Das Denken Martin Heideggers: Die grosse Wende der Philosophie 9783110823899, 9783110001525


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German Pages 102 [104] Year 1964

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Table of contents :
ERSTER TEIL. Die Einweisung in ein eigentliches Grunddenken
A. Die Verklammerung des Menschen mit sichzeigendem Seienden
B. Die Sprache als das den verstehenden Menschen und das übrige Seiende Überkommende
C. Die Sprache und die Epochalität des abendländischen Denkens
D. Sprache als das Zu-Hütende
ZWEITER TEIL. Die Epochen der abendländischen Metaphysik
A. Das Seiende als das von sich her Anwesende und im Schaffen zu Feiernde: Sprache des hohen Griechentums
B. Das Seiende als das Geschaffene und im Hören auf Autorität zu Hütende: Sprache des Mittelalters
C. Das Seiende als das dem Menschen Entgegenstehende und von ihm Anzugreifende: Sprache der Neuzeit
DRITTER TEIL. Der Weg zum Denken der Gegenwart und seine große Wende
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Das Denken Martin Heideggers: Die grosse Wende der Philosophie
 9783110823899, 9783110001525

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KANTHACK / DAS DENKEN MARTIN HEIDEGGERS

KATHARINA KANTHACK

DAS DENKEN MARTIN

HEIDEGGERS

DIE GROSSE WENDE DER PHILOSOPHIE

B E R L I N 1964 WALTER D E GRUYTER & CO. VORMALS G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG - J.GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG-GEORG R E I M E R - K A R L J. T R Ü B N E R - V E I T & COMP.

Veriagsarchiv

2., durchgesehene Auflage

© Archiv-Nummer 42 64 64/1

Printed In Germany. — Copyright 1959 by Walter de Gruyter & Co. — Alle Rechte dea Nadidrudks, der pholomechanischen Wiedergabe, der Obersetzung, der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, audi auszugsweise, vorbehalten. —

AUS DER VORREDE ZUR ERSTEN AUFLAGE Diese kleine Schrift ist in rein didaktischer Absicht geschrieben. Sie soll in möglichster Schlichtheit zu sagen versuchen, welchen Einbruch und welchen Umbruch das Denken Martin Heideggers für die Philosophie der Gegenwart bedeutet. Das große Frühwerk Martin Heideggers, die Schrift „Sein und Zeit", erschien in erster Auflage im Jahre 1927. In den folgenden Jahrzehnten sind diesem Buch zahlreiche unerhört dichte Abhandlungen hinzugefügt worden, ohne deren höchst genaue Sichtung der Sinn dieses Denkens nicht verstanden werden kann. Allen Mißverständnissen zum Trotz erweist sich das Ganze als ein bronzener Felsen, als etwas, das nicht zu umgehen ist. Das vorliegende Buch ist also für Menschen bestimmt, die zunächst einmal Hinweise auffangen möchten bezüglich einer der größten Schöpfungen ihrer eigenen Zeit. Das Grundanliegen dabei ist, zur unmittelbaren Kenntnisnahme jenes Werkes hinzuziehen. Für die Anlage des Ganzen wurde ein besonderer Modus gewählt. Es wird zunächst in einem vom Autor erwählten Ansatz versucht, eine Darstellung dessen zu geben, was zur Seinsweise des Menschen gehört. Dieses scheinbar „anthropologische" Philosophieren aber überwindet sich schnell und treibt — immer im Anschluß an das Werk Martin Heideggers — in die Bewegung eines eigentlichen Seinsdenkens hinein. Eine solche Bemühung kann nur gelingen, wenn mitbedacht wird, in welcher Weise jenes Denken sich mit der ihm voraufgehenden Philosophie auseinandersetzt. So mußte, wenigstens in einer andeutenden Überschau, aufgezeigt werden, wie Heidegger die Entfaltung der abendländischen Metaphysik sieht und deutet. In solcher notwendigen Einblendung von „Geschichtlichem", die im zweiten Teil erfolgt, hält sich das Buch sehr eng an Ausführungen Martin Heideggers und möchte hier fast nur „Darstellung" sein. Daß dennoch hier und da ein Faden um ein weniges ausgesponnen wird und vielleicht dieser oder jener Akzent gemildert

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oder verstärkt wird, mag der Kenner der Dinge verspüren. Es sei dazu betont, daß das Wagnis unternommen wird, gerade hinsichtlich der Deutung des mittelalterlichen Denkens einige Züge selbständig zu ergänzen. Ein weiterhin eingefügter kleiner Trakt bezieht sich auf das Vorgehen der neuzeitlichen „Erkenntnistheorie" und findet sich auf den Seiten 68—71. • Der dritte Teil des Buches holt das Dargelegte zusammen in dem Verweis auf die Gegenwart. Hier versucht der Autor seinerseits, das Denken Heideggers in seiner geschichtlichen Stellung zu sehen. Als schwierig zu lösen erwies sich die Frage, wieweit in einer Darstellung dieser Art auf Belegstellen hingewiesen werden kann. Bei den ersten Bewegungen des „Hineinziehens" in ein neues Denken, des „Auf-den-Weg-Bringens", ist dies noch nicht möglich. Liegt doch hier gerade die eigene Bemühung des Autors vor, in einer besonderen Weise zu „helfen". Hinsichtlich der weiteren Darlegungen werden Beleghinweise gegeben, die am Ende des Buches zusammengefaßt sind. Damit sollen die vorgelegten Ausführungen gesichert werden, damit sollen aber auch dem mit dem Werk Heideggers noch nicht vertrauten Leser gewisse Anleitungen zu dem selbständigen Studium dieses Schrifttums gegeben werden. Was dabei angeboten werden kann, ist dennoch nur von Heidegger an bestimmten Stellen besonders ausführlich und deutlich Gesagtes. Es würde sehr breiten Eaum erfordern, audi nur annähernd alle die Verwebungen und immer wieder sich findenden Neufassungen der Hauptgedanken in den Texten aufzuweisen. Dazu würde auch unsere eigene Darstellung bei weitem nicht genügend Anhaltspunkte beibringen. Handelt es sich doch für una nicht um eine Gesamterfassung des Werkes, sondern um einen knappen Griff nach dem Letztwesentlichen.

VORREDE ZUR ZWEITEN AUFLAGE Diese Darstellung ist von vielen Seiten her als das begrüßt worden, was sie einzig und allein sein wollte: die Wegweisung hin zu einem Werk, mit dem eine neue Art der Besinnung einsetzt. So wurde denn ein Zweitdruck notwendig. Zwischen den beiden Auflagen erschien mein Buch „Nicolai Hartmann und das Ende der Ontologie", das, als Erweiterung der VI

vorliegenden Einführung, zu zeigen versucht, daß es grundsätzlich unmöglich ist, eine Ontologie (Metaphysik) oder Erkenntnistheorie traditionellen Gepräges den anderen gegenüber als die „richtigere" herauszustellen. Damit zugleich ließ sich die Weise des Fragens, die mit Heidegger einsetzt, noch einmal scharf von früheren Denkeinstellungen abheben. Dies erschien und erscheint auch noch für eine weite Zukunft als eine dringende Aufgabe, weil in dem so unerhört umfangreichen Schrifttum über Heidegger auch da, wo es ernst zu nehmen ist, immer wieder Verschleierungen jenes Gegensatzes vorzufinden sind. Sie spielen sich auf die Weise ein, daß das Seinsdenken Heideggers irgendwie im Sinne früherer Metaphysik oder Ontologie gedeutet wird oder daß ein „Problemdenken" älterer Prägung in Gang gebracht wird, indem etwa nach dem „Ethischen" oder der „Erkenntnis" in isolierender Weise gefragt wird. Derartige Phänomene müßten, wenn es um das die Metaphysik unterwandernde Denken Heideggers geht, von ihrem „Anvertrautsein" her gefaßt und mit der Möglichkeit des Menschen in Verbindung gebracht werden, das übereignete Seinsverständnis zu hüten. Das aber könnte nur mit einem Verstehen geleistet werden, das sich sich selbst geschenkt weiß und nie die Verborgenheit künftiger Denkmöglichkeiten vergißt. Ich habe in meinem Buch „Vom Sinn der Selbsterkenntnis" versudht, hier einige Schritte zu vollziehen. Das vorliegende Bändchen war von vornherein von dem Bestreben getragen, die neue Weise des Fragens einsichtig zu machen. Es scheint mir auch heute noch genügend Warnzeichen zu enthalten, um den wirklich aufmerksamen Leser von früheren Denkhorizonten fortzudrängen. So wird es denn in dieser neuen Auflage in einer hier und da verbesserten, inhaltlich aber kaum veränderten Form angeboten.

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Die große Wende der Philosophie

G L I E D E R U N G ERSTER

TEIL

D i e E i n w e i s u n g in e i n e i g e n t l i c h e s denken

Grund1

A. Die Verklammerung des Menschen mit sichzeigendem Seienden B. Die Sprache als das den verstehenden Menschen und das übrige Seiende Überkommende C. Die Sprache und die Epochalität des abendländischen Denkens D. Sprache als das Zu-Hütende ·

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ZWEITER TEIL

Die E p o c h e n der Metaphysik

abendländischen 39

A. Das Seiende als das von sich her Anwesende und im Schaffen zu Feiernde: Sprache des hohen Griechentums 41 B. Das Seiende als das Geschaffene und im Hören auf Autorität zu Hütende: Sprache des Mittelalters 56 C. Das Seiende als das dem Menschen Entgegenstehende und von ihm Anzugreifende: Sprache der Neuzeit 61 DRITTER TEIL

Der Weg zum D e n k e n seine große Wende

VIII

der

Gegenwart

und 79

ERSTER

DIE

TEIL

EINWEISUNG IN EIN

EIGENTLICHES

GRUNDDENKEN A

DIE VERKLAMMERUNG DES MENSCHEN MIT SICHZEIGENDEM SEIENDEN Wir gehen, um die Bewegung des Denkens, auf die es uns ankommt, in Gang zu bringen, von einer schlichten Erfassung dessen aus, was unabdingbar den Menschen begleitet, wenn dieser da ist und sich selber vorfindet. Es wird dabei zunächst so aussehet, als sprächen wir nur Selbstverständliches aus. Aber vielleicht erweist sich, daß auf die einfache Wahrheit und Klarheit dieses Selbstverständlichen doch mit Nachdruck hingewiesen werden muß, damit nicht weiterhin noch Versäumnisse durchgezogen werden, die nur allzulange schon währen. Vielleicht unterließ es die Philosophie immer wieder, etwas zu benennen, etwas zu ihrem Ausgangspunkt zu machen, was ganz offen daliegt, und hinsichtlich dessen es doch an der eigentlichen Blickschärfe gefehlt hat. So scheint denn von der geläufigen Sicht her keineswegs etwas Besonderes ausgesprochen zu werden, wenn wir sagen, zum Wesen des Menschen gehöre es, daß sich ihm immer Seiendes zeige: etwa der Himmel, die Pflanzen, die Tiere, die Mitmenschen und noch Weiteres, jedenfalls aber auch sein eigener Körper. Ja, es zeigt sich ihm sogar das, was wir, uns der geläufigen Ausdrucksweise anpassend, seine „seelischen Zustände" nennen können. Der Mensdi muß also in irgendeiner Weise so aufgetan sein, so ausgespannt sein, daß dieses alles für ihn „aufscheinen" kann. Das Wort „Zeigen" oder „Aufscheinen" wird hier nicht nur in optischem Sinne genommen. Es meint auch, daß der Mensch 1 Kanthadc, Heidegger

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das „Sichzeigende" in der Weise etwa eines Hörens, Ertastens, Spürens, Fühlene auffangen kann. Es meint aber audi, daß sich ihm etwas darbietet als Traum oder sonstiges Phantasiertes oder Gedachtes. Wir braudien die Arten und Weisen, wie ein „Sichzeigen" verstanden werden kann, nicht im Einzelnen zu erfassen. Wir wollen nur, möge man ob dieser Selbstverständlichkeit auch die Achseln zucken, betonen, daß der Mensch ein Wesen ist, das immer für anderes Seiendes, und sei dieses auch nur ein » Gedanke", in der Weise eines Auffangens geöffnet ist, daß er eine Stelle ist, an der sich anderes Seiendes melden und aufgefaßt, festgehalten werden kann. Wir geben dem allen, was sich so „einstellt", den umgreifenden Namen „Seiendes", und zwar deshalb, weil wir immer von ihm sagen können „es ist". Dies können wir von dem Stern am Himmel sagen, den wir mit dem bloßen Auge oder dem Fernrohr erblicken, wir können es aber auch von dem Plan sagen, den jemand etwa zur Gestaltung eines Gebäudes entwirft. Dieser Plan ist, er ist nicht nicht. Was die Weise seines Seins ist, ist eine weitere Frage, die hier nicht gestellt werden soll. Daß sich dieses oder jenes Seiende, zum Beispiel ein Lichtstreifen, bei uns als einer Stelle des Auffangens melden kann, hat sicherlich zu tun mit unserer leiblichen Beschaffenheit. Aber auch dieser Leib muß sich bei dem, was wir eben „Stelle" genannt haben, ankündigen können, damit wir überhaupt Notiz von ihm nehmen können, über ihn sprechen können und über seine „Verbindung" mit jener „Offenständigkeit", als die sich der Mensch bezeichnen läßt, diese oder jene Meinung äußern können. Wir sind nicht imstande, den Menschen so zu denken, daß sich ihm nichts, aber audi gar nichts, zeigen würde, nicht einmal in der Weise des dumpfen Erfühltwerdens. Wir wüßten nicht, was er dann noch sein sollte. Er ist als die Stelle, an der sich etwas melden kann, niemals leer, isoliert und verlassen, so daß er als ein Wartender bezeichnet werden könnte. Die Stelle Mensch fängt vielmehr immer etwas auf, in ihre Offenheit geht stets etwas ein, sie ist niemals unbesetzt. Es gibt hier eine Urverwiesenheit, ein Urphänomen, demgegenüber die Frage, wie der Mensch denn an das sichzeigende Seiende „heran" komme, überflüssig ist, weil der 2

Mensch immer schon bei Sichmeldendem sein muß, damit jene Frage überhaupt gestellt werden kann. Das schlichte und doch nichtfortdenkbare Phänomen, mit dem wir umgehen, veranlaßt uns, zu sagen: zum Wesen des Menschen gehört es, daß sich ihm immer Seiendes zeigt. Bedenken wir diesen einfachen Satz mit Ernst, so sind wir genötigt, den Menschen als stets mit Seiendem verklammert zu denken. Wir geben diesem Wort „Verklammerung" hier den Sinn, der mit dem bisher Gesagten zusammenhängt. Verklammerung soll als die Weise verstanden werden, wie eine Stelle, der sich etwas zeigen kann und an der sich immer etwas zeigt, „verspannt" sein muß mit dem Sichzeigenden, und zwar in einer schlechthin ursprünglichen Weise. Es ist dabei nicht gemeint, daß immer „dieselben" Sachen und Menschen und Vorgänge und Gedanken so in der „Klammer" festgehalten werden, daß sie sich mit gleicher Deutlichkeit zeigen müssen. Das, was sich jeweils in einer gewissermaßen ausgezeichneten Weise meldet, kann mit einem anderen vertauscht werden. Ich gehe am Ufer des Teiches entlang. Dabei melden sich die Weiden und das Schilf, die Sumpfstellen und der weiße Sand, der Zaun und die Landungsbrücke deutlich und klar. Aber wenn davon nun auch dieses und jenes aus der Zone der lebhaften Sicht entschwindet, so hört es dennoch nicht völlig auf, sich zu zeigen. Es versinkt in eine gewisse Hintergründigkeit, eine Dumpfheit, aber es meldet sich auch weiter. Es zeigt sich als dem hell Aufleuchtenden „anhängend" und als etwas in diesem Anhängen Verweilendes. Es wird nicht plötzlich leer in der Umgebung dessen, was sich, deutlich zeigt, es bleibt etwas bei uns als „Sich-Meldendes". Fragen wir, wie weit dieses „Anhängende" reicht und was alles es umgreift, so müssen wir antworten, daß sich in uns — und gerade dies gehört zum tiefsten Wesen des Menschen als der Stelle der Offenständigkeit —, daß sich in uns immer die Ganzheit des Seienden meldet. Möge dieses „Sidunelden" auch „Säume" und „Fransen" anbieten, die wir nicht durchdringen können, die wir in einem tiefen Dämmer belassen müssen und nur in Prolongationen von dem uns Bekannten her gedanklich gleichsam durchschießen können: ein Sichmelden ist da. Es scheint etwas auf — wir haben gesagt, wie weit wir den Sinn solches Aufscheinens fassen — es scheint etwas auf, es bietet sich etwas an, es ist etwas 1*

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nicht fortwischbar, es begleitet uns immer etwas, was mit dieser unerhörten Weite zu tun hat. Es meldet sich also in uns etwas wie eine Allheit, die wir niemals umgehen können, so inständig wir uns auch nur der einen oder der anderen Erscheinung zuwenden mögen. Es gelingt nicht, gleichsam ringsherum um diese Erscheinung alles andere „abzubrechen", und wenn wir unsere „Aufmerksamkeit" noch so sehr „konzentrieren". Ja, daß wir gezwungen sind, sie, diese Aufmerksamkeit, hier und da und sehr häufig zu konzentrieren, dieses beweist, daß wir dabei immer schon von weitergespannten Räumen herkommen, und bei ernstem Bedenken werden wir anerkennen müssen, daß diese Spannweite die Ganzheit des Seienden meinend und irgendwie mitbezielend umfaßt. Nur, weil es so ist, können wir fragen, welches denn unsere eigene „Stellung im Kosmos" sei. Und wir fragen dieses, ob nun laut oder leise, immer. Wir fragen immer nach unserem Sinn in Bezug auf „das Ganze", auch dann, wenn wir meinen, diese Frage sei sinnlos. Von Sinnlosigkeit kann überhaupt nur geredet werden, wenn man schon im Raum der Sinnfrage steht. Wir kehren zu unserem ständig durchgezogenen Grundaufweis zurück: der Mensch sei eine Stelle des Offenstehens, eine Stelle, an der sich „Seiendes" melden könne, sei es für seine „Sinne", sei es für andere Weisen der Offenständigkeit. Der Schritt voran, den wir in unseren letzten Zeilen gemacht haben, führte zu der Einsicht, daß stets ungemein vieles in das, was wir die „Verklammerung" des auffangenden Menschen mit dem Sichzeigenden nannten, hineingerät, daß der Mensch sogar immer in der Verklammerung mit dem „Ganzen" wohnt, lebt, sich aufhält, und niemals aus ihr entweichen kann, solange er da ist. Es scheint also, daß man einen sehr einfachen, aber doch ganz fundierenden Wesenszug des Menschen unterschlägt, wenn man Deutungen seiner versucht wie etwa die, er sei das „animal rationale" oder der „homo religiosus" oder ein aus dem Tierreich erwachsenes, zu komplizierter Werkzeugschaffung befähigtes Wesen. Sicherlich würde man uns von allen diesen Deutungen her zustimmen, daß der Mensch immer in der oben erwähnten Weise mit anderem Seienden „zusammentrifft". Man würde nur vielleicht 4

meinen, das sei von vornherein vorauszusetzen und brauche nicht besonders erwähnt zu werden. Hier aber müssen wir Einspruch erheben und fordern, daß, wenn die Frage nach dem Wesen des Menschen gestellt wird, nach der Weise seines Seins, daß dann etwas so Urtümliches wie sein stetes Auffangen von Sichzeigendem in Ganzheit höchst nachdrücklich betont werden muß. Er, dieser Mensch, wäre nur als ein Torso erfaßt, wollte man ihn aus der „Verklammerung" herausreißen. Sie gehört mit zu ihm und begleitet ihn bis zu seinem Tode. Mit diesem Tode allerdings erlischt die Verklammerung. Damit vergeht etwas, entfällt etwas, was einzigartig war. Seiendes — die Meere, die Berge, die hochragenden Gebäude, die Raubtiere, die Kinder, der Ablauf der Menschengeschichte, die Ordnungen der Staaten — dieses alles und Unzähliges mehr kann sich dann niemals wieder genau so zeigen, wie es dies für den jetzt Gestorbenen während seines Lebens tat. Das Seiende gerät also, wenn ein bestimmter Mensch als der Auffangende mit ihm zusammen da ist, in eine unwiederholbare Verklammerung. Wir können demnach den Ansatz, den wir hinsichtlich der Seinsweise des Menschen gemacht haben, so erweitern, daß wir sagen: zum Wesen des Menschen gehört es, daß sich ihm das Seiende in seiner Ganzheit, wenn auch in den verschiedensten Graden der Deutlichkeit, in je-einzigartiger Weise zeigt. Zur Vermeidung dessen, daß unsere so schlichten Darlegungen doch mißverstanden werden, sei eingefügt, daß natürlich mehrere Menschen sagen können, sie sehen „denselben" Baum, der da draußen im Garten steht. Sie können sogar die „Selbigkeit" des Baumes zu fassen versuchen, indem jeder von ihnen zum Beispiel von sich aus die Länge des Baumes mißt, und indem nun die Maßergebnisse verglichen werdeii. Dabei ist allerdings die Voraussetzung notwendig, daß man sich auf dieselben Maßmethoden einigt. Aber das, was sich so als die gemessene Eigenschaft, die gemessene Länge des Baumes, ergibt, hebt sich wie eine nachträglich entdeckte dünne Strähne, wie eine eigentümliche Auslaugung hervor aus einer überquellenden und viel ursprünglicheren Fülle von Möglichkeiten, in denen der Baum sich zeigen kann und in einer einzigartigen Weise immer schon gezeigt hat, bevor mit dem Messen begonnen werden kann.

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Nehmen wir an, daß drei Menschen den Baum betrachten. Er, dieser Baum, der unbefangen angesehen wird, zeigt sich einmal in verschiedener „Perspektive". Es können sich ferner seine „sinnlichen Eigenschaften" je nach der „Organausstattung" des Betrachters verschieden darbieten. Aber die entscheidende Andersartigkeit, in der der Baum für den einen oder den anderen jener Menschen da ist, ist noch in Weiterem zu fassen. Es muß dazu, an unseren Hinweis erinnert werden, daß sich keinem Menschen nur der eine Baum als ein völlig für sich bestehendes Etwas zeigen kann, sondern daß an diesem Baume unvermeidlich und unwegwischbar anderes „hängt": der Garten, das Haus, die Mitmenschen, die das Haus bewohnen, die Straße, die Stadt, ja, die Ganzheit des Seienden und sogar die Dimension des Göttlichen, möge dieses nun anerkannt oder geleugnet werden. Die Weise aber, wie der Baum eingefügt ist in solche Zusammenhänge, ist für jeden der drei Betrachter eine andere, und von dieser Andersheit her ist das „Sichzeigen" des Baumes unweigerlich eingefärbt. Vielleicht will der eine von diesen Menschen den Baum auf einem Gemälde unterbringen und sieht ihn so von der Seite seiner „Motivhaftigkeit" her. Vielleicht mißt ihn, den Baum, der andere mit dem Blick dessen, der gerne seine körperlichen Kräfte erprobt und der immer die Axt zu schwingen glaubt, um gerade diesen gewaltigen Stamm niederzulegen. Er sieht den Baum als etwas mit höchster Anstrengung, aber auch sportlicher Freude zu Fällendes. Ein Dritter, ein Mensch, der nur selten einen Pinsel zur Hand genommen hat und der um Sportplätze einen weiten Bogen zu machen pflegt, mag in den sich tief zum Boden beugenden Ästen des Baumes etwas wie eine Schutzhülle erblicken, ein Bergendes, wie er, dieser Mensch, der zart gebaut ist, es sich immer wieder ersehnt. Er mag den Baum lieben, wie man einen Beschützer liebt. Es wäre zu kurz gedacht, wenn man hier sagen wollte, da sei eben ein Baum, eine von der Botanik so und so zu kennzeichnende Pflanze. Er, dieser Baum, stände in sich da als etwas Dinghaftes mit bestimmten, ein für allemal zu ihm gehörenden Eigenschaften. Er könne allerdings von mannigfachen menschlichen Gefühlsregungen umkreist werden. Aber das sei „äußerliche" Zutat und habe mit dem Sein des Baumes überhaupt nichts zu tun. 6

Solcher Behauptung gegenüber muß gesagt werden, daß sie unter allen Umständen eines voraussetzt: nämlich das Sichzeigen des Baumes oder irgendeines anderen Seienden. Sie, diese Behauptung, setzt sogar nicht nur das Sichzeigen überhaupt voraus, sondern setzt auch voraus, daß sich der Baum als ein Zu-Malender, Zu-Fällender oder ein Schutzgewährender zeigen konnte. Nur an diesem Sichzeigenden kann dann in einem aufteilenden Verfahren „Subjektives" und „Objektives" unterschieden werden. Die Denkbewegung, in die wir immer wieder hineinziehen möchten, will auch hier wiederum auf etwas ganz Frühes, aber auch ganz Selbstverständliches verweisen. Wir können sie auch im Sinne des Negativen vortreiben und sagen: wenn nie der Baum oder ein anderes Seiendes sich in frühester Frühe des Aufscheinens als ein Zu-Malendes gezeigt hätte, einem Menschen als solches gezeigt hätte, dann könnte dieser Mensch sich seines Maltalentes nie bewußt werden und darüber als über seine „subjektive Fähigkeit" reflektieren. Man wird sagen können: der Mensch bedarf des Baumes oder irgendeines anderen malwürdigen Seienden, damit ihm seine Malfähigkeit aufleuchte und sich „in Gang setzen" kann. Man wird aber auch sagen müssen: der Baum bedarf des Menschen. Denn er muß ja die Möglichkeit haben, als ein Malwürdiges aufzuscheinen. Die Stelle aber, an der dieses allein geschehen kann, ist der Mensch als der Offenständige, der in bestimmter Weise „begabt" ist. Und man kann schließlich sagen: der Sinn von Malbarkeit bedarf, um überhaupt da zu sein, um überhaupt in Erscheinung treten zu können, um überhaupt gegeben sein zu können, sowohl des Baumes als auch des Menschen. Gäbe es nicht ein malwürdiges Seiendes und einen malfähigen Menschen, so könnte sich die Sinndimension des „Malerischen" gar nicht entfalten. Dieser Sinn kann nur aufscheinen in einer bestimmten Verklammerung, ja, er ist eine besondere Weise von Verklammerung. Er ist gleichsam das, was den Menschen und den Baum zusammenzuflechten vermag. Er ist dieses so ursprünglich und so grundwesentlich, daß es ungemäß ist, irgendwie von einer Isolation oder Getrenntheit der „Verklammerten" zu sprechen. Das, was es hier gibt, läßt sich nicht als eine „Beziehung" fassen, wie wir sie im nichtmenschlichen Seienden „konstatieren" können. Jede solche „Beziehung", die ja einen Sinnzusammenhang meint, wird vielmehr erst durch die 7

