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German Pages 775 [776] Year 2012
Werner Stegmaier Nietzsches Befreiung der Philosophie
Werner Stegmaier
Nietzsches Befreiung der Philosophie Kontextuelle Interpretation des V. Buchs der Fröhlichen Wissenschaft
De Gruyter
Einbandgestaltung unter Verwendung von Introspection by Jackson Pollock/SuperStock/getty images
ISBN 978-3-11-026967-3 e-ISBN 978-3-11-026976-5 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Friedrich Nietzsche ist im 20. Jahrhundert zum erfolgreichsten philosophischen Schriftsteller geworden. Seit seinem Tod im Jahr 1900 wird kein anderer in so vielen Lndern und in so breiten Kreisen gelesen wie er, und in der philosophischen Wissenschaft werden zu niemandem sonst jedes Jahr so viele internationale Tagungen veranstaltet, Bcher verçffentlicht und Zeitschriften und Jahrbcher unterhalten wie zu ihm. Das spricht dafr, dass Nietzsches Philosophie noch lngst nicht hinreichend erschlossen ist, weder in ihren Inhalten noch in ihrer Form noch im Bedingungsverhltnis beider. Seit Martin Heideggers Interpretation, die auf die dreißiger und vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zurckgeht, hat man sich vor allem an die berhmten Lehren vom Tod Gottes, vom bermenschen, vom Willen zur Macht und von der ewigen Wiederkehr des Gleichen gehalten und nach ihrer systematischen Verknpfung gefragt. Sie haben Nietzsches Werk stark berblendet. Nietzsche hat die Gedanken des bermenschen und der ewigen Wiederkehr des Gleichen jedoch seinem Zarathustra vorbehalten, den er als Lehrer einfhrt und als solchen scheitern lsst. Als Lehren, wenn sie denn so gemeint sind, haben sie viel Unheil bewirkt; die des bermenschen hat Nietzsche den Ruf eines faschistischen Vordenkers eingebracht. In der Philosophie wurden sie kaum weiterverfolgt; inzwischen gilt Nietzsche auch kaum mehr als politisch gefhrlich. In diesem Buch wird auf dem jetzt erreichten Stand der NietzscheForschung gefragt, worauf die anhaltende Attraktivitt von Nietzsches Philosophie beruht. Er hat, so die Vermutung, das philosophische Denken wie niemand zuvor von Illusionen befreit, dadurch die Chance radikal neuer Orientierungen erçffnet und sie in die Verantwortung jedes Einzelnen gelegt. Am konsequentesten gelang ihm das in seinem reifsten und gelassensten Aphorismen-Buch, dem V. Buch der Frçhlichen Wissenschaft, das er 1886/87 nach Also sprach Zarathustra und Jenseits von Gut und Bçse und vor den zunehmend polemischen Schriften Zur Genealogie der Moral, Gçtzen-Dmmerung und Der Antichrist verfasste. Die 40 + 1 Aphorismen, die es umfasst, handeln alle von der Befreiung des Philosophierens, auch wo sie nicht davon zu sprechen scheinen, und sie zeigen Nietzsches hçchste Meisterschaft in der Kunst philosophischer Schriftstellerei. Einige der Aphorismen gehçren zu den prominentesten in seinem Werk. Sie sind, wiewohl sie laufend herangezogen werden, nie in ihren Kontexten erschlossen worden. Das soll hier geschehen.
VI
Vorwort
Dabei wird die kontextuelle Interpretation als Methode der Nietzsche-Forschung erprobt. An Stelle eines begrifflich fixierten, lehrbaren Systems hat Nietzsche Geflechte von Aphorismen geschaffen, die einander differenzieren und perspektivieren. Die internen und externen Kontexte der Aphorismen schließen außer den ins Spiel gebrachten Begriffen, die meist eine signifikante Geschichte in Nietzsches Werk hinter sich und auch noch vor sich haben, die schriftstellerischen Formen ein, die Nietzsche die Musik seiner Texte genannt hat, ferner den Ort im jeweiligen Buch und Werk, vorbereitende und erluternde Notate und Anschlsse an Quellen. Anders als bei einem historischphilologischen Kommentar geht es um eine philosophisch vertiefende Erschließung der nahezu unerschçpflichen Texte Nietzsches. Dieses Buch ist der Ertrag einer langjhrigen Auseinandersetzung mit Nietzsches Philosophie und mit dem V. Buch der Frçhlichen Wissenschaft im Besonderen. Einiges daraus wurde bereits verçffentlicht und hier in starker berarbeitung wieder aufgenommen. Das Buch war schwer zu beenden. Denn jede neue Lektre jedes der 40 + 1 Aphorismen bringt, wie Nietzsche es wollte, neue berraschungen. Man wird nicht damit fertig. Dafr, dass dieses Buch dennoch zu einem vorlufigen Abschluss kam, habe ich vielen zu danken, allen voran meinen Mitarbeitern Andrea Christian Bertino, Andreas Rupschus und Benjamin Alberts, die mich nicht nur bei Literaturrecherchen untersttzt, sondern mir auch mancherlei wertvolle Anregungen gegeben, die Fahnen gelesen und das Namenregister erstellt haben, den Mitgliedern der aus aller Welt zusammengekommenen Greifswalder Nietzsche-Forschungsgruppe, die mir Nietzsches Texte aus den unterschiedlichsten Perspektiven zu beleuchten half, den Mitgliedern eines Hauptseminars zum V. Buch der Frçhlichen Wissenschaft, die grndliche Referate und Hausarbeiten zu ihm verfassten, den internationalen Gsten der Forschungsgruppe, die ihre Forschungsprojekte mit uns diskutierten und sich auf gemeinsame Interpretationen von Nietzsche-Texten, hufig aus dem V. Buch der Frçhlichen Wissenschaft, einließen, den Teilnehmerinnen und Teilnehmern vieler internationaler Nietzsche-Tagungen und -Kongresse, mit denen ich meine Interpretationen diskutieren durfte, Gertrud Grnkorn vom Verlag de Gruyter, die freundlich und geduldig auf einen baldigen Abschluss des Buches drngte, und wie immer Ines Mielke, meiner treuen Sekretrin. Vor allem aber danke ich Friedrich Nietzsche. Sein V. Buch der Frçhlichen Wissenschaft war das Irritierendste und Faszinierendste, was mir in einer ber vierzigjhrigen akademischen Beschftigung mit Philosophie begegnet ist. Greifswald, den 19. November 2011
Werner Stegmaier
Inhaltsbersicht Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IX
Einleitung: Befreiende frçhliche Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . .
1
1. Nietzsches Herausforderung an seine Leser: Gefhrlich befreiendes Philosophieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Nietzsches befreiende ,frçhliche Wissenschaft‘ . . . . . . . . . . . . . 3. Nietzsches Anforderungen an seine Leser: Verstehen ohne Sicherheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3 25 65
I. Bindungen des Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
89
4. Schatten des toten Gottes. Titel, Motto . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
Nr. 343: W a s e s m i t u n s e r e r H e i t e r k e i t a u f s i c h h a t . Nietzsches schriftstellerische Methoden: ,Beweisen‘ durch Zeigen
5. Bindungen der Gelehrten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Nr. 344: I n w i e f e r n a u c h w i r n o c h f r o m m s i n d. Nr. 348: V o n d e r H e r k u n f t d e r G e l e h r t e n . Nr. 349: N o c h e i n m a l d i e H e r k u n f t d e r G e l e h r t e n . Nr. 366: A n g e s i c h t s e i n e s g e l e h r t e n B u c h e s . Nietzsches schriftstellerische Methoden: Verflechtung auf- und abtauchender Themenketten
6. Moral als Bindung der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Nr. 345: M o r a l a l s P r o b l e m . Nr. 352: I n w i e f e r n M o r a l k a u m e n t b e h r l i c h i s t . Nr. 359: D i e R a c h e a m G e i s t u n d a n d e r e H i n t e r g r n d e der Moral. Nietzsches schriftstellerische Methoden: Gedankenstriche und Auslassungspunkte
7. Philosophie als Kraft zum Misstrauen und das Bedrfnis nach Glauben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Nr. 346: U n s e r F r a g e z e i c h e n . Nr. 347: D i e G l u b i g e n u n d i h r B e d r f n i s s n a c h Glauben. Nietzsches schriftstellerische Methoden: Irritierende Identifikationsangebote
VIII
Inhaltsbersicht
8. Was freie Geister immer noch von religiçsen Menschen lernen kçnnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Nr. 350: Z u E h r e n d e r h o m i n e s r e l i g i o s i . Nr. 351: Z u E h r e n d e r p r i e s t e r l i c h e n N a t u r e n . Nr. 353: V o m U r s p r u n g d e r R e l i g i o n e n . Nr. 358: D e r B a u e r n a u f s t a n d d e s G e i s t e s . Nietzsches schriftstellerische Methoden : Fragwrdige Typisierungen statt Glauben erweckender Generalisierungen
II. Ursprungsfragen zur Auflçsung von scheinbar letztem Halt . . . 259 9. Der Ursprung des Bewusstseins im Bedrfnis nach Mitteilung 262 Nr. 354: V o m , G e n i u s d e r G a t t u n g ‘ . Nietzsches schriftstellerische Methoden: Multifunktionale Sperrungen
10. Der Ursprung der Erkenntnis im Bedrfnis nach Beruhigung 289 Nr. 355: D e r U r s p r u n g u n s r e s B e g r i f f s , E r k e n n t n i s s ‘ . Nietzsches schriftstellerische Methoden: Sinnverschiebung durch Gnsefßchen
11. Der Ursprung der ,freien Gesellschaft‘ im Bedrfnis nach Schauspielerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Nr. 356: I n w i e f e r n e s i n E u r o p a i m m e r , k n s t l e r i s c h e r ‘ zugehn wird. Nr. 361: V o m P r o b l e m e d e s S c h a u s p i e l e r s . Nr. 362: U n s e r G l a u b e a n e i n e V e r m n n l i c h u n g E u r o p a ’ s . Nietzsches schriftstellerische Methoden: Musikalische Komposition von Aphorismen
III. Befreiung zu vielfltigen Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 12. Deutsche Philosophie in europischer Perspektive . . . . . . . . . . 355 Nr. 357: Z u m a l t e n P r o b l e m e : , w a s i s t d e u t s c h ? ‘ Nietzsches schriftstellerische Methoden: Inszenierung persçnlicher Entscheidungsprozesse im Philosophieren
13. Vervielfltigung von Interpretations-Perspektiven . . . . . . . . . . . 385 Nr. 360: Z w e i A r t e n U r s a c h e , d i e m a n v e r w e c h s e l t . Nr. 373: , W i s s e n s c h a f t ‘ a l s V o r u r t h e i l. Nr. 374: U n s e r n e u e s , U n e n d l i c h e s ‘. Nr. 375: W a r u m w i r E p i k u r e e r s c h e i n e n . Nietzsches schriftstellerische Methoden: Spannung zwischen Titel und Text
14. Bindung an und Befreiung von Geschlechter-Perspektiven . . . 422 Nr. 363: W i e j e d e s G e s c h l e c h t b e r d i e L i e b e s e i n V o r u r t h e i l h a t. Nietzsches schriftstellerische Methoden: Schaffen, berspielen und Auflçsen von Gegenstzen
Inhaltsbersicht
IX
15. Befreiende Perspektiven im Umgang mit Menschen . . . . . . . . 438 Nr. 364: D e r E i n s i e d l e r r e d e t . Nr. 365: D e r E i n s i e d l e r s p r i c h t n o c h e i n m a l . Nr. 367: W i e m a n z u e r s t b e i K u n s t w e r k e n z u unterscheiden hat. Nr. 369: U n s e r N e b e n e i n a n d e r . Nr. 376: U n s r e l a n g s a m e n Z e i t e n . Nr. 371: W i r U n v e r s t n d l i c h e n . Nr. 379: Z w i s c h e n r e d e d e s N a r r e n . Nr. 381: Z u r F r a g e d e r V e r s t n d l i c h k e i t . Nietzsches schriftstellerische Methoden: Basso ostinato: Fortgesetzte Selbstgesprche vor Publikum
IV. Freiheiten einer knftigen frçhlichen Wissenschaft . . . . . . . . . 463 16. Alternativen der europischen Kunst und Philosophie . . . . . . 465 Nr. 370: W a s i s t R o m a n t i k ? Nietzsches schriftstellerische Methoden: Schluss-Parenthesen zur eigenen Stellung in der Philosophie
17. Hçren der Musik des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498 Nr. 368: D e r C y n i k e r r e d e t . Nr. 372: W a r u m w i r k e i n e I d e a l i s t e n s i n d . Nietzsches schriftstellerische Methoden: Abkrzung des „philosophischen Gedankens“ durch Namen
18. Halt im Haltlosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 Nr. 377: W i r H e i m a t l o s e n . Nr. 380: , D e r W a n d e r e r ‘ r e d e t . Nietzsches schriftstellerische Methoden: Metaphorisierung von Metaphern: Das noch tragende Eis im Tauwind der Heimatlosen
19. Freigebigkeit des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576 Nr. 378: , U n d w e r d e n w i e d e r h e l l ‘ . Nietzsches schriftstellerische Methoden: Metaphorisierung des bermenschlichen
20. Der große Ernst des Spiels mit allem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 596 Nr. 382: D i e g r o s s e G e s u n d h e i t . Nr. 383: E p i l o g . Nietzsches schriftstellerische Methoden: Selbstparodie
Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 647 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703
Inhaltsverzeichnis Einleitung: Befreiende frçhliche Wissenschaft 1.
2.
3.
Nietzsches Herausforderung an seine Leser: Gefhrlich befreiendes Philosophieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Nietzsches ,gefhrliche Consequenz‘ in der Aufklrung der Aufklrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Nietzsches Wirkung durch Irritation und Faszination 1.3. Nietzsches Formen philosophischer Schriftstellerei . . . . 1.4. Nietzsches Anti-Lehren: Zarathustras „starke Gegen-Begriffe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nietzsches befreiende ,frçhliche Wissenschaft‘ . . . . . . . . . . . . . 2.1. Nietzsches Gebrauch des Wortes ,frçhlich‘ . . . . . . . . . . 2.2. Nietzsches Orientierung am ,provenÅalischen Sinn‘ der ,frçhlichen Wissenschaft‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Nietzsches Titel Die frçhliche Wissenschaft im Kontext seiner Werktitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4. Nietzsches Werk Die frçhliche Wissenschaft und sein V. Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5. Interpretationen zum Werk Die frçhliche Wissenschaft und seinem V. Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nietzsches Anforderungen an seine Leser: Verstehen ohne Sicherheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Nietzsches Erwartungen an eine Philologie seiner Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1. Geduld fr philologische berraschungen . . . . 3.1.2. Mut zu philosophischen berraschungen . . . . . 3.1.3. Verzicht auf sichere Bestnde . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4. Verzicht auf methodische Aprioris . . . . . . . . . . 3.1.5. Verzicht auf systematische Einheit . . . . . . . . . . 3.1.6. Verzicht auf den Vorwurf der Ambivalenz und Widersprchlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.7. Kunst der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3 3 5 7 15 25 29 35 41 50 62 65 65 65 66 67 68 69 70 71
XII
Inhaltsverzeichnis
3.2. 3.3. 3.4.
Methode: Kontextuelle Interpretation . . . . . . . . . . . . . . Nietzsches Plne zur Ordnung des V. Buchs der Frçhlichen Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leitlinien und Einteilung der Interpretation . . . . . . . . .
I.
Bindungen des Denkens
4.
Schatten des toten Gottes. Titel, Motto Nr. 343: W a s e s m i t u n s e r e r H e i t e r k e i t a u f s i c h hat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Furchtlosigkeit: Mut zu berraschungen . . . . . . . . . . . . 4.2. Heiterkeit: Reife der Frçhlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3. Neue Hellsicht fr Schatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4. Seltene, verzçgerte und ungewisse Wahrnehmung großer Ereignisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5. Die neue Morgenrçte: Glck der Ungewissheit . . . . . . . 4.6. Die neue Metaphorik des offenen Meers . . . . . . . . . . . . Nietzsches schriftstellerische Methoden: ,Beweisen‘ durch Zeigen
5.
Bindungen der Gelehrten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nietzsches schriftstellerische Methoden: Verflechtung auf- und abtauchender Themenketten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1. Bindung durch den Glauben an die Wahrheit Nr. 344: I n w i e f e r n a u c h w i r n o c h f r o m m sind. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1. Wissenschaftliche Form des Aphorismus . . . . . 5.1.2. Glubige Wissenschaft als Schatten Gottes . . . . 5.2. Bindung durch Vorfahren im Glauben an den Beweis Nr. 348: Vo n d e r H e r k u n f t d e r G e l e h r t e n . 5.2.1. Unwissenschaftliche Form des Aphorismus . . . 5.2.2. Unaufflliger Test des Lesers in seinem Glauben an den Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3. Unbekannte Plausibilitten der Juden . . . . . . . . 5.3. Bindung durch Notlagen Nr. 349: N o c h e i n m a l d i e H e r k u n f t d e r Gelehrten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1. Nietzsches Heuristik der Not . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2. Noch ein Test des Lesers: auf seinen Glauben an Unglaubwrdiges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75 83 85
91 93 95 101 105 112 114 118 121 124 125 125 126 137 137 138 142 145 145 148
Inhaltsverzeichnis
5.4.
6.
7.
XIII
Bindung durch Spezialistentum Nr. 366: A n g e s i c h t s e i n e s g e l e h r t e n B u c h e s . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 5.4.1. Unauffllige Selbsteinschtzung Nietzsches als ungelernter ,frçhlicher Wissenschaftler‘ . . . . . . 153 5.4.2. Verachtung und Achtung fr die Gelehrten, Distanz zum Genie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154
Moral als Bindung der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1. Bindung durch Selbstlosigkeit in Wissenschaft und Moral Nr. 345: M o r a l a l s P r o b l e m . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1. Moral als „Problem“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2. Moral als „grosses Problem“ . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3. Die „grosse Liebe“ zu „grossen Problemen“ . . . Nietzsches schriftstellerische Methoden: Gedankenstriche und Auslassungspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2. Moral als „Medizin“, „Verkleidung“ und „Versteck“ Nr. 352: I n w i e f e r n M o r a l k a u m entbehrlich ist. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3. Bildung und Weisheit als Versteck vor dem Geist Nr. 359: D i e R a c h e a m G e i s t u n d a n d e r e Hintergrnde der Moral. . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1. Vergiftung des Geistes der Bildung durch Moral 6.3.2. Geist als Befreier von der Bindung durch Moral Philosophie als Kraft zum Misstrauen und das Bedrfnis nach Glauben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nietzsches schriftstellerische Methoden: Irritierende Identifikationsangebote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1. Philosophische Kritik als Setzen von Fragezeichen Nr. 346: U n s e r F r a g e z e i c h e n . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1. Fragezeichen an definierte Identitten . . . . . . . 7.1.2. Fragezeichen an begriffliches Wissen . . . . . . . . 7.1.3. Fragezeichen an transzendente Werte . . . . . . . . 7.1.4. Fragezeichen an lebensverneinende Pessimismen 7.1.5. Fragezeichen an den tçdlichen Nihilismus . . . . 7.2. Analyse des Bedrfnisses nach Glauben Nr. 347: D i e G l u b i g e n u n d i h r B e d r f n i s s nach Glauben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1. Glauben aus Schwche . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
161 163 163 168 171 175 180 181 184 187 192 193 195 195 199 201 202 204 208 209
XIV
Inhaltsverzeichnis
7.2.2.
7.2.3.
8.
Schwche als Willensschwche: Verlangen nach Halt an Festem außer sich . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2.1. „Instinkt der Schwche“ . . . . . . . . . . 7.2.2.2. „Verlangen nach Halt“ . . . . . . . . . . . 7.2.2.3. „Wollen“, „Wille“, „Affekt“ . . . . . . . 7.2.2.4. „,Freiheit des Willens‘“ . . . . . . . . . . . 7.2.2.5. „Affekt des Befehls“ . . . . . . . . . . . . . 7.2.2.6. „Erkrankung des Willens“ . . . . . . . . 7.2.2.7. „Fanatismus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alternative Freiheit des Willens: Mut zum Halt in der eigenen Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.3.1. Nihilismus als „gçttliche Denkweise“. 7.2.3.2. Das Gleichnis vom Tanz . . . . . . . . . . 7.2.3.3. Der „f r e i e G e i s t“ . . . . . . . . . . . .
Was freie Geister immer noch von religiçsen Menschen lernen kçnnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nietzsches schriftstellerische Methoden : Fragwrdige Typisierungen statt Glauben erweckender Generalisierungen 8.1. „Argwohn ber die Natur des Menschen“ Nr. 350: Z u E h r e n d e r h o m i n e s r e l i g i o s i . 8.1.1. Die Kirche und der aktuelle Kampf gegen sie 8.1.2. Argwohn des Volkes im Sden . . . . . . . . . . . . . 8.1.3. Ehrung religiçser Menschen? . . . . . . . . . . . . . . 8.2. „Opfer“ fr das „Volk“ Nr. 351: Z u E h r e n d e r p r i e s t e r l i c h e n Naturen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.1. Distanz und Nhe des Philosophen zum Volk 8.2.2. Ehrung des Opfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3. Einer „Lebensart“ „eine Interpretation geben“ Nr. 353: Vo m U r s p r u n g d e r R e l i g i o n e n . 8.3.1. Religionsstiftung als „Erkennungs-Fest“ . . . . . . 8.3.2. Nhe und Distanz des Philosophen zum Religionsstifter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4. „Plebejismus des Geistes“ vermeiden Nr. 358: D e r B a u e r n a u f s t a n d d e s G e i s t e s . 8.4.1. Plebejismus und Vornehmheit des Geistes . . . . 8.4.2. Die Macht der Geistigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.3. Rangordnung der Geister nach dem Grad ihrer Geistigkeit – in der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . .
210 210 211 212 213 214 215 216 216 216 218 219 221 222 224 224 225 228 230 231 232 239 239 244 245 247 250 252
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XV
II. Ursprungsfragen zur Auflçsung von scheinbar letztem Halt 9.
Der Ursprung des Bewusstseins im Bedrfnis nach Mitteilung Nr. 354: Vo m , G e n i u s d e r G a t t u n g ‘ . . . . . . . . . . . . . Nietzsches schriftstellerische Methoden: Multifunktionale Sperrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1. Schopenhauers metaphysischer Genius der Gattung . . . 9.2. Romantische Seele einer gemeinsamen Sprache . . . . . . . 9.3. Evolutionres Experiment mit Bewusstheit . . . . . . . . . . 9.4. Gemeinheit und Gewalt einer Sprache zur leichten Mitteilbarkeit der Not . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.5. Bewusstsein als Funktion der Mitteilungs-Bedrftigkeit 9.6. Phnomenalismus und Perspektivismus des Bewusstseins 9.7. Metaphysische Reste der philosophischen Sprache . . . . .
10. Der Ursprung der Erkenntnis im Bedrfnis nach Beruhigung Nr. 355: D e r U r s p r u n g u n s r e s B e g r i f f s ,Erkenntniss‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nietzsches schriftstellerische Methoden: Sinnverschiebung durch Gnsefßchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1. Genealogie der Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2. Genealogie des Begriffs ,Erkenntnis‘ . . . . . . . . . . . . . . . 10.3. Bedrfnis nach Beruhigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4. ,Erkennen‘ als Verfremden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.5. Beunruhigendes philosophisches Erkennen . . . . . . . . . . 11. Der Ursprung der ,freien Gesellschaft‘ im Bedrfnis nach Schauspielerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nietzsches schriftstellerische Methoden: Musikalische Komposition von Aphorismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1. Eine Gesellschaft von Schauspielern Nr. 356: I n w i e f e r n e s i n E u r o p a i m m e r ,knstlerischer‘ zugehn wird. . . . . . . . . . . . 11.1.1. Flchtige Gesellschaftsbauten . . . . . . . . . . . . . . 11.1.2. Nietzsches Leitunterscheidungen: Natur und Kunst, Charakter und Rolle . . . . . . . . . . . . . . . 11.1.3. Die Freiheiten der Schauspieler . . . . . . . . . . . . 11.1.4. Die Unentrinnbarkeit der Schauspielerei . . . . .
262 264 265 268 271 274 277 280 285
289 291 294 296 297 300 302 305 309 310 310 314 318 321
XVI
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11.1.5. Nietzsches Zweifel an den Schauspieler-Institutionen der Demokratie . . . . 11.2. Tierische und menschliche Anpassungskunst Nr. 361: Vo m P r o b l e m e d e s S c h a u s p i e l e r s . 11.2.1. Wagner als Prototyp des Schauspielers . . . . . . . 11.2.2. Schauspielerei als Anpassungskunst der Arbeiter, Diplomaten, Juden und Frauen . . . . . . . . . . . . 11.3. Von schauspielerischen Tugenden zu kriegerischen Tugenden der Erkenntnis Nr. 362: U n s e r G l a u b e a n e i n e Ve r m n n l i c h u n g E u r o p a ’ s . . . . . . . . . . . . . . . 11.3.1. Krieg der Mittel, der Begabungen, der Disziplin 11.3.2. Geschlechter-Gegensatz im Schauspieler-Krieger-Gegensatz . . . . . . . . . . . . 11.3.3. Schauspieler-Krieger Napoleon . . . . . . . . . . . . . 11.3.4. Renaissance-Menschen fr das eine Europa . . .
322 326 326 332
337 337 340 342 345
III. Befreiung zu vielfltigen Perspektiven 12. Deutsche Philosophie in europischer Perspektive Nr. 357: Z u m a l t e n P r o b l e m e : , w a s i s t d e u t s c h ? ‘ 12.1. Die europische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nietzsches schriftstellerische Methoden: Inszenierung persçnlicher Entscheidungsprozesse im Philosophieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2. Wagners Problem „Was ist deutsch?“ . . . . . . . . . . . . . . . 12.3. Deutsche Errungenschaften in der europischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3.1. Leibniz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3.2. Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3.3. Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.4. Die deutsche Selbsterkenntnis des Europers Nietzsche 12.5. Schopenhauers undeutsches Bekenntnis zum europischen Sieg des Atheismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.6. Europa als Ereignis der Selbstberwindung seines christlichen Gewissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.7. Zum Lachen: Deutsche Schopenhauerianer . . . . . . . . .
355 356 359 360 366 367 368 370 371 375 378 380
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XVII
13. Vervielfltigung von Interpretations-Perspektiven . . . . . . . . . . 13.1. Krfte und Zwecke als Interpretations-Perspektiven des Handelns Nr. 360: Z w e i A r t e n U r s a c h e , d i e m a n verwechselt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nietzsches schriftstellerische Methoden: Spannung zwischen Titel und Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.2. Methodische Vervielfltigung wissenschaftlicher Welt-Interpretationen Nr. 373: , W i s s e n s c h a f t ‘ a l s Vo r u r t h e i l. . . . 13.2.1. Wissenschaftstheorie: Wissenschaft als eine Welt-Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.2.2. Wissenschaftsphilosophie: Gesetze der Rangordnung in der Wissenschaft . . . . . . . . . . 13.2.3. Wissenschaftsethik: Moralischer Angriff auf moralische Perspektiven der Wissenschaft . . . . 13.2.4. Wissenschaftssthetik: Hçren der Musik des Lebens in vielfltigen Welt-Interpretationen . . . 13.3. Unbegrenzte Vervielfltigung von Interpretations-Perspektiven Nr. 374: U n s e r n e u e s , U n e n d l i c h e s ‘. . . . . . . 13.3.1. Ontologischer und kritischer Perspektivismus 13.3.2. Gçttliche und ungçttliche Mçglichkeiten der Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.4. Selbstbeherrschung im Drang nach Gewissheit Nr. 375: W a r u m w i r E p i k u r e e r s c h e i n e n .
385
385 393 395 395 397 402 406 410 410 414 419
14. Bindung an und Befreiung von Geschlechter-Perspektiven Nr. 363: W i e j e d e s G e s c h l e c h t b e r d i e L i e b e s e i n Vo r u r t h e i l h a t. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 Nietzsches schriftstellerische Methoden: Schaffen, berspielen und Auflçsen von Gegenstzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 15. Befreiende Perspektiven im Umgang mit Menschen . . . . . . . . Nietzsches schriftstellerische Methoden: Basso ostinato: Fortgesetzte Selbstgesprche vor Publikum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.1. Einsiedler in Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.1.1. Die Kunst, mit Menschen umzugehn (bei Tisch) Nr. 364: D e r E i n s i e d l e r r e d e t . . . . . . .
438 438 441 442
XVIII
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15.1.2. Die ,Kunst‘, mit ,Menschen‘ ,umzugehn‘ (posthum, als Gespenst) Nr. 365: D e r E i n s i e d l e r s p r i c h t n o c h einmal. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.2. Knstler beim Schaffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.2.1. Weltvergessenheit beim Schaffen Nr. 367: W i e m a n z u e r s t b e i K u n s t werken zu unterscheiden hat. . . . . . 15.2.2. Selbstvergessenheit beim Schaffen Nr. 369: U n s e r N e b e n e i n a n d e r . . . . . . 15.2.3. ,Lebensabschnitte‘ beim Schaffen Nr. 376: U n s r e l a n g s a m e n Z e i t e n . 15.3. Schriftsteller auf dem Buchmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.3.1. Sich-verwechseln-Lassen durch das Publikum Nr. 371: W i r U n v e r s t n d l i c h e n . . . . . 15.3.2. Feine Verachtung des Publikums Nr. 379: Z w i s c h e n r e d e d e s N a r r e n . 15.3.3. Tanz vor dem Publikum Nr. 381: Z u r F r a g e d e r Ve r s t n d l i c h k e i t . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
447 449 449 453 454 455 455 457 460
IV. Freiheiten einer knftigen frçhlichen Wissenschaft 16. Alternativen der europischen Kunst und Philosophie Nr. 370: W a s i s t R o m a n t i k ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.1. Neue Rangordnung: geschrfter Blick auf Schopenhauers und Wagners „r o m a n t i s c h e n P e s s i m i s m u s“ 16.2. Dionysischer Begriffsgebrauch: neue Spielrume in der Unterscheidung der Romantik und des Pessimismus . . . 16.3. Neue Heuristik der Not: Unterscheidung nicht nur von Nçten der Verarmung, sondern auch der berflle des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.4. Alte Unterscheidung von Philosophien des Seins und des Werdens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.5. Unterscheidung der alten durch die neue Unterscheidung: Kreuztabelle zu Alternativen der europischen Kunst und Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . 16.6. Ein freies Feld fr eine knftige Kunst und Philosophie („d i o n y s i s c h e r Pessimismus“) . . . . . . . . . . . . . . . .
465 467 470 480 486 488 494
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Nietzsches schriftstellerische Methoden: Schluss-Parenthesen zur eigenen Stellung in der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 17. Hçren der Musik des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.1. Aufbrechen der Moral-, Sprach- und Bewusstseins-Perspektive Nr. 368: D e r C y n i k e r r e d e t . . . . . . . . . . . . . . . . 17.1.1. „Meine ,Tathsache‘“: Physiologische Einwnde gegen die Musik Wagners . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.1.1.1. Nietzsches çffentliche Auseinandersetzung mit Wagner: Angriff auf die „Schauspieler-Sinnenflligkeit“ von Wagners Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.1.1.2. Nietzsches zurckgehaltene Auseinandersetzung mit Wagner: berwltigung durch das ParsifalVorspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.1.2. ,Cynisches‘ Anreden gegen die Verfhrung durch die Musik Wagners . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nietzsches schriftstellerische Methoden: Abkrzung des „philosophischen Gedankens“ durch Namen . . . . . . . . . . . . . . . . 17.2. Neue ffnung fr die Sinne Nr. 372: W a r u m w i r k e i n e I d e a l i s t e n s i n d . 17.2.1. Gegenwrtige philosophische Praktik ohne Theorie: Oszillieren zwischen Sensualismus und Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.2.2. Kants Ermßigung des griechischen Idealismus durch die Entsinnlichung der Sinne . . . . . . . . . 17.2.3. Der „schwindschtige Spinoza“ als (angebliches) Opfer des Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.2.3.1. Nietzsches çffentliche Auseinandersetzung mit Spinoza: Angriff auf die „immer idealischer ausgelegte Entsinnlichung“ . . . . . . . . . . . . . . . . 17.2.3.2. Nietzsches zurckgehaltene Auseinandersetzung mit Spinoza: Ewige Wiederkehr des Gleichen im Pantheismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.2.4. Der „kluge Sokratiker“ Platon als (angebliches) Opfer des Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
498 499 499
503
504 508 514 515 517 521 524
527
530 532
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17.2.5. Zuknftige Genesung vom Idealismus: neue Sensibilitt fr die „Musik des Lebens“ . . . . . . 535 18. Halt im Haltlosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nietzsches schriftstellerische Methoden: Metaphorisierung von Metaphern: Das noch tragende Eis im Tauwind der Heimatlosen 18.1. Halt an einem Gegenglauben Nr. 377: W i r H e i m a t l o s e n . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.1.1. Gemeinsamer moralischer Halt als Bedingung demokratischer Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.1.2. Neue Sklaverei als Bedingung der Erhçhung des Typus ,Mensch‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.1.3. Gegenglaube an die Selbstberwindung der Moral in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.2. Halt in der eigenen Leichtigkeit Nr. 380: , D e r W a n d e r e r ‘ r e d e t . . . . . . . . . . . . . 19. Freigebigkeit des Geistes Nr. 378: , U n d w e r d e n w i e d e r h e l l ‘ . . . . . . . . . . . . . . Nietzsches schriftstellerische Methoden: Metaphorisierung des bermenschlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.1. Der See mit der Kraft der Entsagung . . . . . . . . . . . . . . . . 19.2. Zarathustra und das Meer des bermenschen . . . . . . . . . . 19.2.1. Der See Zarathustras . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.2.2. Das Meer des bermenschen . . . . . . . . . . . . . . . 19.2.3. Der See in Zarathustra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.2.4. Auf hoher See . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.2.5. Im „himmelblauen See von Glck“ . . . . . . . . . . . 19.3. Der Brunnen des freien Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20. Der große Ernst des Spiels mit allem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.1. Ernster Schluss Nr. 382: D i e g r o s s e G e s u n d h e i t . . . . . . . . . . . . 20.1.1. Das Schicksal der Seele und die große Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.1.2. Die große Gesundheit und das Ideal im Umgang mit dem Ideal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.1.3. Stelldichein von Großem: der große Ernst und die große Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.1.4. Tragçdie und Parodie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
539 541 551 552 555 568 569 576 579 579 582 585 586 587 588 590 591 596 598 602 605 614 619
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20.2. Frçhlicher Schluss Nr. 383: E p i l o g . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629 Nietzsches schriftstellerische Methoden: Selbstparodie . . . . . . . . . 629 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hinweise zur Zitation der Werke Nietzsches . . . . . . . . . . . . . . Siglen der Werke Nietzsches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siglen zitierter Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
647 647 647 648 650
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703 Begriffsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 715
Einleitung: Befreiende frçhliche Wissenschaft
1. Nietzsches Herausforderung an seine Leser1: Gefhrlich befreiendes Philosophieren 1.1. Nietzsches ,gefhrliche Consequenz‘ in der Aufklrung der Aufklrung Nietzsche hat, als er in seinem letzten Schaffensjahr sein Werk berblickte, ber sein Philosophieren in mehrfachen Anstzen notiert: Was Nietzsche auszeichnet: {die Spontaneitt seiner / die seine psychologische Vision}, eine schwindelerregende Weite der Umschau, des Erlebten, Errathenen, Erschlossenen, des Die tiefere Consequenz {der Wille zur Consequenz}, die Furchtlosigkeit vor der Hrte und gefhrlichen Consequenz (N 1888, 14[25], KSA 13.230 / W II 5, S. 178).
Dies kçnnte die beste Charakteristik sein, die je von seinem Philosophieren gegeben wurde. Nietzsches scharfer diagnostischer Blick fr die Hintergrnde von Philosophien, auch seiner eigenen, seine sichere Orientierung in weitesten Zusammenhngen, sein Mut zu gewagten, aber treffsicheren Vermutungen und die Unerschrockenheit, aus ihnen auch schwerwiegendste Folgerungen zu ziehen, sind bisher unerreicht. Wo andere fraglos Gewissheiten suchten, hat er die Gefahr aller Gewissheiten gesehen, sich selbst mit ihnen zu tuschen. Wenn die Aufklrung den Mut hatte, alle berlieferten Gewissheiten in Frage zu stellen und die Orientierung des Menschen allein darauf zu bauen, was er mit seiner eigenen Vernunft einsehen kann, so hatte sie doch auch ihre Gewissheiten, vor allem das Vertrauen, dass ,die‘ Vernunft jedem gleich zu Gebote stehe und darum zu fr alle gleich gltigen Urteilen fhig sei. Mit dieser Vernunft hatte die europische Philosophie alles verbunden, was fr sie grundlegend war, in der Antike das unverndert bleibende Sein als ihren Gegenstand, die Logik als Maßstab von dessen Erkenntnis, die Wahrheit als deren Ergebnis und das Gute als ihr Ziel, in der Moderne dann das seiner selbst und seiner Erkenntnis gewisse Subjekt, die Freiheit seines Willens und die Begrndung von Recht und Staat und der moralischen Normen und Werte auf sie. Vernunft in diesem Sinn ist bis heute der Stolz Europas, und von ihr er1
Leserinnen und Leser – wir werden im Folgenden der Krze halber stets kollektiv vom ,Leser‘ und den ,Lesern‘ sprechen.
4
1. Nietzsches Herausforderung an seine Leser
wartet es auch das Heil fr andere Kulturen. Aber die zwanglose Einigung aller in ihrem Namen ist nur gedacht, ist eine, mit Habermas zu sprechen, ,kontrafaktische‘ Unterstellung; Habermas’ Lehrer Horkheimer und Adorno haben die Dialektik offengelegt, in die die Aufklrung gleiten und sie in ihr Gegenteil verkehren kann, und Luhmann, der große Antipode der Frankfurter Schule, hat darum zu einer ,Abklrung der Aufklrung‘ geraten.2 Nietzsche ist ihm darin vorausgegangen. Nach zweieinhalbtausend Jahren europischer Aufklrung hat er furchtlos und hart die Aufklrung ber sich selbst aufgeklrt. Seine Aufklrung zielte nicht mehr nur wie die des 18. Jahrhunderts auf die Religion, sondern auch und vor allem auf die Moral, in der die Religion mehr und mehr aufgegangen sei und die auch die Wissenschaft trage, auf die die historische Aufklrung noch bauen zu kçnnen glaubte. Nietzsche orientierte sich seinerseits an der ,tragischen Erkenntnis‘, die fhig ist, ihre eigenen Abgrnde aufzuklren, und die er zuerst bei den vorsokratischen Philosophen fand; mit Sokrates habe die optimistische Verklrung des Philosophierens begonnen. Doch Sokrates hatte mit der Aufklrung auch schon ihre selbstkritische Abklrung eingeleitet. Mit seinem ,ich weiß, dass ich nichts weiß‘ hatte er alles Wissen, dessen man sich gewiss geglaubt hatte, als Schein entlarvt, und der grçßte Aufklrer der Neuzeit, Kant, hatte mit seiner Kritik der reinen Vernunft gezeigt, dass eine konsequente Selbsterkenntnis der Vernunft die Unerkennbarkeit der Welt an sich, ihres ursprnglichen Gegenstands, mit sich bringt, die reine Vernunft dagegen, mit sich allein gelassen, dogmatisch wird und Illusionen erzeugt. Nietzsche zog daraus die ,gefhrliche Consequenz‘, die Abgrnde auszuleuchten, die solche Illusionen, einschließlich der Annahme einer gleichen Vernunft aller, nçtig gemacht hatten, und damit neu in den ,Pessimismus‘ hinabzuleuchten, mit dem sich die Griechen rckhaltlos dem Leben gestellt hatten (4.2.). ber Jahrtausende eingewurzelte Illusionen mussten die Menschen dem Leben entfremden, auf die Dauer orientierungslos machen und so ihrerseits lebensgefhrlich werden. Erst mit der Befreiung vom blinden Glauben an sie kann die Philosophie eine nchternere Neuorientierung entwickeln, die dem Leben gerechter wird, und die Menschen damit lebensfhiger, strker und so erst wirklich ,frçhlich‘ machen.
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Vgl. Stegmaier, Nietzsches und Luhmanns Aufklrung der Aufklrung, 167 – 178.
1.2. Nietzsches Wirkung durch Irritation und Faszination
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1.2. Nietzsches Wirkung durch Irritation und Faszination Verzichtet man auf die kontrafaktische und damit metaphysische Voraussetzung einer bei allen gleichen und darum zu allgemein gltigen Urteilen fhigen Vernunft, bleibt die Kommunikation unter Individuen zurck mit den vielfltigsten Mçglichkeiten, Urteile zu bilden und zu verndern. Je weniger Individuen erwarten kçnnen, dass sie in ihren Urteilen bereinstimmen, desto berraschender werden sie freinander; je weniger sie ihre Erlebnisse und ihre Folgerungen daraus miteinander teilen kçnnen, desto mehr irritieren und faszinieren sie einander. ,Irritieren‘ bedeutet ,reizen‘, ,herausfordern zu einer Reaktion‘; es stellt bestehende Gewissheiten in Frage, ohne schon neue anzubieten, es verunsichert. Irritiert ist man durch Ereignisse, deren Ursachen, und durch Behauptungen, deren Grnde ungewiss sind; die Irritation steigt, wenn man nicht einmal weiß, wo man Ursachen und Grnde berhaupt suchen soll. Irritationen erzwingen mehr oder weniger tiefgreifende Neuorientierungen; jede neue Lebenssituation kann, im Kleinen oder im Großen, mit berraschungen aufwarten.3 berraschungen verndern Gewissheiten; sie kçnnen ,unangenehm‘, aber auch ,angenehm‘ sein, kçnnen stçren, aber auch beglcken. Als beglckende faszinieren, ,fesseln‘ sie und legen nahe, an ihnen festzuhalten. Nietzsche verstand Sokrates, dem er, wie er fr sich notierte, so nahe stand, dass er „fast immer einen Kampf mit ihm kmpfte“ (N 1875, 6[3], KSA 8.97),4 als einen, der mit eben jener Vernunft, die er auf den Weg brachte, zugleich irritierte und faszinierte. Er irritierte, indem er mit seiner desillusionierenden Gesprchskunst vermeintliche Gewissheiten im Wissen zerstçrte, die Vernunft, auf die er so sehr drngte, regelmßig in Aporien trieb und seine Gesprchspartner ohne letzte Entscheidungen und ohne letzte Gewissheiten zurckließ. Er faszinierte, „indem er an den agonalen Trieb der Hellenen rhrte“ und „eine neue Art A g o n“, den Wettbewerb um ,logische‘ Rechtfertigungen, entdeckte und es, jedenfalls in Platons Dialogen, bei den schçnen „jungen Mnnern und Jnglingen“ Athens darin so weit brachte, dass sie gerade ihn, den abstoßend Hsslichen, lieben lernten und sich immer weiter mit ihm unterreden wollten: „Sokrates war auch ein grosser E r o t i k e r.“ Doch Nietzsche vermutete mehr dahinter. Ihm schien, dass die Athener Sokrates fr ihre „Selbst-Erhaltung“ „n ç t h i g “ hatten: „Der Fanatismus, mit dem sich das 3 4
Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 158 – 162. Vgl. Mller, Die Griechen im Denken Nietzsches, 188 – 220.
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1. Nietzsches Herausforderung an seine Leser
ganze griechische Nachdenken auf die Vernnftigkeit wirft, verrth eine Nothlage: man war in Gefahr, man hatte nur Eine Wahl: entweder zu Grunde zu gehn oder — a b s u r d v e r n n f t i g zu sein …“ Als Athen seine beherrschende Stellung verlor und sich sein Untergang anbahnte, mussten sich seine Werte so entwertet haben, dass man nach einem grundlegend neuen Halt suchte und ihn eben in der Vernunft fand, an die man, trotz Sokrates’ erklrter Ironie, nun immer strker zu glauben begann: „man muss es dem Sokrates nachmachen und gegen die dunklen Begehrungen ein Ta g e s l i c h t in Permanenz herstellen – das Tageslicht der Vernunft. Man muss klug, klar, hell um jeden Preis sein: jedes Nachgeben an die Instinkte, an’s Unbewusste fhrt h i n a b …“ (GD Sokrates 8 – 10) So verfhrte gerade Sokrates, der die allgemeine Geltung der Vernunft nie besttigt fand, zum festen Glauben an sie. Er faszinierte, indem er irritierte; nach Kierkegaard fasziniert das Denken gerade das, was es irritiert. Nietzsche, sein jngerer Zeitgenosse, sah hier seine Aufgabe. Er stellte die Philosophie und die Orientierung berhaupt vor neue Entscheidungen ber die Maßstbe, an die sie sich halten konnte, und sprach nun konsequent nicht mehr im Namen jener metaphysischen Vernunft, sondern als unverwechselbares Individuum zu ihrerseits unverwechselbaren Individuen. Er unterschied sie im Blick auf seine Neuorientierung in solche, die auf fraglose Voraussetzungen angewiesen sind, sei es im alltglichen Leben, in einer Wissenschaft oder in der Philosophie, und sich darum irritierenden und faszinierenden berraschungen mçglichst entziehen, und solche, die in allen Voraussetzungen entscheidbare Vorfestlegungen erkennen und darum bereit sind, sie in Frage zu stellen. Entscheidungen ber Festlegungen, die Gewissheit schaffen sollen, werden selbst unter Ungewissheit getroffen. Sie setzen nichts mehr voraus, ber das nicht seinerseits entschieden worden wre und neu entschieden werden kçnnte. Das kritische Philosophieren, wie es Sokrates, Descartes und Kant vorgefhrt hatten, sollte alles, woran es sich hlt, entscheidbar und dabei die Kriterien der Entscheidungen sichtbar machen. Nietzsche nannte die Entscheidung ber die Kriterien der Entscheidung die „grosse Entscheidung“, die „den Willen wieder frei macht“ (GM II 24). Sie stellt vor die „Wahrheit“ der Ungewissheit aller Orientierung, und es muss sich dann zeigen, wie viel man davon ertrgt: „Wie viel Wahrheit e r t r g t, wie viel Wahrheit w a g t ein Geist? das wurde fr mich immer mehr der eigentliche Werthmesser.“ (EH Vorwort 3) Nietzsche fragte nicht mehr einfach nach der Wahrheit, sondern nach der Kraft zur Entscheidung ber die Kriterien der Wahrheit, die jeder, nun ohne die Voraussetzung einer fr alle gleichen Vernunft, allein
1.3. Nietzsches Formen philosophischer Schriftstellerei
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und aus eigener Verantwortung treffen muss. Damit setzte er die Philosophie der schwersten Irritation seit Sokrates aus, und seit mehr als einem Jahrhundert fasziniert er damit vor allem junge Menschen, die noch zu Neuorientierungen bereit sind. Das gelang ihm mit einer schriftstellerischen Kunst, wie sie in der Philosophie vor ihm besonders Platon bewiesen hatte. Er konnte wie kaum keiner auch ber die Abgrnde der menschlichen Orientierung ,frçhlich‘ schreiben.
1.3. Nietzsches Formen philosophischer Schriftstellerei Nietzsche fasziniert durch berraschende Gedanken, die er mit ebenso berraschender schriftstellerischer Kunst vortrgt. Kunst berzeugt eben dadurch, dass sie irritiert und mit ihren Irritationen fasziniert. Sie schafft attraktive kreative Desorientierung.5 Soweit Philosophen ihre Gedanken niederschreiben, um andere fr sie zu gewinnen, bedienen sie sich alle, in unterschiedlichen Formen und Graden, schriftstellerischer Kunst. Große Philosophen haben oft neue Formen philosophischer Schriftstellerei geprgt, wenn es darum ging, die Philosophie im Ganzen neu zu orientieren: Parmenides das Lehrgedicht, in dem er fr seine neue Wahrheit eine neue Gçttin einfhrte, Platon den Dialog, Aristoteles die Lehrschrift in Prosa, die wissenschaftliche Abhandlung, wie wir sie heute noch pflegen, Augustinus die Confessio, Thomas von Aquin die Summa, Descartes die Meditatio, Pascal den isoliert fr sich stehenden, unmittelbar einleuchtenden Gedanken, Spinoza das System, die franzçsischen Aufklrer die Enzyklopdie, Kant die Kritik, Hegel das sich aus sich selbst entwickelnde System, Kierkegaard das Spiel mit Pseudonymen; nach Nietzsche hat Wittgenstein, um nur noch ihn zu nennen, sich zunchst fr seinen Tractatus die Form dezimal geordneter Argumente angeeignet6 und seine selbstkritischen Philosophischen Untersuchungen dann in die ganz andere Form eines ,Albums‘ gebracht. Keiner hat jedoch fr seine philosophische Schriftstellerei so vielfltige Formen gebraucht, neu geprgt oder geschaffen wie Nietzsche. In chronologischer Abfolge sind das, nach der noch herkçmmlichen wissenschaftlichen, hier besonders nchternen philologischen Abhandlung aus der Schule Friedrich Ritschls, 5 6
Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 523 – 528. Die Dezimalklassifikation (1., 1.1., 1.1.1. …) wurde ursprnglich zu Bibliothekszwecken als bersichtliche Ordnung von Wissensfeldern von dem Amerikaner Melville Dewey (1851 – 1931) entwickelt.
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1. Nietzsches Herausforderung an seine Leser
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die sich aus dem Tribschener Wagner-Idyll in rauschhafte Hçhen steigernde Abhandlung (GT), • der zur Steigerung der Kultur aufrufende, den Stil, die Wissenschaft und die Bildung der Zeit scharfer Kritik unterwerfende und neue ,große‘ Maßstbe setzende Essay (UB), • das eine umfassende historische und systematische Kritik der europischen Wissenschaft, Philosophie und Kultur einschließende und neue Perspektiven einer lebensnahen und zukunftsoffenen alltglichen, philosophischen und wissenschaftlichen Orientierung erçffnende Aphorismen-Buch (MA, M, FW, spter JGB), • die Aphorismen-Bcher flankierenden Gedichte und GedichtSammlungen (Unter Freunden. Ein Nachspiel zu MA I, Scherz, List und Rache und Die Lieder des Prinzen Vogelfrei als Zugaben zur FW, Aus hohen Bergen. Nachgesang zu JGB), • die episch-dramatisch-lyrische Lehrdichtung (ZA), • die berraschende Einsichten in einen einzigen Satz komprimierende Sentenz (eingestreut in MA, gesammelt als „Sprche und Zwischenspiele“ in JGB und als „Sprche und Pfeile“ in GD), • die Vorrede zu ungeschriebenen, zuvor schon erschienenen oder neu geschriebenen Bchern (CV, ZA, neue Vorreden zu GT, MA, M und FW, Vorreden zu JGB, GM, WA, GD, AC, EH), • die auf ,welthistorischen‘ Streit angelegte, die europische Moral an ihre außermoralischen Wurzeln heranfhrende Kette von Abhandlungen (GM), • die ihrem Autor Erleichterung schaffende Anklageschrift gegen eine ,welthistorische‘ Grçße (WA), • das mit Sentenzen anhebende, die Grundprobleme der europischen Philosophie scharf zuspitzende und ihre Nebel in eine Fabel kondensierende Aphorismen-Buch (GD), • die auf einen ,Fluch‘, eine religiçse Verdammung der religiçsen Prgung Europas, abzielende Abhandlung (AC), • die Genealogie des eigenen Denkens (EH) und zuletzt • die Sammlung dithyrambischer Gesnge zum Preis des Gottes Dionysos (DD).7 Neben diesen fr die anonyme ffentlichkeit des Buchmarkts gedachten Formen schrieb Nietzsche auch fr sich allein (die nachgelassenen Notate) 7
Vgl. die (sehr vorlufige) bersicht ber Nietzsches „Vielfalt der Stile“ bei Kaufmann, Nietzsche, 107 f.
1.3. Nietzsches Formen philosophischer Schriftstellerei
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und fr Einzelne (die Briefe);8 auch davon ging vieles und mit der Zeit immer mehr in seine Werke ein. Als Nietzsche, gelçst von Schopenhauers Metaphysik, zu seinem eigenen Philosophieren kommt, entscheidet er sich, mit MA, vor allem fr Aphorismen. 9 Zunchst will er weiteren UB lediglich „Nachtrge“ „in Aphorismen“ anhngen (N 1876, 16[12], KSA 8.290), plant dann ein eigenes Buch in Aphorismen (N 1878, 30[2], KSA 8.522), legt aber keinen Wert auf den Begriff: „Es sind Aphorismen! Sind es Aphorismen? – mçgen die welche mir daraus einen Vorwurf machen, ein wenig nachdenken und dann sich vor sich selber entschuldigen – ich brauche kein Wort fr mich“ (N 1880, 7[192], KSA 9.356).10 Er ist auf die kurze Form angewiesen, weil er seinem „leidenden Gehirne“ immer nur „Minuten und Viertelstunden“ „a b stehlen“ kann und Mhe hat, seine auf langen Spaziergngen zu8 Vgl. MA I 374: „Das Zwiegesprch ist das vollkommene Gesprch, weil Alles, was der Eine sagt, seine bestimmte Farbe, seinen Klang, seine begleitende G e b r d e i n s t r e n g e r R c k s i c h t a u f d e n A n d e r e n, mit dem gesprochen wird, erhlt, also dem entsprechend, was beim Briefverkehr geschieht, dass ein und der selbe zehn Arten des seelischen Ausdrucks zeigt, je nachdem er bald an Diesen, bald an Jenen schreibt.“ 9 Vgl. zum Aphorismus bei Nietzsche u. a. Kaufmann, Nietzsche, 84 – 111, bes. 88 u. 99 f.; Krger, Studien ber den Aphorismus als philosophische Form; Greiner, Friedrich Nietzsche: Versuch und Versuchung in seinen Aphorismen; Kuhn, Friedrich Nietzsches Philosophie des europischen Nihilismus, 71 – 84 (mit einem Forschungsbericht zu frheren Untersuchungen); Borsche, System und Aphorismus; Ptz, Nachwort, 262 – 266; van Tongeren, Reinterpreting Modern Culture, 62 – 103; Babich, Zu Nietzsches Stil; Stingelin, Art. Aphorismus, und Strobel, Art. Aphorismus, und die dort aufgefhrte weitere Literatur. Van Tongeren, Reinterpreting Modern Culture, 79 – 95, stellt eine lange Reihe rhetorischer Mittel zusammen, die Nietzsche in seinen Aphorismen einsetzt. Nietzsche selbst gibt keine systematische Darstellung der Form des Aphorismus, sondern erlutert sie wiederum durch einzelne Aphorismen bzw. Notate (vgl. Krger, Studien ber den Aphorismus als philosophische Form, 87). Inzwischen hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass Nietzsche die Form des Aphorismus nicht aus Verlegenheit gebrauchte, sondern als die spezifische Form seiner philosophischen Schriftstellerei begriff, ohne sich dabei durch die herkçmmliche literarische Gattung einschrnken zu lassen. 10 Vgl. zur Interpretation des Notats Greiner, Friedrich Nietzsche: Versuch und Versuchung in seinen Aphorismen, 9 ff. Greiner versteht Nietzsches Typus des Aphorismus als Form eines entwerfenden, experimentierenden Denkens und lçst so Nietzsches Philosophieren noch im Dunstkreis Heideggers aus dessen metaphysisch-dogmatisierender Interpretation, Krger, Studien ber den Aphorismus als philosophische Form, 107 – 113, erschließt sie als Form des „Nichtwissens“ oder „Offenhaltens“.
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1. Nietzsches Herausforderung an seine Leser
sammengetragenen Notizen in berschaubare Zusammenhnge zu bringen; „Kopf und Auge nçthigt“ ihn zu dem „verwnschten Telegrammstil“.11 Doch bald entdeckt er in seiner Not eine Tugend; die biographische Nçtigung zum Aphorismus bringt ihn auf dessen literarischen und der literarische auf seinen philosophischen Sinn. Der Aphorismus war vor ihm eine noch nicht festgestellte Gattung; was Aphorismen waren, wurde oft nicht so genannt, und was so genannt wurde, waren oft keine Aphorismen; die Spanne reichte von der Sentenz bis zum Essay und zur Abhandlung (wie im Fall von Schopenhauers Aphorismen zur Lebensweisheit).12 Im Wortsinn bedeutet ,Aphorismus‘ ,Abgrenzung, Aussparung‘. Was ihn auszeichnet, ist (erstens) die Krze, die Prgnanz, die Kraft, mit wenig Worten vieles auszudrcken. Er spitzt, was er sagt, (zweitens) in Pointen zu, bringt gedankliche berraschungseffekte, die Begriffe aus ihren gewohnten Kontexten herauslçsen und fr andere Kontexte freisetzen. Er lçst so die Form des Systems, in der sich Metaphysiken festsetzen, gezielt auf und legt Anhaltspunkte fr eine neue Orientierung frei. So ist er die gegebene Form fr eine Umwertung der Werte. Mit seiner Sprachkunst zieht er in ein ,Labyrinth‘ hinein, in dem man, ohne ein vorgegebenes Prinzip, ohne eine vorgefasste Methode und so auch ohne die Erwartung allgemeingltiger Ergebnisse, allein seine eigenen Wege suchen muss, auf denen man sich dann irgendwo verlieren wird. So ldt er zu eigenen Abenteuern des Denkens ein, die nirgendwo abgesichert sind und stets im Ungewissen enden. „In Aphorismenbchern gleich den meinigen“, notierte Nietzsche fr sich, „stehen zwischen und hinter kurzen Aphorismen lauter verbotene lange Dinge und Gedanken-Ketten; und Manches darunter, das fr Oedipus und seine Sphinx fragwrdig genug sein mag.“ (N 1885, 37[5], KSA 11.579; W I 6, S. 35) Kurz: der Aphorismus macht auf prgnante Weise fragwrdig, worber er spricht, und ist so die Form der prgnanten Fragwrdigkeit. Und ein solcher Aphorismus steht (drittens) auch in Aphorismen-Bchern allein, jeder wirkt fr sich durch unmittelbar einleuchtende Gedanken. „Die tiefsten u. unerschçpftesten Bcher werden“, notierte sich Nietzsche, „wohl immer etwas von dem {aphoristischen und plçtzlichen} Charakter {von} Pascals Penses haben.“ (N 1885, 35[31], 11 Brief an Heinrich Kçselitz, 5. Okt. 1879, KGB II/5, Bf.889, u. 5. Nov. 1879, KGB II/5, Bf.900. 12 Vgl. Fedler, Der Aphorismus, der die literarische Form des Aphorismus systematisch zu umreißen versucht, und Spicker, Der Aphorismus, der den Begriff des Aphorismus in der Literaturgeschichte verfolgt.
1.3. Nietzsches Formen philosophischer Schriftstellerei
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KSA 11.522 / W I 3, S. 114)13 Der Aphorismus und die Sentenz, der EinSatz-Aphorismus, sind, so Nietzsche, gleichwohl „Formen der ,Ewigkeit‘“: Sie bleiben und rufen immer neue Interpretationen hervor, mit ihrer Prgnanz entziehen sie die Gedanken der Zeit, ohne das Denken wieder in Metaphysiken zu treiben. Nietzsche wusste, dass er darin „Meister“ war – und dass er seinerseits mit seinen Aphorismen allein stand: „mein Ehrgeiz ist, in zehn Stzen zu sagen, was jeder Andre in einem Buche sagt, – was jeder Andre in einem Buche n i c h t sagt …“ (GD Streifzge 51). Der Begriff des Aphorismus ist heute durch seine Aphorismen geprgt, und kein Philosoph wird mit seinen Aphorismen dankbarer zitiert als er. Nietzsche stellt die fr sich stehenden Aphorismen wiederum in sorgfltig komponierten Aphorismen-Bchern zusammen, versetzt sie in Kontexte. Lngere Aphorismen, wie er sie mehr und mehr schreibt – zuletzt kçnnen sie einige Druckseiten umfassen –, sind so perspektivenreich, dass sie nach allen Seiten Durchblicke auf andere Aphorismen, benachbarte und weiter entfernte, erçffnen und zur Vernetzung mit ihnen auffordern. Sie verknpfen meist schon in ihrem eigenen Kontext mehrere Themen, und so entstehen in der Vernetzung mit anderen Aphorismen thematische Ketten, die Nietzsche wiederum kunstvoll miteinander verflicht. Daraus ergeben sich dichte thematische Geflechte, in denen sich die Aphorismen zur wechselseitigen Interpretation anbieten. Geflechte von Themenketten fhren die Abhngigkeit der Themen voneinander geradezu sinnlich vor und geben zugleich den Aphorismen-Bchern ihre Struktur. Die Themen reichen jedoch ber die einzelnen Aphorismen-Bcher hinaus und verflechten auch sie miteinander, so dass sie freinander weitere Verstndnishilfen bieten. Weitere Kontexte bilden, fr heutige Leser, die dokumentierten Vorstufen der Aphorismen, die nachgelassenen Notate und die Briefe, schließlich die zahllosen Anschlsse außerhalb von Nietzsches Werk. Jeder Kontext kann Gesichtspunkte zum Verstndnis der Texte erçffnen. Und dies gilt fr die Orientierung berhaupt. Jeder Anhaltspunkt, an den sie sich hlt, von geographischen Aufflligkeiten ber Sprachzeichen bis hin zu Naturgesetzen, lsst Deutungsspielrume und muss sie lassen, wenn man in wechselnden Situationen etwas mit ihnen anfangen kçnnen soll. Sie werden zur Orientierung hinreichend eindeutig, nicht indem man 13 Daneben ist Nietzsches aphoristische Schriftstellerei bekanntlich den franzçsischen Moralisten und Lichtenberg verpflichtet. Zu Nietzsche und Lichtenberg vgl. Stingelin, „Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauchs“, und (ohne Bezug auf Stingelin) Egert, Vom Werden und Wesen des Aphorismus.
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1. Nietzsches Herausforderung an seine Leser
von der Situation ihres Gebrauchs absieht, sie also dekontexualisiert, sondern indem man ihre Deutungsspielrume wechselseitig so weit einschrnkt, wie es in der jeweiligen Situation nçtig ist, sie also kontextualisiert.14 Nietzsches Isolierung und Kontextualisierung von Aphorismen in Aphorismen-Bchern nimmt so das bewhrte Verfahren der alltglichen Orientierung auf. Man orientiert sich an Aphorismen seiner Philosophie wie an Anhaltspunkten der alltglichen Orientierung: sie stehen allein, aber man verlsst sich nicht allein auf sie, sie sind nie vçllig verstndlich, aber in ihren Verweisen aufeinander werden sie hinreichend verstndlich, sie lehren nichts Allgemeingltiges, sondern orientieren jeden auf seine Weise, je nachdem, welche Bezge er unter seinen Gesichtspunkten herstellt. Die Aphorismen legen den Leser in seinem Verstndnis und er sie dabei nie endgltig fest; in einem neuen Kontext, in einer neuen Situation und unter anderen Gesichtspunkten kann er sie wieder anders verstehen. Sie bleiben so fr die Zukunft offen. Nietzsche macht die Komposition seiner Aphorismen-Bcher nie als solche deutlich (und begrndet sie schon gar nicht), und lsst auf diese Weise den Leser frei fr eigene Kontextualisierungen. Er gibt, als philosophischer Schriftsteller, Orientierungen, die zu eigenen Orientierungen einladen. Und er hlt diese Orientierungen selbst in Bewegung. Nietzsche hat in der Reihe seiner Aphorismen-Bcher seine Gedanken immer wieder neu aufgenommen, in andere Kontexte versetzt und dadurch weiterentwickelt. In seinem Werk ist nichts abgeschlossen, nichts endgltig, und wenn er ber Jahre hinweg mit dem Plan eines abschließenden und endgltigen „Hauptwerks“ (WA 7, KSA 6.26) spielte, so hat er ihn zuletzt aufgegeben.15 Vorgebliche Abgeschlossenheit und Endgltigkeit wren Merkmale eines zeitlosen Systems und damit ein „Mangel an Rechtschaffenheit“ (GD Sprche 26). Ist der isolierte Aphorismus die schriftstellerische Form der ,Ewigkeit‘, so das kontextuelle Aphorismen-Buch die schriftstellerische Form der Zeitlichkeit. Es hlt den Deutungsprozess, die Orientierung, weiter in Gang. Nietzsches Kontextualisierungsweisen sind wiederum sehr vielfltig. Zu thematischen kommen knstlerische: dichterische, musikalische und bildnerische.16 Dichterisch variiert und wechselt Nietzsche die Themen und 14 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 275 – 282. 15 Vgl. Montinari, Nietzsches Nachlaß, und zuletzt Winteler, Nietzsches Antichrist. 16 Nietzsche hatte von Wagner geschrieben, man kçnne „schwanken, welchen Namen man ihm beilegen solle, ob er Dichter oder Bildner oder Musiker zu nennen sei, jedes Wort in einer ausserordentlichen Erweiterung seines Begriffs genommen,
1.3. Nietzsches Formen philosophischer Schriftstellerei
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ihre Gewichtung (Hauptsachen werden zu Nebensachen und umgekehrt), berspringt er nach lange ,logisch‘ nachvollziehbaren bergngen plçtzlich Zwischenglieder, lsst er Themen in harten Fgungen unverbunden stehen, wendet er sich vom Thema ab und redet den Leser an oder inszeniert Dialoge und Selbstgesprche, spricht bald betont bestimmt, bald betont fraglich, hier klar, dort rtselhaft usw. Musikalisch wechselt er die Tempi (z. B. „presto“, „lento“, „staccato“, N 1885/86, 3[18], KSA 12.175 / W I 7, S. 1)17 und die Tçne (sachlich, ernst, pathetisch vs. ironisch, frçhlich, ernchternd) und zwischen homophon-harmonischer und polyphonkontrapunktischer Komposition der Themen. Nietzsche wnschte sich „das d r i t t e Ohr“ fr die Musik seiner Texte, fr die Kunst, die errathen sein will, sofern der Satz verstanden sein will! Ein Missverstndniss ber sein Tempo zum Beispiel: und der Satz selbst ist missverstanden! Dass man ber die rhythmisch entscheidenden Silben nicht im Zweifel sein darf, dass man die Brechung der allzustrengen Symmetrie als gewollt und als Reiz fhlt, dass man jedem staccato, jedem rubato ein feines geduldiges Ohr hinhlt, dass man den Sinn in der Folge der Vocale und Diphthongen rth, und wie zart und reich sie in ihrem Hintereinander sich frben und umfrben kçnnen (JGB 246).
„Die Absicht einer Schrift“, schrieb Nietzsche an den Kritiker Josef Viktor Widmann, habe auch „das Gesetz ihres Stils zu s c h a f f e n“: oder ob erst ein neues Wort fr ihn geschaffen werden msse“ (WB 9, KSA 1.485), und erkannte zuletzt darin eine „Semiotik“ seiner selbst (EH UB 3). Er sah sich auch in der Philosophie als Musiker (vgl. Briefe an Hermann Levi, 20. Okt. 1887, KGB III/5, Bf.930, und an Georg Brandes, 13. Sept. 1888, KGB III/5, Bf.1107). Heller, „Von den ersten und letzten Dingen“, erinnert „Nietzsches Denk- und Schreibstil an Wagners Kompositionen“ (407) und deren „Polaritt von zentrifugaler ,Sensibilitt‘ und zentripetalem ,Willen‘“ (411). An den Texten ist das freilich schwer zu zeigen. 17 Vgl. JGB 27 und den Nachbericht zur KGW IX, W I 7, S. 1, Z. 26 – 30 (Datentrger): „Vgl. [Julius] Jolly, Reise [nach Ostindien, in: Deutsche Rundschau 51 (1884)], 121, der ber die „indische Instrumentalmusik“ berichtet: „Das Tempo wechselt hufig, und man unterscheidet drei Hauptarten desselben, die folgende Sanskritnamen fhren: gangasrotogati, ,wie der Strom des Ganges dahinfließend‘, d. h. presto; kurmagati, von der Gangart der Schildkrçte, d. h. lento; mandekagati, ,von der Gangart des Frosches‘, d. h. staccato“. Vgl. ergnzend Lampl, Auf den Spuren des Lesers Nietzsche, 300 f. Von den drei Abhandlungen der GM etwa sagt Nietzsche in EH GM, sie steigerten sich jedes Mal zum „tempo feroce“. Solche Beschreibungen seines eigenes Stils durch Bezeichnungen musikalischer Tempi sind jedoch eher selten, und selbst in JGB 27 spricht Nietzsche von seinem Denken und Leben, nicht von seinem Schreiben, auch wenn sie fr ihn eng zusammengehçren.
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1. Nietzsches Herausforderung an seine Leser
Ich verlange, daß, wenn diese Absicht sich ndert, man auch unerbittlich das ganze Prozedurensystem des Stils sich ndert. Dies habe ich zum Beispiel im ,Jenseits‘ gethan, dessen Stil meinem frheren Stil nicht mehr hnlich sieht: die Absicht, das S c h w e r g e w i c h t war verlegt. Dies habe ich nochmals in der letzten ,Streitschrift‘ gethan, wo ein Allegro feroce und die Leidenschaft nue, crue, verte an Stelle der raffinirten Neutralitt und zçgernden Vorwrtsbewegung vom ,Jenseits‘ getreten ist.18
Der „Sinn jedes Stils“ ist zuletzt, einen „Zustand, eine innere Spannung von Pathos durch Zeichen, eingerechnet das tempo dieser Zeichen, m i t z u t h e i l e n“, einen „inneren Zustand“, den man mit Worten allein nicht mitteilen kann (EH Bcher 4). Nietzsche wollte sich mit seinen Texten diesseits erstarrter Begriffe so verstndlich machen, wie es sonst nur in persçnlichen Begegnungen mçglich ist, in denen Mimik, Gestik, Kçrperhaltung und die Stimme mit all ihren Modulationen ,innere Zustnde‘ erraten lassen, und fasste all dies in der Metapher der Musik zusammen. Er wollte „den ganzen Zarathustra unter die Musik“ gerechnet sehen (EH ZA 1): in seinem Sprachduktus („Die Sentenz von Leidenschaft zitternd; die Beredsamkeit Musik geworden; Blitze vorausgeschleudert nach bisher unerrathenen Zuknften.“ EH ZA 6), in seinen vier Teilen als vierstzige Symphonie und insbesondere in seinen Liedern.19 Bildnerisch verfhrt er wie die Kubisten in der Malerei, die bald schon ihren Siegeszug antreten sollten. Wie sie verzichtet er auf den Illusionismus der Zentralperspektive und zeigt seinen jeweiligen Gegenstand in versetzten, gedrehten und berraschend neu komponierten Perspektiven, so dass da wohl jeweils ein Gegenstand, aber eben nicht als einer und wahrer, sondern der Reichtum seiner mçglichen Perspektiven sichtbar wird.20 Der perspektivenreiche Blick ist der komplexere, er gibt ein differenzierteres und aussagekrftigeres Bild von der Wirklichkeit als der auf eine Sicht beschrnkte systematische, zumal wenn er sich als der einzig wahre ausgibt. Man kann sich die Perspektiven vereinfachen, indem man sich aus Nietzsches Philosophieren
18 Brief an Josef Viktor Widmann, 4. Febr. 1888, KGB III/5, Bf.985 f. 19 Vgl. Brief an Overbeck, 6. Febr. 1884, KGB III/1, Bf. 486, und dazu CPJ 2.211 – 221, und Gentili, Zarathustra e la musica. 20 Der Kubismus, der sich um 1910 durchsetzte, ist, so der gleichnamige Artikel der Brockhaus-Enzyklopdie in 30 Bnden, 21., vçllig neu bearbeitete Aufl. Leipzig/ Mannheim 2006, Bd. 16, Sp. 35, „vermutlich derjenige Stil der Moderne, der am radikalsten mit allen vergangenen Traditionen der Malerei brach und die weitere Entwicklung der Kunst am nachhaltigsten beeinflusste.“ Analoges drfte von Nietzsches Philosophie gelten.
1.4. Nietzsches Anti-Lehren: Zarathustras „starke Gegen-Begriffe“
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wieder ein System zurechtmacht. Aber dies ist dann das eigene, nicht Nietzsches System. Die Vielfalt von Nietzsches Formen philosophischer Schriftstellerei hat das Verstndnis seiner Schriften erschwert und sollte das auch. Halb erbittert, halb amsiert notierte er, als er AC und EH niederschrieb, fr sich: Noch in meinem 45ten Jahre geben mir Gelehrte der Basler Universitt in aller Gutmthigkeit zu verstehen, die litterarische Form meiner Schriften sei der Grund, weshalb man mich nicht lese, ich sollte das anders machen. (N 1888, 22[28], KSA 13.597)
Nietzsche wollte es nicht anders machen. Die literarischen Formen seiner Werke mssen darum bei ihrer Interpretation stets mitbedacht werden. Sie geben die Bedingungen vor, unter denen ihre Inhalte zu verstehen sind; alles, was in ihnen gesagt wird, ist durch das literarische Medium gebrochen. Sie sind keine Formen einer allgemeingltig formulierbaren und systematisch begrndbaren Lehre, sollen den Leser erklrtermaßen nicht zu berzeugungen bringen, die er mit allen teilen kann, sondern gerade in festgefgten berzeugungen irritieren, jedoch so, dass sie ihn zugleich faszinieren.21
1.4. Nietzsches Anti-Lehren: Zarathustras „starke Gegen-Begriffe“ In ZA scheint Nietzsche jedoch emphatisch Lehren gelehrt zu haben. Er hat seinen Zarathustra ausdrcklich als Lehrer eingefhrt („I c h l e h r e e u c h d e n b e r m e n s c h e n“, ZA I Vorrede 3; „deine Thiere wissen es wohl, oh Zarathustra, wer du bist und werden musst: siehe, d u b i s t d e r L e h r e r d e r e w i g e n W i e d e r k u n f t“, ZA III Genesende 2, KSA 4.275). Und da er ZA zuletzt, in EH, ber all seine Bcher hinausgehoben hat („das hçchste Buch, das es giebt, das eigentliche Hçhenluft-Buch“, und „auch das t i e f s t e, das aus dem innersten Reichthum der Wahrheit heraus geborene“, EH Vorwort 4), haben wir vorab zu klren, was es mit Zarathustras berhmten Lehren auf sich hat. Wenn fr Nietzsche ZA sein faszinierendstes Werk war, so ist es fr seine Leser sein irritierendstes. In ZA
21 Vgl. Stegmaier, Philosophieren als Vermeiden einer Lehre.
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1. Nietzsches Herausforderung an seine Leser
stellte Nietzsche das Problem der Lehre;22 Zarathustras Lehren sind Nietzsches Anti-Lehren.23 In der episch-dramatisch-lyrischen Dichtung dramatisiert er die Kommunikation einer bisher unerhçrten Philosophie, inszeniert er eine Handlung, in der ein mythisch-historischer Religionsstifter teils in Dialogen, teils in Monologen „Lehren“ vortrgt, mit denen er sichtlich scheitert. Er lsst seinen Zarathustra wissentlich in seinen „Untergang“ gehen, auch ihn aus einer Notlage heraus. Zarathustra muss lehren, weil er den „berfluss“ der Weisheit, der sich in zehn Jahren seiner Einsamkeit oben im Gebirge in ihm angesammelt hat, nicht mehr bei sich behalten kann (ZA I Vorrede 1, KSA 4.12 f.). Er will wie die Sonne seine Weisheit verschenken und dadurch neues Leben schaffen. Er ist kein Lehrer im blichen Sinn. Er lehrt mit einer unumschrnkten Lehrautoritt. Autoritt hat der, von dem keine Begrndungen verlangt werden, und von Zarathustra werden nie Begrndungen verlangt;24 er verzichtet, so zeigt ihn Nietzsche, auf alle argumentativen Begrndungen und systematischen Verknpfungen. Stattdessen trgt er seine Lehren mit dem hohen Pathos einer religiçs gefrbten Sprache vor. So sind sie weniger Lehren als Offenbarungen. Seine Lehren sollen „nur zu den Auserwhltesten“ gelangen (EH Vorwort 4); er setzt keine gleiche Vernunft bei den Menschen voraus. Seine Hçrer sollen „Treppen“ zu der Hçhe seiner Not des Erkennens sein (ZA II Gesindel, KSA 4.125), ohne sie je zu erreichen. Das Volk auf dem Markt, das er seiner Lehre vom bermenschen wrdigt, kann darber nur lachen (ZA I Vorrede 3),25 die Jnger, die sich ihm anschließen und mit denen er die Lehre des Lebens vom Willen zur Macht teilt, missverstehen sie (ZA I und II), die Tiere, die er danach allein noch bei sich behlt, machen aus seinem „abgrndlichsten Gedanken“ der ewigen Wiederkunft (EH ZA 6) wieder ein „Leier-Lied“ (ZA III Genesende 2, KSA 4.273), die „hçheren Menschen“, die selbst eine hohe Lehrautoritt erworben haben, bleiben noch auf eine hçchste Autoritt angewiesen und beten am Ende einen Esel an (ZA IV). So bleibt Zarathustra mit seiner Erkenntnis in jeder Gesellschaft einsam. Er „geht“ als Lehrer „unter“ und triumphiert als 22 Vgl. Bennholdt-Thomsen, Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarisches Phnomen, 21 f. u. ç.; Simon, Nachwort; Simon, Ein Text wie Nietzsches Zarathustra; Zittel, Das sthetische Kalkl, 212 u. ç. 23 Vgl. Stegmaier, Anti-Lehren. 24 Vgl. ZA II Dichtern, KSA 4.163. 25 Vgl. ZA IV Menschen, KSA 4.356 („Als ich zum ersten Male zu den Menschen kam, da that ich die Einsiedler-Thorheit, die grosse Thorheit: ich stellte mich auf den Markt. / Und als ich zu Allen redete, redete ich zu Keinem.“).
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„Erkennender“ (ZA III Wanderer, KSA 4.194). Nietzsche fhrt an ihm dramatisch das Scheitern scheinbar allgemeingltiger Lehren vor. „Zu jeder Seele“, lsst er ihn sagen, „gehçrt eine andre Welt; fr jede Seele ist jede andre Seele eine Hinterwelt.“ (ZA III Genesende 2, KSA 4.272) So kçnnen sie einander keine Lehren mitteilen, die fr sie gleichen Sinn htten, sondern nur irritieren und faszinieren. In Zarathustras Sprache ist dies ein ,Geben‘, ,Schenken‘ und ,Schaffen‘: ein Geben, das kein gleichsinniges Nehmen erwarten lsst, ein Schenken, das keine Gegenseitigkeit braucht, ein Schaffen, das andere in ihrer Orientierung auf ihre Weise weiterbringt. Es gleicht dem der Sonne, die in diesem Sinn gibt, schenkt und schafft, aber nicht lehrt, und Nietzsche beginnt die ZADichtung damit, dass Zarathustra sich mit der Sonne vergleicht. In den Titeln der Reden deutet er an, dass Zarathustra sich Schritt fr Schritt vom Lehren zurckzieht. Abschnitte mit Lehren sind stets „Von …“ („Von den drei Verwandlungen“, „Von den Lehrsthlen der Tugend“ usw.) berschrieben. Im I. Teil sind das noch alle, im II. Teil zwei Drittel, im III. Teil etwa die Hlfte, im IV. Teil ein Zehntel. An die Stelle der Lehren treten Schilderungen und Lieder („Das Kind mit dem Spiegel“, „Auf den glckseligen Inseln“, „Das Nachtlied“, „Das Tanzlied“ usw.), am Ende „Das Zeichen“.26 Nietzsche fhrt die ganze ZA-Dichtung auf ein Zeichen hinaus, das Zarathustra vorbehalten ist (der lachende Lçwe). Er kann seinerseits nur Zeichen geben, die das Volk, die Jnger, die Tiere, die ,hçheren Menschen‘ verstehen oder missverstehen und nicht einmal als Zeichen erkennen kçnnen, und er ist auch selbst ein Zeichen, das seine Leser verstehen oder missverstehen und nicht einmal als Zeichen erkennen kçnnen: wie Platon seinen Sokrates, so hat Nietzsche ihn sich als eine „Semiotik“ geschaffen (EH UB 3), mit der er nicht verwechselt werden wollte.27 Die berhmtesten Lehren Zarathustras, die Lehren vom bermenschen und von der ewigen Wiederkehr des Gleichen, stellen ihre eigene Lehrbarkeit in Frage. Sie sind Gaben im genannten Sinn des Gebens. Nietzsche hat in einem Notat, das er sich selbst vorbehielt, zuletzt von „Gegen-Begriffen“ gesprochen, die er „nçthig“ habe: „Ich habe diese 26 Die Beobachtung verdanke ich Alexander Kupin. 27 Vgl. Brief an Elisabeth Nietzsche, 7. Mai 1885, KGB III/3, Bf.600: „Glaube ja nicht, daß mein Sohn Zarathustra m e i n e Meinungen ausspricht. Er ist eine meiner Vorbereitungen und Zwischen-Akte.“ Wie weit Nietzsche mit seinem Zarathustra an den mythisch-historischen Zarathustra anknpft, hat Shakhovudinov, Zarathustras freier Geist, zu klren versucht.
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starken Gegen-Begriffe nçthig, die L e u c h t k r a f t dieser Gegen-Begriffe, um in jenen Abgrund von Leichtfertigkeit und Lge hinabzuleuchten, der bisher Moral hieß.“ Hier ist vom „Wort I m m o r a l i s t“ und von der „Formel ,Jenseits von Gut und Bçse‘“ die Rede (N 1888/89, 23[3], KSA 13.603). Noch weit grçßere Leuchtkraft haben die Lehren vom bermenschen und von der ewigen Wiederkehr des Gleichen bewiesen; sie ist jedoch rasch von neuen metaphysischen Deutungen, insbesondere der Heideggers, berstrahlt worden.28 Die Lehre vom bermenschen richtet Zarathustra gegen den „l e t z t e n M e n s c h e n“ (ZA I Vorrede 5). Der letzte Mensch ist der, der sich selbst fr den letzten hlt in dem Sinn, dass ber ihn hinaus der Mensch nicht mehr zu steigern ist und er also den letzten, definitiven und damit allgemeingltigen Begriff von ihm und dessen Bild an sich selber hat. Zarathustra gibt jedoch keinen allgemeingltigen Begriff vom bermenschen, sondern vielfltig deutbare Zeichen, immer neu sich verwandelnde Bilder, Metaphern vor allem des Wassers, Sees, Flusses, Stroms und Meers, aber auch andere, bewusst gegenlufige Metaphern wie Blitz, Treppe, Brcke, Wolken, Gçtter, Teufel (NSM 19). Er lsst das Zeichen des bermenschen im Geflecht dieser Metaphern niemals ,fest‘ werden, sondern schafft mit ihm Anstçße fr immer neue Entdeckungen, wie Menschen ber ihr jetziges, scheinbar endgltiges Menschsein hinauskommen kçnnen. So kann es nicht gelehrt werden, und nur weil das Volk auf dem Markt Lehren erwartet, bietet er es ihm zunchst als Lehre an. Wenn es sich erst von einem festen Begriff vom Menschen (wie dem des ,vernnftigen‘ Lebewesens oder des ,guten‘, moralisch korrekten Menschen) gelçst htte, wrde es nicht nur sich selbst, sondern auch alles brige ,freier‘ verstehen, neue Spielrume seiner Orientierung gewinnen kçnnen. Wird aber ,bermensch‘ wieder als Gattungsbegriff verstanden, unter den Arten und Einzelne eingeordnet werden kçnnen, ist er wieder ein ,letzter Mensch‘, der lediglich dem jetzigen berlegen, der bermchtig und gewaltig und aus Sicht der herrschenden Moral gewaltttig ist.29 28 Zur Geschichte der Formeln und ihren Standarddeutungen vgl. Gerhardt, Art. bermensch, und Brusotti, Art. Wiederkunft, ewige. 29 Nietzsche hat dazu, vielleicht bewusst, selbst immer wieder verlockt, indem er historische Beispiele wie Alexander, Caesar oder Napoleon ins Spiel brachte. Doch wren sie die Norm, wre der bermensch schon vergangen und kme nicht erst wie das Zeichen Zarathustras, das ihn aus seiner Hçhle ruft. Der bermensch, der ber den jetzigen Menschen hinausfhrt, kann immer nur etwas Knftiges sein. – Zu inzwischen berholten Deutungen des Zeichens ,bermensch‘ vgl. zuletzt Winteler, Nietzsches Ideal eines hçchsten Typus Mensch.
