch geschätzten ›Kritiken‹ Kants. Von uns phänomenologisch gelesen nicht als Beginn (auch nicht als systematischer Anfang) sondern als theoretische Verfestigung und praktisch als Bestätigung ›vernünftig neuer Zeit‹. Ein Versprechen, so der optimistische Glaube, einer kommenden, wesentlich ›hellen‹ Zeit für das Selbstverständnis des Menschen. Dass das weit über bloß erkenntnistheoretische, oder die Klärung dieser oder jener phi­ losophisch-›scholastischen‹ Einzelfragen (auch praktisch) hinausrei­ chen müsse, schien allein schon mit Blick auf die gesellschaftlich umstürzenden Veränderungen Frankreich offensichtlich. – Diese Ein­ stellungen erfüllen (vollbringen) sich in der Tat gerade mit ihrem ›chronisch‹ werden; und dem folgerichtig radikal sich selbst gegen sich selbst richten können; (es ist, ob es einem recht ist oder nicht, sogar wie ein zwanghaftes müssen). Das sei Verwirklichung der Potenz der Möglichkeit der Reflexion, einer sich immer weiter entfaltenden, sich selbst weitertreibenden Reflexions-Geschichte. Folgerichtig also sei ›vernünftige Aufklärung‹ ›philosophische Kritik‹; und genauso ›philosophische Kritik‹ ›vernünftige Aufklärung‹. Man brauche das grundsätzlich gar nicht in Zweifel zu ziehen. Es könne aber, je nach Perspektive, zumindest sehr unterschiedlich gewertet werden. Etwa mit den großen Linien, ›positiv‹ (konstruktiv) oder eben als ›Problemanzeige‹. Man mag es sich also so oder so vorstellen. Enes können wir existenz-phänomenologisch aber nicht aus den Augen verlieren. Ist es doch das, was unsere existentielle Reflexion der Reflexionen trägt. Sich wirklich selbst, mit Blick auf sich selbst, nicht mehr zurückzunehmen; nicht mehr zurücknehmen dürfen; sich nicht mehr zurücknehmen können. Sich selbst also für sich selbst, immer wieder von Anfang an, als der wirklichen Auf­ klärung und der existentiellen Kritik-Bedürftig vorzustellen. Dieses existentielle Philosophieren impliziert die Reflexion der Reflexionen unseres wesentlich wirklichen Da-und-So-Seins. Eine nie zur Ruhe kommende Herausforderung zur selbstgeleisteten Rechtfertigung unseres ausdrücklich wirklichen Welt- und Selbstverständnisses. Das schließt nicht ab (denken wir an das Ziel transzendentaler Reflexion), sondern eröffnet eine eigenartig beunruhigende Dynamik. Aufklä­ rung der Aufklärung; Reflexion der Reflexionen (der Reflexionen); Schauen des Schauens (des Schauens). Unser Philosophieren stellt

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sich vor als endlos scheinende Bewegung unserer Reflexionen. Dieses Philosophieren entspricht unserem sich immer weiter drängenden Selbstverständnis. Dabei sollte philosophisch von uns nicht vergessen werden, dass dazu auch eine kritische-kritische Selbst-Bestimmung gehört. Dieser nicht-nachlassenden Selbst-Kritik, der fortgesetzten ›existentiellen Aufklärung‹ bedürftig erfahren, bedeute nicht nur bloß theoretisch interessant, erkenntnistheoretisch oder anthropo­ logisch herausfordernd genug zu sein; sondern sich praktisch der selbst-zu-leistenden Aufklärung und seiner Kritik als würdig und fähig erweisen.362 Etwa so, ›ich folge nicht nur meiner sich mir aufdrängenden existentiellen Bedeutung (diesseits der allgemeinen Vernunft), sondern schaue meinen Reflexionen genau zu‹. Man mag vielleicht sagen, welch eine konstruierte Sicht. Eine bloß leere existentielle Pathetik! - Erweitern wir etwas unsere phä­ nomenologische Perspektive auf dieses ›kritische‹ Selbst- und WeltSchauen können und sollen. Eine, so haben wir mit uns selbst erfah­ ren, auch praktisch relevante (und mit Blick auf die Gefahr eines Relativismus sicher auch ›notwendige‹) Leistung. Diese Vorstellung der Lebenswelt als Korrelat unseres In-der-Welt-Seins, rückt aus naheliegenden Gründen auch die existentielle Bedeutung des Wirseins noch deutlicher in den phänomenologischen Blick. – Phänome­ nologisches Philosophieren entfaltet das unter der sachlich-nüchter­ nen Überschrift ›Interpersonalität‹. Für uns sind es die Reflexionen der existentiell notwendigen Ordnung: Ich – Du – Wir. Nun führt aber diese phänomenologisch eingeführte ›Interpersonalität‹ selbst eine unser existentielles Philosophieren stark fordernde theoretische und praktische Spannung vor. – Wer, fragen wir, bestimmt letzten Endes denn wirklich und wesentlich den Raum unseres Philosophierens? Man denke nur an das mit unserem existentiellen Philosophieren mitgesetzte kritische Selbst-Selbstverständnis. Auch darüber hinaus sammeln und verdichten sich hier all die, nicht nur das phänomeno­ 362 Ernst Curtius beschreibt die Geschichte der Kritik der Aufklärung (Aufklärung der Aufklärung; Kritik der Kritik) so: „ Das Wesen der ganzen Bewegung war: Vergegen­ wärtigung und Verstehen der gesamten europäischen Tradition. Ein solches Verstehen war aber zugleich Neuwertung und Bewusstmachen. Es bedeutete, wenn ich diesen Ausdruck brauchen darf, eine Integration. Das war nur von einer neuen Bewusst­ seinsstufe aus möglich: Überwindung der Aufklärung durch eine kritische Philoso­ phie. Sie hat in dem halben Jahrhundert, das von Kants Kritik der reinen Vernunft bis zu Hegels Tode reicht, alle Stufen dialektischer Entwicklung durchlaufen – ein Prozess, der seine Analogie in dem Denken der Vorsokratiker hat.« (Goethe als Kritiker). In: (1984). S 28 f.

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logische Philosophieren herausfordernden erkenntnistheoretischen, ontologischen und anthropologischen Fragen. Man denke hier bei­ spielsweise an die sehr konkreten Reflexionen der phänomenologi­ schen Sozialphilosophie; oder phänomenologischen Psychiatrie. – Husserls Schwierigkeiten sind hier immer wieder bemerkt worden; sein Ringen damit aber bleibt philosophisch beeindruckend. Für uns (immer wieder) ein Muster streng-systematischen Philosophierens. Wobei man aber eine gewisse ›dogmatische Engführung‹ seines Philosophierens nicht übersehen dürfe. Unberührt davon bleibt aber seine Forderung, für sein Philosophieren selbst einzustehen; dafür selbst Verantwortung zu übernehmen. Das ist die Leistung unserer (und je ›meiner‹) Reflexionen selbst wieder reflektieren zu sollen und zu können. Eine selbstverständliche Forderung, die der Logik der Reflexion entspricht. Ausdrücklich gilt, dass unser Philosophieren nicht schon (etwa ›transzendental‹; oder sozialphilosophisch; oder von der phänomenologischen Psychologie her) als entschieden gelten dürfe. Sondern gerade im Gegenteil sich als bleibende theoretische Spannung vorstellt; und darüber hinaus nun existentiell aufgeladen, die tradierten geltungstheoretischen Herausforderungen praktisch potenziert. – Gerade existenz-phänomenologisch drängt sich dieses Fragen nach ›unseren Reflexionen‹ auf; und das als (so erfahren wir es) wirkliche und wesentliche ‚Endlosschleife der Reflexionen‘. Ob also (eine ernsthafte Frage) aus unserer existentiellen Perspektive heraus, dies überhaupt gelöst werden könne? Es führt in jedem Fall wiederum die Notwendigkeit der Refle­ xionen des Selbstverständnisses existentieller Phänomenologie vor. Frei nach Wittgenstein, es sind eigenartige ›existentielle Verknotun­ gen‹, denen, um sie zu lösen, unseren wirklichen Irrungen und wesentlichen Wirrungen, umständlich gefolgt werden müsse. Und, um im Bild zu bleiben, nicht wie der berühmte ›gordischer Knoten‹ gewaltsam (idealistisch, naturalistisch, positivistisch) ›durchhauen‹ werden könne. Auch dann nicht wenn sich unser Philosophieren als ›aporetisch‹ herausstellen sollte. Vielleicht liege sogar ›im Scheitern phänomenologischer Reflexionen‹, der für unser existentielles Philo­ sophieren passende Schlüssel. Wie immer wir im Einzelnen uns hier zuordnen. In einem werden wir wieder kaum in Streit geraten. Diesen Fragen nur eine erkenntnis­ theoretische Bedeutung zugestehen zu wollen, verfehlte in jedem Fall ihre grundlegende Bedeutung für unser irritiertes Da-und-So-Sein. – Die phänomenologische Rede von der Mensch existiere, beschreibt

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schlicht auch dieses: er ist von Anfang an praktisch ›So-Da‹ als ‚hori­ zontal‘ und ‚vertikal‘ geordnetes Wir-sein. (»Bloße Seinsidentitäten, wie die des physischen Universums, kann sich im Singular konstitu­ ieren, lebendige Reflexionsidentität eines erlebenden und wollenden Ichs aber nur im Plural.«363) – Nicht als ob sich im ›Wir-sein‹ jede ‚Individualität‘ einebnen würde. Als ob hier ernsthaft existenz-phäno­ menologisch eine ›Priorisierung einer Kollektivität‹ (eines KollektivBewusstseins) ins Spiel gebracht werden würde. Vielleicht sogar, den einzelnen Menschen, sein Da-und-So-Sein ganz und gar (und das nicht nur philosophisch) als bedeutungslos abzutun. Eine Perspektive, deren verheerenden Auswirkungen uns aus der jüngsten Geschichte bekannt sein sollten. All diese Folgen existenz-phänomenologisch zunächst beiseitegelegt. Nicht also weil es mit Blick auf die Lehren aus der Geschichte nicht sein dürfe. Sondern weil wir es selbst als wirklich und wesentlich so schauen. ›Dasein‹ reflektiert sich im Wir-sein, und erfährt und ›lebt‹ sich gerade erst so selbst wirklich und wesentlich als So-Da-Sein; kurz: Ich bin notwendig mit den Anderen. Mehr soll vorerst auch nicht gesagt sein. Das von hier aus, diesem uns notwendigen Mit- und Zueinander (auch Wir-sein ist umgekehrt nicht losgelöst vom Dasein), sich ein Licht wirft auf unser Philosophieren, (als existentielle Reflexionen unserer Reflexionen); und auch auf unsere Wissenschaften, auf unser Künste, und sogar auf praktische Fragen von Schuld und schuldig-werden-können, wird uns nicht entgehen. (Gerade diese Vorstellung wird zumeist als bedeu­ tungsloser säkularisierter Rest theologischer Reminiszenzen abge­ tan.) Hier kann nicht einmal annähernd Umfang und grundlagen­ philosophische Bedeutung dieses, nicht nur für phänomenologische Reflexionen so zentralen Begriffs ›der Interpersonalität‹ vorgestellt werden. So schauen wir nur hin und zu, soweit es für unsere weitere anthropologisch-existentielle Reflexion der Reflexionen (für unser ›endlich/philosophieren) von Bedeutung scheint. Diese Reflexionen, das ist das erste, erschöpfen sich nicht, wie von Husserl und seinem ›Kreis‹ intendiert, in ›geltungstheoretisch transzendentalen Fragen‹. Sondern von dort her erfährt und reflektiert existentielle Phänomenologie sich für den wirklich Philosophierenden als wesentlich praktisch. Eben im Grunde als unsere existentielle Refle­ xion der Reflexionen unseres wesentlich wirklichen So-in-der-Welt363 Gotthard Günther. Schöpfung, Reflexion und Geschichte. In: Beiträge zur Grund­ legung einer operationsfähigen Dialektik. Dritter Band. Hamburg 1980. S 24)

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Seins. Nie ist ein Philosophieren (es mag darauf achten oder nicht) davon losgelöst. Je mein existenz-phänomenologischen Philosophie­ rens bleibt also grundgelegt als kritische Selbst-Selbst-Vorstellung unseres wirklichen So-Da-Seins. Das sind Reflexionen, die sich nicht mehr durch Vorschriften neuzeitlicher (reiner) Vernunft wirklich einholen und begrenzen lassen.364 Das erfüllt im Übrigen auch die, immer wieder vergessene, zurückgestellte, als irrational abgetane existentielle Absicht des Philosophierens der wirklich Philosophieren­ den. Auch das auseinanderdividieren philosophischen Denkens in theoretische und praktische Reflexionen wird existentiell-wirklich geklärt. Und eingeordnet in die Ortschaft unseres Philosophierens. So schärft existentielles Philosophieren, anders als sogenannte wis­ senschaftliche Philosophie zu wissen glaubt, gerade die praktische und theoretische Bedeutung der Philosophie. – Es kann gar nicht oft genug wiederholt werden: Erst wenn wir uns wirklich und wesent­ lich, ohne idealistische oder naturalistische Vor-Urteile reflektieren, wirklich radikal, werden soziale, gesellschaftliche, ethische Heraus­ forderungen, die gegenwärtig zurecht umtreiben, überhaupt erst verstanden werden können.365 In allem Ernst verstanden als unsere uns bleibenden existentiellen Fragen. Sogar als unser philosophisch letztmöglichen Fragen. – Philosophische Fragen, die selbstverständlich wiederum auch, es kann gar nicht anders sein, das Philosophieren als unsere existentielle Leistung in den Blick rücken. Ob, beispiels­ weise, wahres Philosophieren wirklich dieses einsame Denkereignis, die Reflexionen eines ›wesentlich Einzelnen‹ sei.366 Der von Grund an Einzelne gesetzt als Auszeichnung und Dignität wahrer Philoso­ Auch für unsere phänomenologische Perspektive gilt (entsprechend) dieser Satz Heidegger: »Das Denken beginnt erst dann, wenn wir erfahren haben, dass die seit Jahrhunderten verherrlichte Vernunft die hartnäckigste Widersacherin des Denkens ist.« (Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹. In: Holzweg. Frankfurt/M. S 263) 365 Diese Einsicht findet sich, sicher vermittelt auch durch Phänomenologie und dialogischer Philosophie, als psychologische Perspektive. Hans Thomae referiert es so: »Die wahrgenommene oder integrierte subjektive Welt der Familie, der Arbeit, der Schule, die der Nachbarn, der Freunde, der Staatsmänner, der Kollegen ist (…) ein sich neu erschließendes Gebiet für die Psychologie: das ›Bild des Anderen‹ ist nicht länger ein subjektives Abfallprodukt des Verhaltes, sondern dessen Fundament.« (Das Selbstverständnis des Menschen in psychologischer Sicht. In: Menschliche Existenz und moderne Welt. Herausgegeben und mitverfasst von Richard Schwarz. Berlin 1967. S 336) 366 Am entschiedensten wohl bei Kierkegaard. »Was in der Politik und auf ähnlichem Gebieten mitunter ganz, mitunter zum Teil seine Gültigkeit hat, das wird zur Unwahr­ heit, wenn man es überträgt auf die Gebiete der Intellektualität, des Geistes, der 364

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phie und wahrhaftigen Philosophierens. Geradezu ›Schibboleth‹ des wirklich ernsthaft Philosophierenden. Philosophieren, so zusammen­ gefasst, könne jeder und jede für sich, im Grunde nur ›einsam‹ leisten. Eine vom einsamen Gottsucher (der nur alleine vor seinem Gott stehen könne) übernommene Perspektive; für modernes Philo­ sophieren stillschweigend nun als säkularisierte Haltung zurechtge­ legt. Dass niemanden Selbst-Verantwortung für sein Philosophieren abgenommen werden solle und könne (eine Unmöglichkeit), steht nicht zur Diskussion. Es geht phänomenologisch um die wirkliche und wesentliche, eigenartige Bewegung der existentiellen Reflexion der Reflexion unseres Philosophierens. Um die Vergewisserung der Ortschaft der Philosophie, die unseren existentiellen Reflexionen nun die letztmögliche Geltung stiftet. – Als erstes ist in unserem phänomenologischen Blick (wiederum) unser alltägliches, als selbstverständlich gelebtes Miteinander-DaSein. Uns allen als unsere Lebenswelt präsent und vertraut. So selbst­ verständlich von uns gelebt, dass es zuerst und zumeist kaum auffällig scheint. Keiner weiteren Rede wert. Vertraut trotz (und mit) all dem da und dort Befremdlichen und den nicht zu leugnenden Problemati­ ken, den Spannungen unseres So-in-der-Welt-Seins. Dies gehöre, so sagt man, unserem Miteinander-Da-Sein geradezu als Regel zu. Da sind die für uns augenfälligen sozialen Muster. Beispielsweise, sich verstehen, oder nicht; mit- oder gegeneinander reden; streiten, eine Bitte vortragen, aneinander vorbeireden; oder so oder so handeln; verhandeln müssen und können; sich begegnen oder aus dem Weg gehen; andere beachten oder übersehen; sich gemeinsam (auf dieses oder jenes) ausrichten. Kurzum all diese Formen eines nicht nur miteinander sondern auch nebeneinander oder gegeneinander leben; usw. usf. Also, nie anders ›wirklich Da-Sein‹ als eingestellt-sein auf ›Mit-Anderen-wirklich-sein. Das ist für uns vertrautes, alltäg­ liches miteinander Da-Sein. Buchstäblich ›von der Wiege bis zur Bahre‹! ›Ich-bin‹ Gestalt und Gestaltung, die sich in keinem Fall (nicht einmal in der Theorie) aus dem Horizont ›unserer‹ Lebenswelt herausnehmen könne. – Man sollte glauben, dies praktisch leben, wahrnehmen, auch hinreichend verstehen zu können, brauche kein soziologisches, psychologisches Instrumentarium, keine umständli­ chen philosophischen Reflexionen. Wir sind schon praktisch alltäglich Religion.«.(Der Einzelne. Zwei Anmerkungen bezüglich meiner schriftstellerischen Tätigkeit. Frankfurt/M 1990. S 18)

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als In-der-Welt-Sein (geradezu notwendig) aufeinander eingespielt. Im Grunde gestaltet Mensch sich so, immer schon unwillkürlich, als ein verstanden werden wollen und können, und natürlich, verstan­ den werden müssen. Selbstverständlich ausgerichtet auf den, und die Anderen, als nicht weniger wesentlich-wirkliches So-in-der-WeltSein. So-Da-Sein ist in gemeinsamer Lebenswelt sein. Im praktisches Sinne von, ich weiß, dass du weißt, dass ich weiß: dass ich bin, dass du bist, das wir sind. Kurzum, ich bin; du bist; wir sind; unsere Welt ist zweifellos! – Und nun weiter. Selbst das es Abstufungen in diesem unserem Miteinander-Dasein und gemeinsam Welt-Haben gebe, ist uns selbstverständlich vertraut. Diese (variieren wir einen ›Begriff‹ Husserls‘) »wechselseitig aktiv eingehende Einfühlung« (Hua. XV./ 472) bestimmt eine der uns gegebenen ›letztmöglichen‹ erkenntnis­ theoretischen, anthropologischen und sogar metaphysischen Gren­ zen.367 Vielleicht sogar, die Erfahrung eines ›Miteinander-Da-Sein‹, die wir (stillschweigend, vielleicht sogar ›unwillentlich‹) nicht nur als ›Maßnehmen‹ für die unterschiedlichen Möglichkeiten eines Zusam­ mensein-könnens und müssen mit Anderen, sondern auch für unser Welt-Haben eingeführt haben; und selbstverständlich irgendwie auch praktisch leben. Selbst noch Feindschaft, Mord und Krieg gehören als ›unsere Wirklichkeiten‹ noch in diese, dem Menschsein wesentli­ che, interpersonale Ordnung. Also dieses uns wesentlich wirklichen Menschen so selbstverständlich, so natürlich scheinende: mit anderen nicht nur irgendwie zufällig innerhalb einer gemeinsamen Welt ›sich befinden‹; so wie Dinge nebeneinander in Welt liegen können, oder eben nicht; sondern nur gemeinsam miteinander eine Lebens-Welt haben, teilen, verstehen, begreifen, leben können.368 Das ist unser von Natur aus ›Wir-sein‹. Von Natur aus Miteinander-leben (müs­ sen). Auch das faktische neben- und gegen-einander-sein gehört 367 Schauen wir hier kurz auf Martin Buber. »Stehe ich einem Menschen als meinem Du gegenüber, spreche ich das Grundwort Ich-Du zu ihm, ist er kein ding unter Dingen und nicht aus Dingen bestehend. Nicht er oder Sie ist er, von anderen Er und Sie begrenzt, im Weltnetz aus Raum und Zeit eingetragener Punkt; und nicht eine Beschaffenheit, erfahrbar, lockeres Bündel benannter Eigenschaften. Sondern nachbarnlos und fugenlos ist er Du und füllt den Himmelkreis.« (Das dialogische Prinzip. (Ich und Du).Heidelberg 19733. S 12) 368 »Durch alles Nebeneinander, Miteinander, Gegeneinanderhandeln, durch alle praktische Einstimmigkeit und Unstimmigkeit hindurch geht aber dies, dass eine reale Welt ist, der alle Unstimmigkeit nichts anhaben kann, dass, wie unbekannt es ist, was im Konkurs des Von-selbst und Von-uns auch geschehen mag, etwas Bestimmtes doch geschehen wird als ein Geschehen der seienden Welt.« (Hua. XV. S 469)

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hierher. Je eigenes Da-Sein ist wirklich (als So-Sein) innerhalb eines, für uns geordneten, von uns gelebten, ›lebensweltlichen Kontext‹. Und sei es auch nur als alltägliche Feststellung: Ich finde mich hier normalerweise zurecht! Auch diese Welt ist, weil wir sind. Und selbst noch die uns nicht weniger vertraute Möglichkeit ›etwas‹ nicht verstehen zu können; oder, dies oder das sich ganz anders vorgestellt zu haben; oder sich an einem Ort fremd wissen (ich gehöre hier nicht her; oder, ›gehöre nicht dazu‹); oder sogar, sich ›hier‹ nicht mehr ›beheimatet‹ zu fühlen (›transzendentale Obdachlosigkeit‹, Georg Lukacs); oder auch die Erfahrungen ›völligen Chaos‹; oder vielleicht sogar das eigene In-der-Welt-Sein als ›absurd‹, ›sinnlos‹ glauben, (›das alles gibt für mich keinen Sinn mehr‹); setzt zumindest selbst ein miteinander Sinn-verstehen, gemeinsam Sinn-erlebt-haben, voraus. Oder, sei es letztendlich auch nur als vage Hoffnung, kommenden Generationen werde Sinn (Glück; Heil;) aufgehen. – Damit werden wir noch einmal auf die Reflexion unserer Sinnfrage verwiesen. Men­ schen leben miteinander praktisch-unwillkürlich nie ohne ›Aussicht auf Sinn‹; und wäre es auch, Sinn als ›von uns etwas erfahren‹, das hier nicht (mehr) sei‘.369 (‚Heimat ist dort, wo ich nicht bin‘!) So wird ›Sinn‹ für mich also legitimiert als Sinn für uns.370 –

9.2. Ordnung – Sinn – Lebenswelt Wenn wir uns auf diese ›Reflexionen‹ weiter einlassen, verstricken wir uns mit unseren Reflexionen noch verwirrender in diese (schon angesprochene) eigenartige Spannung. Ich bin es doch selbst, der meine Welt-Habe, mein ›Selbst-Sein, einschließlich unserer Refle­ xionen dieses Haben, dieses Seins, eingelassen findet in eine (wir Dazu Fritz Kaufmann: »Was für ein Leben konstitutiv ist, bemisst sich darnach, was denn Leben überhaupt ist. In Deckung mit dem nur anders klingenden Ausdruck – Bewusstsein sei seinem Wesen nach und nach allen Richtungen hin intentionales Bewusstsein – wollen wir sagen, Leben sei, was es ist, dadurch, dass es und wie es von einer Tendenz auf Sinngebung durchwaltet sei.« (1960). S 26 370 Christine Lavant: ›Doch – ich will auch auferstehen/ob zum Fluchen oder Flehen/in der Osternacht.// Wütend wühlt die Macht/meiner Ohnmacht in den Steinen/nach dem kümmerlichen Weinen/dass es nicht versiegt./Immer enger schmiegt/sich die Sterbe-Angst die blinde/an mein Herz, wie Buchsbaum­ rinde/schmeckt die Zunge mir im Munde/streng und bitterlich. Doch ich bin im Auferstehen/um mein Heil in dir zu sehen/bis zur Sterbestunde‹. (Und jeder Himmel schaut verschlossen zu. Wien, München 1991. S 53) 369

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sagen) von Anfang an gemeinsam gestiftete Welt. Diese unsere Welt scheint also nichts weniger als der konstituierte und konstituierende Horizont meiner Reflexionen. – Das ist eine eigenartige Erfahrung, die praktisch nicht durch theoretische Entscheidungen dogmatisch ein für alle Mal gelöst, aufgehoben werden könne. Als ob beispielsweise mit der Einführung des ›transzendentalen Subjekts‹ die ›Sache‹ als geltungstheoretisch entschieden zu gelten habe. Es philosophisch nur noch darum gehen könne, diese ›transzendentale Ordnung‹ genauer zu begreifen, auf den Begriff zu bringen wäre. Es zeichnet gerade Husserls Philosophieren aus, mit diesen ›gewaltsamen‹ Entwürfen der ›interpersonalen‹ Fragen sich nicht wirklich beruhigen zu können. Er sieht sich bis zuletzt (sicher dann auch herausgefordert durch Heidegger und Scheler) gefordert. Auch wenn seine Absicht kaum wirklich Zweifel lassen kann. Wir lassen uns auch hier auf keine idealistischen oder positi­ vistischen Konstruktionen ein. Sondern, wieweit können wir also Selbst-Selbst-Schauen; und unsere Reflexionen im miteinander Phi­ losophieren wirklich rechtfertigen? - Davon gehen wir weiter aus: ›Mensch‹, phänomenologisch als selbstverständlich gelesen, reflek­ tiert und erzählt sich auch als Einzelner, immer notwendig als Wirsein.371 Das sind die, das Selbst-Sein und die Welt-Habe, konstitu­ ierenden Akte. Das stelle dann auch die anthropologisch-soziale Form unseres Daseins. Die Wirklichkeit (die Gestaltung) unseres So-Da-Seins. Die Wirklichkeit, die von den Wissenschaften, etwa, von Psychologie, Soziologie, auch Medizin und Psychiatrie, wie selbstverständlich theoretisch und praktisch vorausgesetzt werde. Wir haben es die existentielle Ortschaft unserer Reflexionen überhaupt genannt. Es kann gar nicht anders sein. Der größte Irrtum, den Erkenntnis- und Wissenschaft-Theorie begehen könne, wäre, »eine Wahrheit zu suchen, die an keinen Ort gebunden ist.«372 Das stellt die Bedingung der Akte unserer Reflexionen, die man philosophierend nicht übersehen könne. Dass dies aber den Wissenschaften in ihrem ›Handeln‹ zumeist selbst nicht präsent ist, entspricht ganz ihrer Bei Heidegger erhält das eine Konnotation, die dem existenz-phänomenologischen Philosophieren fremd ist. »Im Miteinandersein in derselben Welt und in der Ent­ schlossenheit für bestimmte Möglichkeiten sind die Schicksale im vorhinein schon geleitet. In der Mitteilung und im Kampf wird die Macht des Geschicks erst frei. Das schicksalhafte Geschick des Daseins in und mit seiner ›Generation‹ macht das volle, eigentliche Geschehen des Daseins aus.« (Sein und Zeit. 384 f.) 372 Ernst Robert Curtius. Kritische Essays zur europäischen Literatur. (1984). S 265 371

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intentionalen Ordnung. Phänomenologisch aber rücken wir diese ›Selbstverständlichkeit‹ noch entschiedener in den Blick. Phänome­ nologisch geschaut könne dabei nicht mehr übersehen werden, »dass ich meine für mich da-seiende Umwelt habe als in einem Kern wirklich erfahrene und mit einem Horizont möglicher, vermöglich zu antizipierender und nur als Spielraum vorgezeichneter Erfahrungen. Was für mich ist, ist für mich als das (aber spielraummäßig) für alle, für jedermann, der mit mir kommuniziert, Seiende. Ich habe einen offenen Horizont Anderer, und Anderer, die bald passiv sich verhal­ ten, bald aktiv in den Gang ihrer erfahrenen Umwelt, also verändernd eingreifen.«373 – Was wäre dann phänomenologisch gewisser, als unser wirkliches So-Da-zu-sein? Descartes kann uns mit seinen Zweifeln daran nicht mehr ›irre machen‹. So leben wir (ausdrücklich von Anfang an) in und mit unserer Lebenswelt. Man mag darauf im Alltag oder in den Wissenschaften eigens aufmerken oder eben nicht (und das ist sicher die Regel). Die Grund-Wirklichkeit unseres wesentlich wirklichen Da-und-So-Seins geschieht und vollzieht (das ist ‚konstituiert‘) sich zumeist unwillkürlich. Dieses unser So-in-derWelt-Sein umfasst darüber hinaus aber auch mehr oder weniger bewusst eingeführte kulturelle Verschiedenheiten; genauso, wie diese und jene sozialen Segmentierungen innerhalb einer Gesellschaft, bis hin zu dem ›stillen‹, uns verbindenden neuzeitlich-modernen Selbst­ verständnis; etwa, quer durch alle gesellschaftlich trennenden Unter­ schiede, wir aufgeklärt-selbstbewussten Menschen; wir Menschen des 21. Jahrhunderts. – Dass Mensch wirklich und wesentlich sein So-Da-Sein, sein In-der-Welt-Sein selbstverständlich als ›Wir-sein‹ lebt und erlebt, es so leben muss, – er mag wollen oder nicht; er mag darauf achten oder nicht – stellt auch die Bedingung für die, (von Arnold Gehlen nach vorne gerückte), Bedeutung unserer ›Insti­ tutionen‹. Auch hier reicht es nämlich keineswegs, sie lediglich als gesellschaftswissenschaftliches Thema, oder als organisationsprakti­ sche soziale Herausforderung zu lesen. Das sind sie selbstverständ­ lich auch. Phänomenologisch aber werden sie nun darüber hinaus als existentiell bedeutsam vorgestellt und reflektiert. Schon allein, dass die Institutionen dem ›wirklichen Da-und-So-in-der-Welt-Sein‹ wirkliche Gestalt, eine konkrete geschichtliche Form (Gestaltung) geben. Hier gilt sicher sprichwörtlich: ›von der Wiege bis zur Bahre‹. – „Institutionen beziehen ihre Lebenskraft aus der Erhaltung der Selbst­ 373

Hua. XV. S 467

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verständlichkeit“.374 Sie vermögen gerade ›als selbstverständliche Wir-Gestaltung‹ uns hintergründig ›auszusprechen‹, zurechtzuwei­ sen, ›reflektieren‹ und geradeso ›existentiell entlasten‹. Und als diese Vorstellungen unseres notwendigen Miteinander-seins damit auch die selbstverständlichen ›ontologischen‹ Ordnungsmuster unserer Lebenswelt stellen. Das sollte im Übrigen auch den Blick auf das ›man‹ etwas verändern. – Schauen wir hier noch dichter hin. Ohne uns von da oder dort her festlegen zu lassen. Unsere Lebens-Welt, in der und mit der wir leben, wirklich gerade so-da-sind, gilt mit ihren ›Institutionen‹, als uns selbstverständlich. Auch die beeindruckende Stringenz ›idealistischen Denkens‹ hat es nie vermocht den Glauben des Menschen an seine lebensweltliche Wirklichkeit als wirkliche Wirklichkeit zu erschüttern. Das gilt nach wie vor, trotz aller erkennt­ nistheoretischen Unsicherheiten, aller beunruhigenden wissenschaft­ lichen Theorien, auch für unser Welt- und Selbst-Verständnis.375 Descartes Vortrag wird also, auch dort wo er theoretisch zur Kenntnis genommen wird, wohl kaum die alltäglichen Einstellungen zu Welt und Selbst nachhaltig ändern. Lebenswelt und So-in-der-Welt-Sein werden praktisch selbst dann nicht grundsätzlich zweifelhaft, weil da und dort, dann und wann, wir uns getäuscht fühlen, wir uns irren, etwas nicht so ist, wie es zunächst zu scheinen schien, oder wir uns gelegentlich als überfordert erleben. Oder, ‚Unübersichtlichkeiten‘ einer Zeit, die Mensch hier und jetzt für die Wirklichkeit seines In-der-Welt-Seins als immer schon eingepreist erlebt und lebt. Etwa ›ungewisse‹ Lagen, die wir für uns verinnerlicht haben. Man wisse doch, ›beschauliches Leben war gestern‹!376 – Diese herausfordern­ den Erfahrungen lassen sich phänomenologisch sogar für Welt- und Selbst-Erkennen einsetzen. Bieten sie doch die Möglichkeit genauer hinzuschauen und zweifelhaftes (wiederum von Anfang an) zu reflek­ 374 Peter L. Berger. Thomas Luckmann. Modernität, Pluralismus und Sinnkrise. Gütersloh 1995. S 47) 375 Dass das keine existenz-phänomenologische Sondermeinung ist, sollte klar sein. Beispielsweise (noch einmal) Ernst Robert Curtius: »Es gibt kein Leben in abstracto. Ich finde mich nicht nur als denkendes Bewusstsein vor, wie der Idealismus seit Descartes gelehrt hat. (…). In diesem Sinne ist Leben absolute Aktualität gebunden an einen individuellen Punkt des Raumes und der Zeit.« (1985). S 283 376 »Das unbefragt sichere Wissen löst sich auf in ein nicht mehr allzu verbindliches Aggregat nur noch lose zusammenhängender Meinungen. Feste Deutungen der Wirk­ lichkeit werden zu Hypothesen. Überzeugungen werden zu Fragen des Geschmacks. Gebote werden zu Angebote.« (Berger/Luckmann. S 50)

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tieren; Fehlurteile ›zurechtrücken‹; nicht zuletzt auch existentielle Enttäuschungen als uns zugehörig wahrnehmen; und auch Irrtümer aufklären und korrigieren zu können. Das sind nicht weniger unsere Potentiale, die uns mit unseren Irritationen und Perturbationen in ›rechtes Licht‹ rücken. Denken wir an die bekannte Formel, der Mensch stehe (wesentlich wirklich und wirklich wesentlich) zwischen ›Gott und Tier‹! Und vor allem gerade dies zeuge für eine Berechti­ gung unseres zuerst und zumeist ›naiv-gelebten‹ Vertrauens in unser Welt- und Selbstverständnis. So dürfe man sogar die Erfahrungen des ›sich-täuschen‹, ›einem Irrtum aufsitzen‹, geradezu als mögliche wünschenswerte Erweiterung unseres Wahrnehmungs-, Erfahrungs­ feldes, unserer Perspektiven, markieren.377 Wir können nicht nur erkenntnispraktisch diese ›reflektierten Erfahrungen‹ als Potential unseres In-der-Welt-Seins registrieren. Zurecht wäre beispielsweise schon überhaupt Zweifel-haben können, und (unserem Empfinden nach) sogar sollen, nicht nur theoretisch sinnvoll; und als ›vernünftig‹ in unser wissenschaftliches Welt- und Selbst-Verständnis, unsere auf­ geklärte Welt-Habe und Selbst-Sein einzuordnen. (›Wie kommen wir überhaupt zu einer uns stimmig-zuhanden, funktionierenden Welt‹?) – Hier drängt sich phänomenologisch noch etwas fundamentaleres, existentiell Bestimmendes in den Blick. Nämlich, die Reflexion der Reflexionen der Zeit und Zeitlichkeit unseres In-der-Welt-Sein. Das werden wir nicht mehr aus den Augen verlieren können.378 (Wir werden bei Gelegenheit darauf eigens zurückkommen.) Dicht zusammengefasst. Unsere Lebens-Welt wird von uns als der wirkliche, sogar wesentliche Zeit-Raum nicht nur philoso­ phisch nachträglich, theoretisch wahr-genommen; sondern zuerst und zumeist schlicht so gelebt. Und geradeso praktisch als ›wirk­ lich‹ immer wieder ›bewahrheitet‹. Dabei mitsamt allen Ärgernissen, Ungereimtheiten, Widersprüchen, Aporien; auch allem Rätselhaften, Beängstigenden, Unheimlichen, Unsinnig-scheinenden. Sagen wir, es 377 Dazu beispielsweise Edith Stein. Eine »neue Auffassung durchstreicht die alte und entwertet damit in gewisser Weise die Sinnesdaten, auf die sich jene aufbaute. Letztlich behaupten sich nur die Empfindungsgehalte, auf die sich die erfüllte Intention stützt, die wir im klaren Erkennen haben. Aber auch die ›entwerteten‹ Daten werden aus dem gesamten Wahrnehmungserlebnis nicht herausgestrichen, sondern tragen ebenso wie die anderen mit zu seinem Aufbau bei.« (Beiträge zur philosophischen Begründung der Psychologie und der Geisteswissenschaften. Tübingen 19702. S 123) 378 Vgl. beispielsweise Alfred Schütz. Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie. Frankfurt/M 19812. S 143 ff.

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scheint (zunächst) wie ein fortgesetztes ›richtig-stellen‹. Dazu gehört die uns vertraute gesellschaftliche und soziale Ordnung und ihre uns tragenden Institutionen; phänomenologisch auch von Bedeutung als interpersonale Grund-Gestalt unserer Lebenswelt. – Wozu noch vieler weiterer Worte? Eine weitere Entfaltung geradezu trivial schei­ nender Selbstverständlichkeiten. Wie gesagt, das so breit vorgestellte ist für uns doch unwillkürlich präsent; wird von uns praktisch gelebt, als alltägliche Gestaltung unseres So-in-der-Welt-Seins. ›Lebensvoll­ züge‹, die wirklich, und das nicht nur in einem übertragenen Sinne, von morgens bis abends unsere Lagen – geschichtlich; biographisch, sozial – bestimmten. Kurz, dass wir nie anders als miteinander in uns gemeinsamer Welt lebten; Mensch nie anders als so sein könne. Und wir vergessen nicht, dass wir erst in und mit unserem lebensweltlichen hier und jetzt uns auch philosophisch vorstellen; uns nur so als wesentlich wirklich reflektieren können.379 Dass wir also normaler­ weise weder auf unsere Daseinsgestaltung, noch weniger auf unseren Begriff (wirklich und wesentlich Mensch-Sein) aufmerken; auch nicht aufmerken brauchen. – Unauffällig scheint dabei zu bleiben, dass schon dieses unmittelbare Leben selbstverständlich leben und es theoretisch wesentlich (vielleicht sogar normativ) festzustellen, unser aufgeklärtes Menschsein vielleicht sogar als ideale Möglichkeit vor­ zustellen zu wollen, zueinander in Spannung geraten können. (Wie es aber möglich sein soll, dass wir so eingefaltet in unser In-der-WeltSein, uns mit unserer existentiellen reflexiven Reflexion der Reflexio­ nen daraus doch zu lösen vermeinen, bleibt weiter virulent.380) – So mag es, das alles im Blick, doch verwundern, dass die möglichen theo­ retischen Bedeutungen, und vor allem auch die praktischen Fragen als existentielle Herausforderungen, nicht einmal philosophisch weiter zu kümmern scheinen. Wir also auch philosophisch selbstverständ­ lich vorausgesetzt als wirkliches und wesentliches Da-und-So-in-derWelt-Sein ›Philosophie treiben‹. Noch befremdlicher scheint diese in der Gegenwart verbreitete ›philosophische Sorglosigkeit‹, wenn wir uns darauf einlassen, dass eine existentielle Perspektive den ›klassi­ Schon Wilhelm Dilthey: »Der Einzelmensch als isoliertes Wesen ist eine bloße Abstraktion.« (Das Wesen der Philosophie. (Hier) Stuttgart 1984. S 75 380 Entschieden vertreten auch von Karl Jaspers: »Ich kann nie gleichsam den Bilanz­ strich unter einen Menschen setzen und die Summe ziehen in einem Wissen, was er sei. Es ist ein Vorurteil, einen Menschen als Objekt überblicken, ihn selbst im Ganzen der Hand forschender Erkenntnis haben zu können.« (1946). S 641 379

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schen‹ geltungstheoretischen Anspruch der Philosophie zumindest problematisiert. Wird dem überhaupt Beachtung geschenkt, dann werden diese Fragen als soziologisch, psychologisch, vielleicht auch als tiefenpsychologisch relevantes Thema philosophisch beiseitege­ legt. Für Husserl zumindest war diese Vorstellung noch eine tiefe auch ›praktische‹ Beunruhigung. Es betreffe ja auch die Geltung der Werte und ethischer Normen.381. Wir schauen weiter ruhig hin und uns zu; und nehmen auch diese als selbstverständlich reflektierten Lagen unserer Welt-Habe und Selbst-Seins zur Kenntnis. Phänomenologisch ordnet dabei keine dieser ontologischen und anthropologischen Vorstellungen unsere weiteren existentiellen Reflexionen. In diesem Sinne schauen wir eben weiter systematisch hin, hin auf uns selbst als wesentlich wirkliches So-in-der-Welt-Sein. – Nicht möglich ist es sich unserem wirklichen Horizont (gleich ob denkend; handelnd; fühlend) wirklich zu entziehen. Selbst ein ›Einzelgänger‹ bleibe hier selbstverständ­ lich eingeordnet. Gleich ob er als ›Individuum‹, ausschließlich für sich ›Selbst‹ zu leben beabsichtige; oder, wie man sagt, sich strikt ›individualistisch‹ nach seinen Regeln zu ordnen beanspruche; eben ›rein für sich‹; (›Ich mach mein Ding‚ egal was die anderen sagen‹; (Udo Lindenberg); oder als ein Eremit (›eure Welt, geht mich nichts mehr an‹). Oder schroff behaupte, ›er habe seine Sache bewusst und ausdrücklich nur auf sich selbst gestellt‹! Und schließlich selbst philosophisch abstrakt reflektierte Perspektiven, die sich theoretisch überlegt, als radikal existentieller Selbstbezug (›ein reines Ich‹) behaupten, bleiben praktisch fundiert in gemeinsame Lebenswelt und Möglichkeiten wirklich wirklicher Reflexion. Immer wird also (von der faktischen Problematik einmal ganz abgesehen), eine Möglichkeit unseres So-Da-Seins vorausgesetzt. Nicht anders ist es bei spirituellen Mustern, religiösen Vorstellungen, (›der Weg nach Innen‹), oder sonstige Versuche einer als rücksichtslos gedachten Weltflucht in ein Transzendentes. Sicher ›gewaltsame Privationen‹, die aber, es kann nicht anders sein, das ›wirkliche Wir-Sein‹ voraussetzen. Im Übrigen schon allein mit Blick auf unsere ›Biologie‹; denken wir beispielsweise an die für uns Menschen gemeinsamen, natürlichen Vorschriften von Sprache und Denken; und, nicht zu vergessen, unserer Geschichten Für Husserl kann es keinen Zweifel geben »Die logischen Gesetze sind keine psychologischen und ebenso die rein ethischen, die rein axiologischen Gesetze keine psychologischen Gesetze.« (Hua. XXVIII. S 245)

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und unsere Geschichte.382 Das was man unser, es mag uns bewusst sein oder nicht, ›synchrones‹ und ›diachrones‹ So-Da-Sein nennen könnte. Menschen können, so das uns ausrichtende phänomenolo­ gische Philosophierens, »gar nicht thematisch sein, ohne dass ihr intentionales Leben, ihr Vorstellen, Denken, Fühlen, Handeln, the­ matisch wird – und so ihre Leistungsgebilde.«383 – Um auch hier keine irrigen Perspektiven einzurichten, einige kurze Anmerkungen. Dieses in jedem Falle notwendig miteinander-leben und -denken in einer uns gemeinsamen ›Welt‹, schließt als selbstverständlich ein, (wir haben schon davon gesprochen), nebeneinander-, gegeneinander-, auseinander Da-Sein-, auch allein- und einsam-sein können. Das sind uns wirklich zugehörige Möglichkeiten sich in unserer Welt ein­ zurichten und zu leben. Die existentielle Eigenart eines Allein-sein, Einsam-sein gerade im Horizont wesentlichen Wir-Seins, ist für unser existentielles Philosophieren von hervorgehobener Bedeutung. (Das wird uns noch beschäftigen) – Diese Schritte dicht zusammengefasst. Ich-bin wesentlich in einem Miteinander. Nicht bin ich wirklich, dann erfahre ich die Anderen und die Welt. ›Wir-sein‹ drängt sich nicht auf nur als eine Erfahrung neben anderen Erfahrungen; sondern als je-meine GrundErfahrung, als ›existentielle Notwendigkeit‹. Praktisch ist Solipsis­ mus unmöglich; theoretisch entfaltet er sich als Widerspruch.384 Was und wie auch immer ein Mensch sich theoretisch und praktisch vor­ zustellen, sich einzustellen versuche, es ist nie anders möglich als in einem von Uns (sogar wir als ›Menschheit‹) gemeinsam gestaltenden Horizont. (Diese Unabdingbarkeit eines von Grund auf ›Miteinan­ dersein‹, das als Horizont für wirkliches Da-und-So-Sein, praktisch Darin kommen unterschiedliche Schulen und Richtungen (mehr oder weniger radikal) der Philosophie überein. Beispielsweise August Brunner. »Der Mensch steht durch das Mitsein auch in seiner Erkenntnis unter dem Einfluss einer Gemeinschaft. Durch Familie und Erziehung öffnet er sich ja der geistigen Welt seiner Zeitgenossen. Durch sie wird auch die schau entbunden und in eine bestimmte Richtung gelenkt; der Mensch erhält eine erhöhte Ansprechbarkeit, eine Resonanz für bestimmte Berei­ che der Wirklichkeit.« (Erkenntnis und Überlieferung. München 1976. S 35 f.) 383 Hua XV. S 482 384 Vgl. dazu Merleau-Ponty. »Wenn man sagt, dass das ego ›vor‹ dem anderen Menschen allein ist, so situiert man es schon im Hinblick auf das Phantom eines anderen, so stellt man zumindest eine Umwelt vor, in der auch andere sein könnten. (…). Wir sind nur dann wirklich allein, wenn wir es nicht wissen, und eben dieses Nicht-Wissen mach unsere Einsamkeit aus. Die solipsistische ›Stufe‹ oder ›Sphäre‹ ist ohne ego und ohne ipse:“ ((Der Philosoph und sein Schatten. In:(1984). S 60) 382

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und theoretisch in keinem Fall verlassen werden könne, haben nun auch die sogenannten ›erfahrungsbezogenen Dialogiker‹ (Martin Buber; Ferdinand Ebner) im Auge.)385 – Das sollte also (um darauf nun zurückzukommen) auch philosophische Konsequenzen haben. Nicht zuletzt auch für die umlaufenden philosophiegeschichtlichen Perspektiven. Vor allem aber für die Reflexionen ›neuzeitlichen‹ und ›modernen‹ Philosophieren. – Beispielsweise, die Frage: was dann die Rede von ›Eigentlichkeit‹; oder, eines, ›sich ganz auf sich stellenden Daseins‹, oder ›unbedingte Selbst-Bestimmung‹; oder, die Forderung (mit Blick auf Gott) ›ganz und gar ein Einzelner‹ werden zu müssen; überhaupt noch bedeuten können? Aber bleiben wir zunächst bei unserem phänomenologischen Philosophieren. Dass sich unser Philosophieren, selbst als Leistung radikal-existentieller Reflexion der Reflexionen, hier nicht ausnehmen könne, braucht an dieser Stelle sicher keiner ausführlichen Begründung mehr. Dieses (vielleicht von außen gesehen) ‚ relative‘ existentielle Selbstverständnis hat uns bis hierher getragen. Wir lesen Husserls ›Prinzip aller Prinzipien‹ wortwörtlicher als er es selbst getan hat; uns dabei wahrhaftig selbst herausfordernd. Auch phänomenologisches Philosophieren entwirft sich, gesetzt es lässt sich auf sich selbst ein und vollbringt sich radikal, als wirklich-existentiell. Philosophieren ist in jedem Fall, es mag sich mit ›fundamentalen‹, ›reinen‹ Fragen der Vernunft beschäf­ tigen, Leistung eines wirklichen Philosophierenden. Eines wirklichen So-in-der-Welt-Seins. Also ein wirkliches Philosophieren mit allen geltungstheoretischen Konsequenzen. – Und es kann ja, schauen wir doch selbst hin, gar nicht anders sein. Wie immer man sein Philoso­ phieren auch ausrichtet und zu begreifen sucht, es gibt für jedes uns überhaupt möglichen Reflektierens, eine für alle ›bindende GrundGrammatik des Philosophierens‹; eine ›existentielle Vor-Schrift‹, die nicht ›Absolutes‹ verwirklicht (eine Unmöglichkeit), sondern letzt­ möglich, in unsere wirkliche Wirklichkeit (irritiertes Selbst-Sein und Welt-Habe) rückgebunden bleibt. Das sind im Übrigen Verhältnisse, die wir selbstverständlich auch in (man kann sogar auch sagen: ›als‹) Kunst und, da mag entschieden widersprochen werden, Wissenschaft

385 ›Die Ich-Einsamkeit‹, so Ferdinand Ebner, »ist nichts Ursprüngliches im Ich, sondern das Ergebnis eines geistigen Aktes in ihm, einer Tat des Ichs, nämlich seiner Abschließung vor dem Du.« (Das Wort und die geistigen Realitäten. Pneumatologi­ sche Fragmente. Innsbruck 1921. S 15)

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vorfinden.386 – Das schließt ein die für die transzendentale Phänome­ nologie so bedeutsame Methode der ›transzendentalen Reduktion‹. Von Husserl eingeführt als Schritt hin zur Vorstellung unbedingt reiner vernünftiger Wirklichkeit.387 Ein Weg, den wir existentiell Philosophierenden nicht mitzugehen bereit sind.388 Gerade weil wir unser existentielles Philosophieren ausdrücklich als phänomenologi­ sches setzen. Existentiell Philosophierende erfahren selbst noch mit strenger Reflexion der Reflexionen, praktisch die Grenzen eines philo­ sophischen Selbst-Selbst-Erfahren-könnens; als Letztmöglichkeit ihr wesentlich wirkliches Da-und-So-in-der-Welt-Sein. Husserl hat sich, das soll nicht übergangen werden, mit diesem, wie er glaubt, ›bloß anthropologischen, lebensphilosophischen Selbstverständnis‹ ernst­ haft (man ist versucht zu sagen ›verzweifelt‹) auseinandergesetzt. Er sah sich nicht nur dazu gezwungen, durch die starke Resonanz, die Max Scheler und Martin Heidegger mit ihrem Philosophieren hervorgerufen haben. (Diese immer wieder vorgebrachte Deutung wird seinem verzweifelten Denken nicht ganz gerecht.) Sondern, weil er sich als phänomenologisch Philosophierender gerade durch dieses anthropologische Selbstverständnis gefordert, herausgefordert sah.

386 Vgl. dazu auch Heinrich Rombach. »Es ist der Wissenschaft zum Bewusstsein zu bringen, dass sie selbst eine Sinnentscheidung getroffen und eine Seinsdeutung zugrunde gelegt hat. Ist dies klar, dann ist damit zugleich erwiesen, dass auch die Wissenschaft eine Epoche der Geschichte ist und damit eine Grundgestalt des Mensch­ lichen darstellt; eine endliche, eine vorübergehende vielleicht, aber eine solche, in der der Mensch sein vermitteltes und dadurch gesteigertes Leben hat.« (Substanz. System. Struktur. Die Ontologie des Funktionalismus und der philosophische Hintergrund der modernen Wissenschaft. Freiburg/München 1965. S 41) 387 »Erst durch eine Reduktion, die wir auch schon phänomenologische Reduktion nennen wollen, gewinne ich eine absolute Gegebenheit, die nichts von Transzendenz mehr bietet. Stelle ich Ich und Welt und Icherlebnis als solches in Frage, so ergibt sich die einfach schauende Reflexion auf das Gegebene in der Apperzeption des betreffenden Erlebnisses, auf mein Ich, das Phänomen dieser Apperzeption: das Phänomen etwa ›Wahrnehmung aufgefasst als meine Wahrnehmung.« (Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen. Hua II: S 44) 388 Die Kritik Wolfgang Cramers, aus Geltungstheoretischer Perspektive, lese ich als Bestätigung für die hier vorgetragenen existenzphänomenologischen Bedenken: Husserls Grundgedanke der transzendentalen Reduktion, der Reduktion auf reines Ego, wäre »nicht geradezu falsch, aber er konnte nicht mehr auf ›uns‹ zurückführen. Er konnte niemals das leisten, was Husserl ihm zutraute. Es war schon höchst inkonsequent, nach erfolgter Reduktion die Welt in der Klammer zu belassen. Freilich, eine totale Weltvernichtung hätte alle Phänomenologie unmöglich gemacht.« (Grund­ legung einer Theorie des Geistes. Frankfurt/M 19753. S 100)

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(Es sei nicht zu leugnen, »dass universale anthropologische Erkennt­ nis alle Welterkenntnis überhaupt umspannt wie alle menschlichen Beziehungen überhaupt auf Welt, die Universalität menschlicher Bestrebungen, Wertungen, Handlungen. In denen Menschen ihre Welt gestalten und ihr dabei ›menschliches Gesicht‹ erteilen.«)389 Was also Not täte wäre eine wahre philosophische Anthropologie und kein anthropologisierendes Philosophieren. Es schien ihm, als ob der tief verunsicherte ›moderne‹ Mensch hier schon mit seinen Fragen sich (wortwörtlich) endlich verfehle. Die Fragen der Wissenschaften dabei eingeschlossen (Nicht das Wirklich ist zu befragen, sondern Ausschau halten nach dem Wesentlichen.) Für Husserl bleibt dies vor allem ein Philosophieren, das die Bedeutung der ›phänomenolo­ gischen Reduktion‹ verfehlt; oder bewusst missachtet. Und so müsse dieses anthropologische Philosophieren wegen ihrer (es mag beab­ sichtigt sein oder nicht) Vorstellung eines psychologistischen Philo­ sophierens, erschreckend, ja verhängnisvoll naiv bleiben; und könne weder für sich selbst, noch für die tatsächlich drängenden Fragen der Menschen (der Menschheit) unbedingten Grund bereitstellen. Es verfehle schon das Grund-Anliegen jeden Philosophierens. Nämlich Geltung und Rechtfertigung für sich selbst vorstellen zu können; es könne damit grundsätzlich nicht das Leisten, was verwirrter Mensch der Moderne so dringend brauche: Unbedingtes Fundament und (praktisch) haltstiftenden Sinn. In einem aber stimmen beide Fassungen phänomenologischen Philosophierens überein. Die Philosophischen Fragen hätten die wesentlichen Fragen des (der) Menschen zu reflektieren. – Die Versu­ chung zu Missverständnissen, so Husserl, sei aber, »fast übermächtig. Allzu nahe liegt es doch, sich zu sagen: Ich, dieser Mensch, bin es doch, der die ganze Methodik der transzendentalen Umstellung übt, der dadurch sich auf sein reines Ego zurückzieht; also was ist dieses Ego anderes denn eine abstrakte Schichte in dem konkreten Menschen, sein rein geistiges Sein, während vom Leib abstrahiert wird. Offenbar ist, wer so spricht, in die naiv-natürliche Einstellung zurückgefallen, sein Denken bewegt sich auf dem Boden der vorgegebenen Welt statt im Bannkreis der Epoché.“390 – Wir sagen, in der Tat, in keinem Fall sei Philosophieren der Bindung an unsere wirkliche Wirklichkeit Forschungs-Ms. von 1932 (Universale Geisteswissenschaft als Anthropologie. Sinn einer Anthropologie.) Hua. XV. S 480 390 Phänomenologie und Anthropologie. Vortrag in den Kantgesellschaften von Frankfurt, Berlin und Halle. (Hua. XXVII. S 172 f) 389

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enthoben. Das ›Wesentliche‹ unseres Da-und-So-Seins ist für uns ohne die Reflexionen unseres wirklichen In-der-Welt-Seins nicht zu haben. (So wenig wie, ›das Sein‹; ›der Sinn‹; ›Gott‹; ›Transzendenz‹; ›Absolutes‹; u. ä.). Gerade Husserls Reflexionen seiner Reflexionen führen dies doch selbst vor. Nicht die ›transzendentale Vernunft‹ philosophiert immer wieder von Anfang an, reflektiert, begründet, ringt um Geltung, verwirft, verzweifelt und rafft sich wieder auf; sondern immer ein wesentlich wirkliches (dazu noch irritiertes und perturbiertes) Da-und-So-Sein. (Hier der philosophierende Mensch Edmund Husserl.) – Das schließt selbstverständlich ein, entfaltet und ›transzendiert‹ (in gewisser Weise) zugleich das ›jeweilige‹ Leistungsvermögen, den, sagen wir, ›historischen Zustand‹ eines Philosophierens; es impliziert auch das Vermögen, diese Reflexionen selbst wieder reflektieren zu können. Entsprechend der ›Logik der Reflexion‹. Unterschieden werden muss: ›Reflexion als Gestalt‹ und Reflexion als jeweilige ›Gestaltung‹. Das Philosophieren einer Zeit, setzt sich selbst diesem Philosophieren aus. Es bleibt aber selbst für ein solches radikales Philosophieren, immer ›nur‹ setzen einer jeweils letztmöglichen Geltung. Geleistet von einem wirklichen Philosophie­ renden. Das ist die verstörende Erfahrung immer problematischer Geltung. Von uns gestaltet als (nicht nur hingenommen sondern sogar forcierte) Herausforderung existentieller Reflexion der Refle­ xionen; und das, immer wieder von Anfang an. Selbst noch diese Vorstellung letztmöglicher Geltung ist phänomenologisch eingeführt als bloßes beunruhigendes Ideal. – Fehldeutungen, Missverständnisse werden nicht lange auf sich warten lassen. – So sei eines nachdrücklich herausgestellt: Philoso­ phieren und Philosophie werden hier keineswegs historistisch und psychologistisch aufgelöst; oder zur Klärung einer Wissenschaft (z. B. Wissenssoziologie) überstellt. Also verdeckt einem ›echten‹ Relati­ vismus, oder gar ›Nihilismus‹, das Wort geredet. Und damit Husserls Phänomenologie (die ja, in gewisser Weise, auch noch unsere ist) in einem für ihn zurecht bedeutenden Grund-Anliegen (dem Dasein theoretisch und praktisch ›sicheren Grund‹ bereitzustellen) konterka­ riert. Allerdings ist richtig, dass nur auf einen ersten oberflächlichen Blick uns hier die, aus der neuzeitlichen (auch phänomenologischen) Tradition bekannten, erkenntnis- und geltungstheoretischen Fragen vordringlich bewegen. Zwar geht es existentieller Phänomenologie immer auch um eine ›Logik des Philosophierens‹; ein (in gewis­

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ser Weise) ‚transzendentales‘ Gestaltungprinzip, eingeführt als das Selbstverständnis der neuzeitlichen und modernen Philosophie. Im Übrigen auch, und nicht zu vergessen, Ausdruck eines Vertrauens in philosophisches Leistungsvermögen des Begründens und SelbstBegründen-könnens. - Aber es kann darüber hinaus, mit Blick auf die bewegenden Herausforderungen unseres phänomenologischen Philosophierens gar nicht anders sein. Nämlich das Versprechen einer existentiellen Grundlagen-Forschung für unser gespanntes, irritiertes Da-und-So-Sein. Das Suchen begründeter Selbst- und Welt-Orien­ tierung liegt dem Selbstverständnis jeden phänomenologischen Den­ kens zugrunde; und kann gerade für existentiell Philosophierenden in keinem Falle beiseitegelegt werden.391 Das also ist der (vielleicht nicht sehr bescheiden anmutende) Anspruch existentieller Phänomenolo­ gie. Das letztmögliche Selbst-Selbstverständnis der Philosophie als Grundlagen-Forschung für wesentlich wirkliches Da-und-So-in-derWelt-Sein vorzustellen; Schritt für Schritt zu entfalten, existentiell zu reflektieren und zu sichern. Nicht als dogmatisch enggeführtes, ein für alle Mal als unbedingt abgeschlossen behauptetes Selbst- und WeltVerständnis. Etwa, die Philosophie habe gesprochen, die ‚Sache des Menschseins‘ sei nun endgültig entschieden. Habe ihren (metaphysi­ schen, ontologischen, erkenntnistheoretischen) Abschluss gefunden. Reflexionen sind für phänomenologisches Philosophieren immer Vorstellungen nichtnachlassender existentieller, theoretisch und prak­ tisch wirklicher Beunruhigungen. Reflexion der Reflexionen, die sich nicht als ›Fundamental-Ontologie‹, ›geltungssichere Erkenntnistheo­ rie‹, oder auch ›invariante Anthropologie‹ ein für alle Mal festlegen, beruhigen ließen. (Lesen wir unsere Kultur-, Wissenschafts-, Geistes­ geschichte doch einmal aus dieser Perspektive.)392 391 Wir finden bei Georg Simmel eine auch für uns interessante Perspektive. Ein Hinweis auf ›die innere Beschaffenheit des Philosophen als solchen‹. Ausdrücklich nicht als ›psychologische Lebensstimmung‹ abzulegen. »Man kann den Philosophen vielleicht als denjenigen bezeichnen, der das aufnehmende und reagierende Organ für die Ganzheit des Seins hat. (…). Er braucht natürlich nicht immer vom Ganzen sprechen, ja vielleicht kann er das im genauen sinne gar nicht; aber welche Spezialfrage der Logik, der Moral, der Ästhetik oder der Religion er auch behandle – als Philosoph tut er es nur, wenn jene Beziehung zu der Totalität des seins irgendwie darin lebt.« (Hauptprobleme der Philosophie. Leipzig 1910. S 12 392 Geradezu als Widerpart zu Husserls transzendentaler Perspektive Simmels ›lebensphilosophischer‹ Entwurf. »Wenn Fichte sagt, was für eine Philosophie jemand habe, hänge davon ab, was für ein Mensch er wäre – so gilt dies weit über die Philo­ sophie und weit über den einzelnen Menschen hinaus. Was für eine Wissenschaft die

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Immer wieder sind da Reflexionen, die schon für den lebenswelt­ lichen Alltag virulent sind. Wenn auch zumeist nur ›hintergründig‹ präsent. Sie werden ›praktisch gelebt‹, ohne dass man sie ausdrücklich theoretisch sich zuordnet und zurechtzulegen versuche; sie versetzen uns praktisch unwillkürlich in Spannung und überfordern uns oft genug. (Vielleicht dass der eine oder die andere dies bei Gelegenheit mit einem Therapeuten zu ›bereden‹ versucht.) – Da ist beispielsweise diese vertraute Herausforderung, wie Menschen wirklich zueinander stehen; auch zueinander stehen sollen (wenn man so will, Fragen seit Kain und Abel). Wie es also uns ›Monaden‹ immer noch und immer wieder gelingen könne, eine uns gemeinsam-geltende, uns eine (davon gehen wir doch aus), wirklich wirkliche Welt zu konsti­ tuieren?393 Fragen, die sich für uns in und mit dieser als unübersicht­ lich erlebten modernen großstädtisch geordneten Welt sogar noch verschärfen. Eine Welt, in den existenz-phänomenologischen Blick gerückt als unsere ›wirkliche Wirklichkeit‹.394 Schauen wir (beispiels­ weise) hin auf unser selbstverständlich scheinendes miteinander oder gegeneinander oder nebeneinander Denken, Handeln, Kommunizie­ ren. Weiter gehört dazu Wissenschaft ‚treiben‘; Kunstwerke-schaffen; und nicht zuletzt unser irritiertes Philosophieren selbst. So zusam­ mengefasst, jedes So-Da-Sein für sich, und doch im Grunde Da als zueinander-sein; und jede Welt-Habe und jedes Selbst-Sein doch als unsere zu begreifen. Dass unser So-in-der-Welt-Sein, zumindest nach jetzigem Stand der Dinge, nie ein für alle Mal als unbedingt begriffen und wissenschaftlich abgeschlossen gelten könne, scheint (uns beunruhigend) selbstverständlich. Hinter jedem Horizont gehe es weiter, immer weiter! – Wie immer wir uns selbst in den Blick zu rücken versuchen, wir bleiben (wissenschaftliche Aufklärung kann Menschheit in einem gegebenen Augenblick hat, hängt davon ab, was für eine Menschheit sie in diesem Augenblick ist; und wie sich die Unvollendetheit und geschichtliche Zufälligkeit ihres Seins zu der Idee ihrer Vollendung verhält, so ersicht­ lich die Formen und Kategorien, die für sie in jedem Jetzt Wissenschaft bedeuten, zu jenen, die für die Gestaltung des gesamten Weltinhalts zur Wissenschaft zulänglich wäre.« (Hauptprobleme der Philosophie. Leipzig 1910. S 18 f.) 393 Vgl. dazu Emmanuel Levinas: Ich »bin nicht der Andere. Ich bin völlig allein. Es ist also das Sein in mir, die Tatsache, dass ich existiere, mein Existieren, welches das absolut intransitive Element, etwas ohne Intentionalität, etwas ohne Bezug konstituiert. Man kann zwischen Seienden alles austauschen, nur nicht das Existieren. In diesem Sinne heißt sein, sich durch das Existieren isolieren. Insofern ich bin, bin ich Monade.« (Die Zeit und der Andere. Hamburg. 19892. S 20) 394 Vgl. dazu Gleixner (2015)

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daran nichts ändern) irritiert und pertubiert; können uns weder wis­ senschaftlich noch philosophisch als unbedingt gewiss begreifen und umfassend praktisch ergreifen. Unser Selbst-Sein und unsere WeltHabe bleiben chronisch herausfordernd ungewiss. Dass Husserl dem nicht zustimmt, ist für unser Philosophieren von besonderer Bedeu­ tung.395 Aber nicht das hält unser phänomenologisches Schauen bei unseren existentiellen Grundfragen. Nicht als abstrakte Reflexionen aus der Geschichte der Philosophie. Wir nehmen es für uns selbst als unsere existentiellen Herausforderungen unseres irritierten So-inder-Welt-Seins. Dazu gehören auch die Erfahrungen, dass Mensch sich ›gebunden‹ und doch immer wieder als ›darüber-hinaus‹ (sein wollen) erlebt. Vor dem Hintergrund dieser alltäglichen Erfahrungen stehen unsere existenz-phänomenologisch ›offenen‹ Fragen nach uns selbst. Schon sie auszuhalten ist eine existentielle Leistung. Das ist sie nicht nur stellen, sondern sich ihnen auch wirklich zu stellen. Also, was wir eigentlich (‚für uns‘) sind? Auch wesentlich Sein-sollten? Vielleicht auch sein könnten? Und nicht zuletzt, ob unser In-der-Welt-Sein überhaupt ›Sinn mache‹? Aufgeklärter Mensch diesem ‚irrationalen‘ Leben noch irgendwelchen Sinn‘ abgewinnen, abtrotzen könne.396 – Wer kennt diese existentielle Beunruhigung nicht? Sie bleibt in jedem Fall präsent als Gestaltung ›großer‹ Fragen für Religion, Kunst und Philosophie. Irgendwie ästhetisch ›gemildert‹, oder dogmatisch eng geordnet, oder begrifflich-abstrakt aufgearbeitet. Das verändert aller­ dings ihre existentielle Bedeutung; nimmt ihnen vor allem ihre uns durchdringende Schärfe. Vielleicht werden sie deswegen auch prak­ tisch abgetan und verdrängt als nur noch bloße ›Sonntags-Fragen‹. Aber auch das registrieren wir als Möglichkeit diese existentiellen Irritationen und Perturbationen ›zu reflektieren‹. 395 »Die unbedingte Behauptung, jede wissenschaftliche Philosophie sei eine Chi­ märe, mit der Begründung, dass die angeblichen Versuche der Jahrtausende die innere Unmöglichkeit solcher Philosophie wahrscheinlich machen, ist nicht nur darum verkehrt, weil ein Schluss von den paar Jahrtausenden höherer Kultur auf eine unbegrenzte Zukunft keine gute Induktion wäre, sondern verkehrt als an ein absoluter Widersinn, wie 2 X 2 = 5.« (Logos. S 326) 396 Wer kann sich diesen (zumindest dann und wann) bedrängenden Fragen auf Dauer entziehen: ›Wer zeigt ein Kind, so wie es steht? Wer stellt/es ins Gestirn und gibt das Maß des Abstands/ihm in die Hand? Wer macht den Kindertod/aus grauem Brot, das hart wird, (…)/Mörder sind/leicht einzusehen. Aber dies: den Tod,/den ganzen Tod, noch vor dem Leben so/sanft zu enthalten und nicht bös zu sein,/ist unbeschreiblich.‹ (Duineser Elegien. Die vierte Elegie)

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Zusammengefasst. Wir erleben uns immer noch gestellt vor nicht abgegoltene existentielle Herausforderungen. Da ist vor allem (das alles verdichtend) die beunruhigende Erfahrung der Rätselhaf­ tigkeit unseres irrationalen Da-und-So-Seins (warum überhaupt Dasein); nicht nur wissenschaftlich, sondern auch existentiell heraus­ fordernd mit Blick auf uns und unsere Welt.397 – Wir ernsthaft Philosophierende können dem schon praktisch mit Blick auf uns selbst und unser Philosophieren nicht ausweichen. Auch ohne diese Fragen einzustellen in traditionell tiefe, umfassendabsolute, metaphysische Kontexte; vielleicht sogar auszuspinnen als philosophische Theologie, oder als Gestaltung einer Art ›modernen Theodizee‹. Phänomenologisch reflektieren wir uns philosophisch schlichter; also nüchtern und unspektakulär. Voraussetzung dafür sei es immer wieder selbst Hinzuschauen auf die wirkliche Wirklichkeit je eigenen So-in-der-Welt-Seins. Darauf haben wir uns verpflichtet. Damit bleiben unsere Reflexionen gebunden; intentional ausgerichtet auf unsere Akte und Ordnungen; auf Gestaltung und Gestalt, mit denen ›wir‹ wirkliche Wirklichkeit, das ist ein gemeinsames Weltund Selbst-Selbst-Verständnis herstellen und aufrechterhalten.398 Wir reflektieren genauso die Bedingungen für die Eröffnung eines für uns letztmöglichen existentiellen Sinn-Horizonts. Das fordert immer auch hinzuschauen auf dieses existentielle Philosophieren selbst. Einschließlich auf uns wirklich Philosophierende, die wir uns so reflektieren. Unser Philosophieren reflektiert also mit Blick auf unsere wirkliche Wirklichkeit. Uns selbst als Philosophierende in den phänomenologischen Blick zu rücken heißt nun auch zu reflektieren einschließlich unseres irritiert- und perturbiert-seins. Uns selbst exis­ tenz-phänomenologisch immer wieder von Anfang an zu reflektieren, ist die bleibende, nie wirklich abgegoltene Herausforderung unseres 397 ›Wer schrieb/die warnende Schrift,/kaum zu entziffern?/Ich fand sie am Pfahl,/ dicht hinter dem See./War es das Zeichen?‹ (Peter Huchel. Das Zeichen) 398 Dazu auch Maurice Merleau-Ponty: »Wie kann das Wort Ich einen Plural anneh­ men, wie ist die Bildung einer Allgemeinidee von Ich möglich, wie kann ich von einem anderen Ich als dem meinen sprechen, wie kann ich wissen, dass es andere Ich gibt, wie vermag Bewusstsein, das als Selbsterkenntnis grundsätzlich stets die Weise des Ich ist, im Modus des Du und sodann in der Welt zur Erfassung kommen? (…) die Analyse der Wahrnehmung des Anderen trifft das Grundproblem des Phänomens der Kulturwelt und vermag das Paradox eines äußerlich sichtbaren Bewusstseins auflösen, eines im Außerhalb angesiedelten Denkens, das somit, von dem Anderen aus gesehen, schon ein subjektlos anonymes ist.« (Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966. S 399; 400)

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Philosophierens. (Auch das unterschiedet unser endliches Philoso­ phieren von dem neuzeitlichen Philosophieverständnis.) – Dazu gehört auch, dass diese Fragen (dieses Fragen) mit unserer Moderne (vielleicht sogar als vergessene Form der Neuzeit) heftig nach vorne rücken. Sich wortwörtlich zu radikalisieren scheinen; uns als jetzt unabweisbar existentiell beunruhigen und praktisch lebensweltlich virulent werden. Und das bereits diesseits streng-systematischen Philosophierens. Sich nicht mehr abweisen und verschieben lassen in einen wissenschaftlichen Fächer (man frage die Soziologie, die Psychoanalyse, die Theologie). Von dieser Wahrnehmung her fällt wiederum ein Licht auf uns und unser, irritiertes und perturbiertes, wesentliches wirkliches In-der-Welt-Sein.399 Lassen wir uns ein auf die Bewegung der Reflexion der Refle­ xionen, dann darf festgehalten werden, dass das optimistische Men­ schenbild, das nicht nur die ›Philosophie der Aufklärung‹ (im großen Ganzen) und das ›Selbstverständnis der Klassik‹ (beispielsweise ›Goethes Welt-Anschauung‹) zu tragen schien,400 wir nicht mehr teilen können.401 Schon mit Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhun­ derts erschiene das als verfehlt, als historisch unpassend; um das wenigste zu sagen, als naiv. Auch diesen geradezu ›religiösen Glauben an Fortschritt‹ können wir nicht mehr teilen. Als ob der Mensch sich Ingeborg Bachmann über Robert Musils ›Der Mann ohne Eigenschaften‹: »Ulrichs Konflikt liegt vor allen Konflikten. Es geht ihm um die ›Moral‹ der Moral, weil unsere Moral sich in einem um Jahrhunderte verspäteten Denkzustand befindet. Die moralischen Werte, an denen sich unsere Gesellschaft orientiert, erkennt Ulrich als Funktionsbegriffe: die gleiche Handlung kann gut oder böse sein, und im Endeffekt zeigt sich als einziges Charakteristikum der europäischen Moral, dass sich ihre Gebote hilflos widersprechen.« (Ins Tausendjährige Reich. In: Akzente. Zeitschrift für Dichtung. 1. Jahrgang 1954. S 51) 400 Überschwänglich ›gefeiert‹ von Ernst Robert Curtius: »Goethes Blick umfasst das All der Natur und des Geistes; und wenn er seine Anschauung in Worte fasst, breitet er feierliche Hell über das Geschaute. Indem er die Welt in seinem Geist spiegelt, wir sie seiner Verklärung teilhaftig. Sie wird gereinigt und erhöht.« (Goethe – Grundzüge seiner Welt. In: (1984). S 59 f. 401 Dicht zusammengefasst bei H. A. und E. Frenzel: »Der Mensch sieht als rich­ tungsgebend das Gute, Wahre, Schöne und glaubt an freie Selbstbestimmung und Selbstvollendung. (…) Die Natur erschien als ein großartig geordnetes Reich ohne Willkür und Gewalt. Alles Lebendige beseelt der Mensch von sich aus, und er erlebt das Weltganze im Gefühl einer Einheit, in der alle Disharmonien untergehen.« Daten deutscher Dichtung. Chronologischer Abriß der deutschen Literaturgeschichte. Band 1. Von den Anfängen bis zum Jungen Deutschland. (Deutscher Taschenbuch Verlag./ S 23o) 399

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(beginnend mit der Renaissance) endlich-endlich emanzipiert und sich aus Überzeugung allein auf sich verwiesen habe; und sich die, daraus folgende praktische Selbst- und Weltverantwortung (mit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts) auch zutraue. Losgelöst von diesen und jenen (man sagt eingebildeten und eingeredeten) Ängsten und Mächten sich endlich frei, positiv und wirklich ›human‹ gestalten könne, dürfe, solle. Und in einer ›hellen‹ Zukunft sein wahres ›kultür­ liches‹ Wesen entfalte. Jetzt als ›Indikativ‹ erfüllen könne, was bislang nur im Konjunktiv Hoffnung gab: ›edel sei der Mensch, hilfreich und gut‹! (Denn das allein unterscheide ihn von allen Wesen, die wir kennen). Ein Gedanke, der, wer könnte das denn nicht verstehen, in der Tat ›feuertrunken‹ mache. – Nicht als ob diese Ziele uns nicht sympathisch wären. Diese großartigen, wahrhaftig humanen Welt-Bilder, deren Faszination man sich kaum erwehren könne. Auch wir ›stehlen‹ uns nur sehr ungern ›(weinend) aus diesem humanen Bunde‹. – Zunächst klammern wir aber auch hier die mit ins Spiel gebrachten Geltungs-Ansprüche ein. Es brauche weiterhin phä­ nomenologisch nüchterne Besinnung; weiter ein unvoreingenom­ menes Selbst-Schauen; eine systematische reflexive Reflexion der Reflexionen. Gleich wie großartig die verkündeten Wahrheiten auch scheinen mögen. Phänomenologisch werden auch diese (ohne jede Ironie) ›wunderbaren Gedanken‹ in den Blick gerückt, als nur eine der Möglichkeiten eines Selbst- und Weltverständnisses. Die Vorstellung eines möglichen So-in-der-Welt-Sein, das wiederum selbst aufmerk­ sam wahrzunehmen, Reflexionen, die selbst (als Reflexionen) zu reflektieren sind. Existentiell also nicht unreflektiert hingenommen und nicht, weil wünschenswert, selbstverständlich nun als gültiges Ideal gesetzt werden. Als ob die Ideen vernünftiger Aufklärung als Erfüllung der Bestimmung menschlicher Entfaltung (von Beginn und Anfang an) ein für alle Mal geltungssicher feststünden. Das Ende menschlicher (ob selbstverschuldet oder nicht) Unmündigkeit, das frei-werden von jeder faktisch zufälligen Irrationalität erreicht worden wäre mit der ‚Herrschaft des Logos‘. Man also verkünden könne, dass der philosophische Auftrag sich selbst vollbracht habe.

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10. Lebenswelt als Gestalt und Gestaltung existenz-phänomenologischer Reflexion

›So ist meine Lebenswelt von Anfang an nicht meine Privatwelt, sondern Intersubjektivität; die Grundstruktur ihrer Wirklichkeit ist uns gemeinsam.‹402 (Alfred Schütz. Thomas Luckmann)

Reflexionen der Wissenschaften, der Kunst, Literatur, Theologie, eröffnen reflektiert als radikal existentielle Entfaltung, einen weiten Horizont unseres wirklichen und wesentlichen Da-und-So-Seins. Gelesen als Vorstellungen unseres weiterhin irritierten So-in-derWelt-Seins.403 Weiter entfaltet als existentielle Reflexion erzwingt sie als reflexive Reflexion, schließlich Aufmerksamkeit auf Form, Gestalt und Gestaltung des Philosophierens und des So-Philosophierenden selbst. Schließlich und endlich sind in diesem phänomenologischen Blick dann die notwendige und nicht nachlassende existentielle Radi­ kalität dieser reflexiven Reflexion der Reflexionen. – Dies setzt voraus, dass unser wirkliches So-in-der-Welt-Seins uns nach wie vor beunruhigt. Und dann sogar nach jedem geleisteten Reflexionsgang, existenz-phänomenologisch immer heftiger und ›beeindruckender‹, nach vorne drängt.404 (Man denke nur an die Dynamik der Wissen­ schafts- und vor allem der Geistesgeschichte.) Dieses philosophische Selbstverständnis, das sich selbst nicht aus den Augen verliert, hat uns von Beginn an (und für den Anfang) beunruhigt. Bleiben diese Reflexionen doch durchaus, das kann gar nicht übersehen werden, immer wieder ein problematischer Selbst­ Strukturen der Lebenswelt. Konstanz 2003. S 30 Phänomenologie ist ›Philosophieren mit Blick auf die Weite‹ des Da-und-So-inder-Welt-Sein; nicht auf eine ›metaphysische Tiefe‹. 404 Auch strenge Geltungstheoretiker verschließen davor keineswegs ihre Augen. Beispielsweise (der zu selten gewürdigte) Hans Wagner: »Ein Denken, das sich gegen die Intersubjektivität abschließt (nicht denken will, wie jeder denken soll), ist an ihm selbst unwahre, schlechte Subjektivität und zählt nichts im Reich der Wahrheit.« (19672) S 241 402

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bezug. So wird man uns vor allem mit Blick auf unsere Reflexions­ bestimmungen (der reflexiven Reflexion) eine ›Münchhauseniade‹ vorwerfen. – Richtig ist, dass wir existentiell zu philosophieren ver­ mögen; es sind aber nur auf den ersten Blick leicht eingängig schei­ nende Fragen, die unser phänomenologisches Philosophieren zu reflektieren sich vorgenommen hat. Diese Fragen sind unsere exis­ tentiellen Leistungen, die uns gerade so unabdingbar zuzugehören scheinen. Wir selbst können uns unser So-Fragen mit eigenen, selbst geleisteten Reflexionen (reflexive Reflexion der Reflexionen) vorstel­ len. (Wir haben ja immer mit Blick auf unser wirkliches So-Da-Sein philosophiert.) So sind es selbstverständlich scheinende Formen und Gestaltungen unserer möglichen Reflexionen; ganz unabhängig von diesen oder jenen ›Inhalten‹. Etwa, was und wie phänomenolo­ gische Philosophie und existentielles Philosophieren im Grunde sein solle; das ist, gemessen an ihrem vornehmlich systematischen Selbst­ verständnis phänomenologisch zu sein habe. Also gerade hier und jetzt, mit Blick auf diesem selbst herausgestellten Anspruch, existen­ tielle Grundlagen-Forschung für unser Da-und-So-Sein leisten zu können. Selbst-Sein und Welt-Habe also letztmöglich reflektieren zu können und zu sollen. – Zumindest mit diesem allgemeinen Auftrag können wir nicht in die Irre gehen. Zu all dem kommt, unser philo­ sophischen Logik folgend, aufmerken zu sollen auf dieses Vermögen, unser So-Da-Sein überhaupt als problematisch, als herausfordernd wahrzunehmen; und auch wahrnehmen zu können. Und dann sogar noch diese konstitutiven Akte, genauer, dieses Bündel von geleisteten Akten, wiederum selbst noch einmal zu reflektieren, und, dem eige­ nen radikalen Anspruch nach, reflektieren zu sollen. Kurzum unser existenz-phänomenologisches Philosophieren solle leisten: Wahr­ nehmen, Schauen, Reflektieren; und immer weiter, Wahrnehmenwahrnehmen, Schauen-schauen, Reflektieren-reflektieren; und das selbst vorgestellt als existentielles Vermögen, als unsere Leistungen, die selbst philosophisch in den Blick zu rücken sind. – Hier von einem verstiegenen Denken zu sprechen, könne doch wohl niemandem verübelt werden?