„Verklammerung" gestiftet. So, wie der Sinn „Malbarkeit" aufscheinen konnte, so konnte dies auch der Sinn „Fällbarkeit" oder „Schützbarkeit" tun, ja auch schließlich der Sinn „Meßbarkeit". Dieser letztere wird bei dem Maler, von dem wir sprachen, als ein völlig Nebensächliches vorhanden sein und ebenso bei unseren beiden anderen zunächst erwähnten Betrachtern. Es wird ein ihnen gegenüber anders gearteter Mensch sein, der auf die Identifizierbarkeit des Baumes mit Hilfe von Meßbarkeit Wert legt, der also mit dem Seienden wesentlich durch „Meßbarkeit" verklammert ist, den gerade „diese Beschaffenheit" des Baumes „interessiert". Es könnte allerdings sein — wir werden auf diese Frage noch zu sprechen kommen —, daß in den „Verklammerungen" ganzer Epochen bestimmte Seiten des Seienden besonders angeleuchtet werden, also fast alle dieser Epoche zugehörigen Menschen besonders „interessieren". In der Verklammerung etwa, die das Wesen des griechischen Menschen ausmachte, spielt „Meßbarkeit" kaum eine Rolle. Wir sind ein wenig kühn vorgestoßen, haben vielleicht für manchen Leser ein wenig zu schnell gedacht. Deshalb versuchen wir einen neuen Anlauf. Unser Ausgang bleibt dabei der bisherige. Wir formulieren ihn jetzt nur als die Frage, ob jemals hätte gesagt werden können, was und wie das Seiende eigentlich sei, wenn dieses sich nicht gezeigt hätte, und zwar immer in bestimmter Weise. Und wir werfen dabei einen Blick auf gewisse Aussagen, die die Philosophie über das Wesen des Seienden zu machen versucht hat. So sei ein Problem aufgegriffen, das Jahrhunderte des abendländischen Denkens durchtönt hat, die Frage nämlich, ob die Mannigfaltigkeit der Naturdinge, des Physischen, auch dann noch vorhanden wäre, und zwar dauernd, in einem unendlichen Zeitverlauf, vorhanden wäre, wenn sie, diese Mannigfaltigkeit, nicht vom menschlichem Vorstellen erfaßt würde. Man hat die dieses bejahende Lehre Realismus genannt. Die Philosophie aber hat hier durchaus nicht immer bejaht. Sie hat vielmehr zu gewissen Zeiten gemeint, das Körperlich-Wirkliche sei nur solange vorhanden, wie es „vom Menschen vorgestellt" würde. Solche Behauptung suchte sich auf das Phänomen des Traumes zu stützen und von daher zu sagen, daß der Mensch ja im Traume ein volles „Realitätserlebnis" haben könne, während doch nur „Vorstellungen" „in ihm" abliefen. Von dieser Möglichkeit des Menschen her 8

hielt man die Frage für berechtigt, ob nicht die „Wachwelt" audi nur eine, wenn auch ausgezeichnete, Vorstellungswelt, und zwar genau nur Vorstellungswelt wäre. So konnte etwa der englische Denker George Berkeley im 18. Jahrhundert behaupten, die Außenwelt, das Körperliche, sei nirgend anderswo als in der Weise von Vorstellungen, von „Ideen", im menschlichen Geiste vorhanden (Erkenntnistheoretischer Idealismus). Wir müssen auch hier wieder sagen: Seiendes mußte zunächst zum Aufscheinen kommen, was nur für einen Menschen geschehen konnte, damit nun eine realistische oder eine idealistische These ausgesprochen werden konnte. Damit ist gesagt, daß der Mensch nie als ein Isolierter zu denken ist, ein Isolierter in dem Sinne, daß Seiendes erst nachträglich „zu ihm" oder gar „in ihn hinein" kommen könnte. Er ist immer nur in der Verklammerung, d. h., Seiendes ist immer schon mit ihm als das Sichzeigende. Dieses scheint einmal der These des Realismus entgegenzukommen und entspricht ihr dennoch nicht, denn es wird damit keineswegs schon behauptet, daß das Seiende „außerhalb" des Menschen dauernd vorhanden sei. Andererseits könnte man die „Verklammerung" an die idealistische Theorie heranzuziehen versuchen. Aber auch dieses wäre verfehlt, denn das ursprüngliche Phänomen weist keineswegs aus, daß das Sichzeigende nur „im Bewußtsein" vorhanden ist. Der „erkenntnistheoretische" Realismus und der „erkenntnistheoretische" Idealismus sind vielmehr Auslegungen, die nur auf Grund eines ursprünglichen Aufscheinens des Seienden gegeben werden können. Hätte sich Seiendes niemals dem Menschen gezeigt, dann könnte weder behauptet werden, es sei als ein Dauerndes außerhalb des Menschen da, noch könnte gesagt werden, es sei nur „im" Menschen vorgestellt. Und was als das Entscheidende bedacht werden muß, das ist dieser Boden, diese Quelle, diese "Wurzel, von denen her jede weitere Ausdeutung erst möglich sein kann: das Aufscheinen als solches, jenes Aufscheinen, das nur möglich ist als die Verklammerung. Wir bedenken noch weitere Theorien, die in der Philosophie angeboten worden sind. Man konnte „realistisch" denken und dabei meinen, die Dinge seien zwar außerhalb von uns vorhanden, aber sie wären ohne

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uns nicht genau so beschaffen, wie sie sich uns zeigten; gewisse Eigenschaften teilten sich ihnen vielmehr erst durch unsere Auffassungsweise und also nur für uns zu. So entstünde etwa das Rot der Rose erst dann, wenn Wellenvorgänge, die die Physik ansetzt, auf ein Auge und einen weiteren optischen Sinnesapparat träfen. Jenseits vom Menschen und ohne ihn wären nur jene Wellen da, das Rot aber empfinge die Rose durch den Menschen. Es leuchtet wohl ein, daß man so die Gegenstände in sehr wechselndem Maße „auslaugen" konnte in dem Sinne, daß man ihnen diese oder jene Züge absprach und sie, diese Züge, erst durch den Menschen entstehen ließ. „Entscheidungsdefinitheit" gab es diesen Möglichkeiten gegenüber nicht. Der philosophierende Mensch konnte weiter fragen, welche Region, welche Schicht des Seienden die bestimmende sei, von der her alles andere Seiende zu verstehen sei, deren Eigenart also die allgemeinsten Züge für das Seiende überhaupt liefere oder die als das Begründende für alles andere Seiende anzusetzen sei. So konnte von bestimmten „Strömungen" her die Materie als jene ausgezeichnete Grundschicht angesehen werden, und es konnte gesagt werden, alles Seiende, audi der Mensch, sei nichts als Materie (Materialistische Metaphysik). Es konnte abe:f auch jenen Erscheinungen der erste Rang zuerkannt werden, die als besondere bei den Lebewesen, den Organismen, aufzutreten scheinen. Dann hat man gesagt, alles Seiende sei Leben und sei damit ein eigentümliches Streben nach gestalthaften Ganzheiten, so, wie die Pflanze, das Tier, der menschliche Leib sich in einer bestimmten Gestalthaftigkeit zu halten vermögen. (Universeller Vitalismus oder Morphologismus.) Er, der philosophierende Mensch, konnte aber auch alle Körperlichkeit für bloßen Schein erklären und ein von aller Ausdehnung, aller Schwere, allen sinnlich feststellbaren Eigenschaften freies „rein geistiges" „Substanzprinzip" oder „Aktualitätsprinzip" erdenken, dem die eigentliche Wirklichkeit zugesprochen wurde. (Spiritualismus.) Man konnte weiter zwei „Schichten" als die maßgebenden ansetzen, etwa den Geist und die Materie, ja sogar drei oder vier oder noch mehr voneinander zu unterscheidende Regionen des Seienden benennen. Bei solchen Deutungen waren schon immer verschiedene Weisen des Geschehens im oder am Seienden mitverstanden, Weisen, die jeweils als die entscheidenden bezeichnet wurden. Es wurde auch 10

immer eine je-passende Deutung dessen angeboten, was der Körper des Menschen und die „Seele" des Menschen und das Verhältnis beider zueinander seien. Philosophie konnte noch weiter nach einem Urgrund alles Seienden fragen und als diesen ein Seiendes jenseits von den Weiten des Kosmos ansetzen. Es sei erwähnt, daß hier vom „Gott der Philosophen" und nicht von dem, was Gott in tiefstem Sinne für den Menschen sein kann, die Rede ist. Die Philosophie konnte also von einem „transzendenten" Gott sprechen. Sie konnte diesen Gott aber auch leugnen und sich mit dem Geist als einem letzten „immanenten" Seienden begnügen. Zu gewissen Zeiten konnte dann wieder in der Philosophie ein Durchbruch zur Nüchternheit erfolgen. Ansätze wie die eben angeführten konnten als „spekulativ" und phantastisch verworfen werden, und man konnte sagen, man dürfe sich nur an das „Erfahrbare" halten und dieses keinesfalls durch weitere Konzeptionen „ergänzen". Auch dieser Standpunkt aber erwies sich als ein „dogmatischer", denn über die Frage, was denn nun eigentlich das letztlich in der Erfahrung Gegebene sei, gingen die Meinungen sofort auseinander. Es wurde etwa strittig, ob das Gegebene etwas aus „Empfindungsatoraen" Bestehendes sei oder ob es schon eine gestalthafte Prägung aufwiese, so daß sich hier die oben erwähnten Kontroversen gleichsam auf einer Vordergrundebene wiederholten. Wir führten eine Reihe von „Standpunkten" der bisherigen Philosophie an und kommen nun auf unseren alten und schon aufdringlich werdenden Satz zurück: Nichts von alledem hätte je gedacht werden können, wenn sich nicht Seiendes hätte zeigen können, wenn nicht die Möglichkeit seines Aufscheinens bestanden hätte. Diese Möglichkeit aber umschließt das Dasein des Menschen. Nur beim Menschen kann das Seiende sich melden, nur ihm kann es gezeigt werden, damit auch nur die einfachste der eben benannten Sinngebungen „aufblühen", entstehen kann. Nun kann der Mensch sich selber in Bescheidenheit für ein verschwindendes Nichts erklären, für ein Wesen, das ein lächerlicher Bruchteil im ganzen ungeheuren Kosmos ist, dem Kosmos, der Jahrmillionen hindurch besteht. Aber auch dieses könnte nie gesagt werden, und die Jahrmillionen könnten nie genannt und bedacht werden, von der Konstanz 11

des Seienden könnte also nie gesprochen werden, könnte nicht das Geringste „gewußt" werden, wenn nicht Seiendes aufgeschienen wäre, was es so, wie es von unseren Darlegungen her gemeint wird, nur für den Menschen tun kann. Der Zeitraum dieses „Sichzeigens" aber umfaßt nicht Millionen von Jahren, sondern er umfaßt je ein Menschenleben, spannt sich aus mit diesem Menschenleben und erlischt mit ihm. Dieses Sichausspannnen aber ist der Wurzelboden für jegliche Aussage über das Seiende, auch etwa darüber, daß es dauernd außerhalb des Menschen vorhanden sei. Wir kommen jetzt auf das zurück, was oben, als wir von den drei Betrachtern des Baumes sprachen, über den Sinn von „Malbarkeit" gesagt wurde. Dieser Sinn könne sich nur entfalten, meinten wir, wenn sowohl das „Malwürdige" wie das „Malfähige" aufschienen. Wir könnten auch von dem robusteren Betrachter ausgehen und sagen, „Fällbarkeit" oder vielleicht „physische Angreifbarkeit" kann nur ins Sein treten, wenn eine bestimmte Seite des Seienden und ein bestimmter Mensch da sind. Für unseren dritten Betrachter müßten wir den Sinn von „Schutzhaftigkeit" ansetzen. Es handelte sich hier, bei dem Baum, um ein Einzelphänomen. Allerdings müssen wir mit dem Wort „das Einzelne" oder das „Isolierte" vorsichtig sein, denn wir erinnern uns, daß der Baum, indem er sich zeigte, außerordentlich vieles mit sich brachte, ja, daß er sogar die Ganzheit des Seienden überhaupt hinter sich herzog oder um sich herum „versammelte". Man wird also sagen müssen, daß die „Malbarkeit" oder die „Fällbarkeit" oder die „Schutzhaftigkeit" jedesmal in das eingeflochten sind, was da als Ganzheitssinn sich anbietet. Von hier aus aber können wir jetzt hinüberblicken zu den philosophischen Standpunkten, die wir erwähnt haben. Auch sie stellen immer bestimmte Sinn- und Bedeutungszusammenhänge vor, und zwar solche, die sich über alles Seiende hin ausdehnen. Diese Weite und Ausdehnung wird hier bewußt ausgesprochen. So gibt es den Sinn „Materialität", „Vitalität", „Geisthaftigkeit, Realität, Idealität", ja, sogar den Sinn „Sinnlosigkeit des Ganzen". Solcher „Sinn" verfügt gleichsam über das Seiende, indem er es in bestimmter Weise akzentuiert. Er läßt einzelne Züge dieses Seienden als die maßgebenden hervortreten, als diejenigen, von 12

denen her alles andere gedeutet wird. Er ist je eine Weise, wie das Seiende zusammengeordnet, zusammengelegt und miteinander verfugt werden kann. Es kann nun der Versuch unternommen werden, jene philosophischen Artikulationen mit den soviel schlichteren Bedeutungszusammenhängen, Jie wir als „Malbarkeit", „Fällbarkeit", „Schutzhaftigkeit" bezeichnet hatten, zusammenzubringen. Dabei könnte sich zeigen lassen, daß im Grunde in jenem „schlichten" Deuten immer schon ein philosophischer Sinn steckt, wenn er audi noch nicht explizit als ein solcher bekannt ist. Die „Malbarkeit" kann in den Gesamtsinn „Geistgetragenheit" oder „Geistdurchtöntheit" des Seienden eingeordnet sein, die „Fällbarkeit" vielleicht in den Sinn der „Materialität" oder der „Vitalität". Fragen wir aber, in welcher Weise ein solcher Bedeutungszusammenhang überhaupt „ankommen" kann, so müssen wir immer wieder antworten: dieses kann nur so geschehen, daß der Mensch in Verklammerung mit dem Seienden ankommt. Eine Urverschränkung muß auftauchen. Beides muß sein: der für ein Sichzeigendes geöffnete Mensch und das Sichzeigende, damit je etwas über die Dinge und die Welt wie audi Über den Menschen selber ausgesagt werden kann. Solche Urverschränkung scheint auf und erlischt, denn der Mensch muß sterben. Dann kann Verschränkung sich möglicherweise an einem neuen Menschen „festmachen". Wir können ebenso sagen: ein neuer Mensch kann vielleicht da sein mit neu sich Zeigendem. Ob er da sein wird, kann niemand mit Sicherheit prophezeien. Aber wenn er nicht auftaucht, so kann es keine Deutung des Seienden mehr geben. Für das Gemeinte bieten sich Worte an wie „Enthüllung" des Seienden, „Hellwerden" des Seienden, „Entbergung" des Seienden. Alle diese Worte umfangen den geöffneten Menschen schon mit: er ist es, in dem und in dem allein Solches Enthülltwerden, Hellwerden, Entborgenwerden „Platz greifen" kann. Mit seinem Wesen hängt es aber auch zusammen, daß jenes Aufscheinen immer ein sinndurchtöntes ist. Der Mensch ist das Seiende, an dem der Sinn des Ganzen jeweils und bei jedem Aufscheinen „eingehängt" werden kann, das Seiende, das allein mit so etwas wie Sinndeutung betraut werden kann. 13

Wir betonen noch einmal, daß wir nicht, mit dem erkenntnistheoretischen Idealismus, sagen, das Seiende sei nur im Menschen vorgestellt und nicht real „außerhalb seiner". Wir sagen aber auch nicht mit einer bestimmten Spielart des Positivismus, daß wir uns solchen Aussagen gegenüber neutral verhalten wollen. Wir benennen immer noch einmal das „Aufscheinenmüssen" als das Früheste, als das, was da sein muß, damit irgendeine realistische oder idealistische, aber auch neutrale Aussage gemacht werden kann. Wir können uns auch der Entscheidung für Realismus oder Idealismus erst dann und nur dann entziehen, wenn Seiendes sich gemeldet hat. Es muß sich überhaupt erst der Raum auftun, innerhalb dessen Entscheidungslosigkeit im hier gemeinten Sinne walten kann. Β DIE SPRACHE ALS DAS DEN VERSTEHENDEN MENSCHEN UND DAS ÜBRIGE SEIENDE ÜBERKOMMENDE Unser Gedankengang setze noch einmal bei dem Baum an, der von drei Beschauern erfaßt werden kann. Es wurde im bisherigen versucht, das Denken unseres Lesers von späteren Ergrübelungen und theoretisierenden Festlegungen dessen, was der sichzeigende Baum eigentlich sei, fortzuziehen und auf die hier stattfindende Urerfahrung zu verweisen. In dieser Urerfahrung ist der Baum keineswegs etwas „Neutrales", etwa nur aus „Empfindungen" Bestehendes, sondern er ist eine Gesamtgestalt, die in mannigfacher Weise mit anderem Sichzeigenden verwoben ist und die sich etwa dem Malfreudigen in einer noch besonders getönten Weise zeigt, nämlich unter dem Vorzeichen der Malbarkeit. Nur weil solches frühe Aufscheinen da ist, kann der Malfreudige, dem sich nicht nur der Baum so anbietet, sondern auch die Wiese und das Meer, das Gesicht des anderen begegnenden Menschen, ja, auch das Spiel der Schatten auf seinem Wege, kann jener Malfreudige sich eines Tages darüber klar werden, kann er deutlich zu sich selber sagen: „Ich muß malen, sonst sehe ich den Sinn meines Daseins auf dieser Welt nicht ein." Und dann erst und damit kann er zu dem Bewußtsein kommen, daß er wohl im besonderen Maße malbegabt sei. An Hand des Baumes oder etwa

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an Hand irgend eines geglückten oder sogar mißglückten Kunstwerkes, das ihm begegnet, für ihn aufscheint, faßt er, dieser Mensch, sich erst in seinem Können. Damit er sich darin aber fassen kann, muß über das Seiende der Schimmer der Malbarkeit gebreitet worden sein. Seiendes muß die Möglichkeit des Gemaltwerdenkönnens an sich tragen, in diese Möglichkeit eingewiesen sein. IES ließe sich vielleicht flüchtig einmal mit der Fiktion einer Welt umgehen, in der es „Malbarkeit" nicht gäbe. Dann könnte sich weder der Baum als das Zu-Malende darbieten, noch könnte ein Mensch zu der Überzeugung kommen, daß gerade er nun einmal in seinem Leben malen könne und müsse. Wir haben soeben davon gesprochen, daß Baum und Mensch in unserem Falle „eingewiesen" seien in den Sinn „Malbarkeit". Das Wort „Eingewiesenheit", dessen nähere Erklärung natürlich sofort verlangt werden wird, sei vorläufig nur von einer Frage her verstanden, die der Mensch an sich stellen kann und die er, wenn er nicht ein Wahnsinniger ist, nur mit „Nein" beantworten kann. Diese Frage lautet, ob er, der Mensch, sein eigenes Sein wie auch das Sein des Sichzeigenden sich selber verdanke. Hier wird kein Gesunder „ja" sagen können. Er wird zugeben müssen, daß er sich selber immer schon „vorfindet", und zwar als etwas ganz Bestimmtes vorfindet. Er wird einräumen müssen, daß er alles, was er vielleicht später aus sich machen kann, von einer Basis her entwerfen muß, als die er sich hinnehmen muß. Wir nennen dieses seine Geworfenheit. Es liegt in dem Geschilderten ein wiederum nicht fortzuweisender Zug des menschlichen Seins vor. Der Mensch verspürt immer, daß er sich in seinem Sein nicht vollständig sich selber verdankt. Als Antwort auf die Frage des „Woher", die hier nun fällig ist und die sich immer wieder in der Geschichte des Denkens aufgetan hat, konnte die Philosophie als Metaphysik ein göttlichgeistiges Urseiendes ansetzen, das als Grund seiner selbst wie als Grund alles anderen Geschaffenen und so auch des Menschen bezeichnet wurde. Der Ansatz eines solchen werkmeisterlichen Gottes konnte dann von anderer Seite her, von Denkern, die sich nur an das ,.Erfahrbare" im Sinne eines SinnZicfc-Auffangbaren halten wollten, als spekulativ und sinnlos bezeichnet werden. Aber auch diese Philosophen konnten nicht behaupten, daß der Mensch sich selber und das übrige Seiende geschaffen habe, ja, sie vermieden 15

ängstlich, so etwas zu sagen. Sie halfen sich mit der Aussage, das Seiende und der Mensch selber seien „Gegebenes". Damit aber verließen sie den Raum des Hinnehmenmüssens, des Eingewiesenseins nicht. Und selbst, wenn sie es nachdrücklich ablehnten, über diesen Raum weiterhin etwas zu sagen, so hatten sie ihn mit dem Wort „Gegebenheit" immer schon benannt. Jedenfalls konnte auch dann, wenn ein gotthafter Seinsgrund geleugnet wurde, nicht behauptet werden, der Mensch sei der letzte Stifter seines eigenen und alles übrigen Seins. Man bot dann etwa die Materie als Ursache an und wies ein weiteres Fragen ab. Es mußte hier also ein Verbot ausgesprochen werden, und dieses setzte voraus, daß der Sinn der Frage verstanden worden war. Von da aus sind wir geneigt, unseren Ansatz so weiterzutreiben, daß wir fragen, ob nicht das Nachsinnen über einen stiftenden Grund seiner selbst ebenso zum Wesen des Menschen gehöre wie sein Wissen darum, daß er selber dieser letztstiftende Grund nicht sei. Und wenn Denker es für „unwissenschaftlich" halten oder eine ideologische Verstiegenheit darin sehen, so etwas weiter zu verfolgen: können sie damit verhindern, daß sie selber im Umkreis dieser Frage stehen? Kann sich der ganze Fragehorizont etwa für ein Tier überhaupt jemals auftun? Wenn aber die Frage nach dem Grunde mit zu dem gehört, was das Sein des Menschen ausmacht, und wenn die Forderung, man solle nicht danach fragen, gerade bestätigt, daß immer danach gefragt wird, so könnte es hier doch möglicherweise eine tiefergreifende und eine oberflächlichere Weise des Fragens geben, und zwar als die letztere eine Frageweise, die gewissermaßen nur auf Vorder-Gründe zustößt und nicht eigentlich zu bedenken vermag, was Grundsein besagt. Zu unseren bisherigen Überlegungen zurückkehrend, müßten wir einen solchen Grund als dasjenige denken, das je eine Möglichkeit von Sinn entsendet und ins Sein ruft, was nur geschehen kann in der Weise der V erklammerung „Sichzeigendes und Auffangendes". Dieses beides muß sich verflechten, verschränken und so ins Sein treten, damit Sinn da sein kann. Es ist also ein über den vorhin erwähnten Baum, dem die Ganzheit des Seienden „anhängt", sowie über den malbegierigen Betrachter ausgeschüttetes Geschick, ein „Überkommnis", das Sinn stiftet. Jenem Überkommnis ist es zu danken, daß sich der Baum diesem Betrachter nur zeigen kann als der Zu-Malende. Ein 16

anderes Überkommnis verflicht den Baum mit dem Menschen, dem er, der Stamm, als der Zu-Fällende aufscheint. Und wieder ein anderes Geschick kann das Seiende „Baum" mit einem Auffangenden verkoppeln, der den Baum im wesentlichen als ein „biologisches Gebilde" oder etwas „Rein-Physikalisches" erblicken kann. Diese beiden letzten Betrachter durdistoßen gleichsam im Drang des „reinen Erkennens" die ursprüngliche sinnlich-leuchtende Präsentation des Baumes. Dieses tut der Malfreudige nicht. Er verweilt in der besonderen Hingegebenheitsweise des Künstlers bei der sinnlichen Erscheinung. In all jenen Fällen liegt eine Weise von Sinn vor. Solcher Sinn scheint auf, indem er den Baum und den je-bestimmten Menschen in seinen Dienst nimmt. Wir denken noch einmal an die Verklammerung „MenschBaum", die als „Malbarkeit" und „Malenkönnen" aufscheinen kann. Sie, diese Verklammerung, ist in ihrer einzigartigen Weise da, wenn der malfreudige Mensch überhaupt seine Augen aufschlägt. Es ist nun natürlich durchaus möglich, daß dieser Mensch, heranwachsend, eines Tages „dunkel" einsieht, daß er sich auf das Malen nicht so gut versteht, wie er dies jahrelang geglaubt hatte. Soldie Einsicht kann er sich dann möglicherweise in Vermessenheit und Selbsttäuschung wieder verschleiern und den Baum noch immer für einen „Von-i/wra-zu-Malenden" halten. Er kann sich hier aber audi zu einer inneren Redlichkeit durchringen. Dann wird sich ihm der Baum in einer Stunde der Traurigkeit und der Ehrlichkeit und der reinen Selbstüberwindung nicht mehr als ein „Von-i/wi-zu-Malender" darbieten, wohl aber noch als ein „ZuMalender", „Von-einem-Grdßeren-zu-Malender" überhaupt. Jedenfalls hält sich der Baum für ihn immer und unverlierbar in einem Sinnbezirk auf, in dem er für den, der ihn leidenschaftlich gern fällen möchte, so nie stehen kann. Er hält sich in einem Sinnbezirk auf, den es aber auch für den „Theoretiker", der den Baum hinsichtlich seiner organologischen oder sogar physikalischen „Funktionalität" durchdringen möchte, höchstens „am Rande noch" geben kann, nicht aber als das „eigentlich Entscheidende". Es mag jetzt bei dem einen oder anderen unserer Leser der Eindruck entstehen, wir meinten, daß die erwähnten Betrachter „perspektivische Abschattungen" des Seienden auffingen. Bei diesem Wort „Perspektive" aber schwingt nur zu leicht die Ansetzung 2