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Der letzte oder kleine Mensch ist dann auch das, wovor Zarathustra beim Gedanken der ewigen Wiederkunft am strksten ekelt („Ach, Ekel! Ekel! Ekel!“). Dieser Ekel ist das Einzige, was Nietzsche Zarathustra zum Gedanken der ewigen Wiederkunft ußern lsst; alles andere, was gesagt wird („ewig rollt das Rad des Seins“, „d u b i s t d e r L e h r e r d e r e w i g e n W i e d e r k u n f t“, „Du lehrst, dass es ein grosses Jahr des Werdens giebt“) ist das „Leier-Lied“, das die Tiere schon wieder aus dem Gedanken gemacht haben (ZA III Genesende 2, KSA 4.272, 275).30 Eben wegen seines Gedankens des bermenschen schaudert Zarathustra vor dem Gedanken einer ewigen Wiederkehr, wird er fr ihn zum „abgrndlichen Gedanken“ (ZA III Rthsel 2, KSA 4.199; vgl. ZA III Seligkeit, KSA 4.205).31 Die Anti-Lehre der ewigen Wiederkunft richtet Zarathustra nicht nur gegen einen festen, zeitlosen Begriff des Menschen, sondern gegen feste, zeitlose und damit metaphysische Begriffe berhaupt. Und wie der bermensch nur der Begriff eines berlegenen Menschen zu sein scheint, scheint Zarathustra mit dem Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen nur eine neue Metaphysik zu schaffen. ,Ewig‘ und ,Gleiches‘ sind fraglos Leitbegriffe der Metaphysik, ebenso ,Alles‘, das ewig und gleich wiederkehren soll; ,Alles‘ ist, schon nach Kant, in keiner Erfahrung jemals zu erfassen und damit transzendent. Aber wie in den Begriff des Menschen lsst Nietzsche seinen Zarathustra nun in die Begriffe der Metaphysik die Zeit eintragen – mit der ewigen Wiederkehr ist das Ewige nicht mehr ein Sein, sondern die Zeit, in der, auch wenn immer alles gleich bleibt, immer alles anders wird. Die Zeit als solche, das hat schon Parmenides, der Begrnder der Metaphysik, gesehen und Aristoteles ausfhrlich dargelegt, ist etwas Paradoxes; sie paradoxiert alles, was ihr un30 Im Frhjahr 1884 erwog Nietzsche ein Werk „Die ewige Wiederkunft. E i n e W a h r s a g u n g“ und wollte es so beginnen: „Meine Freunde, ich bin der Lehrer der ewigen Wiederkunft. / Das ist: ich lehre, daß alle Dinge ewig wiederkehren und ihr selber mit –, und daß ihr schon unzhlige Male dagewesen seid und alle Dinge mit euch; ich lehre, daß es ein großes langes ungeheures Jahr des Werdens giebt, das, wenn es abgelaufen, ausgelaufen ist, gleich einer Sanduhr immer wieder umgedreht wird: so daß alle diese Jahre sich selber gleich sind, im Kleinsten und im Grçßten.“ (N 1884, 25[6]-[7], KSA 11.10) Aber er hat dieses Werk nie geschrieben. 31 Marie-Luise Haase sieht das in ihrem aufschlussreichen Aufsatz: Der bermensch in „Also sprach Zarathustra“, umgekehrt so: der Gedanke der ewigen Wiederkehr werde eben durch den Gedanken des bermenschen ertrglich – weil wiederum der gedachte bermensch den Gedanken der ewigen Wiederkehr ertragen kçnne. Dann htte Nietzsche allerdings mit der Lehre der ewigen Wiederkehr „beginnen sollen“ (235), was er nicht tat.
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terworfen wird. Nietzsche paradoxiert durch die Zeit die Metaphysik, die sie so entschlossen auszuschließen versuchte. Paradox ist die ewige Wiederkehr des Gleichen nicht nur darin, dass sie nicht widerspruchsfrei gedacht, sondern auch darin, dass sie gar nicht erkannt werden kann. Denn um zu erkennen, dass alles gleich wiederkehrt, msste man eine frhere von einer spteren Wiederkehr unterscheiden kçnnen, und dazu mssten sie sich in irgendetwas, und sei es der bloßen Zahl der Wiederkehr nach, unterscheiden. Dann aber wrde nicht das Gleiche wiederkehren. Stellt man sich, um die Wiederkehr erkennen zu kçnnen, außerhalb des Wiederkehrenden auf jenen rein theoretischen oder gçttlichen Standpunkt, den die Metaphysik stets unterstellt hat, wrde nicht alles wiederkehren, sondern jener Standpunkt bleiben. Mit seiner paradoxierenden Wirkung kann auch der Gedanke der ewigen Wiederkehr des Gleichen keine Lehre, aber umso mehr eine Gabe sein. Denn mit ihm entlarven sich zugleich alle scheinbar zeitlosen Begriffe, an die man sich ,fest‘ halten zu kçnnen glaubte, als paradoxe metaphysische Illusionen, auch und gerade die Begriffe, die man sich von sich selbst macht, um einen scheinbar unbedingten Beobachterstandpunkt einnehmen und dabei zugleich unbeschadet vor sich selbst und anderen bestehen zu kçnnen. So stellt der Gedanke der ewigen Wiederkehr, indem er fordert, alles, auch das, was man an sich und seinem Leben um keinen Preis wiederkehren sehen will, als ewig wiederkehrend zu denken, vor die Abgrnde der eigenen Realitt. Das macht ihn unertrglich, und so hat ihn Nietzsche vor ZA in FW 341 angekndigt. Nach ZA, in JGB 56, auch hier, ohne ihn zu benennen, scheint Nietzsche den Gedanken der ewigen Wiederkehr als „circulus vitiosus deus“ noch einmal aufzunehmen, wçrtlich als ,fehlerhaften Zirkel Gott‘. Hier spricht er von einem „Schauspiel“, nach dem auch den „bermthigsten lebendigsten und weltbejahendsten Menschen“ noch verlangt, das auch er „im Grunde“, in seinen unerkannten und unerkennbaren Tiefen, noch „nçthig hat – und nçthig macht: weil er immer wieder sich nçthig hat – und nçthig macht“, seine illusionren Begriffe, die er braucht, um berhaupt von sich sprechen zu kçnnen, und von denen er doch weiß, dass sie haltlose Notlgen sind. Ein fehlerhafter Zirkel, der schon voraussetzt, was er beweisen will, ist er darin, dass man sich lebensnotwendige Illusionen, um sich ihren Ursprung zu verbergen, als logisch notwendig beweisen will, und Gott darin, dass so als hçchste und umfassendste Illusion auch der Gott der Metaphysik bewiesen wurde, mit dem weiteren circulus vitiosus, dass seine Allmacht auch noch dieses Beweisen ermçglicht haben
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sollte. Der Gedanke der ewigen Wiederkehr des Gleichen vollzieht den circulus vitiosus nach – ohne Gott.32 Als Nietzsche dann aber, am Ende der GD, noch einmal darauf zurckkam, dass er erst „jenes wundervolle Phnomen ernst nahm, das den Namen des Dionysos trgt“, sah er in ihm und dem Kult, den die Griechen ihm weihten, schon den Gedanken der ewigen Wiederkehr eingeschlossen, „das e w i g e Leben, die ewige Wiederkehr des Lebens; die Zukunft in der Vergangenheit verheissen und geweiht; das triumphirende Ja zum Leben ber Tod und Wandel hinaus; das w a h r e Leben als das Gesammt-Fortleben durch die Zeugung, durch die Mysterien der Geschlechtlichkeit“, und nun identifizierte er sich auch als „Lehrer“ der ewigen Wiederkunft: „– ich, der letzte Jnger des Philosophen Dionysos, – ich, der Lehrer der ewigen Wiederkunft …“ (GD Alten 4 – 5) Doch auch hier machte er mit den abschließenden Auslassungspunkten die begriffliche Selbstfestlegung wieder fraglich. Als er bald darauf in EH den Hinweis auf seine Neuentdeckung des Dionysischen wiederholt, weist er den Gedanken – hypothetisch – Heraklit zu: „Die Lehre von der ,ewigen Wiederkunft‘, das heisst vom unbedingten und unendlich wiederholten Kreislauf aller Dinge – diese Lehre Zarathustra’s k ç n n t e zuletzt auch schon von Heraklit gelehrt worden sein.“ (EH GT 2 – 3) Und am Ende ist es wieder nur Zarathustra, der „den ,abgrndlichsten Gedanken‘ gedacht hat“, dass, wenn alles ewig wiederkehrt, auch der kleine Mensch ewig wiederkehrt, „trotzdem darin keinen Einwand gegen das Dasein, selbst nicht gegen dessen ewige Wiederkunft findet“ und darin Dionysos gleicht („A b e r d a s i s t d e r B e g r i f f d e s D i o n y s o s n o c h e i n m a l“, EH ZA 6). Fr Nietzsche selbst blieben, wie er zuletzt noch bekennt, „immer Mutter und Schwester“ „der tiefste Einwand gegen die ,ewige Wiederkunft‘“ (EH weise 3). So hatte auch er kein Recht, sie zu ,lehren‘. 32 Auch Nietzsches Formel des circulus vitiosus deus hat naturgemß vielfltige Interpretationen hervorgerufen. Vgl. Heidegger, Nietzsche, 1.320 f., und dazu Mller-Lauter, Nietzsche-Interpretationen, 1.307 f., und als Gegenentwurf Klossowski, Nietzsche und der circulus vitiosus deus, und dazu RLN, 26 f. Zuletzt hat Loeb, The Death of Nietzsche’s Zarathustra, 172 – 206, sie nicht im Blick auf JGB 56, sondern auf Zarathustras Problem der Erlçsung von der Zeit hin gedeutet, ausgehend von der Unterscheidung einer linearen und einer zyklischen Zeit, fr die es in Nietzsches Text keine Grundlage gibt. – Mit den sogenannten ,naturwissenschaftlichen‘ Beweisen der Wiederkunftslehre hat Nietzsche nur in seinen Notaten experimentiert. Dass sie mathematisch-physikalisch nicht haltbar sind, hat schon Paul Mongr alias Felix Hausdorff gezeigt. Vgl. Mongr, Das Chaos in kosmischer Auslese.
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1. Nietzsches Herausforderung an seine Leser
Als starker Gegen-Begriff und Anti-Lehre ist schließlich auch die ,Lehre‘ vom Willen zur Macht zu verstehen, die Nietzsche ebenfalls in ZA einfhrt und die er, anders als die Lehren des bermenschen und der ewigen Wiederkehr des Gleichen, auch weiterhin in seinen Werken vorgetragen hat. Er lsst sie „das Leben selber“ Zarathustra als „Geheimniss“ des Lebens mitteilen, gibt sie also nicht als dessen Lehre aus und kann sie so auch im eigenen Namen beibehalten. Nietzsche lsst Zarathustra ausdrcklich eine metaphysische Deutung des Willens zur Macht als optimistische Alternative zu Schopenhauers pessimistischem Willen zum Dasein zurckweisen („Der traf freilich die Wahrheit nicht, der das Wort nach ihr schoss vom ,Willen zum Dasein‘: diesen Willen – giebt es nicht! / Denn: was nicht ist, das kann nicht wollen; was aber im Dasein ist, wie kçnnte das noch zum Dasein wollen!“, ZA II Selbst-Ueberwindung, KSA 4.148). Die Anti-Lehre des Willens zur Macht ist, tiefer noch als die AntiLehren vom bermenschen und von der ewigen Wiederkehr des Gleichen, bereits gegen die Bildung von scheinbar allgemein und zeitlos gltigen Begriffen gerichtet. Nietzsche versucht mit ihr die Realitt jenseits metaphysischer Illusionen zu denken. Wird auf die metaphysische Illusion allgemeingltiger, zeitloser Begriffe berhaupt verzichtet, bleiben Willen zur Macht (im Plural) zurck. Dann ist alles einander unmittelbar ausgesetzt, reagiert jedes auf alles brige, verbindet sich mit anderem und trennt sich von ihm, wird von ihm einverleibt oder ausgestoßen, wird von anderem berwltigt oder berwltigt anderes. „,Entwicklung‘ eines Dings, eines Brauchs, eines Organs“ stellt sich dann nicht mehr als ein „progressus auf ein Ziel hin“ dar, „noch weniger [als] ein logischer und krzester, mit dem kleinsten Aufwand von Kraft und Kosten erreichter progressus, – sondern [als] die Aufeinanderfolge von mehr oder minder tiefgehenden, mehr oder minder von einander unabhngigen, an ihm sich abspielenden berwltigungsprozessen, hinzugerechnet die dagegen jedes Mal aufgewendeten Widerstnde, die versuchten Form-Verwandlungen zum Zweck der Vertheidigung und Reaktion, auch die Resultate gelungener Gegenaktionen. Die Form ist [dann] flssig, der ,Sinn‘ ist es aber noch mehr…“ (GM II 12) An sich gibt es auch Willen nicht, wie Nietzsche fr sich notierte: „1. Causalismus – alles ist Wille gegen Willen / 2 Es giebt gar keinen Willen“ (N 1886/87, 5[9], KSA 12.187 / N VII 3, S. 179). Von ,Willen‘ spricht man, wenn es nicht mehr um eine Begrndung von etwas geht, der andere zustimmen kçnnen, sondern um seine Durchsetzung, wenn sie ihre Zustimmung verweigern; dann steht, sagt man, ,Wille gegen Wille‘. Mit der Rede vom Willen geht Nietzsche also, und darin ging ihm Schopenhauer
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voran, hinter den Begriff der Vernunft mit ihren ,guten Grnden‘ fr alle zurck. Der Wille zur Durchsetzung fhrt unvermeidlich zur Auseinandersetzung und damit zur Entscheidung durch Macht, der bermchtigung des einen Willens durch den andern. Wille ist darum auch schon Wille zur Macht, und da Macht in Auseinandersetzungen stets gefhrdet bleibt, muss sie ihrerseits immer Wille zur Macht sein.33 Im Leben, so Nietzsche, entzieht sich nichts dem Willen zur Macht, auch nicht die ihm scheinbar entgegengesetzte Vernunft: aus seiner Sicht ist Vernunft lediglich der Wille, Macht-Auseinandersetzungen durch den Vortrag von guten Grnden zu ersetzen. Nach ZA, in JGB 13, empfiehlt Nietzsche die Rede vom Willen zur Macht darum aus methodologischen Grnden. Er rt zunchst den Physiologen zur „Vorsicht vor b e r f l s s i g e n teleologischen Principien“: um der „Principien-Sparsamkeit“ willen sei statt von „Selbsterhaltungstrieb“ besser von „Wille zur Macht“ zu reden, nach dem „etwas Lebendiges seine Kraft a u s l a s s e n“ will. Auch die „,Gesetzmssigkeit der Natur‘“, von der die Physiker redeten und damit vielleicht noch einem moralischen Vorurteil erlgen („,berall Gleichheit vor dem Gesetz, – die Natur hat es darin nicht anders und nicht besser als wir‘“), sei so noch kritisch in Frage zu stellen: die sparsamste, voraussetzungsrmste Hypothese sei hier, dass die Welt zwar „einen ,nothwendigen‘ und ,berechenbaren‘ Verlauf habe, aber n i c h t, weil Gesetze in ihr herrschen, sondern weil absolut die Gesetze f e h l e n, und jede Macht in jedem Augenblicke ihre letzte Consequenz zieht.“ Und darin lasse sich dann auch diese Hypothese selbst noch einbeziehen („Gesetzt, dass auch dies nur Interpretation ist […]“, JGB 22). In JGB 36 mit seiner berhmten Schlussformel „,Wille zur Macht‘ und nichts ausserdem“ geht Nietzsche dann aufs Ganze, aber nicht, wie es das vorbereitende Notat erscheinen lsst, das die Herausgeber des vermeintlichen Hauptwerks Der Wille zur Macht als krçnenden metaphysischen Schlussstein setzten und dem viele Interpreten folgten, mit einem metaphysischen Dogma („D i e s e W e l t i s t d e r W i l l e z u r M a c h t – u n d n i c h t s a u ß e r d e m!“, N 1885, 38[12], KSA 11.611), sondern wiederum mit einer vorsichtig in den Konjunktiv und in Gnsefßchen gesetzten Hypothese („sie wre eben ,Wille zur Macht‘ und nichts ausserdem“).34 In GM fasst er sie noch schrfer als „Haupt-Gesichtspunkt der 33 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz, 304 – 311. 34 Vgl. die vorausgehenden Formulierungen „Gesetzt, dass“, „ist es nicht erlaubt, den Versuch zu machen und die Frage zu fragen, ob“, „Versuch machen, die Willens-Causalitt hypothetisch als die einzige zu setzen“, „man muss die Hypothese
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1. Nietzsches Herausforderung an seine Leser
historischen Methodik“ und bloße „Theorie“ („eines in allem Geschehn sich abspielenden M a c h t -W i l l e n s“, GM II 12). Wille zur Macht ist das Zeichen zur Verzeitlichung der Begriffe schlechthin, das Zeichen des Unerkennbaren und logisch nur paradox Fassbaren, aus dem alles Erkennen und begriffliche Erfassen hervorgeht.35 Es ist das Zeichen, durch das Nietzsche all die irritiert, die noch von der metaphysischen Vernunft fasziniert sind.
wagen, ob“, „Gesetzt endlich, dass“, die Nietzsche in das vorbereitende Notat (N 1885, 38[12], KSA 11.610 f.) eingefgt hat. Vgl. auch das bald folgende Notat N 1885, 40[50], KSA 11.653 / W I 7, S. 49: „Unter dem nicht ungefhrlichen Titel ,der Wille zur Macht‘ soll hiermit eine neue Philosophie oder, deutlicher geredet, der Versuch einer neuen Auslegung alles Geschehens, zum ersten Male zu Worte kommen: billigerweise nur vorlufig {u versucherisch}, nur vorbereitend {u vorfragend}, nur ,vorspielend‘ {im Vergleiche zu einem Ernste, zu dem es eingeweihter u. auserlesener Ohren bedarf, wie es sich brigens bei allem, was ein Ph çffentlich sagt, von selber versteht, – mindestens verstehen sollte}.“ Zur hypothetischen Formulierung des Aphorismus JGB 36 vgl. Heftrich, Nietzsches Philosophie, 68 – 99, van Tongeren, Reinterpreting Modern Culture, Kap. 3, und Brotbeck, Nietzsche erraten, 153 (unter Hinweis auf Nietzsches abduktive Logik des ,Erratens‘; s.u. 16.3.). 35 In seinen Notaten hat Nietzsche auch seinen Gedanken der Willen zur Macht ,naturwissenschaftlich‘ zu formulieren versucht, indem er sie als „Machtquanta“ fasste (N 1888, 14[79], KSA 13.257 f. / W II 5, S. 138). Doch diese Quanten sind nicht mathematisierbar, sind keine irgendwie fassbaren Einheiten, „sondern dynamische Quanta, in einem Spannungsverhltniß zu allen anderen dynamischen Quanten: deren Wesen in ihrem Verhltniß zu allen anderen Quanten besteht, in ihrem ,Wirken‘ auf dieselben – der Wille zur Macht nicht ein Sein, nicht ein Werden, sondern ein Pathos ist die elementarste Thatsache, aus der sich erst ein Werden, ein Wirken ergiebt…“ (N 1888, 14[79], KSA 13.259 / W II 5, S. 139). Der Sinn des Wille-zur-Macht-Gedankens lsst sich nicht mathematisch-naturwissenschaftlich klren; Nietzsche hat im Gegenteil von ihm aus Kritik am naturwissenschaftlichen Kausalittsbegriff gebt (vgl. N 1888, 14[81], KSA 13.260 f. / W II 5, S. 136 f.: „Kritik des Begriffs ,Ursache‘“).
2. Nietzsches befreiende ,frçhliche Wissenschaft‘ Auch ,frçhliche Wissenschaft‘ ist ein ebenso irritierender wie faszinierender Begriff. Er ist nicht nur der Titel eines der Aphorismen-Bcher Nietzsches, er kçnnte auch das Programm seines Philosophierens im Ganzen – und ein Name fr sein persçnliches Erlebnis seines Philosophierens sein. Als Nietzsche 1882 die ersten vier Bcher der FW verçffentlichte, gab er nur wenige Anhaltspunkte, wie der Titel zu verstehen sei, berließ es dem Leser, seinen Sinn zu erraten. Handelt es sich um Wissenschaft oder um Philosophie, um beides zugleich oder keines von beiden? Aber wie kann Wissenschaft oder Philosophie ,frçhlich‘ sein? Als Nietzsche 1887 den vier Bchern der FW sein fnftes hinzufgte, nannte er das Ganze ein „E r l e b n i s s“, das Erlebnis einer neuen Stimmung: „Uebermuth, Unruhe, Widerspruch“ sei darin und besonders „Dankbarkeit“, Dankbarkeit fr eine Genesung, seine Genesung. Er hatte im Sommer 1881 zunchst Spinoza als „Vo r g n g e r“,36 dann den Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen entdeckt (oder wiederentdeckt),37 von dem er dann auch seinen Zarathustra ,genesen‘ lsst, und sich nun ohne jede Ablenkung allein seiner „A u f g a b e“, seinem „,Eins ist noth‘“ widmen wollen.38 Doch es waren neue kçrperliche Martern gekommen, die ihn in Verzweiflung trieben, die Reise von Sils-Maria zum Winterquartier in Genua war zu einer Qual geworden. Und doch war ein wunderschçner Januar gekommen, nach dem Nietzsche dann das IV. Buch der FW berschrieb („Sanctus Januarius“). Er verbrachte heitere Wochen mit Paul Re, lernte in Rom Lou von Salom kennen, reiste allein nach Messina, wo er augenscheinlich noch einmal auf Wochen glcklich war, ohne viel davon zu sprechen, verfasste die IM, blhte weiter ungeahnt auf, verlebte geistig anregendste Wochen mit Lou in Tautenburg, bis dann im August die erste Ausgabe der FW erschien. All dies „bedeutet“, so Nietzsche im Rckblick der neuen Vorrede zur FW, fr ihn selbst „,Frçhliche Wissenschaft‘“, Saturnalien eines Geistes, der einem furchtbaren langen Drucke geduldig widerstanden hat – geduldig, streng, kalt, ohne sich zu unterwerfen, aber ohne 36 Postkarte an Franz Overbeck, 30. Juli 1881, KGB III/1, Bf.135. 37 Brief an Heinrich Kçselitz, 14. August 1881, KGB III/1, Bf.136. 38 Postkarte an Elisabeth Nietzsche, 18. August 1881, KGB III/1, Bf.137.
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2. Nietzsches befreiende ,frçhliche Wissenschaft‘
Hoffnung –, und der jetzt mit Einem Male von der Hoffnung angefallen wird, von der Hoffnung auf Gesundheit, von der Tr u n k e n h e i t der Genesung. (FW Vorrede 1)
Saturnalien, das Fest des Saturn, der auch ein Gott der Aussaat war, feierten in der rçmischen Antike ursprnglich die Bauern nach der Erntezeit im Dezember. Mit der Zeit wurden sie zu einem ausgelassenen Fest, an dem die Standesgrenzen aufgehoben waren und die Sklaven ihre Herren nach Belieben necken durften. Nietzsche zitiert die Saturnalien schon frh als „fessellose Freiheit“, in die auch die moderne Bildung, der Intellekt, die Wissenschaften gelegentlich verfallen kçnnen;39 jede Art von Sklavenarbeit rufe irgendwann nach Saturnalien.40 So nun also auch Nietzsches Philosophieren: Was Wunders, dass dabei viel Unvernnftiges und Nrrisches an’s Licht kommt, viel muthwillige Zrtlichkeit, selbst auf Probleme verschwendet, die ein stachlichtes Fell haben und nicht darnach angethan sind, geliebkost und gelockt zu werden. Dies ganze Buch ist eben Nichts als eine Lustbarkeit nach langer Entbehrung und Ohnmacht, das Frohlocken der wiederkehrenden Kraft, des neu erwachten Glaubens an ein Morgen und Uebermorgen, des plçtzlichen Gefhls und Vorgefhls von Zukunft, von nahen Abenteuern, von wieder offenen Meeren, von wieder erlaubten, wieder geglaubten Zielen. Und was lag nunmehr Alles hinter mir! Dieses Stck Wste, Erschçpfung, Unglaube, Vereisung mitten in der Jugend, dieses eingeschaltete Greisenthum an unrechter Stelle, diese Tyrannei des Schmerzes berboten noch durch die Tyrannei des Stolzes, der die F o l g e r u n g e n des Schmerzes ablehnte – und Folgerungen sind Trçstungen –, diese radikale Vereinsamung als Nothwehr gegen eine krankhaft hellseherisch gewordene Menschenverachtung, diese grundstzliche Einschrnkung auf das Bittere, Herbe, Wehethuende der Erkenntniss, wie sie der E k e l verordnete, der aus einer unvorsichtigen geistigen Dit und Verwçhnung – man heisst sie Romantik – allmhlich gewachsen war –, oh wer mir das Alles nachfhlen kçnnte! (FW Vorrede 1)
Aber Saturnalien setzen eben auch Leiden harter, schwerer Arbeit voraus, bei „Zwangs-Einsiedlern“, zu denen Philosophen unvermeidlich werden, wenn sie auf radikale Neuorientierungen drngen, ein „Martyrium“ in der „,Aufopferung fr die Wahrheit‘“. Ein „Satyrspiel“, hat Nietzsche, bevor er seine neuen Vorreden schrieb, in JGB gewarnt, ist nur ein „fortwhrender Beweis dafr, dass die lange eigentliche Tragçdie z u E n d e ist: vorausgesetzt, dass jede Philosophie im Entstehen eine lange Tragçdie war.“ (JGB 25) Und die Erleichterung, Erholung, Befreiung dauert auch nicht an. Sie gibt dem genesenen Geist eines Mrtyrer-Philosophen nur neue Kraft zu 39 BA III, KSA 1.698. Vgl. WL 2, KSA 1.888, und N 1872/73, 19[37], KSA 7.429. 40 Vgl. N 1879, 40[4], KSA 8.578.
2. Nietzsches befreiende ,frçhliche Wissenschaft‘
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einer neuen Tragçdie. Den ersten Abschnitt der neuen Vorrede zur FW schließt Nietzsche damit, dass der „Wieder-Erstandene“ neu „seine Bosheit auslassen“ und sich dafr ein neues „Opfer“ suchen msse: ,Incipit tragoedia‘ – heisst es am Schlusse dieses bedenklich-unbedenklichen Buchs: man sei auf seiner Hut! Irgend etwas ausbndig Schlimmes und Boshaftes kndigt sich an: incipit parodia, es ist kein Zweifel … (FW Vorrede 1)
In GD wird er besttigend hinzufgen: Vor der Tragçdie feiert das Kriegerische in unserer Seele seine Saturnalien; wer Leid gewohnt ist, wer Leid aufsucht, der h e r o i s c h e Mensch preist mit der Tragçdie sein Dasein, – ihm allein kredenzt der Tragiker den Trunk dieser sssesten Grausamkeit. (GD Streifzge 24)
Danach ist die Frçhlichkeit der Wissenschaft nur ein Zwischenzustand, die Erholung einer Zwischenzeit zwischen Tragçdien und muss von ihnen her verstanden werden. Und das geschieht dann auch: im ersten, programmatischen Aphorismus des V. Buchs der FW mit dem Titel „W a s e s m i t u n s e r e r H e i t e r k e i t a u f s i c h h a t“ (FW 343). Nietzsche geht dort jedoch zum Begriff der Heiterkeit ber, lsst den der Frçhlichkeit zurck. Er gebraucht das Wort ,frçhlich‘ im V. Buch der FW nur noch am Rande („unsre tapfre Politik, unsre frçhliche Vaterlnderei“, FW 357; „Gab es je eine bessere Stunde, um frçhlich zu sein?“, FW 383). Auch im vorausgehenden Werk erscheint es vergleichsweise selten (2.1.). In einem der angehngten Lieder des Prinzen Vogelfrei (PV) besttigt Nietzsche jedoch noch einmal: „Frçhlich [sei] u n s r e Wissenschaft!“ (An den Mistral). In der Vorrede der bald auf das V. Buch der FW folgenden GM bleibt er bei der „Heiterkeit“, verweist mit ihr aber weiterhin auf die FW („Die Heiterkeit nmlich oder, um es in meiner Sprache zu sagen, d i e f r ç h l i c h e W i s s e n s c h a f t“) – und kndigt „eine neue Verwicklung und Mçglichkeit“ in der „K o m ç d i e“ vom „,Schicksal der Seele‘“ an (GM Vorrede 7). Was er im Rckblick von EH ber FW sagt – es ist der krzeste von allen Kommentaren zu seinen Bchern –, ist mehr verklrende Erinnerung an jene Stimmung der Genesung („fast in jedem Satz derselben [der FW] halten sich Tiefsinn und Muthwillen zrtlich an der Hand“) als eine Hilfe zum Verstndnis des Werkes und seines Titels. Nietzsche verweist dort nochmals auf den Untertitel, den er der Neuausgabe der FW zugleich mit dem V. Buch und der neuen Vorrede in Klammern beigegeben hat: „(,la gaya scienza‘)“, und erinnert an „den provenÅalischen Begriff der ,gaya scienza‘, an jene Einheit von S n g e r, R i t t e r und F r e i g e i s t, mit der sich jene wunderbare Frhkultur der ProvenÅalen gegen alle zweideutigen Culturen abhebt“. Er zitiert einen „Vers“, das Motto zum IV.
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Buch der FW: „Der du mit dem Flammenspeere / Meiner Seele Eis zertheilt, / Dass sie brausend nun zum Meere / Ihrer hçchsten Hoffnung eilt: / Heller stets und stets gesunder, / Frei im liebevollsten Muss – / Also preist sie deine Wunder, / Schçnster Januarius!“ Dieser „Vers“, schickt er voraus, „verrth zur Genge, aus welcher Tiefe heraus hier die ,Wissenschaft‘ f r ç h l i c h geworden ist“ – man muss es erraten, und auch die „,Wissenschaft‘“steht in Gnsefßchen, sie hat ihren gewohnten Sinn verloren. Und dann preist Nietzsche die Schçnheit der Sprache der FW, an Beispielen aus dem III. und IV. Buch (EH FW). Was besagt das ber die ,Frçhlichkeit‘ der Wissenschaft oder Philosophie? Im Text des V. Buches nimmt Nietzsche die Formel „gaya scienza“ wieder auf, nun aber als „meine geheime Weisheit und gaya scienza“ (FW 377). Von „frçhlicher Weisheit“ hat er zuvor seinen Zarathustra sprechen lassen – als von etwas, das dieser sich in seiner Jugend zum Ideal gemacht habe („,Alle Tage sollen mir heilig sein‘“), das ihm inzwischen aber verwundet und getçtet worden sei; er singt sein „Grablied“ auf sie (ZA II Grablied, KSA 4.143). An keiner Stelle gibt Nietzsche von der ,frçhlichen Wissenschaft‘ eine Definition im blichen Sinn. Nehmen wir an, dass dies kein Versumnis ist, dann kçnnte es ein Hinweis zur Lçsung der Rtsel um sie sein. Sie kçnnte dann eine Formel eben fr seine irritierende und faszinierende Kunst philosophischer Schriftstellerei sein, die, als Kunst, nicht definiert werden kann, sondern sich zeigen soll. Unsere weitere Vermutung ist, dass ,die frçhliche Wissenschaft‘ als Stimmung des Philosophierens im Werk, das Nietzsche so berschrieben hat, auf ihren Hçhepunkt kommt, zunchst in ihren ersten vier Bchern, die Nietzsche selbst in EH „im hçchsten Grade“ „tief, aber hell und gtig“ nennt (EH FW); im V. Buch wre sie dann, nach ZA und JGB, zu neuer Reife und Vollendung gekommen. Das V. Buch der FW wre dann das Modell der ,frçhlichen Wissenschaft‘ berhaupt, Ausdruck der ,frçhlichen Wissenschaft‘ par excellence. Wir verfolgen zunchst Nietzsches Gebrauch des Wortes ,frçhlich‘ in seinen Schriften, gehen dann seinem Hinweis auf den provenÅalischen Sinn einer ,frçhlichen Wissenschaft‘ nach und stellen den Titel Die frçhliche Wissenschaft in den Kontext seiner brigen Werktitel. Den philosophischen Sinn der Formel muss dann die Interpretation des V. Buchs der FW selbst klren.
2.1. Nietzsches Gebrauch des Wortes ,frçhlich‘
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2.1. Nietzsches Gebrauch des Wortes ,frçhlich‘ Nietzsche gebraucht das Wort ,frçhlich‘ und seine Flexionsformen nicht allzu hufig und meist durchaus im gngigen Sinn („das frçhliche Lachen“, DS 3, KSA 1.177; „die frçhliche Zuversicht“, SE 8, KSA 1.419). Frçhlich sein heißt vor allem befreit sein, befreit von Bedrngnissen, Nçten und Zwngen. Frçhlich ist man ,gelçst‘, ,ausgelassen‘, ,losgelassen‘ von Bedrngnissen; man verhlt sich ,unbefangen‘, ,ungezwungen‘; es wird einem ,leicht‘, und man kann dabei auch ,leichtfertig‘ werden. Frçhlichkeit ist eine bejahende Stimmung. Kommt sie auf, ist auf einmal ,alles gut‘. Man ist dann ,guter Dinge‘, kann ,die Dinge gut sein lassen‘; Jean Paul kennt eine ,frçhliche Morgenrçte‘, die neues Licht auf alle Dinge wirft. Whrend man froh ber etwas ist, muss Frçhlichkeit keinen Grund haben, sie kann sich, wie alle Stimmungen, von selbst einstellen und ebenso wieder verschwinden. Luther hat in seiner Bibelbersetzung das Wort ,frçhlich‘ dem Wort ,froh‘ bei weitem vorgezogen: nicht nur Menschen und Herzen und Gesnge und Gebeine kçnnen frçhlich sein, sondern auch ein Haus und das Feld und ,alles was drauf ist‘, Getreide und Obstbume, wenn sie besonders gedeihen, Stdte und Vçlker und Himmel und Erde.41 Frçhlichkeit, Lachen und Zuversicht liegen nahe beieinander, fallen aber nicht zusammen: Lachen zeugt wohl meist von Frçhlichkeit, aber es gibt auch bitteres Lachen, und Frçhlichkeit kann auch still als Zuversicht aus den Augen strahlen. Lachen berspringt den Ernst, den nchstliegenden Gegensatz der Frçhlichkeit. Ernst wird es, wenn es ,eng‘ wird und zur Entscheidung kommt, wenn keine Spielrume und Alternativen mehr bleiben. Wer dann noch frçhlich bleibt, ist sich, wie frçhlich spielende Kinder, des ,Ernstes des Lebens‘ nicht bewusst oder vertraut zuversichtlich darauf, dass er sich wieder neue Alternativen schaffen kann; aber Lachen kann auch nur albern sein und dann gar nichts ausrichten. Frçhlichkeit, wie Nietzsche sie versteht, hat meist einen ernsten Hintergrund. „Arm, frçhlich und unabhngig“, selbst „arm, frçhlich und Sclave“ passt fr ihn zusammen (M 206); Frçhlichkeit hngt fr ihn nicht von den Lebensumstnden, sondern von der Einstellung zu ihnen ab. In seinen spteren Notaten, doch nur hier, spielt Nietzsche auch auf den Typus des „guten friedfertigen frçhlichen Menschen“ an (N 1884, 26[103], KSA 11.177), den Europa als ,frçhlichen Christen‘ kultiviert hat: im Vertrauen auf Gott soll er auch zum Schwersten jasagen kçnnen. Doch so 41 Vgl. Grimm, Deutsches Wçrterbuch, Bd. 4, 1. Hlfte, 1. Abt., Leipzig 1878, Sp. 226 f.
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2. Nietzsches befreiende ,frçhliche Wissenschaft‘
„friedfertig, sanftmthig, milde, freundlich, frçhlich mit einander“ sich solche Menschen geben mçgen, sie kçnnen dabei bloßen „Heerdenthier-Bedrfnissen“ folgen und, unter dem Anschein, es ginge ihnen um das Gute, „nur fr ihre Art-Erhaltung kmpfen“; so kann Frçhlichkeit auch Ausdruck raffinierter „{Klugheit}“ und „demthige, keusche, milde Verlogenheit“ sein (N 1887, 10[72], KSA 12.497 / W II 2, S. 86). Nietzsche selbst hat einen anderen Typus vor Augen. In einem seiner letzten Notate besteht er darauf, „daß Jedermann Soldat ist: es giebt durchaus kein anderes Mittel, ein ganzes Volk zu den Tugenden des Gehorchens und Befehlens, zum Takt, in Haltung und Gebrden, zu der frçhlichen und tapferen Art“ zu erziehen, die die „Freiheit des Geistes“ erst ermçgliche; Frçhlichkeit ist hier ein ernsthaftes und ehrliches „mnnliches gegenseitiges Wohlwollen“ (N 1888/89, 25[15], KSA 13.645). Beide Typen verdanken ihre Frçhlichkeit einer starken Disziplin und hohen Selbstdisziplin. Der eine bleibt jedoch unter ihrem Zwang, der andere wird durch sie frei. Um diesen andern Typus geht es Nietzsche. Philosophisches Gewicht, aber noch unauffllig, gibt Nietzsche dem Wort ,frçhlich‘ zuerst im Schlussaphorismus des I. Bandes von MA. Er schildert hier bewegt, wie einer „zur Freiheit der Vernunft“ kommt: als „Wanderer“, in dem „selber etwas Wanderndes sein“ muss, „das seine Freude an dem Wechsel und der Vergnglichkeit habe“. Er wird „bçse Nchte“ erleben und „Wsten“, die sich auf Wsten legen, ihn mde und mrbe machen. Und dann werden ihm vielleicht auch, „als Entgelt“, „lauter gute und helle Dinge“ zufallen, „Geschenke aller jener freien Geister, die in Berg, Wald und Einsamkeit zu Hause sind und welche, gleich ihm, in ihrer bald frçhlichen bald nachdenklichen Weise, Wanderer und Philosophen sind.“ (MA I 638) Fr Frçhlichkeit empfnglich, wie Nietzsche sie versteht, wird man nach hrtesten geistigen Auseinandersetzungen, sie kommt als Erholung von ihnen und Lohn fr sie.42 So kçnnen Frçhlichkeit und ernstes Nachdenken abwechseln. In MA II, WS 86, vereinigt sie Nietzsche dann zur „frçhlichen Art des Ernstes“. Durch sie unterscheide sich der Philosoph vom Religionsstifter: „Vor dem Stifter des Christenthums hat Sokrates die frçhliche Art des Ernstes und jene W e i s h e i t v o l l e r S c h e l m e n s t r e i c h e voraus, welche den besten Seelenzustand des Menschen ausmacht.“43 Nietzsche macht, wie er es 42 Vgl. GM Vorrede 7/20.1.2. 43 Vgl. N 1880, 3[73], KSA 9.66: „Es ist zu bedauern, daß Jesus Christus nicht lnger gelebt hat, er wre vielleicht der erste Renegat seiner Lehre geworden, vielleicht htte er dann auch noch das Lachen gelernt und weniger oft geweint.“
2.1. Nietzsches Gebrauch des Wortes ,frçhlich‘
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hufig tut, aus dem Gegensatz eine Art (wie aus der Wahrheit eine Art des Irrtums) und nennt, was durch Einschluss seines Gegensatzes strker wird, ,groß‘: in FW 382, dem ersten, ernsten Schluss des V. Buchs der FW, dem noch ein frçhlicher folgt, spricht er vom „g r o s s e n E r n s t“ (20.1.3.). Ein solcher Ernst ist entschieden und hat doch noch Alternativen, er ist entschieden genug, um auch noch von sich lassen, von sich absehen und ber sich hinaussehen zu kçnnen. Darin ist er, so Nietzsche, ,weise‘. Die Formel „,frçhliche Wissenschaft‘“, in Gnsefßchen gesetzt, fhrt Nietzsche erst im Eingangsaphorismus des so berschriebenen Aphorismen-Buchs ein, jedoch in einem eng umschriebenen Kontext, dem der „Oekonomie der Arterhaltung“, der Evolution.44 Die Evolution, das ist der Ausgangspunkt der FW, hat keinen Zweck, und eine „,frçhliche Wissenschaft‘“ befreit dazu, ber die zu lachen, die angesichts der Verzweiflung, die diese „Wahrheit“ auslçst, unverdrossen weiter „Z w e c k e d e s D a s e i n s“ lehren, sie macht jenseits von „Moralen und Religionen“, die ber das Leiden am Dasein hinwegzutrçsten versuchen, den Weg zu einer „letzten Befreiung und Unverantwortlichkeit“ frei. Auch hier geht Nietzsche von der ,Wissenschaft‘ zur ,Weisheit‘ ber: in einer solchen aus der Verzweiflung kommenden Frçhlichkeit werde sich „das Lachen mit der Weisheit verbndet haben“. Da nun aber nach den langen Lehren vom Zweck des Daseins ein „Bedrfniss“ der Menschen nach solchen Lehren entstanden sei und der Glaube an sie daher unvermeidlich „von Zeit zu Zeit“ wiederkehre, fge „der vorsichtigste Menschenfreund“ hinzu: „,nicht nur das Lachen und die frçhliche Weisheit, sondern auch das Tragische mit all seiner erhabenen Unvernunft gehçrt unter die Mittel und Nothwendigkeiten der Arterhaltung!‘“ (FW 1) Hier und in den weiteren Aphorismen der ersten Ausgabe der FW, in denen Nietzsche von der Frçhlichkeit spricht, bleibt offen, was frçhliche ,Wissenschaft‘ sein kann. Er tastet lediglich die Spielrume aus, die der Ernst ihr lsst; denn der Wissenschaft als solcher ,ist es ernst‘, sie kann ohne 44 Nietzsche gebraucht den Begriff ,Evolution‘ nur selten und unspezifisch und dies auch nur in seinen frhen Notaten, zieht ihm ,Entwicklung‘ vor. Auch Darwin meidet den Begriff ,Evolution‘ zunchst, bis ihn Herbert Spencer prominent macht, der mit ihm freilich einen Fortschritt verbindet, was Nietzsche vçllig, Darwin fr den Menschen dagegen nicht ganz ablehnt. Den Begriff der Selektion, der fr Darwin als nicht-teleologisches Prinzip der Evolution im Vordergrund steht, gebraucht Nietzsche in Notaten seit 1880 und zuletzt mit Nachdruck in AC 7 („Das Mitleiden kreuzt im Ganzen Grossen das Gesetz der Entwicklung, welches das Gesetz der S e l e c t i o n ist“) und EH Schicksal 8 („das Gesetz der S e l e k t i o n gekreuzt“). Vgl. Skowron, Evolution und Wissenschaft.
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2. Nietzsches befreiende ,frçhliche Wissenschaft‘
Ernst nicht Wissenschaft sein, muss aber nach Nietzsche nicht in ihr aufgehen. Das „Nicht-Beliebige im Urtheilen“, heißt es in FW 76, sei im Zusammenleben der Menschen berhaupt „eine Nothdurft ersten Ranges“, man drfe die „,Vernnftigkeit‘“ der „berzahl“ nicht leichtfertig dem „Irrsinn“ Einzelner opfern, nur weil der „ein so frçhliches Tempo hat“; die „ungeduldigen Geister“ mssten die „Ausnahme“ bleiben. Eine solche Ausnahme msste ihrerseits, so Nietzsche dann im IV. Buch der FW, fhig und bereit sein, ihr Leben zum „Experiment des Erkennenden“ zu machen, also dann auch so weit gehen, es ganz und gar in den Dienst der Wissenschaft zu stellen, mit der Gefahr, daran selbst zugrundezugehen: „,D a s L e b e n e i n M i t t e l d e r E r k e n n t n i s s‘ – mit diesem Grundsatze im Herzen kann man nicht nur tapfer, sondern sogar f r ç h l i c h l e b e n u n d f r ç h l i c h l a c h e n!“ (FW 324) Dass Frçhlichkeit zur Steigerung der Tapferkeit wird, setzt eine ,Aufgabe‘ voraus, die der ,Erkennende‘ so ernst nimmt, dass die Erhaltung seines Lebens ihn nicht mehr kmmert, dass er darber frçhlich lachen kann. Bald darauf verteidigt Nietzsche die ,frçhliche Wissenschaft‘ in diesem Sinn – gegen die, die in der Frçhlichkeit einen Einwand gegen den Ernst des Denkens sehen: Der Intellect ist bei den Allermeisten eine schwerfllige, finstere und knarrende Maschine, welche bel in Gang zu bringen ist: sie nennen es ,die Sache e r n s t n e h m e n‘, wenn sie mit dieser Maschine arbeiten und gut denken wollen – oh wie lstig muss ihnen das Gut-Denken sein! Die liebliche Bestie Mensch verliert jedesmal, wie es scheint, die gute Laune, wenn sie gut denkt; sie wird ,ernst‘! Und ,wo Lachen und Frçhlichkeit ist, da taugt das Denken Nichts‘: – so lautet das Vorurtheil dieser ernsten Bestie gegen alle ,frçhliche Wissenschaft‘. – Wohlan! Zeigen wir, dass es ein Vorurtheil ist! (FW 327)
Erst mit der ,frçhlichen Wissenschaft‘ wird die ernste, Wissenschaft treibende ,Bestie‘ ein ,freier Geist‘. Setzt man Frçhlichkeit und Ernst einander abstrakt entgegen, sind beide fr die Wissenschaft verloren. Doch man kann die ,frçhliche Art des Ernstes‘ auch nicht einfach behaupten, sie muss sich in der Wissenschaft, die da getrieben wird, selbst zeigen, und man kann sie auch andere nicht lehren, sondern ihnen nur zu ihr verhelfen, indem man ihnen aus den Engen und Nçten ihres Ernstes heraushilft. Nicht durch Mitleid, sondern durch Mitfreude, so Nietzsche gegen Ende der ersten Ausgabe der FW, kann man sie „muthiger, aushaltender, einfacher, frçhlicher machen“ (FW 338). ,Frçhliche Wissenschaft‘ wrde dann den, der sein Leben zum mçglicherweise tragischen ,Experiment des Erkennenden‘ macht, seines Lebens wieder froh werden lassen, ihn davon befreien, das Leben schlecht zu machen, ihn instandsetzen, es vorbehaltlos zu bejahen. So lsst Nietzsche
2.1. Nietzsches Gebrauch des Wortes ,frçhlich‘
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seinen Zarathustra ber die Frçhlichkeit sprechen. Es beginnt mit „frçhlicher Bosheit“ (ZA I Lesen, KSA 4.48). Boshaft ist, wer nicht Bçses tut, sondern andere in ihrem Bçsen kompromittiert und sie damit den bloßen Schein ihres Guten aufdecken, sie also erkennen lsst. So werden sie freier von Vorurteilen ber Gut und Bçse – und frçhlicher: „dem Erkennenden heiligen sich alle Triebe; dem Erhçhten wird die Seele frçhlich.“ (ZA I Tugend 2, KSA 4.100) Solche boshafte Frçhlichkeit kann selbst Gçtter tçten („Mit den alten Gçttern gieng es ja lange schon zu Ende: – und wahrlich, ein gutes frçhliches Gçtter-Ende hatten sie! / Sie ,dmmerten‘ sich nicht zu Tode, – das lgt man wohl! Vielmehr: sie haben sich selber einmal zu Tode — g e l a c h t!“ ZA II, Von den Abtrnnigen 2, KSA 4.230) Zuletzt lsst Nietzsche Zarathustra selbst frçhlich werden – ber dem Anblick der verzweifelten hçheren Menschen, die sich in seiner Hçhle versammelt haben. Er begrßt sie als „Einer, der euch wieder lachen macht, ein guter frçhlicher Hanswurst, ein Tnzer und Wind und Wildfang“ (ZA IV, Die Begrssung, KSA 4.347). Er steckt sie an mit seiner Frçhlichkeit und freut sich daran, wenn auch mit einem „kleinen Widerwillen und Spott“ (ZA IV Erweckung 1, KSA 4.386 f.). So feiern sie das Eselsfest, das danach einfach ein Fest der Frçhlichkeit ist. Damit die Menschen wieder frçhlich werden, tten, so Zarathustra, solche Feste not, „ein kleiner tapferer Unsinn, irgend ein Gottesdienst und Eselsfest, irgend ein alter frçhlicher Zarathustra-Narr, ein Brausewind, der euch die Seelen hell blst.“ (ZA IV Eselsfest 3, KSA 4.393) Zarathustra wird, nach allem hohen Ernst, den er bewiesen hat, und allem schweren Ekel, den er berwunden hat, zur Verkçrperung der Frçhlichkeit, der Frçhlichkeit eines Hanswursts. Ein Hanswurst, wie Nietzsche ihn versteht, redet und treibt nicht einfach Unsinn. Nietzsche wird in EH von sich selbst sagen, er wolle lieber ein Hanswurst sein als fr einen Heiligen und Religionsstifter gehalten zu werden (EH Schicksal 1): an Heilige und Religionsstifter glaubt man ernsthaft, alternativlos; einem Hanswurst kann man glauben oder nicht, er hlt die Alternativen offen.45 In JGB wird die Frçhlichkeit noch komplexer. Nietzsche lsst hier auf ein erstes Hauptstck Von den Vorurtheilen der Philosophen, seiner großen Kritik ihrer metaphysischen Glaubensartikel, mit denen sie der Wissenschaft einen „nunmehr festen und granitnen Grund von Unwissenheit“ in einer „v e r e i n f a c h t e n, durch und durch knstlichen, zurecht gedichteten, zurecht geflschten Welt“ geschaffen htten (JGB 24), ein zweites mit dem Titel Der freie Geist folgen. Von einem freien Geist wird 45 Vgl. Stegmaier, Schicksal Nietzsche?, 92 – 94.
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2. Nietzsches befreiende ,frçhliche Wissenschaft‘
nach allem, was sich bisher ergeben hat, am ehesten eine ,frçhliche Wissenschaft‘ zu erwarten sein. Die Zusammenfassung des ersten Hauptstcks JGB 24 nennt Nietzsche in JGB 25 einen „frçhlichen Eingang“. Damit kçnnte sowohl die „kaum begreifliche Freiheit, Unbedenklichkeit, Unvorsichtigkeit, Herzhaftigkeit, Heiterkeit des Lebens“ gemeint sein, die die Metaphysik geschaffen hat, „um das Leben zu geniessen“ (JGB 24), aber auch deren Kritik, die den Blick auf sie frei gemacht hat. Beide haben ihre Frçhlichkeit, und so sind die beiden Frçhlichkeiten leicht zu verwechseln. Nietzsche wird darum seinerseits „ernst“: er wendet sich mit „einem ernsten Wort“ „an die Ernstesten“, und das kçnnen wiederum die Metaphysiker ebenso wie ihre Kritiker sein, und es ist natrlich vor allem er selbst, der sich so ernsthaft an die Ernstesten wendet. Er wendet sich also vor allem an sich selbst, bezieht seine Unterscheidung von Frçhlichkeit und Ernst auf sein eigenes Philosophieren, so wie er kurz zuvor seine These, dass alles Interpretation sei, auch auf diese selbst zurckbezogen hat („Gesetzt, dass auch dies nur Interpretation ist – und ihr werdet eifrig genug sein, dies einzuwenden? – nun, um so besser.“ JGB 22). Nun warnt er (sich und) die Ernstesten ausfhrlich und eindringlich vor einem „Martyrium“ fr die Wahrheit und empfiehlt (sich und) ihnen, „den philosophischen Humor“ zu behalten: denn sonst zeige sich bald, dass die Frçhlichkeit, die sie gewonnen htten, „nur ein Satyrspiel, nur eine Nachspiel-Farce, nur der fortwhrende Beweis dafr“ ist, „dass die lange eigentliche Tragçdie z u E n d e i s t: vorausgesetzt, dass jede Philosophie im Entstehen eine lange Tragçdie war.“ (JGB 25) Das V. Buch der FW wird Nietzsche mit einer solchen Nachspiel-Farce enden lassen. Dass jede Philosophie im Entstehen eine lange Tragçdie sein muss, gilt Nietzsche als gesetzt; darin liegt ihr Ernst, aus dem die Frçhlichkeit, wie er sie versteht, erst hervorgehen kann. Aber welche Art von Frçhlichkeit daraus hervorgeht, kann der frçhlich Gewordene nicht leicht unterscheiden, er hat kein klares Kriterium dafr – außer dem, dass das Martyrium, das Bestehen auf seiner Wahrheit um jeden Preis, gegen die rechte Art der Frçhlichkeit spricht. Als Stimmung des Denkens wird Frçhlichkeit nicht dadurch fassbar, dass sie begriffen wird, sie wird im Gegenteil dadurch sogar (worauf Kierkegaard hingewiesen hat) zum Verschwinden gebracht. Was ,frçhliche Wissenschaft‘ ist, wre danach seinerseits grundstzlich nicht wissenschaftlich zu fassen, es muss sich zeigen. Nietzsche zieht daraus in einer knappen Sentenz die ,gefhrliche Konsequenz‘, dass die Frçhlichkeit der frçhlichen Wissenschaft in einer Abweichung von der Wissenschaft liegt: „Der Einwand, der Seitensprung, das frçhliche Misstrauen, die Spottlust sind Anzeichen der Gesundheit: alles Unbedingte gehçrt in
2.2. Nietzsches Orientierung am ,provenÅalischen Sinn‘ der ,frçhlichen Wissenschaft‘ 35
die Pathologie.“ (JGB 154) Im V. Buch fhrt Nietzsche gesunde Seitensprnge von der Philosophie als Wissenschaft vor.
2.2. Nietzsches Orientierung am ,provenÅalischen Sinn‘ der ,frçhlichen Wissenschaft‘ Gegen Ende von JGB, bevor er die Neuausgabe der FW vorbereitet, gibt Nietzsche den ersten Hinweis auf den ,provenÅalischen Sinn‘ der ,frçhlichen Wissenschaft‘: „das gute Amulet ,gai saber‘ […] – ,frçhliche Wissenschaft‘, um es den Deutschen zu verdeutlichen.“ (JGB 293)46 ,Gai saber‘, davon hat er zuvor schon gehandelt, ist „Liebe a l s P a s s i o n […]: bekanntlich gehçrt ihre Erfindung den provenÅalischen Ritter-Dichtern zu, jenen prachtvollen erfinderischen Menschen des ,gai saber‘, denen Europa so Vieles und beinahe sich selbst verdankt.“ (JGB 260) Mit der Liebe als Passion bekommt die ,frçhliche Wissenschaft‘ eine neue Dimension. Mit dem Hinweis auf die Troubadours scheint die ,frçhliche Wissenschaft‘ wenn nicht definiert, so doch identifiziert zu sein. Nietzsche hatte schon Anfang Dezember 1882 an Erwin Rohde geschrieben, er habe bei der FW „n u r an die gaya scienza der Troubadours gedacht – daher auch die Verschen,“ also der vorausgeschickte Gedichtzyklus Scherz, List 46 Nietzsche verwendet bald den Ausdruck ,(lo) gai saber‘ (vor allem in seinen Buchplnen), bald den Ausdruck ,la gaya scienza‘ (in den dann verçffentlichten Texten). Beide Ausdrcke, ,(lo) gai (oder gay) saber‘ und ,(la) gaya scienza‘, sind provenÅalisch oder, sofern das ProvenÅalische als Dialekt des (seit dem 19. Jahrhundert so genannten) Okzitanischen betrachtet wird, okzitanisch. Sie wurden, um hier kurz den Stand des Wissens wiederzugeben, klassisch durch das von ,den Sieben (Troubadours) von Toulouse‘ 1323 gegrndete ,Consistori dels Sept Trobadors‘, das auch ,Consistori del Gay (oder Gai) Saber‘, ,Consistori de la Gaya Scienza (oder: Sciensa)‘ oder (katalanisch) ,Sobregaya Companhia dels Set Trobadors de Tolosa‘, ,Consistori de la Gaya Scincia (oder: Gaia Cincia)‘ hieß. ,Troubadours‘ meint ,Erfinder‘. Die Sieben traten mit einem Manifest in okzitanischen Versen hervor mit dem Ziel, dem jhrlichen Wettstreit der Troubadours, dem „Joc Floral“, klare Regeln zu geben und nach diesen Regeln den Preis, ein goldenes Veilchen, zu verleihen, was zum ersten Mal am 3. Mai 1324 und dann ber 160 Jahre hinweg geschah. Als schließlich außer ProvenÅalen und Katalanen immer mehr Franzosen zum Wettstreit zugelassen wurden und den Preis gewannen, brgerten sich auch die franzçsischen Namen ,La Compagnie des mainteneurs du Gai Savoir‘, ,Compagnie Tres-Gaie des Sept Troubadours de Toulouse‘, ,Consistoire du Gai Savoir‘, ,Consistoire de la Gaie Science‘ ein.
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2. Nietzsches befreiende ,frçhliche Wissenschaft‘
und Rache. 47 Sie scheint ihm so sehr vor Augen gestanden zu haben, dass er auch fr das Aphorismen-Buch, das er schließlich Jenseits von Gut und Bçse nannte, zunchst Titel vorsah wie „Gai saber. / Selbst-Bekenntnisse“ (N 1885, 34[1], KSA 11.423 / N VII 1, S. 194) in Konkurrenz mit „Dionysos. / Versuch einer gçttlichen Art, zu philosophiren“ (N 1885, 34[182], KSA 11.483 / N VII 1, S. 68), woraus dann „Gai saber. / Versuch einer gçttlichen Art zu philosophiren“ (N 1885, 34[213], KSA 11.494 / N VII 1, S. 42) oder „Gai saber. / Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“ (N 1885, 35[84], KSA 11.547 / W I 3, S. 4) wurde. Dann erwog er zwei Bcher mit den Titeln „Jenseits von Gut und Bçse. / Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“ und „Gai saber. Lieder des Prinzen Vogelfrei“ (N 1885/86, 2 [73], KSA 12.95 / W I 8, S. 142). Doch als er an die zweite Ausgabe der FW ging, notierte er fr die Vorrede: „Von dieser ,frçhl. W.‘ hat man gar Nichts verstanden; nicht einmal den Titel“, und Gelehrte, die die „provenzalische Herkunft / {Sinn}“ bemerkt htten, htten dann „an dem Worte ,Wissenschaft‘ Anstoß“ genommen: „{sie gaben mir} zu verstehen gaben, Das sei ,frçhlich‘ vielleicht, sicherlich aber nicht ,Wissenschaft‘“ (N 1885/ 86, 2[166], KSA 12.150 f. / W I 8, S. 64). In der verçffentlichten Vorrede fehlen dann erneut Hinweise auf den ,provenzalischen Sinn‘ und den Sinn von ,Wissenschaft‘. Stattdessen spricht Nietzsche von der „Tr u n k e n h e i t“ und „Ausgelassenheit“ seiner „Genesung“ (FW Vorrede 1), die sich in der Tat schwer mit ,Wissenschaft‘ zu vertragen scheinen. Er fgte lediglich, wie erwhnt, dem Titel Die frçhliche Wissenschaft den Untertitel „(,la gaya scienza‘)“ hinzu.48 Auf die Troubadours drfte Nietzsche wenn nicht schon aus Schule und Studium, so vermutlich durch Herder aufmerksam geworden sein, mit dem er sich schon frh befasste und mit dem ihn vieles verband, besonders sein Interesse am Ursprung der Sprache.49 Herder hatte auf der Suche nach 47 Brief an Erwin Rohde, vor Mitte Dezember 1882, KGB III/1, Bf.345. 48 Vgl. Brief an Ernst Wilhelm Fritzsch, 7. August 1886, KGB III/3, Bf.730: „Vereinfachung der Titel (damit sie leicht zu citieren sind z. B. bloß ,die Geburt der Tragçdie‘), andrerseits eine kleine Erluterung wo ich das Mißverstndliche eines Titels e r p r o b t habe (z. B. zu ,die frçhliche Wissenschaft‘ der Zusatz in Parenthese ,gai saber‘, damit man an den provenÅalischen Ursprung meines Titels und an jene Dichter-Ritter, die Troubadours erinnert wird, die mit jener Formel all ihr Kçnnen und Wollen zusammenfaßten)“. 49 Das erste Notat zu Herder geht auf 1870 zurck (2[12], KSA 7.49). Nietzsches ernchternder Aphorismus ber Herder (MA II, WS 118) und sptere fast feindselige ußerungen sprechen mehr fr als gegen seine Nhe zu ihm; Nietzsche ußerte sich gegen andere am ehesten dann polemisch, wenn er nicht mit ihnen
2.2. Nietzsches Orientierung am ,provenÅalischen Sinn‘ der ,frçhlichen Wissenschaft‘ 37
dem Ursprung bedeutsamer europischer Literatursprachen aus dem ProvenÅalischen in seinen Briefen zur Befçrderung der Humanitt die „frçhliche Wißenschaft (gay saber, gaya ciencia)“ wiederentdeckt und sie als „ersten Stral der neueren poetischen Morgenrçthe in Europa“ gepriesen. Ihr Zweck sei nicht nur „frçhliche angenehme Unterhaltung“, sondern auch die „Freiheit der Gedanken“ gewesen. Die „Ausbildung der Provenzalsprache“ habe „fr ganz Europa Freiheit der Gedanken bewirkt“: „Mit großem Muth ging sie den Aergernißen der Klerisei entgegen, und hat wie den poetischen Lorbeerkranz, so auch unsglicher Verfolgungen wegen die Mrtyrerkrone der Wahrheit fr ganz Europa verdienet.“50 Das klingt geradezu nach einem Programm fr Nietzsches ,frçhliche Wissenschaft‘.51 Nach Curt Paul Janz, Nietzsches wichtigstem Biographen, identifizierte sich Nietzsche mit den Troubadours auch in seinem Ringen „um die Gunst der Frau“, nmlich Cosimas von Blow, spterer Wagner, die er zeit seines bewussten Lebens hoch verehrte: in diesem Kampf war Wagner „der sichere Sieger und Nietzsche in die Rolle eines mittelalterlichen Minnesngers verwiesen, der um die hohe Minne, die Huld einer unerreichbaren Herrin warb.“52 Mario Mancini, ein Spezialist fr die Literatur der Troubadours, hat denn auch zahlreiche Anklnge nicht nur in den Liedern, sondern auch in den Aphorismen der FW an Poeme der Troubadours entdeckt.53 Tilman Borsche hat weitere mçgliche Bezge herausgearbeitet.
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verwechselt werden wollte. Vgl. zur Nhe und Distanz im Denken Herders und Nietzsches Bertino, „Vernatrlichung“. Herder, Briefe zur Befçrderung der Humanitt, 472, 474, 484. Dies spricht gegen Vattimo, nach dem Nietzsche den (Unter-)Titel ,gaya scienza‘ wohl eher seiner wçrtlichen als seiner historischen Bedeutung wegen bernahm (Introduzione, XXVIII). Agamben, La parola, 155 f., verweist, weil es sich bei den ,Leys d’Amor‘ des ,Consistori del Gai Saber‘ vor allem um grammatische Regeln handle, lediglich auf die Philologie zurck. CPJ, 1.501. Sautet, Introduction, 55 f., macht wiederum darauf aufmerksam, dass Wagner seinerseits mit seinem Parsifal auf die Minnesnger zurckgegriffen hatte. Parzival ist persischer Herkunft, kommt aus einer zarathustrischen Tradition, die bei Wolfram von Eschenbach noch lebendig ist und die Wagner im Anschluss an Chrtien de Troyes verchristlichte. Bei Chrtien de Troyes wurde der Gral, der fr Wolfram von Eschenbach noch ein aus dem Orient in die Provence gelangter Stein war, zu einer Schale, die Christi Blut enthielt. In seiner Schrift zum Parsifal von 1880 (Religion und Kunst) macht Wagner Zarathustra zum Vorlufer der christlichen Erlçsung. Mancini, Die frçhliche Wissenschaft der Trobadors, 119 – 123. Zugleich hat Mancini Stendhal als Nietzsches mçgliche Quelle fr die Troubadours ermittelt (79 – 118). Wotling, Introduction, 11, Fn. 1, verweist, unabhngig von Mancini und zuvor „dans une thse dactylographie en 1990“ auf Stendhals Erwhnung der
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2. Nietzsches befreiende ,frçhliche Wissenschaft‘
Ist fr die Troubadours die unerreichbare Geliebte der Gegenstand der Leidenschaft, so fr Nietzsche die ebenso unerreichbare Wahrheit: „Ruhelos schweift der Ritter der Erkenntnis durch die Fremde und sucht das Abenteuer, ohne bestimmte Absicht, ohne Ziel, stets jedoch im Dienst seiner Geliebten, der Wahrheit, die er verherrlicht, in der er fr sie kmpft, der er seine vielfltige Beute zu Fßen legt – und die er doch niemals gewinnen kann.“54 Beide kmpfen ohne Bindung an einen gesellschaftlichen Stand („Adlige und Spielleute, Mçnche und Kçnige, vor allem aber auch Brger sind in ihren Reihen zu finden; nur Bauern bleiben ausgenommen“),55 beide sind in einer Gesellschaft mit noch sehr festen provenÅalischen cours d’amour insbesondere in den Mmoires d’un touriste, die Nietzsche besaß (BN) (vgl. darin: Voyages France, Paris (Bibliothque de la Pliade) 1992, 484), die nach C.A. Bernoulli Kçselitz Nietzsche 1880 in Venedig vorgelesen haben drfte (eine direkte Quelle gibt es dafr nicht); auch Sautet, Introduction, 56 f., nennt, wiederum unabhngig von Wotling, diese Quelle. Campioni, ,Gaya scienza‘, 35, stellt heraus, dass Stendhal seinerseits den Ursprung des ,freien Geistes‘ der provenÅalischen ritterlichen Dichter bei den Mauren Spaniens „jenseits jeder trbseligen Religion oder Gesetzgebung“ suchte (so auch schon Herder, Briefe zur Befçrderung der Humanitt, 7.484: „Sind wir den Provenzalen und ihren Erweckern den Arabern nicht viel schuldig?“). Weitere Quellen hat Campioni bei mile Gebhart, Les origines de la Renaissance en Italie, Paris 1879 (BN), bei Lefebvre Saint-Ogan, Essai sur l’influence franÅaise, Paris 1885, und bei Theodor Gsell-Fels, Sd-Frankreich, nebst den Kurorten der Riviera di Ponente, Corsica und Algier, Leipzig 1878, erschlossen. Nach Gebhart, fr Nietzsche neben Burckhardt die wichtigste Quelle fr die Renaissance, nahmen die provenÅalischen ritterlichen Dichter einerseits, Friedrich II. von Staufen andererseits die Renaissance vorweg, fr Saint-Ogan schufen sie eine berauschende und feine Mischung aus christlichem Ideal und heidnischem Epikureertum. Gsell-Fels bezog seine Informationen, so Campioni, seinerseits aus Jehan de Nostredame, Les vies des plus celbres et anciens potes provenÅaux, Lyon 1575. Vgl. auch Venturelli, Die gaya scienza der „guten Europer“. 54 Borsche, Frçhliche Wissenschaft freier Geister, hier 67. Fr seinen zweiten Beitrag: Vom romantischen Traum einer frçhlichen Wissenschaft, aus dem wir im Folgenden zitieren, hat Borsche nicht nur die ltere, schon zu Nietzsches Zeit vorliegende (bes. Claude-Charles Fauriel, Histoire de la Posie provenÅale, 3 Bde., Paris 1846), sondern auch die aktuelle, v. a. franzçsische Forschung (bes. HenriIrne Marrou, Les Troubadours, Paris 11961, 21971) zu den Troubadours aufgearbeitet. 55 Borsche, Vom romantischen Traum einer frçhlichen Wissenschaft, 177. – Nach Reschke, Essay, 387, erschien in der Figur des Troubadour „die neue Kulturidee, die ,die dichterischen Werte mit den sozialen Tugenden identifiziert(e)‘ und die in der Einheit von gesellschaftlicher und geistiger Elite fr eine historisch kurze Zeit ein Ideal zu verwirklichen schien, dessen Wiederholung Nietzsche zwar nicht erstrebte, dessen Inhalte jedoch seinem Verstndnis von einer zu erneuernden Kultur
2.2. Nietzsches Orientierung am ,provenÅalischen Sinn‘ der ,frçhlichen Wissenschaft‘ 39
Schranken frei. Aus Klerikern zu christlichen Rittern geworden, die den Glauben schtzten und sich fr Arme und Unterdrckte einsetzten, hatten die Troubadours eine neue Macht gewonnen mit dem „Willen, diese ohne eigene Not fr andere, die Not leiden, einzusetzen“, ihre „Tugend“ war „ein Luxus des Mchtigen, der ohne Aussicht auf persçnlichen Gewinn seine persçnlichen Ressourcen fr die ,gute Sache‘ aufs Spiel setzt.“ Sie bildeten auch unter der christlichen Ritterschaft eine Elite, kmpften um etwas, das sie doch niemals erreichen konnten und das sie, wenn sie es erreichten, auch schon entwerteten, die Liebe einer fernen und fern bleibenden Geliebten, kmpften also um der Liebe selbst willen, aus Freude an der Liebe. Die joy d’amor war ein Machtverhltnis auf Distanz: „Der Liebhaber dient der Geliebten wie ein Vasall, er erfllt jeden ihrer Wnsche – doch sie hat keinerlei Macht ber ihn“ und er ber sie.56 Sie ist ,Liebe als Passion‘.57
entgegenkam.“ Reschke verweist dazu auf Arnold Hauser, Soziologie der Kunst, Mnchen 1974, 295. 56 Borsche, Vom romantischen Traum einer frçhlichen Wissenschaft, 179 – 182. 57 Vgl. die Vorstufen zu JGB, N 1885, 34[90], KSA 11.449 / N VII 1, S. 136 („Dem provenÅal. Geiste, der heidnisch geblieben ist, {u niemals} ich meine ,nicht germanisirt‘, verdankt man die Vergeistigung des amor der Geschlechtsliebe“) und N 1885/ 86, 4[6], KSA 12.179 f. („Das Interesse eines Geschlechts zunchst entschied [ber die Ehe], und ber ihm – der Stand. Wir wrden vor der Klte, Strenge und rechnenden Klarheit eines solchen vornehmen Ehe-Begriffs, wie er bei jeder gesunden Aristokratie geherrscht hat, im alten Athen, wie noch im Europa des achtzehnten Jahrhunderts, ein wenig frçsteln, wir warmbltigen Thiere mit kitzlichem Herzen, wir ,Modernen‘! Eben deshalb ist die Liebe als Passion, nach dem großen Verstande des Wortes, fr die aristokratische Welt erfunden worden und in ihr, – da, wo der Zwang, die Entbehrung eben am grçßten waren…“). – In einem Notat vom Herbst 1888, als er die Aphorismen-Gruppe „Was ich den Alten verdanke“ vorbereitete, die zunchst fr EH gedacht war und dann in GD einging, machte Nietzsche kurzerhand auch Petronius zum ProvenÅalen: „Dies prestissimo des bermuths in Wort, Satz und Sprung der Gedanken, dies Raffinement in der Mischung von Vulgr- und ,Bildungs‘-Latein, diese unbndige gute Laune, die sich vor nichts frchtet und ber jede Art Animalitt der antiken Welt mit Grazie hinwegspringt, diese souverne Freiheit vor der ,Moral‘, vor den tugendhaften Armseligkeiten ,schçner Seelen‘ – ich wßte kein Buch zu nennen, das am Entferntesten einen hnlichen Eindruck auf mich gemacht htte. Daß der Dichter ein ProvenÅale ist, sagt mir leise mein persçnlichster Instinkt: man muß den Teufel im Leibe haben, um solche Sprnge zu machen. Unter Umstnden, wenn ich nçthig hatte, mich von einem niedrigen Eindruck zu befreien, zum Beispiel von einer Rede des Apostel Paulus, gengten mir ein Paar Seiten Petronius, um mich vollkommen wieder gesund zu machen.“ (N 1888, 24[1], KSA 13.624, noch nicht in KGW IX ediert).
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2. Nietzsches befreiende ,frçhliche Wissenschaft‘
Dennoch, eindeutig ist auch die Verknpfung von Nietzsches ,frçhlicher Wissenschaft‘ mit der ,gaya scienza‘ der Troubadours nicht. Er kçnnte im Gebrauch der Formel auch von Ralph Waldo Emerson bestrkt worden sein, den er schon frh gelesen hatte und zeitlebens hoch schtzte. Die erste Ausgabe der FW hatte Nietzsche mit einem Motto aus Emersons Essays and Lectures versehen: „Dem Dichter und Weisen sind alle Dinge befreundet und geweiht, alle Erlebnisse ntzlich, alle Tage heilig, alle Menschen gçttlich.“58 Emerson hatte sich in seinen Journals am 6. Juli 1841 „a professor of the Joyous Science“ genannt, „a detector & delineator of occult harmonies & unpublished beauties, a herald of civility, nobility, learning & wisdom; an affirmer of the One Law, yet as one who should affirm it in music or dancing, a priest of the Soul, yet one who could better love to celebrate it through the beauty of health & harmonious power.“59 Nietzsche konnte diese Stelle jedoch nicht unmittelbar bekannt sein; die Journals waren zu seiner Zeit noch nicht ediert und bersetzt. In dem Vortrag Prospects von 1842 hatte Emerson die Formel ,Joyous Science‘ aufgenommen,60 was Nietzsche aber wohl ebenfalls nicht bekannt war, denn auch hier gab es keine deutsche bersetzung. Doch Emerson benutzte die Formel noch einmal in seinem Essay Poetry and Imagination, der in der Sammlung Letters and Social Aims enthalten ist, deren deutsche bersetzung Neue Essays Nietzsche in der Tat gelesen hat.61 Eine weitere mçgliche Quelle entdeckte Benedetta Zavatta in Emersons Essay
58 Vgl. N 1882, 18[5], KSA 9.673: Nietzsche begann hier „500 A u f s c h r i f t e n auf Tisch und Wand fr Narrn von N a r r e n h a n d“ zusammenzustellen, und als eine davon diese: „Emerson sagt mir nach dem Herzen: Dem Poeten dem Philosophen wie dem Heiligen sind alle Dinge befreundet und geweiht, alle Ereignisse ntzlich, alle Tage heilig, alle Menschen gçttlich.“ Er ersetzte den ,Philosophen‘ und ,Heiligen‘ durch den ,Weisen‘ – Emerson, der ihm ,heilige‘ Philosoph, schien ihm offenbar fr seine ,frçhliche Wissenschaft‘ allzu ernst zu sein. Vgl. Groddeck, Die „Neue Ausgabe“ der „Frçhlichen Wissenschaft“, 198, und Thom, Jeder ist sich selbst der Fernste. Der englische Originaltext lautet: „To the poet, to the philosopher, to the saint, all things are friendly and sacred, all events profitable, all days holy, all men divine.“ (Emerson, Essays and Lectures, 242; Zitat nach Thom). 59 Emerson, The Journals and Miscellaneous Notebooks, 8.8, zit. nach Kaufmann, Translater’s Introduction, 8. Vgl. die Hinweise von Baumgarten, Das Vorbild Emersons. 60 Vgl. Richardson, Emerson, 358. 61 Emerson, Neue Essays (BN), 36. Diese Stelle wurde von Allen, Waldo Emerson, 468 – 489, entdeckt, der jedoch wiederum nicht davon wusste, dass Nietzsche die deutsche bersetzung in seiner persçnlichen Bibliothek besaß.
2.3. Nietzsches Titel Die frçhliche Wissenschaft im Kontext seiner Werktitel
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Gelegentliche Betrachtungen aus dem Band Die Fhrung des Lebens (The Conduct of Life).62 Die Stelle lautet: Der grçßte Vorzug der Gesundheit ist frohe Stimmung, welche selbst in den Werken des Talents wichtiger als das Talent selbst ist. Nichts kann den Pfirsichen den Mangel an Sonnenschein ersetzen, um Kenntnisse zu verwerthen, muß man die Heiterkeit der Weisheit haben. Wenn ihr aufrichtig frçhlich seid, so seid ihr satt. Die geistige Freude bezeichnet die Geisteskraft. Alle gesunden Dinge sind frçhlich […]. Es ist eine alte Regel fr verstndiges Betragen: ,Aliis laetus, sapiens sibi‘, welche das englische Sprichwort wiedergiebt durch: ,Sei frçhlich und weise‘.63
Das alles kommt Nietzsches Gebrauch der Formel ,frçhliche Wissenschaft‘ sehr nahe und scheint weit ber die ,gaya scienza‘ der Troubadours hinauszugehen. Bei ,Wissenschaft‘ und ,Weisheit‘ drfte Nietzsche wie Emerson an die moderne Wissenschaft und die Philosophie gedacht haben, und soweit es in der Wissenschaft um Gesetze geht, nicht wie die Troubadours an die der Dichtkunst. Dennoch, seine wiederholten Hinweise auf die Troubadours sind nicht anzuzweifeln. Sie kçnnten ihrerseits ein Hinweis sein, ,Wissenschaft‘ anders zu verstehen – nicht nur als Wissenschaft und Philosophie, sondern auch als Dichtkunst. Der Titel Die frçhliche Wissenschaft wre dann bewusst vielsagend. Man muss ihn in den Kontext seiner brigen Werktitel stellen.
2.3. Nietzsches Titel Die frçhliche Wissenschaft im Kontext seiner Werktitel Nietzsches hat stets vielsagende, mehr poetische als sachliche, mehr anspielungsreiche als die Gegenstnde seiner Schriften przise bestimmende Titel gewhlt, auch sie irritieren und faszinieren zugleich. Der Titel Die 62 Emerson, Gelegentliche Betrachtungen, 183 f. (BN). Vgl. Zavatta, Der Kampf zwischen Notwendigkeit und freiem Willen bei Emerson und Nietzsche, 264, zum Verhltnis Nietzsche-Emerson berhaupt Zavatta, La passione della grandezza in Nietzsche lettore di Emerson, und Zavatta, Nietzsche, Emerson und das Selbstvertrauen. S. dort die weitere Literatur. Ich danke Benedetta Zavatta fr die angefhrten detaillierten Hinweise auf die Emerson-Quellen. Vgl. außerdem Campioni, ,Gaya scienza‘. 63 Nietzsche kçnnte diese Stelle schon in SE aufgenommen haben: „Schopenhauer hat mit Montaigne noch eine zweite Eigenschaft, ausser der Ehrlichkeit, gemein: eine wirkliche erheiternde Heiterkeit. Aliis laetus, sibi sapiens. Es giebt nmlich zwei sehr unterschiedene Arten von Heiterkeit. Der wahre Denker erheitert und erquickt immer, ob er nun seinen Ernst oder seinen Scherz, seine menschliche Einsicht oder seine gçttliche Nachsicht ausdrckt“ (SE 2, KSA 1.348).
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2. Nietzsches befreiende ,frçhliche Wissenschaft‘
Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik arbeitet mit starken, ins Religiçse spielenden Metaphern – aber wie kann etwas aus dem ,Geist‘ von etwas ,geboren‘ werden und etwas vergleichsweise klar Bestimmtes wie die Tragçdie aus etwas so schwer Bestimmbarem wie der Musik? Die Unzeitgemssen Betrachtungen fallen nicht aus der Zeit, es sei denn in der Wucht ihrer Kritik (an David Friedrich Strauß’ neuem Glauben und am berhandnehmen des Historischen) und in der bersteigerung ihres Lobs (fr Schopenhauer und Wagner). Der Titel Menschliches, Allzumenschliches greift eine schlichte Alltagswendung auf, um den Jahrtausende langen Halt der Philosophie am Gçttlichen zu untergraben und sie nun ins Menschliche zu vertiefen; der Titel Morgenrçthe lsst eine neue Sonne, ein neues Licht aufgehen, in dem alles neu und farbiger und frçhlicher gesehen werden kann; spter wird Nietzsche mit dem Titel Gçtzen-Dmmerung darauf antworten. Die Titel lassen offen, was das Menschliche, losgelçst vom alten Gçttlichen, sein wird und sein kann und welche neuen Anfnge die Dinge in ein neues Licht stellen. Der mchtigste und berhmteste Titel Nietzsches, Also sprach Zarathustra, kndigt in biblischer Sprache neue Prophezeiungen aus dem Mund eines fernçstlichen Religionsstifters der mythischen Vergangenheit an („Also sprach Zarathustra“); wer von ihm und seinen Reden berichtet, bleibt im Dunkel,64 und Zarathustras aufflligste Lehren werden verrtselt. Nietzsches eindeutigste Titel scheinen Jenseits von Gut und Bçse und Zur Genealogie der Moral zu sein. Aber ,Jenseits‘ verweist im philosophischen Gebrauch meist auf ,metaphysische Hinterwelten‘, mit denen gerade aufgerumt werden soll, und bei ,Genealogie‘ darf man gerade nicht an ,Geschlechtergeschichte‘ denken. Der Titel Der Fall Wagner lsst eine Anklageschrift erwarten, aber in ihrer Ergriffenheit und ihrem Nicht-enden-Kçnnen (zwei Nachschriften und ein Epilog) ist sie auch eine Huldigung; Nietzsche selbst hat sie eine „farce“ genannt.65 Bei Der Antichrist fasziniert schon der Mut zum irritierend aggressiven Titel, und bald hat man sich zu fragen, ist Nietzsche der Antichrist oder nicht vielmehr Paulus, zunchst der Feind, dann der große Theologe des Christentums, oder eher noch Nietzsches Schrift („Das Eine bin ich, das Andre sind meine Schriften“, EH Bcher 1) oder gerade nicht seine Schrift, wenn sie doch genealogisch „das echte, das ursprngliche Christenthum“ freilegt, die „evangelische Praktik“ vor aller Theologie, die 64 Vgl. Stegmaier, Anti-Lehren, 412 f./198 f. 65 Brief an Constantin Naumann, 7. September 1888, KGB III/5, Bf.1103. Vgl. die Bekrftigung im Brief an Naumann vom 18. September 1888, KGB III/5, Bf.1121.