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10.1. Transzendentale und existentielle Perspektive Die Logik (›der Logos‹) der Philosophie, des Philosophierens ist aus­ schließlich ›Sache‹ philosophischer Reflexion. Hier werde zwischen den Philosophen wohl eine Übereinkunft hergestellt werden können. – Schauen wir weiter hin und uns zu. Dass dieser Selbst-Selbst-Bezug sich gerade jetzt so herausfordernd stellt (trotz der Geschichte neu­ zeitlicher Vernunft-Philosophie), ist sicher nicht nur geschichtlich zufälligen Lagen geschuldet. Oder nur Leistung (oder das Missver­ stehen) einzelner ›genialer‹ Persönlichkeiten der Philosophie der letzten hundertfünfzig Jahren. Ohne deren Bedeutung hier bestreiten zu wollen. (Man denke beispielsweise nur an Nietzsche, Dilthey, oder Georg Simmel.) Sondern diese Wendung entspricht der Form der Reflexion; die sich weiter treibt zu radikal phänomenologischexistentieller Reflexion; der reflexiven Reflexion der Reflexionen. – Dabei gibt es durchaus auch traditionelle Fragen der Philosophie, die erstaunlich dicht Intention, und Gestalt und Gestaltung existenzphänomenologischen Philosophierens vorführen. Wobei allerdings zunächst die jeweilige Perspektive dieser philosophischen Reflexio­ nen existentiell zu schärfen wäre. Etwa, was denn die Ideen, ›Wahr­ heit‹, ›Geltung‹, ›Sein‹, ›Anfang‹, ›Grund‹, ›Sinn‹, für uns und unser Selbst- und Weltverständnis bedeuten könne? Und ob und wie diese und ähnliche ›ehrwürdigen‹ Begriffe unser irritiertes Selbst- und Welt-Begreifen unterstütze, fördere oder vielleicht sogar verhindere (und durchstreiche)? Und nicht zuletzt, wie unser so reflektieren phänomenologisch einsichtig vorgestellt und geltungssicher begrün­ det werden könne? (Dass es immer auch philosophisch begründete Zweifel an der Bedeutung dieser Begriffe gegeben habe, vergessen wir dabei nicht.) – Schauen wir aber selbst genauer hin kann uns nicht entgehen, dass diese ›Ideen‹ (genaugenommen sind es selbst existentielle Leistungen) mit jeder philosophischen Frage (zumin­ dest unwillkürlich) immer mitgefragt werden.405 Sie gestalten, wie 405 Ironisch dazu Franz Rosenzweig: »Alle Philosophie frug nach dem ›Wesen‹. Es ist diese Frage, mit der sie sich vom unphilosophischen Denken des gesunden Men­ schenverstandes scheidet. Der nämlich fragt nicht, was ein Ding ›eigentlich‹ sei. Es genügt ihm zu wissen, dass ein Stuhl ein Stuhl ist; er fragt nicht, ob er etwa eigentlich etwas ganz anderes wäre. Eben dies fragt die Philosophie, wenn sie nach dem Wesen fragt. Die Welt darf beileibe nicht Welt sein, Gott beileibe nicht Gott, der Mensch beileibe kein Mensch, sondern alle müssen ›eigentlich‹ etwas anderes sein. Wären sie nicht anderes, sondern wirklich, was sie sind, so wäre ja – behüte und bewahre – am

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immer man es sich zurechtlegt, Form und Ausrichtung jeder neu­ zeitlich möglichen Erkenntnistheorie, Ontologie und Metaphysik; leisten ihre Gestaltung und ordnen die Vorstellungen ihrer Bedeu­ tung. – Bekanntlich beansprucht die Philosophie der Neuzeit all die damit gesetzten Herausforderungen, Ungewissheiten, Problemla­ gen, durch das Vermögen der ›transzendentalen Vernunft‹ abschlie­ ßend in den Griff, das ist, ›auf den sicheren Begriff‹ bekommen zu haben. Das wäre begrenzen, begründen, verwirklichen vernünftigen Philosophierens. Das Fundament philosophischer Aufklärung. Die Differenzen zwischen Kant, Fichte, Hegel, Schelling können zwar nicht überlesen werden. Und doch trägt ihr Philosophieren gemein­ sam eine sie ›verbindende Selbst-Gewissheit‹, die schlechterdings nicht mehr weiter hinter-dacht werden könne. Darin kommen auch, bei allen Unterschieden, Neukantianismus; transzendentale Phäno­ menologie; unterschiedliche Geltungstheorien (Hans Wagner, Wolf­ gang Cramer) überein. Philosophieren sei als Geltungsform endlich und endgültig erst durch die ›kritisch entfaltete‹ Vorstellung eines ›Begriffs der Reflexion‹ methodisch-sicher zu fundieren; also strenge Reflexion der Reflexion. Das ist die Hinführung zu ›unbedingten Selbst-Bewusstsein‹, zu ›reiner, absoluter Vernunft‹. Dass Mensch also nicht nur nicht sei wie die Dinge, die Pflanzen, die Tiere; nicht einmal dass er über dies und das nachzudenken im Stande wäre; sondern, dass er sich ›selbst begreife‹, als dieser eine, der sich letzt­ endlich selbst selbst-bewusst zu reflektieren sich imstande wisse. Ein unbestreitbar unvergleichliches Wissen: Selbst-Selbst-Schauen, Selbst-Selbst-Reflektieren, Welt und Selbst im Lichte der Geltungs­ differenz Selbst-Begreifen! – Husserl gibt mit seiner Phänomenolo­ gie der neuzeitlichen Philosophie der Vernunft noch einmal eine entscheidende Wendung. Er baut in diese letztendlich ›idealistische‹ Welt- und Selbstordnung den Bezug, die Ordnung, die Leistung der ›Intentionalität‹ ein.406 Damit werde, so seine phänomenologi­ Ende die Philosophie überflüssig! Wenigstens eine Philosophie, die durchaus etwas ›ganz anderes‹ herauskriegen möchte.« (Das neue Denken. Zweistromland. Kleinere Schriften zur Religion und Philosophie. (1926) Wien 2001. S 214) 406 Gerade mit Beginn der Moderne wird dem energisch und grundsätzlich wider­ sprochen. Noch einmal (beispielsweise) Franz Rosenzweig. Er stellt sich schon gegen die Behauptung, »dass in allem Wissen das ›Ich‹ mit dabei wäre, also dass ich keinen Baum sehen könnte, ohne dass ›Ich‹ ihn sähe. In Wahrheit ist mein Ich nur dabei, wenn es – dabei ist; wenn also z. B. ich betonen muss, dass ich den Baum sehe, weil ein anderer ihn nicht sieht; dann ist in meinem Wissen allerdings der Baum in

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sche Intention, der leidige, skandalöse Riss zwischen ›Subjekt‹ und ›Objekt‹ geschlossen. Erkennen der wahren Wirklichkeit brauche also keine idealistisch oder materialistisch spekulativen Konstruktionen mehr. Dieses Philosophieren sei nicht weniger vernünftig. Zugleich aber unser wirklich wirklichen und wesentlichen Selbst- und WeltErfahrung gemäßer. – Damit wird aber (sicher ungewollt) auch die unwirkliche, abstrakte Form transzendentaler Reflexion überhaupt problematisiert. Husserl hat sich, schon das ist beredt, bekanntlich an diesen Fragen zeit seines Lebens buchstäblich abgearbeitet. (Die Denkbewegungen Husserls sind mit seinen Forschungsmanuskripten gut dokumentiert.) Bis zuletzt hat er versucht sein phänomenologi­ sches Schauen in Einklang zu bringen mit der idealistischen Vorlage der Geltung ›reiner, absoluter Vernunft‹. – Wie auch immer wir uns das zurechtzulegen versuchen, ein ausdrücklich transzendentaler Begriff trägt das phänomenologische Grundverständnis Husserls. Und das bis in die ›letzte Phase‹ seines Philosophierens. Bestimmt als selbstverständlich gültig vorausgesetzt, auch seine ›Spätphiloso­ phie‹; einschließlich der zurecht vielbeachteten ›Krisis-Abhandlun­ gen‹. Allerdings wird phänomenologisches Philosophieren damit aber auch, das darf nicht übersehen werden, in eine (sagen wir) ›wirklichere Form‹ gebracht. Eine ›lebensweltliche‹ Gestaltung, die durchaus auf existentielle Phänomenologie vorzuweisen scheine. Sich zumindest ohne ›Gewaltsamkeiten‹ von uns so lesen lasse. Dass das gewiss nicht Husserls Intention gewesen ist, (sicher sogar ganz im Gegenteil) braucht wohl kaum noch vieler Worte.407 So bleiben Verbindung mit mir; aber immer sonst weiß ich nur von dem Baum und von nichts anderem; und die philosophisch übliche Behauptung der Allgegenwart des Ich in allem Wissen verzerrt den Inhalt des Wissens.« (2001/S 219); oder Hans Kunz; er weitet den, auch für sein psychologisches Anliegen, zu engen Intentionalitätsbegriff: »Wenn ich meinend, denkend (also intentional-aktmäßig), kurzum geistig den Tisch mit dem Stuhl oder das Gefühl mit dem wahrgenommenen Menschen usw. in Beziehung setze, so ist die Art der Relation sowohl wie die der Gegenständlichkeit eine radikal andere, als wenn dieselben Beziehungen bewusst- und intentionslos nur in aufnehmenden Bildern oder nur gefühlsmäßig oder bloß triebhaft, kurzum nur seelisch gestiftet werden.« (Die Metaphysik von Ludwig Klages. In: Martin Heidegger und Ludwig Klages. Daseinsanalytik und Metaphysik. München 1976. S 69) 407 Georg Misch glaubte schon Ende der 20er Jahre dass sich ›Philosophie der Vernunft‹ und ›Philosophie des Lebens‹ sich aufeinander zubewegten. (Er denkt dabei vor allem an Heidegger und Scheler). Seit »der Aufnahme Husserls durch Dilthey (1905) und den Übergang Husserls zu den von der Brentano-Schule einst bekämpften Kant (1913): (…) sollten sie sich hier ganz zusammenschließen zu einer Phänome­

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diese Reflexionen der Lebenswelt als Gestalt eigener Grund-Legung phänomenologischen Philosophierens, auch noch in einem traditio­ nell transzendental fundierten erkenntnis- und geltungstheoretischen Horizont. Und Husserl fasst ganz selbstverständlich das tragende Fundament seines Philosophierens entsprechend (neuzeitlich) ›idea­ listisch‹ zusammen: »unsere Wissenschaft behandelt jederlei Objek­ tives als Objektives des Bewusstseins und als in subjektiven Modi sich Gebendes. Bewusstseinssubjekt und Bewusstsein selbst wird nicht vom bewussten Gegenständlichen getrennt betrachtet, sondern im Gegenteil, Bewusstsein trägt Bewusstes selbst in sich, und so, wie es das in sich trägt, ist es Forschungsthema. Und das gilt nicht nur für Erkenntnisgegenstände in irgendeinem beschränkten Bewusstseins­ sinn, sondern auch für das wertende und praktische Bewusstseinsle­ ben jeder Art und Besonderheit.«408 Es kann nicht geleugnet werden, dass neuzeitliche Philosophie der reinen Vernunft die eigene existentielle Motivation, das Drängende ihres eigenen Philosophierens, und des Philosophierens überhaupt, nicht erfasst habe. Übersehen wird durchgängig, und nicht nur bei Husserl, die existentielle Lage des wesentlich wirklichen Men­ schen; die nie wirklich zurückgelassen werden kann. Die existentielle Grundgestalt seines verzweifelten, irritierten und perturbierten Inder-Welt-Seins. Auch der philosophierende Mensch kann sich daraus in keinem Falle verabschieden. Er dokumentiert gerade durch sein Philosophieren seine Erfahrung mit sich selbst als irritiert und pertur­ biert. – Das zeichnet aus die wirkliche Wirklichkeit, die uns Menschen wesentlich zugehört; uns philosophierend in der existentiellen Span­ nung zwischen Da- und So-Sein hält. Das fordert philosophisches Fragen heraus; und nicht nur unter anderem und nebenbei. Sondern ist und bleibt Anlass und Grund philosophischer Reflexionen. In dieser uns zugehörig scheinenden Lage also unentwegt irritiert und perturbiert Ausschauhalten nach Geltung, Grund und existentiellen Sinn. – Das im Blick klammern wir alle angebotenen, wirklich beein­ druckenden Vorlagen neuzeitlicher Philosophie der Vernunft ein. Schauen selbst systematisch immer noch genauer hin auf uns selbst. Der wirkliche Mensch – der auch philosophieren kann – lebt immer nologie des menschlichen Daseins.« (Lebensphilosophie und Phänomenologie. Eine Auseinandersetzung der Diltheyschen Richtung mit Heidegger und Husserl. (19312) Darmstadt 1975. S 10) 408 EP I/S 50)

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in und mit einer ihm, zuerst und zumeist als gewiss scheinenden, weil hinreichend vertrauten ›lebensweltlichen Lage‹. Diese Lage reflektiert den Menschen (ob er im Alltag darauf achtet oder nicht) › umfassend‹ als sein wirkliches und wesentliches So-in-der-Welt-Sein. Das darf nicht positivistisch eingeengt werden. Dazu gehören selbstverständ­ lich auch die philosophischen Reflexionen; und die Reflexionen der Reflexionen unserer vielfältigen irrational-existentiellen Kompeten­ zen. Denken wir beispielsweise (und ohne es hier in eine Ordnung zu bringen versuchen), an Wollen; Einbildungskraft; Phantasie, Empfin­ dung; oder, Glauben; Hoffen; Lieben; und nicht zuletzt Vertrauen und Selbst-Verstrauen; auch Zweifeln- und Verzweifeln-können; usw. Das sind, was immer sie sonst noch (beispielsweise psychologisch, anthro­ pologisch oder soziologisch) bedeuten mögen, existentielle Ressour­ cen. Also wortwörtlich unabdingbare Potentiale unseres sich gespannt erlebenden Da-und-So-Seins. Unser So-Da-Sein umfasst zweifellos auch ›Irrationales‹, das uns nicht weniger als wirklich und wesentlich zugehört; uns zugehört genauso wie ›unser Leben‹ überhaupt. – Das. muss für ›wissenschaftlich Aufgeklärte‹ ein Ärgernis bleiben. Das führt nämlich auch Vorstellungen ein, die sich nicht hinreichend als Vernunft, als vernünftig einführen und so wissenschaftlich beruhigen lassen. Das sehen wir gerade wenn wir der Perspektive wissenschaft­ lich gerichteten Philosophierens folgen Und weil nicht sein kann, was nicht sein darf, können diese ›Reflexionen‹ auch nicht unserem wahren Menschsein als unbedingt zugehörig vorgestellt werden. – Dicht zusammengefasst. Diese ergänzenden Hinweise verste­ hen sich als Positionsbeschreibung existentiell-phänomenologischen Philosophierens. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu ›transzen­ dentaler Phänomenologie‹ werden uns weiter als Herausforderung begleiten. Es ist ein Versuch unser Philosophieren als phänomenolo­ gisches Philosophieren auszuweisen. Dazu gehört die Einsicht in das existentielle Ungenügen ›neuzeitlicher Philosophien der Vernunft‹, einschließlich ihrer unterschiedlichen erkenntnis-, wissenschafts-, geltungstheoretischen Variationen. Existenz-phänomenologisches Philosophieren dabei nicht eingeführt als krasser Gegenentwurf; als Versuch einer systematischen Widerlegung transzendentalen Den­ kens. Wer könnte die Bedeutung dieses Philosophierens in allem Ernst bestreiten wollen? Mit ihrer historischen und systematischen Bedeutung, die über den engen Kreis ›akademischer Philosophie‹ weit hinausreicht. –

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10.2. Lebenswelt reflektiert So-in-der-Welt-Sein Man sollte meinen, dass philosophierend existentielle Bedeutung, intentionale Gestalt und Gestaltung, (u. ä.) unsers wesentlichen und wirklichen Welt- und Selbst-Sein nicht mehr aus den Blick geraten könnte. Wer diese Grund-Ordnung überhaupt sehen möchte, könne sie sehen. Es wird der existentiellen Bedeutung dieser ›Reflexionen‹ auch nicht gerecht, sie biologisch, evolutionsgeschichtlich, diesen oder jenen ›sekundären Regionen‹ des Menschseins zuzuordnen; sie gleichsam durch wissenschaftliche Begriffe wieder für unsere Neuzeit zu ›domestizieren‹.- Zumindest aber sollte es möglich sein, diese Zusammenhänge als unsere Muster wahrzunehmen. So sind etwa gesellschaftliche, soziale, auch politische, und damit verbundene ›technische Veränderungen‹ (in) der Lebenswelt ›systemisch verlinkt‹ mit einem jeweiligen wirklichen Welt- und Selbst-Verständnis; oder sagen wir so, sie ›korrelieren‹ in jedem Fall mit unserem So-in-derWelt-Sein.409 – Und auch dies kann noch ohne große Mühe geschaut werden. Veränderte Wahrnehmung, verändertes Welt- und SelbstVerständnis, stellt vor veränderte Wirklichkeiten und Möglichkeiten der ›Reflexionen der Lebenswelt‹. Einschließlich der Reflexion der Reflexionen der Lebenswelt.410 So führt selbst phänomenologische Reflexion der Reflexionen uns nicht aus unserer (der) Wirklichkeit heraus. Im Gegenteil. Existentiell-phänomenologisches Philosophie­ ren erfasst – im ausdrücklichen Wortsinn ›erarbeitet‹ – gerade so unsere wirkliche Wirklichkeit. Weil existentielle Reflexion der Refle­ xionen uns Philosophierende selbst, unser Philosophieren, unser wirk­ liches und wesentliches Selbst-Sein und unsere Welt-Habe, und unser irritierte spannende Bewegung unseres Philosophieren zwischen Daund So-Sein nicht mehr aus den Augen verliert. – Gerade wenn wir Husserls phänomenologischer Direktive, so wie er sie im Prin­ Mit einem beispielsweise kunstwissenschaftlichen Blick so: »Es ist klar, dass die Kenntnis der Besetzung uns eine große Ökonomie der Kräfte im Umgang mit unseren Mitmenschen ermöglicht. Wir erkennen den Typus und richten unsere Erwartungen nach ihm: (…) wir formen uns selber so sehr nach den Erwartungen anderer, dass wir die Maske, oder, wie die Jungianer sagen, die persona annehmen, die das Leben uns zuweist, und wir verwachsen so mit unseren Typus, bis er unser ganzes Verhalten, einschließlich der Gangart und des Gesichtsausdrucks, geprägt hat.« (Ernst H. Gom­ brich. Maske und Gesicht. In: Ernst H. Gombrich. Julian Hochberg. Max Black. Kunst. Wahrnehmung. Wirklichkeit. Frankfurt/M1977. S 19 f.) 410 Vgl. dazu Gleixner (2016) 409

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zip aller Prinzipien dicht vorgestellt hat, folgen, (und wir nehmen sie sehr ernst), können wir seine transzendentalen Reflexionen (ein­ schließlich des fundamentalen Anspruchs der Vernunft) nicht als abschließendes Philosophieren gelten lassen.411 Von Letztgültigkeit sei überhaupt ganz geschwiegen. Reflexionen, die sich vom wirklich Reflektierenden, seinem wesentlich wirklichen In-der-Welt-Sein zu lösen versuchen, verbleiben in einer abstrakten Unwirklichkeit.412 Allerdings auch das stellt vor: eine ›wirkliche Unwirklichkeit‹. Nicht als ob also diesem Ordnen, dieser neuzeitlichen (als unbedingt gedachten) Selbst-Ordnung unseres ›In-der-Welt-Sein‹, überhaupt jede ›anthropologische‹ Bedeutung abgesprochen werden könne. Eine Unmöglichkeit. Nicht nur die philosophiegeschichtlichen sondern auch die philosophisch-systematischen Leistungen ›transzendentalen Denkens‹ sind zu offensichtlich. Es brauche aber für unser irritiertes und perturbiertes So-Da-Sein eine wirklich-radikale, eine existenti­ elle Wendung hin zu dem so-philosophierenden Menschen selbst. Zu diesem Da, der sich beunruhigt, irritiert und perturbiert sich selbst und sein In-der-Welt-Sein jetzt und hier als So-Da in den Blick rückt. Also auch die transzendentalen Reflexionen sind auf wirklich Philosophierenden hin abzustellen. Philosophieren ist im Grunde kein wissenschaftlich abstrakter Akt. Vergleichbar mit der Herstellung ›mathematischer oder logischer Ordnungen‹.413 - Ein sich selbst mehr oder weniger ausdrücklich wahrzunehmen, sich Etwa wenn Husserl fordert: »Es gilt nun, schrittweise den Gegebenheiten in allen Modifikationen nachzugehen, den eigentlichen und uneigentlichen, den schlichten und synthetischen, den sozusagen mit einem Schlag sich konstituierenden und den sich ihrem Wesen nach nur schrittweise aufbauenden, den absolut geltenden und den eine Gegebenheit und Geltungsfülle sich im Erkenntnisprozess in unbegrenzter Steigerung zueignenden.« (Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen. Hua. II. S 13) 412 Schon bei (dem zu Unrecht unterschätzten) G. Simmel: Es sei entscheidender Zug ›philosophischer Wahrheit‹, »dass eine Lehre innerhalb der philosophischen Sphäre, festgehalten in der Höher ihrer Abstraktion, durchaus als zutreffende Wahrheit behauptet und empfunden werden kann, und dabei die Anwendung auf all die Anwendung auf all die Einzelheiten, auf die sie sich als allgemeine Behauptung eigentlich beziehen soll, nicht verträgt.« (Hauptprobleme der Philosophie. S 35) 413 Vielleicht war es auch diese Orientierung, die Husserl so an der Philosophie seiner Gegenwart verzweifeln ließ. »Ich sage nicht, Philosophie sei eine unvollkommene Wissenschaft, ich sage schlechthin, sie sei noch keine Wissenschaft, sie habe als Wis­ senschaft noch keinen Anfang genommen, und ich nehme dabei als Maßstab ein, wenn auch kleines Stück eins objektiv begründeten theoretischen Lehrinhalts. (…) An der objektiven Wahrheit, bzw. objektiv begründeten Wahrscheinlichkeit der wundervol­ 411

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10. Lebenswelt als Gestalt und Gestaltung existenz-phänomenologischer Reflexion

irgendwie, dann und wann, beispielsweise biographisch, vorzustellen, brauche zunächst wohl keine umständlichen Untersuchungen, keine wissenschaftlichen Erklärungen, keine tiefen oder hochgeschraubten philosophischen Spekulationen. Sich aber auf seine ›Reflexionen‹ als wirklich-die-seinen, und als Ordnung seiner Bedeutungen und seins Sinnes einzulassen; und damit auch seine existentielle Beunruhigung systematisch ›von Anfang an‹ in den Blick zu rücken, - das fordert existentiell zu philosophieren.

10.2.1. Reflexion der Reflexionen der Kunst-Werke. Der äußere Anlass zu philosophieren mag vorerst sein, was auch immer. Er wird sich als Reflexion eines In-der-Welt-Seins schließ­ lich selbst-selbst mitteilen. – Eine für uns gar nicht so ungewöhn­ liche Beunruhigung, erlebt als eine existentielle Herausforderung, wäre etwa die ›ästhetische‹ Reflexion. Eine Reflexion, die hier exis­ tenz-phänomenologisch im Besonderen interessiert. – Beispielsweise aufmerksam werden, (vielleicht auch gemacht werden), auf die exis­ tentielle Bedeutung eines Kunst-Werks. Es muss beileibe nicht die umstürzende Erfahrung Rilkes sein (sein Leben von Grund auf ändern zu sollen). Erst ›die Kunst‹, so Ernst Cassirer, habe den Menschen zu seinem ›eigenen Bilde‹ verholfen. Kunst-Werke ermöglichten ›für sich selbst‹ »die spezifische Idee des Menschen als solchen« zu entdecken.414 Und darüber hinaus das konstitutive Sinn-Potential menschlichen In-der-Welt-Seins ausdrücklich praktisch zu reflektie­ ren. (Hierher gehört dann sicher auch die Erfahrung Rilkes: Du kannst! Du sollst!) – Die Bedeutung der ›Kunst‹ liege damit (hier wird Übereinkunft hergestellt werden können) nicht in der ›Nachah­ mung der Natur‹. (Denken wir hier auch an die ›Polemik‹ Platons im Zehnten Buch der ›Politeia‹). Kunst, das drängt sich dem KunstSchauenden selbst auf, ›reflektiert‹ existentiell. Man könne sagen, ein Werk werde als Kunst-Werk wirklich erst durch ›die Reflexion‹ des len Theorien der Mathematik und der Naturwissenschaften wird kein Vernünftiger zweifeln. (Logos. 290 f.) 414 Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken. (Hier) Darmstadt 19949. S 234. »Und kaum minder stark als die bildende Kunst hat die Dichtung an diesem Prozess der Vermenschlichung und Individualisierung Anteil.« (ebd.)

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10.2. Lebenswelt reflektiert So-in-der-Welt-Sein

so-schauenden und (sich) so-betrachtenden Menschen als irritiertes und perturbiertes So-in-der-Welt-Sein. – Kunst-Werke sind also existenz-phänomenologisch geschaut, selbst existentielle Möglich­ keiten der Reflexionen des Menschen. Sie können gerade deswegen Mensch auch existentiell herausfordern; herausfordern um ihn dann zurückzuführen zu seinem gespannten Da-und-So-Sein. Wahrlich ein eigenartiges Verhältnis zwischen Kunst-Werk und Kunst-Rezipi­ ent. – Das sind beileibe keine hochfliegenden Spekulationen, der Bau luftiger Konstruktionen. Beim Wahrnehmen eines Kunst-Werkes als ›Akt seiner Herstellung‹ sind sicher unterschiedliche geistige, psychische, sogar auch physische Leistungen zu erbringen. Denken wir beispielsweise an: sehen, lesen, hören, deuten; oder schon an ein ›stehen vor einem Bild-Werk; oder (Wagnerianer können davon sicher selbst ›ein Lied singen‹) ›in einem Konzertsaal sitzen‹; u. ä. Existenz-phänomenologisch interessiert uns zunächst nur, dass der So-Betrachtende (Lesende; Hörende) dieser Vorstellungen, dieser Gestaltungen ästhetischer Reflexionen, schon für sich selbst einen ›Sinn‹ hergestellt haben muss.415 Kunst-Wahrnehmen ist phänome­ nologisch reflektiert kein willkürlicher Akt; kein beliebiges (vielleicht erlerntes) zurechtlegen von Form, Gestalt, Geltung und Anfang ästhetischer Erfahrung. Es drängt sich uns eigenartig für sich selbst auf!416 So könnte es auch scheinen, als ob (wie paradox) diese sinn­ stiftende ästhetische Leistung (das Leisten) unserer Reflexionen, dem je eigenen Hinschauen, Hinhören, Lesen, entzogen bleiben müsse. Schon dass ein Werk beispielsweise geradezu wie unwillkürlich gefalle, oder eben nicht; berühre oder, als Gleichgültig verschlossen bleibe; vielleicht sogar sich als anstößig, als Ärgernis, oder als Unsinn darstelle, zu anderen ›Werten‹ in Konkurrenz stehend sich zeige, lässt aufmerken. 415 Dagobert Frey fasst aus der Perspektive der Kunstwissenschaften so: »Sinnverlei­ hung erfolgt durch Gestaltung, vermag nur durch Gestaltung in Erscheinung treten. Gestalten ist das spontane, schöpferische Hinausstellen von ›Bildern‹ – im weitesten Sinne -, die zu einem bestimmten erlebnisgehalt in eindeutiger Entsprechung gebracht werden können und diesem unmittelbar zugeordnet erscheinen. Indem das Bild als geistige Schöpfung in seinem Aufbau und Ausdruck der geistigen Struktur des Menschen, seinem Gefühlsleben und seiner Willenshaltung, seiner Vorstellungsund Denkweise entspricht, ist es sinnvoll und gestaltet den Erlebnisgehalt, des es vertritt, den es – im weitesten Sinne – wiedergibt und ›abbildet‹, selbst als sinnvoll.« (Bausteine zu einer Philosophie der Kunst. Darmstadt 1976. S 7) 416 ›Und bräche nicht aus allen seinen Rändern/aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,/die dich nicht sieht. Du muss dein Leben ändern‹.

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10. Lebenswelt als Gestalt und Gestaltung existenz-phänomenologischer Reflexion

Diese Reflexion ist nur ein erster Schritt. Gleich nämlich wie sich dieser oder jene die Bedeutung eines Kunst-Werks zurechtlege, oder, was eine ›hermeneutische Perspektive‹ (eines beispielsweise ›Kunstinteressierten‹; ›Kunstkenners‹; ›Laien‹; usw.) entdecke, oder nun ausdrücklich kunstpsychologische, kunstgeschichtliche oder auch kunstphilosophische Betrachtungen vorstellten: ›Kunst-Werke‹, (und dazu gehört immer sich intentional darauf richten, oder darauf unwill­ kürlich bezogen sein), geben existenz-phänomenologisch zumindest Anlass zu immer weiteren und noch umfassenderen Reflexionen. Gesetzt man lasse sich überhaupt auf diese radikalen Möglichkeiten der Reflexion der Reflexionen ein. Da ist dieses phänomenologische Hinschauen auf das Potential selbst, sich selbst ›ästhetisch‹ in den Blick rücken zu können. Eine nicht selbstverständliche, nichts desto weniger aber mögliche existentielle Leistung. Dasein reflektiert sein sich so vermittelt-unvermittelt in den Blick rückendes, so reflektie­ rendes So-in-der-Welt-Sein.417 Das gestaltet sich phänomenologisch praktisch als, und nicht nur mit korrelativ organsierten Formen ›exis­ tentieller Reflexion der ästhetischen Reflexionen‹. – Das setzt ein eigenes existentielles Selbstverständnis und verändert offensichtlich Umfang und Intensität unserer (möglichen) philosophischen Refle­ xionen. Kunst-Werke und Selbst- und Welt-Verständnis verweisen als Reflexionen aufeinander. Man könnte von ›konstituierenden Rück­ koppelungsschleifen‹ sprechen. – Auch ästhetische Reflexionen wer­ den existenz-phänomenologische eingeführt als unsere Reflexionen. (Was denn sonst?) – Eines darf dabei nicht aus dem Blick geraten. Diese existentielle Idee des ›Kunst-Werks‹ als tatsächlich eigene herausragende Gestalt und Gestaltung der Reflexion, ist klar unter­ schieden von den Dingen, von den Sachen des Alltags.418. Man denke beispielsweise auch an das Medium, das für modernes In-der-WeltSo schreibt (beispielsweise) Heinz Schwitzke: »Bei künstlerischer Gestaltung wird die Zeit integriert auf einen Sinn hin. Es handelt sich letzten Endes immer um jenen Sinn, den sich innerhalb eines Kulturkreises die Menschen selbst setzen, in welchem sie dann existieren, der ihnen alle geistigen Erscheinungen ordnen hilft und auf dem als Fundament alle ihre schöpferische Leistung beruht. Immer ist es wohl die Kunst, die diese Fundamente schafft.« (Das permanente Programm. In: Akzente.8. Jahrgang 1961. S 326) 418 Dazu: Erich Hubala. »Erst im 17. Jahrhundert ist Malen, Bilden und Bauen in ganz Europa das geworden, was es vorher allein in Italien war und was auch heute noch darunter verstanden wird: eine zwar handwerkliche Tätigkeit, in der sich aber eine geistige verkörpert und deren Erzeugnisse deshalb nicht als Dinge, sondern als Werke der Kunst geachtet und als notwendiger Bestandteil sozialer Manifestation angesehen 417

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10.2. Lebenswelt reflektiert So-in-der-Welt-Sein

Sein seit 1900 das ästhetisch stilprägende ist. Den Film. Existenzphänomenologisch vor allem von Interesse – es kann gar nicht anders sein – nicht nur als eigene ›Wahrnehmungsgestalt‹ und ›eigenartige Erzähltechnik‹, sondern ›Form der Reflexion der Reflexionen‹; sogar als irgendwie schon reflexive Reflexion, die das Welt- und SelbstVerständnis, die Lebenswelt des 20. Jahrhunderts, einschließlich umlaufender Hoffnungen, Träume und Ängste, nicht nur (mehr oder weniger ›realistisch‹) ›spiegelt‹, sondern selbst (und sich selbst) kon­ stitutive-reflektiert; und so tiefgreifend verändert hat.419 (»Es könnte doch sein, dass für eine unbefangene immanente Interpretation die eigene innere Mächtigkeit des von den Menschen gelebten Lebens sich gerade darin auftut, dass aus ihm etwas zu entspringen vermag, was nun selber Macht über das Leben gewinnt.«)420 – Fürs erste ordnen wir es vorläufig so. Kunst-Werke reflektieren sich, phänomenologisch in den Blick gerückt, weder bloß ›lebens­ erhaltend‹, gleichsam als eine Art stabilisierendes ›existentielles Ornament‹; noch begreifen wir es ›lebenssteigernd‹, sogar ›berau­ schend‹ (Nietzsche), genauso wenig als ›legitimes Narkotikum‹ (Freud). Vorstellungen der Kunst, um dieses für sich genommen, erbärmlich-trostlose Leben überhaupt leben zu können. – Existenzphänomenologische Perspektive reiht stattdessen die Geschichte der Kunst, vor allem die existentielle Leistung der Kunst-Werke, schlicht in die ›Bewegung der Reflexion‹ (der Reflexionsgeschichte) ein. Hinzugefügt sei, dass sich das nicht als alleinige Vorstellung setze, die die traditionellen Funktionen, die ›der Kunst‹ zugeschriebenen werden, ausschließe.

wird.« (Propyläen Kunstgeschichte. Die Kunst des 17. Jahrhunderts. Frankfurt/M. Berlin 1990. S 16) 419 Etwa der Unterschied zum ›Lesen‹. Jean Bloch-Michel schreibt: »Wenn ich mich an meinen Tisch setze, um zu lesen, kann ich mich von allem, was mich umgibt, in Gedanken absondern; aber das kann nur geschehen, wenn ich zuerst damit einverstanden bin und mir weiterhin Mühe gebe«. (416) Dagegen im Kino »Während zwei oder drei Stunden werden wir, ohne dass irgendeine Mühe von uns verlangt würde oder dass etwas von uns abhängig wäre, mit Hilfe technischer Mittel von außerordentlicher Wirkungskraft in eine Situation reiner Rezeption versetzt.« (Das Bild. In: Akzente. 1962) 420 Georg Misch. Lebensphilosophie und Phänomenologie. (19312) Darmstadt 1975. S 22

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10. Lebenswelt als Gestalt und Gestaltung existenz-phänomenologischer Reflexion

10.2.2. Selbst-Sein und Welt-Habe als Leistung existentieller Reflexion. Vor diesem Hintergrund noch einmal zurück zur Form der Refle­ xion. – Das können und dürfen wir nicht gleichgültig übergehen. Existentielle Phänomenologie kann Husserls transzendentales Weltund Selbstverständnis, seine ›philosophische Logik‹ (Philosophie als strenge Wissenschaft der Vernunft) nicht teilen. Zumindest nicht uneingeschränkt. Gerade weil wir so-philosophierend unser wirkliches Da-und-So-Sein im Blick halten und uns wirklicher, existentieller zu reflektieren suchen. Das ist unsere Erfahrung einer Gestaltung unseres Könnens und Sollens. Diese existentielle (reflexive) Reflexion der Reflexionen stellt unser ›Welt-Haben‹ und ›Selbst-Sein‹ als eine ›Leistung‹, ein sich ›selbst Leisten‹ vor. Damit durchaus vergleichbar der Absicht transzendentaler Reflexion. Aber nicht als abstrahierende Bewegung und schließlich als Summe hochspekulativer Akte hin auf ein unbedingtes. Sondern von Anfang an als Arbeit der Reflexion der Reflexionen wesentlich wirklichen In-der-Welt-Seins. Dass das nicht ein Ausscheren aus phänomenologischem Selbstverständnis sei, sondern geradezu im Gegenteil, braucht hoffentlich keiner weiteren Entfaltung mehr. – Da ist als phänomenologisch erstes, unser methodisch stren­ ges Hinschauen auf uns wirklich So-Philosophierende. Das ist Hin­ schauen auf uns selbst, die sich so reflektierend in den Blick rücken (können). Ausgerichtet auf unsere letztmögliche Selbst-Selbst-Vor­ stellung als wesentlich wirkliches und (nun auch) wirklich wesent­ liches So-in-der-Welt-Sein. Von dort her weiter entfaltet als sichbesinnen auf unser radikal ausgerichtetes Wahrnehmen unserer Wahrnehmungen; unsere Reflexionen, (denken wir beispielsweise an die Kunst, die Wissenschaften, die Religion). die sich selbst und die Reflektierenden zu reflektieren imstande sind. Das sind existentielle Reflexionen, die sich nicht – schon weil wir es doch wirklich selbst sind die so reflektieren – in abstrakter, unbedingter Geltung absoluter Ver­ nunft beruhigen können. Philosophische Reflexionen sind und blei­ ben (mag da kommen was will) wortwörtlich spannende Bewegungen unseres wirklichen Da-und-So-Seins. Bewegungen unseres irritierten und perturbierten So-in-der-Welt-Seins. Phänomenologisch einge­ führt als Wahrnehmung der Wahrnehmungen unseres Welt- und Selbstsein. Konkret entfaltet, Schritt für Schritt, ›entlang‹ der als konstitutives Leisten eingeführten existentiellen Intentionalität; eine

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10.2. Lebenswelt reflektiert So-in-der-Welt-Sein

Intentionalität, die, nicht zu vergessen, sich immer auch leibhaft wirk­ lich als So-Da-Sein reflektiert und ordnet. Auch umgekehrt ist unser Dasein das Stell-Werk unseres wirklichen So-in-der-Welt-Sein. Als diese Welt- und Selbstkonstituierende Vorstellung unseres Daseins, reflektiert es selbstverständlich auch Gestalt und Gestaltung ›der Geltung‹ nur im Horizont wirklichen und wesentlichen So-in-derWelt-Seins. Unser Dasein ist, soweit wir es selbst erfahren, nie anders Da, als wesentlich wirkliches So-in-der-Welt-Sein. Das bestimmt die Grenze für unsere existenz-phänomenologischen Reflexionen. Ein wirklich wirkliches Überunshinausdenken, eine ›metaphysische Hinterdenklichkeit‹ ist ein Widerspruch zu uns selbst. Fassen wir es knapp zusammen: Wir sind wesentlich wirklich! Und das bestimme auch unser wirklich wesentliches Da-Sein. So ist also (nun auch) wesentliche Gestalt und praktische Gestaltung unseres Selbst-Sein und unserer Welt-Habe. So er-fahre ich mich. Nur so nehmen wir uns als selbst-verständlich wahr. Was immer wir sonst noch von uns selbst und voneinander wissen können, und zu wissen glauben. Etwa eingeordnet-sein in diese oder jene Kontexte; oder sich-erinnern oder entwerfen können; sich und seine Welt planen; an dies oder jenes glauben; oder auf ein ganz anderes hoffen. Oder ganz allgemein diese oder jene Feststellungen; hintergründigen Ansichten oder irrationalen Glaubenssätze; u. ä.: So war es! Das soll sein! Darauf wollen wir hinaus! Oder auch, das sind meine Werte! Unser gemeinsamer Sinn! Usw. – Das alles fällt nicht vom Himmel. Diese Reflexionen dürfen auch nicht als ›linearer Prozess‹ gesetzt werden. Eine verbreitete Verzerrung. (›Als Erstes diese Tatsache der Welt und dann …‹; oder, ›als Erstes die reine Vernunft, und daraus folgt notwendig …‹). Sondern sie verwirklichen sich (und sind auch so in die reflexive Reflexion der Reflexionen zu bringen) als ein sich immer aufs Neue (von Anfang an) herausfordernder Zirkel unseres Da-undSo-in-der-Welt-Sein. Unsere Welt- und Selbst-Habe, unser Weltund Selbst-Sein, und das im Blick sich philosophierend entfaltend, unser letztmögliches Welt- und Selbst-Verständnis‚ reflektieren sich phänomenologisch als ›existentielles Korrelat‹. Wie kann eine so schlichte Selbstverständlichkeit wie unser So-Dasein mit seinen theoretischen und praktischen Reflexionen, sich als existentielle Reflexion so verwirrend entfalten? Sich jedem Begriff, jeder Ordnung wissenschaftlicher Vernunft dabei immer wieder entziehen? Das sind wahrhaftig rätselhafte Vorstellungen von Welt und Selbst; von Welt-Haben und Selbst-Sein (können); die

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10. Lebenswelt als Gestalt und Gestaltung existenz-phänomenologischer Reflexion

uns, schauen wir hier philosophisch genauer hin, selbst vorführen; und uns und unser In-der-Welt-Sein (man denke an die Leistungen der Reflexionen der Kunst, der Religion, der Wissenschaften) selbst wiederum auch praktisch ein- und ausrichten. Uns dabei selbst immer noch umfassender ›reflektieren‹; gerade wie wir umgekehrt sie immer wieder zu reflektieren vermögen. Man könne sagen, wir leisten und werden gerade dadurch zugleich selbst geleistet. Reflexionen die uns als irritiertes und perturbiertes Da-und-So-Sein vorstellen. – Nun entfalten sich aber existentielle Reflexionen, immer mit Blick auf unseren philosophisch ausstehenden Anfang. Phänomenologisches Arbeiten radikalisiert sich selbst und treibt sich auch historisch weiter; immer soweit unser Vermögen als existentielle Reflexion der Refle­ xionen reicht. Und setzt dabei diese offene Gestaltung von Welt- und Selbst-Habe, von Welt- und Selbst-Sein als unsere existentiell wirk­ liche Leistung. Dabei bleiben wir auf sicherem Boden. Selbst dann noch, wenn diese Reflexionen ›aporetisch‹ enden sollten. – Zusammengefasst. Unser existenz-phänomenologisches Philo­ sophieren ist weder Rückgriff auf transzendentale Vernunft, noch Aufstieg zu metaphysischen Ideen; konstruiert (so oder so) keinen ein für alle Mal geltenden unbedingtem Grund. Genauso wenig begnügen wir uns mit einer resignativ-nihilistischen Einsicht, dass theoretisch und praktisch die Sache des Menschen ›auf Nichts gestellt‹ sei. (›Lasst auch philosophisch alle Hoffnung fahren‹!) -

10.3. Existentielle Bedeutung von Wahrheit, Irrtum, Lüge, Wir erfahren phänomenologisch reflektiert selbst unsere Lebenswelt als wesentlich wirkliches und nun auch als wirklich wesentliches Korrelat unseres irritierten und perturbierten So-in-der-Welt-Seins. Dass und wie gerade dieses rätselhafte uns selbst So-Selbst-Erfahren (und erfahren-könnens), unsere theoretischen und praktischen Refle­ xionen immer weitertreibe, wird sich existenz-phänomenologisch vorführen lassen. Mensch scheint also, unsere phänomenologische Perspektive etwas allgemeiner gewendet, nicht irgendwie unter anderem, neben­ bei nun auch eingestellt in irgendeine Lebenswelt. Und stehe selbst etwa als transzendentale Vernunft, absoluter Geist, ihr unbedingt, oder ganz und gar einsichtslos eng gebunden, fremd oder gleichgültig

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10.3. Existentielle Bedeutung von Wahrheit, Irrtum, Lüge,

gegenüber. Sondern je bestimmte Lebenswelt phänomenologisch eingeführt als Leistung und Leisten des Menschen; als existentiell wesentliche Gestalt und durchdringende Gestaltung eines wirkli­ chen und wesentlichen So-in-der-Welt-Seins.421 Und umgekehrt, ist Lebenswelt, die für ein Dasein notwendig vor- und mitgegebene Form als Möglichkeit überhaupt So-Da-Sein zu können. Der Horizont in dem Geschichten und Geschichte der Menschen überhaupt werden und ›sein‹ können. Damit werde auch die Identität eines Daseins, sein wirkliches und wesentliches So-Sein, seine Reflexionen lebens­ weltlich gebunden. ›Lebenswelt‹ werde also selbst phänomenologisch weiterentfaltet als ›Bedingung existentieller Hermeneutik‘ je wirkli­ chen So-in-der-Welt-Seins. Um die Verwirrung noch zu steigern, auch diese phänomenologischen Geschichten von der ›Konstitution der Lebenswelt‹ selbst machten davon keine Ausnahme. – Das ist für phänomenologisches Philosophieren nichts wirklich Neues. Ist es doch das, was unsere Reflexionen von Beginn an, mehr oder weniger nachdrücklich entfaltet und auch ausgerichtet hat. Diese unserem existentiellen Philosophieren also implizite Grundlage, wird nun noch etwas ausdrücklicher nach vorne gerückt. Und zwar indem die phänomenologische Reflexion der Reflexionen ausdrücklich weiter entfaltet wird als ›existentielle Hermeneutik‹. Die Schwierigkeit und zugleich die bleibende Herausforderung des Philosophierenden ist, sich überhaupt aus der Vertrautheit seines In-der-Welt-Seins ›herauszureißen‹. (Man denke hier an die Medita­ tionen Descartes.) Dazu gehören auch die von den Wissenschaften zur Verfügung gestellten ›Modelle der Welt‹. Möglichkeiten des Begrei­ fen; vor allem sich unser So-in-der-Welt-Sein vernünftig zurechtlegen-könnens. Zumindest als Hintergrund-Information gelten zu lassen; selbst wenn man tatsächlich diese und jene wissenschaftlichen Erklärungen nicht verstanden habe. – Wie auch immer, diese eine Frage liegt auch hier nahe, warum denn überhaupt das im Grunde doch ›funktionierende Selbstverständliche‹ unserer Welt-Habe und unseres Selbst-Seins immer weiter (und immer wieder von Anfang 421 So oder so ähnlich auch die anthropologische Grundbestimmung des Mensch­ seins. Beispielsweise bei Arnold Gehlen. »Der Mensch ist das handelnde Wesen. Er ist (…) nicht ›festgestellt‹, d. h. er ist sich selbst noch Aufgabe – er ist, kann man auch sagen: das stellungnehmende Wesen. Die Akte seines Stellungnehmens nach außen nennen wir Handlungen, und gerade insofern er sich selbst noch Aufgabe ist, nimmer er auch zu sich selbst Stellung und ›macht sich zu etwas‹.« (Der Mensch. seine Natur und seine Stellung in der Welt. (Hier) Frankfurt/M 2016. S 30)

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an) zu problematisieren, an irgendwelche Grenzen theoretisch gehen; sich selbst damit noch tiefer irritieren und perturbieren? Kurzum, was wäre der Sinn sich selbst aus der uns zuerst und zumeist hinreichend vertrauten und (im großen Ganzen) funktionierenden neuzeitlichmodernen Ordnung herausnehmen zu wollen? Warum denn nicht im Horizont unserer wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten den Alltag vernünftig meistern. – Aber schon so ins Fragen zu geraten zwingt zu philosophieren. Und dieses Philosophieren einmal auf den Weg gebracht, fordert der Form dieser Reflexion, als Gestalt und Gestaltung unseres irritierten und perturbierten So-in-der-WeltSeins weiter zu folgen. (Einschließlich, was treibt dich dazu überhaupt zu philosophieren? Dich in ein Ungewisses zu bewegen?) – Dass also unsere gelebte, so oder so reflektierte ›Lebenswelt‹, unser So-inder-Welt-Sein, nicht bloß soziologisches, psychologisches oder auch historisches Thema sein könne, liegt phänomenologisch geradezu auf der Hand. Zweifellos sind es aber Perspektiven, Reflexionen, die nicht unbeachtet beiseitegelegt werden sollen. Sie gehören doch hier und jetzt selbstverständlich mit zu unserem So-Da-Sein; mit zu unserer ›modernen‹ Lebenswelt. Aber schauen wir genauer hin und uns selbst zu. - Unsere ›wirkliche Wirklichkeit‹ könne also (zumindest restlos) nicht auf einen wissenschaftlichen Begriff gebracht werden. Wir selbst als irritiertes und perturbiertes wirkliches So-in-der-Welt-Sein bleiben dabei in jedem Fall ›außen vor‹. Meine, deine, unsere Existenz lasse sich mit der Wirklichkeit unseres ‚irrationalen‘ In-der-Welt-Sein nicht auf wissenschaftlichen Begriff abstrahieren. – Existentielle Phänome­ nologie beschreibt unsere Lage wortwörtlich umfassender, wirklicher, radikaler; sie reflektiert (nicht zuletzt sich selbst) existentiell. Phä­ nomenologisches Philosophieren konstruiert sich nicht als Schreib­ tisch-Philosophie. Sondern phänomenologische Reflexionen unseres Da-und-So-in-der-Welt-Seins sind Reflexionen einer erlebten Viel­ zahl von wirklichen und auch möglichen Geschichten. Einschließlich der Geschichten der Wissenschaften; der Kunst; der Religionen; der Philosophie. Existenz-phänomenologisch vorgestellt als existentielle Reflexion der Reflexionen. Soweit wir auch zu schauen versuchen, es drängt sich uns mit Blick auf unsere eigenartig ›geschlossenen‹ Vorstellungen der Reflexion unseres Da-und-So-Seins auf. Als ob ›Welt‹ und ›Selbst‹ sich unserer Wahrnehmung, unserer Erfahrung, nie anders als schon so und so gestalteter Text der ›Reflexion der Wirklichkeit‹ zuordneten. Das führt phänomenologisch die Grund-

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10.3. Existentielle Bedeutung von Wahrheit, Irrtum, Lüge,

Vorstellung (oder die letztmögliche Fassung) der Gestaltung unserer konstitutiven Akte vor; in unserem Blick als die Bedingung unserer Welt-Habe und unseres Selbst-Seins. Gleichwie wie man diese ›Weltund Selbst-Ordnungen‹ nachträglich (wissenschaftlich; ästhetisch; philosophisch) zu ordnen, zu begreifen, sich zurechtlegen sucht. Etwa und ohne jede bestimmte Wertung, naturalistisch; impressio­ nistisch; expressionistisch; idealistisch; u. ä. Wie und wo immer man sich ontologisch, anthropologisch, wissenschaftlich auch positioniere. Immer bleiben wir selbst und unsere ›Welt-Habe‹ uns präsent, als in Form (der Wirklichkeit) gebrachte ›verstehbare Ordnung‹. Wir werden phänomenologisch geradezu, so scheint es wie von selbst, auf Gestalt und Gestaltungen unserer ›Reflexionen‹ von ›Welt‹ und ›Selbst‹ verwiesen. Dass sich hier sogar eine gewisse Nähe zu gestalt­ psychologischen Vorstellungen zeige, kann nicht übersehen werden. (Phänomenologie könne ja selbst unter dem Titel einer ›Gestaltphi­ losophie‹ geführt werden.) Wir vergessen aber nicht, dass selbst diese Reflexionen phänomenologisch noch einmal radikal gewendet werden. Unser existenz-phänomenologisches Philosophieren leistet sich selbst als Reflexion dieser ›Geschichten der Reflexionen‹; gesetzt als Einführung der Möglichkeit der Vorstellung ›existenz-phänome­ nologischer Geschichten‹. Wir klammern also auch hier diese oder jene der uns aus der Tradition angetragenen Theorien und ihre Geltungsansprüche wieder ein; und schauen selbst hin und zu. Schauen nun aber auch hin wie uns diese Theorien, (sie mögen abstrakt sein, sich wie auch immer vorstellen), präsent werden. – Nichts scheint uns zuerst und zumeist natürlicher, vertrauter, als unsere Lebenswelt und unser So-in-der-Welt-Sein. Also dieser uns so vertraute praktische, alltäg­ liche Zusammenhang sich selbst zu begreifen, zu verstehen, auch wissenschaftlich-aufgeklärt (oder ästhetisch oder religiös vorgestellt) ›erzählen‹ zu können. Einschließlich der unterschiedlich begründeten und ausgerichteten Ordnungen unseres Handelns. – Das ist unsere Welt, soweit wir überhaupt unsere Geschichten und Geschichte zu schauen vermögen. Auch ein Missverstehen von diesem oder jenem, sich irren, getäuscht werden, schert hier nicht aus. Dieser von uns theoretisch und praktisch gelebte Zusammenhang ›funktioniert‹ aber nicht nur als praktische Gestaltung des ›Mitteilens‹ dieser und jener unmittelbar oder mittelbar gelebten Wirklichkeiten. Oder eines funk­ tionierenden oder auch eines (wie auch immer) ›gestörten‹ Zusam­ menhangs unseres In-der-Welt-Seins. Oder eingeführt als – in einem

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10. Lebenswelt als Gestalt und Gestaltung existenz-phänomenologischer Reflexion

weiten Wortverständnis -, die Grundlage unserer ›Kommunikation‹. Sich, wie man gemeinhin sagt, ›austauschen können‹ über unsere, meine, deine wirkliche Welt. Das sind nicht nur Fragen für die Wis­ senschaften; oder für eine Erkenntnistheorie. Sondern dies wird exis­ tenz-phänomenologisch eingeführt als die existentielle Bedingung ›unserer Welt-Habe‹. Als das was es überhaupt erst möglich mache, von Kindesbeinen dieses vertraute Welt- und Selbst-Haben-können‘ theoretisch und praktisch › leben zu können. Zuerst und zumeist erzählen wir uns, aus einer für uns selbst unauffälligen Perspektive selbstverständlich geltender ›WeltAnschauung‹ und vertrautem ›Selbst-Verständnis‹. – Phänomeno­ logisch vorgestellt und reflektiert als unser wesentlich wirkliches So-in-der-Welt-Sein. Als unsere Leistung konstitutiver Reflexion der Reflexionen; also die Grund-Ordnung von ›Welt-Haben‹ und ›Selbst-Sein‹. Dazu gehört auch (wir erfahren es wiederum mit uns selbst) Ordnungen als unzureichend vermeinen, unpassend, als nicht mehr zulässig (›darüber bin ich hinaus‹), und sie zu verändern suchen. Das ist andere ›Geschichten‹ dagegen (oder dazu) setzen; sich selbst und anderen ›etwas anderes‹ erzählen. – Wir selbst dabei in den Blick gerückt als die Bedingung für uns selbst. Wir, die uns selbst, und unser Geworden-sein, als wesentlich wirklich ›erzäh­ lend‹, ›reflektierend‹ wahrnehmen; oder, auch das, immer wieder so wahr-zunehmen-versuchen. Ohne uns aus dieser Grundform unseres So-in-der-Welt-Seins theoretisch oder praktisch verabschieden zu können. Wir Leisten so (schon unwillkürlich) die Konstitution, oder den ›Vollzug unserer Wirklichkeit‹. – Dafür braucht es keine ›sur­ realistischen Einsichten‹, keine ›manierierten Konstruktionen‹, kei­ nen ›schriftstellerischen Genius‹. Wir schauen es phänomenologisch schlichter, alltäglicher. Als wirkliche und wesentliche Grundleistung; als Vermögen, als Kompetenz, die dem ›Menschsein‹ (soweit wir es geschichtlich überhaupt sehen können) von Beginn an als unabding­ bar zugehört. Als Möglichkeit konstitutiven Leisten-könnens (›Refle­ xionen‹) gemeinsamen In-der-Welt-Seins; als existentielle Gestalt und Gestaltung unseres wirklich wirklichen Welt- und wesentlichen Selbstverständnisses; unseres überhaupt Welt- und Selbst-Habenkönnens. Einschließlich (hier und jetzt) unseres letztmöglichen exis­ tentiellen Selbst-Selbst-Seins. Phänomenologisch reflektiert scheint es als eine für unser So-in-der-Welt-Sein nicht noch mehr weiter (ontologisch, anthropologisch) hinter-denkbare Form. - Schauen wir phänomenologisch hier genauer hin, ohne spekulativ uns zu über­

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10.3. Existentielle Bedeutung von Wahrheit, Irrtum, Lüge,

heben. Eine Gefahr, die sehr real ist. Es lassen sich hier nämlich bestimmte als ›klassisch‹ gesetzte, geltungs-theoretische und lebenspraktische Bedeutungen nicht übersehen. Von dieser existentiellen Grund-Gestaltung und -Leistung unseres Da-und-So-Seins her, dem so konstituierten, für uns (ausdrücklich immer soweit wir selbst zu schauen vermögen) letztmöglichen Horizont unseres wirklichen und wesentlichen So-in-der-Welt-Sein, entscheiden wir nämlich immer auch kritisch (theoretisch und praktisch) über unseren gelebten, unseren, wie auch immer im Einzelnen präsenten, erzählten, reflek­ tierten, ›Sinn‹, oder ›Unsinn‹. Und weiter, auch über unsere geltenden ›praktischen Ordnungen‹, und was hier von uns als ›Unordnung‹ angesprochen, verworfen werden müsse; was für uns als konstruktiv, lebensdienlich‚ oder destruktiv, oder wahnsinnig‘ (usw.) zu gelten habe. Was einen ›Wert‹ für uns vorstelle, oder als ›Unwert‹ zu mar­ kieren sei. Jede überhaupt mögliche Zusammenfassung, Exkursion, Abstraktion, jeder Metadiskurs, bleibt innerhalb dieser so eingeführ­ ten Vorgaben unserer Wirklichkeit. Eine Vorstellung, die sicher nicht nur Geltungstheoretiker nicht ohne weiteres hinzunehmen bereit sind. - Diese Perspektive führt wieder einmal klar die grundsätzlichen Spannungen zwischen existentieller und transzendentaler Phänome­ nologie vor. Existenzphänomenologische Reflexionen reflektieren nicht weniger radikal als die der transzendentalen Phänomenologie. Nicht weniger ausgerichtet auch auf Sinn und Bedeutung für uns und unser So-in-der-Welt-Sein. Aber jeweils unterschiedlich eingeführt und unterschiedlich akzentuiert. Vor allem reflektieren wir mit je eigenem existentiellem Selbst-Selbstverständnis. Und nicht zuletzt setzen wir auch andere Aufgaben, Gestaltungen, sehen sogar andere Möglichkeiten für eine philosophische Reflexion. Schon das jeweils zugrundgelegte Philosophieverständnis gibt also diese Spannungen vor. Daraus folgen auch andere Vorstellungen von sein-sollendem Anfang. – Man sollte meinen, dass damit die Trennung, der Riss in der Phänomenologie endgültig vollzogen wäre. In den Blick gerückt als ›entweder – oder‹! Man könne eben nicht ›auf zwei Hochzeiten tanzen‹. So scheinen existentielle und transzendentale Phänomenolo­ gie grundsätzlich von Anfang an (vergleichbar den beiden sich doch nach sich sehnenden Königskinder aus der bekannten Volksballade) nicht übereinkommen zu können?422 Das sei keine Frage des Wol­ Hans Blumenberg fasst es so: »Für Husserl ist Philosophie im Grunde nur das, was uns vergessen lässt, dass wir es sind, die sich diese Fragen stellen und diese Antworten

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lens, sondern eines nicht-könnens. ›Der Graben ist viel zu tief‹. Für eine Seite reiche die Kraft nicht aus ihn zu überwinden; die andere Seite wolle nicht einmal ein ›Zusammenkommen‹. Hier Kongruenz herzustellen versuchen, wäre dann wohl vergebene Liebesmühe? – Eines aber könne hier schon als positiv vermerkt werden. Gerade dieser grundsätzlich scheinende Widerspruch halte unser existenzphänomenologisches Philosophieren in vorsichtiger, selbstkritischer, skrupulöser Bewegung. – (Hier ist ›das letzte Wort‹ bei weitem noch nicht gesprochen.) Weiter mit dieser phänomenologischen Reflexion unserer Refle­ xionen. – Als erstes wieder eine schlichte Einsicht. Eine Feststel­ lung, für die es kein angestrengtes wissenschaftliches Konstruieren brauche. Sondern unsere Forderung ›immer selbst hinzuschauen‹ hinreiche. Menschen erfahren sich, wenn sie sich und ihr Denken und Handeln in den Blick rücken, unwillkürlich auf ›Wahr-Sein‹ ausgerichtet. Dies ist schon ein alltägliches Leisten; sagen wir eine uns selbstverständliche vorphilosophische Reflexion. Die Selbstver­ ständlichkeit unseres ›miteinander‹ bezogen-, sogar ›füreinander‹ eingestellt-sein-müssen auf ›Wahrheit‹ für uns. Vielleicht von uns geradezu ›intuitiv‹ gelebt als ein hintergründiger Grundglaube, ›in und mit der Wirklichkeit in-Wahrheit-zu-sein‹. Gleichsam als die zumeist unausgesprochene Regel und Norm unseres So-in-der-WeltSeins. Im Sinne von, ›davon gehen wir selbstverständlich aus‹. Sogar, ›davon ist für uns im Grunde auszugehen‹. – Dass auch dies nicht bloß erkenntnistheoretische Lagen und Herausforderungen in den Blick rückt, braucht wohl kaum weiterer Entfaltung. Als wäre der ›cartesische Zweifel‹ das uns auch im Alltag wirklich bestimmende. (Er ist es nicht einmal dort, wo streng wissenschaftlich zu philosophie­ ren beansprucht werde.) Diese hier so allgemein gesetzte, lebenswelt­ lich vertraute Selbstverständlichkeit, wird aber sehr unterschiedlich vorgestellt, zum Ausdruck gebracht, gelebt; und auch philosophisch zu verstehen und wissenschaftlich (z. B. biologisch; soziologisch; psychologisch) zu begreifen versucht. – Für unser lebensweltliches Miteinander, – und das setzt bekanntlich die Voraussetzung für phänomenologische Reflexion – mag das zuerst und zumeist ganz finden. ›Selbstvergessenheit‹ charakterisiert den Typus und die Erfolgsbedingung des Phänomenologen. Das steckt schon am Anfang in der ersten phänomenologischen Reduktion.« (Beschreibung des Menschen. Aus dem Nachlass herausgegeben von Manfred Sommer. Frankfurt/M 2014. S 12)

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praktische Gründe haben. Etwa, wir sind angewiesen auf ein verlässli­ ches Miteinander. Sich so auf unsere Wahrheiten ein- und auszurich­ ten, auch ein- und ausrichten zu können, oder auch für sich selbst ›wahrhaftig‹ leben zu wollen (kann ich denn selbst für mich selbst wirklich als unwahr leben?), brauche zumindest praktisch für unser So-Da-Sein keiner weiteren erkenntnistheoretischen Fundierung; keiner wissenschaftlichen Begriffe; keiner ›tiefen‹ philosophischen Reflexionen. So leben zu wollen und zu sollen, (vielleicht sogar) zu müssen, sei keinesfalls angewiesen auf Rechtfertigung durch diese oder jene Wissenschaften. Nicht einmal die, so sagt man wohl, ›weiter und tiefer‹ ausgreifende Frage, was denn ›Wahrheit überhaupt‹ sei, denken wir hier an Pilatus (Joh. 18,38), berge, zumindest auf den ersten Blick, uns verwirrende Rätsel. Mögen sich die Erkenntnistheo­ retiker darum streiten. Wir bestimmen das Wahrgenommene als unsere wirkliche Wirklichkeit, und unser, dazugehöriges alltägliches In-der-Welt-Sein, wie selbstverständlich als Muster der möglichen Wahrheit. Ein Muster, das man als Regel lebt, auch dort noch, wo man es selbst ›theoretisch‹ missachtet. – Ein schlichtes ›WahrheitsVerständnis‹, (gesetzt als schlichtes ›sehen‹, ›hören‹, ›tasten‹, ›emp­ finden‹), das, schon auf den ersten Blick, nicht deckungsgleich zu sein scheint (und auch nicht braucht) mit dem die philosophische Tradition bestimmenden Begriff. ›Unsere Wahrheit‹ wird zuerst und zumeist also ›selbstverständlich‹ gelebt, gestaltet, und formatiert; als praktische Geltung im natürlichen Horizont ›Leben-Welt‹. Ein auf meinen Fuß fallender Stein, und der Schmerz, der mich ›durchfährt‹, scheine mir Beleg genug zu sein 1, für die materielle Wirklichkeit ›der Welt‹; 2, die fragile Wirklichkeit meiner Selbst; 3, die Erfahrung einer ›kausalen Ordnung‹. Und ›dahinter‹ (zumindest als Möglichkeit) sogar ein eigenartig beeindruckendes Versprechen einer ›wirklich wahren Natur‹.423 Auch diesen Wahrnehmungen, (ja es sind auch Wahrnehmungen) kann Mensch sich nur schwer entziehen. – Zu all dem gehört, wiederum als selbstverständlich, eine gewisse (nennen wir es) ›Plastizität‹ dieses unseres alltäglich so gelebten Wahrheits­ Ich denke hier an die Gedichte von Wilhelm Lehmann: Etwa. Sichtbare Zeit. – ›Gilbende Gerste, träumerisch wahr/Mein Finger kämmt ihr steifes Haar./Zwischen Treckerspuren ein grüner Streifen,/Ihn stören Schuhe nicht, Hufe und Reifen./Von alten Kamilledüften durchwürzt,/Daseinsgeschmack, mächtig verkürzt./Ich sitze auf regengrauen Kloben./Ich sehe, wie die Zeit, in die Luft gehoben,/Leichteste Wucht,/ Sich selbst zuwächst als Ahornfrucht.‹ (Gedichte. Auswahl und Nachwort von Karl Krolow. Frankfurt/M 1977. S 136) 423

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verständnisses. Das wird offensichtlich, gerade wenn ein ›Irrtum klar‹ geworden ist (›es ist nicht so wie ich zunächst geglaubt habe‹); oder ›wir eine Lüge‹ zu durchschauen vermeinen (›man hat mir bewusst die Unwahrheit gesagt‹; ›mich belogen‹); oder wenn wir selbst willentlich ›Falsches‹ als wahr behauptet. (Auch das soll vorkommen.) Nur nebenbei, Unwahrheit sprechen ist ein anthropologisch bemerkens­ wertes Potential. Sei es wie es will, kaum zu bestreiten ist, dass es sich praktisch im Besonderen und darüber hinaus auch für das sogenannte ›Allgemeine‹ unseres jeweiligen hier-und-jetzt als herausfordernd genug aufdränge. Und das als nicht weniger wirklich-wirklich! Auch das bestätigt uns also ›Wahrheit‹ und ›Wirklichkeit‹. Was man wiede­ rum ohne weiteres und ohne streng zu philosophieren festzustellen und zu leben in der Lage sei. Dazu gehöre beispielsweise auch eine als faktisch erlebte Gegenwart als eine bestimmte Grund-Lage für die Zukunft als Wirklichkeit (So solle es werden! Oder: So auf keinen Fall!) verallgemeinern zu können. Oder wir uns trotz allem (vielleicht sogar wider besseren Wissens) getragen ›glauben‹ von einer umfassenden Ordnung; ein So-Da-Sein können, das sich uns als ›unbedingtes wahr-sein‹, ›gut-sein‹, ›schön-sein‹ aufdrängt. Bestehe der Skandal unseres In-der-Welt-Seins, nicht gerade darin, dass wir zu wissen vermeinen, wahres, gutes, schönes, müsse ›trotz allem‹ wesentlich sein; wirklich-wirklich sein und nicht bloß phantasierte ›Ideen‹? – Ob wir uns mit diesen Reflexionen überhaupt noch auf ›phä­ nomenologischem Boden‹ befinden? Diese Frage ist ganz und gar berechtigt. Haben wir uns doch verpflichtet, unser Philosophieren einzustellen auf unser wesentlich wirkliches Da-und-So-Sein; unsere wirkliche Welt-Habe, unser selbst eigesehenes Selbst-Sein. - Über diese oder jene Inhalte, mögen wir in Streit geraten; nicht aber über diese existentielle Grund-Form unseres Da-und-So-Seins. Unser irritiertes und perturbiertes So-Da-Sein. Das ist durchaus bemerkens­ wert und lässt noch einmal auf die Bedeutung interpersonaler Ord­ nung unseres In-der-Welt-Seins aufmerken. Dieses grundsätzliche Welt- und Selbst-Verständnis geht sogar, schauen wir noch etwas genauer hin, immer auch über unser alltäglich-praktisches Miteinan­ der-Da-Sein hinaus. Dass das Mensch nur gelegentlich ausdrücklich philosophisch beschäftige, spricht nicht dagegen. Es berühre uns tat­ sächlich ›im Innersten‹; führt also eine Bewegung vor, hin zu unserem ›wesentlichen Mensch-sein‹. Bemerkenswert dabei ist allein schon die Vorstellung (wie immer sie praktisch gelebt wird): es gebe (es müsse

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geben) ein für uns ›wesentlicheres Sein‹. Ob wir es tatsächlich je erreichen, oder als endlicher Mensch überhaupt können, scheint dabei nicht einmal die entscheidende Frage zu sein. (Der daran Zweifelnde sei wiederum gebeten, sich selbst einfach (ohne Vor-Urteile) in den Blick zu rücken. Seine ›Reflexionen‹ existentiell scharf zu reflektie­ ren. Dafür brauche es keineswegs Einführung metaphysischer oder theologischer Kapricen. Oder man versuche es umgekehrt einmal (klassisch traditionell) mit einem entschiedenen Zweifeln. Um dieses Vermögen zweifeln-zu-können nun radikal auch auf sich selbst anzu­ wenden. (»Wer einmal zweifelt, der muss tüchtig zweifeln, wenn er nicht verzweifeln will.«)424 Oder man denke an das sich sorgen man könne sich täuschen; könne da oder dort getäuscht, auch enttäuscht werden, einer Illusion aufsitzen, sich im Irrtum befinden; und dann weiter ethisch aufgeladen: ›im Grunde‹ und ›im großen Ganzen‹ belo­ gen und betrogen werden.425 Warum soll ein Gott die Wahrheit sein; oder die Natur ›es gut mit uns meinen‹? Wir erinnern hier auch an die cartesianische Denkfigur eines ›deus malignus‹. (Es gibt nur wenige literarische Dokumente, die dies so klar zur Sprache bringen, wie die Psalmen.) Vielleicht hilft dies auch zu verstehen, dass Menschen gerade in unterschiedlichen metaphysischen und theologischen Fra­ gen sich so unnachgiebig ›verhalten‹. – Ob nicht, diese Einzelerfah­ rungen noch etwas weitergesponnen, und sogar in uns Umfassendes versetzt und metaphysisch verallgemeinert, überhaupt die ganze Welt nur ›Alp-Traum eines Schattens‹ vorstelle? Ein tiefeingewurzeltes Misstrauen, das vielleicht sogar wie ›unbedingt‹ und ›intuitiv‹ in unserem So-Sein verankert zu sein scheine.426 Ein Irr-Sinn, dem sich letztendlich selbst unsere religiösen Vorstellungen verweigern. Und dennoch im Umlauf als ›anthropologisch invariante Grundge­ stalt‹, der man also eine grundsätzliche Bedeutung für Mensch und

424 Ernst Jünger. Sizilischer Brief an den Mann im Mond. (Hier) Blätter und Steine. Kleinere Schriften. Leipzig 1934. S 110. 425 ›Draußen aber kräuseln sich immer die Ränder von Jahrmarkt./Schaukeln der Freiheit! Taucher und Gaukler des Eifers!/Und des behübschten Glücks figürliche Schießstatt,/wo es zappelt von Ziel und sich blechern benimmt,/wenn ein Geschickte­ rer trifft. Von Beifall zu Zufall/taumelt er weiter; denn Buden jeglicher Neugier/wer­ ben, trommeln und plärren. (…). (Aus, Die zehnte Elegie) 426 Pedro Calderon de la Barca. ›Wenig kann das Glück uns geben;/ Denn ein Traum ist alles Leben,/ Und die Träume selbst ein Traum.‹ (Das Leben ein Traum. Zit. nach Erwin Laaths. Geschichte der Weltliteratur. S 366)

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Menschsein nicht absprechen könne.427 (Wem hat nicht, dann und wann, dieser ›Verdacht‹ überfallen, beunruhigt, oder vielleicht auch amüsiert. Selbst dann und wann sogar den positiv gestimmten.) Dass diese Vorstellungen dazu noch in unterschiedlichen kulturellen Kontexten zu finden sind, sollte zumindest zu denken geben. Und ob solch großer, umfassender ›Verdacht‹ durch ›Ich denke, Ich bin‹, existentiell wirklich erledigt, ein für alle Mal ›vom Tisch‹ wäre? Sich damit also zu beruhigen, dass dies doch schon bei Descartes, nichts weiter gewesen wäre, als ein Anlass für klare Denkfiguren, die jeden Skeptizismus endgültig den Rest gebe. Wer es vermag, möge es tun! – Wir mögen uns drehen und wenden wie immer es uns wissen­ schaftlich und philosophisch einfällt. Hinter all diesen erkenntnis­ theoretischen Bedenken und auch Zweifel lassen sich existentielle Fragen ausmachen. Es scheint als ob dieses geschichtlich seltsam bebilderte, ›große‹ metaphysische Misstrauen, in der ›Natur unserer Sache‹ liege.428 Ein Erbteil unseres wesentlich wirklichen Da-und-Soin-der-Welt-Seins. Das sind (immer noch virulent) tief verwurzelte Fragen nach wirklich ›wirklicher Wirklichkeit‹; nach unseren meta­ physischen und existentiellen Sicherheiten und Fundamenten. (Wel­ che Begriffe wir dafür setzen, ist dabei ohne Belang.) Kurz, vorsichtig, umsichtig, auch skeptisch und methodisch sich seiner Selbst und seiner Welt zu vergewissern, drängt sich dem Menschen (unabhängig von jeder pragmatischen Vernünftigkeit) auf als ein Müssen und Sollen. Dieses Hinschauen, Ausrichten auf ›Wahrheit‹, und suchen nach ›Sinn‹, ist also alles andere als ein pathologisches Symptom. Dem Menschen scheine ›Wahrheit‹, ›wahr-sein‹, Sinn-haben, auch Sehnsucht nach dem ›Guten‹, dem ›Schönen‹, selbstverständlich, natürlich seiner ›Natur‹ zu entsprechen. Aber auch, als dazugehöriger Kontrapunkt, das Misstrauen, die Sorge getäuscht zu werden, sich irren, sogar sinnlos leben zu müssen. Positivistisch eingestellte Philo­ sophen mögen die Nase rümpfen. Zumindest aber in einem scheinen wir übereinkommen zu können. Offensichtlich und virulent ist uns, 427 Etwa, Sprüche 6,16 – 19 ein geradezu klassischer Katalog unserer Befürchtungen, die uns voreinander ›Fürchten lehrt‹. ›Sechs Dinge sind dem Herrn verhasst,/sieben sind ihm ein Greuel:/ Stolze Augen, falsche Zunge,/Hände, die unschuldiges Blut vergießen,/ein Herz das finstere Pläne hegt,/Füße, die schnell zum Bösen laufen,/ein falscher Zeuge, der Lügen tuschelt,/und wer Streit entfacht unter Brüdern. 428 Denken wir hier (selbstverständlich) auch an Nietzsche. »Die extremste Form des Nihilismus wäre: dass jeder Glaube, jedes Für-wahr-halten notwendig falsch ist: weil es eine wahre Welt gar nicht gibt.« (Der Wille zur Macht. Ziff. 15)

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und auch kulturgeschichtlich ›lesbar‹, ein unentwegt Ausschau-halten nach ›Wahrheit‹; vielleicht auch (nun neuzeitlich übersetzt) sich ein sinnvolles Leben für sich, für-uns, erarbeiten, den ›Umständen viel­ leicht auch glücklich-sein‹ abtrotzen zu-können. – Und das alles, um an das oben gesagt noch einmal anzuknüpfen, trotz allen Bedenken, Misstrauen, (vielleicht auch grundsätzlich) offenbleibenden Fragen. Sich immer wieder auf diese Fragen, auch auf unser Fragen selbst, einzulassen; und das über praktische und theoretische Interessen der aufgeklärten Wissenschaften hinaus (aber nicht darüber hinweg). Wie immer diese ›Theorien‹ selbst sich auch vorstellen; etwa eigenartig maskiert, verzerrt, sogar überhaupt mit ihrer Intention verdeckt. Dabei muss Mensch sich dies auch nicht theoretisch, Tag für Tag vorhalten; zu begründen versuchen. Sich ausdrücklich daran erin­ nern müssen. Eigens reflektieren. Diese Wahrheits- und Sinn-Suche gestaltet sich, und führt sich praktisch, geradezu unwillkürlich vor und aus. (Man denke hier auch an das von Erik Erikson so benannte ›basale Vertrauen‹). – Das alles ist existenz-phänomenologisch zu reflektieren! Nicht nur als eine der Möglichkeiten dieser (ich sage bewusst) abendländi­ schen Neu-Zeit. Sowie man auch sich mit ›Astrophysik‹ beschäftigen, oder, sich intensiv für ›archäologische Ausgrabungen‹ interessieren, oder (warum nicht) Briefmarken sammeln, oder, wenn man es möchte, trotz besseren Wissens, Astrologie betreiben könne. Sondern Philosophieren führe uns existentiell Irritierten und Perturbierten (vielleicht auch im Sinne Viktor Frankls: existentiell Frustrierten), hin zu uns selbst. Ein Reflektieren eingeführt als sollen; wiederum sogar als ein ›müssen‹. Existentielle Phänomenologie setzt Philosophieren und Philosophie, ausdrücklich sehr grundsätzlich, als konstruktive Grund-Lage unserer existentiellen Ordnung. Sogar für das große Ganze sogar als unausweichlich, als Entfaltung der existentiellen Reflexion der Reflexionen. Die Bewegungen, die mit zum wirklichen Wesen des Menschen gehören.429 Man dürfe mit Fug und Recht sogar sagen, erst existentielles Philosophieren erfülle die letztmögliche »Im Grunde kennt jedermann diesen auf sein wahres und echtes Menschentum bezogenen Unterschied, so wie ihm auch Wahrheit als Ziel, als Aufgabe schon in der Alltäglichkeit nicht fremd ist: obgleich hier nur in Vereinzelung und Relativität. Aber die Philosophie übersteigt diese Vorgestalt, in der ersten originalen Urstiftung der antiken Philosophie, indem sie die überschwengliche Idee einer universalen, auf das All bezogenen Erkenntnis erfasst und sich als Aufgabe setzt.« (Krisis/11) 429

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Vorstellung der ›Natur des Menschseins‹. – Und um noch einmal darauf zurückzukommen. Selbst noch das Entdecken, Wahrnehmen, Erzählen, sich ausgesetzt Erleben, von schein- und zweifelhaften Lagen, problematischen Erfahrungen, erschütternden Zuständen, etwa Angst, Sorge, Krankheit und Tod, ist für unser ›naives‹ Welt- und Selbst-Verständnis, trotz vielleicht auch gelegentlich ›nihilistischen Anwandlungen‹, kein außer-ordentliches unser Vertrauen umstür­ zendes Ereignis..430 Sondern wird zurecht gelegt (und entschärft) als nur dieser oder jener historisch oder biographisch faktischen Konstellation geschuldet, (›ich bin momentan nicht so gut drauf‹; ›die Welt-Lage zieht uns runter‹; ›das war eben Schicksal‹). Dieser ›irratio­ nale‹ Grund-Glaube bleibe; selbst wenn es uns ein Widerfahrnis wie ein Blitz aus heiterem Himmel treffen sollte. Wobei es ja wahrhaftig bekanntlich nichts ›Großes‹ brauche, um uns in ›Angst und Schre­ cken‹ zu versetzen. Selbst in den (seltenen) kostbaren Augenblicken einer ›Seelenruhe‹ sind wir davor nicht wirklich gefeit.431 Wer wüsste das nicht aus eigenen Erfahrungen. Das alles gehört hierher, und ist für uns phänomenologisch beredt genug. Die Bedeutung, um hier schon etwas vorzugreifen, die hier der Literatur, der Lyrik, der Musik, der Kunst überhaupt phänomenologisch zukommt, ist kaum zu überschätzen. Dicht zusammengefasst. Schon sich mit seinen Fragen nach wirklicher Wirklichkeit, nach Wahrheit, Geltung, Sinn, in den Blick zu rücken, reflektiert Mensch und Menschsein wirklich und wesentlich als irritiertes und perturbiertes So-in-der-Welt-Sein. Die Antworten mögen dabei sein wie auch immer. In jedem Fall führt es dann phänomenologisch reflektiert, uns unsere wesentliche Fraglichkeit vor Augen; und auch, das darf nicht vergessen werden, unser uns überhaupt so-fragen fragen können. Gestaltet damit unser philoso­ phisches Vermögen uns und unsere ›Welt‹ (als Welt-Haben und Anders Martin Heidegger: »Die ursprüngliche Angst kann jeden Augenblick im Dasein erwachen. Sie bedarf dazu keiner Weckung durch ein ungewöhnliches Ereignis.« (Was ist Metaphysik. In: Wegemarken. Frankfurt/M 19782. S 117) 431 Verfall/ ›Am Abend wenn die Glocken Frieden läuten,/Folg ich der Vögel wunder­ vollen Flügen,/Die lang geschart, gleich frommen Pilgerzügen,/Entschwinden in den herbstlich klaren Weiten.// Hinwandelnd durch den dämmervollen Garten/Träum ich nach ihren helleren Geschicken/Und fühl der Stunden Weiser kaum mehr rücken./So folg ich über Wolken ihren Fahrten.// Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern./Die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen./Es schwankt der rote Wein an rostigen Gittern.// Indes wie blasser Kinder Todesreigen/Um dunkle Brun­ nenränder, die verwittern,/Im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen.‹ (Georg Trakl) 430

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Selbst-Sein) radikal-letztmöglich in die existentielle Frage unseres Philosophierens (als reflexive Reflexion der Reflexionen) zu stellen. Das reißt endgültig heraus aus dem sich aufgeklärt behauptenden neuzeitlichen Hier und Jetzt. - Die existentiellen Reflexionen eröffnen also die Moderne.

10.4. Lebenswelt als Horizont existentieller Reflexion Eine Grund-Erfahrung ist es, die uns trotz aller Einsprüche in unse­ rem existentiellen Philosophieren zu halten scheint. Eine Erfahrung, die dieses Philosophieren nicht zu erklären beansprucht; sondern deskriptiv entfaltet, weitertreibt und auch existentiell zuspitzt. Das ist die Erfahrung unseres So-Da-Seins als zu- und gegeneinander als Dasein (Gestalt) und Sosein (Gestaltung). Wahrhaftig eine GrundSpannung unseres In-der-Welt-Seins. Das ist die Leistung exis­ tentiellen Philosophierens, sich dieser Grund-Spannung zwischen unserem Da-Sein und So-Sein zu stellen; das ist nicht sie (z. B. psychologisch) begreifen zu wollen; sondern sie als erstes als philoso­ phische Herausforderung überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Das fordert von uns, sich als Philosophierender wirklich selbst zu stellen in existentielle Reflexion der Reflexionen. Eines kann wohl kaum geleugnet werden. Existentiell sich auf­ drängende Fragen sind für uns als uns beunruhigende da; und sind nicht, das mag unsere Unruhe verschärfen, durch naturwissenschaft­ lich aufgeklärte Perspektiven, ihren Fragen und Antworten (vielleicht auch nicht ›irgendwann-einmal‹), substituierbar. Ob also gerade hier diese, unser existentielles Philosophieren so herausfordernde, Grenze zwischen unserem wesentlich wirklichen Da-und-So-Sein und der neuzeitlichen Wissenschaft und der Philosophie der Vernunft auf­ scheine? – Um nicht eine Fährte zu legen, die in die Irre führen müsste. (In anderen Zusammenhängen mag sie durchaus zielführend sein.) Das alles meint beispielsweise nicht ein immer mögliches sich erkenntnis-theoretisch, oder psychologisch ›sich-irren-können‹; ein Warten auf das Fortschreiten von wissenschaftlicher Erkenntnis. Also, und in diesem uns hier interessierenden Zusammenhang, den wissen­ schaftlichen Einsatz und die Reflexion hier weiter zu steigern; um unser So-Da-Sein systematisch zu begreifen und zu erkennen; und sich praktisch (sozial; gesellschaftlich, ökonomisch; politisch) noch

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besser einzurichten und zu optimieren (einschließlich sich-selbst zu optimieren). Die Erwartung einer praktisch methodisch organisier­ ten Bewegung hin zu immer vollkommeneren Erkennen der wirkli­ chen, wahren Wirklichkeit. Um schließlich dann philosophisch und wissenschaftlich, erkenntnistheoretisch und pädagogisch-praktisch, diese wahren Einsichten prinzipiell-aufgeklärt praktisch zu institu­ tionalisieren. Von dort aus (der ›Stand unserer Moderne‹) misst sich selbstverständlich nun auch ›Wahrheit und Geltung‹. – Unser existenz-phänomenologisches Philosophieren reflektiert stattdessen unser Dasein auch als wesentlich irrationale Gestalt und Gestaltung unseres So-in-der-Welt-Seins. Und so gehört für uns, zu unseren wirklichen Selbst- und Welt-Erfahrungen ganz selbstverständlich wesentlich auch Schein, Täuschung, Illusion; genauso wie Angst, Sorge, Verzweiflung. Und nicht zuletzt auch dieses Denken, das, immer wieder (praktisch erfolglos) versuche, über sich hinaus-grei­ fen-zu-wollen. – Kann das, so sei mit Blick auf sich selbst, die je eige­ nen Erfahrungen, gefragt, ernsthaft bezweifelt werden? Man denke beispielsweise ganz schlicht an den – nun wirklich oft bemühten – ›geraden Stab‹, der ins Wasser gehalten, unserem Augenschein ›gebrochen‹ erscheine (die wissenschaftlichen Erklärungen ändern daran nichts); oder auch das wohl jedermann bekannte ›Träumen‹; einschließlich unseres Vermögens des ›Tagtraumes‹. Oder denken wir an ›halt- und ort-loses Wünschen‹; das Entwerfen von Utopien als Gestaltungen (und auch die Erfahrung es zu vermögen) ›ungebunde­ ner Sehnsucht‹; (»Es redet trunken die Ferne/Wie von künftigem, großem Glück«.); oder, ›Ekstase‹, ›Trance‹ und ›Rausch‹; dieses, wie man sagt, außer-sich-sein, und auch sein-wollen. Und selbstver­ ständlich und nicht zu vergessen, all die mehr oder weniger wirren, überschießenden ›Spekulationen‹ (wer denkt da nicht an dieses oder jenes philosophische Werke?). Und nicht zuletzt, auch hier von beson­ derer Bedeutung, die möglichen Ordnungen des Wahnsinnig-‚ und Irrsinnig-seins. Auch das sind existentielle Leistungen.432 – Existenz-phänomenologisch reflektieren wir unser So-in-derWelt-Sein gerade in und mit dieser wissenschaftlich unverstandenen, unfassbaren Weite, dieser irrationalen Fülle unserer Leistungen. Das schließt nun Hinschauen ein, auf diese Differenzen zu neuzeitlichrationalen Ordnungen. Phänomenologisch werden sie ausdrücklich konstruktiv gelesen als Leistungen, als Kompetenzen neuzeitlichen 432

Dazu Gleixner (2018)

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Denkens. Reflexionen, die wir reflektierend uns wirklich und wesent­ lich existentiell zuordnen. Wird unser wirkliches Da-und-So-Sein phänomenologisch so weit gefasst, drängt sich, wieder nicht nur philosophisch die Frage auf: wie wirklich, verlässlich, wie vernünftig, handhabbar-sinnvoll ist denn dann noch unsere Wirklichkeit. Also all unsere, schon im Alltag als selbstverständlich-wirklich gehandelten und gelebten lebensweltlichen Wirklichkeiten. Und nicht zuletzt gehöre hierher, unser uns für alle Lagen selbstverständliches je eigenes Da-und-So-in-der-Welt-Sein.433 – Wissen wir, unser So-inder-Welt-Sein und Welt-haben existenz-phänomenologisch so ‚aus­ ufernd‘ weit gefasst, überhaupt noch was als unsere wahre, wirkliche Wirklichkeit angesprochen werden könne? Und dann, wieweit, und ob überhaupt unsere Vorstellungen von Welt, Welt-Habe, Selbst und Selbst-Sein, noch wirklich-wirklich für uns wären; das soll sein ver­ nünftig, rational sicher, praktisch verlässlich, und auch (in Zukunft) wissenschaftlich-technisch begreifbar? Es gehe, sagt man, um nichts weniger als um unsere praktische Sicherheit, um die Berechenbarkeit unserer Lebenswelt; letztendlich um das neuzeitlich legitimierte, als aufgeklärt bestimmte Selbstverständnis unseres Da-und-So-Seins. In welchem Zusammenhang also stehen wir überhaupt biologisch, historisch, soziologisch? – Das sind in allem Ernst drängende Fragen; und das wiederum schon diesseits ontologischer und erkenntnistheo­ retischer Streitereien. Also ob all-das von uns wahr-genommene, auch in Zukunft praktisch tauglich; handhabbar, mit sich kongruent wäre, und theoretisch stimmig aufeinander verweise? Sich schließlich soziologisch, psychologisch, biologisch, oder vielleicht mit Blick auf die Geschichte der Evolution begründen lasse? (Andere Begründun­ gen gelten von vorne herein als ausgeschlossen.) Im Sinne von so-war-es; so-ist-es; so-wird-es-sein! Dazu gehöre wie, auf welchen Wegen, durch welche wissenschaftlichen Leistungen, sie uns jetzt theoretisch als zu unserer wirklichen Wirklichkeit gehörig zugäng­ Denken wir beispielsweise an Vorstellungen systemisch-konstruktivistischer Therapeuten; sie glauben ihre ›theoretische Anthropologie‹ praktisch durch ›thera­ peutische Erfahrungen‹ bestätigt und gesichert. Paul Watzlawick schreibt: es ließe sich zeigen, »dass das wacklige Gerüst unserer Alltagssauffassungen der Wirklichkeit im eigentlichen Sinne wahnhaft ist, und dass wir fortwährend mit seinem Flicken und Abstützen beschäftigt sind – selbst auf die erhebliche Gefahr hin, Tatsachen verdrehen zu müssen, damit sie unserer Wirklichkeitsauffassung nicht widersprechen, statt umgekehrt unsere Weltschau den unleugbaren Gegebenheiten anzupassen.« (Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn – Täuschung – Verstehen. München. Zürich. 198412. S 7) 433

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lich gemacht werden können? Vor allem aber auch, was das alles praktisch von uns hier und jetzt ›zu tun‹ fordere? Etwa noch mehr Ordnungen durch Vernunft; mehr Einsatz von Wissenschaft und noch entschiedeneres rational-wissenschaftliches Philosophieren; mehr also ›von dem (seit Jahrhunderten) grundsätzlich Gleichen‹. – Und dann folgen daraus noch diese praktisch-relevanten Fragen, die jetzt, ausgerichtet auf unsere (uns mehr denn je verunsichernde) Zukunft aufbrechen. Wie und wodurch durch wen soll wirkliche Welt gestal­ tet werden (Politiker? Technokraten? Wissenschaftler? Philosophen? Seinshirten? Funktionäre der Menschheit?) Wie stehen also diese Wirklichkeiten nun wirklich, wesentlich zu uns? Dicht gefasst durch die wohl jedermann bekannte Frage, wohin die Reise gehe? Dass unser existentielles Fragen kein Ausweichen vor dem sei, was jetzt Not täte, wird uns weiter begleiten. – Darüber ist wahrhaftig kein Streit mehr möglich. Wir durch all das noch verwirrtere Menschen, können schon diese Fragen nicht mehr unbesehen (von Antworten sprechen wie noch gar nicht) bei­ seitelegen. – Phänomenologisch Philosophierende beunruhigt dies philosophisch sogar grundsätzlicher. Auf eine Weise, wir haben davon gesprochen, die Verwunderung, sogar Widerspruch hervor­ rufen könnte. – Ob, auf diesem Wege, das beunruhigt auch uns, Naturalismus, Psychologismus, Soziologismus, Historismus nicht doch noch die existentielle Selbst-Sicherheit philosophischer Refle­ xionen ›relativieren? Sollte Relativismus, Skeptizismus, vielleicht sogar praktischer Nihilismus, tatsächlich philosophisch das letzte Wort eingeräumt werden müssen? – Wahrhaftig eine für unser So-in-der-Welt-Sein entscheidende Frage. Dies könne ja tatsächlich nicht mehr von vorneherein ausgeschlossen werden. (Für uns gilt eben nicht, dass, was philosophisch nicht sein dürfe, auch nicht sein könne.) Wie auch immer es sich für uns weiter entfalten wird. Wir vergessen dabei nicht die existenz-phänomenologische Perspektive. Den Stab und Stecken unseres Philosophierens. Man mag es näm­ lich drehen und wenden wie auch immer, es bleiben im Grunde unsere sich uns selbst aufdrängenden existentiellen Grund-Fragen. Wortwörtlich ›unsere auch praktischen Probleme‹, denen wir uns, nach der ›Entmystifizierung der ›großen Erzählungen unserer Welt‹, (auch innerhalb der Theologie), noch eindringlicher selbst zu stellen

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haben.434 Gerade weil es existentielle und nicht bloße transzendentale (erkenntnis-, wissenschaftstheoretische) Fragen sind (was ja schon nicht wenig wäre). Fragen, die uns wirklich auf uns selbst verweisen. Und so sind es selbstverständlich wortwörtlich unsere philosophi­ schen Grund-Fragen. Existentielle Herausforderungen, die uns (welch eine Ironie) nun ausgerechnet zu uns selbst zurückverweisen. Also weder auf ›das Sein‹; noch ›die transzendentale Vernunft; oder die Leistungen aufgeklärter Wissenschaften. Ausgerechnet auf uns exis­ tentiell Irritierten und Perturbierten. Wir, die aber auch diese unsere fragile Lage - etwa mit Blick auf Welt und Selbst; auf Welt-Habe und Selbst-Sein; auf Vernunft; Sein und Gott - einsehen, und in und mit dieser Spannung leben und so zu reflektieren vermögen.435 (›Wir sind nicht einig. Sind nicht wie die Zug-/vögel verständigt/; aber: ›Blühn und verdorrn ist uns zugleich bewusst‹.)436 – Was denn hier mit den sich für den Menschen, das Menschsein ausdrücklich interessierenden anthropologischen Wissenschaften wäre? Also mit den Reflexionen der Institutionen? Wahrlich eine naheliegende Frage. Was denn sonst könne verlässlicher Auskunft über uns bieten? Über unser Werden und Sein. Einsichten geleistet beispielsweise durch Kunst, Religion, Philosophie? Als Einstimmung eine Skizze knapp gezeichneter wissenschaft­ licher Selbstverständlichkeiten. – Für die Wissenschaften sind wir im Blick als ›Objekte der Forschung‹. Sicher, ihre Fragen an, und ihre Antworten für uns, sind theoretisch komplex und gerade deswegen auch praktisch bedeutend. Nicht zuletzt, denken wir an die Medizin, die Psychiatrie, sogar für unser Überleben relevant. Wer möchte das bestreiten. Aber entsprechend ihrer ›Logik‹, sind wir bloß als ›der Mensch im Allgemeinen‹ (der menschliche Körper; die Ordnung ›Wer wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel/Ordnungen? Und gesetzt selbst, es nähme/einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem/stärkeren Dasein. ….Ach, wen vermögen/wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht,/und die findigen Tiere merken es schon,/dass wir nicht sehr verlässlich zu Hause sind/in der gedeuteten Welt.‹ (Duineser Elegien. Erste Elegie) 435 Dazu auch der Versuch unser ›spannendes Dasein‹ zu fassen, auf einen ›trans­ zendentalen Begriff zu bringen bei Paul Natorp: »Und wir? Wir sind nicht etwa die Streitenden, auch nicht die Objekte des Streits, sondern wir sind der Streit selbst. ›wir‹, überhaupt die ganze Welt (diese, unsere Welt), sind nicht nur der Kampfplatz oder Kämpfende und Kampfpreis (Beute), sondern wir sind der Kampf. Denn wir sind nicht Eins (wie das Ewige), noch bloß entzweit (wie das Unewige), sondern sind eins und mit uns selbst entzweit zugleich: (…)« (2000). S 405 436 Duineser Elegie. Die vierte Elegie. 434

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menschlicher Zellen; die medizinische Biologie des Menschen; usw.) ein Gegenstand für wissenschaftliche Neugierde. Vorlage und Heraus­ forderung für ›objektives allgemeines Begreifen‹. Darüber hinaus beanspruchen sie von sich her keine weitere philosophische Bedeu­ tung herstellen zu können. Für die neuzeitlichen Wissenschaften wäre diese Forderung sogar eine Zumutung, die sie weit von sich weisen. Das ist ganz in der Ordnung der Wissenschaften. Daran gibt es nichts auszusetzen. Das hat so zu sein. Eine gewollte, methodisch geordnete ›Blindheit‹ wissenschaftlich eingerichteter ›Anthropologie‹ gegenüber unseren (deinen und meinen) irritierenden, wirklichen und wesentlichen In-der-Welt-Sein; unserem bleibenden Fragen nach einer (vielleicht auch) existentiellen Bedeutung unserer praktischen Daseinsnot. Das sind selbst Fragen, die, das sei hier hinzugefügt, die Wissenschaften (von ihnen unbemerkt) als Gestalt und Gestaltung des Menschen selbst (als Wissenschaftstreibenden) betreffen. Gerade diese methodisch erzwungene Selbstbegrenzung der Wissenschaften rechtfertige nun auch Philosophie und Philosophie­ ren als reflexive Reflexion der Reflexionen unseres Da-und-So-Seins. Die von uns zurecht hoch geschätzten theoretischen und praktischen Leistungen wissenschaftlicher Erkenntnisse verweisen den wissen­ schaftstreibenden Mensch, dort wo er sie zu vollbringen sucht, zurück auf seine existentielle Perspektive. Das ist die Möglichkeit philosophi­ scher Reflexionen. Man denke etwa an den von neuzeitlichem Denken selbst vertretenen Anspruch, wissenschaftliche Aufklärung wirklich zu gestalten, mit Blick auf den vernünftigen Menschen einsichtig legi­ timieren zu können. Damit wären wissenschaftliche Vorstellungen grundlegend bestimmt als Bedingung für humane Intellektualität und für praktische Entfaltung einer wahren menschlichen Gesellschaft. Was wäre dann, dies vorausgesetzt, wissenschaftliche Erkenntnis anderes als humane (praktische) Vorstellungen, die das Menschsein positiv einrichten wolle; als eine allgemein geführte fortschrittliche Gestaltung der humanen Bildung für den Menschen. Damit stellten ‚die Wissenschaften‘ immer auch (bis auf den heutigen Tag) die Avant­ garde für vernünftigen Fortschritt. – Diese Wissenschaftsidee wirk­ lich geradeso zu Ende gedacht, werden wir also auf das Philosophieren selbst verwiesen. Sogar radikal gewendet auf reflexive Reflexion ihrer Reflexionen. Der wissenschaftstreibende Mensch habe über seine wissenschaftliche Leistungen hinaus, radikal, wirklich, fundiert, sich seines ›letztmöglichen Sinnes‹ (das Warum wissenschaftlicher Leis­ tung) zu vergewissern suchen? Immer wieder und immer wieder von

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Anfang an.437 Kein Weg, auch nicht der durch Wissenschaften einge­ richtete, vermessene, gesicherte führe daran vorbei! Es bleibt eine ›existentielle Beunruhigung‹, die sich mit wissenschaftlich-vernünf­ tiger Einsichten nicht klären lasse. Gerade mit dem 20. Jahrhundert werden erkenntnis- und wissenschafts-theoretische und, in einem weiten Wortverständnis auch ontologische Fragen existentiell aufge­ laden und anthropologisch, etwa, lebensweltlich-praktisch, ethisch und ästhetisch zu binden versucht. Mehr oder weniger überzeugend. Man denke hier an die Lebensphilosophie. Oder an das Philosophie­ ren Max Schelers;438 oder die Existenzphilosophie Karl Jaspers. Und das ist, schauen wir auf die unruhigen Zeit-Lagen dieser Jahrzehnte sicher nicht zufällig so. Nun aber zu sagen, sie wären hier und jetzt für unser wirkliches So-in-der-Welt-Sein (am Anfang des 21. Jahr­ hunderts) aufgehoben, hätten nicht mehr die dort gehabte Relevanz, geht fehl. – Sicher waren diese lebensphilosophischen Perspektiven noch ganz in einer neuzeitlichen Ordnung. Es verwundert nicht, dass dieses philosophische Denken gerade in einem Zeit-Raum geschieht, der von den Wissenschaften, der wissenschaftlich-instrumentellen Vernunft deutlich, geradezu ›handgreiflich‹ dominiert worden war. Dass die Wissenschaften selbst wieder Instrument für wirtschaftliche und politische Interessen waren (und sind), darf dabei nicht vergessen werden. Diese wissenschaftliche Ordnung ist tatsächlich als (histo­ rischer und systematischer) ›Begriff‹ ein Erbe des 19. Jahrhunderts, sie wird nun von uns phänomenologisch in unsere allgemein umlaufen­ Vgl. dazu Ernst Robert Curtius. Er schreibt mit Blick auf Max Webers ›Wissenschaft als Beruf‹: »Jedenfalls ist es Aufgabe einer eignen, und für jede Erkenntnisart, für jede Wissenschaftsgruppe neu anzustellenden methodologischen Überlegung, auszuma­ chen, ob – und, wenn ja, in welcher Weise – sie eine Beteiligung oder disponierende Vorbereitung der Gesamtpersönlichkeit fordert. Es könnte sein, dass z. B. das ›Erle­ ben‹ eine solche erkenntnisbedingende Funktion der Persönlichkeit wäre. Zum min­ desten ist dies für alle ›historischen Kulturwissenschaften‹ wahrscheinlich. Der Ertrag religionsgeschichtlicher oder überhaupt geistessgeschichtlicher Forschung wird not­ wendig davon abhängen, in welchem Umfang und mit wie starker seelischer Beteili­ gung der betreffende Gelehrte die Wertqualitäten seines Arbeitsgebietes erlebt hat. (…) Für manche Gelehrte möchte man eine ›Erlebnispflicht‹ einführen.« (Max Weber über Wissenschaft und Beruf. In: Die Arbeitsgemeinschaft. 1. Jg. Leipzig 1920. S 202. Zit. nach: Dirk Hoeges. Kontroverse am Abgrund: Ernst Robert Curtius und Karl Mannheim. Intellektuelle und freischwebende Intelligenz in der Weimarer Republik. Frankfurt/M 1994. S 25 f.) 438 Eine interessante, durchaus auch ›phänomenologisch‹ zu nennende Kritik an Schelers ›Anthropologie‹ bei (den leider wenig beachteten) Kurt Goldstein. Der Auf­ bau des Organismus. (1934). Paderborn 2014. S 359 ff.) 437

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den ›Erzählungen‹ eingeflochten. Nicht aber bloß als eine Erweiterung des Umfangs der uns historisch übergebenen ›neuzeitlichen Erzäh­ lungen‹ von fortschrittlichen Welt-Haben und vernünftigem SelbstSein; von unserem Leben und unserer Lebenswelt. Neuzeit ordnet sich jetzt wirklich als unsere Moderne. Das ist die selbstverständliche Gestalt und Gestaltung unserer Lebenswelt; unseres So-in-der-WeltSeins, unsers hier und jetzt noch Leben-könnens. Und damit auch der Horizont für unsere philosophisch endlichen Reflexionen. Das ist als irritiertes So-Da-Sein in der uns hier bewegenden existentiellen Ent­ faltung des Philosophierens als reflexive Reflexion der Reflexionen unseres In-der-Welt-seins. Georg Misch schreibt zurecht, man könne Philosophie nicht haben, ohne vom Leben zu wissen, und nach dem Leben könne nicht gefragt werden, ohne schon in der Philosophie zu sein. (19312. S 281) - Worin aber, dies vorausgesetzt, so könne man nachfragen, bestünden denn dann die weiteren noch möglichen Schritte existenz-phänomenologischer Reflexion? Existentielle Refle­ xionen, die, das eigene, eigenartige Selbstverständnis ernst genom­ men, weder auf die Idee neuzeitlicher Natur-Wissenschaften bauen (zumindest die damit gesetzten Geltungsansprüche halten wir in Klammer), noch in allem Ernst philosophisch selbst ›rücksichtslos‹ auf einen unbedingten, absoluten Grund und spekulativen Anfang zurückgreifen können. 439 Und sich vielleicht sogar noch aus unserer nach wie vor wissenschaftlich aufgeklärten Moderne herauszuneh­ men versuchten. Etwa durch einem Rückgriff auf irrationale mytholo­ gische Vorstellungen. Bliebe also überhaupt noch ein Weg, der sich wissenschaftlich oder philosophisch-vernünftig rechtfertigen ließe? Jede andere Alternative dürfe aus dieser Perspektive ernsthaft nicht einmal auch nur erwogen werden. - ›Die Messe scheint gelesen‹! Schauen wir noch genauer hin und unserem Philosophieren zu. – Einem philosophischen Selbstverständnis sei hier aber noch nicht voll genüge getan; seine Leistungs-Möglichkeiten für unser Weltund Selbst-Verständnis lägen doch für phänomenologisch Philoso­ phierende offen zutage. Man schaue noch einmal gründlicher auf die, sogar nicht nur philosophisch relevante Tradition ›transzendentaler Dicht zusammengefasst von Hans Wagner: »Gehört das Noematische in das transzendentale Feld, dann lässt sich mit Fug auch das Noetische, von welchem jenes geleistet, konstituiert wird, davon nicht ausschließen. Das leistende Aktleben ist rei­ nes, transzendentales Leben. Es ist also nicht ein empirischer Prozessbereich.« (Mün­ chen/Basel 19672) S 50 f. 439

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Geltungstheorien‹. Weshalb sich nun nicht auch existenz-phänome­ nologisch, in und mit dieser unserer gegenwärtigen offensichtlich ver­ trackten Ausgangslage, auf die trotz aller Bedenken von dort und da her, im Grunde bewährten erkenntnis-, wissenschaftstheoretischen und ontologischen Neufassungen neuzeitlichen Philosophierens ein­ lassen? Als systematische Vorstellungen, die sich, was immer im Ein­ zelnen kritisch anzumerken wäre, zumindest doch als in sich stimmige Arbeitsgrundlage (die sich nicht nur für akademische Philosophie) bewährt zu haben scheinen. - Schon mit dem Neukantianismus wird eine beachtliche Neuaufstellung transzendental-philosophischer Reflexionen eingeführt. (Man studiere nur die Arbeiten von Paul Natorp; oder von Ernst Cassirer) Ich denke hier im Besonderen an Hans Wagners Arbeit ›Philosophie und Reflexion‹. Die Enttäuschung der Geltungstheoretiker über das Hinweggehen philosophischen Zeitgeistes über ihre Reflexionen ist verständlich.440 Warum also nicht, gleich so mancher Philosophengenerationen vor uns, wieder auf das (nicht zuletzt) durch Descartes und Kant einsichtig einge­ führte und entfaltete unbedingte Fundament ›der reinen Vernunft‹ aufbauen. Dies stelle doch nach wie vor zurecht (weil zweifelsfrei) Form und Gestaltung und Grenze jedes grundlagenphilosophischen Philosophierens. Ein Philosophieren, das, zumindest unser kontinen­ taleuropäischen philosophischen Reflexionen bis in die Gegenwart hinein beschäftigt und ausgerichtet hat. Und das sicher nicht zum Schaden unserer Philosophie. – Schauen wir noch genauer hin und diesem neuzeitlichen Philo­ sophieren wiederum selbst zu. Dieses (etwa) von Descartes geleis­ tete Fundament, dem auch Husserl entscheidende philosophische Bedeutung zugesteht, (Phänomenologie eingeführt als Neucartesia­ nismus),441 reicht für unsere wirkliche Wirklichkeit nicht mehr hin. Dies werde gerade dann deutlich, wenn wir sein Philosophieren – dessen kaum zu überschätzende Bedeutung unbestritten bleibt – entschieden ernst nehmen. Das ist, wir ›seinen Weg‹ konsequent selbst mit-gehen und für die wirkliche Wirklichkeit unseres irritierten Und so schreibt Hans Wagner, mit Blick auf die Resonanz, die seine fundamentale geltungstheoretische Arbeit ›Philosophie und Reflexion‹ hervorgerufen habe, im Vorwort zur zweiten Auflage, etwas resigniert. Zwar werde sie in bestimmten Kreisen der Philosophie durchaus beachtet, aber, den »philosophischen Alltag aufzuschrecken, dies freilich scheint ihm bisher nur recht sporadisch gelungen zu sein; aber das kann auch an der Eigenart des Alltags hängen.« (München/Basel 1967) 441 Hua. I. S 3 440

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So-in-der-Welt-Seins ›zu vollbringen‹ suchen. Dass das, eigenartig genug, dabei auch noch die doch so erfolgreichen Naturwissenschaf­ ten tangiert, darf uns nicht mehr unberührt lassen. Sich beispielsweise große Physiker aufgefordert finden, (wortwörtlich) ›neue Wege‹ zu gehen; Synthesen zu suchen, die man doch seit dem 17. Jahrhundert endgültig überwunden glaubte.442 Davon gehen wir weiter aus, weil wir es selbst schauen. Dass das uns wirklich tragende Fundament, das uns auch in irritierender Spannung hält, unserem Da-und-So-Sein trotzdem als sinnstiftend gemeinsam zu sein scheint, unserem Philosophieren Begriff und Ausrichtung gibt, kein bloß abstrakt erkenntnis-theoretisches Prinzip sein könne. Etwa eine abstrakte erkenntnis-theoretische Konstruk­ tion; geschöpft beispielsweise aus der Idee ›reiner‹ Vernunft. – Wir sind immer wieder philosophierend auf uns selbst als So-Da-Sein zurückgekommen. Aus gutem Grunde. Das sind keine willkürlich gesetzten Annahmen; keine beliebig gesetzten Gestaltungen. Der radikal Philosophierende, er mag sich winden von dort nach da und von da wieder zurück nach dort, wird letztlich doch zurückgeführt auf ›unsere primordiale Ordnung‹; auf unsere wirkliche Lebenswelt; unser wesentlich wirkliches So-in-der-Welt-Seins. – Dass das alles andere als einfacher, unmittelbarer Vollzug ganz alltäglicher Reflexion sei, bleibt dem radikal Philosophierenden nicht lange verborgen. (Der Positivismus phänomenologischen Philosophierens habe tatsächlich eine eigene Form.) Philosophieren bleibt als herausfordernde, konsti­ tutive Bewegung der reflexiven Reflexion, eine Vorstellung, die sich auf existentielle Spannung unseres Daseins und Soseins einzulassen und (nicht nachlassend) darauf einzustellen habe. Hans Wagner fasst es kurz und knapp: »Alle Philosophie ist Reflexion«.443 Aller­ dings ›Reflexion‹ als ausdrücklich selbst-selbst-verständliche, sich immer weiter forderndes Leisten. – Wir merken also existenz-phä­ 442 So schließt Wolfgang Pauli (sicher einer der bedeutendsten Physiker des 20. Jahrhundert) sein Referat: ›Die Wissenschaft und das abendländische Denken‹ so: »Entgegen der strengen Einteilung der Aktivitäten des menschlichen Geistes in getrennte Departemente seit dem 17. Jahrhundert, halte ich aber die Zielvorstellung einer Überwindung der Gegensätze, zu der auch eine sowohl das rationale Verstehen wie das mystische Einheitserlebnis umfassende Synthese gehört, für den ausgespro­ chenen oder unausgesprochen Mythos unserer eigenen, heutigen Zeit.« (In: Karls von Meyenn (Hrsg.) Quantenmechanik und Weimarer Republik. Braunschweig. Wiesbaden 1994. S 343) 443 Vorwort ›Philosophie und Reflexion‹.