Kanthack, Heidegger

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eines An-sidi-Seienden mit, eines Festen, konstant Gearteten, das sich „abschatten" kann. Und es ist darauf zu verweisen, daß solches „Feste" von unserer radikaleren Weise des Fragens her eben als das „Eine" oder „Absolute" auch in die Schwebe gerät. Es sei noch einmal von den eben beleuchteten philosophischen Deutungen, wie sie Hochbegabte in wesentlichem Gespräch oder in bedeutendem Schrifttum niedergelegt haben, zur Sicht des schlichteren Menschen hinübergewiesen. Auch hinsichtlich seiner konnte gezeigt werden, daß er sich immer in einen Gesamtzusammenhang hineinlehnt, auch dann, wenn er ihn nicht theoretisch benennt, sondern nur als Ausweitung der Bedeutungen „verspürt", die die ihm nahen Dinge für ihn haben, Bedeutungen, von denen her sich sein Umgehen mit dem Seienden bestimmt. Man kann dieses Sichzeigen, Aufscheinen, einer Ganzheit nicht vom Wesen des Menschen losreißen. Man kann ihn nicht zwingen, nur das als „sichmeldend" anzusehen, was im Augenblick gerade von seinen Sinnen mit besonderer Deutlichkeit aufgefangen wird. Man würde dann in unkritischer Weise etwas streichen, was nie den Menschen verläßt, was sein nie weichender Begleitsdiatten ist: das „Halten" des Seienden im Ganzen, das Verklammertsein mit ihm. Der Sinn und die Weise des deutenden Verstehens, die so als Verklammerung das Seiende und den auffangenden Menschen durchtönen, entbreiten sich zunächst in handelndem Umgehen mit den Dingen und Menschen, in unzähligen Möglichkeiten, von denen wir nur wenige hier benennen können: etwa im Betreuen, Erhoffen, Erkämpfen, Vertrauen, Befürchten, Benutzen, Festhalten und Im-Stich-Lassen, im ehrfürchtigen Sichbeugen, opferbereitem Beistehen, aber möglicherweise audi ehrgeizgetriebenem Niederschlagen eines Mitmenschen. Solches Umgehen mit dem Seienden lebt und webt immer schon im Räume des verklammernden Sinnes. Vom ihm aus gibt sich das Seiende in Akzentuierung und Gliederung, eine Akzentuierung, die „festgemacht" ist im Verstehen des auffangenden Menschen. Und alle spätere nur „theoretische", nur-betrachtende Deutung ist immer schon von jener anfänglichen Weise des Umgehens her gesteuert. Von hier aus kann man sagen, der Mensch sei Seinsverständnis, Seinsverständnis, als das er immer schon da ist, wenn er sich 18

vorfindet. Daß er, dieser Mensch, dennoch ein freier ist, und wie er dieses sein kann, wird später noch gezeigt werden müssen. Das so benannte „Verstehen" hat einmal den Sinn des „Sich-Verstehens-auf.. des Umgehenkönnens mit den Dingen. Zweitens aber bezeichnet „Verstehen" das Phänomen, daß der Mensch dieses seines Könnens immer irgendwie inne wird, daß er es aufnimmt, seiner gewahr wird, daß es sich ihm erschließt. Seinsverständnis lebt je in einem Bedeutungszusammenhang. Solcher Bedeutungszusammenhang gleicht einem Raster, einem Netzgitter, durch da& hindurch das Seiende aufgefangen werden kann und das je als ein bestimmter Mensch da ist. Es, dieses Netzgitter, teilt aber zugleich dem aufgefangenen Seienden die unwiederholbare Möglichkeit zu, sich gerade so zeigen zu können. Wir nennen, indem wir einem geläufigen Wort eine ungeläufige, aber ursprüngliche Bedeutung zulegen, jenen Sinnzusammenhang, jenes Netzgitter, jene Verfügungs- und Artikulationsganzheit Sprache Sprache ist dann der Sinn, der das Seiende und den auffangenden Menschen verklammert, und nur, weil dieses der Fall ist, kann der Mensch das Seiende benennen und Aussagen darüber machen. Sprache läßt erst den Horizont aufschimmern, innerhalb dessen herausgesprochene Worte gebildet werden können. Sprache zeigt das Seiende je dem Mensdien in einzigartiger Weise. Sprache spricht anfänglich als Stiftung dessen, was wir die Verklammerung genannt haben, die Verklammerung, die nur sein kann, wenn die „Verklammerten" sind, wenn diese aufscheinen. Solches Aufscheinen kann im Zuge unserer bisherigen Gedankenbewegung nicht mehr so „Zustandekommen", daß eine dauernd vorhandene Welt von dem in ihr auftauchenden Menschen in besonderer Weise gesehen wird. Ist doch „ständige Vorhandenheit" nur eine mögliche Sinndeutung des Seienden im Ganzen, eine Weise von Verklammerung. Das Aufscheinen selber, in das die Verklammerung sich „betten" muß, dieses Aufscheinen muß benannt werden als ein jeweiliges Hellwerden, ein Sich.-Erheben aus einem Dunkel, das Verborgenheit genannt sei2. Die Sprache zeigt. Sie zeigt, indem sie entbirgt, indem sie etwas aufstrahlen läßt, das Seiende aufstrahlen läßt, was nur geschehen kann, indem auch der Mensdi ins Sein gerufen wird. 2*

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Der stiftende Grund aber, der das Zeigende ist, kann nicht mehr von irgendeinem Bezirk, irgendeiner Schicht des aufleuchtenden Seienden her verstanden oder gar erklärt werden. Er, dieser Grund, ist das, was allem Seienden erst die Möglichkeit des Sichzeigens gibt. Wir nennen ihn, diesen Grund, jetzt Sein3. Sein ist nichts Seiendes, sondern das, was alles Seiende erst zeigt vnd was dadurch eine Weltdeutung in die Sicht heben kann, daß es mit dem Seienden zusammen den Menschen ankommen läßt. C DIE SPRACHE UND DIE EPOCHALITÄT DES ABENDLÄNDISCHEN DENKENS Wir sagten, der Mensch werde je in den Dienst der zeigenden Sprache gestellt und so in stets einzigartiger Weise mit Seiendem verklammert. Er ist derjenige, dem Sinn anvertraut wird. Als solcher, als Seinsverstehender, ist er, was seine Seinsweise anlangt, von allem anderen Seienden durch einen unüberbrückbaren Abgrund getrennt. Kein anderes Seiendes ist so, daß es das Seiende im Ganzen als das Gezeigte auffangen, in einer umgreifenden Sinndeutung auffangen kann 4 . Kein sichzeigendes nichtmenschliches Seiendes kann herangezogen werden, um gleichsam eine „Modellvorstellung" für die Geöffnetheit des Menschen zu liefern, wenn man auch mit solchen Modellvorstellungen immer wieder umgegangen ist, sei es, daß man etwa die „Seele" als Substanz, als Gestalt, als Bündel von Trieben, bezeichnet hat 5 . Im verklammernden Sinn konnten Selbstdeutungen, in die Deutung des „Ganzen" einbezogene Selbstdeutungen des verstehenden und deutenden Menschen aufscheinen, in denen die Unvergleichlichkeit und Einzigartigkeit des Verstehens vergessen wurde und die Möglidikeit des „Auffangens" von den Zügen eines anderen Seienden, etwa der toten Materie oder der Pflanzenform (Struktur), her „erklärt" wurde. Es wurde übersehen, daß da immer ein Rest blieb, nämlich dasjenige, was immer noch da sein mußte, um diese oder jene Deutung seiner selbst entgegenzunehmen und durchzutragen. Bestimmtes „materielles" Seiendes ist als „Leib" in eine besondere Nähe zu dem auffangenden Verstehen, das der Mensch 20

ist, gerückt. Er, der Leib, der selber aufscheint und daher selber wechselnd gedeutet werden kann, ist die Stelle einer „Vermittlung" für das Auffangen des übrigen Seienden und somit von dem aufscheinenden Sinn, der aufscheinenden Sprache, in Anspruch genommen, in Dienst gestellte. Weil als die dem Maler überantwortete Sprache, der ihm überantwortete Weltsinn „Malbarkeit" aufscheint, darum ist sein Auge von besonderer Schärfe, mit einer besonderen Weise von Sehkraft ausgestattet. Diese „Ausstattung" aber hängt zusammen mit seiner „Geworfenheit" Er wird Eltern haben, deren Sehfähigkeiten sich so vereinen konnten, daß ein besonders schauendes Kind entstehen konnte. Und schon* als das Kind ist der Mensch da als der mit seiner Sprache Beauftragte, möge er sich, empirisch gesehen, hier auch erst „allmählich entwickeln". Jedem von uns wird der Sinnraum übergeben, innerhalb dessen er sich allein entfalten kann. Und alles Begegnende, alles „von außen Einwirkende" wird immer schon im Netzgitter, im Raster, das ein solcher Sinnraum ist, aufgefangen. So, wie der Maler den Baum begrüßt, wird ihn der Kraftmensch nie begrüßen können, selbst wenn er, vielleicht bei besonderer Beleuchtung des Baumes, flüchtig einmal von dessen Schönheit angerührt wird. Die Sprache, als deren Beauftragter der eine Mensch ins Dasein gerufen wird, ist nie ganz die Sprache des anderen Menschen. Es ist von ihr her vieles nicht zu verstehen, was in jenem anderen Weltsinn sich meldet. Sie, die Sprache eines Menschen, ist somit, obwohl sie die Ganzheit des Seienden umspannen will, immer von Dichtung durchdrungen. Unerahnbare Möglichkeiten, den Sinn des Seienden zu verstehen, sind immer schon „ausgeklammert", wenn die eine Deutung da ist. Und unerahnbare Möglichkeiten ruhen im Schöße der Verborgenheit, sind gleichsam abgewiesen. Wenn dem Dunkel sich Sprache entringt, Sprache in der Verklammerung „Sidizeigendes-Auffangendes", leuchtet eine Weise von Wahrheit auf, Wahrheit als Unverborgenheit. Im Horizont dieser so aufgeschienenen Wahrheit aber kann dann der Mensch erst denken, sinnen und trachten7. Wir wenden uns noch einmal zu jenem Seienden „Baum" zurück, von dem wir schon wiederholt gesprochen haben, und denken noch einmal an seine Betrachter. Die drei Menschen, die wir zunächst erwähnt haben, waren von uns zwar nicht nachdrücklich in eine bestimmte Zeitepoche ein21

geordnet worden. Es schien aber wohl und sollte auch ruhig so scheinen, als wären es Menschen unserer eigenen Zeit, noch lebende Menschen, denen wir selber heute oder morgen begegnen könnten. Wollen wir unsere Absicht nun aber weiter verfolgen, die Absicht, zu untersuchen, was zur Seinsweise des Menschen gehöre, so wird es notwendig sein, den Blick von unserer eigenen „Gegenwart" fortzuwenden und frühere Möglichkeiten von menschlichem Sein beleuchtend mitzuerfassen. Wir denken wieder an einen Baum, stellen uns jetzt aber einmal vor, dieser Baum stünde in einem heiligen Hain der frühgriechischen Zeit. Es mögen ihm, diesem Baum, des öfteren Bittende und Ergriffene nahen. Für sie alle, die den Baum sehen, meldet er sich als die Wohnstätte einer Naturgöttin, einer Dryade. Er meldet sich so, wie er sich für einen Menschen unserer eigenen Zeit niemals melden könnte. Denn wenn ein heutiger Dichter in seiner Freude an der Natur eine solche Dryade anreden würde, so würde ihn dabei nicht das Bewußtsein verlassen, dieses sei das Spiel mit einem Symbol. Die Halbgöttin ist für ihn nicht „wirklich anwesend", er, der Dichter, begreift vielmehr das, womit er hier umgeht, als ein bloßes Gemachte der Phantasie. Es meldet sich nicht als das, von dem das Wohl und Wehe seines Lebens abhängen kann. In ganz anderer Weise zeigt sich die Dryade für jene frühen Griechen. Sie ist in deren Verständnis auch als die nicht mit leiblichen Augen Erfaßte mindestens so „wirklich" wie der Baum selbst. Sie lebt in ihm, lebt als diejenige, die der Mensch mit dem Opfer gnädig stimmen, deren Zorn er besänftigen kann. Sie, die Göttin, ist als die Seiende eingewoben in die Sprache, die zu jener Zeit aufscheint, die die Wahrheit jener Zeit ist und in der hier allein gesprochen werden kann. Die Tradition, die Übermittlung von den Älteren an die Jüngeren, die es hier geben kann, vermag nichts aufzuzwingen, für das nicht sdion die „Aufnahmebereitschaft" da wäre. Nur weil in dem Verstehen, das den griechischen Menschen mit dem Seienden verklammert, die Naturgötter überhaupt „ankommen" können, kann die Tradition hier etwas wachrufen, was sie in keinem späteren Menschentum wieder genauso wecken kann. Und noch der Grieche der „vorsokratischen" Zeit, der Anstoß nimmt an der Vielzahl der Götter, oder der Skeptiker der Spätzeit, noch diese 22

können nur Anstoß nehmen im griechischen Sinne. Die Skepsis ist hier eine andere als die des neuzeitlichen Menschen. Und der eine Gott, zu dem der Grieche vielleicht kommt, ist in einer nur im Griechentum möglichen Weise mit den vielen Göttern, die er aufsaugt, verwoben. Jedenfalls ist niemand von den drei jetzt lebenden Betrachtern eines Baumes, von denen wir anfänglich sprachen, fähig, dieses Gewächs so aufzufangen, wie der griechische Mensch es zu tun vermochte, auch dann noch zu tun vermochte, als seine Götter in die Agonie gerieten. Wir blicken zu einer anderen Zeit hinüber und bedenken, was der Baum hier sein konnte: zu der Zeit des hohen Mittelalters. Hier ist die Dryade aus der Pflanze entwichen, und diese muß sich begnügen, einen bescheidenen Platz einzunehmen in einem weisen und genauen Ordo, einer Stufung, in die alles Seiende eingefügt ist. Und geht es um die Beziehung zum Göttlichen, so kann der Baum die Kannelierung seines Stammes vielleicht darbieten als Modell für den Pfeiler eines Domes, sonst aber ist er nichts als ein niederes Geschaffenes. Er ist dieses nicht nur für den einen Menschen jener Zeit und noch für einen anderen, sondern für alle, die in die Weltdeutung des abendländischen Mittelalters hineingerufen werden. Wir verzichten darauf, Möglichkeiten zu benennen, wie der Baum noch in anderer Weise in Trakten gemeinsamer Sprache aufgefangen werden kann. Unser Augenmerk ist darauf gerichtet, daß es Züge, „Strecken" gleichsam von Sinn geben kann, die eine Vielheit von Menschen überkommen. Sie, diese Strecken, zeigen sich je als „eingewickelt" in Singuläres, denn jeder einzelne Mensch hat als solcher, als einzelner, noch seine nie wiederholbare „Sicht", aber sie selber wesen und währen als das die Gemeinsamkeit eines Menschentums Stiftende. Im philosophischen Denken des Abendlandes ist Stiftung von Weltsinn, die eine Gemeinsamkeit übergreift, so aufgeschienen, daß Epochalität zustandekam: eine Folge von sich voneinander, wenn auch nicht in Schärfe, abhebenden Sprachen, und zwar, wie noch zu zeigen sein wird, von metaphysischen Sprachen8. Welches hier die Strecken solches übergreifenden, für eine Gemeinsamkeit „ausgeschütteten" Seinsverstehens, die Strecken des Epochalweltsinnes als solchen sind: dieses zu erfassen, ist für den von seiner Gegenwart her der Geschichte des Deutens zugewandten 23

Blick nicht leicht. Denn es muß dabei ja die letzte Sinngebung, aus der heraus eine Epoche verstanden werden kann, gepackt werden. Auch gibt es hier nur eine Schaumöglichkeit nach „rückwärts" 9 . Wir wissen nicht, ob immer Epochalität sein wird, wir würden ins „Spekulative" geraten, wollten wir dies behaupten. Wir können nur hinnehmen, da)3 sie zeitweise da war, können dies ablesen an dem, was sich in der Geschichte des Abendlandes gezeigt hat. Die Philosophie dieses Abendlandes ist jedenfalls in ihren Fragemöglichkeiten immer schon umfangen gewesen von der Weise der Auslegung, die dem Seienden hier in- einer Epoche gegeben wurde. Nur in ihrem, der Epochalsprache, Rahmen, konnte der Hochbegabte seine Denkbewegungen vollziehen, in einer singulären Weise vollziehen. Um dieser Singularität willen kann oft zunächst der Anschein entstehen, als lägen die philosophischen Denkleistungen einer Epoche weit auseinander. Dieser Anschein aber kann nur für einen Betrachter bestehen, der sich an einer Oberfläche hält und den Grund, von dem her das Gemeinsame umspannt werden kann, nicht erreicht.

D SPRACHE ALS DAS ZU-HÜTENDE Wir wiederholen, was wir bis jetzt als Weise menschlichen Seins benennen konnten: die unzerreißbare Verklammerung des Menschen mit Seiendem, seine Eingewiesenheit in eine Sprache, der alle Möglichkeit seines Fragens entwächst, die Miteingewiesenheit seines Leibes, durdi den hindurch sich seine Verklammerung mit dem übrigen Seienden vollzieht, und weiter die Unmöglichkeit, die immer mit ihm, dem Menschen, da ist, die Unmöglichkeit, sich selber als den letzten Grund seiner selbst und des übrigen Seienden anzusehen. Von dem Blick auf die Geschichte des Abendlandes her fügten wir hinzu, daß in die Seinsweise dieses Menschentums Epochalität eingegangen sei. Wir setzen unsere Betrachtung fort, weiterhin Ausschau haltend nach dem, was menschliches Sein kennzeichnet. Dabei können wir ein Phänomen erfassen, daß in jeder Seinsdeutung einen Ort hat, das das Wesen des Menschen zu allen Zeiten, zu denen wir hinüberblicken können, begleitet hat. 24

Überall da, wo der Mensch in der Sinnverklammerung mit dem Seienden aufschien, hat es für ihn etwas gegeben, was man als Schuld, als Versäumnis, als Scheitern, als Verfehlung bezeichnen kann. Wenn nun der Mensch, der weiß, daß er sein eigenes Sein wie das des anderen Seienden nicht sich selber in Gänze verdankt, wenn dieser stets von einer Weltsprache überkommene Mensch stets dem Horizont von Schuld ausgesetzt ist, dann wird dieses Nie-Fehlende als von seiner Seinsweise untrennbar angesehen werden müssen10. Dann aber wäre jenes Ereignis, in dessen Sog und Sturm der Mensch immer steht, jene Freigabe seiner als eines Seienden, dem die Allheit des Anderen sich zeigen kann und immer zeigt, immer in bestimmter Deutung zeigt, dann wäre jene Freigabe zu verstehen als die Eröffnung eines Feldes, auf dem oder über das hinweg der Mensch Schuld begehen oder vermeiden könnte. Da das Wort Schuld seinen wesentlichen Sinn verliert, wenn nicht die Freiheit des Menschen besteht, so kann auch gesagt werden, daß die Übergabe einer Weltsprache an ihn die Einweisung seiner in einen Raum für die Entfaltung seiner eigenen Freiheit bedeutet, daß er so freigegeben ist in seine Freiheit. Niemals kann sich ja die freie Entscheidung eines Menschen anders vollziehen als im Rahmen des Seinsverständnisses, als dessen Beauftragter der Mensch sich immer schon vorfindet. Der griechische Heros kann nur schuldig werden im Fluidum seiner Weltsprache. Es fragt sich nun, als was Schuld benannt und gefaßt werden kann, wenn wir bedenken, daß der Mensch immer mit dem Seienden zusammen in eine Sinnverklammerung gerissen wird. Dazu muß daran erinnert werden, daß jede Weise von Sinnübereignung von Nichtung, Nichthaftem durch tönt sein muß, und zwar zunächst deshalb, weil sie unzählige Deutungsmomente, Deutungsmöglichkeiten ausschließt, unzählige Züge von Sinnhaftigkeit für diesen einen Menschen nicht aufscheinen läßt. Auch wenn an ein Verstehen in Gemeinsamkeit gedacht wird und an hier waltende Epochalität, darf nicht vergessen werden, daß in solchem Epochalverstehen immer zugleich eine Verbergung anderer Verstehensweisen vorliegt. Dem griechischen Menschen waren zahllose Möglichkeiten versagt, die sich für den neuzeitlichen Menschen aufgetan haben. Dem neuzeitlichen Menschen aber ist verhüllt und verschlossen, was in späterem Menschentum viel25

leicht aufglänzen wird. Es mag zum Verständnis des hier Gesagten verhelfen, sich vorzustellen, wie wenig die Erbauer der Akropolis von Athen ahnen konnten von den Hüttengeheimnissen derer, die die Kathedralen der Gotik schufen. Die Verbergung und Nichtung aber, die jegliche Weltsprache durchdringt, zeigt sich nicht nur in dem, was sie nicht sehen läßt und gleichsam anderen Sprachen überläßt, sondern sie, jene Nichtung, durchtönt jede Sprache, jede Deutung selbst insofern, als immer mit dem Seienden auch Trügerisches, Täuschendes, Scheinhaft-V erwirrendes sich einstellt. Niemals entbreitet sich für einen Menschen und in der Verklammerung mit ihm das Feld des Sichzeigenden, ohne daß es dabei Weisen von Beirrung, von Verzerrung und Verstellung gibt. Soldier Schein wechselt mit dem Wechsel der Sprache11. Er war für den griechischen Menschen ein anderer als für den Menschen des Mittelalters. Für das Griechentum war zum Beispiel aller Untergang der Natur nur Sdiein und sie, die Natur, konnte niemals sterben. Für das Mittelalter aber liegt gerade über der physischen Natur der Hauch des zu Überwindenden und Abzudrängenden und damit Scheindurditönten. Aus der Aufgabe aber, Schein und Gefährdung zu bestehen, war der Mensch nie entlassen. Sonst hätte es für ihn niemals eine Wahrheit gegeben, denn Wahrheit entringt sich immer nur aus einem Raum des Irrens. Was diese Erringung der Wahrheit bedeuten kann, wird noch darzustellen sein. Wir möchten nur im Vorausblick eine Fassung dessen anbieten, was wesentliche Wahrheit sein kann, wenn der Mensch der immer von einer Sprache Überkommene ist. Wahrheit, die seiner, des Menschen, Freiheit anheimgegeben ist, kann dann Hütung jener Sprache genannt werden, Hütung als Durchschauung jener Gefährdungen, jenes Scheines, den, wie wir sagten, jede Sprache mit sich bringt. Ehe wir davon weiter sprechen, bedarf es jedoch noch einmal des Hinweises, daß „Freiheit", wenn hiervon ihr gesprochen wird, einen anderen Sinn hat, als die Philosophie diesem so schweren Worte fast durchgängig nur zu geben vermochte12. Sie, die Philosophie, hat sich, so alt sie ist, immer um die Freiheit Sorgen gemacht, sei es, daß sie sie bejahte oder verneinte. Es hat also immer für den philosophisch denkenden Menschen dieses Feld der Erörterung gegeben, ein Feld, hinsichtlich dessen auch der die Freiheit Leugnende den Sinn der Frage als