2.3. Nietzsches Titel Die frçhliche Wissenschaft im Kontext seiner Werktitel
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„zu allen Zeiten mçglich sein“ wird (AC 33, 39)? Nietzsche wre dann gerade nicht der Widersacher und Leugner Christi, sondern, wie der Titel seiner gnzlich unerhçrten, kaum noch ernstzunehmenden und doch, wie sich dann zeigt, ernstgemeinten Selbstdarstellung Ecce homo andeutet, „ein f r o h e r B o t s c h a f t e r, wie es keinen gab“ (EH Schicksal 1). Der Titel Dionysos-Dithyramben schließlich bezeichnet eine poetische Gattung, Dionysos gewidmete Gesnge – oder ist, was nun nicht mehr berraschen wrde, Nietzsche Dionysos? Unter all diesen irritierenden Titeln bleibt Die frçhliche Wissenschaft der irritierendste. Er verweist noch nicht einmal auf einen bestimmten Gegenstand, sondern zeigt, unter Berufung auf eine gelehrte Dichtkunst aus dem Mittelalter, eine hçchst fragwrdige Vernderung des Charakters der Wissenschaft an. Das hieße: Die Wissenschaft, die von Europa ausging, durch die sich seine Kultur vor allem ausgezeichnet, mit der es inzwischen die ganze Welt berzogen hat und die ihm als das Ernsthafteste gilt, soll nun ,frçhlich‘ werden. Doch in der Wissenschaft, wie sie in Europa verstanden wurde, ging es um Wahrheit, und die Wahrheit war immer ernst und nie frçhlich. ,Frçhlich‘, soweit das heißt ,unbekmmert, unbeschwert, zuweilen leichtsinnig und ausgelassen, jedenfalls offen fr alles, was kommt, wenn es nur angenehm und heiter ist‘, war bisher ein Widerspruch zur Wissenschaft und ihrer Wahrheit und ist es fr die meisten noch immer: ,Wissenschaft‘, so wie die alten Griechen sie auf den Weg gebracht haben, bedeutet Strenge, Bestehen auf klar durchschaubaren, widerspruchsfreien und logisch ableitbaren Zusammenhngen. Und gerade die Philosophie, aus der nach und nach die speziellen Wissenschaften hervorgegangen sind, hatte von Anfang an auf ihrem Ernst bestanden, dem Ernst des Todes, in den Sokrates fr sie gegangen war. Bis zuletzt hatte die Philosophie – denken wir nur an Heidegger und Wittgenstein – stets mehr mit Sorge, Pflicht und Tod als mit einem frçhlichen Leben zu tun. Frçhlichkeit diskreditiert daher die Wissenschaft und Philosophie in den Augen der meisten Wissenschaftler und Philosophen, selbst unter Nietzsche-Forschern. Zu Recht? ,Diskreditieren‘ heißt ,einen Kredit, einen Glauben zerstçren‘, und eben das war Nietzsches erklrte Absicht mit seiner FW. Er wollte mit ihr einen alten Glauben zerstçren, nicht so sehr den Glauben an den alten Gott, der zu seiner Zeit schon ,tot‘ war, sondern den ,Schatten‘, den er geworfen und hinterlassen hatte, den Glauben an die Reinheit der Wissenschaft. Die Wissenschaft lebt, das ist ein Hauptgegenstand der FW, vom Glauben, die Dinge der Welt rein wissenschaftlich sehen und theoretisch fassen und so ihre Wahrheit ermitteln zu kçnnen. ,Rein‘ und ,theoretisch‘, das heißt abgehoben von der Welt, die ihr Ge-
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2. Nietzsches befreiende ,frçhliche Wissenschaft‘
genstand ist, gelçst, gereinigt von allen Nçten und Freuden, Trieben und Leidenschaften; so sollte eine ebenso unbeeintrchtigte bersicht ber die Dinge der Welt mçglich werden, wie man sie dem alten Gott im ,Jenseits‘ zugeschrieben hatte. Um sich aus den Verwicklungen des Lebens zu lçsen, sollte der Wissenschaft Treibende ,sterben lernen‘, wie Platon Sokrates sagen ließ; die reine, unbeeintrchtigte bersicht der Theorie war fr Menschen erst nach der Befreiung aus dem ,Grab‘ des Leibes, erst im Tod denkbar, und deshalb war der Ernst der Wissenschaft als Theorie der Ernst des Todes: „,Wille zur Wahrheit‘ – das kçnnte ein versteckter Wille zum Tode sein“ (FW 344). Wenn aber die Wissenschaft eine menschliche, allzumenschliche ist, dann ist sie auch den menschlichen Nçten und Freuden, Trieben und Leidenschaften ausgesetzt, und in ihrem Willen zur Wahrheit wird sie dann fragen mssen, wie weit diese Nçte und Freuden, Triebe und Leidenschaften ihre Fragen und Antworten bestimmen, wie weit sie sie von Anfang an in bestimmte Richtungen und auf bestimmte Lehren hinlenken, die dann so selbstverstndlich werden, dass niemand mehr daran denkt, sie in Frage zu stellen, kurz, worin ihr scheinbar so selbstverstndlicher Ernst begrndet ist. Nietzsche hat diese Frage gestellt – unter dem irritierend diskreditierenden Vorzeichen Die frçhliche Wissenschaft. Der Ernst der Wissenschaft liegt in der Entschiedenheit fr ihre Reinheit, in der sie erst der Wahrheit ansichtig wird. Wenn sie sich ber die Grnde ihres Ernstes in den Nçten und Freuden, Trieben und Leidenschaften des menschlichen Lebens klar werden will, dann muss sie sich auch auf sie einlassen, also von ihrem Ernst zurcktreten und ,frçhlich‘ sein kçnnen, mehr als leichtsinnig und ausgelassen: wagemutig, abenteuerlustig. Nur indem sie sich so weit von sich distanziert, dass sie ber sich lachen kann, wird sie ihres Ernstes ansichtig und darber dann auch wieder ruhiger, gelassener, heiter werden. Nietzsche verlangte von einer ber sich selbst aufgeklrten Wissenschaft das ußerste an beidem, an Ernst und Frçhlichkeit. Denn nur so kann sie ihre Standfestigkeit und Gestaltungsmacht, ihre Kraft zur eigenen Gesetzgebung, ihre Autonomie behalten. Doch nicht mehr auf dem jenseitigen Standpunkt einer gotthnlichen Theorie. Ihn kann sie am ehesten verlassen, wenn sie zu dem bergeht, was sie bisher so weit wie mçglich von sich abgehalten hat, zu ihrem Gegensatz von alters her, mit dem sie dennoch die autonome Gestaltungsmacht gemeinsam hat, zur Kunst. Wie die Frçhlichkeit dem Ernst, so steht die Kunst der Wissenschaft gegenber. Die Kunst kann, im Gegensatz zur alten Wissenschaft, frçhlich machen, und die alte Kunst sollte das auch. Auch die Kunst hat ihre Gesetze und darin ihren Ernst, wie die
2.3. Nietzsches Titel Die frçhliche Wissenschaft im Kontext seiner Werktitel
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Troubadours es vorgelebt haben. Aber ihre Kunst wollte sich nicht von allem berraschenden und Unberechenbaren des Lebens lçsen, sondern es im Gegenteil gerade aufsuchen, um ihm und besonders der bewegendsten Leidenschaft, der Liebe, eine wiederum berraschende und unberechenbare Gestalt zu geben. Die Kunst bewahrt so die Nhe zum Leben, und eine frçhliche Wissenschaft kann darum hoffen, sie durch sie zurckzugewinnen und dem Leben gerechter zu werden. Nur als frçhliche, sich an der Kunst orientierende kann sie selbst in einem ganz handgreiflichen Sinn lebendig bleiben. Sie lebt dann ihrerseits von Nçten und Freuden, Trieben und Leidenschaften, muss selbst eine Leidenschaft sein, um sich gegen andere Leidenschaften durchzusetzen, muss eine – wenn auch zu Zeiten unglckliche – leidenschaftliche Liebe zur Erkenntnis sein, Liebe als Passion: Die Unruhe des Entdeckens und Errathens ist uns so reizvoll und unentbehrlich geworden, wie die unglckliche Liebe dem Liebenden wird: welche er um keinen Preis gegen den Zustand der Gleichgltigkeit hergeben wrde; – ja, vielleicht sind wir auch u n g l c k l i c h Liebende! Die Erkenntniss hat sich in uns zur Leidenschaft verwandelt, die vor keinem Opfer erschrickt und im Grunde Nichts frchtet, als ihr eigenes Erlçschen; wir glauben aufrichtig, dass die gesammte Menschheit unter dem Drange und Leiden d i e s e r Leidenschaft sich erhabener und getrçsteter glauben msste als bisher […]. Vielleicht selbst, dass die Menschheit an dieser Leidenschaft der Erkenntniss zu Grunde geht! (M 429)
Der Gegenstand ihrer Liebe, die Wahrheit, wird sie dann wissen, wird ihr immer fern und unerreichbar bleiben, so fern und unerreichbar wie dem Troubadour die Geliebte: „Vorausgesetzt,“ schrieb Nietzsche in der Vorrede zu JGB, dass die Wahrheit ein Weib ist –, wie? ist der Verdacht nicht gegrndet, dass alle Philosophen, sofern sie Dogmatiker waren, sich schlecht auf Weiber verstanden? dass der schauerliche Ernst, die linkische Zudringlichkeit, mit der sie bisher auf die Wahrheit zuzugehen pflegten, ungeschickte und unschickliche Mittel waren, um gerade ein Frauenzimmer fr sich einzunehmen? Gewiss ist, dass sie sich nicht hat einnehmen lassen.
Und in der Vorrede zu FW ergnzte er dann: Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib, das Grnde hat, ihre Grnde nicht sehn zu lassen? (FW Vorrede 4)
Eine frçhliche Wissenschaft liebt die Wahrheit, aber wahrt auch Distanz zu ihr – und hat ihre Freude daran. Halten wir fr den Sinn von Nietzsches ,frçhlicher Wissenschaft‘ also fest:
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2. Nietzsches befreiende ,frçhliche Wissenschaft‘
Nietzsche definiert die Frçhlichkeit nicht: sie ist eine Stimmung, sie muss sich zeigen. Sie zeigt sich am reifsten im V. Buch der FW. Nietzsches Frçhlichkeit kommt aus dem Ernst, sie ist ein Wiederfrçhlich-Geworden-Sein, eine Erleichterung, ein Aufatmen. Mit ihr ist ein Ernst erreicht, der sich auch von sich lçsen, von sich absehen kann, Alternativen zu sich gewonnen hat, sich aus der Distanz zu sich aber auch selbst bejahen kann. Beispiele und Vorbilder ,frçhlicher Wissenschaft‘ haben die Troubadours und Emerson gegeben. Beide haben auch die Formel ,frçhliche Wissenschaft‘ schon gebraucht. Wissenschaft lebte bisher vom Ernst der Entschiedenheit fr ihre Reinheit. Als Alternative zu sich kçnnte sie nun die kreativen Mçglichkeiten der Kunst und ihre Liebe zum Leben einbeziehen, die Wahrheit lieben wie ein Troubadour seine Dame: aus Freude an ihrer Rtselhaftigkeit, mit aller Leidenschaft, aber aus Distanz. Als Disziplin mit einem bestimmten Sachbereich und leitenden Methoden gehçrt auch die Philosophie zur Wissenschaft; in der Moderne wollte sie immer mehr Wissenschaft werden. Als frçhliche Wissenschaft berschreitet sie Disziplingrenzen. Als frçhliche Weisheit wird sie zur individuellen Lebensklugheit, die aus langer und tiefer Erfahrung erworben ist. Frçhliche Wissenschaft teilt sich frçhlich mit, wird nicht nur durch Quellen, Fakten, Argumente, Beweise und Theorien, sondern auch durch ihre knstlerische, ihre dichterische, musikalische und bildnerische Gestaltung (1.3.) interessant und plausibel.66 Sie macht den
66 Schon Kant hat darauf gedrngt, wissenschaftliche Erkenntnisse auch „populr zu machen“, d. h. so mitzuteilen, daß „auch die Klasse der Nichtgelehrten Gefallen und Interesse [daran] findet“. Das heiße nicht, sie darauf einzuschrnken. „Wahre Popularitt“ liege darin, „schulgerecht“ zu denken, im Vortrag aber „das Schulgerechte und Technische“ „nicht sehen“, sondern im Hintergrund zu lassen, „so wie man mit Bleistift Linien zieht, auf die man schreibt, und sie nachher wegwischt“. Diese „wahrhaft populre Vollkommenheit des Erkenntnisses“, so Kant, „ist in der That eine große und seltene Vollkommenheit, die von vieler Einsicht in die Wissenschaft zeigt. Auch hat sie außer vielen andern Verdiensten noch dieses, daß sie einen Beweis fr die vollstndige Einsicht in eine Sache geben kann. Denn die bloß scholastische Prfung einer Erkenntniß lßt noch den Zweifel brig: ob die Prfung nicht einseitig sei, und ob die Erkenntniß selbst auch wohl einen von allen Menschen ihr zugestandenen Werth habe? Die Schule hat ihre Vorurtheile so wie der gemeine Verstand. Eines verbessert hier das andre. Es ist daher wichtig, ein Erkenntniß an Menschen zu prfen, deren Verstand an keiner Schule hngt.“ (Kant, Logik, AA 9.40 und 9.48) Eben so verfhrt Nietzsche.
2.3. Nietzsches Titel Die frçhliche Wissenschaft im Kontext seiner Werktitel
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Leser frçhlich und unbefangen, bereit, sich auch auf berraschendes und Unerhçrtes einzulassen, die Dinge ganz anders zu sehen. ,Frçhliche Wissenschaft‘ ist danach kein Gegen-Begriff, sondern ein Gegen-Gift gegen verengende, einseitige Bestimmungen der Wissenschaft berhaupt: Z u r L e h r e v o n d e n G i f t e n. – Es gehçrt so viel zusammen, damit ein wissenschaftliches Denken entstehe: und alle diese nçthigen Krfte haben einzeln erfunden, gebt, gepflegt werden mssen! In ihrer Vereinzelung haben sie aber sehr hufig eine ganz andere Wirkung gehabt als jetzt, wo sie innerhalb des wissenschaftlichen Denkens sich gegenseitig beschrnken und in Zucht halten: – sie haben als Gifte gewirkt, zum Beispiel der anzweifelnde Trieb, der verneinende Trieb, der abwartende Trieb, der sammelnde Trieb, der auflçsende Trieb. Viele Hekatomben von Menschen sind zum Opfer gebracht worden, ehe diese Triebe lernten, ihr Nebeneinander zu begreifen und sich mit einander als Functionen Einer organisirenden Gewalt in Einem Menschen zu fhlen! Und wie ferne sind wir noch davon, dass zum wissenschaftlichen Denken sich auch noch die knstlerischen Krfte und die practische Weisheit des Lebens hinzufinden, dass ein hçheres organisches System sich bildet, in Bezug auf welches der Gelehrte, der Arzt, der Knstler und der Gesetzgeber, so wie wir jetzt diese kennen, als drftige Alterthmer erscheinen mssten! (FW 113)
Der Sinn der Formel ,frçhliche Wissenschaft‘ ist in der Nietzsche-Forschung umstritten geblieben. Alfred Baeumler67 geht in seinem Nachwort zur Taschenausgabe von 1930 nicht darauf ein, findet stattdessen „Kampf“, „Angriff“, „die Kraft zu Taten“, „Heroismus“ und „Kriege“, Hass auf den „liberalen Kulturstaat“ in der FW und Versçhnung mit Wagner und den Deutschen – eine vollkommene Verkehrung ihrer Intentionen im Dienst des erstarkenden Nationalsozialismus. – Nach Kaufmann68 ist die Formel vor allem „anti-German, anti-professional, antiacademic“ gemeint. – Heidegger69 hat auch in ihr einen philosophischen Sinn vermutet. Er deutete die FW im Ganzen von ihrem „Schluß“, allerdings nur dem Schluss der ersten Ausgabe her, dem Aphorismus Nr. 342, in dem Nietzsche den ,Untergang‘ Zarathustras ankndigt, und ZA wiederum vom Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen her. ,Wissenschaft‘ bedeute darum nicht „Fachwissenschaft“, sondern „die Haltung und den Willen zum wesentlichen Wissen“, mit der Besonderheit jedoch, dass das Wort „hier den Klang wie ,Leidenschaft‘“ habe, einer „Leidenschaft des gegrndeten Herrseins ber das, was uns begegnet, ebenso wie darber, wie wir dem Begegnenden entgegnen und es in große und wesentliche Ziele setzen.“ Nietzsches ,Frçhlichkeit‘ meine denn auch nicht ,Spaß‘, sondern „jene Heiterkeit des berlegenseins, die auch und gerade durch das Hrteste und Furchtbarste, d. h. im Bereich des Wissens durch das Frag-wrdigste, nicht mehr umgeworfen wird, die eher an ihm erstarkt, indem sie es in seiner 67 Baeumler, Nachwort, 321 – 326. 68 Kaufmann, Translater’s Introduction, 7. 69 Heidegger, Nietzsche, 1.270 – 272.
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2. Nietzsches befreiende ,frçhliche Wissenschaft‘
Notwendigkeit bejaht“. ,Frçhliche Wissenschaft‘ sei „der Name fr die ,Philosophie‘, fr jene, die in ihrer Grundlehre die ewige Wiederkunft des Gleichen lehrt.“ – Mihailo Djuric´70 sah in Heideggers Deutung ein „schweres Vergehen an Nietzsche“; er drfe nicht erneut auf die „Metaphysik“ und ihr „,wesentliches Wissen‘“ verpflichtet werden (42 f.). Heidegger habe „weder Sinn noch Ohren fr dieses Buch Nietzsches, er hat seine Grundstimmung falsch identifiziert“ (46), seinen „vornehmlich hellen, sonnigen, erquickenden Charakter“, seine „freudige Stimmung“, die „von einem sprudelnden Humor durchtrnkt“ sei, seine „ungewçhnliche Schwungkraft“, seinen „Geist des Spiels, der Freude und der Sorglosigkeit“ (48). Die tragische Erkenntnis der ewigen Wiederkehr des Gleichen sei nicht das „Schwergewicht“ der FW, die berhaupt kein Schwergewicht habe und schon gar keine systematische Geschlossenheit und kein Prinzip (47). Stattdessen sei die Frçhlichkeit selbst, der Humor, ihr roter Faden (48), sie sei „offen anarchistisch“, breche „radikal mit der theoretischen Einstellung als solcher“, hege ein „tiefes Mißtrauen gegen die Vernunft“ und verzichte „auf die Philosophie als solche, insofern diese sich selbst hauptschlich als Erkenntnis erwerbende Ttigkeit verstanden hat“ (51). Sie verknde „einen neuen, perspektivischen Standpunkt“ (52), in ihm liege die „Idee der frçhlichen Wissenschaft“, die „den Hçhepunkt des Nietzscheschen Selbstverstndnisses bezeichnet“, „die Mitte seiner Philosophie“ (40). Sie verbinde sich mit der Idee, „den mçglichen Sinn der knftigen Verfassung des gesamten Philosophierens nach dem Untergang der Metaphysik aufzuklren“ (37), nmlich als „Einheit zwischen Philosophie, Wissenschaft und Kunst in ihrer Verschiedenheit“ (40). Dies drfte Nietzsches Intentionen mehr entsprechen, klrt jedoch noch nicht, warum Nietzsche von ,frçhlicher Wissenschaft‘ und nicht von ,frçhlicher Philosophie‘ spricht, was nach beiden Interpretationen weit nher lge. Und auch Djuric´, der u. a. Kaufmann dafr angreift, er habe „fast nichts“ zur Erluterung der „Idee“ der ,frçhlichen Wissenschaft‘ beigetragen (37, Anm.), behauptet den „Geist des Spiels, der Freude und der Sorglosigkeit“ nur, ohne zu zeigen, wie Nietzsche ihn lebendig werden lsst. – Nach Peter Sloterdijk ist „eine Frçhliche Wissenschaft die hçflichste Art und Weise, çffentlich von den Unertrglichkeiten des Seins zu sprechen“, eine vor allem bejahende Formel.71 – Marco Brusotti stellt den Gegensatz der Frçhlichkeit der Kunst zum Ernst der Wissenschaft heraus; Frçhlichkeit helfe, sich „gelegentlich“ von der „Leidenschaft zur Erkenntniß“ zu distanzieren und zu erholen.72 Brusotti spricht von einem „Pendeln“ des Erkennenden „zwischen Redlichkeit und Kunst“, Nietzsche freilich in einem Notat (N 1885, 38[20], KSA 11.617) von einer Beherrschung der „Leidenschaft zur Erkenntniß“, die er eingangs „ein leidenschaftliches Vergngen an den Abenteuern der Erkenntniß“ nennt. – Peter Ptz deutet die Frçhlichkeit aus FW 107: als Oberflche, die den Blick in die Abgrnde ertrglich mache.73 – Gnter Figal drfte den philosophischen Sinn von Nietzsches ,frçhlicher Wis70 Djuric´, Philosophie als frçhliche Wissenschaft (die Abhandlung bricht ab mit der Bemerkung „(Fragment)“). 71 Sloterdijk, Der Denker auf der Bhne, 127. 72 Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis, und Brusotti, Erkenntnis als Passion (der Aufsatz fasst die Monographie zusammen), hier 219. 73 Ptz, Nachwort, 266 – 274.
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senschaft‘ am klarsten erfasst haben, wenn er sie als „ein befreiendes und die Freiheit wahrendes Denken“ bestimmt und Freiheit wiederum als „Spielraum“ im ernsthaften Einnehmen wechselnder Perspektiven aus der gelassenen Einsicht, „daß die Ernsthaftigkeit zum Erkennen gehçrt und zugleich das Erkennen immer wieder beschrnkt“. Eine frçhliche Wissenschaft bleibe sich der „Abhngigkeit des Erkennens von seinem jeweiligen Lebenszusammenhang“ bewusst. Schriftstellerisch entspreche dem die „Gedankenerzhlung, in der Abschweifung und Anspielung erlaubt, Variation der Motive und mehr oder weniger deutliche Korrespondenz mit anderem, als Vorwegnahme und Rckverweis, die Regel sind“, pointiert der „Roman, jene in der Vielfalt heterogener Momente und Darstellungsformen des Ganze suchende und zu verstehen gebende Gattung der Literatur“, die Nietzsche „ins Philosophische zurckbersetzt“ habe.74 – Kathleen Marie Higgins, die eine erste Monographie zur FW vorgelegt hat,75 sieht in der Frçhlichkeit von Nietzsches Wissenschaft lediglich eine manchmal forcierte Erholung von der Wissenschaft. Im Licht der GT und im Anschluss an Lawrence Hatab76 betrachtet sie „tragedy and comedy“ als „complementary perspectives“, zwischen denen die FW oszilliere – wobei die Tragçdie das Maßgebliche bleibe.77 Damit folgt sie Heidegger. – Robert Pippin vermutet zur Frage „What Is a Gay Science?“/ „Qu’est-ce qu’un gai savoir?“, es msse sich um die Psychologie in Nietzsches Sinn handeln, ohne dies jedoch plausibel machen zu kçnnen;78 in einem frheren Beitrag hatte er versucht, sie aus der Spannung von erotischem Begehren und Gerechtigkeit und diese wiederum vom Motiv der „Einverleibung“ (FW 110) her zu verstehen.79 – Babette Babich verfolgt Nietzsches Anspielungen zur Frçhlichkeit in einem dichten Geflecht weiterer Anspielungen – auf die Musik, die Kunst der Troubadours, die Metapher, den Aphorismus –, mit dem Ergebnis, dass die „Verbindung von Wissenschaft (Notwendigkeit) und Kunst (Kreativitt) […] die Kunst des Lebens [sei] – die tiefste Errungenschaft von Nietzsches frçhlicher Wissenschaft“.80 Dann bliebe freilich zu klren, wie Wissenschaft die Kunst des Lebens sein kann. – NHB und NL haben kein Stichwort „Frçhlichkeit“. – Olivier Ponton81 fokussiert seine Analyse der Leichtigkeit in Nietzsches Philosophie auf MA; FW bleibt am Rande.
74 75 76 77 78 79 80 81
Figal, Nachwort, 313 – 325. Higgins, Comic Relief. Hatab, Laughter in Nietzsche’s Thought. Higgins, Comic Relief, 6 f. Pippin, Nietzsche, Psychology, and First Philosophy. Pippin, Gay Science and Corporeal Knowledge. Babich, Nietzsches „frçhliche“ Wissenschaft, 100. Ponton, Nietzsche.
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2. Nietzsches befreiende ,frçhliche Wissenschaft‘
2.4. Nietzsches Werk Die frçhliche Wissenschaft und sein V. Buch Die frçhliche Wissenschaft galt Nietzsche als heitere Mitte seines Werks, in der er zur Reife seines Denkens fand. Carl Fuchs, den er Mitte 1888 bat, ihn endlich einmal intelligent „zu c h a r a k t e r i s i r e n, zu ,beschreiben‘, — n i c h t aber ,abzwerthen‘“, empfahl er vor allem die FW: „Die frçhliche Wissenschaft ,la gaya scienza‘ mssen Sie jedenfalls lesen: es ist mein m i t t e l s t e s Buch, – sehr viel feines Glck, sehr viel Halkyonismus …“82 ,Halkyonisch‘ nannte Nietzsche nach dem Eisvogel, der in den sieben Tagen im Dezember brtet, an denen das Mittelmeer gewçhnlich vçllig ruhig bleibt, „das Vollkommene und Letzthin-Reife in jeder Cultur und Kunst, das eigentlich Vornehme an Werken und Menschen, ihr Augenblick glatten Meers und halkyonischer Selbstgenugsamkeit, das Goldene und Kalte, welches alle Dinge zeigen, die sich vollendet haben“ (JGB 224), oder kurz die „sonnige Helle, Ferne, Weite“ (GM Vorrede 8), „die leichten Fsse, die Allgegenwart von Bosheit und bermuth“ (EH ZA 6), das „Lcheln“, wenn einer wie Dionysos, als Philosoph gedacht, bekennt, dass er den Menschen „strker, bçser und tiefer“ machen will, „wie als ob er eben eine bezaubernde Artigkeit gesagt habe.“ (JGB 295) Die erste Ausgabe entstand 1881/1882 vor allem in Genua, der Geburtsstadt des Columbus, in einem kalten Winter, vor dem unter seinen steilen Hçhen weit sich çffnenden Meer; sie hat, schrieb Nietzsche, „einen Genueser Charakter an sich“.83 Nietzsche litt auch hier schwer an seiner Gesundheit, doch im Januar 1882 hellte sie sich ungeahnt auf; nach ihm benannte er das IV. Buch „Sanctus Januarius“. Ursprnglich sollte FW die M fortsetzen, in fnf weiteren Bchern,84 und auf ZA hinfhren. Im Sommer 1881 hatte Nietzsche in Spinoza „einen Vo r g n g e r und was fr einen!“ entdeckt,85 und bald darauf stieg ihm „bei einem mchtigen pyramidal aufgetrmten Block unweit Surlei“ der Gedanke der ewigen Wiederkehr des Gleichen auf: „An meinem Horizonte sind Gedanken aufgestiegen, dergleichen ich noch nicht gesehn habe – davon will ich nichts verlauten lassen, und mich selber in einer unerschtterlichen Ruhe erhalten“.86 Er notierte die ersten Zeilen von ZA, die er „Mittag und 82 83 84 85
Brief an Carl Fuchs, 29. Juli 1888, KGB III/5, Bf.1075. Brief an Ida Overbeck 19. Januar 1882, KGB III/1, Bf.188. Vgl. Brief an Heinrich Kçselitz, 18. Dezember 1881, KGB III/1, Bf.180, u. ç. Postkarte an Franz Overbeck, 30. Juli 1881, KGB III/1, Bf.135. Vgl. dazu Andr Martins (Hg.), O mais potente dos afetos: Spinoza e Nietzsche, S¼o Paulo 2009. 86 Brief an Heinrich Kçselitz, 14. August 1881, KGB III/1, Bf.136.
2.4. Nietzsches Werk Die frçhliche Wissenschaft und sein V. Buch
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Ewigkeit. F i n g e r z e i g e z u e i n e m n e u e n L e b e n“ berschrieb (N 1881, 11[195], KSA 9.519) und gleich im Anschluss die Gliederung zu einem „,Entwurf einer neuen Art zu leben‘“, den Plan eines Werkes in vier (nicht fnf ) Bchern, den er mit „Sils-Maria 26. August 1881“ datierte. Er notierte darin weniger Themen als Stimmungen: Erstes Buch im Stil des ersten Satzes der neunten Symphonie. C h a o s s i v e n a t u r a: ,von der Entmenschlichung der Natur‘. Prometheus wird an den Kaucasus angeschmiedet. Geschrieben mit der Grausamkeit des Jq\tor, ,der Macht‘. Zweites Buch. Flchtig-skeptisch-mephistophelisch. ,V o n d e r E i n v e r l e i b u n g d e r E r f a h r u n g e n.‘ Erkenntniss = Irrthum, der organisch wird und organisirt. Drittes Buch. Das Innigste und ber den Himmeln Schwebendste, was je geschrieben wird: ,vom l e t z t e n G l c k d e s E i n s a m e n‘ – das ist der, welcher aus dem ,Zugehçrigen‘ zum ,Selbsteignen‘ des hçchsten Grades geworden ist: das vollkommene e g o : nur erst d i e s ego hat L i e b e, auf den frheren Stufen, wo die hçchste Einsamkeit und Selbstherrlichkeit nicht erreicht ist, giebt es etwas anderes als Liebe. Viertes Buch. Dithyrambisch-umfassend. ,A n n u l u s a e t e r n i t a t i s.‘ Begierde, alles noch einmal und ewige Male zu erleben.
Er betrachtete nun jeden, „der meinen Engadiner A r b e i t s -Sommer d. h. die Fçrderung meiner A u f g a b e , m e i n e s ,Eins ist noth‘, u n t e r b r i c h t, als meinen Feind“,87 seine Martern („corporis cruciatus“) trieben ihn in Verzweiflung („Sum in puncto d e s p e r a t i o n i s“).88 In Genua erlebte er zum ersten Mal Georges Bizets Carmen, fr die er sich immer mehr „als ironische Antithese gegen W“ begeisterte.89 Ende Mrz 1881 brach er mit einem Frachtschiff nach Messina auf, wo er den Sommer verbringen wollte; auch Wagners hielten sich dort auf; Nietzsche blieb drei Wochen, ohne sie zu treffen, und breitete Schweigen ber seinen Aufenthalt. Die geheimnisvollen IM entstehen, die Nietzsche spter in die PV integrierte. Im Frhjahr 1882 lernte er durch Paul Re Lou von Salom kennen, die ihn aufs Neue ungeahnt aufleben ließ. Anfang Mai 1882 entschied er sich fr den Titel „Die frçhliche Wissenschaft“ und damit gegen die Fortschreibung von M. Tags zuvor hatte er Re geschrieben, er wolle Lou „noch einmal sprechen, im Lçwengarten etwa?“ und ein paar Wochen zuvor an Kçselitz: „es lebe die Freiheit, Heiterkeit und Unver87 Brief an Elisabeth Nietzsche, 18. Aug. 1881, KGB III/1, Bf.138. 88 Postkarte an Franz Overbeck in lateinischer Sprache, 18. September 1881, KGB III/1, Bf.149. 89 Brief an Carl Fuchs, 27. Dezember 1888, KGB III/5, Bf.1214.
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2. Nietzsches befreiende ,frçhliche Wissenschaft‘
antwortlichkeit! Leben wir ber uns, um mit uns leben zu kçnnen“.90 Mitte Mai bis Mitte Juni 1882 erstellte er in Naumburg mit der Schwester und einem Schreiber das Druckmanuskript der FW, die Mitte August erscheint. Mit dem Titel „Scherz, List und Rache“ fr die den 342 Aphorismen vorausgeschickten 63 frçhlichen Gedichte (vgl. N 1881, 11[337], KSA 9.573) spielte er auf das 1880/81 von Heinrich Kçselitz, Nietzsches ,maestro Pietro Gasti‘, vertonte gleichnamige Lustspiel Goethes an. Nietzsche verband sich mit diesem Werk persçnlich besonders eng. Er habe es, ließ er Re wissen, fr sich selbst geschrieben („Mihi ipsi scripsi“).91 Overbeck teilte er mit: „Das Glck, welches ich in der ,frçhlichen Wissenschaft‘ darstellte, ist wesentlich das Glck eines Menschen, der sich endlich r e i f zu fhlen beginnt fr eine ganz große Aufgabe, und dem die Zweifel ber sein Recht d a z u zu schwinden anfangen.“92 Noch 1888 bekannte er Karl Knortz in den USA, der einen Essay ber ihn verfassen wollte: „Mir selbst sind am sympathischsten meine mittleren Bcher, ,Morgenrçthe‘ und ,Die frçhliche Wissenschaft‘ (es sind die persçnlichsten).“93 In EH schwieg er darber. Trotz der extremen Stimmungswechsel whrend der Entstehungszeit hat er den Grundton heiter gehalten.94 Eingestreut sind aber auch abgrndige Aphorismen wie der berhmt gewordene vom „tollen Menschen“, der seine Botschaft „Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getçdtet! Wie trçsten wir uns, die Mçrder aller Mçrder?“ hinausschreit und seine Zuhçrer, die lngst nicht mehr an diesen Gott geglaubt haben, neu verunsichert (FW 125);95 der „tolle Mensch“ war ursprnglich Zarathustra. Die FW hat kein Grundthema, es sei denn die knstlerischfrçhliche Selbstaufklrung der Wissenschaft und Philosophie, nur einen Grundglauben, den, „dass die Gewichte aller Dinge neu bestimmt werden mssen“ (FW 269). Ihr Ziel ist die Erneuerung der menschlichen Orientierung berhaupt (FW 7), ihr Maßstab „d a s i n t e l l e c t u a l e G e w i s s e n“ des Einzelnen (FW 2). Sie geht nicht im Namen einer all90 Brief an Ernst Schmeitzner, 8. Mai 1882, KGB III/1, Bf.224; Nietzsche an Paul Re, 8. Mai 1882, KGB III/1, Bf.223; Nietzsche an Heinrich Kçselitz, 11. Mrz 1882, KGB III/1, Bf.208. 91 Brief an Paul Re, 10. Juni 1882, KGB III/1, Bf.238. 92 Brief an Franz Overbeck, 6. Dezember 1883, KGB III/1, Bf.476. 93 Brief an Karl Knortz, 21. Juni 1888, KGB III/5, Bf.1050. 94 Colli, Nachwort, KSA 3.660, bemerkt treffend, es seien „alle Extreme vorhanden, aber in entspannter Weise miteinander verbunden, unter Kontrolle gehalten und von jedem Fanatismus befreit.“ 95 Vgl. Stegmaier, Der Tod Gottes und das Leben der Wissenschaft.
2.4. Nietzsches Werk Die frçhliche Wissenschaft und sein V. Buch
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gemeinen Vernunft, sondern unter variierenden wissenschaftlichen Perspektiven, vor allem biologischen, physiologischen, psychologischen und soziologischen, vor. Ihr Inhalt lsst sich nicht zusammenfassen, nur durch ein paar Anhaltspunkte kenntlich machen. Die FW stellt die „A u f g a b e , d a s W i s s e n s i c h e i n z u v e r l e i b e n und instinctiv zu machen“, das theoretisierende Bewusstsein in seine vielfltigen Orientierungszusammenhnge einzubinden (FW 11). Wissenschaft und Wahrheit, die weiter hoch zu schtzen sind (FW 293, 335), werden dabei zu wandelbaren Werten ohne metaphysischen Rckhalt (FW 20). So fllt die Verantwortung fr sie an die Individuen zurck (FW 21, 23), die sich allen Hrten des Lebens zu stellen haben (FW 26). Die Menschen arbeiten stndig daran, zu bereinstimmungen und Konventionen zu kommen, um miteinander leben zu kçnnen (FW 76); Vernunftgrnde dienen dabei zur unentbehrlichen „intellectuellen Maskerade“ der Bedrfnisse und Erlebnisse der Einzelnen in der Kommunikation in der Gesellschaft (FW 39). Frçhliche Wissenschaft kann dagegen die Scheinbarkeit aller Realitt akzeptieren und kreativ mit ihr umgehen; Frauen sind darin vorbildlich (FW 60 – 75). Kunst und Religion bestrken die Scheinbarkeit, um die Abgrnde des Lebens ertrglich zu machen (FW 78 – 80). Schatten des toten Gottes verdecken gndig das Chaos, in dem wir leben (FW 108 f.). Irrtmer und Fiktionen, einschließlich der Logik, sind Bedingung des Lebens (FW 110 f., FW 121), der Wahrheit der Wahrheit kçnnen sich nur seltene Ausnahmen stellen. Und auch ihre Wissenschaft kann zuletzt nur eine „Anmenschlichung der Dinge“ (FW 112) sein, in allem Denken und selbst in der stets selektiven Sinneswahrnehmung wirkt eine Vielheit von Trieben zusammen (FW 113 f., FW 333). So muss das Denken stabilisiert und der Einzelne mit Hilfe einer Moral zur „Function der Heerde“ gemacht werden (FW 116). Umso mehr schaudern auch die, die an den moralischen Gott nicht mehr glauben, vor Einsichten darin zurck, wohin die Erde, die sie „von ihrer Sonne losketteten“, sich nun bewegen wird (FW 125). Als Weg, den Verlust eines letzten Halts der Orientierung zu verkraften, bleibt nur der „Amor fati“, „immer mehr [zu] lernen, das Nothwendige an den Dingen als das Schçne sehen“ (FW 276) und das „g r ç s s t e S c h w e r g e w i c h t“ auf sich zu nehmen, den Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen (FW 341).96 Mit ihm beginnt die Tragçdie Zarathustras (FW 342). Im fnf Jahre spter abgeschlossenen V. Buch der FW sollte sich vollenden, was die vier ersten Bcher vorbereitet hatten, der ,Halkyonis96 Vgl. Salaquarda, Der ungeheure Augenblick.
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2. Nietzsches befreiende ,frçhliche Wissenschaft‘
mus‘. Dem gingen lange Umwege voraus.97 1887 lag ZA, der kaum Anklang gefunden hatte, Jahre zurck, und inzwischen war JGB, „ein erschreckliches Buch, das dies Mal mir aus der Seele geflossen ist, – sehr schwarz, beinahe Tintenfisch“,98 erschienen. Fast ohne Echo, war Nietzsche nach aufreibenden Verlagswechseln dazu bergegangen, den Druck seiner Bcher selbst zu finanzieren. Er bereitete Neuausgaben seiner Aphorismen-Bcher mit neuen Vorreden vor und kndigte „ein vierbndiges Hauptwerk“ an: „der Titel ist schon zum Frchten-Machen: ,D e r W i l l e z u r M a c h t. Versuch einer Umwerthung aller Werthe‘“.99 Die Briefwechsel mit dem neuen Verleger Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig und Heinrich Kçselitz geben einigen Aufschluss ber die Konzeption des V. Buchs und der neuen Vorreden. Die Vorreden kamen zuerst, im August 1886. Sie sollten fr die Neuausgaben neue Kaufanreize schaffen: „Wenn nun einmal die Titel- und Umschlagbltter durch neue zu ersetzen sind und jedenfalls einige Buchbinder-Arbeit nçthig wird, was meinen Sie?“, schrieb Nietzsche dem Verleger, „wre es nicht vernnftig, jenen Anschein zu benutzen d. h. auf den Titel drucken zu lassen / Neue Ausgabe / vermehrt durch eine Vorrede. (oder Einleitung etc?)“. Dass die Erstausgaben keine Vorreden enthielten, habe „gute Grnde“ darin gehabt, „daß ich damals als diese Werke entstanden, mir ein Stillschweigen auferlegte – ich stand noch zu nahe, noch zu sehr ,drin‘ und wußte kaum, was mit mir geschehn war. Jetzt, wo ich selber am besten und genauesten sagen kann, was das Eigene und Unvergleichliche an diesen Werken ist und inwiefern sie eine fr Deutschland neue Litteratur inauguriren (das Vorspiel einer moralistischen Selbst-Erziehung und Cultur, die bisher den Deutschen gefehlt hat) wrde ich mich zu solchen z u r c k b l i c k e n d e n und nachtrglichen Vorreden gerne entschließen.“ Doch die Vorreden bekamen unter der Hand einen engeren Zusammenhang untereinander als mit den Schriften, denen sie nun vorangestellt wurden: denn sie sollten auch „eine f o r t l a u f e n d e E n t w i c k l u n g“ der Schriften darstellen, „woraus sich nebenbei der Nutzen ergeben wrde, daß, wer einmal auf e i n e meiner Schriften angebissen hat, es mit a l l e n aufnehmen muß. / Ich wrde, im Falle daß mein Gedanke Ihnen gefiele und einleuchtete, diesen Winter darauf verwenden, mir solche Vorreden auszudenken: mein Bemhen wrde sein, jeder dieser Vorreden einen so selbstndigen Werth zu geben, daß um ihretwillen allein 97 Vgl. Groddeck, Die „Neue Ausgabe“ der „Frçhlichen Wissenschaft“. 98 Brief an Heinrich Kçselitz, 21. April 1886, KGB III/3, Bf.690. 99 Brief an Bernhard und Elisabeth Fçrster, 2. September 1886, KGB III/3, Bf.741.
2.4. Nietzsches Werk Die frçhliche Wissenschaft und sein V. Buch
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schon die Werke gelesen werden mßten.“100 Die Vorreden verselbststndigten sich gegenber den Werken. Als Nietzsche das Manuskript der ersten Vorrede, der zu GT, zum Druck sandte, ergnzte er: sie „deuten den Weg an, den ich gegangen bin – und, ernsthaft geredet, wenn ich selber nicht ein Paar Winke gebe, wie man mich zu verstehn hat, so mssen die grçßten Dummheiten passiren.“ Vor allem sollten sie „das Verstndniß des Z a r a t h u s t r a“ erleichtern, „ein Ereigniß o h n e G l e i c h e n in der Litteratur u n d Philosophie u n d Poesie u n d Moral usw. usw.“, und nun dazu „die N o t h w e n d i g k e i t der Aufeinanderfolge“ seiner Schriften deutlich machen. Denn, fgte er in einem PS hinzu: „Ein eignes Bndchen mit lauter ,Vorreden‘ wrde gegen den Geschmack sndigen. Man vertrgt das schreckliche Vorrede-Wçrtchen ,ich‘ eben nur unter der Bedingung, daß es in dem d r a u f f o l g e n d e n B u c h e f e h l t: es hat nur R e c h t i n d e r Vo r r e d e.“ Nietzsche hoffte, bis Dezember 1886 in Nizza, „wo es mir bis jetzt niemals um die bezeichnete Zeit an Muth und Inspiration gefehlt hat“, mit den Vorreden fortfahren zu kçnnen.101 Doch whrend eines vierwçchigen Aufenthalts in Ruta Ligure von Ende September bis Ende Oktober 1886 – „Mein Aufenthalt in Ruta hatte etwas unbeschreiblich Peinliches durch die drckende Nhe zweier Deutschen, mit denen man Tisch und Spaziergang theilen m u ß t e“102 – verfasste er gut 30 neue, hçchst gewichtige und vergleichsweise lange Aphorismen. Fr ein eigenes Werk reichten sie aber nicht aus. So entschied sich Nietzsche, wie immer darauf aus, rasch zu publizieren, sie neben einer neuen Vorrede und den PV der Neuausgabe der FW hinzuzufgen – und entschied sich damit noch einmal fr die ,frçhliche Wissenschaft‘.103 Aber weiterhin nicht geradewegs. Zunchst wurden bereits Mitte November 1886, wieder in Nizza, die beiden letzten der neuen Vorreden zu M und FW „druckfertig“ – GT und MA I und MA II waren schon am 31. Oktober 1886 mit ihren neuen Vorreden erschienen104 – und erstaunten ihn selbst: „Diese 5 Vorreden sind vielleicht meine beste 100 Brief an Ernst Wilhelm Fritzsch, 7. August 1886, KGB III/3, Bf.730. 101 Brief an Ernst Wilhelm Fritzsch, 29. August 1886, KGB III/ 3, Bf.740. 102 Brief an Heinrich Kçselitz, 31. Oktober 1886, KGB III/3, Bf.770. 103 Zum Doppelsinn des Begriffs ,vogelfrei‘ im Titel Die Lieder des Prinzen Vogelfrei vgl. Ptz, Nachwort, 282 f.: Vogelfrei ist der „Kçrper eines Gechteten, dem ein Grab versagt und der damit den Vçgeln preisgegeben wird“, aber auch „der von allen Herrschaftsverhltnissen Befreite, der sich somit frei wie ein Vogel in der Luft bewegen kann“. 104 Vgl. Brief an Heinrich Kçselitz, 31. Oktober 1886, KGB III/3, Bf.770.
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2. Nietzsches befreiende ,frçhliche Wissenschaft‘
Prosa, die ich bisher geschrieben habe“.105 Zum „Schlußtheil (fnfter Theil) der frçhlichen Wissenschaft“ schrieb er dem Verleger, dass er „von vornherein projektirt war und nur unter den Consequenzen fataler Gesundheits-Zwischenflle damals nicht fertig wurde. Dieser fnfte Abschnitt des genannten Buchs wird ungefhr 50 Druckseiten ausmachen“; die „Lettern“ des Satzes sollten, darauf legte Nietzsche großen Wert, genau bereinstimmen. Und dann wollte er erst einmal schweigen: „Ich brauche jetzt, fr lange lange Jahre, tiefe Ruhe: denn es steht die Ausarbeitung meines ganzen Gedankensystems vor mir.“106 „Jetzt“, schrieb er an Kçselitz, „ergçtze und erhole ich mich an der kltesten Vernunft-Kritik, bei der man unwillkrlich blaue Finger bekommt (und folglich die Lust verliert, zu s c h r e i b e n – ). Ein Generalangriff auf den gesammten ,Causalismus‘ der bisherigen Philosophie kommt dabei heraus, auch einiges Schlimmere noch.“107 Doch dann kamen ihm Zweifel. Nietzsche wollte die neuen Aphorismen nicht mehr nur als „Ergnzung der ,frçhlichen Wissenschaft‘ […] opfern“.108 Als der Druck ohnehin nicht vorankam („die verdammliche schsische Bummelei und Unpnktlichkeit“), erwog er eine Ergnzung zu JGB.109 Als es wieder voranzugehen schien, erklrte er Kçselitz, der wieder die Korrekturen bernehmen sollte: „Ich habe nmlich im letzten Oktober so geschwind wie mçglich noch ein fnftes Buch zu besagter ,Wissenschaft‘ hinzu gekritzelt (um dem Ganzen eine Art Gleichwerthigkeit mit der Morgenrçthe zu geben, nmlich vom b u c h b i n d e r i s c h e n Standpunkt aus –) und bin jetzt selber einigermaßen neugierig, was ich damals eigentlich geschrieben haben mag. Es ist ganz weg aus meinem Gedchtnisse.“110 105 106 107 108 109 110
Brief an Franz Overbeck, 14. November 1886, KGB III/3, Bf.775. Brief an Ernst Wilhelm Fritzsch, Ende Dezember 1886, KGB III/3, Bf.784. Brief an Heinrich Kçselitz, 21. Januar 1887, KGB III/5, Bf.793. Brief an Ernst Wilhelm Fritzsch, 8. Februar 1887, KGB III/5, Bf.797. Brief an Ernst Wilhelm Fritzsch, 13. Februar 1887, KGB III/5, Bf.799. Brief an Heinrich Kçselitz, 13. Februar 1887, KGB III/5, Bf.800. Mit GM wird es ihm bald ebenso gehen. Vgl. den Brief an Meta von Salis, 22. August 1888, KGB III/5, Bf.1094: „Der erste Blick hinein gab mir eine berraschung: ich entdeckte eine lange V o r r e d e zu der ,Genealogie‘, deren Existenz ich v e r g e s s e n hatte … Im Grunde hatte ich bloß den Titel der drei Abhandlungen im Gedchtniß: der Rest, das heißt der I n h a l t war mir flçten gegangen. Dies die Folge einer extremen geistigen Thtigkeit, die diesen Winter und dies Frhjahr ausfllte und die gleichsam eine M a u e r dazwischen gelegt hatte. Jetzt lebt das Buch wieder vor mir auf – und, zugleich, der Zustand vom vorjhrigen Sommer, aus dem es entstand. Extrem schwierige Probleme, fr die eine Sprache, eine Terminologie nicht
2.4. Nietzsches Werk Die frçhliche Wissenschaft und sein V. Buch
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Sein Schwanken lsst einen ganz ußerlichen Gesichtspunkt zur Geltung kommen: FW sollte etwa den gleichen Umfang wie M und auch fnf Bcher haben. So wre das V. Buch nur geschrieben, um noch leere Seiten zu fllen.111 Und dazu schien es Nietzsche außerdem notwendig, seine „Ansichten gleichsam zurckzubilden und eine Art Condescendenz zu einem frheren Stand- und Gesichtspunkte des Lebens aufrecht zu erhalten“; auch das neue V. Buch sollte wie die frheren ZA vorbereiten. Er hatte „einige Noth“ damit und nahm auch an, „daß es nicht immer gelungen“ war. So bat er Kçselitz: „seien Sie dies Mal mißtrauischer als sonst gegen mich und schreiben Sie mir, unter Umstnden, einfach ,das und das geht nicht, gefllt mir nicht, warum nicht lieber so und so etc. etc. etc..‘“112 Nach neuerlichen Verzçgerungen des Drucks vermutete Nietzsche, der Verleger wolle „die Vergrçßerung der frçhlichen Wissenschaft durch das von mir projektirte ,fnfte Buch‘“ gar nicht – und wollte nun seinerseits halb zermrbt, halb trotzig das Vorhaben aufgeben: „Also wir l a s s e n das fnfte Buch, Vorrede und Lieder g e n g e n. (Schade, daß ich mich dieses fnften Buchs wegen hier in diesem Erdbeben-Neste noch bis zum 3. April fest gemiethet habe!)“113 Am Sonntag, dem 23. Februar 1887, war Nizza von einem schweren Erdbeben erschttert worden, dem mehrere Nachbeben folgten; dabei blieb Nietzsche ganz ruhig. Gegenber Kçselitz resmierte er: „Mit dem ,fnften Buche‘, dessen Manuscript seit mehreren Monaten in Fritzschens Hnden ist und dessen Drucklegung ich selber zu bezahlen gewillt war, scheint besagter Leipziger wenig einverstanden. Genug, wir lassen es vor der Hand ungedruckt; vielleicht gehçrt es seinem Tone und Inhalte nach berdies mehr zu jenseits von G und B, und drfte diesem Werke bei einer zweiten Auflage einverleibt werden –, mit mehr R e c h t, wie mir jetzt scheint als jener frçh Wissenschaft: so daß zuletzt hinter dem Widerstreben des Verlegers ein ,hçherer Sinn‘, ein Stck blauen Himmels von Vernnftigkeit sichtbar vorhanden war: aber ich muß damals in einem Zustande von fast ununterbrochener Inspiration gewesen sein, daß diese Schrift wie die natrlichste Sache von der Welt dahinluft. Man merkt ihr keine Mhsal an – Der Stil ist vehement und aufregend, dabei voller finesses; und biegsam und farbenreich, wie ich eigentlich bis dahin keine Prosa geschrieben.“ hnliches ließe sich auch vom V. Buch der FW sagen. 111 Vgl. auch den Brief an Ernst Wilhelm Fritzsch, 29. April 1887, KGB III/5, Bf.838. 112 Brief an Heinrich Kçselitz, 13. Februar 1887, KGB III/5, Bf.800. 113 Postkarte an Ernst Wilhelm Fritzsch, 6. Mrz 1887 (aus Nizza), KGB III/5, Bf.813.
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wird.“114 Nietzsche wollte, im Sinn des amor fati, sich nicht widersetzen, wo nichts zu ndern war, und htte dabei fast das V. Buch der FW oder es doch als V. Buch der FW geopfert. Als der Verleger dann aber das Ganze fr ein „Mißverstndniß“ erklrte, war er, wenn auch „sehr wthend“, bereit, es auf die „ungeheure Confusion und berbrdung der Post“ infolge des Erdbebens zurckzufhren: „Somit bleibt es dabei, daß das fnfte Buch gedruckt wird.“115 Nun wollte er mit Kçselitz „das Fertigwerden meiner ganzen bisherigen ,Litteratur‘ zusammen f e i e r n“. ,Litteratur‘ war fr ihn noch eine ,Schriftstellerei‘, die sich dem Publikum andient, nicht das, was ,die Aufgabe‘ eigentlich forderte: „Ich fhle, daß es jetzt einen Abschnitt in meinem Leben giebt – und daß ich nun die ganze große Aufgabe vor mir habe! Vo r mir und, noch mehr, a u f mir!“116 Zuletzt ging er noch einmal an den Schluss des V. Buchs, fgte „noch mehrfache Zustze und Vernderungen“ hinzu117 und erklrte die „8 neuen Nummern“ dem Verleger nochmals damit, dass er dem Schluss „noch mehr den Charakter einer Vorbereitung ,fr Also sprach Zarathustra‘“ geben wolle.118 Er hielt also auch bei der Neuausgabe der FW an der Fiktion einer gemeinsamen Entstehungszeit aller fnf Bcher fest, was bis heute nachwirkt: die Sonderstellung des V. Buchs fllt hufig auch kenntnisreichen NietzscheForscher(inne)n nicht auf. Tatschlich berspringt die FW mit ihren nunmehr V Bchern die Perioden, in die man Nietzsches Werk einzuteilen pflegt, hebt die Trennung in ein sogenanntes mittleres (vor ZA) und sptes Werk (ab ZA) auf. Die ersten Exemplare der Neuausgabe mit der neuen 114 Brief an Heinrich Kçselitz, 7. Mrz 1887, KGB III/5, Bf.814. 115 Brief an Ernst Wilhelm Fritzsch, 12. Mrz 1887, KGB III/5, Bf.817. 116 Brief an Heinrich Kçselitz (in Venedig), 19. April 1887, KGB III/5, Bf.834. Ende Oktober 1886 hatte Nietzsche an Kçselitz zu den Neuauflagen von GT und MA geschrieben: „Eben sendet F r i t z s c h die alten Bcher in ihren neuen sauberen Kleidern, und den ,Vorreden‘, welche sich wunderlich genug ausnehmen. Es scheint mir nachtrglich ein Glck, daß ich weder Menschliches, Allzumenschliches noch die Geburt der Tragçdie zu Hnden hatte, als ich diese Vorreden schrieb: denn, unter uns gesagt, ich halte alles dies Zeug nicht mehr aus. Hoffentlich wachse ich mit meinem Geschmacke noch ber den ,Schriftsteller und Denker‘ Nietzsche hinweg; und vielleicht bin ich dann ein Bißchen wrdiger zu dem anmaaßlichen Vorsatz, der im Worte ,freier Geist‘ steckt.“ (Brief an Heinrich Kçselitz, 31. Oktober 1886, KGB III/3, Bf.770). 117 Postkarte an Heinrich Kçselitz, 26. April 1887, KGB III/5, Bf.835. 118 Brief an Ernst Wilhelm Fritzsch, 29. April 1887, KGB III/5, Bf.838. – Um welche Aphorismen es sich dabei im Einzelnen handelte und welche Korrekturen Nietzsche auch im brigen zuletzt noch vornahm, ist nicht genau identifizierbar.
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Vorrede, dem V. Buch und den PV erreichten Nietzsche am 24. Juni 1887 in Sils-Maria. Er hatte die Aphorismen des V. Buchs sichtlich sehr berlegt angeordnet; das erhaltene Druckmanuskript besteht aus teils ein-, teils zweiseitig beschriebenen, hufig stark beschnittenen und zusammengesetzten Bçgen. Daraus wurden, sicherlich nicht zufllig, 40 + 1 Aphorismen.119 Der 41. Aphorismus ist die ,Nachspiel-Farce‘, in der Nietzsche „die Geister [s]eines Buches“ sich verselbststndigen und wie Gespenster ber ihn, den Autor, herfallen lsst, damit sie die „rabenschwarze Musik“ verscheuchen, die die FW zuletzt aufs Neue hçren ließ mit ihrem neuerlichen „die Tragçdie b e g i n n t …“ Außerdem ersetzte Nietzsche das Motto auf dem Titelblatt, das Zitat aus Emersons Essays and Lectures, durch eigene Verse: „Ich wohne in meinem eigenen Haus, / Hab Niemandem nie nichts nachgemacht / Und – lachte noch jeden Meister aus, / Der nicht sich selber ausgelacht.“ Nun soll es offenbar um seine eigene, nicht mehr Emersons ,frçhliche Wissenschaft‘ gehen. Doch Nietzsche hatte im Herbst 1881 fr sich notiert: „Emerson / Ich habe mich nie in einem Buch so zu Hause und in meinem Hause gefhlt als – ich darf es nicht loben, es steht mir zu nahe.“ (N 1881, 12[68], KSA 9.588) Ein kleine ,frçhliche‘ Hanswurstiade: In seinem Haus wohnt Emerson, den er doch nicht nachgemacht haben will (oder vielleicht doch, denn „Niemanden nie“ kçnnte ja auch heißen ,immer jemanden‘), und er kçnnte ihn gerade darin nicht nachgemacht 119 Zu Nietzsches Liebe zur Zahlensymbolik vgl. u. a. Groddeck, Friedrich Nietzsche – „Dionysos-Dithyramben“, 2.xix, und Ottmann, Kompositionsprobleme von Nietzsches Also sprach Zarathustra, 53 – 61. Noch zuletzt beschreibt Nietzsche seinen Zarathustra dem Gott der Bibel gleich als „einen Schaffenden an seinem siebenten Tag“ (DD Armut, KSA 6.407 f.). Die Zahl 40 hat bekanntlich besonders in der Bibel große Bedeutung: Die Hebrer hatten nach dem Auszug aus gypten 40 Jahre durch die Wste zu wandern, Mose 40 Tage auf dem Berg Horeb zu bleiben, um von Gott die Gebote zu empfangen, Elia sich 40 Tage auf den Weg zu machen, um Gott am Berg Horeb zu begegnen, Jesus sich in der Wste 40 Tage der Versuchung auszusetzen, und Jesus erschien 40 Tage nach der Auferstehung seinen Jngern. Jedes Mal wird eine große Neuorientierung angebahnt. Nietzsche spielt mit der Zahl 40 mehrfach auf die Bibel an. Vgl. N 1870/71, 5[85], KSA 7.116 („Man muß 40 Wochen in die Wste gehen: und mager werden“), MA I 253 („Es ist ein vollkommenes Zeichen fr die Gte einer Theorie, wenn ihr Urheber v i e r z i g J a h r e lang kein Misstrauen gegen sie bekommt“) und ZA I Lehrsthlen, KSA 4.33 f. („Wiederkuend frage ich mich, geduldsam gleich einer Kuh: welches waren doch deine zehn berwindungen? / Und welches waren die zehn Versçhnungen und die zehn Wahrheiten und die zehn Gelchter, mit denen sich mein Herz gtlich that? / Solcherlei erwgend und gewiegt von vierzig Gedanken, berfllt mich auf einmal der Schlaf, der Ungerufne, der Herr der Tugenden“).
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haben, dass er, anders als der ernste Emerson, ber sich selbst lachen kann – und gerade ber dieses Motto. So irritierte er mit Bedacht allzu einfache Verknpfungen dieses V. Buchs der FW mit ZA und seiner ,frçhlichen Wissenschaft‘ im Ganzen mit der Emersons. Die FW umschloss nun mit ihren ersten IV Bchern und ihrem V. Buch ZA (und JGB). So kann sie, wie Nietzsche es dem Verleger und auch Overbeck gegenber nahelegte, als Einfhrung zu ZA betrachtet werden,120 aber auch als das Werk, das wieder von ZA wegfhrt und die Lehrdichtung damit zur Episode macht. Nach dem endgltigen Abschluss der FW ging Nietzsche in Lenzer Heide, einer Station zwischen Chur und Sils-Maria, wie er es sich vorgenommen hatte, daran, sein ,ganzes Gedankensystem‘ auszuarbeiten: in seinem „D e r e u r o p i s c h e N i h i l i s m u s“ berschriebenen Entwurf vom 10. Juni 1887 in 16 Punkten. Er setzt dort bei der Kritik der „christlichen Moral-Hypothese“ an, um dann Punkt fr Punkt seine Konzepte der „unwahren“ „Moral-Interpretation“, des „Nihilismus“, der „ewigen Wiederkehr“, der berwindung des „moralischen Gottes“, des „Willens zur Macht“, der nihilistisch zum „W i l l e n i n s N i c h t s“ geworden sei, und des dagegen zu richtenden „a k t i v e n N i h i l i s m u s“ skizzenhaft miteinander zu verknpfen. Aber am Ende fragte er sich: „Welche werden sich als die S t r k s t e n dabei erweisen?“ und antwortete: Die Mßigsten, die welche keine extremen Glaubensstze n ç t h i g haben, die, welche einen guten Theil Zufall, Unsinn nicht nur zugestehen, sondern lieben, die welche vom Menschen mit einer bedeutenden Ermßigung seines Werthes denken kçnnen, ohne dadurch klein und schwach zu werden: die Reichsten an Gesundheit, die den meisten Malheurs gewachsen sind und deshalb sich vor den Malheurs nicht so frchten – Menschen die i h r e r M a c h t s i c h e r s i n d, und die die e r r e i c h t e Kraft des Menschen mit bewußtem Stolze reprsentiren. (N 1887, 5[71], KSA 12.211 – 217 / N VII 3, S. 24)
Aber das waren Menschen, deren „Ideal“ er zuletzt im V. Buch der FW umrissen hatte, 120 Vgl. den Brief an Overbeck, 7. April 1884, KGB III/1, Bf.504: „Beim Durchlesen von ,Morgenrçthe‘ und ,frçhlicher Wissenschaft‘ fand ich brigens, daß darin fast keine Zeile steht, die nicht als Einleitung, Vorbereitung und Commentar zu genanntem Zarathustra dienen kann. Es ist eine T h a t s a c h e, daß ich den Commentar v o r dem T e x t gemacht habe – –“. Warum, wie Groddeck, Die „Neue Ausgabe“ der „Frçhlichen Wissenschaft“, 194, schreibt, „der eine, zu offensichtliche Zugang zum Zarathustra-Text mit dem Schluß des ,Sanctus Januarius‘ jetzt wieder verdeckt werden“ sollte, erschließt sich mir nicht.
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das Ideal eines Geistes, der naiv, das heisst ungewollt und aus berstrçmender Flle und Mchtigkeit mit Allem spielt, was bisher heilig, gut, unberhrbar, gçttlich hiess; fr den das Hçchste, woran das Volk billigerweise sein Werthmaass hat, bereits so viel wie Gefahr, Verfall, Erniedrigung oder, mindestens, wie Erholung, Blindheit, zeitweiliges Selbstvergessen bedeuten wrde; das Ideal eines menschlich-bermenschlichen Wohlseins und Wohlwollens, das oft genug u n m e n s c h l i c h erscheinen wird, zum Beispiel, wenn es sich neben den ganzen bisherigen Erden-Ernst, neben alle Art Feierlichkeit in Gebrde, Wort, Klang, Blick, Moral und Aufgabe wie deren leibhafteste unfreiwillige Parodie hinstellt (FW 382/20.1.2.).
So kçnnte auch der Gedanke der ewigen Wiederkunft ein extremer Glaubenssatz sein, den frçhliche Geister nicht nçtig haben. Nietzsche hat das Lenzer Heide-Notat, wie seine Neuedition in N VII 3, S. 13 – 24, zeigt, kaum mehr bearbeitet, er hat nichts davon verçffentlicht. Die GM, die er gleich anschließend sehr rasch niederschrieb, bringt die ewige Wiederkunft und auch den bermenschen (der im Entwurf schon fehlt) nicht mehr ins Spiel, und Nietzsche hat in der Folge ganz auf eine Systematisierung seiner Gedanken verzichtet. Im Anschluss an das Lenzer Heide-Notat finden sich in Nietzsches Notizbuch eine Kostenaufstellung fr Lebensmittel, Wohnung, Barbier und ein berschlag seiner Finanzen, Briefentwrfe und Plne fr seinen Aufenthalt von Herbst 1887 bis Herbst 1888. Im V. Buch der FW erreicht Nietzsches Philosophieren den Gipfel seiner befreienden Frçhlichkeit und seine Kunst des Aphorismus ihre volle Reife und grçßte Dichte. Sein zuvor nach dem Vorbild Voltaires in viele Richtungen weisendes Philosophieren konzentriert sich, strafft sich, zielt nun auf die grundlegenden Fragen; Nietzsche erlaubt sich keinerlei Entspannungen, Abschweifungen, Beilufigkeiten mehr; unter seinen Aphorismen-Bchern ist das V. Buch der FW das prgnanteste. Nach der Verabschiedung seiner „dicken Irrthmer und Ueberschtzungen“, mit denen er anfangs „als H o f f e n d e r auf diese moderne Welt losgegangen“ sei (FW 370), nach grndlichen Erprobungen der Form des AphorismenBuchs, nach dem Versuch einer philosophischen Lehrdichtung und nach seiner großen Metaphysik- und Moral-Kritik in JGB gibt er eine besonnene, nchterne und heitere Orientierung ber sein Philosophieren, bevor er mit immer schrfer zugespitzten Streitschriften auf durchdringende Wirkung zielt. Im V. Buch der FW stellt er seine kritischsten Fragen und findet zugleich zur ausgewogensten Gerechtigkeit auch fr das, was er davor und danach am hrtesten angriff, den Glauben in der Wissenschaft, in der Moral und in der Religion. Und diese neue Orientierung aus befreiender Frçhlichkeit ist heute am fruchtbarsten weiterzudenken.
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2. Nietzsches befreiende ,frçhliche Wissenschaft‘
2.5. Interpretationen zum Werk Die frçhliche Wissenschaft und seinem V. Buch Im Mittelpunkt der Interpretationen der FW standen die Bcher I-IV und bei ihnen wiederum die Aphorismen Nr. 125 („D e r t o l l e M e n s c h“) und Nr. 341 („D a s g r ç s s t e S c h w e r g e w i c h t“). Pierre Klossowski, Sur quelques thmes fondamentaux de la „Gaya Scienza“, legte seiner Nietzsche-Interpretation (vgl. RLN, 21 – 28) wohl vor allem Texte aus der FW, auch aus dem V. Buch, zugrunde, bersetzte und edierte sie, interpretierte sie aber nicht als ganze. – Gianni Vattimo, Introduzione, entwarf von Heidegger und Lçwith her ihren Interpretationsrahmen, fokussierte dann wieder auf FW 125 und FW 341; FW V ließ er beiseite. – Giorgio Colli, Nachwort, wrdigte mit souverner Kennerschaft und feinem Sinn fr Nietzsches Nuancen in Ton und Komposition zwar die ersten IV Bcher als einen Hçhepunkt in Nietzsches Schaffen. Sie zeichneten sich aus durch die „Distanz des Genesenen, das Fehlen von Schmhungen“, bedeuteten „einen magischen Augenblick der Ausgewogenheit“ in Nietzsches Werk, „seine einzige Erfahrung in vçlliger ,Gesundheit‘“, seien „Nietzsches gelungenster Versuch philosophischer Mitteilung“, ein „souvernes, ganz leichtes In-der-SchwebeBleiben“. Im V. Buch konnte Colli freilich nur noch schwchere „Zustze“ dazu sehen. – Dabei beließ es auch Walter Kaufmann, Translater’s Introduction, 15 („Book V, written after Zarathustra and Beyond Good and Evil, and added only in the second edition, picks up themes introduced earlier“), ebenso Renate Reschke, Essay, 392 (im „nachtrglichen V. Buch“ sei „die Position des Ausgleichs verlassen“ und der „Ton der Polemik“ werde „aggressiv“). – hnlich urteilten Ralph-Rainer Wuthenow, Nachwort, 314, der eine „absichtsvoll ungeordnete Folge der Nietzscheschen Erçrterungen“ vermutete, und Walter Gebhard, Nachwort, durch dessen nun stark biographisch akzentuiertes, aber auch die beigefgten Gedichtsammlungen eigens wrdigendes Nachwort zur FW der Verlag Krçner 1986 das Baeumlersche ersetzte; auch er konnte im V. Buch keine „wohlkomponierte“ Ordnung erkennen (340). – Das nderte sich mit Richard Schacht, Nietzsche’s Gay Science. Er fand nicht nur in der FWals ganzer „fundamental coherence“ (70) in der Thematik der Bestimmung und Steigerung des Menschen nach dem ,Tod Gottes‘, sondern auch im V. Buch eine besondere Dichte und Schlagkraft. Er bildete auch bereits thematische Aphorismenketten von der Art, wie wir sie vorschlagen werden (3.4.). Wir sehen den Schwerpunkt der FW und besonders ihres V. Buchs jedoch nicht in einer (wenn auch noch so natrlichen und frçhlichen) philosophischen Anthropologie, die Schacht zugestandenermaßen mehr behauptet als aufweist, sondern in der Befreiung des Philosophierens von scheinbar vorgegebenen Bindungen. – Eine wichtige Rolle spielte das V. Buch auch bei Lawrence Lampert, Nietzsche and Modern Times: Nachdem Platon fr die Philosophie das Paradigma der Mathematik und Bacon und Descartes das der Physik inauguriert htten, habe Nietzsche besonders in FW 374 das Paradigma der Interpretation zur Begrndung des Wissens formuliert. – Michael Tanner, Nietzsche, gab in seiner kurzen Einfhrung zu Nietzsche der FW zwar eine Sonderstellung, weil Nietzsche sich hier traue, „ber die unzhligen Andeutungen seiner zwei frheren Bcher [gemeint sind MA und M] hinauszugehen, jedoch noch ohne das prophetische Gewicht zu tragen, das die Autorschaft des Zarathustra ihm auferlegte.“ Hier werde „ein
2.5. Interpretationen zum Werk Die frçhliche Wissenschaft und seinem V. Buch
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umfassenderes Verstndnis sprbar fr das, was [Nietzsche] will“ (57). Zugleich erreiche Nietzsche eine neue schriftstellerische Vollkommenheit: „Die ersten vier Bcher von FW bilden eine ansteigende Kurve in puncto Brillianz und Eindringlichkeit“ (59). FW 290 („E i n s i s t n o t h. – Seinem Charakter ,Stil geben‘“) stellte Tanner in den Mittelpunkt seiner ganzen Nietzsche-Interpretation. Doch das V. Buch, in dem weit deutlicher wird, ,was Nietzsche will‘, und in dem er, nach ZA, neue stilistische und kompositorische Hçhen erreicht, blieb nun wiederum beiseite. – Ebenso bei Marco Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis, dessen umfassende Monographie Nietzsches philosophischer Entwicklung von M bis ZA und damit nur den Bchern I-IV der FW gewidmet war. – Auch Jçrg Salaquarda, der sehr bewusst die Aufmerksamkeit auf die FW gelenkt und in den NSt 26 (1997) eine Reihe von Abhandlungen zu ihr herausgegeben hat, ging in seinem eigenen Beitrag „Die Frçhliche Wissenschaft zwischen Freigeisterei und neuer ,Lehre‘“ (166 – 183) nicht auf das V. Buch ein. – Sossio Giametta, Il quinto libro della „Gaia scienza“, widmete ihm eine eigene Abhandlung, referierte jedoch lediglich einige Themen einiger seiner Aphorismen. – Higgins, Comic Relief, beschrnkte sich wieder bewusst auf die Bcher I-IV, um deren Einheit deutlich zu machen, orientierte sich dann aber doch vor allem an den berhmten Themen ,Gott ist tot‘ (FW 125) und ,ewige Wiederkunft‘ (FW 341). „Part V, like Nietzsche’s other late works, engages in more sustained argumentation and oppositional polemic than his earlier aphoristic works, including the original edition of The Gay Science.“ (5) – Auch Figal, Nachwort, schien „das fnfte Buch in seiner Grundstimmung dsterer“, wenn auch „die missionarischen, rechthaberischen Tçne“ des spteren Werks hier noch fehlten. Die „Freiheit des Blicks, der Transparenz der Gedanken, der Leichtigkeit und Eleganz philosophischer Artikulation“ komme in der FW zu ihrem souvernsten Ausdruck, sie sei „vielleicht das klarste philosophische Buch der Moderne berhaupt“. – David B. Allison, Reading the New Nietzsche, wies eindringlich auf die Bedeutung der schriftstellerischen Form der FW hin („dynamic play of successively experimental events“, 75), konstatierte allerdings einen „general lack of organization“ in „the disconnected series of short aphorisms“, die langen Abstnde von Aphorismen zu denselben Themen und „the lack of a guiding narrative structure and argument“ (xi). So seien die Leser stndig herausgefordert, ihre eigenen Interpretationsentscheidungen zu treffen. – Zuletzt hat Monika M. Langer, Nietzsche’s Gay Science, all dies bestritten und einen Fhrer durch FW vorgelegt, in dem sie die Inhalte der Aphorismen aller fnf Bcher so referiert, dass sie einen mçglichst konsequenten Gedankengang ergeben, dies freilich ohne Rcksicht auf die schriftstellerische Gestaltung der Aphorismen und ohne dass die angebliche gedankliche Konsequenz immer deutlich wrde: FW ist auch fr Langer „multifacetted, creative“ (xvii), also gerade nicht linear und logisch darstellbar. Sie teilt die fnf Bcher schwer nachvollziehbar in 24 Kapitel ein, ohne sie mit thematischen Titeln zu versehen, und unterstellt dabei drei Hauptthemen, die die Komplexitt der FW, in die sie einfhren will, von vornherein reduziert: „the de-deification of nature, the world, morality, and knowledge; the naturalization of ourselves; and the beautification of our lives.“ (xv) Rtsel, die Nietzsche aufwirft, werden kaum beachtet, noch weniger gelçst, frhere Forschungen werden, mit Ausnahme der Kaufmanns, selten bercksichtigt, Anstçßiges aus frauenrechtlicher Sicht dagegen laufend moniert. – Auch Julian Young, Friedrich
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2. Nietzsches befreiende ,frçhliche Wissenschaft‘
Nietzsche, sieht den Philosophen im V. Buch der FW „at the height of his powers“ (439). Er zieht wiederum einige thematische Linien quer durch die Aphorismen, freilich ohne Rcksicht auf deren Abfolge, ihre schriftstellerische Form und so ebenfalls ohne ihre Tiefen und Untiefen zu beachten (439 – 449). Frhere Forschungen werden auch von ihm nicht bercksichtigt. – Zu erwhnen sind schließlich die Arbeiten von Kçhler, Schobinger, Schulte und Niemeyer. Joachim Kçhler, „Die Frçhliche Wissenschaft“, liebugelte schon hier mit Nietzsches „Geheimnis“, das hier noch eines des Schreibens sein soll, und ging daraufhin Nietzsches Leben durch, handelte dabei kaum von der FW als Werk. – Jean-Pierre Schobinger, Miszellen zu Nietzsche, stellte feinsinnige Beobachtungen an zum Motto der zweiten Ausgabe („Ich wohne in meinem eigenen Haus …“), zur „Unausschçpfbarkeit des Sagens“ in den Aphorismen-Bchern (und besonders in FW 125), zur „Apophantik des aphoristischen Doppelgesichts“ (doppelte und mehrfache Ebenen und Lesarten, Verweisung des Gesagten auf Ungesagtes, exemplifiziert an der Vorrede zur zweiten Ausgabe und FW 299), zu „Nietzsches Distanznahme von der aphoristischen Schreibweise“ – mit der merkwrdigen These, der Gedanke der ewigen Wiederkehr habe Nietzsche von der „Repetition“ im „unentwegten Abfassen von Aphorismen“ (71) abgebracht, indem er zur „Versammlung“ aufrufe (78). Das V. Buch sei dann „das Werk des Sicheinverleibenwollens des Gedankens der ewigen Wiederkunft“ (73), wofr freilich wenig spricht. – Gnter Schulte, Nietzsches Morgenrçthe und Frçhliche Wissenschaft, legte engagierte Interpretationen zu ausgewhlten Aphorismen aus M und FW, einschließlich FW V, vor in der Absicht, die „gay science“ als Wissenschaft zur Verteidigung der Homosexualitt auszulegen. – Christian Niemeyer, Auf die Schiffe, ihr Pdagogen!, unternahm einen Streifzug durch die Bcher I-IV als Anregung fr Pdagogen, wobei er sich vor allem an Wilhelm Schmids Lebenskunst-Projekt orientiert; das V. Buch bleibt am Rande. – Mit Piazzesi/Campioni/ Wotling (Hg.), Letture della Gaia scienza/Lectures du Gai savoir (2010) hat nun die 2008 gegrndete Groupe International de Recherches sur Nietzsche/Gruppo Internazionale di Richerche su Nietzsche/Internationale Nietzsche-Forschungsgruppe (GIRN) einen umfassenden Band von Interpretationen zu Aphorismen und Themen der FW einschließlich ihres V. Buchs vorgelegt. Darin hat Patrick Wotling, La tragdie et ,nous‘, das V. Buch eingehend gewrdigt. Es sei, wie schon JGB, weit strker durchgestaltet als die ersten IV Bcher der FW. Wotling stellt in ihm zwei Grundstimmungen fest, Verdsterung und Erheiterung, und fragt nach seinem besonderen Gegenstand und seiner spezifischen Logik. Er findet beide in der Einschreibung der Logik einer frçhlichen Wissenschaft in die allmhlich dmmernde Einsicht in den Nihilismus, mit der das tragische Zeitalter Europas beginne. Daraus ergben sich fr Nietzsche zwei Hauptthemen: die Analyse des Nihilismus und der Aufgabe des Philosophen. Letztere sieht Wotling mit Nietzsche darin, sich eine ,große Gesundheit‘ zu erwerben (FW 382). Nach Andrea Spreafico, Die frçhliche Wissenschaft, hat Nietzsche in den ersten IV Bchern der FW die Spannung auf den Beginn von ZA in FW 342 hin gesteigert, um sie dann in der Heiterkeit des V. Buchs zu lçsen. – Weitere Beitrge zum V. Buch werden wir bei der Interpretation der jeweiligen Aphorismen bercksichtigen.
3. Nietzsches Anforderungen an seine Leser: Verstehen ohne Sicherheiten 3.1. Nietzsches Erwartungen an eine Philologie seiner Philosophie121 3.1.1. Geduld fr philologische berraschungen Nietzsche hat in zwei exponierten Aphorismen klargestellt, wie er zu lesen sei. Sie stammen aus der Entstehungszeit des V. Buchs der FW 1886/87. Im Schluss-Aphorismus der neuen Vorrede zu M verlangt er, ihn geduldig lesen zu lernen:122 Er sage „langsam“, was er zu sagen habe, und erwarte, dass er auch „langsam“ gelesen werde. Jeden, der „,Eile hat‘“, wolle er zur Verzweiflung bringen. Nur Leser, die „sich Zeit lassen“, sich seinen Schriften zurckgezogen und geduldig widmen und sich auf ihre „feine vorsichtige Arbeit“ einlassen kçnnen, sollen es mit ihnen aushalten. „Fein“ sind in Nietzsches Sinn feine Unterschiede, Unterscheidungen von Unterscheidungen bis hin zu feinsten „Nuancen“, die nicht mehr auf den Begriff zu bringen, sondern eine Sache des „Geschmacks“ sind.123 „Vorsicht“ ist das Rechnen mit berraschungen; Nietzsche setzt sie in Spannung zu einer „Arbeit“, die mit „Hast“ betrieben wird, „mit allem gleich ,fertig werden‘ will“. Geduldige Philologie dagegen, von der er herkomme, werde „nicht so leicht irgend womit fertig“, wolle gar nicht auf Fertiges, Definitives, Abschließendes hinaus, sondern gehe „Hintergedanken“ nach, halte „Thren“ offen, hinter denen sich noch anderes, Unvermutetes zeigen kann. Sie lese nicht nur mit den „Augen“, sondern auch mit „zarten Fingern“, nehme die Worte auch in ihrer kçrperlichen und sinnlichen Ausstrahlungskraft wahr, die auf wieder Neues, berraschendes verweist. 121 Frhere Fassungen dieses Kapitels erschienen unter den Titeln Stegmaier, Nach Montinari. Zur Nietzsche-Philologie, und Stegmaier, Nietzsche im 21. Jahrhundert. 122 Zur Interpretation vgl. Blondel, La patience de Nietzsche, und van Tongeren, Reinterpreting Modern Culture, 95 – 100. 123 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz, 348 u. ç. Wotling, Nietzsche et le problme de la civilisation, der ebenfalls vom Lesen und Verstehen Nietzsches handelt, setzt ein mit Nietzsches Satz „ich bin eine nuance“ (EH WA 4).
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Solcherart „vollkommene Leser und Philologen“ wnschte sich Nietzsche, so msste man ihn lesen „l e r n e n“. Nietzsche hat die Philologie, sein ursprngliches Metier, zunchst hoch geschtzt, dann aber, als er sich von ihr lçste, scharf abgewertet: „P h i l o l o g e n, die von ihrer Wissenschaft reden, rhren nie an die W u r z e l n, sie stellen nie die Philologie als Problem hin.“ So sei die „A u f g a b e f r d i e P h i l o l o g i e: Untergang.“ (N 1875, 5[135] u. [145], KSA 8.74 u. 77). Schließlich erweiterte er ihren Begriff von der Klassischen Philologie, die er zunchst im Blick hatte, zur „K u n s t , z u l e s e n“ berhaupt (MA I 270). Philologie, notierte er sich, „ist die Kunst, in einer Zeit, welche zu viel liest, lesen zu lernen und zu lehren. Allein der Philologe liest langsam und denkt ber sechs Zeilen eine halbe Stunde nach. Nicht sein Resultat, sondern diese seine Gewçhnung ist sein Verdienst.“ (N 1876, 19[1], KSA 8.332) Doch Philologen, die „werthvolle Bcher wirklich zu benutzen wissen“, seien selten; „es werden wohl die sein, welche selber solche Bcher machen oder machen kçnnten.“ (FW 102) Die „Kunst, gut zu lesen,“ aber sei, przisierte er zuletzt, „in einem sehr allgemeinen Sinne“, die „Thatsachen ablesen [zu] kçnnen, ohne sie durch Interpretation zu flschen, ohne im Verlangen nach Verstndniss die Vorsicht, die Geduld, die Feinheit zu verlieren“ (AC 52), sich soweit wie mçglich mit eigenen, sei es bedachten, sei es unwillkrlichen, Interpretationen zurckzuhalten. Dies wre dann das Seltenste, also Schwerste.124 3.1.2. Mut zu philosophischen berraschungen Der wenig spter auf den Schluss-Aphorismus der Vorrede zu M folgende Aphorismus Nr. 381 aus dem V. Buch der FW „Z u r F r a g e d e r Ve r s t n d l i c h k e i t“ lsst sich als Pendant zu jenem lesen (15.3.3.).125 Er handelt von der „Krze“ von Nietzsches Texten. Sie werde von der „Sache“ erzwungen, der „Scheu und Kitzlichkeit“ von Gedanken, vor denen man zurckschrecke wie vor kaltem Wasser, so dass man sie nur kurz berhren kçnne: sie seien „Wahrheiten“, „die man b e r r a s c h e n oder lassen muss“. So brauchen Leser von Nietzsches Schriften nicht nur Geduld fr philologische berraschungen, sondern auch Mut zu philosophischen berraschungen. Der Mut, das eigene Denken in Frage zu stellen, ist noch weniger als Geduld „von ,irgend Jemand‘“ zu erwarten. Philosophische 124 Vgl. Benne, Nietzsche und die historisch-kritische Philologie, bes. Kap. 6. 125 Zur Interpretation vgl. Stegmaier, Zur Frage der Verstndlichkeit.