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nomenologisch aus guten Gründen auf, auf die uns gemeinsame wirkliche Lebenswelt; auf unser wesentlich wirkliches Da-und-So-inder-Welt-Sein. Die Lebenswelt ist, wie Husserl selbst sie beschreibt, für uns die natürliche Welt, »in der Einstellung des natürlichen Dahinlebens sind wir lebendig fungierende Subjekte in eins mit dem offenen Kreis anderer fungierender Subjekte. Alles Objektive der Lebenswelt ist subjektive Gegebenheit, unsere Habe, meine, Anderer und in eins allgemeinsame aller.«444 Dabei ist das Trennende unse­ rer Perspektive zu seiner transzendentalen Phänomenologie ganz offensichtlich. Die Suche nach den ›Bedingungen der Möglichkeit‹ der Geltung der Erkenntnis, auch des Sinn für uns, (den wir mit tran­ szendentalem Denken ja teilen), entfaltet sich für uns mit Blick auf unsere wirkliche Welt, und unser wirkliches Selbst-Sein. Radikales Philosophieren (die Absicht teilen wir mit transzendentalem Denken) verweist uns irritierten Suchende auf uns selbst. Ausdrücklich auf uns selbst als wesentlich wirkliches Da-und-So-Seins. Wir selbst also sind Anlass, Grund und Möglichkeit dieser philosophischen Reflexion der Reflexionen. Auch dieser Gedanke denkt sich nicht als eine willkürliche Konstruktion; und brauche keiner ›tiefen‹ phi­ losophisch-spekulativen Entfaltung. Es genüge weiterhin systema­ tisch selbst selbst-zu-schauen. – ›Lebenswelt‹ wird eingeführt und entfaltet als die für uns wesentliche Gestalt und unsere wirkliche Gestaltung; als Korrelat der Reflexion der Reflexionen unseres Soin-der-Welt-Seins. Führt sich selbst vor als Zusammenfassung unse­ res phänomenologisch geschauten, selbstverständlichen Horizontes unserer umfassenden Erfahrungen. In dem philosophischen Blick eigens als (erkenntnistheoretisches und ontologisches) Prinzip gehal­ ten als wirkliche Wirklichkeit unserer existenz-phänomenologischen Reflexion der Reflexionen. ›Lebenswelt‹ wird phänomenologisch gelesen als der für uns wirklich-wirkliche Zeit-Raum, den wir selbst als wesentlich wirkliches So-in-der-Welt-Sein wortwörtlich erfahren und reflektieren. Unser Zeit-Raum ›von der Wiege bis zur Bahre‹. Kein wirklich darüber-hinaus-kommen ist hier philosophisch oder wissenschaftlich mehr möglich. Es ist ein ‚Horizont‘ (ein Werden), der unsere Welt-Habe und unser Selbst-Sein, und die Reflexionen unserer Welt-Habe und unseres Selbst-Sein umfassend ›reflektiert‹; so wie wir uns selbst wiederum (von dort her) phänomenologisch als 444

Ideen II/Beilagen. S 375

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›Reflexion‹ reflektieren.445 ›Lebenswelt‹ meint hier also nicht bloß eine Zusammenstellung dieser oder jener ›Objekte‹, ›Welt-Stücke‹, ›Gegenstände‹, ›Dinge‹, ›Orte‹ und ›Lagen‹ (›Zuhandenes‹); son­ dern auch unsere ›Ordnungs-Vorstellungen‹, Institutionen‘, ›Werte‹, ›Wert-Vorstellungen‹, geltende ›Muster‹ (etwa: soziale, ästhetische; u. ä.); oder ›Sprache‹, ›Sprachformen‹; ›Redewendungen‹; und selbst­ verständlich auch Gestalt und Gestaltungen unserer uns überhaupt möglichen Reflexionen. Existenz-phänomenologisch leitend ist ein wirklich wirklicher, uns weit – aber immer als Reflexion – umfas­ sender existentieller Lebensweltbegriff. Der selbstverständliche Hori­ zont unserer existentiellen Reflexion der Reflexionen; der auch die Reflexionen der Wissenschaften, Technik, Künste, Religionen einholt, vorstellt, und letztmöglich zu reflektieren erlaubt.446 Zusammengefasst. Lebenswelt wird existenz-phänomenolo­ gisch als unsere wirkliche Wirklichkeit eingeführt. Ausdrücklich diesseits jeder idealistischen und jenseits naturalistischer, ›positivisti­ scher Vorstellungen. Unsere Lebenswelt ist die ›Ortschaft‹ in und mit der wir uns wortwörtlich (etwa, biographisch; geschichtlich; sozial) bewegen; nicht zuletzt auch in und mit unserem Denken, mit unseren Gedanken; und unserem Philosophieren, mit dem wir uns reflektie­ ren. Unsere ›Lebenswelt‹ ist wesentliche Gestalt und zugleich unsere wirkliche Gestaltung; Sein und Werden für wesentlich wirklichen Menschen; der Horizont für Da-und-So-Sein. So bleibt selbstver­ ständlich (um nur ihn zu nennen) auch Descartes ›transzendentale‹, ›spekulativ streng abgesicherte‹, Vorstellung der Wahrheit, seine Ver­ suche einer unbedingten Fundierung neuzeitlicher Wissenschaft und Philosophie, an die wirkliche Wirklichkeit unseres So-in-der-WeltSeins gebunden. Unser So-Da-Sein, das nun auch durch Irrationales getragen werde; und umgekehrt es zugleich auch selbst umfasse. Wie aber verhält es sich mit unserer phänomenologischen Reflexion dieser (auch der philosophischen) Reflexionen der Lebenswelt‘ selbst? Mit unserm radikal angelegten Leisten, das wir existenz-phänomenolo­ 445 Beispielhaft geleistet: Alfred Schütz/Thomas Luckmann. Strukturen der Lebens­ welt. (Hier) Konstanz 2003 446 Bernhard Waldenfels beschreibt ›Lebenswelt‹ so: Dies sei »ein durchaus moderner Begriff. Die Welt als umfassendes Ganzes wird hier bezogen auf die besondere Gestalt des Lebens, die in der Lebensphilosophie auf beunruhigende Weise hin- und herschwankt zwischen dem Leben von Lebewesen und einem Leben des Geistes.« (In: Christoph Jamme. Otto Pöggeler (Hrsg.) Phänomenologie im Widerstreit. Zum 50. Todestag Edmund Husserls. Frankfurt/M 1989. S 106)

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gisch philosophierend wirklich vollziehen? Es wird doch behauptet als konstitutive Potenz die ›bedingt-unbedingte‹ Wahrheit in den Blick zu rücken vermöge? Und sich auf letztmögliche Ordnung philosophi­ schen Anfangens hin einzurichten beanspruche. Wäre das denn kein darüber-hinausgreifen? Jede Reflexion, auch als reflexive Reflexion der Reflexionen, setzt bereits Möglichkeit und Wirklichkeit von Reflexionen unseres In-der-Welt-Seins voraus. Nicht aber als starre Form einer Weltgestaltung (eines kausalen Musters), einer unbeding­ ten Einpassung in jeweilige Welt, (gleich dem engen zweckgebunde­ nen Welthaben der Tiere), sondern positiv erfahren, als Möglichkeit, als Voraussetzung ›reflektieren‹ zu können, sollen und müssen.447 Die Gestaltungen unserer Wahrnehmungen, der Umfang der Begriffe, die wir uns überhaupt vorstellen können, also unser Welt- und Selbstverständnis, dazu gehören auch die Möglichkeiten ihrer Kritik, selbst noch die Eigenarten des (wie auch immer) ›Transzendierens‹, sind und bleiben mögliche Reflexionen unserer Lebenswelt, unseres wesentlich wirklichen Da-und-So-in-der-Welt-Seins.448 Schauen wir immer weiter hin und unserem existentiellen Phi­ losophieren zu. – Ein Bedenken drängt sich hier nicht zum ersten Mal auf. Es verschärft sich nun. Ob das nicht (aller Geltungsbehaup­ tungen zum Trotz) Psychologismus, Soziologismus, Historizismus, also Relativismus, Skeptizismus und auch praktisch problematischen Nihilismus Tür und Tor öffne? Ein, so wird man sagen, verhängnisvol­ ler Versuch, Wahrheit und Geltung, an mehr oder weniger zufällige historische, soziologische und psychologische, an eben existentielle Voraussetzungen zu binden? Einem faktischen, zufälligen Seiendem das letzte Wort ›überantworten‹. Das mag zwar bedeuten sie in eine empirische Wirklichkeit zurückzuführen, sie gleichsam ›sinnlich‹ zu binden; allerdings um den Preis, sie ihrer, ein für alle Mal invarianten, verlässlichen unbedingt-wahren Sicherheit zu berauben. Mit verhee­ Diese Eigenart, so Georg Simmel, mache den Menschen zum historischen Wesen. »Das Tier wiederholt schlechthin, was seine Gattung von je und je getan hat; (…). Der Mensch, gerade weil er nicht nur widerholt, sondern Neues schafft, kann nicht jedesmal von neuem anfangen, sondern braucht ein gegebenes Material, gegebene Antezedenzien, an denen oder auf Grund derer sich seine Leistung als Neuformung vollzieht.« (Rembrandt. Ein Kunstphilosophischer Versuch. Leipzig 1916. S 196) 448 Max Scheler sieht Descartes Grundfehler darin, dass er »das Triebsystem in Mensch und Tier (…) völlig ((übersieht)), das eben die Einheit ausmacht und die Vermittlung bildet zwischen jeder echten Lebensbewegung und den Inhalten des Bewusstsein.« (201018. S 55) 447

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10. Lebenswelt als Gestalt und Gestaltung existenz-phänomenologischer Reflexion

renden praktischen Konsequenzen. – Das sind damit keineswegs bloße wissenschafts- und erkenntnistheoretische Fragen. (Was allein schon bedeutungsvoll genug wäre.) Sondern praktisch-existentiell gelesen: sind es destruktive Vorstellungen. Man könne sogar (denken wir an die Sorgen Husserls) von einer ›Antiphilosophie‹ sprechen. Dieser theoretische und praktische Relativismus gefährde Husserls philosophisches Lebens-Projekt. Seine phänomenologischen Refle­ xionen gelten der Sicherung von ›Wahrheit‹ und ›Sinn‹. Und das sei, kaum zu bezweifeln, nach wie vor auch für unsere Gegenwart von Bedeutung. Als Vorstellung von (auch) existentieller Gewissheit; Sicherung von Wahrheit, Geltung, und Sinn für uns. Tangiert also, unabhängig von diesen oder jenen erkenntnis- und wissenschafts­ theoretischen Fragen unser In-der-Welt-Sein ganz praktisch. Vorge­ stellt werde dies als unbedingte, geltungsgewisse transzendentale Reflexionen. Der Zusammenhang dieser also nur scheinbar theore­ tischen Fragen mit unserem alltäglichen So-in-der-Welt-Sein (der wahren Ordnung unserer Lebenswelt) dürfe nicht übersehen, nicht als belanglos abgetan werden. Man betrachte doch nur sein je eigenes grundlegend fragiles Selbst-Sein und Welt-Haben. Die praktische Bedeutung transzendental tragender Grundformen für je eigene Exis­ tenz könne gar nicht übersehen, könne nicht geleugnet werden. Schon das schlichteste Fragen, beispielsweise, ›was denn dieses oder jenes ›wirklich‹ sei‘, es ›tatsächlich‹ bedeute, oder, worauf dies oder jenes ›in Wirklichkeit‹ hinauslaufe, frage nach ›unbedingter Wahrheit‹. Und setze also mit seinem Fragen-fragen voraus, dass ›Wahrheit‹ und ›Sinn-Verstehen‹, ganz verlässlich ein für Mensch erreichbaren Wert vorstelle; sogar vorstellbar sein müsse. Sogar ein irgendwie unbedingt-geltender, für uns unverfügbarer Wert, der gerade so als ›objektiv‹, als für uns wesentlich entschieden werden könne449. Darauf komme es an, dass wir ›Gedanken‹ denken können, deren Geltung nicht in unserem Belieben stünden.450 449 Klar vorgestellt bei Hans Wagner. Immer wieder müsse schon das alltägliche Bewusstsein ›wertend Stellungnehme‹. »Weil aber Stellungnehmen immer und not­ wendig sich in der Weise der Alternative, d. h. entweder in positiver oder in negativer Bewertung, in einer Form der Billigung oder der Missbilligung vollzieht, erfasst es das Denken und das Noema, zu welchem Stellung genommen wird, immer und notwendig unter dem Gesichtspunkt der Geltungsdifferenz, die dem Gehalt jedes Denkens und jedem Noema wesentlich zukommt.« (München/Basel 19672. S 75) 450 Vor diesem Hintergrund vgl. (beispielsweise) diese Perspektive Hermann Brochs: durch den Verlust »eines religiösen Zentralwertes« wäre unsere heutige Welt, »in

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10.4. Lebenswelt als Horizont existentieller Reflexion

Führen wir uns diese neuzeitliche Vorstellung, ihre theoretischen und praktischen Konsequenzen, genau vor Augen. Diese Reflexionen machen auf die Bedeutung existentiellen Philosophierens aufmerk­ sam. Die Setzung (der Idee) unbedingter Geltung braucht Reflexionen eines wesentlich wirklichen Da-und-So-Seins. Das gilt unabhängig davon in welche, als uns unverfügbare ‚Transzendenz‘ (wie immer man es nennt) wir Wahrheit, Geltung und Sinn verlegen. Von woher oder woraus also diese, uns als unbedingt scheinenden (behaupteten) Werte bestimmt werden.

einen Zustand des völligen Wertezerfalls getreten (…), ein Zustand, in welchem jeder Einzelwert im Kampfe mit jedem anderen Einzelwert steht und jeder bestrebt ist, die anderen allesamt zu beherrschen. Die apokalyptischen Ereignisse der letzten Jahr­ zehnte sind nichts anderes als die unvermeidliche Folge solchen Zerfalls.« (Mythos und Altersstil. (1947). In: Geist und Zeitgeist. Frankfurt/M 1997. S 108)

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11. Interpersonale Perspektive der ›Transzendenz‹

›Wo gehen wir denn hin? Immer nach Hause.‹ (Novalis)

Gleich wie es sich damit erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch, oder logisch, da oder dort und im Einzelnen verhalte, diese Fragen begleiten in jedem Fall praktisch aus vertraut alltäglicher Perspek­ tive. Es sind philosophische Herausforderungen, die sich nicht auf Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie begrenzen lassen. So dürfen sie auch nicht aus einem Philosophieren (gleich mit was es sich auch immer beschäftige) ausgeklammert werden. Und als uns umfassende Fragen sind es nun philosophische Herausforderungen für unsere existenz-phänomenologischen Reflexionen. Es sind also theoretische und auch praktische Fragen für unser systematisches, existentielles Philosophierens. Umfang und Qualität der sogenannten Geltungsfra­ gen behalten wir dabei selbstverständlich weiter im Blick

11.1. Uns ist es gegeben, auf keiner Stätte zu ruhen. Die lebensweltliche wirkliche Wirklichkeit ist also unabdingbar Kor­ relat des Daseins als wesentlich wirkliches So-in-der-Welt-Sein. Das gelte selbstverständlich auch für den systematisch Philosophie­ renden. Für uns (und das zwingt unser Philosophieren im Besonde­ ren), phänomenologisch vorgestellt als ›Reflexionen‹, die wir immer ›weiter zu treiben‹ vermögen. Ohne wirklich (erkenntnistheoretisch, ontologisch metaphysisch) wesentlich über uns hinaus zu gelangen. Ein eigenartige ›Spirale‹. Eine Bewegung, ein sich-bewegen (wohin?), das selbst wiederum existenz-phänomenologisch zu denken gibt. – Zu uns selbst gehöre diese uns existentiell ordnende Einsicht; die sich zugleich als Begrenzung und Weiterführung aufdränge. Neuzeitlich sogar als einzigartige menschheitliche (nicht mehr nur ‚abendländi­

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11. Interpersonale Perspektive der ›Transzendenz‹

sche‘) Selbst-Erfahrung; Einsicht in unsere uns überhaupt möglichen Erfahrungen von Welt-Habe und Selbst-Sein; in die grundsätzlichen Begrenztheit und (das wird hier leicht vergessen) Weite je eigenen Erkennen und Wissens.451 Geradezu, um diese bekannte Formel so zu gebrauchen, eine Perspektive, die all unser Vorstellen von Welt-Habe und Selbst-Sein begleitet. – Und dazu gehört für uns auch diese Refle­ xion. Ich weiß, dass mein Wahrnehmen, und unser ›gegenwärtiges‹ Wissen, und, ohne Ausnahme auch die Möglichkeiten meines und unseres Wissenserwerb, mein und unser Können, meine und unsere Praxis, selbstverständlich einschließlich das der Wissenschaften, der Kunst und auch der Philosophie selbst umfasst werden, umfasst bleiben, durch ein immer schon lebensweltlich präsentes Potential. Unser wesentlich wirkliches So-in-der-Welt-Sein. Das ist kein starrer Rahmen (kein ›stählernes Gehäuse‹); sondern ein ›Horizont‹. Die Wirklichkeit für uns, die sich, mit unseren je eigenen Möglichkeiten, – eigenartig unwillkürlich – entfaltet. Immer scheine so für unser wirkliches In-der-Welt-Sein zu gelten: ›und noch weiter und darüber hinaus‹! ›und so fort‹! ›wir sind damit noch nicht am Ende‹! ›da geht noch was‹! Das ist eine als selbstverständlich geltende und hingenommene Bewegung, die der neuzeitliche Mensch ›Fortschritt‹ nennt. Und von ‚seiner Zeit‘ auch erwartet und fordert. Das habe zu gelten, sagt man, als Forderung (an uns selbst); und werde auch wie als Regel und Norm (Anrecht und Pflicht) vorausgesetzt geradezu als ›Gesetz des Fortschritts‹. Es könne gar nicht mehr anders sein! Was sollte daran noch Erstaunen hervorrufen? Die ewig Gestrigen, die ›Fortschrittsfeinde‹, die darauf sich nicht einlassen wollen, dürften hier vernachlässigt werden. (›Mögen die Hunde bellen, die Karawane zieht weiter‹.) Mit dieser alltäglichen Perspektive ist unseren Bedenken wohl endgültig der Wind aus den Segeln genommen. Jedes Philosophieren habe sich einzureihen in dieses neuzeitlich-aufgeklärte Welt- und Selbstverständnis. Könne und dürfe so eingestellt ihren erkenntnisund wissenschaftstheoretischen Beitrag auch leisten. – Wenn es doch nur so simpel wäre! Schauen wir weiter hin und unserem Hinschauen 451 Schon auf dieser alltäglichen Ebene: »Jedermann, das heißt jeder normale Erwach­ sene, weiß, dass sein Wissen nicht ›vollständig‹ ist, und er weiß, dass er manches besser, manches aber weniger gut weiß. Dieses Bewusstsein von Nichtwissen und von Wissen verschiedenartiger Qualität ist das Grundkorrelat der sozialen Verteilung des Wissens.« (Alfred Schütz. Thomas Luckmann. Strukturen der Lebenswelt. Konstanz 2003. S 429)

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11.1. Uns ist es gegeben, auf keiner Stätte zu ruhen.

unverdrossen selbst zu. Offensichtlich ist zunächst nur dieses; und darüber sollte es weiter keinen Streit geben. Die sozialen, gesellschaft­ lichen, wirtschaftlichen und politischen Wirklichkeiten mögen im Einzelnen sein wie auch immer. Und zwar zum einen, dass jeweilige Lebenswelt als wirklicher Horizont für ein So-in-der-Welt-Sein, als horizontal und vertikal, diachron und synchron geordnet erlebt wird; und zum zweiten, immer auch an andere mögliche Lebenswelten grenze; und dann noch, sich historisch ›als die Welt‹ für uns Menschen selbstverständlich immer umfassender weitet und reflektiert. Daran zweifeln wir nicht. Schon die Archäologie könnte für diese Dynamik, diese Zusammenhänge, überzeugende Belege beibringen. – Unser Da-und-So-Sein, fassen wir es so zusammen, ist Bewegung; unser ›Sein‹ ein ›Werden‹; unser uns als sicher zugehörige Horizont ist unsere Lebenswelt, wir sind Da als So-in-der-Welt-Sein. Ob man dem nun irgendeinen Sinn unterlege oder nicht; darin für uns Ordnung erkenne oder als bestürzenden Irrsinn wahrnehme; es begrüße oder daran verzweifele, (alles uns bekannte Möglich­ keiten), – das sei zunächst beiseitegelegt. Eines könne in keinem Fall aber geleugnet werden. Uns Menschen ›ist es gegeben,/Auf keiner Stätte zu ruhen,/ Es schwinden, es fallen/Die leidenden Men­ schen/Blindlings von einer/Stunde zur anderen‹.452 – Entfalten wir diese so offensichtlichen (weil selbsterfahrenen) Phänomene noch weiter. Unbestreitbar scheint, dass (uns selbst) Wahrnehmen und (uns selbst) Reflektieren, als Leistungen mit zu unserem wirklichen In-der-Welt-Sein gehören. Zweifellos (und das aus jeder philoso­ phischen Perspektive) ein für uns konstitutives Potential, das sich selbst noch mit dem Grenz- oder weitest möglichen Horizont-Begriff ›Welt‹ überhaupt verwirklicht. Dass aber gerade diese, so könnte man zunächst sagen, leere Vorstellung, (›die Welt‹ als unsere WeltHabe eine Möglichkeit phänomenologischen Schauens, phänomeno­ logischer Reflexion), uns nicht spekulativ verirren lasse, sei eigens hervorgehoben.453 Schauen wir weiter auf unser uns als wirkliches Oder als Popsong etwas knapper so: ›Endlos weit getrieben/von unsichtbarer Hand. (Witt/Hepner. Die Flut) 453 Nicht bloß »einzelne Weltrealitäten sind erfahren, sondern von vorneherein ist die Welt erfahren. Mag auch ein speziell gewahrendes und erfassendes Wahrnehmen bloß diesem Haus hier gelten, so haben wir das Haus doch in einem weiteren Wahrnehmungsfeld, die umgebende Straße, die Gärten sind partiell mit in diesem Feld und noch wirklich gesehen. Aber die Welt hat darin kein Ende: jedes Sehfeld und Blickfeld hat einen offenen Außenhorizont, der von der Erfahrung nicht abzutrennen

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11. Interpersonale Perspektive der ›Transzendenz‹

Da-und-So-Sein reflektieren. Etwa, auf welche Art und Weise wir Menschen der Moderne in und mit unserer Lebenswelt leben, zu leben haben? Also unser uns willkürlich und unwillkürlich als So-inder-Welt-Sein entfalten. Phänomenologisch eingeführt als erfahren eines müssen, aber auch können und (eigenartig genug) als eines sollen. Zuerst und zumeist setzen wir uns nicht erkenntnistheoretisch oder streng wissenschaftlich damit auseinander, sondern leben unser In-der-Welt-Sein praktisch; selbst noch gegen dieses oder jenes zu opponieren, bleibt auf dieser Linie. Schlicht leben meint ausdrücklich aber nicht bloß passiv etwas ›hinnehmen‹. - Was hat es, das alles vorausgesetzt, mit diesem Korrelat ‚Ich-bin und die (unsere) Welt-ist‘ philosophisch auf sich? Ist es tatsächlich Potential unserer ›Freiheit‹; oder ›Material der Pflichten‹; oder Erfahrungen, die das Menschsein in unbedingte Wirklichkeit zwingen? Es festsetzen in ein ›stählernes Gehäuse‹(Max Weber) von Zufall und Notwendigkeit? – Gleich auf welche der Perspektiven wir uns einlassen. Das sind und bleiben in jedem Fall ›Reflexionen‹, die wir tatsächlich selbst zu reflektieren imstande sind. Reflexionen phänomenologisch vorgestellt als kon­ stitutive Akte im Horizont unserer neuzeitlichen (und modernen) Lebenswelt. – Klammern wir diese uns von dort und da angetrage­ nen, vielleicht uns auch theoretisch vertrauten, vielleicht gedanken­ los praktisch gelebten Perspektiven ein. Geltungsansprüche einklam­ mern, heißt nicht, die Erfahrungen der Wissenschaften überhaupt und grundsätzlich ausklammern. Dagegen spekulativ-willkürlich zu argumentieren; oder sie einfach schlichtweg negieren. Das wäre ja selbst ein selbstherrlicher Dogmatismus. - Man denke beispielsweise an die umlaufenden idealistischen, naturalistischen, materialistischen Erklärungen; vorgetragen mit diesen oder jenen psychologischen, soziologischen, historischen, biologischen Argumenten. (Das und so ist der Mensch; das und so ist die Welt in und mit der er lebt; das können wir, dürfen wir als diese Geschöpfe von uns und der Natur (normalerweise) erwarten.) Das fordert von uns eine neue Runde der reflexiven Reflexion der Reflexionen.

ist. (…) wir können aber weitergehen, uns immer von neuem umsehen und so in infinitum. Und selbst, wenn wir nicht aktiv weiteergehen, die Erfahrung weitet sich und nimmt Neues in ihre Einheit auf.« (Hua. IX. S 61)

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11.2. Phänomenologische Spur des Selbst-Selbst-Verstehens

11.2. Phänomenologische Spur des Selbst-SelbstVerstehens Dies vorausgesetzt weiter mit unserem phänomenologisch-syste­ matisch, radikal strengen Aufmerken auf die Reflexionen unseres So-in-der-Welt-Seins. Das schließt ein unser Schauen-Schauen auf wesentliche Gestalt und wirkliche Gestaltungen unseres wesentlich wirklichen Da-und-So-Seins. Dazu gehören selbstverständlich die Reflexionen der Kunst, der Literatur, der Wissenschaften; und dieser oder jener (nicht nur die der religiösen) ›Glaubenssysteme‹; oder auch ›Theorie und Praxis unseres Handelns‹, die ›Ordnungen unseres mit-einander-seins‹; usw. Das also ist existentiell zu reflektieren. Ist die Entfaltung (ein ›weiter-treiben‹) existenz-phänomenologischer Reflexion der Reflexion der Reflexionen. Das heißt weiter auch gedul­ dig systematisch Hinzuschauen auf das Vermögen, Form und Inhalte; Gestalt und Gestaltung, des sich so reflektierenden, reflektieren-kön­ nenden und (eine Herausforderung für sich) reflektieren-sollenden Menschen. Auf uns selbst als wesentlich wirkliches und nun auch wirklich wesentliches So-in-der-Welt-Sein. – Wir werden dabei auf etwas aufmerksam, dass auch philoso­ phisch zumeist unbedacht geblieben ist. Nicht diese oder jene Ant­ wort oder Antwortmöglichkeit, wie immer sie sich als endgültig oder auch nur vorläufig gebärden mag, ist die existentiell eigentlich radikale Gestalt der Philosophie, des Philosophierens. Sondern dass Mensch überhaupt sich durch sich selbst als gefordert, herausgefor­ dert erlebt, sich auf dieses ›existentiell radikale Grund-Fragen‹ – Warum? Woher? Wohin? – einzulassen. Also nach Antworten über­ haupt fragend so zu suchen; so suchen zu müssen; und, auch das ist hier nicht weniger drängend, so fragen zu sollen. Wir ordnen uns dabei zwar in die uns kulturell tradierte Suchbewegung (grie­ chisch-christlich-römisches Abendland) ein; leisten aber die Reflexio­ nen radikal philosophisch doch immer wieder (zumindest als Idee) ›von Anfang‹ an. – Dass Welt-Haben und Selbst-sein, Welt- und Selbst-Verständnis sich Mensch als so-herausfordernd vorstellen, ja, aufdrängen, und wir uns darauf selbstverständlich einlassen, lässt uns neuzeitlich-moderne Menschen nicht mehr zur Ruhe kommen; hält uns auch philosophisch in der Bewegung. (›Wir haben nie, nicht einen einzigen Tag,/den reinen Raum vor uns,‘). Das spiegelt sich also in und mit der Geschichte der Kunst; der Religion; und

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der Philosophie. – Fassen wir es also so. Mensch denkt, handelt, reflektiert, lebt in und mit dieser existentiellen Spannung zwischen Zweifel und Gewissheit. Wir sind doch wirklich da; ein So-Da-Sein in unserer selbstverständlich scheinenden Welt; was lässt uns denn daran überhaupt zweifeln, ob unsere Welt-Habe und unser Da-Inder-Welt-Sein wirkliche Wirklichkeit wäre?454 (Sind wir Wahnsin­ nige?) - Dass das wirkliche Erfahrungen sind – Erfahrungen, die unsere Geistesgeschichte begleiten – braucht tatsächlich nicht vieler Worte. Man wird leicht fündig, nicht zuletzt bei sich selbst. Warum es dann nicht einfach bei dieser Beschreibung belassen? So wäre es eben! ›Hier ist des Säglichen Zeit, hier ist seine Heimat‹. (Aus: Die neunte Elegie) - Ein bloßer beschreibender Hinweis auf die Unruhe unseres Herzens wäre hier doch etwas arg wenig. Fragen wir also weiter; und wieder von Anfang an. – Was denn Mensch als dieses sich so in den Blick nehmen könnende Da-und-So-Sein denn gestalte; und als was es sich selbst-selbst gestalte. Kurzum, was uns im Grunde wirklich und wesentlich als dieses reflektierende und reflektierte Soin-der-Welt-Sein ausmache‘? Und auf welche Weise dieses wirkliche und wesentliche ›Selbst-Sein‹ und seine Welt-Habe nicht nur in Erfahrung, sondern entsprechend seinem drängenden Wollen, auch in Geltung gebracht werden könne?455 Man wird möglicherweise sagen, es genüge doch ein sich ›Begreifen-können‹; das Leisten-leisten einer sich praktisch hinreichend bestätigenden Perspektive. Das mag nicht mehr auf einen Begriff (›der Mensch an und für sich‹) zu bringen sein. Unterschiedlichstes Welt- und Selbst-Verstehen entspreche unserer aufgeklärt ›freien‹ Natur. Der Mensch hier und jetzt habe es mit Blick auf sich selbst und seine Welt mit seinen durch ihn gesetzten deskriptiven Reihen und dem Herausarbeiten einer Vielfalt von ›typi­ schen Mustern‹ genug sein zu lassen. – Das löst und beruhigt aber unser existentielles Fragen nicht, sondern verlagert es nur. Keine 454 Bei Paul Natorp ›ontologisch allgemeiner‹ so: »Das Rätsel bedeutet die Antilogie, dass alles da ist, und wiederum nichts schlechthin da, alles erst gesucht, gefragt, und in sich nicht bloß fraglich, nicht bloß in Frage, sondern selbst Frage, wie wir sagen ›die Frage‹ ist, aber eben damit doch irgendwie ist.« (2000). S 22 455 Ein soziologischer Weg; etwa bei Gerhard Schulze: »In einer Umwelt der unge­ zählten kleinen Möglichkeiten, der aufgehäuften Erlebnisangebote und der immer neu auftauchenden geschmacklichen Wegegabelungen hat Identität eine zentrale ästhetische Komponente. Ich erkenne mich in dem wieder, was mir gefällt. Identität schließt die Vorstellung zeitlicher Stabilität ein: Ich und du als konstante Tendenzen im Fluss alltagsästhetischer Episoden.« (Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt/M 19934. S 102)

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dieser möglichen Perspektiven haben von sich her Anspruch auf Geltung. Und bleiben als Geltungsbehauptungen Herausforderungen für unsere existentielle Reflexion. In unseren Blick wird auch gerückt, es kann nicht anders sein, wiederum unsere phänomenologischen Reflexionen selbst. Reflexionen, die offensichtlich ja selbst in diese uns neuzeitlichen Menschen möglichen Perspektiven auf uns selbst gehören. – Ob damit, diese Frage lässt sich jetzt nicht mehr abweisen, nicht letzt-möglicher Halt gerade durch Philosophieren endgültig wegbreche? Das ist nicht ohne Witz. Erkenntnistheorien oder auch allgemeine anthropologische Feststellungen, zumindest das scheint offensichtlich, reichen, den eigenen Anspruch ernst genommen, nicht hin. Wir bleiben aber allein schon mit Blick auf unsere auch philo­ sophischen Irritationen und Perturbationen (›warum überhaupt so fragen-fragen‹?) existentiell eingestellt. Zumindest bleibt dies eine offensichtlich: wir ›treiben‹ uns mit unserer existentiellen reflexi­ ven Reflexion der Reflexionen phänomenologisch weiter. Mit allen Konsequenzen. Auch ein Scheitern bleibe durchaus möglich. Viel­ leicht erweise es sich tatschlich als unmöglich, unser existentielles Philosophieren als einen sicheren Anker für ›sichere Wahrheiten‹ einrichten zu wollen. Allerdings, dass existentielle Reflexion der Reflexionen möglich und erforderlich ist, davon gehen wir weiter aus. Dabei phänomenologisch unsere Erfahrung mit unseren Erfahrungen zugrunde gelegt; unser uns überhaupt so erfahren-zu-können; kurz, die Möglichkeit der existentiellen Reflexion unserer Reflexionen, Das scheint das Philosophieren nach wie vor umzutreiben, trotz allem Erkenntnis-Fortschritt, aller Erklärungen der strengen Wissen­ schaften, den beeindruckenden Leistungen neuzeitlich aufgeklärter Philosophie. Es scheint irgendwie verborgen und zugleich doch auch präsent zu sein. Vergleichbar einem ›Vexierbild‹. Ein eigenartiges Zugleich; oder aus einer etwas anderen Perspektive, ein ›Bild‹ unseres So-Da-Sein scheint uns je nach Aufmerksamkeit als (zumindest) unterschiedliche Lage unserer Wirklichkeit. Dabei immer präsent als wirkliches so-da. Diese Spannungen (Spannungen der Reflexion) sind in unser Welt-Haben und Selbst-Sein von Anfang an ›eigepreist‹. Man denke beispielsweise an dieses sehr eigenartige Vermögen, sich zu sich selbst in Widerspruch, sogar in Gegensatz zu bringen. Bis hin zu einer peinvollen Lage, einem ganz und gar nicht-mehr-dialek­ tischen Verhältnis, das Mensch ausweglos nur noch als ›Leiden an und mit sich selbst‹, als, wie man sagt, ›pathologisch‹ erfahre. (Und man fragt sich, ›wie konnte es mit mir (oder ihm) nur soweit kommen‹?)

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Eine ›existentielle Aporie‹ die nur noch der Tod als ›nicht-mehr-DaSein‹ aufheben könne. Oder da ist etwas milder, ein uns geradezu alltäglich vertrauter Zustand. Mit sich selbst in einer Frage oder mit dieser oder jener Angelegenheit uneins-sein; mit-sich-selbstringen müssen; oder auch sich selbst (mit einem Verhalten, Handeln, oder mit einem sich einstellenden Gedanken) in Erstaunen setzen zu können. Und sei es nur mit seinen ›seltsamen‹ Träumen. – Dass nun diese ›Vielfältigkeit‹, auch die möglichen Widersprüche, selbst Apo­ rien mit Blick auf unser gelebtes und erlebtes So-in-der-Welt-Sein existenz-phänomenologisch als Potentiale gelesen werden, daran sei noch einmal eigens erinnert.456 Wir werden immer wieder darauf zurückkommen. – Also schon für unser alltägliches leben finden wir allenthalben Irritationen. Und trotzdem ›wissen‹ wir genauso sicher unsere Gestaltungen, Wahrnehmungen, Perspektiven (usw.), von einer uns sicher scheinenden, ›wahren Gestalt‹ umfangen und getragen. ›Etwas‹, das uns auch als Identität gewiss sein lasse. Wie könnten wir beispielsweise allein schon diese (nicht nur philoso­ phisch) verstörenden Fragen ›nach uns selbst‹ fragen? (Von hier aus werden wir – lassen wir uns darauf ein - bis zu der Erfahrung eines ›Panentheismus‹ geführt.) Nun wird Selbst-Sein, So-Da-Sein, In-der-Welt-Sein-können, vorgestellt und sozusagen immer wieder behauptet als selbstverständlich festgelegte, als ›biographische Idee‹. Eine ›Identität‹, die sich selbst für sich selbst aufdrängt. Wer sonst sollte ›es‹ bestätigen oder widerlegen? Dieses sich als gewiss denken und erzählen lassen. Eine ›Idee‹, oder ein ›Muster‹ (aber von was genau?) von der das ›cogito ergo sum‹ nur eine darauf aufbauende Möglichkeit zu sein scheint. Dicht zusammengefasst. Wir werden in der Regel, das scheint als gewiss, mit unserem, auch den als problematisch erlebten, gespann­ ten Selbst-Bewusstsein und irritierenden Selbst-Verständnis, nicht aus unserem selbstverständlichen In-der-der-Welt-sein entlassen.457 456 Vgl. dazu auch anthropologische Perspektiven aus der ›Familientherapie‹. Z. B. Virginia Satir. Meine vielen Gesichter. München 20015 457 Vor allem C. G. Jung und seine Schule haben sich intensiv mit diesen Fragen beschäftigt. Und zwar in einem ›Umfang‹, der über Tiefenpsychologie hinausgeht, und philosophische Anthropologie mitumfasst. Beispielsweise: »Das Selbst birgt in sich die Möglichkeit ›ganz‹ zu erden oder, um auf der Ebene der Erfahrung zu bleiben, sich ›ganz‹ zu fühlen. Im Gefühl, ›ganz‹ zu sein, ist auch das Moment eines Zwecks enthalten; entsprechend ist die Vorstellung eines Ziels für den Prozess der Integration unerlässlich. Zum Ganz-Sein gehört ferner das Gefühl, dass das Leben einen Sinn hat,

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Nicht als ob dies immer mit unserer unmittelbar erfahrenen und erin­ nerten Wirklichkeit restlos deckungsgleich wäre; oder auch im Modus ›jetzt‹ unser (zunächst gleich wie konstruiertes) Welt- und SelbstSein umfasse. Geradezu als Regel scheint sich aber aufzudrängen: unser ›Leben‹ umfasst wirklich auch Möglichkeiten der Spannungen, Erleben von ›Anomie‹, auch von sich wirklich gebenden dissoziiertsein. Selbst der krasseste Widerspruch aber bleibt eingepreist in den Horizont unseres wirklichen So-Da-Seins. Bleibt in jedem Fall gebun­ den an die für uns ›feste‹ korrelative Gestalt und Gestaltung unseres So-in-der-Welt-Seins. Wir sind also so scheint es doch, ganz in unserer wirklichen, vielleicht auch für uns wesentlichen, Ordnung! Braucht es denn da noch weitere, noch umfassendere Reflexionen?

11.2.1. Reflexion existentieller Phänomenologie Das zwingt uns wieder auf unser existentielles Philosophieren selbst zu schauen. – Zu klären wäre: wie von unserem irritiertem und perturbiertem In-der-Welt-Sein aus, dieser so gelebten, selbst erfah­ renen Wirklichkeit, philosophische Absichten überhaupt geleistet und vollbracht werden können? Haben unsere phänomenologischen Reflexionen ihre grundlagenphilosophischen Vorstellungen schon mit deskriptiv-schauenden Blick auf wirkliches So-in-der-Welt-Sein erschöpft? Sind wir wieder, wie man sagt, ›auf dem Boden der Tatsachen aufgeschlagen‹? Nun endgültig? Ist dieses so geleistete, philosophisch sich ordnende ›Ich-selbst‹, vielleicht schon das auch existentiell letztmöglich sich Selbst und Welt Beobachten-Könnende? Man könne doch philosophierend seinem Selbst-Schauen selbst noch einmal zuschauen. (Welch eine Leistung!) Das setze theoretisch ungewöhnliche, interessante Perspektiven. Man denke nur an das ›Bild‹ des ›Heraklitischen Stromes‹; oder an ontologische Setzungen wie, Substanz; Struktur; System; oder (und damit in einen Zusam­ menhang gestellt) an die Idee eines außerhalb (?) dieser unserer fließenden, wie auch immer entworfenen Zusammenhänge von Welt und Selbst. Etwas vielleicht sogar metaphysisch Unbedingtes, das nun wirklich nicht mehr weiter-hinter-dacht werden könne? – Damit und das Interesse, insoweit etwas zu unternehmen, wenn es diesen Sinn nicht hat – also eine religiöse Kapazität.« (Andrew Samuels. Jung und seine Nachfolger. Stuttgart 1989. S 170)

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sei doch auch die Relevanz der Philosophie, auch des wissenschaft­ lich-kritischen Philosophierens genügend eingeführt. Wären denn die Theorien dieser ›philosophischen Reflexion‹ nicht schon hinrei­ chende Leistung genug für die Rechtfertigung des Philosophierens? Zumindest ein hartnäckiges Arbeiten an einem ›letzten‹ Selbst- und Welt-Begreifen könne man den Philosophen nicht absprechen. Damit wären auch unsere existenz-phänomenologischen Bedenken, unser skrupulös-enervierende Philosophieren, doch noch zu einem für uns ›akzeptablen Ende‹ gekommen. Und sogar darüber hinaus wären wir (wenn auch ungewollt) ›mitgesegelt‹ im Windschatten der klassi­ schen (einzig wahren) Phänomenologie. – Für einen Philosophen der Vernunft sicher ganz und gar nicht überraschend. Sondern gelistet als Bestätigung neuzeitlichen Philosophierens. Ob also Mensch, das als Quintessenz, je radikaler er sich reflektierend wirklich ›einzuholen‹ sucht, für sich selbst schließlich doch eine absolute Form zu begreifen suche; es sogar müsse? Alle philosophischen Wege führten jetzt für uns in Wahrheit nach ›Königsberg‹ zurück! Auch die existentiel­ len Reflexionen des Da-und-So-in-der-Welt-Seins sind und bleiben letztendlich nur gewiss (und darum gehe es doch philosophierend) als Gestalt und Gestaltung der reinen (und praktischen) Vernunft. Und wir hätten einzusehen, dass existentiell-phänomenologisches Philo­ sophieren in Aporie ende, wo es losgelöst von diesem Philosophieren, sich ›ehrlich‹ zu vollbringen suche. – Warum dann also nicht Husserls transzendental gerichteten ›Ideen zu einer reinen Phänomenologie‹, seiner ›formalen und transzendentalen Logik‹ reumütig folgen? Und mitarbeiten an dem von ihm ausgerufenen großartigen Generatio­ nenbau: ›Philosophie als strenge Wissenschaft‹?458 Ob wir dem zustimmen oder nicht, wir haben in jedem Fall selbst-zu-philosophieren. Und so schauen wir weiter hin und uns selbst zu. Nicht aus engstirniger Eigentümelei. Sondern wir folgen gerade so der (von Husserl selbst geforderten) Logik phänomenologi­ schen Philosophierens. Es gebe, daran halten wir uns fest, Gestalten, Gestaltungen, Erfahrungen und Begriffe, die nur durch uns selbst in den Blick gerückt, eingesehen und fundiert werden können. Selbst noch unser Scheitern müsse also von uns selbst als Möglichkeit ›erarbeitet‹ werden. Einem ›philosophischen Lehrsystem‹, »das nach gewaltigen Vorarbeiten von Generationen, von unten her mit zweifelssicherem Fundament wirklich anfängt und wie jeder tüchtige Bau in die Höhe wächst, indem Baustein um Baustein gemäß leitenden Einsichten als feste Gestalt dem Festen angefügt wird.« (Logos. S 291) 458

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Und so sehen wir es selbst, Kant hin, Husserl her, der wirkliche, leibhafte, zeitlich (geschichtlich, biographisch) gebundene und so geordnete Mensch ›reflektiert‹ als Selbst-Sein nie anders als einge­ fugt in seine wirklich-bewegte Welt-Habe.459 Dies drängt sich als wirklich auf; was immer man uns theoretisch auch vorführe. – Diese Reflexionen unserer wesentlich wirklichen und nun, daran wird von uns nicht mehr gezweifelt, auch wirklich wesentlichen Ordnung, So-Da-zu-Sein, können phänomenologisch auch mit ener­ gischster Absicht, nicht nur von erkenntnistheoretisch-transzenden­ taler Bedeutung sein. Existenz-phänomenologisch reflektieren unsere Reflexionen als für uns wirklich und wesentlich. Selbst radikal refle­ xive Reflexionen des unbedingten Anfangs, oder außergewöhnliche Leistung radikal phänomenologischen Philosophierens (ich denke da an Husserls Interpersonal-Philosophie) können wirklich nicht in einer abstrakten Idee, beispielsweise als ›absolut-unbedingtes Subjekt‹, als ›reine Vernunft‹ fundiert werden; philosophieren kann dort auch praktisch nicht wirklich Fuß fassen.460 Jeder Einspruch dagegen wird zur Bestätigung. – Und auch dies ist für uns phänomenologisch offen­ sichtlich. Diese zuerst und zumeist so selbstverständlich scheinende Welt- und Selbsthabe, entfaltet sich, ist grundgelegt, mit hochkom­ plexen Akten unserer Wahrnehmung und unserer Reflexion. Wird also gerade so (schon unwillkürlich) geleistet als unser ›natürliches‹ Weltund Selbstverständnis. Das ist verdichtet, begriffen, auch praktisch gesetzt, als meine und unsere Wirklichkeit; meine und unsere WeltHabe. (Man möchte ausrufen: als was denn sonst!) Existenz-Phäno­ menologisch in den Blick gerückt, beispielsweise, als aktiv und/oder passiv, willkürlich und/oder unwillkürlich vollzogenen Gestaltungen unseres, meines wirklichen So-in-der-Welt-Seins. – ›Selbstverständ­ lichkeiten‹? Gewiss doch! Von uns reflektiert innerhalb unseres dia­ chron und synchron konstituierten und schon unwillkürlich (auch das ist unsere Leistung) als geordnet erfahrenen Horizonts. Phäno­ 459 ›Wolle die Wandlung. O sei für die Flamme begeistert,/drin sich ein Ding dir ent­ zieht, das mit Verwandlungen/prunkt;/jener entwerfende Geist, welcher das Irdische meistert,/liebt in dem Schwung der Figur nichts wie den wendenden/Punkt.// Was sich ins Bleiben verschließt, schon ists das Erstarrte; (…). (Die Sonette an Orpheus. Zweiter Teil. XII) 460 Dazu noch einmal G. Simmel. »Wo auch das Erkennen einsetzt, irgend etwas ist schon vorausgesetzt, das uns entweder als ein Dunkles, nicht zu Bewältigendes ängstigt, oder umgekehrt uns ein Halt in der Relativität, dem Fließen, dem Nur-sichselbst-haben der Erkenntnis ist.« (Hauptprobleme der Philosophie. Leipzig 1910. S 9)

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menologisch zusammengefasst von uns als Lebenswelt für unser wirk­ liches So-in-der-Welt-Sein. Dazu gehören auch die Begriffe, Bilder, Symbole, Theorien der Wissenschaften, der Künste und Religionen. Dies sind nicht weniger selbstverständliche Möglichkeiten unseres Leistungsvermögens wirklichen und wesentlichen So-Da-Seins. Auch Kulturgeschichte wird phänomenologisch eingeführt als Refle­ xionsgeschichte. Husserl hat hier mit seiner ›Spätphilosophie‹ mehr als nur Anregungen gegeben.461 Und auch das Philosophieren selbst, als strenge und auf äußerstes gerichtete Reflexion dieser Reflexionen ist davon nicht ausgenommen. Das haben wir nie aus dem Blick ver­ loren. Auch Philosophieren arbeitet mitten in diesem, uns als wesent­ liche Gestalt und wirkliche Gestaltung gegebenen Horizonts unseres wirklichen Da-und-So-Seins. Reflexionen, Theorien, Bilder, Perspek­ tiven, u. ä. mögen ganz bestimmt den Horizont unserer Welt-Habe und unseres Selbst-Verständnis, kurz, den Horizont unseres In-derWelt-Seins erweitern. Daran ist nicht zu zweifeln. Verbleiben aber gerade so, als unsere Leistungen in unserer wirklichen Wirklichkeit. – Kurz zusammengefasst. Dreh und wende dich, wie immer es dir in den Sinn kommen mag: alles reflektiert und entfaltet sich für dich, auch streng-formale Reflexion der Reflexionen, als existentielle Grund-Form wirklichen und wesentlichen Welt- und Selbst-Seins. Kein darüber-hinaus, kein darunter-weg scheint auch für unser wirk­ lich endliches Philosophieren in Wirklichkeit noch möglich. Von dort her und daraufhin zurück, bestimmen sich auch unsere ‚nur‘ letztmöglichen existentiellen Vorstellungen und Begriff; das führt vor: die Ordnung der reflexiven Potenz des wesentlich wirklichen Menschen als Da-und-So-in-der-Welt-Sein.462 –

Ich denke hier vor allem an die ›ergänzenden Texte‹ in Hua.VI. Da bin ich ganz bei Georg Simmel. »Mir aber scheint der ganze Mensch, das Absolute von Seele und Ich, in jedem jeweiligen Erlebnis enthalten zu sein; denn die in ihm geschehende Produktion wechselnder Inhalte ist die Art, auf die das Leben lebt, und es behält sich nicht eine irgend abtrennbare ›Reinheit‹ und fürsichsein jenseits seiner Pulsschläge vor.« (Rembrandt. Ein Kunstphilosophischer Versuch. Leipzig 1916. S 2) 461

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11.2.2. Sich-verlieren und sich-finden können. Erste Hinweise. Schauen wir noch etwas genauer hin, auf das was uns ›hier und jetzt‹, als unser So-in-der-Welt-Sein, in unseren Blick tritt! Und das wir uns als ›Reflexionen‹ zurechtlegen im Stande sind. – Dieses Selbstund Weltverständnis des Menschen, sein wirkliches und wesentliches Da-und-So-Sein, führt sich als Selbst-Sein vor; das ist als mehr oder weniger zusammenhängend gefasster ›Text‹. Präsent als unsere Welt-Habe und unser Selbst-Sein. Kurz, unser uns selbstverständlich scheinendes intentionales So-Da-Sein; unser So-in-der-Welt-Sein. Es wäre ein Missverständnis, dies zu eng auf schriftlich oder irgend­ wie ästhetisch Gestaltetes, oder nur als Möglichkeit konsistenter begrifflicher Fassung abzustellen. Sondern es meint nicht mehr und nicht weniger als (willkürlich und unwillkürlich) geleisteten intentio­ nalen Vorstellungen oder Korrelate unseres bewegten So-Da-Seins. Phänomenologisch in den Blick gerückt als Leistungen der Reflexion entlang der Intentionalität. Die phänomenologisch also unser ›passi­ ves Vermögen‹ (die ja nicht weniger existentielle Leistung ist) mit­ einschließt. Das stellt phänomenologisch eine ‚plastische‘ Ordnung unserer Existenz vor; unser So-in-der-Welt-Sein, das fortdauernd Anschlussfähigkeit möglich macht und auch erwartet. So ist existenti­ elle Grundgestaltung der Reflexion der Reflexionen unseres Welt- und Selbstverständnisses, unserer Welt- und Selbst-Habe. Die ›reflexive‹ Fassung unserer wirklichen Wirklichkeit; die das für uns wesentlich Wirkliche und wirklich Wesentliche und wie selbstverständlich auch das wirklich Mögliche mitumfasst. Unser Da-und-So-Sein ist dann so geordnet (wie eine ›existentielle Grammatik‹) phänomenologisch wahrzunehmen und philosophisch auf letztmöglichen Begriff zu brin­ gen. Die Welt ist also auch phänomenologisch tatsächlich alles das ›was für uns der Fall ist‹. Nicht aber positivistisch eingeschränkt auf ›Dinge‹ oder (wissenschaftliche) ›Tatsachen‹; sondern ist das was in unserer Welt sich uns als ›existentieller Text‹ vorstellt; uns (so mag es scheinen) zufalle; für uns phänomenologisch immer schon als uns zugeordnet da-ist. Schon ›etwas‹ beispielsweise als ›zuhanden‹, oder ›schön‹, ›wertvoll‹ markieren, verändert die ›Grammatik (die Wirklichkeit) der Ontologie der Dinge‹. Was immer uns in den Blick rückt, da-ist, oder war, auch was beispielsweise präsent ist als Plan, Hoffnung, Befürchtung, als Ereignis, Widerfahrnis, Leistung oder Geleistetes, oder überhaupt als ›Subjekt‹ oder ›Objekt‹, oder vielleicht nun auch gelesen wird als Schicksal, Glück, Zufall, (usw.) ist Wahr­

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nehmung, oder Ordnung, Organisation von unseren intentional geordneten Geschichten. Und sei es auch vorgeführt nur als ›flüchtige Erinnerung‹, wortwörtlich ein ›Ein-fall‹, ein bloßes ›Fragment‹, ein ›blasses Bild‹; vielleicht präsent nur als ein Gedankenblitz, vages Gefühl, eine ›Stimmung‹ (›ich weiß nicht was soll es bedeuten‹), oder im Umlauf als eine ›Leermeinung‹.463 Oder, und selbst das bleibt noch in der wesentlich wirklichen Grund-Ordnung unserer Vorstellungen von Welt- und Selbst-Sein: die Rede, dies oder das sei zu verworren, sei (für mich) unverständlich, gestammelt, habe keine Bedeutung, nur so dahergeredet, ‚blowin in the wind‘, gebe wirklich keinen Sinn, sei vielleicht sogar Irrsinn.464 Wie und wo immer wir hinschauen auf uns und unser In-der-Welt-Sein, wir erleben uns nie anders als eingeflochten in, mehr oder weniger zusammenhängenden ›Geschichten‹. Eine eigenartige ›grammatikalische‹ und damit eng zusammenhängend zeitlich ›fließende‹ Ordnung unseres So-in-derWelt-Sein. – Mehr soll vorerst auch nicht gesagt sein. Lassen wir uns darauf ein. Und schauen einfach weiter zu. – Das so vorgeführt scheint ganz und gar nicht erstaunlich. Auch nicht, dass wir uns, in literarischen Texten reflektieren, wiederfinden, und dabei unser So-Da-Sein, wie man sagt, eigenartig intensiv, sogar phantas­ tisch mit entfalten. Vielleicht sogar, gerade so ›reflektiert‹ erst jetzt uns und unsere Wirklichkeit wahr und wahrhaftig zu schauen. Zumin­ dest in einem klareren Licht. Es also geradezu mühelos zu gelingen scheine, unser Da-und-So-Sein dort wortwörtlich selbst einlesen zu

463 Vgl. dazu Wilhelm Szilasi. »Leermeinung, bloße Vorstellung, leibhafte Wahrneh­ mung sind Strukturunterschiede, die nicht zu den Dingen, nicht zu den Sachen, sondern zu der aktuellen, situationsgebundenen Intention gehören.« (Einführung in die Phänomenologie. Tübingen1959. S 21) 464 Wieder finde ich gerade bei Paul Natorp zumindest die Fragen, die auch exis­ tenz-phänomenologisches Philosophieren bewegen. »Ich möchte in der Tat gerne wissen, ob nicht Anderen ebenso auffallend, so allgegenwärtig-wirklich und dabei so beunruhigend, ja erschütternd rätselhaft die Tatsache ist, die ich, rein feststellend, was mir vor Augen liegt, so auszusprechen versuche: Was auch immer sich mir darstellt, sei es außen oder innen, sei es Sache oder Vorgang, sei es Wahrnehmung, Phantasie, Gedanke, oder Gefühl, Willensantrieb oder was auch immer, sei es das Bedeutendste oder das Bedeutungsloseste, das Gehaltsreichste oder das ganz Nichtige, sei es das Auge Gottes oder der Blume, sei es das sichtbare Universum oder das verschwindende Stäubchen oder was man nur Höchstes und Niederste nennen mag, das stellt sich mir dar, tritt für mich heraus (existit); woraus denn? Aus dem an sich dennoch ungelösten, ganz unlöslichen Zusammenhang mit allem in dem schließlich einen, unzerstückten und unzerstückbaren All;“ (2000). S 23

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können. Sogar über Räume und Zeiten hinweg.465 (Beispielsweise im Sinne dieses Satzes: der Roman mache sogar unsere Wirklichkeit von Phantasie abhängig.)466 So könne einer sagen: ›ich erkenne oder finde mich in ›Ulrich‹ (Der Mann ohne Eigenschaften) wieder‘. Oder noch allgemeiner, der eigentliche Name für uns Menschen sei ›Hiob‹. – Bemerkenswert ist, dass so zu reden keineswegs befremdet; und auch nicht entfremdet. Dieses sich so in doch fremde Geschichten, oder auch in diesen oder jenen ästhetischen Vorstellungen vergangener Zeiten, sogar wesentlich erkennen, wiederfinden, auch weiterspinnen können (Kafkas ›Schloss‹ hat mir über mich und meine Lage die Augen geöffnet.), ist von eigener ›existentieller Logik‹. Das erfährt sich phänomenologisch keineswegs als ein sich ›naives Identifizieren‹ (›ich bin Old Shatterhand‹); sondern wortwörtlich als mich selbst existentiell als ‚dieser-da‘ einlesen können; Vorstellungen, (Roman Ingarden würde von ›Leerstellen‹ sprechen) die sich gerade so mit den Möglichkeiten eines So-Da-Seins wirklich (er)füllen. – Es verweist zunächst auf unser vielschichtiges Da-und-So-Sein. Und dann auf die Möglichkeit diesen Akt eines sich Einlesens selbst existentiell zu reflektieren; und noch weiter gedacht, so überhaupt reflektieren zu können. Als Möglichkeit der Reflexion ‚Texte‘ als ›anschlussfähig‹ in je eigene ›Lebensgeschichte‹ einzustellen. Uns selbst so vorgestellt, kann eines nicht verborgen bleiben. Es sei zumindest kurz angesprochen. Wir erfahren existenz-phäno­ menologisch gewendet, nämlich mit uns selbst, unserer alltäglichen Welt-Habe und unserem fragilen Selbst-Sein, was tragisches, lyri­ sches, episches In-der-Welt-Sein sei, sein könne. Erfahrungen, die wir, wir mögen es nennen wie auch immer, mit unserem so reflektierten Da-und-So-Sein zuerst und zumeist als wesentlich er-leben, vorstel­ len, erzählen, verstehen; ohne es im Mindesten psychologisch oder gar literaturwissenschaftlich begreifen.467 - Es werde diesen, wohl »Es ist eine alte, wiederholt vermerkte Erfahrung, dass geschichtlich gewordene Werke der Literatur, neu gedruckt und in einem Gewande dargeboten, das den heutigen Erwartungen entspricht, eine ursprüngliche Ausdrücklichkeit, eine überra­ schende Gegenwärtigkeit erhalten. Sie begegnen frisch, mit einer unvermuteten Unmittelbarkeit.« (Fritz Marini. Nachwort zu: Miguel de Cervantes. Don Quijote. München 1986. S 1105) 466 Frei nach André Malraux. Psychologie der Kunst. 1957. S 20 467 Eine auch für uns ein interessante Zusammenfassung bei Hermann Broch: „»Und steht nicht hinter all diesen Sprachmöglichkeiten des Realität-Symbol eine ideale, platonische Sprache als letztes und eben platonisches Gefäß der Realität? Die jüngsten 465

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aus jeder nur denkbaren Perspektive höchst eigenartigen praktischen und theoretischen Erfahrungen und Reflexionen unseres selbst Weltund Selbst-Verstehens nicht gerecht, sie ausschließlich unter wissen­ schaftliche Direktive zu stellen, oder philosophisch sie nur als streng erkenntnistheoretische Vorstellungen zu sammeln und erklären zu wollen. Das verdecke nämlich unsere existentiellen Grund-Ordnun­ gen; verkenne die Lebens-Rhythmen unserer wesentlich-wirklichen Wirklichkeit. Das hat weitausholende Konsequenzen für die uns zu umfassen versuchenden Reflexionen unseres ›ganzen‹ Da-und-SoSeins. Von der existentiellen Grundordnung her bestimmen sich auch ›ästhetische‹ Gestalt und ihre möglichen Gestaltungen der Künste. Und umgekehrt sind es Reflexionen, die für unser existenz-phäno­ menologisches Philosophieren von entscheidender Bedeutung sind. Nämlich, der in der Philosophie der Vernunft meist übersehene, sogar bewusst übergangene, aber existentiell konstitutive (ausdrücklich) philosophische Beitrag, den Kunst im Allgemeinen, Literatur, vor allem wiederum Lyrik uns vorführe. – Diese existentiellen Reflexio­ nen der Kunst interessieren existenz-phänomenologisch im Beson­ deren. Eine phänomenologische Reflexion der Reflexionen der Kunst und Literatur ist von fundamentaler Bedeutung für jede systematische existenz-anthropologische Arbeit.468 Es brauche also, kurz gefasst, ›phänomenologische Ästhetik‹ für Grundlagen-Forschung des exis­ tentiellen Philosophierens.

11.3. Zwei Perspektiven Wir werden hier philosophisch vor Herausforderungen gestellt, die in der Tat ohne Scheu als existentielle Rätselfragen markiert werden phänomenologischen und sprachpositivistischen Untersuchungen liegen durchaus in dieser Richtung, ja sie analysieren oftmals ausdrücklich das ›Phänomen des Mediums‹ als solches, und wenn sie, wie vor allem der Existentialismus, metaphysisch werden, also zwecks Gewinnung der ›unmittelbaren Realität‹ die an sich undurchdringliche Medial-Schicht durchstoßen wollen, so zeigt sich hinter ihr folgerichtigerweise – das Nichts.« (Die Kunst und ihr Un-Stil am Ende des 19. Jahrhunderts. In: Geist und Zeitgeist. Frankfurt/M 1997. S 124) 468 Grundlegend dazu die Arbeiten von Emil Staiger. »Die Antwort (…), welche die Literaturgeschichte zu geben hat, ist der Beitrag einer durchaus eigenständigen Wissenschaft zur allgemeinen Anthropologie. Ob sie ihre Arbeit stets in diesem Sinn verstanden hat?« (1976)

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11.3. Zwei Perspektiven

können. Für rational geordneten, vernünftig aufgeklärten Menschen sicher ein Unding. Wer sich unbedingt mit ›Rätselfragen‹ beschäftigen wolle, solle es mit Esoterik versuchen und es damit genug sein lassen. – Was nicht sein darf, kann gar nicht sein! Phänomenologisch ver­ wundert also nicht, dass diese von uns als besonders bedeutsam ein­ geführte, kaum übersehen werden könnende (zumindest) ›praktische‹ Nähe zwischen Literatur und Philosophie, überhaupt zwischen philo­ sophischer und ästhetischer Perspektive, von analytischer und streng wissenschaftlicher Philosophie immer noch perhorresziert werde. Es ist die Angst vor einer philosophischen Aufwertung, vielleicht sogar Gleich-Stellung der ›unordentlichen‹ Phantasien eines ›bodenlos‹ Irrationalen; ›bloß phantasierter‹ Träume mit praktisch und theore­ tisch gesicherter Rationalität. ›Schöne Literatur‹ mag angenehmen Zeitvertreib möglich machen; philosophisch eingesetzt könne sie nur zur Verderberin philosophischer Vernunft werden. Man denke nur an die Romantiker des Jenaer Kreises. – Das scheint nicht nur als ein Misstrauen in die ›Vernunft der Kunst‹, sondern als (vielleicht auch hintergründige) Angst vor der Erfahrung der gefährlich-existentiellen Wucht des (geradezu auch leibhaft-sinnlichen) Irrationalen. Einem Irrationalen, mit der Mensch, es mag ihm recht sein oder nicht, zumeist also aus eigener Erfahrung wohl bekannt sei.469 Zumindest eines dürfe als philosophisch sicher festgehalten werden. Es könne für jeden klar denkenden Philosophen als begründet gelten. Zum einen, nicht nur wer wem normative Ansagen machen könne und dürfe; und welchen Formen, Gestaltungen der Reflexion überhaupt der Titel ›Philosophie‹ noch zustehe; und schließlich, welcher Per­ spektive, welcher Rede, welchen literarischen Formen theoretisch und praktisch das ›entscheidende‹ Wort über unser Welt- und Selbst-Ver­ ständnis, unsere Welt- und Selbst-Ordnung zustehe. Nämlich den strengen Wissenschaften und der sich hier einfügenden wissenschaft­ lichen Philosophie. Gerade darüber aber, sage ich, müsse ernsthaft verhandelt wer­ den. Wieweit können wir Philosophierenden weiter noch gemeinsam gehen? Eines scheint so selbstverständlich, dass es keiner weiteren Aufmerksamkeit mehr zu bedürfen scheine. Und als offensichtlich klar beiseitegelegt werden könne. Auch unsere phänomenologischen Noch einmal Hermann Broch: Jeder Umschlag ins Irrationale drohe »zugleich einer ins Anarchische zu werden; immer lauert das anarchische in der Tiefe.« ((1997. S 128)

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11. Interpersonale Perspektive der ›Transzendenz‹

Reflexionen zweifelten bislang daran nicht. Die Lebenswelt des Menschen umfasse sein willkürliches und unwillkürliches Weltund Selbstverständnisses, sein als wirkliche Wirklichkeit geordnetes Welt- und Selbsterlebens. Dieses Welt-Haben und Selbst-Sein weist phänomenologisch über ein einzelnes Da-und-So-Sein als in-sichverschlossenes Individuum hinaus. Im Sinne von, es könne für uns wesentlich wirklichen Menschen nicht anders sein. Und zuletzt (eng damit verknüpft) noch unser eingefaltet-sein in die historischen Rei­ hen der Reflexionen unseres So-in-der-Welt-Sein.470 Als ob wir auch dabei unserer Natur folgten. Immer wieder gelte für ein So-Da-sein: und so weiter und so fort. – Führen wir es uns aber genauer vor werden wir unsicher. Wohin hin genau werde ich denn diese Gedanken zu Ende gedacht wirklich verwiesen? Hin zu einem transzendenten Gott? Dem ›großen Du‹? (Martin Buber) Dem Sein des Seienden? Einem alles bestimmenden ›kosmischen Gesetz‹? Unserem endlich menschlichen Vollkommen-werden am ›Ende der Zeiten‹? (Teilhard de Chardin) Oder, das zu-sich-selbst-kommen in und mit der ›Ord­ nung der Liebe‹ (Erich Fromm). Oder dichter auf uns selbst geschaut: hin zur wahren Menschheit (›alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt.‹)? Oder die Idee eines (wodurch auch immer) ‚geheiligten Volk‘? Einer idealen gerechten Gemeinschaft, vielleicht als klassenlose Gesellschaft? Oder umgekehrt, das alles als ›utopisch‹ dechiffriert, vielleicht als eine intentionale Ausrichtung in letztlich ein ›Leeres‹ (das Nichts); etwas milder, in eine ›philosophische Leer-Form‹ (›Variable der Beliebigkeit‹), die je nach Weltanschauung wiederum beliebig gefüllt werden könne? Angebote gebe es auch hier wahrlich mehr als genug.471 Gleich wie auch immer man glaube sich entscheiden zu müssen, ›wissenschaftliche Geltung‹ aber könne für keine der Vorstellungen in Anspruch genommen werden. Ein bloßes ›Evidenzgefühl‹ führe lediglich diesen oder jenen ›Glauben‹ (meine mich überzeugende, oder unsere Perspektive als Glaubensge­ 470 Helmut Kuhn schreibt: »Die Wirklichkeit werde sinnlos »sofern sie als Wirk­ lichkeit schlechthin und als in sich abgeschlossen betrachtet wird. Denn nur durch ihre Offenheit für ein Jenseits ihrer selbst, für die Transzendenz, bewahrt sie ihre Sinnhaftigkeit.« (1981). S 261 471 Beispielsweise schreibt Georg Simmel. »Nach mehr als einer Richtung hin emp­ finden wir bestimmte Grenzen, in die das Zentrale und Spezifische unseres Daseins geformt ist; dennoch schwingt das Leben über und unter diese Grenzen hin, ja vielleicht ist dies der weiteste Sinn des Lebens: all das, was seine eigenen Grenzen überschreitet, dennoch in sich zu schließen.« (Das Problem des Schicksals. In: Aufsätze und Abhandlungen 1908 – 1918. Gesamtausgabe Band 12. Frankfurt/M 2001. S 491)

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meinschaft) vor. – Nun aber weiter gefragt, stellt sich zwangsläufig für uns eine Herausforderung, der wir philosophisch nicht ausweichen dürfen. Wer oder was könne denn dann über diese uns als notwendig scheinende ›existentielle Ausrichtung‹ (die uns ordnet; und zieht oder treibt) denn verlässlich Auskunft geben? Eine wahre Entscheidung herbeiführen? Wer oder was gibt uns hier endlich auch praktisch ›Gewissheit‹? (Frei nach Luk. 7,19: ›Bist du es, oder sollen wir weiter auf noch ein anderes warten‹). Der Kreis schließt sich. Wir sind wieder auf uns selbst verwiesen. Das heißt für uns phänomenologisch selbst weiter auf uns selbst hinzuschauen. Diese oder jene Geltungsansprüche, Evidenzgefühle, geglaubte Gewissheiten bleiben in der (methodischen) Klammer. So kann zunächst nur das eine mit Bestimmtheit behauptet werden. Wir verbleiben auch mit diesen Erzählungen, diesen Texten über sinnstif­ tende, geltungssichere Ordnung unseres Denkens der Gedanken, in jedem Fall im Horizont unserer geschichtlichen Lebenswelt. Gleich wie und mit welcher Absicht auch immer diese ›Grund-Ordnungen‹ gesetzt werden, es sind und bleiben ohne Zweifel unsere Reflexionen unseres wirklichen Da-und-So-Seins. Und das auch noch als reflexive Reflexion der Reflexionen. (Dass sich eine Nähe zu Diltheys ›Lebens­ philosophie‹ nicht leugnen lasse, darf uns nicht schrecken) Unsere existentiellen Rätsel-Fragen bleiben nicht nur. Sie wer­ den verworrener und verwirrender. Gerade weil wir auf uns selbst zurückverwiesen werden. Auf uns, welch ein Witz, die sich doch selbst als irritiert und perturbiert erleben. Was soll unser Philoso­ phieren schon daran groß ändern? Wir, wie Rilke uns vorstellt, ›die Schwindensten unter dem Schwindenden‹. Die, soweit wir überhaupt Geschichte und unsere Geschichten zu überschauen vermögen, von Beginn an Geltung, Halt und Sinn suchen, in Ordnungen, die über die eigene fragile Endlichkeit hinausweise. – Dicht zusammengefasst. Ob, und wenn ja, wie gestaltet sich über die zufälligen subjektiven Feststellungen, Glaubenssätzen, die Perspektiven einzelnen So-DaSein hinaus, überhaupt gültig-geltender Sinn; und wie er sicher auszu­ machen, zu rechtfertigen wäre? Also wäre existentielles Philosophie­ ren ein Arbeiten an der Vorstellung wirklich wesentlicher Welt? Ob dies aber für uns endlich-gebundenen Wesen – das ist die Frage überhaupt sicher (und genau darum gehe es doch) möglich sein könne? Für uns, noch einmal: ›die Schwindensten unter dem Schwindenden‹. Dieser Blick mag erschrecken. Wir Philosophieren endgültig nur noch ‚mit uns selbst‘. Dass gerade dieses So-fragen-können, das

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11. Interpersonale Perspektive der ›Transzendenz‹

drängt sich auf, Mensch offensichtlich endgültig in ein ›ungewisses Offenes‹ führe? Hinaus, (ein anderes bekanntes Bild), ›auf uferloses Meer‹. ›Wehe dem, den nun Land-Heimweh befalle‹! (Nietzsche) – So philosophieren zu wollen mag auf den ersten Blick als Witz oder als Zumutung abgetan werden. Das könne man umgekehrt aber nun auch als positive Erfahrung, als existentielle Ressource lesen. Dass Fragen und Sehnsucht nach (sagen wir ganz allgemein) ›Kosmos‹, ‚Heimat‘, ‚Sinn‘, über die je eigene zufällige Befindlichkeit und (ja vielleicht auch das) auch Möglichkeiten gelegentlichen Nachdenkens hinausführe. Das legt, lassen wir uns philosophierend weiter darauf ein, eine herausfordernde existentielle Spannung frei. Zumindest das. Nicht in den Blick gerückt als zufällige Angelegenheit von diesen oder jenen historischen Perspektiven, dieser oder jener Sonderlage geschuldet. Sondern, schauen wir hin auf uns selbst, eine existen­ tielle Grund-Befindlichkeit, die unser Selbst- und Weltverständnis (›wir endliche Menschen‹) unausweichlich notwendig begleitet und ausrichtet. Auch die Geistes-, Kunst-, Religions-, Kulturgeschichte, gibt hier beredt Zeugnis. (als Reflexion einer von uns vorgestellten Gestalt). - Die traditionellen Vorstellungen eines Idealismus oder Positivismus lassen uns mit diesen existentiellen Fragen theoretisch und praktisch ›alleine‹. Wiederum braucht es phänomenologische Reflexion der Reflexionen. Reflexionen, unabhängig von einem historischen Anschlusssuchen an ›klassische‹ erkenntnis- und gel­ tungstheoretische Fragen und Antworten, oder an diese oder jene gegenwärtig hoch im Kurs stehenden ›Philosophien‹. – Und so schauen wir weiter selbst hin und unserem Philosophie­ ren zu. So haben wir existenz-phänomenologisches Philosophieren auch eingeführt. Als ein systematisches Philosophieren. Eines bleibt in jedem Fall in unserem philosophierenden Blick. Mag man auch an diesem oder jenem zu zweifeln in der Lage sein. Diese existenzphänomenologischen Reflexionen sind Leistungen bewusst ›gelebter‹ Einstellung; eingeführt und gerechtfertigt als aufmerken auf die Gestaltung der Leistungen der Konstitution unseres wirklichen Weltund Selbst-Verständnisses. Das benennt auch die ›wirkliche Ort­ schaft‹ jeden Philosophierens. Dabei könne sich systematisch Selbst­ reflektierenden eines nicht entgehen: das ontologisch und erkennt­ nistheoretisch in ›Geschichten verstrickt‹ sein. (Wilhelm Schapp). Dies umfasse unabhängig von (traditioneller) geltungstheoretischer Perspektive, auch existentielle Akte leibhaft sinnlichen Wahrneh­ mens, der Gestaltung des Reflektierens selbst, und schließlich uns

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11.3. Zwei Perspektiven

als uns Selbst-Wahrnehmende, als existentiell Reflektierende dieser ›Texte‹ unseres So-in-der-Welt-Seins. Die Erfahrung also, dass jede für Mensch überhaupt mögliche Sinnstiftung, wirklich immer als Leisten eines wirklichen In-der-Welt-Sein reflektiere; unabhängig von Inhalt und dem ›vorgestellten Selbst- und Weltverständnis‹. Selbst, beispielsweise, ein religiöser Mensch, der sich ganz und gar von seinem ihm sich offenbarenden Gott getragen erlebt‘, bleibt als ›Hörer des Wortes‹ (Karl Rahner) im Horizont seiner selbst konstitu­ ierten Möglichkeiten. Das rückt die, oft fraglos als selbstverständlich hingenommenen, für das existentielle Philosophieren aber herausfor­ dernden Verstrickungen in unsere (und mit unseren) ›Geschichten‹ in den Blick.472 Einschließlich wiederum unseres phänomenologischen Hinschauen auf die Reflexionen unseres wirklichen So-in-der-WeltSeins. Bis hierher werden wir sicher ›im Grunde‹ (vielleicht auch nur: cum grano salis) philosophisch übereinkommen können. - Nun aber einige Schritte weiter. Wohin man sich, immer mit Blick auf sich selbst als So-Da-Sein, dann auch hinwende, es bleibt etwas von mir ›Konstituiertes‹. Aber nun scheinen sich Spannungen, Widersprüche sogar Unvereinbarkeiten einstellen. Ich, der so und so (etwa an etwas ›objektiv‹) Interessierte, oder sich als gewiss Reflektierende, dies oder das Glaubende, oder mit dem oder jenem, mit dieser oder jener Absicht Handelnde; oder sich selbst all diese Möglichkeiten methodisch wissenschaftlich vorführe; oder vielleicht auch streng vernünftig (transzendental) zu philosophieren versuche, – immer bleibe ›ich‹ ein- und rückgebunden in unsere, so oder so vorgestell­ ten und reflektierten lebensweltlichen Horizonte. Ich bin es immer selbst als wesentlich wirkliches Da-und-So-in-der-Welt-Sein. Und das theoretisch und praktisch. Gleich ob wirklicher Mensch dieses sein oder unser So-in-der-Welt-Sein psychologisch, tiefenpsychologisch, 472 Dazu, treffend, wie so oft, Jean Paul: »Nichts wird überhaupt öfter vergessen als das was vergisset, das Ich. Nicht bloß die mechanischen Arbeiten der Handwerker ziehen den Menschen ewig aus sich heraus: sondern auch die Anstrengungen des Forschens machen den Gelehrten und den Philosophen ebenso taub und blind gegen sein Er und dessen Stand unter den Wesen; ja noch tauber und blinder. (…) Ich habe oft ganze Bücher über das Ich und ganze Bücherüber die Buchdruckkunst durchgelesen, eh´ ich zuletzt mit Erstaunen ersah, dass das Ich und die Buchstaben ja eben vor mir sitzen. – Der Leser sei aufrichtig: hat er nicht sogar jetzo, da ich darüber zanke, vergessen, dass er hier Buchstaben vor sich hat und sein Ich dazu?« (Siebenkäs/Flegeljahre I. Werke. Band 3. München. Wien 1975. S 138)

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soziologisch oder auch philosophisch in den Blick zu rücken, zu begreifen sich anschicke. Man versuche doch einmal sich-selbst und seine Welt-Habe davon losgelöst zu reflektieren. So sich zu reflektie­ ren ist auch noch auf dem zweiten Blick, eine staunenswerte Leistung. Zeichnen wir es möglichst einfach nach. Wir erfahren die Ordnung der Reflexion unseres So-Da-Seins als existentiell beunruhigend. ›Dissoziiert-sein-können‹ (als unsere Leistung) und doch wesentlich rückgekoppelt bleiben in unser wirkliches So-in-der-Welt-Sein. Eine gelebte Selbstverständlichkeit; schon für alltägliches Verstehen oder Missverstehen. Und so ist jede überhaupt mögliche Reflexion auch philosophisch nur mit unseren lebensweltlichen Kontexten versteh­ bar und begreifbar. Auch philosophische Ideen wie Absolut-, Unbe­ dingt-sein, und ähnliches, davon nicht ausgenommen. Welt-Habe und Selbst-Sein sind auch erkenntnistheoretisch und ontologisch da mit unseren ›Geschichten. Wir sprechen also nicht von einem idealis­ tisch vorgestellten ›absoluten Ich‹. – Man denke beispielweise (als Illustration) an die unbestreitbar differenziert-konstruierten ›Anthro­ pologien‹ S. Freuds oder C. G. Jungs.473 Ineinander-gefaltetes, auf­ einander-verweisendes erzähltes Welt- und Selbstverständnis. Selbst Krank- und Gesund-sein präsentieren sich (mit allen therapeutischen Herausforderungen) als ›wirkliche Geschichten‹. Das sind phänome­ nologische Erfahrungen der Reflexion eines ›Ich-bin-So-da‹. Mensch ist wirklich ›eingefaltet‹ in diese und jene ›Geschichten seiner, unserer Wirklichkeit‹. Da-und-So-Sein wird erlebt, erleidet, wird reflektiert, erzählt und aufgehoben; wird verstanden oder missverstanden. Wie nun aber mit diesen Erfahrungen umgehen? Sie philoso­ phisch letztmöglich zurechtlegen? Das ist keineswegs entschieden. Unterschiedlichste, sich auch widersprechende, erkenntnistheoreti­ sche, ontologische, anthropologische Vorlagen werden angeboten. Das macht dieses sowieso schwer zu fassende nicht einfacher. In einem werden auch unterschiedliche Perspektiven aber überein­ stimmen. So-Da-Sein gestaltet, erfährt, reflektiert sich wirklich als Auch bei Karl Mannheim. Er fordert eine »soziologisch fundierte Psychologie«. »Die menschliche Seele verändert sich nicht von sich aus, sondern vernünftigerweise nur von der Situation her (wobei selbstverständlich bestimmte Situationen, wie z. B. die Familiensituation, ein besonders Schwergewicht erhalten können). Aber auch die ökonomischen und sozialen Strukturen verändern sich nicht von selbst. Man kann keine neue Wirtschaftsordnung zustande bringen, solange sich nicht auch der entsprechende neue Menschentyp entwickelt.« (Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus. Darmstadt 1958. S 239) 473

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11.3. Zwei Perspektiven

gelebte, das sind, erzählte, erinnerte, auch erträumt oder phantasierte ›Geschichten‹. Nicht einmal für sich selbst kann es sich anders (irgendwie ›wesentlicher‹, vielleicht ›inniger‹) präsentieren. Das sind, mit einem treffenden Wort ›unsere wirklichen Lebens-Geschichten‹. Form und Material der willkürlichen und unwillkürlichen Ordnung unseres In-der-Welt-Seins. Das bin-ich! So sind-wir wirklich! – Praktisch ist das für uns alles andere als ein ruhiger, kausal geordneter, vernünftig getakteter Lebens-Fluss. Ein ‚ordentlicher Text‘. Sondern als wirklich gelebtes Leben (auch) ein nebeneinander, ineinander verfließen, oder ein sich widersprechen; aber auch umgekehrt sich da und dort stützend, aufeinander aufbauend, ein als konsistent erfahren, oder auch es theoretisch-gewaltsam sich zurechtlegen, konstruieren, passend machen. Gleich ob man sich dem Schicksal ausgeliefert fühle, dem Walten eines Gottes anvertraue, oder sich als Herr seines Lebens vermeint, in einem kommen alle ‚Geschichten‘ überein. Die ›Wirklichkeit‹ je eigenen In-der-Welt-Seins, das was man gemeinhin ›Identität‹ (›das Selbst‹) nennt, bleibt ungefährdet. Die psychiatrischen Ausnahmen bestätigen hier tatsächlich die Regel. Vor jeden nachträglichen theoretischen, psychologischen, philosophi­ schen, oder auch theologischen Versuchen, diese gespannte Vielfältig­ keit unseres Lebens ‚kausal‘ zurechtzulegen, in ‚Ordnung zu bringen‘, vernünftig zu erklären, leben wir es praktisch mit allen Irrnissen und Wirrnissen. Das scheint Mensch, mit mehr oder weniger Anstren­ gung, auch zu gelingen. (Wobei selbst aus dem Leben freiwillig zu scheiden, ein, zwar ›schmerzhafter‹, aber ›gelungener‹ Abschluss sein könne.) Eine Leistung, die eigens auch philosophisch in den Blick zu rücken wäre. Wobei dieses sich-selbst-erfahren durchaus wortwörtlich zu lesen ist. Existenz-phänomenologisch vorgestellt als ›sich-erfahrenerfahren‹. Diese wesentlich wirkliche, vergessen wir es nicht, immer auch ›leibhafte Wirklichkeit‹ eines Menschen, konstituiert (entfaltet, reflektiert) sich selbst-selbst-verständlich als Werden. Überhaupt jedes ›erfahren-können‹ gestaltet sich ausschließlich mit Blick auf sich selbst. Die bekannten (verschieden variiert) Heraklitischen Bilder zeichnen durchaus treffend; und sind trotzdem für phänomenolo­ gische Vorstellung unseres wesentlich wirklichen Selbst-Sein und unsere Welt-Habe nicht ausreichend. Das behalten wir im Blick; und lassen uns darin nicht mehr beirren. Die wirkliche und wesentliche Wirklichkeit des Menschen als Da-und-So-Sein, könne niemals durch transzendentale Reflexion in eine vernünftig absolute Form eingefügt,

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erkenntnistheoretisch abstrakt auf den Begriff gebracht und so in unbedingte Geltung gesetzt werden. Schau hin ohne deinen Blick durch Tradition einengen zu lassen. Schau hin auf deine alltäglichen Erfahrungen unserer Welt- und Selbst-Ordnungen; auf wirkliche Welt- und Selbst-Habe; auf unser wirkliches So-in-der-Welt-Sein, das uns bis in die abstrakten Konstruktionen der Wissenschaften, der metaphysischen oder transzendentalen Spekulationen neuzeitlichen Philosophierens hinein begleitet und reflektiert. Das sind die wirkli­ chen Erfahrungen, die uns in jedem überhaupt denkbaren Fall, in unserer wirklichen Wirklichkeit halten. Jeder Gedanke bleibt Leistung eines wirklichen Da-und-So-Seins. – Das bedeute zu Ende gedacht, so Husserl, die für uns ›Abend­ länder‘ schicksalhafte Destruktion philosophischer Ideen.474 Man denke an (nicht nur philosophische) Grundbegriffe wie ‚Geltung‘; ›Wahrheit‹; ›Sinn‹. Eine schließlich auch praktische Gefährdung der Grund-Ordnung unseres In-der-Welt-Seins durch Relativismus als Folge von Psychologismus, Soziologismus, Biologismus; kurzum, ein theoretisches und praktisches Versinken in Relativismus und Skepti­ zismus. - Existenz-phänomenologisches Philosophieren denkt sich weder relativistisch noch weniger skeptisch. Es bestimmt vielmehr die Leistungen philosophischer Reflexionen selbst als positiv und gel­ tungssicher. Sie werden mit existenz-phänomenologischem Philoso­ phieren letztmöglich verwirklicht. - Eröffnet wird, ohne jede spekula­ tiven Verrenkungen, die Möglichkeiten für existentielle Reflexion der Reflexionen der Literatur; der Kunst; der Wissenschaften; und nicht zuletzt (als Voraussetzung dafür) der Philosophie, des Philosophie­ rens selbst. Selbstverständlich immer einschließlich existenz-phäno­ menologischer reflexiver Reflexion dieser Reflexionen. Reflexionen, die Mensch als sich vielfältig reflektieren könnendes Da-und-So-Sein auch ›geltungspraktisch‹ vorstellen. Existentielles Philosophieren wird phänomenologisch grundgelegt mit Blick auf sich selbst. – Das verändert die Sicht auf unsere Wahrnehmungen, Perspektiven, unsere Vorstellungen und Einstellungen. Wir reflektieren uns immer entlang (willkürlicher und unwillkürlicher) intentionaler Gestaltung von Welt-Habe und Selbst-Sein. – Denken wir (als Illustration) an »Die eigentlichen Geisteskämpfe des europäischen Menschentums als solchen spielen sich als Kämpfe der Philosophien ab, nämlich zwischen des skeptischen Philo­ sophien – oder vielmehr Unphilosophien, die nur das Wort, nicht aber die Aufgabe behalten haben – und den wirklichen, och lebendigen Philosophien.« (Hua. VI. S 13) 474

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Kunst, Literatur, und im Besonderen an Lyrik. Existenz-phänomeno­ logisch sind diese Reflexionen für strenges Philosophieren kaum zu überschätzen. Aber nach wie vor wird der Kunst, der Literatur, Lyrik und der Musik im Besonderen, wie selbstverständlich ›ästhetischer Genuss‹ (ein ästhetisches Erlebnis) zugeschrieben; die Funktion, Muße und ablenkende Entspannung, wohltuende, oder interessante, oder vielleicht auch (irgendwie) aufbauende, sogar erhebende Erfah­ rungen bereitzustellen. Eine ›Nische‹ für die moderne, aufreibende, triviale Arbeits- und Leistungsgesellschaft ›einzurichten‹. So könne man, modisch in Szene gesetzt von ‚Wellness für die geplagte Seele‘ sprechen. Kleine Fluchten. Erholungspausen, die wahrhaftig nieman­ den wehtun. – Nicht als ob diese Erfahrungen von uns als grundfalsch, als uneigentlich, als ›bürgerlicher Missbrauch‹ der Kunst diffamiert werden sollen. Wer sind wir, dass wir Menschen diese Perspektive absprechen könnten. - Schauen wir weiter nur auf unser eigenes Schauen und entfalten unsere Reflexion. Kunst-Werke sind phäno­ menologisch ›Reflexionen‹. Als was immer sie sonst noch gelten, wie man sie bewertet, als was immer sie einem Kunstinteressierten gel­ ten. Sie werden existenz-phänomenologisch gelesen als Reflexionen herausfordernd gespannten Da-und-So-Seins. Die Kunstschaffenden und die Kunstwahrnehmenden mögen darauf achten oder nicht. Kunst-Werke sind (sowohl von da und dort) Gestaltungen der Erfah­ rungen irritierten und perturbierten In-der-Welt-Seins. Sind also mögliche ›ästhetische‹ Reflexionen, die phänomenologisch reflek­ tiert, eine existentiell-radikale Vorstellung von diesen Möglichkeiten der Reflexionen als Reflexionen erst möglich machen. Einschließlich wiederum der Reflexionen dieses Philosophieren selbst.475. Auf diese auch unser Philosophieren ausrichtenden ›ästhetischen Reflexionen‹ werden wir noch ausführlicher zurückkommen. (Dass Literatur auch aus dieser existentiellen Perspektive, praktisch eine bewegende poli­ tische, gesellschaftliche und soziale Bedeutung habe, braucht sicher nicht eigens hervorgehoben werden. Damit wird sich hinreichend auseinandergesetzt.) –Vgl. dazu Ernst Cassirer: »Eine nahe Beziehung zwischen den Grundfragen der systematischen Philosophie und den Grundfragen der literarischen Kritik hatte seit jeher bestanden, und seit der Erneuerung des philosophischen Geistes, seit der Renaissance, die eine Renaissance der ›Künste und Wissenschaften‹ sein will, führt diese Beziehung zu einer unmittelbaren und lebendigen Wechselwirkung, zu einem ständigen Geben und Nehmen von beiden Seiten her.« (Die Philosophie der Aufklärung. Gesammelte Werke Bd. 15. Hamburg 2003. S 288) 475

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Zurück zu unseren Ausgangsfragen. – Das sollte auch innerhalb der neuzeitlichen Philosophie kaum mehr heftigen Widerspruch her­ vorrufen. Mensch als In-der-Welt-Sein reflektiere sich selbst nie anders als in Geschichte und mit Geschichten. Eine sehr allgemein gehaltene Vorstellung. Damit anschlussfähig an unterschiedlichste Positionen. Sie könne zumindest entsprechend passend ›gemacht‹ werden. Nun aber eröffnete sich phänomenologisch geschaut, eine weitere Perspektive. Es drängt sich Mensch, mit nicht nachlassender Hartnäckigkeit, ein exklusives, scheinbar unerschütterliches SelbstVerständnis auf; ein Dasein hinter all diesen (seinen und unseren) ›Erzählungen‹. Eine, so wird es als selbstverständlich gelebt, wesent­ lich in sich ruhende Identität. Ein bleibendes Selbstsein, das unbe­ rührt von dem biographisch ablesbaren, wechselhaften Schicksal, den historischen Ungewissheiten, den jeweiligen Lagen der Welt, der sozialen und gesellschaftlichen Umstände, sich seiner selbst als unbedingt gewiss glaubt. Eine, so mag es scheinen, unbedingte Selbst-Erfahrung. Eine so starkes Selbst-Sein, das es nicht zuzulassen scheine, sich nicht zu denken. Sich als nicht-da zu denken versuchen, führte zu einem sich selbst widersprechen. Dieses immer als Da-Sein bestimmte Selbst-Wahrnehmen, das von dort her geordnete und dort fundierte Denken und Handeln eines Menschen, tragen ihn, (psy­ chopathologische Ausnahmen bestätigen die Regel) auch praktisch durch die Zeit. Ich bin es selbst! Ich war es selbst! Ich werde es solange ich lebe selbst sein! Erlebte Veränderungen (beispielsweise) des eigenen Körpers, der Um-Welt, oder auch der Wechsel jeweiliger Einstellungen (in meiner Studentenzeit habe ich dies ganz anders gesehen), oder des Denkens (meine analytischen Fähigkeiten haben stark nachgelassen); sogar radikal erlebte Umbrüche erinnerten Inder-Welt-Seins, (ein Trauma hat einen großen Teil meiner Erinnerun­ gen gelöscht; oder, ich habe mich über mich selbst ein Leben lang getäuscht), können daran nichts ändern. Sind sozusagen dem ›Sein‹ des Menschen ›selbst-selbstverständlich‹. (Zumindest diese Identität könne wohl auch Gregor Samsa nicht abgesprochen werden.) Das hat neuzeitliches Philosophieren im Besonderen interes­ siert. Ob man diese zuerst und zumeist ›naive Selbstgewissheit‹ phi­ losophisch (erkenntnistheoretisch; metaphysisch) allgemein zurecht­ legen, wissenschaftlich begreifen, vielleicht sogar für die unbedingte Grundlegung des transzendentalen Selbstverständnis unser So-DaSein geltungssicher entfalten könne? – In jedem Fall bestünde hier für uns die Möglichkeit endlich Anschluss zu suchen an eine (im wei­

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11.3. Zwei Perspektiven

testen Sinne) idealistische Tradition. Dieses uns doch auch tragende, unser existentielles Philosophieren ausrichtende Selbstbewusstsein philosophisch methodisch praktisch und theoretisch unseren Refle­ xionen zugrunde zu legen; und existenz-phänomenologisch weiter zu entfalten. Also sich letztendlich-unbedingt einzustellen auf die, die Neuzeit tragende Formel: ›Ich denke, Ich bin‹. Zunächst unab­ hängig davon, wie mit dieser Einsicht selbst umzugehen sei, was daraus für weiteres existentielles Selbst-Verständnis, unser reflektier­ tes Welt- und Selbstsein gefolgert werde, stellt dieser ›Gedanke‹ zweifelsfrei auch phänomenologisch das nicht weiter hinter-denkbare Fundament. Viele Generationen Philosophierender haben auf diese Grund-Einsicht ihr Philosophieren gebaut. Und ist dies nicht auch der Weg, den ›der Meister‹ (Husserl) selbst eingeschlagen habe. – Das sind, kaum zu leugnen, auch für uns philosophische Möglichkeiten. Aber nicht weniger auch existenz-phänomenologische Herausforde­ rungen!476 Gerade hier braucht es unseren phänomenologischen Stab und Stecken: von Anfang an systematisch selbst Schauen-Schauen. Das ist Schauen auf Gestalt und Gestaltung unserer wirklichen und wesentlichen Welt-Selbst-Selbst-Erfahrung. Das stellt die Erfüllung des existentiell zurechtgelegten phänomenologischen ›Prinzip aller Prinzipien‹. Die Geltungsansprüche der in der Gegenwartsliteratur reichlich vorhandenen psychologischen, soziologischen und philoso­ phischen Vorstellungen bleiben weiter eingeklammert. Wie evident auch immer das vorgelegte auch persönlich scheinen mag. Das ist phänomenologisch streng Philosophieren entlang existentieller Inten­ tionalität unseres selbst-selbstgeschauten wesentlich wirklichen Daund-So-in-der-Welt-Seins. Ich-selbst und die mir zustehende Welt-Habe werden phänome­ nologisch vorgestellt als existentielles Korrelat; mein So-Sein bleibe notwendig eingefaltet in unsere Welt. Gewissheiten, die schon vor jeder wissenschaftlichen und philosophischen Reflexion praktisch 476 Die selbstverständlich, und es kann gar nicht anders sein, sich auch außerhalb phänomenologischer Perspektive aufdrängen. Beispielsweise Jürgen Rausch. »Die exzeptionelle Reflexivität in den Bewusstseinsbewegungen (und nicht nur dort) des Homo sapiens scheint die Erkenntnis des eigenen Wesens zu erlauben, allein die Verquickung des erkennenden Menschen mit dem zu erkennenden Menschen einerseits und der Verwicklung der Theorie in eine vorgegebene und nachwirkende Praxis andererseits stellen alle Erwartungen an eine objektive Selbsterkenntnis wieder in Frage.« (Anthropologie zwischen Ideologie und Dialektik. In: Scheidewege. Viertel­ jahrschrift für skeptisches Denken. Heft 4. 1977. S 483)

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11. Interpersonale Perspektive der ›Transzendenz‹

gelebt werden vertraute Geschichten. Geschichten von uns und unse­ rer Welt. Es sind unsere Leistungen. Leistungen, die sich vorstellen beispielsweise als ›wahrnehmen‹, ›sich erinnern‹, ›erzählen‹, und ›reflektieren‹. Das stellt den (zumeist unwillkürlich) gelebten Hori­ zont für unser Selbst-Sein und jede überhaupt mögliche Welt-Habe. Die Bedingung für wirkliches und wirklich mögliches So-in-derWelt-Sein. Ich erfahre mich selbst so und werde von anderen so erfahren; und erfahre so die Anderen (als die für mich anderen); in jedem Fall sind wir uns präsent als wirkliches So-in-der-Welt-Sein. Auch Illusion, uns trügerisch Scheinendes, das Zweifellhafte, ist da als ›etwas‹ von dort her bestimmtes. Selbst theoretische Versuche an der Wirklichkeit unserer Welt-Habe und unseres Selbst-Seins zu zweifeln, spielen in diesem (immer schon) vorgestellten Horizont; setzen ihn voraus. ›Ich lebe‹ zuerst und zumeist nie anders als mit diesem Blick auf mich selbst und unsere Welt. Praktisch von uns zwar alltäglich gelebt, philosophisch aber ist es nicht leicht auf einen Begriff zu bringen. Phänomenologisch reflektiert fächern sich die, aus der ›Wissenschaftsgeschichte‹ dazu uns vorgestellten philosophischen und wissenschaftlichen Theorien weiter auf. Zunächst scheint für reflektiertes So-Da-Sein tatsächlich eines offensichtlich zu sein. Ich-bin für mich da als ›Subjekt‹ und zugleich auch als ›Objekt‹. Das sind Perspektiven, die sich bedingen. Die gesamte abendländische Tradition der Philosophie stehe doch dafür ein. Dann müsse diese Zusammenstellung, so die Schlussfolge­ rung, auch die erkenntnistheoretische und ontologische Grund-Ord­ nung unserer ›konstituierenden Geschichten‹ leisten. Man könne sogar vernachlässigen, ob das ›Subjekt‹ dieses erzählten Selbstver­ ständnisses philosophisch eine Illusion sei, nur ein ›ontologischer Nebelschwaden‹ (N. Luhmann); oder neurobiologisch eine ›trickrei­ che Illusion‹ der Großhirnrinde. Und auch auf was hin diese sich so vorstellende Subjekt-Objekt-Perspektive wirklich letztendlich zuge­ ordnet werden müsse. ›Bin-Ich-selbst‹ ontologisch wesentlich ›dieses‹ oder ›jenes‹; oder, entwirft es (!) sich bloß erkenntnistheoretisch nach praktisch, pragmatisch gesetzter Perspektive. Wäre also diese Vorstel­ lung ›Ich‹ zu sein, für sich selbst (als Subjekt oder Objekt) präsent sein zu können, wirklich eine Art (gestaltpsychologischer) ›Kippfigur‹; oder ›Vexierbild‹. - Oder ist es im Grunde ein davon ontologisch oder metaphysisch drittes; ein ›Jenseits‹ dieser ableitbaren Funktionen. Stellen wir dies vorläufig noch zurück. Und setzen es als Möglichkei­ ten unserer Reflexionen in die phänomenologische Klammer.