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Frage verstand und somit schon als ein mit der Freiheit Vertrauter und von ihr irgendwie Wissender sidh zeigte, als einer, der in einen Fragesinn eingesponnen war, der niemals für ein „völlig determiniertes" Wesen überhaupt aufscheinen könnte, von ihm begriffen werden könnte. Es ist audi immer so gewesen, daß jener Leugnende, wenn es auf die entscheidenden Handlungen in seinem Leben ankam, sein „Nein" ganz und gar-vergessen und sich selber durchaus als den eigentlichen Täter seiner Taten ansehen konnte. Es ist aber bisher noch nicht bedacht worden, was Freiheit sein muß, wenn der Mensch als derjenige gesehen wird, der mit einer Sprache betraut ist, der in eine bestimmte Weise von Seinsverständnis gerufen ist, um gerade so und nur so in sein eigenes freies Können entlassen zu werden. Was die Philosophie über die Freiheit bisher gesagt hat, hat sie im Rahmen angekommener Deutungen gesagt. Das Ankommen der Deutung als solches und die Weise der Freiheit, die mit ihm zusammenhängt, hat sie nicht benannt. Um dieses einsichtig zu machen, erinnern wir daran, daß wir jenen Grund, der je die Verklammerung „Gezeigt-Seiendes und Auffangend-Seiendes" aufscheinen läßt, Sein genannt haben. Sein, das alles Seiende aufscheinen läßt, das aber auch die Deutung dieses Seienden mitankommen läßt, dem Menschen übergibt, kann nie in der Weise „Partner" des Menschen sein wie das übrige Seiende. Sein ist dem Menschen nicht wie ein Seiendes nebenoder übergeordnet. Es ist das, dem jeder Ordnungssinn erst entwächst, auch der, der zwischen Seiendem angesetzt werden kann. Philosophie, und zwar Philosophie als Metaphysik — von ihr wird später noch ausführlich zu sprechen sein — hat aber immer wieder die Freiheit des Menschen mit irgendwelchem sonstigen Seienden als Hinderungsinstanz verrechnen wollen. Dabei ist sie stets von neuem in große Nöte geraten, sei es, daß sie als Vergewaltiger des Menschen einen metaphysischen Gott gedacht hat, sei es, daß der Mensch ihr als „Nur-Naturales" anderem Naturalen Untertan zu sein schien in der Weise eines „Kausal-Gesteuerten". Es sind hier Überordnungen und Nebenordnungen von Seiendem gedacht worden, und von ihnen her hat man den Menschen und seine Freiheit erfaßt. Keine dieser im Seienden zu denkenden und vom Seienden her zu verstehenden „Beziehungen" aber ist dem gemäß, was die Ein27

Weisung des Menschen in das Verständnis und in die Deutung solcher Beziehungen überhaupt ist. Jede Weise von Kausierung und Nötigung, die in der aufgeschienenen Welt möglicherweise Sinn haben kann, muß hier als unterwandert, als Untergriffen angesehen werden. Was man auch benennen möge an mechanischblinden oder zielstrebigen Geschehensweisen, an Zusammenhängen etwa in der Weise „mathematischer Funktionalität", an Schöpfungen und Lenkungen, an historischen Einwirkungsmöglichkeiten im Seienden: nichts davon kann dazu beitragen, das Ereignis verständlich zu machen, in dem alle jene Deutungen erst „geboren" werden. Wir unterwandern damit alle jene „theoretischen" Gegensätze, die man herausstellen konnte, indem man nur von einer Betrachtung des Seienden ausging und das Aufscheinen als solches vergaß, das Aufscheinen, in dem immer schon eine Deutung schwingt. Wir stehen damit auch jenseits von dem geläufigen Gegensatz „Determinismus — Indeterminismus". Wir kehren zurück zu unserem Hinweis, daß im Rahmen jeder Weltsprache, von der wir wissen, von Schuld und Versäumnis, von einem Scheitern, aber natürlich auch einem gewissen Gelingen die Rede war. Es hat damit immer ein Sollen gegeben, und das seltsamerweise sogar da, wo es eigentlich gar nicht untergebracht werden konnte, nämlich in rein-kausalistischen, etwa naturalistischen Theorien. Bei solchen Standpunkten ist jedes Wesen, also auch der Mensch, zu einem kausalen „Müssen" verurteilt. Die Möglichkeit eines Fortschreitens, eines Besserwerdens der Weltzustände könnte hier im Grunde keinerlei Raum haben, denn der Kausalismus hat mit Werthaftem nichts zu tun, darf mit ihm nichts zu tun haben. Dennoch forderte man auch hier vom Menschen ein Handeln entweder im Sinne der Bewirkung eines Zivilisationsfortschrittes oder in dem Sinne, daß er sauber, d. h., nüchtern und mit Beiseiterückung aller Wertungen denken solle, ein Appell, der sich hier in sich selber als ein solcher aufheben müßte. Diese seltsame Beständigkeit, die sich auch dann noch zeigt, wenn in einer den Menschen überkommenden Weltdeutung das ausdrückliche Sprechen von Gott aufgehört hat, macht einsichtig, daß die Phänomene „Schuld" und „Sollen" mit der Seinsweise des Menschen ebenso verklammert sind wie das Aufscheinen des Seienden und der Deutung, in die der Mensch einrückt. 28

Schuld ist ein Wort, das mit einem Tun des Menschen zusammenhängt. Der Raum ihrer Entfaltung ist das Umgehen mit den Dingen der Natur, mit dem Menschen und mit dem Göttlichen. Solches Umgehen kann sich immer nur in den Zusammenhängen der Weltsprache, die je dem Menschen übergeben ist, vollziehen. Wir konnten schon schildern, daß das Seiende sich in solcher Sprache zunächst als dasjenige zeigt, mit dem man sich „handelnd" befassen kann, und daß es dieses in einer fundierenden und nie fortzuwischenden Weise das ganze Leben des Menschen hindurch bleibt. Der Seinsmodus, in dem das Seiende ursprünglich aufgefangen wird, ist ein „Zuhandensein". Als solches ist es aber nie im neutralen „reinen Erkennen" zu konstatieren, sondern immer nur in einem Anschauen und Denken, das zugleich das Sichzeigende „in die Hut" nimmt in einem Mitschaffen und Standhalten, einem Durchstoßen von Täuschungen, einem Sicheinsetzen und Sichverschwenden oder auch in einem ausweichenden Versagen 13 . In der Frühe einer jeden Verklammerung des Menschen mit dem Seienden scheint dieses also nicht „neutral", etwa als ein „Bloß-Vorgestelltes" auf, sondern QS erschließt sich dem Menschen immer mit in Weisen von Gestimmtheit, in deren Raum allein ein Handeln möglich ist. Jenem Maler, der später einmal dem Baum begegnet, den er malen möchte, zeigen sich die Wolken und die Häuser, die gleißenden Stoffe und die Gesten der Menschen von vornherein und schon in der Kindheit als das Zu-Bewundernde, Schaffenslust Weckende, Berückende. Sie werden keinesfalls nur „neutral angestarrt"1*. Erst in der späteren Entfaltung der „Verklammerung", dem späteren Aufgehen des Menschen in seiner Weltsprache, kann die Möglichkeit zum Zuge kommen, das Seiende in eine Neutralisierung zu ziehen. Dann kann der Mensch sich in ein Erkennen werfen wollen, das „rein" sein soll, das jedem Einfluß des „Fühlens" und der „Neigung" entzogen sein soll, das als ein rationales „voraussetzungslos" sein soll im eben dargelegten Sinne. Solche Anstrengungen aber setzen immer auf einem schon vorbereiteten Boden ein. Und von ihm, diesem unhintergehbaren Boden ursprünglicher Verklammerung mit dem Seienden her, werden die Bemühungen des Erkennens immer noch leise durchtönt, wird vor allem das „Interessengebiet" bestimmt, dem das Erken29

nen sich zuwendet, und die Art und Weise, wie die „kritische" Haltung sich hier einspielt. Mit dem, was wir zeigten, wird keinem „Irrationalismus" gegenüber einem Rationalismus das Wort geredet15. Wir unterwandern vielmehr diesen in der „Erkenntnistheorie" geläufigen Gegensatz, so wie wir vorhin den Gegensatz „Determinismus — Indeterminismus" unterwandert haben. Für ein in den üblichen Schematismen sich bewegendes Philosophieren sei gerade an dieser Stelle noch einmal auf die Besonderheit unserer Denkbewegung hingewiesen. Wir sagten, daß der Mensch sich als die Stelle, an der etwas sich zeigen kann, immer schon vorfindet, und zwar vorfindet als geworfen, vorfindet inmitten von anderem Seienden. Als dieser Sichvorfindende aber ist er, auf dem Boden der ihm „ausgehändigten" Sprache, immer schon durchtönt und durchstimmt, beglückt oder gequält von dem, was mit ihm aufscheint. Damit und in solcher Weise aber erschließt sich ihm in frühester Frühe, vor jeder erkennenden Konstatierung, vor jeder Reflektion, das Rätsel seines Seinmüssens, seiner Geworfenheit. Nur von hier aus, von den Nöten und den Seligkeiten her, die es hier gibt, versteht er grundlegend, was es heißt, da zu sein als Mensch, welche Unerhörtheit dieses bedeutet. Was sidi dem Menschen so enthüllt als seine Ausgesetztheit, sein Mitmachenmüssen, sein Durdihaltenmüssen, was ihn so überfällt, packt, durchrüttelt, den Kern seines Seins durchschießt und zittern macht, das kann nur in geringem Maße und in eigentümlicher Auslaugung jemals vom Erkennen benannt und aufgezählt werden. Wir sind immer schon in den Sturm unseres Seins gestellt, bevor wir die Richtungen jenes Sturmes irgendwie „erkennen" können19. Aus jener ursprünglichen Art von Einbettung in das Seiende, jenem Durchdrungensein von Gestimmtheiten aber muß jede spätere Aussage sich erheben, auch jede Aussage, die der Mensch über sich selber macht und über die Möglichkeiten seines Erkennens. Nur von diesem Boden her kann er sagen, daß etwa das entscheidende „Organ" des Menschen die reine Ratio sei. Er kann das dann sagen und wird das dann sagen, wenn er jenem ursprünglichen Eingewiesensein, das den großen Lebenseinsatz fordert, zu einem Teil entgehen will. Die nüchterne Sdiau, der er sidi so ergibt und hinsichtlich deren er vieles leisten kann, wird dann nicht mehr von tiefster Verantwortung durchdrungen sein. 30

Und so kann an entscheidender Stelle von ihm vergessen werden, daß das Rein-Rationale auch abgründiges Verderben bescheren kann. Nur von dem genannten Grunde her kann aber auch behauptet werden, das „primäre Erfassungsorgan" des Menschen sei das „Gefühl" und nicht der „Verstand", wobei diese beiden dann in einen Gegensatz zueinander gebracht werden. Ob also ein „Rationalismus" oder ein „Irrationalismus" vertreten werden, das gründet in einer diesen Thesen vorausliegenden Tiefe von Betroffenheit und Entscheidung, in der Tiefe, die nodi rationales „Denken" und „Fühlen" — diese Worte in üblichem Sinne genommen — unterwandert. Wer verstehen gelernt hat, daß unser Denken alles „Gegensätzliche" zurücklassen muß, daß es in den Ursprung verweist, dem audi das einander Widersprechende, ja, die Sichtung und Benennung des Widerspruchs selber entspringt, aus dem alle Sprachen soldier Art sich erheben, der kann unsere eigenen Behauptungen wohl nicht mehr mit einem der traditionellen Schlagworte fassen. Es sei von dem eben Gesagten noch einmal zur Frage der Freiheit zurückgeblickt. Wenn der Mensch der je in eine Sprache Freigegebene ist, und wenn ihm damit das Feld entbreitet ist, auf dem er, wie wir sagten, sich in Freiheit entfalten kann, so erwachsen die Möglichkeiten seiner freien Entscheidung in jenem frühen Verstehen, in dem das Seiende in einem von Gestimmtheit durchdrungenen Vernehmen aufgefangen wird, einem Vernehmen, das nicht „blindes Gefühl" ist, diets aber stets mit Rangordnung und Schätzung zu tun hat und somit auch niemals „reine Ratio" sein kann. Und nur, weil es in der Tiefe des menschlichen Seinsverstehens so aussieht, kann Freiheit sein und verstanden werden. Freiheit geht um mit Entscheidung. Sie ist Möglichkeit von Wahl, d. h. von Bevorzugung und Zurückweisung, von Billigung und Mißbilligung. Als solche Möglichkeit aber kann sie nur in Weisen der Gestimmtheit leben. Hier ist sie ursprünglich verwurzelt, und hierher muß sie immer wieder zurückkehren, wenn sie sich auch im Durchgang durch die Reflektion der Ratio mitunter für sich selber erhellen kann 17 . Wir versuchen, noch etwas schärfer zu verdeutlichen, was in unseren letzten Ausführungen zur Umkreisung der Seinsweise des Menschen gesagt wurde. 31

Es war von seinem Tun und Schaffen die Rede, seiner Freiheit im Raum des Seinsverständnisses, das ihm überantwortet ist. Ein „Tun", ein „Umgehen-mit", ein „Besorgen" kann nur verstanden werden von der Seinsweise eines Wesens her, das immer über das, was es ist, hinausgreift. Indem wir handeln, indem wir irgend etwas bewirken in unserer Welt, sichten wir immer schon einen Zustand des Seienden, der jetzt noch nicht da ist, den wir aber anvisieren können. Wir wären außerstande, auch nur das Geringste zu planen, wenn wir nicht Wesen wären, die „sich-vorweg" sein könnten. Das so geartete Wesen „Mensch" aber muß nicht nur zu solcher „Überbordung", die immer ein Entwurf auf neue Möglichkeiten hin ist, befähigt sein, sondern es muß auch von „dorther" auf das, was war, zurückkommen können. Wäre es nicht ein „Sichvorwegsein-können", so könnte es nie den Stand des Seienden angreifen wollen. Und wäre es nicht ein „Zurückkommen-können", so müßte sein Drang hin zu dem Neuen im Leeren zerflattern. Wir könnten zwar planend vorausschauen, aber wir könnten das Geplante nicht „anbinden" an das, was schon besteht, an das, was war. Diese „Bewegung", die der Mensch immer ist, dieser Vorausschwung und Zurückschwung, fängt sich, findet sich zusammen im unmittelbaren Umgehen mit den Dingen, im Zugriff, im wirklichen Tun und Gestalten. In allem, was ich betreibe, bin ich mir in jener eigentümlichen Weise voraus und greife ich zugleich zu dem zurück, was war, um jetzt handeln zu können. Dieses „Jetzt" ist der dritte Modus der Zeit, den der Mensch muß verstehen können, damit er das Seiende anpacken kann, mit ihm umgehen kann, ob er nun den Hammer hebt, um ein Gerät zu bearbeiten, oder ob er seinen gequälten Mitmenschen tröstet. Er, der Mensch, ist wie eine Schleife, die sich schürzt, wie ein Siciidehnen nach zwei, ja, wenn wir den Zustoß des Tuns mit einbeziehen, nach drei Ekstasen. Als diese Schleife, dieses Sichdehnen, ist er Sorge genannt worden, ein Wort, das zu tun hat mit seiner, des Menschen, Möglichkeit, das Seiende zu „besorgen", dem anderen Menschen gegenüber „Fürsorge" zu üben und schließlich und mit dem allen zusammen „besorgt" sein zu können um die Eigentlichkeit seines eigenen Seins. Wir sagen, er ist die Möglichkeit, dieses alles zu erfüllen. Damit ist, da der Mensch in seine Freiheit ausgesetzt ist,

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natürlich audi gesagt, daß er hier schuldig werden und scheitern kann. Das Wort „Sorge" meint also, daß der Mensch nie entlassen ist aus einem Seinmüssen und damit aus einem „Sich-entscheidenmüssen", es meint aber nicht, daß sein Leben grundsätzlich in Düsternissen verläuft. Auch die hinreißendste Begeisterung, auch die reine Seligkeit, in der die Hand eines geliebten Menschen ergriffen wird, sind in unserem Sinne „Sorge". Sie sind es sogar in einer ausgezeichneten Weise. Es sei hingewiesen darauf, daß die „Sorgebewegung", von der wir sprachen, in einer gleichsam noch früheren und noch grundlegenderen Bewegung ruht, die der Mensch ist, die die wesentliche Weise seines Daseins ausmacht. Diese Bewegung ist die des „Sich-Zeitigens". Könnte der Mensch nicht „Zukunft" aus sich herausstoßen, so könnte er nicht sichvorweg-sein. Beides geht zusammen: nur für ein Wesen, das zukünftig geartet ist, Zukünftigkeit versteht, kann es eine „Planung", einen Vorausentwurf geben. Und nur ein Wesen, das ein „es war" versteht, kann zurückkommen. Ein „Gegenwärtigenkönnen" aber ist der Horizont, in dem allein ein Besorgen des begegnenden Seienden in „konkretem" Sinne möglich ist. So gründet die Seinsweise des Menschen letztlich in dreiekstatischer Zeitigung, von deren Hintergrund her erst all sein Tun, all seine Verstrickung mit dem Seienden, verständlich wird18. Die Sprache aber, die je dem Menschen übergeben wird, geht ein in solche Zeitigung. Sie kommt immer an als etwas, das das umspannt, was ist, was war und was sein wird. Jede Weltdeutung aber hat ihre eigene Weise, wie sie zurückblickt und was sie dabei betont und übersieht, wie sie sich das Kommende ausmalt und was sie, in der Verflechtung damit, als das gerade jetzt dringlich zu Besorgende ansieht. Das für den Menschen aufscheinende Seiende aber zeigt sich immer schon als in das „Netzgitter" Zeitigung hineingeschoben. Vor mir steht eine ungeheure Eiche. Sie präsentiert sich mir jetzt, aber ich kann gleichsam von ihr ablesen, daß sie war, lange Jahrhunderte schon war. Schwänge aber in der Sprache, dem Sein, das den Menschen und das Seiende überkommt, nicht die Akzentuierungsmöglichkeit des „Früher", „Jetzt" und „Später", so wäre die Konstatierung jenes „War" nicht möglich, so hätte das Seiende kein zeitliches Relief, so läge alles gleichsam „zeitlich in einer Ebene", d. h. Zeit wäre überhaupt nicht. 3 Kanthack, Heidegger

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Zur Seinsweise des Menschen gehört sein Wissen darum, daß er sterben muß. Dies bedeutet von dem eben Gesagten her, daß sein Vorausentwurf, sein Umgehenkönnen mit dem begegnenden Seienden, an eine Grenze stößt. Dieses bedeutet weiter, daß das Feld, das sich für ihn und mit ihm in der Weise der „Verklammerung" auftat, ein endliches ist, endlich als ein Raum für seine Bewährung. Denn mag er über dieses Feld hinweg sich auch in ein „Jenseits" hineinträumen, ja, eines solchen Jenseits gewiß sein: Vermeidung von Schuld ist nur im Endlichen möglich. Dieses aber kann der Mensch vergessen19). Das „Wissen" des Menschen um das Abreißen jenes Feldes ist keine „rationale Feststellung". Es gibt sich ihm vielmehr in einer ihn immer durchschwingenden Grundgestimmtheit, der Angst, einer Weltangst, die etwas anderes als Furcht ist. Furcht gibt es gegenüber diesem und jenem einzelnen Seienden, ζ. B. der Explosion einer Bombe. Mit Angst aber soll jenes Verspüren im Menschen benannt werden, das ihn ursprünglich schon immer verstehen läßt, daß sein Leben „in dieser Welt" einmal endet, und das das Rätsel des Nichts, des „Nicht-mehr-Seins", vor ihm auftauchen läßt 20 . Es gehört zu den Möglichkeiten des Menschen, daß er dieses nichtrationale „Wissen" verdrängen kann und in den meisten Stunden seines Lebens verdrängt, verdrängt in rastloser Geschäftigkeit. Damit kann aber jenes Wissen der Tiefe nie endgültig ausgemerzt werden. Der Mensch kann so tun, als ob es jene „Peinlichkeit" nicht für ihn gäbe. Eigentliche und echte Sorge ist er erst dann, seine tiefste Wahrheit findet er erst dann, wenn er hier nicht ausweicht. Das heißt nicht, daß er das Leben vergessen und gebannt auf den Tod starren soll. Aber es heißt, daß es für ihn die Möglichkeit gibt, in Ernst und in Klarheit bei allem tätigen Wirken und aller Ergriffenheit vom Schimmer des Seienden aufgeschlossen zu bleiben für die Weise des Seins, in die er, der Mensch, entsandt wurde. Wir kommen zurück auf das Wort „Schuld", das wir schon am Beginn diese Abschnittes benannten und neben das wir Worte wie Sollen, Forderung, Aufruf, gerückt hatten als Ausdrücke, die selbst im Bezirk „rein-naturalistischen" und „kausalistischen" Denkens zu finden sind, obwohl sie hier ängstlich vermieden werden müßten. 34

Noch immer aber haben wir nicht eigentlich gesagt, was denn Schuld sein könne und was ihre Vermeidung sei. Nur eben, bei dem Hinweis auf den zur Seinsweise des Menschen gehörenden Tod als einem wissbaren Geschick, nur hier wurde etwas benannt, was „schuldhaft" zu sein schien: die Möglichkeit, daß der Mensch die Enge der Zeit vergißt, die ihm gegeben ist, wenn er aufscheint in der Verklammerung mit dem Seienden. Um die Worte Schuld und Verfehlung aber weiter zu erhellen und zwar als Worte, die es in jeder Weltsprache gibt, die also in allem Wandel der Deutungen etwas „Bleibendes" zu sein scheinen, muß wohl nach Phänomenen gesucht werden, die immer da sind, wenn der Mensch da ist. Wir sagten schon, daß es dann außer ihm, dem Menschen selber, noch anderes Seiendes geben müsse. Was dieses andere sei, wurde dabei nur gelegentlich gestreift: das Meer, die Berge, der Baum, der andere Mensch. Wir gehen jetzt näher ein auf das „Sichimmer-Zeigende" und benennen es als eine Vierheit21. Immer gab es für den Menschen und in der „Verklammerung" die Erde mit ihrem Gestein, ihren Wüsten, dem Meer und der Mannigfaltigkeit von Pflanzen und Tieren. Immer gab es den Himmel mit den geheimnisvollen Weiten, Bewegungen und Zusammenordnungen der Gestirne. Es gab ferner immer für den Menschen die Begegnung mit dem anderen Menschen oder mindestens das Ausgespanntsein für die Möglichkeit einer solchen Begegnung. Und schließlich durchmaß der Mensch immer, wenn er da war, eine Dimension, die nicht die zum Irdischen oder Sichtbar-Himmlischen, aber auch nicht die zum Menschlichen hin war, die Dimension, in der ihm ein Maß aufschien, das sich weder von Erde noch Himmel noch dem Mitmenschen her anbieten konnte. Von dieser Dimension her konnte, im Seinsverständnis hoher Zeiten, das Göttlich-Heile aufleuchten, von hier aus konnte dieses Göttliche sich aber auch als das Siechende und Erlöschende zeigen. Das geschah dann, wenn „Atheismen" sich entbreiteten, wenn die „Existenz Gottes" geleugnet wurde. Indem man leugnete, stand man schon immer im Zeichen des Maßes, des unirdischen und übermenschlichen Maßes, von dem wir gesprochen haben. Man sprach zwar im Fortblicken von ihm. Aber es kann nur fortgeblickt werden, wenn etwas doch „im Blicke" steht. Der Mensch muß Gott bejahen oder verneinen, er kann sich 3·

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dieser Entscheidung nicht entziehen, er ist in den Raum der Frage eingewiesen, wenn er überhaupt aufscheint als Mensch. Da)3 er eingewiesen ist, zeigt sich daran, daß er für den „Fortfall" Gottes immer einen Ersatz anbietet: eine Sollensforderung. Diese mag gefaßt werden als die schimmernde Gestalt eines zukünftigen, anzustrebenden Menschentums (Nietzsches Übermensch), als mustergültige betreute Menschengemeinschaft, als Vereinigung nüchtern, sauber und „unspekulativ" Erkennender: immer wird hier eine Atmosphäre der Makellosigkeit benannt, eine Atmosphäre, die es im Bestehend-Menschlichen nicht gibt. Die Stelle des Göttlichen ist hier zwar verzeichnet und verschleiert, aber es selbst zeigt sich noch durch solche Nebel hindurch. Wann immer der Mensch da war, und wann ihn Sprache, zeigende Sprache überkam, wurde nach vier „Richtungen" gezeigt. Die Erde, der Himmel, die anderen Menschen und das Geheimnis des Göttlichen wurden „angesprochen". Die Sprache konnte nie eines der Vier auslassen. Aber für den von einer Weise des Seinsverstehens überkommenen Menschen kann es hier Versäumnisse geben und damit Schuld. Denn er, der Mensch, ist die Stelle, an der je in der rechten Weise der Zusammenführung die Vier sich begegnen können, eine Zusammenführung, in die die Freiheit des Menschen sich hineinwerfen kann, um eine „Sprache" zu hüten, zu hüten in Vermeidung der Gefahren, die immer aufscheinen, um so die lauterste Wahrheit jener Sprache hell werden zu lassen. Nur im Verstehen des Menschen können die Vier, Erde und Himmel, Menschliches und Göttliches, einander so treffen, so zusammenstoßen, daß sie sich wechselseitig zu durchschwingen und gleichsam aneinander zu spiegeln vermögen. Der auf fangend-verstehende Mensch kann diese Spiegelung sein. Er kann dieses sein, weil er weiß, was ein Maß ist, weil er Maße auffangen und mit ihnen umgehen kann. Das Messen, von dem hier gesprochen wird, hat nichts mit Zahlen zu tun. Es ist früher und ursprünglicher. Es vollzieht sich in Weisen der Hingabe an das aufscheinende Seiende, in Weisen der Aufgeschlossenheit für seine Besonderheiten, in Weisen des Erstaunens und des Betreuenwollens, im Tasten nach dem, was hier je-angemessen ist, in einem lauteren und redlichen Tasten. Da es um das Je-Angemessene im Verhalten zu diesem und jenem Seienden geht, muß der Mensch vergleichen können, vergleichen 36

wiederum nicht durch ein Nebeneinanderstellen von Zahlen. Um dieses letztere zu tun, muß erst in einem früheren Vergleichen entschieden werden, was denn überhaupt als zählbar angesehen werden soll. Jedenfalls ist ein Vergleich nicht anders möglich, als in der Weise, daß das, was verglichen wird, zueinander geholt wird, in einen gemeinsamen „Griff" genommen wird, einen Griff, bei welchem den „Zusammengeholten" nichts getan werden darf, was sie entstellt. Zum Wesen des Menschen gehört es, die eben genannten „Vier" vergleichen zu können. Solches Bemühen kann ihm gelingen oder kann scheitern. Er kann die „Verglichenen" möglicherweise nicht in die große Näherung zueinander bringen und kann es versäumen, ihre Eigenheit zu schonen und zu hüten. Er, der Mensch, ist in jeder „Sprache" in diese Möglichkeiten freigegeben. Die Bewegung, die er selbst als „Sorge" dabei ist, ist mit keinem Vorgang im nichtmenschlichen Seienden vergleichbar. Sie ist sichhinschwingende, von einem zum anderen sich kehrende, zwischen den Vier kreisende Nahebringung, ein Zusammenholen, in dem mannigfaltige Tönungen von Liebe sich entfalten. In diesen Tönungen webt das Messen, von dem gesprochen wurde. Anders ist die Bindung des Menschen an Erde und Himmel als an den Mitmenschen. Und es ist Zerrissenheit und Unordnung da, wenn das hier Je-Gemäße in die Verkehrung gerat. Völlig anders aber ist wiederum die Ausspannung des Menschen hin zu dem Geheimnis des Göttlichen. In solchen Weisen der Zuwendung und des Heranholens, in solchen Näherungen, wird jedes der Vier geschont. Dieses Wort Schonung ist nicht dahingehend zu verstehen, daß hier etwas wie Dämpfung in der Liebe schwingt. Schonung meint vielmehr, daß jedem der Vier sein Eigensein mit höchster Kraft belassen wird, ja miterstritten wird. „Schonung" ist hier das Walten des Schöpferischen im Menschen, jenes Schöpferischen, durch das er das Große, das Unvergeßbar-Überwältigende des Seienden TmYstiften kann, mitstiften in der Weise des Feierns. Solches Feiern umreißt gleichsam mit hoher Sorgfalt die Konturen, die die je-eigenen des Erdhaften, des Himmlischen; des Menschlichen und des Göttlichen 37

sind. Aber was je dieses Eigensein ist, das kann nur ermessen werden in einer Verfugung der Vier. Nur von hier aus kann zu vollem Leuchten gelangen, was Erde und Himmel sind, und wie sie geschont und gehütet werden können. Solche Hütung lebt in besonderer Weise von Betreuung: der Zuwendung zum Zauber des Blühens, des Reifens wie des Einschlafens der wachsenden Dinge der Erde, der Lobpreisung der besonderen Weise von Schönheit, die es hier gibt; der Fügsamkeit gegenüber der rätselhaften Weite und Unergründlichkeit der Sternenwelt. Schonung des Menschen aber ist möglich in einem Verstehen von Nähe und Treue, wie es nie da sein kann der Erde und dem Himmel gegenüber, denn in solche Liebe greift das Wissen ein, daß beide, der eine und der andere, sterben müssen, daß aber Menschen sich auch bis in den Tod begleiten können. Schonung des überirdisch — übermenschlichen Maßes, jenes unvergleichlichen Leuchtens, aber kann nur geleistet werden, wenn die Unbekanntheit des Gottes gehütet wird, wenn der Mensch sich in Ehrfurcht beugt davor, daß ein Geheimnis doch scheinen kann, sich doch zeigen kann, aber zeigen kann gerade als das Unbekannte. Die Allnäherung, die hier sein kann und die schonende Hütung des „Gevierts" kann in jeder „Sprache" noch ein „Sollen" für den Menschen sein. Auch dann, wenn das Leuchten des Göttlichen fast erloschen ist, ist noch die Verwebung möglich: die schonende Allnäherung der Vier. Versäumnis dessen aber ist Schuld. Die Schonung des Gevierts kann in ausgezeichneter Weise nicht nur vom Denkenden, sondern auch vom Dichtenden geleistet werden.