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berraschungen, wie Nietzsche sie dem Leser bietet, gefhrden Denkgewohnheiten, ohne die man nicht leben kann, die einer „Noth“ entspringen (FW 345) und mehr als denknotwendig: lebensnotwendig sind. Sie berhren die Selbsterhaltung. Lebensnotwendigkeiten aber sind nicht wahr oder falsch, sie begrenzen das Denken, bevor es sich berhaupt auf wissenschaftliche, logische Notwendigkeiten einlassen kann, sie bestimmen die Spielrume von Denknotwendigkeiten. Je enger diese Spielrume sind, desto weniger kann man sich auf Nietzsche einlassen. Und Nietzsche will auch niemand, schreibt er, „die Unschuld“ verderben, sondern jeden, der nur in philosophischer Unschuld leben kann, in ihr noch „begeistern“. Von „Eseln“ und „alten Jungfern beiderlei Geschlechts“ wolle er „n i c h t verstanden werden“. Dass sie ihn nicht verstehen, nicht verstehen mssen, soll sein „Stil“ bewirken: er schaffe durch seine „feineren Gesetze“ „Distanz“, verbiete „,den Eingang‘, das Verstndniss“ – er schließt die einen Leser ein, die andern aus, er „whlt“ sie, selegiert sie (FW 381). Wer seine gefhrlichen, aber nur kurz aufblitzenden Wahrheiten nicht ertragen kann, soll sie ohne weiteres berhçren. Nietzsche sichert sie darum auch nicht nach den Gewohnheiten der Wissenschaft ab, verzichtet gnzlich auf wissenschaftliches Beiwerk, auf vorausgeschickte Thesen und abschließende Schlussfolgerungen, auf kohrente und hierarchisch geordnete Argumente, auf Angaben von Quellen und Einordnungen in Forschungsfelder, auf gelehrte Auseinandersetzungen mit abweichenden Forschungsmeinungen (stattdessen bedient er sich meist der Polemik), auf Anmerkungen und selbst auf eine feste Terminologie. Auch (und vielleicht gerade) Wissenschaftler kçnnen „Esel“ sein, kçnnen von vornherein als „Abenteuer“ zurckweisen, was ihnen nach ihren Denkgewohnheiten nicht geheuer ist. Nietzsches gefhrliche „Wahrheiten“ werden noch immer von den meisten, auch von Nietzsche-Kennern, als abenteuerlich empfunden und als solche zurckgewiesen; der Mut fr seine philosophischen berraschungen ist noch immer selten und darum seinerseits berraschend. 3.1.3. Verzicht auf sichere Bestnde Nimmt man die beiden Aphorismen zusammen, so verlangt Nietzsche, Langsamkeit im Lesen mit „Geschwindigkeit“ und „grçsster Geschmeidigkeit“ im Denken (FW 381) zu verbinden, gleichsam im Lesen geduldig auf der Lauer zu liegen, um im Denken rasch zupacken zu kçnnen. Mit dem Mut zu berraschungen, zu Abenteuern, zu unvermutet und gefhrlich Neuem im Denken verzichtet man auf alle sicheren Bestnde, auf
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alles Zeitlose auch im eigenen Verstehen und Erkennen. Nietzsche setzt auch kein ,reines‘ Subjekt des Erkennens mit einem ,reinen‘ Selbstverstndnis mehr voraus, nach dem Eingangssatz der Vorrede zur GM: „Wir sind uns unbekannt, wir Erkennenden, wir selbst uns selbst“. Der Grund dafr liegt, so Nietzsche, in der Erkenntnis selbst. Erkennende vergessen ber ihrer Suche nach Erkenntnissen notwendig sich selbst, verlieren sich aus dem Blick, werden blind fr sich selbst, sie mssen, um Erkenntnisse „,heimzubringen‘“, ihre „,Erlebnisse‘“ ausblenden, die sie fr sie einstimmen, und haben so weder „Ernst“ noch „Zeit“ dafr. So bleiben sie sich „nothwendig fremd“ (GM Vorrede 1). Wenn sie aber, wie Nietzsche, darauf reflektieren, werden sie auch durch sich selbst berrascht, begegnen sich selbst als anderen. Nietzsche nimmt dies vorbehaltlos auch fr sein eigenes Philosophieren ernst. Er versteht jeden Gewinn an Zeitdistanz als Gewinn an Selbstdistanz und diesen als Gewinn an Selbstkritik oder Selbstberwindung und damit als Gewinn an Spielrumen des Philosophierens (vgl. JGB 257). „berwindung“ ist die Selbstkritik insofern, als fr jeden, auch fr Nietzsche, zumindest zeitweise Selbstfestlegungen lebensnotwendig sind, sofern jeder ein ,Esel‘ ist. 3.1.4. Verzicht auf methodische Aprioris Das gilt gerade fr wissenschaftliche Leser. Eine Interpretation, die Nietzsches Philosophieren gerecht werden will, muss nicht nur auf sachliche, sondern auch auf methodische Aprioris verzichten. Sie muss auf unvermutete Entdeckungen mit unvermuteten Methoden antworten, bis dahin, dass sie vieles schlicht erraten muss, und Nietzsche legt es mit Vorliebe darauf an, sich erraten zu lassen.126 Man kann dabei vor den Texten immer auch versagen und voller ,Unschuld‘ nicht einmal bemerken, dass man versagt. Nietzsche will, wie er in JGB 27 vorausschickt, „schon fr den guten Willen zu einiger Feinheit der Interpretation von Herzen erkenntlich“ sein. Guten Freunden, die freilich „immer zu bequem sind und gerade als Freunde ein Recht auf Bequemlichkeit zu haben glauben“, gesteht er zudem „von vornherein einen Spielraum und Tummelplatz des Missverstndnisses“ zu – und erschreckt sie zugleich mit einer Beleidigung: „so hat man noch zu lachen; – oder sie ganz abzuschaffen, diese guten
126 Vgl. Brotbeck, Nietzsche erraten, 157 – 175.
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Freunde, – und auch zu lachen“.127 Denn eben „,die guten Freunde‘“ – Nietzsche setzt sie in Gnsefßchen – rechnen nicht mehr mit berraschungen, verlassen sich ,bequem‘ auf die alte Bekanntschaft, als Leser Nietzsches auf ihre ,gute‘ Kenntnis seiner Schriften. Gerade sie kann ihr Verstndnis gefhrden, nmlich dann, wenn sie sich auf bewhrte Methoden und Routinen ihrer Interpretation verlsst. Man wird Nietzsche ,gut‘ nur mit dem Wohlwollen und dem Vertrauen ,guter Freunde‘ lesen kçnnen, darf zugleich aber nicht auf die Freundschaft vertrauen, zu der man von ihm bestndig eingeladen wird. Wer sich sicher glaubt, Nietzsche zu verstehen, luft am meisten Gefahr, ihn misszuverstehen. Er rechnet dann nicht mehr mit berraschungen. 3.1.5. Verzicht auf systematische Einheit Nietzsche macht es sichtlich schwer, seine Philosophie zu interpretieren. Denn Interpretationen werden Interpreten nur ,abgenommen‘, wenn diese sich ihrer einigermaßen sicher sind (das gilt auch fr die Interpretationen, die ich hier vortrage). Und sie mssen mit ihnen auch, sofern sie sie in Aufstze und Bcher fassen, in begrenzter Zeit ,fertig‘ werden. Es ist ihre ,Not‘, sich in ihren Interpretationen zumindest vorlufig festlegen zu mssen. Insofern widerstreben sie schon Nietzsches erklrten Absichten. Das gilt umso mehr fr Interpreten, die seine Philosophie auf ,Lehren‘ festlegen, denen sie sich dann anschließen oder die sie bekmpfen, und am meisten galt es fr den international einflussreichsten aller Nietzsche-Interpreten, Martin Heidegger. Heidegger vor allem hat Nietzsche in die große Tradition der europischen Philosophie gestellt und sie als deren Gipfel und Abschluss verstanden. Er interpretierte seine Philosophie jedoch als „in sich erblindete“ Metaphysik.128 Und er reduzierte sie auf wenige Grundlehren, isolierte sie aus ihren Kontexten, insistierte auf ihrem Zusammenhang in einem traditionellen System und ignorierte weitgehend die signifikanten Formen von Nietzsches philosophischer Schriftstellerei. Jean Granier und Wolfgang Mller-Lauter haben klar gezeigt, dass es sich 127 Vgl. die Vorstufe Nachlass 1885/86, 1[182], KSA 12.51 / N VII 2, S. 79 f. Im Nachlass-Notat spricht Nietzsche (in einer Einfgung in die Notiz) von Beleidigungen („es ist etwas Beleidigendes darin, verstanden zu werden“), im verçffentlichten Aphorismus beleidigt er direkt. 128 Heidegger, Nietzsche, 2.12.
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hier um schlechte Philologie handelte.129 Heideggers Suche nach der systematischen Einheit von Nietzsches Philosophieren in vermeintlich zentralen Lehren ist in der Nietzsche-Interpretation dennoch herrschend geblieben, auch wenn ihr inzwischen weit differenzierter nachgegangen wird.130 Systematische Einheit bedeutet bersichtlichkeit der Interpretation, Ableitbarkeit aus Prinzipien, Allgemeingltigkeit, Vollstndigkeit und damit Endgltigkeit der Ergebnisse. Mit alldem wchst die Gewissheit der Interpretation.131 Doch so schwer in Nietzsches Philosophieren systematische Einheit zu schaffen ist und sie entsprechend strittig bleibt, – schon die Suche nach Gewissheit der Interpretation kçnnte eine Weise sein, es sich mit Nietzsches Texten bequem zu machen. 3.1.6. Verzicht auf den Vorwurf der Ambivalenz und Widersprchlichkeit Soweit Nietzsches Philosophieren systematischen Bemhungen nicht entspricht, ist man versucht, ihm Ambivalenz vorzuwerfen; der Ambivalenz-Vorwurf ist zu einem Dogma der Nietzsche-Forschung geworden. Ambivalenzen sind Zweideutigkeiten, hinter denen Widersprche vermutet werden, die ihrerseits mangelnde systematische Einheit erkennen lassen. Doch Nietzsche hat „Zweideutigkeit“ weder bei andern noch bei sich selbst geduldet; er wollte im Leben wie im Schreiben erklrtermaßen ,unzweideutig‘ sein; verfhrerische Zweideutigkeit warf er dem Christentum und Wagner vor (FW 346; GM III 4).132 Und er hat gezeigt und die 129 Granier, Le problme de la vrit; Mller-Lauter, Nietzsche. Im brigen sttzte sich Heidegger vor allem auf den von Elisabeth Fçrster-Nietzsche und Heinrich Kçselitz herausgegebenen Willen zur Macht, der seit den Neueditionen von Nietzsches Nachlass ebenfalls keinen Bestand mehr hat. Vgl. Stegmaier, [Heideggers] Auseinandersetzung mit Nietzsche. 130 Vgl. insbesondere Richardson, Nietzsche’s System, und Bornedal, The Surface and the Abyss. 131 Vgl. schon Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 797/B 825: Die Vernunft will „in der Vollendung ihres Kreises, in einem fr sich bestehenden systematischen Ganzen, Ruhe […] finden.“ 132 Die Ausnahme ist „D i o n y s o s, jener grosse Zweideutige und Versucher Gott“ (JGB 295). Schon 1950 wandte sich Kaufmann, Nietzsche, 13 – 17 und 84 – 111, gegen Ernst Bertrams Legende vom „typischen Zweideutigen“ und gegen Karl Jaspers’ Drngen auf „Widersprche“, an denen das Denken existenzerhellend „scheitern“ sollte. Zum Umgang mit der ,Widersprchlichkeit‘ Nietzsches in der Forschung vgl. Lçw, Nietzsche, 7 – 19, und Vinzens, Nietzsches Instinktverwandlung, 97 – 110.
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moderne Logik hat besttigt, dass der Satz des zu vermeidenden Widerspruchs nicht, wie Aristoteles es wollte, das sicherste und letzte, voraussetzungslose Prinzip der Philosophie ist. Logische Widersprche kçnnen zudem nur auf Grund bereits allgemeingltig definierter Begriffe entstehen, die Nietzsche nicht schon voraussetzt. So sind Widersprche vom jeweiligen Interpreten konstruierte Widersprche: „Die sogenannten Paradoxien des Autors, an welchen ein Leser Anstoss nimmt, stehen hufig gar nicht im Buche des Autors, sondern im Kopfe des Lesers.“ (MA I 185) So sehr Nietzsche gerade in Philosophien, die Widerspruchsfreiheit beanspruchten, Widersprche aufgedeckt hat – mit dem Risiko, dass sie sich als seine eigenen herausstellten –, so wenig hat er trotz seiner unermdlichen Selbstkritik sein eigenes Denken als widersprchlich betrachtet, hat jedenfalls nicht, auch in seinen Briefen nicht, so von ihm gesprochen. Seine Schriften werden dann ambivalent oder widersprchlich, wenn seine Begriffe aus ihren jeweiligen Kontexten gelçst und ber sie hinweg verallgemeinert werden. Mit dem Vorwurf der Ambivalenz oder Widersprchlichkeit an Nietzsche schafft man sich Spielrume fr eigene Festlegungen seines Philosophierens, an die er, Nietzsche, sich nicht gehalten habe, und entzieht sich damit seinen gezielten Irritationen. Man verfhrt dann wie die „s c h l e c h t e s t e n L e s e r“: „Die schlechtesten Leser sind die, welche wie plndernde Soldaten verfahren: sie nehmen sich Einiges, was sie brauchen kçnnen, heraus, beschmutzen und verwirren das Uebrige und lstern auf das Ganze.“ (MA II, VM 137) Nietzsches Denken kçnnte jenseits konstruierter Systeme und konstruierter Widersprche auf eine Weise stimmig sein, die nicht den traditionellen Kriterien entspricht und erst noch zu erschließen ist. Nach dem hermeneutischen Grundsatz, Widersprche nicht im Text, sondern in der eigenen Interpretation zu suchen, wird man Nietzsches Texten nur gerecht werden, wenn man versucht, sie so zu interpretieren, dass keine Ambivalenzen und Widersprche in ihnen auftauchen. Scheitert man damit, kann das durchaus an Mngeln Nietzsches, aber auch an Mngeln der eigenen Interpretation liegen. 3.1.7. Kunst der Auslegung Nietzsche hat am Ende der Vorrede zur GM, die dem Bedrfnis nach systematischer Einheit am weitesten entgegenkommt, darauf bestanden, dass es sich auch hier um ein Aphorismen-Buch handle. Er verlangt fr jeden ihrer Aphorismen eine „Kunst der Auslegung“:
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Ein Aphorismus, rechtschaffen geprgt und ausgegossen, ist damit, dass er abgelesen ist, noch nicht ,entziffert‘; vielmehr hat nun erst dessen A u s l e g u n g zu beginnen, zu der es einer Kunst der Auslegung bedarf. Ich habe in der dritten Abhandlung dieses Buchs ein Muster von dem dargeboten, was ich in einem solchen Falle ,Auslegung‘ nenne: – dieser Abhandlung ist ein Aphorismus vorangestellt, sie selbst ist dessen Commentar. Freilich thut, um dergestalt das Lesen als K u n s t zu ben, Eins vor Allem noth, was heutzutage gerade am Besten verlernt worden ist – und darum hat es noch Zeit bis zur ,Lesbarkeit‘ meiner Schriften –, zu dem man beinahe Kuh und jedenfalls nicht ,moderner Mensch‘ sein muss: d a s W i e d e r k u e n… (GM Vorrede 8)
Im vorausgehenden Aphorismus spricht Nietzsche von „der menschlichen Moral-Vergangenheit“ als einer „schwer zu entziffernden Hieroglyphenschrift“. Er fordert dazu auf, seine Texte so zu lesen, als wren sie in einer gnzlich fremden Schrift, in Hieroglyphen geschrieben. Eine solche Entzifferung braucht Zeit und Raum. Das „Muster“ soll die ganze III. Abhandlung der GM, sie soll ein einziger „Commentar“ ihres Eingangsaphorismus sein. Aber auch dies sagt er in einem Aphorismus, der offenbar erst entziffert werden muss; denn es ist unklar, welchen Text Nietzsche hier interpretiert haben will, das vorausgeschickte Motto aus ZA oder GM III 1. Denn GM III 1 hat er erst nachgetragen, den Text also zum „Commentar“,133 und eben in GM III entwickelt er zum ersten Mal einen fortlaufenden Gedankengang, was gerade ein Kommentar nicht erwarten ließe, kehrt dabei jedoch keineswegs immer wieder zu seinem Text zurck, was ein Kommentar verlangen wrde. Nietzsche weist spter selbst darauf hin: „Jedes Mal ein Anfang, der irre fhren s o l l , khl, wissenschaftlich, ironisch selbst, absichtlich Vordergrund, absichtlich hinhaltend.“ (EH GM) So kann es sich bei einem ,Kommentar‘ in Sinn Nietzsches und einer „Kunst der Auslegung“, wie er sie verlangt, nicht um „das redliche Commentieren und Paraphrasieren unserer philologischen Lehrer“ handeln (BA 2, KSA 1.687), sondern um einen Kommentar wiederum in berraschendem, hochgradig irritierendem Sinn. So wie Nietzsche den Begriff gebraucht, kann „eine passende Musik“ „der richtigste und deutlichste Commentar“ zum „geheimsten Sinn“ einer Szene sein (GT 16, KSA 1.105), „eine Art philologischen Commentars, welcher die immer f r e i e P h a n t a s i e d e s Ve r s t e h e n s mit Bann belegt“, der erklrt, aber „keine Zeit lßt; berdies in einer schweren Sprache, die wieder eine E r k l r u n g fordert.“ (N 1878, 30[111], KSA 8.541) Das gelte auch fr 133 Vgl. Montinari, Kommentar, KSA 14.380. Zur Frage, welcher Text kommentiert wird, vgl. Stegmaier, Nietzsches ,Genealogie der Moral‘, 92 f., und Wilcox, That Exegesis of an Aphorism in Genealogy III.
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„all unser sogenanntes Bewusstsein“, das ebenfalls als „ein mehr oder weniger phantastischer Commentar ber einen ungewussten, vielleicht unwissbaren, aber gefhlten Text“ zu verstehen ist (M 119). Solche ,Kommentare‘ engen wohl das Verstehen ein, die ,Texte‘ sind von ihnen aber kaum zu unterscheiden. Und es scheint Nietzsche in erster Linie auch gar nicht um ,Inhalte‘ zu gehen, sondern um die ,Form‘ der Texte, ihre Stimmung, ihre Dynamik, ihre ,Musik‘. Wie die FW kommentiert er in EH auch die GM ,musikalisch‘, in einem wiederum ungewohnten Sinn: „Allmhlich mehr Unruhe; vereinzeltes Wetterleuchten; sehr unangenehme Wahrheiten aus der Ferne her mit dumpfem Gebrumm laut werdend, – bis endlich ein tempo feroce erreicht ist, wo Alles mit ungeheurer Spannung vorwrts treibt.“ (EH GM). Eine solche Kunst der Auslegung hat wiederum keine verlsslichen Regeln. Wo nichts von vornherein, a priori, feststeht, kçnnen Regeln leicht gerade das marginalisieren, was die Auslegung auslegen will. Schon in HL hatte Nietzsche von der „berhistorischen“ Interpretation der Historie gesagt, sie suche „in aller Mannichfaltigkeit“ die „Allgegenwart unvergnglicher Typen“, „ein stillstehendes Gebilde von unverndertem Werthe und ewig gleicher Bedeutung“, und bersehe dabei, „hellseherisch den Ursinn der verschiedenen Hieroglyphen errathend“, geflissentlich „die Hunderte verschiedener Sprachen“, weiche „der immer neu hinzustrçmenden Zeichenschrift ermdet“ aus: „denn wie sollte [sie] es im unendlichen Ueberflusse des Geschehenden nicht zur Sttigung, zur Uebersttigung, ja zum Ekel bringen!“ Das ermdende Erkennen tçtet ab, was es erkennen will: „Ein historisches Phnomen, rein und vollstndig erkannt und in ein Erkenntnissphnomen aufgelçst, ist fr den, der es erkannt hat, todt: denn er hat in ihm den Wahn, die Ungerechtigkeit, die blinde Leidenschaft und berhaupt den ganzen irdisch umdunkelten Horizont jenes Phnomens und zugleich eben darin seine geschichtliche Macht erkannt. Diese Macht ist jetzt fr ihn, den Wissenden, machtlos geworden: vielleicht noch nicht fr ihn, den Lebenden.“ Was Nietzsche hier von historischen Phnomen sagt, gilt auch von seinen Texten. Um dem „Zwecke des L e b e n s“ zu dienen (HL 1, KSA 1.256 f.), stellt er seine Leser mit seinen Texten vor Situationen, die so berraschend und irritierend wie das Leben selbst sind, und an ihnen kçnnen sie ermessen, wie weit sie sich dem Leben stellen kçnnen. Und so muss auch die ,Kunst der Auslegung‘ ,frçhliche Wissenschaft‘ sein, Wissenschaft, die methodisch vorgeht, sich aber alle methodischen Alternativen offenhlt. Die ,frçhliche Wissenschaft‘, wie er sie im gleichnamigen Werk treibt, ist dann „eine Kunst fr
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3. Nietzsches Anforderungen an seine Leser: Verstehen ohne Sicherheiten
Knstler, nur fr Knstler!“ (FW Vorrede 4). In ihrer Auslegung stçßt jeder frher oder spter an seine Grenze. In seinen Notaten hat Nietzsche die Anforderungen an seine Leser przisiert – und weiter verschrft. Danach werden sie • versuchen mssen zu erraten, was Nietzsche verrtselt hat, „Manches darunter, das fr Oedipus und seine Sphinx fragwrdig genug sein mag“ (N 1885, 37[5], KSA 11.579 f. / W I 6, S. 35), • versuchen mssen zu hçren, was Nietzsche verschwiegen hat, die Nçte, die sich in unterschiedlichen Tonlagen eines Textes verbergen: Man hçrt auch den Schriften eines Einsiedlers etwas von dem Wiederhall {der Oede}, u. {dem etwas von dem} Flstertone {u. scheuem Erstaunen Umsichblicken} der Einsamkeit an: aus seine strksten Worte {aus seinem u Schreie selber} klingt gleichsam noch wie etwas Verschw eine neue und gefhrlichere Art des Verschweigens Art des Schweigens, {Verschweigens} heraus. (N 1885, 37[6], KSA 11.580 / W I 6, S. 34)
•
versuchen mssen aufzulçsen, was Nietzsche aufs ußerste verdichtet hat: Meine Schriften machen Mhe, – – das ist hoffentlich kein Einwand gegen sie? – Man muß, um die a b g e k r z t e s t e Sprache zu verstehn, die je ein Philosoph gesprochen hat, – noch dazu die formelrmste, die lebendste, die am meisten knstlerische – sich der umgekehrten Prozedur bedienen als sonst philosophische Litteratur nçthig macht. Diese muß man c o n d e n s i r e n, man verdirbt sich sonst den Magen, – mich muß man verdnnen, flssig machen, anwssern: man verdirbt sich sonst ebenfalls den Magen. – Das Schweigen ist bei mir ebenso Instinkt als bei den Herrn Philosophen das Schwtzen. Ich bin k u r z: meine Leser selber mssen lang werden, umfnglich werden, um Alles herauf und zusammen zu holen, was von mir gedacht, und von mir hintergedacht worden ist. (erstes Druckmanuskript zu EH Bcher 3, KSA 14.484)
•
und dazu zuerst versuchen mssen, die Kontexte der Probleme zu erkennen und zu verfolgen, die wissenschaftlichen ebenso wie die biographischen: Es giebt andrerseits Voraussetzungen, um hier zu ,verstehn‘, denen nur die Seltensten gewachsen sind: man muß ein Problem an die rechte Stelle zu setzen wissen, will sagen in den Zusammenhang mit den z u g e h ç r i g e n Problemen – und dazu muß man die Winkel, die schwierigeren Gegenden ganzer Wissenschaften und vor allem der Philosophie selbst topographisch gegenwrtig haben. – Zuletzt rede ich nur von Erlebtem, nicht bloß von ,Gedachtem‘; der Gegensatz von Denken und Leben fehlt bei mir. Meine ,Theorie‘ wchst aus meiner ,Praxis‘ – oh aus einer durchaus nicht harmlosen und unbedenklichen Praxis! (erstes Druckmanuskript zu EH Bcher 3, KSA 14.484 f.)
3.2. Methode: Kontextuelle Interpretation
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Nietzsche wollte, mit einem Wort, gelesen weden, „wie gute alte Philologen ihren Horaz lasen.“ (EH Bcher 5) Und er sagte selbst, wie er seinen Horaz las, „artistisch“, wie ein Knstler einen Knstler: Bis heute habe ich an keinem Dichter dasselbe artistische Entzcken gehabt, das mir von Anfang an eine Horazische Ode gab. In gewissen Sprachen ist Das, was hier erreicht ist, nicht einmal zu w o l l e n. Dies Mosaik von Worten, wo jedes Wort als Klang, als Ort, als Begriff, nach rechts und links und ber das Ganze hin seine Kraft ausstrçmt, dies minimum in Umfang und Zahl der Zeichen, dies damit erzielte maximum in der Energie der Zeichen – das Alles ist rçmisch und, wenn man mir glauben will, v o r n e h m par excellence. Der ganze Rest von Poesie wird dagegen etwas zu Populres, – eine blosse Gefhls-Geschwtzigkeit … (GD Alten 1)
Er wollte sich nur in der Kunst zu verstehen geben, in der er sein Denken vortrug. Dem muss die Interpretation so weit wie eben mçglich gerecht zu werden versuchen.
3.2. Methode: Kontextuelle Interpretation Die philosophische Nietzsche-Forschung hat im Lauf von ber hundert Jahren aus zahlreichen Perspektiven bersichten ber Nietzsches Ziele, Themen, leitende Begriffe, Traditionen, Quellen, biographische Motive und Rezeptionen erarbeitet und immer neue systematische Interpretationsmçglichkeiten erprobt. Man war sich dabei zwar, wie vielfltige Arbeiten zeigen, Nietzsches irritierender und faszinierender Kunst philosophischer Schriftstellerei bewusst, in der er sein Denken vortrug und aus der er es verstanden wissen wollte, behandelte sie aber meist um ihrer selbst willen oder sah in ihr sogar schon das Wesen von Nietzsches Philosophie.134
134 Zur umfangreichen lteren philologischen Literatur zu Nietzsches Stilkunst insbesondere in ZA vgl. Masini, Rhythmisch-metaphorische ,Bedeutungsfelder‘, 276 f., Fn. 1, zu den rhetorischen Lektren Richard Rortys, Sarah Kofmans, Hayden Whites und Karl-Heinz Bohrers Ellrich, Rhetorik und Metaphysik, zur Verschmelzung von Stil- und Lebenskunst nach Alexander Nehamas RLN, 178 – 180. Masinis eigene philologische Untersuchungen zur Stilkunst von Nietzsches ZA, zu denen nun der strker philosophisch akzentuierte Beitrag von Gentili, Zarathustra e la musica, gekommen ist, gehçren immer noch zu den hilfreichsten. Auch sie haben jedoch die philologische Interpretation nur an wenigen Stellen konkret fr die philosophische fruchtbar gemacht. Das gilt auch fr die neueren Arbeiten herausragender deutscher Literaturwissenschaftler wie Greiner, Friedrich Nietzsche: Versuch und Versuchung in seinen Aphorismen; Gauger, Nietzsches
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3. Nietzsches Anforderungen an seine Leser: Verstehen ohne Sicherheiten
Bei der philosophischen Interpretation bestimmter Aphorismen und Aphorismen-Bcher wurde die philologische selten bercksichtigt. Nietzsches Aphorismen und Aphorismen-Bcher aber irritieren und faszinieren durch ihre Gedanken und ihre Kunst zugleich, man kann nach Nietzsche beide nicht trennen, nicht einmal unterscheiden. Eben darum bedrfen sie, so zugnglich sie zunchst scheinen, bei nherem Hinsehen und, htte Nietzsche hinzugefgt, Hinhçren der Interpretation. Das scheint in Widerspruch damit zu stehen, dass Nietzsche von guten Lesern fordert, sich mit ,Interpretation‘ so weit wie mçglich zurckzuhalten (3.1.1.). Der Widerspruch lçst sich auf, wenn man den ursprnglichen und Nietzsche noch gegenwrtigen Sinn von ,Interpretation‘ beachtet: lat. ,interpretatio‘ meint nicht Deutung nach eigenen Vorstellungen, sondern ,Verdeutlichung‘ des Sinns dessen, was nicht ohne weiteres verstndlich ist, z. B. fremde Wçrter, Rechtsstze, komplexe Texte. Interpretation soll danach Sinn erschließen und vermitteln, nicht ndern. In guter Hermeneutik nimmt der 2qlgme}r sich so weit wie mçglich zurck. Die Verdeutlichung in Nietzsches Sinn muss auch keine begriffliche sein. Sprache kann auch durch Musik und Musik durch Sprache deutlich, Begriffliches durch Nicht-Begriffliches und umgekehrt verstndlich werden. So hatte es Nietzsche an der griechischen Tragçdie und der Musik Wagners erfahren,135 und so ging er selbst in seiner frçhlichen Wissenschaft vor. Man wird sie deshalb nur dann in ihrem Sinn interpretieren, wenn man sich philologisch, mit der ,Liebe zum Wort‘, auf sie einlsst, um sie philosophisch, mit der ,Liebe zur Weisheit‘, zu verstehen. Philologisch wird man sich dabei auf die Sprachkunst des jeweiligen Textes konzentrieren, philosophisch aber die gedanklichen Kontexte von Nietzsches ganzem Werk offenhalten mssen, ohne sie schon in ein System zu fassen. Man wird nicht Thesen aus Auffassung vom Stil; Gçrner, Nietzsches Kunst; Schlaffer, Das entfesselte Wort; und Detering, Der Antichrist und der Gekreuzigte. 135 Vgl. N 1868/70, 2[10], KSA 7.47 („Die Musik ist eine Sprache, die einer unendlichen Verdeutlichung fhig ist.“) und GT 21, KSA 1.139 („das Apollinische [hat] in der Tragçdie durch seine Tuschung vçllig den Sieg ber das dionysische Urelement der Musik davongetragen und sich diese zu ihren Absichten, nmlich zu einer hçchsten Verdeutlichung des Drama’s, nutzbar gemacht“). Durch die Verdeutlichung des einen durch das andere werde, so Nietzsche, in Wagners Musikdrama ein „Jubel des Erkennens“ freigesetzt: „Weil jeder Vorgang eines Wagnerischen Drama’s sich mit der hçchsten Verstndlichkeit dem Zuschauer mittheilt, und zwar durch die Musik von Innen heraus erleuchtet und durchglht, konnte sein Urheber aller der Mittel entrathen, welche der Wortdichter nçthig hat, um seinen Vorgngen Wrme und Leuchtkraft zu geben.“ (WB 9, KSA 1.489). Nietzsche hielt daran auch fest, nachdem er sich von Wagner gelçst hatte (17.2.5.).
3.2. Methode: Kontextuelle Interpretation
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beliebigen Texten Nietzsches abstrahieren und kompilieren drfen, sondern muss seine Texte in der Form ernstnehmen, die er ihnen jeweils gegeben hat. Dabei darf man gerade dem Irritierenden, Rtselhaften und Verschwiegenen in ihnen nicht ausweichen. Es kçnnte stets das Aufschlussreichste sein. Man darf auch keine abschließenden Ergebnisse erwarten. Man kçnnte es dabei nur mit der Metaphysik zu tun haben, die man selbst in Nietzsches Texte hineintrgt.136 Wie Nietzsche in Abenteuer des Denkens wird man sich furchtlos in Abenteuer der Interpretation seiner Texte begeben mssen, ohne alle Sicherheiten und ohne letzte Gewissheit, sie je vçllig und richtig verstanden zu haben. Einen ersten Versuch der Verdeutlichung eines ganzen Aphorismen-Buchs hat der als Germanist und Philosoph dazu prdestinierte Peter Heller mit dem I. „Hauptstck“ von MA I gemacht, das 34 ebenfalls hçchst gewichtige Aphorismen umfasst.137 Heller schildert in seinem Vorwort, wie die Schwierigkeiten, Nietzsches Aphorismen und ihre Zusammenhnge zu interpretieren, in die Verzweiflung treiben konnten: jeder Aphorismus wird leicht zu einem Labyrinth, in dessen Pfaden, die sich berall auftun, aber nirgendwo wieder zusammen- und schon gar nicht zu einem ins Freie entlassenden Ausgang fhren, man sich leicht verliert. Routinen retten hier nicht; Heller brauchte zum „Kommentar“ des einen Aphorismus 3 Seiten, eines andern eine „Studie“ von 100 Seiten, hatte, wie er schreibt, in „Liebeshaß“ oder „Haßliebe“ (x) stets um Distanz zu den Texten zu kmpfen, was manchmal zu sehr persçnlichen Auseinandersetzungen mit Nietzsche gefhrt habe. Zum Leitfaden nahm er die „Einheit im Widerspruch“ oder „der dynamischen Antithetik oder gegenwendigen Bewegung“, also das Dogma der Ambivalenz und Widersprchlichkeit von Nietzsches Schriften (xii). Er berief sich dabei auf die Antithetik des Apollinischen und Dionysischen in GT. Doch warum sollte die GT das Kompositionsprinzip von MA sein, nachdem Nietzsche eben mit ihrer „Artisten-Metaphysik“ gebrochen hat (GT Versuch 2, KSA 1.13)? Das „Prinzip der Umkehrung“ mag geholfen haben, „genaue Gedankenverbindungen“ der Aphorismenreihe, ihre „dramatisch entwickelte Komposition“ aufzuweisen (xxv), es reichte jedoch, wie Heller selbst eingestand (xxvi), nicht aus und wrde fr die Interpretation des V. Buchs der FW noch weniger gengen. Heller hat sich denn auch zuletzt entschlossen, die Aphorismen als „Individuen“ zu betrachten, „die in nherer oder entfernterer Verwandtschaft zu anderen Aphorismen und Gruppen von Aphorismen stehen“ und Beziehungen „auch ber die Kçpfe der Nahestehenden hinweg“ pflegen. Das gilt auch fr die Aphorismen des V. Buchs der FW. Beide Bcher korrespondieren eng miteinander. Ringt das I. Hauptstck von MA I um die ersten Befreiungen des werdenden Freigeistes, so trgt das V. Buch der FW die reifsten Frchte am Baum des frei gewordenen Geistes. 136 Dieter Henrich, einer ihrer besten Kenner, hat den Sinn der Metaphysik als „Abschlußgedanken“ der Philosophie gekennzeichnet (Henrich, Was ist Metaphysik, 13). In eben diesem Sinn wies Nietzsche die Metaphysik zurck. 137 Heller, „Von den ersten und letzten Dingen“.
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3. Nietzsches Anforderungen an seine Leser: Verstehen ohne Sicherheiten
Je mehr die Abenteuer der Interpretation von Nietzsches Aphorismen und Aphorismen-Bchern in Not und Verzweiflung treiben, desto mehr wird man sich die eigene Frçhlichkeit erhalten mssen. Aber man wird es nicht mit Nietzsches Kunst aufnehmen wollen. Die Interpretation von Nietzsches frçhlicher Wissenschaft muss Wissenschaft bleiben. Wissenschaft bedarf der Gelehrsamkeit, und Gelehrsamkeit, auch Nietzsche-Gelehrsamkeit, hat ihren Preis, den Nietzsche gerade im V. Buch der FW nchtern, genau und mit Respekt bestimmt hat (FW 366/5.4.). Man kann den Preis nun in Rechnung stellen und kann darber auch wieder frçhlich werden – indem man, wozu Nietzsche besonders mit seinen Gedankenstrichen und Auslassungspunkten (NSM 6) eigens einlud, die Texte in den neuen Alternativen, die sie erçffnen, befreit weiterdenkt. Wir werden uns im wissenschaftlichen Spielraum der Verdeutlichung von Nietzsches Texten halten, aber auch frçhliche Freiheiten der Deutung nehmen, um sie fr unsere aktuelle philosophische, wissenschaftliche und alltgliche Orientierung plausibel zu machen. Es geht nicht um einen Kommentar im engeren Sinn einer Zusammenstellung erluternder sprachlicher und sachlicher Hinweise zu bestimmten Stellen und Zusammenhngen, sondern um eine philosophische Interpretation des V. Buchs der FW im Blick auf die Grundfragen der menschlichen Orientierung, die Nietzsche gestellt und berraschend neu gestellt hat. Von hier aus scheint es mir am wenigsten verfremdet und am strksten plausibel zu werden. An manchen Stellen wird die Interpretation dabei auch Aufgaben eines Kommentars bernehmen mssen.138 Zur FW liegen bisher keine Kommentare, nur Leseausgaben bzw. bersetzungen mit wenigen einfhrenden Hinweisen vor: • Walter Kaufmanns bersetzung der FW ins Amerikanische von 1974; ihm ging es vor allem darum, Nietzsche vom Protofaschismus- und Antisemitismus-Verdacht zu befreien; • Renate Reschkes Ausgabe von 1990; sie wollte gegen die sozialistische Ausgrenzung von Nietzsches Philosophie deren kulturkritisches Potential vor Augen fhren; • Marc Sautets 1993 revidierte franzçsische bersetzung von Henri Albert aus dem Jahr 1901; hier sollten vor allem Nietzsches Kenntnisse des Sozialismus und der sozialistischen Literatur belegt und, wo nçtig, ergnzt werden; 138 Einen klassischen Kommentar hat Barbara von Reibnitz, Ein Kommentar, zu GT verfasst, allerdings nur zur Hlfte des Werks, einen strker philosophisch ambitionierten Andreas Urs Sommer, Friedrich Nietzsches „Der Antichrist“ zu AC. GT und AC sind Abhandlungen mit einem (mehr oder weniger) offenkundig fortlaufenden Gedankengang; die typischen Schwierigkeiten der Interpretation von Aphorismen in Aphorismen-Bchern stellen sich hier kaum.
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Peter Ptz’ Ausgabe der FW im Goldmann-Verlag (Mnchen 1994, Neuauflage 1999); Ptz beschrnkte sich auf knappe historisch-philologische Erluterungen; • Patrick Wotlings neue franzçsische bersetzung von 1997 (2. Aufl. 2000); Wotling fgte Erluterungen zur bersetzung, aber auch Hinweise zur philosophischen Interpretation und zuweilen auch auf Quellen bei. Außerdem haben wir den historisch-philogischen Kommentar Montinaris in KSA 14.230 – 277. Ein Nachbericht zur FW ist noch nicht erschienen.
Die ,Kunst der Auslegung‘, die Nietzsche erwartet, kann man in die Formel einer kontextuellen Interpretation fassen. Ihr Schwergewicht muss bei seinen Aphorismen-Bchern der Kontext von Form und Inhalt der Aphorismen sein, das frçhliche Zusammenspiel von Kunst und Wissenschaft. Richard Roos, Regeln zu einer philologischen Lesung Nietzsches, hat dazu schon frh einige wichtige Anregungen gegeben. Nietzsche msse „wortwçrtlich gelesen werden“ (8) – in seinen verçffentlichten bzw. von ihm selbst zur Verçffentlichung vorgesehenen Texten. Dabei mssten die Textkonstitution genau verfolgt, „die unverçffentlichten Fragmente mit den herausgegebenen Texten oder, falls kein vollendeter Text vorhanden, die ersten Entwrfe mit ihrer vollkommensten Gestaltung“ verglichen werden (17). Die Texte seien in der Poetizitt und Musikalitt ihrer Sprache zu erschließen, die Spannung zwischen Titel und Text und jeder Gedankenstrich mssten beachtet, Wortfelder und Metaphern in ihren Kontexten erschlossen, ein Glossarium angelegt, „eine historische und soziologische Studie ber Nietzsches Leser“ erstellt werden (36).139
Auf Begrndungen hat Nietzsche weitgehend verzichtet. Begrndungen sind, so Nietzsche in Bezug auf die Moral, „nur eine gelehrte Form des guten G l a u b e n s“ (JGB 186), fr den man, soweit man es nçtig hat, andere zu gewinnen sucht, um sich selbst in ihnen zu bestrken. Ein „Einsiedler“ wird stattdessen fragen, ob nicht „ein Abgrund hinter jedem Grunde, unter jeder ,Begrndung‘“ liegt (JGB 289). Er wird gerade dort, wo begrndet wird, misstrauisch werden. Ebensowenig gab Nietzsche auf logische Widerlegungen. Gegenber Moralen kçnnen sie moralisch unangebracht sein: „Man thut gut, gemachte Anschuldigungen, selbst wenn 139 Roos war auch der wichtigste Anreger des Editionsprojekts von Colli und Montinari. Vgl. Benne, Nietzsche und die historisch-kritische Philologie, 346 f., und Babich, Zu Nietzsches Stil. – Soweit bisher Werkinterpretationen vorliegen, waren sie, mit Ausnahme von ZA, weitestgehend nur am gedanklichen ,Gehalt‘ interessiert. Kontextuelle Interpretationen einzelner Aphorismen sind ebenfalls noch selten. Ein berzeugendes Beispiel hat Salaquarda, Der ungeheure Augenblick, zu FW 341 gegeben. Ich habe selbst in: Stegmaier, Schicksal Nietzsche?, einen ersten Versuch vorgelegt zu EH Schicksal 1.
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3. Nietzsches Anforderungen an seine Leser: Verstehen ohne Sicherheiten
sie uns Unrecht thun, ohne Widerlegung hinzunehmen, im Fall der Anschuldigende darin ein noch grçsseres Unrecht unsererseits sehen wrde, wenn wir ihm widersprchen und etwa gar ihn widerlegten.“ (MA I 340) Zeigt sich, dass jemand eine Moral zum Leben braucht, wird man sie ihm, so bedenklich sie sein mag, nach Mçglichkeit lassen und geduldig abwarten, bis sie sich von selbst, historisch, erledigt: „Also: ja nicht verhçhnen, beschmutzen, was man endgltig beseitigen will, sondern es achtungsvoll a u f E i s l e g e n, immer und immer wieder, in Anbetracht, dass Vorstellungen ein sehr zhes Leben haben.“ (MA II, WS 211) Verndert sich dann der „allgemeine Geschmack“, wird der Glaube, sei er moralisch oder theoretisch, sthetisch widerlegt: „Meinungen mit allen Beweisen, Widerlegungen und der ganzen intellectuellen Maskerade sind nur Symptome des vernderten Geschmacks und ganz gewiss gerade Das n i c h t, wofr man sie noch so hufig anspricht, dessen Ursachen.“ (FW 39). Eine wissenschaftliche Interpretation muss jedoch das sthetische logisch plausibel machen. Eine kontextuelle Interpretation wird dabei stets von einem bestimmten Text, bei einem Aphorismen-Buch von einem Aphorismus ausgehen. Als mitgeteilter Text ist er nach FW 354 schon eine „Oberflchen- und Zeichenwelt“, die Tiefen verbergen kann und bei Nietzsche in vielen Fllen auch verbergen soll. Oberflchen sind aber auch Fingerzeige auf Tiefen (vgl. M 192, FW 256, EH klug 9), auf etwas, das nicht ausgesprochen wird, vielleicht auch nicht ausgesprochen werden kann und vielleicht auch nicht ausgesprochen werden darf, weil es die, die es zu sehr gefhrden kçnnte, nicht gefhrden soll. Die wissenschaftliche kontextuelle Interpretation muss solche Tiefen zu erschließen versuchen. Dabei weisen Nietzsches Aphorismen rasch ber sich, ihre internen Kontexte, hinaus, zunchst auf unmittelbar benachbarte Aphorismen, in deren Umgebung er sie gestellt hat, dann auf weiter entfernte Aphorismen im ,Buch‘ des Werkes, in das Nietzsche sie eingeordnet hat, dann auf das jeweilige Werk im Ganzen. Im V. Buch der FW haben wir den Glcksfall eines ,Buches‘ innerhalb eines Werkes, das zugleich ein eigenes Werk ist, lange nach den ersten IV Bchern entstanden und ihnen nun buchbinderisch hinzugefgt. Doch auch hier weist das ,Buch‘ weiter auf das Werk im Ganzen, die FW, dann auf das verçffentlichte Werk Nietzsches in seiner Gesamtheit und schließlich auf all das, woran Nietzsche angeschlossen und womit er sich auseinandergesetzt hat. Jeder dieser externen Kontexte kann zu weiteren fhren, die fr das Verstndnis des zu interpretierenden Aphorismus hilfreich sind. Die externen Kontexte kçnnen aber bald so vielfltig werden, dass man die bersicht ber sie verliert. Dann muss man
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die Kontextualisierung abbrechen, wie man es auch in der alltglichen Orientierung tut, was nicht hindert, sie bei neuen Gelegenheiten, hier von den weiteren Aphorismen im jeweiligen ,Buch‘ oder im jeweiligen Werk aus neu aufzunehmen. Man wird so, wie in der alltglichen Orientierung auch, nicht zu einer vollkommenen, ,theoretischen‘ bersicht kommen.140 Doch je strker sich die internen und externen Kontexte der Aphorismen eines ,Buchs‘, eines Werks und von Nietzsches Werk im Ganzen verflechten und verdichten, desto deutlicher und plausibler wird seine Philosophie werden. Nietzsche verzichtet nicht nur weitgehend auf Begrndungen, sondern definiert in der Regel auch seine Begriffe nicht. Er lsst ihnen stattdessen, ebenfalls wie in der alltglichen Orientierung, Spielrume, ihren Sinn in neuen Kontexten zu verschieben („alle Begriffe, in denen sich ein ganzer Prozess semiotisch zusammenfasst, entziehen sich der Definition; definirbar ist nur Das, was keine Geschichte hat.“ GM II 13). Solche Sinnverschiebungen von Nietzsches Begriffen zeigen keine Ambivalenzen und Widersprche an, sondern schaffen wiederum Kontexte zwischen seinen Texten. Sie verlaufen oft in erstaunlich konsequenten Richtungen, als ob er sie bewusst vorgenommen htte. So kçnnen sie fr die Interpretation sehr aufschlussreich sein. Mit den modernen elektronischen Suchverfahren lassen sie sich gut verfolgen. Lngs-Kontextualisierungen dieser Art (wir werden sie meist durch Kleindruck absetzen) ergnzen die kompositorischen und thematischen Quer-Kontextualisierungen innerhalb eines Aphorismus und Aphorismen-Buchs und verdichten und verdeutlichen deren Sinn weiter. Um die Dichte und Tiefe von Nietzsches 40 + 1 Aphorismen im V. Buch der FW auch nur einigermaßen zu erschließen, braucht die kontextuelle Interpretation viel Raum, muss sich darum beschrnken und in vielem weiter oberflchlich bleiben. Die PV, die in der Hauptsache auf die IM von 1882 zurckgehen, mssen wir fast ganz beiseite lassen. Nach philologischen Prinzipien kann nur die verçffentlichte (oder, was die letzten Schriften betrifft, zur Verçffentlichung vorgesehene) Version der Schriften eines Autors die gltige sein. Nur sie hat er autorisiert. ,Gute Leser‘ sollten sich auch und gerade bei Nietzsche daran halten.141 Seine Notate weisen „nur in Ausnahmefllen bereits eine literarische Form auf“ 140 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 177 – 190. 141 Vgl. Clark, Nietzsche on Truth and Philosophy, passim, und Schacht, Nietzsche’s Gay Science, 85 f., Fn. 5.
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3. Nietzsches Anforderungen an seine Leser: Verstehen ohne Sicherheiten
und damit einen „Reflexionsgrad“ weniger als das verçffentlichte Werk.142 Dennoch wird eine kontextuelle Interpretation auch sie einbeziehen. Denn zum einen lsst sich an ihnen verfolgen, wie Nietzsche seine Gedanken schrittweise entwickelt und formuliert und fr welche Gedanken und Formulierungen er sich schließlich entschieden hat.143 Daraus sind fraglos aufschlussreiche Interpretationshinweise zu gewinnen.144 So wollte auch Montinari den Nachlass genutzt sehen, der dann wiederum nach seinen Quellen zu untersuchen sei.145 Zum andern aber lsst sich aus dem Nachlass entnehmen, was Nietzsche nicht oder nicht so verçffentlichte, wie er es notierte, sei es, weil es ihm der Mitteilung nicht wert oder fr sie nicht reif schien, sei es, weil ihm die Leser dafr nicht reif schienen und es ihm zu wertvoll fr sie war.146 142 Zittel, Art. Nachlaß 1880 – 1885, 139. 143 Die von Peter Gast systematisch angelegte Kompilation des spten Nachlasses in Der Wille zur Macht, die Elisabeth Fçrster-Nietzsche zum ,Hauptwerk‘ Nietzsches proklamiert hatte, suggerierte am strksten, Nietzsche habe sich an einem System versucht. Aber auch Collis und Montinaris historisch-kritische Edition des Nachlasses lsst die Notate noch als fertige Texte erscheinen, auch wenn sie, was sie nicht sind, als ,Fragmente‘ ausgewiesen werden (vgl. Groddeck, „Vorstufe“ und „Fragment“; Gerike, Les manuscrits et les chemins gntiques, 132 – 135; Benne, Nietzsche und die historisch-kritische Philologie, 341 f.). Die neue Edition des spten Nachlasses durch Marie-Luise Haase und ihre Mitarbeiter in der Abteilung IX der Werke Nietzsches zeigt, dass es sich nicht um Texte handelt, in denen Nietzsche festgefgte Meinungen vortrgt, sondern um Arbeitsprozesse, in denen er mit Gedanken und Formulierungen experimentiert. Sie macht auch Montinaris Auswahlentscheidungen unter hufig zahlreichen Lesarten sichtbar, die Nietzsche erprobte (vgl. Groddeck/Kohlenbach, Zwischenberlegungen zur Edition) und lsst nun die Arbeit Nietzsches an seinen Notaten genau verfolgen. Die treffende Bezeichnung ,Notate‘ verdanke ich ebenfalls Marie-Luise Haase. 144 Gute Beispiele sind JGB 27 in Verbindung mit N 1885/86, 1[182], KSA 12.50 f.; N VII 2, S. 80, und JGB 36 in Verbindung mit N 1885, 38[12], KSA 11.610 f. Die Vorbereitung eines ganzen Werkes, der DD, im Nachlass hat vorbildlich Groddeck, Friedrich Nietzsche – „Dionysos-Dithyramben“, erschlossen. 145 Vgl. Montinari, Nietzsche lesen, 4: Eine „richtige Lektre Nietzsches“ setzt „die Werke in eine innere Beziehung zum Nachlass und somit zu Nietzsches eigener Entwicklung im ganzen“. 146 Seinen Zarathustra lsst Nietzsche hier bekanntlich sehr drastisch werden: „Wer den Leser kennt, der thut Nichts mehr fr den Leser. Noch ein Jahrhundert Leser – und der Geist selber wird stinken.“ (ZA I Lesen, KSA 4.48). Fr sich selbst notierte Nietzsche zurckhaltender: „Wer ,den Leser‘ kennt, schreibt gewiß nicht mehr fr Leser – sondern fr sich, den Schreiber.“ (N 1882, 3[1]162, KSA 10.72) – „Ich achte die Leser nicht mehr: wie kçnnte ich fr Leser schreiben? … Aber ich notire mich, fr mich.“ (N 1887, 9[188], KSA 12.450 / W II 1, S. 1).
3.3. Nietzsches Plne zur Ordnung des V. Buchs der Frçhlichen Wissenschaft
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3.3. Nietzsches Plne zur Ordnung des V. Buchs der Frçhlichen Wissenschaft Nietzsche hat, wie er es gewohnt war, auch fr die thematische Ordnung des V. Buchs der FW mehrere Plne ent- und verworfen. In einem ersten sammelte er ausdrcklich „T h e m a t a“, zunchst noch fr JGB, doch bald auch schon fr einen „Zweiten und letzten Theil“ von JGB;147 den Titel „Jenseits von Gut und Bçse“ strich er spter durch. In der geplanten „Vorrede“ zu diesem Zweiten Teil, dem spteren V. Buch der FW, wollte er das Thema „Auslegung“ behandeln. Im Hauptteil hatte er vor, von der „Physiologie der Macht“ auszugehen, was er nachtrglich so erluterte: „Eine Betrachtung, bei der der Mensch seine strksten Triebe und seine Ideale (und sein gutes Gewissen) als identisch fhlt.“ Danach sollten folgende Themen zur Sprache gebracht werden: „Wir Gottlosen. / Was sind Knstler? / Recht und Gesetzgebung. / Zur Geschichte der modernen Verdsterung. / Die Schauspielerei. / Von den Guten und Gerechten. / Rang und Rangordnung“, Themen und Motive, von denen die meisten dann im V. Buch der FW auch zum Zug kommen. Anschließend spielte Nietzsche weitere Varianten sowohl in den Themen als auch in ihrer Anordnung durch; in einer zweiten und dritten Variante setzte er das Thema „Wir Gottlosen“ einmal an den Schluss, einmal in die Mitte. Nur der Ausklang mit dem Gedicht „An den Mistral. Ein Tanzlied“ schien festzustehen. Eine neue Variante stellt fr ein erstes Buch das Thema „Nihilismus“ in den Vordergrund und Spinoza in den Mittelpunkt und verzeichnet die Formel „Das grçßte Ereigniß {– ,Gott ist todt‘}“. Dann folgt eine Einteilung nach Sachfeldern wie „Moral“, „Naturwissenschaften“, „Politik“, „Volkswirthschaft“, „Geschichte“, „Kunst“; weitere Bcher sollten von der „Entstehung u. Kritik der moral. Werthschtzungen“, dem „Willen zur Macht“ und dem „Kampf“ gegen die „Vermittelmßigung“ handeln (N 1885/86, 2[131], KSA 12.129 – 132 / W I 8, S. 87 u. 85). Nietzsche wollte sichtlich wieder vom Ganzen seiner Philosophie handeln, es aufs Neue in Frage stellen. So wurde daraus ein weiterer Plan fr das so nie zustandegekommene Werk „Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe“ (N 1885/86, 2[100], KSA 12.109 / W I 8, S. 123). Dann entwarf Nietzsche die „Vorrede zur ,Frçhlichen Wis senschaf t‘“ fr die Neuausgabe (N 1885/86, 2[166], KSA 12.149 – 152 / W I 8, S. 63 f.), die er mehrfach korrigierte. Er erwog, 147 N 1885/86, 2[78] u. [82], KSA 12.98 f. u. 100 f. / W I 8, S. 135 u. 133 f.
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3. Nietzsches Anforderungen an seine Leser: Verstehen ohne Sicherheiten
wie im III. Buch, einen Einsatz wieder mit Buddha und betonte den Bezug auf ZA: „Vorbereitung zu Zarathustras naiv-ironischer Stellung zu allen heiligen Dingen (naive Form der berlegenheit: das Spiel mit dem Heiligen)“ (20.1.4.); darauf folgten die Themen der Heiterkeit und Frçhlichkeit, die die verçffentlichte Vorrede dann tatschlich beherrschen. Nach der Entscheidung, der FW ein V. Buch hinzuzufgen („Fnftes Buch: Wir Umgekehrten“), entwarf Nietzsche eine neue Themenliste, jetzt mit dem Auftakt „Unsere neue ,Freiheit‘“. Die Themen „Gegen die volksthmlichen Idealmenschen / Wie weit geht Kunst und Falschheit in’s Wesen des Seins? / Warum wir nicht mehr Christen sind. / Warum wir antinational sind. / Pessimismus u. Dionysismus. / Unser Mißtrauen gegen die Logik / l’art pour l’art / Die Beschrnktheit aller Teleologie. / Gegen den Causalitts-Fatalismus. / Gegen die Lehre vom Milieu: Maske und Charakter“ fhrte er zum Teil aus, zum Teil nicht, jedoch nicht in dieser Abfolge. Er fgte noch hinzu: „Zum Begriff ,Phnomenalismus‘“, der dann, ergnzt durch den Begriff „Perspektivismus“, in FW 354 erscheint. Ferner sah Nietzsche die Themen „Gegen die Romantik. / Begriff der Sklaverei dh. Verwerkzeugung / Mißverstndniß der Heiterkeit. / Was die Rangordnung macht. / Kritik der neueren Philosophie: fehlerhafter Ausgangspunkt, als ob es ,Thatsachen des Bewußtseins‘ gbe – u keinen Phnomenalismus in der Selbst-Beobachtung“ vor; sie hat er im V. Buch der FW dann auch ausgearbeitet (N 1885/86, 2[204], KSA 12.166 f. / W I 8, S. 33). In all diesen Entwrfen ist die sptere Anordnung der Themen und Aphorismen jedoch nicht erkennbar. Sie geben auch keine Hinweise auf die Kriterien der Anordnung. Nietzsche muss sie unmittelbar bei der abschließenden Formulierung der Aphorismen geschaffen haben. Die neue Vorrede zu GT, der Versuch einer Selbstkritik, wirft immerhin ein Licht auf die ,Musik‘ des entstehenden V. Buchs – ex negativo. Nietzsche nannte die GT nun schlecht geschrieben, schwerfllig, peinlich, bilderwthig und bilderwirrig, gefhlsam, hier und da verzuckert bis zum Femininischen, ungleich im Tempo, ohne Willen zur logischen Sauberkeit, sehr berzeugt und deshalb des Beweisens sich berhebend, misstrauisch selbst gegen die S c h i c k l i c h k e i t des Beweisens, als Buch fr Eingeweihte, als ,Musik‘ fr Solche, die auf Musik getauft, die auf gemeinsame und seltene Kunst-Erfahrungen hin von Anfang der Dinge an verbunden sind, als Erkennungszeichen fr Blutsverwandte in artibus, – ein hochmthiges und schwrmerisches Buch, das sich gegen das profanum vulgus der ,Gebildeten‘ von vornherein noch mehr als gegen das ,Volk‘ abschliesst, welches aber, wie seine Wirkung bewies und
3.4. Leitlinien und Einteilung der Interpretation
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beweist, sich gut genug auch darauf verstehen muss, sich seine Mitschwrmer zu suchen und sie auf neue Schleichwege und Tanzpltze zu locken. (GT Versuch 3)
Inzwischen hatte Nietzsche an ZA und seinen Liedern gelernt, als Dichter zu sprechen; umso schlichter konnte er nun seine Prosa halten. Er verzichtete keineswegs auf ,Musik‘, komponierte sie nun lediglich nchterner, weniger bilderreich, deutlicher, im Tempo ausgeglichener, weniger von sich berzeugt, bereit, gelegentlich auch zu ,beweisen‘, kurz: reifer.148
3.4. Leitlinien und Einteilung der Interpretation Wir werden zur Interpretation der 40 + 1 Aphorismen des V. Buchs der FW also folgendermaßen vorgehen: • im Sinn von Nietzsches Erwartungen an eine Philologie seiner Philosophie (3.1.) mit Geduld fr philologische und Mut fr philosophische berraschungen auf methodische Aprioris, die Erwartung systematischer 148 Kaufmann, Translater’s Introduction, 15, attestiert der FW im Ganzen „a carefully crafted composition“: „The structure is extremely important“. Seine Kommentare sagen dazu dann allerdings wenig. Auch die Herausgeber der brigen kommentierten Ausgaben und bersetzungen machen keinen Versuch, die Ordnungsstrukturen der FW darzulegen. Nach Schobinger, Miszellen zu Nietzsche, 38, ist in der FW „kein thematischer Leitfaden auszumachen, der sich durch die ganze Schrift oder auch nur durch eines der fnf Bcher hindurch verfolgen liesse. Die Schrift ist eine Sammlung von Stcken, die, wie die Hinzufgung des fnften Buchs in der zweiten Ausgabe zeigt, beliebig ergnzbar zu sein scheint.“ Der „einheitsstiftende Grund“ sei „nicht ein Gedanke oder eine bestimmte Thematik […], sondern eine Leidenschaft bzw. eine Aufgabe“ (125, unter Berufung auf Lçwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, 22). Damit drfte Nietzsches Kompositionskunst deutlich unterschtzt sein. Mattenklott, „Der Taktschlag des langsamen Geistes“, hat mehr den „Prozeß der Moderne“ als die konkrete ,musikalische‘ Gestaltung und Anordnung der Aphorismen im Blick; das V. Buch der FW bercksichtigt er nicht, wiewohl die Musik dort zu einem Leitbegriff wird. Groddeck, Die „Neue Ausgabe“ der „Frçhlichen Wissenschaft“, weist zwar eindringlich auf „die komplizierteste paratextuelle Oberflche“ der FW unter allen Werken Nietzsches in der Zusammensetzung aus FW I-IV und FW V und den „unauslotbaren intertextuellen Bezgen zu anderen und zu eigenen Schriften“ hin (198), ber die Komposition von FW V selbst sagt er jedoch ebenfalls nichts. Higgins, Comic Relief, spricht im Blick auf FW I-IV von „such dramatic features as aggressive juxtapositions, jumps in sequencing, and framing devices“ (6), im Ganzen von einem „very carefully orchestrated text“ (8), auch sie, ohne die Orchestrierung im Einzelnen aufzuzeigen.
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3. Nietzsches Anforderungen an seine Leser: Verstehen ohne Sicherheiten
Einheit und dadurch nahegelegte Zuschreibungen der Ambivalenz und Widersprchlichkeit verzichten; stattdessen den Kontext von Form und Inhalt in jedem Aphorismus herausarbeiten, dabei auf das Irritierende, Rtselhafte und Verschwiegene in den Aphorismen achten und jeweils die Tiefen unter ihren Oberflchen so weit auszuloten versuchen, bis sich unter dem Schein von Ambivalenz und Widersprchlichkeit ein (oft umso berraschenderer) stimmiger Sinn zeigt; der Ordnung der Aphorismen, zu der sich Nietzsche zuletzt entschieden hat, im Ganzen folgen und ihre Struktur und ihren Sinn aus den Aphorismen selbst und den Kontexten, die er unter ihnen geschaffen hat, zu ermitteln suchen; um jedoch die Ordnung als solche sichtbar zu machen, in Quer-Kontextualisierungen erstens den Ketten von Aphorismen nachgehen, die Nietzsche zu leitenden Themen angelegt hat: er berspringt dabei einerseits immer wieder die numerische Abfolge der Aphorismen, verflicht andererseits kunstvoll die Ketten und macht so die Einheit seiner Philosophie in einem Geflecht, nicht in einem System deutlich;149 da die Aphorismen zumeist mehrere Themen zugleich aufgreifen, bleiben in ihrer Verknpfung zu Ketten stets Spielrume zu Alternativen;150 zweitens die Kontexte herausarbeiten, die Nietzsche im V. Buch der FW durch Themen schafft, die immer wieder auftauchen, ohne zum Gegenstand eigener Aphorismen zu werden, darunter Bedrfnisse und Nçte, Furcht und Sicherheitsgefhl des Philosophierens, Europa, Evolution, Nihilismus, Grçße und Rangordnung, die Juden und die Frauen, die Musik und der Tanz, Spinoza, Kant, Hegel, Schopenhauer, Wagner und Darwin; drittens von solchen internen Kontexten eines Aphorismus: den hier ins Spiel gebrachten Themen, Thesen, leitenden Unterscheidungen, wo immer es zu seinem tieferen Verstndnis verhilft, zu externen Kontexten bergehen: benachbarten Aphorismen, dem V. Buch der FW im Ganzen, dem Werk Nietzsches in seiner Gesamtheit, Quellen, Anschlssen an andere Philosophien und Wissenschaften oder Angriffen auf sie usw.;
149 Man kann darum auch in Nietzsches Aphorismen-Bchern, wie Wittgenstein es im Vorwort zu seinen Philosophischen Untersuchungen sagte, wie in Alben blttern, vorwrts und rckwrts (Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 286). 150 Vgl. die Aphorismenketten, die Schacht, Nietzsche’s Gay Science, 77, Fn. 6 – 10, vorgeschlagen hat.
3.4. Leitlinien und Einteilung der Interpretation
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in Lngs-Kontextualisierungen die sorgfltige, meist aber unauffllige Arbeit Nietzsches an seinen Begriffen deutlich machen, die er im V. Buch der FW leistet, und dazu erstens die Entwicklung seiner leitenden Begriffe in seinem Werk im Ganzen nachvollziehen, soweit das nicht schon im HWP, NWB, NHB oder NL geschehen ist; • zweitens die Vorbereitungen und Vorstufen zu den jeweiligen Aphorismen in Nietzsches Notaten heranziehen, soweit auch aus ihnen aufschlussreiche Interpretationshinweise zu gewinnen sind, und • spezifische Methoden von Nietzsches philosophischer Schriftstellerei – ,Beweisen‘ durch Zeigen, Inszenierung persçnlicher Entscheidungsprozesse im Philosophieren, irritierende Identifikationsangebote, Reden in Rollen, fragwrdige Typisierungen, Abkrzung des ,philosophischen Gedankens‘ durch Namen, Selbstparodie, Setzen von Gedankenstrichen und Auslassungspunkten, multifunktionale Sperrungen, Sinnverschiebung durch Gnsefßchen, Spannung zwischen Titel und Text, Schluss-Parenthesen, neue Metaphorisierung gngiger Metaphern, musikalische Komposition der Aphorismen – jeweils an den Aphorismen und Aphorismenketten des V. Buchs der FWaufzeigen, in denen sie exemplarisch hervortreten. Beim Letzteren und Nietzsche Wichtigsten, dem Hçrbarmachen der musikalischen Komposition der Aphorismen, haben wir noch kaum ein begriffliches und methodisches Instrumentarium. Wir haben noch kaum gelernt, so mit dem „dritten Ohr“, dessen es nach Nietzsche hier bedrfte (JGB 246), zu hçren, dass wir aus der Musik der Gedanken Aufschlsse fr ihren Sinn gewinnen kçnnen.151 Lernen wir hier allmhlich besser zu hçren, werden sich die internen Kontexte der Aphorismen noch einmal ungeahnt verdichten. Grenzt die kontextuelle Interpretation die Interpretationsspielrume einerseits ein – berfliegende Interpretationen, die die Sorten, Entstehungszeiten, Orte und Formen von Nietzsches Texten ignorieren, werden unmçglich –, so erweitert sie sie andererseits unbegrenzt: ber die erschlossenen Kontexte hinaus kçnnten immer noch weitere verfolgt werden, bis sie irgendwann berkomplex werden und man notgedrungen irgendwo abbrechen muss. Nietzsche hat die „unendlichen Interpretationen“ im V. Buch der FW selbst zum Thema eines seiner berhmtesten Aphorismen gemacht (FW 374/ 13.3.). Die Erfahrung ist: Man kann einen Aphorismus sorgfltig gelesen und noch einmal und noch einmal und noch einmal gelesen haben und doch bei 151 Das Ohr-Motiv als solches ist bereits gut erschlossen worden. Vgl. Renzi, Das OhrMotiv.
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3. Nietzsches Anforderungen an seine Leser: Verstehen ohne Sicherheiten
irgend einem weiteren „Wiederkuen“ plçtzlich aufschrecken und feststellen, dass man noch immer viel zu ungenau gelesen hat. So kçnnte es noch viel „Zeit bis zur ,Lesbarkeit‘“ von Nietzsches Schriften brauchen (GM Vorrede 8), besonders einer so extrem dichten wie dem V. Buch der FW. Eine kontextuelle Interpretation von Nietzsches Aphorismen wird sich leicht dem Vorwurf einer nur immanenten Interpretation und eine Interpretation von Nietzsches Texten in seinem Sinn dem Vorwurf bloßer Apologetik aussetzen. Eine Interpretation, die die internen Kontexte eines Textes genau erschließt, wre schon ein Gewinn; soweit sie ihn nur zitiert oder paraphrasiert, was in der Nietzsche-Interpretation in der Tat oft genug geschieht, freilich nicht. Doch die internen Kontexte von Nietzsches Aphorismen zwingen in der Regel, zu ihrem Verstndnis ber sie hinaus in die externen Kontexte zu gehen, und um hier die aufschlussreichsten zu entdecken, muss man, wie gesagt, die gedanklichen Kontexte von Nietzsches ganzem Werk vor Augen haben. Dies allein entkrftet den mçglichen Vorwurf bloßer Apologetik noch nicht. Doch er kehrt sich rasch um: sofern er voraussetzt, Nietzsches Philosophie sei vor allem anzugreifen. Denn dazu msste man sich der Standpunkte, von denen aus sie anzugreifen wre, schon sicher sein, sicher auch und gerade vor Nietzsches Kritik, insbesondere auch seiner Kritik des Ressentiments, und dazu msste man wiederum die Grnde und Abgrnde von Nietzsches Kritik ebenso wie die der eigenen Ressentiments, die vielleicht die Vorwrfe befeuern, grndlicher erschlossen haben, als es Nietzsche selbst mçglich war. Jene Grnde und Abgrnde mssten dann ihrerseits erst in einer denkbar grndlichen kontextuellen Interpretation nicht nur des V. Buchs der FW, sondern von Nietzsches ganzem Werk erschlossen werden. Kurz: Man msste Nietzsche, bevor man ihn erfolgreich angreifen kann, erst hinreichend in seinem Sinn verstanden haben. Aber wer kçnnte, wer drfte das jetzt schon von sich sagen? Kritik ist Nietzsches Grundhaltung im V. Buch der FW, sein Grundmotiv die Befreiung der Philosophie zu einer frçhlichen Wissenschaft. An ihm orientieren wir unsere kontextuelle Interpretation. Daraus ergibt sich eine zwanglose Einteilung in vier Teile: I. „Bindungen des Denkens“, II. „Ursprungsfragen zur Auflçsung von scheinbar letztem Halt“, III. „Befreiung zu vielfltigen Perspektiven“, IV. „Freiheiten einer knftigen frçhlichen Wissenschaft“.
I. Bindungen des Denkens
4. Schatten des toten Gottes. Titel, Motto Nr. 343: Wa s e s m i t u n s e r e r H e i t e r k e i t a u f sich hat. Der Aphorismus, mit dem Nietzsche das V. Buch der FW erçffnet, handelt von der Befreiung des Denkens durch das, was er bei der Vorbereitung der ersten Bcher der FW fr sich auf die Formel vom „To d G o t t e s“ gebracht hatte: „Wenn wir nicht aus dem To d e G o t t e s eine großartige E n t s a g u n g und einen fortwhrenden S i e g b e r u n s machen, so haben wir den Ve r l u s t z u t r a g e n.“ (N 1881, 12[9], KSA 9.577)152 Doch die aggressive Formel vom „Tod Gottes“ taucht nur in den Notaten dieser Zeit auf.153 Das III. Buch der FW leitete Nietzsche mit dem Satz 152 Das erste Buch der FW sollte eine „G r a b r e d e auf den Tod G o t t e s“ werden (N 1881, 12[21], KSA 9.579). Eine einfhrende Interpretation von FW 343 im Kontext des Gesamtwerks gibt Ansell-Pearson, How to Read Nietzsche, 30 – 40. Er betont den „sense of liberation“, der Nietzsche berwltige (34). 153 Zur frhen Begegnung Nietzsches mit dem ,Gott ist tot‘ im christlichen Kontext, dem Karfreitagsgeschehen, vgl. Figl, ,Tod Gottes‘. Figl weist insbesondere auf ein Karfreitagslied aus dem 17. Jahrhundert (von Johann Rist) mit dem Vers „O große Noth / Gott selbst ist todt / am Kreuz ist er gestorben“ hin, das Nietzsche schon als Kind bekannt sein musste und mçglicherweise beim von der Familie kultisch inszenierten Gedenken an den frhen Tod des Vaters gesungen wurde (83). Auch in Schulpforta wurden der ,Charfreitagsritus‘ und das Totengedenken fr ehemalige Schler, das ,Ecce‘, besonders feierlich begangen (85); im ,Ecce Homo‘, mit dem der berlieferung nach Pilatus seine Achtung vor dem Menschen Jesus aussprach, musste fr Nietzsche so stets der Tod anklingen. Weitere „Vorformulierungen“ der Formel ,Gott ist tot‘ finden sich in Nietzsches frher Basler Zeit, als er im Zusammenhang seiner Beschftigung mit der griechischen Mythologie religionswissenschaftliche Studien trieb. Hier spielten die Essays Max Mllers zur vergleichenden Religionswissenschaft (Mller, Essays) eine wichtige Rolle. Aus dem 1. Band (211 f.) notierte sich Nietzsche: „Ich glaube an das urgermanische Wort: alle Gçtter mssen sterben“ (N 1870/71, 5[115], KSA 7.125; vgl. Figl, ,Tod Gottes‘, 89 – 92, und Figl, Nietzsche und die Religionen, 233 u. 306 f.). Mller blieb berzeugter Christ. Nietzsche hat dagegen den einen jdisch-christlichen Gott mit den vielen griechischen, germanischen und außereuropischen Gçttern gleichgestellt.
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4. Schatten des toten Gottes. Titel, Motto. Nr. 343
„Gott ist todt“ ein – bezogen auf Buddha. In FW 125 mnzte er ihn auf den christlichen Gott um und ließ ihn den „tollen Menschen“, ursprnglich Zarathustra, hinausschreien („Gott ist todt! Gott bleibt todt!“). Jetzt macht er ihn zum Nebensatz („dass ,Gott todt ist‘“) und setzt ihn zwischen Gnsefßchen. Er zitiert ihn aus der Distanz154 und erlutert ihn mit betonter Sachlichkeit: der „Glaube an den christlichen Gott“ ist „unglaubwrdig geworden“, „irgend ein altes tiefes Vertrauen“ scheint „in Zweifel umgedreht“. Er kann dem „Ereigniss“ nun ruhig ins Auge sehen. Der Glaube an den christlichen Gott ist nicht widerlegt, nur „untergraben“ worden (3.2.). Nun ,trgt‘ er nicht mehr, gibt der Orientierung keinen ,Halt‘ mehr. Im IV. Buch hat Nietzsche noch von „Entsagung“ gesprochen (FW 285/19.). Jetzt erlutert er nchtern, es gehe beim ,Tod Gottes‘ nicht so sehr um Gott als um das schlichte Unglaubwrdigwerden eines Glaubens, dem allzu lange Zweifel zugesetzt haben – in „Europa“, wo man sich tief und fest an ihn gebunden, aber immer auch Zweifel an ihm genhrt hatte. Der Verlust ist ein Vertrauensverlust. Vertrauen trgt die Orientierung ber ihre Ungewissheiten hinweg. Es hlt, wenn es nicht enttuscht wird, und vertieft sich umso mehr, je lnger es nicht enttuscht wird, bis es schließlich ganz selbstverstndlich, fraglos wird. Kommen dann doch Zweifel, neue Ungewissheiten, auf und verstrken sie sich, bricht es ein und lsst Verzweiflung zurck. Zweifel gengen, um ein fragloses Vertrauen zu erschttern: schon nach seinen Grnden zu fragen, reicht aus, um es umzukehren. Zweifel, das nagende Bewusstsein anderer Mçglichkeiten, kehren Vertrauen in Misstrauen um, und je tiefer das Vertrauen war, desto strker wird nun das Misstrauen. Man ist enttuscht, erkennt, dass man von seinem Vertrauen getuscht wurde, und betrachtet nun, wenn es schlimm kommt, alles Vertrauen mit um so strkerem Misstrauen.155 Nietzsche nimmt den allmhlich eingetretenen Vertrauensverlust nun als Faktum und fragt nur noch nach seinen Folgen. So handelt der Aphorismus vom Aufkommen eines neuen Vertrauens in eine neue Orientierung.
154 Die Formel am Ende des Aphorismus, „dass der ,alte Gott todt‘ ist“, erscheint schon in JGB 10, ZA IV Dienst, KSA 4.322 u. 326, ZA IV Schwermuth 2, KSA 4.370, u. ZA IV Eselsfest, KSA 4.391. In FW 343 klingt sie gelçst und heiter. In AC (25, 48) wird er dabei bleiben. 155 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 302 – 306 u. 414 – 422.
4.1. Furchtlosigkeit: Mut zu berraschungen
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4.1. Furchtlosigkeit: Mut zu berraschungen Damit, dass das Vertrauen auf einen Glauben umgedreht wird in ein Misstrauen gegen ihn, beginnt fr Nietzsche, wie er dann in FW 346 schreibt (7.), die Philosophie. Nachdem er als Titel des V. Buchs zunchst vorgesehen hatte „Wir Umgekehrten“ (N 1885/86, 2[204], KSA 12.166 / W I 8, S. 33), ersetzte er ihn durch „Wir Furchtlosen“ – offenbar im Blick auf das Motto, das er dem V. Buch dann voranstellte: Carcasse, tu trembles? Tu tremblerais bien davantage, si tu savais, o je te mne. Turenne. (Gerippe, du zitterst? Du zittertest noch mehr, wenn du wsstest, wohin ich dich fhre.)156
Als Nietzsche sich den Satz notierte, hatte er ihn mit der Bemerkung versehen: „Nur der echte Philosoph ist ein verwegenes Thier und spricht zu sich wie Turenne: ,Carcasse, tu trembles? […]‘.“ (N 1884, 26[440], KSA 11.267). Er fand ihn wohl bei Ximns Doudan, der ihn seinerseits in einem Brief an Paul de Broglie vom 7. Juli 1855 zitierte.157 Er hatte 1879 seiner Schwester den Auftrag gegeben, „aus Doudan alle U r t h e i l e ber litterarische Dinge gut zu bersetzen. Bitte!“,158 nochmals bekrftigt: „Ich erwartete tglich einige Bogen Doudan, mein liebes Lama! Verzeihung! Ich habe es n ç t h i g; sage mir bestimmt, ob Du es machen kannst und willst (ich muß mich auf die bersetzung v e r l a s s e n kçnnen)“159 und sich mehrmals nach dem Fortgang erkundigt.160 Zuvor hatte er selbst zahlreiche Exzerpte und bersetzungen aus und Notizen zu Doudan angefertigt. In seinem verçffentlichten Werk nennt er Doudan nur in GM III 25 (und dort flschlich „Xaver“). Ximns Doudan, geb. 1800 in Douai, entstammte einer Kaufmanns- und Magistratsfamilie, ging nach Paris, wurde dort Prinzenerzieher im Hause der Herzçge von Broglie und zum engen Freund der Familie. 1830 wird der Duc de Broglie Erziehungsminister und ernennt Doudan zum Chef seines Kabinetts, nimmt ihn auch mit, als er Außenminister und Prsident des Kabinetts wird. Doudan lernt so die 156 Die Formel der „Furchtlosen“ taucht im brigen hufig in Nietzsches Werk auf. Vgl. u. a. WB 11, KSA 1.508 (zu Siegfried in Wagners Ring des Nibelungen) und FW 379 („Wir Furchtlosen aber, wir geistigeren Menschen dieses Zeitalters“). 157 Doudan, Lettres, 3.31 f. In BN fanden sich von Ximns Doudan Mlanges et lettres (2 Bde., Paris 1878) und Penses et fragments suivis des rvolutions du got, Paris 1881. Vgl. Nachbericht VII 4/2.188. 158 Brief an Franziska und Elisabeth Nietzsche, 17. Februar 1879, KGB II/5, Bf.804. 159 Brief an Franziska und Elisabeth Nietzsche, 9. Mrz 1879, KGB II/5, Bf.814. 160 Vgl. CPJ, 1.843.
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4. Schatten des toten Gottes. Titel, Motto. Nr. 343
bedeutendsten Persçnlichkeiten Europas kennen; Broglie hat unbegrenztes Vertrauen zu ihm. Als dieser sich 1836 aus der Politik zurckzieht, werden Doudan weitere çffentliche Aufgaben angeboten, die er jedoch nicht annimmt. Er bleibt ein Anziehungspunkt des Broglie’schen Salons. Seine Zge, so wird berichtet, hatten hnlichkeit mit denen von Erasmus. Er galt als Besonnenheit in Person: in den Wissenschaften gut bewandert und von sicherem Geschmack war er bei aller verve stets auf ernsthafte Konversation bedacht. Also – und darum berichten wir das alles – ein Mann ganz nach Nietzsches Geschmack: er bewies in allem ein eigenes Urteil, an dem sich andere orientierten. Vielfach gençtigt, seine Gedanken zu verçffentlichen, fasste er sie schließlich in einem kleinen Traktat zusammen und publizierte daneben zahlreiche Briefe an die de Broglie und andere. Im Brief an Paul de Broglie vom 7. Juli 1855, aus dem das TurenneZitat stammt, geht es zunchst um geeigneten Lesestoff fr eine Reise des jungen Mannes, darunter Montaigne, von dessen Moral Doudan nicht berzeugt ist. Doch Montaigne liebe die „grandes mes“ und beschreibe gut die Kmpfe des Willens, gleiche darin Horaz; es sei berraschend, schwache Seelen zu finden, die große Tugenden so stark schildern kçnnen. Auch mit diesem Urteil musste Doudan Nietzsche entgegenkommen, der an Montaigne, „dieser freiesten und krftigsten Seele“, im brigen gerade schtzte, dass er nicht von der Moral berzeugt war und wiederum mit seinem Urteil „Muth und Strke“ bewies, dass er „als ein Siegender“ dachte und dadurch „eine wirkliche erheiternde Heiterkeit“ an den Tag legte (SE 2, KSA 1.348). Montaigne hatte bereits, um Nietzsches oben zitierte Formel auf ihn anzuwenden, aus seinen Entsagungen ,einen fortwhrenden Sieg‘ gemacht, in Gestalt einer befreienden Heiterkeit. Nach Montaigne kommt Doudan auf skandalçse Neuigkeiten um den Feldmarschall Lord Raglan zu sprechen und geht von da aus zu den zweifelhaften Freuden des militrischen Lebens ber, vor dem er gleichwohl Respekt bezeugt, besonders vor der Kraft, in Aufregung und Tumult heitere Gelassenheit zu wahren. Militrs mssten ein herbes Vergngen (plaisir pre) daran haben zu erleiden, was andere kaum ertragen kçnnten – auch das muss Nietzsche berckt haben. Und so kommt Doudan schließlich auf Turenne, d.i. Henri de la Tour d’Auvergne zu sprechen, der von 1611 bis 1675 lebte, aus hugenottischem Geschlecht stammte und Marschall des katholischen Kçnigs Ludwigs XIV. wurde: er avancierte in dessen Diensten zum bedeutendsten Feldherrn seiner Zeit. Zugleich war er ein herausragender Militrschriftsteller.161 Er fiel in einem Feldzug, in dem 161 Mmoires sur la guerre, postum 1738. Das von Nietzsche als Motto verwendete
4.2. Heiterkeit: Reife der Frçhlichkeit
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er eine Probe ußerster Khnheit gegeben hatte.162 Doudan attestiert ihm in seinem Brief an Paul de Broglie „le sentiment de l’exercice nergique et profond de la volont“, wçrtlich: „den Sinn fr die tatkrftige, grndliche Ausbung des Willens“ oder kurz eine starke Willenskraft, die ihn zu sich selbst habe sagen lassen: „Carcasse, tu trembles? …“ So, als „verwegenes Thier“, war auch und vor allem Turenne ein Mann Nietzsches. Noch mehr als Montaigne und Doudan gab er ein Beispiel, wie man sich auf alle berraschungen der Orientierung einlassen und aus ihnen neue Orientierung gewinnen kann. Mnnern wie ihnen wollte sich Nietzsche zugesellen, wenn er sein neues Buch „Wir Furchtlosen“ berschrieb.