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11.3. Zwei Perspektiven

Daran zweifeln wir nicht mehr. Die phänomenologische Refle­ xion der Reflexionen unseres So-in-der-Welt-Seins eröffnete philo­ sophisch eine existentiell Perspektive. Nämlich die Möglichkeit hin­ schauen zu können auf unser wirkliches und wesentliches Selbst-Sein und unsere, davon nicht zu lösende Welt-Habe. Diese existentielle Reflexion reflektiert als reflexive Reflexion sich als überhaupt letzt­ möglichen Bezugspunkt für unser Philosophieren. Und stellt damit auch die ›philosophische Ortschaft‹ (als Reflexion der Reflexionen) für neuzeitliche Wissenschaft, Kunst und Theologie. – Was sagt das erkenntnistheoretisch, ontologisch, metaphysisch über uns selbst und unser Vermögen So-Da-Sein zu können und müssen? Zumindest das immer ich es selbst bin, und wir es selbst sind; und es unsere Welt-Habe ist von der wir erzählen (zu erzählen wissen); dass dies unsere wirkliche Wirklichkeiten sind, die sich uns so aufdrängen. Unsere Wirklichkeiten sind also als das von uns ›so oder so gemeinte‹. - Das verbleibt philosophisch nicht mehr innerhalb der Horizonte neuzeitlich erkenntnistheoretischer Fragen. Sondern von dort her, und daraufhin geben wir uns wie selbstverständlich unsere existen­ tielle Bedeutung (›so ist meine Welt und Ich‹); und räumen dabei entlang der Reflexion intentionaler Gestaltung praktisch ›Sinn‹ für uns ein. – Dieser so konstituierte Horizont unseres Da-und-So-inder-Welt-Sein umfasst deine, meine, unsere Möglichkeiten. Also das was man etwas unbestimmt und abstrakt unser ›sein‹ und ›werden‹ nennen mag. Ein Hinweis auch auf die fundamental zeitliche Gestalt und Gestaltung unseres So-Daseins. Hierher gehören, um ein besonders vertracktes Thema noch zu nennen, die phänomenologisch nach wie vor nicht abgegoltenen Fragen der Inter-Personalität. Beispielsweise schon die philosophisch nicht einfach zu fassende Wahrnehmung der (des) Anderen. Wie und als was tritt beispielsweise ein Du (als ein anderes Ich) in meinen Blick? Denken wir in diesem Zusammenhang an vertraut scheinendes oder befremdendes, oder auch verstörendes miteinander. Oder wenn ich glaube, ›deine‹ Rede, ›dein‹ Verhalten verstanden zu haben. Sogar mich in deine Situation ›versetzen‹ zu können. Und sei es nur die alltäglich vertraute Frage: wie hätte ich mich in deiner Lage verhalten‘? Auch das gehört zu unserem als selbstverständlich wahrgenommenen Miteinander: sich fragen, als was und wie nimmt ein Anderer mich wahr? Oder auch, und darüber hinaus, wie möchte ich Anderen erscheinen; von diesem oder jenem vorgestellt sein? Bemerkenswert dabei, dass Mensch sich in allen denkbaren Lagen als auf ›andere‹

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ausgerichtet erlebt. Dann noch, und nicht zuletzt, und vielleicht noch verwirrender, was nehme ich von mir selbst wirklich wahr; und was möchte ich von mir selbst in unserer Welt überhaupt wahrnehmen? – Zusammengefasst und etwas weiterentfaltet. – Das sehen wir selbst. Was immer ich von mir, von uns zurechtlege, oder als unsere Wirklichkeit mehr oder weniger gedankenlos lebe, ich bin für mich da, als So-in-der-Welt-Sein. Bin mir selbst und anderen nie anders präsent als Vorstellung von ›Geschichten‹. Und stehe auch als fak­ tisch Raum- und Zeitübergreifendes So-Da-Sein (ich nehme mich wahr, ich denke, reflektiere, fühle mich; u. ä.) nie außerhalb dieser Wirklichkeit; dieses durch Welt- und Selbst-Geschichten konstituier­ ten Horizont.477 Selbst noch das ‚jedermann‘ (zumindest hintergrün­ dig immer) begleitende Wissen, ich werde eines Tages nicht mehr sein, oder (geradezu umgekehrt) dieser philosophisch anspruchsvolle Gedanke, mich meiner selbst als Geltung-bestimmendes, Geltungsicherndes, als unbedingt transzendentales Subjekt einführen kön­ nen, bleiben eingesponnen und begreifen sich als von uns erzählte ›Geschichten‹. -

11.4. Unsere Geschichten Eines sollte hier keiner weiten Ausführungen mehr bedürfen. Exis­ tenz-phänomenologische Reflexionen gliedern sich nicht ein in diese oder jene der Versuche einer psychologischen ›Typenlehre des Men­ schen‹; genauso wenig wie in irgendeines der bekannten ›anthropo­ logisches Ordnungssystem‹. Das betrifft nicht nur jene Theorien, die man als ›Naturalismus‹, oder ›Biologismus‹ zusammenfassen könnte; sondern auch sogenannte geisteswissenschaftlich orientierte 477 Aus der Perspektive einer ›Psychologie der Persönlichkeit‹. Beispielsweise Hans Thomae. Individualität erscheine »nicht als eine fixierte, primär durch endogene Fakto­ ren bestimmte Größe. Sondern als System von Vorgängen, in denen ein ›weltoffenes‹, d. h. ein sowohl der Gegenwart wie der Zukunft und Vergangenheit erschlossenes Wesen jeweils seinen Ort sucht.« (Das Individuum und seine Welt. Eine Persön­ lichkeitstheorie. Göttingen 1968. S 585); oder auch (der Dilthey-Schüler) Eduard Spranger. »Indem ich also das Subjekt mit seinem Erleben und Gestalten in die Gebilde der geschichtlichen und gesellschaftlichen Geisteswelt verflochten denke, befreie ich es schon aus der Einsamkeit und Inselhaftigkeit bloßer Ichzustände und setze es in Beziehung zu gegenständlichen Gebilden oder Objektivitäten.« (Lebensformen. Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persönlichkeit. (hier) München. Hamburg 1965. S 3)

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11.4. Unsere Geschichten

Entwürfe; also diese Vorstellungen, die Mensch-sein durchaus ganz­ heitlich zu verstehen beanspruchen. Die, so sollte man meinen, existentiellen Reflexionen doch entsprechen zu scheinen. All diese Entwürfe setzen die existentielle Reflexion des Menschen als wirk­ liches Da-und-So-in-der-Welt-Sein stillschweigend immer schon voraus. In unseren Blick rücken wir dieses sich so-vorstellen (kön­ nen) als ›Reflexionen‹, die es existenz-phänomenologisch zu reflek­ tieren gelte. Wir erfahren uns phänomenologisch mit und durch unsere gelebten Geschichten. Geschichten, die, soweit wir auch zu schauen versuchen, wiederum an Geschichten angrenzen, sich anschließen oder sich dem widersetzen; in jedem Fall aber wieder einmünden in Geschichten; und selbst, wenn nötig, durch Geschichten erläutert, verstanden, begriffen werden. Geschichten, die also (auch wissen­ schaftlich), eingebettet bleiben in horizontal und vertikal geordnete Geschichten. Geschichten, die dann beispielsweise als Biographie, oder als Geschichte selektiv und linear gefügt, dicht zusammenge­ fasst werden.478 Entsprechend einer ›Logik‹ der Geschichten der Geschichten. Gleich ob wir uns erkenntnistheoretisch, ontologisch, ästhetisch, theologisch zu begreifen suchen, es sind Geschichten und immer wieder Geschichten. Nur so reflektiert sich theoretisch und praktisch unser wirkliches und wesentliches Da-und-So-in-der-WeltSein. Das was ‚Ich‘ wie auch immer wahrnehme, sich mir vorstellt (als gewiss oder zweifelhaft; klar und deutlich oder bloß vermeint), sogar sich unmittelbar aufdränge, oder ich ›ausdrücklich‹ in meinen Blick rücke; oder unser Phantasieren, Glauben, sich theoretisch oder praktisch etwas vorführen, begreifen, reflektieren, (einschließlich wir uns selbst), sind ›Geschichten‹. Geschichten, nicht nur von diesem oder jenem unmittelbar Wahrgenommenen; sondern allgemein und abstrakt von der Welt, unserem Selbst, dem Sinn, der Wahrheit, dem Gott. Das sind zugleich auch Vorstellungen unserer konstitutiven Dazu W. Dilthey: »Die Selbstbiographie ist die höchste und am meisten instruk­ tive Form, in welcher uns das Verstehen des Lebensentgegentritt. Hier ist ein Lebens­ lauf das Äußere, sinnlich Erscheinende. Von welchem aus das Verstehen zu dem vordringt, was diesen Lebenslauf innerhalb eines bestimmten Milieus hervorgebracht hat. (246) Und hier nähern wir uns nun den Wurzeln alles geschichtlichen Auffas­ sens. Die Selbstbiographie ist nur die zu schriftstellerischem Ausdruck gebrachte Selbstbesinnung des Menschen über seinen Lebensverlauf. (…) Die Macht und Breite des eigenen Lebens, die Energie der Besinnung über dasselbe ist die Grundlage des geschichtlichen Sehens.« (247) (Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. (Hier) Frankfurt/M 1981) 478

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Potenz des Welt-Haben und Selbst-Sein. In unseren Blick gerückt als philosophische Geschichten über unsere existentiell konstitutiven Möglichkeiten ›Welt-Haben‹ und ›Selbst-Sein‹ reflektieren zu kön­ nen. Man sollte meinen, kein ontologischer, erkenntnistheoretischer, oder anthropologischer Entwurf könne daran vorbeidenken. Das müsse in jedem Fall als vorausgesetzt erlebt werden; Bedingung auch um überhaupt wissenschaftlich-theoretische Erfahrungen praktisch vorzustellen und (für den Wissenschaftstreibenden selbst) in Stellung zu bringen. Wir bleiben also in jedem Falle im Horizont von Geschichten. Daran richten wir uns weiter aus. – Dass wir von hier aus auch auf die existentielle Grundordnung unserer ›Zeitlichkeit‹ stoßen, konnte nicht verborgen bleiben. Wir können mit Blick auf uns selbst eines nicht übersehen. Gleich wie Mensch sein In-der-Welt-Sein lebt, einrichtet und ordnet, nie ist sein, wie man sagt, ›persönliches‹ Weltund Selbstverständnis ausschließlich seine, im ganz und gar beliebige zustehende ›individuelle Sache‹, ausschließlich seine ganz und gar ›private‹ Geschichte. Etwa ausschließlich nur Material seiner persön­ lichen Willkür‘. Mag er sich dabei als ›Außenseiter‹, ›Randständiger‹, ›Einzelgänger‹, ›Entwurzelter‹, gar als ›Einzelkämpfer‹ begreifen und mit diesem Verständnis sich zu ordnen und rücksichtslos ›für sich‹ (›privare‹) zu leben versuchen. (»Ich mach mein Ding egal, was die anderen labern. Was die Schwachmaten so raten, das ist egal.«/Udo Lindenberg) In keinem Fall, weder theoretisch noch praktisch kann Mensch als wirkliches und wesentliches Da-und-So-Sein, aus ihm ›vorgegebenen‹ Sinn-Gestalten unseres (zeitlich gefügten, interper­ sonal geordneten) In-der-Welt-Seins herausfallen. Schon allein dass selbst ›privateste‹ Vorstellungen als ›Geschichten‹ verstanden, auch ›begriffen‹ und in unsere Ordnungsvorstellungen eingestellt werden können (etwa: ›er lebt ganz für sich allein‹; ›das ist sein individueller Lebensstil‹; vielleicht auch, ›das ist seine Sache‹; oder ›der spinnt doch‹; oder, ›das ist asozial‹), verweist auch praktisch über Denken und Handeln eines ›einzelnen Menschen‘ hinaus. Dass hierher wiede­ rum auch ›Missverstehen‹ gehört, kann wahrhaftig nicht verwundern. Auch Missverstehen ordnen wir phänomenologisch dem uns Verste­ hen-können zu. (Ob Mensch, die Frage drängt sich auf, überhaupt als ›atomos‹ angesprochen werden dürfe?) Zusammengefasst und schon etwas weiter entfaltet. So-Da-Sein stellt als ›wir-sein‹ die unbedingte Grund-Voraussetzung, dass Han­ deln und Verhalten, Denken und Gedanken, Form und Gestaltung,

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des einen, dem anderen grundsätzlich zugänglich sind und bleiben; verstanden, erzählt werden können.479 Mag auch der andere und sein sich ›geben‹, mir, abgehoben, befremdend, bizarr, dunkel, sogar irr­ sinnig scheinen, gar nichts mit ›meinen‹ Verhältnissen, meinen Wert­ vorstellungen, meinen Welt- und Selbstverständnis zu tun haben. Unter keinen Umständen fällt er aus unserem Horizont gemeinsamen In-der-Welt-Seins; unserem uns im Grunde verstehen können. (An keiner Stelle gelingt es beispielsweise Stanislaw Lem oder H. P. Lovecraft oder Edgar Allan Poe uns aus unserem ›Bildverständnis‹ herauszuführen.) Schon allein, dass ›Sprache‹ Möglichkeiten bereit­ stellt jeden von uns denkbaren Gedanken vorzustellen, begreifen und erzählen zu können. (Ich verstehe sogar etwas, das ich nicht ›verstehen‹ möchte.) Selbst der erschütternde Gedanke ›äußerster Grenze‹, schockierender Fremdheit, kältester Entfremdung; und das selbst sogar mit Blick auf sich selbst, bleibt in unserer Welt. (›Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einen, wenn man hinabsieht‹. (Georg Büchners: Woyzeck) Wobei es für diese Erfahrung aber keiner ›außerordentlicher Lage bedürfe.)480 – Die Sprache stellt wirklich ›das Haus unseres Seins‹, aus dem wir (normalerweise) nicht zu fallen vermögen. - Man könne fra­ gen, ob, dieses Selbstverständnis unseres In-der-Welt-Sein zugrunde gelegt, nicht eindrücklich bestätige, dass Mensch und sein So-in-derWelt-Sein wirklich nur auf eine ›vernünftig-gemeinsame Ordnung‹ hin geplant, entworfen und erfolgversprechend ausgerichtet werden könne? Kurzum, konterkariert also diese eigene Einsicht nicht end­ gültig existenz-phänomenologische Perspektiven? Die Geschichten der Menschen transzendental verstanden und vernünftig zurechtge­ legt, werfe praktisch nur noch wissenschaftlich lösbare - sozialtech­ 479 Vielleicht berührt dies auch die Frage, die Paul Natorp so beschäftigt: »Wie geht es zu, dass das Neugeborene, das von unserer Menschensprache noch schlechterdings nichts weiß noch wissen kann, jemals dazu gelangen kann und tatsächlich sehr bald dahin gelangt zu verstehen; nicht nur zu verstehen, was man mit Worten, Mienen, Gebärden, Fingerzeig, oder schweigendem Anblicken, Berühren, oder einem Tun oder Nichttun irgendwelcher Art ihm zu verstehen geben will, sondern überhaupt, dass man etwas zu verstehen geben, und ihm zu verstehen geben will?« (2000) S 26. 480 Beispielsweise Annette von Droste-Hülshoff mit Blick auf ihr Spiegelbild. ›Es ist gewiss, du bist nicht Ich,/ Ein fremdes Dasein, dem ich mich/ Wie Moses nahe, unbeschuhet,/ Voll Kräfte, die mir nicht bewusst,/ Voll fremden Leides, fremder Lust;/ Gnade mir Gott, wenn in der Brust/ Mir schlummernd deine Seele ruhet!‹ (Aus: Das Spiegelbild. In: Werke in einem Band. Ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Clemens Heselhaus. München o. J. S 18)

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nische, psychologisch, pädagogische, auch ›linguistische‹, kommuni­ kationswissenschaftliche - Fragen auf. So dürfen, sollen wir uns als fortschrittlich optimierbar vorstellen; uns selbst als vernünftige, als wissenschaftliche Herausforderung in den Blick rücken. Ausdrücklich nicht mehr reflektiert mit unkontrolliert spekulativem Philosophie­ ren; oder sonstigen mythologisch-phantastischem Aufbau irrationa­ ler uneinlösbarer Hoffnungen. Man könne und wolle mit aufgeklärter wissenschaftlicher Vernunft gerechte, humane, lebenswerte Ordnung herstellen. Welche erfreuliche wunderbare Aussicht. Sollte es unseren Wissenschaften, unserer Philosophie, nach Vielzahl von Schrecknis­ sen, mythologisch-theologischen Irrungen und metaphysischen Wir­ rungen, doch noch möglich werden, auf ›krummen Holz unseres SoDa-Seins, unsere Zukunft ‚gerade‘ zu schreiben? Der menschlichen wissenschaftlichen Vernunft scheine es hier und jetzt also zu gelingen, die Fehler der menschlichen Natur, oder wenn man unbedingt so will, Gottes (oder der Evolution) problematisch Schöpfung, ›auszu­ bügeln‹? Eine moderne wissenschaftlich-technische Vollendung der Aufklärung wäre tatsächlich also kein bloßer Traum mehr?481 Wahr­ haftig ein großartiges Menschheitsprojekt! Ein Schuft, wer hier sich nicht einreihe und mäkelnd beiseite stehen bliebe. Die ‚Träume der Aufklärung‘ (das gilt auch für unser Philoso­ phieren) dürfen tatsächlich nicht als ›bloße Schäume‹ abgetan, und auch nicht naturalistisch verzerrt oder idealistisch übersteigert wer­ den. Man denke beispielsweise an das ›pessimistische‹ (aufgeklärte) Menschenbild Freuds; oder umgekehrt und utopisch naiv, als ob die Vollendung der vernünftigen Aufklärung nur noch eine Frage der Zeit wäre. – Setzen wir diese Möglichkeiten phänomenologisch als Refle­ xionen. So mag auch ein neuzeitlich ausgerichteter Philosoph zuge­ ben, dass Mensch wirklich mit seinen Geschichten lebe. Geschichten, die den Horizont seiner Wirklichkeit und seiner Möglichkeiten, sei­ nes Selbst-Seins und Welt-Habens konstituieren; vorführen; präsent halten, es überhaupt erst ermöglichten als Da-und-So-Sein leben zu können. Unser existentielles Philosophieren auch aus der Perspektive ‚transzendentaler Vernunft‘ theoretisch und praktisch ›vernünftig‹ Noch einmal Karl Mannheim. »Wenn auch noch vieles im Dunkeln liegt und sehr viele Feststellungen problematisch bleiben, so sind die Dinge doch so weit fortgeschritten, dass man zumindest das Ziel voraussehen kann, das menschliche Leben auf soziologischer Grundlage und mit Hilfe der Psychologie planmäßig zu lenken.« (Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus. Darmstadt 1958. S 261) 481

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sei. Und hier weitergedacht, wenn, beispielsweise individuelle und soziale Wirklichkeit präsent wäre nur mit leidvollen, schmerzhaften, einengenden Geschichten, was hinderte uns, so bleibe zu fragen, ›diese Geschichten‹ gemeinsam positiv umzuschreiben? Wir ›Philo­ sophierenden‹ sollten hier gemeinsam uns verpflichtet sehen. Hier und jetzt zu beginnen, ein neues positives Kapitel der Menschheitsge­ schichte zu schreiben; weder Geschichten von Höllen noch Himmeln (der Vernunft), sondern endlich wirklich uns gemäße, wirklich und wesentlich das Menschsein umfassende Geschichten einzuführen. Das ist ein sich selbst entwerfen; es anders erzählen; und gerade so, eine für uns Menschen selbstbestimmte, selbstverantwortete ›Zukunft‹ praktisch möglich zu machen. Also neue Geschichten von Macht, Miteinander von Mann und Frau, auch ‚neue Mythen‘ von dem Gott und den Göttern, von gutem Leben überhaupt erzählen, vorstel­ len und wirklich leben. Verwirklichte eine solche sich auch vernünftig erzählende ›Anthropologie‹ nicht die optimistische Perspektive der Aufklärung? (Ich denke hier beispielweise an konstruktivistisch-exis­ tentiell eingestellte Therapien.)482 Man könne hier (darauf soll es hier ankommen), unterschiedlich scheinende Perspektiven der Philo­ sophie, der Wissenschaften, des Selbst-Verständnisses, zu einer exis­ tenz-phänomenologischen Vorstellung unseres In-der-Welt-Seins bündeln. Das ist wie wir philosophisch wirklich ‚Aufgeklärten‘ uns einsehen, begreifen und so über unsere Geschichten (und über unsere Geschichte) und somit über uns selbst vernünftig verfügen sollten. Die einengenden irrationalen, mythologischen, magischen, auch theologischen Geschichten, mit denen Mensch sich, (nur mehr oder weniger selbstverschuldet), in Unmündigkeit festgeschrieben habe, könnten grundlegend verändert, könnten sogar (warum denn nicht) neu geschrieben werden. Auch dank der erkenntnistheoretischen und ontologischen Potenz von Sprache, Sprechen, Erzählen. Allein schon eine Neuerzählung von ›alten‹ (nicht veralteten) Geschichten entfalte die Kraft, unsere ‚Wirklichkeiten‘ nachhaltig zu verändern. Selbst Dicht zusammengefasst bei Paul Watzlawick. Die Möglichkeit des Anderssein. Zur Technik der therapeutischen Kommunikation. Bern. Stuttgart. Toronto 19913. Vgl. dazu Gunther Schmidt. »Die Annahme, dass Probleme von Beobachtern, Wahrneh­ menden konstruiert werden, aber nicht objektiv an sich bestehen, erweist sich als von großem therapeutischen Wert. Sie bietet auch sehr viele Interventionschancen. Denn wenn etwa ein Problem konstruiert ist, kann es auch wieder de- und umkonstruiert werden, sogar in Lösungen.« (Liebesaffären zwischen Problem und Lösung. Hypno­ systemisches Arbeiten in schwierigen Kontexten. Heidelberg 20124) 482

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die Theologen setzen bekanntlich darauf auch große Hoffnung. Man denke vor allem an die breit dokumentierten Erfahrungen aus der Geschichte der Psychotherapie. Auch wenn man hier nicht allem zustimmen wolle, einem wird man kaum widersprechen können. Schon wie »über ein Ereignis berichtet wird, lässt es als beiläufig oder bedeutsam, banal oder groß, gut oder schlecht, sogar vertraut oder neu erscheinen.«483

11.4.1. Gestalt und Gestaltung unserer Geschichten der Reflexion Ist unser existentielles Philosophieren an den eigenen Widersprüchen gescheitert; haben wir also unser Versagen freigelegt und dokumen­ tiert; bliebe uns tatsächlich nur noch reumütig zu transzendentalem Vernunftdenken zurückzukehren? Uns in ihrem Horizont einzustel­ len versuchen? Schauen wir weiter selbst hin; und immer nur soweit wir es phänomenologische selbst überblicken und verantworten können. Wir bleiben weiter vorsichtig, skrupulös; und immer nur auf selbst­ eingesehenen Grund. Das ist (sozusagen) ein philosophisches Arbei­ ten auf Sicht. Ein wirklich unspektakuläres endlich-philosophieren! Weder positivistisch sich einengend, noch idealistisch überschwäng­ lich ausgreifend. Sondern eine systematisch angelegte existenz-phä­ nomenologische reflexive Reflexion der Reflexionen. – An einem können wir theoretisch und praktisch anknüpfen. Etwas für uns phänomenologisch Offensichtliches. Werden, Gestaltung, Entfaltung eines Menschen setzt sich tatsächlich auch, es mag beabsichtigt sein oder nicht, dem Horizont einer umfassenderen, nämlich inter­ personalen Seins- und Werte-Ordnung aus. Man habe in jedem nur denkbaren Fall es mit uns zu tun; um was auch immer es sich dabei handle. Eine praktisch für ›jedermann‹ vorgegebene WerteOrdnung also; zumindest hintergründig als Selbstverständlichkeit für Mensch präsent. Und das wortwörtlich von der Wiege bis zur Bahre. – Das gilt nicht nur soweit es uns in den bewussten Blick kommt. Das stellt für wesentlich wirkliches In-der-Welt-Sein schon eine eigenartige Unwillkürlichkeit. Noch Widersprüche, Missachtung oder auch Versuche einer Neuordnung unserer Geschichten (denken 483

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wir an die Ansprüche aufgeklärter Vernunft), dokumentieren ein Anschluss-suchen, (oder Anschluss-halten, Anschluss-brauchen), für So-Da-Sein umfassendere Ordnungen. Selbst eine ›Sezession‹ trennt sich nur aus einer bestehenden Lage, einem, nun als ›Unordnung‹ genommenen ›System‹, und bleibt damit als ›nicht-mehr-So-Seinwollen‹, der gültigen Werte-Ordnung verbunden. Es interessieren hier nicht, das braucht an dieser Stelle keine weiteren Erklärungen, soziologische, psychologische oder kulturwissenschaftliche Fragen. Existenz-phänomenologisch schauen wir auf uns selbst und unser wirkliches und wesentliches So-in-der-Welt-Sein. Damit weiterhin ein Arbeiten mit existentiell reflexiver Reflexion der Reflexionen. In diesem Sinne steht keine ›Sache‹, kein’ Ding‘, für sich alleine ohne ›umfassendere Kontexte‹. Und es ist auch keine Lage eines Menschen denkbar, ohne eine darüber hinausreichende Ordnung. Schon alltäglichste Handlungen lassen sich nicht ohne eine darüber hinausweisende ›Norm‹ verwirklichen. - Das alles ist uns von da und dort her selbstverständlich vertraut. Eingeführt als unsere all­ täglich gelebte lebensweltlichen Ordnung. Eine Ordnung, die wir zuerst und zumeist unwillkürlich leben. Das sich so vorzustellen brauche also sicher kein Philosophieren und keine wissenschaftli­ chen Begründungen. Anders aber wenn wir es existentiell wenden und radikal reflektieren; und hinschauen auf unser wirkliches und wesentliches Menschsein. Das »menschliche Subjekt‘ reflektiert sich dann grundsätzlich als ›intersubjektives Sein‹. Und das aus jeder überhaupt denkbaren Perspektive.484 Dasein als So-in-der-Welt-Sein ist wirklich und wesentlich (von Beginn und Anfang an) ›Wir-sein‹.485 Dass das nicht bloße erkenntnistheoretische Fragen vorlege, ist für existentielles Philosophieren offensichtlich.486 Ob und wieweit sich dies philosophisch grundlegen lasse bleibt eine der entscheidenden Fragen unseres existenz-phänomeno­ logischen Philosophierens. Das weist uns phänomenologisch noch bestimmter hin auf die existentiellen Grund-Voraussetzung unseres uns verstehen-können und -müssen. Darauf bleiben wir ausgerichtet. Ideen II. S 352 Dazu aus psychologischer Sicht (z. B.) Karl Bühler. Die Krise der Psychologie. (1927) Frankfurt/M 1978. S 82 ff. 486 Man denke nur an die praktischen Erfolge ›systemischer Therapien‹. Vgl. dazu Gunther Schmidt (gegenwärtig einer der erfolgreichsten ›systemisch arbeitenden Therapeuten‹): Liebesaffären zwischen Problem und Lösung. Hypnosystemisches Arbeiten in schwierigen Kontexten. Heidelberg 20124. 484

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Nicht zuletzt mit Blick auf unser philosophisches Selbstverständnis. Schon diese Fragen überhaupt radikal fragen-zu-können, rechtfertige praktisch unser existentielles Philosophieren. Das ändert allerdings nichts an den philosophischen Schwierigkeiten es für sich systema­ tisch in unbedingte Geltung einzustellen. Es sind für sich selbst philosophisch herausfordernde Reflexionen. Unabhängig davon, was an Forderungen ›von außen‹ an es herangetragen werden. Es sind Reflexionen, die, je intensiver man sich philosophierend darauf ein­ lasse, den Philosophierenden zwar tatsächlich ›radikal zu sich selbst‹ zurückführe; ihn zugleich dadurch verweise, auf bleibende nicht-zubefriedende existentielle Spannungen. Gerade das also, was neuzeit­ liche Philosophie der Vernunft als ‚Grenzüberschreitung‘ entschieden zurückweist. – So wird radikal-existentielles Philosophieren zu einer Beunruhigung für den Philosophierenden selbst. Es sind die wohl vertrauten existentiellen Irritationen, die unser Philosophieren nicht nur nicht beruhigen, nicht befrieden könne; sondern den Philosophie­ renden selbst mit seinem Philosophieren, noch auswegloser in diese Spannungen hineinzuziehen scheinen. - Das hat unterschiedlichste praktische Konsequenzen. Etwa, dass gerade so der Irritation und Perturbation unseres wirklichen Da-und-So-Seins ein scharfes huma­ nes Profil gezeichnet werde.487 Aber nun auch, (es mag uns gelegen kommen, oder nicht) dass dem neuzeitlichen Philosophieren die tra­ gende Idee der Letzt-Gültigkeit abgesprochen werden müsse; dieser unbedingte Geltungs-Gedanke uns nur noch als ›regulative Idee‹ verbleibe. Damit der ‚Traum wissenschaftlicher Philosophie‘ endgültig also ausgeträumt sei. Weil transzendentale Reflexion selbst sich als geschichtliche Gestaltung der abendländischen Kultur einführen müsse. Und ›Kultur‹ als Gestaltung der Gestalt des Menschseins sich reflektiere; also phänomenologisch als eine historische Möglichkeit 487 Eine interessante Perspektive bei Kurt Goldstein (in der Auseinandersetzung mit Max Schelers Anthropologie). »Das Neinsagen ist ja im Grunde nichts anderes als der Ausdruck des Bewusstwerdens der Spannung, die bei der Auseinandersetzung zwi­ schen menschlichem Organismus und der Welt entsteht, die in den Katastrophenreak­ tionen zum Ausdruck kommt und eben im Bewusstwerden einer‘ Auseinandersetzung in ihm selbst‘ zum Erlebnis wird. (366) Die Spannung ist andersartig; sie besteht nicht nur wie beim Tier in einem momentanen Gefühl der Bedrohung, der Angst, sondern wird bewusst, erscheint in gegenständlich objektiver Gestalt. Sie ermöglicht so eine ganz andere Stellungnahme, die in Erscheinung tritt im Phänomen der Furcht und dem der Freiheit mit dieser fertig zu werden, d. h. trotz der Gefahr sich zu verwirklichen und die Welt zu gestalten.« (367) (Der Aufbau des Organismus. Paderborn 2014)

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der ›Reflexions-Geschichte‹ unseres Da-und-So-Seins. Man denke in diesem Zusammenhang darüber hinaus, auch an die, oft und kontrovers besprochenen Fragen, die überhaupt unter dem Titel ›Kul­ tur‹ gesammelt werden. Ohne im Einzelnen darauf einzugehen, nur ein knapper, vielleicht etwas abstrakt scheinender Hinweis. ›Kultur‹ wird existentiell in einem weiten Grund-Verständnis gesetzt, nämlich als interpersonale Fassung, der uns gemeinsam überspannenden Lebenswelt. (Beispielsweise ›Lebenswelt Großstadt‹ als unsere Kultur der Moderne.)488 Gestaltung dabei präsent als ›Geltung für uns‹; die uns zunächst und zumeist als ›die Wirklichkeit‹ scheinen mag‚ und die wir, wie selbstverständlich, als normales So-in-der-Welt-Sein verinnerlicht (internalisiert) haben; und schlicht als ‚wahr‘ leben; aber auch philosophisch zu reflektieren vermögen. Nicht nur, dass wir die Vorstellungen (die Reflexionen) unseres Da-und-So-Seins auch ›dissoziiert‹ vorführen können. Sondern uns so reflektiert als Dasein in den Blick rücken; uns damit aber auch zu unserer Wirk­ lichkeit (unserem So-Da-Sein) in existentielle Spannung setzen. Die Reflexions-Geschichte leistet sich also als Entfaltung des Daseins als Sosein. Und diese Leistung ist es, die wirkliche Lebenswelt und konkretes So-in-der-Welt-Sein in Bewegung setzt und hält. Eine nicht-nachlassende Vorstellung, die wir immer wieder von Anfang an uns zuzuordnen versuchen. Die Form der Reflexion selbst, lässt Mensch gar keine andere Wahl! Man betrachte einmal die Geschich­ ten der Mythen und den Mythos als existentielle Reflexionen aus dieser Perspektive. – Soweit wir auch philosophierend zu Schauen vermögen. In unserem phänomenologischen Blick sind immer wir selbst mit unserer Reflexionsgeschichte. Gleich was immer sonst noch an Inhalten ausgemacht werde. In jedem Fall stellen diese Erfahrun­ gen uns phänomenologisch als existentieller Zusammenhang vor. Als ein ‚unbedingtes Korrelat‘, das sich nicht in eine lineare Kausalord­ nung zwingen lasse.489 Man könne sogar von einer ›systemischen Vgl. dazu Gleixner. (2015) Bei Husserl so: »Kultursinn, objektivierte Geistigkeit jeder Art, wird einerseits (…), objektiv erfahren, nämlich erfahren als gewissen dingen zukommender, ihnen ausdrucksmäßig einwohnender, sie vergeistigender Sinn. Anderseits (…), und die enthüllende Klärung des Ausdrucks führt uns ohne weiteres darauf hin, dass jeder ausgedrückte Sinn und das ganz mit Sinn ausgestattete Objekt in dem sich enthüllen­ den erfahrungsgehalt selbst zurückweist auf eine psychische Subjektivität, allgemein zu reden: auf einen Menschen oder auf eine Menschengemeinschaft, aus deren personaler Leistung es entsprungen ist.« (Hua. IX. S 114) 488

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11. Interpersonale Perspektive der ›Transzendenz‹

Ordnung‹ unseres Da-und-So-in-der-Welt-Seins sprechen. (Auch das führt vor, dass traditionelle substanzontologische Modelle sich erschöpft haben.) Um nun eine, vielleicht sogar naheliegende Fehldeutung gleich entschieden zurückzuweisen. Dies nennt nicht eine den Menschen als wesentliches Dasein einschränkende, vielleicht sogar belastende Begrenzung. Eine Art kausal-fester Ordnung; vergleichbar naturge­ setzlich zwingender Abfolge. Ein ehernes Naturgesetz der Mensch­ heitsentwicklung. Und damit auch die Verwirklichung der Ordnung der (wie sie genannt wird) ›zweiten‹, der geistigen Evolution. Eine Rückkoppelung der ‚Reflexionen‘ der Welt-Habe. Gleichsam eine Umkehrung des biologischen Naturalismus; nun ein Zwang von ‚Oben‘. Sei einmal (von wem auch immer und warum auch immer) in der geistigen Ordnung der Menschheitsentwicklung ›A gesagt; folge geistes- und kultur-geschichtlich B und C‹; und so weiter und so fort. Einmündend in den, den neuzeitlichen Menschen überwältigenden, ihn entfremdenden sozialen Denk-Zwang; der seine ursprüngliche Natürlichkeit, seine ›gottgewollten‹ Rechte gewaltsam oder listig deformiere und ihn (er mag wollen oder nicht) als Mensch-sein einschränke.490 (»Der ganze Strudel strebt nach oben; du glaubst/zu schieben, und du wirst geschoben.«) Als sei Mensch gerade durch den Einsatz dieses Instrument der Reflexion in Wirklichkeit beraubt worden; und damit seine ihm von Natur oder vom Schöpfer aus zustehende Eigentlichkeit, sein unbedingtes Recht auf ‚natürliche‘ Selbstbestimmtheit, Selbstsein-dürfen, kurz, seine Freiheit als das Einzigartige im Horizont der ›Gesamt-Schöpfung‹ konterkariert. Der vielbesprochene ›Logos‹, der Stolz der Philosophie, erfülle in Wirk­ lichkeit die Funktion eines ›ehernen Gehäuses‹. – Aber was wäre das denn für ein Witz! Das Vermögen und die Leistung der Reflexion gleichsam als unser philosophisches Harakiri-Messer. Der Grund unserer Vertreibung aus dem Paradies natürlichen Daseins. Oder, und davon nicht zu trennen, dass jeder nun für jeden ein Hindernis darstelle. Dies gebe dann auch diesem vielzitierten Bild, der ›Mensch sei gerade als vernünftiger Mensch im Grunde des Menschen Wolf‹, seine beängstigende Schärfe. Und weiter mit dieser düsteren Litanei. Auch der erzwungene ›vernünftige Gesellschaftsvertrag‹ (wohl eine 490 Dass es dazu eine geradezu konträre Sicht auf Evolution und ›Koevolution‹ gibt, sei nicht unterschlagen. Also, dieser ›erzwungenen Entfaltung‹ als ›wundersame Weisheit‹ dieser ›Evolution‹ bewundern.

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11.4. Unsere Geschichten

Leistung des Zwangs dieser Reflexion, der Reflexionsgeschichte) habe die Lage des Individuums keineswegs nachhaltig sicherer gemacht. Im Gegenteil. Diese faktisch vorhandenen Übel nun sogar gerechtfertigt (man lese einmal Versuche der Theodizee aus dieser Perspektive); und uns eine vernünftig legitimierte Unfreiheit eingehandelt. Als ob Mensch sich sein ihm Eigenes von seiner ihn doch auszeichnenden Möglichkeit der Geschichte der Reflexion (als existentieller Gestal­ tung seines In-der-Welt-Seins) gewaltsam zurückholen müsse. Der Weg der Befreiung wäre also, je nach Perspektive: vom ›Man‹ zum ›natürlichen Leben‹; ›vom Logos‹ zum ›ganzen Menschen‹; von der ›Menge‹ zum ›Einzelnen‹.491 Und so weiter und so fort. Und so habe die Losung für Mensch zu sein, (Rousseau dabei ›existentieller‹ gefasst): zurück zu seiner ihm je eigenen, ihm zugehörigen eigentli­ chen Natur. Die Folgerungen, soweit es uns hier angeht kurz und knapp zusammengefasst. – Lesen wir es phänomenologisch als Aufforde­ rung sich weiter radikal zu besinnen auf unsere wirklich und wesentli­ che Natur. Keine anderen Wirklichkeiten stehen philosophisch wirk­ lich selbst zur Verfügung. Und das führt gerade zum Gegenteil dieser, es mag beabsichtigt sein oder nicht, unnatürlich individualistischen Perspektive. Um wirklich ›zu sich selbst gelangen‹ zu können, – sicher nicht nur philosophisch ein wahrhaft erstrebenswertes Ziel -, sich selbst überhaupt als Existenz umfassend zu begreifen, seiner ›Eigentlichkeit‹ als wesentlich wirkliches Da-und-So-Sein, seiner existentiellen Möglichkeiten, sich bewusst zuwenden zu können, (um von den schlichten praktischen Erfordernissen des Lebens hier einmal abzusehen), braucht es die ›Reflexion der Reflexion der Anderen‹.492 – Hier und jetzt nicht weniger, sondern noch entschiedener und umfassender. Wobei selbstverständlich, auch dieser Andere als ›mein »Die Menge – nicht diese oder jene, die jetzt lebende oder eine verstorbene, eine Menge von einfachen oder vornehmen Leuten, von Reichen oder Armen usw., sondern als Begriff verstanden – ist sie die Unwahrheit, (…).« (S. Kierkegaard. Der Einzelne. (hier) Frankfurt/M 1990. S 15 f.) 492 Dazu auch das Philosophierens Emmanuel Levinas. »Niemand kann in sich selbst bleiben: die Menschlichkeit des Menschen, die Subjektivität, ist Verantwortung für die Anderen. Eine äußerste Verwundbarkeit. Die Rückkehr zu sich selbst wird zum unbeendbaren Umweg. Vorgängig zum Bewusstsein und zur Wahl – noch bevor das Geschöpf sich in Gegenwart und Vorstellung versammelt, um Seinsakt zu werden – wird der Mensch dem Menschen nahegebracht.« (Humanismus des anderen Menschen. Hamburg 1989. S 100) 491

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11. Interpersonale Perspektive der ›Transzendenz‹

Alter-Ego‹, selbst als ›Ich-bin‹ phänomenologisch in unsere interper­ sonale Ordnung eingestellt bleibt, und wiederum für mich von dort her ›reflektiere‹.493 – Das lässt ahnen, schon mit diesem sehr kurzen Überblick, welch vertrackte Arbeitsgänge es brauche, um das, was wir praktisch ohne weiteres zu leben scheinen, existentiell gründlich zu reflektieren. Mit dieser beinahe mystischen Gewissheit ›ich bin als wir sind‹, kann es phänomenologisch nicht sein Bewenden haben. ›Evidenzgefühle‹ nehmen wir phänomenologisch zwar zur Kenntnis (und nehmen sie auch ernst), ohne sie aber in Geltung zu setzen. Schauen wir weiter, wie weit unser phänomenologisches SelbstSelbst-Schauen und existentielles Reflektieren uns trägt. – Davon gehen wir aus, Mensch reflektiere (›erkenne‹) sich als Selbstsein, erst in und mit anderen. Das umfasse theoretisches und praktisches erkennen. Von dort her lasse sich auch manche unserer ›humanen Eigenheiten begreifen‹. Eine existentielle Fundierung, die den Hori­ zont vorstellt für (in einem weiten Wortverständnis) psychologisches und soziologisches Arbeiten. So ist auch die Sehnsucht nach einem, einer anderen, nicht zuletzt auch der Notwendigkeit geschuldet, endlich bei-sich-selbst-sein zu können.494 Erinnern wir uns an den Mythos vom ›Kugelmenschen‹, den Platon Aristophanes erzählen lässt (›Symposion‹). Von dort her werde auch verständlich, dass Menschen sich wie selbstverständlich immer einander zugeordnet wissen. (»Das endlich ist Gebein von meinem Gebein/und Fleisch von meinem Fleisch.«)495 Oder man denke hier an Schillers/Beetho­ vens ›unsterbliches‹ Lied. Überschrieben: Ode an die Freude! ›Seid umschlungen Millionen! Diesen Kuss der ganzen Welt.‹496 – Das Alfred Schütz hat (wohl auch unabhängig von Husserl) die Bedeutung des Inter­ personalen (nicht nur für das Philosophieren selbst) entfaltet. »Die Grundrelation des Wir ist mir durch mein Hineingeborensein in die soziale Umwelt vorgegeben und aus ihr schöpfen erst alle meine Erfahrungen von dem im Wir beschlossenen Du und von meiner Umwelt als Teil unserer Mitwelt ihr ursprüngliches Recht.« (Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, (1932) Frankfurt/M 19812. S 230) 494 Auch das ist hintergründig aus Gen. 2,23 f. herauszulesen; was immer sonst auch noch sich vorstellen mag. 495 Gen. 2,23 496 Dazu Walter Muschg in seiner Berliner Schillerrede (1960) »Die Freude, die es anruft und feiert, ist die Kraft, die es den Menschen zur Gewissheit macht, dass sie nicht als einzelne geboren sind, sondern der Menschheitsfamilie angehören, die alle Geschöpfe mit Menschenantlitz rings um den Erdball umfasst, und dass auch die Menschheit nur ein Glied im unermesslichen Reich der Wesen ist, die vom Wurm 493

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11.4. Unsere Geschichten

beschreibt eine dem Menschsein unbedingt zugehörige ›existentielle Dialektik‹. Aus diesem wesentlich umschlingenden Band (bleiben wir bei diesem Bild) kann, Gott sei Dank, keiner sich entlassen oder ent­ lassen werden. Das ist ein ›horizontal und vertikal‹ Mensch umspan­ nender Bund, den er (es kann phänomenologisch nicht anders sein) für sich selbst stellt; sogar, er für sich selbst ist. – Nur der Tod scheint nichts mehr von unseren Geschichten zu wissen, hat von mir nichts weiter mehr zu erzählen. (Erinnerungen sind Erinnerungen anderer an ›unser‹ gelebtes Leben.) Der je eigene Tod scheint Mensch und seine Reflexion endgültig aus menschheitlicher Reflexionsgeschichte herauszubrechen; scheint ein endgültiger Abbruch zu sein; keine weiteren Geschichten wären nun noch möglich; etwas pathetisch also ein Sturz ins Schweigen. - Und doch erinnern uns Dichter daran, das, zumindest, unser Gewesen-sein (Rilke) nicht mehr widerrufen werden könne. (Und: ›Einmal/Lebt ich, wie Götter, und mehr bedarfs nicht‹.) – Und auch das gehört hierher. Dass wir auch als Philosophierende uns von dieser unserer wesentlichen Wirklichkeit nicht lösen, nicht zu lösen vermögen; das dokumentiert unser Philosophieren selbst. Gerade unser radikal existentielles Philosophieren. Selbst den (in allem Ernst) bewundernswerten neuzeitlichen Vorstellungen philo­ sophischer Selbstwahrnehmung, dem wissenschaftlich aufgeklärten transzendentalen Selbstverständnis, gelingt es nicht, sein in der Absicht radikal reflektierendes So-in-der-Welt-Sein als ›unbedingt‹, ›rein‹, als beispielsweise‚ ‚pures Selbst‘, ›absolute Vernunft‹, in den Blick zu bekommen. Von der praktischen Wirklichkeit So-Da-zu-Sein schweigen wir ganz. Zusammengefasst. Es drängt sich auf, dass streng idealistisches oder biologistisches Philosophierens, das sich wissenschaftlich ‚als wirklich‘ zu vollbringen sucht, theoretisch und praktisch dabei sich selbst widersprechen müsse. Jedes Ich-bin als unbedingt gewiss da bliebe also ohne ›konstituierende Erzählungen unserer wirklichen Geschichten‹, (die erst die Identität als Bedingung möglicher Refle­ xion der Reflexionen) stiften, eine ›abstrakte Leer-Form‹.497 ‚ im Staub bis zum Cherub an Gottes Thron das Universum bewohnen.« (In: Akzente. 1960. S 27) 497 »Entgegen der im Begriff der Selbsterkenntnis enthaltenen Unterstellung, dass das zu erkennende Selbst bereits vorhanden sei und nur gefunden werden müsse wie ein Pilz im Wald, weist vieles darauf hin, dass das Selbst zumindest teilweise über ästhetische Handlungen erst konstruiert wird und sich mit dem Stil ändert.« (Gerhard Schulze (19934) S 110

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›Die Beschäftigung mit einem Kunstwerk bringt naturgemäß die Erfah­ rung eines Sich-Loslösens von der Welt mit sich. Aber das Kunstwerk selbst ist ein lebenssprühendes, magisches und exemplarisches Objekt, das uns die Welt offener und reicher zurückgibt.‹498 (Susan Sontag)

Wir sind auch mit entschieden transzendentalem Blick auf ein irgend­ wie ›unbedingtes‹ Ich-selbst nie in einer Lage, jenseits aller ›unserer Geschichten‹, unserer Reflexionen; und können uns folgerichtig auch nur mit diesen Geschichten, diesen (unseren) Reflexionen überhaupt als wirkliches und wesentliches Da-und-So-Sein selbst vorstellen. Selbstverständlich ist davon auch eine Reflexion der Idee des Abso­ luten nicht ausgenommen.499 Wir sind es wirklich immer selbst als wirkliches In-der-Welt-Sein, das die Bedingung für den Vollzug mög­ licher Reflexionen stellt. Und immer gilt das gleich ob wir theoretisch oder praktisch Philosophieren. Nie ›bin ich‹ herausgelöst aus dem Horizont unserer Lebens-Welt; meines so eingefalteten Da-und-SoSeins; nie herausgelöst auch aus unseren Geschichten. Wir können uns selbst nicht wirklich reflektieren, können auch philosophisch (anthropologisch, existentiell) nicht wirklich reflektiert werden, als abstrakt-unbedingtes (›jemeiniges‹) Selbst. Können mit dem Kon­ strukt ›absolut-reine Vernunft‹ philosophisch nicht als So-Da-Sein vorgestellt, nicht ›begriffen‹, nicht einmal wirklich wahrgenommen werden. Immer ist ›das Selbst‹ als betrachtendes, sich erinnerndes, erzählendes, auch als (was auch immer) konstruierendes, reflektieren­ des, auch als philosophierendes So-in-der-Welt-Sein unlösbar ver­

498 Über den Stil. In: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. Frankfurt/M 19994. S 38 499 Bei Novalis so: »Dies uns gegebene Absolutes lässt sich nur negativ erkennen, indem wir handeln und finden, dass durch kein Handeln das erreicht wird, was wir suchen.« (Band 2. 1978. S 181)

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12. Philosophie und Literatur

strickt in Geschichten und Geschichte.500 Also auch je-eigene Lebens­ welt wird von uns phänomenologisch eingeführt und gesetzt als interpersonale Ordnung. Das sind Geschichten, die auch immer die leibhafte Sinnlichkeit eines Menschen als Wir-So-in-der-Welt-Seins mit-erzählen.501 Auch dort noch wo man nicht davon zu sprechen scheint. Geschichten von Lieben und Verabscheuen, Begehren, Verlet­ zen und Verletzt-werden; auch Verlassen-sein und (vielleicht sogar Sehnsucht nach) Einsamkeit; das alles erzählt immer Geschichten von unserem wesentlich wirklichen ›Miteinandersein‹. Auch Vorstellung von besonders intensiven Erfahrungen des Selbst, beispielsweise in Meditation und Trance, sind davon nicht auszunehmen. Und selbst noch je eigenes Sterben, um darauf noch einmal zurückzukommen, als dieses doch so persönliche ›Verenden‹, führt eine (verstanden-wer­ den-könnende) mögliche ›Geschichte‹ vor. (Hofmannsthal ›Jeder­ mann‹ stirbt ›anders‹ als Homers ›Hektor‹; und das ganz unabhängig von den ›Umständen‹). –

12.1. Phänomenologische Reflexion der literarischen Reflexionen als existentielle Grundlagen-Forschung Unsere Identität stellt sich phänomenologisch vor und aus, als dichte Zusammenfassung der Möglichkeit der Geschichten der Reflexion. Das sind Erzählungen von Selbst-Sein und Welt-Haben im Horizont der Geschichten, und der Geschichte unseres So-in-der-Welt-Seins. Schauen wir nun etwas genauer hin auf eine bestimmte (für uns) existentielle Voraussetzungen für Gestalt und Gestaltung dieser unserer Ordnung So-Da-zu-Sein. Einer Schnittstelle ontologischer, erkenntnistheoretischer, anthropologischer, und sicher auch meta­ Bei Helm Stierlin so: Das Selbst als ›identitätsverbürgendes Selbst‹; das Selbst als ›Subjekt und Objekt von Geschichten‹; das Selbst als ›Entdecker und Initiator von Überlebensoptionen‹; das Selbst verstanden als ›inneres Parlament‹; das selbst als ›Ressourcenselbst‹; das Selbst als ›Familien- und Gemeinschaftsselbst‹. (Ich und die Anderen. Psychotherapie in einer sich wandelnden Gesellschaft. Stuttgart 1994. S 92 ff.) 501 Arnold Gehlen macht auf diese, dem Menschen unbedingt zugehörende ›Gestalt‹ aufmerksam: das was man geistigen Leistungen zurechne, sei in Wirklichkeit »schon in den vitalen Schichten ›vorberücksichtigt‹. Die vegetativen, sensorischen und moto­ rischen Funktionen arbeiten offenbar sehr viel geistreicher, als der Idealismus zugeben wollte und der Materialismus zugeben konnte.« (2016). S 16 500

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12.1. Literarische Reflexionen als existentielle Grundlagen-Forschung

physischer Fragen. Nämlich die immer wieder (sehr unterschiedlich) verhandelte Bedeutung der Sprache, unseres Sprache-haben-kön­ nens. Für uns sollen hier einige wenige Hinweise genügen. Es reicht hin sich existentiell einzulassen auf die wirklichen Bedingungen von unseren Geschichten; und damit auf die Grund-Form unseres WeltHaben und Selbst-Sein. Mit anderen Worten, sich auf die existentielle Eigenart und Besonderheit der konstitutiven Potenz der Sprache und Sprechen der Menschen phänomenologisch einzustellen. Eines können wir dabei nicht übergehen. Die philosophische Reflexion der Sprache richtet das Philosophieren selbst aus. Darin wird man mit den unterschiedlichsten Perspektiven übereinkommen können. Das stellt die Bedingung für jede überhaupt mögliche Refle­ xion. Die Geschichte dieser (‚autoreferentiellen‘) Reflexion der Refle­ xionen der Sprache reicht von Platons ›Kratylos‹, über Herder bis zu Wittgenstein und Husserl, und nun sich immer weiter differenzierend bis in unsere Gegenwart. Diese herausragende Bedeutung der Sprache und des Sprechens wird ausführlich von unterschiedlichsten philo­ sophischen Richtungen (auch kontrovers) vorgestellt und entfaltet. Zumeist aber, die Unterschiede dabei vernachlässigt, mit Blick auf die vernünftig-korrelative Ordnung von Sprache und Welt-Erken­ nen. Sprache-haben, vernünftig-sprechen, als Bedingung für jede überhaupt noch mögliche Erkenntnistheorie und Ontologie.502 Für Wilhelm Kamlah beispielsweise, könne es hier im Grundsätzlichen keinen ernsthaften Streit mehr geben. Die entscheidenden Schritte habe er zusammen mit Paul Lorenzen schon getan. »Wir haben in der ›Logischen Propädeutik‹ der traditionellen Bildungssprache rigoros den Abschied gegeben – damit übrigens auch der traditionellen Frage nach dem ›Wesen des Menschen‹ – und einen neuen Anfang gemacht mit dem Aufbau einer normierten Sprache zunächst der Logik selbst, bis zu einem gewissen Grade auch der Sprachphilosophie.«503 – Ob aber, so fragen wir, es wirklich nur diese, vernünftig geordnete, logisch begriffene Sprache sei, die Selbst-Sein und unsere Welt-Habe leiste und trage? Und ob wir mit diesem dann wissenschaftlich-geklär­

502 Beispielsweise, Wilhelm Kamlah/Paul Lorenzen. Logische Propädeutik. Vor­ schule des vernünftigen Redens. Mannheim 1973. Wilhelm Kamlah. Philosophische Anthropologie. Sprachliche Grundlegung und Ethik. Mannheim 1973 503 W. Kamlah. 1973. S 13

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12. Philosophie und Literatur

tem Instrument ›Sprache‹, uns selbst nun auch wirklich-existentiell umfassend gerecht würden?504 Sprache, Sprechen, Verstehen, wiederum auch Missverstehen rücken wir in unseren Blick als existentiell-konstitutive Leistungen. Leistungen des Menschen als Wir-Sein. Schon dieses Schauen selbst setzt die Möglichkeit der Sprache voraus. Und so stellt Sprache-spre­ chen die Grund-Lagen, die So-in-der-Welt-Sein als (auch für sich selbst) Selbst-Sein- und wirklich Welt-Haben-können konstituieren. Eine verwirrende Vorstellung. Ein Dasein, das für sich selbst ›Refle­ xion‹ als Gestaltung existentieller Ordnung praktisch immer schon vorauszusetze. Immer schon so als selbstverständlich ›lebe‹ und sich so ›mit seinem In-der-Welt-Sein in-Erfahrung-bringe‹. – Hier nun nach einem ›absoluten Anfang‹ zu fragen, von dem aus eine kausale Ordnung als unbedingt gewisse Reihung uns ›aufleuchtet‹, liefe ins Leere. Die Form der Reflexion unseres Da-und-So-Seins lässt keine weitere Hinter-Denklichkeit, kein darüber, darunter, dahinter zu. Wir können uns nicht einmal ›vorstellen‹ was dieses ›jenseits‹ unseres SoLeben sein könne. (Vielleicht mag das einige an lebensphilosophische Vorstellungen erinnern. (›Unergründlichkeit des Lebens.‹) Dagegen ist nichts zu sagen. Solange die wesentlichen Unterschiede dabei nicht unterschlagen werden.) – Unbestritten aber sollte sein, dass man nicht mit philosophischer Anthropologie ›anfangen könne‹, »ohne zugleich damit zu beginnen, ihre Sprache kritisch zu klären.«505 Ein offensicht­ lich als Zirkel angelegtes Unterfangen. Es funktioniere, versuchen wir es mit einem Begriff aus ›systemischer Theorie‹ vorzustellen, als existentiell konstituierte ›Feedback-Schleife‹. Schauen wir hin auf die ›Bewegung‹ und das ›Ergebnis‹ der so sich entfaltenden Reflexionen. Reflexionen der Reflexionen der Reflexionen. Das Sein der Menschen als In-der-Welt-Sein, so könne man sagen, organisiere und ordne sich wortwörtlich fortdauernd so. Ein eigenartig geschlossenes System, das trotzdem sich als Geschichte entfaltet. Eine, soweit wir zuschauen vermögen, uns endlos immer wieder einbindende ›Schleife‹ von WeltHabe und Selbst-Sein und Welt-Sein und Selbst-Habe. Eine Bewe­ gung der Reflexion (der reflexiven Reflexion der Reflexion), die uns 504 Beispielsweise auch Ernesto Grassi. »Da wiederum das Erkennen für das mensch­ liche Dasein nur durch die Sprache geschieht, ergibt sich daraus, dass die ursprünglich Sprache, derer man sich beim Philosophieren bedienen muss, nicht die rationale, begründende, erklärende, sondern die metaphorische ist, deren sich auch Meister Eckhart bedient.« (Kunst und Mythos. (1957/1990) Berlin 2013. S 197) 505 Kamlah. 1973. S 12

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12.1. Literarische Reflexionen als existentielle Grundlagen-Forschung

erkenntnistheoretisch, ontologisch, anthropologisch, weder Anfang noch Beginn ausmachen, endgültig fest-stellen lasse. Was wäre denn hier phänomenologisch die wirklich-wirkliche Ursache und was bloße Wirkung? - Diese sich ineinander reflektierenden Vermögen nehmen wir phänomenologisch als Bedingung für unser existentielles Weltund Selbstverständnis, unser wirkliches Selbst-Sein und Welt-Haben (können). Zu sagen, wir würden diese Reflexionen als unsere Bedin­ gungen ›setzen‹, scheint phänomenologisch keineswegs übertrieben. Es sind keine willkürlich-beliebig eingeführten Konstruktionen; keine haltlosen Spekulation. Wir erfahren es mit Blick auf uns und unsere Möglichkeiten selbst, und setzen es phänomenologisch als unabding­ bar für unser wirkliches und wesentliches Menschsein. Darüber wird es im Grundsätzlichen einer Anthropologie der Sprache und Sprechen keinen heftigen Streit geben können. Im gro­ ßen Ganzen stimmen darin auch sehr unterschiedlich ausgerichtete philosophische Schulen und Richtungen der Gegenwart überein. Und darüber bestehe selbst (cum granis salis) Übereinstimmung mit den Wissenschaften. Vor allem, dass Sprache, Sprechen, Verstehen kei­ neswegs sich darin erschöpfe, alltägliches Verständigungsmittel seien. Nur ein praktisches Instrument, das den Umgang mit ›Weltstücken‹ (ihre Bezeichnung) erleichtere.506 So als wäre dies bloß eine ›Fähigkeit des Bezeichnens‹ um sich innerhalb einer uns Menschen immer schon objektiv zustehenden Wirklichkeit (der wirklichen Wirklichkeit), uns selbst dabei eingeschlossen, gemeinsam zurechtfinden zu können. Sondern erst so werde der Horizont entworfen, innerhalb dem auch die Wissenschaften und das Philosophieren sich bewegen; und den sie als Grund-Bedingung für Menschsein immer ‚enger‘ vermessen und eindeutiger zu begreifen suchten. Wie immer man dies im Einzelnen sich sprachphilosophisch, kommunikationswissenschaftlich, metalin­ guistisch zurechtlege und entfalte. Zumindest in einem finde sich über die unterschiedlichen philosophischen und wissenschaftlichen Auffassungen hinweg eine gewisser Konsens. Sprache, Sprechen, 506 Benjamin Lee Whorf hat hier mit die Grundlage für den Zusammenhang von Sprache, Denken und Wirklichkeit gelegt. »Wir gliedern die Natur an Linien auf, die uns durch unsere Muttersprachen vorgegeben sind. Die Kategorien und Typen, die wir aus der phänomenalen Welt herausheben, finden wir nicht einfach in ihr -etwa weil sie jedem Beobachter in die Augen springen; ganz im Gegenteil präsentiert sich die Welt in einem kaleidoskopartigen Strom von Eindrücken, der durch unseren Geist organisiert werden muss – das aber heißt weitgehend: von dem linguistischen System in unserem Geist.« (Sprache, Denken, Wirklichkeit. Reinbek bei Hamburg 1963. S 12)

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12. Philosophie und Literatur

Benennen, Symbolisieren, auch Verstehen und Missverstehen, seien zu begreifen und einzuführen als anthropologische Grund-Ordnung. Mehr also als nur eine praktische ›Brücke‹, die Mensch mit Mensch, Mensch mit Welt, und sogar Mensch mit sich selbst verbinde‘. Son­ dern die existentielle Gestalt für die Gestaltung wesentlich wirklichen Menschen. Das ist (das verlieren wir nicht aus den Augen) eng verknüpft mit der Fähigkeit der Reflexion. Nun mag man sagen, die Wissenschaften hätten sich also auch diesen Fragen angenommen. Gott sei Dank! Wozu hier noch weiter Philosophieren? So könne man das hier noch zu klären Verbleibende, getrost den Sprachwissenschaften, oder der Psychologie, Soziologie, sogar der Biologie, überlassen. Ob man davon nicht ›handfestere‹ Ergebnisse erwarten dürfe, als von bloßem Philosophieren? - Wenn es denn nur so einfach wäre. Führen wir es uns selbst vor, und schauen als erstes wieder hin auf uns, als sich so-reflektierendes So-in-derWelt-Sein. – Phänomenologisch reflektiere sich all das uns Menschen überhaupt wirklich Bewegende. Das schließt ein das philosophische Fragen, das unser Selbst- und Welt-Verständnis, unser Selbst-Sein und unsere Welt-Habe betreffen. All das uns also (wie auch immer) Herausfordernde, uns Bedrängende, uns für uns Vorstellende, all das, das wir hier als ›existentielle Reflexion der Reflexionen‹ in den phä­ nomenologischen Blick rücken. Und so ordnen sich existentiell reflek­ tiert nun auch Erkenntnistheorien, Metaphysik, Ethiken, Künste und die Wissenschaften selbst, diesem wirklichen Leistungsvermögen des Menschen zu.507 Entlang der Reflexion unserer Sprache, können wir den ›wesentlichen‹ Ordnungen der Reflexionen unseres So-in-derWelt-Seins auf die Spur kommen. Dass das Philosophieren gerade so sich selbst herausfordert und bindet (und existentiell einbindet), darf hier nicht übersehen werden. Philosophische Reflexion der Refle­ xionen der Sprache und des Sprechens, ist immer auch selbst (es kann mit Blick auf unser wirkliches Selbstverständnis gar nicht anders sein) eine existenz-philosophische Frage. Das festigt die oben schon kurz angesprochene Perspektive. Man denke beispielsweise nur an 507 Sehr entschieden bei Benjamin Lee Whorf. »Die revolutionären Veränderungen in der Welt der Naturwissenschaft – insbesondere der Physik, aber auch der Chemie und Biologie sowie der Wissenschaften vom Menschen – sind nicht so sehr neuen Tatsachen zu verdanken, als vor allem neuen Weisen des Auffassens von Tatsachen. (…) Ich sagte: neue weisen des Auffassens von und des Denkens über Tatsachen. Noch treffender könnte man sagen: neue Weisen des Redens über Tatsachen.« (Hamburg 1963. S 19)

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12.1. Literarische Reflexionen als existentielle Grundlagen-Forschung

den mittelbaren und unmittelbaren Einfluss den ›Gesellschaft‹ (als Gestaltung der Reflexion) auf literarische Arbeiten und umgekehrt, diese auf Lebenswelt und jeweiliges In-der-Welt-Sein ausüben.508 Schon allein das ließe, unabhängig von dem bereits gesagten, auf­ merken, auf die grundsätzlich existentielle Bedeutungen der Sprache und Sprechens.509 Vor allem in und mit Literatur (im Besonderen wiederum der Lyrik) werde also deutlich, dass Sprache, Sprechen, Verstehen, auch Schrift, Schreiben, Lesen, »etwas anderes ist, als bloßes natürliches Verständigungsmittel.«510 Im Sinne von, etwas für sich und andere pragmatisch-praktisch mit einer (mit irgendeiner) ›Bezeichnung‹ zu versehen. (Susanne Langer spricht hier von ›utilita­ ristischer Sprachtheorie‹.)511 Philosophieren solle und könne sich selbst (das alles vorausge­ setzt) auch als ‚Literatur‘ existentiell reflektieren. Davon gehen wir also aus. Phänomenologisch ist eine Nähe von Philosophie und Literatur gar nicht zu übersehen. Dass das nicht bloß historischen, biographi­ schen Zufällen geschuldet sei, dränge sich als offensichtlich auf. Beispielsweise einer zufälligen ›ausgelebten Doppelbegabung‹ von diesem oder jenem ›genialen Literaten‹. (Man mag an Hölderlin, oder Novalis denken.) Sondern ist vielmehr entsprechend des wirklichen Wesens von Literatur und Philosophieren als ›existentielles Korrelat‹ präsent. Als Reflexion der Reflexionen der Sprache. Nicht nur das. Sondern darüber hinaus werde ›schöne Literatur‹ von uns sogar als existentielles Potential des Philosophierens selbst eingeführt.512 508 Z. B. macht Ernst Robert Curtius auf dieses aufmerksam: »Die Gesellschaft, ihre Bewegungsformen und ihre Gesetze – sie ist in Frankreich zwischen 1800 und 1845 als Lebensmacht entdeckt und im Roman gespiegelt worden.« (Bemerkungen zum französischen Roman) In. (1984). S 381 509 Das mag auch die Faszination dieser damit verknüpften Themen erklären. Und so immer wieder, unabhängig von Wissenschaften und (akademischer) Philosophie, ›Sprachtheorien‹ vorgelegt werden. Ich denke hier beispielsweise an Ernst Jüngers ›Lob der Vokale‹. In: Blätter und Steine. Kleinere Schriften. Leipzig 1942 510 Hugo von Hofmannsthal. Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation. In: Der Brief des Lord Chandos. Erfundene Gespräche und Briefe. (Hier) Frankfurt/M 2002. S 106 511 Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst. (hier) Berlin 1965. S 123 512 Vor allem diese Ausrichtung. Rudolf Bultmann (beispielsweise) beschreibt die Bedeutung der Kunst im Allgemeinen, der Literatur im Besonderen für die Entdeckung der Wahrheit: die Interpretationen in der »Dichtung wie in der Kunst« solle die Möglichkeit bieten, »menschliches Sein zum Verständnis zu bringen«. (Das Problem der Hermeneutik. In: Glauben und Verstehen. Zweiter Band. Tübingen 19685. S 222)

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12. Philosophie und Literatur

Man könne das systematisch abzulesen versuchen an aus der Geis­ tesgeschichte bekannten Autoren. Denken wir an Vorstellungen ›der Romantiker‹. Oder an dem beeindruckenden Philosophieren, der, wie sie genannt werden, ›Dichter-Philosophen‹. Oder vielleicht auch mit Blick auf die lebensphilosophischen Vorstellung Diltheys. Er hat als Philosoph deutlich auf die philosophische Bedeutung der Literatur aufmerksam gemacht.513 Diese Perspektiven sind phänomenologisch weiter zu entfalten. Als existentielle Reflexionen; ohne unser syste­ matisch ausgerichtetes Philosophieren zurückzulassen. Schauen wir hin auf die existentiellen Voraussetzungen dieser phänomenologischen Perspektive. Eine Perspektive, die nicht zuletzt Möglichkeiten eröffnet unser existentielles Philosophieren selbst weiter zu entfalten und zu festigen. (Wir halten dabei selbstverständ­ lich weiterhin am phänomenologischen Prinzip aller Prinzipien als Bedingung unseres systematischen Schauens fest.) Die konstitutiv existentielle Bedeutung der Sprache erfahren wir (so beeindruckend auch Beispiele aus der Geschichte sein mögen) vor allem mit uns selbst. Als erstes ist hinzuschauen auf Voraussetzung und Bedeu­ tung der existentiellen Gestaltung der Reflexion der literarischen Reflexionen unseres In-der-Welt-Seins. Diese wesentliche Nähe von Philosophieren und Dichten entfaltet sich besonders klar durch die Reflexion der Reflexionen der Sprache der Lyrik.514 Vielleicht lasse sich so auch die (für manche zu abgehoben klingende) Rede von der ›Sprache als Haus des Seins‹ existenz-phänomenologisch verstehen. Dass diese Vorstellungen bei den ›Philosophen der wissenschaftlichen Vernunft‹ auf Zurückhaltung treffen werden, nehmen wir nicht nur nebenbei und als irrelevant zur Kenntnis. Es sind Bedenken, (wie alle möglichen Reflexionen), die den Umfang unseres Philosophierens sogar erweitern. Zu lesen sind sie als Reflexionen aber, die es wiede­ rum selbst ›existentiell‹ zu wenden gelte. - Ob damit, so die durchaus 513 Dazu seine sehr ›populäre‹ Schrift: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing. Goethe. Novalis. Hölderlin. (Hier) Leipzig 1991 514 Auch wenn das Selbstverständnis Gottfried Benns doch etwas ›verstiegen‹ schei­ nen könnte. Er schreibt (›Über die Krise der Sprache‹): »Nur der Lyriker, der wahrhaft große lyrische Dichter weiß, was das Wort wirklich ist. (…). Dann wird uns das Problem der Sprache als die große tragische Frage des Menschen überhaupt erschei­ nen, seiner inneren Gestalt, seiner schöpferischen Kraft, seines kurzen Glücks, das selbst auf seinem Gipfel so zweifelhaft ist – so zweifelhaft wie die tragische Frage seiner unerkennbaren kosmischen Bestimmung.« (Vermischte Schriften. Gesammelte Werke 7. Herausgegeben von Dieter Wellershoff. Wiesbaden 1968. S 1719)

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12.1. Literarische Reflexionen als existentielle Grundlagen-Forschung

verständlich Sorge, nicht einer irrlichternden Beliebigkeit, einem ganz und gar willkürlichen Subjektivismus Tür und Tor geöffnet und der Begriff strenger wissenschaftlicher Philosophie endgültig aufgegeben werde? Man sich vielleicht so dem postmodernen Grund­ satz anzuschließen versuche, ›Phantasie gehe vor logischer Strenge‹. Philosophieren dann nur noch eine literarische Möglichkeit vorstelle; und folgerichtig nur eine relative, vielleicht noch ästhetische, oder weltanschaulich gebundene Bedeutung beanspruchen könne. Der Titel ›Philosophie‹ dadurch aus einer streng rationalen, neuzeitlich aufgeklärten Tradition herausgenommen, und nun ausgedehnt (über­ dehnt) werde, auf unterschiedlichste Perspektiven und ›literarischästhetische‹ Möglichkeiten.515 Man mag sich nun darauf einlassen oder nicht. Es verstärkt sich der Eindruck, dass diese sich hier aufdrängenden Fragen das Philosophieren in jedem Fall als ‚geltungstheoretische Gestalt‘ und ›literarische Gestaltung‹ herausfordern. Und so sind es tatsächlich auch Fragen die die Philosophiegeschichte von Beginn an begleitet haben. Schon allein das sollte die vermeintlich ›reinen Kreise‹ (das Selbstverständnis) des wissenschaftlichen Philosophierens stören. Die Forderung einer ausdrücklichen Abgrenzung der Philosophie von Literatur ergibt sich also nicht zufällig. Notwendig sei als erstes ein Sich-Besinnen auf die Form des Philosophierens; und auf ihren damit eng verflochtenen, von dort her gründenden neuzeitlichen Gel­ tungsanspruch; mit Blick auf die (darauf vertraut man) philosophisch gesicherte Form des Philosophierens sei nun auch die endgültige Zurückweisung von allen als ›Irrationalismen‹ markierten möglich. Wir aber besinnen uns selbstverständlich von phänomenologi­ scher Seite her. Das ist keine Einschränkung phänomenologischen Philosophierens. Im Gegenteil. Wir setzen diese allgemeine neuzeit­ liche Herausforderung für Philosophieren wirklich umfassender; und vor allem existentiell radikaler. Das zumeist stillschweigend hinge­ nommene, wissenschaftliche Selbstverständnis neuzeitlicher Philo­ sophie klammern wir ein. Phänomenologisch scheint keineswegs entschieden, welche Gestaltung der ›Reflexion‹, sich wirklich und wesentlich als philosophisch letztgültig behaupten dürfe.516 Ein Blick auf die selbst unentschiedene Geschichte neuzeitlichen Philosophie­ 515 Dazu Paul Feyerabend. Erkenntnis für freie Menschen. Veränderte Ausgabe. Frankfurt/M 1980 516 Sehr extrem gesetzt eben bei P. Feyerabend. »Der Versuch einer Gesellschaft oder einer Gruppe von Menschen, selbst der Versuch eines einzelnen, ›den Menschen‹, ›die

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rens sollte dafür vorläufige als Begründung wohl genügen. Wer wollte in allem Ernst für sein Arbeiten, die Leistung seiner Reflexionen, noch den Anspruch erheben, erkenntnistheoretische, ontologische und metaphysische Herausforderungen ein für alle Mal endgültig ›wissenschaftlich‹ befrieden zu können; damit auch praktisch, die Mensch nach wie vor umtreibenden existentiellen Grund-Fragen stimmig beantwortet zu haben. Ein solches ›geglücktes‹ Philosophie­ ren wäre wahrhaftig berechtigt, seine Reflexionen als ›philosophische Grundlagen-Wissenschaft‹ zu behaupten. Das setzte dann Maß und Norm jeder Philosophie. Damit könnte mit Recht letztgültig darüber befunden werden, wer den Titel ›Philosophie‹ überhaupt noch für sein Denken in Anspruch nehmen dürfe. Nur dann wäre die Geltung der Philosophie ein für alle Mal vermessen. Nur so unbedingt geform­ tes Philosophieren könnte selbstbewusst bestimmen: ›extra muros, nulla salus‹! – Unser von Grund auf verunsichertes Philosophieren kann damit nicht dienen. Für Existenz-Phänomenologie bleibt das philosophische Maß des Philosophierens, die reflexive (existentielle) Reflexionen der Reflexionen der Möglichkeiten (Potentiale und Per­ spektiven) unseres wirklichen und wesentlichen Da-und-So-Seins. Und so erfahren wir auch die Ausgangs-Lage unserer Reflexionen mit uns selbst. Wir erfahren uns selbst als bedrängt. Philosophieren ver­ dichtet sich als Fragen von woher auf welche Weise wir irritierten und perturbierten Menschen überhaupt noch existentiellen Halt einführen und sichern können. Philosophieren bleibt, man mag sie positivistisch winden und transzendental drehen, Reflexion der Reflexionen der Daseins-Not des wesentlich wirklichen Menschen. Die uns umfassende Daseins-Not, richtet phänomenologisches Philosophieren also aus. Das stellt an uns selbst praktische und theoretische Fragen. Unsere Erfahrungen zwingen zur existentiellen Reflexion der Reflexionen unseres So-in-der-Welt-Seins. Diese so in den phänomenologischen Blick gerückte Daseins-Not umfasst die existentielle Lage wirklichen So-in-der-Welt-Seins als ‚Ganzes‘. Auch diese Fassung (eine ‚außergewöhnliche‘ Ausrichtung) unseres irritierten Da-und-So-Seins ist selbst eine existentielle Leistung. Lagen, Widerfahrnisse, alles was uns ›betreffen könne‹ wird existen­ Wissenschaften‹, ›die Philosophie‹ nach vernünftigen Prinzipien zu reformieren, ist nichts weiter als der Versuch, eine Tradition durch eine Instanz zu verdrängen, oder umzuformen, die zwar auch ›nur‹ eine Tradition ist, die aber wegen der besonderen Perspektive der Reformationen nicht als eine Tradition erscheint.« (39)

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tiell markiert. Dazu gehört, dass unsere Reflexionen nicht eingeengt werden dürfen; beispielsweise nur auf ›Angst‹, ›Sorge‹, ›Leid‹; ›Not‹, ›Schmerz‹, ›Krankheit‹. Es braucht keinen großen philosophischen Aufwand um zu zeigen, dass die mit diesen ‚Erfahrungen‘ einherge­ hende existentielle Beunruhigung, allen metaphysischen, ontologi­ schen, erkenntnistheoretischen und ethischen Suchbewegungen zugrunde liege. (Man lese die Geschichte des Denkens einmal aus dieser Perspektive.) Dass wissenschaftliche Philosophie, dem nur ein geringes Interesse entgegenzubringen scheine, ist ganz in ihrer, sich bewusst begrenzenden Ordnung. Diese, Mensch praktisch nach wie vor bewegenden, vielleicht sogar aufwühlenden existentiellen Heraus­ forderungen, bleiben für neuzeitlich vernünftiges oder wissenschaft­ lich-aufgeklärtes Philosophieren dunkel; rätselhaft, irrational, weil unvernünftig; also unwirklich. Und damit aus aufgeklärt-wissen­ schaftlicher, zu Optimismus berechtigten Zeit gefallen. Für manche sogar Vorstellungen eines irrsinnigen, pathologischen Muster.517 ((Und er kommt zu dem Ergebnis:/Nur ein Traum war das Erlebnis./ Weil, so schließt er messerscharf/nicht sein kann, was nicht sein darf. (Christian Morgenstern))

12.1.1. Existentielle Reflexion in Literatur und phänomenologischen Philosophieren. Schauen wir weiter selbst hin und uns zu. – Es kann eines nicht wirklich verborgen bleiben. Man mag unsere Grund-Fragen transzen­ dental wenden oder streng wissenschaftlich-analytisch zu begreifen suchen. Sie also (wie auch immer) in eine wissenschaftliche Frageord­ nung einzustellen versuchen. Unsere selbst erlebten existentiellen Herausforderungen bleiben. Und sind uns quälend präsent. Sind Vielleicht werden gerade deswegen, auch ›außerhalb‹ existentiellen Denkens (aber nicht unabhängig davon), die Grenzen ›transzendentalen Philosophierens‹ in den Blick gerückt. Beispielsweise bei Willi Oelmüller. »Die immer größer werdende Dis­ krepanz zwischen dem, was angeblich a priori ermittelt wird, und dem, was sich in der geistig-wissenschaftlichen und gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit der Moderne ausgebildet hat, macht es immer unwahrscheinlicher, dass die Transzendentalphilo­ sophie in Zukunft als eine allgemein anerkannte oder auch nur akzeptable Bestim­ mung der Philosophie wird auftreten können.« (Die unbefriedigte Aufklärung. Bei­ träge zu einer Theorie der Moderne von Lessing, Kant und Hegel. Frankfurt/M 1969. S 108 f.) 517

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also alles andere als unwirklich. Sondern praktisch, konkret, wirklich uns angehend. Und können nicht abgelegt werden: als abseitiges, spekulativ-erkünsteltes, verqueres, antiquiertes Treibgut aus vorwis­ senschaftlich mythischen oder theologische Zeiten. (Sollte man das wirklich, mit Blick auf sich selbst, nicht wahrnehmen können?) Da stellt sich dem Philosophieren eine schlicht anmutende Frage quer. Wie wir dieses je-eigene irritierte So-Da-Sein (auf das wir unser Philosophieren ausrichten und offensichtlich auch ausrichten können) überhaupt in den Blick bekämen? Das führt in jedem Fall vor ein Leisten eines Selbst-Selbst-Verständnisses. Diese Möglichkeit wirklich uns selbst-reflektieren zu können. Gleichsam ›Beobachter‹ und ›Beobachtetes‹ zugleich sein zu können. Und das ohne je-eigene Identität als gefährdet zu erleben. - Das überschreite doch wohl die als so bedeutend vorgeführte existentielle Dasein-Not. Solle man das nicht als eine weitere Bestätigung für vernünftig ausgreifendes Philosophierens lesen? Sich unaufgeregt erkenntnistheoretischen, ontologischen und anthropologischen Forschungen zuwenden. – Darf dies aber, so fragen wir mit Blick auf uns selbst, philosophisch als schon wirklich gesetzt genommen werden? Man erinnere sich an den markanten Satz Ernst Blochs. »Ich bin. Aber ich habe mich nicht.«518 Klar ist sich so-erfahren und so reflektieren zu können, ist eine eigenartige und sehr beachtliche Leistung. Bemerkenswert ist auch, dass uns Philosophierende das so selbstverständlich scheine, dass wir dieses Vermögen philosophisch (vom wissenschaftlichen und alltäglichen Denken und Handeln sei hier ganz geschwiegen) kaum mehr eigens in den Blick rücken. Das ist, es als für uns theoretisch und praktisch bedeutende Herausforderung lesen. Als eine sich selbst aufdrängende Aufgabe, in und mit dieser in Wirklichkeit alles andere als geltungssicheren Lage sich selbst als Selbst-Sein in den Blick zu bekommen. Und das mit der begleitenden Gewissheit, das bin Ich wirklich und wesentlich; das und so ist unsere wirkliche Welt als meine mir gewisse Welt-Habe. Eine korrelative Ordnung, die unser Selbstverständnis von Anfang an tragen solle. Und endlich erfahren wir als existentielle Summe dieser Reflexionen (unseres radikalen Philosophierens), dass es sich trotz allem ›lohne‹, die Reflexionen seines So-in-der-Welt-Seins sorgsam und mutig philosophisch zu entfalten, und dass unser (uns verstörendes) So-Da-Sein ein ›sinn­ volles Leben‹ ermögliche, das lohne, selbst noch mit Blick auf sein 518