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ZWEITER

DIE DER

TEIL

EPOCHEN

ABENDLÄNDISCHEN METAPHYSIK

Es wurde versucht, jenes Geschick zu erfassen, das als Eröffnung, als Sendung von Sprachen, von Deutungen, von Sinnhaftigkeiten waltet und in solchem Walten je den Menschen und das Seiende zusammenflicht. Es wurde weiter gesagt, daß der Grund, aus dem Sprachen sich heben, nicht von irgendwelchen Zügen des Seienden her zu verstehen sei. Dieser Grund wurde Sein genannt. Sein ist das, was Sprachen entsendet. Sprachen können nur aufscheinen, indem Seiendes sich mit dem Menschen zusammen entbirgt. Zwischen dem Sein und dem von ihm entsandten, entborgenen Seienden als Sich-Zeigendem und Auffangendem ist ein Unterschied, eine Differenz, die Differenz zivischen dem, das aufscheinen läßt, und dem Aufgeschienenen. Diese Differenz als solche konnte vergessen werden. Es konnten Sprachen, Weltdeutungen aufleuchten, die nur beim Seienden verweilten, die nicht bis zur Tiefe des entbergenden Seinsgrundes durchstießen, sondern sich statt dessen in das Seiende als das Aufgeschienene verbissen und „Grundhaftigkeit" nur hier suchten und ansetzten: so etwa die Materie oder das Leben oder ein Weltseelen tum oder eine „schöpferische Zeit". Solche Sprachen gingen um mit Vorder-Gründen. Sie wußten nichts von dem Urgründe, der sie selber entsandte. In ihnen, diesen Deutungen, diesen Sprachen, entzog sich der Urgrund selber dem verstehenden Menschen. Sein verhüllte und verschleierte sich, es ließ zu, daß es selber vergessen wurde. Dies geschah in den langen schen Μ etaphy s i k22.

Trakten

der

abendländi-

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Auch die Metaphysik vermeinte, nach dem Geheimnis des Seins zu fragen. Aber sie konnte das Sein nur als ein ausgezeichnetes allgemeinstes und grundlegendes Seiendes begreifen. Sie wußte nichts von dem Grunde, der Deutungen entsendet, audi die Deutungen der Metaphysik. Mit ihrer Frageweise, in der sie nach einem seienden Grunde Ausschau hielt, wobei sie diesen auch als „jenseits des Irdischen bestehend" auffassen konnte (Setzung des transzendenten Gottes), mit dieser ihrer Frageweise glaubte Metaphysik allerdings schon von einer bloßen Oberflächenbegegnung des Menschen mit dem Seienden abgesehen zu haben und in „die Tiefe gedrungen" zu sein. So konnte sie wähnen, echtes Grunddenken zu sein. Es wurde ihr vom Sein her nicht die Möglichkeit anvertraut, zu fragen, woher sie denn selber käme. Sie, die Metaphysik, hat f ü r sich selber einmal das Bild gefunden, sie gleiche den Wurzeln eines Baumes, dessen Stamm die Physik sei und dessen Zweige alle anderen Wissenschaften wären (Descartes an Picot. Opp. ed. Α et Ta. IX, 14). Metaphysik vermochte nicht weiter zu fragen, sie vergaß den Boden, in dem sie selber allein wachsen und gedeihen kann, den Boden des Seins. Wir nannten Sein die Sinnstiftung, die sich vollzieht, indem die Verklammerung aufscheint. Wir nannten Sein auch das Sprachen Entsendende. Sein kann niemals als Gegenstand verstanden werden. Es kann auch niemals „belauert" werden hinsichtlich des Wie und des Was des Entsandten. Sein hat keinen Grund, es ist das, was alle Arten von Begründung erst übergibt, dem Menschen übergibt. Indem metaphysische Sprachen entsandt wurden, kamen, so großartig und unvergeßlich hier auch gedacht wurde, Weisen von Seinsverständnis an, in denen bestimmte Regionen des Seienden als dasjenige angesehen wurden, von dem her alles andere Seiende zu erklären sei, die also als letzte Gründe verstanden wurden, so etwa die bloße Materie oder ein „Gott der Philosophen", dessen Wesen als eine Übersteigerung von Seiendem ausgemalt wurde 23 . Solche metaphysische Sprache bedeutet ein Höchstmaß von Seinsvergessenheit, wenn der Mensch, der je an eine geschichtliche Stelle gesandte Mensch, glaubt, ein für allemal über „das Ganze" Bescheid zu wissen. Dann ist nichts mehr da an Offenheit, an Hingabe. Dann liegt letzte , Vermessenheit" vor. Es liegt der Wahn vor, dasjenige rational-ergründend fassen zu können, was alle 40

Weisen möglichen Wissens erst aufscheinen läßt, je an bestimmter Stelle, für bestimmtes Menschentum, aufscheinen läßt. Metaphysische Sprachen können also wechselnde Grade von Seinsvergessenheit bedeuten. In ihre Ankunft, wie sie im Denken des Abendlandes da war, schlug Epochalität hinein, und zwar Epochalität von Grundgestimmtheiten, aus denen je Deutungen des Seienden von einem Grundseienden her erwuchsen. Epochalität in solchem Sinne hat nichts zu tun mit jäher zeitlicher Begrenzung. So kann wohl etwas von der „Höhe einer Epoche" verspürt werden. Aber andererseits ist auch immer ein Ineinanderspiel der Epochen da, ein Aufleuchten des Späteren im Früheren wie des Früheren im Folgenden. Nur unter solchem Vorbehalt werden von uns drei „Phasen" der abendländischen Metaphysik unterschieden, „Phasen", deren letzte uns selber noch einschließt. Solche Unterscheidung ist nur im Rückblick auf das Gewesene möglich. Sie bedeutet keine Weissagung über die Besonderheit kommender Epochen. Sie läßt sogar die Frage rein als Frage bestehen, ob immer Epochalität sein wird. Die Deutung der Epochen, die von uns gegeben wird, sieht sich selbst als eine zugesandte an. Sie hält sich für eine unserer Gegenwart gemäße, aber sie möchte nicht vergessen, daß für anderes Menschentum andere Deutungen aufscheinen können24. Hängt doch das, was der rückwärts gewandte Blick des Menschen überhaupt treffen kann, schon von dem ab, was das Geschick des Seins von dem, was war, wieder entbirgt und was nicht. A DAS SEIENDE ALS DAS VON SICH HER ANWESENDE UND IM SCHAFFEN ZU FEIERNDE: SPRACHE DES HOHEN GRIECHENTUMS Das philosophische Denken des Abendlandes beginnt mit großem, mit gewaltigem Einsatz25. Und nur in der Ahnungslosigkeit eines blind-naiven Fortschrittglaubens konnte man diesen Einsatz als einen nur „naturphilosophischen" und längst überwundenen deuten. 41

In dem, was wir an lapidar-machtvollen Sätzen jener frühen Denker (meist als „Vorsokratiker" bezeichnet) besitzen, ist nirgends die Herkunft des Seienden im Ganzen so verstanden wie später etwa im Denken des Mittelalters: als Sch&pfung aus absolutem Nichts von selten des weltplanenden Gottes. Das griechische Denken kennt weder das absolute Nichts noch kennt es den allordnenden Schöpfergott. Statt des reinen Nichts gibt es hier höchstens das Chaotische, das Ungestaltete, zu dem Gliederung und Ordnung treten können, wenn es sich nicht von vornherein als gegliedert gibt. Das nichtgeschaffene Seiende kann dann nur verstanden werden als das, was von sich selber her sein kann, was ohne den Ruf eines anderen als Seiendes „ankommen" kann, sich selber „wachsen macht". Mit dieser unerhörten Möglichkeit muß das Wort „Physis" in Verbindung gebracht werden, jenes Wort, mit dem die „vorsokratischen" Denker das Seiende im Ganzen, d. h. nicht nur das Naturale in engerem Sinne, sondern auch die Menschen und die Götter, zu umspannen suchen. Physis ist dann das Seiende im Ganzen als das „Sich-selber-in-Stand-Bringende". Der in dem Wort steckende Sinn des „Erblühen-Lassens", „Wachsenlassens" kann dann nicht das Sichauftun eines Schon-Vorhandenen, der Rose etwa, meinen, sondern ein absolutes „Sicheinstellen", „Ankommen", „Her-anwesen". Das Wort „Physis" mußte den Sinn echter Ursprunghaftigkeit ausdrücken, eines Geschehens nicht nur innerhalb des Seienden, sondern einer Erhebung in das Sein. So, wie wir, die wir überhaupt etwas von einer „creatio ex nihilo" wissen, den Sinn von Physis jetzt deuten, konnte dieser Sinn von den Griechen selber nicht „zum Ausdruck gebracht" werden. Aber sie konnten gleichsam aus diesem Sinne heraus sprechen, ja, sie mußten aus ihm heraus sprechen, weil sie keinen Schöpfergott in späterem Sinne kannten. In diesem Nichtkennen zeigt sich eine so tiefe und so grundlegende Differenz des griechischen Seinsverständnisses von dem des metaphysisch deutenden Christentums, daß von ihm her alle anderen hier waltenden Unterschiede eingetönt werden. Darum konnte „Griechisches" nur in gewaltsamer Verwandlung ins Mittelalter gezogen werden. Im ältesten Satze der abendländischen Philosophie, dem Satz des Anaximander, wird ausgesprochen, daß das Seiende sich in 42

seinem Entstehen wie seinem Vergehen einfüge in das Gesetz der Zeit, daß es der Zeit gehorsam sei und nicht ungebührlich verweile, sondern daß das eine Seiende dabei auf das andere Rücksicht nähme, daß Vertrag und Vereinigung sei in allem Verfließen26. Es scheint, daß hier, in dieser Frühe der Philosophie, das Seiende nicht nur als das „Von-sich-aus-Ankommende" verstanden wird, sondern daß es ahnend mit dem Ankommen des Menschen zusammengedacht wird. Denn jene Rücksichtnahme des Seienden aufeinander setzt eine zeitliche Not voraus, eine Enge der Zeit. Solche Enge aber ist nur vom Wesen des Menschen, des endlich sich ausspannenden Menschen, her zu verstehen. Sein als das, was das Seiende und den Menschen in der „Sinnverklammerung" entbirgt, ist damit noch nicht deutlich als solches benannt. Aber das Andenken an das, was wir die Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden genannt haben, schwingt gleichsam unausgesprochen in jenem Seinsverständnis mit. Denn das Entstehen im Sinne der Physis, im Sinne des „Von-sich-herAnwesens", der Physis, die auch über den Göttern noch waltet, weist heraus aus allem „Vorganghaften", das innerhalb des Seienden sich abspielen könnte. Es verweist auf einen Grund, ohne den Grund zu benennen. Daß aber dieses letztere gerade nicht geschieht, bekundet eine Scheu vor einem Antasten, einer ungemäßen Bezeichnung, eine Zurückhaltung, die von unheimlicher Bedeutsamkeit ist. „Physis" ist gleichsam die „eingewickelte" Zwiefältigkeit von dem, was aufscheinen läßt (Sein) und dem, was aufscheint (Seiendem). Wir lassen die Frage stehen: warum kennt die Philosophie der Griechen nicht den Schöpfergott in strengem Sinne? Warum überläßt sie das Seiende gleichsam sich selber? Indem sie dieses tut, ist sie Metaphysik und spricht doch aus einer Verwindung der Metaphysik heraus. Würde Metaphysik ganz unterwandert, würde Sein als Sinnstiftung in der „Verklammerung" gedacht, so würde neben der „Physis" des sichzeigenden Seienden die des auffangenden Menschen mitbenannt werden müssen. Von hier aus kann ein weiterer, mannigfaltigsten Deutungen unterworfener Satz aus dem Bereich des „vorsokratischen" Denkens in einer bisher nie gesehenen Tiefe verstanden werden, der Satz des Parmenides, der da sagt, daß das Sein (είναι) und das Vernehmen (νοείν) des Seins dasselbe (τό αυτό) wären27. 43

Spricht Parmenides aus einem unausgesprochenen Verständnis der Differenz zwischen Sein und Seiendem heraus, was im Hinblick auf die auch für seine Zeit noch geltende Bedeutung von „Physis" angenommen werden kann, dann ist der Satz eine wundervoll eindringliche Fassung für das „Aufscheinen in Verklammerung". Dann wird hier gesagt, daß das Sein den Menschen als den Vernehmenden (Auffangenden in der ganzen Weite dieses Sinnes, die wir darstellten) und das Seiende als das Zu-Vernehmende zugleich entsendet, daß es selbst das Selbe in beiden ist und je einen Sinn seiner ankommen läßt. Das Geheimnis der „Physis" muß dann auch hinter der Schilderung stehen, die das „Lehrgedicht" des Parmenides gibt, der Beschreibung, die hier die Göttin der Wahrheit von drei für den Menschen möglichen Wegen gibt: dem Weg des Seins, dem Weg des Nichts, der zu meiden sei, aber immer mit benannt werden müsse, und dem Weg des Scheins, mit dem der Mensch sich auseinandersetzen müsse. Im letzteren ist der Streit zwischen Sein und Schein gefaßt, der Streit, in den der Mensch immer verstrickt ist, wenn Seiendes aufscheint. Aufscheinen des Seienden bringt — wir haben davon gesprochen — Beirrung mit sich, immer neue und je andere Beirrung. Das Aufscheinen eröffnet den Raum der Wahrheit. Wahrheit aber ist für keinen Menschen ein ruhiger und fragloser Besitz. Sie muß immer wieder errungen, immer wieder gesichert werden. Sie ist ein Wagnis, das der Mensch stets von neuem durchstehen muß. Es muß sich also, damit sie, die Wahrheit, überhaupt aufglühen kann, gleichsam ein Land auftun, ein Kampfplatz, auf dem sie erobert werden kann, auf dem es also auch Trug und Verwirrung gibt. Jedes Aufscheinen des Seienden also reißt den Menschen hinein in den Streit zwischen Sein und Schein, entsendet ihn als den, der schaffend mitzuwirken hat an der Wahrheit, der Wahrung der Rangordnung des Seienden. Für jene Ordnung, das in der „Verklammerung" waltende und zu hütende Sinngefüge, steht bei Heraklit das Wort „Logos" 28 . Führt man das λέγειν zurück auf die Urbedeutung des Sammeins, Lesens (etwa der Weinlese) und sichtenden Zusammenlegens, dann würde es jene Artikuliertheit, Gefügtheit, Gegliedertheit des Seienden meinen können, die sich immer gleichsam „um den Menschen versammelt". Es würde in die Richtung dessen weisen, was wir Sprache genannt haben, Sprache als ein „Haben

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von Sinn des Seienden", ein ursprüngliches Haben, auf Grund dessen dann erst herausgesprochene Worte gebildet werden können. Wir sagten in unserem ersten Teil, daß alle begriffliche Fassung der Ganzheit des Seienden, alles „Erkennen", ein Späteres sei gegenüber früheren Weisen des „Sprechens". In jenes frühe „Verstehen" schlägt immer Gestimmtheit hinein, Gestimmtheit, ohne die keine Entscheidung je möglich wäre, ohne die der Mensch niemals handeln könnte, niemals mit dem Seienden umgehen könnte. Es ist zu fragen: was war die Grundgestimmtheit, die dem Griechentum überantwortet wurde und in der das hier waltende Seinsverständnis ruhte? Wir nennen diese Grundgestimmtheit ein Staunenkönnen, ein inständiges Hinnehmenkönnen, ein Feiernkönnen in Maßen, die in keinem späteren Menschentum so da waren, und mit dem Feiernkönnen die Leidenschaft, im Schaffen sich hineinzuwerfen in das Bewunderte, den Drang, des Überströmend-Leuchtenden wür29 dig zu sein . Der Mensch dieser Gestimmtheit kann spüren, daß er von einem Übermächtigen hineingerissen ist in sein Schicksal als in die Arena für ein Ringen, in dem es das Sieghafte in unvergleichlichem Glänze geben kann. Er, dieser Mensch, sehnt sich danach, zu streiten, um die Leuchtkraft des Seienden mitzukämpfen, darum, daß das Große groß und das Kleine klein genannt werde. Er feiert im Schaffen, er vermag in der kurzen Spanne seines Glanzes unfaßbaren Reichtum aufleuchten zu lassen. In diese Leidenschaft schöpferischen Tuns ist also das Seinsverständnis des Griechentums eingebettet. Das Seiende selbst wird gesehen als Physis, als das Von-sich-selbst-her-Anwesende. Damit aber wird es verstanden als Poiesis, Schaffung von Leuchtendem, von dem, was noch nicht da war, was sich selbst „in den Stand bringt". Der Mensch steht hier nicht als der „Nur-Betrachtende" dem Seienden gegenüber. Er ist immer derjenige, der sich einbezogen weiß in das Sein als das Sich-Schaffen. Und jene Worte, die als „Denken", „Wissen", „Vernehmen", „Verstehen" übersetzt werden können, jene Worte meinen niemals das „Rein-Rationale". Sie bedeuten immer ein Kundigsein, ein Mit-den-Dingen-umgehenKönnen, ein Schätzenkönnen und Unterscheidenkönnen. Sie umfassen immer Entscheidungen mit, die in mehr als logischer Wahrheit beruhen. 45

Als der in diesem Sinne „Wissende" stellt sich der Mensch das Seiende nicht als Objekt entgegen, und eben darum versteht er sich selber nicht als Subjekt. Es gibt hier kein „Entgegen" des Seienden, es gibt nur ein Miteinander im Schaffen, im Aufleuchtenlassen, im Entbergen des Neuen. Die „reine Ratio" und das Verstehen des Seienden als Subjekt-Objekt-Entgegensetzung: dieses beides wird erst später geboren. Griechisches Seinsverständnis ist durditönt, in einer einzigartigen Weise durchtönt, vom Drang einer Begrüßung des Seienden, einer Begrüßung seines Herrlichen wie seines Schrecklichen als des Feldes für ein ringendes Mitschaffen. Dieses Begrüßenkönnen in unvergleichlichem Aufschwung, in unvergleichlichem Sich-hineinwerfen und Sichverschwenden um des sieghaften Glanzes der Dinge willen und keinesfalls wegen eines „Nutzerfolges", dieser Zug des großen Feiems ist das AllesDurchherrschende, alle Teilerscheinungen dieser Epoche in sich Saugende. Von ihm her muß jedes Einzelne verstanden werden. Wir kehren noch einmal zu dem großen Wort „Physis" zurück. Es war gesagt worden, in diesem Wort verberge sich die Zwiefältigkeit dessen, was „ankommen" läßt, und des „Ankommenden", das Wort spräche also aus der allerdings nicht benannten Differenz von Seiendem und Sein. Die weitergehende Vergessenheit dieser Differenz und damit die weitere Einsenkung in die Metaphysik hinein konnte sich dann nur so vollziehen, daß das Quellhafte, die Poiesis, das Heranwesenkönnen des Seienden, für das menschliche Seinverstehen verblich, und daß als Sein des Seienden das bloße Vorliegen, die reine Vorhandenheit angesehen wurde. Dieses langsame Aufscheinen einer metaphysischen Sprache nahm seinen Weg über das Seinsdenken Piatos, zu dessen großem Werk wir jetzt hinüberblicken müssen30. Vor diesem Werk steht die erschütternde Gestalt des Sokrates, dessen, der nichts geschrieben hat, weil er hellsichtig war für die Einebnung und Auslaugung alles „Herumreichbaren" und weil er rein war als einer, der nicht schielte nach „persönlichem Erfolge" im Sinne etwa des Nachwirkens in einem Schrifttum. Sokrates war Menschenführer von einzigartiger Kraft. Sein Leben verzehrte sich darin, in „Seelen" zu schaffen. Sein Weg dazu war der, zur Besinnung über das Wesen von „Tugenden" aufzufordern, nicht um „logische Begriffe zu definieren", sondern um seine „Schüler" in die Entscheidung für ein lauteres Schaffen einzuweisen. Daß

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dieser Weg so mißverstanden wurde, daß man Sokrates als den „Entdecker des Begriffs" gepriesen hat und das Wort „Begriff" dann noch in neuzeitlichem Sinne verstand: solche Fehldeutung konnte nur dort gegeben werden, wo geradezu schmerzliche Ahnungslosigkeit diesem Denker gegenüber vorlag. Denn wenn man sich darauf berief, Aristoteles hätte Sokrates als denjenigen bezeichnet, der „nach Definitionen" gesucht habe, dann vergaß man, zu überlegen, in welchem Lichte denn Aristoteles selber so etwas wie eine Definition gesehen hat. Plato hat dem Sokrates fast alle seine Werke in den Mund gelegt — und doch bedeutet sein eigenes, so gewaltiges Schaffen einen weiten Schritt von Sokrates fort. Plato ist von unermeßlicher Wirkung auf das Abendland gewesen. Bei der Nennung seines Namens stellt sich fast selbstverständlich die Nennung des Wortes „Idee" ein. Ιδέα heißt Aussehen. Alles Seiende, das von sich her anwest, hat ein Aussehen. Sein „Aufscheinenkönnen" gibt ihm dieses Aussehen mit: indem es aufscheint, kann es „dastehen" mit ihm, kann es „einen Anblick bieten" als ein gleichsam Festes. Der Blick des Menschen kann nun bei solchem Aussehen des Seienden verweilen. Das sichzeigende Seiende hat nun aber nicht nur immer ein Aussehen, sondern es birgt in sich gestalthafte Züge, die es mit anderem Seienden teilt. Alles Feuer, das irgendwo brennt, hat teil an der Wesensgestalt „Feurigkeit", alles Gerechte untersteht der Wesensgestalt „Gerechtigkeit". Piatos Besinnungen über das Wesen des Seins sind durchglüht und durchtönt von der Begeisterung über die Möglichkeit des Menschen, solche Wesensgestalten erblicken zu können. E r spricht hier von „Ideen" und spricht diesen den Rang des eigentlichen Seins zu. So denkt er den Himmel der seienden, urseienden Wesensgestalten, der Ideen, und sieht in allem Sinnlich-Faßbaren ein Zweitrangiges, ein nur in minderem Sinne Seiendes. Das, was im Lichte der „vorsokratischen" Denker das von sich selbst her anwesende, eigentliche Seiende war, die Fülle des Sinnlich-Wirklichen, wird zu einem dem Musterbild der Idee gegenüber scheindurchdrungenen Nachbild. Die als vom sinnlichen Seienden gelöst gedachten vergeistigten „Wesensgestalten", die Ideen haben die Seinsweise der ständigen Anwesenheit (οόσία). 47