4.2. Heiterkeit: Reife der Frçhlichkeit Die Furchtlosigkeit des Marschalls Turenne im Krieg kehrt beim Philosophen Nietzsche als Heiterkeit angesichts des „grçssten neueren Ereignisses“ wieder, „dass ,Gott todt ist‘“. Heiterkeit, wo andere sich frchten, zeugt vom souvernen Selbstvertrauen, auch schwierigste Situationen leicht bewltigen zu kçnnen. Kann Frçhlichkeit ,ausgelassen‘ sein, so ist Heiterkeit eine abgeklrte, ,gelassene‘ Frçhlichkeit. ,Frçhlich‘ war nach FW 1 das Lachen-Kçnnen ber immer neue „L e h r e r v o m Z w e c k e d e s D a s e i n s“, nachdem die Evolutionstheorie mit allen Zwecken in der „Oekonomie der Arterhaltung“ aufgerumt hat (2.1.). Frçhlich in diesem Sinn ist man geworden, wenn man in den Abgrund der Zwecklosigkeit der Evolution blicken und dem lhmenden Schrecken der Sinnlosigkeit auch des menschlichen Daseins standhalten kann, wenn man gelernt hat, es wie ein Schauspiel zu beobachten, dass Menschen immer neu nach einem Zweck ihres Daseins greifen und ihn dann doch wieder verwerfen mssen, wenn man ber solche immer neuen „Tragçdien“ wie ber eine große „Komçdie“ lachen kann. Das ußerste war, nach dem IV. Buch der FW, dann, das Erkennen selbst zum evolutionren Experiment zu machen, sein Zitat findet sich jedoch nicht in den Mmoires. Nietzsche hat es (nach dem Notat im Nachlass) offensichtlich von Doudan, es ist jedoch unklar, woher Doudan es hat und wo Nietzsche es wiederum bei ihm gefunden hat. Er konnte es nach Sautet, Notes, 510, auch in der Revue des Deux Mondes vom 1. Juli 1886, S. 90, gelesen haben, wo es in einem Artikel von Charles Richet ber die Furcht (La peur) auftauchte. Dafr sprche dann wiederum der neue Titel des V. Buchs „Wir Furchtlosen“. 162 „… dans une campagne o il avait fait preuve d’une extrÞme audace“ (Sautet, Notes, 510).
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4. Schatten des toten Gottes. Titel, Motto. Nr. 343
Leben als „M i t t e l d e r E r k e n n t n i s s“ bewusst fr sie aufs Spiel zu setzen und damit „nicht nur tapfer, sondern sogar f r ç h l i c h l e b e n u n d f r ç h l i c h l a c h e n“ zu kçnnen (FW 324/2.1.). Indem Philosophen furchtlos ihre Orientierung versuchsweise so an ihre Grenzen treiben, dass sie in vçllige Verzweiflung umschlgt, um auf diese Weise die Grenzen der menschlichen Orientierung berhaupt zu testen, werden gerade sie eine tapfere Frçhlichkeit beweisen kçnnen. Ihre Sache msste es sein, sich so weit auf die allen Zwecken des Daseins spottende Evolution einzulassen, dass sich das alte „Bedrfniss“ nach solchen Zwecken (FW 1) daran aufreibt – oder sie selbst zerbrechen. Sie kçnnten es nun selbst zum Zweck ihres Daseins machen, frçhlich verwegene Versuchstiere der menschlichen Orientierung zu werden. In der Heiterkeit kommt die Frçhlichkeit zur Reife, zu einem eigenen Maß. ,Heiter‘ kçnnen im deutschen Sprachgebrauch Gçtter und Menschen, Kunst und Literatur – und das Wetter sein;163 der heitere, von dunklen Wolken ,aufgeklarte‘ Himmel ist zur Metapher der ,Aufklrung‘ geworden; nichts kann so unbegrenzt vielgestaltig und zugleich so einfach und klar sein wie er. ,Heiter‘ taucht in Nietzsches Werk mehrere Hundert Mal auf, mit Steigerungen, Substantivierungen, Pluralisierungen (,Heiterkeiten‘) und Zusammensetzungen (wie ,Heiterkeitsfarbe‘, ,Heiterkeitsmenschen‘, ,Heiterkeitszauber‘, ,Heiterlinge‘), in der ersten Ausgabe der FW jedoch nur selten (sechs Mal) und im V. Buch nur ein einziges Mal: im Titel von FW 343. In der FW und besonders in ihrem V. Buch redet Nietzsche kaum mehr von der Heiterkeit, er will sie zeigen, ,beweisen‘. Heiterkeit war das große Thema seiner ersten Basler Jahre. Es war die ursprngliche Fragestellung der GT, was es mit der griechischen Heiterkeit auf sich hat.164 „Griechische Heiterkeit“, die er auch „h o m e r i s c h e H e i t e r k e i t“ nennt, hatte er zeitweise als Titel geplant,165 und „m a g i s c h e n H e i t e r k e i t s z a u b e r“ bten auf ihn auch die „Systeme der Philosophen“ aus (N 1870 – 72, 8[12 f.], KSA 7.223 f.). Im Austausch mit Wagner prfte er verschiedene „Heiterkeitsbegriffe“. Danach wre die „,griechische Heiterkeit‘“ als „Zustand ungefhrdeten Behagens auf allen Wegen und Stegen“ missverstanden, vor allem „das Wesen der Tragoedie“ lasse sich so nicht verstehen (N 1871, 11[1], KSA 7.351). Sie sei kein „,bequemer Sensualismus‘“, und man drfe auch nicht bei der 163 Vgl. zur Semantik und Etymologie von ,heiter‘ Kiedaisch/Br, Heiterkeitskonzeptionen, zu Nietzsches Gebrauch von ,heiter, Heiterkeit‘ Appel, Oberflchlich – aus Tiefe. 164 Vgl. N 1870, 6[15], KSA 7.134: „Mechanismus des Apollinischen und des Dionysischen. Heiterkeit.“ 165 Vgl. N 1870, 6[18], KSA 7.136, u. N 1870/71, 7[109], KSA 7.163 („Griechische Heiterkeit. / Mit einem Vorwort an Richard Wagner“).
4.2. Heiterkeit: Reife der Frçhlichkeit
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„Durchsichtigkeit, Klarheit, Bestimmtheit und Harmonie der griechischen Kunst“ stehen bleiben; es gebe „keine wahrhaft schçne Flche ohne eine schreckliche Tiefe“ (KSA 7.352).166 Dies blieb Nietzsches leitender Begriff der Heiterkeit. In der GTselbst fand er die „unerklrliche Heiterkeit“ der Griechen (GT 3, KSA 1.35) am prgnantesten in der Weisheit des Silen ausgesprochen, des ausgelassen sinnenfreudigen Begleiters des Dionysos, die der neunzigjhrige Sophokles in seine tiefste Tragçdie dipus auf Kolonos aufnahm, in der er dipus von seinem tragischen Schicksal erlçste:167 ,Das Allerbeste ist fr dich gnzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu s e i n , n i c h t s zu sein. Das Zweitbeste aber ist fr dich – bald zu sterben‘. (GT 3, KSA 1.35)168 Dem sinnlos schweren, nicht lebenswerten Dasein hçchsten Genuss in der Heiterkeit der Schçnheit abgewinnen zu kçnnen, ist fr Nietzsche der Kern der „t r a g i s c h e n E r k e n n t n i s s“ oder des „praktischen Pessimismus“ der Griechen. Mit dem „theoretischen Optimisten“ Sokrates (GT 15, 100 f.) sei jedoch eine „andere Form der ,griechischen Heiterkeit‘“ aufgekommen, die „alexandrinische“, die „Heiterkeit des t h e o r e t i s c h e n M e n s c h e n“ (GT 17, KSA 1.115). Sie habe mit ihrem „heitern Optimismus“ die tragische Erkenntnis vergessen lassen (GT 19, KSA 1.124) und sei schließlich im Bild der Rçmer und spter 166 Im Anschluss daran schreibt Nietzsche von seinen Hoffnungen auf Wagner: „ein Wesen von zrnender Hoheit, stolzestem Blick, khnstem Wollen, ein Kmpfer, ein Dichter, ein Philosoph zugleich, mit einem Schritte, als ob es glte ber Schlangen und Ungethme hinweg zu schreiten. Dieser zuknftige Held der tragischen Erkenntniß wird es sein, auf dessen Stirne der Abglanz jener griechischen Heiterkeit liegt, jener Heiligenschein, mit dem eine noch bevorstehende Wiedergeburt des Alterthums inaugurirt wird, die d e u t s c h e Wiedergeburt der hellenischen Welt.“ (N 1871, 11[1], KSA 7.353). Er schließt hier mit der ngstlichen Nachfrage, ob das alles auch im Sinne Wagners gesagt sei. Beim „b a y r e u t h e r W e i h e f e s t i m M a i 1 8 7 2“ empfand er die Stimmung noch „heiter und heroisch“ (N 1872/73, 21[25], KSA 7.530), wenige Jahre spter peinlich. 167 Vgl. Sophoklos, dipus auf Kolonos, V.1225 – 1229, und Nietzsche, ST, KSA 1.613 f.: „Im ,Oedipus auf Kolonos‘ treffen wir diese selbe Heiterkeit, aber in eine unendliche Verklrung emporgehoben: dem vom Uebermaasse des Elends betroffenen Greise gegenber, der allem, was ihn trifft, rein als L e i d e n d e r preisgegeben ist – steht die berirdische Heiterkeit, die aus gçttlicher Sphaere herniederkommt und uns andeutet, dass der traurige Held in seinem rein passiven Verhalten seine hçchste Aktivitt erlangt, die weit ber sein Leben hinausgreift, whrend sein bewusstes Tichten und Trachten im frheren Leben ihn nur zur Passivitt gefhrt hat.“ 168 In DW hatte Nietzsche zuvor kurz bersetzt: „Die Philosophie des V o l k e s ist es, die der gefesselte Waldgott den Sterblichen enthllt: ,das Beste ist nicht zu sein, das Zweitbeste bald zu sterben‘.“ (DW, KSA 1.560, vgl. 1.588). – Hçlderlin, den Nietzsche seinerseits hoch schtzte, hatte den Spruch des Silen als Motto ber den Zweiten Band seines Hyperion gesetzt – ohne bersetzung.
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der Christen von den Griechen zur oberflchlichen Heiterkeit geworden. Im Christentum mit seiner Erlçsungsgewissheit sei die tiefe Heiterkeit dann auf lange Zeit untergegangen und erst beim skeptischen Montaigne und dann beim erklrten Atheisten Schopenhauer wieder aufgetaucht. Schopenhauer habe, notierte sich Nietzsche, „die tiefen Grnde des Daseins“ wieder geçffnet, durch ihn werde „die Heiterkeit der Kunst wieder mçglich.“ (N 1873, 28[6], KSA 7.619) Er sei, schreibt er dann in SE, „heiter, weil er das Schwerste durch Denken besiegt hat“: denn im Grunde „giebt es nur Heiterkeit, wo es Sieg giebt; und dies gilt von den Werken wahrer Denker ebensowohl als von jedem Kunstwerk.“ (SE 2, KSA 1.349 f.). Als Nietzsche dann WB verfasste, begann er an Wagners Heiterkeit stark zu zweifeln,169 in MA ist kaum noch von Heiterkeit die Rede. Nietzsche rechnete nun auf die Wirkung eines „guten Denkens“ in „k a l t e n B c h e r n“: „ein Buch, welches sich kalt und nchtern ausnimmt, durch die rechten Augen gesehen, [kann] vom Sonnenschein der geistigen Heiterkeit umspielt und als ein rechter Seelentrost erscheinen.“ (MA II, VM 142) In dieser Heiterkeit eines nchternen Denkens entdeckt er seine Heiterkeit, eine Heiterkeit, die ebenfalls aus dem Leiden kommt.170 Heiterkeit als „Philosophie der heiteren Tauschablehnung und Neidlosigkeit“, die jeden immerhin so weit mit seinen Verhltnissen zufriedenstelle, dass er mit anderen nicht tauschen will, sei auch ein „Pfeiler der gesellschaftlichen Ordnung“ (MA II, VM 396). Eine Heiterkeit ohne Melancholie, bare Frçhlichkeit wird fr Nietzsche dagegen schal. So bewundert er zunchst wie jedermann bei Mozart „den heiteren, sonnigen, zrtlichen, leichtsinnigen Geist“, „dessen Ernst ein gtiger und nicht ein furchtbarer Ernst ist“ (MA II, WS 165), korrigiert sich dann aber bald: „Ich habe Mozart fr heiter gehalten – wie tief muß ich melancholisch sein! D a h e r meine Begierde!! nach Helle Reinlichkeit Heiterkeit Schmuckheit Nchternheit, meine Hoffnung, daß alles dies mir die W i s s e n s c h a f t geben werde! sie!“171 Heiterkeit komme in der Verklrung des Herbstes. 169 Vgl. N 1874, 32[15], KSA 7.759: „Die Heiterkeit Wagner’s ist das Sicherheitsgefhl dessen, der von den grçssten Gefahren und Ausschweifungen zurckkehrt, in’s Begrenzte und Heimische: alle Menschen, mit denen er umgeht, sind solche begrenzte Abschnitte aus seinem eignen Laufe (wenigstens empfindet er nichts mehr an ihnen) deshalb kann er hier heiter und berlegen sein, denn hier kann er mit allen Nçthen Bedenken s p i e l e n.“ (S. auch N 1874, 32[44], KSA 7.768, u. 33[12], KSA 7.790.) In WB kommt ,heiter‘ dann nur ein Mal vor – in Bezug auf die Musik vor Wagner (WB 9, KSA 1.491; vgl. N 1875, 11[15], KSA 8.196). In Nietzsches Erinnerung blieben von Wagner nur „die Tage von Tribschen“ selbst als „Tage des Vertrauens, der Heiterkeit, der sublimen Zuflle – der t i e f e n Augenblicke“ zurck (EH klug 5). 170 Im Rckblick der neuen Vorrede zu MA schreibt Nietzsche: „Damals lernte ich die Kunst, mich heiter, objektiv, neugierig, vor allem gesund und boshaft zu g e b e n […]. Einem feineren Auge und Mitgefhl wird es trotzdem nicht entgehn, was vielleicht den Reiz dieser Schriften ausmacht, – dass hier ein Leidender und Entbehrender redet, wie als ob er n i c h t ein Leidender und Entbehrender sei.“ (MA II Vorrede 5). 171 N 1880, 7[182], KSA 9.354. Vgl. N 1880/81, 8[42], KSA 9.391: „immer melancholisch – aber ein Princip der Tapferkeit von Kindheit an macht, daß ich viele
4.2. Heiterkeit: Reife der Frçhlichkeit
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In einem kleinen Versuch ber die Lebensalter schreibt Nietzsche ber das vierte Lebensjahrzehnt (das er damals noch nicht erreicht hatte): geheimnissvoll, wie alles Stillestehende; einer hohen weiten Berg-Ebene gleichend, an der ein frischer Wind hinluft; mit einem klaren wolkenlosen Himmel darber, welcher den Tag ber und in die Nchte hinein immer mit der gleichen Sanftmuth blickt: die Zeit der Ernte und der herzlichsten Heiterkeit, – es ist der H e r b s t des Lebens. (MA II, WS 269) Er sucht nun unruhig Heiterkeit in wechselnden Perspektiven. Heitere Musik kann „Bitterkeit und Verwundung, Ueberdruss und Heimweh“ wieder erwecken und nçtigen, „Alles wie in einem verzuckerten Giftgetrnk wieder und wieder zu schlrfen“ (MA II, WS 154); hat das Leben jemand tief verwundet, kann er in „aller Heiterkeit“ nur „entschlossene Selbsttuschung“ sehen (M 329). Aber auch die Oberflchlichkeit, notierte er sich, ist eine Lebensmçglichkeit: „Gleichheit im Humor, Milde und natrliche Heiterkeit machen das glckliche Privatleben. Der letzte Grund: v o n n i c h t s t i e f b e w e g t w e r d e n.“ (N 1880, 6[91], KSA 9.218) Eben um diese Heiterkeit scheint ihm seine Zeit zu ringen.172 Man drfe dankbar fr sie sein, selbst wenn sie nur einer „geringen Sehkraft des Auges“ geschuldet sei: „Daher die ewige Heiterkeit des Volkes und der Kinder! Daher die Dsterkeit und der dem schlechten Gewissen verwandte Gram der grossen Denker!“ (FW 53) Noch im III. und IV. Buch der FW herrscht die Heiterkeit der „Geduld, Schlichtheit und Verachtung der grossen Eitelkeiten“, der „Grossmuth im Siege und Nachsicht gegen die kleinen Eitelkeiten aller Besiegten“ (FW 283) vor, und Nietzsche sucht nun auch „das G l c k H o m e r ’ s“ in ihr wiederzufinden (FW 302).173 ZA ist sicherlich kein heiteres Buch, und in ihm ist auch nur selten von Heiterkeit die Rede. Dennoch tauchen die drei Weisen der Heiterkeit wieder auf, die Nietzsche bisher unterschieden hat, die oberflchliche Heiterkeit als ditetische Vorschrift: „Zehn Mal musst du lachen am Tage und heiter sein: sonst stçrt dich der Magen in der Nacht, dieser Vater der Trbsal.“ (ZA I, Von der Lehrsthlen der Tugend, KSA 4.32), die „Himmels-Heiterkeit“, die sich ber den Zufall in allem aufgeklrt hat (ZA III Sonnen-Aufgang, KSA 4.209), und der „heitere schauerliche kleine Siege habe und in Folge dessen heiterer bin als es meiner Mel geziemt.“ 172 Vgl. N 1881, 10[B50], KSA 9.423: „welche Heiterkeit ist jetzt mçglich! wir haben die Gespenster verjagt und uns zur U n v e r n u n f t das Recht erworben: wir w o l l e n n i c h t m e h r klger sein als die Welt es ist!“ 173 Nietzsche hatte damals, 1882, eine neue Heiterkeit erlebt, im intellektuellen Austausch mit Lou von Salom. Lou notierte in ihr Tagebuch am 14. August 1882 (nach Montinari, Chronik, 15.125): „Wir verstehen uns so sehr gut. Aber ob es gut ist, daß er den ganzen Tag von frh bis spt mit mir und im Gesprch ist, also nicht bei seiner Arbeit – ; ich sagte es ihm heute, er nickte und sagte: ,ich habe es ja so selten und ich genieße es wie ein Kind‘. […] Wir sind sehr heiter miteinander wir lachen viel … Ich freue mich, daß der gramvolle Zug aus seinem Gesicht geschwunden ist, der mir so weh that, und daß die Augen ihr altes Leuchten und Aufleuchten haben“.
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Mittags-Abgrund“, der den „Thau“ der Seele, die vom vollkommenen Glck zu trumen wagt, in sich ,zurcktrinkt‘ (ZA IV Mittags, KSA 4.344 f.). Der Tod Zarathustras, den Nietzsche in seinen Notaten erwogen hatte, sollte eintreten, wenn „die ganze Masse“ die Ewige Wiederkunft verstanden htte: „Entscheidender Moment: Zarathustra fragt die ganze Masse am Feste: ,wollt ihr das Alles noch einmal?‘ – alles sagt ,Ja!‘ / E r s t i r b t v o r G l c k d a b e i. / (der Himmel heiter, tief ) […].“174 Aber zu dieser Heiterkeit im Tod Zarathustras ließ es Nietzsche nicht kommen. Mit der Aussicht auf sie ist er jedoch, nach den Hoffnungen auf Wagner, zu der Heiterkeit zurckgekehrt, die aus der tragischen Erkenntnis kommt; er hatte sich nicht in seinem Begriff der Heiterkeit, nur in seinen Hoffnungen geirrt. Er richtet sie nun sehr differenziert auf die Wissenschaft. Mag die Wissenschaft mit ihrer „kaum begreiflichen Freiheit, Unbedenklichkeit, Unvorsichtigkeit, Herzhaftigkeit, Heiterkeit“ an der Oberflche bleiben (JGB 24), so kann sie doch eine „berlegene, beinahe gtige Heiterkeit“ auch gegen die Religion bewahren (JGB 58). Mag der Gelehrte seine Not nicht mehr spren, mag er in seinem „gewohnten Entgegenkommen gegen jedes Ding und Erlebniss, der sonnigen und unbefangenen Gastfreundschaft, mit der er Alles annimmt, was auf ihn stçsst, seiner Art von rcksichtslosem Wohlwollen, von gefhrlicher Unbekmmertheit um Ja und Nein“, vergessen haben, was sie ermçglicht hat, so ist er „in seinem heitern Totalismus“ doch „noch ,Natur‘ und ,natrlich‘“ (JGB 207). Ein Psychologe in Nietzsches Sinn hat dagegen schon mehr „Hrte und Heiterkeit n ç t h i g“ (JGB 269), und ein Philosoph, der um sein „tiefes Leiden“ weiß, ohne es denen mitteilen zu wollen und zu drfen, die es nicht ertragen kçnnen, nutzt die oberflchliche Heiterkeit der Wissenschaft als Maske (JGB 270). Fr ihn kann, notierte sich Nietzsche, die Heiterkeit, die „als Zeichen des Mangels an Tiefe“ gilt, „die Seligkeit nach allzu strenger Spannung“ sein.175 Und dies will er nun, wie er zum Abschluss der neuen Vorrede zur FW ankndigt, „beweisen“ (FW Vorrede 4). Das V. Buch der FW soll, wenn es die vorhergehenden Bcher noch nicht waren, der Beweis der Heiterkeit von Nietzsches Philosophieren sein.176 Auch in den letzten Werken bleibt die Heiterkeit ein Leitthema Nietzsches. Nun identifiziert er Heiterkeit und frçhliche Wissenschaft;177 fr die GD erwgt er unter anderen den Titel „G ç t z e n -H a m m e r. / oder / Heiterkeiten / eines Psychologen“ (N 1888, 22[6], KSA 13.586) und setzt im Vorwort noch einmal mit seinem Kampf um Heiterkeit ein: Inmitten einer dstern und ber die Maassen verantwortlichen Sache seine Heiterkeit aufrecht erhalten ist nichts Kleines von Kunststck: und doch, was wre nçthiger als Heiterkeit? Kein Ding gerth, an dem nicht der bermuth 174 N 1883, 21[3], KSA 10.599 f. – Nietzsche notierte nun immer wieder: „Heiter, wie Einer der seinen Tod voraus genießt.“ (N 1884/85, 30[9], KSA 11.355). 175 N 1885/86, 1[134], KSA 12.41 f. / N VII 2, S. 114; vgl. N 1885/86, 2[12], KSA 12.71 / W I 8, S. 265. 176 Vgl. Nietzsche an Jean Bourdeau, ca. 17. Dezember 1888 (Entwurf ), KGB III/5, Bf.1196: „Ich rechne die Heiterkeit zu den B e w e i s e n meiner Philosophie…“ 177 Vgl. GM Vorrede 7, u. GM III 9.
4.3. Neue Hellsicht fr Schatten
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seinen Theil hat. Das Zuviel von Kraft erst ist der Beweis der Kraft. (GD Vorwort) Er verlangt nun immer mehr nach der – so nimmt er sie wahr – sdlich-heiteren Musik Bizets, um mit der schwlen Musik Wagners und ihren nordischen Mythen fertig zu werden (WA 2 – 3), und schließlich glaubt er auch mit Wagner fertig geworden zu sein und zur „Humanitt selbst“ gefunden zu haben (EH WA 1). Zuletzt erfhrt er im letzten Herbst seines Schaffens „eine berstrçmende Frische und Heiterkeit“ (EH klug 10), stellt nun die Stimmungen „heiter und verhngnissvoll“ zusammen (EH GD 1) und dichtet einen Dithyrambus auf die Heiterkeit, der mit den Zeilen beginnt „Heiterkeit, gldene, komm! / du des Todes / heimlichster sssester Vorgenuss!“ (DD Sonne 3). Dieser Dithyrambus aber endet wie FW 343 mit der Ausfahrt aufs offene Meer: „Silbern, leicht, ein Fisch / schwimmt nun mein Nachen hinaus …“
4.3. Neue Hellsicht fr Schatten Der Tod Gottes wirft nach FW 343 „bereits seine ersten Schatten ber Europa“, zunchst aber nur sie. Er kommt wie zarte Wolken, die das Licht der Sonne abschwchen und verdunkeln, aber nicht auslçschen und die sich auch wieder verziehen kçnnten. Verdichten sich die Wolken, ist das Licht nicht mehr sichtbar, man denkt sich dann nur noch das Licht ber ihnen. Blieben die Wolken und die Schatten auf unabsehbare Zeit, htte man nie das Licht gesehen, sondern immer nur an es geglaubt, und man wrde die Dinge nur im Schatten kennen. Aber man wrde sie noch immer fr Schatten jenes Lichts halten, das vielleicht schon erloschen ist, vielleicht auch nie geleuchtet hat. Zu Beginn des III. Buchs der FW hatte Nietzsche vom Schatten des toten Buddha gesprochen und angekndigt: N e u e K m p f e. – Nachdem Buddha todt war, zeigte man noch Jahrhunderte lang seinen Schatten in einer Hçhle, – einen ungeheuren schauerlichen Schatten. Gott ist todt: aber so wie die Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch Jahrtausende lang Hçhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt. – Und wir – wir mssen auch noch seinen Schatten besiegen! (FW 108)
Dies sind Schatten nicht des Todes des Gottes, Schatten, die seinen Tod erst ankndigen, sondern Schatten des toten Gottes, Schatten, die er geworfen hat, als er noch lebte, und die nun von denen, die den Glauben an den toten Gott weiter wachhalten wollen, in Hçhlen gezeigt werden. Schatten, die in Hçhlen gezeigt werden, erinnern Kenner der europischen Philosophie an Platons Hçhlengleichnis. Es sollte plausibel machen, dass ber allen
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Schatten, die wir sehen, ein gçttliches Licht steht, zu dem wir uns endlich hinwenden sollten. Aber dieses Licht sehen die Hçhlenbewohner in der Regel nicht und wollen es auch gar nicht sehen. Nach der hebrischen Bibel kçnnte man, wenn man Gott she, nicht mit dem Leben davonkommen (Ex 33, 20). Man muss sich mit seinen Schatten begngen. Platon wollte sich damit nicht zufriedengeben. Die Menschen sollten nicht nur die Schatten der Dinge, sondern auch das Licht sehen, das sie erzeugt, ein ebenfalls gçttliches Licht. So zeigte sich fr beide, die hebrische Bibel und Platon, Gott in Schatten, fr die hebrische Bibel endgltig, fr Platon nur vorlufig. Die Schatten gehçren zu Gott, sie verweisen die Menschen berhaupt erst auf ihn, und darum ist Gott fr sie schwer von seinen Schatten zu unterscheiden. Ist alles sein Werk (sei es als Schçpfung, sei es als Anblick), so ist alles sein Schatten, und er zeigt sich nur in seinen Schatten. So muss auch alles im Schatten unterschieden werden. Will man also Gott ,besiegen‘, so muss man auch noch oder kann man sogar nur seine(n) Schatten besiegen. Die Hebrer und die Griechen hatten sich Gçtter geschaffen, um alles in ihrem Schatten sehen zu kçnnen, um sich in allem, was sie sahen, an einem Gott orientieren zu kçnnen, und lebten nun in diesen Schatten. In der Moderne begannen die Menschen eben dies zu sehen und darum alle Gçtter zu ,tçten‘. Menschen kçnnen nur einen Gott tçten, den sie auch geschaffen haben; sie haben ihn geschaffen, weil sie ihn ,nçtig‘ hatten, und sie haben ihn nun ,getçtet‘, weil sie ihn nicht mehr nçtig zu haben glaubten. Aber sie leben darum nicht anders als zuvor, leben, ohne sich dessen bewusst zu sein, immer noch in den Schatten, die er geworfen hat. Der ,alte Gott‘, der Grund des ,alten‘ Denkens, ist beseitigt, das ,alte‘ Denken ist geblieben. So muss man, wenn man Gott loswerden will, auch seine Schatten noch ,besiegen‘, die Wirklichkeit ohne jenen Grund neu denken lernen. Doch dies heißt nicht, dass man ohne Schatten zu sehen lernen sollte, im Gegenteil. Nietzsche hat eine eigene Metaphorik, eine Gegen-Philosophie des Schattens entwickelt. Sie fhrt nicht ber die Schatten hinaus zum Licht eines hçchsten Wahren und Guten, sondern in die Schattenwelt hinein. Ein Schatten, das besagt sein Begriff, zeugt von etwas, das im Licht steht und dieses Licht verstellt; an einem Schatten sieht man, dass da etwas ist, das in ihm, dem Schatten, nicht zu sehen ist. Schatten, heißt das, paradoxieren das Sehen. Doch unser Auge ist im Umgang mit Schatten gebt; es schließt aus ihnen auf eine Gestalt im Licht und belsst es dabei. Denn es kann, jedenfalls dauerhaft, gar nicht in das Licht sehen, weil es dadurch geblendet werden wrde. So begngt es sich mit den Schatten. Es kann im
4.3. Neue Hellsicht fr Schatten
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Schatten durchaus sehen: unser Auge hat gelernt, im Schatten Dinge so zu unterscheiden, als ob sie im Licht stnden; es unterscheidet Schattierungen unter wechselndem Lichteinfall. Auch wenn Farben und Konturen der Dinge in Licht und Schatten anders erscheinen, identifiziert es sie leicht, kompensiert es problemlos die Unterschiede von Licht und Schatten und der Schattierungen des Schattens. So ist auch das Im-Schatten-Sehen ein paradoxes Sehen: wenn den Schatten zu sehen heißt zu sehen, dass man sieht, dass man etwas nicht sieht, so heißt im Schatten zu sehen, dass man die Unterschiede von Licht und Schatten und der Schattierungen des Schattens zugleich sieht und nicht sieht. Beim Sehen im Schatten aber sieht man mehr als im grellen Licht: nach Nietzsche wird im Schatten das Erkennen selbst erkennbar. Nietzsche hat ein ganzes Aphorismen-Buch, den zweiten und abschließenden Teil des zweiten Teils von MA, den er 1879 verçffentlichte, Der Wanderer und sein Schatten (WS) berschrieben.178 An den Anfang stellt er einen Dialog des Wanderers mit seinem Schatten. Den ersten Teil des zweiten Teils von MA, die VM, hatte er mit einer Hadesfahrt abgeschlossen (VM 408) und damit auf die klassische Fahrt der klassischen Wanderer Jason, Odysseus, Aeneas, Dante und Faust zu den Schatten der Unterwelt angespielt.179 Aber auch hier weicht Nietzsche von den alten Vorbildern ab. Denn er sucht weniger Rat und Prophezeiungen als ,Auseinandersetzungen‘ mit Mnnern, die fr ihn Maßstbe des Philosophierens vorgegeben haben und die ihm lebendiger scheinen als die Lebenden: „Epikur und Montaigne, Goethe und Spinoza, Plato und Rousseau, Pascal und Schopenhauer.“ Von ihnen will er sich, wenn er „lange allein gewandert“ ist, „Recht und Unrecht geben lassen“. Er will, nach aktuellen Begriffen, im Dialog mit ihnen bleiben. Aber dies bleiben doch Dialoge, die er mit sich fhrt, seine Dialoge, er entdeckt aus seiner Erkenntnis heraus bei ihnen Erkenntnisse, die er wieder zu seinen macht. Zu Beginn von WS fhrt Nietzsche das eigens vor. Er verselbststndigt dort spielerisch den Schatten gegenber dem Wanderer, lsst ihn den Wanderer von sich aus ansprechen („Da ich dich so lange nicht reden hçrte, so mçchte ich dir eine Gelegenheit geben“) und ihn dadurch irritieren: der Wanderer weiß nicht, spricht ein anderer oder er selbst, sein eigener Schatten kommt ihm fremd vor, er hçrt seine eigene Stimme als fremde, etwas Drittes tritt zwischen ihn und seinen Schatten. Im Gesprch mit dem Schatten geht es dann weder um Gott noch um seinen Tod; Gott wird hier gleich beiseite gesetzt („Bei Gott und allen Dingen, an die ich nicht 178 Spter bernahm er die Figuren des Wanderers und seines Schattens in den IV. Teil von ZA und in FW 380 (18.2.). 179 Vgl. dazu und zu den Dialogen zu Beginn und zum Abschluss von WS die aufschlussreiche Interpretation von Lupo, Ombres. In die Interpretation ließe sich auch Adelbert von Chamissos Mrchen von Peter Schlemihl einbeziehen, der seinen Schatten verkauft und sich dadurch, weil die Menschen sich darber entsetzen, aus ihrer Gesellschaft ausgeschlossen hat. Der Schatten ist, wie Schlemihl schließlich vom Teufel aufgeklrt wird, seine Seele.
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4. Schatten des toten Gottes. Titel, Motto. Nr. 343
glaube“). Als Drittes fungiert auch nicht die „Vernunft“ („Es ist gut, dass wir Beide auf gleiche Weise nachsichtig gegen uns sind, wenn einmal unsere Vernunft stille steht“),180 sondern es ist die Kommunikation selbst, die zwei Gesprchspartner und die Sprache als Dritten vorspiegelt („Weiss man gerade nicht zu antworten, so gengt es schon, Etwas zu sagen“). Nietzsche gebraucht die Metapher des Lichts auch fr die Kommunikation („ich liebe den Schatten, wie ich das Licht liebe“). Doch nun handelt es sich um das Licht, das kommunizierende Orientierungen mit all ihren Schattierungen aufeinander werfen. Sie artikulieren und konturieren sich im Austausch miteinander („Damit es Schçnheit des Gesichts, Deutlichkeit der Rede, Gte und Festigkeit des Charakters gebe, ist der Schatten so nçthig wie das Licht“). Die Kommunikation macht die Gesprchspartner nicht nur freinander, sondern auch fr sich selbst sichtbar, sie ist der „Sonnenschein der Erkenntniss“, der Schatten auf sie fallen lsst, durch die sie erst unterscheidbar werden. Schatten, so Nietzsche, verdunkeln die Erkenntnis nicht nur, sie ermçglichen sie auch erst; die Schatten, die Dunkelheiten sind Teil jeder Erkenntnis. In Nietzsches Szenerie beantwortet der Schatten in den Dialogen, die sich nun, im Buch WS, entspinnen werden, die Fragen, die der Wanderer stellt. Die Antworten aber werden in einer Sprache artikuliert, die beide erst finden mssen, die weder dem einen noch dem andern zugehçrt, in deren Schatten sich dann jedoch beide wiedererkennen. Es ist, lsst Nietzsche den Wanderer sagen, nur „hier und da ein dunkles Wort als Zeichen des Einverstndnisses“ zu erwarten, das „fr jeden Dritten ein Rthsel sein soll.“ Diese Dritten sind wieder andere Wanderer, die in eigenen, fr andere wiederum undurchdringlichen Dialogen mit ihren Schatten stehen und dabei ihre Sprache entwickeln; tritt ein Wanderer mit anderen ins Gesprch, werden sich wieder neue Schattierungen, neue Konturen der Dinge und Menschen ergeben. All diese Wechselspiele von Licht und Schatten, die sich im Schatten vollziehen und das Erkennen erst ermçglichen, sind aber in den geußerten Erkenntnissen, in der „Oberflchen- und Zeichenwelt“, wie Nietzsche sie in FW 354 (9.5.–6.) dann nennt, nicht mehr zu erkennen; mitteilbar ist nur das, worber beide „in aller Eile und Friedfertigkeit mit einander zusammenkommen“. Wo man einen Gott vermutet hatte, der alles ins Licht stellt, zeigen sich vielfltige Sprachspiele, die ihrerseits Schattenspiele sind. Der Leser kann dann nur lesen, was sich aus dem „Sonnenschein der Erkenntniss“ in den Dialogen des Wanderers mit seinem Schatten auf der Oberflchen- und Zeichenwelt ergeben hat; die Dialoge selbst werden fr ihn undurchdringlich bleiben. Und er wird, was er liest, wiederum im Sonnenschein seiner Erkenntnis lesen, er wird in seinem eigenen Schatten und also Schatten von Schatten lesen. Und so lsst Nietzsche seinen Wanderer sagen, er schreibe seine Dialoge mit seinem Schatten schon gar nicht nieder; denn die geschriebenen wren auch schon veroberflchlichte Dialoge. Auch hier distanziert sich Nietzsche von Platon („Ein Gesprch, das in der Wirklichkeit ergçtzt, ist, in Schrift verwandelt und gelesen, ein Gemlde mit lauter falschen Perspectiven: Alles ist zu lang oder zu kurz“). Mitgeteilt wrden nur Ergebnisse der Dialoge, nicht ihr Verlauf in Licht und Schatten. Die Ergebnisse aber sind die niedergeschriebenen Aphorismen in 180 Zu den Kamelen bei Pisa vgl. Lupo, Ombres, 108 (unter Berufung auf Giuliano Campioni).
4.4. Seltene, verzçgerte und ungewisse Wahrnehmung großer Ereignisse
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WS und auch der brigen Aphorismen-Bcher Nietzsches. Sie kçnnen nur Oberflchen-Ergebnisse nicht mitteilbarer Dialoge eines Wanderers mit seinem Schatten sein.
Diese Philosophie des Schattens macht deutlich, warum Nietzsche in FW 343 nicht mehr wie in FW 108 von dem Schatten des toten Gottes, sondern von den Schatten des Todes Gottes spricht. Es geht nun nicht mehr um den toten Gott selbst, sondern darum, nach dem Tod Gottes fr die vielfltigen Schatten hellsichtig zu werden, die unsere eigene Erkenntnis auf die Dinge wirft und sie dadurch erst erkennbar macht, und es kommt nun darauf an, dieses „Schauspiel“ der Schatten sehen zu lernen, ohne es auf eine einzige berirdische Lichtquelle zurckzufhren.181 Der Tod Gottes nçtigt dazu, im Schatten, den alten Vorurteilen, die er zurcklsst, ber die Schatten umzulernen und die Schatten der eigenen Erkenntnis sehen und verstehen zu lernen. Das „Ereigniss“ des Todes Gottes ist das Ereignis einer tiefgreifenden Umorientierung ber die Schatten der Erkenntnis.
4.4. Seltene, verzçgerte und ungewisse Wahrnehmung großer Ereignisse Dass ,Gott tot ist‘, nennt Nietzsche nicht eine Wahrheit oder ein Faktum, sondern ein „Ereigniss“, „das grçsste neuere Ereigniss“. Ein Ereignis ist ein aufflliger geschichtlicher Augenblick, der sich aus komplexen geschichtlichen Umstnden ergeben hat und komplexe geschichtliche Wirkungen zeitigt. Im emphatischen Sinn ist es ein Ereignis dann, wenn der Augenblick große oder grçßte Wirkungen verspricht und darum große oder grçßte Bedeutung zu haben scheint, kurz, wenn es vieles oder ,alles‘ verndern kann. In einem Ereignis verdichtet sich die Zeit, in der immer alles anders werden kann, am strksten, in ihm wird die Zeitlichkeit aller Dinge am aufflligsten. Die aufflligsten Ereignisse aber sind Tode; Tode erinnern Menschen am eindringlichsten an die Zeitlichkeit alles Seins. So hat Heidegger die Analysen der Zeitlichkeit des Daseins in Sein und Zeit vor allem am ,Sein zum Tode‘ festgemacht. Nachdem er den Horizont dieser Analysen als zu eng gewhlt erkannte, vollzog er seine ,Kehre‘ und 181 Vgl. Luhmann, Die Realitt der Massenmedien, 210: „,Gott ist tot‘, hat man behauptet – und gemeint: der letzte Beobachter ist nicht zu identifizieren.“ Es gibt Beobachter von Beobachtern von Beobachtern, aber keinen letzten Beobachter in dieser Reihe. Denn er msste seinerseits wieder beobachtet werden. Damit lçst sich die Transzendenz auf.
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setzte noch einmal neu beim ,Ereignis‘ an: fr seine nun bescheiden Beitrge zur Philosophie genannten aphoristischen Analysen sah er als Oberoder Untertitel Vom Ereignis vor.182 Es sollte um das Ereignis einer neuen ,Wahrheitsgrndung‘ gehen, und Heidegger rechnete damit, dass sich diese neue Wahrheitsgrndung selbst notwendig verbarg, sich, in Nietzsches Metaphorik, nur in vielfltigen Schatten zeigen konnte. Eben darum ging es, was Heidegger deutlich war, bereits Nietzsche183 und geht es gerade hier in FW 343. Das Wort ,Ereignis‘ verstand man bis ins 18. Jahrhundert noch als ,Erugnis‘, als Geschehen, das ,vor Augen‘ kommt, das Sichtbar-Werden eines Geschehens. Ein Ereignis ist nur so weit ein Ereignis, wie es als solches wahrgenommen wird. So versteht es auch Nietzsche noch („Fr die Wenigen wenigstens, deren Augen, deren A r g w o h n in den Augen stark und fein genug fr dies Schauspiel ist“). Ein ,großes Ereignis‘ ist wie alles Große bei Nietzsche (6.1.2.) zum einen bedeutsamer, mchtiger, gewaltiger als andere, zum anderen aber auch eines, das sein Gegenteil einschließt und dadurch irritierend und paradox wird: ein Ereignis, das so gewaltig ist, dass es eine Schreckstarre erzeugt und darum in seiner bermßigen Bedeutung lange gar nicht wahrgenommen wird, also gar kein Ereignis zu sein scheint. So wird oft der Tod eines nahen Menschen erlebt, und um so mehr wird der Tod Gottes so erlebt werden. Ein großes Ereignis ist fr Nietzsche, wie er schon in den UB schrieb, eines, das „das Problem des Daseins verrckt“, ohne darum schon çffentliche Aufmerksamkeit zu erregen. Es ist kein politisches Ereignis (SE 4, KSA 1.365). Unter diesen Voraussetzungen mag es merkwrdig anmuten, dass Nietzsche als großes Ereignis zuerst die Grundsteinlegung fr Richard Wagners Festspielhaus in Bayreuth betrachtete. Noch im Bann Wagners,184 bereitete ihm der gesellschaftspolitische Pomp Sorge, mit dem sich ,Bayreuth‘ inszenierte. Zur Grçße eines Ereignisses sei, beschwor er im bereits sehr skeptischen Eingang zu WB, nicht nur der „grosse Sinn Derer, die es vollbringen“, nçtig, sondern auch „der grosse Sinn Derer, die es erleben“ (WB 1, KSA 1.431),185 und beschrieb, statt des Pomps,
182 Heidegger, Beitrge zur Philosophie (Vom Ereignis). 183 Vgl. Sinn, Art. Ereignis, der, außer von Leibniz und Lessing, allein von Nietzsche und Heidegger handelt. 184 Vgl. zur Konstellation Nietzsche – Wagner aktuell Borchmeyer, Nietzsche, Cosima, Wagner; Wildermuth (Hg.), Nietzsche und Wagner, und dazu die Sammelbesprechung von Holzer, Neuerscheinungen zur Konstellation Nietzsche – Wagner. 185 Vgl. N 1875, 11[44], KSA 8.236: „Ein großes Ereigniß ist nur fr den g r o ß e n Beobachter groß. Das Bayreuther Ereigniß macht mir Sorge: wo sind die Augen,
4.4. Seltene, verzçgerte und ungewisse Wahrnehmung großer Ereignisse
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eindringlich den Blick, mit dem Wagner nach der Grundsteinlegung „lange in sich hinein“ gesehen und den wiederum er, Nietzsche, gesehen habe: den Blick, mit dem große Menschen – Nietzsche stand nicht an, Wagner mit Alexander dem Großen zu vergleichen – „im Augenblick einer ausserordentlichen Gefahr oder berhaupt in einer wichtigen Entscheidung ihres Lebens durch ein unendlich beschleunigtes inneres Schauen alles Erlebte zusammendrngen und mit seltenster Schrfe das Nchste wie das Fernste wieder erkennen.“ (KSA 1.434) Dass Nietzsche Wagner auch nach seiner Lçsung von ihm so eng verbunden blieb, lag auch daran, dass er in seiner Kunst zuerst ein großes Ereignis erkannt hatte, das, wie er damals glaubte, die Kunst im Ganzen umwertete (vgl. KSA 1.433). Wagner hatte damit in der Tat das Problem von Nietzsches Dasein dauerhaft verrckt; auch in FW V wird er den „r o m a n t i s c h e n P e s s i m i s m u s in seiner ausdrucksvollsten Form, sei es als Schopenhauer’sche Willens-Philosophie, sei es als Wagner’sche Musik […], das letzte g r o s s e Ereigniss im Schicksal unsrer Cultur“ nennen (FW 370/16.1.) – auch Schopenhauer, der sich mutig zu seinem „unbedingten redlichen Atheismus“ bekannt hatte (FW 357/12.5.), wurde ber Jahrzehnte nicht gehçrt. Nietzsches Sorge galt seitdem umso mehr dem großen Blick auf den Anblick von Großem, der außerordentlichen Wahrnehmungsfhigkeit fr Außerordentliches. Tief umwlzende, die gewohnten Ordnungen aufbrechende Ereignisse oder kurz: tiefgreifende Umorientierungen sind eben aufgrund ihrer Außerordentlichkeit fr den auf das Gewohnte eingestellten Blick nicht sichtbar. Nietzsche fasste auch dies schon in WB in die Metaphorik von Licht und Schatten. Das „Ereigniss“ Bayreuth liege wie ein fremdartiger Sonnenglanz auf der letzten und nchsten Reihe von Jahren […]: zum Heile einer fernen, einer nur mçglichen, aber unbeweisbaren Zukunft ausgedacht, fr die Gegenwart und die nur gegenwrtigen Menschen nicht viel mehr, als ein Rthsel oder ein Greuel, fr die Wenigen, die an ihm helfen durften, ein Vorgenuss, ein Vorausleben der hçchsten Art, durch welches sie weit ber ihre Spanne Zeit sich beseligt, beseligend und fruchtbar wissen, fr Wagner selbst eine Verfinsterung von Mhsal, Sorge, Nachdenken, Gram, eine erneutes Wthen der feindseligen Elemente, aber Alles berstrahlt von dem Sterne der s e l b s t l o s e n Tr e u e, und, in diesem Lichte, zu einem unsglichen Glcke umgewandelt! (WB 8, KSA 1.483 f.) FW 343 ist hier deutlich prformiert. Wie damals fr das Ereignis Wagner glaubt Nietzsche nun auch als einer von wenigen, vielleicht sogar als einziger den Sinn fr das Ereignis zu haben, ,dass Gott tot ist‘; das Ereignis Wagner hatte ihm den Blick fr große Ereignisse geçffnet. Damals war er vom „Ereigniss von Bayreuth“ aus rckwrts in die „Geschichte der Entwickelung der Cultur seit den Griechen“ zurckgegangen, um dort große Ereignisse aufzusuchen, die es vorbereiteten: zuerst Homer, dann Sokrates, mit dem die ,homerische Heiterkeit‘ zu Ende ge-
um alles zu sehen? Zumal ist vielleicht das hçchste Schauspiel, Wagner selbst, erst von einer viel weiteren Warte zu berschauen.“
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4. Schatten des toten Gottes. Titel, Motto. Nr. 343
kommen sei,186 schließlich die Hellenisierung der Welt durch Alexander den Großen: Die Hellenisirung der Welt und, diese zu ermçglichen, die Orientalisirung des Hellenischen – die Doppel-Aufgabe des grossen Alexander – ist immer noch das letzte grosse Ereigniss; die alte Frage, ob eine fremde Cultur sich berhaupt bertragen lasse, immer noch das Problem, an dem die Neueren sich abmhen. (WB 4, KSA 1.446) Auch hier bedurften die „grçssten Ereignisse“ eines großen Blicks, einer Erneuerung der Philologie, fr die Goethe, Schopenhauer und wiederum Wagner ihm, Nietzsche, den Anstoß gegeben hatten (N 1875, 3[70], KSA 8.34). Und es war dann fr Nietzsche wiederum ein großes Ereignis – aber wiederum nur fr ihn –, als Wagner, „scheinbar der Siegreichste, in Wahrheit ein morsch gewordener, verzweifelnder Romantiker, […] plçtzlich, hlflos und zerbrochen, vor dem christlichen Kreuze nieder[sank]“: Hat denn kein Deutscher fr dieses schauerliche Schauspiel damals Augen im Kopfe, Mitgefhl in seinem Gewissen gehabt? War ich der Einzige, der an ihm – litt? Genug, mir selbst gab dies unerwartete Ereigniss wie ein Blitz Klarheit ber den Ort, den ich verlassen hatte, – und auch jenen nachtrglichen Schrecken, wie ihn Jeder empfindet, der unbewusst durch eine ungeheure Gefahr gelaufen ist. (MA II Vorrede 3) Nach seiner Lçsung von Schopenhauer und Wagner richtet sich Nietzsches Aufmerksamkeit zunchst darauf, wie individuell Ereignisse erlebt werden: Jedes Ereignis ist „je nach der Art Mensch, die wir sind, […] ein ganz verschiedenes Ereigniss.“ (M 119) Jeder kçnne und drfe sich nur auf bestimmte Ereignisse einlassen (M 555). Bei Shakespeares Faszination durch die Figur des Brutus z. B. stehe man „vielleicht vor irgend einem unbekannt gebliebenen dunklen Ereignisse und Abenteuer aus des Dichters eigener Seele“ (FW 98), Spinoza habe „s e i n großes Ereigniß“ darin gehabt, dass der „amor dei wieder e r l e b t werden konnte“ (N 1884, 26[416], KSA 11.262), Goethe das seine im Erscheinen Napoleons (JGB 244; vgl. 11.3.3.). So erlebte Nietzsche die Begegnung mit Lou als „Ereigniß, einen ,neuen Menschen‘ hinzuerworben zu haben“, durch das er „fçrmlich ber den Haufen geworfen worden“ sei.187 Sein „entscheidendes Ereigniss“ aber sah er nach wie vor in seiner „g r o s s e n L o s l ç s u n g“ – eben von Richard Wagner (MA I Vorrede 3). Zuletzt sollte „das E r e i g n i s s Zarathustra“ zum „Akt einer ungeheuren Reinigung und Weihung der Menschheit“ werden.188 Und hier, in ZA, war ein 186 N 1875, 5[165], KSA 8.86; N 1880, 7[222], KSA 9.363. 187 Brief an Lou von Salom, 27./28. Juni 1882, KGB III/1, Bf.251. 188 EH GT 4, KSA 6.315. Vgl. Brief an Carl Spitteler, 10. Februar 1888, KGB III/5, Bf.988. An Constantin Georg Naumann schreibt Nietzsche dann am 26. November 1888 zu AC: „Die ,U m w e r t h u n g a l l e r W e r t h e, wird ein Ereigniß ohne Gleichen, < n i c > h t etwa ein litterarisches, sondern ein alles Bestehende Erschtternde. Es ist mçglich, daß es die Zeitrechnung verndert“ (KGB III/5, Bf.1158).
4.4. Seltene, verzçgerte und ungewisse Wahrnehmung großer Ereignisse
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parodistisches Kapitel eigens „grossen Ereignissen“ gewidmet: Seeleute sehen Zarathustra durch die Luft in Richtung des „Feuerbergs“ zur Hçlle fliegen. Zarathustra aber habe lediglich, wie er dann erzhlt, das „Geheimniss“ des „,Feuerhunds‘“ ergrndet, unter „Hçllenlrm“ „,grosse Ereignisse‘“ vorzugaukeln. Und so lsst ihn Nietzsche dann verknden: Die grçssten Ereignisse – das sind nicht unsre lautesten, sondern unsre stillsten Stunden. / Nicht um die Erfinder von neuem Lrme: um die Erfinder von neuen Werthen dreht sich die Welt; u n h ç r b a r dreht sie sich. (ZA II Ereignissen, KSA 4.169) Nicht nur ist danach der Sinn fr große Ereignisse selten. Die großen Ereignisse, die Nietzsche meint, entziehen sich ihrerseits selbst den Aufmerksamsten, sie werden nur verzçgert erkannt und begriffen. In Plnen zu einem „Zarathustra 5“ dachte Nietzsche wohl an ein „Glck der lauten Tçne“ unter „großem Trompeten-Herolds-Lrm“. Doch auch dann sollte das „Geschenk“ Zarathustras, die neuen „Werthe fr Jahrtausende“, erst zu empfangen sein, „wenn die Empfnger da sind […]. Die grçßten Ereignisse werden am sptesten begriffen.“ Die Zeit von Zarathustras Auftreten aber sollte charakterisiert sein „durch das grçßte Ereigniß: Gott ist todt. Nur merken die Menschen noch nichts davon, daß sie nur von ererbten Werthen zehren.“ (N 1885, 35[74], KSA 11.541 f. / W I 3, S. 66) Darum wird ihre Entdeckung ihrerseits zum großen Ereignis: Nietzsches „E n t d e c k u n g der christlichen Moral“ ist, wie er dann in EH schreiben wird, „ein Ereigniss, das nicht seines Gleichen hat, eine wirkliche Katastrophe. Wer ber sie aufklrt, ist eine force majeure, ein Schicksal, – er bricht die Geschichte der Menschheit in zwei Stcke.“ (EH Schicksal 8) Der „tolle Mensch“ kam zu frh, als dass ihn jemand htte verstehen kçnnen: ,Ich komme zu frh, sagte er dann, ich bin noch nicht an der Zeit. Diess ungeheure Ereigniss ist noch unterwegs und wandert, – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Thaten brauchen Zeit, auch nachdem sie gethan sind, um gesehen und gehçrt zu werden. Diese That [sc. dass wir Gott getçtet haben] ist ihnen immer noch ferner, als die fernsten Gestirne, – u n d d o c h h a b e n s i e d i e s e l b e g e t h a n!‘ (FW 125189) Auch als Nietzsche die Botschaft nicht mehr einen tollen Menschen hinausschreien lsst, sondern sie leise und heiter im eigenen Namen verkndet, behlt er die Metapher vom Licht ferner Gestirne bei, das Zeit braucht, um auf der Erde wahrgenommen zu werden. Ist ein Stern erloschen, so leuchtet er fr uns noch Lichtjahre lang, und was lngst Vergangenheit ist, kann fr uns noch ferne Zukunft sein.190 Das Sternengleichnis ist Nietzsches Metapher dafr, dass eine Einsicht erst 189 Vgl. die Vs N 1881, 14[26], KSA 9.632. 190 Vgl. auch M 529 (die Griechen, die „nach ihrem Untergange noch Jahrtausende lang gleich manchen Sternen fortleuchten“), ZA II Tugendhaften, KSA 4.121 („Und dem Sterne gleich, der erlischt, ist jedes Werk eurer Tugend: immer ist sein Licht noch unterwegs und wandert – und wann wird es nicht mehr unterwegs sein?“), und JGB 285 („Das Licht der fernsten Sterne kommt am sptesten zu den
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4. Schatten des toten Gottes. Titel, Motto. Nr. 343
ber lange Zeit ins „Gefhl“ eingehen oder einverleibt werden muss, um sich auszuwirken: {NB.} Das grçßte Problem {Ereignisse} gelangen am schwersten den M zum Gefhl: {zB. die Thatsache, daß der christliche Gott} daß Gott ,todt ist‘. Daß in unseren Erlebnissen nicht {mehr} eine {himmlische} Gte {u Erziehung}, nicht {mehr} eine gçttl. Gerechtigkeit, {nicht berhaupt eine immanente Moral nach menschlichem Maaße}, sich zeigt {sich ausdrckt}, das ist {eine} furchtbar{e Neuigkeit, welche noch ein paar Jahrhunderte bedarf, um den Europ. zum Gefhl zu kommen:} Das Schwergewicht ist plçtzlich aus alles Dinge weg. {und dann wird es eine Zeitlang scheinen, als ob alles Schwergewicht aus den Dingen weg sei}. – (N 1885, 34[5], KSA 11.424 f. / N VII 1, S. 191) Gedanken werden erst „begriffen“, wenn sie auch „erlebt“ werden, wenn auch die alltgliche Orientierung sich auf sie eingestellt hat: Die grçssten Ereignisse und Gedanken – aber die grçssten Gedanken sind die grçssten Ereignisse – werden am sptesten begriffen: die Geschlechter, welche mit ihnen gleichzeitig sind, e r l e b e n solche Ereignisse nicht, – sie leben daran vorbei. (JGB 285)191 Es sollten nach Nietzsche aber gerade die Philosophen sein, die ein Gespr fr solche tiefgreifenden Umorientierungen entwickeln, die zuerst wittern, was andere noch lange nicht erleben, und darum einsehen kçnnen, was anderen noch lange verschlossen bleibt: Ein Philosoph: das ist ein Mensch, der bestndig ausserordentliche Dinge erlebt, sieht, hçrt, argwçhnt, hofft, trumt; der von seinen eignen Gedanken wie von Aussen her, wie von Oben und Unten her, als von s e i n e r Art Ereignissen und Blitzschlgen getroffen wird; der selbst vielleicht ein Gewitter ist, welches mit neuen Blitzen schwanger geht; ein verhngnissvoller Mensch, um den herum es immer grollt und brummt und klafft und unheimlich zugeht. (JGB 292)
Menschen; und bevor es nicht angekommen ist, l e u g n e t der Mensch, dass es dort – Sterne giebt.“), außerdem N 1880, 3[125], KSA 9.87 f. / N 1883, 9[15] u. 9 [45], KSA 10.349 u. KSA 10.360 u. ç. Von der Endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit, die seit dem 17. Jahrhundert bekannt war, handelten Foissac, Meteorologie mit Rcksicht auf die Lehre vom Kosmos, 33 f., und Stewart, Die Erhaltung der Energie, 138 f.; Nietzsche besaß beide Bnde (BN). Fr den Hinweis danke ich Irene Treccani. 191 Nietzsche wiederholt den Gedanken noch einmal in FW 357 (12.6.) – ohne die Metapher des verzçgert eintreffenden Lichts ferner Gestirne und nun in Verbindung mit Schopenhauers Frage: „h a t d e n n d a s D a s e i n b e r h a u p t e i n e n S i n n? – jene Frage, die ein paar Jahrhunderte brauchen wird, um auch nur vollstndig und in alle ihre Tiefe hinein gehçrt zu werden.“
4.4. Seltene, verzçgerte und ungewisse Wahrnehmung großer Ereignisse
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Aber auch ein Philosoph hat hier vorerst nur seinen „A r g w o h n“, so Nietzsche nun in FW 343. Argwohn ist das zur Grundhaltung gewordene Misstrauen. Nietzsche gebraucht das Wort ,Argwohn‘ in den neuen Vorreden von 1886, in FW V und in den folgenden Werken hufig zusammen mit ,Verdacht‘. Beim Argwohn hat man jedoch, anders als beim Verdacht, keine bestimmten Anhaltspunkte fr sein Misstrauen. Hier ist selbst der Verdacht noch ungewiss, und so verharrt man in Ungewissheit. „A r g w o h n in den Augen“ macht misstrauisch selbst gegen die eigenen Beobachtungen, distanziert alles zu einem „Schauspiel“, dem man ohne rechten Glauben folgt. Verunsichernde Ereignisse verunsichern auch die Wahrnehmung, und um das deutlich zu machen, greift Nietzsche zu verunsichernden Metaphern: Mit Gott, heißt es nun, scheine „irgend eine Sonne untergegangen“, so dass „unsre alte Welt tglich abendlicher, misstrauischer, fremder, ,lter‘“ scheint. Untergegangen ist nicht die Sonne, sondern eine unter anderen, eine philosophisch-theologisch erdachte, metaphorisch fingierte Sonne. Auch diese Sonne sollte tglich wiederkehren, doch nun fllt sie zurck, und die gewohnte Welt im gewohnten, aber erdachten Licht fllt immer mehr in einen ungewohnten Schatten, in dem das alte Vertrauen in sie immer mehr verloren geht. So zeichnet sich das Schauspiel einer „Verdsterung und Sonnenfinsterniss“ ab, das eine „lange Flle und Folge von Abbruch, Zerstçrung, Untergang, Umsturz“ befrchten lsst, eine „ungeheure Logik von Schrecken“, „deren Gleichen es wahrscheinlich noch nicht auf Erden gegeben hat“. Doch man kann noch nicht einmal „errathen“, womit man es da zu tun haben wird.192 Nietzsche gibt sich nicht als Prophet, sondern als „Rthselrather“, der weiß, dass alles, was er ber die Zukunft sagen kçnnte, von seiner Gegenwart bestimmt ist („zwischen Heute und Morgen hingestellt“), aber auch, dass diese Gegenwart sich grundlegend verndern wird („in den Widerspruch zwischen Heute und Morgen hineingespannt“). Zwar beunruhigt und bengstigt die Ungewissheit die Orientierung am strksten. Doch wie sich das Ereignis des Todes Gottes auswirken wird, ist noch so unklar, dass es auch noch kaum Angst erregt. Wie jedem Tod, solange er noch nicht deutlich bevorsteht, kann man seinen Schatten immer noch „ohne rechte Theilnahme fr diese Ver192 Nietzsche wird es bald darauf fr sich in seinem Lenzer Heide-Notat zum europischen Nihilismus durch die Begriffe eines „Willens zur Zerstçrung“ und „Selbstzerstçrung“, eines „Willens ins Nichts“ fassen, der zur „Crisis“ eines „blinden Wthens“ fhre (N 1887, 5[71]11, 14, KSA 12.215 u. 217 / N VII 3, S. 20 f. u. 23).
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4. Schatten des toten Gottes. Titel, Motto. Nr. 343
dsterung, vor Allem ohne Sorge und Furcht fr u n s ihrem Heraufkommen entgegensehn“.
4.5. Die neue Morgenrçte: Glck der Ungewissheit Solange noch keine schweren Folgen der Nachricht vom Tod Gottes eingetreten sind, kçnnen die „n c h s t e n F o l g e n dieses Ereignisses“ noch ganz andere sein. Die, denen der ,alte Gott‘ unglaubwrdig geworden ist, kçnnen zunchst „Erleichterung“ spren von der Last, durch die er ihr Denken bedrckt hat, doch nur zunchst. Nietzsche versteht nun die ,Frçhlichkeit‘, die ber seine ,Wissenschaft‘ gekommen ist, als eine nur zeitweilige, vorlufige, die wieder verstummen wird, verstummen muss, wenn denn die „lange Flle und Folge von Abbruch, Zerstçrung, Untergang, Umsturz“ tatschlich eingetreten und damit der ganze Ernst wiedergekehrt sein wird. Die Frçhlichkeit ist nur eine Kurzzeitwirkung, die „Erheiterung“ einer Zwischenzeit; auch wenn niemand sagen kann, wie lange sie dauern wird, wird sie doch enden;193 Nietzsche wird zum Schluss des V. Buchs, in FW 382 (20.1.4.), darauf zurckkommen. Vorerst kçnnen „neue Philosophen“ (FW 289, JGB 2, 44, 203 u. ç.) das Ende der Zwischenzeit und den Beginn der Tragçdie mit Heiterkeit erwarten. Doch in der Ungewissheit dessen, was geschieht, glauben die Allermeisten, hatte er ebenfalls schon zu Beginn der FW, in FW 2, geschrieben, an dies und das, nur um noch ein paar Gewissheiten zu haben, und vermeiden mçglichst Zweifel an ihnen. Hier setze ihr „i n t e l l e c t u a l e s G e w i s s e n“ aus, und damit machten sich zumal Wissenschaftler und Philosophen „v e r c h t l i c h“: inmitten […] der ganzen wundervollen Ungewissheit und Vieldeutigkeit des Daseins stehen u n d n i c h t f r a g e n, nicht zittern vor Begierde und Lust des Fragens, nicht einmal den Fragenden hassen, vielleicht gar noch an ihm sich matt ergçtzen – das ist es, was ich als v e r c h t l i c h empfinde, und diese Empfindung ist es, nach der ich zuerst bei Jedermann suche: – irgend eine Narrheit berredet mich immer wieder, jeder Mensch habe diese Empfindung, als Mensch. (FW 2)
Aber offenbar hat sie nicht jeder Mensch, und Nietzsche musste sich auch selbst zur Ungewissheit ermutigen. 1884 notierte er sich: Wir stehen anders zur ,Gewißheit‘. Weil am lngsten die Furcht dem Menschen angezchtet worden ist, und alles ertrgliche Dasein mit dem ,Sicher193 S.a. Allison, Reading the New Nietzsche, 72.
4.5. Die neue Morgenrçte: Glck der Ungewissheit
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heits-Gefhl‘ begann, so wirkt das jetzt noch fort bei den Denkern. Aber sobald die ußere ,Gefhrlichkeit‘ der Existenz zurckgeht, entsteht eine Lust an der Unsicherheit, Unbegrenztheit der Horizont-Linien. Das Glck der großen Entdecker im Streben nach Gewißheit kçnnte sich jetzt in das Glck verwandeln, berall die Ungewißheit und das Wagniß nachzuweisen. (N 1884, 26[280], KSA 11.223 f.)
Fhlt man sich sicher genug, hat man genug Gewissheit, bekommt man, auch in der alltglichen Orientierung, Lust an der Ungewissheit und wagt, nach den Grnden seines „Sicherheits-Gefhls“ zu fragen. Doch nimmt dann die Ungewissheit wieder berhand, verlangt man wieder nach Gewissheit: „Wille zur Wahrheit und Gewißheit entspringen aus F u r c h t in der Ungewißheit.“ (N 1884, 26[301], KSA 11.231) In der menschlichen Orientierung ist nicht einfach Gewissheit der positive und Ungewissheit der negative Wert, sondern beide werden abwechselnd gesucht und gemieden.194 Darum muss die „,Wahrheit‘“ auch nicht schon auf Seiten der Gewissheit sein. 1885 notierte Nietzsche: NB! Ist aber etwas Ruhendes wirklich glcklicher als alles Bewegte? Ist das Unvernderliche wirklich und nothwendig werthvoller als ein Ding, das wechselt? Und wenn sich Einer tausend Male widerspricht und viele Wege geht und viele Masken trgt und in sich selber kein Ende und letzten Horizontlinie findet: ist es wahrscheinlich, daß ein Solcher weniger von der ,Wahrheit‘ erfhrt als ein tugendhafter Stoiker, welcher sich ein fr alle Mal wie eine Sule und mit der harten Haut einer Sule an seine Stelle gestellt hat? Aber dergleichen Vorurtheile sitzen an der Schwelle zu aller bisherigen Philosophie: und sonderlich die, daß Gewißheit besser sei als Ungewißheit und offene Meere, und daß der Schein es sei, den ein Philosoph als seinen eigentlichen Feind zu bekmpfen habe. (N 1885, 40[57], KSA 11.656 / W I 7, S. 43)195
Wenn, heißt es dann in JGB 34, jemand, der auf Ungewissheit, Vernderlichkeit, Beweglichkeit im Denken und Leben aus sei, ein „,schlechter Charakter‘“ nachgesagt werde, so habe der Philosoph nachgerade ein R e c h t auf ,schlechten Charakter‘, als das Wesen, welches bisher auf Erden immer am besten genarrt worden ist, – er hat heute die P f l i c h t zum Misstrauen, zum boshaftesten Schielen aus jedem Abgrunde des Verdachts heraus. (JGB 34) 194 Vgl. Pascal, Penses, 136/139 (Zhlung Lafuma/Zhlung Brunschvicg), und dazu Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 645 f. 195 Von Nietzsche stark berarbeiteter Text, rekonstruiert nach Montinari, mit Korrekturen der Errata. Spter eingefgt hat Nietzsche inbesondere den Passus „in sich selber kein Ende und letzten Horizontlinie findet“, der, wohl aus Flchtigkeit, grammatisch inkonsistent ist. Ergnzung in W.S.
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4. Schatten des toten Gottes. Titel, Motto. Nr. 343
Erst wenn sich Philosophen entschieden auf Ungewissheit einlassen, gewinnen sie ihre eigentliche Freiheit, die Freiheit, alles scheinbar Gewisse anders und das heißt zunchst (aber nur zunchst, sonst bleiben sie Skeptiker) als ungewiss zu denken. „Wir {neuen Ph, wir Kommenden Versuchenden,} denken anders“, notierte sich Nietzsche 1885, „– u wir wollen es nicht beim Denken bewenden lassen. Wir denken freier – vielleicht kommt der Tag, wo man begreift {mit Augen sieht}, daß wir auch freier handeln.“ (N 1885, 36[17], KSA 11.557 f. / W I 4, S. 35) Sie erfahren dann, so Nietzsche in der Vorrede zu FW, „ein neues Glck“ am „Reiz alles Problematischen“, „die Freude am X“ (FW Vorrede 3).196 Glck macht, wenn nicht frçhlich, so doch heiter. In FW 343 verbindet Nietzsche dieses neue Glck nun mit der aufkommenden Heiterkeit nach der befreienden Einsicht in den Tod des ,alten Gottes‘ („eine neue schwer zu beschreibende Art von Licht, Glck, Erleichterung, Erheiterung, Ermuthigung, Morgenrçthe“). Es wird vorerst nur als Stimmung sprbar, als Aufhellung des Lebensgefhls, als Erwachen aus einer langen Depression (man will noch nichts Bestimmtes, sprt aber, dass man wieder wollen, wieder etwas tun kann, sieht ein weites Feld neuer Orientierungsmçglichkeiten vor sich ausgebreitet), als großes Aufatmen, das man gar nicht mehr erwartet hatte und ber das man darum umso mehr staunt, fr das man erst einmal nur dankbar ist, „endlich“, „endlich“ … Dies ist der (unbestimmt lange) Augenblick, die Zwischenzeit der Heiterkeit, unter deren Zeichen Nietzsche das V. Buch seiner FW gestellt hat.
4.6. Die neue Metaphorik des offenen Meers Nietzsche sieht dabei das Meer vor sich, „u n s e r Meer“, „ein so ,offnes Meer‘“, und Schiffe, um mit ihnen auszulaufen: unser Herz strçmt dabei ber von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung, – endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, dass er nicht hell ist, endlich drfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagniss des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, u n s e r Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so ,offnes Meer‘. –
Nietzsche gibt hier nur ein, aber ein gewaltiges „Beispiel“ fr die befreiende Wirkung des Unglaubwrdig-Werdens des alten Glaubens: „unsere ganze europische Moral“. Sie vor allem habe auf den Glauben an den christ196 Vgl. Wienand, „Wir kennen ein neues Glck …“.
4.6. Die neue Metaphorik des offenen Meers
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lichen Gott „gebaut“, habe sich „an ihn gelehnt“, sei „in ihn hineingewachsen“ und werde darum auch mit seiner Aushçhlung „untergraben“ und msse „einfallen“. Passend zu dieser Bau-Metaphorik hat sich Nietzsche in der neuen Vorrede zu M als Maulwurf eingefhrt, der die „moralischen Vorurtheile“ untergrbt, dabei „seine eigne lange Finsterniss“, „sein Unverstndliches, Verborgenes, Rthselhaftes“ durchforscht und endlich „seinen eignen Morgen, seine eigne Erlçsung, seine eigne M o r g e n r ç t h e“ entdeckt (M Vorrede 1). Doch zuvor hat er schon in den ersten IV Bchern der FW fr das Weite, Unbegrenzte, Offene, aber auch de und Leere, fr das unergrndlich Tiefe, aber auch von Untiefen Durchzogene, fr das Strmische, aber auch Stille, fr das Gefahrvolle, aber auch Rettung Zulassende, fr das allen Schmutz Aufnehmende, aber auch sich selbst Reinigende des nun sich erçffnenden neuen Philosophierens die Metaphorik des offenen Meers entwickelt. Auch zu ihr gewann er erst langsam Mut. Er gebrauchte sie schon frh, besonders in seinen Notaten: da ist etwa vom „Meer der Illusion“, vom „Meer der Schçnheit“, vom „Meer des Ungewissen“, vom „Meer des Nichts“, vom „Meer der Vergessenheit“ die Rede.197 Nach Heraklit, schrieb Nietzsche in PHG, gibt es kein „festes Land im Meere des Werdens und Vergehens“ (PHG 5, KSA 1.823), und im Geist Heraklits fasste er in WL die Bildung der Begriffe als Erstarren des Stroms von Metaphern. Auch Begriffe werden danach nur auf Zeit festgestellt; sie kçnnen jederzeit neu in Bewegung kommen und mssen es auch, wenn sie mit der Zeit gehen sollen, sie mssen, wie Nietzsche spter formulierte, „flssig“ bleiben (GM II 12). Die historische Wissenschaft hat das, so Nietzsche in HL, schmerzlich bewusst gemacht, indem sie „alle Horizont-Umschrnkungen aufzuheben sucht und den Menschen in ein unendlich-unbegrenztes Lichtwellen-Meer des erkannten Werdens hineinwirft“ (HL 10, KSA 1.330). Hier ruft er noch, der J u g e n d gedenkend, […] Land! Land! Genug und bergenug der leidenschaftlich suchenden und irrenden Fahrt auf dunklen fremden Meeren! Jetzt endlich zeigt sich eine Kste: wie sie auch sei, an ihr muss gelandet werden, und der schlechteste Nothhafen ist besser als wieder in die hoffnungslose skeptische Unendlichkeit zurckzutaumeln. Halten wir nur erst das Land fest; wir werden spter schon die guten Hfen finden und den Nachkommenden die Anfahrt erleichtern. (HL 10, KSA 1.324) Noch in MA und M scheint ihm die Unbegrenztheit des Meers „mit seiner beweglichen Schlangenhaut und Raubthier-Schçnheit“ (MA II, VM 49), „bleich, 197 N 1870/71, 5[35], KSA 7.102; N 1872/73, 19[70], KSA 7.442; PHG 11, KSA 1.845; N 1873, 29[52], KSA 7.650; N 1875, 11[18], KSA 8.204. – Zur Metapher des Meers in der philosophischen Tradition vgl. Makropoulos, Art. Meer. Danach hat Nietzsche die Meer- und Schifffahrts-Metaphorik am weitesten getrieben (244 f.). Zu seiner Schifffahrts-Metaphorik vgl. Hufnagel, „Nun Schifflein! sieh’ dich vor!“.
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glnzend, stumm, ungeheuer“ (M 423), ein „Dmon“, der „an sich keinen Charakter hat“ (M 461), zugleich Angst und Sehnsucht erregt, Angst vor der Entgrenzung alles Begrenzten und Sehnsucht nach ihr. Das Meer ist „Etwas in Stimme und Gebrde so Grausenhaftes und Unberechenbares“ wie der Wahnsinn „und desshalb einer hnlichen Scheu und Beobachtung Wrdiges“ (M 14). Das betrifft nicht nur das „Meer der Geschichte“ (MA I 238) und das „Meer des Wissenswerthen“ (MA I 256), sondern auch und erst recht das „Meer des Lebens“ (MA I 431). Und dann zieht Nietzsche auch hier die gefhrlichste Konsequenz. Er sucht die Angst zu berwltigen, indem er sie bertrumpft. Er berbietet die MeeresSchifffahrt durch die Luft-Schifffahrt ber das Meer, die nicht wie Columbus ein Indien, sondern eine „ungeheuere freie Bahn“ sucht, eine „Ferne“, „wo Alles noch Meer, Meer, Meer ist!“ (M 575)198 Doch auch in FW 124, dem Aphorismus, der dem vom „tollen Menschen“ vorausgeht, stellt er noch das Angstvolle, Dstere, Furchtbare des Aufbruchs seines „Schiffleins“ auf das offene, grenzenlose Meer heraus: I m H o r i z o n t d e s U n e n d l i c h e n. – Wir haben das Land verlassen und sind zu Schiff gegangen! Wir haben die Brcke hinter uns, – mehr noch, wir haben das Land hinter uns abgebrochen! Nun, Schifflein! sieh’ dich vor! Neben dir liegt der Ocean, es ist wahr, er brllt nicht immer, und mitunter liegt er da, wie Seide und Gold und Trumerei der Gte. Aber es kommen Stunden, wo du erkennen wirst, dass er unendlich ist und dass es nichts Furchtbareres giebt, als Unendlichkeit. Oh des armen Vogels, der sich frei gefhlt hat und nun an die Wnde dieses Kfigs stçsst! Wehe, wenn das Land-Heimweh dich befllt, als ob dort mehr F r e i h e i t gewesen wre, – und es giebt kein ,Land‘ mehr! (FW 124) Erst im IV. Buch der FW gewinnt die Furchtlosigkeit Oberhand. Nachdem er in FW 45 noch teilnehmend Epikurs Ergçtzen am still gewordenen „Meer des Daseins“ geschildert hat, pldiert er nun entschieden fr die Gefahr – das Geheimniss, um die grçsste Fruchtbarkeit und den grçssten Genuss vom Dasein einzuernten, heisst: g e f h r l i c h l e b e n! Baut eure Stdte an den Vesuv! Schickt eure Schiffe in unerforschte Meere! (FW 283) – und preist im „Verlangen nach unentdeckten Welten und Meeren, Menschen und Gçttern“ die „G e f a h r d e s G l c k l i c h s t e n“ (FW 302). Zarathustra ist dann ganz der Mann des Meeres (19.2.2.). Er wird von ihm getragen („Wie im Meere lebtest du in der Einsamkeit, und das Meer trug dich“, ZA Vorrede 2, KSA 4.12), er schwelgt in Metaphern des Meeres,199 er will „die Menschen-Welt, das Menschen-Meer“, den „Menschen-Abgrund“ vervielfltigen 198 Vgl. N 1880, 6[364], KSA 9.290 („Unendlichkeit! Schçn ist’s ,in diesem Meer zu scheitern.‘“), und N 1880, 7[165], KSA 9.351 („Ich will keine Erkenntniß mehr ohne Gefahr: immer sei das tckische Meer, oder das erbarmungslose Hochgebirge um den Forschenden.“). 199 Vgl. z. B. ZA I Vorrede 3, KSA 4.15; ZA II Kind, KSA 4.106; ZA II Insel, KSA 4.109; ZA II Weisen, KSA 4.135; ZA II Erhabenen, KSA 4.150; ZA II Erkenntniss, KSA 4.159; ZA III Seligkeit, KSA 4.206; ZA III Siegel 5, KSA 4.290.
4.6. Die neue Metaphorik des offenen Meers
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zu „vielen Meeren“ und „Menschen-Zuknften“ (ZA IV Honig-Opfer, KSA 4.297 ff.). In JGB verschwindet die Meeres-Metapher zwischenzeitlich fast vçllig, um dann in der neuen Vorrede und dem V. Buch der FW triumphal wiederzukehren, ebenso als „Ruhe, Stille, glattes Meer“ (FW 370) wie als unbegrenztes Meer der „Auswanderer“ (FW 377). Der Epilog (FW 383/20.2.) sollte zunchst ebenfalls mit den Meeren, nun „allen Meeren“ schließen, „mit einem Tanzliede“ fr einen „der Freiesten unter freien Geistern, der alle Himmel wieder hell und alle Meere brausen macht“ (N 1886, 4[9], KSA 12.183). Nietzsche will nun nicht aufs Meer, um wieder an Land zu kommen, und sei es ein unvermutetes, sondern sich der Ungewissheit der Meere selbst aussetzen. Davon zeugt auch das ber mehrere Vorstufen langsam erarbeitete Gedicht „N a c h n e u e n M e e r e n“ aus den PV.200 Zuletzt erscheint die Zukunft als „glattes Meer“: „kein Verlangen kruselt sich auf ihm.“ (EH klug 9) Nietzsche will nun in „Meere der Zukunft“ Angelhaken werfen – „nach allem Einsamen“ (DD Feuerzeichen, KSA 6.394). In Nietzsches Notaten ist das Meer noch strker prsent als im verçffentlichten Werk. Wo im Sils-Maria gewidmeten Lied des Prinzen Vogelfrei „See“ steht („Ganz See“), stand zunchst „Meer“ („Ganz Meer“) (N 1882/83, 4[145], KSA 10.157). In Entwrfen zu „Gai saber. / Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“ vom Sommer 1885 gibt sich Nietzsche als einer, der „als Landthier geboren“ ist und nun „trotzdem Meer-Thier sein“ muss (N 1885, 36[2], KSA 11.549 f. / W I 4, S. 52). In einer Vorstufe zu JGB 36 (die Welt „wre eben ,Wille zur Macht‘ und nichts ausserdem“) charakterisiert Nietzsche diese Welt als „ein Meer in sich selber strmender und fluthender Krfte, ewig sich wandelnd, ewig zurcklaufend, mit ungeheuren Jahren der Wiederkehr, mit einer Ebbe und Fluth seiner Gestalten“. Die „d i o n y s i s c h e Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstçrens, diese Geheimniß-Welt der doppelten Wollste“ ist eine MeeresWelt (N 1885, 38[12], KSA 11.611).
Zu Beginn von FW V, in FW 343, stellt Nietzsche diese Meere freien Geistern in Aussicht. Er setzt beide, „,freie Geister‘“ und „,offnes Meer‘“, in Gnsefßchen. Auch hier zitiert er sich selbst. Schon in MA, dem „Buch fr freie Geister“, hatte er mit ihnen das „offene Meer unbestimmter Wnsche“ (MA I 439) verbunden, den Begriff des freien Geistes ansonsten aber nur wenig gebraucht. Als er das bei der Vorbereitung der neuen Vorreden bemerkte, fragte er sich: „Was {aber in aller Welt} dachte ich mir damals unter dem Worte ,freie{n} Geister{n}‘, {nach denen ich den Angelhaken und meines Buches auswarf }“, und gab sich die Antwort: „Es scheint, ich wnschte mir – Gesellschaft?“ (N 1885, 41[9]2, KSA 11.686 / W I 5, S. 11). Doch das trog. Zuletzt, in EH, begriff Nietzsche die Losung des freien Geistes als ,Angelhaken‘ fr seine ,Loslçsung‘ von Schopenhauer 200 Vgl. N 1882, 1[15], KSA 10.12; N 1882, 1[101]; 10.34 (datiert Sommer 1882); N 1882, 3[1], KSA 10.53; N 1882, 3[4], KSA 10.108; N 1884 (jedoch nach Montinari, Kommentar, KSA 14.715, ebenfalls im Sommer 1882 entstanden), 28 [63], KSA 11.328.
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und Wagner: „In keinem andren Sinne will das Wort ,freier Geist‘ hier verstanden werden: ein f r e i g e w o r d n e r Geist, der von sich selber wieder Besitz ergriffen hat.“ (EH MA 1) Ein solcher freier Geist wre dann auch ein einsamer, aber frçhlicher Geist. Wir werden die Spur weiter verfolgen. Doch dazu muss zunchst der Begriff des Geistes geklrt werden. Er durchzieht das ganze V. Buch der FW und darber hinaus den Großteil von Nietzsches Werk. In FW 347 wird er ihn ohne Gnsefßchen gebrauchen (7.8.) und in FW 359 auf die Angst selbst der Philosophen vor dem Geist hinausfhren (6.3.).