Tübinger Einleitung in die Philosophie I. Frankfurt/M 19717. S 11

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Ende, (vielleicht sogar – das mag befremden – gerade deswegen), gelebt zu werden. Einsichten, die sich behaupten lassen nicht trotz existentieller Reflexion der Reflexionen, sondern als ihr konsequentes Ergebnis.519 – Dies alles haben wir selbst im Blick soweit wir selbst zu schauen vermögen. Nun ein weiterer Perspektivwechsel, ohne uns selbst dabei aus den Blick zu rücken. Dass sich die Idee der ›Objektivität‹, wie sie noch in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts als Leitbild galt, nicht mehr aufrechterhalten lasse, braucht keiner breiten Aus­ führung. Selbst in den Naturwissenschaften sei der Glaube an die ›Möglichkeiten ganz und gar objektiver Vorstellung‹ erschüttert. »Die Relativitätstheorie habe uns an den Rand des Abgrunds der Subjektivität geführt, doch die Quantenmechanik hat uns in diesen Abgrund hinabgestürzt.«520 – Von dort her nun wieder zur Reflexion der Reflexionen der schönen Literatur. Literatur ist selbst schon Reflexion. Ist wie Wissenschaft, Religion, und Philosophie, Entfal­ tung der ›gespannten‹ (verwirrenden, vieldeutigen) Möglichkeiten unseres Da-und-So-Seins. Und als ›Reflexion‹ fordert Literatur, wie Wissenschaft, Religion, Kunst und (auch) Philosophie existentielle Reflexionen, die sich radikal weitertreiben. Wie immer man sich zu diesen Fragen stellen mag, wie umfassend man beispielsweise die gesellschaftliche, soziale, politische oder auch ›existentielle‹ Bedeu­ tung der Tragödie, eines Romans, der Lyrik setzt; welchen mittelbaren Einfluss auf uns wir also ›Literatur‹ (oder auch Kunst allgemein) glauben zuschreiben zu können, eines könne wohl kaum geleugnet werden. Literatur beunruhigt und fasziniert; und beeindruckt sogar selbst das Philosophieren.521 Das können wir an der Philosophie Wahrhaftig philosophisch kein ›Sondervotum‹. Beispielsweise Georg Misch; er stellt die Lebensphilosophie Diltheys in einen größeren philosophisch-systemati­ schen Zusammenhang. »aus der philosophischen Besinnung beim vollen Durchhalten der Aufklärung, die unsere menschliche Existenz in ihrer Tatsächlichkeit nach unserer Lage in der Welt zu sehen wagt« erwachse »dank dem gleichmächtigen metaphysi­ schen Zuge, der Mut und die Kraft (…), zu diesem rätselhaften Leben Ja zu sagen, (…).« (19312/1975. S 60) 520 Hans Christian Baeyer. Das informative Universum. Das neue Weltbild der Physik. München 2005. S 25 521 Das gilt auch dann, wenn man die Bedenken von Susanne K. Langer teilt: »Die Sorte Kunsttheorie, die den Wert des Dramas daran misst, wie es das Leben darstellt oder welche Ansichten über das Leben des Dichters in es hat einfließen lassen, führt die Kritik nicht nur von der Dichtung weg und hinzu Philosophie, Religion oder Gesellschaftstheorie, sie veranlasst auch dazu, im Protagonisten einen gewöhnlichen 519

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interessierten gar nicht übersehen. Und Belege wären auch aus der neuzeitlichen Philosophiegeschichte leicht zu erbringen. So könne man auch aus unterschiedlicher Perspektive und mit jeweils stichhal­ tiger Begründung, ein zu-, mit- oder gegeneinander von Philosophie und Literatur entwerfen; oder es auch fordern als ‚notwendig‘ für die Literatur oder umgekehrt für die ›strenge‹ Philosophie. Sei es auch nur um die beunruhigende erkenntnistheoretische (anthropologisch vielleicht sogar ‚ontologisch‘ bedeutsame) Unschärfe der Grenzzie­ hung zwischen diesen Perspektiven endlich grundsätzlich zu klären. Was also, etwas allgemeiner gefragt, ›schöne‹ Literatur für Leser existentiell bedeuten wolle und könne? Ob Literatur beispielsweise nur (wie man gemeinhin sage) ›ästhetischen Genuss‹ ermögliche (und intendiere); oder, interessante Erlebnisse, spannende Erfahrun­ gen biete, ungewöhnliche Perspektiven eröffne; kurzum, irgendwie Abwechslung, sogar Fluchten aus unserem grauen Alltag (Zeitver­ treib für Langeweile) ›inszeniere‹? Oder, gemessen an Philosophie ihr, im weitesten Sinne, ›schöngeistige Bedeutung‹ zukomme? Was aber, diese Frage schließt sich unmittelbar an, die Rede von einer bloß ›ästhetischen Perspektive‹ denn meine? Man denke doch nur an diese, zumeist auch philosophisch unreflektiert hingenommene ›Selbstver­ ständlichkeit‹, wie so unterschiedliche, auch widersprüchliche, phan­ tastische, abgründige, widersinnige, aber ›mögliche‹ Wirklichkeiten unseres So-Da-Seins, in den Blick gerückt, und sogar als ›wirklich‹ reflektiert und verstanden werden können.522 Offensichtlich zeigt das Gestaltungen unserer weiten konstitutiven Potenzen. Entlang derer wir uns selbst in unseren Blick zu rücken vermögen. Schon allein dies sollte anthropologisch herausfordern; und philosophisch weiter zu denken geben.523 - Ob der ›überschwänglichen Perspektive‹ Mitmenschen zu sehen, der gutgeheißen oder verurteilt und in jedem Fall bemitleidet werden soll.« (2018). S 580 522 Selbst ein so strenger Geltungstheoretiker wie Hans Wagner greift ein literatur­ wissenschaftliches Thema auf. Vgl. Ästhetik der Tragödie. Von Aristoteles bis Schiller. Würzburg 1987. Er führt vor, welche Bedeutung dem Philosophieren auf diesem Felde zukommt. 523 Beispielsweise dazu Alexander Nehamas: »Literarische Ideen bleiben, so ›philo­ sophisch‹ sie auch sein mögen, an die Texte, in denen sie auftreten, gebunden. Thomas Mann Spekulationen über die Durchdringung von Sinnlichkeit und Geist in der menschlichen Seele z. b. können nur im Lichte der Liebesaffäre zwischen Hans und Clawida erörtert werden. Im Gegensatz dazu entspringt Platons Unter­ scheidung zwischen dem begehrenden und dem vernünftigen Seelenteil zwar der spezifischen Absicht, Sokrates Lebensweise zu erklären, zu rechtfertigen und systema­

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der Romantiker wir uns näher fühlen, oder (beispielsweise) dem ›sozialkritischen Selbstverständnis‹ des literarischen Naturalismus ›recht geben‹, sollte uns nicht in Streit bringen. An einem könne es keinen ernsthaften Zweifel geben. ›Die Literatur‹ ist nie nur ›Spie­ gel‹, mit dem irgendein In-der-Welt-Sein, irgendeine lebensweltli­ che Lage, faktisch (›naturalistisch‹, ›objektiv‹, ›wirklich-wirklich‹) ›reflektiere‹. Da sind vor allem schon die ›konstituierenden Akte‹, die ein Lesender selbst als ›Rezipient‹ leistet. Er mag sich dessen bewusst sein oder nicht. Das sind immer willkürliche und unwillkürliche Leistungen einer Mit-Autorenschaft. Um das bei sich selbst mit seinem Lesen (als ›Aufbau einer/meiner Wirklichkeit‹) zu erfahren, braucht es wahrlich kein literaturwissenschaftliches Studium. Dazu gehört etwas, das uns mit Blick auf unser irritiertes Da-und-So-Sein nun auch phänomenologisch interessiert. Dass gerade literarisches Arbeiten (diese Form Geschichten vorzustellen) das eigene Welt- und Selbst-Vorstellen (können) als ›fragil‹ einführe; der Lesende dabei sich selbst als eine Möglichkeit reflektiere. Dass es mit dieser Vor­ stellung, etwas ›aus sich‹ sprachlich gestalten und das so Gestaltete ›festhalten‹ zu wollen und sollen, alles andere als einfach bestellt sei. Das gelte ganz unabhängig von den ›literarischen Spitzenleistungen‹, der, wie man sagt, ›innovativ großen Kunst‹.524 (Man denke in diesem Zusammenhang beispielsweiset an Hofmannsthal viel zitierten: Brief des Lord Chandors). Das scheint zu bestätigen dass auch unser alltägliches, zuerst und zumeist so selbstverständlich gelebtes Weltund Selbst-Verstehen, sich alles andere als eineindeutig vorstelle und begreifen lasse. Gerade von diesen Möglichkeiten der Reflexion literarisch-ästhetischer Konstitution her, drängen sich Zweifel an ›naiven‹ (wissenschaftliche Perspektiven mit eingeschlossen) sicher geglaubten Welt-Haben und Selbst-Sein nach vorne. - Alles und tisch darzustellen, führt aber darüber hinaus ein Eigenleben. Sie kann und muss ohne Bezugnahme auf Sokrates erörtert werden (…). In diesem Sinne sind philosophische Ideen abstrakt, führen ein von den ursprünglichen Zusammenhängen losgelöstes Eigenleben.« (Die Kunst zu leben. Sokratische Reflexionen von Platon bis Foucault. Hamburg 2000. S 57) 524 Vgl. dazu Oskar Becker, der, Fragilität als ›Grundzug des Ästhetischen als solchen‹ einführt. »Fragilität heißt ›Zerbrechlichkeit‹. Zerbrechlich ist alles allzu sehr Zuge­ spitzte, Überschärfte – zumal wenn es unter einer gewaltigen inneren Spannung steht. Das Schöne ist das Seltene, Erlesene. Als Werk gedacht ist es eine Spitzenleistung. (…) Und jede solche Spitze ist zerbrechlich.« (Von der Hinfälligkeit des Schönen und der Abenteuerlichkeit des Künstlers. Eine ontologische Untersuchung im ästhetischen Phänomenbereich. (1929) Pfullingen 1963. S 11)

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jedes, das ernst genommen, scheine ›ästhetisch‹ nun vorgestellt, und von dort her gelesen, als subjektiv-perspektivisch gebunden. Das übergibt unserem existentiellen Philosophieren ein ganzes Bündel uns selbst und unsere Reflexionen scharf angehenden Heraus­ forderungen. – Dieser Blick auf Literatur (und Kunst ganz allgemein), und von dort her auf uns zurück, gehört unbestritten selbst zu unserer neuzeitlich-modernen Geschichte der Reflexion. (Besonders beredt ist hier die Geschichte des Romans.) Das soll auch nicht vergessen werden. Wir bewegen uns dabei selbstverständlich weiter im Horizont existentieller Reflexion der Reflexionen unseres phäno­ menologischen Selbst- und Welt-Verständnis; unserem irritierten philosophischen Fragen nach Selbst-Sein und Welt-Haben. Da wären schon (sagen wir) eher ‚formale Einsichten‘ und daraus abzuleitende Forderungen für phänomenologisches Philosophieren. Literarische Perspektiven scheinen etwa zu bestätigen, dass für umfassende Reflexionen modernen Da-und-So-in-der-Welt-Seins, es nicht hin reiche, ›Sprache‹ nur als Form (›Logos‹) oder rational verwandtes Instrument möglicher Gestaltung der Vernunft begreifen zu wollen. Philosophisch oder wissenschaftlich ›Sprache‹, ›Sprechen‹, oder auch ›Erzählen‹, ›Mitteilen‹, ‚Beschreiben‘, nur instrumentell als mögliche ›sprachlogische‹, ›erkenntnistheoretische‹ Mittel einzuführen. Mit der gut gemeinten Absicht, eine vernünftig-rationale Menschenwelt durch systematische Ordnung der Sprachwelt ›herzustellen‹. Das setze, sagt man, selbstverständlich voraus, die naiv, unreflektiert hingenommen ›irratonalen Sprachmuster‹ kritisch in den Blick zu rücken. Um dann Sprache und Sprechen (auch der Philosophie, der Wissenschaften, vor allem der Theologie) ›puristisch-wissenschaft­ lich zu reinigen. Sicher sei das eine der Grundvoraussetzungen für weiteren Auf- und Ausbau ›vernünftiger Aufklärung‹ unseres Daund-So-Seins. Wissenschaftlich zu leisten wäre also ›Sprache‹ für sich selbst auch praktisch in ›Geltung (als Korrelat) der Vernunft‹ zu setzen. Und schließlich, von dieser ideal aufgeklärten Bestimmung der Form und Verwendung der Sprache her, kritisch wissenschaftlich und philosophisch-rational Welt und Selbst miteinander in stimmig ver­ nünftige Korrelation zu bringen. Damit endlich die Bedingung für eine vernünftige, humane Lebenswelt einzuführen; ein So-in-der-WeltSein diesseits jeder irrational sich positionierenden Metaphysik. Der Weg vom Mythos zum Logos führe eben über vernünftige Ordnung der Sprache und des Sprechens. – Darin scheinen sich wissenschaftli­ ches Philosophieren, rationale Wissenschaft und aufgeklärte Literatur

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(gesellschaftlich relevante Kunst) einig zu sein. An einer vernünftigen Zusammenarbeit fortschrittlicher Menschen, an der Vollendung der Aufklärung, beim ›Zukunft-Projekt der Moderne‹. Ein sich so aufgeklärt aus- und ein-richtender Mensch, nehme doch wohl – sollte man meinen – auch seinen eigenen Reflexionen gegenüber eine kritische Perspektive ein. Eigenartig also, dass dieser ›kritische Mensch‹ sein Welt- und Selbstverständnis auf nur eine Perspektive einschränke. Und dabei sozusagen ›die Rechnung ohne den Wirt‹ mache. Kurz, die ›breiten‹ Möglichkeiten, die Potentiale seines (nicht zuletzt auch ›unwillkürlichen‹) Da-und-So-Seins ver­ dränge und verkenne.525 – Phänomenologisch leicht einzusehen ist, dass diese Perspektiven für unsere Wirklichkeit existentiell unzuläs­ sige Verkürzungen vorstellten. Allein schon als ob überhaupt fest­ stünde, wer durch wen schließlich ›Aufklärung‹ über was erhalten könne und solle, oder, wer was berechtigterweise einfordern, und im Allgemeinen und Besonderen ›Bedeutungen‹ für Selbst-Sein und Welt-Haben theoretisch und praktisch festlegen und ordnen dürfe. Wer also auf Grunde von was, autorisiert sei, ›unsere Welt‹ auf diese oder jene (wissenschaftlichen) Begriffe zu bringen. Offensichtlich brauche es doch für eine wirklich umfassende Wahrnehmung dieser Vorstellungen, die unser In-der-Welt-Sein reflektieren, (beispiels­ weise, Roman; Drama; oder Gedicht) breiter angelegte Entfaltungen. Um von Beginn an nicht missverstanden zu werden sei eines festge­ halten. Literatur im Allgemein, Literarische Werke im Besonderen, einschließlich ihrer Darstellungsformen, Perspektiven, Sujets, (usw.) sind zurecht differenziert eingeführt als ›Thema‹ unterschiedlicher literaturwissenschaftlicher, und psychologischer, soziologischer, oder kultur-historischer, auch wissenschaftlich-philosophischer Reflexio­ nen. Für diese Wissenschaften sind es so oder so gesetzt ›Objekte‹ ihrer Forschungen. Und es kann, das Selbstverständnis neuzeitlicher Zurecht schreibt Eduard Spranger. Schon wirkliches Erkennen bleibe »immer verflochten mit ästhetischen, religiösen und ökonomischen Motiven. Die Stufe der Mythologie zeigt dies besonders deutlich. Es wäre aber ganz falsch, zu glauben, dass aus unserem heutigen wissenschaftlichen Erkennen alle Mythologie restlos ausgeschieden sei. Die theoretische Einstellung ist eigentlich nur eine Tendenz, die (so wenig wie die anderen Einstellungen, die wir behandeln werden), im lebendigen Menschen niemals isoliert und in absolut vollendeter Wertgemäßheit (Idealität) auf­ treten kann. Der rein theoretische Mensch ist nur eine Konstruktion.« (Lebensformen. Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persönlichkeit. (Hier) München und Hamburg1965. S 102) 525

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Wissenschaften ernst genommen, nicht anders sein, ›Objekte‹, die ihrer Sache gemäß, entsprechend methodisch auch bearbeitet werden können. Im Blick sind sie als Etwas, dass erst, wie alles andere auch, nur wissenschaftlich begriffen praktisch zu sich kämen. Selbst auch für das eigne Selbstverständnis erst als geklärt gelten könne, wenn es wissenschaftlich-objektiv vermessen, in neuzeitlich-aufgeklärte Welt-Habe und Selbst-Sein als (beispielsweise Kunst-Werk) begrif­ fen eingeordnet wäre. Wobei neuzeitliche Philosophie für sich auch hier, besondere Vorrechte des begründeten Verstehens, eines verste­ hen-verstehen-könnens, reklamiere. Sei sie doch als grundsätzlich selbst geklärte, sich, als einzige der Wissenschaften, selbst vernünftig aufklären-könnende Perspektive der Reflexion, und damit für alle wirklich wissenschaftlichen Fragen wortwörtlich ›geltungssicher‹. Mögen andere Wissenschaften auch tatsächlich ›etwas begreifen‹, erst neuzeitliches Philosophieren führe vor, die Bedingungen dieses möglichen Verstehen-, und Begreifen-könnens. - Ob also, das ist unsere Frage, von vorneherein feststehe, dass dem neuzeitlich-ver­ nünftigen, dem transzendental-wissenschaftlichen Philosophieren, in jedem Falle das ›letzte‹ Wort zu sprechen zustünde. Selbstver­ ständlich sogar vor allem über Sinn und Wert dieser Vorstellungen der möglichen Vorstellungen menschlichen Daseins. Man denke beispielsweise an die aus der Philosophiegeschichte übernommenen vertrauten Ordnungen der theoretischen und praktischen Reflexionen der Geltung. Philosophie der Vernunft ermögliche, das richtet neu­ zeitliches Philosophieren als selbstverständlich aus, dass es als Wis­ senschafts- und Erkenntnis-Theorie, den formal-theoretischen, letzt­ gültig logisch-ordnenden Blick für jede überhaupt mögliche Reflexion stelle. Selbstverständlich wären davon literarisch ästhetische Formen der Reflexion unseres In-der-Welt-Seins nicht ausgenommen. Oder schauen wir hin auf die damit verwandten Varianten. Philosophieren reflektiere als ›Philosophie der Kunst‹, im weitesten Sinne ästheti­ sche Gestaltungen, Begriff, Kategorien; erarbeite die Grundgestalten des ›Schönen‹, ›Kunstwahrnehmen-könnens‹ (usw.); kurz, setze die Bedingungen der Möglichkeit von Kunst; und damit auch, die ›Lage der Künste‹ zueinander; genauso wie den Grund der Vorstellungen der ›Kunstproduktionen‹; die Reichweite des ›Kunsterlebens‹; (usw.; usf.) Von dort her entfalten sich dann, die neuzeitlichen Perspektiven einer (beispielsweise) Soziologie, Psychologie, oder Geschichte der Kunst. Und so verhelfe ›philosophische Reflexion‹, das vorausgesetzt, ›der modernen Literatur‹ erst zu ihrem Selbstverständnis, zu ihrer

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12.1. Literarische Reflexionen als existentielle Grundlagen-Forschung

Bedeutung als Kunst.526 Nicht anders als sie mit anderen möglichen theoretischen und praktischen Gestalten und Gestaltungen der Weltund Selbstzuwendung verfahre. Man denke an Reflexionen, die bei­ spielsweise als ›Philosophie der Wirtschaft‹; ›der Gesellschaft‹, ›der Kultur‹, ›der Natur‹, oder, ›der Geschichte‹, ›der Religion‹, auch ›des Mythos‹ gesammelt und eingerichtet werden. Und so dürfe man, alles in allem, wohl mit einigem Recht sagen, wer wissen möchte, was Kunst tatsächlich, wirklich und wesentlich sei; welchen Wert man ihr zuschreiben könne; und auch wie man damit praktisch umzugehen habe, suche nicht direkt (›naiv‹) Antworten in diesem oder jenem Kunst-Werk, unmittelbar in einem Werk der ›schönen Literatur‹.527 Unsere Perspektive nun ein klein wenig gewendet; und fokussiert auf unser existentielles Philosophieren. Mit Blick auf die lebensweltli­ che Bedeutung der Literatur, (sie könne wohl kaum in Abrede gestellt werden), scheine es zumindest unzureichend, das Verhältnis ›Litera­ tur und Philosophie‹, einseitig nur unter wissenschaftstheoretische oder enge ›rational‹-kunstphilosophische Perspektiven zu bringen. Ist es denn, frage ich, wirklich schon entschieden, wer wen in den Blick zu nehmen habe? Oder, mit Hölderlin, es vielleicht in Wahrheit doch Welt und Selbst tief (und ‚anders‘) schauenden Dichtern zustünde, für den Menschen das entscheidende, das sogar abschließend-erlö­ sende Wort‘ zu sprechen. (»Was bleibt aber, stiften die Dichter.«) Es würde aber der phänomenologischen Möglichkeit der existentiel­ len Reflexion der Reflexionen unserer Lebenswelt, genauso wenig gerecht werden, diese gespannten Verhältnisse Kunst und Philoso­ phie, Philosophie und Literatur, oder auch Kunst und Wissenschaft, in ein schroff gesetztes ›entweder – oder‹, oder dogmatisch in ›nur so und nicht anders‹, zu bringen.528 (Man denke beispielsweise als 526 Ein erster Überblick bei Heinrich Lützeler. Kunsterfahrung und Kunstwissenschaft. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Darstellung und Dokumentation des Umgangs mit der bildenden Kunst. Freiburg/München 1975. S 805 ff. 527 ›lies keine oden, mein sohn, lies die fahrpläne:/sie sind genauer. Roll die seekarten auf,/eh es zu spät ist. Sei wachsam, sing nicht. (…). (Hans Magnus Enzensberger) 528 Wer sich mit den unterschiedlichen ›Philosophien‹ der Kunst beschäftig, wird sicher Susanne Langer zustimmen: »Philosophische Überlegungen zur Kunst bilden eine große, faszinierende Literatur, die von gelehrten Abhandlungen bis zu reiner Belletristik reicht: Essays, Aphorismen, Memoiren, ja Dichtung. In diesem gewach­ senen Fundus ist eine reiche Vielfalt von Lehren dargelegt worden, einige davon sind die Blüte einer langen Tradition, andere wieder sind recht jung, manche haben geniale Einsichten, sind unsystematisch und doch tiefschürfend, und alle liegen in uneinheitlicher Fülle vor, so dass ihre natürliche Verbundenheit miteinander und mit

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12. Philosophie und Literatur

Illustration an das ›elitär-enge‹ Welt- und Selbstverständnis, das im ›George-Kreis‹ vertreten worden war.) So als gebe es zwischen wissenschaftlicher Vernunft und wesentlich wirkliches Leben, und zwischen Ratio und Fühlen, oder zwischen Intuition und Diskursiv, und – das sei auch hier nicht vergessen – zwischen transzendentaler und existentieller Phänomenologie, nur mehr schroff-dissonanten, grundsätzlich-unversöhnlichen Gegensatz. Und nicht, entsprechend unserem wirklichen und wesentlichen (›ganzen‹) Da-und-So-Sein, ein spannendes mit-, und gerade so verbundenes gegeneinander. Es bleibt unbestritten, dass gerade dieses thematisch eng gefasste, erkenntnis-, wissenschafts-, oder sich selbst sogar ausschließlich ‚empirisch‘ begreifende kunsttheoretische Philosophieren, für das allgemeine Kunst-Verständnis der Moderne, für die Konstitution des als wirklich geltenden Kunst-Begriffs, Sinn zu machen scheine. Und das auch über die beispielsweise psychologischen, soziologischen, historischen Reflexionen der Kunst hinaus; nicht einmal durch die Kunstwissenschaft selbst, oder, mit Blick auf Literatur, durch die Literaturwissenschaften ersetzt werden könne. - Das macht nun aber existenz-phänomenologische Reflexionen noch verwirrender. Blei­ ben wir nur weiter konsequent bei unserem phänomenologischem Selbst-Selbst-Schauen; unserer reflexiven Reflexion der Reflexionen. Und sehen zu, was es selbst vorführt. Wie weit es hier wirklich trägt. Schon ein erster oberflächlicher Blick, gab uns diese Gewiss­ heit. Das was existenz-phänomenologisch interessiert wird durch eine streng erkenntnistheoretische oder auch bloß ›ästhetisch‹ ausgerich­ tete ›Philosophie der Literatur‹ nur am Rande mitberührt.529 Um nicht missverstanden zu werden. Diese ›traditionellen‹ Fragen bleiben auch für phänomenologisches Philosophieren von wesentlicher Bedeutung. (Das führen beispielsweise auch Roman Ingardens phänomenologi­ sche Reflexionen des ›literarischen Kunstwerks‹ vor.) Von ›wesentli­ cher Bedeutung‹ ist ›Literatur‹ (und ›Kunst‹ allgemein) aber immer nur mit Blick auf uns selbst als wirkliches So-in-der-Welt-Sein. Das mag trivial scheinen; darf uns aber nicht mehr aus dem Blick geraten. Phänomenologisch dies in den Blick zu rücken, bedarf mehr als ein sich gelegentlich mit ›schöner Literatur‹ auseinander-, oder sich so oder so ins Benehmen zu setzen. Etwa dieses oder jenes literarische der Geschichte und Gegenwart der schöpferischen Künste verdunkelt wird.« (2018). S 70 529 Beispielsweise, Roman Ingarden. Vgl. Das literarische Kunstwerk. Tübingen 19724

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12.1. Literarische Reflexionen als existentielle Grundlagen-Forschung

Werk (warum auch immer) etwas genauer, intensiver, begreifen, verstehen zu wollen. (‚Irgendwie interessiert mich die Geschichte der Duineser Elegien‘.) Oder wissenschaftlich-abstrakter, mit Blick auf diese oder jene ›Abgrenzungsfragen sich mit Texten beschäftigen; oder sich von diesen oder jenen ästhetischen Besonderheiten, Stilfra­ gen, (u. ä.) herausfordern lassen. Oder, und geradezu ›klassisch‹, sich mit Blick auf ein Werk fragen: was diese literarische Arbeit denn eigentlich zu einem künstlerisch wertvollen mache oder eben nicht? (Darf den Romanen von Hedwig Courths-Mahler literarische Dignität abgesprochen werden?) Das bleibt mit in unserem Blick. Wir werden nämlich sehen, dass das durchaus existenz-phänomeno­ logisch interessierende Fragen einführe. Phänomenologisches Philo­ sophieren kann als existentielle Reflexion der Reflexionen unseres irritierten und perturbierten Selbst- und Weltverständnisses, es nicht mit erkenntnis-, wissenschaftstheoretischen, oder mit diesen oder jenen ästhetischen Perspektiven, oder auch mit diesen oder jenen kunstphilosophischen Fragen genug sein lassen. (‚Wie unterscheidet Wilhelm Perpeet ›Ästhetik‹ von ›Philosophie der Kunst‹‘?) – Das kann von bisher schon entfalteten existentiellen Selbst-Selbstverständnis her auch nicht anders sein. Und darüber noch hinaus mit Blick auf die philosophische Bedeutung, die existentielle Phänomenologie der Kunst im Allgemeinen, der Literatur, der Lyrik im Besonderen zugesteht.530 Kunst und Literatur sind für phänomenologisches Philosophieren in einem besonderen Sinne schon existentielle Reflexionen unseres Da-und-So-Seins. Klar ist, dass wir hier weder einen historisch engen Begriff von ›Kunst‹ noch von ‚Philosophieren‘ vorstellen.531 - Phänomenologisches Philosophieren sieht sich also selbst schon durch die Gestalt eines literarischen Welt- und Selbstverständnis existentiell herausgefordert. Ausdrücklich als ›Philosophieren der irri­ tierten Existenz‹. Phänomenologische Reflexion der Literatur erfährt sich so ausgerichtet, als Reflexion dieser Reflexionen selbst als wahr­ 530 Vgl. bei Eduard Spranger: »Es ist das Wesen der Dichtkunst, dass geistige Gehalte weitester Bedeutung in einer Objektebene zur Darstellung kommen sollen, die wesentlich durch die Sprache der Bilder, der Anschauungen spricht.« (Gerade das kommt phänomenologischem Philosophieren entgegen.) Schillers Geistesart. In: (1972). S 211 531 Etwa so: »Werke der schönen Kunst sind Artefakte. Hierbei kann es um durch Menschenhand verfertigte Objekte gehen, um Texte oder durch menschliches Tun zustande gebrachte Konstellationen von Dingen und Personen(etwa auf der Bühne).« (Thomas Baumeister. Die Philosophie der Künste. Von Plato bis Beuys. Darmstadt 2012. S 398)

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12. Philosophie und Literatur

haftig existentielle Selbst-Selbst-Erfahrung. Gleichsam ein sich mit literarischen Texten ›bewegen-müssen‹ in ungesicherte Horizonte der Reflexionen unseres So-in-der-Welt-Seins. Sich immer wieder als Reflektierender zurückgeworfen erfahren (müssen) auf unser rätsel­ haftes So-Da-sein selbst. ›Auch das bin ich‹. Wir Philosophierende werden also durch existentiell-phänome­ nologische Reflexion der schönen Literatur auf ganz und gar nicht gesicherte philosophische Reflexion zurück-verwiesen. - Man denke, für unseren nächsten kleinen Schritt, zunächst an diese oder jene anthropologisch-existentiellen Ansprüche, die man selbst mit ›der Kunst‹ im Allgemeinen, der modernen Literatur im Besonderen als selbstverständlich verbindet. Vielleicht sogar Ansprüche, die man durchaus schon ›philosophische‹ nennen könne. Und das, ohne dass man sich um ›die Philosophie‹ (als universitäres Fach) oder ›die Literaturwissenschaften‹ schere. - Weder theoretisch noch praktisch werden im Allgemeinen aufdringlich philosophische oder wissen­ schaftliche Ansprüche mit ‚literarischen Werken‘ erhoben oder erwar­ tet. Wobei Ausnahmen, die wir nicht übersehen, (beispielsweise Robert Musil), diese Regel bestätigen. Eines könne wohl trotzdem kaum geleugnet werden. Die Vorstellungen der Kunst – und nicht nur die der Moderne - weiten unsere Wahrnehmungen; schärfen unsere ›Sinnlichkeit‹; und fordern, das ‚im Blick‘, weitere Reflexionen heraus. Kurzum, gestalten also unsere › wirklichen Wirklichkeiten‹ mit. Das greift über eine, mehr oder weniger willkürlich gefügte (abstrakte) ›ästhetische Ontologie‹ hinaus. Man denke nur an die selbstverständlich scheinenden theoretischen Ordnungen und prak­ tischen Muster unseres alltäglich gelebten So-in-der-Welt-Seins. Und wäre es auch nur durch bewusst nicht mehr genau rückführ­ bare Bilder, oder Sedimente, Farben, Gerüche, oder auch Figuren, unwillkürlich aufsteigende Gefühle, oder auch zumeist zurückgehal­ tene Lebensmuster, die unwillkürlich präsent unser Leben begleiten, sich nun ›bei Gelegenheit einer Lektüre‹ reflektieren. Man erinnere sich etwa an Missfallen, Abscheu, an uns Angenehmes, uns Ergrei­ fendes, Ängstigendes, Erregendes. – Um nicht missverstanden zu werden. Wobei auch mit besten Willen, nicht jede dieser ›Vorführun­ gen einer Lektüre‹ mit dem Label ›ästhetisch-bedeutend‹, ›heraus­ ragend-künstlerisch‹, ›kulturell-wertvoll‹ versehen werden brauche (und könne). Selbstverständlich verbleibt immer auch ungeklärtes Selbstverständnis. Hochkultur oder triviales Vergnügen; kulturell bedeutsam oder Kitsch, Trash. Ernste- oder Unterhaltungsmusik.

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12.1. Literarische Reflexionen als existentielle Grundlagen-Forschung

Ohne dass wir dies im Einzelnen klar zu machen brauchten, ist damit offensichtlich eine wie selbstverständlich scheinende, geradezu ›onto­ logisch‹ konstitutive Perspektive eines Welt-Habens und Selbst-Seins mitgesetzt. Vorstellungen, Perspektiven ›der Kunst‹ entwerfen uns unsere wirkliche Wirklichkeit. Einschließlich des, von dort her von uns geforderten, rechten, wertvollen Verhaltens. ›Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst‹ (Schiller. Wallensteins Lager) Das sind Reflexio­ nen, die phänomenologisch nicht als ›banausisch‹ oder als ‚zufällig‘ (ein ‚bürgerlicher Kunstbegriff‘) beiseitegelegt werden dürfen. Von vorne herein, in ein Abseits gestellt; mit den phänomenologisch bewegenden, uns angehenden existentiellen Fragen, die wir mit der Reflexion ›der wahren Kunst‹ zu stellen vermeinen, nichts zu tun hätten. Ein ›totes Gleis‹ also. Abgetan mit dem Verdikt: das wären Gestaltungen ›diesseits‹ der Kunst, der ›schönen‹ (›großen‹; ›hohen‹) Literatur; und habe auch mit ›existentieller Kultur‹ nichts zu schaffen. Damit ist aber keineswegs über ihre Bedeutung als Reflexion unseres So-in-der-Welt-Seins entschieden. Ob also, fragen wir so, dieses umlaufende (historisch gewordene) Verständnis von ›Ästhetik‹ die Gestaltung der Reflexion unseres Da-und-So-Seins wirklich und wesentlich zu umfassen überhaupt in der Lage wäre? Das sollte philosophisch zumindest beunruhigen, sollte weiter zu denken geben. Für uns heißt das wieder selbst hinzuschauen und unserem Hinschauen zuzuschauen. Es weist existenz-phänomenolo­ gisch Philosophierende, sich selbst-selbst-schauende in jedem Fall über die vertrauten ›ästhetischen‹ (etwa, ›spielerisch‹, ›harmlos‹, oder ›feierlich‹, ›hohe‹) Bedeutungen ›der Kunst‹, ›der Literatur‹, hinaus. – ›Ästhetische Reflexionen‹ werden phänomenologisch ›gelesen‹, als Möglichkeiten existentieller Reflexion irritierten So-in-der-WeltSeins. Zumindest also das. ›Kunst‹, phänomenologisch möglichst weit gefasst. Eine sich hier einordnende schöne Literatur, erfahren wir phänomenologisch als Vorstellung möglicher Formen der Refle­ xion unserer Selbst- und Welt-Vergewisserung.532 Und damit, um daran anzuknüpfen, eine unser existentielles Philosophieren heraus­ fordernde, sogar ausrichtende Perspektive. Diese anthropologischBei Ernst Robert Curtius so: »Der epische Künstler macht ein neues Stück Welt sichtbar. Er baut eine objektive Wirklichkeit auf. Mit dem ersten Satz Ulysses sind wir mitten hineingestellt. Nicht ein Erlebnis wird mitgeteilt, sondern ein vom Schreibenden losgelöste Bilder- und Gestaltenreihe.« (Hermann Hesse. In. (1984). S 212 532

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12. Philosophie und Literatur

existentiell-konstitutive Fassung von ›Kunst‹ und ›Literatur‹ wird vonseiten der sich als vernünftige Wissenschaft begreifenden Philo­ sophie übersehen; oder als philosophisch nicht-relevant, vielleicht auch als ›irrational‹ für vernünftig-begründete, wirklich wirkliche Welt- und Selbst-Erkenntnis verworfen. Wie sollte auch eine solche Vorstellung von Kunst und Literatur ernsthaft philosophische Bedeu­ tung für Philosophie beanspruchen können? Vielleicht sogar gleich­ rangig neben vernünftige Perspektiven des strengen Philosophieren eingeführt werden? Die neuzeitliche Ordnung für Erkenntnistheorie und aufgeklärter Anthropologie sei hier doch klar. ›Kunst‹ und ›Lite­ ratur‹ bleiben philosophisch, von wo aus auch immer geschaut, im philosophischen Blick als ›Themen‹, (also als einer Klärung bedürftige ›Vorstellungen‹; als ›Objekte‹ philosophischer und wissenschaftlicher Forschung) einer ›Philosophie oder Wissenschaft der Kunst‹ oder einer ›philosophischen oder wissenschaftlichen Ästhetik‹. - Zusam­ mengefasst. Man dürfe, systematisch und historisch gut begründet, diese existentielle Zusammenstellung von ›Philosophie und Litera­ tur‹, für eine philosophische Reflexion der Philosophie, als unwissen­ schaftlich, irrational, also als ›bedeutungslos‹ abtun. Die Faszination, die Literatur und Kunst von Beginn an auf das Philosophieren aus­ übte, darf nicht zu ihrer philosophischen Aufwertung führen.533 Das ist, näher hingeschaut schon auf die Geschichte des Denkens der Moderne, mit ihrer theoretischen und praktischen Relevanz (gleich ob man sich dagegen wehrt) verwunderlich genug!534 Und so scheint dieses Verständnis von Kunst und Philosophie eher das Ergebnis (durchaus einer ›Leistung‹) verdeckter, oder nicht eingestandener Vorurteile zu sein. Zumindest falle es dem (nach wie vor) neuzeitlich gebildeten wissenschaftlichen Philosophieren der Gegenwart nicht leicht sich den Herausforderungen, vielleicht auch Zumutungen die­ ser existentiellen Möglichkeiten literarisch-konstitutiven Reflexion 533 Vgl. aber Ernst Robert Curtius: »Was ist das Wesen der Poesie? Ihre Stelle im System des ›objektiven Geistes‹? Ihre Funktion in der menschlichen Gemeinschaft? Ihr Verhältnis zu den bildenden und redenden Künsten? Zur Philosophie? Das sind Fragen, die seit Homer immer wieder gestellt und wechselnd beantwortet worden sind.« (Goethe als Kritiker. In: (1984). S 49 534 Dazu Dieter Henrich: »Die deutsche Literatur ist aber wie keine andere mit der Geschichte der Philosophie in Deutschland verwoben. Viele der Hauptwerke der Philosophie gehören selbst geradezu der Geschichte der deutschen Literatur an. So ist im Übrigen auch die philosophische Produktivität der künstlerischen näher verwandt, als mancher, der allein auf dem Wissenschaftsstatus der Philosophie besteht, leicht zugeben wird« (2006). S 76

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12.2. Symphilosophie

ungewissen Welt-Habens und fragilen Selbst-Seins zu stellen. Statt­ dessen der nach wie vor vertraute Weg sich aufgeklärt vermeinender Gesellschaft, den man auch philosophisch gerne mitzugehen bereit ist: der Kunst und schönen Literatur im Grunde eine irgendwie ›orna­ mentale‹ Funktion zuzuordnen. Selbst dann noch, wenn man ihr eine gesellschaftskritische, und avantgardistische Funktion zuweist. Kunst und Literatur (Lyrik) habe noch als ›Schock‹, als ›Provokation‹, dem modernen Menschen einen ›ästhetischen‹ vielleicht sogar ›spirituel­ len‹ Sonder-Raum im Horizont säkularisierten, wissenschaftlich-auf­ geklärten In-der-Welt-Sein bereitzustellen. Da und dort sogar genommen, als legitimen Ersatz für die unabgegoltenen Herausfor­ derungen der Religionen; vielleicht auch als Ort der ›Erhebung‹, ›Erbauung‹; oder ›Selbst-Kritik‹; oder ganz schlicht, der ›profanen Unterhaltung‹ und ›Entspannung.

12.2. Symphilosophie Wie immer wir dieses philosophische Fragen mit Blick auf ›Philoso­ phie und Literatur‹ theoretisch ausrichten, eines scheint offensicht­ lich; und auch kaum mehr weiterer philosophischer Entfaltung wert. Nämlich die anthropologisch-praktische Bedeutung der Literatur, der Poesie, der Kunst im Allgemeinen. Dem werde wohl jeder Gebildete ohne weiteres zustimmen. Dafür brauche es keine umfassend wissen­ schaftlichen Kenntnisse der Kunst- und Literatur-Geschichte; kein Studium der Kunstwissenschaften; nicht einmal einen eineindeutig gefassten und geklärten Begriff von ›Kunst-Werk‹; oder gar, was man denn unter anthropologischer Bedeutung ‚der Kunst‘ zu verstehen habe. Es reiche dafür, ein Schauen (vielleicht auch sich selbst praktisch einlassen darauf‘) auf die Wirkungen, die Kunstwerke, (beispielsweise ein Gedicht; oder auch ein Bühnen- oder Filmwerk) bei uns Menschen auslösen, wortwörtlich ›bewirken‹. Wir schauen phänomenologisch auf dieses (Selbst-)Schauen der uns bewegenden Kunst-Werke. Das ist gut-begründet die, das phäno­ menologische Philosophieren auszeichnende Grundhaltung. Theorie und Praxis stützen sich geradeso gegenseitig. Es brauche sicher nicht die wuchtige, existenz-erschütternde Erfahrung Rilkes, die ihn beim Betrachten des Torsos Apolls ›überfällt‹. (›Du musst dein Leben ändern‹!) Vielleicht ist da für uns nur ein sich hintergründig auf­

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drängendes ›eigenartiges Gefühl‹; mag es angenehm, unangenehm, bestürzend, oder erhebend sein. Beispielsweise ein ›berührt-werden‹ beim Lesen der Gedichte von Christine Lavant; (›es ist als ob mein Hals mir zugeschnürt werde‹); oder ein unerklärliche Faszination (›beim Betrachten impressionistischer Malerei hebt sich, weiß Gott warum, meine Stimmung‹); oder auch ›Unbehagen‹, Missstimmung, ›Ärger‹, ›Ablehnung‹, (›diese Zeichnungen von Egon Schiele sind doch wirklich Pornographie‹); oder, sei es auch nur, und wer kennt das nicht, beim Hören eines Musikstücks, ein unwillkürliches ›Wippen mit dem Fuß‹. (›Musik fährt mir in die Knochen‹). Nun mag man fordern, hier müsse mit Hilfe der Wissenschaften (beispielsweise der Psychologie; Neurobiologie; Erkenntnistheorie) umfassend ver­ nünftige Aufklärung geleistet werden. Kunst, einschließlich ihrer Wirkung auf uns, solle, ja müsse, tatsächlich endlich wissenschaftlich dechiffriert werden. Nur als vernünftig aufgeklärte, entmystifizierte, könne man ihr getrost eine soziale, pädagogische, gesellschaftliche Bedeutung, eine sogar fortschrittliche Rolle zugestehen. – So zu reden dokumentiere nicht nur ein Unverständnis der Bedeutung einer Philosophie der Kunst selbst. Sondern sei geradezu zu lesen als Aufforderung, die existentielle Gestalt der Kunst, also ihr ›Eigent­ liches‹, ›Wesentliches‹ zu destruieren. Das sind Versuche Kunst zu funktionalisieren; nicht zu verwechseln mit dem oft bemühten hegel­ schen Verständnis ›Kunst philosophisch aufzuheben‹. (Man denke beispielsweise an die Literaturtheorie Georg Lukács ab 1918). Durch Reduzierung auf Analyse ihrer ‚Teile‘ (was immer man darunter auch verstehe) werden Kunst-Werke nicht mehr als für uns Ganzes ergriffen; und phänomenologisch auch als Gebilde unserer existenti­ ellen Reflexionen zerstört. (Vielleicht hat Rilke zurecht befürchtet, dass eine ›psychoanalytische Freilegung‹ seiner ihn, durchaus auch schmerzhaft, treibenden oder auch hemmenden seelischen Kräfte, ein Versiegen seiner lyrischen Potenz sein könne.)535 – Diese ›irrationa­ len Fundamente‹ literarischer (künstlerischer) Leistungen vor Augen führen, ist keine Ausflucht in eine den Wissenschaften entzogene ›Bedeutung‹; ein sich zurückziehen in ›schwammige Gefühle‹; in ein ›gewollt Ungewisses‹; und so auch für wissenschaftliche Vernunft‘ nicht mehr nachprüfbar. Ist also nicht der Aufbau einer in Irratio­ nales mündende ›Immunisierungsstrategie‹. Um auf diese Weise 535 Ralph Freedman. Rainer Maria Rilke. Der Meister. 1906 – 1926. Frankfurt/M und Leipzig 2002. S 127 – 130

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12.2. Symphilosophie

eine Unzulänglichkeit im Begreifen-können zu überdecken. Durch Erfindung nur spekulativ zugänglicher metaphysischer ›Tiefen‹, (für ‚Eingeweihte‘), den eigenen haltlosen irrationalen Sehnsüchten einen ›Sehnsuchts-Ort‹ (ein ›ästhetisches Nirwana‹) zuzuweisen; vielleicht auch um die Flucht aus der Verantwortung für unsere ›wirkliche Wirk­ lichkeit‹ zurechtfertigen suchen. Kurzum, frei nach dem bekannten umlaufenden Spruch: ›im Dunklen sei (für sich) gut munkeln‹536 Dass auch Literaten selbst, mit Sorge und einigem Misstrauen dieses eigenartige, dem Menschen zugehörige ›Irrationale‹ wahrnehmen, es durch ›Vernunft‹, mit vernünftiger Form gebändigt wissen wollen, darf nicht unterschlagen werden.537 Wobei, sei hinzugefügt, es eines ist, den ›Finger bei anderen in die Wunde‹ zu legen; ein anderes, sich selbst und sein Schaffen, von dort her ›wesentlich‹ als bestimmt ›erfahren‹; und dies begrüßen oder leugnen, oder darunter leiden. – Bleiben wir aber weiter ganz bei uns. ›Kunst‹, ›Literatur‹, ›Poe­ sie‹, werden existenz-phänomenologisch gelesen als Möglichkeiten eines eigenständigen Welt- und Selbst-Verständnis. Reflexionen, die ihr Recht neben den aufgeklärten Wissenschaften behaupten. Eine eigene Perspektive, die wesentliche Formen von Welt- und Selbst-Erfahrungen, und wirkliches Welt-Haben und Selbst-Sein sammle. Oder sogar unser irritiertes So-in-der-Welt-Sein als ästhe­ tisch dichtes ›existentielles‹ Selbst-Selbst-Verständnis erst konstitu­ iere. Reflexionen, die man vielleicht sogar unter dem (hoffentlich nicht als aufgebläht missverstandenen) Titel ›philosophisches Epos‹

Herbert Read schreibt mit Blick auf die Wirkung der Poesie: »Wir können eine solche Magie nicht erklären. Wir können Silben zählen, den Rhythmus markieren, Alliteration und umschreibende Metaphern beobachten, aber es ist, wie wenn man eine Uhr auseinandernimmt, um das Wesen der Zeit zu entdecken. Der Zauber ver­ schwindet, und wir wissen weder, was die einzelnen Elemente des Gedichtes zu diesem besonderen Wortmuster zusammenpasste, noch warum der Tonwert dieses Musters uns so tief berührt.« (Formen des Unbekannten. Zürich 1963. S 148 f.) 537 Beispielsweise Goethe. »Phantastisch ist der Einbruch dämonischer, im Unterbe­ wusstsein des Menschen lauernder Kräfte in das noch ungefestigte Bewusstsein des Heranwachsenden. Eindrucksvoll gestaltet Goethe gerade in seiner ›Erlkönig‹-Ballade in einer exemplarischen Situation die Dämonie des Daseins, das Ausgeliefertsein des Menschen an die zerstörerischen Energien seines eigenen Inneren, die einmal zuge­ lassen, das Bewusstsein des einzelnen überwältigen und ihn selbst zerstören.« (Win­ fried Freund. Deutsche Phantastik. Die phantastische deutschsprachige Literatur von Goethe bis zur Gegenwart. München 1999. S 19 f.) 536

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12. Philosophie und Literatur

einführen könnte.538 Schon dies führt vor welche spannende Nähe ›Philosophieren und Literatur‹ (um nun vor allem dabei zu bleiben) auszeichnet. Nicht vorgestellt als ›einfache Lage‹. Sondern historisch gewachsen. Ein Miteinander und auch Gegeneinander immer aber als ›Zueinander existentieller Reflexionen‹ fragilen, irritierten Soin-der-Welt-Seins. Die Entfaltung der dem Mensch aufgegebenen Grund-Herausforderungen, denen er um sich selbst willen nicht ausweichen könne. Etwa, wie und als was finden wir uns überhaupt vor? Und, können wir uns überhaupt hier und jetzt noch finden? Wie und woraufhin sammeln wir uns wirklich und wesentlich? Existenzphänomenologisch in den Blick gerückt und radikal reflektiert nicht als unbequeme Mühsal, der man sich philosophisch möglichst rasch zu entledigen habe; sondern als unbedingt zugehöriges konstitutives Potential unseres In-der-Welt-Seins. Das sind existentielle Reflexio­ nen, konstitutive Leistungen der Kunst, die nicht schöne Ornamentik für den möglicherweise als drückend grau erlebten Alltag stellen. Wellness für Seele und Geist. Oder, und scheinbar umgekehrt, als ›Herold‹(als ›Fanal‹) für sozialen, gesellschaftlichen Fortschritt; oder unmittelbar gelesen als ›Begleit-Instrument‹ politischen Umsturzes; oder, vielleicht als ›ideales Muster‹, als ›Blaupause‹ für, menschheit­ licher Progression hin zu endgültiger Verwirklichung.539 ‚Richtige‘ Literatur habe engagiert zu sein; als Avantgarde, als Gestaltung, als Instrument der vernünftigen Aufklärung; Sicherung und Lehrmeiste­ rin für das Projekts Moderne. – Sicher, auch das sind Deutungen, die ›von der Sache‹ (ein unbestreitbar auch ›nobler‹ Anspruch) her möglich scheinen. Von nicht wenigen Künstlern bekanntlich selbst­ bewusst in Anspruch genommen; aber auch umgekehrt, auch das gehört hierher, von anderen ebenso schroff zurückgewiesen werden. Schon das lasse, zumindest auf eine, (etwas ironisch zugespitzt), ›Gemeinsamkeit von Philosophie und Kunst‹ aufmerken. Aber anders als von uns gewünscht. Sowohl Kunst als auch Philosophie, lassen Dazu Peter Koslowski: »Um 1830 verbindet sich die Intention auf das Epos in der französischen Literatur mit der Idee einer Philosophie der Menschheit. Die französi­ schen Autoren jener Zeit vereinigten die Geschichtsphilosophie mit dem Mythos und Epos der Literatur. Sie suchten Philosophie und Dichtung in einer dichterischen Phi­ losophie zu vereinigen, während in Deutschland jener Jahre Literatur und Philosophie scharf getrennt werden.« (Der Mythos der Moderne. Die dichterische Philosophie Ernst Jüngers. München 1991. S 23 f.) 539 Vgl. dazu (z. B.) Thomas Baumeister. Die Philosophie der Künste. Von Plato bis Beuys. Darmstadt 2012. S 374 f. 538

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12.2. Symphilosophie

sich, schon mit Blick auf jeweiliges Selbstverständnis, nicht auf einen gemeinsamen Nenner, auf einen klaren Begriff bringen. Eine Gestalt, von allen geteilt, die es rechtfertige, von der Philosophie; der Philo­ sophie-Geschichte; und der Kunst zu sprechen. Für die Philosophie beklagt schon Husserl, es gebe (immer noch) so viele Philosophien wie Philosophen.540 Nicht viel anders die Lage in ›Kunst‹ und ›KunstTheorie‹.541 Sich also auch hier die Setzung des ›bestimmten Artikels‹ fast von selbst zu verbieten scheine. Dicht zusammengefasst. Literatur, wie immer man sie wissen­ schaftlich zu ordnen versuche, und welche Funktion man ihr unter­ lege, weise in jedem Fall, über jeden an sie herangetragenen ‚ver­ nünftigen‘ Zweck hinaus auf ›irrationale‹ Horizonte. Das kann gar nicht anders sein. Sind es doch Reflexionen (›Geschichten der Refle­ xionen‹) der existentiellen Gestalt und Gestaltung unseres So-in-derWelt-Seins. Literatur (und Kunst im Allgemeinen) stelle sich also vor als Grund-Erfahrung, als Möglichkeit eines Mensch unbedingt zugehörigen ›sich reflektieren-wollen und -müssen‹; und wird gerade so phänomenologisch reflektiert als Vorstellung existentieller Span­ nung zwischen unserem wesentlichen Da-Sein und wirklichem SoSein. Gerade deswegen erfahre Mensch Literatur und Kunst zugleich als befriedend, beunruhigend, aufwühlend, beglückend oder nieder­ schmetternd. Nehmen wir für das Weitere einen Satz Ernst Jüngers in Anspruch. Es käme, so schreibt er, »nicht darauf an, dass die Lösung, sondern dass das Rätsel gesehen« werde.542 - Form, Gestalt und Gestaltung literarischer Werke, reflektieren Menschsein also

540 Die philosophische Literatur, so Husserl, sei »ins Ungemessene angeschwollen (…, aber so sehr der Einheitlichkeit der Methode entbehrt, dass es fast so viele Philosophien gibt als Philosophen.»(FTL./S 10) 541 Vgl. (beispielsweise) auch Susanne K. Langer. »Ein Ästhetiker spricht von der ›signifikanten Form‹ und ein anderer vom Traum. Der eine meint, die Aufgabe der Kunst bestehe darin, über die zeitgenössische Szene zu berichten, ein anderer erklärt, dass ›gewisse Kombinationen‹ von reinen Klängen oder harmonisch im Raum verteilten Farben ihm jenes ›ästhetische Gefühl‹ vermittelten, das sowohl Zweck als auch Kriterium der Kunst ist. Der eine Künstler behauptet, seine persönlichen Gefühle zu malen, der nächste, er drückte pythagoreische Wahrheiten über das astronomische Universum aus.« (2018). S 85 542 Sizilischer Brief an den Mann im Mond. In: Blätter und Steine. Kleinere Schriften. Leipzig 1934. S 112

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existentiell.543 Als Vorstellungen von wirklichen Möglichkeiten des Welt-Haben- und wesentlichen Selbst-Sein-könnens. Das bringt So-in-der-Welt-Sein in Form, Gestalt und Gestaltung. Ist also die Arbeit an der Vermessung der Existenz unseres Da-und-So-Seins. Kurz, die ›Wahrnehmung‹ der jeweils geschichtlich zustehenden Möglichkeiten (eines leisten-könnens) existentieller Reflexion der Reflexionen. Das gilt auch für jene die sich außerhalb (weshalb auch immer) jeweiliger Literatur und Kunst vermeinen. – Dass dies nicht ›aufgehen‹ könne mit (beispielsweise) ›szientistischer Perspektive‹, brauche sicher keiner breiten Entfaltung mehr. Die sich selbst rational begrenzenden Vorstellungen der Wissenschaften sind eines, die der Kunst ein anderes.544 Das drängt sich phänomenologisch auf, gleich ob So-Da-Sein literarisch nun (wie man sagt) realistisch, naturalis­ tisch oder phantastisch in Szene gesetzt werde. Etwa in Form einer Novelle, eines Märchen, Roman, Gedicht; oder man denke auch an Fluch, Zauberspruch, Gebet. Im Übrigen auch die Absicht des Autors selbst mag sein wie sie will. Das ›Werk‹ spricht (zunächst) als ›existentielle Reflexion‹ gleichsam für sich selbst zu seinem Leser. Als Gestaltung möglichen Menschseins; das sich nun gemeinsam mit dem ›Leser‹ als In-der-Welt-Sein verwirklicht. (Ich reise, staune, oder leide mit Don Quijote und nicht mit Cervantes.) Um dies aber nicht als eine verquer-verstiegen metaphysische Perspektive miss zu verstehen, diese kurze Anmerkung. So zu tun, als sei mit und durch die in Form gebrachten Erfahrungen (Reflexionen) der ›Literatur‹, der uns bewegenden ›Kunst‹ als existentielle Möglichkeit des gespannten Da-und-So-Seins, Mensch-sein reflektiert und ›ihm die Augen ein für alle Mal aufgetan‹, wäre nicht weniger ›verfehlt‹, als dem wesentlich wirklichen Da-und-So-Sein, geflochten auf das ›Prokrustesbett der reinen Vernunft‹, Gewalt anzutun. An der exis­ tentiellen Bedeutung der Kunst allerdings kann phänomenologisch nicht gezweifelt werden. Uns selbst für uns selbst gerade so nicht nur vorzustellen, sondern uns als So-Da-Sein erst als wesentlich ›zu leisten‹, Wir werden für uns irritierend klar und praktisch als Möglichkeit vorgestellt, gerade weil wir uns so reflektieren (können). 543 Dazu (z. B.) auch Emil Staiger. Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters. Unter­ suchungen zu Gedichten von Brentano, Goethe und Keller. München 1976 544 »Das Eindringen wissenschaftlicher Belehrung in den Roman hat seit etwa 1970 immer zugenommen, nicht zum Vorteil dieser Literaturgattung.« (Ernst Robert Cur­ tius. Bemerkungen zum Französischen Roman. In: Kritische Essays zur europäischen Literatur. (1950) Frankfurt/M 1984. S 386)

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Nicht aber als ob das für uns ›erlösende Wort‹ schon gesprochen wäre. Es überhaupt jemals gesprochen werden könne. Es nur noch darum gehe, endlich ›die Ohren zu spitzen‹. Als ob, man denke an den Satz Ernst Jüngers, Literatur und Kunst die ›letzten Geheimnisse‹ unserer Existenz lösen könnten. Aus dieser oder jener literarischen Vorstellung, diesem oder jenem Werk, ›heraus-gelesen‹ werden könne. Und ›unseres Rätsel Lösung‹ vielleicht auch nur eine Frage systematischer hermeneutischer Leistung wäre. Und allein darin also noch die Bedeutung der existentiellen Philosophie bestünde. Oder ob hier existentiell-phänomenologisch die Direktive ernsthaft gestellt wäre: lies (beispielsweise), Homer, Dante, Shakespeare, Musil, Grass, oder Hölderlin, Trakl, Rilke, statt Kant, Hegel, Brentano, Husserl (um von naturwissenschaftlicher Lektüre ganz zu schweigen). – Vielleicht aber scheint im ›existentiellen Geheimnis‹, (vergessen wir nicht, es ist ein von uns selbst geleisteter Akt) das ›uns Fremde‹, das, wir mögen es zurechtlegen, wie es uns immer beliebt, herausfordert; und zugleich (repulsiv) auf unser irritiertes So-in-der-Welt-Sein (müssen; sollen; können) zurückweist. Auch hier bleibt phänomenologisches Philoso­ phieren schlicht, unaufgeregt, unspektakulär. Vielleicht wissen auch die Dichter das letzte sinnstiftende, haltgebende Wort nicht zu sagen für uns ›leidenden, haltlosen Menschen‹ (Hölderlin). Woher auch? Wer möchte denn noch ernsthaft den Dichtern und Literaten ›göttliche Einsichten‹ zusprechen? Vielleicht hat dieser oder jener unter ihnen diese Herausforderung ›existentieller Sinnstiftung‹ nicht einmal im Blick; oder weist diesen Auftrag sogar als ›Zumutung‹, als Versuch einer Instrumentalisierung der Literatur, der Kunst, weit von sich. Aber sie (und all die anderen Kunstschaffenden) erinnern an unsere Wirklichkeit mit ihren Möglichkeiten der Reflexion. Eine Erinnerung an unsere verwirrende unübersichtliche Lage, unsere Begrenztheiten, unsere schmerzhafte oder erfreuliche Endlichkeit. Sie mögen es beab­ sichtigen oder nicht. Literatur stellt uns als Möglichkeit vor uns selbst stellen. Vielleicht erschüttert das deswegen so, weil dadurch nicht beansprucht werden könne, unser irritiert- und perturbiert-sein zu lösen; es aber literarisch auch nicht nur ›spiegelbildlich‹ vorgeführt werde; sondern es gerade so sich eigenartig ›kunstvoll‹ verschärfe. (Dass das auch eine Leistung von uns ›Kunst-Wahrnehmenden‹, uns ›Lesern‹ vorstelle, verlieren wir nicht aus den Augen.) -– Wir sprechen also von ›den existentiellen Möglichkeiten ›der Literatur‹, ›der Kunst‹; als mögliche Vorstellungen der Reflexion der Reflexionen unseres irritierten und perturbierten Da-und-So-Seins. Das eröff­

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net, begleitet, stützt die bemerkenswerte Möglichkeit existentiellen Reflektierens. Historisch gebunden; und trotzdem unsere wirkliche historische, soziale, gesellschaftliche, politische Lagen grundsätzlich ›transzendierend‹. Diese ›Leistungen‹ (das schließt ein die Leistungen des Lesers oder Hörers) sollen phänomenologisch als wirklich existen­ tielle Erfahrung in den Blick gerückt werden. Das lässt die existenti­ ell-anthropologischen Ansprüche und Forderungen der Kunst nicht mehr abweisen. Gerade diese literarischen Reflexionen erzwingen auch ein Hinschauen auf das Selbstverständnis des neuzeitlichen Philosophierens. Welche eine Merkwürdigkeit; welch eine Zumutung für neuzeitliche, wissenschaftlich-kritische Vernunft! Mensch werde gerade dass er sich auf diese doch nur ›fantastische‹, ›irrationale‹ Perspektive erfundenen Welt-Erfahrens einlasse, wesentlich wirklich zu sich selbst geführt. Aber nicht zu sich als metaphysisch-geheim­ nisvolles Individuum (beispielsweise einer Gotteskindschaft, auch nicht eines ‚in die Welt geworfenen‘); auch nicht als unbedingtes, seine Grenzen ein für all Mal festschreibendes, reines Bewusstsein; nicht als fortschrittlich wissenschaftlich Aufgeklärter; sondern vor sich selbst gestellt als fragil-endliches, irrational-spannendes, aber als ‚selbst-weit-geschautes‘ Da-und-So-in-der-Welt-Sein. - Das also ist wie Mensch sich immer wieder (von Anfang an) seiner Welt-Habe und seines-Selbst-Seins unsicher, immer wieder sich ›erzählend‹ zu ›vergewissern‹ suche, und sich dabei auch als Wir-Sein konstituiere. Zu leisten ist das immer wieder (für jedes Werk) von Anfang an. Damit gebe aus dieser Perspektive, auch Fragen nach ›Fortschritt in Literatur oder Kunst‹ keinen Sinn! Die existenz-phänomenologische Reflexion dieser ästhetischen Reflexionen wird der philosophische Schlüssel zur Anthropologie, Erkenntnistheorie und Ontologie. Allein schon die Möglichkeit so-reflektieren, so-schauen zu können, gehört mit zur wirklichen Wirklichkeit unseres So-in-der-Welt-Seins. Man könnte auch von einer nicht-mehr-nachlassenden existentiellen Zueignung von WeltHaben und Selbst-sein sprechen. (Das eine ist nicht vor dem anderen.) Das ist nicht nur ein ›ästhetisches‹ vermögen; eine mögliche Perspek­ tive des Menschen; sondern, so scheint es auch mit Blick auf die Geschichte, Entfaltung existentieller Bedürftigkeit des Menschen als sein ihm unbedingt zustehendes Potential. Diese ›Bedürftigkeit‹ wird phänomenologisch also eingeführt als existentielles Potential. - Das auf Widerspruch stoßen. Diese Vorstellung, sich immer wieder in und mit den im Grunde doch selbst ›fragilen‹ Reflexionen vergewis­

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sern, ordnen, und nur letztmöglich zu vergewissern suchen, führe zu Relativismus, Skeptizismus, praktisch gelebt sogar zu Nihilismus. Schauen wir aber genauer hin. Sich so zu ›reflektieren‹ (schon sich so reflektieren können), leistet umgekehrt, eine wirklich existentiell dynamische, und als das tragfähige Zusammenstellung von gewissem Selbst-Sein und sicheren Welt-haben. – Zusammengefasst und etwas weiter entfaltet. Diese ›ästheti­ schen Reflexionen‹ werden also in den phänomenologischen Blick gerückt als konstitutives Selbst-Schauen.545 Jetzt erst und gerade so, betrete der Philosophierende (folgen wir Ernst Jünger) »ein Feld, auf dem endlich wieder ein Bündnis nicht nur mit dem Theologen, sondern auch mit dem Dichter möglich« werde.546 – Das alles scheint phänomenologisch unbestreitbar; und doch als ›wundersam‹ (man wird sagen: irrational) und nicht leicht auf den Begriff zu bringen. Unser wesentlich wirkliches So-Da-Sein, reflektiere sich als eigenartig-flüchtige, gewiss-ungewisse Präsenz in unzähligen erleb­ ten, erlittenen, erträumten, erzählten ›Geschichten‹. Und entdeckt dabei, gerade als irritiertes und perturbiertes In-der-Welt-Sein, eine ihm zustehende sinnvolle Ordnung als wirkliches So-Da-Seins. Phä­ nomenologisch werden der Kunst im Allgemeinen, der Literatur, der Poesie im Besonderen, ausdrücklich philosophische Bedeutung zugesprochen. Eingeführt als ästhetische Reflexionen der Reflexio­ nen wirklichen und wesentlichen Da-und-So-Seins. (Leben heißt, dunkler Gewalten/Spuk bekämpfen in sich/ Dichten, Gerichtstag halten/über sein eigenes Ich. (Henrik Ibsen) Bedenken vonseiten strenger Philosophie der Vernunft müssen nicht lange gesucht wer­ den; sie liegen für dieses Philosophieren der Kunst geradezu auf der Hand. Derartig ›irrationale‹ Absicht nehme sich, so sagt man, selbst 545 Das sind keine Konstruktionen sondern Erfahrungen. Bei Ernst Cassirer so vorgestellt. »Dieser Prozess stellt sich uns überall dort dar, wo das Bewusstsein sich nicht damit begnügt, einen sinnlichen Inhalt einfach zu haben, sondern wo es ihn aus sich heraus erzeugt. Die Kraft dieser Erzeugung ist es, die den bloßen Empfindungsund Wahrnehmungsinhalt zum symbolischen Inhalt gestaltet. In diesem hat das Bild aufgehört, ein bloß von außen Empfangenes zu sein, es ist zu einem von innen her Gebildeten geworden, in dem ein Grundprinzip freien Bildens waltet. Dies ist die Leistung, die wir in den einzelnen ›symbolischen Formen‹, die wir in Sprache, im Mythos, in der Kunst sich vollziehen sehen.« (Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften. In: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. (Sonderausgabe) Darmstadt 19948. S 177) 546 Ernst Jünger. Der Waldgang. In: Werke 7. Betrachtungen zur Zeit. Stuttgart 1980. S 371)

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aus der neuzeitlichen Ordnung ernstzunehmenden wissenschaftlichphilosophischem Wissen heraus. Man vertrete ja nicht einmal mehr die Grundintention neuzeitlich philosophischer Theorie, ein ›letzt­ gültiges (vielleicht auch irgendwann einmal) erkennen-wollen‹. Und verliere so (das sei nur konsequent) den Anspruch, sich unter der ehrwürdigen Überschrift ›Philosophie‹ vorstellen zu dürfen. Wir aber ordnen unser Philosophieren systematisch selbst. Als erstes, darauf sei nachdrücklich bestanden, verwischen sich für uns die Grenzen zwischen ›Literatur‹ und ›Philosophie‹ keineswegs. Wir führen gerade mit unserer phänomenologisch reflexiven Reflexion die konstitutive Potenz des Philosophierens im Vergleich mit den Gestaltungen, Formen und Reflexionen der Literatur (oder auch der anderer Künste) vor. So verliert sich also mit existenzieller Reflexio­ nen der Literatur (als eigene Gestaltung der Reflexion) sich phänome­ nologisches Philosophieren als reflexive Reflexion der literarischen Reflexionen gerade nicht aus den Augen. Schauen wir nur selbst genau hin und unserem Philosophieren selbst zu. Phänomenologi­ sches Philosophieren reflektiert die existentielle Bedeutung dieser, im weitesten Wortverständnis, ›narrativen Kompetenz‹ des Menschen. Jedes Kunstwerk ›erzählt‹ von uns; gibt uns von uns zu denken; und lässt uns ›uns‹ verstehen. Das ist ausdrücklich positiv gewendet, ein Verstehen unseres uns als endlicher Mensch zustehenden Vermögens der ›symbolischen‹ Vorstellung erschütternder Erfahrungen unseres wesentlich fragilen, endlichen Da-und-So-Seins; eben Reflexion der Reflexionen unseres In-der-Welt-Seins; oder in anderen Worten, existenz-phänomenologisch angelegte und (zugleich) so ausgerich­ tete Reflexion der Reflexionen der Reflexionen seiner Selbst. – Das lässt unterschiedliche, oft und kontrovers besprochene Fragen einer ›Kunstphilosophie‹, einer ›philosophischen Ästhetik‹ außen vor. Bei­ spielsweise ob ›Form‹ oder ›Inhalte‹ ein Werk zu einem ›Kunstwerk‹ machten; welcher der drei Literaturgattungen, hier und jetzt Priorität beanspruchen könne; oder auch (und immer noch) ob ›Schönheit‹ als entscheidende Kategorie der Kunst angesprochen werden dürfe. Nicht als ob diese Fragen grundsätzlich philosophisch (phänomenologisch) auszublenden wären, oder überhaupt als irrelevant beiseitegelegt werden könnten. Sie spiegeln sich selbstverständlich auch mit unseren existentiellen Reflexionen. Das unterstreicht noch einmal, dass es existenz-phänomenologischen Philosophieren als reflexive Reflexion der Reflexionen der Kunst und Literatur, nicht als Erstes um Einfüh­ rung und Entfaltung einer (traditionellen) ›Philosophie der Kunst‹

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gehe.547 Sondern wir bleiben in jedem Fall selbst in unserem Blick; reflektieren uns mit den Reflexionen der Kunst-Werke wirklich selbst als irritiertes und pertubiertes So-in-der-Welt-Sein.

12.2.1. Der existentielle Text literarischer Werke Kunst- und literarische Werke stellen nicht nur eine ›Welt‹ vor uns hin (Heidegger), oder eröffnen eine Sonderperspektive auf diese oder jene mögliche ›Welt des Menschen‹. Sondern Mensch selbst eröffnet sich gerade so als gespannt zwischen Da- und So-Sein. Nicht mehr und nicht weniger als eine umfassend ergreifende Spannung, die eine den Menschen historisch und biographisch bestimmende Dynamik entfaltet. Also von ontogenetischer und phylogenetischer Bedeutung ist. Präsent nicht zuletzt als die bekannten, unbeantwortbaren, und dennoch immer wieder bewegenden Fragen: Woher? Wohin? Aus welchem Grunde? Vielleicht noch einmal unaufgeregt zusammenge­ fasst mit Ernst Bloch: »Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.«548 Hier von uns selbst (von wem denn sonst?) auf den Weg gebracht als Selbst-Erfahrung existentieller Reflexion der Reflexionen. Hintergründig präsent als ‚existentieller Text‘, der ‚die Literatur‘ überhaupt erst zusammenfasst. – Dass gerade diese existentielle Reflexion der Reflexionen der Kunst-Werke auch bei phänomenologisch Philosophierenden auf (sogar) heftigen Wider­ spruch stoße, sei nicht verschwiegen. Als ganz und gar willkürliche irrationale Konstruktionen. Eine solche Einstellung offenbare, so bei­ spielsweise (der von mir hoch geschätzte) Dietrich von Hildebrandt, eine Einstellung, die grundsätzlich ›die hohe Bedeutung‹ des Kunst­ werks verfehle.549 Es wird dabei, mit Blick auf die unbestreitbaren Leistungen aufgeklärter Vernunft, immer wieder zurückgestellt, oder verdrängt, dass es (tatsächlich) nicht nur ›dunklen irrationalen Hor­ ror‹ gebe, sondern auch einen ›Schrecken durch reine Vernunft‹. Ein 547 Alfred Schütz, Thomas Luckmann kurz und knapp so: Kunstwerke ›phänomenolo­ gisch gelesen‹ »wie Merkzeichen und Werkzeuge als ›Objektivierungen‹ subjektiven Wissens (…), allerdings eines Wissens, das Lösungsversuche von Problemen dar­ stellt, die die Lebenswelt des Alltags transzendieren.« (Strukturen der Lebenswelt. Konstanz 2003. S 374) 548 E. Bloch. Tübinger Einleitung in die Philosophie I. Frankfurt/M 1971. S 11 549 Ästhetizismus und künstlerische Einstellung. In: Der Mensch am Scheideweg. Gesammelte Abhandlungen und Vorträge. Regensburg o. J.

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Erschrecken, das einen überfallen mag, beispielsweise schon beim Durchdenken von Kants ›praktischer Vernunft‹ mit dieser ›klaren, gnadenlosen Moral‹.550

12.2.2. Anschluss-suchen an den existentiellen Horizont der Romantik. Für uns existenz-phänomenologisch Philosophierende eröffnet die Reflexionen von Literatur und Kunst eine Möglichkeit der existentiel­ len Selbst-Erfahrung des wesentlich wirklichen Menschen. Entfaltet als Reflexion der ästhetischen Reflexionen. Wir, die wir wirklich und wesentlich hinschauen, selbst hinschauen können und wollen; sich dabei nicht durch noch so beeindruckende Begriffs-Konstruktionen, (etwa, ›Idee‹, ›Form‹ ›reiner Vernunft‹), den Blick auf uns und unsere Möglichkeiten selbst zu philosophieren verstellen lassen. Unser Phi­ losophieren verwirklicht sich als systematisch angelegtes Arbeiten mit sich selbst und für sich selbst. Von dort her bestimmt sich unser Philosophieren als existentielle Leistung phänomenologischer Reflexion, das nicht mehr zur Ruhe absoluter Erkenntnis kommen könne. Fundament dabei bleibt die interpersonale Leistung uns selbst (immer wieder von Anfang an) als gemeinsam Philosophierende systematisch in den Blick rücken zu können. Ist denn ein gewisseres Fundament für ein Philosophieren überhaupt denkbar als unser uns selbst-selbst-schauen (können)? Selbstverantwortet! Selbstgeschaut! Selbsterfahren! Einschließlich der Erfahrung einer erschreckenden, dunklen, und auch unergründlich scheinenden Weite unseres Daseins. (Das schließt die von v. Hildebrand so stark nach vorne gerückten ›Idee der Schönheit‹ nicht aus, sondern ist gerade ihre Vorausset­ zung.) Es eröffnet sich existenz-phänomenologisch die Möglichkeit letztmöglicher Sinnstiftung für wesentlich wirkliches und wirklich wesentliches So-Da-Sein. Immer aber nur soweit unser Schauen reicht. - Das erfordert auch ›kritisch‹ hinzuschauen auf das neuzeit­ Dazu (z. B.) Ernst Jünger. »Die ausweglose Umstellung des Menschen ist seit langem vorbereitet, und zwar durch Theorien, die eine logische und lückenlose Welterklärung anstreben und mit der technischen Entwicklung Hand in Hand gehen. Es kommt zunächst zur rationalen, sodann auch zur gesellschaftlichen Umkreisung des Gegners; dem schließt sich zu gegebener Stunde die Ausrottung an. Es gibt kein hoffnungsloseres Schicksal, als in einen solchen Ablauf zu geraten, in dem das Recht zur Waffe geworden ist.« (Der Waldgang. In Werke 7. S 302) 550

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lich-moderne Selbstverständnis der Philosophie. Nicht polemisch, überheblich, besserwisserisch, ausschließend. (Dieses bekannte und verbreitete ›dogmatische Format‹: Man hat gesagt, …, Ich aber sage!) Wir können uns, mit aller Vorsicht, an einer Idee ausrichten, die schon von den ›Romantikern‹, genauer der (sogenannten) ›älteren Romantik‹ des Jenaer Kreises, vorgestellt worden war. Es brauche, so legen wir ihre Intention uns zurecht, endlich ein ›anderes‹ Phi­ losophieren. Ein Philosophieren, das wirklich und wahrhaftig neue Wege zu gehen bereit sei. Vor allem ein Philosophieren, das sich nicht puristisch an vorgegebene, tradierte Fachgrenzen halte. Diese ‚neue Zeit‘ brauche Reflexionen, die dem, aus unterschiedlichen Grün­ den irritierten und perturbierten neuzeitlichen Menschen trotzdem (vielleicht sogar gerade deswegen) humane Zukunft, lebendige SinnHorizonte, eröffnen könne. Vorstellungen also, die dem Menschen erlaubten, seine ihm (von Natur aus; oder, von Gott gewollte?) zuste­ hende lebensvolle (leibhafte, sinnliche) Ganzheit leben zu dürfen. Man könne von einer die Romantiker verbindenden diskursiv geleis­ teten gemeinsamen Intention sprechen: nämlich die Einführung, Gestaltung, Ausbau, die Reflexion eines den modernen Menschen ›tragenden Mythos‹: das ‚ganz-sein-dürfen‘. – Hier ist genau hinzu­ schauen. Ausgerichtet ist ihr ›Philosophieren‹ zwar tatsächlich auf ein erhofftes ›Jenseits der Aufklärung‹. Einer als problematisch erlebten Aufklärung, die sich selbst (am Ende des 18. Jahrhunderts) auch philosophisch reduziert habe. Das ist gewiss also eine ›Kritik an der Aufklärung‹; ohne aber ausdrücklich die durch das neuzeitliche Philosophieren eröffneten Möglichkeiten geringzuschätzen. Es gehe um ›Reflexionen‹, die Welt-Haben und Selbst-Sein des neuzeitli­ chen Menschen wieder ganz zu umfassen suchen. ›Erzählungen‹, die die Vorstellungen der Philosophie der aufgeklärten Vernunft nicht opponieren (ein weitverbreitetes Missverständnis), sondern ›nachvollziehbar‹ weiten und so ›endlich-unendlich‹ sogar zu ver­ wirklichen suchen. Auch der ‚vernünftige Mensch‘ brauche mit Blick auf sich selbst als wirkliches So-in-der-Welt-Sein, nicht nur ein an Natur-Wissenschaften orientiertes, streng erkenntnistheoretisch gesichertes Begreifen der Vernunft. Das Konstruieren eines gewis­ sen aber abstrakten Selbst. Sondern ein anthropologisch wirkliches Selbst-Verstehen, das grundgelegt und mit sich selbst in Übereinstim­ mung gebracht werden könne, durch ein umfassendes, wirkliches Erleben, einer wirklichen Selbst- und Welt-Erfahrungen.

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So zusammengefasst. Diese wahrhaftig ›neuen Zeiten‹ brauchen ein Philosophieren, das sich nicht von Anfang an (natur-)wissen­ schaftlich eng-begrenzen lasse. Sondern ein theoretisches und prak­ tisches Philosophieren, das den wesentlich ›ganzen Menschen‹ (das was ich selbst von uns selbst zu schauen vermag) reflektiere. Ihn also nicht ›a priori‹ als ›reine Vernunft‹, idealistisch oder umgekehrt naturalistisch ein für alle Mal als geklärt abstelle, sondern auch prak­ tisch ‚lebensnah‘ geltungssicher auszurichten versuche. Das fordert philosophisch hin zu schauen auf unser mögliches ›Ganz-Sein-kön­ nen‹. Und das, um nicht missverstanden zu werden, ohne jeden spekulativen Überschwang.551 Man habe wenigstens (gemeinsam) Ausschau zu halten nach einem neuen wesentlicheren, das ist sinnli­ cherem Philosophieren. Schon dieses Ausschau halten weitete den Blick; eröffne neue Wege eines So-Da-Seins. Als ein sich-bewegen können (dürfen; sollen) hin zu einem ›wesentlichen‹ Welt- und Selbst-Verständnis. Mensch brauche in seiner – nicht zu leugnenden – ›Daseins-Not‹ mehr, als ein wissenschaftliches Philosophieren, das es (so Herbert Read) im Grunde mit ›deduktiver und induktiver Logik‹ genug sein lasse.552 Not-täte uns ein (in der Breite des Wortes) ›Sinnliches Philosophieren‹. Das ist keineswegs ein Widerspruch. Das ist ein existentielles Philosophieren, das wirklich, den wirklichen gespannten, auch ›irrationalen Erfahrungen‹ des Menschen, kurz, seinem, - Erklärungen der Wissenschaften hin, Behauptungen der aufgeklärten Vernunft her - als irritierend erlebten In-der-Welt-Sein, gerecht werden wolle und auch könne.553 Diesem irritierten Mensch einer ›neuen Zeit‹, der sich, wie man gemeinhin sagt, aus tradierten 551 Beispielsweise, auch aus der Perspektive Kurt Goldsteins. »Unbefangene For­ schung lehrt, dass nichts vom Empirischen wirklich erfasst werden kann, als von der Sicht vom Ideellen her, von seinem Enthaltensein im Ideellen, nichts vom Endlichen als von seinem Enthaltensein im Unendlichen her und umgekehrt. Ja, dass diese Trennungen selbst schon nur vorläufig sind. Jede Forschung, die dies nicht beachtet, bleibt in Wirrnis stecken, mag dies auch noch so bunt erscheinen und damit Fülle vortäuschen.« (Der Aufbau des Organismus. (1934) Paderborn 2014. S 415) 552 Formen des Unbekannten. Zürich 1963. S 12 553 »Anstelle der Herrschaft des Menschen und seiner Denkformen über die Natur tritt in der Romantik die Lehre von der Analogie von Mensch und Natur, Kosmos und Kunst, Wissenschaft und Welt. In diese analogische Ordnung sind der Mensch und seine Verstehensformen eingelassen. Die Möglichkeit des Menschen, Natur zu verstehen, liegt letztlich begründet in dieser analogen Struktur von Mensch und Natur.« (Silvio Vietta. Die vollendete Spekulation führt zur Natur zurück. Natur und Ästhetik. Leipzig 1995. S 30)

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Bindungen gelöst habe; oder sich sogar als gewaltsam herausgerissen erlebe. Als, so glaubt man sich selbst erfahren zu können, metaphy­ sisch Heimatlos in die Welt geworfen; ›transzendental obdachlos‹; sogar, ›wie in (das) Nichts‹ gehalten. Und sich nicht einmal mehr sich an sich selbst zu halten vermag. (›Verlorenes Ich, zersprengt von Stratosphären,/Opfer des Ion‹)554 Oder aber (und auch das mit problematischen Konsequenzen), ›endlich frei‹ geworden sei. Geradezu sich ›zur Freiheit verurteilt‹ erlebe. Mensch mag wollen oder nicht. Auch es so zu sehen ist durchaus eine Möglichkeit. Erst die ›Romantiker‹ eröffnen diese philosophische und ästhe­ tische Moderne. Mit all den theoretischen Irrungen und praktischen Wirrungen. Das ausführlich zu belegen, bräuchte eine eigene Vorstel­ lung.555 In jedem Fall aber wäre es irreführend, die Reflexionen der Romantiker grundsätzlich hart gegen den ›Geist des 18. Jahrhunderts‹ stellen zu wollen. Der ordnende Zusammenhang der Reflexionen ist zu offensichtlich.556 Das umfasst Aufklärung zusammen mit den ihr zugehörigen Gegenbewegungen (die der Aufklärung selbst von sich her zustehende Kritik der Aufklärung); genauso wie unterschied­ liche politische, gesellschaftliche und soziale Bedingungen als ›Korre­ late‹. Aber selbst noch diese und jene drückend erlebten politische Lagen werden nun ›existentiell‹ reflektiert. Man könnte also zurecht davon sprechen, dass diese ›Literaten‹ die theoretischen und prakti­ schen ›Potentiale‹ dieses ›Jahrhunderts der Aufklärung‹ ästhetisch, literarisch, und ›philosophisch‹ zu verwirklichen, zu einem eigenen ›existentiellen‹ Ende zu bringen versuchten. Um geradeso für den aufgewühlten, verunsicherten Mensch und seine ›Welt aus den Fugen‹ einen neuen Anfang, ein Heil-sein-können, eine nun ›existentielle Ortschaft‹ zu entwerfen. - Auf umfassende Geschichte dieses ZeitGeistes, sein ‚Hell‘ und ‚Dunkel‘ kommt es hier aber nicht an. Sondern von uns nur soweit gelesen, und eingeführt mit diesem ausdrücklich ›existentiell‹ zurecht gelegten weiten Wortverständnis. ›Romantik‹ Gottfried Benn. (Verlorenes Ich) Dazu (beispielsweise) Gerd Ueding. Klassik und Romantik. Deutsche Literatur im Zeitalter der Französischen Revolution. 1789 – 1815. München. Wien 1987. 556 Pointiert bei Ernst Cassirer. »Vielleicht niemals hat eine vollständigere Harmonie zwischen Theorie und Praxis, zwischen Denken und Leben bestanden als im acht­ zehnten Jahrhundert. (…) Literatur und Kunst, Wissenschaft und Philosophie hatten einen gemeinsamen Mittelpunkt und arbeiteten miteinander zum gleichen Zweck zusammen. Aus diesem Grunde wurden die großen politischen Ereignisse der Zeit mit so allgemeinem Enthusiasmus begrüßt.« (Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens. Frankfurt/M 1985. S 234; 235) 554

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also eingeführt als existentielles Selbstverständnis, das dem wirkli­ chen Menschen ein ihm passendes wesentliches Welt-Haben und Selbst-Sein leisten könne. Das ordnen wir als Möglichkeit eines sich selbst zu-sich-selbst-einstellen-könnens unseres So-Da-Sein; sich also nicht mehr theoretisch abstrakt, oder nur mit Blick auf diese und jene Bedingungen mittelbar begreifen zu sollen. Ohne sie als Heraus­ forderungen unseres In-der-Welt-Seins zu leugnen. (Wobei wir nicht übersehen, dass nicht wenige Gedanken der ›Romantiker‹, unserer eigenen, anthropologisch-existentiell umfassenden Intention wider­ sprechen.) Wir bleiben in jedem Fall systematisch eingestellt und ausgerich­ tet auf uns als irritiertes So-in-der-Welt-Sein. - Schauen wir also weiter nur auf uns selbst. Wir, die uns außerstande erleben, unser In-der-Welt-Sein in die tradierten ›großen Erzählungen‹ praktischsinnstiftend einlesen zu können. Vor allem die Forderung nach einem Philosophieren, das es nicht mehr mit lebensfernen Vorstellungen, Begriffen, idealen Ideen aufgeklärter ›reiner‹ Vernunft, genug sein lasse, hat existenz-phänomenologische Bedeutung. Das sind, um dieses Missverständnis anzusprechen, keineswegs ‚romantische‘ Vor­ stellungen, die ›genialen‹ Einfällen einiger (zeit-untypischen) Einzel­ nen zu verdanken sind. Ein erkenntnistheoretisch und gesellschaftlich begrenztes Selbst- und Welt-Verständnis aus ›dem Elfenbeinturm‹. Dieses ›romantische Philosophieren‹ nur als rückwärtsgewandte, reaktionäre, irrationale Bewegung, sogar als ›Krankheitsverlauf‹,557 historisch und systematisch einordnen zu wollen, wird also ihren breiten, existentiell-konstruktiven Intentionen nicht gerecht. Es ist für unser phänomenologisches Philosophieren keineswegs ein ›ver­ stiegen-irres Denken‹, das hinter die Errungenschaften wissenschaft­ licher Aufklärung (oder dieser oder jener Epoche der Vernunft) zurückfalle.558 Es könne kulturgeschichtlich nicht wirklich verdrängt 557 So am entschiedensten (und umstritten) Hans Sedlmayr. Unter der Überschrift ›Krankheitsverlauf‹ schreibt er: »Es ist nützlich, den Verlauf seit 1770 einmal nicht unter historischen, sondern unter anthropologischen und psychologischen Kategorien zu sehen, gleichsam wie eine Krankheit eines einzigen Menschen. Dabei sind die Symptome allein den Zuständen der Kunst entnommen.« (Verlust der Mitte. Salzburg o. J.3. S 200) 558 Zur angenommenen »Rückwärtsgewandtheit und Konservativismus« der Romantik verhielte es sich doch etwas ›komplexer‹. »Die Faszination der romanti­ schen Autoren durch das Mittelalter und die frühe Neuzeit ist zumindest für die Früh­ romantik Ausrichtung auf Zukünftiges, weil einem weitgehenden Konsens zufolge

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werden, dass auch diese umfassenderen, ganzheitlich-existentiellen (›romantischen‹) Reflexionen selbst auf Möglichkeiten, auf Poten­ tiale aufgeklärter Neuzeit verweisen. Potentiale, die sich für uns (mit allem Positivem und Herausfordernden) als ›die Moderne‹ ver­ wirklichen.559 Wenn man so will, ist es Klärung, sogar Weitung, vielleicht ›dialektische Erfüllung‹ von übersehenen Potentiale der Aufklärung.560- Und auch unsere radikal-existentiell Reflexion der ›Philosophie der Vernunft‹, bewegt sich im ‚Horizont Aufklärung‘. Ist selbst eine Möglichkeit der Gestalt und Gestaltung neuzeitlicher Ver­ nunft. Radikalisiert, praktisch entfaltet als Möglichkeit existentieller Reflexion der (Selbst-)Reflexionen der Vernunft. Das ist nicht nur historisch eine folgerichtige Entfaltung der Reflexionsgeschichte (der ‚Logik der Reflexion‘). Kann also für eine systematische Entfaltung der Reflexion gar nicht anders sein. Kurz und knapp, die existenz-phäno­ menologisch geordnete ›Romantik‹ ›lebt‹ (das ist ›verwirklicht‹) die Potentiale gespannter Vernünftigkeit irritierten und perturbierten SoDa-Sein. Das sind keineswegs bloße Fach-Fragen für (irgendeine) theo­ retische Fundierung von ›Kunst-Geschichte‹ und ›Literatur-Wissen­ schaft‹. Philosophisch von Bedeutung ist schon, die Forderung der Einbeziehung von Philosophieren »in den literarischen Prozess sowie eine Öffnung der Poesie zu Leben.«561 Vor allem aber, und darüber hinaus, dass die ›lebendige‹ Beziehung von Kunst, Literatur und ›Philosophieren‹ grundsätzlich keine ›wissenschaftstheoretische Ein­ bahnstraße‹ vorstelle. So als ob Philosophie für Kunst und Litera­ tur nur abstrakte Begründungsleistung bereit zu stellen habe; von Anfang an also klar wäre, wer hier erkenntnistheoretisch, ontologisch und anthropologisch das ›entscheidende (Grund-legende) Wort‹ zu gerade das christliche Mittelalter die Neueren das Absehen von der Gegenwart und den Blick in räumliche und zeitliche Fernen gelehrt hat.« (Monika Schmitz-Emans. Einführung in die Literatur der Romantik. Darmstadt 2004. S 13) 559 Dazu gehört auch dieses: indem »die romantische Naturerfahrung die Frage der Erkennbarkeit von Natur von der Ebene der abstrakten, ›rein‹ sein sollenden Vernunft herunterholt auf die Ebene von Körper und Sinnenerfahrungen (…) kommt nicht nur eine andere Natur, nämlich die in der sinnlichen Wahrnehmung gegebene, sondern auch eine andere Natur des Menschen in den Blickpunkt. Diese definiert sich nicht als gottgleich über den Wasserns schwebende ›reine‹ Geistigkeit der Vernunft, sondern als eine in körperlichen und d. h. zeitlich-endlichen Vollzügen gegebene Natur.« (Silvio Vietta. 1995. S 1149) 560 Noch einmal Silvio Vietta (Hg.) Die literarische Frühromantik. Göttingen 1983 561 Monika Schmitz-Emans. S 10

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sprechen wisse. – Das also sind die philosophischen Herausforde­ rungen, die wir phänomenologisch-existentiell zurechtlegen. Diese philosophisch, auch literatur- und kultur-wissenschaftlich noch nicht umfassend abgegoltenen, nicht einmal klar in den Blick gerückten existentiellen Fragen sind nicht nur philosophisch aktuell. Man denke nur an die Bedeutung einer existentiellen Aufklärung der Möglichkei­ ten der neuzeitlichen Aufklärung. Oder an Husserls philosophisches Ringen um den Bau eines unbedingt sicheren Fundament für neu­ zeitliches Dasein. Aber auch für ihn scheint am Ende seines (doch so fruchtbaren) Forscherlebens der Traum ›reiner wissenschaftlicher Philosophie‹ ausgeträumt zu sein.562 Schon seine immer erneuten Versuche, endlich zu einem umfassend befriedenden, ihn selbst befriedigenden Ergebnis zu kommen, zeigen die ›Lage‹ eines sich selbst ehrlich zu ‚vollbringen‘ suchenden transzendentalen Philoso­ phierens als ›aporetisch‹. Die entscheidende Konsequenz, eine ›exis­ tentielle Weitung‹, (es bräuchte ja keine, von Husserl perhorreszierte, ›radikal anthropologische Wendung‹ zu sein), scheinen aber auch die seiner Phänomenologie sich verpflichtet wissenden Philosophen nicht ziehen zu wollen. (Husserl selbst konnte es als ›neuzeitlicher Denker‹ wohl nicht mehr). –

12.2.3. Existentielle Reflexion der Reflexionen als hermeneutische Bewegung. Von dort her also auf ›letzt-gültige‹ Antworten zu setzen, auf prak­ tische Beruhigung, der, auch den ›Menschen der Moderne‹ immer noch und immer wieder bedrängenden existentiellen Grund-Fragen (›Warum überhaupt‹?), darf zumindest als ›naiv‹ markiert werden. Erinnern wir uns an Wolfgang Cramer, der, auch als ›Geltungstheo­ retiker‹ nicht umhin gekommen war, festzuhalten, dass es ›von tran­ szendentaler Vernunft‹ her, kein Zurück zu uns selbst als wirkliches So-in-der-Welt-Sein gebe könne.563 Oder denken wir hier auch an diesen, immer noch in Universitäten und Forschungsinstituten vorzu­ 562 Husserl schreibt in der (vielzitierten) Beilage XXVIII der Krisis: »Philosophie als Wissenschaft, als ernstliche, strenge, ja apodiktisch strenge Wissenschaft – der Traum ist ausgeträumt. (S 508) 563 Grundlegung einer Theorie des Geistes. Anhang. S 100; hierher gehört (in gewisser Weise) auch Georg Simmels Blick auf die ›Moralphilosophie‹ Kants. Die »unverlierbare Strenge des Moralbegriffs wurde zur Starrheit, weil Kant den Rückweg

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findenden, beinahe rührend zu nennenden Glauben an die Mensch und Welt letztendlich doch umgreifenden Möglichkeiten der Wissen­ schaften. Was sich für uns, mit Blick auf uns selbst, überhaupt sinnvoll fragen und beantworten ließe, werde von Psychologie, Soziologie, vielleicht nun im Besonderen von den Neurowissenschaften vorge­ stellt. Das Selbstverständnis phänomenologischen Philosophierens schließe grundsätzlich aus, sich im Horizont der Wissenschaften zu entfalten versuchen. Daran halten wir fest. - Allerdings meint das kein ›blindes‹ Opponieren gegen alles wissenschaftliche Begreifen-wollen. Dass aber streng rational eingestelltes Philosophieren der wissen­ schaftlichen Vernunft, um von den positiven Wissenschaften ganz zu schweigen, existentielle Reflexion der Reflexionen (der Kunst; Religion; Wissenschaft) als unvernünftig, irrational, metaphysisch, pseudotheologisch, weit von sich weist, kann nicht verwundern. Dabei kann es sich (ihr wissenschaftlich eingehegtes Selbst- und Weltverständnis vorausgesetzt) schon auf das Fragen dieser Fragen nicht einlassen. Und umgekehrt reicht uns ein Einschwören auf die durch die Wissenschaften oder die reine Vernunft gefilterten Fragen und legitimierten Antworten für unser irritiertes und perturbiertes So-in-der-Welt-Sein genauso wenig. (Wer möchte das mit Blick auf die Erfahrungen mit sich selbst, sein je eigenes Selbst- und Welter­ leben, in Abrede stellen?) - Ob wir damit aber schon unsere ›Neu­ zeit‹ mit ihrem (trotz aller Kritik im Einzelnen) Vertrauen, Hoffen, Glauben an den Fortschritt ›der Wissenschaft‹, an die Möglichkeiten der Technik, endgültig hinter uns gelassen haben, ist keineswegs ent­ schieden.564 Kritik der Wissenschaften, das praktische Ordnen ›tech­ nischer Welt‹, wäre doch selbst, so sagt man zurecht, eine Leistung wissenschaftlicher Vernunft. Sei es aber zunächst wie es wolle. Für in das Leben nicht fand, nicht sehen wollte, dass eine Tat innerhalb der fließen­ den Einheit der Lebenstotalität noch eine andere Wertbedeutung hat, als in der Abschnürung und Isolierung durch die rein moralische Betrachtung.« (Jenseits der Schönheit. Schriften zur Ästhetik und Kunstphilosophie. Ausgewählt von Ingo Meyer. Frankfurt/M 2008. S 162) 564 Hans Sedlmayer beschreibt diese Perspektive der Moderne (in den Jahrzehnten um 1900) so: »All diese Züge ergeben sich aus dem ›sachlichen‹ Zweck der Fabrik, sind aber zugleich Ausdruck eines eigentümlichen Geistes und ganz bestimmter ästhetischer Ideale, die gleichzeitig auch in anderen Gebieten des Lebens und der Kunst durchschlagen. Es gibt jetzt ein Pathos der Sachlichkeit, der Exaktheit, das in den Proklamationen Le Corbusiers seinen schärfsten literarischen Ausdruck finden.« (Verlust der Mitte. Salzburg o. J. S 56 f.)