Damit wird noch das „Von-sich-selbst-her-Anwesen" des Seienden bedacht: aber es wird durch die Isolierung der Ideen von dem im Leben begegnenden Seienden eine Denkbahn eröffnet, auf der es dann zum Verständnis des Seins als einem dauernd vorliegenden, vorhandenen Urseienden kommt. Werden doch in den jetzt folgenden Jahrhunderten überhaupt die Worte Piatos in den Umgriff einer späteren Sprache gezogen: der der Spätantike und des Römertums, die dann wieder vom Mittelalter aufgefangen wird. Die Eigentümlichkeit aller Metaphysik ist es, eine Auslegung dessen, was Wahrheit ist, mitzubringen, d. h. sich selbst die Wahrheit ihrer selbst zu bestätigen, ihr eigenes Kriterium zu sein. Dieses ist für sie, die Metaphysik, unvermeidlich. Denn da sie eine Auslegung des Seienden im Ganzen von einem seienden Grund her gibt, da sie den sie selbst entsendenden Boden vergißt und damit vergißt, daß Wahrheit immer das Ausgehändigte ist, so muß sie Wahrheit irgendwie als eine Beziehung im Seienden zu fassen trachten. Diese Beziehung muß sie als ein „Verhältnis" zwischen dem erkennenden Menschen und dem, was erkannt wird, bezeichnen. Da Metaphysik den Menschen nicht als den von „Sprache" durchtönten zu sehen vermag, weil ihr der Blick in den Grund des Seins versagt ist, so hat sie ferner keine Möglichkeit, die völlige Unvergleichbarkeit des Menschen gegenüber allem anderen Seienden zu sehen. Der metaphysisch deutende Mensch muß daher Momente des nichtmenschlichen Seienden verwenden, um sich selber und sein Erkennen zu deuten. Damit aber kann er sich selber furchtbar mißverstehen. Die einzigartige Möglichkeit, die er, der Mensch, ist und die wir sein ,. Sorgesein" nannten, die Möglichkeit nämlich, von Sprache überkommen zu werden und diese Sprache hüten zu können in Entscheidungen der Freiheit, diese Möglichkeit läßt sich keinesfalls fassen von Momenten des nichtmenschlichen Seienden her. Das nichtverstehende Seiende ist niemals ein Sein, das sein kann, das sich selbst noch gestalten kann in freier Entscheidung. Es ist vielmehr, handle es sich nun um das Sein des Felsens, des Meeres, der Palme, des Löwen, ein Sein, das bleiben muß, wie es ist, das nicht über sich selbst noch entscheiden kann. Wir sprechen hier von bloßem Vorhandensein81. 48

Der verstehende, Sprache empfangende und in der Hütung der Sprache über sich selbst entscheidende Mensdi ist niemals ein solches Vorhandensein. Er kann sich aber, in metaphysischen Deutungen, als ein solches ansehen. Er kann versuchen, etwas, was nur als Vorhandenes denkbar ist, auf seine eigene Seinsweise zu übertragen. Solche Übertragungen liegen in der Geschichte der Metaphysik vor, wenn etwa das menschliche Verstehen als eine Eigenschaft an einer „Substanz" oder als Teilmoment einer „Gestalt" oder „Struktur" verstanden wird32. Die Bedeutung der Seele als Substanz und als Gestalt pflegt sich auf Plato zurückzubeziehen, und Plato hat hier auch wirklich entscheidende Anstöße gegeben. Dadurch, daß Plato die Idee als etwas Immateriell-Seiendes ansetzt, jenseits vom Sinnlich-Faßbaren ansetzt, und diesem Immateriellen doch eine Gestalthaftigkeit beläßt, begründet er jene seltsame Weise des Zusammendenkens von Gestalthaftem, das doch im Grunde nur von Körperlich-Räumlichem her Sinn hat, und Körperlosem. Von daher greift diese „Fusion" dann auf das „Seelische" des Menschen über und durchgeistert, wenn auch in gewissen Variationen, die Entfaltung der Metaphysik bis in die Gegenwart hinein. Und erst ein der Metaphysik nicht mehr verfallenes Denken kann darauf verweisen, daß die unvergleichliche Möglichkeit des Sinnverstehens hier in ein quasi-körperliches Schema gepreßt wird, eine Vorstellungsweise, die fast kindlich erscheinen muß, wenn sie wirklich ernsthaft bedacht wird. Man malt sich Bilder von sich selber und vergißt, daß man immer mehr als das Gemalte, nämlich das, was malen kann, ist. Wir kehren noch einmal zur Frage der Wahrheit zurück und zu der Deutung, die sie, die Wahrheit, über die platonische Wendung zur Metaphysik hin finden muß. Wenn das Ideenhafte als das immer-anwesende Musterbildliche gesetzt wird, so muß die Wahrheit alles Abbildlichen die sein, dem Musterbild zu entsprechen. Der erkennende Mensch aber muß dann in diese Beziehung so eingeschaltet sein, daß sein Erkennen sowohl mit dem abbildlichen als auch mit dem musterbildlichen Seienden „übereinstimmt". Wahrheit, wie sie der Mensch hier als die seine begreift, ist also Übereinstimmung des Erkennens mit der Sache. Sie wird nicht verstanden als das ursprüngliche Aufleuchten des Seienden in der Sinnverklammerung, als die Art 4 Kanthack, Heidegger

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und Weise, wie das Seiende sich überhaupt frühestens dem auffangenden Menschen zeigt. Das Aufleuchten als solches ist in dieser Deutung vergessen, muß vergessen sein, da wir ja immer tiefer in die Bezirke der Metaphysik geraten. Statt dessen erscheint das Seiende als das einfürallemal Vorliegend-Vorhandene. Die Erringung der Wahrheit aber, die nur in der Hütung der übereigneten Sinndeutung und der Überwindung des gefährlichen Scheins, den jede Sinndeutung mit sich bringt, sich vollzieht, diese große, im Umgehen mit dem Seienden sich erfüllende Möglichkeit des Menschen, diese hohe Wahrheit des Schaffens, von der auch der Grieche Plato noch Wesentliches weiß: diese Wahrheit wird doch über ihn hinweg und in den Umtönungen seines Denkens zur „Übereinstimmung der Aussage des Intellekts mit der Sache"33. Damit aber beginnt eine Verkehrung, die zum schweren Geschick des Abendlandes werden sollte. Denn statt daß bedacht wurde, welchem Boden denn jede und also auch diese Ausdeutung der Wahrheit entwächst und allein erwachsen kann, statt daß sich der Mensch darauf besann, daß er sich nie allein eich selbst verdankt, sah er sich — und dies geschah immer rasanter im Denken der Neuzeit — zunehmend als denjenigen an, dessen Intellekt Richter zu sein habe über das, was das Sein sei (spekulative Metaphysik), oder darüber, daß man diese Frage gar nicht zu stellen habe (Positivismus). Von solcher Einstellung her übersah man immer wieder die Schwierigkeit, daß es, wenn man die Wahrheit so faßte, niemals ein Kriterium dafür geben könne, ob man sie erreicht habe, kann doch der Mensch niemals die Aussage seines Intellekts mit „der Sache selbst" vergleichen, sondern immer nur mit dem, was sich ihm, dem Menschen, an eben dieser Sache zeigt. Es wurden in unseren letzten Absätzen Entwicklungen angedeutet, die sich über den Piatonismus hinweg und in Umfärbungen seiner in den späteren Jahrhunderten vollziehen. Gerade um dieses späteren Geschickes willen aber sei noch einmal betont, daß Piatons Ideenlehre selbst doch noch tief mit der griechischen Urerfahrung des Seins zusammenhängt. Sie, die Ideenlehre, bedeutet ein Seinsverständnis, in dem das Seiende begrüßt und gefeiert wird. Die Idee Piatos ist etwas Scheinendes, in Vollkommenheit Leuchtendes. Was im Menschen zu ihr strebt, heißt noch Liebe, Eros, als die Kraft, zu feiern und zu schaffen. Daß aber die Ideen so leuchten können, dies gründet noch in einer staunenden Ahnung des Grundes, der aufleuchten 60

lassen kann. Und solange das Griechentum noch Größe besitzt, verschwindet diese Grunderfahrung nicht. Von der Gestimmtheit solches bewundernden Erschauerns her bleibt audi für Piatos größten Schüler, Aristoteles, die Frage „Was ist das Sein"? eine immer und immer wieder zu stellende. Darum ist auch das berühmte „Vierursachenschema" dieses Denkers noch ganz und gar durchdrungen von einem Feiern und Danken34. Dieses „Ursachenschema" zählt in seiner römischen, dann vom Mittelalter übernommenen Fassung folgende Gründe auf, die sich vereinigen müssen, damit ein Seiendes sein kann: causa materialis, causa formalis, causa efficiens und causa finalis. Ein „Ding" der Natur wie die Pflanze oder auch etwas künstlich Hergestelltes wie die Statue, bedürfen, so wird die Meinung des Aristoteles hier üblicherweise interpretiert, eines stofflichen Prinzips zu ihrer Entstehung. Weiter aber müssen bestimmte Formen als seiende Ursachen angenommen werden, weil ohne sie nie die spezifische Gestalt jenes Dinges begriffen werden könnte. Es muß aber auch noch der Zweck, für den etwa die Statue angefertigt wird, als Ursache mitbenannt werden, so bei einem Denkmal etwa die Rühmung eines großen Mannes. Und schließlich muß ein bewegendes und bewirkendes Prinzip dazugedacht werden, das die Form in den Stoff hineinlegt und so den Zweck verwirklicht. Bei der Statue (Artefakt) sei dieses bewegende Etwas der Künstler, der das Standbild aus dem Stoffe schlägt, Form und Zweck erfüllend, bei der Pflanze (Naturding) dagegen liege die bewegende Ursache in dem betreffenden Seienden selbst, etwa schon im Samenkeim, und brauche nicht von außen herangetragen zu werden. Die eben angegebene geläufige Deutung der aristotelischen Ursachenlehre sieht, als neuzeitliche Deutung, in aller „Verursachung" ein Bewirken von Erfolgen. Für sie, diese Deutung, rückt die „causa efficiens" in den Vordergrund. In solchem Lichte aber ist nichts mehr zu sehen von dem, was „Ursache" bedeuten mußte, solange noch die Seinserfahrimg des Griechentums lebendig war. „Ursache" konnte hier nur verstanden werden von jenem Fieiern und Begrüßen her, jener von allem Nutzen absehenden Bewunderung des Seienden, die die unvergleichliche Möglichkeit des Griechen war. Dann aber konnte Ursache nicht eine nur rational ber.ennbare „Kraft" im Sinne der Moderne sein, sondern das, dem zu danken war, dasjenige, an das man verschuldet war (αίτια) hinsichtlich des Leuchtens, des Aufschimmerns des Seienden. 4*

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Die Vereinigung der vier „Ursachen" als der vier Wesensmomente, an die jedes Seiende „verschuldet" ist, diese Vereinigung aber mußte dann griechisch verstanden werden im Sinne des „schaffenden Aufscheinenlassens", im Sinn der „Poiesis", in die der Mensch sich rrciischaffend, miihelfend einschalten konnte. So „wirkt" der Künstler daran mit, daß das Standbild aufglänzen kann als das, was bis dahin noch nicht da war, das Geschenk des Neuen, des Ankommend-Verweilenden, ein Reidierwerden, eine Entbreitung von Fülle. Poiesis ist aber im Sinne des aristotelischen Seinsverstehens nicht nur das Werk der Techne, also ein „Hergestelltes" wie die Statue, sondern Poiesis ist auch das Wachsen der Blume und alles „Geschehen" in der Natur. Weder in dem einen noch in dem anderen Falle gibt es einen „Zweck" im Sinne eines zu erreichenden Erfolges. Die Ursache, die Aristoteles selbst als die des „Weswegen" benennt und die später causa finalis genannt worden ist, meint vielmehr den Horizont, die Grenze, von der her ein Aufscheinen immer erst beginnen kann, in die es „eingebettet" sein muß, um seinen Sinn erfüllen zu können. Das „Utilitäre" im neuzeitlichen Sinne aber liegt solchem Denken weltenfern. Ursachesein ist sehnend-feierndes Schaffen, dem das Seiende sich verdankt. In solchem Lichte muß noch ein anderes großes Wort der aristotelischen Philosophie gesehen werden: das Wort „Physis", wie es vornehmlich in der „Physik" dieses Denkers erscheint. Von der Physis her, sagt Aristoteles, sei solches Seiende, das in sich selbst das Prinzip der Ruhe und Bewegung habe, wie Erde, Feuer, Wasser, Luft, Pflanze und Tier. Die Seinsweise eines solchen Seienden ist also Bewegtheit als jener Bezirk, innerhalb dessen erst der Unterschied von Ruhe und Bewegung sich überhaupt auftun kann. Solche Bewegtheit wird von Aristoteles nicht nur mit örtlicher Bewegung in Verbindung gebracht. Das Wort hat letztlich den Grundsinn von Umschlag (μεταβολή), und solcher Umschlag ist von der griechischen Grunderfahrung des Seins her das „Zum-Vorschein-Bringen" eines bisher Verborgenen und Abwesenden. Mit dem Worte Physis ist das Sein des Seienden als Aufscheinenlassen benannt. Zwar wird Physis auch „ousia" genannt und als solche „ständige Anwesenheit". Aber solche Anwesenheit, solches stehende Verweilen, ist erst Folge des Aufscheinenlassens, und geht man von ihm allein 52

aus, wie dieses etwa die Materialisten der damaligen Zeit taten, so sieht man fort von dem eigentlichen Grundzug des Seins, nämlich dem Hervorkommen in die Anwesenheit, dem Sichstellen in die Offenheit des Scheinens. Die „Lehre von den vier Ursachen" läßt sich dann darstellen als eine Ausfaltung der „Physis" als Bewegtheit. Und ebenso läßt sich von ihr her verstehen das Wort „Entelecheia", ein Wort, das immer als entscheidend für das Denken des Aristoteles benannt worden ist. „Entelecheia" weist im Raum des griechischen Denkens darauf hin, daß Bewegtheit auch die Ruhe einschließt, das Stillhalten, das Sichauffangen der Bewegung eines Bewegten und damit das Hinstellen, das Sammeln in ein Stehen. Bewegung fängt sich somit immer schon „in ihrem Ende" auf, ist immer schon von diesem Ende durchdrungen. Solches Sich-im-Ende-Haben („Telos") ist Bewegtheit als Entelecheia. Physis aber ist Poiesis, Her-vor-bringen, Aufleuchtenlassen des bis dahin Verborgenen. Sie ist ebenso Poiesis wie das, was der schaffende Mensch her-stellt. Alles Geschehen steht für Aristoteles als dem griechisch erfahrenden Denker im Zeichen des schaffenden Sichtentbergens, von dessen Gewalt der Mensch sich feiernd mitreißen läßt. Mit dem Absinken des Griechentums von seiner Höhe, mit „Hellenismus" und Römertum setzt eine immer stärker werdende Verwandlung des Seinsverständnisses ein, eine Verwandlung, für die sowohl bei Plato als audi bei Aristoteles gewisse Anhalte gegeben werden, die sich aber erst in den durch Jahrhunderte hin sich entfaltenden Schulen der beiden eigentlich vollzieht, um dann in Mittelalter und Neuzeit als Verwandlung noch überhöht zu werden. Die alten Worte geraten schon in der Übersetzung ins Lateinische in den „Griff" eines anderen Seinsverständnisses und erfahren in den folgenden Jahrhunderten weitere entscheidende Umtönungen35. Aus „ousia", das bei Plato das Sein der Ideen als ständiges Heranwesen bezeichnete und das audi bei Aristoteles ein solches „Ankommen" meint, nur hier als Zusammenspiel der vier Ursachen, aus „ousia" wird substantia. Damit versinkt das bei Piaton wie bei Aristoteles immer noch bewahrte Andenken an ein Aufscheinen, ein Von-sidi-selbst-her-Anwesen. Das Feiernkönnen und Schaffenkönnen eines hochkünstlerischen Menschentums erlischt, um einer anderen Weise des Umgehens mit dem Seienden Platz zu machen. Damit muß sich die Deutung des Seins wandeln, 53

Sein kann nicht mehr so verstanden werden, wie dieses für einen Griechen möglich war. Substantia ist das Vorhandene, das Vorliegende als der beharrende Träger von Eigenschaften, und solches Seiende nimmt als vorder-gründiges ganz und gar die Stelle des Seins ein. Sein wird gedacht als Substantiality, d. h. als Wesenszug am Seienden. Metaphysik als Seinsvergessenheit, Metaphysik als die Frage nach den allgemeinsten Zügen des Seienden und einem höchsten und letzten Seienden richtet sich mehr und mehr ein. Am Substantiellen als Zugrundeliegendem (νποκείμενον) haftet jetzt alles, was Ursache genannt werden kann. Ursache wird „Vorgang" an und im Seienden. Aitia wird causa und empfängt den Akzent der bloßen Wirkursache. Der aristotelische Gegensatz von Form (μορφή) und Stoff (δλη) als Momenten der Poiesis wird zum Gegensatzpaar forma-materia als vorhandenen Komponenten der vorhandenen Substanz. Physis wird natura und wird damit als Nur-Seiendes gedacht. Der Mensch leuchtet sich selbst und sein Verstehen von dem so verstandenen Seienden her an. Er begreift seine „Seele" als „Substanz", an der „Eigenschaften" haften. Alles, was Denken, Verstand, Vernunft genannt werden kann, wird zu solch einer „Eigenschaft". Es etabliert sich die „reine Ratio", von der her alles „Gefühlsmäßige" als das Irrationale bezeichnet wird. Daß sie, die „reine Ratio", sich als den Gegensatz zum „Emotionalen" anbieten kann, hängt zusammen mit der Entstehung der Logik. Dieses ist richtig zu verstehen. Es ist nicht so, als ob vor der Entstehung der Logik etwa nicht „streng" gedacht worden wäre. Alles wesentliche Denken ist strenges Denken. Nur vermochte jenes „vorlogische" Denken noch etwas von der Herkunft seiner selbst zu ahnen und dieser Herkunft in der Weise eingedenk zu bleiben, daß es sein Können hineinwarf in ein Schaffen, sich ihm inbrünstig verpflichtet fühlend, ob es um das Schaffen im Staat, in der Heerführung, in der Erziehung, in der Kunst gehen mochte. Es, dieses Denken, war noch von einem Sollen durchdrungen, das nicht das „rein-logische" war. Es trug in sich selbst die ungeheure Verantwortung dafür, daß das von ihm Gedachte nicht in den Untergang triebe, eine Verantwortung, von der die „reine Ratio" als solche nichts weiß und ihrer Selbstdefinition nach auch nichts wissen darf, wenn sie in ihrem Sinne sauber ist, und das nicht tut, was

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sie sich selbst verbietet, nämlich über den Rang des Seienden entscheidet. Die Entstehung der Logik, die Behauptung, gültiges Erkennen sei das und nur das der reinen Ratio, und Wahrheit läge darin, daß die „Aussagen des Intellekts mit der Sache übereinstimmen": dieses gehört zusammen und geht jetzt Jahrtausende lang miteinander durch die Geschichte. Kritische Selbstrestriktionen der Ratio wiesen zwar immer wieder darauf hin, daß es unmöglich für den Menschen wäre, jene „Übereinstimmung" je zu sichern, ja, daß die Ratio selbst sich, sobald sie einen wirklichen Vorstoß versuche, in unauflösbare Antinomien, Widersprüche, verstricke, aber die Ratio verstand es, allerdings in unsauberem Vorgehen, hier eine Vogel-Strauß-Politik zu betreiben. Die Entstehung der Logik hängt damit zusammen, daß das Seiende jetzt als das Vorhandene, der Aussage des Denkens Vorliegende betrachtet wird und auf seine „Eigenschaften", seine „Bestimmungen", hin newiraZ-erkennend angesehen wird. Die Bestimmungen des Seienden lassen sich im „reinen Denken" aussagen: sie liefern Kategorien als Aussageformen, Kategorien, die nun das „Werkzeug" (Organon) werden, mit Hilfe dessen sich die Metaphysik darstellt. Der Ratio gegenüber bildet sich der Gegensatz des „Irrationalen" heraus, dessen, was der Ratio ferngehalten werden muß. Damit gibt das Denken seine tiefste Möglichkeit preis, wirft sie gleichsam aus sich heraus. Das rationale Denken stellt sich nur in den Dienst des Erkennens, des neutralen Betrachtens als solchen. Es kann und will von sich aus keine Beziehung zu dem haben, was denn schöpferisch und erhöhend auf dieser Welt getan werden soll. Damit weist dieses Denken eigentliche Verantwortung von sich. Es überläßt diese anderen Instanzen, anderen Instanzen, die mit dem, was die Ratio gefunden hat, möglicherweise höchst unlauter umgehen könnten. So können dann die Einsichten der Ratio als „voraussetzungsloser Wissenschaft" in den Dienst politischen Machtstrebens und unmenschlicher Praktiken gestellt werden. In der Alternative „Rationalismus — Irrationalismus", die sich geschichtlich entfaltet, wird die höchste Möglichkeit des Menschen vergessen, jene Möglichkeit, von der her er allein eine ihm übergebene Sprache wahrhaft hüten kann: die Verflechtung des Denkens mit der großen Verantwortungsbereitschaft, mit dem echten Einsatz. 55

Β DAS SEIENDE ALS DAS GESCHAFFENE UND IM HÖREN AUF AUTORITÄT ZU HÜTENDE: SPRACHE DES MITTELALTERS Im Umkreis der sterbenden Antike leuchtet ein einzigartiger Glanz des Göttlichen auf im Leben und Opfertode Christi. Das Firmament des Heiligen entzündet sich mit bis dahin nicht gekannter Helligkeit: Liebe als der letzte Sinn des Seins, Liebe als das Unüberbietbare, alles andere Einbehaltende, kommt zum Strahlen, nicht gebrochen durch das Prisma einer Metaphysik, nicht verschleiert durch ein Netz von Begriffen, nicht verdüstert durch Kontroversen, die es nicht geben kann, wenn wirklich verstanden wird, was Liebe ist. Das überirdische Maß, ohne dessen Verspüren der Mensch nicht als Mensch da sein könnte, dieses überirdische Maß verschenkt sich mit einer Huld und Eindringlichkeit ohnegleichen. Reines Leuchten der Milde, der Hingabe, des Verzeihens und Vertrauens, scheint auf und überstrahlt die Neugier alles Wissenwollens, es sei denn eines solchen, das sich im lauteren Tun in dieser Welt, im lauteren Umgehen mit dem Mitmenschen entfaltet. Das ursprüngliche christliche Leben wird möglich, wird für kurze Zeit auf dieser Erde möglich als Anheimgabe an den Grund des Seins, Anheimgabe in einer unvergleichlichen Näheferne: der grenzenlosen Innigkeit, die doch die Unbekanntheit Gottes zu schonen vermag, die nicht antastet, die sich nur ziehen läßt vom Schimmer des reinsten Maßes, die nur folgt 36 . Solches Folgen ist nicht berauscht-träumendes Verlassen dieser Welt, es ist stilles Schaffen in ihr. Es ist durchglüht von der wunderbaren Kraft der Möglichkeit des Sichopferns, des Sicheinsetzens. Von dieser Kraft als der außerordentlichsten aller Kräfte her werden Rang und Stand bestimmt. Das ursprüngliche christliche Leben mit seiner Klarheit und dem Frieden, den es bescherte, ist von einer ungeheuren Kraft des Fortwirkens gewesen. Diese Kraft konnte auch dadurch nie völlig gebrochen werden, daß das Leuchten des Göttlichen verschleiert wurde durch die Nebel eines metaphysischen Denkens. Die Jahrhunderte des Mittelalters sind erfüllt von einem rätselhaften und seltsam zwielichtigen Geschehen: dem Ansturm der 56