Nietzsches schriftstellerische Methoden: ,Beweisen‘ durch Zeigen Nietzsche beweist in FW 343, wie angekndigt, seine Erheiterung nicht, indem er ber sie belehrt, sondern indem er sie zeigt.201 Noch der Vorstufe, die Montinari dokumentiert (14.272), fehlt die Stimmung. Nietzsche hat erst fr die dann verçffentlichte Fassung den faszinierend kunstvollen Aufbau der angstvollen Spannung und ihrer Auflçsung in Heiterkeit geschaffen, der erst von dem berzeugt, was er so irritierend sagt. Man kann ihn, wie alle Kunst, nur in groben Andeutungen beschreiben. Nietzsche lsst drei zunehmend krzere Abschnitte aufeinander folgen und verdichtet sie zugleich zunehmend: so wirken sie gleichgewichtig, aber das Tempo des Textes steigt. Er trennt die Abschnitte durch Auslassungspunkte (NSM 6), Pausen, als ob sich, im Zug der Steigerung des Tempos, der Fortgang des Gedankens fr ihn erst entschiede und er selbst von ihm berrascht wrde. Der Aphorismus wirkt, wiewohl der Autor sich zwei Mal ins Spiel bringt („Selbst wir“, „wir Philosophen“), als ob er sich von selbst schriebe. Im ersten Abschnitt reihen sich an eine vorsichtige Beobachtung („beginnt bereits seine ersten Schatten ber Europa zu werfen“) noch 201 Nach aktuellen Begriffen nicht konstatierend, sondern performativ. Vgl. Simonis, Der Stil als Verfhrer. Der Aufsatztitel spielt auf die Sentenz „Je abstrakter die Wahrheit ist, die du lehren willst, um so mehr musst du noch die Sinne zu ihr verfhren“ (JGB 128) an, die die Autorin nach dem vorbereitenden Notat fr Lou von Salom (N 1882, 1[45], KSA 10.23 u. ç.: „um so mehr muß man […]“), zitiert. Sie analysiert die sog. Tautenburger Aufzeichnungen und beruft sich ihrerseits auf Gauger, Nietzsches Auffassung vom Stil. Danach orientiert sich Nietzsches Konzept des Stils, so Simonis, „am idealtypischen Modell einer unmittelbaren Kommunikation unter Anwesenden“ (61). Seine Mittel ließen „sich nur in genauer Abstimmung auf den jeweiligen Kontext ermitteln“ (63).
4.6. Die neue Metaphorik des offenen Meers
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vorsichtigere, durch Modalverben und Konjunktive in Schwebe gehaltene Vermutungen an („Fr die Wenigen wenigstens […] scheint“, „muss […] scheinen“, „darf man sagen“, „heissen drfte“, „wssten“). Mit dem wachsenden Einblick in die „ungeheure Logik von Schrecken“, der dem „grçssten neueren Ereigniss“ folgen kçnnte, greifen die Stze immer weiter aus und verlieren den Halt. Zuerst eine eingeschobene erklrende Parenthese („– dass ,Gott todt ist‘ […] –“), dann mehrere nach Doppelpunkten, die mehr als das zunchst Gesagte und das Eigentliche ankndigen, um das es geht, fortgefhrte Stze, zuletzt eine abgebrochene Vermutung, in die eine rhetorische Frage einfllt („die nun bevorsteht: wer erriethe“). Nach der Schilderung der ausbleibenden Wirkung des Ereignisses auf die meisten im ersten Abschnitt im zweiten dann die Schilderung der – ganz anderen – ausbleibenden Wirkung auf den Autor, nach demselben rhetorischen Muster – Behauptung, Doppelpunkt, Frage („gekommen sein s o l l t e n: woran liegt es doch“) –, also als musikalische Variation; die Vernderung wird hçrbar. Nun aber statt vier nur noch zwei gedrngte Stze: Steigerung der Dramatik. Das hochkomplex, ber mehrere Zeilen hinweg ausformulierte Subjekt gleichwohl weiter geschwcht („warten“, „hingestellt“, „hineingespannt“, „zu Gesicht gekommen sein s o l l t e n“), die „geborenen Rthselrather“ ratlos. Nach dem Satzbruch nun eine echte Frage, gefolgt von einer zweiten („Stehen wir vielleicht zu sehr“), die jedoch nicht mehr mit einem Fragezeichen geschlossen, sondern nach einem neuerlichen Satzbruch („noch unter den n c h s t e n F o l g e n dieses Ereignisses – und diese nchsten Folgen, seine Folgen fr u n s sind“) mit einer sehr bestimmten Behauptung fortgefhrt wird („sind, umgekehrt als man vielleicht erwarten kçnnte, durchaus“). Die Stimmung kippt sichtbar und hçrbar von Angst zu Erheiterung: die vorsichtige Frage kehrt sich um zu einer ersten Ahnung einer neuen „Morgenrçthe“ – nachdem die Logik der zu erwartenden Schrecken die Logik der Stze aufgesprengt hat, kehrt die Heiterkeit zurck und die Stze finden wieder in ihre Ordnung. Wieder Auslassungspunkte, wieder Pause, Selbstvergewisserung („In der That“), neue, nun selbstgewisse Selbstidentifikation und Selbstzitation („wir Philosophen und ,freien Geister‘“). Nach der Erheiterung aus der Verdsterung „Dankbarkeit“. Der Text spricht von ihr, aber lsst sie noch mehr erleben, durch seine Wortwahl („fhlen“, „angestrahlt“, „strçmt dabei ber“, „endlich […], endlich“) und noch mehr durch seinen Satzbau: nun sieben Stze in einem einzigen Satz, er bersteigert sich atemlos und kann vor Freude nicht aufhçren, in einer großen Coda strçmen die Worte wie Meereswellen, das „,offne Meer‘“, „u n s e r Meer“ ankndigend, wellenartig vor- und zurck wie Tçne einer aufrauschenden Melodie
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(„drfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagniss des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, u n s e r Meer“, Kursivierungen WS). Doch dann, zuletzt, lsst Nietzsche die selige Begeisterung wieder in ein nchternes „vielleicht“ herabfallen, in die wieder erlangte Skepsis des wieder heiter gewordenen Philosophen. Und hnlich, wie Nietzsche das V. Buch begonnen hat, wird er es in FW 382 schließen (20.1.). FW ist eine einzige Erkundung „unsres ,offnen Meers‘“. FW 344 wird mit einer harten Klarstellung beginnen: „In der Wissenschaft haben die berzeugungen kein Brgerrecht, so sagt man mit gutem Grunde“. Begeisterungen und Beseligungen noch weniger. Und doch, zeigt FW 343, fhren erst solche Begeisterungen und Beseligungen zu harten Klarstellungen.
5. Bindungen der Gelehrten Die Wissenschaft (unter Einschluss der Philosophie) hat nach Nietzsche den Tod Gottes wohl mit herbeigefhrt, bleibt aber in dessen Schatten (FW 343/4.). Sie ist mit Gott tiefer verstrickt, als sie sich nach dem Abebben der christlichen Religion im Europa des 19. Jahrhunderts – „Die Gewsser der Religion fluthen ab und lassen Smpfe oder Weiher zurck“ (SE 4, KSA 1.366) – glauben machen mochte. In der Antike wurde die Wissenschaft so gedacht, dass sie erst durch einen Gott mçglich wurde, sei es als Garant ihres hçchsten Wertes, der Wahrheit, oder als ihr Anreger. Parmenides fhrte eine neue namenlose Gçttin ein, um seiner neuen Wissenschaft Autoritt zu verschaffen, Sokrates sah sich im Wissen, dass er nichts wusste, vom Gott in Delphi aufgefordert, nach wahrem Wissen zu suchen. Auch fr Descartes sollte Gott noch die Wahrheit der wissenschaftlichen Erkenntnis garantieren (indem er in seiner Gte nicht zuließ, dass die menschliche Erkenntnis ins Leere greift), bis Kant ihr mit seiner Kritik auch diese Garantie entzog. Inzwischen hatte sich die Wissenschaft jedoch zunehmend als ntzlich fr das Leben erwiesen und dadurch immer mehr Glaubwrdigkeit gewonnen, konnte sich mit dieser Autoritt gegen ihre erste Autoritt, Gott, kehren und ihn schließlich fr unglaubwrdig erklren; die Theologie trug in den Augen vieler mit ihrer Historisierung des Glaubens dazu bei.202 Nietzsche begrßte den „Sieg des wissenschaftlichen Atheismus“ (FW 357/12.5.), sah aber auch, dass die Wissenschaft nun an sich selbst glaubte, dass sie sich, wie Nietzsche den tollen Menschen hin202 Vgl. MA I 113: So etwas wie „Ein Gott, der mit einem sterblichen Weibe Kinder erzeugt; ein Weiser, der auffordert, nicht mehr zu arbeiten, nicht mehr Gericht zu halten, aber auf die Zeichen des bevorstehenden Weltunterganges zu achten; eine Gerechtigkeit, die den Unschuldigen als stellvertretendes Opfer annimmt; Jemand, der seine Jnger sein Blut trinken heisst; Gebete um Wundereingriffe; Snden an einem Gott verbt, durch einen Gott gebsst; Furcht vor einem Jenseits, zu welchem der Tod die Pforte ist; die Gestalt des Kreuzes als Symbol inmitten einer Zeit, welche die Bestimmung und die Schmach des Kreuzes nicht mehr kennt, – wie schauerlich weht uns diess Alles, wie aus dem Grabe uralter Vergangenheit, an!“ In den Tautenburger Aufzeichnungen fr Lou von Salom von 1882 notierte Nietzsche: „Gott hat Gott getçdtet“ (N 1882, 1[75], [76], KSA 10.30), und erluterte das bald darauf so: „Gott erstickte an der Theologie“ (N 1882, 3[1]7, KSA 10.54).
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5. Bindungen der Gelehrten
ausschreien ließ, fr stark genug hielt, „diese Erde von ihrer Sonne los [zuketten]“ und selbst eine haltbare Orientierung zu schaffen (FW 125). Den wirkungsvollsten Ausdruck hatte dem Auguste Comte gegeben, nach dem die Menschheit aus einem theologischen ber ein metaphysisches in ein wissenschaftliches Stadium gelangt war, in dem sie sich nun allein an positive Tatsachen halte, die sie nach vollkommen einsichtigen Gesetzen verknpfe. Die Wissenschaft selbst sollte mit der positiven Philosophie oder Soziologie abschließen, in der sie ihre eigenen gesellschaftlichen Bedingungen erforsche, um sie ihrerseits, zum Wohl einer wissenschaftlich geprgten Gesellschaft, auf eine positive Grundlage zu stellen. Nietzsche schtzte Comte als „grossen rechtschaffenen Franzosen, dem die Deutschen und die Englnder dieses Jahrhunderts, als einem Umschlinger und Bndiger der strengen Wissenschaften, Keinen an die Seite zu stellen vermçgen“ (M 542), zhlte ihn in einem Notat mit Aristoteles, Bacon und Descartes zu den „großen Methodologen“ (N 1887, 9 [61], KSA 12.368 / W II 1, S. 95), sah dann aber auch seine Grenzen. Zuletzt war er fr ihn, in Anspielung auf seine sptere Religion der Menschlichkeit, der ein gottloser Katholizismus vorgeworfen wurde, ein „Jesuit, […] der seine Franzosen auf dem U m w e g der Wissenschaft nach Rom fhren wollte“ (GD Streifzge 4). Nietzsche betrachtete, mit einem Wort aus dem Titel von FW 344, des zweiten Aphorismus des V. Buchs, auch Comte noch als „f r o m m“, in religiçsen und metaphysischen Bindungen befangen.203 Der Gedanke, dass auch die Wissenschaft ihren Glauben braucht, wagte sich in Nietzsche erst allmhlich hervor. Im ersten Band von MA unterschied er im Sinn von Comtes Dreistadiengesetz, aus dem Ernst Haeckel sein ,biogenetisches Grundgesetz‘ gewonnen hatte, in der geistigen Reifung junger Menschen „J a h r e s r i n g e d e r i n d i v i d u e l l e n C u l t u r“. Danach folgen auf die religiçsen Empfindungen der Kindheit in der Jugend die „Zauber einer metaphysischen Philosophie“, bis schließlich „der wissenschaftliche Sinn“ „immer gebieterischer“ wird und „den Mann hin zur Naturwissenschaft und Historie und namentlich zu den strengsten Methoden des Erkennens“ fhrt (MA I 272). Doch im zweiten Band von MA heißt es dann: Wenn die Wissenschaft nicht an die L u s t der Erkenntniss, an den N u t z e n des Erkannten geknpft wre, was lge uns an der Wissenschaft? Wenn nicht ein wenig Glaube, Liebe und Hoffnung unsere Seele zur Erkenntniss hinfhrte, was zçge uns sonst zur Wissenschaft? Und wenn zwar in der Wissenschaft das Ich Nichts zu bedeuten hat, so bedeutet das erfinderische 203 Zu Nietzsches weiteren Bezugnahmen auf Comte vgl. Solms-Laubach, Nietzsche and Early German and Austrian Sociology, 69 – 71.
5. Bindungen der Gelehrten
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glckliche Ich, ja selbst schon jedes redliche und fleissige Ich, sehr viel in der Republik der wissenschaftlichen Menschen. (MA II, VM 98) Nietzsche begriff nun auch die Wissenschaft von Bedrfnissen und Nçten der Wissenschaftler aus. Weil die Wissenschaft entbehrungsreicher ist und weniger Glanz und Ruhm verspricht als die Kunst, brauchen Wissenschaftler mehr Glaube, Liebe, Hoffnung als Knstler (MA II, VM 206). Da berzeugte Wissenschaftler sich selbst der „Bilder und Gleichnisse“ entschlagen mssen, durch die man „berzeugt“, aber nicht „beweist“, da sie „gerade das Ueberzeugende, das G l a u b l i c h -Machende n i c h t“ wollen und von sich „das klteste Misstrauen“ fordern, „weil das Misstrauen der Prfstein fr das Gold der Gewissheit ist“ (MA II, WS 145), da sie es weder bei irgendwelchem Nutzen noch bei irgendwelchen Plausibilitten bewenden lassen wollen, was treibt sie dann zu ihrer unerbittlichen Suche nach Erkenntnis und Gewissheit, nach Aufklrung um jeden Preis, und was macht ihnen diese Aufklrung, die Gott unglaubwrdig gemacht hat, so glaubwrdig? Die Frage wurde zu einem Thema der FW von Anfang an. Nietzsche wandte sich, stets vor dem Hintergrund des Evolutionsgedankens, in den ersten beiden Bchern der Religion und Moral, im III. Buch dann den dogmatischen und moralischen Voraussetzungen der Wissenschaft zu (FW 109 – 113) und warnte vor ihren scheinbaren Selbstverstndlichkeiten („H t e n w i r u n s! “, FW 109): „die K r a f t der Erkenntnisse liegt nicht in ihrem Grade von Wahrheit, sondern in ihrem Alter, ihrer Einverleibtheit, ihrem Charakter als Lebensbedingung.“ (FW 110) Auch das „L o g i s c h e“ und alle „,Erklrung‘“ des „Werdens“, des „Flusses des Geschehens“, haben ihre „H e r k u n f t“ in besonderen und zuflligen Lebensumstnden (FW 111, 112). Damit im Triebgeflecht der Wissenschaft (FW 113/2.3.) der „gute Glaube“ an sie (FW 123) sich erhalten konnte, bedurfte es, neben manchem anderen, einer durch Religion gefestigten Moral, fr die eben die Wahrheit ein hçchster Wert ist (FW 114 – 122). Die europische Wissenschaft, Religion und Moral bildeten ein Geflecht, in dem sie einander wechselseitig Halt gaben. Und je mehr dieses Geflecht sich festigte, konnte es auf den ,alten Gott‘ als Halt verzichten – es ,tçtete‘ ihn, und die Wissenschaft wurde zur Ersatz-Religion. An dieser Stelle lenkt FW 125 auf die Religion zurck, die im III. Buch dann das beherrschende Thema bleibt (FW 126 – 151).204
Nietzsche thematisiert so die Religion und den Tod Gottes im Kontext der Wissenschaft, aber auch die Wissenschaft im Kontext der Religion. Er befragt beide auf den „grossen Gesammtglauben“ (FW 76) hin, der sich in ihnen zeigt. Entzieht ihm die Wissenschaft die Sttze in der Religion, wird auch sie selbst fragwrdig. Die Auflçsung des Glaubens an Gott stellt auch die Wissenschaft in Frage, ihren Glauben an die Wahrheit.
204 Vgl. Wienand, Significations de la Mort de Dieu, 141 – 181.
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5. Bindungen der Gelehrten
Nietzsches schriftstellerische Methoden: Verflechtung auf- und abtauchender Themenketten Nietzsche bildet zum Thema Wissenschaft eine Aphorismenkette (FW 344-348-349-366), greift es ,kubistisch‘ (1.3.) aus unterschiedlichen Perspektiven auf, ohne sie zu einer Einheit zusammenzufhren. Er kann die einschlgigen Aphorismen dabei weit auseinander stellen (FW 344, 366), aber auch unmittelbar aufeinander folgen lassen (FW 348 und 349). Nachdem er das Thema ,Frçmmigkeit‘ auch der Wissenschaft gesetzt hat (FW 344: „I n w i e f e r n a u c h w i r n o c h f r o m m s i n d.“), schaltet er, bevor er auf es zurckkommt, Aphorismen zu der Moral ein, die Grund dieser Frçmmigkeit ist und nun zum Problem wird (FW 345), zum Misstrauen als Kraft der Philosophie (FW 346) und zum „Bedrfniss nach Glauben“, das dieser Kraft entgegensteht (FW 347). Im Licht und Schatten dieser Perspektiven thematisiert er dann die engen geistigen Bindungen der Gelehrsamkeit, die Bedingung jeder Wissenschaft ist (FW 348: „Vo n d e r H e r k u n f t d e r G e l e h r t e n.“ – FW 349: „N o c h e i n m a l d i e H e r k u n f t d e r G e l e h r t e n. “). Gerade als gelehrte ist die Wissenschaft nicht frçhlich (in Nietzsches Sinn) und muss dazu erst befreit werden. Auf neue Aphorismen zu Religion und Moral, aber auch zu den Ursprngen des Bewusstseins, unseres Begriffs ,Erkenntnis‘ und der Gesellschaft und zur mçglichen Distanz zur Gesellschaft, auch sie zum Teil in Gestalt ineinander verwobener thematischer Aphorismenketten (6.–8.), lsst Nietzsche ein letztes Stck seiner bruchstckhaften Soziologie und Psychologie der Gelehrten folgen, zum „Buckel“, den alle Gelehrten trgen, ihrem horizontverengenden Spezialistentum (FW 366: „A n g e s i c h t s e i n e s g e l e h r t e n B u c h e s.“).205 So taucht in der Abfolge der Aphorismen das Thema Wissenschaft unter dem Gesichtspunkt der Gelehrsamkeit im Geflecht mit weiteren Aphorismenketten zu weiteren Themen immer wieder auf und ab. Und eben so, als Geflecht ineinander verwobener Themenketten, erscheint jener Gesamtglaube auch historisch: nie scharf konturiert, nie explizit in Axiomen und Propositionen formuliert, nie aus einem Prinzip deduziert, weitestgehend gar nicht bewusst, sondern als schwer durchschaubarer Zusammenhang von Plausibilitten, die einander berlagerten und berkreuzten und dadurch gegenseitig sttzten und zusammen schließlich so selbstverstndlich wurden, dass gar 205 In FW 373 („,W i s s e n s c h a f t ‘ a l s V o r u r t h e i l“) geht es um die Philosophie und den „Idiotismus“ ihrer Festlegung auf nur eine Perspektive einer Wissenschaft (13.2.).
5.1. Bindung durch den Glauben an die Wahrheit. Nr. 344
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nicht nach ihnen gefragt wurde – bis Nietzsche sie mit seinen Mitteln aufdeckte. Die Aphorismenkette zur Wissenschaft und ihrer Gelehrsamkeit fhrt vom Allgemeinen zum Besonderen: die außerwissenschaftlichen Bindungen der Wissenschaft werden schrittweise konkretisiert, freilich nur im Grundzug. Zugleich erweitert Nietzsche immer wieder berraschend die Horizonte seiner Analysen.
5.1. Bindung durch den Glauben an die Wahrheit Nr. 344: I n w i e f e r n a u c h w i r n o c h f r o m m s i n d . 5.1.1. Wissenschaftliche Form des Aphorismus FW 343 schloss mit den „Philosophen“, FW 344 setzt mit der „Wissenschaft“ ein. Das „w i r“ im Titel, das waren zuletzt „wir Philosophen und ,freien Geister‘“ und sind jetzt Wissenschaftler, die bereit sind, ihre Wissenschaft im Horizont der Philosophie kritisch auf ihre außerwissenschaftlichen Voraussetzungen hin zu befragen oder befragen zu lassen. Und der Titel spricht auch schon die These aus: dass auch Wissenschaftler „n o c h f r o m m“, aus berzeugung glubig sind.206 Nietzsche kommt ihnen so weit wie mçglich entgegen. Er gibt selbst ein Exempel strenger kritischer Wissenschaft: Satzanschlsse mit „Also“, „Folglich“, „Denn“ dominieren; durch Trennungsstriche nach Schlusspunkten von Stzen teilt er den Aphorismus klar in sechs Abschnitte ein (Abstze macht er in seinen Aphorismen nie,207 noch nicht einmal in den langen Ausfhrungen der GM, Ausnahmen gibt es nur in AC); er entwirft in ihnen eine konsequent fortschreitende Argumentation. Er liefert jedoch nicht Begrndungen und Begrndungen fr Begrndungen, sondern treibt einen Prozess fortschreitender Kritik voran, in dem die jeweils noch verbliebene Gewissheit wieder berraschend hinterfragt wird, so lange, bis am Ende die Ausgangsthese des V. Buchs der FW besttigt wird, dass der unglaubwrdig 206 Henri Birault, „En quoi, nous aussi, nous sommes encore pieux“, hat eine der seltenen Gesamtinterpretationen eines Aphorismus, hier zu FW 344, vorgelegt. Er stellt Nietzsches Wissenschaftsphilosophie in den Kontext der klassischen Frage nach dem Verhltnis von Glaube und Wissen seit Kant und Hegel, weniger in den Kontext von Nietzsches Werk im Ganzen und kaum in den Kontext des V. Buchs der FW im Besonderen, von dem wir hier ausgehen. 207 Kaufmann hat in seiner bersetzung der FW ins Englische durchgehend unautorisierte Abstze eingefgt.
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5. Bindungen der Gelehrten
gewordene Glaube an den christlichen Gott ,Schatten‘ hinterlassen hat, hier den Glauben der Wissenschaftler an die Wahrheit. In FW 109 („H t e n w i r u n s!“) hatte Nietzsche ausdrcklich von „Schatten Gottes“ in den Wissenschaften gesprochen, Vergçttlichungen der Natur in metaphysischen Voraussetzungen. Dass Nietzsche damit nicht seinerseits und also selbstwidersprchlich eine Wahrheit verkndet, zeigt er so, dass er vom unpersçnlich-wissenschaftlichen Tonfall („man“, passiven Formulierungen, „wahrscheinlich“, „muss […] bejaht“ u. .) unversehens in einen persçnlich-engagierten verfllt, das Tempo wieder durch Satzbrche, Fragen, rhetorische und echte, Seufzer („oh“), Zwischenrufe („– und es hat den Anschein –“) und Auslassungspunkte steigert und dabei in die Form eines Gesprchs mit dem Leser („ihr“, „Doch man wird es begriffen haben, worauf ich hinaus will“) bergleitet, in dem seine kritischen Fragen zu Fragen an den Leser werden, der sie selbst, aus eigener Entscheidung, zu beantworten hat. Aus einer glubigen Wissenschaft wird, in der Kritik ihres scheinbar fraglosen Ziels, der Erforschung der Wahrheit, eine stets streitbare und umstrittene – was sie tatschlich ist. 5.1.2. Glubige Wissenschaft als Schatten Gottes Die Argumentation ist eine der komplexesten im V. Buch der FW. Darum zunchst ein berblick. Nietzsche setzt [1]208 mit dem kritischen Bewusstsein der Wissenschaft ein, dass sie es nur mit Hypothesen als regulativer Fiktionen zu tun habe, und deckt [2] die Paradoxie darin auf: dass die Wissenschaft aus berzeugung auf berzeugungen verzichte, aus einer letzten, strksten berzeugung, die dann ein nicht mehr hinterfragter Glaube ist. Dann stellt er [3] seinerseits alternative Hypothesen auf, wie dieser Glaube zu verstehen ist, nmlich als Wille, sich nicht tuschen zu lassen, oder als Wille, nicht zu tuschen, und prft [4] diese beiden Hypothesen wiederum daraufhin, ob die Vermeidung der jeweiligen Tuschung fr das Leben ntzlich oder schdlich sei. Er macht aufgrund einer Prmisse ber den Charakter des Lebens, die er schon frher eingefhrt hat und im folgenden Abschnitt nochmals zitiert, die erste Alternative unwahrscheinlich, so dass nur die zweite bleibt, die [5] auf den Boden der Moral fhre. Danach unterliegt die Wissenschaft in ihrem Glauben an die Wahrheit einem lebensfeindlichen moralischen Zwang: die Moral als ein 208 Im Folgenden nummerieren die in eckige Klammern gesetzten Zahlen Nietzsches Trennungsstriche.
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versteckter Wille zum Tode wird selbst moralisch in Frage gestellt. Doch auch dies bleibt eine Hypothese, die Nietzsche [6] mit der Frage ,wozu berhaupt Moral?‘ noch einmal der Prfung unterwirft. Sie fhrt zurck zur Metaphysik des ,alten Gottes‘, die schon ihre Glaubwrdigkeit eingebßt hat. [1] Die Argumentation geht von Plausibilitten der bereits etablierten kritischen Wissenschaft aus („so sagt man mit gutem Grunde“, „So steht es wahrscheinlich“). Die kritische, konsequent nach den Bedingungen der Mçglichkeit ihrer Gegenstnde fragende Wissenschaft ist inzwischen dahin gekommen, „zur Bescheidenheit einer Hypothese, eines vorlufigen Versuchs-Standpunktes, einer regulativen Fiktion herabzusteigen“, hat also erstens erkannt, dass wissenschaftliche Behauptungen nur bis auf weiteres gltige Hypothesen sein kçnnen, zweitens, dass Hypothesen nur versuchsweise von Standpunkten aus formuliert sind, zu denen stets Alternativen denkbar sind, und drittens, dass Wissenschaften die Vielfalt der Gegebenheiten und Geschehnisse, die sie zum Gegenstand machen, nie in ihrer ganzen Komplexitt, sondern immer nur nach eigenen Regeln, Richtlinien oder Normen erfassen, die die Wirklichkeit unvermeidlich verkrzen. Die „Wirklichkeit“, notierte sich Nietzsche, ist „unsglich {anders} complicirt“ (N 1885, 34[249], KSA 11.505 / N VII 1, S. 5). Das ist, in Grundzgen, die Art, wie eine durch Wissenschaftsgeschichte belehrte Wissenschaftstheorie die Wissenschaft heute versteht.209 Dass wissenschaftliche Wahrheit nicht in der bereinstimmung mit unabhngig von ihr gegebenen Gegenstnden liegen kann, war sptestens seit Kant klar, der mit seiner Kritik gezeigt hatte, dass ein „allgemeines materiales Kriterium der Wahrheit“ nicht mçglich und „sogar in sich selbst widersprechend“ ist.210 Denn als allgemeines Kriterium msste es von allen materialen Objekten abstrahieren, als materiales Kriterium diese Objekte aber zugleich voraussetzen. Man kann nicht, so schon Kant, Erkenntnisse mit ihren Objekten, sondern immer nur Erkenntnisse von Objekten untereinander vergleichen. Um aber berhaupt vergleichbare Erkenntnisse zu gewinnen, bedrfe es ,regulativer Ideen‘, von der Vernunft selbst geschaffene Orientierungshilfen, die, wenn man sie mit Realitten verwechselt, zu ,Illusionen‘ werden. Die Wahrheit wird erdacht. Mit regulativen Fiktionen, so Nietzsche in seinen Notaten, wollen „wir uns das wirkliche Geschehen, zum Zweck praktischer Ausntzung, auf unser Maaß 209 Vgl. Daston, Wunder, Beweise und Tatsachen, und Daston/Galison, Objektivitt. 210 Kant, Logik, AA 9.50.
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– auf unsre Dummheit – vereinfachen und zurechtlegen.“ (N 1885, 38[2], KSA 11.597)211 Indem sich die selbstkritische Wissenschaft auf regulative Fiktionen beschrnkt, die sie von bestimmten Standpunkten aus in begrenzten Horizonten versuchsweise testet, bescheidet sie sich mit dem Anspruch einer orientierenden Wissenschaft, fr die die Rede von der Wahrheit eine Orientierungshilfe ist. Auch und gerade von der Wissenschaft im strengen Sinn ist kein wahres Wissen ber an sich bestehende Gegenstnde zu erwarten. [2] Kant hatte auch schon kritisch klargestellt, dass Wissenschaften nicht Wissensschtze, sondern im Wortsinn ,Disziplinen‘ sind, also bestimmte Weisen, so Nietzsche, der „Zucht des wissenschaftlichen Geistes“. Eine Disziplin oder Zucht ist eine Regulierung der wissenschaftlichen Aussagen nach angestrengt einzubenden und streng einzuhaltenden Regelwerken oder Methoden eines spezifischen Zeichengebrauchs, nach Kant „gleichsam ein System der Vorsicht und Selbstprfung“, das „von Ausschweifung und Irrtum abhalte“ und „Tuschungen und Blendwerke“ ausschließe.212 Das galt nach ihm auch fr die Logik und die Mathematik, soweit sie in der Wissenschaft eingesetzt werden.213 Sie machen, sofern sie nur nach eigenen Regeln eingefhrte Zeichen benutzen, den Zeichengebrauch uneinge211 Vgl. N 1885, 34[249], KSA 11.505 / N VII 1, S. 5 f.; N 1884, 26[239] u. [241], KSA 11.211 f., JGB 4 („dass ohne ein Geltenlassen der logischen Fiktionen, ohne ein Messen der Wirklichkeit an der rein erfundenen Welt des Unbedingten, Sich-selbst-Gleichen, ohne eine bestndige Flschung der Welt durch die Zahl der Mensch nicht leben kçnnte“), JGB 15 („regulative Hypothese“) und N 1886/87, 7 [4], KSA 12.258 – 270, einer Auseinandersetzung mit Spinoza, Leibniz, Kant, Schopenhauer und Feuerbach: „Die Grundstze der Logik, der Satz der Identitt und des Widerspruchs, sind reine Erkenntnisse, weil sie aller Erfahrung vorausgehen. – Aber das sind gar keine Erkenntnisse! sondern r e g u l a t i v e G l a u b e n s a r t i k e l!“ (KSA 12.266). – Hans Vaihinger, Die Philosophie das Als ob, formulierte dann, neben Nietzsche und wie er im Anschluss an Schopenhauer, Friedrich Albert Lange und Darwin, Kants Ideen konsequent in fr die Wissenschaften und den Alltag unentbehrliche Fiktionen um. Darwin und Nietzsche werden erst im Anhang genannt („Historische Besttigungen“). In Vaihinger, Nietzsche als Philosoph, von 1902 hat Vaihinger zu einer Zeit, als Nietzsche zumeist noch als bloßer Literat galt, ihn „als Philosoph“ aufgewertet, freilich eine noch recht oberflchliche Darstellung seines Denkens gegeben, indem er „seine bunte und krause Gedankenwelt“ „in ein streng konsequentes System“ aus lauter „Anti-“Haltungen brachte (6 f.). Nietzsches Gedanken der regulativen Fiktionen hat er dabei nicht herausgestellt. 212 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 711/B 739. 213 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 349 f.
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schrnkt durchsichtig und damit stets nachvollziehbar und ermçglichen so kontrollierbare und allgemein verlssliche Orientierungen – nicht Wahrheit, denn gerade sie reduzieren die erfahrbare Komplexitt massiv. Als Disziplin greift die kritische Wissenschaft aber auch in die persçnliche Orientierung ein, schon dadurch, dass sie deren Standpunkte, Horizonte und Perspektiven als solche bewusst macht und zur Disposition stellt. Ist ihre Disziplin einmal als Imperativ einverleibt, wird sie zur Selbstdisziplin, zur „Selbstzucht“ nach, wie es Nietzsche dann in GM nennt, einem „asketischen Ideal“.214 Ihre regulativen Fiktionen bekommen einen persçnlichkeitsverndernden, ,zchtenden‘ Effekt: nach dem einverleibten Imperativ der Wissenschaft, nur das nach dem jeweiligen Regelwerk Prfbare gelten zu lassen, werden auch die „Ueberzeugungen“, denen ein Wissenschaftler folgt, „unter die Polizei des Misstrauens“ gestellt. Nietzsche fhrt die berzeugungen als Gegenbegriff zur wissenschaftlich-kritischen Orientierung, nmlich als persçnliche Orientierungen ein. Das Wort ,berzeugung‘ kommt von ,Zeuge‘, ein Zeuge hat persçnlich fr das einzustehen (gr. laqtuq]y), was er zu sagen hat.215 Persçnliche Zeugen werden immer dort gebraucht, wo Sachverhalte nicht unmittelbar zu beobachten sind, als Boten, als Zeugen vor Gericht und als Glaubenszeugen. Das Wort ,zeugen‘ wiederum stammt von ,ziehen‘ und bedeutete zunchst ,jemand vor Gericht ziehen‘, damit er dort aussagt; ,berzeugen‘ hieß ursprnglich ,jemand vor Gericht durch Zeugen berfhren‘, dann auch das Gericht selbst durch ein Zeugnis berzeugen, es zur Entscheidung bringen, dass es etwas fr wahr oder unwahr hlt, zu dem es selbst keinen Zugang hat. Und so kann man schließlich auch ,sich berzeugen‘ oder ,von etwas berzeugt sein‘, und das, wovon man dann berzeugt ist, ist dann weder eine allgemein gltige Wahrheit noch eine, zu der man selbst einen privilegierten Zugang htte. „,berzeugungen‘“, notierte sich Nietzsche, sind bloße „Glaubensartikel“ (N 1887, 9[35], KSA 12.350 / W II 1, S. 115), persçnliche Vorentscheidungen ber die Wahrheit, die nicht mehr berprft werden. Durch berzeugungen legt man seine persçnliche Orientierung so fest, dass man auch dann nicht von ihnen ablsst, wenn starke Anhaltspunkte gegen sie sprechen. berzeugtheit ist die Entschiedenheit, an etwas nicht Ausweisbarem festzuhalten. 214 GM III 23 – 26; EH klug 9. Vgl. Stegmaier, Nietzsches ,Genealogie der Moral‘, 169 – 208, und Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 511 – 513. 215 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 532 f.
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In der Wissenschaft werden berzeugungen dadurch paradox: „Heisst das aber nicht, genauer besehen: erst, wenn die Ueberzeugung a u f h ç r t, Ueberzeugung zu sein, darf sie Eintritt in die Wissenschaft erlangen?“ In MA hatte sich Nietzsche bereits mit den berzeugungen auseinandergesetzt und dort so begonnen: „Ueberzeugungen sind gefhrlichere Feinde der Wahrheit, als Lgen.“ (MA I 483) Kritische Wissenschaft kann keine berzeugungen zulassen. Denn sie bestehen in einem Glauben, „in irgend einem Puncte der Erkenntniss im Besitze der unbedingten Wahrheit zu sein.“ Wer berzeugungen hat, kann darum „nicht der Mensch des wissenschaftlichen Denkens“ sein (MA I 630). Da aber niemand ohne berzeugungen leben kann, weichen auch Wissenschaftler von einem bestimmten Punkt an „allen skeptischen und relativistischen Stellungen zu irgendwelchen Fragen der Erkenntniss“ aus, um sich ihre berzeugungen zu bewahren. So konnte „der wissenschaftliche Geist im Menschen“, „jene Tugend der v o r s i c h t i g e n E n t h a l t u n g“, nur langsam wachsen und mehr „im Gebiet des praktischen Lebens“ als im theoretischen (MA I 631). Doch je mehr man die Erfahrung machte, dass berzeugungen auch in der Wissenschaft wechseln, konnte man mit dem Wechsel von sich aus experimentieren; dazu imstande zu sein, beweist, so Nietzsche, schon eine „hçhere Cultur“; an der „U m s c h a f f u n g der Ueberzeugungen“ zu arbeiten, fgt er spter hinzu, „heisst an der Cultur arbeiten.“ (MA II, VM 323) Dagegen stand die Inquisition mit ihrer berzeugung, „dass man die Wahrheit, in der Kirche, h a b e, und um jeden Preis mit jedem Opfer zum Heile der Menschheit bewahren m s s e.“ Inzwischen gilt „das Pathos, dass man die Wahrheit habe, […] sehr wenig im Verhltniss zu jenem freilich milderen und klanglosen Pathos des Wahrheit-Suchens, welches nicht mde wird, umzulernen und neu zu prfen.“ (MA I 633)216 Das Wahrheit-Suchen seinerseits hat sich in der Moderne gerade im Kampf um die berzeugungen, vor allem die religiçsen, entwickelt, als Weg, den Kampf zu entschrfen (MA I 634). Er ließ sich entschrfen auch durch die Festlegung auf wissenschaftliche Methoden, mit deren Hilfe sich in „usserster Besonnenheit“ auch ber berzeugungen entscheiden und Abstand selbst gegen die Autoritt von Genies gewinnen ließ, die „die Glut der Ueberzeugungen“ unterhalten (MA I 635). Auch das Streben nach Gerechtigkeit wirkte in dieser Richtung, sofern sie berzeugungen einander gegenberstellt und ihnen auf den Grund geht (MA I 636 f.). In JGB fhrt Nietzsche weiter auf die Paradoxie hin, noch immer ohne sie auf den Punkt zu bringen. berzeugungen lassen sich, solange sie stark sind, nicht widerlegen; ihr Halt lockert sich jedoch, wenn sie verglichen werden und unter ihnen gewechselt wird. Sie hçren auf, berzeugungen zu sein, wenn man sich nicht mehr persçnlich, nicht mehr um seiner eigenen Orientierung willen fest an sie bindet. Doch selbst fr Philosophen ist es schwer, berzeugungen, die einer Orientierung Halt geben, zu durchschauen und gegen sie anzugehen (JGB 8). 216 Vgl. N 1880, 3[19], KSA 9.52: „Das Neue an unserer jetzigen Stellung zur Philosophie ist eine berzeugung, die noch kein Zeitalter hatte: d a ß w i r d i e W a h r h e i t n i c h t h a b e n. Alle frheren Menschen ,hatten die Wahrheit‘: selbst die Skeptiker.“ S. dazu Stegmaier, Nietzsches Neubestimmung der Wahrheit.
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Gelingt es, dienen sie als „Fusstapfen zur Selbsterkenntniss, Wegweiser zum Probleme, das wir s i n d, – richtiger, zur grossen Dummheit, die wir sind, zu unserem geistigen Fatum, zum U n b e l e h r b a r e n ganz ,da unten‘.“ (JGB 231)217 Und so braucht man auch in der Wissenschaft wieder eine berzeugung, um gegen berzeugungen anzugehen, den unbedingten Glauben an die Wahrheit.
In FW 344 fragt Nietzsche nun ausdrcklich nach ihr: „nur bleibt brig zu fragen, ob nicht, d a m i t d i e s e Z u c h t a n f a n g e n k ç n n e, schon eine Ueberzeugung da sein msse, und zwar eine so gebieterische und bedingungslose, dass sie alle andren Ueberzeugungen sich zum Opfer bringt.“ Die berzeugung, berzeugungen zum Opfer bringen zu mssen, ist ein durch Selbstbezug hervorgerufener Widerspruch und damit im strengen Sinn paradox.218 Weil die wissenschaftliche Disziplin Widersprche verbietet, die Paradoxie aber unvermeidlich ist, blockiert hier die Wissenschaft, kommt nicht weiter. Das ist dann aber auch der Punkt, an dem ihre Nachfragen anhalten und zur Ruhe kommen, an dem sie unfreiwillig Halt findet und von dem aus sie darum anfangen kann.219 Sie muss sich dann freilich ihre Paradoxie verbergen, sie unsichtbar machen, sie ,invisibilisieren‘,220 und das geschieht eben durch einen Glauben, der nicht mehr hinterfragt wird. Die Wissenschaft „ruht“ dann auf diesem Glauben. Nietzsche identifiziert ihn als den Glauben an die Wahrheit und zeigt, auf welche Weise dieser Glaube zugleich gegen alle weiteren Nachfragen im217 Vgl. GD Streifzge 18 und zusammenfassend und nochmals zuspitzend zur „Psychologie der berzeugung“ AC 54 u. 55. 218 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 9 – 14. 219 Vgl. zum produktiven Umgang mit Paradoxien Luhmann, Tautologie und Paradox; Luhmann, kologische Kommunikation, 54 ff.; Luhmann, Sthenographie und Euryalistik, 58 – 82, und zuletzt und mit besonderer Prgnanz Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, 17 f., 55 ff., 74, 131 ff. u. 155 ff. Luhmanns Erfahrung war: „man stçßt auf eine fast zwanghafte Angst vor dem Paradox, die dazu fhrt, daß die Logik der Selbstreferenz, das heißt der Anwendung des Codes auf den Code selbst, nicht mitvollzogen wird.“ (Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, 70 f.). Doch: „ber Nietzsche und Heidegger bis zu Derrida hat sich inzwischen ein ganz anderer Umgang mit Paradoxien eingebrgert. […] Die Paradoxien werden nicht vermieden oder umgangen, sondern vorgefhrt. Sie werden mit Hingebung zelebriert. Sie werden in einer wie immer verdrehten Sprache zum Ausdruck gebracht.“ (Luhmann, Sthenographie und Euryalistik, 59). – Zur Analyse von Nietzsches Paradoxien vgl. Miranda de Almeida, Nietzsche and Paradox, und Dixsaut, Nietzsche par-del les antinomies, und die Besprechung von Stegmaier, Nietzsches Begriffe, Paradoxien und Antinomien, ferner Stegmaier, Art. Paradoxie. 220 Vgl. Luhmann, Tautologie und Paradox, 84, und Luhmann, kologische Kommunikation, 77.
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munisiert wird. Er wird moralisiert und durch diese Moralisierung tabuiert: „,es thut n i c h t s m e h r noth als Wahrheit, und im Verhltniss zu ihr hat alles Uebrige nur einen Werth zweiten Rangs‘.“ [3] Indem Nietzsche die Paradoxie identifiziert (ohne sie als ,Paradoxie‘ zu bezeichnen), bricht er das Tabu der kritischen Wissenschaft, auf dem sie ruht. Es ist der „unbedingte Wille zur Wahrheit“. Er ist unbedingt darin, dass er schon die Frage nach seinen Bedingungen ausschließt, dass nach ihnen nicht gefragt werden darf. Nietzsche fragt nach ihnen. Er fragt wissenschaftlich, aber ,außermoralisch‘, und außermoralisch zu fragen, ist wissenschaftlich fraglos geboten. Er fragt wissenschaftlich auch insoweit, als er seine Frage, was dieser unbedingte Wille zur Wahrheit sei, wiederum hypothetisch stellt, nmlich zwei Alternativen erwgt, und von beiden nur eine Interpretation („interpretirt“), keine abschließende Erklrung erwartet: „Ist es der Wille, s i c h n i c h t t u s c h e n z u l a s s e n ? Ist es der Wille, n i c h t z u t u s c h e n?“ Darauf erwgt Nietzsche, weiterhin konsequent wissenschaftlich, das logische Verhltnis der beiden Alternativen und die Mçglichkeit, sie untereinander zu subsumieren („Verallgemeinerung“). Die zweite scheint die allgemeinere, umfassendere zu sein (man will nicht nur sich nicht, sondern berhaupt nicht tuschen). [4] Nietzsche prft zunchst jedoch die erste. Denn keine Verallgemeinerung ist selbstverstndlich, und diese kçnnte trgen; die Grnde der beiden Alternativen kçnnten andere sein, und so kçnnte die Subsumtion gar nicht zulssig sein. Nietzsche untersucht sie darum getrennt, zunchst also die Grnde fr die erste. Zur berprfung der Hypothese, dass die Wissenschaft oder besser: ein Wissenschaftler sich nicht tuschen lassen wolle, erprobt er die „Annahme, dass es schdlich, gefhrlich, verhngnissvoll ist, getuscht zu werden, – in diesem Sinne wre Wissenschaft eine lange Klugheit, eine Vorsicht, eine Ntzlichkeit“. Die Annahme liegt nahe fr das evolutionre Denken (und fr das evolutionre Denken sind auch alle Verallgemeinerungen fragwrdig). Sie lsst folgende Alternative zu: „ist wirklich das Sich-nicht-tuschen-lassen-wollen weniger schdlich, weniger gefhrlich, weniger verhngnissvoll: Was wisst ihr von vornherein vom Charakter des Daseins, um entscheiden zu kçnnen, ob der grçssere Vortheil auf Seiten des Unbedingt-Misstrauischen oder des Unbedingt-Zutraulichen ist?“ Nietzsche lsst vorerst offen, worin jener „Charakter des Daseins“ besteht, und argumentiert nur mit den Vor- und Nachteilen des Misstrauens und des Vertrauens fr das Leben. Sie sind beide „nçthig“, sofern man, um berleben und mit an-
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deren und anderem umgehen zu kçnnen, das eine durch das andere begrenzen, also zwischen ihnen oszillieren muss. Das Problem ist dann nicht das des Vertrauens oder des Misstrauens selbst, sondern des Unbedingten im Sich-nicht-tuschen- oder Sich-tuschen-lassen-wollen : das Unbedingte ist es, das Misstrauen wie Vertrauen lebensfeindlich macht. Wenn aber mit dem „unbedingten Glauben“ an den Vorzug der Wahrheit ein unbedingtes und darum lebensfeindliches Misstrauen verbunden ist, scheitert der „Ntzlichkeits-Calcul“ als Erklrung seines „Ursprungs“. Das unbedingte Sich-nicht-tuschen-lassen-wollen ist evolutionr nicht plausibel. [5] Damit bleibt nur die andere Alternative „,ich will nicht tuschen, auch mich selbst nicht‘“. Wird auch sie unbedingt genommen, ist sie evolutionr ebenfalls nicht plausibel, wohl aber moralisch. Moralische Gebote sind stets unbedingt, und nicht zu tuschen ist eines der eindringlichsten: „– u n d h i e r m i t s i n d w i r a u f d e m B o d e n d e r M o r a l.“ Nun, im Zusammenhang mit der Moral, fhrt Nietzsche auch seine Prmisse ber den „Charakter des Daseins“ ein, die er von Schopenhauer bernommen hat und die sein ganzes Werk durchzieht, dass „das Leben auf Anschein, ich meine auf Irrthum, Betrug, Verstellung, Blendung, Selbstverblendung angelegt wre“, dass wir die Selbsttuschung brauchen, um das Dasein ertragen zu kçnnen, dass also gerade sie uns zu berleben hilft.221 Und er fhrt auch sie nicht metaphysisch (wie Schopenhauer) ein, sondern ebenfalls hypothetisch und selbstbezglich und damit ihrerseits paradoxieverdchtig: „namentlich wenn es den Anschein haben sollte, – und es hat den Anschein! – als wenn das Leben auf Anschein […] angelegt wre“. Nietzsche schließt konsequenterweise nicht aus, dass auch seine Hypothesen und hypothetischen Prmissen noch Teil der lebensblichen und vielleicht lebensnotwendigen Selbstverblendung sein kçnnten. Doch er hat immerhin einen Anhaltspunkt fr seine Prmisse, nmlich den, dass „thatschlich die grosse Form des Lebens sich immer auf der Seite der unbedenklichsten pok}tqopoi gezeigt hat“, ,Vielgewandten‘ wie Odys221 Vgl. FW 107, wo Nietzsche nicht mehr schreibt wie in GT: „denn nur als a e s t h e t i s c h e s P h n o m e n ist das Dasein und die Welt ewig g e r e c h t f e r t i g t“ (GT 5, KSA 1.47), sondern: „Als sthetisches Phnomen ist uns das Dasein immer noch e r t r g l i c h“. Die metaphysische Rechtfertigung im Sinn Schopenhauers entfllt. Vgl. Dahlkvist, Nietzsche and the Philosophy of Pessimism, 223.
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seus, der mit seiner Verschlagenheit zum Heros der Odyssee wie Achilles mit seinem Zorn zu dem der Ilias werden konnte. Odysseus vertraute man auch noch im Wissen, dass er leicht tuschte, er berlebte dadurch und wurde dafr geachtet, dass er nicht immer und „,um jeden Preis‘“ von der Wahrheit Gebrauch machte (wenn er sie denn hatte), sondern sie je nach Situation einsetzte, zurckhielt oder vortuschte. Das gilt, in bescheidenerem Umfang, auch fr das alltgliche Leben, und so ist gegenber dem moralischen und moralphilosophischen Bestehen allein auf ,der Wahrheit‘ der ,vielgewandte‘ Umgang mit ihr die lebensnhere, weniger voraussetzungsvolle und darum auch wissenschaftlich vorzuziehende Hypothese. Nietzsche erprobt auch hier zwei alternative Hypothesen, eine „milde“ und weniger wahrscheinliche, dass es sich bei dem „Vorsatz“, nicht tuschen zu wollen, auch sich selbst nicht, um „eine Don-Quixoterie“ handle – Cervantes’ Don Quixote wurde zum komischen Heros der Selbsttuschung –, und eine „schlimmere“ und wahrscheinlichere, dass er „ein lebensfeindliches zerstçrerisches Princip“ sei: „,Wille zur Wahrheit‘ – das kçnnte ein versteckter Wille zum Tode sein.“ Wenn aber die Moral, die antritt, das Leben menschenwrdig zu machen, sich ber dessen Charakter hinwegsetzt und es dadurch bewusst oder unfreiwillig zerstçrt, setzt sie sich selbst moralisch ins Unrecht, wird auch sie paradoxiert, und damit zerbricht auch ihre Immunisierung und Tabuierung des unbedingten Willens zur Wahrheit. [6] So hat die wissenschaftlich-kritische Analyse der wissenschaftlichen Kritik dieser auch den letzten Boden, den ,Boden der Moral‘, entzogen. Nietzsche verfolgt die traditionellen Alternativen weiter, spielt ihre Gegenstze gegeneinander aus und fhrt sie so ad absurdum. Wenn die Moral als Boden des unbedingten Willens zur Wahrheit nicht dem Leben dient, muss sie dem Tod dienen; wenn sie „e i n e a n d e r e W e l t“ „b e j a h t“, in der der Glaube an die Wissenschaft und ihre Wahrheit sich erfllt, muss sie „ihr Gegenstck, diese Welt, u n s r e Welt – verneinen“. Nietzsche stellt auch dies als Frage und berlsst nun, angedeutet durch Auslassungspunkte, die Antwort dem Leser. In seiner bald folgenden GM wird er sie auch selbst geben und in GM III 24 („Das sind noch lange keine f r e i e n Geister: d e n n s i e g l a u b e n n o c h a n d i e W a h r h e i t … “) FW 344 zitieren. Er wird dort das Problem des unbedingten Willens der Wissenschaft zur Wahrheit, das sie zum Protagonisten des ,asketischen Ideals‘ gemacht hat, auf das Problem des Nihilismus hinausfhren und als Resmee formulieren:
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das Alles bedeutet, wagen wir es, dies zu begreifen, einen W i l l e n z u m N i c h t s, einen Widerwillen gegen das Leben, eine Auflehnung gegen die grundstzlichsten Voraussetzungen des Lebens, aber es ist und bleibt ein W i l l e!… Und, um es noch zum Schluss zu sagen, was ich Anfangs sagte: lieber will noch der Mensch d a s N i c h t s wollen, als n i c h t wollen… (GM III 28)
In FW 344 will Nietzsche auf etwas anderes hinaus, auf die Bindung auch der Wissenschaftler und damit auch seiner selbst an die Metaphysik, an einen „m e t a p h y s i s c h e n G l a u b e n“. Die Wissenschaft kommt nicht ohne einen solchen Glauben aus, sie konstituiert sich durch ihn, und wer das wissenschaftlich aufweisen will, wie Nietzsche es hier versucht, folgt diesem Glauben ebenfalls: er dringt auf die Wahrheit ber die Wahrheit. Das sagt weder etwas gegen die Wissenschaft noch gegen ihre Kritik, sondern nur etwas gegen die naive Einseitigkeit ihres Selbstverstndnisses, in der sie sich bei ihrem unbedingten Willen zur Wahrheit beruhigt und blind fr das Opfer bleibt, das sie mit ihm bringt. Es ist das Opfer, dem Leben gerecht zu werden. Metaphysik sieht als solche von der Zeit, in der sich immer alles ndern kann, und damit dem Leben ab, zugunsten eines ewigen, aber toten Seins, im Glauben, an ihm etwas zu haben, woran man sich immer halten kann. Hier hat sie durchaus eine Funktion fr die Orientierung, und sie muss sie haben, wenn sie sich ber Jahrtausende halten konnte. Entsprechend ihrer Differenzierung in eine allgemeine Metaphysik, der Lehre vom Sein oder Ontologie, und in spezielle Lehren von der Welt, der Seele und Gott, der rationalen Kosmologie, Psychologie und Theologie, kçnnte der metaphysische Begriff des Seins auf das Orientierungsproblem der Unbestndigkeit oder der Zeit, der metaphysische Begriff der Welt auf das Orientierungsproblem der Unbersichtlichkeit der Situation, der metaphysische Begriff der Seele auf das Problem der Beherrschbarkeit der Situation und der metaphysische Begriff Gottes auf das Orientierungsproblem schlechthin, die Ungewissheit geantwortet haben,222 und zwar stets so, dass von der Zeitlichkeit als Bedingung der Orientierung abgesehen wird. Als Mittel der Orientierung paradoxiert die Metaphysik also ihrerseits die Orientierung, kann orientierungsfeindlich werden, auch durch die Wissenschaft, soweit sie auf einem ,metaphysischen Glauben‘ beruht. Doch auch das geschieht immer nur auf Zeit, und nun hat, fr Nietzsche, die Metaphysik ihre Zeit gehabt. Mag sie oder ein ,metaphysischer Glaube‘ in der Wissenschaft unver222 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 652 – 656.
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meidlich sein, so ist er nun, mit den Mitteln der Wissenschaft, durchschaut. Fazit: Nietzsche liefert in FW 344 ein Glanzstck der berwindung der Metaphysik in aller Wissenschaft nicht durch eine andere Metaphysik, sondern durch die Paradoxierung ihres leitenden Ideals, des unbedingten Willens zur Wahrheit, auf dem Weg einer konsequenten wissenschaftlichkritischen Analyse. Ohne zu leugnen, „dass auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch u n s e r Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein Jahrtausende alter Glaube entzndet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Plato’s war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit gçttlich ist…“, kurz, dass auch die Aufdeckung der Wahrheit Gottes und der Metaphysik sich noch im Schatten Gottes und der Metaphysik vollzieht, durchbricht er die Bindung an diese Metaphysik und schafft Spielrume fr neue Alternativen des Denkens.223 Und damit kehrt der Gedanke zum Anfang von FW 343 zurck: „Aber wie, wenn dies [scil. dass die Wahrheit gçttlich ist] gerade immer mehr unglaubwrdig wird, wenn Nichts sich mehr als gçttlich erweist, es sei denn der Irrthum, die Blindheit, die Lge, – wenn Gott selbst sich als unsre lngste Lge erweist? –“ Dann bleibt, nach den beiden Aphorismen FW 343 und 344, die ,neue Morgenrçte‘. Sie geht auf eben durch die Aufdeckung der Paradoxien zuerst der berzeugung, dann des unbedingten Willens der Wissenschaft zur Wahrheit, dann der Moral, auf der er beruht, und schließlich der Orientierung, die er nçtigt, auf Zeit von ihren eigenen Bedingungen abzusehen, und sie erçffnet ein neues, durch Misstrauen begrenztes Vertrauen in die wissenschaftlich-kritische Orientierung – ber die wissenschaftlich-kritische Orientierung selbst.
223 Kaufmann, Nietzsche, 416 – 419, und Danto, Nietzsche as Philosopher, passim, bzw. Danto, Nietzsche und der Semantische Nihilismus, 144 f., gerieten ber die Folgerungen aus Nietzsches Kritik des Glaubens an die Wahrheit in FW 344 in eine Kontroverse. Nach Danto brach Nietzsche mit jedem Glauben an die Wahrheit und ging pragmatisch mit ihr um, nach Kaufmann lehnte er gerade utilitaristische und pragmatistische Wahrheitskonzepte ab und hielt am Willen zur Wahrheit fest – als einem Willen zur Macht. Der Streit wird gegenstandslos, wenn Pragmatismus und Wille zur Macht als Alternativen betrachtet werden, an die von Fall zu Fall geglaubt werden kann – sofern wir nach Nietzsche wohl immer einen Glauben nçtig haben, aber keinen festen.
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5.2. Bindung durch Vorfahren im Glauben an den Beweis Nr. 348: Vo n d e r H e r k u n f t d e r G e l e h r t e n . 5.2.1. Unwissenschaftliche Form des Aphorismus FW 348 scheint im Vergleich zu den bisher interpretierten Aphorismen simpel und erweist sich doch als hochgradig irritierend. Nietzsche zeigt nun als außermoralische Bedingungen des moralisch-unbedingten Willens zur Wahrheit unerkannte Plausibilitten auf, nach denen Wissenschaftler ihre Wissenschaft betreiben. Plausibel ist, was unmittelbar Zustimmung findet, also das, wonach nicht mehr gefragt wird und wo man im Sinn Nietzsches zu glauben beginnt. Man hlt es nicht mehr fr begrndungs- oder beweisbedrftig: „Wo das Gefhl zum Ausdruck kommt ,das ist nunmehr bewiesen, hiermit bin ich fertig‘“. Von Plausibilitten kçnnen darum Begrndungen und Beweise ausgehen. Dass Wissenschaften zuletzt auf Plausibilitten beruhen, ist kaum zu bestreiten, denn Fragen und Begrndungen kçnnen nicht ins Unendliche fortgehen.224 Dennoch sind sie, soweit man sie im „Gefhl“ hat, schwer dingfest zu machen. Gefhle sind individuell, nicht allgemeingltig mitteilbar, und klar ist, dass Wissenschaften auch nach individuellen Begabungen, aus persçnlichen Vorlieben und unter oft zuflligen Umstnden gewhlt werden (vgl. FW 356/11.1.) und dass innerhalb der wissenschaftlichen Disziplinen wiederum Autoritten, Argumentationsstrategien und Beweisverfahren ein individueller Vorzug gegeben werden kann; das ist fr Nietzsche geschenkt, er erwhnt es hier gar nicht. Aber Wissenschaftler unterscheiden sich auch darin, was sie beweisen zu mssen glauben oder nicht, auch darin gehen sie individuell vor. Doch hier ist dann seinerseits kaum etwas zu beweisen, man kann, so Nietzsche, hier nur erraten, was sich „verrth“, und dazu bedarf es des besonders geschulten Blicks eines „geborenen Rthselrathers“ (FW 343). Hat Nietzsche in FW 344 die Bedingungen der Wissenschaft wissenschaftlich analysiert, geht er nun versuchsweise unwissenschaftlich vor. Er markiert hier keine Einteilung, verschrnkt thematisch auf irritierende Weise Wissenschaftsmethodisches (die Grnde von Wissenschaftlern, etwas fr bewiesen zu halten) mit Politischem (sie gehçrten „zu den Trgern des demokratischen Gedankens“) und kndigt ein Beispiel an, aus dem dann vier werden. An das vierte Beispiel, die Juden, hngt er eine SchlussParenthese an, in der er den thematischen Horizont schlagartig erweitert: 224 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 14 – 18.
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geht es zunchst noch darum, dass Juden durch ihre soziale Herkunft gezwungen waren, „grosse Stcke auf die Logik“ zu halten, so zuletzt um Europa im Ganzen, das fr seine „Logisirung“ und damit fr seine Wissenschaft berhaupt, die es stets nur den Griechen zu verdanken glaubte, „den Juden nicht wenig Dank schuldig“ sei. Galt die Logik stets als das, was nicht durch soziale Bedingungen beeinflusst wird, kann sie doch ihrerseits soziale Bedingungen verndern. 5.2.2. Unaufflliger Test des Lesers in seinem Glauben an den Beweis Nietzsche setzt damit ein, dass, soziologisch betrachtet, Gelehrte nicht an Stnde gebunden sind und dadurch beste Bedingungen zu einem ungebundenen und damit auch ,rein logischen‘ Denken haben. Die Wissenschaft hatte in Europa schon sehr frh stndische Gliederungen der Gesellschaft unterlaufen. Wissenschaft zu treiben, setzte in der Antike wohl einige materielle und politische Unabhngigkeit voraus, war jedoch nicht vom Stand abhngig. Als sie in der Sptantike in Klçstern, im Mittelalter mehr und mehr in Universitten betrieben wurde, stand sie Angehçrigen auch armer sozialer Schichten offen. Daneben konnten sich aber auch weiterhin ungebundene Einzelne einen Namen in ihr machen; zu Beginn der Neuzeit, als auch Universitten noch starken dogmatischen Zwngen unterlagen, traten sie unter den fhrenden Kçpfen noch strker hervor (Spinoza z. B. lehnte um seiner Unabhngigkeit willen eine Berufung an die Universitt Heidelberg ab). Kaum von Besitz und Macht abhngig, ließ sich die wissenschaftliche Produktivitt nicht fr die Besitzenden und Mchtigen privilegieren. Auch Wissenschaft stand „wesentlich und unfreiwillig“ in einem politischen Kontext, auch und gerade, weil sie sich ihm ein Stck weit entzog, und so konnten Gelehrte „zu den Trgern des demokratischen Gedankens“ gehçren, auch wenn noch lange kaum von Demokratie im modernen Sinn die Rede sein konnte. Die politische Freiheit der Wissenschaft wurde durch die Erfindung des Buchdrucks weiter bestrkt; wurden Schriften zuvor unter strenger Aufsicht in klçsterlichen und frstlichen Schreibstuben kopiert, konnte auf dem offenen Buchmarkt ihre Verbreitung nicht mehr kontrolliert werden. Wissenschaft und Markt untergruben zusammen beharrlich die stndische Gesellschaft Europas. Und weil Gelehrten um ihrer Produktivitt willen wie Knstlern ohnehin eine Sonderrolle zugestanden wurde, konnten sie sich auch, wenn auch in geringerem Maß, gesellschaftlichen Konventionen entziehen. All das fasst Nietzsche in seine knappe Eingangsformel: „Der Gelehrte wchst
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in Europa aus aller Art Stand und gesellschaftlicher Bedingung heraus, als eine Pflanze, die keines spezifischen Erdreichs bedarf“. Seine These, dass die Plausibilitten der Gelehrten von ihrer Herkunft abhingen, scheint dem entgegenzulaufen: wenn Gelehrte „aus aller Art Stand und gesellschaftlicher Bedingung“ herausgewachsen sind, drfte ihre soziale Herkunft gerade keine Rolle mehr spielen. Doch selbst und gerade dann, so Nietzsche, machen sich die „Familie“ und die „Berufsarten und Handwerke“, die in ihr gepflegt wurden, in der Arbeit des Gelehrten als „intellektuelle I d i o s y n k r a s i e“ bemerkbar. Um das zu zeigen, beschrnkt er sich auf das Brgertum, in dem berhaupt Berufen nachgegangen und Handwerke ausgebt wurden; aber unter den bedeutenden Wissenschaftlern und Philosophen der Moderne waren natrlich auch Adlige. Den Begriff ,Idiosynkrasie‘ gebraucht Nietzsche erst in der FW und schiebt ihn dann immer weiter nach vorne. Er wird zu seinem Begriff fr die individuellen Beschrnkungen und Bindungen auch des (daher nur scheinbar) allgemeinen und allgemeingltigen wissenschaftlichen und philosophischen Denkens, kurz: fr die individuelle im Gegensatz zur allgemeinen Gltigkeit. Der Begriff stammt aus der antiken Medizin, ist bei Galen belegt.225 Im Wortsinn bedeutet er ,eigentmliche Mischung‘, nmlich der Kçrpersfte, so dass es zu unterschiedlichen individuellen Reaktionen auf gleiche Reize kommen kann; er nahm dann den Sinn von berempfindlichkeit, auch psychischer, gegenber anderen Geschmckern, Personen, sozialen Ordnungen an. Nietzsche fhrt ihn im I. Buch der FWals „Idiosynkrasie des Geschmacks“ ein (FW 3),226 bildet ihn hier in FW 348 zur „intellektuellen“ Idiosynkrasie und in FW 370 (16.) zur Idiosynkrasie eines Philosophen fort, die ihn zu einem bestimmten Typus des Philosophierens nçtige, spricht dann in FW 380 (18.) von „Idiosynkrasien des ,unfreien Willens‘“ berhaupt. In GM bertrgt er ihn auf Gesellschaften im Ganzen. In modernen Gesellschaften kann der ,demokratische Gedanke‘, zunchst ein Freiheitsmoment, zur Idiosynkrasie werden und wissenschaftliche Standards politisch beeinflussen: „Die demokratische Idiosynkrasie gegen Alles, was herrscht und herrschen will,“ habe „sich allmhlich dermaassen in’s Geistige, Geistigste umgesetzt und verkleidet, dass [sie] heute Schritt fr Schritt bereits in die strengsten, anscheinend objektivsten Wissenschaften eindringt, eindringen d a r f“ (GM II 12). Gesellschaftliche Idiosynkrasien kçnnen, von Priestern geschickt aufgegriffen, in „Massen-Delirien“ ausarten (GM III 21). Ist die Idiosynkrasie blind fr sich selbst, 225 Vgl. Bovenschen, Ach wie schçn, 455 f. 226 Kuhnle, Der Ekel auf der hohen See, 176 – 183, verfolgt den Begriff der Idiosynkrasie und seine Nhe zu dem des Ekels in der Psychologie und sthetik von Rosenkranz bis Adorno.
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wird sie zur Idiotie.227 Zuletzt begreift Nietzsche auch die von den alten Philosophen zum hçchsten Maßstab und Wert ausgerufene allgemeine Vernunft als die Idiosynkrasie einer Kultur, vielleicht der „Thierart“ Mensch berhaupt,228 und die Moral, die sich auf sie sttzt, „insofern sie v e r u r t h e i l t, an sich, n i c h t aus Hinsichten, Rcksichten, Absichten des Lebens“, als „eine D e g e n e r i r t e n -I d i o s y n k r a s i e“ (GD Moral 6). Er verallgemeinert auch dies noch einmal, nennt nun jede Moral eine Idiosynkrasie, eine „Moral-Idiosynkrasie“,229 und definiert (gegen seine Maxime, nichts zu definieren, was eine Geschichte hat) die Moral durch den Begriff der Idiosynkrasie: „D e f i n i t i o n d e r M o r a l: Moral – die Idiosynkrasie von dcadents, mit der Hinterabsicht, s i c h a m L e b e n zu rchen – u n d mit Erfolg. Ich lege Werth auf d i e s e Definition.“ (EH Schicksal 7) Damit bekennt auch er sich zuletzt zu einer Idiosynkrasie, seiner Idiosynkrasie gegen die Moral als Bindung des wissenschaftlichen und philosophischen Denkens, die sein eigenes Philosophieren vorangetrieben hat.
Im V. Buch der FW geht es noch um individuelle Idiosynkrasien von Gelehrten. Die Prgung durch Vorfahren hat Nietzsche schon in JGB behandelt, und hier bezieht er auch den Adel mit ein: Es ist aus der Seele eines Menschen nicht wegzuwischen, was seine Vorfahren am liebsten und bestndigsten gethan haben: ob sie etwa emsige Sparer waren und Zubehçr eines Schreibtisches und Geldkastens, bescheiden und brgerlich in ihren Begierden, bescheiden auch in ihren Tugenden; oder ob sie an’s Befehlen von frh bis spt gewçhnt lebten, rauhen Vergngungen hold und daneben vielleicht noch rauheren Pflichten und Verantwortungen; oder ob sie endlich alte Vorrechte der Geburt und des Besitzes irgendwann einmal geopfert haben, um ganz ihrem Glauben – ihrem ,Gotte‘ – zu leben (JGB 264).
227 Vgl. FW 373, wo Nietzsche von „Idiotismus“ spricht. Der Begriff ,Idiot‘, ,idiotisch‘ macht in seinem Sptwerk eine hnliche Karriere wie der der ,Idiosykrasie‘. Nietzsche nennt den „Typus Jesus“ „Idiot“ (AC 29) und sucht zugleich seine „originalen, oft peinlich-fremden Zge und Idiosynkrasien“ herauszuarbeiten (AC 31). Zur teils empçrten, teils hmischen Debatte um Nietzsches Verwendung des Begriffs ,Idiot‘ fr Jesus vgl. Sommer, Friedrich Nietzsches „Der Antichrist“, 287 – 291. Den Zusammenhang mit dem Begriff ,Idiosynkrasie‘ stellt Sommer nicht her. Wiewohl er die vorsichtig-hypothetischen Formulierungen Nietzsches registriert, beharrt er auf dem psychopathologischen Sinn des Wortes ,Idiot‘. Das vertrgt sich allerdings schlecht mit dem philosophisch-religiçsen Sinn, den Dostojewski dem Wort in seinem Roman Der Idiot zumindest auch gegeben hat, und mit Nietzsches Begeisterung fr Dostojewski, von dessen Roman er vermutlich gelesen hat, wenn sich auch nicht besttigen lsst, dass er ihn selbst gelesen hat. Vgl. Poljakova, „Beherzter Fatalismus“, 179 – 182. 228 Vgl. GD Sokrates 4 u. 9; GD Vernunft 1 u. 4; N 1888, 14[152], KSA 13.334 / W II 5, S. 58 f. 229 EH GT 2; vgl. AC 7 u. 15.
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Prgend wirkt danach nicht so sehr eine gezielte Erziehung, sondern das bloße Lebensumfeld, in dem einer aufwchst.230 Und dies soll sich nach FW 348 nun auch in der Arbeit von Wissenschaftlern auswirken: Sçhne von Broschreibern sehen die Lçsung von Problemen fast schon in deren Klassifizierung, Schematisierung und Kategorisierung, Sçhne von Advokaten neigen zum Recht-Behalten im çffentlichen Streit und Sçhne von protestantischen Geistlichen und Schullehrern zu engagierter Identifikation mit ihrer Sache, auf dass man ihnen glaube. Das scheint zunchst durchaus plausibel. Aber welche intellektuellen Idiosynkrasien glten fr Sçhne von rzten, Kaufleuten, Handwerkern, Bauern oder Aristokraten, die Wissenschaft und Philosophie getrieben haben? Nietzsche belsst es bei wenigen karikierenden Typisierungen, die ebenso viele, wenn nicht noch mehr Ausnahme- als Regelflle zulassen (NSM 8). So war etwa der Vater Immanuel Kants, auf den Nietzsche mit den „Kategorientafeln“ deutlich anspielt und den er eben noch in JGB 211 unter die „wissenschaftlichen Arbeiter der Philosophie“, das sind eben die Kategorisierer und Schematisierer, gerechnet hat, nicht Broschreiber, sondern Riemermeister, und auch Kants Großvater mtterlicherseits war es.231 Immerhin war Hegel, den Nietzsche ebenfalls den ,philosophischen Arbeitern‘ zuzhlt, denen es obliege, „alles bisher Geschehene und Geschtzte bersichtlich, berdenkbar, fasslich, handlich zu machen, alles Lange, ja ,die Zeit‘ selbst, abzukrzen und die ganze Vergangenheit zu b e r w l t i g e n“ (JGB 211), Sohn eines Rentkammersekretrs; doch auch Voltaire, „ein grandseigneur des Geistes: genau das, was ich auch bin“ (EH MA 1), hatte einen Notar zum Vater (der es zum Amt eines hohen Richters und Gebhreneinnehmers am Obersten Finanzgericht brachte). Sçhne von Juristen waren so unterschiedliche philosophische Temperamente wie Bacon, Pascal, Leibniz, Hume, Goethe, Bentham und Feuerbach, aus Pfarrer- oder Predigerhusern kamen etwa Schelling und die Schlegels und Nietzsches Freund Paul Deussen und sein gelehrter Zwillingsstern Wilhelm Dilthey (5.4.2.), aber auch Mnner, die ihn prgten und die er hoch verehrte, wie 230 Sautet, Notes, 515, Fn. 392, erwgt Schopenhauer, WWV II, § 43: „Erblichkeit der Eigenschaften“, 3.591 – 607, als mçgliche Quelle von Nietzsches These. Doch Schopenhauer geht es um genetisches Erbe v. a. von der Mutter. Bei Wissenschaftlern denkt er an Dynastien wie die Scaligers oder Bernoullis (3.598). 231 Vgl. Khn, Kant, 43. – Zu Kants angeblichem „sonderbaren Wohlgefallen an der S y m m e t r i e, welche die bunte Vielheit liebt, um sie zu ordnen und die Ordnung in Unterordnungen zu wiederholen, und so immerfort, gerade wie an den Gothischen Kirchen“, Schopenhauer, WWV I, Anhang: Kritik der Kantischen Philosophie, 2.509.
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Friedrich Ritschl, Jacob Burckhardt, Ralph Waldo Emerson und Friedrich Albert Lange, die sich schwer unter der Kategorie, sie wollten alle glauben machen, zusammenfassen lassen. Man muss sich hier sichtlich vorsehen, fr bare Mnze zu nehmen, was Nietzsche vortrgt, und seinerseits ,erraten‘, was er will. Denn wer hier kategorisiert und schematisiert, ist er selbst, und Pastorensohn war natrlich ebenfalls er selbst, auch er engagierte sich wie wenige persçnlich fr seine Sache und schlug oft genug und gerade hier auch einen rechthaberischen Ton an. Seine drei Rubriken treffen alle auch auf ihn zu, darberhinaus aber mehr oder weniger auf jeden andern Gelehrten: welcher Wissenschaftler msste nicht auch schematisieren und kategorisieren, welcher wollte nicht auch recht haben, welcher wrbe nicht mit Nachdruck dafr, dass man ihm glaubt? So aber zeigt Nietzsche zugleich, was er sagt: dass etwas plausibel sein kann, ohne bewiesen werden zu kçnnen, dass, im vorliegenden Fall, er selbst mehr Plausibilitten als Beweisen folgt. Nietzsche sagt das nicht, er zeigt es, und der Leser, der es ,erraten‘ muss, kann dabei leicht ,der Dumme sein‘.232 5.2.3. Unbekannte Plausibilitten der Juden Man wird, nun misstrauisch gemacht, darum beim vierten Beispiel, das Nietzsche mit „Ein Jude umgekehrt“ einleitet, mit weiteren berraschungen rechnen. Fr die „Herkunft“ der „jdischen Gelehrten“ fhrt er kein „,Handwerk‘“ mehr an, das sie geprgt htte – ,ehrbare‘ Berufe waren ihnen die lngste Zeit gar nicht zugnglich –, aber auch keinen „Geschftskreis“, der ihnen erlaubt war, sondern ihre soziale Zwangslage in der Diaspora: dass man ihnen als Juden stets misstraute und ihnen „Rassen- und Classen-Widerwille“ entgegenschlug. Dies habe die jdischen Gelehrten gezwungen und zwinge sie noch, „Zustimmung durch Grnde“ zu erzwingen, es also gerade nicht bei Plausibilitten zu belassen. An die Stelle von Plausibilitten – ihre eigenen wurden den Juden von ihren 232 Vgl. Brutigam, Verwegene Kunststcke, 60: „Ironischer Perspektivismus erlaubt das seltene Zusammenspiel von Dogmatik und Ironie.“ Indem Nietzsche durch schriftstellerische Verfahren (hier: offensichtliche Unstimmigkeiten) andere Perspektiven auf das scheinbar dogmatisch Behauptete (hier: die nachweisbare Bindung im Denken durch die Berufe der Vorfahren) nahelegt, ohne sie namhaft zu machen, verfhrt er ironisch. Der Sinn des ironischen Sprechens liegt eben darin, dass es als solches nicht eindeutig zu identifizieren ist und den Leser zur Entscheidung zwingt. S. auch van Tongeren, Reinterpreting Modern Culture, 143 – 145.
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Gastvçlkern gerade nicht abgenommen – treten soziale Zwnge, die die Juden, so Nietzsche, zu logischen Zwngen zwangen. So habe sich bei ihnen ein Gegensatz von Plausibilitt und Logizitt herausgebildet, der fr sie berlebenswichtig, existenziell geworden sei. Nietzsche gibt dazu kein Beispiel, doch am strksten kçnnte der Zwang zur Logizitt sich eben bei Spinoza gezeigt haben, der seine Ethik des amor Dei intellectualis, der Liebe Gottes, die alle einschließt, wenn sie sie nur recht verstehen (17.2.3.), wie kein anderer mit logischen Beweisen zu wappnen suchte, eben weil sie, wre nach Nietzsche zu vermuten, Nicht-Juden (und im Fall des aus der jdischen Gemeinde ausgeschlossenen Spinoza auch Juden) nicht unmittelbar plausibel war. Dass dies fr alle jdischen Gelehrten gelte, ist dann freilich wieder eine karikierende Typisierung, und Nietzsche stçßt die ,Nase‘ des Lesers eigens darauf, indem er auf gngige Karikaturen anspielt („nimmt auch die krummen Nasen fr gerade“). Dass er sie nicht antisemitisch meint, zeigt die Schluss-Parenthese. Den Typus der Gelehrsamkeit, die die Juden ber zahllose Generationen hinweg in der Logik, in ihrer Art der Logik schulte, thematisiert Nietzsche nicht, hier nicht und auch sonst nicht, wohl weil er zu wenig mit ihm vertraut war: die den Juden eigentmliche wissenschaftliche Tradition der Talmud-Gelehrsamkeit.233 In ihr ging es weit weniger als im Christentum um Dogmen und den Glauben an sie als darum, die inneren Kontexte der Tora bis in ihre ußersten Feinheiten hinein auf konkrete Verhaltensregeln (mizwot) hin zu erschließen.234 Deren Sinn konnte fr Interpretationen offen bleiben, es reichte aus, dass sie in der Tora zu finden waren. Die Talmud-Gelehrsamkeit durchdrang das persçnliche Leben der Gelehrten: sie widmeten (und widmen) es so weit wie mçglich dem Studium und gingen (und gehen) nur so weit anderen Geschften nach, wie sie ihm jenes ermçglichen. So entstand eine hohe, das ganze Leben beherrschende Argumentationskunst, bei der man sich nicht mit vorlufigen Plausibilitten begngte und in der sich, da man sie stets in Auseinandersetzung mit anderen betrieb, wohl gegenstzliche Meinungen ausbilden, aber nicht leicht Idiosynkrasien festsetzen konnten. So war eine eigene Aufklrung im Judentum mçglich geworden, die die Juden auf die skulare Wissenschaft vorbereitete, in der sie dann, nachdem sie mit fortschreitender Emanzipation nicht mehr konsequent von den Universitten 233 Vgl. Katz, Philosophy, Education, and the Cycle of Enlightenment. 234 Vgl. Stegmaier (Hg.), Die philosophische Aktualitt der jdischen Tradition, und darin bes. Grçzinger, Die hermeneutischen Paradigmata hasidischer Tora-Deutungen.
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ferngehalten wurden, eben zu Nietzsches Zeit sehr rasch sehr erfolgreich wurden. ,Die Juden‘ blieben fr Nietzsche, nachdem er sich anfangs im Sog Schopenhauers und in der Umgebung Richard Wagners von deren Antisemitismus hatte mitziehen lassen, ein durchgehendes Thema seines Werks; im V. Buch der FW erscheint es außer in FW 348 auch in FW 357 und FW 361. Nietzsche verband es regelmßig mit dem Thema Europa.235 Nach der Loslçsung von Wagner stellte er sich, wie die Forschung gegen immer neue Verdchtigungen immer neu gezeigt hat, entschieden gegen jeden Antisemitismus.236 Nietzsche scheint, wie eine Reihe von Zeugnissen belegen, zwar keine Sympathie fr ,die Juden‘ empfunden zu haben; er gestand offen zu, dass sie ihm fremd blieben. Aber gerade gegen Fremde erlaubte er sich keine Ressentiments und Aggressionen, weil er kein Recht sah, ber sie nach Gut und Bçse zu urteilen. Dennoch gewann er wachsende Achtung vor ,den Juden‘ und ihren Tugenden. Fr ihn war die „Ablehnung der eigentlichen Antisemiterei“ „unbedingt“, von fragloser moralischer Entschiedenheit gerade, weil er sah, dass auch er von der „Gattung des Gefhls selber“ nicht frei war (JGB 251). Kaum jemand war im II. Deutschen Kaiserreich frei von Antisemitismus, der damals weniger eine Frage des Ja oder Nein, sondern des Mehr oder Weniger war.237 Die scharfe Polemik gegen das Judentum in GM und AC galt dem Christentum, das es hervorgebracht habe – und selbst fr diese welthistorische Intrige, die Nietzsche darin sah, zollte er ,den Juden‘ hohen Respekt.238 ,Die Juden‘ schtzten Nietzsche – nicht nur dafr – ihrerseits hoch.239 Auch am „Problem der J u d e n“ (MA I 475) zeigte sich, dass auch Gelehrte Wertungen folgen, die man nicht einfach durch einen Willensakt los wird. Doch gerade in der berwindung solcher Wertungen sah Nietzsche das Zeichen des ,guten Europers‘ und „den grossen Stil in der Moral“, den Europa – „den Juden verdankt“ (JGB 250).240 235 Vgl. Stegmaier, Nietzsche, die Juden und Europa. 236 Vgl. zuletzt Mittmann, Friedrich Nietzsche. Judengegner und Antisemitenfeind, und Borchmeyer/Figl, Art. Das Judentum, 181 f. u. 188. 237 Vgl. Volkov, Antisemitismus als kultureller Code, 13 – 36, und Volkov, Die Juden in Deutschland. 238 Vgl. Rose, Nietzsche’s Judaica, 89 – 110; Stegmaier, Nietzsches ,Genealogie der Moral‘, 109 – 116. 239 Vgl. Stegmaier/Krochmalnik (Hg.), Jdischer Nietzscheanismus. 240 Vgl. zur Interpretation von JGB 250 Moss, Nietzsche und der Gedanke des auserwhlten Volkes, 39 – 51, und Simon, Nietzsche on Judaism and Europe, 101 – 116/112 – 125. – Nietzsches ußerungen zu den Juden sind dennoch mitunter derart irritierend, zumal, wenn sie aus dem Zusammenhang gerissen werden (z. B. „Judain“, AC 56), dass der Streit um Nietzsches Antisemitismus und Anti-Antisemitismus nicht beizulegen scheint. Nur zwei Beispiele: Losurdo, Nietzsche, der aristokratische Rebell, hat, ohne Rcksicht auf den Stand der Forschung, noch einmal alle denkbaren Vorurteile gegen Nietzsche zusammengetragen, darunter auch die seines angeblichen Antisemitismus, jedoch, wie Gentili, Noch einmal: Nietzsche ein politischer Reaktionr und Antisemit?, gezeigt hat, in philosophisch und philologisch unhaltbarer Weise. Aber auch der Nietzsche aufgeschlossene, sein
5.1. Bindung durch Notlagen. Nr. 349
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5.3. Bindung durch Notlagen Nr. 349: N o c h e i n m a l d i e H e r k u n f t d e r Gelehrten. In FW 349 sollte es, dem Titel nach zu urteilen, „n o c h e i n m a l“ um die intellektuellen Bindungen der Gelehrten durch ihre „H e r k u n f t“ gehen. Davon ist jedoch erst in der Mitte des Aphorismus und dann nur fast beilufig die Rede. So wie der Aphorismus einsetzt und schließt, ist sein Thema ein anderes: die flschliche Annahme der „Selbsterhaltung“ als des „Lebens-Grundtriebes“. Die „Herkunft der Gelehrten“ kommt nur insoweit ins Spiel, als, nach Nietzsche, die „meisten Naturforscher“ die Selbsterhaltung zum „Dogma“ erhoben htten, zunchst im Sinn Spinozas, dann des „Darwinismus“, weil „ihre Vorfahren […] arme und geringe Leute [waren], welche die Schwierigkeit, sich durchzubringen, allzusehr aus der Nhe kannten.“ „Sich selbst erhalten wollen“ sei jedoch „der Ausdruck einer Nothlage“, die keineswegs immer vorherrsche. Wer darum im Leben nur den „,Kampf um’s Dasein‘“ sehen kçnne, msse selbst in „Noth und Enge“ aufgewachsen sein. Auch das scheint plausibel und ist wiederum kaum historisch zu belegen. Und dann trgt Nietzsche, der die Schwierigkeit sich durchzubringen und Not und Enge durchaus aus der Nhe kannte, seinen Satz vom „Willen zur Macht, der eben der Wille des Lebens ist“, vor und zwar seinerseits wie einen Glaubenssatz, wie ein Dogma, wobei es fr das ganze V. Buch der FW auch bleibt. ,Noch einmal‘ lsst Nietzsche mehr erraten, als er sagt. 5.3.1. Nietzsches Heuristik der Not War sein Leitbegriff zuvor „Idiosynkrasie“, ist es nun „Nothlage“. Er erscheint, neben „Noth und Enge“, in dem vergleichsweise kurzen Aphorismus drei Mal. Eine Notlage ist eine strkere Bindung, eine sprbarere Beschrnkung, ein hrterer Zwang: bindet, beschrnkt eine Idiosynkrasie das Empfinden und Denken nur in Bezug auf bestimmte Gegenstnde, so eine Not das Handeln und Leben im Ganzen. Eine Not ist eine unertrgliche Situation, die zum Handeln zwingt, um ihr zu entkommen; sie Werk sorgfltig erschließende Alan D. Schrift hat auf Sarah Kofmans engagierte Verteidigung Nietzsches gegen den Antisemitismus-Verdacht in Kofman, Le mpris des Juifs, mit neuem Unbehagen geantwortet, ohne es freilich schlssig rechtfertigen zu kçnnen (Schrift, Le mpris des Anti-Smites).