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uns existentiell Philosophierenden bleibt, gerade mit Blick auf diese ›unentschiedene Zwiespältigkeit‹ unseres modernen So-Da-Sein, die Bedeutung eines ›endlich anderen Philosophierens unbestritten. Vor diesem so bewegten, herausfordernden Hintergrund unserer ›Welt‹ kommt dem vorgestellten Anliegen sogar besondere Bedeutung zu. Nicht als ob es, wieder einmal, darum gehe, eine ›Revolution der Philosophie‹ auszurufen. (Wer möchte denn so etwas überhaupt noch ernst nehmen?) Oder durch vernünftiges Philosophieren als Leistung der neuzeitlichen Aufklärung ‚die Welt‘ retten. Sondern ›das Erste‹ des Philosophierens bleibt ausdrücklich die Selbst-Selbst-Gestaltung des Philosophierens des Philosophierenden. Das mag bei nicht wenigen auf Unverständnis stoßen. Man denke dabei an die selbstbewusste, selbstbestimmte, selbstverantwortete Entfaltung unserer reflexiven Reflexion. Es gehe also (gerade wegen der Mensch Hier und Jetzt erschütternden Lage) ›als Erstes‹ um diese (immer noch nicht geleis­ tete) Verwirklichung des Grund-Anliegens allen Philosophierens.565 Dieses fundamentale Anliegen, das das Philosophieren wie selbst­ verständlich von ihrem historischen Beginnen an ausgerichtet habe. Gleichsam als der ›Kontrapunkt‹ der kulturellen (religiösen, künstle­ rischen) Entfaltung des Abendlandes. Philosophieren habe wirklich immer wieder an begründeten Denken von unseren ›Gedanken‹ zu arbeiten; an Vorstellungen, die soweit wir wirklich selbst zu schauen vermögen, von keinen anderen ›Leistungen‹ ›hinter-dacht‹ werden können. - Für uns heißt das diese Denk-Bewegungen als unsere verzweifelten Suchbewegungen (Nach Sinn und Geltung) endlich ein­ zuführen. Phänomenologisch als existentielle, reflexive Reflexion der Reflexionen irritiertem und perturbiertem Da-und-So-in-der-WeltSeins. Das ist existenz-phänomenologisches Philosophieren angelegt als philosophisch letztmögliche (nicht mehr letztgültige) GrundlagenForschung gespannten Da-und-So-Sein. – Die ersten Schritte sind uns vertraut. Ein radikal-methodisches selbst-besinnen. Und das ausgeführt, entfaltet, bewegt und existentiell begründet als ›Symphi­ losophie‹. Dieser Titel gesetzt (oder übersetzt) als existenz-phänome­ 565 Husserl verbindet mit ›Erster Philosophie‹ einen umfassenden, ›starken‹ Anspruch. »Die Eingangspforte, der Anfang der Ersten Philosophie selbst wäre danach der Anfang aller Philosophie überhaupt. Im Hinblick auf das philosophierende Subjekt müssten wir demnach sagen: im wahren Sinne Anfänger der Philosophie ist derjenige, der die Erste Philosophie von ihrem Anfange an wirklich, also in absolut standhaltender Wahrheit bzw. in vollkommenster Einsicht, gestaltet.« (Hua. VII. S 5)

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nologisch Programm.566 Also nicht historisch legitimiert, sondern systematisch-reflexiv eingeführt. Das gestaltete auch praktisch ein ›neues Philosophieren‹. Dass sich wissenschaftliche Philosophen, nicht anders als zurzeit (beispielsweise) der Schlegels und Novalis, davon für ihr Philosophieren nicht beeindrucken lassen möchte, soll nicht unter den Tisch fallen. Nehmen wir die Perspektive der neuzeitlichen Philosophie zur Kenntnis, sehen wir, dass diese wis­ senschaftlich Philosophierenden, schon die existentielle Wirklichkeit ihres So-in-der-Welt-Sein ›rational‹ oder sogar naturwissenschaftlich verkürzen. Und sich daher selbst als wirkliche Philosophierende, gar nicht wahrnehmen können; vielleicht, ihre Intention vorausgesetzt, auch nicht wollen; sich nicht einmal einlassen auf diese beunruhi­ gende (schon mit ihrem Philosophieren) gelebte Spannung zwischen Theorie und existentieller Praxis. - Das gibt uns zu denken. Es gehört phänomenologisch mit hierher. Ausdrücklich positiv vorge­ stellt, als wirkliche Möglichkeit unseres So-in-der-Welt-Seins. Die ›Denker vom Gewerbe‹ haben aus ihrer Sicht durchaus berechtigt andere Interessen; und folgen einem enger gefassten Begriff der Philosophie.567 Trotz ihrer, (davon dürfen wir ausgehen) sicher selbst gemachten praktischen Erfahrungen mit der irritierenden wirklichen Wirklichkeit. Gibt doch gerade ihr Suchen nach unbedingter Geltung (Wahrheit; Sinn) darüber Auskunft. Ihr Philosophieren dokumentiert also nicht weniger als unsere existentiellen Reflexionen, die irritieren­ den, verstörenden Selbst-Erfahrung So-Da-zu-Sein. Eine grobe Verzerrung unserer existenz-phänomenologischen Vorstellung wäre es, existentiellem Philosophieren einen philoso­ phisch ungeklärten ›Romantik-Begriff‹ unterstellen zu wollen. Wir halten systematisch Ausschau nach einem, uns (als Da-und-Sosein) und unserer phänomenologisches Philosophieren umfassen­ den Begriff. Dies nicht weniger streng gesetzt und entfaltet als Husserls Vorstellung von › Philosophie als strenger Wissenschaft‹. - Und nur für alle nachdenkbaren Leistungen des Philosophierens soll interessieren. (Das stelle vor, sollte man meinen, die SelbstDas romantische Ideal der Symphilosophie beruhe »auf dem geselligen Gespräch, entwickelt sich aus Rede, Kommentar und Kritik und ist Ergebnis eines gemeinschaft­ lichen Geistes, zu dem jeder seinen Teil beiträgt, so dass die individuelle Autorschaft in der Gruppe aufgehoben ist.« (Gerd Ueding. Klassik und Romantik. Deutsche Literatur im Zeitalter der Französischen Revolution. München 1987. S 109) 567 Kant. K.d.r.V./B 871 566

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Verständlichkeit jeden Philosophierens.) So reden wir auch nicht irgendeiner ›Ästhetisierung des Philosophierens‹ das Wort. Als ob es darum gehe Philosophieren als ‚Literatur‘ zu ›privatisieren, es vielleicht als ›Geschmacks-Frage‹, oder ›feuilletonistische Reflexion der schönen Gestaltung‹ zu behaupten. Man wird (zumindest hier) Carl Schmitt nicht widersprechen wollen, dass weder »religiöse, noch moralische, noch politische Entscheidungen, noch wissenschaft­ liche ((ich füge hinzu: philosophische)) Begriffe« im Horizont des ›Nur-Ästhetischen‹ wirklich möglich wären.568 Vor einer Auflösung existentieller Phänomenologie in »subjektivierten Occasionalismus« steht allein schon die Form und Gestaltung der reflexiven Reflexion der Reflexionen.569 Reflexionen, die sich selbst und ihre wirkliche Welt-Habe nie aus dem Blick verlieren; und sich auch nicht ohne weiteres gelten lassen können. Unser existentielles Philosophieren ist also eine vorsichtige Bewegung der Reflexion, die Kritik und Selbst­ kritik als reflexive Reflexion impliziert. - Dieses Selbstverständnis existenz-phänomenologischen Philosophieren bleibt auch für die Zusammenstellung von ›Philosophie und Literatur‹ bestimmend. Um keinem Missverständnis Vorlagen zu bieten, schauen wir noch genauer hin und diesem phänomenologischem Philosophieren zu. – Der Literatur, diesen oder jenen literarischen Texten, auch der Kunst im Allgemeinen wird phänomenologisch also existentielle und philosophische Bedeutung zugestanden. Eine Bedeutung, die nicht umständlich konstruiert, erkünstelt, aus welchen Gründen auch immer erfunden werden müsse. Das ausdrückliche in den Blick rücken, denkt sich nicht als eine der themen-bezogenen Leistungen des Philosophierens. Nicht als Einordnung in einen historisch sich immer weiter spreizenden philosophischen Fächer. Etwa abzulegen unter den bekannten Überschriften: ›Philosophie der Literatur‹; ›Das literarische Kunstwerk‹; oder, ›Philosophie der Kunst‹; ›Philosophi­ sche Ästhetik‹; ›Theorie des Schönen‹; oder methodologisch noch allgemeiner, philosophische Gestaltung einer ›Theorie literarischer Hermeneutik‹. – Mit phänomenologisch-existentieller Reflexion der literarischen Reflexionen wird immer auch ausdrücklich die Wirklich­ keit des jetzt So-Reflektierenden selbst mit-gelesen. Das was er Politische Romantik. Berlin 19915. S 21 Vgl. dazu Carl Schmitt. »Romantik ist subjektivierter Occasionalismus, d. h. im Romantischen behandelt das romantische Subjekt die Welt als Anlass und Gelegen­ heit seiner romantischen Produktivität.« (Politische Romantik. (1919) Berlin19915. S 23) 568

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von sich selbst (ästhetisch, literarisch, philosophisch), als irritiertes In-der-Welt-Sein vorstellt. Das sind phänomenologische Akte der reflexiven Reflexion der Reflexionen entlang der (unserer) wirklichexistentiellen Intentionalität. Das erfährt sich nicht als bloßes Nach­ zeichnen (oder als eine transzendentale Rückbindung) von irgendwie ›objektiv‹ vorgestelltem Da-und-So-Seins. Und auch nicht (durchaus Möglichkeiten unseres Philosophierens) als Vorstellung einer phä­ nomenologischen Psychologie oder Soziologie. Sondern als existen­ tiell reflexive Reflexion möglicher konstitutiver Akte. Ein SelbstSelbst-Sein und Selbst-Welt-Haben, das die Wirklichkeit unseres (auch ästhetisch eingestellten) In-der-Welt-Seins reflektiert; eben als gespannte bewegende Wirklichkeit irritierten So-in-der-Welt-Seins.

12.2.4. Existentielles Philosophieren als Selbst-Selbst-Verstehen Existenz-phänomenologische Reflexion der Reflexionen ist einge­ führt und wird entfaltet als uns selbst Leisten-können. Wir schauen uns als wesentlich wirkliches So-in-der-Welt-Sein. Das alles sollte an dieser Stelle nicht mehr anstößig scheinen. Auch wir Philosophie­ rende selbst erfahren uns von dort her als wirklich So-Philosophie­ rende; mit unseren Leistungen, unseren Möglichkeiten existentieller Reflexion der Reflexionen. Und erfahren uns gerade dort, wo wir nicht mehr auf abstrakte, vermeintliche Sicherheiten der Wissenschaften, der Philosophie der Vernunft (ergo cogito sum) uns zurückzuzie­ hen vermögen. Also sich gezwungen erleben sich ›wahrhaftig‹ mit ungesicherten, unvernünftigen, irrationalen Gestaltungen wirklichen und wesentlichen Da-und-So-in-der-Welt-Seins (einschließlich die­ ser Reflexionen selbst) zu reflektieren. Das ist ein Philosophieren, das nicht erst vom Himmel auf die Erde geholt werden müsse; sondern das uns endlichen Menschen, unserer Geschichte der Refle­ xion selbst angehöre. Geradezu eine für die Menschheit notwendige Selbsterfahrung. Man mag diese Reflexionen (griechisch) ›Philoso­ phieren‹ und ›Philosophie‹ nennen, oder nicht. Diese uns wesentlich zugehörige Geschichte der Reflexion darf nicht zu eng gefasst wer­ den. Sicher ist es eine Bewegung der Aufklärung unserer Vernunft. (Schon Homer setzt hier ein.) Aufklärung ist immer Gestalt und (nicht-lineare) Gestaltung der Reflexion unseres uns endlos heraus­ fordernden Da-und-So-Seins. Zurecht könne man hier von dem Sein

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des Menschen als seinem unentwegten Werden sprechen. Kurzum, jeder Mythos, jede Erzählung, jedes Bild, jede literarische Institution, gehört hierher. 570 – Man bedenke nun, das im Blick, welche konsti­ tutiv-existentielle Bedeutung Kunst allgemein, Literatur (und immer wieder: Lyrik) im Besonderen, ›repulsiv‹ schon auf alltägliches Weltund Selbstverständnis des Menschen habe. Gestaltungen, die nicht nur theoretisch (als ›Bildungsgut für einige wenige‹) präsent sind, sondern wie selbstverständlich So-in-der-Welt-Sein beispielsweise vorstellen und konstitutiv darauf zurückkommen. Beispielsweise, es ordnen, festigen, aufrichten; oder es weiten; auch destruieren und umgestalten. Wiederum gilt, es mag Mensch in jedem Falle bewusst sein (oder werden) oder nicht. Das Heimlich und Unheimliche, das Eigene und das Fremde, Schicksal und Verantwortung, Schuld und Erlösung, Schmerz, Endlichkeit, Tod, Lust und Daseins-Freude (›Hiersein ist herrlich‹; aber auch: ›wer saß nicht bang vor seines Her­ zens Vorhang?/Der schlug sich auf: die Szenerie war Abschied.‹), Gott und die Welt, Sinn und Zweifel, Glauben und Verzweiflung, (›besser nicht geboren zu sein‹;) werden als meine und unsere wirklichen und wesentlichen Möglichkeiten der Reflexionen dicht vorgestellt; es mag genehm sein oder nicht, uns, ›als das unsere‹ vor Augen gestellt, zu Gehör gebracht, in Erinnerung gerufen; und gerade so als ›wesentlich verwirklicht‹. Das ist zugleich entfaltet und existentiell verdichtet. Das sind Wirklichkeiten und wirkliche Möglichkeiten des modernen Selbst-Seins und Welt-Habens, die im Besonderen uns nun die Literatur vorführt.571Mit all diesen uns so vertraut scheinenden Möglichkeiten, als Bild, Drama, Roman, Gedicht, Lied. Das sind wahrhaftig komplexe ästhetische Leistungen. Leistungen aber nun 570 Bei Teilhard de Chardin (mit seiner eigenartig emphatisch vorgetragenen ›theo­ logischen Evolutionstheorie) klingt es so: Logisch und psychologisch trage ihn die Überzeugung: dass das Sein gut ist, da heiße, »a) dass es besser ist, zu sein, als nicht zu sein; b) dass es besser ist, mehr zu sein, als weniger zu sein. Wird als Hilfsprinzip zugestanden, dass das vollendete Sein das bewusste Sein ist, so kann man diesem Prinzip eine praktischer, klarere Form geben, nämlich: a) dass es besser ist, bewusst zu sein, als nicht bewusst zu sein, b) dass es besser ist, bewusster zu sein, als weniger bewusst zu sein.« (Mein Universum. Olten und Freiburg i. Breisgau (o. J.) S 7 f.) 571 Gerade die Literatur unserer Gegenwart, so Winfried Freund, führe die Auflösung der Ganzheit der Welt vor (erstaunlich im Zeitalter der Globalisierung), als »ver­ wirbelt zu Vexierbildern des Unsinns, auseinandergebrochen zu einem Puzzlespiel, dessen Fragmente kein Bild mehr ergeben, zusammengestürzt zu einem Chaos, in dem jede Erinnerung.an die Ordnung, die einmal war, erloschen ist. Die Welt geht unter in einer grotesk lächerlichen Vision.« (Deutsche Phantastik. München 1999. S 74)

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auch der Konstitution des Selbst-Seins und Welt-Habens. Wir-selbst für uns selbst vorgestellt als (wie eigenartig) ‚Suchbewegung‘ nach uns selbst; wir, die wir uns selbst, mit all dem was uns zur Verfügung stehe, irritiert und perturbiert endlich einzuholen versuchen. – Das alles wird phänomenologisch eingelesen in die Bewegungen der Reflexions-Geschichte. Man kann hier von einer ontogenetischen und phylogenetischen Ordnung der Reflexion sprechen. Eine Ordnung, die das ›grobe Muster‹, das A. Comte seiner Einteilung der Kulturge­ schichte zugrunde legte, als unwirklich beiseite stellt. Hierher gehören nämlich nach wie vor und sogar im Besonderen die ›Leistungen der Mythen‹ und selbstverständlich der Kunst. Dass unsere ›romantische Perspektive‹ dies wieder in den Blick rückt, ist ganz in der Ordnung radikaler Reflexion. Ist also nicht einem verworrenen, versponnen (irrsinnigen) Denken geschuldet. Und so liegt es auf der Hand, dass die existentiellen Zusammenhänge zwischen ›Kunst und Mythos‹ auch philosophisch nicht übergangen werden dürfen. Zu versuchen, diese Such- und Denkbewegungen, nach dem wissenschaftlich-ratio­ nalen, in bestimmten Kontexten, ganz sicher leistungsfähigen Mus­ tern, (beispielsweise, ›Ursache – Wirkung‹; ‚rational folgerichtig‘; ›das Eine, dann notwendig das Andere‹, usw.) zu begreifen, und auch praktisch-gewiss ordnen zu wollen, verirrte sich in der unfassbaren Wirklichkeit unseres irritierten So-in-der-Welt-Seins. Dicht zusammengefasst und dabei noch etwas näher an uns Phi­ losophierende herangerückt. Wesentliches Verstehen und Begreifen vom Kunst- und literarischem Werk, fordert philosophisch anthro­ pologisch-existentielle Reflexion.572 Konkret, existentielle Reflexion der Reflexionen des Selbst- und Weltverstehens des Menschen als So-in-der-Welt-Sein. Damit rücken auch diese ästhetischen Perspek­ tiven als Reflexionen in unseren Blick. Wirklicher und wesentlicher Mensch, in und mit seiner Spannung und seinen Möglichkeiten zwischen Da-Sein und So-Sein, erfährt sich, führt-sich-selbst-so-vor, und das ist: konstituiert-sich nun auch mit Reflexionen der Kunst und Literatur. Von dort aus lässt sich unser selbstverständlich scheinendes Oskar Becker schreibt kurz und knapp (im Übrigen in der Festschrift zu Husserls 70. Geburtstag): »Die Ontologie des Ästhetischen wird daher auch von der Analyse des ästhetischen (d. h. des künstlerisch schaffenden und ästhetisch ›genießenden‹) Daseins aus entwickelt werden müssen.« (Von der Hinfälligkeit des Schönen und der Abenteuerlichkeit des Künstlers. In: Dasein und Dawesen. Gesammelte philosophi­ sche Aufsätze. Pfullingen 1963. S 26)

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neuzeitliches So-Da-Sein noch genauer vermessen. Man sagt nicht zu Unrecht: ›Das Abendland‹ sei eine ›horizontal‹ und ›vertikal‹ geordnete literarische Erzählgemeinschaft. Für sich selbst so eingerich­ tet, sich so tradierend, und sich so reflektierend. (Diese und jene umlaufenden historischen, auch dogmatisch-ideologisch eingesetzten Erklärungen, lassen wir auf sich beruhen.) Eines kann nicht bestritten werden. Mythen, Erzählungen, Texte, und (dazu gehören auch) ihre Deutungen, oder Kritik daran (als eigene Literaturform), begleiten nicht nur seine Wirklichkeiten; ihr Selbstverständnis ›spiegelt‹ sich nicht nur so, sondern ›konstituiert‹ sich, immer in Gestalt und Gestal­ tung von Geschichten und (auch philosophischen) Inszenierungen von Geschichten. Und das nicht nur rückblickend als Zusammen­ fassung: ›es war einmal‹. Das stellt immer vor unser Schicksal als Hörende, Lesende, Schauende, Reflektierende. Wenn man so will, Grundlinien, oder, existentielle Mess- und Richtgrößen nun auch unserer neuzeitlichen Identität. - Wir können es phänomenologisch nicht übersehen. Das erzählte abendländische Selbstverständnis als auch unwillkürlich ordnendes Gefüge für unser In-der-Welt-Sein. Man denke (beispielsweise) an das Normale, Wertvolle, das Schöne, Gute, Wahre, den Wahnsinn, das Abseitige. Oder aus dieser Per­ spektive an Erzählungen, Texte, Textformen, Erzählgestaltungen; die ›Epen Homers‹; die Tragödien; die Geschichten der Bibel; an die Werke Dantes; Shakespeares, (usf.); und nicht zu vergessen, das sich daran anlehnende Denken geltender Gedanke. In unserem Blick bleibt dabei vor allem das hierher gehörende Philosophieren als letztmögliche Form und Gestaltung dieser Reflexionen - Von dort her und daraufhin leistet sich (vielleicht auch nur hintergründig) also unser ›europäisches Selbstverständnis‹, ‚das Abendland‘. Das sind, zusammengefasst, unsere Geschichten; unsere Architektur; unsere Kunst-Werke; unsere Werte und Unwerte; unser So-Geworden-Sein. Denken, Gedanken, Sprache. Unsere Last und unsere Bedeutung. Man mag darüber die Nase rümpfen. Von antiquierter Begrifflichkeit, sogar problematisch rückständigen Denken sprechen. Abgestandene Ideen der (man wisse doch: rückständigen) Romantik. – Lassen wir uns aber philosophierend darauf ein, kann es nicht verborgen bleiben. Das entwirft den (nach wie vor) verpflichtenden und zugleich den uns erst frei-setzenden Horizont. Den Horizont, innerhalb dem, man mag es wahrhaben wollen oder nicht, nun auch die Lebenswelt der

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Moderne spielt. Wir sind und bleiben Abendländer!573 Das also stellt die uns tragende Gestalt vor, mit der wir uns nun selbstbewusst in die Weite einer Weltgesellschaft zu stellen haben, und es auch können. Eine grundlegende Forderung für wirklich wirkliches Philoso­ phieren hat uns von Beginn an begleitet und getragen. Und gilt für unsere existentielle Phänomenologie geradezu als unabdingbar gesetzt. Die angesprochene ›romantische Weitung‹ des Philosophiebe­ griffs. Das ist konkret ein ›radikales Vollbringen‹ der Reflexion als existentielle (reflexive) Reflexion der Reflexionen irritierten und per­ turbierten In-der-Welt-Seins. Gelesen als Bestätigung streng syste­ matischen Philosophierens und nicht als Beginn einer historistischen Zersetzung.574 Dieses umfassende ›neue‹, systematische Philoso­ phieren verdichtet sich, als existentielle Phänomenologie. Hervorge­ hoben sei noch einmal, dass dieses streng endliche Philosophieren keine Wendung hin zu Subjektivismus, phantastischer Beliebigkeit inszeniere; oder eine Einordnung, oder Aufhebung in Kunst und ›schöne‹ Literatur einführen wolle. Ein solches Positionieren leisten wir, nicht obwohl, sondern weil wir Philosophieren entschieden als existentielle Reflexion setzen. Daran halten wir also fest. Unser phänomenologisches Philosophieren als ein Philosophieren, das sich geltungssicher als selbst-selbst-verständlich begreifen könne; und trotzdem Philosophieren eines wirklich Philosophierenden bleibe. Damit verwirkliche sich die grundsätzlich existentielle Gestalt der Philosophie und des Philosophierens. Mit anderen Worten. Die Mög­ lichkeiten der Reflexion selbst finden ihre Gestalt als existentielle Reflexion wesentlich wirklichen So-in-der-Welt-Seins. Philosophie­ Denken wir hier vor allem auch an die ›leidenschaftlichen‹ Reflexionen Husserls. »Die geistige Gestalt Europas – was ist das? Die der Geschichte Europas (des geistigen Europas) immanente philosophische Idee aufzuweisen, oder, was dasselbe ist. Die ihr immanente Teleologie, die sich vom Gesichtspunkt der universalen Menschheit überhaupt kenntlich macht als der Durchbruch und Entwicklungsanfang einer neuen Menschheitsepoche, der Epoche der Menschheit, die nunmehr bloß leben will und leben kann in der freien Gestaltung ihres Daseins, ihres historischen Lebens aus Ideen der Vernunft, aus unendlichen Aufgaben.« (Die Krisis des europäischen Menschen­ tums und die Philosophie. Krisis. S 319) 574 Es ist ja diese von Carl Schmitt so entschieden nach vorne gerückte Kritik an der Romantik. »Die Romantik ist subjektivierter Occasionalismus, weil ihr eine occasionelle Beziehung zur Welt wesentlich ist, statt Gottes aber nunmehr das romantische Subjekt die zentrale Stelle einnimmt und aus der Welt und allem, was in ihr geschieht, einen bloßen Anlass macht. (…) Jetzt erst kann wirklich alles zum Anlass für alles werden und wird alles Kommende, alle Folge in einer abenteuerliche Weise unberechenbar, (…).« (Poltische Romantik. S 24) 573

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ren hat, auch mit Blick auf die Intention seiner Geschichte (der Geschichte der Reflexion, die über die ›universitäre Fachphilosophie‹ hinausreiche), systematisch existentielle Reflexion der Reflexionen letztmöglich zu leisten. Nicht aber als eine nun auch (noch) mögli­ che historische Gestaltung der neuzeitlichen Philosophie; sondern als die Erfüllung der Form des Philosophierens von Anfang und Beginn an. Damit erst wird unser phänomenologischer Anspruch existentielle Grundlagen-Forschung für irritiertes In-der-Welt-Sein vorzustellen, ernst genommen; und gerade so (welch eine Ironie) als Reflexion der Reflexionen der Reflexionen ›geltungssicher‹ verwirk­ licht. Dieses streng systematische Philosophieren dürfe sich nicht durch Vor-Schriften, Vor-Urteile dieser oder jener philosophischen Tradition, oder durch theologische Rücksichten, oder wissenschaftli­ che Forderungen, begrenzen, nicht einschränken, nicht weiter bestim­ men lassen. Selbst historisch bewährte Perspektiven, die zurecht als wissenschaftlich und philosophisch bedeutend gelten, oder als gesell­ schaftlich unverzichtbar, dürfen existenz-phänomenologisch nicht, im Vertrauen auf diese da und dort erbrachten, als gesichert gelten­ den Leistungen, als Grund-Lage für existentielles Selbst-Selbst-Ver­ ständnis übernommen werden. Und mit Hinweis auf eine nicht zu bestreitende erfolgreiche Wirkungsgeschichte für Philosophieren als gesetzt gelten. Denken wir an Vorstellungen der Aufklärung, Ordnungen der Rationalität, Formen der Wissenschaftlichkeit; dazu gehört auch (und ohne jede Abwertung) die ›instrumentelle Ver­ nunft‹. Eines sei dabei weit nach vorne gerückt. So zu reflektieren, denkt sich ausdrücklich als Konsequenz phänomenologischen Philo­ sophierens. Also Reflexionen in dem von Husserl (›dem Meister‹) selbst eröffneten Horizont des methodisch strengen Denkens und Schauens. ›Phänomenologie‹ lesen wir als einen weiten Horizont und nicht als ›starres Gehäuse‹. Lesen also den inzwischen auch philoso­ phiegeschichtlich geläufigen Titel ›phänomenologische Bewegung‹ wortwörtlich. ›Phänomenologie‹ nicht dogmatisch festgeschrieben, eingefroren als ›statischer Schul-Begriff‹, der nun nur noch ein enges begreifen zuließe. Das hat uns bisher begleitet und unser Philosophieren ausge­ richtet. Und dazu gehört auch eine unser Philosophieren tragende Selbst-Kritik. Auch das ist in der Ordnung ›der Phänomenologie‹. Selbstverständlich macht die grundsätzlich kritische Intention phä­ nomenologischer Philosophie für unser Philosophieren keine Aus­ nahme. Phänomenologische Reflexionen bleiben, gerade mit ihrer

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streng geltungstheoretischen Forderung, einer sich immer weiter treibenden Radikalität und ihrer Redlichkeit, ihrem skrupulösen Selbstverständnis, für sich selbst eine bleibende Herausforderung. Gerade dies gebe der von Husserl, schon in seinem programmati­ schen Aufsatz ›Philosophie als strenge Wissenschaft‹ geforderten, Generationen übergreifende Zusammenarbeit der Phänomenologen am ›sicheren Bau der Philosophie‹ seine Dignität.575 In diesem Sinne ordnen wir phänomenologisches Philosophieren immer mit Blick auf die Weite der Erfahrungen unserer existentiellen Reflexionen. Selbst ein kritisches Auseinander, oder sogar unüberbrückbar anmutendes Gegeneinander (so mag es von außen scheinen) mit Blick auf die ›phi­ losophische Sache‹ stellt sich uns noch als Leistung phänomenologi­ schen Miteinanders vor.576 Kann man doch (beispielsweise) sogar – und das ist sicher nicht ohne Witz – den streng systematischen Denker Husserl, gegen das (nicht weniger) strenge, unnachsichtige, dogmati­ sche Schuloberhaupt Husserl zu Hilfe rufen. (Ähnliche Spannungen ließen sich bekanntlich auch ausmachen zwischen Freud und der ›psy­ choanalytischen Bewegung‹.) »Am Historischen hängen bleiben«, daran könne man Husserl erinnern, »sich daran in historisch-kriti­ scher Verarbeitung oder in anachronistischer Renaissance philosophi­ sche Wissenschaft erreichen zu wollen: das gibt nur hoffnungslose Versuche. Nicht von den Philosophen sondern von den Sachen und Problemen muss der Antrieb zur Forschung ausgehen.«577 - Das also benennt die phänomenologische Form existenz-phänomenologischen

575 Arbeiten an einem ›philosophischen Lehrsystem‹, »das nach gewaltigen Vorar­ beiten von Generationen, von unten her mit zweifelssicheren Fundament wirklich anfängt und wie jeder tüchtige Bau in die Höhe wächst, indem Baustein um Baustein gemäß leitenden Einsichten als feste Gestalt dem Festen angefügt wird.« (Logos./291) 576 Es ist spannend zu sehen, wie Oskar Becker noch 1929, in der Festschrift für Husserl, die unterschiedlichen Strömungen in der Phänomenologie sah: »Man kann die Intention der Husserlschen Phänomenologie, zum mindesten seit den ›Ideen‹ von 1913, nicht ärger verkennen als dadurch, dass man ihr die vorgeblich ›psycho­ logistische‹ und ›anthropologistische‹ Hermeneutik der Faktizität als fremd oder gar feindlich gegenüberstellt. Die Tendenz der hermeneutischen Phänomenologie geht (obzwar nicht ausschließlich) auf die weitere Konkretisierung der transzenden­ tal-idealistische Grundhaltung der ›Ideen‹, (…). Diesen ›Anthropologismus‹ mit dem alten, schon im I. Band der ›Logischen Untersuchungen‹ von Husserl endgültig über­ wundenen ›psychologistischen Anthropologismus‹ zu verwechseln, heißt die gesamte Entwicklung der Phänomenologie seit 1913 radikal missverstehen.« (Pfullingen 1963. S 25) 577 Logos, S 340

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Philosophierens. Dies soll als Erinnerung an unsere Zugehörigkeit zur ›phänomenologischen Bewegung‹ vorerst genügen. Zurück zu der geforderten Neuordnung philosophischer Refle­ xion. Zu unserer Vorstellung einer ›phänomenologischen Symphilo­ sophie‹. Man könne durchaus hier von existenzphänomenologisch geordneter ›dichterischer Philosophie‹ sprechen. (Peter Koslowski fasst so das Denken Ernst Jüngers). Existenz-phänomenologisches Selbst-Selbst-Verstehen eingeführt als ‚erzählte‘ Grunderfahrung von uns selbst als wirkliches So-in-der-Welt-Sein. Das weitet auch den von den Romantikern gesetzten Horizont für gemeinschaftliches, bloß über historisch gewordene Fach-Grenzen hinwegreichendes Phi­ losophierens. Und damit als phänomenologisch methodische Zusam­ menfassung weit gespannten Philosophierens; Philosophieren also nun als existentielle (reflexive) Reflexion der Reflexionen. Dieser (ganz und gar nicht ›revolutionäre‹) Begriff, verdichtet und fokussiert das Philosophieren existentiell. Wäre das nicht eine Rückkehr zu sich selbst als ›Heimat-leistende Ortschaft‹ des Philosophierens? Gewiss doch! Aber nicht Rückkehr zu sich als konstruiertes, einsames; abstraktes oder absolutes Fundament. Weder eingeführt mit ontolo­ gischer, metaphysischer oder transzendentaler Perspektive. Sondern dieses ›zurück zu sich selbst‹ als sich bewegen (ausdrücklich immer wieder von Anfang an) entlang der Intentionalität unserer Reflexio­ nen. – Existenz-phänomenologisches Philosophieren verweist also zurück in die spannende Weite unseres wesentlich wirklichen Daund-So-Seins. In einen vertraut-unvertrauten Horizont. Unlösbar bleibt So-Da-Sein (als dürfen; können; sollen; müssen) herausfor­ dernd eingefaltet zwischen Da-Sein und So-Sein. So ist phänome­ nologisches Philosophieren reflexive Reflexion unserer nicht mehr weiter hinter-denkbaren Existenz. Von dort aus gestalten sich alle unsere weiteren Versuche (und nicht nur die im engen Verständnis ›philosophischen‹) uns selbst in den Blick zu bekommen; unsere Welt-Habe und unser Selbst-Sein zu reflektieren.578 Auch dort wo Reflexionen (beispielsweise) der Literatur uns bewegen, bleibt jedes 578 Aus einer anderen Perspektive. Ludwik Fleck schreibt: »Zwischen dem Subjekt und dem Objekt gibt es ein Drittes, die Gemeinschaft. Es ist kreativ wie das Subjekt, widerspenstig wie das Objekt und gefährlich wie eine Elementargewalt. (…) Folglich wird den Wissenschaftlern immer bewusster, dass ›Wissenschaft gemeinschaftlich ist‹. (…). Das gilt für alle Arten von Erkenntnissystemen gleichermaßen, seien sie nun nichtwissenschaftliche Aberglauben, politische Überzeugungen oder andere Gesichts­ punkte.« (Krise in der Wissenschaft. Zu einer freien und menschlicheren Naturwis­

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12.2. Symphilosophie

bloß ›Spielerische‹, jeder Hauch eines ›Ästhetizismus‹, die ›schöne Form‹ als sich genügender Selbstzweck (art pour art), oder auch die Vorstellung des ›Interessanten‹, ›Utopischen‹, als normativer Maß­ stab philosophischer und ästhetischer Kommunikation außerhalb phänomenologischer Reflexion. Auch maßloser Überschwang und haltlose Sehnsucht nach einem Ideal ›endgültig heiler Welt‹, (den­ ken wir an Hölderlins ›Griechenland‹; oder an Novalis ›christliches Mittelalter‹) sind für uns Reflexionen, die es phänomenologisch exis­ tentiell zu reflektieren gelte.- All das, was gemeinhin dem ›romanti­ schen Selbstverständnis‹, oder auch dem Begriff des ›Romantischen‹ unterlegt werde; und immer noch historisch das Verständnis von ›der Romantik‹ mitzubestimmen scheine, bleibt für phänomenologi­ sches Philosophieren außen vor. Diese romantische Vorstellung der Romantik ist für uns genauso wenig ›Vorbild‹ wie das umlaufende Verständnis von ›der Aufklärung‹. Wir können überhaupt unsere uns erschütternden Erfahrungen (mit) der Moderne, der philosophischen Reflexion der Reflexionen des 20. Jahrhunderts, nicht mehr ohne weiteres zurückstellen in ›aufgeklärte‹ oder ›romantisch-kritische‹ Denkgeschichte der Neuzeit. Deutlich sollte nun geworden sein, dass existentielles Philoso­ phieren sich nicht (irgendwie; irgendwo) naiv ›regressiv‹ rückversi­ chern suche, sich mit modischer Attitüde als ›romantische Philoso­ phie‹ einführen wolle. Als habe Philosophieren mit ihren Reflexionen sich jetzt unterzuordnen einer als ›Kunst‹ und ‚schöner Literatur‘ bestimmten ›ästhetischen‹ Grundordnung. - Bei all dem dürfen wir aber die existentielle Bedeutung ›ästhetischer Reflexion‹ nicht wieder zurückstellen als bloße Vorstellung des ›Schönen‹ (als Ornament); eine entlastende Wahrnehmung, die die ›Schwere‹ des modernen In-der-Welt-Seins ‚leichter‘, erträglicher gestalten solle. (Man denke an die Bedeutung die Freud der Kunst zugesteht.) Das sind existenzphänomenologisch entscheidende Schritte. Existentielle Phänomeno­ logie umfasst nicht nur dieses immer mögliche, auch bedeutsam konstruktive Miteinander von Philosophie und Literatur; Philosophie und Kunst. (Zusammenstellungen die ›Kunst‹ und ‚Literatur‘ auch mit Soziologie und Psychologie eingehen könne.) Als ginge es beispiels­ weise nur um eine philosophische Entfaltung von diesen oder jenen ästhetischen Fragen und ihrer anthropologischen Konnotationen. senschaft.(1960). In: Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufsätze. Frankfurt/M 1983. S 178 f.)

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12. Philosophie und Literatur

Beispielsweise Reflexionen bloßer ›Stilfragen‹. Oder arbeiten mit Fra­ gen der Kunst, die sich philosophie- und kulturgeschichtlich (schon mit Platon) aufdrängen. Wir beziehen für unser Philosophieren auch wissenschaftliche Reflexionen als mögliche Perspektiven mit ein; etwa Reflexionen der Psychologie, Psychiatrie, Medizin.579 (Ohne die jeweiligen ›Geltungsbehauptungen‹ mit zu übernehmen. Die ›phä­ nomenologische Klammer‹ bleibt in jedem Fall.) Selbst noch diese oder jene ‚oberflächlichen‘, subjektiven Perspektiven (sagen wir: Fra­ gen des bloßen Geschmacks) alltäglichen So-Da-Seins behalten wir im Blick. Wir schauen hin auf sie als die, wirklichen So-in-der-WeltSeins zugehörigen Reflexionen. Von diesen unterschiedlichen Seiten her empfiehlt sich also phänomenologisch-existentielle Perspektive auf uns die so reflektieren können. Ästhetische Reflexionen dabei nicht eingeführt als Vorstellung eines Ornament; als vage Analogie auf etwas ›schön erkennen-wollen‹; oder als ›erkenntnistheoretische Folie‹, vor deren Hintergrund, die Leistungen neuzeitlicher Wissen­ schaften sich klar abheben; nun besonders überzeugen; und als ›wahr‹ zu kontrastieren wären. Sondern als für uns suchenden Menschen praktisch bedeutsame ›existentielle‹ Reflexionen. Als Bestätigung für unser irritiertes und perturbiertes Philosophieren.580

12.3. Selbst-Selbsterfahrene Menschen-Bilder Das beschreibt, fassen wir es zusammen, die anthropologisch-exis­ tentielle Grundlage von der aus nun auch das Philosophieren selbst, sich wirklich praktischer, existentieller ausrichten könne. Das leistet die Intention und methodische Arbeitsform phänomenologischer Reflexion der Reflexionen. Unsere sym-philosophische Einstellung als die geforderte letztmöglich-wirkliche Wendung hin zu existentiellen Welt- und Selbst-Selbst-Verständnis.581

579 Man denke beispielsweise nur an die ›Psychologen‹ Kierkegaard; Nietzsche; vor allem aber (beispielsweise): Ludwig Binswanger; Medhard Boss; Wolfgang Blanken­ burg; aber auch, und nicht vergessen, an Gottfried Benn. 580 Dazu meine Arbeit (2018) 581 Der Vollständigkeit halber: Dass auch eine Perspektive hin auf die Naturwissen­ schaften, vor allem der Medizin den frühen Romantikern nicht fremd gewesen war, ließe sich leicht belegen; aber führte über unser Anliegen weit hinaus.

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12.3. Selbst-Selbsterfahrene Menschen-Bilder

Schauen wir hin auf die Bedingungen für dieses existenz-phä­ nomenologische Philosophieren. - Diese existentielle Reflexion der Reflexion der Kunst, der Literatur, der Lyrik im Besonderen, schließt als selbstverständlich ›den Kunstrezipienten‹ ein. Uns die Leser der Werke der Literatur, die Hörer der Musik, die Betrachter von Bil­ dern. Auch diese ›Leistungen‹ (Lesen; Hören; Betrachten) rücken in den Blick als Möglichkeiten der Reflexion der Reflexionen unseres im Grunde prekären In-der-Welt-Seins. Phänomenologisch gelesen sind es, das wird hier kaum verwundern, konstitutive Akte. Gestalt und Gestaltung willkürlicher, vor allem aber unwillkürlich Mensch ausrichtender existentieller Suchbewegungen. Ausdrücklich geschaut als ästhetische, literarische Reflexionen irritierten und perturbierten Menschseins.582 Als ein sich-selbst als So-Da-Sein (als Lesender; Hörender; Betrachtender) erfahren und vorstellen können, müssen, dürfen. Auch das verweist, das können wir nicht übersehen, in Mensch unbedingt zustehenden ›Horizont der Interpersonalität‹. Existenz-phänomenologisch ist es dies die wirklich radikale Wendung zu uns selbst. Die Bewegung der Reflexion einer nicht-nachlassenden ernsthaften Irritation, die nicht anders kann, als sich immer wieder ›zu erzählen‹. - Von dort her drängen sich auch die (trotz jahrtausendeal­ ter mythisch-religiöser Deutungen; philosophischer Vorstellungen, oder wissenschaftlicher Erklärungen) nach wie vor nicht abgegolte­ nen Fragen nach unserem wesentlichen Selbst-Sein und wirklichen Welt-Haben auf. Für uns nicht zuletzt nun auch, ob Philosophieren den letztmöglichen Grund für Da-und-So-Sein überhaupt leisten könne? Das sind Reflexionen, darauf sind wir immer wieder aufmerk­ sam geworden, die auch unser Philosophieren (als philosophische Grundlagen-Forschung) selbst mitumfassen. Es kann nicht anders sein; vorausgesetzt der Philosophierende setzt seine Reflexionen (als reflexive Reflexion) wirklich radikal. Ob also vielleicht hier und jetzt gerade ein (dem neuzeitlichen Verständnis nach) nicht-wissenschaft­ liches Philosophieren die ›Grund-Idee der Philosophie‹ erfülle? Die Bei Oskar Becker so: »Ästhetische Gegenstände ›sind‹ gar nicht ›in Wirklichkeit‹ ›an sich‹, sondern stellen nur Potenzen dar, die erst im ästhetischen erleben aktu­ ell werden, wobei dann zum Problem des Schaffens des Werkes (oder auch des ›Erwachsens‹ des ästhetischen Naturgegenstands) das weitere Problem des adäquaten Erfassens kommt, in dem das Werk erst eigentlich zu seinem (ästhetischen) Sein gelangt.« (Von der Hinfälligkeit des Schönen und der Abenteuerlichkeit des Künstlers. (Hier)) In: Dasein und Dawesen. Gesammelte philosophische Aufsätze. Pfullingen 1963. S 13) 582

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12. Philosophie und Literatur

Ordnung eines nicht mehr-weiter-hinter-denkbaren Selbst-SelbstVerstehens? Gerade diese als ›irrational‹ abgetane, existenz-phäno­ menologische ›symphilosophische‹ Zusammenstellung von ›Kunst und Philosophie‹! – Das veränderte nicht nur das wissenschaftsund erkenntnistheoretische Zusammenspiel von Literatur und Phi­ losophie; Philosophie und Kunst. Eine Ordnung, die, davon wird immer noch ausgegangen, die Philosophie selbstverständlich, allein zu bestimmen habe. Das liegt ganz auf der Linie neuzeitlichen Phi­ losophierens. Die bekannten Perspektiven, die sich (zumindest) seit dem 18. Jahrhundert, mehr oder weniger ausdrücklich, als ›KunstPhilosophien‹ (oder auch: Theorie der Ästhetik; des Schönen; des Geschmacks; usw.) vorstellen. Dabei bleibt ›Kunst‹, was immer dabei als wesentlich vorgeführt werde, ein ›Objekt‹, eine ›Arbeits-Leistung‹ philosophischer Reflexionen. Phänomenologisches Reflektieren wird (im Gegensatz dazu) mit den sinnlichen, beeindruckenden Reflexio­ nen der Kunst, der Literatur, der Poesie, repulsiv auf sich selbst aufmerksam; und fordert sich selbst als Reflexion der Reflexionen unseres So-in-der-Welt-Seins heraus. Entfaltet als Re-Flexion der Reflexion entlang der Möglichkeiten existentieller Intentionalität. Das geht weit über die bekannten als beispielhaft inszenierten, da und dort als grundsätzlich angelegten Selbstbeschäftigungen neuzeit­ licher Philosophie mit dem Philosophieren hinaus. Sie verbleiben auch mit ihrer (routinierten) selbstreferentiellen Geste innerhalb allgemein wissenssoziologischem oder geistesgeschichtlichem Inter­ esse. Hierher gehören auch viele der Einleitungs-, Einführungsschrif­ ten in Philosophie und philosophische Einzelfragen. Aber, (die Frage mag kommen) war es nicht gerade dieses, sich einführende, selbstkritische Philosophieren, das Philosophie aus theologisch-metaphy­ sischen Verstrickungen erst gelöst habe? Dem ein ›anderes, ein existentielles Philosophieren‹ entgegensetzen zu wollen, könne nicht wirklich ernst genommen werden. Müsse für ein Philosophieren, das sich um wissenschaftliche Anerkennung bemühe, als ›bodenlo­ ser Irrsinn‹ scheinen. Als eine (endgültig überwunden geglaubte) Rückwendung zu wirr-metaphysischer Spekulation; Versuche einer Verdunkelung des endlich aufgeklärten wissenschaftlichen Philoso­ phierens. (Wohin das führe, habe die Geschichte des 20. Jahrhunderts mit schrecklicher Klarheit vorgeführt.) Kurzum, die mühsamen, mit Opfer verbundenen ›Geisteskämpfe‹ vieler Generationen (Ausein­ andersetzungen, geführt nicht nur von Philosophen) dürften nicht

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12.3. Selbst-Selbsterfahrene Menschen-Bilder

umsonst gewesen sein!583 Sich von dem Stand neuzeitlicher, vor allem dann moderner Reflexion der Philosophie lösen zu wollen, konterka­ riere nicht zuletzt auch das Mühen phänomenologischer Philosophen. Verweigere eine Mitarbeit an dem für die Zukunft bedeutenden Projekt: ›Philosophie als strenge Wissenschaft‹ einzuführen. - Ein­ sprüche gegen existenz-phänomenologisches Philosophieren, auch vonseiten phänomenologischer Philosophie, müssen also nicht müh­ sam gesucht werden. Ganz sicher würde Husserl (›der Meister‹) selbst gegen ein solches ›irrationales‹ Ansinnen hart argumentieren. Es nicht einmal als phänomenologisches Philosophieren gelten lassen. Hat er doch ein Leben lang (Von den LU bis zu den Krisis-Abhandlun­ gen) gegen alle Versuche Philosophie als Vorstellung dieser oder jener ›subjektiven‹ Weltanschauung behaupten zu wollen, klar opponiert. Phänomenologisch müsse weiterhin gelten keine Zugeständnisse an Subjektivismus, Relativismus, Skeptizismus.584 (»Die wahren, einzig bedeutungsvollen Kämpfe unserer Zeit sind die Kämpfe zwischen dem schon zusammengebrochenen Menschentum und dem noch bodenständigen, aber um diese Bodenständigkeit bzw. um eine neue ringenden. Die eigentlichen Geisteskämpfe des europäischen Men­ schentums als solchen spielen sich als Kämpfe der Philosophien ab, nämlich zwischen den skeptischen Philosophien – oder vielmehr Unphilosophien, die nur das Wort, nicht aber die Aufgabe behalten haben – und den wirklichen, noch lebendigen Philosophien.«) Aber dies zunächst einmal beiseitegelegt. Was denn, diese Frage drängt sich doch selbst auf, überhaupt dafür spreche, die vertrauten, die, man mag dazu stehen wie man will, im großen Ganzen bewährten Pfade neuzeitlich-aufgeklärten Philosophierens zu verlassen? Die Leistungen einer solchen ›kritischen‹ Philosophie können ernsthaft nicht geleugnet werden. Philosophie sei sogar, so Husserl, nicht nur eine Wissenschaft neben anderen Wissenschaften, sondern ›die alle Wissenschaften zusammenfassende, grundlegende Erste Wissen­ schaft‹. Also die Urstiftung wissenschaftlicher Vernunft. Und ›trans­ zendentale Phänomenologie‹ erfülle diesen – schon von Platon ange­ Was fundiertes Philosophieren ausmache. Beispielsweise bei Friedrich Waismann so: »Wenn das Hinabsteigen zu dem Bau der Begriffe, das Zergliedern der Bedeutun­ gen, das Klären des Sinnes das eigentliche Geschäft des Philosophen ist, dann muss man sagen, dass der philosophische Geist in der Tiefe aller Wissenschaft wohnt.« (Logik, Sprache, Philosophie. Stuttgart 1976. S 44) 584 Hua.VI. S. 13 583

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12. Philosophie und Literatur

legten – ›Totalbegriff der Philosophie und der Wissenschaft‹.585 Was denn gegen ein so gesetztes, im weitesten Verständnis, ›transzenden­ tales Selbstverständnis‹ (das Husserls Phänomenologie zumindest seit den ›Ideen‹ voraussetze) spreche? Erfülle dieses Philosophieren, so frage ich in allem Ernst, nicht die ›Intention der Philosophie‹; die Intention (unbedingten Rechenschaft-geben-könnens), die schon Sokrates/Platon bewegt habe?586 Der Gedanke, so Husserl, der auch praktisch das Fundament des Abendlandes trage. - Man könne einem wissenschaftlichen Philosophieren eine theoretische und praktische Gestaltungkraft (einen humanen Gestaltungswillen) nicht wirklich absprechen. Ein sicher begründetes theoretisches Selbst-Verständnis der Philosophie; das darüber hinaus, auch praktisch ein grundsätz­ liches Begreifen der Ordnung der Wissenschaften, der Künste, der Religionen, vorstellen wolle. Diese Gestaltungen würden als Leistun­ gen unserer Vernunft eingeholt und transparent. Man denke an all die Entwürfe vernünftiger (oder vernünftig ›gemachter‹) Ordnungen für unsere Lebenswelt; Vorstellungen, an die wir uns endlich als gewiss auszurichten vermögen. (Etwa, ›die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft‹) Das alles erscheine theoretisch und praktisch ›konstruktiver‹, als das was die gesamte spekulativ-meta­ physische Philosophie zu leisten imstande gewesen war. – Noch einmal, aus welchem ›vernünftigen‹ Grunde diese unbestreitbar viel­ fältig legitimierte Arbeit der Reflexionen ›aufgeklärt-vernünftigen‹ Philosophierens aufweichen. Und, horribile dictu, ›Kunst‹, ›schöne Literatur‹, ›sogar ›Poesie‹ gleichberechtigt und als existentielle Refle­ xion ernst genommen, am philosophischen Diskurs zu beteiligen? Diesen (kaum zu bestreiten) willkürlich gesetzten Formen, beliebig erfundenen Gestaltungen, Geschichten, bloßen ›Ausgeburten‹ der Phantasie, diesen beliebigen subjektiven Bilder eine, über die Aufgabe Mensch zu entspannen hinausgehende, philosophische Bedeutung 585 »Allgemein gesprochen ist Wissenschaft in unserem europäischen sinn wie bekannt eine Schöpfung des griechischen Geistes. Ihr Ursprungsname ist Philosophie, ihr Erkenntnisgebiet das Universum des überhaupt Seienden. Sie verzweigt sich in Sonderdisziplinen, deren Hauptzweige Wissenschaft heißen, während man philoso­ phisch nur diejenigen unter ihnen nennt, welche allgemein alles Seiende in gleicher Weise betreffenden Fragen behandeln.« (Hua. XXVII. S 166) 586 Platon »übertrug das Sokratische Prinzip radikaler Rechenschaftsabgabe auf die Wissenschaft. (…).Durch den hohen Ernst, in dem Platon die wissenschaftsfeindliche Skepsis in diesem sokratischen Geiste zu überwinden sucht, wird er zum Vater aller echten Wissenschaft.« (Hua. VII. S 11; 12)

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12.3. Selbst-Selbsterfahrene Menschen-Bilder

zuzusprechen. Ein solches ‚Philosophieren‘ ernsthaft verwirklichen zu wollen, löse den neuzeitlichen Anspruch ›philosophischer Geltung‹ endgültig auf. Ob das beabsichtige, diese Frage müsse erlaubt sein, über die Ideen ›Aufklärung‹, ›philosophische Vernunft‹, ›Rationali­ tät‹, ›wissenschaftlich‹ gerichtetes Philosophieren, mutwillig hinausoder hinwegzugehen? Die mühsam gezogenen, von Generationen von Denkern erarbeiteten Grenzen, wieder zu verwischen? Und ›Irra­ tionalismus‹ in allem Ernst wieder philosophisch beleben zu wollen? Die, nun in globaler Zusammenarbeit der Philosophierenden, endlich erreichte ›Klärung metaphysischer Dunkelheit‹ wieder einzutrüben; philosophische Sprache und vernünftiges Denken wieder heillos zu verwirren, und mit Unsinn ›verknoten‹ zu wollen. Die Konsequenzen, das müsse jedermann klar sein, reichten weit über akademisches Philosophieren hinaus. Man könne (sollte man zumindest meinen) gesellschaftlich und politisch verhängnisvolle Auswirkungen solchen ›irrationalen Denkens‹ doch nicht übersehen.587 Hier dürfe es keine Zugeständnisse geben. Diese Vorstellungen sind ganz entschieden abzulehnen; seien nicht nur philosophische Rückschritte (Regression; Restauration; Anti-Aufklärung), sondern verhinderten die notwen­ digen theoretischen und praktischen Fortschritte in Wissenschaft und Gesellschaft.588 Und dass es sich bei all dem nicht um bloße erkenntnis- oder wissenschaftstheoretische Fragen handele, führen schon Husserls Reflexionen vor; nicht zuletzt sein Philosophieren

587 Beispielsweise die Analyse Karl Mannheims (aus den 30iger Jahren des 20. Jahrhundert) »Das Furchtbarste an den Ereignissen der letzten Jahre liegt keineswegs nur darin, dass bestimmte Gruppen und schichten, von denen man immer schon wusste, dass sie aus verborgenen irrationalen Antrieben lebten, sich nun öffentlich diesen Trieben verschrieben haben, sondern auch darin, wie diese Ereignisse jene anderen Gruppen überwältigt haben, von denen man einen Widerstand gegen einen übertriebenen Irrationalismus erwartet hätte und die nun mit einem Schlage den glauben an die gesellschaftsformende Macht der Vernunft verloren haben.« (Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus. Darmstadt 1958. S 46) 588 Aber schon für das 18. Jahrhundert selbst, das Jahrhundert der Aufklärung und der Vernunft, hält Eduard Spranger fest: »Wenn, nach der durchgängigen Überzeugung des Aufklärungsjahrhunderts, Kant eingeschlossen, der Mensch eine gemischte, nämlich eine sinnlich-vernünftige Natur ist, dann bedeutet das Ganzheitsstreben, dass der Mensch nicht dem Kantischen Ideal folgen darf, sich völlig zur reinen Vernunft zu machen; sondern der bloß vernünftige Mensch soll sich auch als sinnliches Wesen entfalten, und der bloß sinnliche soll sich zur theoretisch-praktischen Vernunft erheben.« (Schillers Geistesart. In: (1972). S 219)

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12. Philosophie und Literatur

im Umkreis der ›Krisis-Abhandlungen‹.589 So habe also diese Vorstel­ lung eines ‚umfassenderen Philosophieren‘, aus vernünftig scheinen­ den Gründen, nicht nur beachtliche Teile der philosophischen Schulen und Richtungen der Gegenwart gegen sich, (von den Wissenschaften einmal ganz abgesehen); sondern erfahre Ablehnung auch von phä­ nomenologischer Seite selbst. Damit sollte auch für uns ›die Sache‹ endgültig entschieden sein. Wer möchte sich schon, das im Blick, ernsthaft der Fraktion der Unaufgeklärten, der Unmündigen, der ewig Gestrigen, der sogar gefährlich Irrationalen zuordnen? Sich gerade jetzt, outen als ›Feind der Aufklärung‹; ›Feind des Fortschrittes‹, sprich ein ›Feind der Menschheit‹! - Profilieren wir existenz-phänomenologisches Pan­ orama der Reflexionen unseres Da-und-So-Seins (das unser Irratio­ nales einschließt) durch einen Perspektivwechsel noch klarer. Gleich wie man dieses aufgeklärte, wissenschaftlich geordnete Selbst- und Weltverständnis sich theoretisch und praktisch zurechtlege; welche Bedeutung, welchen Wert man dem für sich beimisst. Welchen der ›zwei Kulturen‹ (um diese Unterscheidung von Charles Percy Snow hier zu übernehmen) man sich selbst zugeordnet habe. Über eines brauche es aber keinen allzu heftigen Streit geben. Im Gegenteil, vielmehr sollte hier im großen Ganzen eine tragfähige Überein­ kunft möglich sein können. Wer es überhaupt zur Kenntnis neh­ men möchte, kann es nämlich schon bei sich selbst wahrnehmen. Und zwar, dass die Wirklichkeit wirklicher Menschen, und auch die Reflexionen wesentlich wirklichen So-in-der-Welt-Seins, nicht restlos unter die ›enge‹ Vorstellung, den methodisch eingerichteten Bestimmungen einer der Wissenschaften, oder eines Begriffs ›reiner Vernunft‹ gepresst werden können. Unser unablässig aufdringlich irritiertes und perturbiertes Selbstverständnis, unsere existentielle Befindlichkeit, lasse sich nicht in jedem Fall und ein für alle Mal Wolf Lepenies verweist auf die folgenreiche Auseinandersetzung in England der 50er Jahre. Unter der Überschrift ›die zwei Kulturen‹ (Wissenschaft und Literatur). Angestoßen durch C. P. Snow. »Snows Hauptvorwurf an die Literaten (…) betraf nicht ihre Unkenntnis wissenschaftlicher Tatbestände, sondern war moralischer Natur. (…) Das Weltbild, das sie verkörperten, hatte eine Entwicklung beschleunigt, die schließlich in Auschwitz mündete. Antidemokratische Einstellungen waren im frühen 20. Jahrhundert nirgendwo häufiger zu finden als in der Kunst und Literatur. (…). Daher bestand die Lebensfrage für die westliche Zivilisation darin, das traditionelle Übergewicht der literarischen Bildung zu beseitigen und endlich der Wissenschafts­ kultur den Vorrang zu geben.« (Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft. München. Wien 1985. S 186) 589

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wissenschaftlich erklären; und könne auch praktisch allein ›durch Vernunft‹ nicht ›ruhig-gestellt-werden‹. Jeder derartige Versuch greift theoretisch zu kurz und praktisch daneben. Beispiele aus Vergangen­ heit und Gegenwart ließen sich unschwer finden. Die durch die Wissenschaften, denken wir an Soziologie, Psychologie, Medizin, Neurobiologie, entworfene anthropologische Wirklichkeit ›des Men­ schen‹ (etwa das Menschsein statistisch betrachtet; die allgemeine historische Erfahrung zugrunde gelegt; mit Blick auf ideale theoreti­ sche Konzepte;) ist nicht unsere existentiell wahrgenommene, lebens­ weltlich erfahrene, willkürlich und unwillkürlich gelebte wirkliche Wirklichkeit. Wir, du und ich, gehen mit unserem wirklich gelebten (auch irrationalen) So-Da-Sein nicht restlos in allgemeinen Vorstell­ ungen wissenschaftlicher Vernunft auf. Und auch unsere wirkliche Lebenswelt lasse sich nicht (einmal) durch Laborbedingungen ›wirk­ lich simulieren‹. Weder ist wesentlich wirklicher Mensch ein bloß materielles (Forschungs-)Objekt, noch ein nur reines geistiges, ein bloß vernünftiges Wesen. Auch daran lasse sich kaum zweifeln. Wer sich hier nicht durch die ›Erzählungen‹ der Geschichte belehren lassen möchte, mache sich wieder nur mit sich selbst genauer vertraut. – Das ist selbstverständlich; und bleibt philosophisch doch herausfordernd. Die existentielle wirkliche Wirklichkeit unseres leibhaften Da-undSo-Seins, erfahren wir aufdringlich klar mit Blick auf uns selbst. Und das schließt unsere Möglichkeiten ein, uns von uns und unseren auch irrationalen Erfahrungen zu ›erzählen‹ und es (eigenartig genug) ›verstehen‹ zu können. Richtig ist, dass diese wirklichen Erfahrungen existentiell-fra­ gilen, irritierten So-in-der-Welt-Seins, auch unsere philosophischen Selbst-Selbst-Reflexion nicht einfacher machen. Das sehen wir wie­ derum selbst mit uns als existentiell Philosophierende. Schauen wir noch einmal auf die achtenswerten Vorstellungen wissenschaftlicher Aufklärung. Es gebe zwar sicher problematische ›Lebensumstände‹ und schädigendes Verhalten, Muster, die man aber gesellschaftlich, mit Hilfe der Wissenschaften, (nach und nach) in den Griff bekom­ men könne. Das was Menschenleben (im Großen und Kleinen) verbittere, eintrübe, sogar ›inhuman‹ gestalte, habe seinen Grund im ›irrationalen‹, ›unvernünftigen‹, oft ›vernunftlosen‹ Verhalten. ›Die Schlechtigkeit‹, ›das Blöde‹, ›das inhumane Ungenügen‹, ‚asoziale‘ der Menschen beginne schon als fehlende Einsicht in die eigene

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12. Philosophie und Literatur

Irrationalität.590 Der Ausgang der ‚dunklen Höhle‘ sei tatsächlich noch nicht erreicht; aber zumindest wüssten wir jetzt, dank neuzeitlichwissenschaftlicher Vernunft, wohin wir uns zu bewegen hätten. Und auch wem wir letztendlich vertrauen könnten. Daran dürfe Mensch festhalten (trotz unleugbaren Irrsinn): rational-aufgeklärte Ordnung sei möglich; möglich also trotz aller immer noch gelebten ›irrationalen Muster‹. - So in etwa könne die (optimistische) Einsicht zusammen­ gefasst werden, in das was vernünftigerweise für uns Menschen hier und jetzt möglich sein sollte; vor allem durch welche Formen und Formungen und wie dies zu leisten, zu verwirklichen wäre; auch wie wissenschaftlich und philosophisch ›Geltung‹ für uns und unsere Lebenswelt sich herstellen und sichern lasse. Hätten wir uns selbst endlich – der konsequenten Entfaltung der wissenschaftlichen Ver­ nunft sei Dank – ganz und gar ›in den Griff‹ bekommen, dann könne man ausrufen: ›willkommen schöne neue Welt‹! Allerdings sei hinzugefügt, je nach Perspektive, ›optimistisch-triumphierend; oder erschrocken-erschüttert. Das im Blick, wäre als erstes zu fragen, ob denn der neuzeitlich aufgeklärte Mensch, von diesen, durch die Wissenschaften theoretisch als irrational, unvernünftig, erklärungsbedürftig markierten, existen­ tiell aber bedrängenden Fragen wirklich verschont bleibe; also es ihm mögliche sei, tatsächlich nur noch rein auf die Ordnung der ›wis­ senschaftlichen‹ Vernunft zu setzen, (wollen und können)?591 Aber, schon ob sich wirkliches Existieren, überhaupt streng-wissenschaft­ lich, und das auch nur im Allgemeinen, begreifen lasse, könne mit Fug und Recht bezweifelt werden. Zweifellos trage zwar ein derartig auf rationale Ordnung wissenschaftlicher Vernunft eingefugtes Inder-Welt-Sein, Mensch über weite Strecken. Aufgeklärt-vernünftige Welt-Haben und Selbst-Sein, ist tatsächlich auch ein Leben, gestützt und geschützt durch wissenschaftliche Leistungen. (Das habe man auch existenz-phänomenologisch ausdrücklich positiv wertzuschät­ Z. B. Albert Ellis. Die rational-emotive Therapie. München1977 Der Biologe Adolf Portmann mach uns darauf aufmerksam, »wie mächtig das gesamte Schaffen der Kunst gerade in unserer Zeit und zum Teil in Auflehnung gegen andere Arten des Welterlebens wiederum auf die elementare Ausdrucksmacht des primären Erlebens zurückweist; wie die Ausdrucksmacht von Linien, Formen und Maßen, von Oberflächen, Farben und Tönen wieder erfahren wird,, so wie ja die Wirkung der Worte nicht durch ihre rationale Aussage allein, sondern durch ihre Atmosphäre bestimmt ist.« (Welterlebe und Weltwissen. Zwei Vorträge. Mün­ chen1964. S 19) 590

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12.3. Selbst-Selbsterfahrene Menschen-Bilder

zen.) Wer möchte darauf hier und jetzt, Zivilisationskritik hin oder her, allen Ernstes verzichten. Dass das aber nicht die den Menschen umfassende wesentliche Wirklichkeit, seine ganze Wahrheit begreife, begreifen könne, und haltgebende Antworten auf sein im Grunde ›tief‹ beunruhigendes Da-und-So-Sein bereitzustellen vermöge, führt Ingeborg Bachmann in wenigen Zeilen vor: ›was aber geschieht/ (…)/wenn Totenstille// eintritt‹?592 – Wieweit diese für uns Men­ schen ›invariante‹ Grund-Erfahrung, nun auch unser phänomenolo­ gisches Philosophieren (die letztmöglich zu reflektieren behauptet) betreffe, und es erschüttere, auch diese Frage gehöre hierher und dürfe nicht mit leichter Hand abgetan werden.

12.3.1. Bilder ›existentieller Transzendenz‹. Es verbleibe Mensch, er mag sich drehen und wenden wie es seiner Vernunft entspreche, ›sein Schicksal‹, das sich letztendlich nicht in statistisch erfassbare Lebensrisiken auflösen, berechnen und vernünf­ tig bewältigen ließe (›Sei ohne Sorge‹!). - Auch dieses theoretisch und praktisch sich so ausrichten zu können bleibt in unserem phäno­ menologischen Blick. Gerade das entwirft nämlich Dasein in und mit der fragilen Wirklichkeit und irritierenden Wahrheit seines sich als fragil erlebenden Soseins. Kurz, es profiliert die Einsicht in diese uns Menschen unbedingt zugehörige existentielle Spannung um unsere fragile, endliche Lage zu wissen. Das ist die Aufforderung zu Philosophieren. Die Reflexion der Reflexionen. 592 Oder Hans Magnus Enzensberger. (Einige Vorzüge der Zivilisation) ›Es kommt, woher wohl, von selbst,/aus dem Wasserhahn Wasser,/seltsam/durchsichtig, wun­ derbar kalt,/auch Mohnstrudel werden gebraucht,/Sicherheiten vertrieben, aus Gold,/aus Gummi, dumme Dinge,/wahlweise/intelligent, in die du dich hüllen,/die du schlucken, lesen kannst,/und Schachteln erbaut man dir,/in denen du fährst, wohnst, stirbst.// Du läutest lediglich, zahlst,/schon ist die Feuerwehr da, die Lust,/Ölgemälde hangen an der Wand,/Schamteile teilen sich mit,/Koks kommt in kleinen Tüten./Prompt klopft der/Gerichtsvollzieher,/Elendsviertel werden/her­ angeschafft,/Tonnen von Hundefutter, bleich/und zahlreich wie Teerosenblätter/ent­ rollen sich Traumgrundstücke.// Was du brauchst, nicht brauchst,/ist einsatzbereit, Nirwanas/in allen Preislagen, Haßmasken,/Liebesknochen, Extras, siehe,/wälzen sich vor dir/auf dem Boden, es windet/für deine Vene der Schlauch/sich schon, und lieferbar ist,/gottseidank, für den Fall des Falles das Stearin// und für die taktvolle Totenmesse/die Bratsche, die Bratsche, die/Bratsche.‹

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Die Reflexionen der Kunst im Allgemeinen, der Literatur, der Lyrik im Besonderen, bieten sich, davon gehen wir aus, zur Refle­ xion für unser uns irritierendes So-Da-Sein an. Sie ordnen sich also unserem phänomenologischen Philosophieren zu. Und geben sogar Auskunft über die Bedeutung unseres existentiellen Philoso­ phierens als radikale (‚ästhetische‘) Reflexion. Gelesen als Reflexion unseres ›sich-Sorgen‹ (können, sollen) um unser so-irritierendes (sinnlich-leibhaftes) So-in-der-Welt-Sein. Diese Leistung ist nicht als willkürlich geleisteter Hilfsdienst vorzustellen. Sondern liegt in der ›Natur der Kunst‹ als existentielle Reflexion. Dass daran eigens erinnert werden muss, (trotz der nicht mehr überschaubaren Fülle kunsttheoretischen Schriften) ist alles andere als bedeutungslos; oder zufällig. (Das wird uns noch beschäftigen.) Existenz-phänomenolo­ gisches Hinschauen auf Kunst und (im Besonderen) auf ›Literatur‹, ordnet Kunst- oder literarische Werke nicht bloß in dieses oder jenes theoretische Ordnungssystem ein; und es sich so als mögliches ›Objekt‹ für Philosophieren zu. Als etwas über das sich auch, wie über vieles andere, trefflich philosophieren ließe. Oder nimmt es nur als philosophisch interessantes, etwa erkenntnistheoretisches, wis­ senschafts- oder literaturtheoretisches Thema. Als eine Fundierung für Kunstwissenschaften. Dass das, sei hinzugefügt, nicht nur möglich ist, sondern von Bedeutung für das Selbstverständnis der Literatur (und Kunst), braucht sicher keiner breiten Entfaltung. Man denke bei­ spielsweise nur an die großartigen, selbst literarisch einflussstarken ›Tragödientheorien‹, die ›rückwirkend‹ eine starke Relevanz für den Aufbau der Ordnung der Philosophie entfalten.593 (Reflexionen, die gelegentlich von ›Dichtern‹ selbst geleistet worden sind.) Lassen wir uns phänomenologisch systematisch auf die ›existentielle Form‹ der Literatur ein, so erfahren wir mit uns selbst, die immer wieder aufs Neue herausfordernde Erfahrung (beispielsweise) ›des Tragischen‹ oder ‚Komischen‘; oder dieser oder jener ›wirklichen schicksalhaften Lebensnot‹ als Möglichkeit der Reflexion. Man denke etwa (sicher allen vertraut) an Angst, Vergeblichkeit, Verzweiflung, aber genauso Hoffnung, Sehnsucht, Erfüllung (erleben und leben). Es sind existen­ tielle Erfahrungen, und nicht nur ›literaturtheoretische Ideen‹, die sich reflektieren, theoretische herausfordern und weiter reflektieren las­ sen. Das verweist phänomenologisch auf eine existentielle Spannung. Vgl. dazu: Hans Wagner. Aesthetik der Tragödie. Von Aristoteles bis Schiller. Würzburg 1986

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Eine Spannung, unaufhebbar aporetisch, zwischen unserem Da-Sein und So-Da-Sein. Von dort her drängt sich die Einsicht auf, dass in »jedem wahren Denken und Leben ein bestimmtes Risiko ((stecke)); wer (…) sich und sein eingelebtes Weltbild nicht riskieren will, der taugt nicht zum Denken und zu keiner wahren Existenz.«594 Diese existentielle Bedeutung literarischer Reflexionen für phi­ losophische Reflexionen ist nun phänomenologisch weiter zu ent­ falten. Literarisch eingeführtes Welt- und Selbstverstehen, und so reflektiertes Welt-Haben und Selbst-Sein, werden gelesen als Akt und Leistung; als Reflexion der Reflexionen irritierten Da-und-SoSeins. Phänomenologisch ausdrücklich gesetzt als philosophisch relevante Gestaltungen existentieller Reflexion. Also selbst schon Vorstellungen existenz-philosophischer Möglichkeit. So in den Blick gerückt, führt Literatur den Philosophierenden ‚zurück‘ zu dem, dem Philosophieren unbedingt zugehörenden existentiellen Selbst-Selbst­ verständnis. Man könne sogar von einem ›erzwingen‹ sprechen. Reflexionen von dem, was uns (irrational; leibhaft) beunruhigt, bewegt, treibt und zieht. Wortwörtlich ›Erinnerungen‹! ‚Erinnerun­ gen‘ an was aber oder an wen? Sicher nicht, wie es die neuzeitliche Tradition der Philosophie für sich in Anspruch nimmt, an diese oder jene als ideal eingeführte Grundlage absoluter Selbstgewissheit; etwa ›unbedingt allgemeiner Vernunft‹, oder an Vorstellungen reiner Idealität, Unbedingtheit. Sondern (‚Erinnerung‘) als eine phänomeno­ logische Hinführung und sich Selbst-Einlassen auf das existentiell herausfordernde; und dann, die ›nicht leichte‹ Entfaltung der Refle­ xion wirklicher und wesentlicher, mit der Aufklärung als unvernünf­ tig diffamierten, existentiellen Beunruhigung. (Das ist die Lösung der ›Verknotungen unserer Existenz‹.) Und schließlich von dort aus ein darüber hinaus zur letztmöglichen reflexiven Reflexion unserer Reflexionen. - Das entspreche, so wird man (durchaus berechtigt) einwenden, sicher nicht literaturtheoretischen Perspektiven; befinde sich auch außerhalb philosophisch vernünftiger Ästhetik. Ganz zu schweigen von dem alltäglichen Kunst- und Literaturverständnis. Schau doch einfach selbst hin und deinen ›Lese (und Kunst) Erfahrun­ gen‹ einmal mit dieser existentiellen Perspektiven zu! - Dies möge keinesfalls begriffen werden als sollte ästhetische und wissenschaft­ 594 Karl Mannheim. Zur Problematik der Soziologie in Deutschland. In: (Hg.) K. H. Wolff. Wissenssoziologie. S 621; zit. nach: Dirk Hoeges. Kontroverse am Abgrund: Ernst Robert Curtius und Karl Mannheim. Frankfurt/M1994. S 223)

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liche Vorstellungen überhaupt verabschieden werden. Um sich bei dieser Gelegenheit dabei endgültig gegen neuzeitlich-aufgeklärtes, wissenschaftlich vernünftig geordnetes In-der-Welt-Sein zu positio­ nieren. Hier zwingen mögliche Missverständnisse noch einmal (mit dieser ‚ästhetischen‘ Perspektive) auf unser existenz-philosophisches Selbstverständnis hinzuschauen. Wie sollte man diese eine denn nicht an sich selbst wahrneh­ men können. Für uns ganz und gar endliche Menschen bleiben Irritation und Perturbation das nach wie vor bewegende, herausfor­ dernde, das positiv gewendet, Mensch wesentlich Zustehende. Das als So-Da-Sein Tag für Tag wirklich erlebte und (wie auch immer) gelebte. Philosophieren wird, das im Blick, existenz-phänomenolo­ gisch geweitet und ‚endlich wirklich radikal‘ geleistet. - Existenz-phä­ nomenologisches Philosophieren haben wir eingeführt und entfaltet als Bewegung radikaler (reflexiver) Reflexion der Reflexionen unseres Da-und-So-Seins. Es wird als selbst-selbst-erfahren (in der Tat ist und bleibt es auch als philosophisches Leisten eine Erfahrung) zur existentiellen Reflexion der uns möglichen Reflexionen. Das ist refle­ xive Reflexion der Reflexionen wesentlich wirklichen und wirklich wesentlichen Welt- und Selbst-Verständnisses. Das sind konstitu­ tive Akte. Dass wissenschaftliche Vernunft, vernünftige Aufklärung, nicht die für wirklichen Menschen ›sinnstiftenden‹ Antworten vor­ legen könne, ist wahrlich keine ausschließlich existenz-phänomeno­ logische Vorstellung. Wir finden diese Erfahrung aus unterschiedli­ cher Perspektive vorgestellt und mit sehr verschiedenen Absichten ausgesprochen.595 Philosophieren wird durch uns nicht willkürlich herausgerissen aus einer neuzeitlich hochgemuten Befindlichkeit. Einer selbstbewussten, der grundsätzlichen Gestaltung nach (wie man glaubt) theoretisch endgültig aufgeklärten, selbstgeleisteten Ver­ nünftigkeit von Welt und Selbst-Erkennen; und darüber hinaus, (in einer nicht allzu fernen Zukunft), ein auch praktisch umfassend, 595 Schon bei Wittgenstein. »Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissen­ schaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht beant­ wortet sind.« (TL. 6.52); oder Peter Koslowski: »Die Vielheit der Erzählungen der Dichtung, des Mythos und der Religion darf nicht durch den monistischen Mythos der Aufklärung oder den des Dialektischen Materialismus, durch die Mythen von der Mobilmachung des liberalen oder des marxistischen Arbeiters abgelöst werden, weil es eine Tiefendimension der Welt und der Existenz des sterblichen Wesens Mensch gibt, die in diesen Aufklärungsmythen gar keinen Ausdruck finden.« (Der Mythos der Moderne. Die dichterische Philosophie Ernst Jüngers. München 1991. S 177)

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menschenwürdiges Welt-Haben und Selbst-Sein. Die Vollendung der ›Erziehung des Menschengeschlechts‹ wäre, so die zumindest stille (›unsterbliche‹) Hoffnung, endlich in greifbarer Nähe. ›Alles werde gut‹! Trotz allen Krisen! Wir hätten es also mit unserer Vernunft selbst in der Hand, aus unserer Welt, wirklich ‚die beste aller möglichen Welten‘ zu machen! Die dem Mensch (als Recht) zustehende Glückse­ ligkeit verliere man ›aufgeklärt‹ nicht mehr aus dem Blick. – Nicht als ob wir jede der historisch tradierten philosophischen Perspektiven der Neuzeit, (man denke doch nur an die wissenschaftlichen Leistungen, das politische Handeln aufgeklärter Vernunft,) rücksichtslos beiseite­ schieben wollten. Das Anzunehmen wäre ein grobes Missverständnis. Das wäre, mit Blick auf die Reflexionsgeschichte theoretisch unmög­ lich, und praktisch ein Irrsinn. Jede überhaupt mögliche Reflexion (auch die theologischen oder metaphysischen) bewegt sich jetzt im Horizont neuzeitlicher Aufklärung. Wir könnten also, selbst wenn wir es wollten, nicht mehr zurück zu ›vorneuzeitlichen Denken‹. So inter­ essieren existenz-phänomenologisch nun auch die Vorstellungen der Wissenschaften als (beeindruckende) Möglichkeiten der Reflexion unseres So-in-der-Welt-Seins. Eingeführt als Gedanken, die, wir mögen darauf achten oder nicht, unserem Denken ›neuzeitliche‹ Form geben. Phänomenologisch sind es Möglichkeiten der Reflexionen unseres wirklichen Da-und-So-Seins. Gestalten und Gestaltungen unseres Könnens, und Wollens, sogar Müssens. Und weiter gespon­ nen, Vorstellungen (sogar als Anlass und Grund) von theoretischen und praktischen Reflexionen unseres (es bleibt dabei) fragilen So-inder-Welt-Seins; unserer modernen Lebenswelt. - Was wir allerdings phänomenologisch können, sind die so gesetzten wissenschaftlichen Geltungsansprüche (als Möglichkeiten der Reflexion) zur Kenntnis zu nehmen; sie zu schauen; ohne sie aber für die Grundlegung existenz-phänomenologischen Philosophierens vorauszusetzen. Schauen wir noch etwas genauer hin. – Wir verhandeln also miteinander. Widersprechen uns, oder stimmen überein; suchen Gemeinsamkeiten oder Widersprüche; treiben in jedem Fall uns und unsere Reflexionsgeschichte weiter. In unserem phänomenolo­ gischem Blick also, in welcher Form, Gestalt und Gestaltung wir Menschen als irritiertes So-in-der-Welt-Sein, unser uns ›unentschie­ den‹ scheinendes Welt- und Selbstverständnis, unser Anliegen auf wirkliche Welt-Habe und wesentliches Selbst-Sein konstituieren, ordnen, und endlich als wirklich wesentlich reflektieren. Dazu gehört auch die Reflexion der Form der Reflexion selbst. Das gibt philoso­

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phischen Auseinandersetzungen ihre oft unversöhnlich vorgebrachte Schärfe. Denken wir beispielsweise an die, als grundsätzliches Gegen­ einander geführten ‚idealistischen‘, ‚naturalistischen, ‚szientistischen‘, oder, immer noch und immer wieder, ‚theologischen‘ Perspektiven; gesetzt immer auch als praktisch relevante Markierungen ›der wirkli­ chen Wirklichkeit‹, einer genauso sein-sollenden-Lebensordnungen. Das macht auf spannende Herausforderungen für existenz-phäno­ menologisches Philosophieren aufmerksam. Zum einen die Bestäti­ gung, dass phänomenologische Vorstellung unseres Welt-Habens und Selbst-Seins sich ausdrücklich auf die alltäglichen Erfahrungen der Fragilität, der Endlichkeit, der Begrenztheit wesentlich wirklichen So-in-der-Welt-Sein einzulassen habe. Wenn man so will in jedem Fall auf unser ‚existentielles Kranksein‹ zurückbezogen bleibe.596 Eine phänomenologisch profilierte Grunderfahrung, dass auch die, wenn auch lebensweltlich nur hintergründig präsenten, oder als ›banal‹ abgetanen Erfahrungen existentiell herausfordernd bleiben. Dass selbst philosophisch streng-dissoziierte Reflexion dies nicht als ›bloß faktisch‹ zurücklassen könne; daran erkenntnistheoretisch, ontolo­ gisch, sogar logisch gebunden bleibe. Man philosophiert ausschließ­ lich von unseren wesentlich wirklichen Lagen her; nur lebenswelt­ lich-existentielle Grund-Ordnung unseres So-Da-Seins, lasse uns also wirklich Philosophieren. Nur hier liege der Horizont möglicher philosophisch wesentlicher Bedeutung und unseres uns möglichen existentiellen Sinns. - Man denke noch einmal an die jedermann vertrauten Erfahrungen eigener (wie man glaubt) ›privater‹ Befind­ lichkeiten. Beispielsweise, ›Schmerzen‘, ›Angst‹, ›Einsamkeit‹; und an die, davon nicht zu trennen, anderen ›aufdringlichen Geschichten‹ aus dem Leib. Oder an dieses alltägliche präsente ‚sich sorgen‘ (um dies und das). Da sind aber auch die Erfahrungen (und Gott sei Dank nicht weniger selbstverständlich), von ›Lust‹, ›Freude‹, Liebe‘, und auch immer wieder und trotz allem ›Hoffnung-haben‹ und ›Glaubenkönnen‹.597 Das sind rational schwer zu fassende, Mensch immer wieder ›ziehenden Ideen‹ eines ›darüber-hinaus-sein-wollens‹. Schon Vgl. Gleixner (2018) »Auf dem Grunde der beginnenden Lust öffnen sich gleichsam immer tieferrei­ chende Abgründe, in die sich unser Sein, das keinen Halt mehr hat, besinnungslos hinabstürzt. Im Werden der Lust ist etwas Schwindelerregendes. Leichtigkeit oder Feigheit. Wie in Trunkenheit hat das Sein das Gefühl, sich seiner Substanz zu entlee­ ren, sich zu erleichtern und zu zerstreuen.« (Emmanuel Levinas. Ausweg aus dem Sein. Mit den Anmerkungen von Jacques Rolland. Hamburg 2005. S 31 f.) 596 597

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virulent als unwillkürlich gesetztes ›können‹ und ›sollen‹. (Wie man all diesen ziehenden, treibenden ‚Sehnsüchten‘ philosophisch gerecht werden könne, bleibt eine phänomenologische Herausforderung.) Und hierher gehört selbstverständlich wiederum auch unsere phäno­ menologische Reflexion dieser Reflexionen; unsere nicht weniger wirklich eingefalteten Geschichten des existentiellen Philosophierens (als Mühsal; Glücken und Scheitern). - Das sind Erinnerungen der Vergänglichkeit; präsent als diese oder jene Erzählungen, Geschichten (von was auch immer), die nun philosophisch, die Endlichkeit, die Fra­ gilität, die Spannungen des Menschen als fundamental, als letztmög­ lich reflektieren. - Wissenschaftliche Vernunft kann diesen existen­ tiellen Vorstellungen wenig Sympathie entgegenbringen. Aus ihrer Sicht, um einen bekannten Titel zu variieren, sicher nicht mehr als bloße, und arg verspätete Träumereien von Geistersehern. Perspek­ tiven, die zurecht (man habe geglaubt endgültig) aus moderner Phi­ losophie als metaphysisch-irrationale Reminiszenzen entdeckt und ausgegliedert worden. (Man brauche nur an die Arbeiten des ›Wie­ ner-‚ und ›Berliner Kreises‹ zu erinnern.) – Diese ‚irrationalen Erin­ nerungen‘ wirklichen Da-und-So-sein dürfen aber nicht vorschnell theoretisch wissenschaftlich eingeebnet; und restlos vernünftig zu erklären (aufzuklären) versucht, und so von uns ›dissoziiert‹ werden. Da stehen unsere wirklichen Erfahrungen vor. Die Erfahrungen mit der wirklichen Wirklichkeit. Und dieses phänomenologisch nicht weniger als wirklich erfahrene Da-und-So-Sein (einschließlich des eigenartigen ›über So-Da-Sein hinaus wollen) als bloß irrationale Illusion abzutun, als endgültig wissenschaftlich und philosophisch aufgeklärt zu behaupten, theoretisiere an unserem ›wirklich-sein‹ vorbei. Diese Erfahrungen werden doch praktisch selbstverständlich gelebt; gelebt als existentielle Wirklichkeiten (schon) alltäglicher Reflexionen eines Selbst-Seins und Welt-Habens. Man denke noch einmal an die Möglichkeiten eines Hoffen- und Glauben-könnens; oder an unwillkürliche Sehnsüchte, unser Träumen. Unleugbar wirk­ liche Wirklichkeiten, die unser Da-und-So-Sein, unser wesentlich wirkliches In-der-Welt-Sein, immer weiter tragen; und uns, schauen wir nur genau hin, auch ‚transzendierend‘ ausrichtet. (Und sei es auch nur hintergründig.) – Man mag dies abwertend bloße ›Doxa‹ nennen. Ein irrational grundloses gerichtet-sein, auf das keine ›Erkenntnisse‹, keine ›Bedeutungen‹, also kein sicheres Welt-Haben und Selbst-Sein aufgebaut werden könne. - Die Herausforderung für unser Philoso­ phieren knapp zusammengefasst: Ob es, so fragen wir, ein hinter,

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über oder unter den wissenschaftlich erlaubten Geschichten gebe (geben könne)? Gestaltungen, die sich nicht in die neuzeitliche wis­ senschaftliche Vernunft-Geschichte einholen, dort (wie auch immer) vernünftig-machen, aufklären ließen? Mit anderen Worten. Ob unse­ rem Da-und-So-Seins, ein darüber hinausreichender es umfassend tragender ganzheitlich wesentlicher, das scheint die Konsequenz zu sein, ›irrationaler Sinn‹ als wirklich wesentlich aufscheine?598 Unsere Daseins-Horizonte also von uns nach wie vor über die Gren­ zen, Ordnungen der wissenschaftlichen Vernunft hinausgespannt er- und gelebt werden? – Das sind keinesfalls verstiegene Mystizis­ men. Inszenierungen einer Fluchtbewegung vor den Härten unseres Daseins. So (beispielsweise) Freuds vielbemühte anthropologische Perspektive; (›Das Unbehagen in der Kultur‹). Spüren wir dem noch genauer nach; schauen wir also selbst hin. Das erste ist, uns immer wieder zur philosophischen Ordnung zurückzurufen. Gerade um Reflexionen nicht spekulativ zu verzer­ ren verbleiben wir streng ausgerichtet mit unserer phänomenologi­ schen Direktive ›sachlich‹ Hinzuschauen und existentiell zu philo­ sophieren. Das ›Prinzip aller Prinzipien‹ ist nach wie vor unsere methodische Grundlage. Die geltungstheoretischen Behauptungen wissenschaftlich aufgeklärter Vernunft bleiben also eingeklammert. Phänomenologisch entscheidend für philosophische Dignität bleibt auch hier ›existentielle Relevanz‹. - Wissenschaftlich, beispielsweise, psychologisch, soziologisch, oder auch psychoanalytisch könne dieses ›existentiell-so-fragen‹ zwar tatsächlich ›begriffen‹, nicht aber als für uns sinnvoll vorgestellt werden. Das stellt auch noch über alle prak­ tisch gelebte Wirklichkeit hinaus, nichts weniger als das wesentliche existentielle Fragen auch für phänomenologisches Philosophieren. Sie sind es schon als uns so-fragen-können, ja sogar uns fragen-müssen; und sind für das Philosophieren selbst unabdingbar bleibende theo­ retische und praktische Herausforderungen. Notwendig für ein Phi­ losophieren als existentielle Beunruhigung. Gestaltet als Reflexion der Reflexionen unseres wirklichen So-in-der-Welt-Seins. Unsere 598 Dazu (beispielsweise) Hans Jonas. Von der »symbolischen Flugkraft der Sprache getragen, die Freiheit zum Überschritt über alles je Gebbare und seine Dimension als solche hinaus: vom Dasein zum Wesen, vom Sinnlichen zum Übersinnlichen, vom Endlichen zum Unendlichen, vom Zeitlichen zum Ewigen, vom Bedingten zum Unbe­ dingten. Schon die Idee des Unendlichen, Ewigen, Absoluten fassen zu können, (…) zeigt diese transzendente Freiheit des Geistes an, die ein eigener Eros antriebt.« (Materie, Geist und Schöpfung. Frankfurt/M 1988. S 25 f.)