Metaphysik und der Not, ihr gegenüber das Leuchten des Gottes als des Heilig-Unbekannten zu hüten57. Dieses letztere gelingt in wechselndem Maße, gelingt mitunter auch noch in der Sprache der Metaphysik, durch diese Sprache hindurch. Das aufgeschienene Heil, das Hellwerden seiner, ist von solcher Leuchtkraft, daß es Jahrhunderte als das eigentlich Wesende zu überstrahlen vermag. Und für den Menschen, der sich auf die Schonung dieses Leuchtens versteht, der die hier angemessene Andacht zu hegen vermag, kann Metaphysik gleichsam transparent werden. Er, jener Mensch, kann in metaphysischen Kategorien sprechen und kann doch mit ihnen und durch sie hindurch ein ursprünglicheres Verstehen, ursprünglicheres Denken, vollziehen. Aber das Ereignis, daß der christliche Gott in die Metaphysik gerät, ist ein Ereignis von Jahrtausende durchtönender Bedeutung, denn er, der Gott, gerät im Abendlande nicht nur in die Metaphysik des Mittelalters, sondern auch in die der Neuzeit. Aus der Metaphysik aber erhebt sich auch die größte Gefahr für das Leuchten des Heiligen. An der Metaphysik konnte Gott so vergehen, daß Nietzsche meinen konnte, er sei tot. Man sagt, das Denken des Mittelalters hätte der Hilfe der griechischen Philosophie bedurft, um eine „Welterklärung" anbieten zu können. Es ist richtig, daß antikes Denken ins Mittelalter „hinüberwächst", aber entscheidend für das, was hier „wirkt", ist das Denken des späten und sterbenden Griechentums. Maßgebend werden die ins Römische übersetzten Worte, die nicht mehr vom Feiern des Griechentums künden können, nicht mehr von der Fassung des Seins als der Poiesis berichten. Metaphysik ist Seinsvergessenheit. Metaphysik hält sich an das Seiende und kann es auf eine doppelte Weise befragen. Sie kann die allgemeinsten Züge des Seienden herausstellen und von ihnen aus alles andere begründen, und sie kann einen höchsten gründenden Grund für alles Seiende suchen. Diese Gabelung der Gründe ist von ihr, der Metaphysik, selbst oft nicht in Strenge auseinandergehalten worden38. Grundhaftes im Sinne des Allgemeinsten (Materie, Leben, Kausalität. . .) und Grundhaftes im Sinne des höchsten Begründenden konnten ineinander fließen (Pantheismus, Panvitalismus, Panlogismus . . .). Wenn sie, die Metaphysik, die immer begründen will, ein höchstes Seiendes setzte, dann mußte sie einen seienden Grund zu 57

fassen versuchen, der der Grund seiner selbst war oder keinen anderen Grund hatte. Nur so, nur von solcher sich gleichsam selbst überbordenden Begriffsbildung her, einer Begriffsbildung, die aber immer an Züge des Seienden anknüpfte, konnte sie, die Metaphysik, das Leuchten des Göttlichen einfangen und zugleich verschleiern. Die Metaphysik des Mittelalters setzt Gott als den alles andere Seiende schaffenden, also begründenden, Grund an. Sie benennt ihm gegenüber das Nichts, denn sie läßt Gott die Welt aus dem Nichts schaffen, aber sie versagt diesem Nichts gegenüber mit ihren Mitteln. Sie sagt nichts darüber, wie sich Gott und das Nichts in der Schöpfung vereinen können39. Gott als ein Seiendes erfüllt diesem Denken zufolge bei der Schöpfung des übrigen Seienden einen rational erdachten Plan, dessen wesentliche Züge und Ordnungsprinzipien auf den jüdischhellenistisch durchgearbeiteten Entwurf der platonischen Ideenwelt zurückgehen. Eben darum aber, weil das Seiende hier als ein rational Vorgedachtes erscheint, kann in der Neuzeit der Mensch Gott zu beseitigen versuchen, um sich selbst als den Planenden, Fortschritt Bewirkenden, an die Stelle Gottes zu setzen. In den Jahrhunderten des Mittelalters wird allerdings immer wieder das Bedenkliche verspürt, das vorliegt, wenn der Mensch mit den Mitteln seines Verstandes das Geheimnis Gottes durchleuchten will. So kommt es zu den Kontroversen hinsichtlich des Verhältnisses von Wissen und Glauben. In solchen Fragestellungen aber wird der Glauben als der Gegensatz zum Wissen gesehen und wird so, da Wissen hier Ratio ist, immer wieder als das „Irrationale" verstanden. Eine Unterwanderung dieses Gegensatzes kann aufleuchten — sie war sicher im ursprünglichen christlichen Leben als reinstes Verstehen dessen, was Glauben heißt, da — aber sie, diese Unterwanderung, zeigt sich immer wieder als gefährdet. Im Lichte des metaphysischen, mit „Substantialität" umgehenden Denkens kann dann audi Gott als ein vorliegendes Seiendes, das mit Eigenschaften „behaftet" ist, erscheinen. Diese Eigenschaften können beschrieben werden als Übersteigerungen, Potenzierungen von dem, was man an dem geschaffenen Seienden vorfindet. Eine Schonung Gottes wurde allerdings immer wieder versucht, und zwar auf eine doppelte Weise. Man konnte sagen, bei allen jenen Benennungen Gottes und der Weise seines Seins walte nur 58

eine Analogie der Bedeutung im Vergleich zum Geschaffenen. Weiter aber konnte man dazu auffordern, alle irdischen Prädikate überhaupt zu negieren, beiseite zu lassen, wenn es darum ginge, Gott zu fassen. Wie weit es gelang, das Göttliche nicht anzutasten, ihm sein Leuchten gerade als das rätselhafte Leuchten des Unbekannten zu belassen, hing davon ab, ob ein echtes Verspüren Gottes als des einzigartigen Maßes da war und ob darum auch metaphysische Worte noch transparent werden konnten. Die reinsten und größten Gestalten des Mittelalters leben aus diesem Verspüren, sie leben gegen die Metaphysik, auch dann, wenn sie sich ihrer Worte noch bedienen. Der Schonung Gottes widersprachen jedoch immer wieder Versuche wie etwa der, die Freiheit des Menschen mit der Schöpferallmacht und Providenz Gottes zu verrechnen, als ob der Grund und das ihm Entwachsende in ein Partnerverhältnis zueinander gebracht werden könnten, wie es nur innerhalb des Seienden vorstellbar ist. Der Schonung Gottes widersprachen weiter Erörterungen im Sinne von Theodizeen, von Bemühungen, Gott und sein „Tun" mit menschlichen Mitteln zu verteidigen. Was aber vielleicht der Schonung Gottes am schwersten zuwiderlief, ist die Tatsache, daß es überhaupt Kontroversen gab, mit rationalen Mitteln austragbare Kontroversen. Man verspürte wohl das Ärgerliche solcher Dialektik, aber man konnte mit allen Harmonisierungsbestrebungen nicht verhindern, daß sich eben diese Dialektik in jahrhundertelangen Kämpfen zwischen Schulen und Vereinigungen einnistete. Der metaphysischen Antastung entging Gott auch dann nicht immer, wenn er der „persönliche" genannt wurde. Mit diesem Wort kann das Einzigartige gemeint sein, daß das Leuchten des Heilig-Heilen sich dem einzelnen Menschen zuwenden kann, sich ihm zu verspüren geben kann als Innigkeit eines Aufschwungs ohnegleichen. Mit diesem Wort kann aber auch eine „Anbiederung" des Menschen an Gott gedacht werden, in der die immer zu hütende Unbekanntheit, das Schlechthin-Erhabene Gottes zergleitet in Nur-Menschliches. Der „persönliche" Gott kann der unmetaphysische sein, er kann ausgespielt werden gegen den „Gott der Philosophen", so rein und so glühend, wie Pascal dies tut. Ob aber solche Reinheit da ist, wird durch die Betonung des bloßen Wortes „persönlich" noch nicht gewährleistet.

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Wir kommen zurück zu jenem Begründungsansatz der mittelalterlichen Metaphysik, demzufolge die Schöpfung einem rationalen Entwurf Gottes entspricht, wobei Ratio in spätplatonischhellenistischem Sinne zu verstehen ist. Weil dieses so ist, darum steht alles Geschaffene in einer festen Ordnung. Die tiefste Seinsweise des Seienden aber ist die des Sicheinbindens in eine solche Ordnung. Wahrheit kann im Bezirk solches Denkens der Metaphysik auch nur Entsprechung sein. Die Übereinstimmungslehre der späten Antike färbt sich in „religiösem" Sinne um. Weil aber eine höchste Rationalität das Geschaffene durchwaltet und weil in der Ordnung des Geschaffenen Vermittler an maßgebender Stelle eingegliedert sind, darum muß für den einzelnen Menschen Wahrheit das Fürwahrhalten des Bibelwortes und der kirchlichen Autoritäten sein. Damit hängt die Methode des mittelalterlichen Denkens zusammen, jene Methode, die sich in einer dialektischen Konfrontation von Autoritätsmeinungen bewegt und um der Ordnung des Ganzen willen die eigene Meinung so darstellen muß, daß der Gegensatz der Autoritätsmeinungen sich als ein bloßer Schein zu erkennen gibt. Daß diese Methode nicht verhindern konnte, daß sich Differenzen in großen geschiditlichen Bewegungen fixierten und bestehen blieben, haben wir vorhin erwähnt40. In den Zusammenhang der metaphysischen Gedankengänge, die sich in der Epoche des Mittelalters entbreiten, ist auch die Art und Weise eingeordnet, wie sich der Mensch als der AuffangendVerstehende selbst sieht. Worte wie Substanz im Sinne des vorhandenen Eigenschaftsträgers und wie Form (Gestalt) werden für seine „Seele" verwendet. Verschiedene Deutungen des Verhältnisses von „Seelenform" und Materie werden angeboten. Die Besonderheit dessen, was der Mensch als der Seinsverstehende ist, vermag wohl hier und da geahnt zu werden, aber Metaphysik mischt sich an vielen Stellen wieder ein. Wir sagten, das Leuchten des durch die Verkündigung Christi hindurch sich offenbarenden Gottes hätte lange Jahrhunderte überglänzt. Solcher Glanz, der die unerhörte Kraft hatte, viele Generationen von Menschen zu erhellen, sie eindeutig zu binden, ihnen keine Möglichkeit des völligen Abirrens zu lassen, solcher Glanz, der noch die Metaphysiken jener Epoche zu durchdringen vermochte und in den Menschen als das Unverdrängbar-Heilige sich nieder60

zulassen vermochte: solcher Glanz schwand in der Neuzeit mehr und mehr dahin. Sein Erlösdien wurde zugelassen: der Seinsgrund selber ließ es zu. Und nur von ihm, jenem Grunde, her kann das Leuchten des Heiligen sich wieder entzünden, kann die Offenbarung erneuert werden. Solche Erneuerung aber könnte nicht über die Metaphysik hinweg erfolgen: es müßte sich vielmehr wieder jene Ehrfurcht auftun, in der Offenbarung allein aufgefangen werden könnte 41 . Zu fragen wäre: ist nicht die Metaphysik die Weise, in der der eigentliche, der göttliche Gott, sich entzieht? Kann sein Glanz sich halten, wenn die Metaphysik ihn auf ihre Weise als grundhaftes Seiendes „ausstattet"? Kann das Heilige sich mit den Gewändern der Metaphysik bekleiden? Ist Verheißung, ist das Aufleuchten des unirdischen Maßes, in Kategorien zu pressen? C DAS SEIENDE ALS DAS DEM MENSCHEN ENTGEGENSTEHENDE UND VON IHM ANZUGREIFENDE: SPRACHE DER NEUZEIT Es ist ein nicht fortzuweisendes und dem Blick auf die Geschichte sich klar darbietendes Phänomen, daß das Seinsverständnis des mittelalterlichen Menschen sich wandelt, zu einer Zeit ändert, die wir eben um dieser Wandlung willen den Beginn der Neuzeit nennen. Von diesem Beginn an zieht sich durch die folgenden Jahrhunderte ein trotz aller oberflächlichen Unterschiede im tiefsten gleichbleibendes Seinsverständnis, das auch noch unsere Gegenwart durchtönt. Ja, hier, in dieser Gegenwart, steigert sich die Sprache, die dem Menschen der Neuzeit überantwortet wurde, zu höchster Nachdrücklichkeit, und es kann vermutet werden, daß sie noch auf lange Zeit hin ihre Stimme ertönen läßt. In dieser Epoche spielt sich Metaphysik auf eine neue Weise ein. Sie läßt das Seiende in einem sowohl dem Griechentum als auch dem Mittelalter gegenüber veränderten Lichte erscheinen und bringt, wie jede sich entbergende Sprache, audi ihren eigenen trügerischen Schein und ihre eigene Weise vor Gefährdung mit sich. Seinsvergessenheit vertieft sich in dieser Metaphysik und ist die weitumgreifende Signatur unserer eigenen Gegenwart. Dies hängt zusammen mit der Grundgestimmtheit, die die Jahrhunderte der

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Neuzeit trägt: der Grundgestimmtheit eines Willens zur Macht, eines Triebes zum Angriff auf das Seiende in der Weise der durchplanenden Vergewaltigung42. Wir sprechen von der Grtmrfgestimmtheit jener Jahrhunderte, von der entscheidenden Weise, in der der Mensch an das Seiende herantritt. Daß hier und da ein Zögern dieser und jener Menschen vorliegt, ein Verzicht auf die Macht, eine tiefe Scham, vor ihr: dieses alles vollzieht sich schon immer im Raum jenes Machtwillens, dessen Gefahren ja der einzelne Mensch als der freie entgegentreten kann. Ein Menschentum, dem die Sprache des Machtwillens überantwortet wird, kann das Seiende nicht mehr feiern und sich selber gleichsam hineinwerfen in das Wunder des Aufstrahlens. Ein solches Menschentum kennt aber audi nicht die Weise des Gehorchens, der Entsprechung einem göttlichen Ordo gegenüber, wie der Mensch des Mittelalters. Es kann das Seiende nur auffangen als das Material für sein Tun, als das von ihm zu Stellende, das, was ihm entgegen steht. Wenn eine solche Grundgestimmtheit sich entbreitet, dann muß in ihr und mit ihr der so verstehende Mensch sich selber eine ausgezeichnete Stellung im Vergleich zu anderem Seienden zuerkennen. Solche Selbstakzentuierung, solche Selbsternennung, solche Selbstermächtigung des Menschen geht in der Geschichte der Metaphysik des Abendlandes damit zusammen, daß der leuchtende Schein des Heiligen in das Verdämmern gerät, daß er die unvergleichliche Kraft verliert, die er im Mittelalter besaß, die Kraft, die Mensdien einer Zeit eindeutig zu binden und auf sich zu versammeln. Im Seinsverständnis des neuzeitlichen Menschen bietet sich zum Ersatz für jenes Bindende, Verpflichtende, Haltende, er, der Mensch selber, an. Dieses vollzieht sich so, daß der Mensch sich selber zum Garanten dessen macht, was für ihn wahr sein kann. Kriterium der Wahrheit wird die Evidenz, ein „Haben" von Gewißheit, bei dem der Mensch in entscheidender Weise sich selber vertraut und damit sich als die Stelle ansieht, wo die Wahrheit ihren unerschütterbaren Sitz hat (fundamentum inconcussum veritatis)43. Er, der Mensch, kann, so wie Descartes es im 17. Jahrhundert tut, dabei zunächst noch seinen Gott als letzte Sicherungsinstanz ansehen, als denjenigen, der der Evidenz ihre Leuchtkraft verleiht, aber an die 62

Stelle der großen Anheimgabe, mit der der Mensch des Mittelalters sich von seinem Gotte mit der Wahrheit beschenken ließ, tritt jetzt doch eine höchst betonte Insistenz auf das eigene Können. Und mit zunehmendem Schwinden der Leuchtkraft des Göttlichen tritt die Forderung, daß der Mensch sich selber und nur sich selber „zwingende Gewißheit" verdanken könne und müsse, immer mehr in den Vordergrund und nistet sich durchaus auch in „atheistischen" Bezirken ein. Descartes, der „Begründer" der neuzeitlichen Philosophie, weist nicht nur in seinen berühmten Passagen inständigen Zweifeins mit höchstem Nachdruck auf die Gewißheit, die Evidenz, als Kriterium der Wahrheit hin, er sichert auch in der Formel des „cogitans sum" die Existenz des Ich als etwas, das über jeden Zweifel erhaben ist. Dieses ist notwendig und muß in betonter Weise ausgesagt werden in einer Sprache, die den Menschen anweist, sich selber und sein Gewißheitserleben als die Stelle anzusehen, von der her alles andere Seiende erst seine Sicherung erfährt. Das Ich versteht sich von jetzt an als etwas, was immer „mit dabei" sein muß, was sich immer als Bestätiger miteinschiebt, wenn irgend etwas anderes erfaßt wird. Damit wird das „Auffangen" des Seienden durch das Ich als ein Vor-stellen gedeutet. Das Ego stellt alles andere vor sich hin, sieht das Seiende an als etwas, was sich bei ihm vorzustellen hat. Die Gestimmtheit, in der diese Sprache der Neuzeit schwingt, ist weder das Feiernkönnen des Griechen noch das demütige Sichbeugen des mittelalterlichen Menschen vor seinem Gott. Es lebt in ihr vielmehr eine Herausforderung und der Drang, zu herrschen. In tiefem Vergessen dessen, daß jede Sprache überantwortet wird, insistiert hier das Ich auf seine Gewißheit und damit auf sein Recht, über das Seiende und sein Sein entscheiden zu können. Im Lichte des neuzeitlich zu verstehenden „Vor-stellens" ist das Seiende nicht mehr das Heranwesende. Auch seine Geschaffenheit wird zunehmend verdrängt. Es, das Seiende, wird vielmehr verstanden als das, was das Ich sich selber entgegenstellt und somit in einen betonten Gegensatz zu sich selber bringt. Das Ich muß sich nachdrücklich von dem Vorgestellten unterscheiden, da es ihm ja immer primär um seine Selbstsicherung geht. Es, dieses neuzeitliche Ich, ist nicht bereit, sich selber zu vergessen, sich zu verschwenden, sich anheimzugeben, seiner überhaupt nicht zu aditen, sich von der Wahrheit überkommen zu lassen. Es pocht auf sich: 63

alles andere ist das ihm Entgegengeworfene, das Objectum. Es selber aber wird in einer nie vorher so akzentuierten Weise zum Subjectum, zu einem ausgezeichneten Vorliegend-Vorhandenen, dem Zentrum, der wesentlichen Stelle, bei der sich das übrige Seiende vorstellen muß, um von den Entscheidungen dieses Subjekts her seine Rechtfertigung zu empfangen. Damit entsteht ein unheimliches Fernephänomen: die SubjektObjekt-Spannung. Das Seiende wird dem Menschen gegenüber das Ver-gegen-ständlichte, der Gegenstand. „Gegenständigkeit" ist die Seinsweise, die dem Seienden von einem Menschentum zuerkannt wird, das herrschen und planen, meistern und umgestalten will. Das Schicksal der Objektivierung packt alles Seiende. Weil aber in einer solchen Vergegenständlichung ein Wegrücken, die Ausspannung eines Abstandes liegt, darum ist jener „Vorgang" am unheimlichsten, wenn sich, der Mensch dem anderen Menschen zuwendet. Wenn geherrscht werden soll, wenn durchplant werden soll, wenn ein Menschentum mit dem Seienden von sich her verfügend umgehen will, und das will der Mensch der Neuzeit, dann muß das Seiende vorzugsweise von jenen Zügen her verstanden und gedeutet werden, von denen her es sich als das Beherrschbare und Botmäßige gibt. Das angreifende Subjekt muß sich selber sichern, es muß Vorkehr treffen, daß das Seiende sich nicht auf Grund der Entfesselung seiner Kräfte aufbäumt, daß es nicht zum goetheschen Zauberlehrling wird und seinen Meister übermeistert. Was hier gefordert wird, läßt sich fassen von zwei Wesenszügen her, die an bestimmtem Seienden aufscheinen können und die der Mensch der Neuzeit als die für ihn entscheidenden ansieht mit dem Drang, sie überall, in jedem Bezirk des Seienden, aufzusuchen, sogar bei seinen Mitmenschen und sich selber. Wir nennen diese Wesenszüge die Berechenbarkeit und die Begründbarkeit. Beide Züge schließen schon die Ver-Gegenständ44 lichung ein . Um die Bedeutung und die Verschränkung der beiden Züge verständlich zu machen, bedarf es der Betonung eines Wortes, das in seiner ganzen Weite erfaßt werden muß, wenn man wissen will, was neuzeitliche Metaphysik ist, des Wortes Technik. Neuzeitliche Technik und neuzeitliche Metaphysik sind identisch, denn das Phänomen „Technik" steht in dieser Epoche gänzlich im

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Räume der Grundsprache, die jetzt aufscheint, des Seinsverständnisses, das den Menschen und seine Gewißheit als die Bezugsmitte alles Seienden sieht und jenes Seiende als das von ihm, dem Menschen, zu Beherrschende ansetzt. „Technische" Leistungen der Antike und des Mittelalters sind von anderem Seinsverständnia her gesteuert. Wenn „neuzeitliche Technik" so verstanden wird, wie es hier gemeint ist, dann erweist sich die Entstehung von Wissenschaften, die zählen und messen, in erster Linie die Entstehung der mathematischen Naturwissenschaft, als das aus solcher technischen Sprache erst Entspringende, und zwar darum Entspringende, weil die Berechnung des Seienden und seines Verhaltens notwendig wird, damit die Naturenergien, die nun mehr und mehr ausgelöst und umgeschaltet werden, zuverlässig gelenkt werden können. Messendes Vorgehen des Menschen der Natur gegenüber kann sich in der Antike kaum entfalten, und zwar darum nicht, weil die Poiesis, um die es hier geht, nicht den Akzent einer Vergewaltigung der Natur trägt, einer Vergewaltigung, die mit Sicherungsmaßnahmen arbeiten muß. Von Seiten des einzelnen Naturwissenschaftlers kann natürlich die technizistisch-metaphysische Sprache gleichsam durchstoßen werden. Er kann in reiner Hingabe, ergriffen von den Genauigkeiten der Naturverläufe, auf die Angriffshaltung seiner Epoche verzichten, er kann das Seiende bewundern und schonen. Aber es darf nicht davon fortgeblickt werden, daß die praktisch-utilitär zu steuernde Veränderbarkeit des Seienden mit dem Beginn der Neuzeit unerhörte Eindruckskraft gewinnt, und daß sich in den folgenden Jahrhunderten bis zu unserer Gegenwart hin ein entsprechender Veränderungswille immer stürmischer entfaltet. Er, dieser Wille, konnte sich lange Zeit hindurch als den Träger eines Fortschrittes ansehen, als das Instrument wundervoller Hilfeleistung. Er scheint erst in unserem Jahrhundert hier und da zu begreifen, daß er sich so nicht rechtfertigen kann, daß aus ihm vielmehr mindestens soviel Vernichtendes wie Erhaltendes erwuchs, ja daß er sich den entfesselten Möglichkeiten der Natur vielleicht zu seiner völligen eigenen Vernichtung überantwortet hat. Da in der Sprache der Neuzeit das Ich sich selber als den Träger der Wahrheit ansieht, so bestimmt es auch von sich her, was überhaupt wert ist, gewußt zu werden und wie es gewußt werden soll, d. h. mit welcher Methode es angepackt zu werden hat. Dies wirkt sich dahin aus, daß neuzeitliche Wissenschaft, in einer Einstellung, S Kanthack, Heidegger

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die weder das Griechentum noch das Mittelalter kannten, sich als Forschung einrichtet. Die Forschung steckt sich je einen bestimmten Bezirk des Seienden ab, wählt ihn sich aus. Die Absteckung kommt in der Weise zustande, daß für diesen Bezirk ein Grundriß von Gegenständlichkeit gezeichnet wird, ein Entwurf, was das hierher gehörige Seiende eigentlich sein soll. So schlägt etwa Galilei vor, was die Natur sein soll, nämlich Bewegung von Massenpunkten. Solche Entwürfe können zu gewissen Zeiten umgeworfen oder ausgeweitet werden. Forschung aber bindet sich jeweils an sie und entwirft zugleich die Art und Weise, wie die Forschenden mit dem Grundriß umzugehen haben. Vom Grundriß her werden Regeln und Gesetze exponiert, und erst, wenn dieses geschehen ist, können, unter Führung des Entwurfsplanes, Experimente angestellt werden, also Tatsachen beigebracht werden, die das Gesetz bestätigen. Es lassen sich so gewisse Seiten des Seienden anleuchten, während andere unbefragt bleiben, und es bleibt immer offen, was an unbefragten Hintergründen da ist. Dieses erregt auch kein wesentliches Bedenken, denn es spielt sich im Forschungsbetrieb der Neuzeit die Bevorzugung des Entwurfs und gerade auch des Methodenentwurfs, vor dem Seienden selber ein. Es scheint um das letztere zu gehen, aber im tatsächlichen Betrieb geht es entscheidend um den Entwurf als solchen, den Entwurf, der in Arbeitsaufteilung und Arbeitsverschränkung in das Seiende eingebaut wird. Als exaktester und in seiner Strenge ausgezeichneter Entwurf erscheint ein solcher, der mit einem Messen und Berechnen zu tun hat. Es wurde gesagt, der Grundriß stelle Regeln und Gesetze auf. Neuzeitliche Wissenschaft sieht als ihre wesentlichste Aufgabe das Erklären an, d. h. sie will ein Geschehen als die gesetzlich notwendige Folge einer Ursache ansehen: sie lebt vom Begründen, sie verschreibt sich der Herrschaft des Satzes vom Grunde. Es ist für den Menschen der Neuzeit selbstverständlich, nach Gründen zu fragen, sich ganz und gar tragen zu lassen von der Dringlichkeit einer solchen Fragestellung, sie, diese Fragestellung, als schlechthin legitim, ja, als unerläßlich anzusehen. Das Klima des Begründenwollens, Begründenmüssens trägt seit Jahrhunderten alle Weisen des Verstehens. Demgegenüber mag es zunächst als seltsam erscheinen, wenn darauf hingewiesen wird, daß dieses Klima in anderen Epochen, 66

anderen Sprachen, durchaus nicht das wesentliche war, daß der Mensch des Abendlandes zwar immer mit Begründungen umgegangen ist, weil er sonst nicht metaphysisches Seinverständnis hätte entfalten können, daß er aber durchaus nicht immer die Begründbarkeit als den wesentlichen Zug des Seins des Seienden angesehen hat. Es ist so, daß die Insistenz auf Begründbarkeit, die unentwegte Insistenz, erst zum Wesen des neuzeitlichen Menschen gehört, und zwar darum, weil diese Verbissenheit ganz und gar mit der Weise zusammenhängt, wie der Mensch sich selbst jetzt als den Garanten aller Gewißheit ansetzt. Sa erklärt sich die merkwürdige Tatsache, daß der Satz vom Grunde erst im 17. Jahrhundert von Leibniz mit besonderer Betonung ausgesprochen wird, und zwar in der für das Denken der Neuzeit entscheidend wichtigen Formulierung des „principium reddendae rationis", des Satzes vom zuzustellenden oder abzulegenden Grund. Das Phänomen „Grund" erscheint hier als etwas, was zu liefern, aufzuweisen, beizubringen ist. Fragt man, wem es zuzustellen ist, so kann im Geiste des neuzeitlichen Denkens nur geantwortet werden: dem Menschen! Diese Forderung geht daraus hervor und muß daraus hervorgehen, daß Wahrheit hier in Gewißheit gründet. Der neuzeitliche Mensch glaubt über eine Erscheinung erst dann wirklich Gewißheit zu haben, wenn er sie, diese Erscheinung, in einen Grund-Folge-Zusammenhang „eingebettet" hat. Es scheint nun zunächst, als werde mit der betonten Benennung des Satzes nur eine Forderung aufgestellt, die erfüllt sein müsse, damit das Erkennen des Menschen ein gesichertes und zuverlässiges sei. Aber die Bedeutung der Forderung ist eine noch weiterreichende. In und mit ihr wird Entscheidendes über die Seinsweise des Seienden ausgemacht. Wir wissen: das Seiende wird von dem neuzeitlichen Menschen verstanden als das ihm Entgegengeworfene, das von ihm Vorgestellte, das was er vor sich stellt. „Vorgestelltheit" ist hier also eingeblendet in die Deutung dessen, wie das Seiende ist. Es ist so, daß es durch den Entwurf des Menschen erst abgestempelt wird. Der neuzeitliche Mensch kann niemals von sich selber fortblicken, weil er ja unter Wahrheit das Aufleuchten seiner Evidenz versteht. Damit aber sieht der Mensch sich selber als die Stelle an, von der 5·