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fixiert das Denken darauf, die Situation zu bewltigen oder einen Ausweg aus ihr zu finden; sie kann in berlebensangst bringen. Dauert sie an, fixiert sie das Denken auf Dauer. Nietzsche, der beharrlich versuchte, solche dauerhaften Fixierungen des Denkens zumal in Wissenschaft und Philosophie aufzudecken, folgte einer Heuristik der Not, mit dem Ziel, die engen Spielrume dessen aufzuzeigen, was ,Freiheit‘ der ,Vernunft‘ und des ,Willens‘ genannt wurde und wird. Von den Nçten, aus denen heraus Wissenschaft und Philosophie betrieben werden, will Nietzsches ,frçhliche Wissenschaft‘ vor allem befreien (2.1.); das Thema durchzieht darum sein ganzes Werk. Im V. Buch der FW tritt es mit FW 349 in den Vordergrund. In HL geht Nietzsche von der Trias von „Zielen, Krften und Nçthen“ als Motiven des Handelns aus (HL 4, KSA 1.271), in SE setzt er in der Trias von „Nçthen, Bedrfnissen und Wnschen“ die Nçte schon an die erste Stelle (SE 2, KSA 1.346). Er indiziert philosophische Grundbegriffe durch die Not – neben die „N o t h l g e“ stellt er die „N o t h w a h r h e i t“ (HL 10, KSA 1.327 f.) und fhrt das „Nothgefhl“ ein (N 1873, 29[87], KSA 7.669; FW 56) – und sucht nach den „wirklichen Nçthen“ hinter „der Hohlheit jener gewaltherrischen Worte und Begriffe“ der konventionellen Sprache (WB 5, KSA 1.455), um – mit Wagner – das „Grçsste und Reinste“ wiederzuentdecken, das das Volk „aus tiefster Nçthigung sich erzeugte“ (WB 8, KSA 1.475). Skeptischer und nchterner geworden, erkennt er in der Heuristik der Not in MA die Methode, die Dinge außermoralisch zu sehen. Da Not selbst kein moralisches Verdienst hat, hilft der Blick auf die Nçte, die moralische Interpretationen des Denkens und Handelns veranlassen, um von ihnen loszukommen (vgl. MA I 107). Nietzsche macht es sich in seinen Notaten zum Programm, die „Nothstnde der Menschheit“ „bis in ihre letzten Folgen“ zu studieren.241 Doch in einem „Zeitalter der d i p l o m a t i s c h e n K u n s t f e r t i g k e i t“ hat „eine grndliche Untersuchung von Nothstnden“ mit Hindernissen zu rechnen: je unangenehmer sie scheinen, desto mehr tuscht man sich ber sie hinweg (N 1880/81, 10[D75], KSA 9.429). Umso entschlossener treibt Nietzsche seine Untersuchung voran; besonders die ersten vier Bcher der FW sind von Formeln der ,Not‘, ,Nçte‘, ,Notstnde‘, ,Notlagen‘ und des ,Not-Tuns‘ durchzogen. Nietzsche spricht nun geradezu von einem „Gesetz der Noth“ (FW 40) und widmet der „K e n n t n i s s d e r N o t h“ einen großen Aphorismus (FW 48). Die „Noth der Seele wie des Leibes“ lasse bei verschiedenen Menschen und zu verschiedenen Zeiten einen „verschiedenen Grad von Kenntniss“ zu; wo frher schwerste Grausamkeiten ertragen und ausgebt worden seien, fielen in der Gegenwart den meisten Menschen zum Stichwort ,Not‘ zuerst ihre „Zahn- und Magenschmerzen“ ein. Darum seien pessimistische Philosophien „durchaus nicht das Merkmal grosser, furchtbarer Nothstnde“, sondern nur einer „bergrossen Empfindlichkeit, welche mir die eigentliche ,Noth der Gegenwart‘ zu sein scheint“, 241 N 1880, 5[46], KSA 9.192, N 1881, 15[9], KSA 9.636 f.; vgl. N 1880, 6[302], KSA 9.276.
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nur eine Idiosynkrasie. Es fehle die Not, um berhaupt noch Not wahrzunehmen: „Das Recept gegen ,die Noth‘ lautet: N o t h.“ (FW 48) So begreift Nietzsche auch die Not selbstbezglich und paradox: „Noth ist nçthig!“ – zur Wahrnehmung vor allem geistiger Not. „Millionen junger Europer […], welche alle die Langeweile und sich selber nicht ertragen kçnnen,“ brauchen „eine Begierde, Etwas zu leiden, […] um aus ihrem Leiden einen probablen Grund zum Thun, zur That herzunehmen.“ Dies kann „v o n A u s s e n h e r“, etwa von Politikern, genutzt werden: „daher die vielen falschen, erdichteten, bertriebenen ,Nothstnde‘ aller mçglichen Classen und die blinde Bereitwilligkeit, an sie zu glauben“. Man kann, das drfte weiter aktuell sein, Menschen geradezu zu „Nothschtigen“ machen und dadurch ihre „Kraft“ lhmen, „von Innen her sich selber wohlzuthun, sich selber Etwas anzuthun, […] von Innen her sich eine eigene, selbsteigene Noth zu schaffen.“ In einer solchen selbsteigenen Not aber, aus der die jungen Menschen dann handelten, wren sie paradoxerweise zugleich frei: „Ihre Erfindungen kçnnten dann feiner sein und ihre Befriedigungen kçnnten wie gute Musik klingen: whrend sie jetzt die Welt mit ihrem Nothgeschrei und folglich gar zu oft erst mit dem N o t h g e f h l e anfllen!“ (FW 56) Nietzsche verschiebt gezielt die Begriffe. Er macht die Freiheit des Willens, den Gegensatz der Not, zu deren Unterbegriff, zu einer Art der Not, einer selbst gewollten Not. So hat er FW 344 auch das Leben zu einer Art des Todes und in einem vorausgehenden Notat die Wahrheit zu einer Art des Irrtums gemacht,242 und so kann dasselbe, z. B. das „Schreiben“, zugleich als frei und als „eine Nothdurft“ erscheinen (FW 93). Sofern es fr „eine Menge verschiedenartiger Individuen“ auch eine „verschiedenartige Noth“ geben kann (FW 149), lassen sich Nçte nur sehr bedingt generalisieren. Liegt die Not des gewçhnlichen Menschen darin, dass er „seine Zufriedenheit mit sich e r r e i c h e“, so lautet fr einige wenige das „E i n s i s t N o t h“: „Seinem Charakter ,Stil geben‘“ (FW 290). Dazu gehçrt, „nicht an innerer Noth und Unsicherheit zu Grunde gehn, wenn man grosses Leid zufgt und den Schrei dieses Leides hçrt“ (FW 325). Dies, die Not des Widerstands gegen das Mitleid mit der Not anderer, das ihnen nicht hilft, sondern ihre Not nur vertieft, ist, so Nietzsche, das Schwerste und darum Seltenste: „ich brauche mich nur dem Anblicke einer wirklichen Noth auszuliefern, so b i n ich auch verloren!“ (FW 338) Es ist diese Not, der Nietzsche auch seinen Solitr Zarathustra aussetzt, wenn er den „Nothschrei“ der ,hçheren Menschen‘ hçrt, die bei ihm Rettung suchen (ZA IV, passim). Seine eigene Not und „Tortur“ aber erfhrt er in der Aufgabe, vor die er sich gestellt sieht, nmlich, wie er sie in einem Notat formuliert, „die Zeichen zusammenstellen [zu mssen], aus denen ich annehme, daß es der G r u n d c h a r a k t e r, das eigentlich t r a g i s c h e P r o b l e m unsrer modernen Welt und als 242 N 1885, 34[247], KSA 11.503; N VII 1, S. 9 f.: „(Wahrheit bezeichnet nicht einen Gegensatz zum Irrthum, sondern die Stellung gewisser Irrthmer zu anderen Irrthmern, etwa daß sie lter, tiefer einverleibt sind, daß wir ohne sie nicht zu leben wissen u dergl.)“ Vgl. zuvor N 1881, 11[325], KSA 9.568: „Aufgabe der Wissenschaft: Nicht wie ist der Irrthum mçglich, heißt die Frage, sondern: w i e i s t e i n e A r t W a h r h e i t t r o t z der fundamentalen Unwahrheit im Erkennen berhaupt m ç g l i c h?“
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geheime Noth Ursache oder Auslegung aller ihrer Nçthe ist“, die Zeichen des „N i h i l i s m u s“ (N 1886/87, 7[8], KSA 12.291). In seiner Vorrede zur neuen Ausgabe der FW stellt er zur Diskussion, wie gerade er, der chronisch Kranke, der, wie er meint, „wieder gesund wurde“, dazu imstande sein soll, wenn doch „bei allen kranken Denkern“ „die Nothstnde Philosophie treiben“ (FW Vorrede 2). Seine Lçsung ist: gerade seine Krankheit hat ihn das Kommen und Gehen der Not gelehrt und ihm so den Spielraum verschafft, sich ihr auszusetzen oder zu entziehen. „Erst der grosse Schmerz, jener lange langsame Schmerz, der sich Zeit nimmt, in dem wir gleichsam wie mit grnem Holze verbrannt werden, zwingt uns Philosophen, in unsre letzte Tiefe zu steigen und alles Vertrauen, alles Gutmthige, Verschleiernde, Milde, Mittlere, wohinein wir vielleicht vordem unsre Menschlichkeit gesetzt haben, von uns zu thun.“ In der Not schwerster Schmerzen kçnnen sie erfahren, dass ber „alle Noth des Problematischen“ der „Reiz des Problematischen, die Freude am X“ obsiegen kann (FW Vorrede 3/4.5.). Es ist die Not, die bewirkt, dass ein Philosoph „zu seinen Problemen persçnlich steht, so dass er in ihnen sein Schicksal, seine Noth und auch sein bestes Glck hat“ (FW 345). Nietzsche macht es entschlossen zu seiner Not, sich Nçten auszusetzen, um Tugenden aus ihnen zu machen. Spter notiert er: „Die Klugheit meines Instinkts besteht darin, die eigentlichen Nothstnde und Gefahren fr m i c h als solche zu fhlen. / insgleichen die Mittel zu errathen, mit denen man ihnen aus dem Wege geht o d e r sie zu seinem Vortheil einordnet und gleichsam um eine h ç h e r e Absicht herum organisirt.“ (N 1888, 24[6], KSA 13.633) Die modernen Instinkte laufen dem genau entgegen. Man hlt es fr selbstverstndlich, wie Nietzsche dann in EH schreibt, die „N o t h s t n d e aller Art berhaupt als Einwand, als Etwas, das man a b s c h a f f e n muss,“ zu betrachten (EH Schicksal 4), und dabei lebte die christliche Kirche doch „von Nothstnden, sie s c h u f Nothstnde, um s i c h zu verewigen … Der Wurm der Snde zum Beispiel: mit diesem Nothstande hat erst die Kirche die Menschheit bereichert! –“ (AC 62). Die Bejahung der Not um der Heuristik der Nçte willen, aus denen heraus geurteilt wird, gehçrt zum Unzeitgemßesten bei Nietzsche.
5.3.2. Noch ein Test des Lesers: auf seinen Glauben an Unglaubwrdiges Dieser Hintergrund macht FW 349 zugleich plausibel und irritierend. Dafr, dass das „Dogma“ der Selbsterhaltung „Ausdruck einer Nothlage“ ist, fhrt Nietzsche als „symptomatisch“ nur „einzelne Philosophen“ und fr sie wiederum nur ein Beispiel an, den nun namentlich genannten Spinoza, und gleitet dann, ohne weitere Namen zu nennen, zu den modernen Naturforschern ber: „Man nehme es als symptomatisch, wenn einzelne Philosophen, wie zum Beispiel der schwindschtige Spinoza, gerade im sogenannten Selbsterhaltungs-Trieb das Entscheidende sahen, sehen mussten: – es waren eben Menschen in Nothlagen. Dass unsere modernen Naturwissenschaften sich dermaassen mit dem
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Spinozistischen Dogma verwickelt haben […], das liegt wahrscheinlich an der Herkunft der meisten Naturforscher“. Auch hier ist alles fraglich und kaum historisch zu belegen. Spinozas ,Notlage‘, zum einen die Verbannung aus der jdischen Gemeinde, zum andern die frh ausbrechende Tuberkulose, die ihn schließlich zu Tode brachte, beeintrchtigte seine philosophische Redlichkeit und seinen politischen und geistigen Freiheitssinn nicht erkennbar. Er sah „im sogenannten Selbsterhaltungs-Trieb“ weder „das Entscheidende“, noch ist das Konzept einfach ihm zuzuschreiben. Es speiste sich aus vielen Quellen. Unter dem Begriff ,conatus‘ war es schon in Antike und Mittelalter gelufig, zu Beginn der Moderne hatte es besonders Bernardino Telesio, dann Hobbes prominent gemacht; auch Descartes, dessen Prinzipien Spinoza zunchst systematisch zu rekonstruieren suchte, hatte es bernommen.243 Spinoza hatte es lediglich auch auf die mens, den Geist, bertragen und zum Ausgangspunkt seiner Ethik gemacht, jedoch nur zum Ausgangspunkt: Sinn dieser Ethik war gerade, den Selbsterhaltungstrieb (conatus in suo esse perseverandi244) durch den amor Dei intellectualis zu berwinden, die einsichtige Liebe Gottes und damit der Natur als ganzer, mit der Spinoza Gott identifizierte, zu sich selbst.245 Fraglich ist auch, dass „unsere modernen Naturwissenschaften sich […] mit dem Spinozistischen Dogma verwickelt“ htten. Zunchst stand mit dem Selbsterhaltungs-Theorem auch Newtons Trgheitstheorem in Einklang, nach dem jeder Kçrper die Grçße und Richtung seiner Bewe243 Vgl. Mulsow, Art. Selbsterhaltung. 244 Spinoza, Ethica III, Demonstr. zu Prop. LVII; vgl. Eth. III, Prop. VI-VIII (Conatus, quo unaquaeque res in suo esse perseverare conatur), und Demonstr. zu Prop. XXXVII (conatus, quo homo in suo esse perseverare conatur). 245 Spinoza, Ethica V, Prop. XXXII, Coroll. Vgl. 17.2.3. – Nietzsche hatte Spinoza schon in JGB 13 vorgeworfen, er habe trotz seiner entschiedenen Zurckweisung aller teleologischen Prinzipien mit dem „Selbsterhaltungstrieb“ doch noch an einem solchen festgehalten und sich damit einer „Inconsequenz“ schuldig gemacht. Doch Nietzsche machte sich dabei selbst einer Inkonsequenz schuldig: vgl. Rupschus/Stegmaier, „Inconsequenz Spinoza’s“? – Die Plausibilitt des Selbsterhaltungstheorems fr Spinoza kçnnte nach Blumenberg, Die Legitimitt der Neuzeit, 139 – 259, ganz andere Grnde gehabt haben, die durchaus im Sinn Nietzsches waren, nmlich die Abwehr des „theologischen Absolutismus“, rational nicht begrndbarer Eingriffe Gottes als einer Person in das Naturgeschehen. Vgl. auch Blumenberg, Selbsterhaltung und Beharrung, 199: „Nietzsche konnte nicht sehen, daß fr Spinoza gegen die scholastisch-cartesische creatio continua gerade dies [sc. der Selbsterhaltungstrieb] der Inbegriff von methodischer konomie sein mußte, whrend er selbst darin einen berschuß wahrnimmt, weil er glaubt, ein noch umfassenderes Prinzip [den Willen zur Macht] gefunden zu haben.“
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gung beizubehalten sucht, soweit nicht andere Krfte auf ihn einwirken, einem Grundtheorem der modernen Naturwissenschaften. Spinozas Philosophie dagegen war viel zu umstritten, um eine geradlinige Wirkung auf sie ausben zu kçnnen, und ihre begeisterte Aufnahme durch den Deutschen Idealismus und dessen berchtigte Naturphilosophie machte sie fr die Naturwissenschaften noch fragwrdiger.246 Unhaltbar ist schließlich, dass die meisten Naturforscher aus rmlichen Verhltnissen stammten. Sie htten sich dann bis ins 19. Jahrhundert hinein kaum engagiert der Naturforschung widmen kçnnen. Paul Henri Thiry d’Holbach etwa, der sich mit seinem Materialismus in der Tat stark auf Spinoza bezog, war ein begterter Adliger, Jean-Baptist de Lamarcks adelige Familie war zu seinen Lebzeiten nicht mehr reich, ließ ihn aber auskçmmlich leben, der Vater von Charles Darwin selbst war ein sehr geachteter Arzt mit gutem Einkommen, seine Mutter die Tochter des Porzellan-Tycoons Josiah Wedgwood. Von den beiden berhmtesten Darwinisten zu Nietzsches Zeit hatte zwar der eine, Herbert Spencer, der schwach und oft krank war, wirklich zu kmpfen, bis auch ihm eine Erbschaft ein auskçmmliches Leben sicherte – auf ihn kçnnte der Aphorismus also vor allem zielen (vgl. FW 373/13.2.3.) –, der andere, Ernst Haeckel, der sich auch auf Spinoza berief, wuchs dagegen in gesicherten brgerlichen Verhltnissen auf. Geht man zu den großen Naturforschern vor Spinoza zurck, so kam auch Nicolaus Copernicus aus einer begterten Familie, Tycho Brahe und Robert Boyle stammten aus wohlhabenden adligen Familien, Christiaan Huygens’ Vater, der im Dienst der Prinzen von Oranien stand, war ebenfalls reich. Isaac Newtons Vorfahren waren wohl ursprnglich Bauern, hatten es jedoch allmhlich zu auskçmmlichem Landbesitz und Vermçgen gebracht. Selbst Thomas Robert Malthus mit seinem berhmten ,Principle of Population‘, nach dem das Bevçlkerungswachstum beschrnkt werden msste, wenn nicht schwerste Not ber die Menschheit kommen sollte („englische Uebervçlkerungs-Stickluft“247), und der in der Tat auch Darwin beeinflusste,248 hatte 246 Vgl. Jokisch, Kraft und Identitt, und Kondylis, Die Aufklrung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, 261 ff. 247 Vgl. GD Streifzge 14, wo Nietzsche auch nochmals seinen Begriff des Lebens bekrftigt: „Was den berhmten [,]Kampf um’s L e b e n ‘ betrifft, so scheint er mir einstweilen mehr behauptet als bewiesen. Er kommt vor, aber als Ausnahme; der Gesammt-Aspekt des Lebens ist n i c h t die Nothlage, die Hungerlage, vielmehr der Reichthum, die ppigkeit, selbst die absurde Verschwendung, – wo gekmpft wird, kmpft man um M a c h t … Man soll nicht Malthus mit der Natur verwechseln.“ S. auch Kaufmann, Commentary, 292, Fn. 35.
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einen Gutsherrn zum Vater. Aus drftigen Verhltnissen kamen am ehesten noch Johannes Kepler und Galileo Galilei, doch auch sie arbeiteten sich aus ihnen heraus. Nur Rugjer Josip Bosˇcovic´, den Nietzsche hoch schtzte und durch den er sich in seiner eigenen Konzeption von Willen zur Macht besttigt sah, hatte einen Bauern zum Vater. Aber gerade er vertrat in seiner Physik nicht das Theorem der Selbsterhaltung, sondern eine Theorie aufeinander bergreifender Krfte.249 Nietzsche verknpft die ,Symptome‘, die er angibt, wiederum so auffllig unwahrscheinlich, dass offenbar auch die Pointe von FW 349 anderswo zu suchen ist. Er fhrt nun seinen in FW 344 exponierten Begriff des Lebens, nach dem es „auf Anschein, ich meine auf Irrthum, Betrug, Verstellung, Blendung, Selbstverblendung angelegt“ sei, auf seine Formel vom Willen zur Macht hinaus, nach der es auf „M a c h t e r w e i t e r u n g“, auf „Uebergewicht“, „Wachsthum“ und „Ausbreitung“ aus ist und dabei „oft genug die Selbsterhaltung in Frage stellt und opfert“. Das Letztere ist freilich auch nach Darwins Evolutionstheorie der Fall und stellt sie darum nicht in Frage.250 Dass Individuen fr die Erhaltung der Art geopfert werden oder, wenn man so will, sich opfern, ist eine hufige und wohlbekannte Erscheinung in der biologischen Natur, und auch in evolutionstheoretischer Sicht ist die Erhaltung von Arten immer nur durch eine berschießende Vermehrung der Individuen mçglich. Nietzsches Angriff trifft also nicht Darwins Evolutionstheorie, jedenfalls nicht ihren Grundgedanken, das Prinzip der Selektion, dem auch Nietzsche folgte. Darwins Evolutionstheorie lsst sich so wenig auf das Prinzip der Selbsterhaltung festlegen wie Spinozas Ethik. Eben deshalb wird Nietzsche die Abgrenzung seines Willen-zur-Macht-Gedankens von Spinozas Ethik (FW 372/17.2.3.2.) und von Darwins Selektionsprinzip schwer, und in solchen 248 Vgl. Mayr, Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt, 383 – 389 u. 393 – 395. 249 Vgl. Abel, Nietzsche, 85 – 90, und Zittel, Art. Naturwissenschaft, 404 f. Fr seine Hilfe bei den genealogischen Recherchen danke ich Benjamin Alberts. 250 Nietzsches kritische Stellungnahmen zum Darwinismus, die er nach dem V. Buch der FW noch verschrfte, insbesondere im „A n t i - D a r w i n“ berschriebenen Aphorismus der GD (Streifzge 14), machen Nietzsche nicht auch zum Gegner des Evolutionsgedankens (vgl. Stegmaier, Darwin, Darwinismus, Nietzsche). Als solchen stellt ihn erneut Moore, Nietzsche, Biology and Metaphor, dar. Vgl. dazu jedoch die Rezension von Stingelin, Nietzsche und die Biologie, 507 – 510 u. 512 f., die erhebliche Versumnisse Moores aufzeigt. S. im Anschluss an Stegmaier, Darwin, Darwinismus, Nietzsche, auch Venturelli, Kunst, Wissenschaft und Geschichte bei Nietzsche, 238 – 253, Richardson, Nietzsche’s New Darwinism, und Skowron, Nietzsches „Anti-Darwinismus“.
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Fllen grenzt er sich, wie erwhnt, umso schrfer ab, um nicht ,verwechselt‘ zu werden. Er spricht auffllig normativ, in einem Glauben fordernden Ton („man sollte“). Er fordert seinerseits Glauben fr seinen ,starken GegenBegriff‘ vom Willen zur Macht (1.4.), der als einziger unter den berhmten Lehren aus ZA im V. Buch der FW wieder auftritt und auch hier nur dieses einzige Mal. Er fhrt ihn hier als seinen Glaubens-Satz ein, der ihm zuletzt plausibel ist und das heißt: bei dem er aufhçrt zu fragen. Er macht dabei aus Darwins negativem Prinzip der Selektion, nach dem die Evolution durch nichts gesteuert ist, sondern unter unberechenbar wechselnden Lebensbedingungen lediglich die berleben, die ihnen zufllig entsprechen, ein positives Prinzip, einen ,Willen‘, der etwas will, nmlich Macht, und ein Etwas, das diesen Willen hat. Ein solches positives Prinzip aber wre seinerseits ein eklatantes metaphysisches Dogma, das offensichtlich dem Stand der Wissenschaft widerspricht, von dem Nietzsche in FW 344 ausgegangen ist, dass sie sich nmlich lngst entschlossen hat, „zur Bescheidenheit einer Hypothese, eines vorlufigen Versuchs-Standpunktes, einer regulativen Fiktion herabzusteigen“ (5.1.2.), und als bloße Hypothese hatte Nietzsche, nach den dogmatischen Reden seines Zarathustra, den Gedanken in JGB 36 auch eingefhrt (1.4.). So wird man, zumal Nietzsche von seinen Thesen offensichtlich selbst betroffen ist – nicht nur als Sohn eines protestantischen Geistlichen, der, hnlich wie Spinoza, wenn auch aus anderen Grnden, in einer dauernden gesundheitlichen und finanziellen ,Notlage‘ lebte, sondern auch als klarer Befrworter von Darwins Evolutionsgedanken –, wiederum ihn zu fragen haben, warum er hier zu fragen aufhçrt. Msste dies konsequenterweise nicht ebenfalls aus einer Not heraus geschehen? Nietzsche antwortet auch darauf, doch ebenfalls erst spter, in FW 370, und auf wieder berraschende Weise. Die Antwort wird sein: ja, aus einer Not heraus, doch einer Not, die bisher kaum als solche erkannt und jedenfalls kaum je von der bekannten Not „der Ve r a r m u n g d e s L e b e n s“, des Mangels, des Hungers unterschieden wurde: der Not der „U e b e r f l l e d e s L e b e n s“, des berfließenden geistigen Reichtums (FW 370/16.3.), dem es nicht um Selbsterhaltung, sondern eben „allenthalben um’s Uebergewicht, um Wachsthum und Ausbreitung, um Macht“ geht.
5.4. Bindung durch Spezialistentum. Nr. 366
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5.4. Bindung durch Spezialistentum Nr. 366: A n g e s i c h t s e i n e s g e l e h r t e n B u c h e s . 5.4.1. Unauffllige Selbsteinschtzung Nietzsches als ungelernter ,frçhlicher Wissenschaftler‘ Der vierte und abschließende Aphorismus in der Kette der Aphorismen zu den unfreiwilligen Bindungen der Gelehrten ist klar durch Trennungsstriche gegliedert wie der erste und zugleich persçnlich eingefrbt und irritierend angelegt wie die beiden mittleren. Er verletzt („jeder Specialist hat seinen Buckel“) und versçhnt („meine gelehrten Freunde! Ich segne euch auch noch um eures Buckels willen!“), er schmht („den Litteraten, der eigentlich Nichts i s t, aber fast Alles ,reprsentirt‘“) und preist („in Ehrfurcht vor jeder Art Meisterschaft“), setzt so in eine affektive Hochspannung und luft in einer neuerlichen Schluss-Parenthese scheinbar in ein Wissen, tatschlich in eine offene Frage aus („Denn, ihr wisst es doch? alle grossen modernen Knstler leiden am schlechten Gewissen…“).251 Er handelt im Kern vom Spezialistentum, von der „M e i s t e r s c h a f t“ der Experten. Mit ihr scheint alle Not des Gelehrten berwunden, eine neue, auf die Gelehrsamkeit selbst gegrndete Souvernitt in der Sache gewonnen zu sein. Doch das Spezialistentum hat seinen Preis. Es konzentriert die Aufmerksamkeit beharrlich, beschrnkt das Interesse und schafft so die neue Not einer neuen Enge, die Enge einer – mit Nietzsches Bild – in sich gekrmmten Perspektive, eines „Buckels“. Nietzsche grenzt den Experten nach zwei unterschiedlichen Gegenstzen ab, zunchst gegenber dem „Litteraten“, „der den Sachkenner spielt und ,vertritt‘, der es auch in aller Bescheidenheit auf sich nimmt, sich an dessen Stelle bezahlt, geehrt, gefeiert zu m a c h e n“, dann gegenber dem „Genie“. Gemeinsames Kriterium beider Unterscheidungen ist das des ersten Aphorismus der Kette, der Wille zur Tuschung und Selbsttuschung: der Gelehrte hat ihn nicht, der Literat hat ihn, das Genie hat ihn, „freilich ohne damit sich selbst zu betrgen“. Es berwindet die Not der Enge durch „Nothbehelfe“, „durch eine listige Erfindsamkeit von Manieren, […] selbst von Principien“. Mit ihnen erweckt es „knstlich und nachtrglich den A n s c h e i n jener Probitt, jener Soliditt von Schulung und Cultur“, wie ihn „die grosse Form des Le251 Sautet, Notes, 524, Fn. 460, vermutet eine Anspielung auf Wagner. Aber gerade Wagner scheint kein schlechtes Gewissen gehabt zu haben, und Nietzsche redet von allen großen modernen Knstlern.
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5. Bindungen der Gelehrten
bens“ den „unbedenklichsten pok}tqopoi“ (FW 344) ermçglicht, die die „gewandten ,vielgewendeten‘ Litteraten“ nur zu sein vortuschen. Wie der Gelehrte sicher mit Wissen, so geht das Genie locker mit Methoden und Prinzipien um, verzichtet um der Kreativitt willen auf Soliditt. Aber eben das tat Nietzsche selbst. Und er bringt denn auch am Ende dieser Aphorismenkette auffllig die eigene Person („Wir gehçren nicht zu Denen“), die eigene „Gewohnheit“, die eigenen „Gefhle“, die eigenen „Freunde“ ins Spiel, um sich dann dem Publikum zuzuwenden („nicht wahr, meine Herren Zeitgenossen?“) und schließlich den Kreis der Angesprochenen auf die Gelehrten selbst, die er zunchst so verletzt hat, zu beschrnken („Nein, meine gelehrten Freunde!“) und ihnen nun zu huldigen. Der Aphorismus handelt unauffllig von Nietzsches Selbsteinschtzung als ungelernter ,frçhlicher Wissenschaftler‘. Auch er war einmal ein Gelehrter, der in seinem Fach, der Klassischen Philologie, frh eine so außerordentliche Gelehrsamkeit bewiesen hatte, dass man ihn noch als Student, mit 25 Jahren, zum Professor machte. Doch dann hatte er seine Disziplin verlassen und sich als Autodidakt auf die Philosophie geworfen, in der es ihm nun durchaus an Gelehrsamkeit fehlte. Er versuchte das durch geniale „Nothbehelfe“ wettzumachen, wohl „ohne damit [sein] eignes schlechtes Gewissen dauernd mundtodt zu machen“.252 Dies ist die Kehrseite der grenzberschreitenden ,frçhlichen Wissenschaft‘ (und auch aller gegenwrtigen interdisziplinren Wissenschaft). Nietzsche sucht in FW 366 das Verhltnis seiner ,frçhlichen Wissenschaft‘ zur Gelehrsamkeit zu klren. 5.4.2. Verachtung und Achtung fr die Gelehrten, Distanz zum Genie [1] Nietzsche setzt betont persçnlich mit einer anekdotischen Situation und seinen Gefhlen in ihr ein („Das waren meine Gefhle, als ich eben ein rechtschaffnes gelehrtes Buch zuschlug, dankbar, sehr dankbar, aber auch erleichtert…“),253 mit seiner Orientierung „im Freien“, die 252 Vgl. Stegmaier, Nietzsche zur Einfhrung, Kap. III: Nietzsches Anschlsse. 253 Bei dem rechtschaffenen gelehrten Buch kçnnte es sich um Wilhelm Diltheys Einleitung in die Geisteswissenschaften von 1883 handeln, die Heinrich von Stein, der sich mit Diltheys tatkrftiger Hilfe in Berlin habilitiert hatte, 1884 bei einem Besuch in Sils-Maria mitgebracht haben kçnnte. Dilthey stieß damals in Themenbereiche vor, die eng mit denen Nietzsches verwandt waren, und Nietzsche erwartete viel von Heinrich von Stein, so dass er sich gehalten sehen mochte, das Buch oder doch im Buch zu lesen. Vgl. Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz, 24 f.
5.4. Bindung durch Spezialistentum. Nr. 366
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ihm, wie im Engadin um Sils-Maria und an den Ksten des Mittelmeers oft erprobt, wechselnde Horizonte und Perspektiven bescherte, mit seinen „Werthfragen“ und seinem Maßstab, der Einheit von „Buch, Mensch und Musik“. Die Reihe „gehend, springend, steigend, tanzend“ illustriert ein Denken in Bewegung, das zunchst in gemessenen Schritten, dann in Sprngen vorangeht, um hçhere Standpunkte fr weitere Perspektiven zu erreichen und schließlich in eine sich um es selbst drehende Bewegung nach seiner Musik, seinem Takt und seiner Melodie zu finden. Nietzsche bleibt dabei, zu „errathen“, was sich „verrth“, nun jedoch in einer face- -faceSituation mit dem Buch eines Meisters („A n g e s i c h t s e i n e s g e l e h r t e n B u c h e s“): er liest in ihm wie in einem Gesicht, das unschtzbar vieles ber eine Person besagt, ohne dass man es aussprechen kçnnte. Er orientiert sich nach den Maßstben seiner Orientierung ber die andern Maßstbe einer andern Orientierung: „im Freien“ denkend, wittert er bei dem Autor des Buches „Stubenluft, Stubendecke, Stubenenge“. In seinen weiten, vielfltigen und beweglichen Perspektiven erscheint die Beschrnkung des Experten auf eine einzige und feste Perspektive eng. Er kann auch sie anerkennen, ist sogar „dankbar, sehr dankbar“ fr sie, fr die Rechtschaffenheit der Gelehrsamkeit und die zuverlssige Einhaltung disziplinrer Maßstbe, die sie ermçglicht, ist „aber auch erleichtert“, ihre Enge nicht teilen zu mssen. Doch auch das Denken „im Freien“ hat seinen Preis: den Verzicht auf umfassende und grndliche Lektre anderer Autoren, die das eigene Denken doch anregen kçnnten („Wir lesen selten“). Nietzsche hat durchaus viel gelesen,254 aber selten umfassend und grndlich. Das geboten schon seine schlechten Augen, was er zuletzt als Glck begriff: Meine Augen allein machten ein Ende mit aller Bcherwrmerei, auf deutsch: Philologie: ich war vom ,Buch‘ erlçst, ich las jahrelang Nichts mehr – die g r ç s s t e Wohlthat, die ich mir je erwiesen habe! (EH MA 4).
(s. dort auch die weitere Literatur). In BN erscheint die Einleitung in die Geisteswissenschaften nicht, und auch Brobjer, Nietzsche’s Philosophical Context, erwhnt Dilthey nicht. 254 Das bezeugt schon das umfangreiche Verzeichnis seiner persçnlichen Bibliothek (BN), das seine Lekren bei weitem nicht erschçpft, und die Zusammenstellung seiner (wiederum nur) philosophischen Lektren bei Brobjer, Nietzsche’s Philosophical Context. Auch Brobjers in Jahrzehnten erarbeiteter umfassender berblick ist noch lange nicht vollstndig, die Quellenforschung noch lngst nicht abgeschlossen.
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5. Bindungen der Gelehrten
Denn Bcher anderer bringen wohl auf andere Gedanken, behindern aber auch die eigenen: In meinem Fall gehçrt alles L e s e n zu meinen Erholungen: folglich zu dem, was mich von mir losmacht, was mich in fremden Wissenschaften und Seelen spazieren gehn lsst, – was ich nicht mehr ernst nehme. Lesen erholt mich eben von m e i n e m Ernste. In tief arbeitsamen Zeiten sieht man keine Bcher bei mir: ich wrde mich hten, Jemanden in meiner Nhe reden oder gar denken zu lassen. Und das hiesse ja lesen … (EH klug 3)
Darin liegt ein hoher Respekt fr die Bcher anderer, aber ein noch hçherer fr die Freiheit des eigenen Denkens. Um selber denken zu kçnnen, muss man sich zeitweilig „gegen Bcher wehren“, gerade wenn sie interessant sind: Der Gelehrte, der im Grunde nur noch Bcher ,wlzt‘ – der Philologe mit mssigem Ansatz des Tags ungefhr 200 – verliert zuletzt ganz und gar das Vermçgen, von sich aus zu denken. Wlzt er nicht, so denkt er nicht. Er a n t w o r t e t auf einen Reiz ( – einen gelesenen Gedanken), wenn er denkt, – er reagirt zuletzt bloss noch. Der Gelehrte giebt seine ganze Kraft im Ja und Neinsagen, in der Kritik von bereits Gedachtem ab, – er selber denkt nicht mehr … Der Instinkt der Selbstvertheidigung ist bei ihm mrbe geworden; im andren Falle wrde er sich gegen Bcher wehren. (EH klug 8)
Nietzsche muss die Freiheit seines ,frçhlichen‘ Denkens verteidigen gegen den Eindruck anderen, soliden und auf seine Weise berzeugenden Denkens, schtzen vor dem Aufgehen in Gelehrsamkeit. Auch darin spricht sich eine Not aus. [2] Der zweite Abschnitt des Aphorismus spitzt den ersten vielfach zu, aus dem Gelehrten wird der „Specialist“, aus der Stube der „Winkel, in dem er sitzt und spinnt“, und die „Ecke“, in die er „eingewachsen“ ist,255 aus dem Gegenber (irgend) eines Buches die Begegnung mit lebenslangen Freunden. Dann die (scheinbar) gnadenlose Schrfe („Buckel“, „krummgezogne Seele“). Aber auch sie scheint nur vor tiefer Bewegung zu schtzen („man ist bewegt und schweigt“). Bei dem Passus „Man sehe seine Freunde wieder, mit denen man jung war,“ hat Nietzsche wohl an Erwin Rohde gedacht, der ihm seit seinen Studienzeiten ein enger und auch in schweren Krisen loyaler und selbstloser Freund gewesen war, es in der Klassischen Philologie zur hçchsten Gelehrsamkeit und Berhmtheit gebracht und Rufe von den besten deutschen Universitten erhalten hatte, 255 Zur Metaphorik der Ecke und des Eckenstehers vgl. NWB, Art. Eckensteher, 1.683 – 688.
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sich aber von Nietzsche, seit dieser mit seinen ,freigeistigen‘ AphorismenBchern herausgekommen war, immer strker entfremdete.256 Ein Mann der „Kritik und Disciplin“, wie Nietzsche ihn charakterisierte,257 waren ihm die Abenteuer von dessen ,frçhlicher‘ Wissenschaft nur geistreiche Verirrungen, und Nietzsche seinerseits hielt Rohdes geringe Schtzung des von ihm selbst hoch verehrten Hippolyte Taine, der ihm aufgrund seines „rcksichtslosen Muthes“ und seiner „unbedingten Lauterkeit des intellektuellen Gewissens“ nahe war, fr „eine rasende Dummheit“.258 So zerfiel ihre Freundschaft. Die peinliche Metapher des „Buckels“, den jeder „Specialist“ sich mit der Zeit zuziehe, war jedoch weniger verletzend, als es scheint. Sie war studentische Redensart und also dem Kommilitonen Rohde wohl vertraut.259 Nietzsche gebrauchte sie schon in SE: Wer weiss es noch, dass die Erziehung des Gelehrten, dessen Menschlichkeit nicht preisgegeben oder ausgedçrrt werden soll, ein hçchst schwieriges Problem ist – und doch kann man diese Schwierigkeit mit Augen sehen, wenn man auf die zahlreichen Exemplare Acht giebt, welche durch eine gedankenlose und allzu frhzeitige Hingebung an die Wissenschaft krumm gezogen und mit einem Hçcker ausgezeichnet worden sind. (SE 2, KSA 1.344)
Dann ließ er seinen Zarathustra die alte Volksweisheit zitieren: Wenn man dem Bucklichten seinen Buckel nimmt, so nimmt man ihm seinen Geist – also lehrt das Volk. […] Und warum sollte Zarathustra nicht auch vom Volke lernen, wenn das Volk von Zarathustra lernt? (ZA II Erlçsung, KSA 4.177)
256 Vgl. Reich, Nietzsche-Zeitgenossenlexikon, 182 – 185. Auch Young, Friedrich Nietzsche, 442, sieht hier eine Anspielung auf Rohde. 257 Brief an Erwin Rohde, 12. Mai 1887, KGB III/5, Bf.846. 258 Brief an Erwin Rohde, 19. Mai 1887, KGB III/5, Bf.849. – Schon am 14. Juli 1886 hatte Nietzsche an Franz Overbeck geschrieben: „Alles in Allem gerechnet, war R W der Einzige bisher, mindestens der Erste, der ein Gefhl davon gehabt hat, was es mit mir auf sich habe. (Wovon z. B. Rohde, zu meinem Bedauern, auch nicht die blasseste Vorstellung zu haben scheint, geschweige denn ein Gefhl von Pflicht gegen mich.)“ (KGB III/3, Bf.721). 259 Vgl. Nietzsches Brief an Carl von Gersdorff, 11. April 1869, KGB I/2, Bf.632, vor dem Antritt seines Amtes als Professor der Klassischen Philologie in Basel: „Man ist nicht ungestraft in Amt und Wrden – es handelt sich nur darum ob die Fesseln von Eisen oder von Zwirn sind. Und ich habe noch den Muth, gelegentlich einmal eine Fessel zu zerreissen und anderwrts und auf andre Weise das bedenkliche Leben zu versuchen. Von dem obligaten Buckel der Professoren spre ich noch nichts.“
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5. Bindungen der Gelehrten
Die Volksweisheit lautet so: „einem bucklichten, dem man seinen buckel heilen wollte, msste man das leben nehmen.“260 Er hat sein Leben so auf sein Gebrechen eingerichtet, dass er ohne es nicht mehr zu leben wsste – wie der Experte nicht ohne Expertentum („man ist Mann seines Fachs um den Preis, auch das Opfer seines Fachs zu sein“). Nietzsche akzeptiert die grausame Volksweisheit hart und klar – seinerseits wie ein Experte, ohne jede Schçnrednerei („Daran ist Nichts zu ndern“). Sie berlsst er dem „Litteraten“, fr den er in seinem ganzen Werk nur Verachtung brighat („Bildungs-Schmarotzer“).261 Er hat zwar die Funktion von Journalisten und Literaten in modernen Gesellschaften als „Hndler u. Zwischenpersonen, auch im Geistigsten“ erkannt (N 1887, 9[167], KSA 12.434 / W II 1, S. 16),262 von seiner Geringschtzung fr sie darum aber nicht abgelassen.263 Und dennoch spricht er in Briefen an Freunde und Verleger selbstironisch immer wieder auch von seiner ,Litteratur‘; gerade er mit seiner vielfltigen philosophischen Schriftstellerei wurde (und wird) leicht fr einen bloßen ,Literaten‘ gehalten. [3] So handelt der abschließende Aphorismus der Aphorismenkette zu den Bindungen des Denkens durch die wissenschaftliche Gelehrsamkeit von Nietzsche selbst: er ist eine seiner Formen der Selbstidentifikation und 260 Vgl. Grimm, Deutsches Wçrterbuch, Bd. 2, Leipzig 1860, Sp. 485. 261 Vgl. z. B. MA I 194 oder ZA II Gesindel, KSA 4.125 („Macht- und Schreib- und Lustgesindel“) und im Nachlass N 1885, 35[9], KSA 11.512 / W I 3, S. 126 („Sorge, daß die wissenschaft. M nicht zu Litteraten werden. {Wir stehen verchtlich zu jeder Bildung, welche mit Zeitungslesen oder gar -schreiben sich vertrgt.}“), N 1886, 2[180], KSA 12.156 / W I 8, S. 51 („Es giebt viele Dinge, gegen welche ich nicht nçthig gefunden habe, zu reden: es versteht sich von selbst, daß mir der ,Litterat‘ widerlich ist, daß mir alle politischen Parteien von heute widerlich sind, daß der Sozialist von mir nicht nur mit Mitleiden behandelt wird.“ und N 1887, 7[66], KSA 12.320: „Welche Art Menschen mag sich beim Lesen meiner Schriften schlecht befinden? […] Da sind zum Beispiel Litteraten, welche mit dem Geiste Schacher treiben und von ihren Meinungen ,leben‘ wollen – sie haben nmlich entdeckt, daß etwas an einer Meinung (wenigstens an gewissen Meinungen) ist, das Geldes Werth hat, – gegen sie blst aus meinen Schriften ein bestndiger Hauch eisiger Verachtung.“ 262 Vgl. Braatz, Friedrich Nietzsche. Eine Studie zur Theorie der ffentlichen Meinung, bes. Kap. 4: Die ffentliche Meinung in Nietzsches Moralkritik, 175 – 275. Als Haupttypus der Zwischenperson arbeitet Nietzsche in GM III 11 – 22 den Priester heraus. 263 Hauptgrund seiner Abneigung ist, notiert Nietzsche N 1885, 34[177],11.480 / N VII 1, S. 73, dass „Parlamentarism u Zeitungswesen […] die Mittel sind, wodurch das Heerdenthier sich zum Herrn macht.“
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Selbstdistanzierung im V. Buch der FW. Weitere werden folgen. Hier zeigt er sich mit seinen Verdammungen und Segnungen als hoher Richter seiner Zeit, seiner Wertungen und Urteile unerschtterlich sicher wie ein biblischer Prophet, – bis er sich, in der Schluss-Parenthese, an das „Genie“ mit seinen Notbehelfen erinnert und sich bescheidet.264 Nietzsche hat auf das Genie gesetzt – das Wort ist in seinem Werk Hunderte von Malen belegt –, und sich zugleich scharf gegen den „G e n i e g l a u b e n“ (M 542), den „Aberglauben vom Genie“ (MA I 164) als der „{Superstition unseres Jahrhunderts}“ (N 1887, 9[170], KSA 12.436 / W II 1, S. 15) ausgesprochen. Auch hier ging er von Wagner aus als dem Genie seiner Zeit – und nach dem Bruch mit ihm entzauberte er auch das Genie. In MA nannte er „Genie’s und Heilige“ in einem Atemzug und beide wieder zusammen mit dem „Wahnsinn und [den] Wahnreden der Propheten und Orakelpriester“ (MA I 126). „Der Glaube an grosse, berlegene, fruchtbare Geister“ sei „sehr hufig noch mit jenem ganz- oder halbreligiçsen Aberglauben verbunden, dass jene Geister bermenschlichen Ursprungs seien und gewisse wunderbare Vermçgen besssen,“ die ihnen „einen unmittelbaren Blick in das Wesen der Welt, gleichsam durch ein Loch im Mantel der Erscheinung,“ ermçglichten. Man glaube, „dass sie ohne die Mhsal und Strenge der Wissenschaft, vermçge dieses wunderbaren Seherblickes, etwas Endgltiges und Entscheidendes ber Mensch und Welt mittheilen kçnnten.“ Der Nutzen „fr die Glubigen“ sei dabei die „unbedingte Unterordnung unter die grossen Geister“, die „ihrem eigenen Geiste fr die Zeit der Entwickelung die beste Disciplin und Schule“ verschaffe (MA I 164): „Der Cultus des Genius’ ist ein Nachklang dieser Gçtter-Frsten-Verehrung.“ (MA I 461) Doch „der Aberglaube vom Genie“ gefhrde es selbst am strksten: „Es ist jedenfalls ein gefhrliches Anzeichen, wenn den Menschen jener Schauder vor sich selbst berfllt, sei es nun jener berhmte Csaren-Schauder oder der hier in Betracht kommende Genie-Schauder; wenn der Opferduft, welchen man billigerweise allein einem Gotte bringt, dem Genie in’s Gehirn dringt, so dass er zu schwanken und sich fr etwas Uebermenschliches zu halten beginnt.“ Wer als Genie gilt, luft wie ein religiçser oder moralischer Fanatiker Gefahr, aufzuhçren, „Kritik gegen sich selbst zu ben“, so dass er „vielleicht gar zum Heuchler“ wird (MA I 164). Nietzsche hat damals auch schon das Mittel gegen die Gefahr genannt, nmlich zu „begreifen, welche rein menschlichen Eigenschaften in ihnen [den Genies] zusammengeflossen sind“. Die grçßte Gefahr fr Genies aber sei das Ziel, „die grçsstmçgliche W i r k u n g zu machen“, hier habe „die Unklarheit ber sich selbst und jene Beigabe eines halben Wahnsinns immer viel gethan“. Ein „halber Wahnsinn“ ist ein Wahnsinn, von dem das Genie noch weiß und auf den es sich bewusst einlsst. Es ist der Wahn „bernatrlicher Fhrer“, von dem sich Massen gerne „willenlos machen“ und selbst „zum Wahne fortreissen“ lassen – das Genie wird zum Priester. Doch, fgte Nietzsche hinzu, „in einzelnen seltenen Fllen mag dieses Stck Wahnsinn wohl auch das Mittel gewesen sein, durch welches eine solche nach allen Seiten hin excessive Natur fest zusammengehalten wurde: auch im Leben der Individuen haben die Wahnvorstellungen hufig den Werth von Heilmitteln, welche an sich Gifte sind“, Gifte, die das „,Genie‘, 264 Vgl. zum Folgenden Campioni, Art. Genie; Stegmaier, Schicksal Nietzsche?, 98 – 100.
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5. Bindungen der Gelehrten
das an seine Gçttlichkeit glaubt,“ am Ende zerstçren kçnnen, es, wie Napoleon, Nietzsches Beispiel fr das Genie schlechthin, „in einen fast wahnsinnigen Fatalismus“ treiben und es „seines Schnell- und Scharfblickes berauben“ (MA I 164). Nietzsche entkleidete die Rede vom Genie so „allen mythologischen und religiçsen Beigeschmacks“ und nahm ihm selbst den Mythos der Originalitt. Ein Genie ist lediglich jemand, der in seiner eigenen Not mehr oder weniger zufllig neue Mçglichkeiten fr andere findet: „Jemand, der sich auf seinem Wege im Walde vçllig verirrt hat, aber mit ungemeiner Energie nach irgend einer Richtung hin in’s Freie strebt, entdeckt mitunter einen neuen Weg, welchen Niemand kennt: so entstehen die Genies, denen man Originalitt nachrhmt.“ Nietzsche versteht auch sie evolutionistisch. In der Evolution kann „eine Verstmmelung, Verkrppelung, ein erheblicher Mangel eines Organs hufig die Veranlassung dazu [geben], dass ein anderes Organ sich ungewçhnlich gut entwickelt, weil es seine eigene Function und noch eine andere zu versehen hat. Hieraus ist der Ursprung mancher glnzenden Begabung zu errathen“, und das kçnnte auch auf „die Entstehung des vollkommenen Freigeistes“ zutreffen (MA I 231). Dabei blieb Nietzsche bis zuletzt. Auch nach der GD ist Genie „das Schlussergebniss der accumulirten Arbeit von Geschlechtern“ und mehr im Leib (im ,Fleisch‘) als in Seele und Geist, wofr die Griechen das strkste Beispiel seien (GD Streifzge 47). Genie ist mehr Schicksal als Verdienst: Grosse Mnner sind wie grosse Zeiten Explosiv-Stoffe, in denen eine ungeheure Kraft aufgehuft ist; ihre Voraussetzung ist immer, historisch und physiologisch, dass lange auf sie hin gesammelt, gehuft, gespart und bewahrt worden ist, – dass lange keine Explosion stattfand. Ist die Spannung in der Masse zu gross geworden, so gengt der zuflligste Reiz, das ,Genie‘, die ,That‘, das grosse Schicksal in die Welt zu rufen. (GD Streifzge 44) Das Genie hat es noch nicht einmal in der Hand, die in ihm aufgehuften Krfte zur Wirkung zu bringen, es sind vielmehr die Umstnde und die Zeit, die es zur Wirkung kommen lassen. „Der grosse Mensch“, schließt Nietzsche hier, „ist ein Ende. Das Genie – in Werk, in That – ist nothwendig ein Verschwender: d a s s e s s i c h a u s g i e b t, ist seine Grçsse …“ Und dann kommt er auf die Selbsterhaltung zurck: Der Instinkt der Selbsterhaltung ist gleichsam ausgehngt; der bergewaltige Druck der ausstrçmenden Krfte verbietet ihm jede solche Obhut und Vorsicht. Man nennt das ,Aufopferung‘; man rhmt seinen ,Heroismus‘ darin, seine Gleichgltigkeit gegen das eigne Wohl, seine Hingebung fr eine Idee, eine grosse Sache, ein Vaterland: Alles Missverstndnisse … Er strçmt aus, er strçmt ber, er verbraucht sich, er schont sich nicht, – mit Fatalitt, verhngnissvoll, unfreiwillig, wie das Ausbrechen eines Flusses ber seine Ufer unfreiwillig ist. Aber weil man solchen Explosiven viel verdankt, hat man ihnen auch viel dagegen geschenkt, zum Beispiel eine Art h ç h e r e r M o r a l … (GD Streifzge 44)
Die Moral, so Nietzsche in FW 345, dem dritten Aphorismus des V. Buchs, ist die tiefste Bindung der Wissenschaft. Das Genie hat eine Chance mehr, ihrer ansichtig zu werden.
6. Moral als Bindung der Wissenschaft FW 344 hatte mit dem Willen der Wissenschaft, sich nicht tuschen zu lassen, auf den „B o d e n d e r M o r a l“, zur Moral als letzter, unbefragter Plausibilitt gefhrt. Mit FW 345 und zwei weiteren Aphorismen, FW 352 und FW 359, macht Nietzsche diese letzte Plausibilitt nun ihrerseits zum „Problem“. Seit MA war ihm die Schwierigkeit immer deutlicher geworden, die Moral wissenschaftlich berhaupt in Frage zu stellen; so war das Problem, das andere nicht einmal zu sehen schienen, zu seinem Problem geworden. Zuletzt lotete er im V. Hauptstck von JGB aus, was eine „,Wissenschaft der Moral‘“ bisher so schwierig, ja fast unmçglich gemacht hatte: „In aller bisherigen ,Wissenschaft der Moral‘ f e h l t e, so wunderlich es klingen mag, noch das Problem der Moral selbst: es fehlte der Argwohn dafr, dass es hier etwas Problematisches gebe.“ Die Philosophen gingen „mit einem steifen Ernste, der lachen macht,“ auf die „B e g r n d u n g der Moral“ aus, was „nur eine gelehrte Form des guten G l a u b e n s an die herrschende Moral, ein neues Mittel ihres A u s d r u c k s“ sei, „also ein Thatbestand selbst innerhalb einer bestimmten Moralitt, ja sogar, im letzten Grunde, eine Art Leugnung, dass diese Moral als Problem gefasst werden d r f e“. Als „herrschende Moral“ wurde sie auch zur Herrin des philosophischen Denkens (JGB 186). In der bald folgenden Vorrede zur Neuausgabe der M fasste Nietzsche diese Herrschaft unter den Begriff der „Autoritt“: Die Moral habe in Europa eine solche „Autoritt“ erworben, dass sie nicht mehr zum „Gegenstand der Kritik“ wurde, dass es „unmoralisch“ erschien, „die Moral als Problem, als problematisch“ zu nehmen. Doch es blieb nicht bei der bloßen Abwehr von Kritik. Denn nicht nur das „Gewissen, der gute Ruf, die Hçlle, unter Umstnden selbst die Polizei erlaubten oder erlauben“ in Sachen Moral „keine Unbefangenheit;“ man unterlag ihr willig, ja willenlos, die Moral erwies sich als „die grçsste Meisterin der Verfhrung“ auch und gerade der sonst so kritischen Philosophen, wie an Kant, Hegel, Schopenhauer zu sehen sei (M Vorrede 3); ihre Bindung wirkte als „Bann und Wahn“ (JGB 56), ließ Alternativen noch nicht einmal in Sicht kommen: sie schien vollkommen selbstverstndlich. Folgerichtig ging Nietzsche seinerseits nicht daran, den Bann zu erklren und zu begrnden, damit htte auch er selbst allzu leicht ihrem Bann unterliegen kçnnen; er versuchte noch nicht einmal zu bestimmen,
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6. Moral als Bindung der Wissenschaft
was Moral eigentlich sei. Die Durchbrechung der Selbststabilisierung und Selbstimmunisierung der Moral schien ihm nur auf dem Weg der „S e l b s t a u f h e b u n g d e r M o r a l“ mçglich. Wenn die Moral das Denken auch noch der gewissenhaftesten Denker beherrscht, kann sie sich nur selbst problematisch werden, nmlich so, dass ihr „a u s M o r a l i t t“ „das Vertrauen gekndigt“ wird (M Vorrede 4), was nun mit jenem ,grçßten neueren Ereignis‘, dass der ,alte Gott‘ tot ist, ausgelçst worden war (FW 343/4.). Fr diese Selbstaufhebung der Moral galt dann noch mehr, dass sie Augen brauchte, die sie wahrnehmen: das Dasein Gottes war in der europischen Tradition immer auch in Frage gestellt worden, die Geltung der Moral kaum. Sie war so selbstverstndlich geworden, dass ihr Problematisch-Werden fr Nietzsche nun selbst zum Problem wurde. Hier setzt er in FW 345 an. Er entfaltet die „M o r a l a l s P r o b l e m“ in einer neuen Aphorismenkette aus drei Aphorismen, die er alle in die erste Hlfte von FW V einordnet. Sie sind damit Voraussetzung fr das Folgende. Dazwischen schaltet er jeweils sechs andere Aphorismen ein, nach FW 345 zunchst zum „F r a g e z e i c h e n“ und zum „B e d r f n i s s n a c h G l a u b e n“ (FW 346 – 347/7.), dem wissenschaftlichen (FW 348 – 349/5.) und dem religiçsen (FW 350 – 351/8.1.–2.), die wiederum in Aphorismenketten stehen. Sie betreffen alle auch das ProblematischWerden als solches. Nach FW 352 folgt die Reihe von Aphorismen zu Ursprungsfragen, von denen zwei, die Aphorismen zum Ursprung des Bewusstseins (FW 354/9.) und zum Begriff ,Erkenntnis‘ (FW 355/10.), Solitre bleiben und der dritte zum Ursprung der ,freien‘ Gesellschaft im Bedrfnis nach Schauspielerei (FW 356) sich wieder in einer Aphorismenkette fortsetzt (11.). Mit Ursprungsfragen werden Antworten auf das Problematisch-Werden gesucht; wird etwas problematisch, fragt man, woher es kommt. Nach zwei Aphorismen zu Grenzen des philosophischen (FW 357/12.) und des religiçsen Denkens in Europa berhaupt (FW 358/ 8.4.), die auch fr Nietzsche selbst noch gelten kçnnten, kommt er schließlich auf die „H i n t e r g r n d e d e r M o r a l“ zu sprechen. Sie kçnnten in der „Furcht vor dem Geist“ liegen (FW 359). ,Geist‘ wird in diesem Kontext zu einem Begriff fr das Problematisch-Werden selbst. Der Bann der Moral steht nicht im Mittelpunkt des V. Buchs der FW; er ist hier nur ein Beispiel fr die Bindungen des Denkens. In GM wird Nietzsche ihm bald eigens nachgehen, sich dort ganz auf das Thema beschrnken, es in drei, aus 17, 25 und 28, insgesamt also 70 Aphorismen bestehenden Aphorismenketten entwickeln, die zu ,Abhandlungen‘ wer-
6.1. Bindung durch Selbstlosigkeit in Wissenschaft und Moral. Nr. 345
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den, und dafr seine ,Methode‘ des Problematisch-Machens, die Genealogie, schrfen.265
6.1. Bindung durch Selbstlosigkeit in Wissenschaft und Moral Nr. 345: M o r a l a l s P r o b l e m . Der Begriff „Problem“ taucht im V. Buch der FW 26 Mal, davon 9 Mal in FW 345 auf. Whrend ein ,Thema‘ – der Begriff erscheint in Nietzsches Werk hufig, im V. Buch der FW gar nicht – etwas ,Gesetztes‘ ist (von gr. tih]mai), etwas, das man als ,Gegenstand‘ eines Gesprchs oder einer Schrift whlt und demgegenber man insoweit frei bleibt, ist fr Nietzsche ein ,Problem‘ etwas, demgegenber man nicht frei ist, sondern das einen selbst angreift: im griechischen Wortsinn (von gr. pqob\kkeim) rumlich etwas ,Vorspringendes‘ (z. B. ein Klippe), militrisch zum Angriff oder zur Verteidigung ,Vorgehaltenes‘ (z. B. ein Bollwerk), diskursiv etwas ,Vorgeworfenes‘ (z. B. eine Beschuldigung). In diesem Sinn greift die Moral, wenn sie zum Problem wird, das Selbst an. Das zeigt, dass dieses Selbst durch Moral gegrndet und damit schon befangen gegen sie ist. Wem die Moral als solche zum Problem wird, wird selbst von ihr in Frage gestellt, riskiert seine Selbstgewissheit, und eben deshalb wird sie, aus Furcht, nicht zum Problem gemacht. Probleme, die den Fragesteller selbst in Frage stellen, nennt Nietzsche im Gegensatz zu den Problemen, die gewçhnlich dafr gelten, „grosse Probleme“ (FW 345). Sie fhren von der „Wissenschaft“ (FW 344) wieder zur „Philosophie“ (FW 345) zurck. 6.1.1. Moral als „Problem“ Nietzsche setzt in FW 345 mit der Unterscheidung von „,Selbstlosigkeit‘“ (in Gnsefßchen) und „Persçnlichkeit“ ein. Er versteht sie nicht als einander ausschließende Gegenstze, sondern als Grade, als „Mangel an Person“ auf der einen und „berreichthum“ an Person auf der andern Seite; auf ihn wird er von FW 370 (16.) an zurckkommen. Probleme, die die Selbstgewissheit angreifen, setzen „starke, runde, sichere Geister“ voraus, „die fest auf sich selber sitzen“.266 Sie mssen ihren ,Boden‘ in sich 265 Vgl. Stegmaier, Nietzsches ,Genealogie der Moral‘, 63 – 93, und Stegmaier, Nietzsche zur Einfhrung, Kap. IX: Nietzsches Wege der Umwertung. 266 Nietzsche wiederholt die Wendung spter in EH Bcher 5.
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selbst haben, mssen ber ein eigenes gefestigtes Urteil, eine eigene sichere Orientierung verfgen, um wissenschaftliche Umorientierungen dort auslçsen zu kçnnen, wo Probleme wie das der Moral sie erzwingen. Nur wenn sie Halt in sich selbst haben, kçnnen sie, so Nietzsche, Probleme nicht nur „fassen“, sondern auch „h a l t e n“. Sie kçnnen dann auch den Problemen noch standhalten, die anderen den Boden entziehen. So sind sie die eigentlich kritischen Geister, die die Grenzen des jeweiligen wissenschaftlichen Zugangs zu sehen vermçgen und sich von Fall zu Fall fr oder gegen ihn entscheiden kçnnen. ,Selbstlosigkeit‘ dagegen entlarvt Nietzsche als einen desorientierenden und widersprchlichen Begriff. Selbstlosigkeit gilt als moralisch: Man soll von sich selbst, seinen Wnschen, Neigungen, Leidenschaften, Eigenwilligkeiten absehen, von all dem, worin man sich von anderen unterscheidet, was individuell, „persçnlich“ an einem ist, um sich nach allgemein gltigen Normen ganz dem Wohl anderer zu widmen. In FW 21 („A n d i e L e h r e r d e r S e l b s t l o s i g k e i t“) hatte Nietzsche von „O p f e r“ gesprochen und damit den „Grundwiderspruch jener Moral angedeutet, welche gerade jetzt sehr in Ehren steht“: „Tugenden (wie Fleiss, Gehorsam, Keuschheit, Piett, Gerechtigkeit)“, die als selbstlos gelten, ntzen meist anderen und schaden „ihren Inhabern“, ihrer „Erhaltung, Entwickelung, Erhebung, Fçrderung, Macht-Erweiterung“. Nietzsches Hauptbeispiel ist die Tugend des Fleißes, mit der man sich zu „einem ergebenen und gegen sich rcksichtslosen W e r k z e u g“ fr anderes und andere macht oder zur bloßen „Function“ (FW 119: „K e i n A l t r u i s m u s!“). Fleiß aber ist eine Haupttugend von Gelehrten. Das Absehen von allem Persçnlichen um allgemein gltiger Normen willen ist auch in der Wissenschaft gefordert, und auch hier, wo es nicht um Moral, sondern ,nur‘ um Wahrheit geht, handelt es sich um die moralische Forderung eines Opfers. Um der ,Selbstlosigkeit‘ in der Wissenschaft einen positiven Anhalt zu geben, setzte man in der Moderne ein ,transzendentales Subjekt‘ des Erkennens bzw. eine ,autonome Person‘ des Handelns an, denen Kant ihre klarste begriffliche Fassung gab. Doch ein solches Subjekt, eine solche Person, ein solches Selbst ,gibt es‘ nicht, auch fr Kant nicht. Es kann nicht als ,wirklich‘ beobachtet werden, sondern wird eben dazu gedacht und gefordert, dass ein Erkennen und Handeln nach allgemein gltigen Maßstben denkbar wird.267 Ein solches selbstloses Selbst ohne alle Individualitt, ohne alle ,Persçnlichkeit‘ ist leer, man nimmt mit ihm eine offenkundig wider267 Vgl. Stegmaier, Interpretationen, 37 – 42 u. 72 – 77.
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sprchliche Fiktion in Kauf.268 Das hat Folgen einerseits fr die Wissenschaft, andererseits fr die Persçnlichkeit: Ist das selbstlose Selbst der gemeinsame ,Boden‘ der Moral und der Wissenschaft, dann ist die Wissenschaft unvermeidlich blind fr das Problem der Moral; sie kann dann die Moral gar nicht zum Problem machen. Nimmt die Persçnlichkeit aber die Fiktion als Realitt oder auch nur als Maßstb der Realitt, so wird sie sich gerade als „geschwchte, dnne, ausgelçschte, sich selbst leugnende und verleugnende“ gerechtfertigt sehen – und als solche „taugt“ sie nur noch fr eine Wissenschaft und Moral, die ihrer Maßstbe schon sicher sind und sich von Problemen nicht mehr irritieren lassen. Umgekehrt wird sich das Selbst in der Wissenschaft und der Moral gerade darin als persçnliches erfahren, dass Probleme es nicht ,kalt lassen‘, dass es sie nicht „nur mit den Fhlhçrnern des kalten neugierigen Gedankens anzutasten und zu fassen versteht“, sondern „in ihnen sein Schicksal, seine Noth und auch sein bestes Glck“ erfhrt, dass es zur existenziellen Frage fr es wird. Man erfhrt sein Selbst nicht an scheinbar allgemein Gltigem und immer Bleibendem, sondern gerade darin, dass es in Frage und vor tiefgreifende Umorientierungen gestellt wird. Nietzsche zeigt auch dies, ohne es zu sagen. Mit FW 345 geht er wie im Thema so auch im Ton von einem ,wissenschaftlichen‘ zu einem ,persçnlichen‘ ber, nachdem er eine Weile zwischen ihnen oszilliert hat. Auch dieser Aphorismus erscheint zunchst noch ,wissenschaftlich‘. Auch er ist klar durch Trennungsstriche in (nun drei) Abschnitte gegliedert, und sie deuten nun sogar die Form eines Schlusses („also“) an. Zuerst der allgemeine Obersatz [1]: Ob und wie Philosophen sich Problemen stellen, hngt von ihrer Persçnlichkeit ab. Dann der Untersatz im mittleren Abschnitt [2]: Bisher ist das Problem der Moral noch gar nicht gestellt worden. Zuletzt der Schluss [3]: „also“ ist es erst „unser Werk“, es so zu stellen, und folglich, aber das wird nicht mehr ausgesprochen, mssen wir auch die Persçnlichkeit dazu haben. Der Schluss fhrt auch hier zu Nietzsche selbst, zu seiner Person zurck, nicht aus Selbstberhebung, sondern eben aus der Erfahrung „s e i n e r persçnlichen Noth, Qual, Wollust, Leidenschaft“, die er bisher mit niemand anderem zu teilen scheint. In dem bei weitem umfangreichsten mittleren Abschnitt [2] wird nach gut wissenschaftlicher Manier auch der Stand der Forschung umrissen. 268 Vgl. N 1882, 3[1]125, KSA 10.68 („der Glaube an etwas Unwirkliches, an die Selbstlosigkeit“), GM II 18 („widersprchliche Begriffe, wie S e l b s t l o s i g k e i t, S e l b s t v e r l e u g n u n g, S e l b s t o p f e r u n g“) und N 1887/88, 11 [83], KSA 13.39 / W II 3, S. 162 („populre Fiktion“).
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6. Moral als Bindung der Wissenschaft
Doch – erste Abweichung vom wissenschaftlichen comme il faut – Nietzsche bringt sich hier von Anfang an persçnlich ins Spiel („Wie kommt es nun, dass ich noch Niemandem begegnet bin, auch in Bchern nicht“). Dann das wissenschaftliche Desiderat („ich vermisse“), doch nicht wie blich ein Hinweis auf eine Forschungslcke, sondern auf einen elementaren Mangel an „wissenschaftlicher Neugierde“ berhaupt, selbst bei Leuten, die sich schon als vorurteilslos, mutig und „versucherisch“ erwiesen haben. Nietzsche denkt dabei schon nicht mehr an Philosophen der Moral, die, wie Kant und die Kantianer, mit ihrer „Kritik“ auf ihre tiefere und nun mçglichst unumstçßliche Begrndung zielten oder, wie Hegel und die Hegelianer, die sie aus der „Geschichte der ethischen Systeme“ entwickelten, sondern an „Psychologen“, die nach ihren Hintergrnden in persçnlichen Erlebnissen und Erfahrungen zu fragen gewohnt sind, und an „Historiker“, die sie durch eine „E n t s t e h u n g s g e s c h i c h t e“ auf außermoralische Ursprnge zurckzufhren versuchen kçnnten. Wie Nietzsche dann in GM ausdrcklich sagen wird, zielt er neben Eugen Dhring und Eduard von Hartmann vor allem auf Paul Re, mit dem er in Sorrent vom Oktober 1876 bis ins Frhjahr 1877 selbst eng in Sachen Maßstbe der Moralkritik zusammengearbeitet hatte, woraus Res Ursprung der moralischen Empfindungen (1877) und Nietzsches Menschliches, Allzumenschliches hervorgegangen waren, mit dem er sich aber nach dem Lou-Ereignis berworfen hatte.269 Er spricht – zweite Abweichung vom wissenschaftlichen comme il faut – von seiner persçnlichen Enttuschung („in einem einzelnen Falle habe ich Alles gethan, um eine Neigung und Begabung fr diese Art Historie zu ermuthigen – umsonst, wie mir heute scheinen will“). Unter den „Englndern“ wird Nietzsche in der GM Herbert Spencer und Henry Thomas Buckle namentlich nennen (Spencer erscheint auch in FW 373/13.2.2.), zuvor u. a. Jeremy Bentham, Charles Darwin und John Stuart Mill (JGB 228, 253).270 269 Vgl. Kaufmann, Commentary, 284, Fn.13, und Sautet, Notes, 511 f., Fn. 378, der auf Eduard von Hartmanns Phnomenologie des sittlichen Bewusstseins. Prolegomena zu einer jeder knftigen Ethik, Berlin 1879 (BN), verweist, die Nietzsche stark durchgearbeitet hat. 270 Vgl. Reschke, Kommentar, 333, Sautet, Notes, 511 f., Fn. 380; Wotling, Notes, 401, Fn. 285, und zu Nietzsches Verhltnis zu den ,Englndern‘ berhaupt Brobjer, Nietzsche and the „English“, bes. Kap. 8.–10. (167 – 271). – Nietzsche hat die ,Englnder‘ fraglos unterschtzt: vor allem Hobbes’ schonungslosen Ansatz zu Moral, Recht und Staat, Humes entschiedene Kritik und Genealogie der Religion (als Reaktion auf ngste, die allmhlich durch Abstraktionen rationalisiert werden) und seinen moralphilosophischen Ansatz nicht bei Gut und Bçse, sondern bei der
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Er schont sie hier, nennt keine Namen, geht – nun wieder gut wissenschaftlich – nicht auf den „Mangel an Person“ ein, den er bei ihnen vermutet, und hlt sich auch mit allzu bestimmten Verallgemeinerungen zurck („gewçhnlich“). Es geht ihm nur darum, dass sie auch noch bei ihren Entstehungsgeschichten wie selbstverstndlich auf eine „bestimmte Moral“ hinfhren, unter deren „Kommando“ sie bereits stehen, sie selbst also nicht in Frage stellen. Und auch „jenen noch immer so treuherzig nachgeredeten Volks-Aberglauben des christlichen Europa, dass das Charakteristicum der moralischen Handlung im Selbstlosen, Selbstverleugnenden, Sich-Selbst-Opfernden, oder im Mitgefhle, im Mitleiden belegen sei“, nennt er nur als ein Beispiel („etwa“). Gut wissenschaftlich ist auch die Benennung von „Fehlern in der Voraussetzung“ noch in der „Kritik“, die bisher versucht wurde: die „Kindereien“ des (jetzt so genannten) moralischen Universalismus oder Essentialismus („unbedingte Verbindlichkeit“ „gewisser Stze der Moral“ bei allen Vçlkern oder doch den „zahmen Vçlkern“), dann des (jetzt so genannten) moralischen Relativismus („Unverbindlichkeit a l l e r Moral“, sofern „bei verschiedenen Vçlkern die moralischen Schtzungen n o t h w e n d i g verschieden sind“271), schließlich der Fehler, die „vielleicht thçrichten Meinungen eines Volkes ber seine Moral oder der Menschen ber alle menschliche Moral“ zu kritisieren und dabei noch immer eine ,wahre‘ menschliche Moral vorauszusetzen und diese unangetastet zu lassen. Moralen sind nicht universal, darum aber nicht unverbindlich, sie herrschen auch, wenn sie neben anderen herrschen, und es geht beim Problem der Moral, wie Nietzsche es zu sehen gelernt und gelehrt hat, nicht um falsche Meinungen und wahres Wissen ber sie, sondern um den „W e r t h“, den sie fr das Leben hat, und der kçnnte durch die Unterscheidung der herkçmmlichen Wissenschaft nach falsch und wahr gar nicht zu fassen sein, weil eben auch diese Wissenschaft schon auf dem Boden der Moral steht. Ihrer beider Wert fr das Leben wre dann nur nach bisher außermoralischen und außerwissenschaftlichen Anhaltspunkten zu ,erraten‘. Nietzsche geht darum zuletzt wieder auf das ,Leben‘ selbst zurck, von dessen wahrem Wesen man natrlich seinerseits nichts gesellschaftlichen Beurteilung des Handelns, der Frage, was unter welchen Bedingungen bei andern Zustimmung findet und was nicht. Beide lehrten schon dezidiert die pragmatische Bedingtheit aller Moral. 271 Sautet, Notes, 512, Fn. 381, verweist hier auf Jean-Marie Guyaus Esquisse d’une morale sans obligation ni sanction, Paris 1885, die Nietzsche besaß und intensiv studiert hatte (BN).
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6. Moral als Bindung der Wissenschaft
wissen, von dem man aber doch so viel sagen kann, dass es nicht nach wahr und falsch bzw. ,Kraut‘ und „Unkraut“ unterscheidet. Fr die Herrschaft einer Moral ist es gleichgltig, ob sie wissenschaftlich begrndet ist oder nicht. Sie muss nur helfen wie ein „Medikament“ einem „Kranken“, wiederum „vollkommen unabhngig davon […], ob der Kranke wissenschaftlich oder wie ein altes Weib ber Medizin denkt.“ Solange ein Medikament wohltut, ohne dass man seine Wirkungsweise kennt, verzichtet man tunlichst darauf, nach ihr zu fragen. Dass Moralen wie Medikamente Kranke noch krnker machen kçnnen, wird ebenfalls ein Thema von GM sein. So zwingt das Problem der Moral dazu, wird man erst von ihm ergriffen, die Disziplin der herkçmmlichen Wissenschaft ,frçhlich‘ zu berschreiten – und also ,persçnlich‘ zu werden. In FW 352 und FW 359 spricht Nietzsche vollends persçnlich. In FW 352 setzt er gleich mit „ich“ ein, geht am Ende zum „wir“ ber, um dann in FW 359 mit „ihr“ fortzusetzen („Die Moral – wo glaubt ihr wohl, dass sie ihre gefhrlichsten und tckischsten Anwlte hat?…“). Dabei nimmt er schrittweise einen polemischeren und damit wiederum persçnlicheren Ton an. Ist in FW 352 noch vom „schndlichen Anblick“ von „uns Europern“ die Rede („z a h m e T h i e r e“, „krankes, krnkliches, krppelhaftes Thier“ und „beinahe eine Missgeburt“), so in FW 359 gleich zu Beginn vom „missrathenen Menschen […], der sich seines Daseins im Grunde schmt“. Am Ende von FW 359 wird Nietzsche auf den Anfang von FW 345 zurckkommen, auf die Philosophen selbst, und damit die Aphorismenkette zusammenschließen. Die Aufwallung wird in eine neue Frage, ein neues Problem, einmnden, nun das Problem der Philosophie als solcher und damit auch seiner eigenen. Philosophen, auch und vielleicht gerade die kritischsten, kçnnten sich, mde geworden von ihren sie selbst in Frage stellenden Fragen, in das „Versteck“ – nicht mehr der Moral, die sie mhsam genug in Frage gestellt haben, sondern – ihrer „Weisheit“ verkriechen wollen, wie manche „Thiere“, bevor sie sterben. Weisheit ist moralisch anerkannte, zur Autoritt gewordene Wissenschaft, und eben als moralisch anerkannte ist auch sie noch ein Teil des Problems der Moral. Auch die Weisheit muss danach erst ,frçhlich‘ werden. 6.1.2. Moral als „grosses Problem“ ,Groß‘, ,Grçße‘ und Verwandtes sind in Nietzsches Schriften mehrtausendfach belegt. Nietzsches Denken im Ganzen ist sehr betont auch ein
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Denken des Großen. Darin war er zeitgemß. ,Große Menschen‘ zu verehren schien ihm jedoch klein und pçbelhaft. Ihm ging es, womit FW 345 einsetzt, um „grosse Probleme“. Nietzsche gebraucht das Prdikat ,groß‘ in dreifachem, nicht immer scharf zu unterscheidendem Sinn, (a) dem pragmatisch messenden oder quantitativen Sinn von ,mehr als blich‘, ,berragend‘, (b) im emphatisch wertenden oder qualitativen Sinn von ,eindrucksvoller‘, ,wirkungsvoller‘, ,bedeutsamer als blich‘. Im ersten Sinn kçnnen z. B. abzhlbare Mengen, Menschen ihrer kçrperlichen Gestalt nach oder ein Glck seiner Unwahrscheinlichkeit nach, im zweiten z. B. Ereignisse, Schicksale oder Persçnlichkeiten ,groß‘, ,grçßer‘ oder ,am grçßten‘ sein; beide Gebrauchsweisen sind im Deutschen und so auch bei Nietzsche hochdifferenziert.272 ,Große Menschen‘, die zu erzeugen nach dem frhen Nietzsche die alleinige Aufgabe der Menschheit sein sollte (SE 6, KSA 1.384),273 und ,große Ereignisse‘ (4.4.) setzen Maßstbe fr ihre und die knftige Zeit, sind aber auch Produkte vielfltiger, oft ganz zuflliger und weit zurckliegender Bedingungen (5.4.2.). Ihre Grçße liegt nicht darin, vçllig Neues zu schaffen, was ohnehin nicht mçglich wre, sondern vielerlei Neues, das ihnen begegnet, in einer herausragenden Gestalt zusammenzufhren und dadurch der Orientierung eine neue „Richtung“ zu geben: G r ç s s e h e i s s t: R i c h t u n g -g e b e n. – Kein Strom ist durch sich selber gross und reich: sondern dass er so viele Nebenflsse aufnimmt und fortfhrt, das macht ihn dazu. So steht es auch mit allen Grçssen des Geistes. Nur darauf kommt es an, dass Einer die Richtung angiebt, welcher dann so viele Zuflsse folgen mssen; nicht darauf, ob er von Anbeginn arm oder reich begabt ist. (MA I 521)
Ein großer Mensch richtet die Orientierung auch fr andere aus. Er ist mehr als andere zu eigenen Urteilen und eigenen Entscheidungen fhig, verfgt, wie sich Nietzsche in Vorarbeiten zu JGB notierte, ber eine eigene „grandiose Logik {lange Logik, die ihrer Lnge wegen schwer berschaubare, folglich irrefhrende ist},“ und ber einen ebenso weitreichenden „Willen“. Das macht ihn furchtlos vor der Meinung anderer und unempfindlich fr ihre „,Achtung‘“: „{er es ist eine Einsamkeit in ihm, welche als etwas Unerreichbares ist fr Lob u. Tadel, als eine eigene Gerichtsbarkeit, welche keine Instanz ber sich hat}“. Eben dadurch wird er fhig zu „fhren“ und kann dann aus anderen etwas „machen“. Dabei kommt es 272 Vgl. Grimm, Deutsches Wçrterbuch, Bd. 9, Leipzig 1935, Sp. 457 – 514. 273 Nietzsche dachte hier mit der Zeit nchterner. Vgl. Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, 17 ff.