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phänomenologischen Reflexionen bleiben damit ganz in selbst erleb­ ten Ordnungen wirklichen In-der-Welt-Seins. Dem Zweifelnden sei zugerufen: ›schau selbst hin und zu‹! Existenz-phänomenologisches Philosophieren konvertiert nicht in einen ›Gnostizismus‹; oder in irgendein lebensfernes, abstrakt metaphysisches Philosophieren. So denken unsere Vorstellungen also ganz und gar nichts Geheim­ nisvolles. Sind kein Rückfall in prälogisches Denken und naives (vorkritisches) Verhalten. Phänomenologisches Philosophieren ist von Anfang an SelbstSelbst-Schauen. Und so schauen wir also weiter auf uns selbst! – Man denke für den nächsten kleinen Schritt, an eine hintergründig immer präsente Grundform unseres Da-und-So-Seins. An das uns selbstverständliche: ›Ich-bin‹; ›Du-bist‹; ›Wir-sind‹. Das also was als je eigene ›Identität‹ mit-geführt, besser noch, schlicht mit-gelebt werde. ›Etwas‹, so scheint es Mensch als Mensch unbedingt zuge­ höriges. Das wir für uns in der Regel als gewiss behaupten; und Tag für Tag geradezu ›gedankenlos‹ in Anspruch nehmen; es selbst­ verständlich leben. Schon jede gesellschaftliche Institution, jedes auf die Legitimität eines Menschen (›dieser eine da‹) verweisende Dokument, setzt es als selbstverständlich voraus. (Es verlieren, hieße, sich selbst als Selbst nicht mehr ‚ausweisen‘ zu können.) – Soll diese Gestalt und (wir werden sehen) Gestaltung nicht ein bloß ein abstrakt ›leerer Begriff‹ bleiben, und sich wirklich als unsere uns zugehörige wesentliche Wirklichkeit vorstellen und entfalten (kön­ nen), braucht es wortwörtlich ›lebendige Reflexionen‹. So erfüllen wir uns unwillkürlich, als existentielle Leistung ‚irrationaler‘ Reflexion. (Ist es nicht das, an dem sich Fichte abgearbeitet hat?) Dabei kann eine ›Spannung‹ nur mit äußerster Anstrengung verleugnet werden. ›Spannungen‹, die einem sich selbst-vergewissern wollenden Men­ schen (der Grund muss beileibe nicht philosophisch sein) selbst auf­ drängen. Etwa ›was-bin-ich‹? ‚wie-halte-ich-mich-in der Zeit‘? oder ›bin-ich-überhaupt‹? ›worin bestünde denn mein Wesen‹? Das sind (nicht bloße philosophische) Bedenken und Versuche einen Anfang (und Bedeutung für uns) selbst in den Blick zubekommen. – Erinnern wir uns. Wir haben uns in unseren Blick gerückt als ›Subjekt‹ und ›Objekt‹ von Geschichten. Je nach Perspektive. Nie anders aber als so oder so. Jede (beispielsweise) Erinnerung, Erzählung, Reflexion; auch jedes (man mag es nennen wie man möchte) Wertnehmen, Planen, Urteilen, sich also wie auch immer, in und mit irritierendem und irritiertem So-Da-Sein, aus- und einrichten; oder, sich (dicht

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zusammengefasst) seiner Weltanschauung zu vergewissern suchen, gestaltet sich als Erfahren und als Erfahrungen dieser unbedingten Grund-Voraussetzung So-In-der-Welt-zu-sein. Phänomenologisch konkret als nicht nachlassend gespannte Leistung; als ›Reflexion eines Strom von Geschichten‹. Das Augenmerk liegt nicht auf die Gestaltung oder den Inhalt dieser oder jener mich und uns ‚erzäh­ lenden‘ (konstituierenden) Geschichten, oder auf irgendwelche ›Text­ zusammenstellungen‹ als meine und unsere gelebte Wirklichkeit. Sondern, dass ein ›Ich‹ bestimmte Geschichten exklusiv als die ›sei­ nen‹ setzt; dass sie ihn selbst als Selbst-reflektieren; und So-Da-Sein sich Selbst als Urgeschichte bestimme.- Daran können wir wirklich nicht zweifeln. (Man versuche es!) Diese Vorstellungen reflektieren uns als ›Selbst-Gestaltung‹ durch unseren Raum; reflektieren in und mit unserer Zeitlichkeit. Wortwörtlich, dieses wahrnehmen unserer Geschichten als das uns durchtragende, das zeitliche einschließende, Selbst-Selbstverständnis. Etwas, auf das wir immer wieder zurück­ kommen können und müssen; oder auf das wir, nicht zuletzt von ›den Anderen‹ abgestellt, und daraufhin sogar verpflichtet werden. So wie wir es umgekehrt auch mit ›Anderen‹ tun. Wir können nicht anders! – Es liegt auf der Hand, dass diese ›eigenartige Selbst-Gestalt‹, diese, meine und deine ›Identität‹, nie ein für alle Mal geleistet und gesichert sein könne. Es brauche immer wieder, zumeist bloß ›routinierte Leistungen der Selbstvergewisserung. Beispielsweise als für ein So-in-der-Welt-Sein ›mitlaufende‹ Erlebnisse, Erfahrungen, Wahrnehmungen, Erzählung seiner-selbst. ›Geschichten‹, die mein und dein, und auch (unlösbar damit verflochten) unser Welt-Haben und Selbst-Sein, mein, dein und unser Welt- und Selbstverständnis (wie auch immer) vorstellen und verwirklichen. Fortlaufende Bestä­ tigungen eines ich-bin, du-bist, wir-sind so und so und so. Gleich ob als sich vergewissern, Haltung einnehmen, sich von etwas nicht abbringen lassen, neu ausrichten, dazulernen, reflektieren; usw. usf. Das ist nichts weniger als notwendig Selbstkonstitution unseres So-Da-Sein; und dazu gehört auch uns philosophisch-reflektiert, nun als ›wesentlich wirklich‹ in unseren Blick zu rücken.. Das sind, diesseits jeder philosophischen Spekulation, lebens­ weltlich praktisch konstitutive Leistungen wirklichen So-in-derWelt-Seins. Jedes sich-besinnen führt es immer wieder aufs Neue vor. ›Geschichten‹, als Gestaltung , als Konstitution unseres Da-undSo-Seins. ›Geschichten‹, die schon als Form unserer geordnet-sein ›reflektieren‹; und so in unseren Blick rücken. Wir setzen sie phäno­

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menologisch als existentiell-konstitutive Akte. Es sind aktive und passive Leistungen der Reflexionen unseres So-in-der-Welt-Seins. Sie stellen in jedem Fall (schon als ‚Form‘) die Bedingung für überhaupt Lebenswelt-haben und Selbst-Sein können. Reflexionen, die, das drängt sich auf, wie von selbst ›diachron‹ und ›synchron‹ vernetzt, den wirklichen, zusammenhängend erlebten Horizont des In-der-Welt-seins als ›Identität‹ des So-Da-Seins ›herstellen‹. Meine und unsere wirkliche Wirklichkeit in und mit der ›ich‹ bin; ›ich‹ erst überhaupt (als einer der Geschichte hat; Geschichten macht;) Selbst-sein-kann. Ob ›Geschichten‹ beispielsweise, erinnert, so oder so zusammengestellt, oder erfunden werden, sie werden als wirklich gelebt. Das darf von uns nicht zu eng gedacht werden. Es sind nicht nur erkenntnistheoretisch oder ontologisch herausfordernde Rückkoppe­ lungen (‚innen‘ und ‚außen‘, ‚wahrnehmen‘ und ‚wirklich-sein‘), die phänomenologisch zu reflektieren sind. (Dass sie das auch sind kann ja kaum übersehen werden.) Sie werden phänomenologisch reflektiert als existentielle Möglichkeiten, Vorstellungen, Reflexionen unseres Könnens, Sollens und Dürfens als Selbst-Sein.599 Nur von dort aus könne unser Selbst-Sein und unsere dazugehörige Welt-Habe wirklich-letztmöglich umfassend verstanden werden. Selbst-Entfaltet als Da-und-So-in-der-Welt-Sein. Phänomenologisch reflektiert als unser Horizont, innerhalb dem wir uns philosophisch und wissen­ schaftlich als wirkliches In-der-Welt-Sein entwerfen, einrichten und, als aufgeklärtes So-Da-Sein (wir Menschen der Moderne) wissen können. – Mag dem einem oder der anderen diese Perspektive exis­ tentiell-konstitutiver Akt als Reflexion der Reflexionen unwirklich und konstruiert scheinen. An diesem einem sollten wir phänomeno­ logisch Philosophierenden (das gesagte zusammenfassend) gemein­ sam festhalten können. Trotz aller durchaus immer noch möglichen unterschiedlichen Vorstellungen philosophischer Reichweite. Wir können es nämlich selbst schauen! Die Selbst-Erfahrung, je eigenen So-Da-Seins. Der erkenntnistheoretische Anfang mag sein, wie auch immer. Diese Erfahrungen und unsere wirklichen Erfahrungszusam­ menhänge (im Modus: hier und jetzt), sind es, die nicht ›aufgehen‹, in einem theoretisch gesetzten: ›cogito ergo sum‹. 599 Vgl. beispielsweise: Sinn ist »das Resultat meiner Auslegung vergangener Erleb­ nisse, die von einem aktuellen Jetzt und von einem aktuell gültigen Bezugsrahmen reflektiv in den Griff genommen werden.« (Alfred Schütz. Thomas Luckmann. Struk­ turen der Lebenswelt. Konstanz 2003. S 44)

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Diese und jene biographischen und historischen Erfahrungen sind als existentielle Muster reflektiert, nicht nur Möglichkeiten, sondern Bedingungen unser Da-und-So-Seins. - Wer fühlt sich da nicht, an ›das Häuten einer Zwiebel‹ erinnert? Offensichtlich scheint ‚das Selbst‘ einfacher abstrakt zu konstruieren, als es wirklich einsich­ tig (phänomenologisch) vorzuführen. Es kann auch nicht verborgen bleiben, dass, versucht man es wirklich vorzustellen, sich ›krasse Apo­ rien‹ einstellen. Ob man also nicht doch, diese Frage in allem Ernst, philosophisch sich bei einem spekulativ-geschlossenen Idealismus rückversichern solle? (Denken wir wiederum an Fichte; oder, noch ‚verstiegener‘ Schelling.) Bleiben wir aber, gerade wegen dieser sich so verwirrend aufdrängenden Lage, entschieden bei unserem selbsteingesehenen phänomenologischen Leisten unserer Reflexionen. Wir sehen das Zusammenspielen eines existentiellen Dreiklangs. Der Grund-Akkord wesentlichen und wirklichen So-in-der-Welt-Seins. Die Ordnung unseres Selbst-Sein und Welt-Habens. Immer wieder formatiert, zusammengefügt, getextet, und ausgerichtet als Reflexion, Verstehen und Leben. Das eine nie ohne das andere. Die Reihenfolge ist dabei ohne Belang. Das sich linear eindeutig zurechtlegen (kon­ struieren) zu wollen, wäre von Anfang an verfehlt. - Der wirkliche Mensch scheint sich zweifelsohne selbst am nächsten zu sein; sich am selbstverständlichsten als wirklich erfahren und auch begreifen zu können; zumindest für sich selbst gerade praktisch hinreichend bewusst ›einsichtig‹ zu sein; und das jeweils immer in und mit seinen gelebten ›Geschichten‹.600 Eingepreist dabei ist sich täuschen können, aber auch dies wahrnehmen, sich korrigieren und neu zu ordnen in der Lage sein. Das so einzusehen und vor allem zu leben, brauche, so scheint es, wahrhaftig keine weit ausholenden philoso­ phischen (erkenntnistheoretischen, anthropologischen) Reflexionen. Und gewiss auch nicht irgendwelcher wissenschaftlichen Begrün­ dung. Wohl wahr! Wir sagen, schau einfach hin und dir selbst zu. Aber schon dieses jetzt ausdrückliche Hinschauen, als Schauen-schauen, verändert das Selbstverständnis. Es vollzieht (genauer entfaltet) sich nämlich nun selbst als Reflexion der Reflexionen. Für unser exis­ tenz-phänomenologisches Philosophieren hat es damit keineswegs schon sein endgültiges Bewenden. Das ist ganz in der Ordnung unseres sich wirklich einlassen auf die Form unruhiger existentieller Reflexion, (mit ungewissen Ausgang). Allein schon, dass und wie wir 600

Wilhelm Schapp. Philosophie der Geschichten. Leer/Ostfriesland 1959. S 12

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12.3. Selbst-Selbsterfahrene Menschen-Bilder

Hinschauen auf unser Hin-Schauen (können), lässt weiter aufmerken auf ein sich ›auf-spreizendes‹ So-Da-Sein. Nicht aber als erkenntnis­ theoretisch möglichst methodisches aufmerken und sich ‚objektiv‘ feststellen als Gestaltung einer ›wissenschaftlichen‹ Erkenntnis. Son­ dern Hinschauen wirklich auf uns selbst; auf uns, die wir irritiert und pertubiert auf uns schauen können und müssen. Das sind Reflexionen und darüber hinaus immer weiter sich reflektierende Reflexionen. Ohne dabei sich selbst als wirkliches (philosophierendes) So-Da-Sein aus den Augen zu verlieren. Dass ein so radialer Perspektivwechsel nicht nur erforderlich (denken wir an unsere existentielle Irritation und Perturbation), sondern auch, wenn auch nicht ohne weiteres, zu gelingen scheine, darf als wesentliches Potential unserer wirklichen Wirklichkeit nicht mehr aus den Augen geraten. Diese Eigenart unserer sich reflektieren könnenden Reflexionen wird auch praktisch geleistet und fordert als unser Leistungsvermögen, philosophisch immer weiter heraus. – Zusammengefasst. An existentielle Irrita­ tionen bleibt ›gespanntes‹ wesentlich wirkliches Da-und-So-Sein unlösbar gebunden. Wir mögen uns philosophisch drehen und win­ den wie immer es uns in den Sinn kommen mag. Man mag sich idealistisch oder realistisch oder positivistisch positionieren. Es sich erkenntnistheoretisch, anthropologisch oder metaphysisch zurechtle­ gen. Gleich auch welche weiteren philosophischen Herausforderun­ gen sich noch ergeben mögen, (und sie werden, das zeichnet sich ab, sicher nicht weniger werden), an einem zweifeln wir nicht mehr. Dies einzusehen, braucht keine langwierigen, möglichweise ›metaphysisch verstiegenen‹, ›idealistisch abstrakten‹ Reflexionen, genauso wenig wie wissenschaftlich-empirische Untersuchungen. Es drängt sich Besinnenden wie von selbst auf. Es genügt als erstes sich wirklich selbst, schlicht für sich selbst, in den Blick zu rücken. Hinschauen auf das was sich mir hier und jetzt (als) Selbst selbst vorstellt. Also unser phänomenologisch theoretisch so ›simples‹, praktisch (in der Durchführung) so ›komplexes‹ sich selbst-selbst-wahrnehmen. Hier rückt dieses sich-selbst-einstellen, selbst-schauen, reflektieren kön­ nen, dieses, wie man gemeinhin glaube, selbstverständliche SelbstSein und Welt-Haben (können), als existentielle Leistung in den Blick. Gerade das eröffnete uns den weiten Horizont existenz-phäno­ menologischen Philosophierens. Von dort her entfaltete sich nämlich die traditionelle phänomenologische Perspektive existentiell. Die Ort­ schaft unseres Philosophierens ist unsere wirkliche Wirklichkeit, die sich weder idealistisch übersteigen, noch sich positivistisch reduzieren

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12. Philosophie und Literatur

lasse. - Wir Menschen als dieses wesentlich wirkliche Da-und-So-inder-Welt-Sein, dieses sich so erfahren können, können uns selbst, in jedem überhaupt denkbaren Fall, nur in und mit unseren Geschichten vorstellen. Nur so reflektiert sind wir in unserem Blick; können uns selbst, das ist: sich seiner selbst als ›Ich-bin‹, ›Du-bist‹, ›WirSind‹ versichern. Darüber hinaus werden meine, unsere ›Geschichten zusammengeführt und präsent als unsere ›Geschichte(haben)‹. Die wiederum den Horizont einrichtet, in und mit dem wir mit unseren Geschichten er-leben und erzählen können. Keine Ebene unseres Selbst-Seins und unserer Welt-Habe sei wirklich denkbar, die nicht als ›Geschichten für uns‹ präsent wäre. Das sind unsere Ordnungen, die sich, es mag wissenschaftlich zufriedenstellen oder nicht, ›linearer Gestaltung‹ immer wieder entziehen. - Es sind existentiell-phänome­ nologische Reflexionen dieser Reflexionen. Reflexionen all dieser durchaus möglichen Reflexionen. Selbstverständlich gilt auch hier, dass die radikale phänomenologische Perspektive philosophischen Schauens sich selbst von der eignen Radikalität nicht ausnehmen dürfe. Selbst diese ›erschütternde‹ Leistung existentieller Reflexion der Reflexionen des philosophierenden Menschen als wirkliches (irri­ tiertes) Da-und-So-Sein wird also von der eigenen Radikalität nicht suspendiert. Wir sind auch mit unserem existentiellen Philosophieren in unserem Blick als hier und jetzt irritiert und perturbiert reflektie­ rende Philosophierende. - Von Anfang (das gehört hierher) sind diese existenz-phänomenologischen Reflexionen angelegt als miteinander philosophieren. Wo immer du dich, der das hier liest, jetzt befinden magst; es ist ein miteinander-philosophieren, gleich ob du zustimmst oder widersprichst; ein miteinander, unabhängig davon, ob ich noch ›da-bin‹ oder nicht. Wir Philosophierenden bilden ausdrücklich eine ›horizontal‹ und ›vertikal‹ geordnete, so angelegte ›Reflexionsge­ meinschaft‹. Was wäre denn philosophische Selbst-Selbstvergewisse­ rung anderes als reflexive Reflexion der Reflexionen der Gestalt und (zeitlicher) Gestaltung ›unserer Geschichten‹ von Selbst-Sein und Welt-Haben. Das also ist sowohl sich Ein-Ordnen als auch existentiell sich gestalten (als wirkliches und wesentlich So-in-der-Welt-Sein); sich schließlich und endlich auf letztmöglichen Sinn hin ausrichten; als unser Da-und-So-Sein in und mit diesem Horizont verstehen wollen und müssen; immer mit Blick auf irritierende und pertur­ bierende Selbst-Erfahrungen eines philosophisch nicht-nachlassend herausfordernden, fragwürdigen je eigenen In-der-Welt-Seins. Das sind existentielle Reflexionen, zu leisten immer wieder von Anfang

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12.3. Selbst-Selbsterfahrene Menschen-Bilder

an; und soweit wir selbst wirklich zu schauen vermögen; unsere Reflexionen uns also noch sicheren Halt geben können. Das soll es gewesen sein‘? Ob das also den (nicht sehr zufrieden­ stellenden) Abschluss existenz-phänomenologischen Arbeitens vor­ stelle? Ausgerichtet-sein auf die vielleicht unerreichbare Möglichkeit eines für Mensch ›letztmöglich sinnvollen Text‹ seines Da-und-SoSeins? –Verabschiedet mit: ›soweit so gut‹. Möge sich jeder nun wie­ der seinen (auch den philosophischen) Geschäften zuwenden. Dass wir uns redlich bemüht haben, könne man uns nicht absprechen! So bliebe nur noch mit Faust festzuhalten: Hab nun, auch! Philosophie, durchaus studiert, mit heißem Bemühen. Und da steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor.601 –

601 Vielleicht noch mit Gottfried Benn. Nur zwei Dinge. ›Durch so viele Formen geschritten/durch Ich und Wir und Du,/ doch alles blieb erlitten/ durch die ewige Frage: wozu?// Das ist eine Kinderfrage./ dir wurde erst spät bewusst,/ es gibt nur eines: ertrage/ – ob Sinn, ob sucht, ob Sage – / dein fernbestimmtes: Du musst.// Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,/ was alles erblühte, verblich,/ es gibt nur zwei Dinge: die Leere/und das gezeichnete Ich.‹

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13. Phänomenologische Reflexion der Reflexionen der Literatur.

›Das literarische Werk ruft durch seine Konkretisation tiefe Verwandlun­ gen in unserem Leben hervor, weitet dieses Leben und erhebt es über die Niederungen des täglichen Seins, gibt ihm einen göttlichen Glanz, – ein Nichts und doch eine wunderbare Welt für sich, wenn es auch nur aus unseren Gnaden entsteht und ist.‹602 (Roman Ingarden)

Daran halten wir (uns) fest. Daran zweifeln wir nicht mehr. Was immer auch sonst noch sich als herausfordernd aufdrängen mag. Wie könnte ›ich‹ mich selbst, wie könnte ich ›andere‹, wie können wir ›uns‹ gemeinsam denn anders in den Blick bekommen, als durch Leistung der Reflexion der Reflexionen. Auch uns als Suchende, Zwei­ felnde; Verzweifelte; oder wie immer wir uns sonst zu uns selbst und unserem In-der-Welt-Sein noch stellen mögen. Das ist verstehendes Zusammenfassen (nicht beliebiges Zusammenraffen) willkürlicher und unwillkürlicher Präsenz. Konkreter, dieser für Mensch wesent­ liche Möglichkeit ›Geschichten‹ (auch sich selbst) vorzustellen, zu erzählen; zusammenzufügen als ›konstitutive Texte‹ seines und unse­ res In-der-Welt-Seins; und philosophisch dann als Bedingung über­ haupt für Welt-Haben und Selbst-Sein ›zu verstehen‹?603 Das nennt phänomenologisch die existentiellen Bedingungen für unser uns zuerst und zumeist selbstverständlich scheinendes, als ›ich‹ und ›wir‹ zu leben, und sich so wissend (›ich-bin-so-da‹) erleben zu können. Und dass sich nur von dort her auch erkenntnistheoretische, ontologi­ sche, anthropologische Fragen letztmöglich existentiell aufhellen und fundieren, kann nicht mehr weiter verwundern. (Diese Perspektive scheint philosophisch selbstverständlich; vielleicht sogar, so könnte man es sich zurechtlegen, als ‚trivial; oder so, für unser Menschsein Das literarische Kunstwerk. Tübingen19724. S 400 Man denke als Illustration an die ›Biographien‹ der ›Grantstudie‹. Vgl. George E. Vaillant. Werdegänge. Erkenntnisse der Lebenslauf-Forschung. Reinbek bei Ham­ burg 1980 602

603

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13. Phänomenologische Reflexion der Reflexionen der Literatur.

praktisch alternativlos.) - Knüpfen wir an die letzten Sätze des vorigen Kapitels an. Was denn dagegenspreche, es mit diesen deskriptiven ›Einsichten‹ (wenn man es überhaupt so nennen möchte) genug sein zu lassen? Eine ernsthafte Frage. Sagt es doch nichts weiter als dieses eine wahrhaft Unbestreitbare. Wirklicher Mensch bleibe in jedem nur denkbaren Falle seines Welt- und Selbst-Verstehens, ein sich sprachlich als Selbst so ordnender, erzählender, sich (da und dort wohl auch ‚nur‘) ›fragmentarisch‹ begreifender selbstverständlich; weil wir ganz und gar nicht nur (wie man sagt) sprachlich gebunden sondern in ‚Geschichten verstrickte Menschen‘ seien. Wer möchte da (mit Blick auf Erfahrungen mit sich selbst) ernstlich Widerspruch einlegen? Wahr ist dann auch, nur von dort her lasse sich auch jedes weitere mögliche ›begreifen-können‹ und ›wollen‹ erst selbst wissenschaftlich begreifen. Jede wie auch immer vorgestellte oder erlebte Aporie, jedes Scheitern als Erfahrung, jeder Nihilismus, alles Hoffen, Glauben, Deuten und Erklären kurzum, jedes resignierende oder positiv-auf­ bauende Philosophieren sammelt sich mit und in diesen uns (als So-in-der-Welt-Sein) existentiell zugehörigen Formen.604 - Was hier dann im Einzelnen zu fragen verbliebe – und das sei sicher nicht wenig -, werde inzwischen durch sehr spezialisierte Leistungen, beispiels­ weise, der Psychologie, Soziologie, Sprachwissenschaften, empirisch fundiert, also methodisch vernünftig, ›auf den Begriff‹‘ gebracht. Also auch Gestalt und Gestaltungen der Sprache, der Sprachwelten, der Kommunikation, bedürften tatsächlich keiner weiteren philoso­ phischen Aufmerksamkeit mehr. Noch weniger brauche es phänome­ nologisch aufwendig eingeführte, umständlich entfaltete existentielle (also ›irrationale‹), anthropologische Reflexionen. Wiederum bloß ver­ stiegen konstruierte Fragen fragen, die versuchten die Möglichkeiten neuzeitlich wissenschaftlicher Vernunft zu überschreiten, und viel­ Gottfried Benn. Satzbau. ›Alle haben den Himmel, die Liebe und das Grab,/ damit wollen wir uns nicht befassen,/ das ist für den Kulturkreis gesprochen und durchge­ arbeitet./ Was aber neu ist, ist die Frage nach dem Satzbau/ und die ist dringend:/ warum drücken wir etwas aus?// Warum reimen wir oder zeichnen ein Mädchen/ direkt oder als Spiegelbild/ oder stricheln auf eine Handbreit Büttenpapier/ unzählige Pflanzen, Baumkronen, Mauern,/ letzte als dicke Raupen mit Schildkrötenkopf/ sich unheimlich niedrig hinziehend/ in bestimmter Anordnung?// Überwältigend unbeantwortbar!/ Honraraussicht ist es nicht,/ viele verhungerten darüber. Nein,/ es ist ein Antrieb in der Hand,/ ferngesteuert, eine Gehirnlage,/ vielleicht ein verspäteter Heilbringer oder Totemtier,/ auf Kosten des Inhalts ein formaler Priapismus,/ er wird vorübergehen,/ aber heute ist der Satzbau/ das Primäre.// ›Die wenigen, die was davon erkannt‹ – (Goethe) – / wovon eigentlich?/ Ich nehme an: vom Satzbau.‘ 604

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13.1. Existentielle Fragen phänomenologisch fragen

leicht sogar der absurde Versuch, ‚die Aufklärung‘ (und das ‚Projekt Moderne‘) zu konterkarieren. Dies habe sich selbst schon von der (unvernünftigen) Absicht her, nicht nur als illegitim herausgestellt, sondern als grundsätzlich unmöglich. –

13.1. Existentielle Fragen phänomenologisch fragen Das hat von Beginn die Suchbewegung phänomenologischen Arbei­ tens für den ›Anfang des Philosophierens‹ ausgerichtet. Es sind in jedem Fall existentielle Fragen. Weil Gestaltung einer radikal angeleg­ ten existentiellen Reflexion der Reflexionen. Der Philosophierende wird sich selbst als wirklich irritiertes und perturbiertes So-in-derWelt-Sein auffällig. Das setzt phänomenologisches Philosophieren in ihre Spur; und hält es als existentielle Reflexion in Bewegung. Der so Philosophierende philosophiert immer (auch) mit Blick auf sich selbst. Das ist, der Philosophierende reflektiert die jeweilig ›philoso­ phische Sache‹, sein Philosophieren, und sich selbst als wirkliches und wesentliches So-in-der-Welt-Sein. Und so erfasst sich phänome­ nologisches Philosophieren als letztmöglich existentiell. Und von dort aus ordnet sich unser uns weiter Selbst-selbst-reflektieren. Das ist schauen soweit wir unser Welt-Haben und Selbst-Sein selbst zu schauen vermögen. Der Anfang der Philosophie gestaltet sich also als existentielle Bewegung der Reflexion. – Schauen wir wieder zunächst hin, auf selbstverständlich scheinendes. Über eines wird man auch philoso­ phisch kaum in heftigen Streit geraten können. Das was im Alltag so leichthin ›Person‹, ›Identität‹, ›Selbst-Sein‹, benannt und so selbst­ verständlich (auch philosophierend) praktisch gelebt werde, wie man meint, endlich auch wissenschaftlich ›begriffen‹ habe, meint kein bloßes ‚Ding‘, beliebiges ‚Objekt‘, oder irgendeine augenscheinliche ‚Sachlage‘. Etwas (geradezu) ›Handfestes‹ auf das man dann geradeso ›wie es ist‹, auch wissenschaftlich (beispielsweise: psychologische, soziologisch; auch juristisch) und philosophisch (erkenntnistheore­ tisch, ontologisch, anthropologisch;) zurückkommen könne. Im Übri­ gen gilt das auch praktisch mit Blick auf sich selbst und seiner alltäglich gelebten Ordnung. Das Selbst ist also keine ›Sache‹ die man zur Verfügung habe; auf die separat hinzuweisen möglich wäre; kein ›Ding‹, das wenn man es brauche, irgendwie (bildlich) ›zur Hand

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13. Phänomenologische Reflexion der Reflexionen der Literatur.

nehmen, und vielleicht damit ›arbeiten‹ könnte‘. In die Irre gehe also, wer ernsthaft glaube, ›Person‹, oder ›Identität‹ (›Ich Selbst‹) sei etwas, das sich einem forschenden Blick, einem praktischen Tun, einem wissenschaftlichen Zugriff, in jedem Fall sich direkt in seiner wirklichen Wirklichkeit als ›Objekt‹ erschließe. Und das man, auch das gehört hierher, sollte es ›fehlerhaft‹ funktionieren, vielleicht sogar ›kaputt‹ gegangen sein, zu reparieren im Stande wäre. (Ein ›materialistischer Aufklärungsszientismus‹, der, soweit ich sehe, Gott sei Dank‘ im Schwinden ist.) Und so kann auch unsere existentielle Reflexion phänomenologisch nur hinschauen auf Gestalt und Gestal­ tung der geleisteten Reflexionen selbst. Also ein arbeiten entlang dieser geleisteten Reflexionen. Radikal gewendet als konstitutiv exis­ tentielle Akte des sich selbst Reflektieren-könnenden So-Da-Sein mit seinen Reflexionen. Ausdrücklich nicht eingeschränkt auf ›Reflexion der Vernunft‹. So werden unsere reflexiven Akte, entlang unserer uns umfassenden (auch leibhaften und ›sozialen‹) Intentionalität geschaut als existentiell-konstitutive Leistungen des Welt-Habens und Selbst-Seins. Einschließlich dieser phänomenologisch hinschau­ enden Akte auf das Hinschauen-Schauen selbst. Sie werden dann so (durchaus wortwörtlich) ›erfahren‹, als uns mögliche selbstverständ­ liche Leistung phänomenologisch reflexiver Reflexion der Reflexio­ nen. Leistung eines wirklichen Da-und-So-Seins. Verstiegen? Über­ dreht? Abstrakt? - Schauen wir weiter hin und uns selbst dabei zu. Hier fordert etwas von uns energisch Aufmerksamkeit, das Philosophieren grundsätzlich und nach wie vor als nicht-abgegolten bedrängt. Für uns, es kann nicht anders sein, präsent als existentielle Herausfor­ derung. Bei Wissenschaften aber wird dies sicher auf entschiedene Ablehnung stoßen. Das ist die existentielle (irrationale) Bedeutung des überhaupt Fragen-fragen-könnens‘. Ist es nicht so, dass wir im allgemeinen, Fragen-fragen um Antworten zu erhalten. Antworten, so wird man sagen, bräuchten wir praktisch, um beispielsweise schon alltägliche Probleme lösen; uns da und dort zurechtzufinden; sich diesen oder jenen Herausforderungen überhaupt stellen zu können. Oder auch nur um sich (hintergründig, unwillkürlich) bestätigen zu lassen, dass ›unsere Welt‹ irgendwie doch ›in Ordnung‹ sei. Es auf das Irritierende, Herausfordernde, Fragliche, schließlich doch immer wie­ der praktische hinreichende, zufriedenstellende Antworten gebe. Man denke hier nur an das Fragen der Kinder. Und so wäre also Fragenfragen-können, sogar Fragen-fragen-müssen, ein für uns theoretisch und praktisch notwendiges Instrument um passende ›Antworten‹

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13.1. Existentielle Fragen phänomenologisch fragen

für die Herausforderungen unseres Selbst-Sein- und Welt-Habenkönnen zu erhalten? Schon für alltägliches In-der-Welt-Sein, für unsere routiniert gelebten ›Ordnungen‹ ein unverzichtbares Instru­ ment. ›Leistungen‹ unseres Da-und-So-Seins die praktisch kaum bestritten werden können. - Die phänomenologische Perspektive auf Form, Gestalt, Gestaltung und Intention unseres philosophischen ‚Fragen-fragen‘ unterscheidet sich davon gründlich. Schon allein, dass Antworten auf existentielle Fragen, phänomenologisch nicht das entscheidende sind; es nun nicht mehr sein können. (Dabei nicht gleich dem Fuchs aus der Fabel, der ›freiwillig‹ auf die Trauben verzichte, weil sie ›zu sauer wären‹.) Unabhängig davon wie die Antworten ausfallen mögen. Sie können nicht mehr das worum-wil­ len existentiell radikalen Fragens stellen; die Absicht existentieller Reflexion der Frage erfüllen. (Das unterscheidet im Übrigen unsere existentielle Perspektive auch von der Frage-Intention Sokrates). Schon die bloße Form der Reflexion, das hat immer umfassender unser Philosophieren entfaltet, fordert uns als Reflektierende immer weiter heraus. Nicht nachlassend. Und immer wieder von Anfang an. Im Unterschied zu philosophischer Literatur die ›Letztgültigkeit‹ als Ziel philosophischer Leistung vorstelle. Wir bleiben mit unserem Fragen-fragen ausdrücklich bei uns selbst. Existentielles Fragen-fra­ gen führt nicht nur sich selbst als bloß ‚grammatikalische Form‘ vor. Sondern verweist auf die Möglichkeit radikaler Leistung und des Leisten-können, (-sollen, -müssen) irritierter und perturbierter, wirk­ licher Menschen. Ein Leisten, das unvergleichlich für sich selbst steht. Versuche diese Bewegungen existentiellen sich-ordnens, als bloß sach­ liche, technische, pragmatische Sprachleistung ruhig zu stellen (und den Wissenschaften weiterzureichen), hätten das Wesentliche des philosophischen Fragens philosophierenden So-Da-Seins verfehlt. Zu denken sollte nicht nur uns Fragen-können, sondern auch unser uns Fragen-müssen und -sollen geben. Die bewegenden Akte dieser ›Reflexion‹ reflektieren phänomenologisch als existentielle Suchbe­ wegung sich als irritiert und perturbiert erlebenden Da-und-So-Seins. - Das hat philosophisch zurecht beunruhigt; sogar verunsichert. Es sind unsere Reflexionen; Reflexionen, die sich immer wieder selbst, von Anfang an, den eigenen Möglichkeiten (der Form der Reflexion) zu stellen haben. Das eröffnet das weitere Arbeiten an und mit unserem existentiellen Selbst- und Welt-Verständnis. Man denke beispielsweise an das, was Mensch als Mythos, Kunst, Wissenschaft, und Philosophieren sich (jeweils) vorstellt und zuweist; und, wie auch

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13. Phänomenologische Reflexion der Reflexionen der Literatur.

immer, philosophisch einordnet in seine Geschichte der Reflexionen. Es sind Versuche, – diese oder jene Inhalte einmal beiseitegelegt -, die Erfahrungen nicht nachlassend herausfordernden fragilen Weltund Selbst-Verständnis nun radikal (existentiell) zu reflektieren. Eine Bewegung, erfahren als Vorstellung unserer Möglichkeiten, die uns aber selbst nicht (vielleicht sogar nie) zur Ruhe kommen lässt. (Es mag uns recht sein oder nicht: ›Du glaubst zu schieben und wirst geschoben‹) Von dort aus reflektieren wir diese Reflexionen als unsere Reflexionen. In den Blick gerückt dabei unser Da-und-So-Sein als wesentlich irritiertes und perturbiertes In-der-Welt-Sein. Zu leisten ist sich selbst-selbst wahrzunehmen, theoretisch und praktisch sich zu ordnen, zu entfalten, und sich als ›Selbst-Sein‹ philosophisch anzueignen.605 Eine ‚Sinnstiftung‘ also! ›Sinnstiftung‹ ist nicht etwas, das sich ohne weiteres ereignen, Mensch von selbst zufallen würde. Wie eine physiologische Funktion des Körpers; oder unwillkürlich, von da oder dort‘‚ man mag wollen oder nicht, passiv beeindruckt‘ werden. Schon allein, dass dieses sich-selbst-verstehen-wollende, sollende und (das drängt sich mit Blick auf unsere Geschichte auf) auch müssende ›Selbst‹, sich dem eigenen Zugriff immer wieder zu entziehen scheint. Und als ob dieses ›fragile Selbstverständnis‹ sich zueignen, nicht schon genug an Komplexität vorstelle, gehört hierher auch, dass Selbst-Sein und Welt-Habe sich in (der) Wirklichkeit praktisch nicht wirklich ›natürlich‹ voneinander lösen lassen. Sich als ineinander-verflochten vorstellen, buchstäblich, miteinander als unlösbar reflektieren‘, (Organismus und Umwelt bildeten, so Viktor von Weizäckers ein geschlossenes System), und so die Irritationen unseres So-in-der-Welt-Seins‘ potenzieren. Das gestaltet existenzphänomenologische Reflexion der Reflexionen unseres Da-und-SoSeins immer noch umfassender, breiter, wirklicher und wesentlicher. Und führt endgültig aus jedem neuzeitlichen Idealismus und Natu­ ralismus heraus. Unsere ›phänomenologischen Geschichten‹ (der Reflexion der Reflexionen), ermöglichen es Dasein als Selbst-Sein 605 Dazu vgl. Ernesto Grassi. Unsere Erfahrung »beginnt mit dem Verlust der unmit­ telbaren, sinnlichen Deutung des Realen; so entsteht Angst, dass die erhoffte ›objek­ tive‹ Deutung nicht eintritt, die Angst, dass der entworfene sinn nicht maßgebend ist. Angesichts einer vieldeutigen Welt schweben Subjekt und Objekt in Ungewissheit, bedrängt von der Frage nach dem Sinn des Geschehens der menschlichen Welt. Die Erfahrung dieser Ungewissheit reißt den Einzelnen aus der geschlossenen Einheit der Natur heraus, um ihn gerade dadurch ›Mensch‹ werden zu lassen.« (Die Macht der Phantasie. Zur Geschichte des abendländischen Denken. Köngstein/Ts. 1979. S 187)

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13.2. Existenz-phänomenologisches Philosophieren

und Welt-Habe (als wirkliches So-Da-Sein) im Grunde als ›in Ord­ nung‹ sich zuzuordnen.

13.2. Existenz-phänomenologisches Philosophieren Das schon von Heraklit ausdrücklich angemahnte, ›sich-selbst-erfor­ schen‹, sich, mit unseren Worten ›besinnen‹, lesen wir als metho­ dische Gestaltung radikal existentieller (reflexiver) Reflexion der Reflexionen. Es sind existentielle Bewegungen, die dem Menschen als irritiertes So-Da-Sein unbedingt zugehören. Zugleich Herausfor­ derung, Möglichkeit und Potential, fordert es nicht nachlassend, Leistung radikaler Reflexion. Und braucht als systematisches Philoso­ phieren immer wieder eine Entfaltung von Anfang an. Dabei stellt der Fragende, der Reflektierende, auch den ‚Sinn‘ seines So-in-derWelt-Seins selbst (schon als Möglichkeit es zu tun) implizit mit in die Frage seiner Reflexion. Der Philosophierende erlebt sein zuerst und zumeist als selbstverständlich gelebtes So-in-der-Welt-Seins als Herausforderung, vielleicht sogar Gefährdung. Schon das sind Refle­ xionen, die existenz-phänomenologisch schon der Möglichkeit exis­ tentieller Sinnstiftung zuzurechnen sind. Wir sind hier von Beginn an immer mit in unserem Blick. Nie ist existenz-phänomenologisches Philosophieren selbst (uns) Selbstvergessend. – Wo denn hier nun neues reklamiert werden könne? Das sei doch im Allgemeinen das Auszeichnende jeder neuzeitlich philosophischen Reflexion? Zurecht könne man also fragen, ob Philosophierende für ihr Philosophieren wirklich überhaupt noch ›außen-vor-bleiben‹ könnten? Selbst wenn es gewollt wäre. (Beispielsweise wenn man meine: ›ich betrachte doch nur ›Formen der reinen Logik‹!) Der Philosophierende schaut, gesetzt er philosophiere wirklich (neuzeitlich), hin auf sich selbst; das ist immer ein sich selbst-selbst-schauen, während er (was auch immer) schaut. - Das mag als Forderung leicht über die Lippen gehen. Die damit einhergehenden Herausforderungen und Konsequenzen haben nicht wenigen Philosophen bis auf den heutigen Tag Kopf zerbrechen bereitet. Und das gerade wegen der weit aufgefächerten ›transzen­ dentalen‹ Tradition neuzeitlicher Philosophie. Etwa, wer oder was beobachtet wen oder was während dieses so radikal Reflektierens? Oder auch so, was ist denn dieses sich selbst-beobachten-könnende ›wer‹? Was oder wer leiste denn überhaupt ‚Geltung‘? Und praktisch

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13. Phänomenologische Reflexion der Reflexionen der Literatur.

lebensnaher, was die Rede von ›Identität-haben‹, noch bedeuten könne? Wer oder was sichert diese (in jedem Fall) praktisch gelebte Identität? Das beobachtende oder das beobachtete Ich? Oder, ist es vielleicht nur eine uns in die Irre führende bedeutungsfreie Fragerei? Eine metaphysische Reflexion der leeren Form? Zumindest zwingt es offensichtlich immer wieder aufzumerken auf uns Philosophierende, und auf unser Philosophieren. Reflexionen immer wieder und immer wieder von Anfang an. - So unsere Reflexionen selbst zu reflektieren scheint nicht die Regel alltäglichen In-der-Welt-Seins, und trotzdem (denken wir an die Form der Reflexion) möglich; und für existenti­ elles Philosophieren unumgänglich. Das verschärft unsere Spannun­ gen. Sich auf die Seite wissenschaftlicher Philosophie zu schlagen, beispielsweise sich auf transzendentale Vernunft zurückzuziehen, schließen wir für unser existenz-phänomenologisches Philosophieren aus. Wahr ist, sich auf die Leistungen unserer Reflexionen existentiell einzulassen, stellt uns zurück in den Horizont wirklichen So-in-derWelt-Seins; und scheint zugleich aber auch ‚darüber hinwegzuheben‘. Das verweist diese existentielle Perspektive (auf den ersten Blick erschreckend) in die Nähe ‚der Kunst‘ und des ‚Mythos‘. Aber haben wir uns nicht von Beginn an dagegen verwahrt, überhaupt auch nur in die Nähe spekulativer Metaphysik (oder des Mythos) gerückt zu werden?606 - Legen wir das große Ganze beiseite, um daraus nur eines wieder etwas näher in den Blick zu rücken. Dabei sollte eines auch weiterhin als gesetzt gelten. Wir reflektieren, schauen und schauen unser So-Schauen; bleiben perspektivisch dadurch an uns gebunden; an uns als irritiertes So-in-der-Welt-Sein; bleiben also historisch, biographisch ein- und ausgerichtet. Und sind, das kann nicht anders sein, im Grunde philosophisch verunsichert. Erinnern wir uns, das wird nicht gelesen als bedauernswertes Defizit, sondern als existentielles Potential. Neuzeitliche Philosophie der absoluten Vernunft, sei hinzugefügt, stehe dazu nicht grundsätzlich als Wider­ part. Immer wieder, von Anfang an, erleben wir uns philosophierend 606 Ich neige hier durchaus Hermann Broch zu. »Philosophie besteht in dem stän­ digen Kampfe gegen die Überreste der mythischen Gedankenwelt und in einem ständigen ringen, die mythische Struktur in erneuerter Form wiederherzustellen, besteht im Kampfe gegen die überlieferten metaphysischen Konvention und im Streben um die Gründung einer neuen Metaphysik, denn die Metaphysik, selber begrenzt durch den Mythos, stellt auch die Begrenzung der Philosophie dar, ohne welche diese nicht bestehen könnte.« (Die Kunst und ihr Un-Stil am Ende des 19. Jahrhunderts. In: Geist und Zeitgeist. Frankfurt/M 1997. S 99)

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13.2. Existenz-phänomenologisches Philosophieren

(erkenntnistheoretisch, ontologisch, anthropologisch) heraus-gefor­ dert aus unserem lebensweltlichen Zuerst und Zumeist. Und werden doch existentiell immer wieder darauf zurückverwiesen. Von dort her bestimmen wir ausdrücklich unser existenz-phänomenologisches Philosophieren; das stellt die Ortschaft unseres Philosophierens. Gerade das mag streng geltungstheoretisch ausgerichtetes Philoso­ phieren für sich als nicht mehr nach vollziehbar markieren. Bricht es doch Linien, die Meister Husserl selbst, für phänomenologisches Philosophieren gezogen habe. – Existenz-phänomenologisches Philosophieren wird also, fassen wir es so zusammen, vorgestellt als Reflexion unserer philosophi­ schen Erfahrungen; unsere Erfahrungen der Reflexion der Reflexionen unseres irritierten So-Da-Sein. Beispielsweise, in Form gebracht als (reflexive) Reflexion der Wissenschaft, der Literatur, der Kunst und des Mythos; und, nicht zu vergessen, als Reflexion der Geschichte der Philosophie. (Dass und wie Husserl das geleistet hat, wird weitgehend übersehen.) In dieser spannenden, existentiellen Weite, entfalten wir uns dabei selbst als So-Philosophierende. Das sind (historisch und systematisch) ‚vertikal‘ und ‚horizontal‘ uns sich zuordnende Reflexionen. Und ganz in diesen bewegten, ›induktiven‹ und ›deduktiven‹ Ordnungen der Reflexion entfaltet sich Gestalt und Gestaltung existenz-phänomenologischen Philosophierens. Radikal weitergetrieben als ›endlos‹ angelegte existentielle Reflexion dieser Reflexion der Reflexionen. Die Reflexionen phänomenologisch von Anfang an selbst existentiell reflektiert, (schon als Möglichkeit der Form als unsere Reflexion)‚ erfahren sich ›radikal vollbracht‹, als Absicht letztmöglicher Vorstellungen wesentlich wirklicher Funda­ mental-Reflexion. – Ob wir uns damit zur hintergründig immer pla­ tonisch gebliebenen Tradition der Philosophie quer stellen? Zumin­ dest scheint es, als ob hinter existenz-phänomenologisches Leisten reflexiver Reflexion irritierten und perturbierten Da-und-So-Seins, keine positivistische; idealistische, transzendentale Hinter-Denklich­ keit zurückzugreifen in der Lage wäre!

13.2.1. Existentielle Geltungs-Fragen Gerade so also philosophieren wir. Der wesentlich wirkliche Mensch rückt sich als Philosophierender selbst in seinen Blick. Immer in und mit der Spannung zwischen Da-Sein und So-Sein; von Gestalt

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13. Phänomenologische Reflexion der Reflexionen der Literatur.

und Gestaltung, Welt-Haben und Selbst-Sein. – Ein Verdacht aber bleibt. Dieses existentielle Philosophieren sei ein Tun, das nicht mehr in unsere Zeit mit ihren konkreten politischen, gesellschaftlichen, ökologischen Krisen passe! Ein dazu noch wissenschaftlich sinnlos scheinendes Geschäft. In jedem Falle für uns ohne praktischen Wert. - Wo liege denn, so darf gefragt werden, der Nutzen für den, von so vielen Seiten herausgeforderten, modernen Menschen? Lassen wir uns beunruhigen. Und bleiben gerade deswegen ganz bei uns. – Es mag mit der Idee unbedingt absoluter Geltung stehen wie auch immer. Wir mögen uns dafür aussprechen oder dagegen wenden. Eines hat uns nie losgelassen. Es hat unser Philosophieren begleitet. Mit den Augen idealistischer, auch transzendental-phä­ nomenologischer Tradition geschaut, ist es ein, um das wenigste zu sagen, problematisches, philosophisch vielleicht sogar verhäng­ nisvolles Defizit, sich mit seinem Philosophieren in den Horizont wirklichen So-Da-Seins und seinen irritierenden und perturbierenden Erfahrungen zustellen. Die Folge ist, seinem eigenen Philosophieren gegenüber damit auch verunsichert bleiben müssen.607 Gerade die­ ses ›existentielle‹ Philosophieren behaupten wir als Möglichkeit für wirklich radikale, letztmögliche Reflexionen. – Dass das den Hori­ zont wissenschaftlich aufgeklärten Philosophierens verlasse, darin werden Wissenschaft und wissenschaftliches Philosophieren sicher übereinstimmen. Das sind selbst Kritiken, die wiederum als mögliche Reflexionen für existentielles Philosophieren von Bedeutung sind. Gelesen als Aufforderung uns noch entschiedener mit unserer Refle­ xion der Reflexionen (als Möglichkeit und Wirklichkeit) in den Blick zu rücken. Da sind für uns endliche Menschen existentiell verstörende Erfahrungen. Erfahrungen, die selbst ein ganz und gar vernünftig, wissenschaftlich-aufgeklärt sich begreifen-wollender, mit Blick auf sich selbst, kaum leugnen könne. Selbst-Wahrnehmungen, die, so sollte man annehmen, auch das neuzeitliche Philosophieren als transzendentale Form und wissenschaftliche Gestaltung nicht unbe­ Dazu schreibt Husserl (1935). »Was ich unter dem Titel Philosophie erstrebe, als Ziel und Feld meiner Arbeit, das weiß ich natürlich. Und doch weiß ich es nicht. Welchem Selbstdenker hat jemals dieses sein ›wissen‹ genügt, für welchen hat in seinem philosophierenden Leben ›Philosophie‹ aufgehört ein Rätsel zu sein; (…). Nur die sekundären Denker, die in Wahrheit nicht Philosophen zu nennen sind, sind mit ihren Definitionen beruhigt, schlagen mit den Wortbegriffen das problematische Telos des Philosophierens tot.« (Krisis/S 512. Beilage XXVIII) 607

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13.2. Existenz-phänomenologisches Philosophieren

rührt lassen sollten. Selbst ein streng methodisch transzendental Philosophierender erreiche, mit Blick auf sich selbst, nie und nim­ mer den unbedingt-absoluten Grund. Auch nicht im Sinne etwa einer praktisch ›endgültigen Versöhnung‹ mit sich selbst. Als ob wissenschaftlich denkend, reflektierend, philosophierend, (wie auch immer) der er- und gelebte ›Riss‹ zwischen Da-Sein und So-Sein, Gestalt und Gestaltung, Wirklichkeit und Wesen, ein für alle Mal geschlossen werden könne. Dass allerdings dieser Gedanke (›es möge so sein‹) Mensch ausrichtet, immer wieder treibt oder zieht, darf phänomenologisch nicht zurückgelassen werden. Eine eigenartige ‚Sehnsucht‘. Noch erstaunlicher allerdings ist dieses neuzeitliche nicht nachlassende ‚metaphysische‘ Fragen; ein immer noch Suchen nach einer ›Unbedingtheit‹. - Alles, was wir uns dafür vorstellen, uns hin-setzen (Natur; Sein; Gott; oder Vernunft), ist allein schon, dass wir es sind, die so ›denken‹ und ‚setzen‘ endlich und immer wieder ›nur‹ vorläufig. - Philosophieren ist und bleibt, dort wo es sich radikal vorstelle, tatsächlich Gestaltung existentieller Reflexion der Refle­ xionen wesentlich wirklichen So-in-der-Welt-Seins. Dies bestimmt die Intention existenz-phänomenologischen Philosophierens. Da ist für Philosophierende hier und jetzt eine theoretisch und praktisch herausfordernde Erfahrung. Für uns existentiell Philosophierende sogar eine erschütternde Beunruhigung. Es ist unser Beruf diese erschütternde Beunruhigung zusammenzufassen. Dieses wie immer ausgesprochene oder gelebte: ich kenne mich mit mir und unserer Welt im Grunde nicht (mehr) aus! Bin für mich selbst irritiert und perturbiert! - So können wir dieser uns immer wieder quer kommen­ den Frage auch nicht (sozusagen von Berufswegen) ausweichen. Ob mit unserem Philosophieren, die Vorstellung einer Idee von Geltung überhaupt eingelöst werden könne. Und sogar darüber hinaus. Es müsse auch für die Wissenschaften, für unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht anders sein. (Kant habe auch dafür die Richtung gewiesen.) Das erst lege den Grund, stifte den Anlass, die Ausrichtung und gebe Bedeutung für Philosophieren; mache Sicherheit überhaupt erst möglich für die Arbeit philosophischer Reflexionen. Das schließe ein die, nicht nur auf den ersten Blick verstörenden Bewegungen der Geschichte der Reflexion. Nicht zuletzt biete dies praktisch Antwort auf die (nicht nur philosophisch) bedrängende Frage ›woraufhin‹ wir hier und jetzt überhaupt noch denken und handeln sollen. Die umfassende Bedeutung dieser ›Setzung‹ liege also geradezu auf der Hand. Und wäre es nur die Klärung, dieser einen damit verbunde­

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13. Phänomenologische Reflexion der Reflexionen der Literatur.

nen Frage, die die Philosophiegeschichte und die Geschichte der Wissenschaften, sogar die Menschheitsgeschichte im Allgemeinen bewegt: nach der wirklichen Wirklichkeit des ›Menschen‹, seinem ver­ zweifelten Suchen nach einem wesentlichen, vielleicht auch ›idealen‹ (›gesunden‹) Menschsein.608 (Dass gerade das aber - und gar nicht so selten - dazu geführt habe, dass Menschen sich gegenseitig massa­ krieren, soll nicht verschwiegen werden.) Dazu gehört diese Leistung (überhaupt so fragen-können) selbst in den Blick bekommen zu können; diese problematische Lage des Menschen als entscheidende Herausforderung für ›ein anders‹ sich überhaupt als Reflexion zu reflektieren. Unabdingbar scheinen dazu mögliche Fragen nach Wahr­ heit, Geltung, Sinn zugehören. Um endlich und endgültig wahres und wahrhaftiges, und gutes und schönes Welt- und Selbst-Sein überhaupt wahrnehmen, denken, reflektieren und (das alles zusammenfassend die Hoffnung, der Glaube) dies irgendwann leben zu können. Schon in Freiheit als sich genötigt wahrzunehmen, eines sollen, müssen, auch dürfen dieses So-Fragens; und frohen Mutes Ausschau zu halten; sich zu sich selbst und seiner Welt (zum Sein; sogar zu seinem Gott) endlich selbstbewusst und selbstverständlich als (wer­ dendes) Selbst-Sein zu positionieren. – Zweifellos, wir sprechen hier von einem, vielleicht von dem Grund-Dokument der Philosophie, der Wissenschaften, der Kunst und Literatur. Von der, im Grunde all diese ›Kulturgüter‹ ausrichtenden existentiellen Suchbewegung. (Zumindest wenn wir in unserem abendländischen Kontext bleiben). - Gerade wenn wir uns so reflektieren, scheint (geradezu paradox) letztmögliche Hinterdenklichkeit auf. Kein unbedingt-absoluter, von uns gelöster Grund mehr; aber von uns geleistet als ›letztmögliche Hinterdenklichkeit‹. Zwar scheint dieser Mensch vorschwebende, oder treibende Gedanke ›der Absolutheit‹ als wirkliche Wirklichkeit unerreichbar zu bleiben. Vielleicht ist gerade aber schon das Denken dieses Gedankens, die einsichtige ›unbedingte‹ Grenzlinie für In-derWelt-Sein. Phänomenologisch gelesen als eine Zurechtweisung für philosophisch überschießende Reflexionen. Philosophieren, Philoso­ phie brauche offensichtlich dafür praktisch geleistete und theoretisch gesicherte Distanz zu der als begründungsbedürftig und, das setzen wir voraus, auch der ›Geltungs-Reflexion‹ fähigen Wirklichkeit unse­ res So-in-der-Welt-Seins. Wir können und sollen uns selbst so radikal reflektieren. Ob es allerdings endgültig gelingen werde? Wir es ›voll­ 608

Gleixner (2018)

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13.2. Existenz-phänomenologisches Philosophieren

bringen‹ können, ist keineswegs entschieden. Wir sind und bleiben aber unbestreitbar in jedem nur denkbaren Falle (es mag gelingen oder misslingen) selbst involviert. Gleich wie wir uns zu positionieren versuchen. – Ob aber so, so wäre mit Blick auf existentielle Reflexio­ nen zu fragen, die für ein strenges Philosophieren notwenige Distanz (theoretisch und praktisch) überhaupt gewahrt bleibe, bleiben könne? Können wir unseren Grundanspruch: ›schauen-selbst-schauen-kön­ nen‹ einlösen, aufrechterhalten, also ›philosophisch bewahrheiten‹. Einlösen und aufrechterhalten wäre im Ideal-Fall, als unbedingt gel­ tend vorführen können. Und umgekehrt. Ob und wieweit phänome­ nologisch-existentielles Philosophieren selbst bloß eine historisch und biographisch praktisch gebundenen, literarische Gestalt und Gestaltung der Reflexion vorstelle? Und damit auch nur relativ als literarische Leistung gelesen werden dürfe.609 Mit allen Konsequen­ zen. Aber ist es nicht das, was existentielles Philosophieren immer wieder selbst vorzustellen suche? Das würde doch (ist das nicht Absicht dieser Arbeit von Beginn an) unser Philosophieren endgül­ tig von der, (habe ich nicht behauptet) ›abstrakten Geltungsfrage‹ lösen? Das bedeute aber, dass existenz-philosophische Texte nur noch gelesen werden könnten, als subjektiv-ästhetisches Gebilde, als mehr oder weniger ‚weisheitliche‘ Literatur. Oder im Sinne von (beispielsweise) ›ganz interessant‹; ›was es doch alles für skurrile Fragen und Antwortversuche auf Herausforderungen unserer Lagen gebe; und ›erstaunlich wer nicht alles über dies und das grübele‹. Das wäre nicht einmal für zweitklassige Feuilletons interessant genug. – Kaum zu leugnen ist, dass ein noch fragileres ›Gebilde‹ nicht leicht vorgestellt werden könne, als unsere sich ausdrücklich irritiert und perturbiert erlebende Existenz. Wobei, so sagt man, dieses sprechen von ›Existenz‹ (›Existenz haben‹), anthropologische Sicherheit, ja, eine ›ontogenetische Stabilität‹ nur vortäusche. Als ›hätten wir uns immer schon‹; ein für alle Mal. (Denken wir an die knappe Bemerkung Vgl. dazu (z. B.) Manfred Frank: »Wissen wollen wir auch, in welcher Weise und aus welchen Gründen nicht nur die Philologie oder die Rhetorik, sondern auch die Philosophie aufgerufen ist, (…) Stellung zu beziehen. Ferner: Warum tut sich gerade die Philosophie schwer mit der Stil-Frage, warum fühlt sie sich von ihr bedroht? Eine gegenwärtig (wieder) mit Leidenschaft geführte Diskussion dreht sich um die Frage, ob sich der Gattungsunterschied zwischen Philosophie und Literatur einebnen lasse, ja: ob aus der immanenten Logik der Philosophiegeschichte hervorgetriebenen Gründe für die Unziehbarkeit einer scharfen Trennlinie zwischen beiden gibt?« (Stil der Philosophie. Stuttgart1992. S 7 f.) 609

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13. Phänomenologische Reflexion der Reflexionen der Literatur.

E. Blochs.) In Wirklichkeit scheine doch, dass diese unreflektierte Gewissheit ein unbedingtes ‚Selbst zu sein‘, sich mit wissenschaftlichen Denkbewegungen der letzten Jahrzehnte immer weiter destruiere. Man denke nur an neurobiologische Vorstellungen. Wäre es deshalb nicht treffender, nur noch (vorsichtiger) von ›scheinbar als Selbst exis­ tieren‹ zu sprechen? – Was folgt daraus mit Blick auf den Anspruch existenz-phänomenologischen Philosophierens? Was bliebe denn, unsere existentielle Reflexion der Reflexionen so gelesen, von der Vorstellung der philosophischen Selbst-Selbstbehauptung des Men­ schen? Von der Leistung existenz-phänomenologischen Philosophie­ rens? Vielleicht nur noch eine Vielzahl von mehr oder weniger will­ kürlich zusammengetragenen Zufälligkeiten eines Einzelnen, die sich schließlich, sagen wir, ›okkasionell‹ in ein faktisches So-in-der-WeltSein auflösten, als wissenschaftlich unfassbar verflüchtigten? Ob also, ein existentiell sich einführendes Denken, im strengen neuzeitlichen Sinne noch Philosophieren genannt werden dürfe? Es noch eine ernstzunehmende Stimme in der Gemeinschaft der Wissenschaften sein könne? Darauf komme es doch vor allem an. – Die Folgen einer Verneinung lägen für existentielles Philosophieren, so sagt man uns, klar auf der Hand. Unumgängliche Konsequenzen, die es auch für sich selbst zu ziehen habe. Phänomenologisch-existentielles Philoso­ phieren könne, so betrachtet, nur als mehr oder weniger geistvolle, mehr oder weniger interessante, oder, das läge wohl näher, bizarre, in jedem Fall bloß subjektiv-weltanschaulich gebundene ›Literatur‹ gelesen werden. (Gesetzt man möchte sich auf solchen müßigen Zeit­ vertreib überhaupt noch einlassen). Existenz-phänomenologisches Philosophieren wahrgenommen aus der Perspektive einer wissen­ schaftlich ausgelegten ›Geltungsfrage‹ könne nur Vorstellung einer weltanschaulich gebundenen ›Konfession‹ (doxa) sein. Von selbst verstehe sich, dass dieses Denken nicht mehr ohne weiteres einem streng-wissenschaftlichen, ernstzunehmenden Philosophieren zuzu­ ordnen sei. Was immer man persönlich damit auch verbinden mag. In jedem Falle müsse es aus dem Zusammenhang, dem System unserer Wissenschaften, wissenschaftlicher Philosophie, den aufgeklärten Bewegungen neuzeitlicher Vernunft, ausgegliedert werden.610 Ein für alle Mal! Und darüber hinaus müsse sogar gefragt werden: ob dieser »Die einen sehen die Philosophie wie ein Kunstwerk großer künstlerischer Geister an und machen aus ›der‹ Philosophie die Einheit einer Kunst.« Und so: »Philosophie ist in Gefahr, d. i. ihre Zukunft ist gefährdet – sollte das nicht der Frage nach

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13.2. Existenz-phänomenologisches Philosophieren

existenz-phänomenologisch reflexiven Reflexion, der ›ergrübelten‹ umständlich-schwerfälligen Reflexion der Reflexionen, eingeführt sogar als ausdrücklich nicht-wissenschaftliches Arbeiten mit ›irratio­ naler Perspektive‹, auch praktisch überhaupt irgendeine anthropolo­ gisch konstruktive Bedeutung zugestanden werden dürfe? -

13.2.2. Existentielle Reflexionen entlang der Korrelation ›Philosophie und Literatur‹. Weder eine anthropologische Bedeutung, noch irgendeinen prakti­ schen Wert, das wäre die Konsequenz, könne existentiellen Philoso­ phieren also zugestanden werden. Weder theoretische Bedeutung noch praktischer Wert sei hier wissenschaftlich (soziologisch, psy­ chologisch) auszumachen. Nichts weiter als (vielleicht noch) vor­ wissenschaftliche, subjektiv-irrational angelegte Versuche in Philoso­ phie und Literatur und Kunst irgendwelche existentiell-irrationalen Bedeutungen aufzuspüren. Diese Philosophen scheinen die Polemik Arnold Gehlens zu bestätigen. Philosophen, so glaubt er zu wis­ sen, seien »Spießer«, die versuchten ihren (bloß) privaten Gefühlen ›ontologische Weltbedeutung‹ zuzuschreiben.611 Als ob das nicht schon genug an Gegenwind für Philosophieren wäre, kommen noch Bedenken, die unsere Grundvorstellung von einem umfassenden, existentiellen Philosophieren (als ›Symphilosophie‹) erschüttern. Vor allem die Einwände aus Literatur und Literaturwissenschaften selbst, können wir nicht einfach beiseitelegen. Etwa, ob dieser existenz-phä­ nomenologischen Reflexion der Reflexionen irgendeine Bedeutung für ‚Literatur‘ und ‚Kunst‘ zukomme? Eine Leistung, die eine Zusam­ menstellung des Philosophierens mit dem Kunstschaffen rechtfertige. Reflexionen, die gerade so wirklicher und wesentlicher Da-und-SoSein zu reflektieren im Stande wären? Und von dort her (das wäre unsere Hoffnung) positiv-konstruktiv auf existentielles Philosophie­ ren zurückkommen? Kurz, ob überhaupt ein ›passendes Korrelat‹ dem Wesen und der Wirklichkeit von ›Literatur‹ und ›Philosophie­ ren‹ entspreche (und Sinn mache)? Ob existenz-phänomenologische der gegenwärtigen Aufgabe der Philosophie als Frage in einer solchen Zeit einen ausgezeichneten Sinn geben?« (Krisis. S 508/509. Beilage XXVIII) 611 Karl-Siegbert Rehberg. Arnold Gehlen als Briefschreiber. In: Zeitschrift für Ideen­ geschichte. Heft VII/3 2013. S 101

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13. Phänomenologische Reflexion der Reflexionen der Literatur.

Reflexionen nicht nur für literarisches Arbeiten, für die so geleisteten ‚Reflexionen‘, sondern auch für das Lesen, den Leser und die Leserin, als bedeutungslos, als überflüssig scheine? Und darüber hinaus, mit Blick auf den erreichten Stand internationaler literaturwissen­ schaftlicher Forschungen, müsse gefragt werden, ob schon dieses existenz-phänomenologische Anliegen, nicht Rückschritt der Bestim­ mung von Literatur (und Kunst) darstelle? Dieses als existentiell bedeutend in den philosophischen Blick gerückte Welt- und SelbstVerständnis, (nun auch) aus literarischer Perspektive, nichts weiter wäre, als eine metaphysisch-romantische Konstruktion. So könne man beispielsweise hier mit Fug und Recht auf die Leistungen, die fortschrittlichen Diskussionen literaturwissenschaftlicher Einsichten verweisen, die schon seit den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts auch in die ›Poetik‹ eingedrungen seien; unbestreitbar wirklich starke, nicht nur ›formal‹ tragfähige Modelle für die ›poetischen Reflexionen‹ selbst. Und zugleich sich als Reflexionen entfalteten, die ›moder­ nes‹ Selbst- und Welt-Verständnisses (auch praktisch angemessen) spiegelten. Wozu dann also noch dieses ›zwitterhaft‹ scheinende Philosophieren? (cui bono?) Alles in allem, höflich zurückhaltend zusammengefasst. Ob diese ‚Forschungsfelder‘ (unser irritiertes So-inder-Welt-Sein) nicht praktisch sachgerechter, selbst-verständlicher, beeindruckender, auch ansprechender, interessanter, diesseits phäno­ menologischer (vielleicht sogar überhaupt philosophischer) Arbeit gefasst werden könnten?612 – Existenz-phänomenologische Refle­ xionen seien auch aus literarischer und literaturwissenschaftlicher Perspektive, schlicht ›antiquiert‹. Literarisch uninteressant. Literatur­ wissenschaftlich bedeutungslos. Praktisch nutzlos. Man denke dabei sowohl an den auf literarischen Genuss ausgerichteten Leser, als auch an die Literaturwissenschaften (und ihre durchaus praktische Bedeu­ tung). - Ein für existentielles Philosophieren niederschmetterndes Urteil. Kurzum, für strenge Analyse literarischer Kunst-Werke zu unwissenschaftlich; als lesenswerte Literatur ohne ästhetisch-literari­ schen Wert; für neuzeitliche Philosophie zu abseitig. - Lassen wir uns darauf ein. Auf unsere Weise existentieller Reflexion dieser Reflexio­ Vielleicht also, schon im Allgemeinen, so: »Geben wir den Gedanken auf, dass der Philosoph etwas über das Erkennen erkennen kann, was kein anderer ebenso gut erkennen vermag, so bedeutet dies, dass wir nicht mehr davon ausgehen, dass seine Stimme beanspruchen kann, von den anderen Teilnehmern des Gesprächs als die zunächst und zuletzt anzuhörende vernommen zu werden.« (Richard Rorty. Der Spie­ gel der Natur. Eine Kritik der Philosophie. Frankfurt/M19853. S 424 f.) 612

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13.2. Existenz-phänomenologisches Philosophieren

nen. Die vorgestellten Perspektive lesen wir (ohne jeden ironischen Unterton) als aufbauende Reflexionen für existenz-phänomenologi­ sches Philosophieren. An einem ist aber schlechterdings nicht mehr zu zweifeln. Wir haben daran immer wieder erinnert; haben uns dabei in die Ordnung existentiellen Philosophierens zurückgerufen. Wir phänomenologisch Philosophierenden, reflektieren mit unsrem Philosophieren, nicht außerhalb unserer (deiner und meiner) wirklich wirklichen Wirklichkeit. Der Wirklichkeit unseres irritierten Da-undSo-in-der-Welt-Seins. Ohne im Einzelnen und ausführlich (erkennt­ nistheoretisch oder ontologisch) darauf einzugehen, (das bräuchte eigene umfangreiche Untersuchungen), nur soweit reflektiert, als es die Fundierung unseres uns selbst umfassenden existentiellen Philo­ sophiebegriff erforderlich mache. Diese Möglichkeiten existentieller Reflexion der Reflexionen sollen also ›umfassendere Perspektiven‹ auf endliches So-in-der-Welt-Sein eröffnen. Ein Schauen, das dabei das Schauen und den Schauenden selbst mit umfasse. In keinem Fall kann der existenz-phänomenologisch Philosophierende sich selbst außerhalb seines Philosophieren stellen. Gelesen haben wir diese Zurückweisungen durch Literatur, Lite­ raturwissenschaften, auch durch traditionelle Philosophien der Kunst, als Potential für unser Philosophieren. Ein Potential allerdings, dass selbst phänomenologisch zu reflektieren, und existentiell aufzuschlie­ ßen sei. Phänomenologisch radikalisiert als reflexive Reflexion der Reflexionen sich selbst (für sich selbst) ungewissen So-in-der-WeltSein. So erweitert so vorgetragenes literarisches (ästhetisch kunst­ volles) Selbstverständnis (beispielsweise als Lyrik; Drama, Epos), den Umfang der Möglichkeiten der Reflexionen irritierten und per­ turbierten Selbst- und Welt-Verständnis; fragilen Selbst-Seins und herausfordernd ungewissen Welt-Haben (können).613 – Zu dieser ungesicherten selbst-bewussten Perspektive literarischer Gestaltung gehört nun auch die Möglichkeit der Kritik der Philosophie, der Aufklärung, der wissenschaftlichen Vernunft. Vielleicht nur hinter­ gründig präsent als erlebtes, erfahrenes Unbehagen an dieser sich so theoretisch und praktisch konstituierenden ›wissenschaftlich-tech­ nisch-aufgeklärten Welt‹. Gerade das (das mag verwundern) entwirft die Möglichkeiten der Reflexionen unserer existentiellen Gestalt und unserer wirklichen Gestaltung (als irritiertes So-Da-Sein). Gesetzt 613 Dazu aus literaturwissenschaftlicher Perspektive: Emil Staiger. Grundbegriffe der Poetik. Zürich und Freiburg i. Br. 19688

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13. Phänomenologische Reflexion der Reflexionen der Literatur.

dabei auch als infrage-stellen des neuzeitlichen philosophischen Selbstverständnis; (das uns so hat die Philosophie zu sein!) Für unsere existentiellen Reflexionen wird dies in den Blick gerückt als reflexive Reflexionen, der uns selbst immer mitumfassenden irritierenden Lagen So-in-der-Welt-Seins. - ›Dürr‹; ›abstrakt‹; ›am wirklichen Leben vorbei‹? Keineswegs! Lesen wir es doch als eine Mensch selbst herausfordernde Leistung; unabhängig davon, was sonst noch durch Literatur und Kunst an Schönem, Interessantem, Lehrreichen, vorgestellt werde; was man daraus ›für sich erfahren‹ könne.614 Wir als Philosophierende dieser Reflexionen rücken dabei selbst in unseren Blick als wahrhaftig irritierte So-Philosophierende unseres Philosophierens. Wir, deren existentielles In-der-Welt-Sein (schau doch einfach hin und dir selbst zu) im Grunde immer wieder als ›Hiob‹ und ›Sisyphos‹ reflektiere. Wir, die wir, mit Blick auf ›unbe­ dingten‹ Anfang, – der uns ja wirklich bewegt, ausrichtet, anzieht, uns nicht nachlassend herausfordert, uns sogar verzweifeln lässt; uns immer wieder zu uns selbst als irritiert zurückweist; uns auffordert, sich unserer selbst erfahrenen existentiellen Fragwürdigkeit, unserer Begrenztheit und unserer Potenz (der Reflexion dieser Reflexionen) zu stellen. Eine existentielle (also auch positiv vorgestellte) Fragwür­ digkeit, die die Wissenschaften, und das Philosophieren als radikale Reflexion selbst grundsätzlich miteinschließt.615 – So verwundert es nicht, dass neuzeitliches Philosophieren, sich bei (ontologischen und anthropologischen) Grundfragen immer weiter auseinander dif­ feriere. Sollte es denn, die Frage drängt sich auf, wirklich nicht (mehr) möglich sein, sich philosophisch ›sachlich‹, ›objektiv‹ und ›geltungssicher‹ zu positionieren? Also Selbst-Sein und Welt-Habe schlicht (wie man gemeinhin sagt) theoretisch-objektiv vorzustellen und ›praktisch in den Griff‹ zu bekommen?616 Im philosophischen Blick dann endlich ›die Wahrheit‹ und ungetrübt (von allen Vorurtei­ 614 Man denke beispielsweise nur an den ›philosophischen Ertrag‹ der Duineser Ele­ gien. 615 ›Was man nennt: Gedankengänge/die ganze Philosophie/das ist doch alles Gestänge/gegen eine Melodie. – /Sie wird die Zeiten tragen/die großen Schlager von Meer zu Meer -/u wird die Trauer sagen,/unter der wir litten sehr …// Gram Wollust Zärtlichkeit,/wie mich die Schläge bewegen/ich kann es selbst nicht verstehen/Der Hafen von Adano/oder auch Lili Marleen/Höhe Tiefstand, – aber sie breiten/so sehr das Leben hin/Gram, Wollust Zärtlichkeiten/in einem menschlichen Sinn.‹ (Gottfried Benn. Sämtliche Gedichte. S 471) 616 Vgl. dazu Hua. IV. (Etwa: §§ 1 – 11)

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13.2. Existenz-phänomenologisches Philosophieren

len frei) nichts als die reine Wahrheit?617 Das wäre sich selbst, mit diesen sich auch unwillkürlich einstellenden (ästhetischen; ethischen; praktischen) subjektiven Perspektiven zurücknehmen zu können, auf das ›was wirklich zählt‹? Oder aus dieser Perspektive. Ob diese, die Neuzeit und nun auch die Ordnung der Moderne ausrichtenden und tragenden Konzepte, ›Vernünftigkeit‹, ›sachliche Wahrheit‹, ›objek­ tive Erkenntnis‹, auch ›wirkliche Geltung‹, vielleicht nur regulative Begriffe vorstellten. Praktische Ideen, Muster, die (soweit wir sehen) zwar tatsächlich ontologisch grundlos, Mensch (und seine Welt) aber auf wesentlich-wahre Wirklichkeit hin zumindest offenhalten? Das wäre wahrhaftig nicht wenig. (Allein diese Leistung rechtfertigte im Übrigen schon ‚Philosophieren‘.) Dass das, so oder so, auch das Ver­ ständnis und Selbstverständnis der wissenschaftlichen Philosophie, des aufgeklärten Philosophierens verändern müsse, könne wohl kaum bestritten werden. Die Frage nach uns selbst, treibt (es kann gar nicht anders sein) nicht nur phänomenologisch Philosophierende um. Vergewissern wir uns wieder mit Blick auf unsere existentiellen Reflexionen. Philosophische Reflexionen bleiben selbstverständlich an die Form und Gestaltung der Reflexion (der philosophischen Reflexion als Begriff) gebunden. Auch der Form der existentiellen Bewegung radikaler Reflexion gehört es zu, theoretisch und praktisch sich vor sich selbst (aufgrund eigener selbst eingesehener Leistun­ gen) rechtfertigen zu müssen. Diesen Anspruch phänomenologischen Philosophierens ist eingeführt und gesammelt als ›philosophische Grundlagenforschung‹ für irritiertes Da-und-So-Sein.618 Wie immer man dieses ›Selbstverständnis‹ nennt, sich zurechtlegt, es stellt vor die (eben) wirkliche Erfüllung der, wie es Husserl nennt, Ausrich­ tung auf die ›Urstiftung der Philosophie. (Wobei schon sich so-aus­ richten-können eine ›existentielle Erfüllung‹ vorstellt.) Das fordert weitreichende (nicht ‚tiefe‘) Reflexion als prekär erlebten Selbstund Welt-Verständnis. Reflexionen aus unterschiedlichen Perspekti­ 617 Polemisch vorgetragen bei Paul Feyerabend. »Fast alle Philosophen sind der Ansicht, dass eine Klärung von einer neuen, besseren und umfassenderen Theorie der Vernunft und der (wissenschaftlichen, politischen, künstlerischen etc.) Praxis kommen muss. Liegt eine akzeptable Theorie vor, dann ist das Problem gelöst, und man kann sich anderen Aufgaben zuwenden. Die Lösung ist ›objektiv‹, das heißt, sie ist bindend nicht nur für ihre Erfinder, sondern für alle Menschen: eine kleine Gruppe von Spezialisten entscheidet über wesentliche Züge des gesellschaftlichen Lebens.« (Erkenntnis für freie Menschen. Veränderte Ausgabe. Frankfurt/M 1980. S 35) 618 Dazu Gleixner (2012)

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13. Phänomenologische Reflexion der Reflexionen der Literatur.

ven. Existenz-phänomenologisch geleistet als reflexive Reflexion der Reflexionen; (immer wieder von Anfang an). Das ist ein philosophie­ ren gesichert durch das phänomenologische ›Prinzip aller Prinzipien‹. Diese existentiellen Reflexionen schließen selbstverständlich mit ein, auch die (nur auf den ersten Blick so unterschiedlich ausgerich­ teten) Reflexionen der Wissenschaften, der Kunst, Literatur, nicht zuletzt auch der Religion. Das können nicht nur erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Pflichtübungen sein. Etwa die Suche nach formalen Bedingungen für mögliches Erkennen. Transzendentale Muster, die aus der jüngsten philosophiegeschichtlichen Tradition vertraut sind. Es sprengt den neuzeitlichen, wissenschaftlich-aufge­ klärten Philosophie-Begriff. Allein schon mit Blick auf die Intention jeweiligen Philosophierens. Man denke beispielsweise an die unsere Neuzeit leitenden Ideen des ›Objektiven‹ und ›Subjektiven‹.619 Das mag nicht nur bei den Natur-Wissenschaften auf Widerspruch stoßen. Als irrationale Anmaßung zurückgewiesen werden. Verwirk­ licht aber die wesentliche (‚irrationale‘) Absicht phänomenologischer Reflexionen. Geleistet als Selbst-Selbst-Schauen entlang der (je eigenen) ›existentiellen (einschließlich der immer auch leibhaften) Intentionalität‹. Das ist entsprechend der ›Logik der Philosophie‹ Philosophieren über das Philosophieren.620 Verändern wir nun ein klein wenig diese Perspektive auf unser Philosophieren. Diese oder jene Vorstellungen, Erklärungen, Modelle der Wahrheit der Wissen­ schaften, der Künste, die damit, vielleicht auch implizit mitgesetzten Geltungsbehauptungen, bleiben weiter eingeklammert. (Ohne aber etwas durchzustreichen, zu widerlegen versuchen, auszusondern, nicht einmal dagegen zu argumentieren.) Unsere philosophischen Reflexionen bleiben ausgerichtet auf wirkliches und wesentliches Da-und-So-Sein. Schließlich reflektieren wir, so eingestellt, auch mit Blick auf diese philosophische Reflexion der Reflexionen selbst. Wo, Uns bereichernde Perspektiven schon bei Platon. Dazu Ernst Cassirer. »Der Gegensatz des ›Subjektiven‹ und ›Objektiven‹ wandelt sich aus einem Gegensatz des Seins in einen Gegensatz des Wertes. (…). Die eigentliche Frage lautet jetzt ((bei Platon)) nicht mehr, ob eine Vorstellung in uns ein einzelnes äußeres Dasein unmittelbar nachbildet, sondern ob in einer bestimmten Aussage die allgemeinen Bedingungen und Kriterien des echten Wissens erfüllt sind.« (Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Zweiter Band. (1907/1911) Darmstadt 1991. S 656; 657) 620 Vgl. meine Arbeit: Reflexion der Existenz. Einführung in phänomenologisches Philosophieren. Würzburg 2019. S 29 ff. 619

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13.2. Existenz-phänomenologisches Philosophieren

so frage ich, läge denn das philosophische oder literarische oder lite­ raturwissenschaftliche Problem, wenn existenz-phänomenologisches Philosophieren (so wie wir es entfalten) sich als literarisch-ästhetisch reflektierte Vorstellung einführte? Sich umfassender und wirklicher jenseits der neuzeitlichen Wissenschaften zu positionieren suchte. Ausdrücklich mit Blick auf wesentlich wirkliches, von Grund auf irritiertes und perturbiertes So-in-der-Welt-Sein. Sollte das Entschei­ dende für unser Philosophieren denn nicht in der praktischen Bewäh­ rung, einer umfassenden Bewältigung, der sich Mensch stellenden, ‚selbst-erlebten‘ (wer möchte sie ernsthaft leugnen) existentiellen Herausforderung bestehen? Soweit wir auch zu blicken vermögen fordert dieses Mensch theoretisch und praktisch, dass er sich in allem als fragil erlebt. Deshalb schreiben wir also Gedichte, führen uns unser Menschsein literarisch, ästhetisch vor Augen, treiben Wissenschaft und Philosophieren. Existenz-phänomenologisches Philosophieren ist ausdrücklich theoretisch-praktisches Arbeiten für ein Leben-kön­ nen mit und in der positiv-konstruktiv gewendeten existentiellen Spannung zwischen wesentlichem Da-Sein und wirklichem - So-Sein. Dass das die Absicht, die Funktion, das Selbst-Selbstverständnis des Philosophierens verändere, scheint offensichtlich. Das kann ja mit Blick auf sich-reflektierendes So-Da-Sein nicht verwundern. Man betrachte beispielsweise die Geschichte phänomenologischen Philosophierens von Husserl bis in unsere Gegenwart aus dieser existentiellen Perspektive. Philosophieren (nicht die Philosophie) gestaltet sich als existentielle Reflexion: als Leistung einer ‚therapeu­ tischen Arbeit‘ für irritiertes und pertubiertes So-Da-Seins. Gerade das ist die praktische Leistung existentieller Reflexion der Reflexio­ nen! Das verweist (das aber nur am Rande) auf eine der berühmten Kontroversen moderner ›Hermeneutik‹. Unser existentielles Philo­ sophieren sei eingeführt (auch) als Link, der die vielbesprochenen (immer noch auseinandergebrochen) ›zwei Kulturen‹ (C. P. Snow) miteinander verbinden könne. Die immer wieder als ‚unheilvolle‘ markierte Spannung zwischen ›Literatur‹ (Kunst) und ›Wissenschaft‹. Eine Spannung, die wir phänomenologisch nicht als Defizit, sondern als für unser So-Da-Sein notwendige Krisis lesen. Vielleicht ist es gerade dieser ‚unheilvoll scheinende‘ Riss, der die vielberedete ›Krisis abendländischen Kultur‹ als konstruktiv vorzustellen ermögliche.621 621 Dass was Husserl ›als Therapie‹ beschreibt, ist nicht allzu weit von dem unter­ schieden, was sich existenz-phänomenologisches Philosophieren vor-nimmt: »Die

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13. Phänomenologische Reflexion der Reflexionen der Literatur.

(Und wäre es nur dass, wenn die Welt aus den Fugen gerate- so Ernst Jünger – Risse entstünden, »durch die wir Geheimnisse der Architektur erraten, die uns gemeinhin verborgen« seien.)622 Wissenschaftliche Einsichten hin, aufgeklärtes Philosophieren her. Schau hin auf unser im Grunde irritiertes und perturbiertes SoDa-Sein. Auf unsere wirklich und wesentlich zugehörig scheinende Daseins-Not. Das scheint mit Blick auf unsere Lage offensichtlich. Es brauche ein wirklich Mensch ganz umfassendes Philosophieren. Umfassender also als jenes, das sich mit Rücksicht auf neuzeitliche Wissenschaft, erkenntnistheoretisch, transzendentalphilosophisch behaupte und es damit genug sein lasse. Ein Philosophieren, das auch den wirklichen Philosophierenden selbst und seine Reflexio­ nen letztmöglich reflektiere. Das denkt sich nicht als wissenschaftli­ ches (biologisches, medizinisches, soziologisches, psychologisches) Begreifen-Wollen des ›Objekt Mensch‹. Genauso wenig darf existen­ ziell umfassendes Philosophieren verwechselt werden mit konstru­ ierten (gleich ob idealistisch oder naturalistisch) metaphysischem Denken. Also in irgendwelche ›Tiefen‹ oder ›Höhen‹ des (invarianten) ‚Menschseins‘ gehen zu wollen. Weder ein sich rückversichern bei Gott als Ideal absoluter Vernunft, noch Anschlusssuchen an die Ordnungen (die Gliederungen) der Tierwelt. Sondern gesetzt als methodisches hinschauen auf die erstaunlichen Möglichkeiten des wirklichen Menschen sich selbst und sein Welt-Haben in den Blick rücken zu können. Schon allein dieses ›Können‹, den Menschen und seine Kultur gestaltendes Vermögen, gibt phänomenologisch weiter zu denken. Entfaltet als Reflexion, der von uns zumeist als selbstver­ ständlich gelebten Leistungen der ›Reflexionsebenen‹ unserer Selbstund Welt-Erfahrungen. Zurechtgelegt, radikalisiert, reflektiert als phänomenologisch konstruktives Verfahren existentieller Reflexion der Reflexionen unseres So-in-der-Welt-Seins, unseres irritierten Selbst-Seins und Welt-Habens. Von diesen oder jenen ›Inhalten‹ zunächst abgesehen, als Kompetenz der Reflexion als irritiertes philo­ sophierendes So-in-der-Welt-Sein (als Selbst-Selbst-Sein) sich auch latente Vernunft zum Selbstverständnis ihrer Möglichkeiten zu bringen und damit einsichtig zu machen die Möglichkeit einer Metaphysik als einer wahren Möglichkeit – das ist der einzige Weg, um eine Metaphysik bzw. universale Philosophie in den arbeitsvollen Gang der Verwirklichung zu bringen.« (Hua. VI.. S 13); Dazu auch meine Arbeit. Krisis und Geltung. Phänomenologische Probleme des Anfangs. Berlin 1999. 622 Das Abenteuerliche Herz. Zweite Fassung. Sämtliche Werke 9. Stuttgart 19992. S 255

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13.2. Existenz-phänomenologisches Philosophieren

kritisch vorstellen-zu-können. Auch das Wahrnehmen von Schmerz, Leiderfahrungen, Angst, Sorge, die Aussicht auf je eigenes endgülti­ ges Verenden, gehört selbstverständlich diesem unserem Vermögen zu. (Schon das Wertnehmen selbst, etwas als ›Übel‹ für uns vorzu­ stellen, oder ›darüber-hinaus-sich-reflektieren‹, wäre dieser Kompe­ tenz zuzurechnen.) Von hier aus geht der Blick zurück zu der ‚Weitung‘ existentiellen Philosophierens. Die Absicht war existentielle Reflexionen der Lite­ ratur (der Kunst) als passend in phänomenologisches Philosophie­ ren einzustellen. Eingeführt als breit aufgefächerte, sich unentwegt weitertreibende existentielle Reflexion der Reflexionen. Ein Philoso­ phieren, das uns hier und jetzt weder theoretisch noch praktisch gleichgültig sein könne. Geht es doch wirklich und wahrhaftig um unser wirkliches Selbst-Sein und unsere lebensweltlich verlässliche Welt-Habe. Zu entfalten ist eine streng-phänomenologisch reflexive Reflexion als ›ästhetische‹ Reflexion der Reflexionen. Das ist kei­ neswegs ein Philosophieren, das die Grundordnung, Ausrichtung, Intention phänomenologischer Tradition (‚zu den Sachen selbst‘) ver­ abschiede. Sich aus der Geschichte des phänomenologisch strengen Denkens auszuklinken versuche. Schauen wir einfach selbst auch weiterhin ohne Vorurteile hin und uns selbst zu. So könne man doch schon mit der Frage, beispielsweise, nach dem Wesen, oder schlich­ ter, der wirklichen Ordnung der Gattungsbegriffe der Literatur‘ (lyri­ scher-; epischer-; dramatischer Stil) hinführen auf die entscheidend existentielle Frage nach unserer wesentlich wirklichen Befindlichkeit, unserer existentiellen Ordnungen. Das stellt vor existentielle Refle­ xionen der (soweit wir überhaupt selbst-selbst zu schauen vermögen) möglichen intentionalen Gestaltungen eines wesentlich wirklichen So-in-der-Welt-Seins. Diese Reflexionen selbst wiederum gelesen als die konstitutive Potenz sich als wirklich wesentliches Selbst-Selbst zu schauen. - So bauen sich auf: die möglichen Reflexionen unseres Selbst-Seins und Welt-Habens. Sie werden gerade so zu philosophi­ schen Vorstellungen unseres uns vorstellen-könnens. (»So werde aus der Fundamentalpoetik ein Beitrag der Literaturwissenschaft an die philosophische Anthropologie.«)623 Diese literarischen Reflexionen haben also existentiell konstitutive Potenz. In jedem Fall sind sie reflektiert, Bestätigungen existenz-phänomenologischer Vorstellung unseres theoretischen und praktischen Philosophierens. (Die Entfal­ 623

Emil Staiger (19688) S 12

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tung praktischer, beispielsweise therapeutischer Konsequenzen, wäre ein eigenes spannendes Thema.)624 So zu reflektieren (Reflexion der Reflexionen der Reflexionen) fordert unser Philosophieren selbst wie­ derum weiter heraus. Es kann, mit Blick auf diesen ‚breit‘ angelegten existenz-phänomenologischen Anspruch, der auch die ›Logik des Phi­ losophierens‹ mit zu umfassen hat, auch nicht anders sein. Dieser Akt existentieller reflexiver Reflexion, wird als grundlegend nicht nur für existenzphänomenologisches Philosophieren behauptet. Das reicht auch über existentielle Phänomenologie hinaus und umfasst das neuzeitliche Philosophieren überhaupt. Vor allem weil wir Philoso­ phierenden hier und jetzt uns nicht mehr wirklich außerhalb unseres Philosophieren, unserer Reflexionen zu stellen vermögen. So wird das traditionelle philosophische Selbstverständnis ›anders‹ entschieden und nachdrücklich existentiell radikalisiert und als reflexive Reflexion letztmöglich (und nicht mehr ‚letztgültig‘) in den Blick gerückt. Dass der mehr oder weniger selbstverständlich hingenommene transzen­ dentale Begriff der ›rationalen, wissenschaftlichen Philosophie‹ (vom Neukantianismus, über Phänomenologie bis zur Geltungstheorie, einschließlich dieser und jener positivistischen Linien), dieses neu­ zeitliche Selbstverständnis ›wissenschaftlichen Philosophierens‹, sich wirklichkeitsgerechter, (also anthropologischer, also ästhetischer, also existentieller) zu reflektieren und neu zu entscheiden habe. Es solle endlich sein, ein ›endliches Philosophieren ohne Hybris des Absoluten‹. So verändert sich Philosophieren selbst, endlich-exis­ tentiell. Gerade dieses vorsichtig-skrupulöse Arbeiten an endlich existentieller Neuordnung des Philosophierens bleibt Gestaltung philosophischer Grundlagen-Forschung. Bleibt (mit anderen Wor­ ten) ausgerichtet auf letztmögliche Leistung (leisten-können) für wirkliches Da-und-So-in-der-Welt-Sein. Wirkliches Philosophieren ist Philosophieren mit Blick auf unsere irritierte und perturbierte Grund-Befindlichkeit; ein hinschauen auf So-Da-Sein müssen, sollen und dürfen des Menschen. Es sind, so gerichtet, existentielle Suchbe­ wegungen immer wieder von Anfang an. Zugleich ist es Arbeiten für existentielle Ordnung der Reflexionen des neuzeitlich-modernen Selbst-Selbstverständnisses des Philosophierens, und das auch für die Reflexionen der Kunst, der Literatur, und der anthropologischen Wis­ senschaften. Ich denke hier an die Geschichte der phänomenologischen Psychiatrie von Ludwig Binswanger bis Wolfgang Blankenburg.