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her das Seiende erst den Garantiestempel für sein Sein überhaupt erhalten kann. Der Mensch verfügt also darüber, ob und wie der Gegenstand sei. In dieses Verfügen aber schlägt mit entscheidender Gewalt der Satz vom Grund hinein. Das heißt, der Mensch der Neuzeit erkennt den Gegenstand dann, und nur dann als einen Seienden an, läßt ihn nur dann als das Nicht-Fiktive, Nicht-bloß-Vermutete zu, wenn er ihn als die notwendige Folge aus einem Grund, die notwendige Wirkung aus einer Ursache „begreift". Erst das im Vorstellen des Menschen in eine Grund-Folge-Verknüpfung Eingebundene ist. Die hier gestellte Bedingung ist eine so durchgreifende, daß zu ihrer Erfüllung eigentlich der gesamte Grund-Folge-Konnex des Seienden beigebracht werden muß (principium rationis sufficientis). „Begründbarkeit" wird zum Horizont des ganzen Seinsverständnisses und verschleiert den unbefangen-hinnehmenden Blick des Menschen dem Seienden gegenüber. Für ihn ist nicht der Teich mit dem sandigen Ufer und dem Schilf das „eigentlich Wirkliche", sondern eine unanschaubare Verstrickung von Energien oder Feldzuständen, ein Entwurf, den er zum Zweck von „Begründung" gemacht hat. Und schließlich treibt die Sprache, die hier gesprochen wird, hinein in gespenstische rationale Formelhaftigkeit. Aber Begründbarkeit muß ebenso wie Berechenbarkeit als unentbehrlicher Wesenszug des Seins akzentuiert werden, wenn der Mensch sich selber als den Angreifenden ansieht, als den Willen zur Umgestaltung, zur Herrschaft. Darum leben die Wissenschaften als die Helferinnen dieses Willens ganz und gar im Fluidum des Satzes vom Grunde. Auch im Rahmen der neuzeitlichen Metaphysik legt sich das Verstehen selbst, da es sich nicht in seiner Einzigartigkeit zu fassen vermag, in seiner Einzigartigkeit als das immer von Sprache, von Seinsdeutung Durchtönte, von den Wesenszügen des übrigen Seienden her aus. Dies bedeutet, daß das Verstehen sich selbst, obwohl es sich zur Bezugsmitte alles Seienden macht, doch weitgehend vom Substanzschema her deutet, also als etwas TragendBeharrendes, Vorhandenes faßt, an dem „Eigenschaften" haften. Der Vorgang des „Vorstellens" wird dann so gedeutet, als ob sich zwei Substanzen gegenüber ständen: eine vorstellende und eine vorgestellte. Das Vorstellen wird gedacht als ein Austausch von Eigenschaften, von Akzidentien zwischen der Subjekt-Substanz 68

und der Objekt-Substanz. Dieser Eigensdiaftsaustausch wird meist so veranschaulicht, daß es heißt, der „äußere" Gegenstand lagere ein „Bild" von sich in der Subjekt-Substanz ab. Es kommt also in gewisser Weise zu einer Verdoppelung des Gegenstandes, ein Denkansatz, bei dem die neuzeitliche Deutung des Seienden höchst klar zum Ausdruck kommt, jene Deutung, derzufolge das Seiende sich beim Subjekt melden muß, um überhaupt das Siegel des Seins zu empfangen 45 . Die Behauptung, das Objekt deponiere irgendwie ein „Bild" von sich in der Subjekt-Substanz, ist rein „spekulativ". Sie kann in keiner Weise durch ein Phänomen, etwas wirklich Aufweisbares, gedeckt und bestätigt werden. Was sich uns zeigt, ist das Seiende selbst: der Baum. Daß der Baum dabei in eine geheimnisvolle Verdoppelung geraten soll, ist metaphysische Erfindung und zeigt sich niemals. Aber dieser spekulative Ansatz, diese nicht zu „verifizierende" Auslegung, mit der man hier umgeht, erweist sich als unvermeidbar, wenn der verstehende Mensch sich selbst als Substanz deutet, als Substanz, die Eigenschaften hat. Das Vorstellen muß dann nämlich als „Anbau" eines Eigenschaftskomplexes in der mit dem Vorstellungsvermögen begabten Substanz aufgefaßt werden. Nur von diesem metaphysischen Schema her aber kann das entstehen, was man „Erkenntnistheorie" genannt hat als eine Entwicklung von bestimmten Fragestellungen, so etwa der Frage, wie es denn möglich sei, daß der eben benannte Austausch von Eigenschaften überhaupt zustande kommen kann. Wie vermag, so meinte man fragen zu müssen, die Subjekt-Substanz aus sich herauszugreifen, um sich des Gegenstandes zu bemächtigen? Oder wie „macht" es der Gegenstand, wenn er ein Bild von sich in der Subjekt-Substanz ablagert? Solche „Erkenntnistheorie" vergißt, daß sich dem verstehenden Menschen Seiendes immer schon gezeigt haben muß, damit solche Fragen überhaupt aufgeworfen werden können, daß diese Fragen sich immer nur vom Boden eines ursprünglichen „Verbundenseins", einer ursprünglichen Verklammerung, her überhaupt erheben könen. Was die Erkenntnistheorie versucht, ist eine Auslegung von „Verklammerung", und zwar in der Ansetzung des SubjektObjekt-Schemas. Sie kann dabei mit der Fiktion umgehen, der Mensch ließe sich als das isolierte Subjekt denken, hinsichtlich dessen nun erwogen werden könnte, wie dieses in der Luft hän69

gende Wesen zu etwas „Gegenstandhaftem" käme. Dabei ist vergessen und übersehen, daß der Mensch dieses „Isolierte" niemals ist und sein kann. Es gehört vielmehr zu seinem Wesen, daß immer schon sichzeigendes Seiendes mit ihm zusammen aufscheint. „Erkenntnistheorie" aber sorgt sich nicht nur darum, wie Subjekt und Objekt überhaupt miteinander in jene „Verbindung" kommen können, die als Deponierung des Objekt-Bildes in der Subjekt-Substanz gedacht wird, sondern sie fragt auch, ob denn jener „Eigenschaftstransport" überhaupt in der Weise gelinge, daß zuverlässige „ Abbildungen" entstehen'könnten. Und sie glaubt in vielen ihrer „Richtungen" diese Zuverlässigkeit anzweifeln zu müssen, indem sie darauf hinweist, daß die Subjekt-Substanz beim Zustandekommen des „Bildes" doch möglicherweise mit ihrer ureigenen Eigenschaftlichkeit gleichsam „durchschlagen" könne, so daß nur gewisse Züge des „Bildes" wirklich abbildlichen Charakter dem „eigentlichen Objekt" gegenüber hätten. So kommt es denn zu Kontroversen der Erkenntnistheorie oder zur Ausbildung von „Standpunkten", die sich unterscheiden lassen von einer „Eigenschaftsverteilung" im eben genannten Sinne her. Man kann dabei das Wort „Bild" im Sinne eines adäquat Gespiegelten audi durdi vorsichtigere Worte ersetzen, wie etwa „Projektion" oder „Repräsentation". Im letzteren Sinne würde dann behauptet werden, daß nur ein Relationsgefüge des Objekts getreu gespiegelt würde, daß aber die „Relata" in ihrer qualitativen Beschaffenheit umgefärbt würden, und zwar durch die eigentümlichen Eigenschaften des Subjekts. Nur von dem Aspekt einer beim Vorstellen sich vollziehenden „Eigenschaftsansiedlung" im Subjekt her aber ist weiter die Behauptung des „erkenntnistheoretischen Idealismus" möglich, das „äußerlich-körperliche" Seiende bestehe überhaupt nur in Vorstellungen und liege somit nur im Subjekt. Faßt man das Ich als Substanz, dann erscheint es als denkbar, daß gleichsam überhaupt nur das „Bild" an Stelle des Objekts da ist. Die im neuzeitlichen Denken vorliegende Selbstansetzung des Ich als der Bezugsmitte alles Seienden wird dadurch besonders betont, stellt doch überhaupt erst das Ich hier die Bühne dar, auf der das Seiende seine Spiele zelebrieren kann. Solche Hybris rächt sich dann allerdings dadurch, daß der „Idealismus", um die Verbindung der die Außenwelt in sich tragenden Ichs untereinander einsichtig zu machen, ein irgendwie urhaftes Überich annehmen muß, etwa Gott als den Lieferanten 70

der Vorstellungen der Außenwelt (Berkeley) oder ein an seine Stelle tretendes und letztlich auch als gottgleich gedachtes absolutes Subjekt (Fichte). Bei der Entwicklung des „erkenntnistheoretischen" Idealismus zum Positivismus hin als zu einer Haltung, die metaphysikfeindlich sein möchte und nur das Sinnlich-Gegebene anerkennen möchte, scheint die Substanzdeutung des Ich zu zerbrechen. Man sagt, empirisch sei von einer solchen bleibenden und beharrenden, trägerhaften Wesenheit „Ich" oder „Subjekt" nichts aufzuweisen. Nur Vorstellungen seien gegeben, aber niemand, der sie „habe". An der Grundsprache der Neuzeit änderte sich auch bei dieser Variante nichts eigentlich Entscheidendes. Auch der Positivismus vermag sich nicht selber als eine den Menschen überkommende Deutung zu sehen, auch er insistiert auf die Selbstgewißheit des Menschen. Er fordert nur, daß diese Selbstgewißheit allein mit dem „Sinnlich-Gegebenen" umgehe. Diese seine Selbstrestriktion bedeutet jedoch keineswegs, daß der Angriffswille des Menschen dem Seienden gegenüber von solcher Deutung aus erlischt. Er, dieser Angriffswille, scheint sich sogar in den Horizonten des Positivismus mit besonderem Nachdruck zu entfalten. Es wird hier im Grunde durchaus aus der Subjekt-Objekt-Spaltung heraus gesprochen, also aus einer bestimmten Metaphysik, die nur Vorhandenes gelten läßt. Damit, daß man mit allen möglichen Verschleierungen dieses Grundansatzes arbeitet, ist er nicht beseitigt. Neuzeitliche Metaphysik sieht also das Seiende, wie sie es nun audi weiter fassen möge, grundsätzlich als Gegenstand an, sie versteht das Sein als Vorstellbarkeit, als Gegen-Ständigkeit, als etwas, das nur sicherbar und nur begründbar ist in der Anerkennung durch das Ich. Bei Descartes und Leibniz etwa liegt ein solches Verstehen des Seins vor, aber es vollzieht sich gleichsam noch apokryph, noch nicht in einem expliziten Begreifen seiner selbst. Der Mensch ist sich also noch nicht in deutlicher Weise darüber klar, daß das Seiende von ihm selbst als Gegenstand vor ihn, den Menschen, hingestellt wird, ohne ihn nicht sicherbar ist und seinem Angriffswillen unterworfen ist. Es, dieses Subjekt, durchschaut nicht, wie es gleichsam „gemacht wird" und was im Grunde dabei geschieht, wenn das Seiende als immer subjektbezogener Gegenstand aufgefaßt wird und von bestimmten Sicherungs- und Begründungsweisen des Subjekts her angeleuchtet wird, Weisen, durch die bestimmt wird, was als entscheidend am Gegenstand zu gelten hat. 71

Der Schritt weiter, der in neuzeitlichem Seinsverständnis vollzogen werden konnte, war also der, daß das Subjekt sich selbst voll bewußt als die Bezugsmitte alles ihm begegnenden Seienden verstand und dieses Wissen von sich selbst klar aussprach. Eine solche Durchleuchtung der Subjekt-Objekt-Entgegensetzung liegt vor bei KantM. Nach Kant sind diejenigen Züge, die der Unbefangene glaubt am Seienden selber ablesen zu können, sind Wesenszüge, auf die der neuzeitliche Mensch besonders als der Naturwissenschaftler Wert legen mußte, Züge wie Räumlichkeit, Zeitlichkeit, Einheitlichkeit, Vielheitlichkeit, Wirkfähigkeit (Kausalität), Substantialität, Möglichkeit, Notwendigkeit u. a. m., sind dieses alles Züge, die das Seiende erst vom Menschen als Subjekt her empfängt, mit denen das Subjekt die „Gegenstände der Erfahrung konstituiert" und so Gegenständigkeit überhaupt erst als solche setzt. Kant, der Denker, der das Gebiet und die Zuständigkeit der Vernunft (ratio) umreißt, spricht davon, daß diese Vernunft die „Bedingungen der Möglichkeit apriori" liefert, damit das gegenständliche Seiende im Ganzen für uns aufscheinen kann. Das Wesen des Seienden läßt sich also immer nur im Hinblick und Rückbezug auf die Vernunft bestimmen. Dia reine Vernunft gibt damit den Grund dafür her, wie das Seiende erscheinen kann und wie mit ihm umgegangen werden kann. So wird die reine Vernunft mit ihrem Können als der Grund für jede andere Möglichkeit des Begründens gesetzt (principium rationis sufficientis). Nach Kant ist also die reine Vernunft dasjenige, was dem Seienden die Möglichkeit, Gegenstand zu sein, „überreicht". Vernunft ist Hort von „Gegenständigkeit", Gegenständigkeit, die in der kantischen Deutung die Seinsweise des erfahrbaren Seienden bezeichnet. Solche Gegenständigkeit ist hier nichts am Seienden eigenschaftlich Haftendes, sondern sie muß gleichsam „aufgespannt" sein, sie muß dem Seienden vorausgehen und es „empfangen", damit es überhaupt als Gegenstand erscheinen kann. Wenn also die Gegenständigkeit des Gegenstandes als die Weise seines Seins untersucht werden soll, so muß über das Seiende selbst hinausgegangen werden. Es muß die Subjektivität der Vernunft befragt werden. Der Weg dahin ist also ein „transcendere" des Gegenstandes. Darum nennt Kant die Methode, die er hier begründet, eine transzendentale. Sie, diese Methode, untersucht, über welche Mittel und Werkzeuge die Vernunft verfügt, um dem 72

Seienden „Gegenständigkeit" überwerfen zu können, es also zum Gegenstand machen zu können. Dadurch, daß die transzendentale Methode solches leistet, gehört sie selbst zur Gegenständigkeit, weil sie daran mitarbeitet, daß das Seiende nun völlig deutlich als der Gegenstand, d. h. in seiner unerläßlichen Bezogenheit auf die Subjektivität aufleuchtet. Die Sprache der neuzeitlichen Metaphysik intensiviert sich damit, daß klar ausgesprochen wird, das Sein des Objektes hinge ab und nur ab von der Subjektivität (transzendentales Subjekt). Insofern findet bei Kant eine gewisse Überhöhung der Metaphysik in sich selber statt. Das Sein selbst als der letztlich gründende Grund* auch der Sprache Kants, entzieht sich mit besonderer Entschiedenheit. Das sich selbst als Richter über das Sein des Gegenstandes setzende Subjekt läßt keinen begründenden Grund mehr außerhalb seiner zu. Zu den im Subjekt liegenden „Formungsweisen", die dabei „mitwirken", daß das Seiende als Gegenstand erscheint, gehört auch die Relationskategorie „Substanz und Eigenschaft" (Subsistenz und Inhärenz). Nach Kant wird also das Seiende erst durch die Auffassungsweise des Subjekts zum „Substanzhaften" gestempelt, d. h. so aufgefangen, daß es sich als mit Eigenschaften „besetztes" Trägerhaft — Beharrendes darbietet. Kant macht dabei den Versuch, dieses Subjekt darum, weil es der stiftende Grund von Gegenständigkeit überhaupt und damit auch von Substantialität ist, dieses Subjekt nicht mehr selber als Substanz erscheinen zu lassen. Auf das „eigentlich stiftende" Ich (Transzendentalich) dürfen ihm zufolge die Kategorien, auch die der Substanz, nicht mehr angewendet werden. Es liegt damit der Versuch vor, jenes Schema zu überwinden, demzufolge „Erkenntnis" Eigenschaftsaustausch zweier Substanzen ist. Dieser Versuch aber kann nicht gelingen, solange überhaupt das Seiende als Objekt und das Ich als Subjekt bezeichnet werden, was Kant ja mit so hohem Nachdruck tut47. Die Objekthaftigkeit des Objekts als solche, sein „Dem-Subjekt-entgegen-Stehen" reißt das Subjekt in eine Partnerhaftigkeit, in eine Ebenbürtigkeit hinein, die nur wieder als eine Art der Objektivierung des Subjekts selbst zu fassen ist. Das „Entgegen", das hier waltet, braucht Bezugsglieder von homogener Seinsweise. Wenn das Subjekt dasjenige Seiende ist, das in bestimmten „Konstitutionsprozessen" anderem Seienden Gegenständigkeit zu73

erteilt, so wird das Subjekt selbst als der Grund, der Ort, der Hort jener Prozesse letztlich aus dem „Substanz-Eigenschaftshorizont" nicht entlassen. Der ganze kantische Deutungsansatz könnte ja nie gegeben werden, wenn das Seiende nicht dem Unbefangenen von sich her ein bestimmtes Aussehen zeigen würde. Kant führt nun die Züge solches Aussehens zurück auf „Konstitutionsleistungen" des Subjekts. Dabei müssen solche „Leistungen" aber letztlich doch wieder als „eigenschaftliche" Möglichkeiten des Subjekts angesehen werden, und das Subjekt muß als „Träger" solcher Eigenschaften verstanden werden. Dies wird um so nachdrücklicher notwendig, je genauer solche Konstitutionsleistungen, die ja nach Kant Synthesen sind, geschildert und geordnet werden. Es ergibt sich dann eine neue Weise von Metaphysik, nämlich die des Bewußtseins, die gerade durch ihre Prägnanz — sie ist bei späteren Kantianern ja mit seltsamer Akribie vorgetragen worden — versucherisch und verführerisch ist, die das Subjekt auf seine Leistungen hin geradezu „durchpflügen" kann und Zeugnis tiefsten Seinsentzuges ist. Kant versucht also, zu sagen, das Subjekt gehöre als das Vergegenständlichende nicht zu dem, was vergegenständlicht werden kann, und kann diese Behauptung doch nicht durchtragen. Im „Deutschen Idealismus", der auf Kant folgt, wird diese Schwierigkeit nicht gelöst. Denn keine Lösung ist es, wenn etwa Fichte dem Ich den Substanzcharakter abspricht und dieses Ich zu einer metaphysischen „Uraktivität" macht, der „Tathandlung". Da die „reine Aktivität" auch hier als das Identisch-Bleibende und insofern Beharrende den von ihm ausgehenden Akten gegenüber angesehen wird, so ist auch sie als etwas Substanzartiges gedacht. In der metaphysischen Sprache, die den Menschen der Neuzeit überkommt, versteht das Ich das Seiende als etwas, das ihm, dem Menschen selbst, zur Beherrschung und Vergewaltigung in die Hand gegeben ist. Damit versteht der Mensch sich selber in entscheidender Weise als Willen zur Macht. Dieses Selbstverständnis verschränkt sich damit, daß der Mensch sich selbst als den Garanten der Wahrheit deutet. Bei den metaphysischen Konzeptionen der Neuzeit und insbesondere da, wo die Metaphysik sich in sich selber noch erhöht, wird denn auch immer der Wille des Menschen in entscheidender Weise mitbenannt, sei es, daß er als der Wille des einzelnen Menschen gemeint ist, sei es, daß er als solcher, als Menschenwille, das Modell dafür hergibt, eine überindividuell-subjektische Instanz als 74

letzten seienden Grund zu benennen. So greift die Betonung des Willens von der Ethik Kants in den Deutschen Idealismus hinüber: zu Fichte, Schelling, Hegel, Schopenhauer. Wir geben als höchst charakteristisch das Wort Schellings: „Es gibt in der letzten und höchsten Instanz gar kein anderes Sein als Wollen. Wollen ist Ursein, und auf dieses allein (nämlich das Wollen) passen alle Prädikate desselben (nämlich des Urseins): Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung. Die ganze Philosophie strebt nur dahin, diesen höchsten Ausdruck zu finden". (Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, 1809, in dem von uns dargelegten Zusammenhang zitiert von Martin Heidegger in „Was heißt denken?", S. 35). Mit der Betonung des Willens kommt die Philosophie des Deutschen Idealismus zugleich zu der immer nachdrücklicheren und immer radikaleren Betonung der Selbstgewißheit des Subjekts. Sie, diese Radikalität, erreicht ihren Gipfel bei Hegel, der die menschliche Subjektgewißheit ganz und gar als Modellvorstellung benutzt, um das Wesen des Seins, das er als den „Weltgeist", als die „absolute Idee" bezeichnet, zu deuten 48 . In der Sprache des neuzeitlichen Denkers Hegel ist das Sein das absolute Erkennen als ein letztlich rationales: der absolute Begriff. Alles Geschehen im Seienden ist Selbstauseinanderlegung dieses Erkennens. Diese Selbstauseinanderlegung verfügt über eine bestimmte Weise von Logizität: die dialektische, d. h. die Bewegung der Begriffe vollzieht sich so, daß jedem von ihnen je ein neuer als entgegengesetzter „entspringt". Der Weltgeist, das absolute Erkennen, das absolute Denken, das alle Gewißheit in sich selber trägt, ist gleichzeitig absolutes Wollen, und zwar das Wollen des Denkens, zu höchster Gewißheit seiner selbst zu gelangen. Das, was Hegel die absolute Idee nennt und als den Grund alles Seienden ansieht, will zu sich selber kommen, d. h. es will zu seiner vollkommenen Selbstdurchschauung kommen. Hegel denkt das Sein als die sich wollende Selbstgewißheit. In die Triebhaftigkeit· dieser sich wollenden Subjektsgewißheit als den metaphysischen Grund muß alles Seiende hineingedacht werden. Es müssen in ihn auch diejenigen Versuche, Gewißheit zu haben, hineingedacht werden, die in der Geschichte der Menschheit bis zu Hegel hin zutage getreten sind, Versuche, die immer wieder scheiterten und durch neue Ansätze überboten wurden. 75

Das Sein, als absolute Selbstgewißheit gedacht, muß vorgestellt werden als einen Weg durchlaufend, und die unzulänglichen Möglichkeiten seiner selbst, wie sie im „natürlichen Bewußtsein" aufgeschienen sind, müssen angesehen werden als Stufen, als Durchgangsstationen dieses Weges. Die Möglichkeit, sich um Gewißheit zu mühen, ist für Hegel wie für die Metaphysik der Neuzeit überhaupt unlösbar verknüpft mit der Fassung des Seienden als Objekt. Die Selbstvollendung der als das Absolute gesetzten Selbstgewißheit kann also nur im Raum der Subjekt-Objekt-Entgegensetzung Zustandekommen. Sie, diese Entgegensetzung, und damit" alles Auftauchen von Seiendem muß daher in einer Mannigfaltigkeit von Stufen dem Absoluten selber entquellen. Das Absolute gewinnt sich selbst, kommt zu dem, was es eigentlich sein will, durch das Erkennen der Menschheit hindurch. In allem unserem Erkennen ist also das Absolute immer schon bei uns. Der Gegenstand, ohne den Gewißheit des Erkennens nicht sein kann, muß gesetzt werden, damit Gewißheit sein kann. Sie, die Gewißheit, hängt nicht dem Gegenstand an etwa als Übereinstimmung mit ihm, sondern der Gegenstand ist das Mittel, mit Hilfe dessen Gewißheit ins Sein treten kann, und zwar in einer Mannigfaltigkeit von Stufen, von Stufen, die aber doch von Anbeginn an vom Willen des Absoluten in ihrer Folge umgriffen werden. Die Setzung des Gegenstandes geschieht durch das Vorstellen seiner, durch ein absolutes Imaginieren innerhalb des allumfassenden „Geistes" als der sich-haben-wollenden Selbstgewißheit. Der Weltgeist eröffnet den Raum des Erscheinens des Seienden und damit den Raum der Subjekt-Objekt-Beziehung. Die „Stufen" der Entwicklung der absoluten Selbstgewißheit zeigen sich als „Gestalten des Bewußtseins", als Subjekt-ObjektVerschränkungen verschiedener Höhe, verschiedener sich steigernder Dignität als „Erkenntnisleistung" und damit als Seinsverwirklichung. Der „Fortriß" von einer der Stufen zur anderen aber wird dadurch verwirklicht, daß das Bewußtsein, einen Gegenstand zunächst als das „Gegebene" hinnehmend, entdeckt, daß ihm eine bestimmte Weise von Gegenständigkeit durch es selbst, das Bewußtsein, zukam. Damit wird das Bewußtsein auf eine neue Stufe gehoben, damit wird aber audi der Gegenstand ein anderer, nämlich die hier verwirklicht gewesene bestimmte Weise von Gegenstandsse£zwn