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13.2. Existenz-phänomenologisches Philosophieren

Das sind Zumutungen für die sich aufgeklärt begreifende Ver­ nunft; für die neuzeitlichen Wissenschaften die sich diesen philo­ sophischen Formen endgültig entwachsen glaubten; wohl auch für den sich selbst rational (vernünftig) behauptenden Menschen und seinen logisch geordneten Institutionen. (Ideales Paradigma dafür wäre ›Sherlock Holmes‹; oder vielleicht ›Chevalier Dupin‹; nicht zufällig sind beide als ›Typus` im 19. Jahrhundert angesiedelt.) Selbst­ verständlich, vielleicht sogar vor allem, gelte das für ›modernes‹ (zeitgemäßes) Philosophieren, das sich als kritische Erkenntnisund Wissenschaftstheorie (nicht zu bestreiten) erfolgreich behauptet. Ein Ärgernis wird existentielles Philosophieren, wenn man einrech­ net, dass seine existentielle Reflexionen, das selbstgewisse Selbstver­ ständnis neuzeitlicher Rationalität, und die darauf sich berufende wissenschaftliche Kritik (der Kunst, der Religion, des Mythos) selbst grundsätzlich in Frage stellt. Hinzugefügt sei noch, dass unsere Kritik die transzendental-phänomenologischen Idee einer ›Philosophie als strenger Wissenschaft‹ mit einschließe. (Gerade aus einer phänome­ nologischen Intention heraus wenden wir uns, so habe ich gesagt, gegen die transzendentale Phänomenologie Husserls.) So sollte es nicht allzu sehr verwundern, wenn existentielles Philosophieren überhaupt, (also nicht nur unsere Reflexionen) vonseiten dieses neuzeitlich wissenschaftlichen Denkens und Selbstverständnis, keine Zustimmung erhalten (können). Und mit Blick auf unsere existentiel­ len Reflexionen, nicht einmal als phänomenologisches Philosophieren möchten ›die Gralshüter‹ der ›klassischen‹ Phänomenologie es gel­ ten lassen. (Das Denken Heidegger brauche hier als ›Leistung für sich‹ nicht weiter in Rechnung gestellt werden.) Kurz und knapp, existenz-phänomenologisches Philosophieren müsse als antiquiert, vernunftfeindlich, als irrational markiert und beiseite geräumt wer­ den.625 Dieses Philosophieren, das zu alldem auch der ›Kunst‹, der ›Literatur‹, sogar dem ›Irrationalen‹, philosophisch konstitutive Bedeutung zuspreche. Zumindest darin stimmen idealistische und positivistische Kritik an existentiellem Philosophieren überein. Schon die Ausrichtung auf mögliches Selbst-Verständnisses existentiellen Philosophierens gilt als verstiegen, zumindest als anstößig. Je nach Perspektive, als theologisierende Metaphysik oder als psychologisti­ scher Subjektivismus. Für das herausfordernde Heute ein auch prak­ 625 Beispielsweise: Julius Kraft. Von Husserl zu Heidegger. Kritik der phänomenolo­ gischen Philosophie. Hamburg 19773

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13. Phänomenologische Reflexion der Reflexionen der Literatur.

tisch untaugliches Philosophieren. - So zeige sich der fortschrittlichwissenschaftlichen-aufgeklärte Stand der Philosophie der Gegenwart gerade darin, dass Vorstellungen dieser Art eindeutig zurückgewiesen werden können. Sich von diesen metaphysisch-irrationalen Irrlichte­ reien deutlich abzugrenzen, sich, den Wissenschaften sei Dank, als rationale Philosophie davon zu distanzieren im Stande wäre. Man denke beispielsweise an die führenden, den philosophischen Diskurs der Gegenwart bestimmenden hermeneutischen, analytischen, wis­ senschaftstheoretischen, vor allem angloamerikanisch ausgerichteten (im weitesten Wortverständnis) philosophischen Bewegungen. – Wir lassen auch hier diese oder jene Vorwürfe im Einzelnen auf sich beruhen. Nicht aus Überheblichkeit; Überforderung oder aus Miss­ achtung nicht genehmer Kritik. Im Gegenteil. Diese Einwände geben tatsächlich zu denken; fordern ernsthaft heraus; aber verunsichern uns trotzdem nicht über Gebühr. Wir bleiben weiter bei uns und unse­ ren Reflexionen. Wir vertrauen dabei auf den phänomenologischen Stab und Stecken, das Prinzip aller Prinzipien. Selbst-Selbst-Schauen! Existentielle Reflexion der Reflexionen! Vertrauen der phänomeno­ logischen Grund-Form der Ordnung für systematisches Philosophie­ ren. Und des Weiteren halten wir an der vorgestellten symphiloso­ phischen Gestaltung existenz-phänomenologischen Philosophierens fest. Der literarisch-ästhetischen Form für ein, die Philosophierenden, mit umfassendes, wirkliches und wesentliches Philosophieren. Das ist Gestalt und Gestaltung existentieller Reflexion der Reflexionen des Da-und-So-Seins. Beispielsweise Schauen auf das gelebte unseres lebendigen Sprechens; die vielgestaltige Wahrnehmung der existen­ tiellen Ordnung unserer ‚Geschichten‘, die Erinnerung der ‚Texte‘ unseres irritierten So-in-der-Welt-Seins. Das alles ist für existenzphänomenologisches Philosophieren nicht mehr eine nur literarisch ›schöne‹ erhebende, oder erschreckende; schauerliche, düstere Zutat. Oder ein Zugeständnis an die Lesenden, die Mit-Philosophierenden, um die Beschäftigung mit ›trockenen philosophischen Ausführun­ gen‹ einladender, angenehmer, attraktiver, interessanter, vergnügli­ cher, kurzweiliger, oder Metaphernreicher, vielleicht sogar (warum denn nicht) ›witziger‹ zu machen. Philosophie durch unterschiedli­ che ästhetische Gestaltung ›aufzulockern‹; wie man sagt: ›mundge­ rechter‹, weniger ›ermüdend‹, pädagogisch also zuzubereiten. (Wir sollten endlich von den erfolgreichen ›philosophischen Sachbuchau­ toren lernen‹). Philosophische Lektüre einzuführen als ästhetisches und zugleich als lehrreiches Vergnügen. Philosophische Literatur,

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13.2. Existenz-phänomenologisches Philosophieren

und damit die uns am Herzen liegenden philosophischen Inhalte wären also zu popularisieren. Kurzum philosophische Lektüre müsse schlichter, einfacher, leichter gestaltet werden. Es sollte doch endlich möglich sein einen ›Königsweg‹ für Philosophieren auszurichten, ebnen zu können. (Wäre das nicht auch eine Voraussetzung um ›Phi­ losophie‹ endlich wieder als Grundfach für ›höhere Schulbildung‹ einzuführen?) Man denke beispielsweise an die Bedeutung der ›Bil­ der‹; der ›Metaphern‹; der ›Kunst‹ im Allgemeinen; des (sagen wir) ›lyrischen Ton‹ im Besonderen; bedeutend sei das doch schon für ›all­ tägliches Welt- und Selbst-Verständnis‹. Unbestreitbar! Es ist, als ob wir dadurch uns und unsere Befindlichkeit, dicht, treffend und doch gefällig (›schön‹; ›eigentlich‹) ›wiedergeben‹ könnten.626 – Mit allem Nachdruck. Das ist nicht die Intention existentiellen Philosophierens. Trifft nicht Gestalt und Gestaltung unseres phänomenologisch-exis­ tentiellen Philosophierens. Da ist allein schon diese ‚Wahrnehmung‘. Gerade ästhetische Stil (etwa, Ausdruck; Form; Gestalt und Gestal­ tung) philosophischer Reflexionen kann Philosophieren nicht unbe­ schwerter machen. Könne keinen Königsweg für ›Philosophieren leicht gemacht‹ eröffnen. Ist kein pädagogisches oder im Alltagsver­ standes, ästhetisches Zugeständnis. (Welch ein Missverständnis!) Auch hier gilt die Formel: dies könne mit Blick auf phänomenologi­ sche Gestalt existentiellen Philosophierens nicht anders sein. Eine Gestalt, die von sich her entsprechende, immer weiter ausgreifende Gestaltung der reflexiven Reflexion der Reflexionen erfordert. Uns auf uns als irritiertes und perturbiertes So-in-der-Welt-Sein zurück­ verweist. Es setzt aber, so haben wir gesagt, gerade als existentielle Reflexion der Reflexionen unseres irritierten und perturbierten Soin-der-Welt-Seins Geltung. (Wahrlich erstaunlich!)

13.2.3. Ästhetische Gestaltung philosophischer Reflexion Diese Zusammenstellung, das Korrelat ›Philosophie und Literatur‹ ist also in der Grund-Ordnung phänomenologisch-existentieller Refle­ xion. Existentielle Reflexion der Reflexionen, die die wirkliche Wirk­ lichkeit unseres (in jedem Fall) spannend gelebten Da-und-So-Seins umfassen und konstituieren. Philosophieren verstehen wir gerade für 626 Vielleicht vgl. man dazu was Theodor Adorno dazu (bitteres) zu sagen weiß. Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie. Frankfurt/M 19809

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13. Phänomenologische Reflexion der Reflexionen der Literatur.

›neuzeitlich-aufgeklärten‹ Menschen, als (wortwörtlich) ›Not-wen­ dige‹ Leistung (tatsächlich gilt: Philosophari necesse est!); als unum­ gängliche Reflexion der Reflexionen irritierten und perturbierten SoDa-Seins. Existentielle Reflexion der Reflexionen der als bestürzend prekär wahrgenommenen Lage des wirklich wirklichen Menschen. Das ist ein Philosophieren, das nicht mehr den vorgespurten Wegen der ›großen‹ philosophischen oder theologischen Tradition folgen kann. Das Vorstellen und Entwerfen unbedingt sicheren Grund und Geltung. Um sich schließlich theoretisch und praktisch neuzeitlich (ein)ordnen zu können in die Wissenschaften. (Selbst Skeptiker und Kritiker wissenschaftlicher Ordnung beanspruchen für ihre Vorstell­ ungen ›wissenschaftliche Geltung‹.) – Nicht aus willkürlichem Eigen­ sinn gehen wir eigene Wege. Geschuldet etwa einem originell-sein-, sich absetzen, unterscheiden-wollen um jeden Preis. Sondern als Erfüllung existentieller Form phänomenologischen Philosophierens; der radikal existentiellen Reflexion der Reflexionen irritierten So-inder-Welt-Seins. Ein Philosophieren, das als endlich-philosophieren unser im Grunde verunsichertes In-der-Welt-Sein nicht nur deskrip­ tiv vorführt, sondern existentiell-phänomenologisch reflektiert; und es gerade so zu sich als wirklich und wesentlich irritiertes und per­ turbiertes So-Da-Sein zurückführt; damit auch auf Sinn-Haben hin ›transzendiert‹. Kurz, existenz-phänomenologisches Philosophieren ist gesetzt als reflexive Reflexion der Reflexionen. Immer wieder und immer wieder von Anfang an. Nicht als Willkürakt sondern als folge­ richtige Leistung der Reflexionsgeschichte. Sich selbst-vollbringende systematische Reflexionen (immer wieder von Anfang an), sind keine Entfaltung eines ›Bildungsguts‹; oder Ersatz für den erlebten Verlust der ‚großen (mythologischen, theologischen, metaphysischen) Erzäh­ lungen‘. Schon allein nicht mit Blick auf die wahrhaftige existentielle Selbst- und (unlösbar damit verbunden), Welt-Verantwortung des Menschen. Seines Selbst-Seins und Welt-Habens als wirkliches und wesentliches In-der-Welt-Sein. Philosophieren entfaltet sich als letzt­ möglich-endlose Gestaltung eines unvertretbaren Selbst-Selbst-Ver­ ständnisses. –Mehr soll hier auch nicht gesagt sein. Dass sich das quer legt, zu unserem aufgeklärt-neuzeitlichen Selbst-Verständnis, zur wissenschaftlichen Vernunft und aufgeklärten Bildung; und, für

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13.2. Existenz-phänomenologisches Philosophieren

uns von besonderer Bedeutung, auch zu Husserls Idee ›Philosophie als strenger Wissenschaft‹, konnte gar nicht verborgen bleiben.627 Schauen wir weiter hin, auf die das existenz-phänomenologische Philosophieren reflektierende ›Ästhetik‹. Auf die philosophisch-lite­ rarische Vorstellung existentieller Reflexion der Reflexionen. Das führt ein, dicht zusammengefasst, den ›Gedanken‹ unseres uns begleitenden irritierten Selbst- und Welt-Verständnisses; die Refle­ xion der uns schon praktisch zukommenden existentiellen Schwere. Damit werde das ›unaufhebbare Mühsame‹, das grundsätzlich nicht zu vollendende des Selbst-Selbst-Denkens, das existentiell Schwere eines Philosophierens (seines Sollen und Können) in passende Form sinnlicher, leibhafter Letztmöglichkeit gebracht. Die Wissenschaften werden sich, mit ihrer reduktiv-vernünftigen Form, dem verweigern (müssen). Wissenschaftlich objektive geführte Begriffe reichen dafür nicht hin. Auch das gilt es existentiell auszuhalten und philosophisch zu reflektieren. – Das sind beileibe keine hochgeschraubten spekula­ tiven Fragen; kein Philosophieren, das sich endgültig verstiegen habe, sich durch bizarre Bilder, jenseits von Begriffen neuzeitlicher Aufklä­ rung willkürlich zu ordnen versuche. Es sind existentielle Reflexionen irrationaler Lebens-Erfahrung. Existenz-phänomenologisch entfaltet als theoretisch und praktisch radikal ausgreifende reflexive Reflexion der Reflexionen irritierten So-in-der-Welt-Sein. Dieses phänomeno­ logisch geleistete existentielle Schauen-Schauen, stellt die Bedingung unser In-der-Welt-Sein auch praktisch letztmöglich zu reflektieren. Das sind grundlagenphilosophische Reflexionen wirklichen Da-undSo-Seins. Sie müssen geleistet sein, sollen die weiteren Bemühungen um ›gute Ordnung‹ (in diesem Horizont) überhaupt ein Fundament haben. – Schon Stil, Form, Gestalt und Gestaltung reflexiver Refle­ xion der Reflexionen sind als philosophische Grundlagen-Forschung für sich selbst sinnstiftend; das ist für sich selbst theoretisch und praktisch konstitutiv. Das kann mit Blick auf den erhobenen Anspruch auch nicht mehr anders sein. Vorgestellt sind unsere existentiellen Reflexionen auch als Potential für mögliche konstruktive Neuordnung neuzeitlichen Philosophierens. Weil schon die philosophischen und Vgl. dazu Ferdinand von Schirach: »Bildung kann uns nicht retten, sie hat es noch nie getan, auch nicht Literatur, Musik oder Kunst. Wenn es zum Schlimmsten kommt, nutzen sie nichts, sie sind keine Garantien für Menschlichkeit, sie errichten keine Grenzen.« (Ferdinand v. Schirach. Alexander Kluge. Die Herzlichkeit der Vernunft. München 20172. S 121) 627

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künstlerischen (literarischen) Suchbewegungen nach dem Mensch ausrichtenden Wahren, Guten, Schönen (als zu erstrebende Werte), Sinn stiften; das ist Sinn-Haben-können des Menschen konstitutiv leisten; und schon (ein Zusammenhang, der nur schwer zu bestreiten ist) dem Philosophierenden durch sein Philosophieren selbst als wol­ len, sollen, können existentiell herausfordernd zuführt. Gleichsam als eine immer wieder vor-(aus)liegende Leistung. (Da weil wir es von Anfang an suchen! Und wir können suchen, weil wir sollen!) Man könne in diesem Zusammenhang angelehnt an Emil Staiger, unseren Ausdruck ›Welt-Haben‹ und Selbst-Sein in phänomenolo­ gisch-ästhetischer Forschung ohne Bedenken mit dem Ausdruck ›Stil-Haben‹ und ›Gestalt-Sein‹ vertauschen.628 Phänomenologisches Philosophieren dann eingeführt als reflexive Reflexionen unseres existentiellen Stils. Das ist ganz in der existentiellen Ordnung phäno­ menologischer Reflexionen. Diese Reflexionen leisten schon durch ihre Form die Mensch (hier und jetzt) ausrichtende Geltung. Im Sinne von du sollst und darfst, weil du es kannst! – Existentielle Reflexion der Reflexionen unseres So-Da-Seins, ist schon als Akt, was immer als ›Thema‹ in den Blick gerückt werden soll, immer auch (in einem genauen Wortverständnis) ›ästhetische Gestaltung‹. Sie kommt ja notwendig auf sich, als sich existentiell sinnstiftend-ganz erfassend zurück629 Reine Vernunft scheint aus dieser Perspektive der ästhetischen (leibhaften; irrationalen) Fülle als bloße Abstraktion; entsprechend ein ›reiner Vernunft-Mensch‹ als unwirkliche Verzer­ rung, eine Karikatur des Menschen. Als ein ›Ungeheuer‹; oder als eine ›bizarre Witzgestalt‹. Und umgekehrt formt und fundiert ›ästheti­ sche Gestaltung‹ phänomenologischen Philosophierens wirklich und wesentlich existentielle Reflexion der überhaupt möglichen Reflexio­ nen eines Reflektierenden als wirkliches So-in-der-Welt-Sein. Von Grundbegriffe der Poetik. Zürich. Freiburg i. Br. 19688. S 173 Denken wir hier an den viel besprochenen ›aufregenden‹ Handschriftenfund ((von Hegel niedergeschrieben; Rosenzweig glaubt: nach einem ›Diktat von Schelling‹)) ›älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus‹. »Ich bin nun überzeugt, dass der höchste Akt der Vernunft, der, indem sie alle Ideen umfasst, ein ästhetischer Akt ist, und dass Wahrheit und Güte, nur in der Schönheit verschwistert sind – der Philosoph muss eben so viel ästhetische Kraft besitzen, als der Dichter. Die Menschen ohne ästhetischen sinn sind unsere Buchstabenphilosophen. Die Philosophie des Geistes ist eine ästhetische Philosophie.« (Hier: vollständiger Text in: Franz Rosenzweig. Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. Ein handschriftlicher Fund. In: Zweistromland. Kleinere Schriften zur Religion und Philosophie. Berlin/Wien 2001. S 112 f.) 628

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13.2. Existenz-phänomenologisches Philosophieren

Anfang an Philosophieren wir mit Blick auf diese selbstverständliche scheinende, (phänomenologisch mitdenkbare, mitschaubare), immer schon gelebte sinnvoll ›schöne‹ Ordnung unseres Selbst-Seins und unseres Welt-Haben. Das wird klar, dort wo Reflexionen sich wirklich radikal zu vollbringen suchen. Dagegen mag man Schmerz, Leiden, Not, Angst, Verzweiflung, das Hässliche, den Ekel,630 und schließlich unsere so belastende Endlichkeit, stellen und dagegen rechnen. Das sind, nicht zu leugnen, nicht weniger unsere Erfahrungen, die uns (vielleicht sogar) wesentlich zugehören. Und trotzdem und immer wieder wird Mensch-Sein, die existentielle Grund-Ordnung, getra­ gen und ausgerichtet von: ›weil Hiersein viel ist‹ (Rilke).631 – Das ist nicht zu bestreiten, eine seltsam beunruhigende, nicht nur philo­ sophisch herausfordernde ›Dialektik‹. Eine ‚existentielle Spannung‘, die sich der als ›fortschrittlich‹ gewerteten, im Grunde ›linearen Ord­ nung‹ wissenschaftlicher Aufklärung zu entziehen scheint. Lesen wir es als Aufforderung, noch radikaler uns selbst in den Blick zu rücken. Dieses ganzheitlich existentielle Philosophieren ist vielleicht, für diese verunsicherte Moderne, die einzig noch verbleibende passende Gestaltung eines wirklich wirklichen Philosophierens.632 Zusammengefasst. Man mag es wie immer es beliebt, rein vernünftig wenden und natur-wissenschaftlich zu drehen versuchen. Reflexive Gestalt und literarisch-ästhetische Gestaltung existentiel­ len Philosophierens sind und bleiben mit Blick auf unser wirkliches So-Da-Sein unlösbar Korrelate.633 Bleiben wirkliche Formen der Wahrnehmungen wirklichen Erlebens, Erzählens; ›ästhetische (irra­ 630 Aus phänomenologischer Perspektive. Aurel Kolnai. Ekel. Hochmut. Haß. Frank­ furt/M 2007 631 Nur im Raum der Rühmung darf die Klage/gehen, die Nymphe des geweinten Quells,/wachend über unserem Niederschlage,/,dass er klar sei an demselben Fels,// der die Tore trägt und die Altäre. – (…) // Jubel weiß, und die Sehnsucht ist geständig, – /nur die Klage lernt noch; mädchenhändig/zählt sie nächtelang das alte Schlimme.// Aber plötzlich, schräg und ungeübt,/hält sie doch ein Sternbild unserer Stimme/in den Himmel, den ihr Hauch nicht trübt.‘ (Die Sonette an Orpheus. Erster Teil. VIII) 632 Eduard Spranger schreibt 1921 mit Blick auf ›klassische Moderne‹: »Man könnte hoffen, das Leben musikalisch ›auszuschöpfen‹. Philosophisch kann es nicht aus­ geschöpft werden. Das Leben der Gegenwart wallt nicht mehr in geschlossenen, geformten Melodien und nicht mehr in einer rationalen Kontrapunktik einher – es ist wieder in eine Anzahl von Leitmotiven aufgelöst, (…).« (Lebensformen. Geisteswis­ senschaftliche Psychologe und Ethik der Persönlichkeit. München und Hamburg 1965) 633 Dazu gehört beispielsweise auch dies: »Die Sprache als Kunstwerk, das Kunstwerk als Sprache, symbolisieren (…) die virtuelle Freiheit des Menschen, die Wirklichkeit

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13. Phänomenologische Reflexion der Reflexionen der Literatur.

tionale) Gestaltungen‹ eines als ›bewegt erfahrenen‹ Welt-Habens und Selbst-Seins. (Zurecht darf man sich hier an den ›Gestaltkreis‹ Viktor von Weizsäcker erinnern.) - Diese existentiellen Wahrneh­ mungen unseres Wahrnehmens fassen sich keineswegs als über­ spannt, unpassend, antiquiert für unser modernes Hier und Jetzt. Schauen wir doch nur auf uns selbst. Da sind wirklich Ansprüche, Erregungen, oder (und nicht zuletzt) unser uns selbst irritierendes Denken; selbst selbst-erlebte Spannungen; Gestalten und Gestal­ tungen, die zweifellos zurecht als ›irrational‹ zu markieren sind. ›Irrational‹ aber nicht unwirklich; beunruhigend aber nicht surreal; nicht absurd. – Man solle, ja müsse, so wird gefordert, dieses ›Unvernünftige, von irgendwoher aufsteigende‹, diese ›Widerfahr­ nisse‹ (es geschieht ja ganz unwillkürlich), uns nicht selten sogar blockierende, irgendwie ›in den Griff‹ zu bekommen versuchen. Vernünftig-machen! Sind es doch Trübungen sozialen, gesellschaft­ lichen Miteinander. Hemmnis des humanen ›Projekts Moderne‹. Die Beispiele seien Legion. – Dass dieses ›Irrationale‹, diese den Menschen (›das Menschsein‹) mit-umfassende Wirklichkeit, sein Da-und-So-Sein nicht verzerre, gerade nicht einenge, nicht trübe; ihn also, von sich her, nicht aus seiner ›guten, wahren, schönen GrundOrdnung‹ herausführe; die Entfaltung (nicht zu verwechseln mit ›Fortschritt‹ oder bürgerlicher Idylle) eines In-der-Welt-Sein nicht nur nicht blockiere, sondern im Gegenteil in die Mensch gemäße Form bringe; wird mit dieser Perspektive wissenschaftlicher Aufklärung übersehen; wird sogar ausdrücklich geleugnet. Existenz-phänomeno­ logisch haben wir diese Gestaltungen (So-Sein) vorgestellt als unsere Gestalt (Da-Sein); als das uns ›letztmöglich Tragende‹, uns ›positiv Ausrichtende‹. Gerade mit Blick auf moderne mehrdeutige Welt; und die, wer möchte es leugnen, ›invariant‹ scheinenden Härten So-Da-Seins. Es nennt, kurz und knapp, die, Mensch existentiell umfassende konstitutive Potenz. Die Grundform seines endlichen Da-und-So-Seins. (Wie Mensch damit lebt, es einsetzt, verwirklicht, steht allerdings auf einem anderen Blatt.) – Von dieser ›ganzen‹ Wirklichkeit her, und daraufhin, entfalteten wir unser existentielles Philosophieren. Gleich ob wir es endgültig auf ›den Begriff‹ zu bringen vermögen oder eben nicht. Phänomenologisch in jedem Fall gelesen als wahrhaftig existentielle Leistungen der Selbst-Selbstvergewisse­ als Geschichte selbst zu gestalten.« (Friedman Apel. In: Propyläen Geschichte der Literatur. Vierter Band. Berlin 1983. S 86)

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13.2. Existenz-phänomenologisches Philosophieren

rung. Leistungen, die die phänomenologische Reflexion der Reflexio­ nen immer weiter entfaltet. Um hier an Husserls Vorstellung von der Idee einer ›Philosophie als strenger Wissenschaft‹ anzuschließen und gleichzeitig darüber hinaus zu weisen: diese existentiellen Refle­ xionen sind ein endlos scheinendes Generationen-Projekt. So bietet gerade existentielles Philosophieren die Möglichkeit (vielmehr die notwendige Selbstverständlichkeit) uns selbst existentiell-praktisch, als irritierte So-Philosophierende, endlich wirklich wesentlich in den Blick zu rücken. Das ist uns in und mit wirklicher und wesentlicher Zeitlichkeit, unseren (interpersonalen) Ordnungen, unserer Lebens­ welt, unseren existentiellen Spannungen, kurz, unserem irritierten In-der-Welt-Sein (können, dürfen) endlich zu reflektieren; mit allen Konsequenzen endlich wahr-zunehmen. Du sagst: das sei nicht viel? Ich antworte, lasse dich wirklich selbst auf existentielles Philosophieren ein! Auf diese Bewegung deiner Reflexion unserer Reflexionen der Reflexionen. Immer wie­ der und aus jeder möglichen Perspektive erfahren wir miteinander Philosophieren als endlos-scheinendes Arbeiten an unserem uns irritierenden und perturbierenden Welt-Haben und Selbst-Seins; an der wirklichen Wirklichkeit unseres Da-und-So-in-der-Welt-Seins. Gleich wie abstrakt, rein vernünftig, logisch auch immer ein Phi­ losophieren sich selbst vorstellen und behaupten mag. In jedem Fall brauche es schließlich und endlich dafür ›im (letztmöglichen) Grunde‹ ein existentielles Selbst-Selbst-Schauen; reflexive Reflexion eines wirklich Philosophierenden eines leibhaften Da-und-So-Seins. Ein weitgestelltes irrationales Denken, das sich in existentieller Span­ nung, als je meines reflektiert als unseres, und sich nicht mehr weiter sinnvoll ›hinter‹-denken lasse. –

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14. Epilog

›Getrost! Es ist der Tränen wert, dies Leben, So lang uns Pilgern Gottes Sonne scheint, Und Bilder beßrer Zeit um unsere Seele schweben, Und ach! mit uns ein freundlich Auge weint.‹ (Hölderlin)

Darüber ist kein hinauskommen. Systematisches Philosophieren bleibt als Selbst Selbst-Schauen, ein existentielles Schauen, das sich ›von Anfang an‹, nicht durch enge rational-wissenschaftliche Perspek­ tiven, durch neuzeitliche Forderungen, ordentlichen Vorschriften der wissenschaftlichen Vernunft einweisen oder begrenzen lassen könne. Schon allein dass wir diesen oder jenen Vorstellungen entgegen denken, entscheiden und handeln können, und es sicher auch oft genug (überzeugend begründet oder nicht) tun, sollte uns weiter zu denken geben. – Wer es überhaupt sehen möchte wird es sehen; sind es doch alltägliche Erfahrungen von und mit uns selbst. Zur wirklichen Wirklichkeit eines So-Da-Seins gehört unleugbar auch irrationales Welt- und Selbstverständnis; unauflösbar virulent (theoretisch und praktisch) als irritierende und perturbierende Welt- und Selbst-Erfah­ rungen. Nicht bloß nebenbei, oder sich mehr oder weniger ungünstig oder auch tragisch auswirkende Zufälle, oder als historisch oder biographisch problematische und störende Reminiszenzen. Oder, eine krankhafte Zeit-Lage, die sich ›aufklären‹ und dann doch noch vernünftig machen lasse. Oder, wirre Träume einer vergangenen, unvernünftigen Zeit; archaisches Treibgut; letzte Reste einer (hier und jetzt) im Grunde aber schon überwundenen metaphysisch-magischen Epoche. – Schau hin, ›treib‹ deine Reflexionen, soweit immer es dir gelingt. Das und so ist unsere wirkliche und wesentliche Wirklich­ keit; unser Da-und-So-in-der-Welt-Sein. Weder ›reine‹ Vernunft, wissenschaftliche Rationalität, noch willkürlich gesetztes ›klar instru­ mentiertes‹ Wollen, sind alleine Bestimmer für die Normen unseres In-der-Welt-Seins, sind die wirklichen und wesentlich Grund-Lagen

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unseres ›modernen‹ Da-und-So-Seins.634 Das sollte auch die weite­ ren Bewegungen, die Herausforderungen für Philosophieren bestim­ men. Es kann, nehmen wir unser gemeinsames Philosophieren ernst, keinen Endpunkt für existenz-phänomenologische Reflexion geben. So führt jedes beenden eines philosophischen Arbeitsganges, zu einem sich sammeln für weiter Reflexionen der Reflexionen.

14.1. Kunst und Literatur phänomenologisch vorgestellt als Gestalt und Gestaltung existentieller Reflexion Existentielle Phänomenologie greift über traditionelle erkenntnis­ theoretische, ontologische, auch ästhetische und anthropologische Perspektiven ›hinaus‹. Selbst der Titel ›Phänomenologie‹ wird eigen­ willig entfaltet. Keineswegs aber aus verquerer Lust sich zu separie­ ren, zu produzieren, sich nicht einordnen zu wollen. Um gegen den Strom neuzeitlichen und modernen Philosophierens zu schwimmen. Oder gesetzt als Gebärde radikaler Progression; die Inszenierung einer Sezession. Hinzukomme, dass man sich gegenwärtig sowieso schwer täte, manche, sich als Avantgarde behauptenden Berufsphilo­ sophen hier noch zu überbieten. Um von der radikalen Abstraktheit soziologischer Systemtheorien ganz zu schweigen. Existenz-phäno­ menologisches Philosophieren setzt sich als schlichte Aufforderung an den irritierten und perturbierten Philosophierenden, ›als Erstes‹ zu sich selbst (als wirkliches und wesentliches Da-und-So-Sein) zurückzufinden. Wortwörtlich also als Bewegung radikal existentiel­ ler Reflexion. Die philosophischen Moden mögen sein, wie sie wollen. Philosophieren wird geleistet als ›existentielle Besinnung‹; das ist Selbst-Besinnung des wirklich Philosophierenden. Das fordert phä­ nomenologisch ein methodisches Selbst-Selbst-Schauen als systema­ tisch sich entfaltendes Schauen-Schauen, also reflexive Reflexion, die sich dem philosophischen ›Grund-Prinzip aller Prinzipien‹ verpflich­ tet wisse. Darin folgen wir Husserl. – Das ist tatsächlich ein Hinaus­ greifen über das wissenschaftliche Selbstverständnis neuzeitlicher und 634 Schon allein die Spannung zwischen Bewusstsein und Unbewusstes. Vgl. (bei­ spielsweise) Albert Wellek: »Die Struktur, der Charakter, die Persönlichkeit sind insofern auch ein Unbewusstes. Der Mensch ist, wie er ist, zumeist ohne es selbst zu wissen. Jedenfalls denkt er nicht immer daran, was für einer er ist, und kann im Drange des Daseins gar nicht daran denken.« (Psychologie. München 19713. S 161)

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moderner Philosophie der Vernunft. (Und hier ›verlassen‹ wir Hus­ serl.) Eingeführt als, sagen wir, ›Erinnerung‹ an die anthropologische Wurzel, den existentiellen Grund der Philosophie. Dieser wahrhaftige Grund, der, historisch oft verdeckt, verzerrt, oder überheblich, viel­ leicht auch missverstanden, ›karikiert‹ worden war (und wird). Ein Philosophieren, das Abschied nimmt, von überzogenen erkenntnisund geltungstheoretischen und -praktischen Ansprüchen. Das ›Fest­ schreiben-wollen absoluter Erkenntnisse‹, oder einer ›vernünftigen Erziehung des Menschengeschlechts‹ ist nicht unsere Absicht. Es brauche für uns (uns) ›suchenden Menschen‹ zunächst ein hartnäckig schlichtes Philosophieren. Trotzdem, vielleicht sogar gerade deswe­ gen, ordnet und stellt existenz-phänomenologisches Philosophieren auch letztmögliche Philosophie. Das ist ein (möglichst) vorurteils­ freies sich einlassen auf die Bewegung, der sich immer weiter trei­ benden, treiben müssenden, reflexiven Reflexion der Reflexionen. Existentielles Philosophieren als systematische und auch historische angelegte Reflexion; Reflexion der Reflexionen wirklich irritierten und perturbierten, und, das vergessen wir phänomenologisch nicht, auch wesentlichen Da-und-So-Sein. (Wesen kann wirklich geschaut werden!) Immer aber sind und bleiben es Reflexionen wirklichen So-in-der-Welt-Seins. Auch praktisch leistet sich existentielle Phäno­ menologie als ganz und gar unspektakuläre Arbeitsphilosophie; das ist, nicht nachlassend als methodische Suchbewegung nach Gestalt und Gestaltung von Sinn-Haben-Können (und sollen) für-uns. Unser existentielles Philosophieren, fassen wir es so zusammen, eingeführt als andauernder Vollzug einer gemeinsamen Leistung; geleistet immer wieder und immer wieder von Anfang an. Unent­ wegt! Mühsam! Und wie es scheint endlos! Sisyphos lässt grüßen. (Im Übrigen, uns genügt zu wissen, dass es immer noch und immer wieder diese, sich dem stellenden Philosophierende gebe.) - Von dort her und, es mag paradox scheinen, darauf hin, ordnen wir unser existenz-phänomenologisches Philosophieren. Wir als irritiertes Soin-der-Welt-Sein in und mit unserem lebensweltlichen Horizont. Reflektiert als Leben-müssen! Leben-sollen! Leben-können! Und keinesfalls zu vergessen: Leben dürfen! Unser In-der-Welt-Sein ist in unserem philosophischen Blick als herausfordernd, von sich her unübersichtlich, problematisch. Ein praktisch selbstverständlich gelebtes, theoretisch eigenartig anmutendes verschränkt-sein von Erfahren, Wissen, Glauben, Sinn und Unsinn; und immer auch ein­ schließlich (wissenschaftliche Perspektiven hin oder her) sogenann­

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ten ›Unfassbaren‹. Man denke nur an das, was wir in und mit dem Schicksalsbegriff uns vorzustellen suchen. Unser So-Da-Sein, unser Welt-Haben und Selbst-Sein, einschließlich der uns zugehörigen Irritation und Perturbation ist phänomenologisch mit einen nicht eineindeutig begriffenen existentiellen Sinn-Horizont gesammelt. – Wie immer wirklicher Mensch sich philosophisch zu reflektieren anschickt; in den Blick zu rücken versuche, sich besinne; einschließlich der Reflexion der Reflexionen seiner ihn umfassenden, gesellschaftli­ chen, sozialen, lebensweltlich-geschichtlichen Horizonte, immer fin­ det er sich vor als in ›Geschichten verstrickt‹ (W. Schapp; P. Ricoeur). Das stellt vor eine Grund-Ordnung des Da-und-So-Seins diesseits traditioneller Erkenntnistheorie, Ontologie, oder anthropologischer Wissenschaften. Unser uns wahrnehmen als wirklich-, oder auch möglich-sein, durch ›Erzählungen‹, ›Texte‹, von diesem oder jenem, und woher auch immer geleistet; für uns selbst präsent immer schon als sinnvoll gelebte Zusammenhänge; konstitutive Zusammenstel­ lungen; Wirklichkeiten; eingeführt vor jeder Theorie als selbstver­ ständliche Erfahrung von Welt-Haben und Selbst-Sein. – Um hier nicht missverstanden zu werden ist dies noch etwas präziser zu fassen. Das benennt einen eigenen existenz-phänomenologischen Sinnbe­ griff. Er umfasst unsere Ordnung und Unordnung, Normalität, und auch das gehört hierher, Irrsinn; genauso wie, Glück und Scheitern; Schicksal haben; Kranksein und Sterben müssen (als nicht-mehr-dasein). Nichts von all dem falle aus unserem (schon alltäglichen) Sinn-haben heraus. Unser So-in-der-Welt-Sein, gleich ob verdichtet als Zusammenhang oder erlebt als Fragment, oder in den Blick gerückt als breit entfaltete ›Geschichte von Geschichten‹ (›Leben als ruhiger Fluss‹; oder als ‚reißender Strom‘), oder mit sich widersprechenden Wahrnehmungen, etwa Perspektiven, die nicht eindeutig aufeinander verweisen, vielleicht nicht einmal nebeneinander zu liegen scheinen; oder auch eingeführt als Behauptung einer klaren Werteordnung (Gesetze des Sollens); oder (vielleicht das alles für uns zusammen­ fassend) gelebt als Gestaltungen eines In-der-Welt-Seins, das sich nicht mehr in die Muster dieser oder jener ›großen Erzählungen‹ aus Traditionsbeständen eingebettet weiß. Mythische Sicherheiten, die jetzt als abgesunkene (mehr oder weniger interessante) Geschichten markiert werden; gewesene Lebenswelten unserer Vorfahren, die nicht mehr selbstverständlich als ›Welt‹ gelebt werden können. – Was davon, diese Frage bedrängt, kann aufgeklärter Mensch wirklich wissenschaftlich, philosophisch-vernünftig, begreifen‘? Sich ontolo­

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gisch und praktisch zurecht-legen? Vielleicht als nützlich Utilisieren? Oder es ein für alle Mal endgültig als ‚unvernünftig‘ ausmustern? Und auf welche ›anderen‹ existentiellen Grenzen werde er dabei noch gezwungen aufzumerken? - Mensch ist von Anfang an wirklich und wesentlich Da als So-in-der-Welt-Sein. Als für seine Zeit und seine Lage So-Da im Modus: so und nicht anders! Von dort her entwerfen und entfalten wir uns selbst phänomenologisch als So-Da-Sein, und Welt als unsere Welt-Habe. Die so aktiv und passiv geleistete Wirk­ lichkeit unseres Daseins, einschließlich der zu unseren Wirklichkeiten gehörenden existentiellen Grenzen, reflektiert sich als ›horizontal‹ und ›vertikal‹ gefasster Umfang unseres So-in-der-Welt-Seins. Das sind unsere, zuerst und zumeist selbstverständlich gelebten (trotz der eingepreisten Irritationen) Wirklichkeiten aus der es – Gott sei Dank – praktisch keinen Ausweg gebe. Dasein ist nie anders Da als wirklich wirkliches So-Da-In-der-Welt-Sein. Das denkt sich nicht als ›Gehäuse‹, oder gar als ›Kerker‹ (oder als ›Fliegenglas‹ aus dem nur der Philosoph den Ausweg kenne), sondern als unser uns zugehöriger Horizont. Existenz-phänomenologisch reflektiert als Reflexionen sich so verwirklichenden Potentials. Gestaltungen und (immer wieder) Gestaltungen eines für uns existentiellen Korrelats. Die Bedingung der Möglichkeit unseres So-in-der-Welt-Seins; philo­ sophisch präsent als existentielle Spannung zwischen ›Freiheit und Notwendigkeit‹. In der Regel unserer Alltäglichkeit hintergründig vertraute, eher unauffällige Möglichkeiten So-Da-Seins, die selbst­ verständlich gelebt werden; und auch ›gelebt werden können‹.635 Und darüber hinaus philosophisch noch weiter (nicht ›tiefer‹) entfal­ tet. Diese phänomenologische Leistung existentiellen Selbst- und Welt-Verständnisses, reflektiert in diesem Horizont die Reflexio­ Beispielsweise Ernst Jünger. »Worte wie ›Willensfreiheit‹ sind groß und leer. Es passt viel und Widersprechendes hinein. Sie bleiben im Theoretischen und sagen wenig aus. Gleichnisse sind sprechender. (…) unter allen möglichen Haltungen des abendländischen Denkens ruht ein Ethos, das unbestechlich ist und das die Schranken kennt, innerhalb deren sowohl der Wille als auch das Leiden sinnvoll bleibt.« (Der Gordische Knoten. Frankfurt/M 19544. S 76); dazu eine für die Naturwissenschaf­ ten nicht untypische Perspektive. Hermann Kretzschmar verweist auf Max Planck. »Planck ist davon überzeugt, dass auch der geistig höchststehende Mensch in allen seinen Betätigungen dem Kausalgesetz unterworfen ist. Man muss wenigstens im Prinzip stets mit der Möglichkeit rechnen, dass es eines Tages der unaufhaltsam tiefer dringenden und stetig sich verfeinernden Forschung gelingen werde, auch die genialste menschliche Schöpfung in ihrer kausalen Bedingung zu verstehen.« (Max Planck als Philosoph. München/Basel1967. S 73) 635

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nen der Wissenschaft, Kunst, Religion. Die phänomenologische Freilegung, die existentielle Reflexion der Reflexionen dieses Weltund Selbstverständnisses, unseres Selbst-Seins und Welt-Habens, ermöglicht es, unterschiedliche praktische und theoretische anthro­ pologische (etwa, soziologische, psychologische, auch kunstwissen­ schaftliche, oder allgemeiner, kulturgeschichtliche) Fragen, in existen­ tielle Perspektive einzuordnen und radikal reflexiv ›letztmöglich‹ zu entfalten.636 Unsere Leistung der existentiell-phänomenologischen reflexiven Reflexion der Reflexionen (der Reflexionen). Dass das kon­ stitutive Akte sind, braucht hier keiner weiteren breiten Entfaltung mehr.Die von uns nachdrücklich nach vorne gerückte Absicht ist es, philosophisch-existentielle Grundlagen-Forschung für wesentlich wirkliches und wirklich wesentliches Da-und-So-in-der-Welt-Sein einzuführen und immer weiter zu entfalten. Das schließt die Mög­ lichkeit (als Voraussetzung) ein, phänomenologisches Philosophieren selbst zu sichern. Phänomenologisches Philosophieren wird durch sich selbst ›auf den Weg gebracht‹ und ›auf dem Weg gehalten‹; geleistet als existentielle reflexive Reflexion der Reflexionen. Kein anderer Weg könnte unserem Selbst-Selbstverständnis philosophi­ sche Grundlagen-Forschung stellen zu wollen, wirklich genügen. Das leistet phänomenologische Besinnung auf wesentliche Gestalt und wirkliche Gestaltung der im Grunde existentiellen Formen unseres Welt- und Selbstverständnisses. Einschließlich der ›wirklichkeitsher­ stellenden‹ Perspektiven unserer ›erzählten‹, ›getexteten‹, Welt-Habe und unseres Selbst-Seins. Dazu gehören auch die phänomenologischexistentiellen Reflexionen selbst als Möglichkeiten der Reflexion der Form, der Gestalt, der Logik der Reflexion. Möglichkeiten, die sich selbst als reflexive Reflexion in den Blick rücken, sich als (wort­ wörtlich) ‚ Kontext’ unseres irritierten So-Da-Sein selbst erfahren können. Wie weit wir immer auch ausgreifen, ›hinter‹ was Mensch auch immer forschend zu gelangen versuche. Und das war und ist wahrhaftig nicht wenig. Gleich ob Wissenschaft, Religion, Kunst und Philosophie. Wirklich wesentlich, wesentlich wirklich ›endet‹ es radi­ kal reflektiert, mit Blick auf ihn selbst und sein (selbst) als gespannt, herausfordernd-fragil erlebtes Da-und-So-Sein. Vorgestellt dabei nie anders als mit dem Mensch unbedingt zugehörigen lebensweltlichen Zeit-Raum. Eine existentiell wirkliche Wirklichkeit, die weder als 636 Vgl. dazu (beispielsweise) meine Arbeit: Lebenswelt Großstadt. Eine phänome­ nologische Studie. Freiburg/München 2015)

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›objektiv‹ noch als ›subjektiv‹ hinreichend bestimmt werden könne. Gleichgültig wie wir uns ›faktisch‹ dazu verhalten, es uns theoretisch zurecht zulegen versuchen; das und so ist unser Horizont wirklich wirklichen So-in-der-Welt-Seins. (›Hier ist des Säglichen Zeit, hier seine Heimat./ Sprich und bekenn‹)637 Wenn man so will, eine herausfordernde Erinnerung daran: ›ausschließlich so und hier bist du Mensch; hast als So-in-der-Welt-Sein zu sein; und sich zurechtzu­ finden‹! Von hier aus bestimmt sich auch die praktische Bedeutung unsers (nicht mehr zur Ruhe kommen könnenden) Philosophierens. – Phänomenologische Reflexion als reflexive Reflexion der Reflexio­ nen schaut dabei genauso ausdrücklich hin auf das unwillkürlich Erfahrene; das nicht weniger als Einheit erlebte und gelebte unseres alltäglichen (unwillkürlichen) Welt- und Selbstverständnisses. Einen bekannten Satz Paul Klees abgewandelt, könnte man sagen: radikal phänomenologische Reflexion ›gebe nicht etwas schon Sichtbares wieder (was sollte das sein?), sondern mache es als das unsere für uns wirklich und wesentliche erst sicht- und ›erlebbar‹. Für uns, die wir Welt-Haben und Selbst-Sein existenz-phänomenologisch ordnen, uns zueignen mit und in sinnvollen ›Geschichten‹. Zuerst und zumeist sind diese Ordnungen (einschließlich aller möglichen Spannungen und Widersprüche) geradezu unauffällig präsent; wirklich selbstver­ ständlich als wirkliche Wirklichkeit. Wobei erlebtes Missbehagen, oder auch alltägliche Erfahrungen von Unordnung, sogar Chaos, und (Er)Schrecken, Ungeheuerliches, nicht aus dieser nie anders als schon ›getexteten‹ (symbolisch schon entfalteten) Grund-Lage wesentlich wirklichen Menschseins herausfallen. Das nennt die Bedingung der Möglichkeit auch abstraktester Ontologie, Metaphysik, Erkenntnis­ theorie. Also überhaupt ›etwas als Etwas‹ Wahrnehmen, Vorstellen, Erinnern, Erzählen und Reflektieren können. Dieses Welt-Haben und Selbst-Sein (In-der-Welt-Sein), wird phänomenologisch reflektiert (es mag sonst noch sein was auch immer) als existentielle Spannung dieser wirklichen und möglichen, willkürlichen und unwillkürlichen Vorstellungen der erlebten und ›erzählten‹, irritierenden und pertur­ bierenden Erfahrungen menschlichen Da-und-So-Seins.638 Dieses phänomenologisch-radikale Hinschauen, diese existentiellen Refle­ xionen sind konstitutive Akte. Dass phänomenologische Reflexion, als existentielle, reflexive Reflexion der Reflexionen, die konstituti­ 637 638

Duineser Elegien. Aus der ›Neunten Elegie‹. Man denke beispielsweise an das Gedicht ›Inventur‹ von Günter Eich.

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ven Vermögen des philosophierenden Menschen umfassend mit in den Blick rückt, kann wahrhaftig nicht verwundern. Schon allein mit Blick auf das radikal angelegte Selbst-Selbstverständnis existenzphänomenologischen Philosophierens. Als existentielle Reflexion der Reflexionen werden die möglichen verschiedenen Vorstellungen (›Geschichten‹) unserer Welt-Habe, Selbst-Seins uns wesentlich wirklich und wirklich wesentlich zugeordnet. Das sind keine blo­ ßen Nachzeichnungen; kein erkenntnistheoretisches Abbilden; keine ontologischen Abbildungen; oder spekulativ zurecht gelegte meta­ physische Konstruktionen. Sondern Dasein ›erfährt‹ – und das wort­ wörtlich – von seinem gelebten wirklichen So-in-der-Welt-Sein her, seinem So-Da-Sein, sich besinnend in Form existentieller Reflexion seiner Reflexionen, den wesentlich wirklichen und wirklich wesentli­ chen Horizont seines So-in-der-Welt-Seins. Ein Missverständnis wäre es dieses existentielle Philosophieren als subjektivistisch-relativistische Auflösung phänomenologischen Philosophierens zu deuten. Vielleicht nichts weiter als eine Variante des bekannten Satz des Protagoras. Eines aber kann nicht geleugnet werden. Diese existentielle Perspektive konsequent entfaltet ›relati­ viert‹ tatsächlich den ›Traum wissenschaftlicher Aufklärung‹. Den (oft auch ›implizit‹ nach wie vor gelebten) Glauben: Mensch und unsere Lebenswelt könne wirklich ganz und gar auf neuzeitliche Vernunft hin ausgerichtet, rational eingestellt, kurz, wissenschaftlich bestimmt, und so endlich ›human‹ geordnet (erzogen) werden. Als genüge es für den Auf- und Ausbau ›humaner Welt‹, den Herrschafts­ bereich der, letztendlich, wissenschaftlichen Vernunft über ›Welt‹ und ›Mensch‹, noch umfassender (›intensiv‹ und ›extensiv‹) zur Geltung zu bringen. Das ›Licht der Vernunft‹ verdränge (auf welche Weise?) ›irrationale Dunkelheit‹. Die Fronten (auch Freund oder Feind) seien endlich eindeutig festgelegt. Klares wissenschaftliches Philosophieren gegen trübes metaphysisches, irrationales Spekulie­ ren; aufgeklärter Mensch versus Hinterwäldler. (Die bekannten Bil­ der: Herumstochern; im Trüben fischen; den Menschen ›Schlafsand‹ in die Augen streuen). Der ›aufgeklärten Vernunft‹ zum endgültigen Siege zu verhelfen, das sei die bleibende große Herausforderungen der neuzeitlichen Philosophie und für die Philosophen als ›Funktionäre der Menschheit‹ (Husserl). Sich einzusetzen für dieses, wie nach wie vor geglaubt wird, leistbare Zukunftsprojekt der Philosophie und der wissenschaftlichen Weltanschauung: ›praktisch-vernünfti­

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ger Menschheitserziehung‹.639 Die bekannte Direktive Freuds etwas abgewandelt. Wo irrationales, unwillkürliches Denken und Handeln herrsche (das triebhafte, unbeherrschte Es), soll ›Vernunft‹, dem neuzeitlich modernen Menschen gemäße Klarheit seines Selbst- und Weltverständnis bringen. Und selbst noch dort, wo die ›Bedeutung seiner irrationalen Züge‹ durchaus anerkennt werde, dürfe, so sagt man, gerade deswegen ein Ziel nicht aus den Augen verloren werden. Die »Irrationalität des Lebens in seiner ganzen Tiefe und Breite zur rationalen Erkenntnis, zu rationalen Form« umzuwandeln.640 (Eben die Erziehung des Menschengeschlechts.) Unmenschlichkeit sei praktisch die Folge von Unvernunft. Unklarheiten, Dissonanzen; schon die alltäglich vertrauten ›Grautöne‹ menschlichen Verhaltens, die auch (wie sollte es anders sein) gesellschaftlich Verwirrung, sozial Unordnung stiften, werden als ›Irrtum‹, ›Rückständigkeit‹, Zurück-geblieben-sein‘, ›Unvernunft‹, ›Illusion‹, Makel, vielleicht als ›Krankheit‹, (sogar als ›selbstverschuldet‹ und ›böse‹) markiert. Man wisse doch schon von der ›sokratischen Aufklärung‹ her, irrationales, ›böses‹, (sogenanntes) ›sündhaftes‹ Handeln sei als erstes Folge von ›Unwissenheit‹. Diese tatsächlich immer noch virulenten Verwirrun­ gen, Fehlhaltungen, Dummheiten, Trübungen des Verstandes, sollen, können, müssen durch verschärfte Aufklärung gebannt werden. Der ›Vernunft sei Dank‹ dürfe daran festgehalten werden: Aufklärung sei leistbar! Eine ›neue schöne Welt‹ wirklich möglich! Das ›Projekt Moderne‹ im Grunde eine machbare wissenschaftliche Herausfor­ derung. Konkret gelte es unsere menschheitliche Lage theoretisch und praktisch als pädagogische, soziologische, psychologische, auch medizinische Fragen zurechtzulegen Darauf komme es an, sich klar und entschieden zu positionieren: gegen die (selbsternannten) SeinsRobert Spaemann verdichtet eine Perspektive des Philosophierens, die (das mag nur auf den ersten Blick verwundern) auch unser existenz-phänomenologisches Schauen trägt. »Philosophie besteht aus Abschlussgedanken – um ein Wort von Dieter Henrich zu gebrauchen. Darin scheint Philosophie naiv zu sein, denn keiner ihrer Gedanken erwies sich je als unüberholbar. Aber die Überholung war stets die Überholung eines Abschlussgedankens durch einen anderen Gedanken, der sich wieder als Abschlussgedanke verstand. Für Abschlussgedanken können wir auch sagen: Denken des Absoluten.« (Niklas Luhmanns Herausforderung der Philosophie. Laudatio von Robert Spaemann. In: Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral. Rede von Niklas Luhmann anlässlich der Verleihung des Hegel-Preises 1989. Frankfurt/M 1990. S 65) 640 Hermann Broch. Das Böse im Wertsystem der Kunst. (1933). In: Geist und Zeitgeist. Frankfurt/M 1997. S 17 639

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Hirten, Mythen-Erzählern, theologisierenden Pseudophilosophen, Metaphysiker und irrationalen Existenz-Philosophen. Und so möge man sich endlich den tatsächlich großen Herausforderungen unseres Mensch-seins hier und jetzt stellen. Sicher ein anspruchsvolles Pro­ jekt, aber lösbar. ›Calculemus‹!641 – Dieser Traum scheint ausgeträumt. Und doch ist es tatsächlich nicht einfach, sich diesen ehrlich engagierten, optimistischen Vor­ stellungen der wissenschaftlich unterlegten Aufklärung, einer Phi­ losophie der Vernunft zu entziehen.642 Ein Philosophieren ethisch aufgeladen, das sich den ›Fortschritt der Menschheit‹ zum Ziel gesetzt hat. Der sich (denken wir an Kant) im Endzweck ewigen Friedens erfüllen solle. Ermöglicht durch die Leistungen der Wissenschaften. Wer möchte sich dem ernsthaft verweigern; defätistisch abseitsste­ hen, oder gar sich diesem ›großen Traum‹ entgegenstellen?643 – Was auch immer vorgetragen und uns vorgehalten wird. Für existenzphänomenologisches Philosophieren bleibt als Stab und Stecken die Aufforderung, ›schau selbst hin und deinem Hinschauen von Anfang an selbst zu‹! Das ist der Halt phänomenologischer Reflexion der Refle­ xionen, (sogar darüber hinaus: die philosophische Grund-Norm). Und so sehen wir es selbst. Es kann uns mit Blick auf uns selbst gar nicht verborgen bleiben. Mensch der Neuzeit, der Moderne, steht mit seiner ›aufgeklärten Vernunft‹, den zur Verfügung stehenden wis­ 641 Dass hier nicht für eine irrationale (Un-)Ordnung der Gesellschaft gesprochen wird, dass Vorstellungen der ›Dogmatik der Aufklärung‹ über das (für eine komplexe Gesellschaft sicher sinnvolle) Prinzip ›funktioneller Rationalität‹ nicht deckungsgleich sind, sei noch einmal festgehalten. – Dass aber auch aus soziologischer Perspek­ tive Spannungen, Herausforderungen sich vorstellen führt eben vor, dass unser Daund-So-in-der-Welt-Sein, alles andere als ›wissenschaftlich‹ ein-eindeutig ›erklärt‹ werden könne. Beispielsweise schreibt Karl Mannheim: »Wer von der Durchindus­ trialisierung der Gesellschaft die Steigerung der durchschnittlichen Urteilsfähigkeit erwartet hatte, musste durch die Ereignisse der letzten Jahre eines Besseren belehrt werden. Die aufrüttelnde Gewalt der Krisen und Revolutionen machte eine Tendenz sichtbar, die auch schon vorher unter der Oberfläche am Werke war: die urteilsläh­ mende Wirkung der funktionellen Rationalisierung.« (Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus. Darmstadt 1958. S 68) 642 Hier nun auch Husserls Phänomenologie ganz und gar mit dazuschlagen zu wollen, ginge im Übrigen fehl. Das aber nur am Rande. 643 »Dann wohn der Wolf beim Lamm;/ der Panther liegt beim Böcklein,/ Kalb und Löwe weiden zusammen,/ ein Kind kann sie hüten./ Kuh und Bärin freunden sich an,/ ihre Jungen liegen beieinander./ Der Löwe frisst Stroh wie das Rind./ Der Säugling spielt vor dem Versteck der Natter,/ das Kind steckt seine Hand in die Höhle der Schlange./ Man tut nichts Böses mehr und begeht kein Verbrechen (…).« (Jes. 11, 6

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senschaftlichen Instrumenten und technischen Möglichkeiten, mehr denn je in, nach wie vor quälenden existentiellen Spannungen zwi­ schen seinem Da- und So-Sein. Seiner Gestalt und Gestaltung. Seinen Gedanken und seinem Denken. Seinen Werten und den Forderungen seines gelebten Lebens. Unser wirkliches So-in-der-Welt-Sein, das drängt sich auf, lasse sich nicht wirklich auf wissenschaftliche Ver­ nunft, streng genormte Rationalität, eindeutiger Logik eingrenzen und entsprechend klar entschieden und folgerichtig praktisch ordnen. Das erfahren wir schon mit Blick auf uns selbst. – Um das sich vorzustellen, braucht es keine breit angelegten soziologischen, oder tief schürfenden psychoanalytischen Untersuchungen. Braucht es keine psychologischen Test oder neurobiologische Scans. Schon die alltäglich gelebte wirkliche Wirklichkeit unsers In-der-Welt-Sein, unseres irritierten und perturbierten Welt-Haben und Selbst-Seins ist phänomenologisch beredt genug. Gleich ob dies immer und in jedem Fall zu Bewusstsein komme; ob wir im Alltagsgetriebe überhaupt darauf aufmerken (können) oder nicht. Die Beispiele, die wohl jeder und jede parat hätte, sind Legion. So gibt es Sinn, nehmen wir uns selbst ernst, sich der immer auch ›Irrationales‹ mitumfassenden Weite wirklichen So-in-der-Welt-Seins zu stellen. Zu kurz gesprungen wäre es aber, diese Fragen in irgendein starres: ›entweder – oder‹ zu zwängen, sich es (so oder so) dogmatisch zurecht zu legen. Beispiels­ weise als historische, gesellschaftliche, evolutive Gestaltungen, oder umgekehrt als ontologische, metaphysische, oder anthropologische Invarianten des Menschseins festschreiben zu wollen. Es, wie so oft in der Geschichte geschehen, ‚doktrinär‘ festlegen zu wollen: wesentliches Menschsein und wirklicher Mensch hätten nur dies oder das, nur so und nie mehr anders zu sein (oder zu werden)! Wir haben die Notwendigkeit einer Neuordnung phänomenolo­ gischen Philosophierens nicht aus den Augen verloren. Mit diesen und auch anderen möglichen existentiellen Reflexionen der Reflexio­ nen, ernsthaft das Projekt ›Symphilosophie‹ voranzutreiben. Endlich ein breit aufgestelltes, ohne Berührungsängste, wirkliches Mitein­ ander-Philosophieren. Ein Philosophieren ‚breiter‘ gesetzt als das universitäre Fach ›Philosophie‹. Unser Philosophieren schließt selbst­ verständlich Diskurse, Auseinandersetzungen, Streit, unterschiedli­ che Perspektiven nicht aus. Ein existentielles Philosophieren also diesseits wissenschaftlich festgeschriebener Ordnung; genauso aber auch jenseits subjektiv-willkürlich-spekulativer Beliebigkeit. Das ist methodisch geordnete phänomenologische Arbeitsphilosophie; also

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14. Epilog

reflexive Reflexionen, die sich Philosophieren weder durch ein histo­ risches ›Ideal‹ noch durch einen begrenzten Auftrag durch die Wis­ senschaften vorgeben lassen könne.644 Phänomenologisch sei dafür von Anfang an zu leisten, gemeinsames Selbst-Schauen und SelbstSchauen-schauen. Das ist miteinander und, es kann nicht anders sein, auch gegeneinander reflektieren. Wir können nicht übersehen, dass gerade diese gemeinsame Leistung existenz-phänomenologischen Schauens, die ›Schauenden‹ wieder je zu sich als dieser ‚einsam‘ Philo­ sophierende zurückweist; ihn geradeso so auf seinen existentiell-kon­ stitutiven Beitrag zu seinem Selbst-Sein und unserem Welt-Haben aufmerksam mache. – Um es aber nicht zu ›weich‹, zu ›beliebig‹, zu ›gleichgültig‹ sich vorzustellen. Es meint ›dies‹ immer wieder von Anfang an sich selbst phänomenologisch streng in unseren Blick zu rücken und als wesentliche Gestalt und wirklich wirkliche Gestaltung unseres Da-und-So-Seins selbst zu reflektieren. Das sind ‚offene‘ Reflexionen, das darf nicht übergangen werden, die sich (schon mit Blick auf die Form des Philosophierens) nicht als ›endgültig‹ begrei­ fen (können). Denken wir an die ›Logik der Reflexion‹. Das ernst genommen, können wir existenz-phänomenologisches Philosophie­ ren nicht an einer ›idealen Konstruktion‹ ausrichten und endgültig anmessen. (An irgendeiner ›unbedingten metaphysischen, erkennt­ nistheoretischen oder auch transzendentalen) Ordnung‹.) Es bleibt wesentlich ein Philosophieren mit Blick auf unser In-der-Welt-Sein, auf uns endlichen Menschen zugehörige Lage. So kann man sagen es ist ein Philosophieren müssen aufgrund irritierten und perturbier­ ten So-in-der-Welt-Seins. Ein Philosophieren als existentielle SelbstSelbst-Herausforderung. Unentwegt aber trotzdem philosophisch nicht ›ausweglos‹. Diese Mensch zugehörige existentielle Bewegung, oder, je nach Perspektive, dieses ›bewegt-werden‹, dieses, so lange wir Da-sind, unterwegs-sein-müssen‘, (‚endlos weit getrieben von unsichtbarer Hand‘ (Witt und Heppner: ›Die Flut‹), rechtfertige auch, die sich immer wieder ‚von Anfang an‘ einführende Produktion philo­ Ich denke hier vor allem an die letzten Sätze des bekannten Logos-Aufsatzes: Es liege im Wesen der Philosophie, sich in »Sphären direkter Intention ((zu bewegen)), und es ist der größte Schritt, den unsere Zeit zu machen hat, zu erkennen, dass mit der im rechten Sinne philosophischen Intention, der phänomenologischen Wesenser­ fassung, ein endloses Arbeitsfeld sich auftut und eine Wissenschaft, die ohne alle indirekt symbolisierenden und mathematisierenden Methoden, ohne den Apparat der Schlüsse und Beweise, doch eine Fülle strengster und für alle weitere Philosophie entscheidender Erkenntnisse gewinnt.« (Logos. S 340) 644

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14.1. Kunst und Literatur als Gestalt und Gestaltung existentieller Reflexion

sophischer Literatur. Aus dieser Perspektive lasse sich festhalten, dass die uns (wie auch immer) ausrichtenden ›Vorstellungen‹ von Mythos, Kunst, Religion, auch des Philosophierens selbst (als Reflexion der Reflexionen), nicht bloße geschichtliche Zufälle wären. Welt-Haben und Selbst-Sein (als unsere wirkliche Wirklichkeit) gestalten sich als literarische und existenz-philosophische ›Reflexionen‹. Zu fragen bleibt für unser phänomenologisches Philosophieren immer, wie weit und sicher, Reflexionen (‚Symbole‘) der Kunst im Allgemeinen, der Literatur im Besonderen, existenzielles Philosophieren mit zu tragen, mit zu entfalten, das ist ›wirklich-sicher auszubilden‹ vermögen. Vor­ aussetzung dafür wäre, dass die ›Reflexionen‹ der Kunst und Literatur auch sich selbst als Reflexionen eines In-der-Welt-Seins einsehen; sich sogar als eigene und eigenartige Leistungen eines ›Philosophie­ rens‹ mitdenken. Das ist weder ›Missbrauch‹ von Kunst und Literatur; noch Destruktion philosophischer Gedanken. Etwa eine Verkennung ihrer wahren Intention, und des ästhetischen oder des philosophi­ schen Leistungsvermögens. Sondern gerade umgekehrt, ist es ein sich wieder besinnen auf ein ›Potential‹, das dem Kunst-Schaffen und dem Philosophieren von Anfang an wesentlich ist.645 Die Leistung der Reflexion irritiertem und perturbiertem Da-und-So-Sein. - Diese ›existentiellen Reflexionen der Kunst‹, der Literatur, vor allem der Lyrik, imponieren als ›starke‹ philosophische Reflexionen; und gerade so, als anthropologisch eigenständiges Leistungsvermögen, ordnen wir sie gleichwertig (nicht gleichartig) neben den Reflexionen der Wissenschaften und auch der Religionen.646 Und so werden ihnen phänomenologisch, für unser In-der-Welt-Sein können, müssen, 645 Auch bei Hermann Broch findet sich eine dazu vergleichbare Perspektive. Kunst­ werke stellten vor eine Wahrheit, die immer schon geahnt worden wäre. „›gut‹ Arbei­ ten muss in eine bestimmte Beziehung zum Erkenntnischarakter der Kunst gebracht werden können, zu jener Aufdeckung neuer Erkenntnisse und neuer Seh- und Anschauungsformen, die nicht nur den bildenden Künsten oder Dichtung, sondern darüber hinaus dem Gesamtgebiet des Künstlerischen den Charakter allgemeiner Erkenntnis verleiht. Denn immer handelt es sich, und dies selbst noch in der Musik, um die Darstellung einer inneren oder äußeren Welt, um eine Abbildung, von der als erstes Unmittelbarkeit und damit unbedingte Treue und Wahrhaftigkeit gefordert wird. (…) Immer handelt es sich darum, die innere oder äußere, ›zu zeigen, wie sie wirklich ist‹“. (Das Böse im Wertsystem der Kunst. (1933). In: Geist und Zeitgeist. Essays zur Kultur der Moderne. Frankfurt/M 1997. S 20 f.) 646 Dazu noch einmal Hermann Broch. »Und darin offenbart sich die Funktion des Wertsystems der Kunst neben der Funktion der übrigen Wertsysteme, sie hat den ungeheuren und beinahe magischen Vorteil, in jedem ihrer Akte jene Totalität nicht nur ahnen zu lassen, sondern widerzuspiegeln.« (1997. S 24)

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14. Epilog

dürfen, ausdrücklich existentiell tragende Bedeutung zugestanden. Wir haben sie sogar eingeführt als Mitgestaltung der Grundlegung und Entfaltung ›existenz-phänomenologischen Philosophieren‹. -

14.2. Selbst-Philosophieren so-weit wir selbst selbst-zuschauen vermögen. Existenz-phänomenologische Reflexionen behaupten wir als wirk­ lich wirkliches, als ein uns selbst mit umfassendes Philosophieren. Ein Philosophierens, das sich nicht mehr von vorneherein und wie selbstverständlich an neuzeitliche Wissenschaftsordnung bindet. Ein Selbstverständnis, das schon von den frühen Romantikern vorge­ bracht und ihrem besonderen (da und dort überzogenen) Anliegen entsprechend reflektiert worden war.647 – Philosophieren wird sich damit selbst zur Aufgabe. Als ernstnehmen der uns wirklich her­ ausfordernden (möglichen) Leistung ›existentieller Reflexion der Reflexionen‹. Abwegig? Anstößig? Absurd? Erkünstelt? Schauen wir auch hier noch einmal hin (und vorerst abschließend) auf uns selbst existenz-phänomenologisch Philosophierende. Auf uns als sich selbst irritiert und perturbiert wahrnehmendes, sich selbst erinnerndes, sich (immer so und so) erzählendes, sich auch nur so-verstehen-können­ des Da-und-So-Sein. Um Missverständnissen auch nicht geringsten Halt zu geben. Existenz-phänomenologisches Philosophieren ist als reflexive Reflexion der Reflexionen philosophische Reflexion; und bleibt es. Auch dort, wo es sich auf Vorstellungen, Perspektiven der Literatur, im Besonderen auf existentielle Muster der Lyrik einlässt; sich sogar, in gewisser Weise auch mit Blick auf Literaturwissenschaft und Poetik ›theoretisch‹ vergewissert; nie sich aber dabei ›existenzphilosophisch‹ aus den Augen verlierend. Das ist ein Philosophieren, das sich existentiell-ästhetisch ›formatiert‹ und so sich wirklich auf uns selbst (wir endliche Menschen) einstellt. Auf unser existentielles irritiert-sein und zugleich auf unser Potential radikal zu reflektieren. Und sich mit seinen existentiellen (reflexiven) Reflexionen selbst als ›Dasein‹ (gleichsam) immer schon ›wesentlich‹ voraus und zugleich doch immer als wirkliches So-in-der-Welt-Sein notwendig mit-dabei 647 Vgl. Walter Benjamin. Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. Herausgegeben von Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M 1973

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14.2. Selbst-Philosophieren so-weit wir selbst selbst-zu-schauen vermögen.

ist. - Setzen wir diese Eigenart, als Mensch unbedingt zugehörige ›zeitigende‹ wirkliche Gestaltung seiner wesentlichen Gestalt. Das ist wirklich ein ›existentielles Transzendieren‹. Die philosophische Erfahrung von sich selbst als Erfahrung von sich selbst. – Das geht über einen bloß streng-wissenschaftlich begriffenen abstrakten trans­ zendentalen Subjektbezug des Denkens hinaus; und darf auch nicht als lineare Ordnung der Aufklärung missverstanden werden. Die folge­ richtige Evolution der Reflexionsgeschichte: vom dunklen, irratona­ len Mythos, zu dem für sich selbst ›transparenten‹ Logos. Oder onto­ genetisch gewendet, von dem ›naiven kindlichen In-der-Welt-Sein‹ zu dem erwachsenen bei-sich-selbst-sein. Als sei damit neuzeitlich die Identität des ›homo sapiens‹, seine ›Natur‹, mit der wissenschaft­ lichen Aufklärung ›im Grunde‹ begriffen; die Reflexion des Menschen und des Menschseins mit sich selbst zu einem vernünftigen Abschluss gekommen.648 – Unser Schauen schauen, unsere Reflexion der Refle­ xionen führt uns in Wirklichkeit ein komplexes Bündel existentieller, willkürlicher und unwillkürlicher, rationaler, auch irrationaler Leis­ tungen unserer Selbst- und Weltkonstitution vor. Etwa beispielsweise (und ganz ungeordnet), gestalten, behaupten, sich selbst oder etwas, mehr oder weniger verstehen, sondieren, abstrahieren, missverste­ hen, missverstehen verstehen, träumen, glauben, lügen begreifen, oder auch konstruieren, irritiert-sein; usw. usf.; aber auch sich mühen um wahres, gutes , schönes; und philosophisch selbst-selbst-schauen, reflektieren; ästhetisch gestalten. Phänomenologische Reflexionen setzen den Menschen selbst, sein Selbst- und Welt-Verständnis, sein Selbst-Sein, seine dazugehörige Welt-Habe, seine Reflexionen und immer einschließlich der phänomenologischen Reflexion der Refle­ xionen selbst als existentielle Leistungen. Das ist sich als dieses breit ausgerichtete konstitutive Potential vorgestellt, eigenartig; erhebend und nicht nachlassend beunruhigend. Existentielle Möglichkeiten intentionaler Gestalt unseres wesentlich wirklichen, leibhaften Daund-So-Seins. Reflexion der Reflexionen von, wie Rilke uns nennt,

648 Schon bei Bernhard Groethuysen: »Die Dichtung übernimmt es, das menschliche Leben in seiner Wandelbarkeit zur Darstellung zu bringen, das Menschliche in der Vielfältigkeit seiner Gestaltungen dem Menschen zu vergegenwärtigen. Leben erzeugt hier Leben, nicht Erkenntnis.« Dass existenz-phänomenologische Reflexionen dabei nicht stehen bleiben können, ist offensichtlich. (Philosophische Anthropologie. Mün­ chen. Berlin 1928. S 207)

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den ›Schwindensten‹.649 Selbst-Sein-können und Welt-Haben-kön­ nen, das sind phänomenologisch die präsenten selbstbewussten Refle­ xionen meiner und unserer Geschichten. Zusammengefasst als meine ›wirkliche‹ Biographie im Horizont unserer Welt; etwa erinnert als diese und jene ›Geschichten (aus) meiner Familie‹, der ›Gesellschaft‹, des ›unseres Volkes‹, ›unserer Zeit‹. All diese Vorstellungen eines so oder so verfügen-könnens, aber auch ›verfügt-werdens‹ (mein, unser Schicksal), immer präsent als ein, mehr oder weniger, ›freier‹ Umgang mit meinen, unseren Geschichten. (Was denn sonst?) Einschließ­ lich jeweiligen Deutens und Bewertens; oder fiktiver Variationen (›was wäre gewesen wenn …‹).650 Zu dieser wirklichen Wirklichkeit gehören auch die zuerst und zumeist (wie) ›unwillkürlich ein-fallen­ den‹, oder unterschiedliche uns verdeckt scheinende ›Gestaltungen‹ (›Widerfahrnisse‹ also, oder ›Zufälle‹) unseres In-der-Welt-Seins. Dazu gehört das, was seit alters her als ›ein Schicksal-haben‹ zusam­ mengefasst (und damit aber auch schon verdunkelt) wird. Eingeführt als existentielle Variable. Man denke hier auch an das, schon in und mit der ›Grammatik‹ unserer Sprache eingeschriebene; und an all das, das als ›gedankenloses‹ Verhalten ›leibhaft‹ ohne weiteres gelebt wird. Präsent als unser In-der-Welt-Sein; unser So-Da-Sein in und mit willkürlich und unwillkürlich geordneten ›Geschichten‹.651 Mag Mensch es zuerst und zumeist bewusst haben oder nicht; es wollen oder nicht, wir sind als wesentlich wirkliches So-in-der-WeltSein sein, mit unserem Leben-leben, Leben-verstehen, oder mit ›privat gespiegelten‹ Geschichten, selbst noch mit Leben-scheitern in unsere Lebenswelt verstrickt; sind wortwörtlich als Da-und-So-Sein (auch als du, ich, wir) immer ›Geschichten reflektierend‹. – Diese korrelativ ›organisierten‹ Leistungen (Selbst-Sein und Welt-Haben), 649 ›Ein Mal/ jedes, nur ein Mal. Ein Mal und nichtmehr. Und wir auch/ ein Mal. Nie wieder. Aber dieses/ ein Mal gewesen zu sein, wenn auch nur ein Mal:/ irdisch gewesen zu sein, scheint nicht widerrufbar.‹ (Aus der Neunten Elegie) 650 Mensch könne, so verdichtet Günter Rager neurowissenschaftliche Positionen, auf Grund seiner wesentlich größeren Möglichkeiten des Gedächtnisses »verschiedene Gedächtnisinhalte zusammenfassen, vergleichen, kategorisieren, in die Vergangen­ heit zurückverfolgen und auch in die antizipierte Zukunft hinein ausdehnen. Wir entwickeln dabei ein autobiographische Gedächtnis, mit dem wir unsere eigenen Erlebnisse und Dispositionen miteinander verknüpfen.« (Mensch sein. Grundzüge einer interdisziplinären Anthropologie. Freiburg/München 2017. S 44) 651 Man denke hier beispielsweise, an Vorstellung und Technik der (sogenannten) ›Familienaufstellung‹. (Bert Hellinger). Die hintergründige Präsenz, die unwillkürli­ chen Auswirkungen der Familiengeschichten auf die Wirklichkeit eines Menschen.

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14.2. Selbst-Philosophieren so-weit wir selbst selbst-zu-schauen vermögen.

reflektieren sich selbst als sinnvoll zurecht gelegter ›Text‹; eine ›Zusammenstellung‹ die, bevor wir überhaupt Sinn konstruieren wollen, schon ›Sinn macht‹. Auch dann, wenn etwas als persönlich ›unverständlich‹, oder sogar als ›Unsinn‹ markiert werde. Also, auch wenn ich in da und dort, aus welchen Gründen auch immer, für mich keinen Sinn auszumachen im Stande wäre, (›das übersteigt wirklich meinen Horizont‹), bliebe es doch für mich (wie unwillkürlich) ›in unsere wirklich Welt‹ als wirkliche Möglichkeit eingefügt. Denken wir hier noch einmal an Traum und das Träumen; an, wie man sagt, verworrene, unsinnige, unverständliche Träume; oder an das, jeder ‚Logik‘, jeder theoretischen und praktischen Vernunft zu entbehren scheinende, Mensch einfach widerfahrene ›Schicksal‹; oder selbst schon, an den (wer kennt das nicht) ›Irrsinn eines Liebens‹. Gleich ob es uns vernünftig scheinen mag, selbst das Erleben von ›schriller Dissonanz‹ ist für Da-und-So-Sein sozusagen in der Ordnung wirkli­ cher Wirklichkeit; gilt für Welt-Haben können als selbst-verständlich. Ist, auch wenn man auf dieses und jenes, gut und gerne verzichten könnte, in wirkliches So-Da-Sein, gleichsam von Beginn an (sozu­ sagen) mit eingepreist. Auch sogenannte ‚irrationale Erfahrungen‘ (sinnlos scheinendes Leiden und Sterben)652 sind für uns wirkliche Wirklichkeiten und bleiben existentiell konstitutiv. Gleich unter wel­ che wissenschaftlichen Begriffe man sie zu bringen versuche. (Statis­ tische Berechnungen sind eines, unser wirkliches In-der-Welt-Sein ein anderes.) - Man könne sagen, das ›existenz-phänomenologisch‹ so in den Blick rücken unserer Reflexionen von ›Welt‹ und ›Selbst‹, ist selbst eine ›andere Geschichte‹. Philosophische Erzählungen über existentiell-konstitutive Möglichkeiten der Potentiale von uns Men­ schen (›die Bedingung unserer wirklichen Möglichkeiten‹); über die ›ontologischen‹ und ›anthropologischen‹ Leistungen dieser unserer ‚Geschichten‘; ‚abstrakte Texte‘, nichtsdestoweniger aber Geschichten, Geschichten über die konstitutiven Leistungen von ‚Geschichten‘. Phi­ losophische Geschichten über die letztmögliche Entfaltung unseres Welt-Haben und Selbst-Seins. Noch die (berechtigte) Frage nach der ›Geltungsdifferenz‹ unserer ›philosophischen Erzählungen‹ ist selbst eingeführt als ‚Geschichte‘ (geltungstheoretischer Suche). (Man betrachte einmal aus dieser Perspektive die Geistesgeschichte.) Die 652 ›Wer macht den Kindertod/aus grauem Brot, das hart wird, (…)/Mörder sind/ leicht einzusehen. Aber dies: den Tod,/den ganzen Tod, noch vor dem Leben so/sanft zu enthalten und nicht bös zu sein,/ist unbeschreiblich.‹ (Die vierte Elegie)

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14. Epilog

Reflexion der Reflexionen der ›Texte‹, die jede Erkenntnistheorie, jede Ontologie und Metaphysik, wie selbstverständlich voraussetzt. Sozu­ sagen die ›existentielle Grund-Form‹ die es für jede Praxis und jede philosophische und wissenschaftliche Theorie ›brauche‹. Hier rückt die ausdrücklich konstitutive Bedeutung (die ontologische Dignität) des Selbst-Selbst-Erzählens, des sich selbst selbst-erzählen-könnens, erzählen-müssens (schon um ‚werdend zu sein‘) in den phänomenolo­ gischen Blick. Das wirkliche Leben ist, wie man sagt, und wir erfahren es Tag für Tag, kein ›Wunschkonzert‹. Es kann letztendlich in keine abschließende mathematische, ontologische, erkenntnistheoretische Formel gepresst werden; es bleibt wortwörtlich ›unberechenbar‹. Selbst noch über diese Sinnlosigkeit, Irrsinn, oder sogar ›das Nichts‹ aber wisse man – vor allem philosophisch und literarisch – viel zu erzählen. Das alles meint nicht dieses alltägliche sich dieser oder jener ›Geschichte‹, also Begebenheit, Vorfall, Handlung; Widerfahrnis, (u. ä.), bei dieser oder jener Gelegenheit erinnern; oder irgendwie daran erinnert werden. Eben unter-anderem auch so mit der ›fest‹ vorgegebenen Wirklichkeit, der ›Faktizität‹ unseres So-Da-seins umgehen können; oder, wie man sagt, ›Geschichten‹ (›Stories‹) aus ›seinem Leben‹ mehr oder weniger ›genau‹ (nach)erzählen; wenn es beliebt erzählen können. Sondern das was wir als unsere Lebens­ welt, als mein So-in-der-Welt-Sein (auch uns für uns selbst) so als ›Geschichten‹ vorstellen, ist der selbstverständlich geltende, so konstituierte ›Sinngrund‹ SoDaSein. Der Zusammenhang (Form, Gestalt und Gestaltung) unserer (als ich, du, wir) gelebten wirkli­ chen Wirklichkeit. Der vorgestellte Zeit/Raum, von dem aus und innerhalb dem sich Welt-Haben und Selbst-Sein, als – je-meine und je-unsere – ›Geschichten‹, als unsere wirkliche und wesentliche Welt (als Textzusammenhang) zusammenstellen, ordnen, ereignen, als selbstverständlich gelebt werden. Und dennoch bleibt es exis­ tenz-phänomenologisch gelesen ein konstituieren der wirklichen Wirklichkeiten So-Da-und-in-der-Welt-Seins. Wir erfahren (trotz allem) diese Wirklichkeiten als unseren ›Kosmos‹. Dazu gehören nicht nur die, als ›die Wahrheit‹ historisch zusammengefassten Zeitgeschichten, (sondern schon Biographien als Suchbewegungen nach ›Wahrheit‹ in ›unserer Welt).653 Und auch diese und jene 653 Bei Gerhard Schulze so: »Die Biographie ist ein ästhetischer Konditionierungs­ vorgang. Es entstehen feste Assoziationen zwischen bestimmten Sinneseindrücken

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14.2. Selbst-Philosophieren so-weit wir selbst selbst-zu-schauen vermögen.

›irrational scheinenden Zusammenstellungen‹ von ›bloß fingierten‹ (‚erfundenen‘) Möglichkeiten So-Da-Sein-könnens. Etwa willkürlich scheinende (man sagt ›nur‹) Phantasien, Erfindungen, Gespinste. Etwa (phantastische) Novellen, Romane, Gedichte; überhaupt KunstWerke, einschließlich (und nicht zu vergessen) der Musik (auch so wird So-Da-Sein ›erzählt‹). Das sind phänomenologisch gefasst existentielle Reflexionen. Also nicht weniger wirkliche Gestaltungen der Gestalt unseres wesentlich wirklichen In-der-Welt-Seins. Selbst noch Erfahrungen von blanken Horror, Abgründigkeit, unfassbaren Grauen, grundloser Angst‚ Wahnsinn‘, (man denke beispielsweise an: Edgar Allan Poe; oder an H. P. Lovecraft) werden als Refle­ xionen der Reflexionen existenz-phänomenologisch reflektiert in wirklich mögliches So-in-der-Welt-Sein als ›konstitutive Geschich­ ten‹ eingerückt. Phänomenologisch sind es wirkliche Möglichkeiten der Reflexionen unseres Da-und-So-Seins.654 –Wir philosophieren nicht um wirkliche Menschen mit wirklicher Lebenswelt abstrakt erkenntnistheoretisch, ontologisch oder metaphysisch endgültig ein für alle Mal philosophisch zurecht zulegen. Im Sinne von es sei jetzt endgültig vollbracht! Als ob man wesentlich wirkliches So-Da-Sein überhaupt biologistisch oder idealistisch; oder auch theologisch auf einen Begriff bringen könne. Sondern es soll genügen uns immer wieder ‚von Anfang‘ an in unseren phänomenologischen Blick zu rücken. Wir, die hinschauen-können – auch das ist phänomenologisch schon beredt – auf uns selbst als irritiertes und perturbiertes So-inder-Welt-Sein. Sicher Hinschauen ohne unsere Reflexionen endgültig in festes, dogmatisch starres Prokrustesbett wissenschaftlich-aufge­ klärter Vernunft zu zwingen, zwingen zu können. Als ob man wirklich noch über wirkliches Menschsein als abstrakt gesetzte Wahrheit vom Schreibtisch des Philosophen aus noch befinden könne. Der Traum der Seins-Hirten, der Funktionäre der Menschheit ist ausgeträumt! – Diese Vorstellung von Philosophieren als endlos angelegtes Leis­ ten (als Suchbewegung) existentieller reflexiver Reflexion der Refle­ und ihren subjektiven Bedeutungen, die in einem ebenso strengen Sinne originell sind, wie dies für das Leben schlechthin gilt. Aufgeladen mit persönlichen Erfahrun­ gen, werden Sinneseindrücke zum Spiegel der eignen Vergangenheit, zauberhaft, bedrückend, melancholisch, schockierend, erregend, und manchmal alles auf einmal.« (Die Erlebnisgesellschaft Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt/New York 19934. S 120) 654 Vgl. Paul Ricoeur: »Wir machen Geschichte, und wir schreiben Geschichte, weil wir geschichtlich sind.« (2004). S 442

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xionen mag nicht jedermann zufriedenstellen.655 Es ist ein immer noch umlaufendes, beinahe rührendes Missverständnis, dass Philoso­ phieren dies leisten solle, oder gar Mensch glücklich zu machen habe. - Die ›philosophischen Moden‹ (man darf es so nennen) mögen sein, wie es diesen oder jenen ›modernen Denkern‹ auch immer in den Sinn kommen mag. Wir existenz-phänomenologisch Philosophierende schauen auch weiter selbst hin und unserem Hinschauen zu. Verunsi­ chert, Irritiert und Perturbiert. Und bleiben dabei streng bei uns selbst; leisten mit Blick auf uns (als mühsame Arbeitsphilosophie) reflexive Reflexion der Reflexionen. Nicht als Subjektivismus, Relativismus, Skeptizismus; als grundlose Konstruktion, etwa Resignation, Defätis­ mus, Nihilismus. (Als ob man mitten im Untergang des Abendlandes stünde!) Nicht einmal als Wendung gegen irgendeine philosophische, wissenschaftliche Tradition der Neuzeit wollen wir uns positionieren. Man würde das zurecht als Witz abtun können. Sondern so eröffne sich endlich die Möglichkeit eines umfassend wirklichen Welt- und Selbstverständnis; philosophisch letztmöglich unser Selbst-Sein und Welt-Haben zu reflektieren. Kurz, sich immer wieder einzulassen auf existentielle Reflexion der Reflexionen unseres wesentlich wirkli­ chen In-der-Welt-Seins. Das ist zugleich die praktisch konstitutive Ordnung der (nur letztmöglichen) Sinnstiftung phänomenologischen Philosophierens; sich-ordnen-können durch die Leistung der existen­ tiellen Reflexion der Reflexionen (der Reeflexionen). – Und noch einmal ein ›Frage-Zeichen‹. Wobei Fragen nicht die schlechteste Art ist, sich – vorläufig – aus existentiellen Diskurs zu verabschieden.656

655 Vielleicht auch mit Blick auf Albert Camus ›Sisyphos‹: »Ich verlasse Sisyphos am Fuße des Berges! Seine Last findet man immer wieder. Nur lehrt Sisyphos uns die größere Treue, die die Götter leugnet und die Steine wälzt. Auch er findet, daass alles gut ist. Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm weder unfruchtbar noch wertlos vor. Jedes Gran dieses Steins, jeder Splitter dieses durchnächtigten Berges bedeutet allein für ihn eine ganze Welt. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz ausfüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.« (Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. 1959. S 100) 656 Ernst Robert Curtius. (1984). S 388

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Der Gedanke Der Gedanke – anderthalb Meter reicht er, eine Dose Daten erschleicht er, aber sonst -? Zum Beispiel Schafzucht, ein Erdteil lebt davon, dann kommen die Ersatzstoffe und die Mufflons sind k. o. Ursache: Die asozialen Erfinder, besessene Retortenchefs – Fehltritte der Natur. Oder die Wissenschaft So eingleisig Ganz aus angelsächsischem Material. Oder die Essaywelt, einer webt den anderen ein unter Aufsicht der Gewerkschaft. ›Sie kann man nicht mehr ernst nehmen‹ – Gottseibeiuns – wunderbar! Aber Eines ist die Wirklichkeit der Götter, vielleicht aus trüben Quellen, aber wenn sie da ist, voll Erinnerung an Jene, denn Namen nenne ich nicht. (Gottfried Benn)

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Literatur

(Auswahl) Binswanger, Ludwig. Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins. Ausgewählte Werke. Band 2. Heidelberg 1993 – Vorträge und Aufsätze. Ausgewählte Werke. Band 3. Heidelberg 1994 – Der Mensch in der Psychiatrie. Ausgewählte Werke. Band 4. Heidelberg 1994 Blumenberg, Hans. Beschreibung des Menschen. Aus dem Nachlass herausge­ geben von Manfred Sommer. Frankfurt 2014 Buber, Martin. Das Problem des Menschen. Heidelberg 19714 Broch, Herrmann. Geist und Zeitgeist. Essays zur Kultur der Moderne. Her­ ausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Paul Michael Lützeler. Frankfurt/M 1997 Cassirer, Ernst. Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil. Das mythische Denken. Darmstadt 19949 Curtius, Ernst Robert. Kritische Essays zur europäischen Literatur. (1950) Frankfurt/M 1984 – Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Tübingen und Basel. 199311 Gehlen, Arnold. Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Frankfurt/M 2016 Gleixner, Wolfgang. Die transzendentale Phänomenologie als philosophische Grundlagenforschung. Vorarbeit zu einem phänomenologischen Positivis­ mus. Berlin 1986 – Krisis und Geltung. Probleme des Anfangs. Berlin 1999. – Reflexion und Verzweiflung. Essen 2003 – Bewusstsein und Existenz. Eine phänomenologische Studie. Berlin 2012 – Lebenswelt und Großstadt. Freiburg/München 2015 – Kranksein als existentielle Gestalt. Einleitung in eine phänomenologische Anthropologie. Baden Baden 2018 – Reflexion der Existenz. Einführung in phänomenologisches Philosophieren. Würzburg 2019 Henrich, Dieter. Die Philosophie im Prozess der Kultur. Frankfurt/M 2006 Husserl, Edmund. Gesammelte Werke aufgrund des Nachlasses, veröffentlich vom Husserl Archiv Den Haag ff. – Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge. Hua I – Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch. Hua. III. – Ideen …; zweites Buch. Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitu­ tion. Hua. IV.

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Literatur

– Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phäno­ menologie. Hua. VI. – Erste Philosophie (1923/24). Erster Teil. Kritische Ideengeschichte. Hua. VII. – Phänomenologische Psychologie. Vorlesungen Sommer 1925. Hua. IX. – Formale und transzendentale Logik. Hua. XVII. – Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Dritter Teil: 1929 – 1935. Hua. XV. – Aufsätze und Vorträge (1910 – 1921) Hua. XXV. – Aufsätze und Vorträge (1927 – 1937) Hua. XXVII. – Vorlesungen über Ethik und Wertlehre. 1908 – 1914) Hua. XXVIII – Anderweitige Veröffentlichungen: Philosophie als strenge Wissenschaft. (Logos I. 1910/11) Jaspers, Karl. Allgemeine Psychopathologie. Vierte völlig neu bearbeitete Auflage. Berlin und Heidelberg 1946 Kaufmann, Fritz. Das Reich des Schönen. Bausteine zu einer Philosophie der Kunst. Stuttgart 1960 Kracauer, Siegfried. Das Ornament der Masse. Frankfurt/M 1977 Kuhn, Helmut. Der Weg vom Bewusstsein zum Sein. Stuttgart 1981 Langer, Susanne K. Fühlen und Form. Eine Theorie der Kunst. Hamburg 2018 Merleau-Ponty, Maurice. Das Auge und der Geist. Philosophische Essays. Herausgegeben und übersetzt von Hans Werner Arndt. Hamburg 1984 Natorp, Paul. Philosophische Systematik. (1958) Hamburg 2000 Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Herausge­ geben von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. Darmstadt 1999 Pascal, Blaise. Über die Religion und über einige andere Gegenstände. (Pen­ sées). Übertragen und herausgegeben von Ewald Wasmuth. Darmstadt 19788 Ricoeur, Paul. Hermeneutik und Psychoanalyse. II. München 1974 – Gedächtnis. Geschichte. Vergessen. München 2004 – Zeit und Erzählung. Band III. Die erzählte Zeit. München 20072 Rilke, Rainer Maria. Duineser Elegien. Die Sonette an Orpheus. InselTaschenbuch 1974 Scheler, Max. Die Stellung des Menschen im Kosmos. Bonn Staiger, Emil. Grundbegriffe der Poetik. Zürich. Freiburg i. Br. 19688 – Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters. Untersuchungen zu Gedichten von Brentano, Goethe und Keller. München 1976 Spranger, Eduard. Erzieher zur Humanität. Gesammelte Schriften. XI. Heidel­ berg 1972 Wagner, Hans. Philosophie und Reflexion. München/Basel 19672 – Die Würde des Menschen. Würzburg 1992

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