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nicht auf Tugend und Wahrheit an, denn er kann (unter Umstnden) selbst deren Maßstbe verndern (N 1885, 34[96], KSA 11.452 / N VII 1, S. 131 f.). Stattdessen, so Nietzsche, ist „der ,große Mensch‘ […] groß durch die Macht {Freiwerden seiner Freiheits-Spielraum} seiner Begierden u. durch die noch grçßere Macht seiner Commandos, {welche er besitzt / sie in Dienste zu nehmen weiß / welche diese prachtvollen Unthiere in Dienst zu nehmen weiß}“ (N 1887, 9[139], KSA 12.414 / W II 1, S. 40). Neue Maßstbe zu setzen ist aber, so Nietzsche in JGB, zuletzt die Aufgabe von Philosophen, wie er sie denkt: „ihre harte, ungewollte, unabweisliche Aufgabe, endlich aber die Grçsse ihrer Aufgabe“ liege darin, „um eine n e u e Grçsse des Menschen zu wissen, um einen neuen ungegangenen Weg zu seiner Vergrçsserung.“ Ein derartiger Philosoph, „falls es heute Philosophen geben kçnnte,“ wrde – Nietzsche bleibt beim Bild des Zusammenfhrens von vielfltigem Anderem – „gezwungen sein, die Grçsse des Menschen, den Begriff ,Grçsse‘ gerade in seine Umfnglichkeit und Vielfltigkeit, in seine Ganzheit im Vielen zu setzen: er wrde sogar den Werth und Rang darnach bestimmen, wie viel und vielerlei Einer tragen und auf sich nehmen, wie w e i t Einer seine Verantwortlichkeit spannen kçnnte“, gerade angesichts des „Ideals einer blçden entsagenden demthigen selbstlosen Menschlichkeit“ und der „,Gleichheit der Rechte‘“ auch im Geistigen (JGB 212). Im spteren Werk fgt Nietzsche dem Sinn von ,groß‘ (c) einen dritten, dialektischen Sinn hinzu, der im V. Buch der FW herausragt. Danach ist groß das, was nicht nur die bisherigen Maßstbe berschreitet, sondern sich dadurch steigert, dass es das, was ihm entgegensteht, einbeziehen und fr sich fruchtbar machen kann. So sagt Nietzsche von Goethe, es mache die „Strke“ seines Typus aus, dass „er Das, woran die durchschnittliche Natur zu Grunde gehn wrde, noch zu seinem Vortheile zu brauchen weiss“ (GD Streifzge 49). Auffllig wird dieser Sinn von ,groß‘ in sonst ungebruchlichen Wendungen wie der „grossen Vernunft“ des Leibes, die die „kleine“, d.i. ,reine‘ Vernunft der europischen philosophischen Tradition, zu ihrem Mittel, ihrem „Werk- und Spielzeug“ macht (ZA I Verchtern, KSA 4.39 f.). So lhmt der „grosse Schmerz“, „als der Lehrmeister des g r o s s e n Ve r d a c h t e s “, den Geist nicht mehr, sondern befreit ihn, auch und gerade dann, wenn der Verdacht sich gegen ihn selbst richtet (FW Vorrede 3; vgl. FW 325). So verzweifelt die „grosse Form des Lebens“ nicht an den Fraglichkeiten der Moral, sondern wchst an ihnen (FW 344). So wird die „ g r o s s e G e s u n d h e i t “ durch Krankheiten nicht schwcher, sondern strker und schließt der „g r o s s e E r n s t“ die ,Frçhlichkeit‘ ein, die die Wissenschaft bisher ausgeschlossen hat, und erçffnet ihr damit neue
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Horizonte (FW 382/20.1.). Die „grosse Entscheidung“ entscheidet auch noch ber die Kriterien der Entscheidung, sie macht „den Willen wieder frei“ (GM II 24/1.2.). Das „g r o s s e Leben“ muss nicht auf den „Krieg“ verzichten, sondern kann sich durch ihn steigern (GD Moral 3). Die „grosse Toleranz“ kann mit „g r o s s m t h i g e r Selbstbezwingung“ selbst Intoleranz tolerieren (AC 38).274 Das „grosse Ja zu allen Dingen“ kann auch Verneinungen, Vernichtungen, Zerstçrungen einschließen (AC 55, 58, 61). Der „g r o s s e S t i l“ kann hçchstes Pathos mit Nchternheit und Heiterkeit vereinigen (EH Bcher, 4). „G r o s s e P o l i t i k“ bezieht ein, was ihr, als Politik von Staaten, deren letztes Mittel der Krieg ist, gewçhnlich entgegengesetzt wird: Geist in Gestalt von Moral, Religion, Wissenschaft, Philosophie, so dass sie zum „Geisterkrieg“, zur Auseinandersetzung unter herrschenden Ideologien wird (EH Schicksal 1).275 „Grosse Probleme“ scheinen von dieser Art zu sein. Nietzsche erlutert sie durch weiteres Großes, die „g r o s s e L i e b e“, die sie „verlangen“. 6.1.3. Die „grosse Liebe“ zu „grossen Problemen“ Der Begriff der Liebe taucht im V. Buch der FW hier in FW 345 (nach „Liebe zum Leben“ und „Liebe zur Wahrheit“ in der neuen Vorrede 3 und 4) zum ersten Mal auf – und sogleich als „g r o s s e L i e b e“. Spter klingt das Thema Liebe mehrfach wieder an, als Liebe der Geschlechter in FW 363, als Quelle der Philosophie in FW 370, als (scheinbare) Liebe zur Menschheit in FW 377 und schließlich als Liebe auch noch im Hass („aus der ganzen L i e b e des Hasses“) in FW 379. Nietzsche hatte im Blick auf die wissenschaftliche und philosophische Erkenntnis schon frh von Liebe gesprochen.276 Nach den UB kann man „nur umschattet von der Illusion der Liebe […], nmlich nur im unbedingten Glauben an das Vollkommene und Rechte“, schaffen (HL 7, KSA 1.296). Man gewinnt durch sie „nicht nur den klaren, zertheilenden und verachtenden Blick fr sich selbst, sondern auch jene Begierde, ber sich hinaus zu schauen und nach einem irgendwo noch verborgnen hçheren Selbst mit allen Krften zu suchen“ (SE 6, KSA 1.385). Im I. Buch der FW hat Nietzsche einen langen Aphorismus der Frage gewidmet, 274 Vgl. Stegmaier, Nietzsches Kritik der Toleranz. 275 Vgl. Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, 240 – 245, bes. 243 („,große Politik‘ prophezeite ein Zeitalter nie dagewesener ideologischer ,Kriege‘, in denen nicht mehr um Vçlker und Staaten, sondern um das Bild des Menschen selbst gekmpft werden wrde“), und Stegmaier, Schicksal Nietzsche?, 109 – 112. 276 Vgl. Piazzesi, Liebe und Gerechtigkeit.
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was unter wechselnden moralischen Bewertungen alles Liebe genannt wird: „Habsucht“, „Nchstenliebe“, „Liebe zum Wissen, zur Wahrheit und berhaupt all jener Drang nach Neuigkeiten“, die „Begierde“ und der berdruss an der Begierde, die Liebe des Mitleidigen und die „Liebe der Geschlechter“, und sie alle unter dem „Drang nach Eigenthum“, also dem Gegensatz des ,Selbstlosen‘, zusammengefasst; er beruhige sich erst in der Freundschaft (FW 14). Auch die „Realisten“, beginnt Nietzsche das II. Buch der FW, die so stolz auf ihre Nchternheit sind, tragen in ihrer „Liebe zur ,Wirklichkeit‘“ noch „die Schtzungen der Dinge mit [sich] herum, welche in den Leidenschaften und Verliebtheiten frherer Jahrhunderte ihren Ursprung haben“ (FW 57). Danach ist Liebe auch schon in allem Wahrnehmen und Begreifen, als Drang, alles in mçglichst gnstigem Licht sehen zu wollen. In JGB wird ,Liebe‘ dann zur Formel fr das ,Jenseits von Gut und Bçse‘ selbst: „Was aus Liebe gethan wird, geschieht immer jenseits von Gut und Bçse.“ (JGB 153) Auch die Redlichkeit, eingeschlossen die Redlichkeit gegenber der Moral und der Liebe selbst, bedarf der Liebe, allerdings auch der „Bosheit“ (JGB 227). Als große Liebe im emphatisch wertenden oder qualitativen Sinn (b) wird sie „P a s s i o n“, deren „Erfindung den provenÅalischen Ritter-Dichtern zu[gehçrt], jenen prachtvollen erfinderischen Menschen des ,gai saber‘“ (JGB 260); ihr wird bis heute ein weiter Spielraum gegen Vernunft, Recht und Moral zugestanden.277 Die Liebe und das Wissen um die Liebe ist bei Jesus von Nazareth auch Religion geworden, nach Nietzsche jedoch nicht aus einem ,guten‘, weil ,selbstlosen‘ Willen, sondern aus der Lebensnot „des unschuldigsten und begehrendsten Herzens, das an keiner Menschen-Liebe je genug hatte, das Liebe, Geliebt-werden und Nichts ausserdem v e r l a n g t e, mit Hrte, mit Wahnsinn, mit furchtbaren Ausbrchen gegen Die, welche ihm Liebe verweigerten“ (JGB 269; vgl. AC 30). Und schließlich ist Liebe auch die Not, „solchen schmerzlichen Dingen nachhngen“ zu mssen (JGB 269). Die Liebe, schreibt Nietzsche zuletzt in AC, „ist der Zustand, wo der Mensch die Dinge am meisten so sieht, wie sie n i c h t sind. Die illusorische Kraft ist da auf ihrer Hçhe, ebenso die versssende, die v e r k l r e n d e Kraft. Man ertrgt in der Liebe mehr als sonst, man duldet Alles.“ (AC 23) Doch zugleich besteht Nietzsche bis zuletzt hart auf einer „Definition“ der Liebe, die die sexuelle Begierde nicht vergessen lsst: „es ist die einzige, die eines Philosophen wrdig ist. Liebe – in ihren Mitteln der Krieg, in ihrem Grunde der Todhass der Geschlechter.“ (EH Bcher 5)278 Liebe kann sich danach wohl von der Geschlechtsliebe lçsen, sich sublimieren, so sehr verfeinern, dass sie hçchste moralische und religiçse Achtung gewinnt.279 Und doch nie ganz, denn sie zehrt auch 277 Vgl. Luhmann, Liebe als Passion. Sie ist, so Luhmann, „eine ganz normale Unwahrscheinlichkeit“ (10). Aber sie musste erst normal, wahrscheinlich werden. Die Formel „Liebe als P a s s i o n“ findet sich so bei Nietzsche (JGB 260), seine Quelle fr die „amour-passion“ (JGB 189) war natrlich Stendhals De l’amour. Vgl. Montinari, Kommentar, KSA 14.256, 358 u. ç., Mancini, Die frçhliche Wissenschaft der Trobadors, 73 – 124, und Piazzesi, Liebe und Gerechtigkeit, 375. Zu weiteren Quellen s. Luhmann, Liebe als Passion, 49 – 70. 278 Nietzsche wiederholt diese Definition noch zwei Mal, in WA 2 und im Brief an Strindberg vom 27. November 1888, KGB III/5, Bf.1160. 279 Vgl. N 1881 11[124], KSA 9.486.
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und gerade dann, wenn sie die Geschlechtsliebe sublimiert, von deren Kraft.280 So bleibt nach Nietzsche jede Liebe, die den Namen verdient, kmpferisch, kriegerisch. Und gerade das Kriegerische, das ihr stets zugehçre, folgert er weiter, mache sie ,groß‘ im dialektisch berschreitenden Sinn, mache sie ,sehend‘: sie wird dann, hat er Zarathustra lehren lassen, „Liebe mit sehenden Augen“ und als solche „Gerechtigkeit“ fr den Einzelnen (ZA I Natter, KSA 4.88).
In FW 345 hat die „g r o s s e L i e b e “ den dritten, dialektischen Sinn (c). Die Dialektik, in die Nietzsche sie treibt, ist berraschend, abenteuerlich, atemberaubend; sie zeigt, was er fr nçtig hlt, um die Moral zum Problem werden zu lassen. Der Gegensatz, den die ,große Liebe‘ danach in sich einbezieht und durch den sie wchst, ist nicht der Hass. Denn er bindet ebenso blind wie die schlichte Liebe. Es ist stattdessen die ,große Verachtung‘, die aufs ußerste distanziert und dadurch sehend macht. Nietzsche hat den Zusammenhang schon frh, in einem Notat von 1876, hergestellt und wiederum am „Stifter der christlichen Religion“ festgemacht: „Der, welcher sich selbst mit der reinsten Art von Liebe lieben kçnnte, wre der, welcher sich zugleich selbst verachtete, und welcher zu sich sprche: verachte Niemanden, ausgenommen dich selbst, weil du dich allein kennen kannst.“281 Nicht im Blick auf andere, sondern auf das eigene Selbst kçnnen in seltenen Fllen, an denen Nietzsche Maß nimmt, Liebe und Verachtung aneinander wachsen und so zur ,großen Liebe‘ und ,großen Verachtung‘ werden. Wer sich liebend verachtet oder verachtend liebt, sieht sich unverstellt von Illusionen in all seinen Schwchen und kann sich in „einer Art von Selbstbegnadigung“ fr seine Selbstdesillusionierung dennoch annehmen (N 1876, 18[34], KSA 8.323). Aber das ist dann kein gelassenes Geltenlassen. Eine solche Liebe und Verachtung kmpft um sich und ihren Gegenstand und droht ihn zu „tçdten“, gerade wenn sie ihn erhalten will. „Jede grosse Liebe“, schrieb Nietzsche dann in MA, „bringt den grausamen Gedanken mit sich, den Gegenstand der Liebe zu tçdten, damit er ein fr alle Mal dem frevelhaften Spiele des Wechsels entrckt sei: denn vor dem Wechsel graut der Liebe mehr als vor der Vernichtung.“ (MA II, VM 280) Aus dem Erhalten-Wollen der Liebe und dem VernichtenWollen der Verachtung wird ein schçpferisches An-sich-Arbeiten des 280 Vgl. MA II, VM 95, und JGB 189. 281 Voraus ging im Sommer 1875 Nietzsches Auseinandersetzung mit „D e r W e r t h d e s L e b e n s v o n E . D h r i n g. 1865“ (9[1], KSA 8.131 – 181, zum Kap. „V. Die Liebe“ im Besonderen 154 – 161; vgl. dazu Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis, passim). Nietzsche setzte Dhring, der hier sehr nah an Schopenhauer bleibt, am Ende sein eigenes „Evangelium“ entgegen, das er dann 1876 im zitierten Notat wieder aufnahm.
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Selbst. Die „grosse Liebe“ berwindet, lsst Nietzsche seinen Zarathustra sagen, „auch noch Vergebung und Mitleiden. […] denn sie will das Geliebte noch – schaffen!“ (ZA II Mitleidigen, KSA 4.115 f.) So macht sie nicht gleich, sondern macht Unterschiede, will „immer mehr Krieg und Ungleichheit“: „mit ihren Bildern und Gespenstern“, die Menschen voneinander schaffen, „sollen sie noch gegeneinander den hçchsten Kampf kmpfen“, um „Brcken und Stege“ zum bermenschen zu schaffen (ZA II Taranteln, KSA 4.130). Und damit kann dann auch das jdisch-christliche Gebot der Nchstenliebe einen neuen Sinn jenseits der Religion gewinnen: „,Liebt immerhin euren Nchsten gleich euch, – aber seid mir erst Solche, die s i c h s e l b e r l i e b e n – / – mit der grossen Liebe lieben, mit der grossen Verachtung lieben!‘ Also spricht Zarathustra, der Gottlose. –“ (ZA III Tugend 3, KSA 4.216)282 In einem die neue Vorrede zu M vorbereitenden Notat verknpft Nietzsche dann die ,große Liebe‘ mit den ,großen Problemen‘: „der Mensch der großen Liebe u. {der großen} Verachtung, dem seine berflssige Kraft aus allem ,Abseits‘ und ,Jenseits‘ mittenhinein in die Welt treibt, den die Einsamkeit zwingt, sich Wesen zu schaffen, die ihm gleich sind / ein M. mit {dem Willen zu} einer furchtbaren Verantwortlichkeit, belastet, an sein Problem geschmiedet“ (N 1885/86, 2[164], KSA 12.146 f. / W I 8, S. 68). In GM wird daraus „der e r l ç s e n d e Mensch der grossen Liebe und Verachtung, der schçpferische Geist, den seine drngende Kraft aus allem Abseits und Jenseits immer wieder wegtreibt, dessen Einsamkeit vom Volke missverstanden wird, wie als ob sie eine Flucht v o r der Wirklichkeit sei –: whrend sie nur seine Versenkung, Vergrabung, Vertiefung in die Wirklichkeit ist, damit er einst aus ihr, wenn er wieder an‘s Licht kommt, die E r l ç s u n g dieser Wirklichkeit heimbringe: ihre Erlçsung von dem Fluche, den das bisherige Ideal auf sie gelegt hat.“ (GM II 24) Um das Denken der Wirklichkeit aus dem Bann der in Jahrtausenden herrschend gewordenen Moral erlçsen zu kçnnen, bedrfen Philosophen einer Kraft, die strker ist als die Moral, einer Kraft, die die Moral selbst im Namen der Religion stark gemacht hat, der ,großen Liebe und Verachtung‘. Sie setzt jedoch ein Selbst voraus, das nicht schon bis zur Selbstlosigkeit verdnnt
282 In FW 379 (15.3.2.) wird sich Nietzsche gegen den Vorwurf des Menschenhasses, der Misanthropie, wehren: mit dem Argument, dass er „in der Verachtung Knstler“ und ihm dadurch eine neue auf Distanz und unverstellte Beobachtung setzende „Menschenfreundlichkeit“ an Stelle der blinden ,Liebe zur Menschheit‘ mçglich geworden sei.
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ist. „Der Mangel an Person“ rcht sich gerade vor der „M o r a l a l s P r o b l e m“.
Nietzsches schriftstellerische Methoden: Gedankenstriche und Auslassungspunkte In der Aphorismenkette des V. Buchs der FW zur Moral als Bindung des Denkens wird Nietzsches ausgefeilte Kunst der Satzzeichen deutlich, nicht nur beim Setzen von Kommata, Semikola, Punkten, Doppelpunkten, Frage- und Ausrufungszeichen, wie sie sich bei jedem guten Stilisten findet, sondern bei seinem ungewçhnlichen und ungewçhnlich hufigen Gebrauch von Gedankenstrichen und Auslassungspunkten.283 Satzzeichen sind Pausenzeichen, Gedankenstriche und Auslassungspunkte schaffen besonders lange und gewichtige Pausen, machen die Pause als solche auffllig. Sie lassen aufmerken: der Gedankengang kçnnte nun auch eine andere Richtung nehmen, er ist nie selbstverstndlich, sondern immer entscheidbar, auch durch den Leser. Gedankenstriche und Auslassungspunkte sind Teil von Nietzsches engagierter Kommunikation mit dem Leser. In FW 343 hat er den Gedankenstrich oft, aber noch nicht ungewçhnlich verwendet: zur Absetzung von Parenthesen und von Zustzen zu einem Satz, der schon geschlossen schien („w a s eigentlich sich damit begeben hat – und was Alles, nachdem“; „Stehen wir vielleicht zu sehr noch unter den n c h s t e n F o l g e n dieses Ereignisses – und diese nchsten Folgen“). Hier kndigt der Gedankenstrich, außer dass er das Tempo steigert, (a) Unerwartetes, berraschendes, plçtzlich Einfallendes an. Bei Erwartbarem, nur noch Auszufhrendem zieht Nietzsche den Doppelpunkt vor. Mit beidem hlt er sich an gngige Regeln. Auch in FW 344 und 283 Das ist oft bemerkt und beschrieben worden. Vgl. Simson, Beobachtungen zur Typographie in Nietzsches Vorreden von 1886/87, der eingestreute Fragzeichen, Sperrungen, Anfhrungszeichen, Auslassungspunkte und Gedankenstriche am Beispiel der neuen Vorreden als „Intonationszeichen“ liest, van Tongeren, Reinterpreting Modern Culture, 91 – 95, und zuletzt Schlaffer, Das entfesselte Wort, 29 – 38. Den Sinn von Nietzsches „exquisiter Interpunktion“ (37) kann Schlaffer jedoch zuletzt nur in der Verfhrung des Lesers zur Sehnsucht nach einem Fhrer finden: „Nietzsches Leser kann den Sinn der Wçrter verstehen, den Sinn der Zeichen jedoch nur erahnen. Ihre Hufung, ihre Undeutlichkeit machen ihn ratlos, als htte er sich in ein unbekanntes, unwegsames Gelnde vorgewagt. Sehnschtig wartet er auf den Fhrer, der die Zeichen richtig zu deuten weiß, weil dieser sie selbst gesetzt hat.“ (38).
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345 hat er den Gedankenstrich so gebraucht, daneben aber auf neue Art (b): nach einem Punkt gesetzt wird der Gedankenstrich, wie dargestellt, zum Trennungsstrich, der den Aphorismus logisch gliedert.284 In dieser Funktion beruhigt er das Tempo, schafft er Distanz und bersicht. In FW 352 wird der Gedankenstrich nur in berraschungen vorbereitender (a), nicht in logisch gliedernder Funktion (b), außerdem aber in einer dritten, neuen (c) erscheinen: ohne vorausgehenden Punkt als Abschluss von Stzen. Zuerst wird so eine Parenthese in Klammern („(um damit s c h ç n zu sein –).“), dann der Aphorismus im Ganzen geschlossen („M o r a l p u t z t d e n E u r o p e r a u f – gestehen wir es ein! – in’s Vornehmere, Bedeutendere, Ansehnlichere, in’s ,Gçttliche‘ –“). Der Gedankenstrich schließt hier Stze ab – und hlt den Schluss zugleich offen. Der nun stark ,persçnlich‘ gehaltene Aphorismus handelt von „Verstecken“ durch „moralische Formeln und Anstandsbegriffe“, und Nietzsche hat sich seiner Schwester gegenber zuvor ausdrcklich zu Gedankenstrichen bekannt, die in dieser Weise Schlsse als „Verstecke“ offenhalten (c): Alles, was ich bisher geschrieben habe, ist Vordergrund; fr mich selber geht es erst immer mit den Gedankenstrichen los. Es sind Dinge gefhrlichster Art, mit denen ich zu thun habe; daß ich dazwischen in populrer Manier bald den Deutschen Schopenhauern oder Wagnern anempfehle, bald Zarathustra’s ausdenke, das sind Erholungen fr mich, aber vor Allem auch Verstecke, hinter denen ich eine Zeit lang wieder sitzen kann.285
FW 372 wird Nietzsche mitten im Satz mit einem doppelten Gedankenstrich abbrechen („Und wir frchten die Sinne nicht, weil – –“).286 FW 343 – 345 schließt er dagegen (wie dann wieder FW 353, FW 357 – 359 und FW 362 – 364) mit einem Gedankenstrich nach einem Punkt ab (FW 365 und FW 368 mit einem Gedankenstrich innerhalb einer angehngten Parenthese). Man kann diese Gedankenstriche als Trennungsstriche (b) zwischen Aphorismen verstehen. Sie kçnnten aber auch ein Versteck anzeigen. In FW 359 dann, dem letzten Aphorismus in der Kette zur Moral als Bindung des Denkens, bedient Nietzsche sich des Gedankenstrichs in allen drei Funktionen. Er durchsetzt den Aphorismus zugleich mit Anreden an den Leser, rhetorischen Fragen, Ausrufen, in Klammern gesetzten Paren284 Vgl. van Tongeren, Reinterpreting Modern Culture, 94. 285 Brief an Elisabeth Nietzsche, 20. Mai 1885, KGB III/3, Bf.602. 286 Vgl. zu Nietzsches Gebrauch von doppelten Gedankenstrichen vor allem in ZA Hanshe, Invisibly Revolving – – Inaudibly Revolving, der daraus die Abgrndigkeit des Gedankens der ewigen Wiederkehr des Gleichen zu verstehen sucht.
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thesen und Sperrungen in solcher Dichte, dass der Lesefluss alle Ruhe verliert und der Leser von einer Aufstçrung in die andere verfllt. Zudem aber fgt Nietzsche hier fnf Mal Auslassungspunkte ein („Die Moral – wo glaubt ihr wohl, dass sie ihre gefhrlichsten und tckischsten Anwlte hat?…“; „gerth schliesslich in einen habituellen Zustand der Rache, des Willens zur Rache…“; „(– wie gut versteckt der Stoicismus was Einer n i c h t hat! …)“; „Jnger, welche oft durch den Glauben an die Person (durch einen Irrthum) gegen sich selbst vertheidigt werden mssen…“; „verkriechen sich in Hçhlen, werden w e i s e … Wie? Weisheit ein Versteck des Philosophen vor – dem Geiste? –“). Gewçhnliche, Aussagestze abschließende Punkte gibt es dagegen (vom Punkt nach der berschrift abgesehen) im ganzen Text nur zwei. Auslassungspunkten scheint Nietzsche eine andere Funktion zu geben als Gedankenstrichen: Zeigen Schlsse offenhaltende Gedankenstriche an, dass er weitere Gedanken zur Sache hegt, aber ,versteckt‘, so Auslassungspunkte, dass er es (a) entweder fr berflssig hlt, sie auszufhren, und dies dem Leser berlsst oder (b) ihnen eine Denkpause lsst, um selbst auf den Gedanken oder die Frage zu kommen, den oder die er gleich vortragen wird, oder (c) dem Leser wenigstens einen kurzen Moment zu gewhren, um sich auf nicht nur berraschende, sondern aufschreckende Schlsse vorzubereiten. Das Dritte herrscht in FW 359 vor („… Da ist ein missrathener Mensch“; „Rache… w a s glaubt ihr wohl“; „… In den hufigeren Fllen aber ein Versteck des Philosophen“; „… Wie? Weisheit ein Versteck des Philosophen vor – dem Geiste? –“). Auslassungspunkte hat Nietzsche auch schon in FW 343, FW 344 und wieder in FW 352 gesetzt, nicht aber in dem als logischer Schluss angelegten FW 345. Dagegen schließt FW 355 mit Auslassungspunkten („whrend es fast etwas Widerspruchsvolles und Widersinniges ist, das Nicht-Fremde berhaupt als Objekt nehmen zu w o l l e n …“) – der Schluss ist schwierig, fr den Leser aber, entsprechende Geduld vorausgesetzt, noch immer nachzuvollziehen (10.5.). In der Folge mehren sich die Aphorismenschlsse mit Auslassungspunkten (FW 356, FW 361, FW 366, FW 369, FW 371), der Aphorismenschluss ohne Auslassungspunkte wird allmhlich zur Ausnahme, und von FW 373 an schließen alle Aphorismen des V. Buchs der FW mit Auslassungspunkten – oder eher: schließen nicht, enden nur, brechen ab. Der Leser sollte am Ende des Buchs gelernt haben, selbst die notwendigen Folgerungen zu ziehen.
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Fr die GD hat sich Nietzsche eine Sentenz aufbewahrt, die nicht nur mit Auslassungspunkten endet, sondern auch von ihrem Sinn zu handeln scheint: Auch der Muthigste von uns hat nur selten den Muth zu dem, was er eigentlich w e i s s … (GD Sprche 2)
Die Sentenz als solche lebt von der Auslassung (1.3.). Zu einem „Pfeil“ zugespitzt, soll sie treffen und verletzen, vielleicht sogar ,tçten‘. Die zitierte Sentenz verletzt Philosophen tçdlich, soweit sie noch irgendeine Gewissheit suchen, sie nimmt ihnen – wie in Nietzsches eigenem Fall – selbst noch die Gewissheit in der Kritik aller Gewissheit. Nietzsche zeigt das wiederum durch die bloße Form der Sentenz. Sie ist in persçnlichen Briefen lange, von 1875 bis 1887, herangereift. Zunchst schrieb er an Marie Baumgartner: „Nun wchst jetzt in mir mancherlei auf und von Monat zu Monat sehe ich einiges ber meine Lebensaufgabe bestimmter, ohne noch den Muth gehabt zu haben, es irgend Jemandem zu sagen.“ (2. August 1875, KGB II/5, Bf.475) Neun Jahre spter an Overbeck: „ich habe mir selber Muth machen mssen, da mir von berall her nur die Entmuthigung kam: Muth zum Tr a g e n jenes Gedankens!“ (8. Mrz 1884, KGB III/1, Bf.494) Wieder Jahre spter an Overbeck: „Wenn ich nur den Muth htte, Alles zu d e n k e n, was ich weiß …“ (12. Februar 1887, KGB III/5, Bf.798). Dann, Monate darauf an Brandes: „Es scheint mir mehr am M u t h e, am Strkegrade seines Muthes gelegen, w a s ein Mensch bereits fr ,wahr‘ hlt oder n o c h nicht … (Ich habe nur selten den Muth zu dem, was ich eigentlich weiß)“ (2. Dez. 1887, KGB III/5, Bf.960). Schritt fr Schritt hat Nietzsche das ,Sagen‘ (der Lebensaufgabe), das ,Tragen‘ (des Gedankens, wohl der ewigen Wiederkehr des Gleichen), das ,Denken‘ (von Allem), das ,Fr-wahr-Halten‘ (seines Wissens) ausgelassen und damit den Gegenstand des Wissens, der so viel Mut verlangt. In der verçffentlichten Sentenz spricht er dann auch nicht mehr von ,ich‘, spart er sich selbst als Subjekt aus. Jetzt ist die Rede nur noch von ,uns‘, Nietzsche reiht sich unter andere ,Mutigste‘ ein. Mut ist Bereitschaft zum Handeln unter Risiko, bei Ungewissheit des Ausgangs. Schon Kant verlangte diesen Mut („Habe Muth dich deines e i g e n e n Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklrung“). Doch er suchte sich noch apriorischer Formen des Verstandes zu versichern, die dessen Urteilen in der Wissenschaft Allgemeingltigkeit sichern konnten. Nietzsche verzichtet darauf. Sein Risiko ist nun das Alleinstehen im Wissen. Es macht Angst, und der Mut zu ihm ist darum sehr selten („Auch der Muthigste von uns hat nur selten“).
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Ein Alleinstehender im Wissen aber kann nur vermuten, dass es andere solche Alleinstehende gibt, er kann (per definitionem) auch dies nicht wissen. So ist auch die Rede von „uns“, der Wille, andere neben sich stehen zu sehen, noch Ausdruck der Angst vor dem eigenen Wissen. Das abschließende Wort der Sentenz, „w e i s s“, ist gesperrt, dann folgen die Auslassungspunkte: es geht um dieses Wissen, mit dem der Autor allein steht, ganz allein steht, doch die Angst verbietet zu sagen, wovon. Nur soviel ist gewiss: es kann kein Allgemeines im Sinn eines allgemeingltig absicherbaren Wissens mehr sein. Nietzsche setzt das Wort „eigentlich“ hinzu, das hier zum eigentlichen Philosophen-Wort wird: mit ,eigentlich‘ verweist man auf einen ungewissen Hintergrund, ohne ihn schon auszusprechen, setzt man ein Fragezeichen, ohne schon eine Antwort zu geben (,eigentlich‘ ist Wissen etwas anderes, als man gewçhnlich darunter versteht, aber was?) (FW 355/10.2.). In einem vorbereitenden Notat, in dem Nietzsche statt „uns“ noch „man“ schrieb, hat er keine Auslassungspunkte gesetzt und den Hintergrund, den Gegenstand des angstvollen Wissens benannt: den Nihilismus. Es lautet: Zur Genesis des Nihilisten. / Man hat nur spt den Muth zu dem, was man eigentlich weiß. Daß ich von Grund aus bisher Nihilist gewesen bin, das habe ich mir erst seit Kurzem eingestanden: die Energie, der Radikalism, mit der ich als Nihilist vorwrts gieng, tuschte mich ber diese Grundthatsache. Wenn man einem Ziele entgegengeht, so scheint es unmçglich, daß ,die Ziellosigkeit an sich‘ unser Glaubensgrundsatz ist (N 1887, 9[123], KSA 12.407 f. / W II 1, S. 45).
Das heißt: das Wissen vom Nihilismus und dessen zielbewusste Aufdeckung entlasten von der Angst, in die er versetzt. So kann man sich auch mit dem Nihilismus noch beruhigen. In GD Streifzge 32 wird Nietzsche sagen: „Wenn ein Philosoph Nihilist sein kçnnte, so wrde er es sein, weil er das Nichts hinter allen Idealen des Menschen findet.“ Er spricht im coniunctivus irrealis. Denn der Nihilismus macht, in letzter Konsequenz, das Denken gegenstandslos: er lsst alle herkçmmlichen Kategorien der Vergegenstndlichung als bloße ,Schatten Gottes‘ fragwrdig werden. So kann man auch von ihm nicht wissen, das Wissen von ihm ist ein scheinbares Wissen, er macht alles Wissen, auch das von ihm selbst, durch und durch fragwrdig. So wird er erst zum eigentlichen Nihilismus, wenn man weiß, dass man auch von ihm nicht wissen kann und sich darum auch mit seiner Benennung und Verkndung nicht mehr beruhigt. Er lsst sich nur in eine Sentenz fassen, die ihn nicht ausspricht, sondern ihn weglsst – die an seiner Stelle Auslassungspunkte setzt. Nietzsche spricht im V. Buch
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der FW an zwei Stellen vom Nihilismus (FW 346, FW 347/7.1.5., 7.2.3.1.) – und belsst es dort bei „Fragezeichen“ (FW 346). In seinen folgenden Aphorismenschlssen durch Auslassungspunkte zeigt er ihn.
6.2. Moral als „Medizin“, „Verkleidung“ und „Versteck“ Nr. 352: I n w i e f e r n M o r a l k a u m e n t b e h r l i c h i s t . Nietzsche hat seine Kritik der bisherigen Kritik der Moral in FW 345 auf die Metapher der „Medizin“ hinausgefhrt, nach deren Wirkungsweise man nicht fragt, solange sie nur wohltut. In FW 352 rt er auf die Wirkungsweise der Moral – und entdeckt die Bedeckung der Scham. Mit der selbstlosen Moral kçnnen wir die Blçßen unseres Selbst bedecken: danach sind „moralische Formeln und Anstandsbegriffe“ „Verkleidung“, „Verhllung“, „Versteck“ – „wohlwollende“ Verstecke, sofern alle sie einander zugestehen, weil jeder weiß, wie sehr sie alle nçtig haben.287 Nietzsches Metaphern-Reihe hat Konsequenz, sie macht schrittweise sichtbar, wie die Moral einverleibt und herrschend wird und dennoch ein Spielraum der Entscheidung bleibt: Medikamente werden von jedem in seinen Kçrper einverleibt; alle sind irgendwann darauf angewiesen, niemand entgeht ihnen; aber man kann sie auch verweigern. Verkleidungen und Verhllungen werden um den Kçrper gelegt, sie dienen der Tuschung, aber einer allerseits anerkannten Tuschung und so auch der Selbsttuschung aller. Doch sie bleiben ußerlich; man kann sie bei Gelegenheit auch ablegen. In Verstecke begibt man sich mit seiner ganzen Person; sofern aber auch das alle und alle zusammen tun, ist ihr Sinn nicht, sich voreinander zu verstecken, sondern vor sich selbst; aber man kann sich auch daraus hervorwagen. Wagt sich einer hervor, verliert er fr die, die darin verharren, sein Menschentum und wird zum Tier – die ußerste moralische Demtigung. Indem er den Menschen in evolutionistischer Perspektive unter die Tiere zurckversetzt, wagt Nietzsche hier das ußerste. Statt den Menschen durch seine Moral ber das Tier hinauszuheben, unterscheidet er aggressiv das „z a h m e T h i e r“ vom „wilden“, das „Heerdenthier“ vom „Raubthier“, das Medikamente, Verkleidungen, Verstecke, Selbsttuschungen nicht nçtig hat: es gibt ein strkeres Leben ohne die herrschende Moral der Selbstlosigkeit, und es gab dieses strkere Leben auch schon unter den Menschen – bei den auf ,Wettkampf‘ gestimmten Griechen, auf 287 Vgl. Goffman, Interaction Ritual, und Goffman, Relations in Public, und dazu Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 361 – 459.
6.3. Bildung und Weisheit als Versteck vor dem Geist. Nr. 359
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Wettkampf auch in der Schçnheit nackter Kçrper, die sich „,sehen lassen‘“ konnten.288 Nietzsche reißt dem „,inwendigen Menschen‘“, der sich mit dem Christentum in Europa durchgesetzt hat, seine ,Herdentier‘-Moral wie eine Verkleidung ab; weil sie ihn in eine andauernde allgemeine Selbsttuschung versetzt und alle in ein allgemeines Mittelmaß zwingt, ist sie, wie Nietzsche dann in GM ausfhren wird, nicht die Zukunft, sondern eine Gefahr fr die Zukunft des Menschen. Um dieser Zukunft willen setzt er seine aggressive rhetorische Strategie gegen die nicht minder aggressive Nçtigung zur Moral der Selbstlosigkeit in der fromm gewordenen menschlichen Gesellschaft. Dann kehrt er schlagartig zu nicht-metaphorischer Phnomenologie zurck, der „tiefen Mittelmssigkeit, Angst und Langenweile an sich selbst“, die jeder in ,guter‘ moralischer ,Gesellschaft‘ erfahren kann. Zum Schluss appelliert er erneut an Moral, nun jedoch an eine Moral der Kritik der Moral oder der Redlichkeit sich selbst gegenber („– gestehen wir es ein! –“). Sein Gedankenstrich am Ende kçnnte wieder auf die ,Schatten Gottes‘ zurckverweisen („ins ,Gçttliche‘“) – aber auch voraus auf FW 359.
6.3. Bildung und Weisheit als Versteck vor dem Geist Nr. 359: D i e R a c h e a m G e i s t und andere Hintergrnde der Moral. Die „gefhrlichsten und tckischsten Anwlte“ der Moral der Selbstlosigkeit oder ,Herdentier‘-Moral sind „Selbstverchter“, denen „Selbstvergessenheit“ in alltglicher Arbeit nicht mçglich ist und die, weil sie sich ihres Daseins schmen und dies wissen oder zumindest ahnen, umso mehr der Moral der Selbstlosigkeit bedrfen und sie darum verbreiten: die Medizin der Moral wird dann „Gift“.289 Was sonst heilen kann, wird als stndiges Mittel zu einer Droge, die wohl immer wieder kurzfristig aufleben lsst, langfristig aber zerstçrt. Die Moral als Droge, so Nietzsche, treibt unvermeidlich in „einen habituellen Zustand der Rache, des Willens zur Rache“, einen Selbsthass, der sich nicht entladen kann, und somit in „die Lust 288 Schopenhauer dagegen hielt auch den modernen europischen Menschen unvermindert fr „ein wildes, entsetzliches Thier“, ein „Raubthier“ von „teuflischem Charakter“, ein „animal mchant par excellence“, das, anders als alle brigen Tiere, um des Qulens und Mordens willen qule und morde und das darum moralische Masken nçtig habe (PP II, Kap. 8: Zur Ethik, § 114, 6.225, 227 ff.). 289 Vgl. Derrida, Die Pharmazie Platons.
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der v o l l z o g e n e n R a c h e“ nur in der „Einbildung“: nach GM in das Ressentiment.290 FW 359 ist mehr noch als FW 352 in wesentlichen Grundzgen die Keimzelle von GM.291 Nietzsche spricht zum Auftakt noch aggressiver („missrathener Mensch“, „durch und durch vergifteter Mensch“, „Bumbum von Gerechtigkeit, Weisheit, Heiligkeit, Tugend“, „Idealisten-Mntel“, „die unheilbar Eiteln“); je schmerzlicher die Wahrheiten sind, die er vorzutragen hat, desto schneidender wird seine Sprache. Dann, mit Beginn der zweiten Hlfte des Aphorismus, ein noch immer harter, aber schon versçhnlicherer Ton: „Man verstehe mich nicht falsch: aus solchen geborenen F e i n d e n d e s G e i s t e s entsteht mitunter jenes seltene Stck Menschthum, das vom Volke unter dem Namen des Heiligen, des Weisen verehrt wird; aus solchen Menschen kommen jene Unthiere der Moral her, welche Lrm machen, Geschichte machen, – der heilige Augustin gehçrt zu ihnen.“ Nietzsche greift sich hier den zugleich philosophischsten und von der Kirche heilig gesprochenen Lehrer des Christentums heraus; spter, in GM, wird er ein allgemeines Schema entwerfen, nach dem geistreiche „asketische Priester“ ganze Kulturen neu ausrichten kçnnen; in AC wird er Paulus, den unberufenen Jnger Christi und noch immer einflussreichsten aller Theologen, als den asketischen Priester schlechthin herausstellen.292 Schließlich, nach einem trennenden Gedankenstrich, kehrt eine besinnliche, fast melancholische Stimmung ein. Nietzsche kommt, vorerst nur fragend, aber in Fragen, die sich bald als nur rhetorische entpuppen, auf die Philosophen und damit auch auf sich selbst zurck. Kçnnten nicht auch und gerade Philosophen, Philosophen-Persçnlichkeiten, wie sie die klassische Antike noch hervorgebracht hat, im Stolz auf ihre „Weisheit“, die Vollendung aller „Bildung“,293 einer schweren Selbsttuschung erliegen? Kçnnten sie nicht ebenso und vielleicht noch weit mehr ,missraten‘ sein als die nur oberflchlich und scheinbar Gebildeten einerseits und die ,asketischen Priester‘ andererseits? Und wenn diese ein Recht auf Selbsttuschungen haben mçgen, weil sie ohne solche nicht leben kçnnten, haben auch Philosophen, die sich mit der ,Liebe zur Weisheit‘ auch der rckhaltlosen Aufklrung der Wahrheit verschrieben haben und daher zuallererst zur 290 Vgl. GM III 14. Nietzsche bernahm den Begriff des Ressentiment von Eugen Dhring, den er seinerseits fr einen Menschen des Ressentiment erklrte (vgl. Stegmaier, Nietzsches ,Genealogie der Moral‘, 117 – 130). Er wiederholt in GM III 14 auch die Formel vom „Bumbum“ der Moral. 291 Das wre eigens auszufhren. Wir mssen hier darauf verzichten. 292 Vgl. Havemann, Der ,Apostel der Rache‘. 293 Vgl. Speer, Art. Weisheit.
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Wahrheit ber sich selbst fhig sein mssten, ein Recht dazu? Schon in JGB 205 hatte Nietzsche seinen Verdacht gegen die Weisheit erhoben: hçrt man gar heute Jemanden loben, dafr, dass er ,weise‘ lebe oder ,als ein Philosoph‘, so bedeutet es beinahe nicht mehr, als ,klug und abseits‘. Weisheit: das scheint dem Pçbel eine Art Flucht zu sein, ein Mittel und Kunststck, sich gut aus einem schlimmen Spiele herauszuziehn; aber der rechte Philosoph – so scheint es u n s, meine Freunde? – lebt ,unphilosophisch‘ und ,unweise‘, vor Allem u n k l u g, und fhlt die Last und Pflicht zu hundert Versuchen und Versuchungen des Lebens: – er risquirt s i c h bestndig, er spielt d a s schlimme Spiel.…. (JGB 205)294
Nun sieht er: die Weisheit kçnnte selbst eine „Klugheit“ des Philosophen sein, vergleichbar der Klugheit der „Thiere vor dem Tode“, die ein Versteck suchen, um in Ruhe sterben zu kçnnen. Gerade die kritischsten Philosophen, die sich am strksten riskiert haben, kçnnten, mde, alt, kalt und hart geworden, in der Weisheit ein Versteck suchen – vor ihrer Kritik: „sie gehen bei Seite, werden still, whlen die Einsamkeit, verkriechen sich in Hçhlen“. Weisheit kçnnte statt der Vollendung der Bildung und Moral die Beruhigung des Philosophen ber sie sein. Nietzsche nimmt sich dabei selbst nicht aus. Aber auch den Leser nicht. Wenn Philologie „jene ehrwrdige Kunst“ ist, „welche von ihrem Verehrer vor Allem Eins heischt, bei Seite gehn, sich Zeit lassen, still werden, langsam werden“ (M Vorrede 5), kçnnte auch Lesen, kçnnte auch Nietzsche zu lesen ein Versteck sein, nicht mehr nur, wie nach FW 352, fr die Scham, sondern vor dem Geist. Philosophen wren danach doppelt befangen, einerseits durch Scham fr die Vermittelmßigung des Menschen, andererseits durch Scheu gerade vor dem, was den Menschen und insbesondere sie auszeichnen sollte, „dem Geiste“. Der Begriff Geist, der Schlussbegriff von Hegels Philosophie, ist auch in Nietzsches Schriften viele Tausend Mal belegt.295 In FW 359 erscheint er,
294 Vgl. schon SE 3, KSA 1.354, zu den ,rechten Philosophen‘: „Von Zeit zu Zeit rchen sie sich fr ihr gewaltsames Sich-Verbergen, fr ihre erzwungene Zurckhaltung. Sie kommen aus ihrer Hçhle heraus mit schrecklichen Mienen; ihre Worte und Thaten sind dann Explosionen, und es ist mçglich, dass sie an sich selbst zu Grunde gehen. So gefhrlich lebte Schopenhauer.“ 295 Vgl. zum Verhltnis Nietzsches zu Hegel Breazeale, The Hegel-Nietzsche Problem; Houlgate, Hegel, Nietzsche, and the Criticism of Metaphysics; Stegmaier, Nietzsches Hegel-Bild; Stegmaier, Hegel, Nietzsche und Heraklit; Stegmaier, Notwendiger Gang und notwendiger Perspektivismus; Stegmaier, Denken des Denkens in der Zeit; Jurist, Beyond Hegel and Nietzsche; Dudley, Hegel, Nietzsche, and Philosophy; Lebrun, L’envers de la dialectique. Hegel la lumire de Nietzsche; Purtschert, Grenzfiguren; Vieweg/Gray (Hg.), Hegel und Nietzsche,
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Adjektive eingerechnet, neun Mal, zuvor in FW 358 sogar elf Mal und in beiden Aphorismen auch als Titel-Begriff. Innerhalb von Nietzsches verçffentlichtem Werk hat der Begriff hier seine grçßte Verdichtung; er macht ihn hier so stark wie nirgends sonst. Was heißt ,Geist‘, wenn auch Philosophen nçtig haben, sich vor ihm zu verstecken? Wir verfolgen zunchst Nietzsches Moral-Kritik anhand des Themas der „Bildung“ des Menschen in FW 359 weiter296 und erschließen dann die weiteren Kontexte von Nietzsches Gebrauch des Geist-Begriffs. 6.3.1. Vergiftung des Geistes der Bildung durch Moral Moral, so Nietzsche, vergiftet den Geist und mit ihm Bildung, Besitz und Einsamkeit: „Geist wird Gift, Bildung wird Gift, Besitz wird Gift, Einsamkeit wird Gift“. Geist, Besitz und Einsamkeit waren die strksten Anhaltspunkte der Bildung im 19. Jahrhundert. Einsamkeit wurde von Wilhelm von Humboldt fr die eigene und selbstverantwortliche Erarbeitung der Bildung vorausgesetzt.297 Unter dem Begriff des Geistes hatte Hegel die Bildung als Erscheinung des Geistes in dessen schrittweiser Selbstreflexion gefasst. Nach der Phnomenologie des Geistes ist Bildung die Gestalt des „sich entfremdeten Geistes“. Der Geist glaubt sich hier in einem ußerlich tradierbaren, lehrbaren Wissen aufgehoben, das sich jedoch in zahllose und beliebige Inhalte entgrenzt, die er sich aneignen soll. Fremd fr ihn, werden sie ihm als solche vorgetragen, die ihn im wçrtlichen Sinn ,bilden‘ sollen. Fr sie wird Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit erhoben, und doch kçnnen sie von jedermann anders ausgewhlt und anders verstanden und so beliebig gegeneinander ausgespielt werden. Als gebildetes ist das Individuum darum „zerrissen“.298 Spter fgt Hegel die Bildung in die Philosophie des „obund zum Verhltnis ihrer Begriffe des Geistes Stegmaier, Geist. Hegel, Nietzsche und die Gegenwart. 296 Vgl. zum „Schlsselbegriff Bildung“ den hilfreichen (anonymen) bersichts-Artikel in der Brockhaus Enzyklopdie, Bd. 4, 80 – 86. Nietzsche spielt darin eine prominente Rolle. Zu Nietzsches eigenem Begriff der Bildung vgl. NWB, Art. Bildung und Art. Bildungsphilister, 1.359 – 384, in der aktuellen Forschung ferner die Beitrge zu: „Nietzsche und die Zukunft der Bildung“. Internationale Tagung der Nietzsche-Gesellschaft, Naumburg (16.–17. 10. 1999), in: NF 7 (2000), 11 – 107, und zum Schwerpunktthema „Bildung – Zukunft – Humanitas“ in: NF 12 (2005), 33 – 124. In die folgenden Abschnitte sind Passagen aufgenommen aus Stegmaier, Der Geist der Bildung. 297 Vgl. Borsche, Wilhelm von Humboldt, 63 f. 298 Vgl. Hegel, Phnomenologie des Geistes, VI B, 359 – 390.
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jektiven Geistes“ ein, begreift sie als ein Moment der „brgerlichen Gesellschaft“ und deren „System der Bedrfnisse“, in dem die natrliche Sittlichkeit des Zusammenlebens sich entfremdet und zerrissen wird, und fasst die Entfremdung und Zerrissenheit als „Gewohnheit“ der „Abstraktion im Genusse, Kenntnis, Wissen und Benehmen“, die die „Teilung der Arbeit“ notwendig macht. Sie wird durch „formelle Bildung“ tradiert und kann doch nach den verschiedenen Bedrfnissen und Interessen ganz verschieden ausfallen.299 Sie lsst sich wie Besitz an Geld und Gtern unabhngig von berholten stndischen Privilegien anhufen und festhalten; als vorzeigbarer, moralisch aufwertender Besitz wurde sie zum Stolz des im 19. Jahrhundert an die Macht kommenden Brgertums. In der sogenannten Grnderzeit, in der das Brgertum seinen Triumph zu begreifen und zu feiern begann, wurde sie – fr Nietzsche – vollends zur Maske der „Moral des Ressentiment“ (GM I 11): in moralisch aufwertendem Besitz von Wissen ber moralisch hochwertige gesellschaftliche Gter wie Sprachen, Literatur, Kunst, Musik, Geschichte, Wissenschaft und Philosophie kann man, so Nietzsche, eine Moral verstecken, die vergiftet. Wie kann Moral vergiften? Als Sinn der Moral der Selbstlosigkeit gilt gemeinhin, auch unter Moralphilosophen, vom Egoismus zum Altruismus zu befreien, also auf eigene Vorteile zu verzichten und anderen ebenso in ihren Bedrfnissen gerecht zu werden wie sich selbst. Dabei geht es nach der sogenannten Goldenen Regel um Gegenseitigkeit: wenn ich im Verkehr mit anderen Menschen nur das tue, von dem ich wollen kann, dass es auch mir geschieht, so ist Gegenseitigkeit die Bedingung, der Maßstab und die Begrenzung der Moral – was andere mir nicht tun, brauche ich dann auch ihnen nicht zu tun. So bewahrt die Moral der Selbstlosigkeit die Menschen davor, einander zu bervorteilen und zu bermchtigen; sie steht gegen den Vorteil und die Macht einzelner und fr die Gleichheit aller im Recht auf die Befriedigung vergleichbarer Bedrfnisse. An der Abwehr von bervorteilung und bermchtigung hat man aber fraglos ein ,selbstisches‘ Interesse – und muss sich diesen Widerspruch verstecken. Interesse an der selbstischselbstlosen Moral auf Gegenseitigkeit hat vor allem, wer, wie Nietzsche es ausdrckt, ,schlechter weggekommen‘ ist als andere. Er kann mit ihr auf die, die ihm besser weggekommen scheinen, Macht ausben, moralischen Druck, sich ihm anzugleichen, seine Moral also unmoralisch gebrauchen.300 Tut er das in aller Unschuld, bleibt er ungebrochen und gesund. Wird ihm 299 Vgl. Hegel, Enzyklopdie, § 525. 300 Vgl. zu den Paradoxien der Moral Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 541 – 590.
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das aber deutlich – und es droht ihm umso deutlicher zu werden, je mehr Bildung er erwirbt –, wird ihn der Widerspruch immer mehr vergiften, wird ihm das Unmoralische seines Gebrauchs der Moral ein immer schlechteres Gewissen schaffen und ihn schließlich, statt ihm Selbstachtung einzubringen, in eine unausweichliche und unheilbare Selbstverachtung treiben. Die Moral auf Gegenseitigkeit, an die ,schlechter weggekommene Menschen‘ sich klammern, entfremdet sie mit Hegels Begriffen sich selbst, zerreißt sie, sie erscheinen sich als ,missratene Menschen‘. Die Bildung, die sie zu dieser Selbstverachtung gebracht hat („gerade Bildung genug, um das zu wissen“), kann sie wohl so weit vor ihr bewahren, wie sie gebildet von ihr sprechen kçnnen – doch nur um den Preis, dass auch die Bildung zum Gift wird, zu einer Droge gegen Selbstverachtung. So wird die sich selbst missbrauchende Moral zu einem besonders zerstçrerischen Gift, sie bringt in jenen „habituellen Zustand der Rache, des Willens zur Rache“. In schlechter Weggekommenen wird natrlicherweise Lust zur Rache aufleben an denen, die ihnen ungerechterweise schçner, klger, reicher, liebenswrdiger scheinen, doch Rache nur fr die „Einbildung“: denn gerade Rache verbietet die Moral auf Gegenseitigkeit. So kann die Rache nicht vollzogen werden, die Lust an ihr sich nicht ausleben, es bleibt beim bloßen Willen zur Rache, der umso mehr das eigene Gewissen beschwert. Er schafft, so Nietzsche dann in GM, ein habituell schlechtes Gewissen, vergiftet es nachhaltig mit Ressentiments, Leiden an nicht vollzogener Rache, und mit ihr die Bildung, die die Augen und Ohren dafr geçffnet hat. Beim Gebildeten aber richtet sich das Rachegefhl, so Nietzsche, nicht mehr unmittelbar auf besser Weggekommene, sondern auf den Geist, der es ihm eingegeben hat. Er kann sich am Geist nicht freuen („ein missrathener Mensch, der nicht genug Geist besitzt, um sich dessen freuen zu kçnnen“) und sich noch nicht einmal durch „den ,Segen der Arbeit‘“, ein monotones „,Tagewerk‘“ selbst vergessen, sondern setzt sich „durch Bcher, auf die er kein Recht hat, oder geistigere Gesellschaft als er verdauen kann,“ immer neu seinem Schlechter-Weggekommen-Sein und seiner Selbstverachtung aus. Das betrifft auch den gebildeten Leser von Nietzsches Aphorismus. ber dessen messerscharfer psychologischer Analyse vergisst man leicht, wie sehr man selbst von ihr betroffen sein und ein Versteck vor ihr nçtig haben kçnnte.
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6.3.2. Geist als Befreier von der Bindung durch Moral Nach FW 359 ist Geist etwas, so viel ist schon deutlich geworden, was dem einen mehr, dem andern weniger zukommt, vor dem man sich, wenn man es denn in einem gewissen Maß besitzt, frchten, an dem man sich rchen oder vor dem man sich verstecken muss. Man verfgt nach Nietzsche nicht einfach ber Geist, sondern gert durch ihn, je mehr man von ihm ,hat‘, im Gegenteil in Auseinandersetzung und Gegnerschaft mit sich selbst. Diese Auseinandersetzung und Gegnerschaft hat dann jedoch keine festen Termini, nichts, woran man den Geist ,festmachen‘, wodurch man ihn abgrenzen, ,definieren‘ kçnnte. Umso mehr reizt er zur Verunsicherung, zum Weiterfragen, zur berschreitung seiner selbst. Im weiteren Kontext des V. Buchs der FW gebraucht Nietzsche den Begriff auf dreierlei Weise: (a) als individuierter Geist in Gestalt von denkenden Menschen berhaupt („Wie viel ein Geist zu seiner Ernhrung nçthig hat“, FW 381), in Gestalt der „,freien Geister‘“ (FW 343, FW 347), der „starken, runden, sicheren Geister […], die fest auf sich selber sitzen“ (FW 345) oder innovativer „Geister in Europa“ wie Hegel und Darwin (FW 357), (b) als Geist von etwas oder jemandem, z. B. der Wissenschaft, der Rasse, Europas oder eines Philosophen (FW 344, FW 357, FW 358, FW 381), und (c) als Geist schlechthin. Dazu kommen (d) im burlesken Epilog „die Geister meines Buches“, die ber ihn, den Autor Nietzsche, herfallen, um mit wilden Tnzen seiner „rabenschwarzen Musik“ Einhalt zu gebieten (FW 383). Der in FW 359 erscheinende Sinn (c) tritt auch schon in FW 351 auf, wo von Philosophen wie Pythagoras und Platon als „Schauspielern des Geistes“, und dann wieder in FW 378, wo von den „Freigebigen und Reichen des Geistes“ die Rede ist. Vor allem aber beherrscht er FW 358, wo Nietzsche Luthers Reformation einen „B a u e r n a u f s t a n d d e s G e i s t e s“ nennt und ihm den „inspirirenden Geist, der die Kirche gegrndet hat,“ gegenberstellt; er spricht dort von der „Macht der Geistigkeit“, aber auch von „aller Art Geist, die anbohrt, grbt, nagt, feuchtet“ und so die Kirche zum Einsturz bringt. So kann „geistig“ einfach „misstrauisch“ heißen, die „Freiheit und Freisinnigkeit des Geistes“ sich eben darin zeigen, dass sie einen „Verdacht gegen Natur, Mensch und Geist“, also auch gegen sich selbst einschließt. Geist, jedenfalls der europische Geist, ist danach zu Entgegengesetztem fhig, zur „Verflachung“ und „Ve r g u t m t h i g u n g“ einerseits, zur „Beweglichkeit und Unruhe“ andererseits; die Reformation habe beides zugleich gefçrdert (FW 358). Das scheint beunruhigend inkonsistent, zumindest ambivalent. Aber vielleicht kçnnte ja das, was man ,Geist‘ nennt, eben so beschaffen sein, in
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ihm kçnnte tatschlich Gegenstzliches zusammen bestehen. Whrend es fr Hegel die auszeichnende Kraft des Geistes war, Gegenstze zu vereinen, bleibt Nietzsche gerade gegen die Vereinigung von Gegenstzen, gegen das Streben nach Einheit misstrauisch: im Streben nach Einheit kçnnte man sich ber Gegenstze nur beruhigen, sich vor ihnen nur verstecken.301 Er versagt sich die Aufhebung der individuellen Lebensbedingungen individueller Geister in ein systematisches und allgemein gltiges Sich-selbst-Begreifen des Geistes. Geist ist fr ihn vielmehr das, was Zweifel erregt, am meisten ber sich selbst. Denn gerade die geistigsten Menschen wissen nicht nur, dass sie nie genug Geist haben, sie wissen auch, dass es so etwas wie Geist nicht in irgendeiner Weise objektiv geben kann; denn schon zu sagen, dass es objektiv etwas gebe, setzt bereits, also vor aller Objektivitt, Geist voraus.302 So ist Geist in dem, was gegeben ist, stets zugleich gegeben und nicht gegeben, und damit ist er einem Gespenst zum Verwechseln hnlich: mçglicherweise berall und doch nie greifbar. In FW 379 schreibt Nietzsche: „Das Zeitalter liebt den Geist, es liebt uns und hat uns nçthig, selbst wenn wir es ihm zu verstehn geben mssten, dass wir in der Verachtung Knstler sind; dass uns jeder Umgang mit Menschen einen leichten Schauder macht;“ zuvor aber in FW 365: „Es giebt aber auch andre Arten und Kunststcke, um unter Menschen, mit Menschen ,umzugehn‘: zum Beispiel als Gespenst, – was sehr rathsam ist, wenn man sie bald los sein und frchten machen will. Probe: man greift nach uns und bekommt uns nicht zu fassen.“303 Dass der Geist dem Reden ber den Geist immer schon voraus ist, kann man so verstehen, dass er erfasst, aber sich nicht fassen lsst, dass er zu immer weiterer Steigerung ber sich selbst hinaus anreizt, aber nie zum Abschluss kommen lsst, dass er einen zunehmend souverneren Umgang mit Gegenstzen ermçglicht, aber keine letzte Verfgung ber sie erlaubt. Nietzsche erfhrt den Geist 301 Hierin bereitet Nietzsche Theodor W. Adornos Misstrauen gegen den Begriff berhaupt vor, in dessen Negativer Dialektik Nietzsche gegenber der Dialektik der Aufklrung zurcktritt. Vgl. dazu Frchtl, Radikalitt und Konsequenz in der Wahrheitstheorie, und die Beitrge zur 7. Nietzsche-Werkstatt Schulpforta „Friedrich Nietzsche und die Kritische Theorie“ (23.–26. 09. 1998), in: NF 5/6 (2000), 193 – 317, und darin insbesondere Simon, Nietzsche und der Gedanke einer kritischen Theorie. 302 Das ist natrlich auch Hegel deutlich. Bei Nietzsches und Hegels Auffassung des Geistes kçnnte es sich deshalb, so Simon, Zum Verhltnis von System und Stil bei Hegel und Nietzsche, nur um unterschiedliche Akzentsetzungen handeln. 303 Vgl. zur Verwechselbarkeit von ,Geist‘ und ,Gespenst‘ (in Marx’ Kommunistischem Manifest und in Shakespeares Hamlet) Derrida, Spectres de Marx/Marx’ Gespenster.
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so, dass er nicht Sicherheit gibt, sondern Verunsicherung schafft, auf immer neue Infragestellungen der Natur, des Menschen und seiner selbst drngt. Aber eben dadurch bildet er. Er bildet, indem er Furcht vor ihm erregt, Rache-Gelste gegen ihn weckt und nach Verstecken vor ihm suchen lsst, aber auch in die Schauspielerei treibt, soziale Aufstnde erregt, zur Inspiration einer sozialen Institution wird und Macht in der Gesellschaft verschafft, gegen die er stets auch einen Verdacht wachhlt, und schließlich ,Freigebige und Reiche des Geistes‘ dazu befreit, die Moral auf Gegenseitigkeit zu berwinden und ohne alle Erwartung auf Gegenseitigkeit sich selbst, die Gabe des Geistes, weiterzugeben. So ist Geist bei Nietzsche deutlicher noch als bei Hegel nichts, das man feststellen und festhalten kçnnte, sondern eben dies, einzusehen und gutzuheißen, dass letztlich nichts festzustellen und festzuhalten ist. Nietzsche schließt das V. Buch der FW denn auch mit dem „Ideal eines Geistes“, dem „d e r g r o s s e E r n s t“ des Spiels mit allem, auch dem bisher Heiligsten, gelingt (FW 382/20.1.). Er schließt dabei den ersten (a) mit dem dritten Sinn (c) von ,Geist‘ zusammen: ein Geist als Individuum erfllt dann das Ideal des Geistes schlechthin, wenn er sich nicht ,festzustellen‘ versucht, sondern als „n o c h n i c h t f e s t g e s t e l l t e s T h i e r“ (JGB 62) immer neu ber sich selbst hinausgehen kann. Als einer, „der naiv, das heisst ungewollt und aus berstrçmender Flle und Mchtigkeit mit Allem spielt, was bisher heilig, gut, unberhrbar, gçttlich hiess“, htte ein solcher Geist in seiner unablssigen Auseinandersetzung und Gegnerschaft mit sich selbst seine hçchste Macht, aber nicht ber andere und anderes, von deren Willfhrigkeit er dann abhngig bliebe, sondern ber seine eigenen Maßstbe, denen er folgen, und seine Bindungen, denen er gehorchen kann, auf die er aber nicht festgelegt ist. Nietzsches Begriff des Geistes ist sein Begriff fr den eigenen Stand und Halt einer Orientierung, der eine immer neue Befreiung von immer neuen Bindungen unter immer neuen Bedingungen ermçglicht. Nietzsche bereitet den Begriff des Geistes so schon in der neuen Vorrede zur FW vor, wenn er die „,Frçhliche Wissenschaft‘“ als „die Saturnalien eines Geistes“ ankndigt (FW Vorrede 1 / 2.). Dann fhrt er den Geist schlechthin als etwas ein, das im „entscheidenden Augenblick […] a u f d e r T h a t ertappt“ werden kann, nmlich „auf der Schwche oder Umkehr oder Ergebung oder Verhrtung oder Verdsterung und wie alle die krankhaften Zustnde des Geistes heissen, welche in gesunden Tagen den S t o l z des Geistes wider sich haben“. Er bindet den Geist an Situationen, die ihn in gegenstzliche Stimmungen versetzen kçnnen, und an den Leib und seine Bedrfnisse, die er nur begrenzt durchschaut. Vor allem am kranken Leib, der den Geist „unbewusst […] drngt, stçsst, lockt“, ist zu erfahren, worauf die Philosophie zumeist mit der „unbewussten Verkleidung physiologischer Bedrfnisse
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6. Moral als Bindung der Wissenschaft
unter die Mntel des Objektiven, Ideellen, Rein-Geistigen“ reagiert hat (FW Vorrede 2). Der andere, geistvollere Weg ist die „Kunst der Transfiguration“, sie zeichnet die Geistigeren vor den „Vierschrçtigen des Geistes“ aus: Nietzsche definiert hier geradezu die Philosophie durch diese Kunst („diese Kunst der Transformation i s t eben Philosophie“).304 Die Philosophie darf dann nicht wie das „Volk“ zwischen Leib und Seele und „zwischen Seele und Geist“ trennen, die Befreiung durch Transfiguration vollzieht sich unter bleibender Bindung an den Leib. Sie geht den Weg ber den Schmerz, ber das Leiden am Leib („Erst der grosse Schmerz ist der letzte Befreier des Geistes“), und dieser fhrt nicht zu einer letzten Gewissheit, sondern strkt die Kraft, sich auch im Ungewissen noch halten zu kçnnen, zu jener „Freude am X“ bei „geistigeren, vergeistigteren Menschen“ (FW Vorrede 3). Nietzsche schließt, was den Geist betrifft, die Vorrede mit Spott auf den „,gebildeten Menschen‘ und Grossstdter“ und seine Liebe „zu ,geistigen Genssen‘, unter Mithlfe geistiger Getrnke“, den schlichtesten Gebrauchsweisen von ,Geist‘ in den leicht verfgbaren Gestalten von „Kunst, Buch und Musik“ – und Alkohol. Er selbst dagegen profiliert auch hier den Geist als Bereitschaft zum Risiko, ber jede gewonnene Gewissheit und jede errungene Macht wieder hinauszugehen, als etwas fr „Wagehalse des Geistes, die wir die hçchste und gefhrlichste Spitze des gegenwrtigen Gedankens erklettert und uns von da aus umgesehn haben“ (FW Vorrede 4). Im weiteren Werk reichen wenige Anhaltspunkte vollends aus, um das Bild abzurunden. In einem frhen Notat und wieder im sptesten Werk betont Nietzsche den Rahmen, den er jedem Gebrauch des Geist-Begriffs setzt, die Bindung an ein Gehirn. „Den ,Geist‘, das Gehirnerzeugniß als bernatrlich zu betrachten! gar zu vergçttern, welche Tollheit!“, notiert er N 1872/73 (19[127], KSA 7.460), und zuletzt schreibt er in AC: „Der ,reine Geist‘ ist eine reine Dummheit: rechnen wir das Nervensystem und die Sinne ab, die ,sterbliche Hlle‘, s o v e r r e c h n e n w i r u n s – weiter nichts.“ (AC 14) In MA fhrt er die Freiheit des Geistes ein, die seiner Selbstbezglichkeit entspringt: „der wahrhaft Freie im Geiste wird auch ber den Geist selber frei denken und sich einiges Furchtbare in Hinsicht auf Quelle und Richtung desselben nicht verhehlen.“ (MA II, VM 11) In ZA umreißt er in der berhmten Rede „Von den drei Verwandlungen“ (ZA I) die Wandlungsfhigkeit des Geistes vom „tragsamen“ Geist des Kamels ber den gegen alle Bindungen sich „Freiheit“ erbeutenden Geist des Lçwen zum Geist des Spiels im Kind. Was man bisher „,Geist‘“ nannte, die „kleine Vernunft“, die glaubte, sich im Namen der Moral vom Leib trennen und ber ihn erheben zu kçnnen, ist als „Werk- und Spielzeug“ des Leibes (ZA I Verchtern, KSA 4.39) selbst Leib: „,Seit ich den Leib besser kenne, – sagte Zarathustra zu einem seiner Jnger – ist mir der Geist nur noch gleichsam Geist; und alles das ,Unvergngliche‘ – das ist auch nur ein Gleichniss.“ (ZA II Dichtern, KSA 4.163). Mit seiner Idealisierung wird er entmndigt und verflscht, der entleibte Geist wird zum Geist der scheinbar allgemeinen Moral, der auf dem ungebundenen Leben des Geistes als „Geist der Schwere“ lastet (ZA I Lesen, KSA 4.49; ZA II Tanzlied, KSA 4.139 f.; ZA III Schwere, KSA 4.241 – 243, u. ç.). Vom Geist der Schwere sich zu befreien, heißt Leichtigkeit zu gewinnen, Leichtigkeit in der ungebundenen Beweglichkeit des Geistes. Doch dies ist, auch schon fr Zarathustra, nur durch grausamen Schmerz mçglich – Nietzsche lsst Zarathustra in diesem Sinn den 304 Vgl. Strong, Friedrich Nietzsche and the Politics of Transfiguration.
6.3. Bildung und Weisheit als Versteck vor dem Geist. Nr. 359
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Geist definieren: „Geist ist das Leben, das selber ins Leben schneidet; an der eignen Qual mehrt sich das eigne Wissen“ (ZA II Weisen, KSA 4.134). JGB bekrftigt dies noch einmal. Nur „Grausamkeit“ im Erkennen fhrt in die „Tiefe“ zu den Bedingungen des Geistes hinab, die er sich selbst verbergen, vor denen er sich verstecken will, vor denen er erstarrt. Nietzsche kehrt diese Seite hier hervor als „Grundwillen des Geistes, welcher unablssig zum Scheine und zu den Oberflchen hin will“, um dort zum Geist der Schwere zu werden (JGB 229). Damit ist aber auch ein Maß der Freiheit des Geistes gewonnen: in der Grausamkeit, mit der sie erworben wird und die man eben noch ertragen kann (vgl. JGB 39). Ist sie erworben, kann „Geistigkeit“ alles einschließen, „was es von Freiheit, Feinheit, Khnheit, Tanz und meisterlicher Sicherheit auf Erden giebt“, sie wird zum hçchsten Wert, um „dessentwillen es sich lohnt, auf Erden zu leben“ (JGB 188). Und als Werte schaffende wird „die hohe unabhngige Geistigkeit, der Wille zum Alleinstehn, die grosse Vernunft“, die „hohe und harte Vornehmheit und Selbst-Verantwortlichkeit“ (JGB 201) schließlich zur Macht. Nach einem vorausgehenden Notat wird der Geist dabei endlich – auf seine Weise – fest: „Menschen {Jene gesetzgeberischen u. tyrannischen Geister}, welche im Stande sind, einen Begriff fest zu setzen, fest zu halten, M. mit dieser geistigen Willenskraft {welche das Flssigste, den Geist fr lange Zeit zu versteinern und beinahe zu verewigen wissen, sind […] die Bildner – u der Rest (,die Allermeisten‘ M in diesem Falle –) sind gegen sie gehalten nur Thon}.“ (N 1885, 34 [88], KSA 11.449/N VII 1, S. 135). Spter, nach Abschluss des V. Buchs der FW, stellt Nietzsche in einem Notat noch einmal die Gelassenheit, die Leichtigkeit, den bermut als „{die triumphirendste Form der Geistigkeit}“ heraus (N 1887, 10[21], KSA 12.467/W II 2, S. 126).
Warum also „ein Versteck des Philosophen – vor dem Geiste?“ Nietzsches Antwort ist am Ende sehr einfach: weil Geist, wird er so verstanden, wie er ihn versteht, nicht metaphysisch, sondern • aus seiner Bindung an einen Leib, der krank sein kann, • aus seiner Ausgesetztheit an die Welt, die mit immer neuen berraschungen, Herausforderungen, Gefhrdungen aufwartet, • aus seiner Macht ber andere und Ohnmacht gegen wieder andere, die ihn zu unablssigen Auseinandersetzungen mit ihnen und sich selbst zwingt, • aus dem Willen, eben darber zur Einsicht und Erkenntnis zu kommen, und • aus den Kmpfen, sich dabei nicht mit beruhigenden Illusionen zufrieden zu geben, sondern sie immer neu grausam zu berwinden, weil also Geist unter diesen Bedingungen, mit denen er sich ein Leben lang zu qulen hat, irgendwann ermden muss. Und dann kann er sich in die moralisch so hoch geschtzte Weisheit flchten, in den Schoß der Moral zurckkehren, die Philosophie, wie Nietzsche sie versteht, sein lassen.
7. Philosophie als Kraft zum Misstrauen und das Bedrfnis nach Glauben Die beiden Aphorismen FW 346 und FW 347 stehen in engstem Kontext und mssen zusammen gelesen werden. Sie handeln von der Lçsung vom Glauben durch die „Kraft“ zum „Misstrauen“, von den „F r a g e z e i c h e n“, die ein Philosoph, wie Nietzsche ihn versteht, noch setzen kann, und vom bleibenden und durch diese Fragezeichen noch wachsenden „Bedrfniss nach Glauben“. Sie gleichen einander in Lnge und Ton, antworten aufeinander in ihren leitenden Begriffen, insbesondere denen des „B e d r f n i s s e s“ (in beiden gesperrt) und des „Glaubens“ (in FW 346 mit Flexionsformen und Zusammensetzungen vierfach, in FW 347 zwçlffach gebraucht und zuletzt gesperrt), verdstern sich zusehends, um ganz zuletzt die Morgenrçte der neuen Heiterkeit aufgehen zu lassen. Der Aphorismus FW 346 treibt die kritischen Fragen der ersten drei Aphorismen des V. Buchs, FW 343 – 345, weiter in die Tiefe, so dass auch diese noch oberflchlich erscheinen, lsst sie in die ußerste Ungewissheit mnden, wo die Kritik selbst den Boden unter den Fßen verliert und im Nihilismus endet, an den er jedoch noch einmal ein Fragezeichen setzt; der Aphorismus FW 347 hilft konstruktiv seine Rtsel zu lçsen und erweckt neue Zuversicht. So erreichen sie den Grund von Nietzsches Philosophieren; mit ihnen tritt er aus den ,Schatten Gottes‘ heraus. Sie zeigen, wie weit frçhliche Wissenschaft reichen kann. Kurz: sie schreiben die Gedankenstriche aus, mit denen Nietzsche die ersten drei Aphorismen geschlossen hatte (NSM 6). Gedankenstriche am Ende der Aphorismen setzt Nietzsche erst wieder ab FW 352. In FW 346 und 347 setzt Nietzsche auch keine Gedankenstriche nach Punkten; er gliedert sie nicht wie die vorausgehenden drei Aphorismen. Auch ein Ziel oder eine Methode der Kritik wird nicht vorgegeben. Stattdessen gibt ein Wort das andere, setzt ein Gedanke einen weiteren frei, lçst ein Einfall den nchsten aus. Treibende Kraft der Kritik ist danach nicht ein Subjekt, das sich zu ihr entschlossen hat und sie konsequent durchfhrt, sondern ein wachsendes „Misstrauen“, das zum „Argwohn“ wird, um schließlich in die Aussicht auf eine neue „Lust und Kraft der Selbstbestimmung“ umzuschlagen. An der ußersten Grenze der Kritik wird nicht nur ihr Gegenstand, sondern auch ihr Autor
7. Philosophie als Kraft zum Misstrauen und das Bedrfnis nach Glauben
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fraglich. In FW 346, berschrieben „U n s e r F r a g e z e i c h e n“, folgt Fragezeichen auf Fragezeichen (sechs insgesamt). Nietzsche fhrt eine Art automatischen Schreibens vor; auch hier zeigt er, was er nicht mehr sagen kann oder sagen will. Mitten in der Kaskade des Fraglich-Werdens fllt wie beiher seine knappste und schrfste Bestimmung der kritischen Seite seines Philosophierens: „So viel Misstrauen, so viel Philosophie.“
Nietzsches schriftstellerische Methoden: Irritierende Identifikationsangebote FW 346 setzt mit einer Nachfrage ein, auf die Nietzsche mit einer weiteren Frage antwortet, die er wiederum zu beantworten verweigert. Er rumt ein, vielleicht nicht verstanden zu werden („Aber ihr versteht das nicht?“), sucht dem aber nicht abzuhelfen, sondern nimmt es als Faktum hin („In der That, man wird Mhe haben, uns zu verstehn“). Er wird die Grenzen des Lesers, ihn zu verstehen, immer wieder ansprechen; in der zweiten Hlfte des V. Buchs der FW wird er sie zu einem Hauptthema machen (15.). Er scheint die Schwierigkeiten, ihn zu verstehen, auf sich zu nehmen, sich als jemanden einzufhren, der Schwierigkeiten hat, sich verstndlich zu machen („Wir suchen nach Worten“). Doch wenn er dann sagt: „wir suchen vielleicht auch nach Ohren“, sucht er vielmehr nach geeigneten Lesern, und das „vielleicht“ lsst sich wohl als Abschwchung, aber auch so lesen, dass Nietzsche in Rtselform spricht (Leser, errtst du es?) und gar nicht nach Worten, sondern nur nach Lesern sucht, die ihn zu lesen verstehen kçnnten. Wird man als Leser darunter sein? Hat man die Ohren fr diese anfnglichen Feinheiten und wird man sie auch fr vielleicht (und dann tatschlich auch) noch kommende noch feinere Nuancen haben? Misstrauisch geworden, wird man, wenn man dann liest: „Wer sind wir doch?“, sich fragen: Wer ist das „wir“, und wer war zuvor das „ihr“?305 Mit „ihr“ schienen zu Beginn die Leser gemeint zu sein, doch ein paar Zeilen weiter sind es die „Herren Neugierigen“. Aber das „i h r“ ist dann gesperrt gesetzt. Zeigt Nietzsche nun auf andere als zu Beginn? Und sind die „Herren Neugierigen“ die ,selbstlosen‘ Denker „mit den Fhlhçrnern des kalten neugierigen Gedankens“ aus FW 345? Wenn ja, wrden kaum alle Leser zu ihnen gehçren, nicht alle werden Wissenschaftler sein. Doch nach Nietzsche muss die Neugierde nicht schon ,kalt‘ sein. Nach seinen frheren Schriften ist Neugierde auch in der „vielberhmten Mutterliebe“ (MA I 363); ferner gibt es „die mitleidige Neugier des weisesten Menschenken305 Vgl. van Tongeren, Reinterpreting Modern Culture, 90 f.
194 7. Philosophie als Kraft zum Misstrauen und das Bedrfnis nach Glauben ners“ (FW 71) und die „rcksichtslose Neugierde und feine Beweglichkeit“ des europischen Geistes (JGB 188). Auch im „freien Geist“, mit dem FW 347 schließen wird, „flammt und flackert“ „eine heftige und gefhrliche Neugierde nach einer unentdeckten Welt“ (MA I Vorrede 3), und im „mittleren Zustand“ eines „blassen feinen Lichts und Sonnenglcks“ kçnnen sich „Neugierde und zarte Verachtung gebunden haben“ zu „etwas Drittem“, „einem Gefhl von Vogel-Freiheit, Vogel-Umblick, Vogel-Uebermuth“ (MA I Vorrede 4). Mitunter hat Nietzsche, wie er offen eingesteht, Neugier auch nur vorgegeben (vgl. MA II Vorrede 1). „Als Arzt und Kranker in Einer Person“ habe er sich „zu einer abziehenden Wanderung in die Fremde, in d a s Fremde, zu einer Neugierde nach aller Art von Fremdem“ gezwungen (MA II Vorrede 5). Und sicherlich hlt auch „Misstrauen“ die Neugierde wach. Gilt die Abwehr der „Herren Neugierigen“ in FW 346 dann weniger den „Neugierigen“ als den „Herren“ Wissenschaftlern, die auch dort mit ihren vorgefertigten Begriffen „begreifen“ wollen, wo solche Begriffe nicht mehr greifen? Denn Nietzsche verweigert nun gerade solche Begriffe, spricht, um sich zu erklren, von unzureichend gewordenen Namen („Wollten wir uns einfach mit einem lteren Ausdruck Gottlose oder Unglubige oder auch Immoralisten nennen, wir wrden uns damit noch lange nicht bezeichnet glauben“), Namen, die er selbst regelmßig auch fr sich gebraucht hatte, zuletzt noch in der neuen Vorrede zu M („wir Immoralisten, wir Gottlosen von heute“, M Vorrede 4) und in FW 344 („wir Gottlosen und Antimetaphysiker“). Stattdessen redet er von „zu Muthe“-Sein, einer Stimmung, einer Befindlichkeit, deren man nicht Herr ist. Die lteren Ausdrcke, auch seine eigenen, sind alt geworden, haben nun ihre Zeit gehabt („wir sind alles Dreies in einem zu spten Stadium“), haben ihre Kraft zu bezeichnen verloren. Nietzsche kann, will sich nun nicht mehr unter ihnen einordnen, sich nicht mehr durch sie identifizieren, mit ihnen auf eine definierte Identitt festlegen. Der Leser kann es noch weniger. Soll er sich in das anfngliche oder das sptere „ihr“ einbeziehen und sich damit selbst von Beginn an vom Verstndnis ausschließen oder in das „wir“ und sich damit unter die „geborenen Rthselrather“, „Erstlinge und Frhgeburten des kommenden Jahrhunderts“, „Philosophen und ,freien Geister‘“, „Erkennenden von heute“ rechnen, von denen in FW 343 und 344 die Rede war? Oder unter das „e u c h“ der „kommenden Geschlechter“, die Nietzsche am Ende von FW 346 anredet? Er wird im Lesen zwischen den Identifikationsangeboten oszillieren. Bemerkt er dabei, wie irritierend sie sind, wird er mit Identifikationen, Subsumtionen unter vorgegebene Begriffe berhaupt zçgern, sie werden fr ihn als solche fraglich, im Sinn von FW
7.1. Philosophische Kritik als Setzen von Fragezeichen. Nr. 346
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345 zu einem Problem werden, das ihn selbst angreift. Und dann wird er beim Thema von FW 346 sein.
7.1. Philosophische Kritik als Setzen von Fragezeichen Nr. 346: U n s e r F r a g e z e i c h e n . 7.1.1. Fragezeichen an definierte Identitten Auf Fragezeichen nach Fragen folgen gewçhnlich Antworten. Nietzsche macht aus dem schlichten Satzzeichen ein Zeichen fr Fragen, auf die es – zumindest noch – keine Antworten gibt, ein Zeichen fr die bloße kritische Infragestellung und damit ein Symbol seiner Philosophie der Befreiung von geistigen Bindungen.306 So hat er es Zarathustra bei seiner Umwertung der ,bçsen‘ Herrschsucht einfhren lassen, als „blitzendes Fragezeichen neben vorzeitigen Antworten“ (ZA III Bçsen 2, KSA 4.238). Danach entwirft er einen Werktitel: „Jenseits von Ja und Nein. / Fragen u. Fragezeichen / fr Fragwrdige.“ (N 1885/86, 1[141], KSA 12.43 / N VII 2, S. 107) Fragezeichen fr Fragwrdige stellen den Fragenden selbst in Frage, und so sind sie Zeichen fr ,große Probleme‘ (FW 345/6.1.2.). Nietzsche erçffnet damit JGB: „Das Problem vom Werthe der Wahrheit trat vor uns hin, – oder waren wir’s, die vor das Problem hin traten? Wer von uns ist hier Oedipus? Wer Sphinx? Es ist ein Stelldichein, wie es scheint, von Fragen und Fragezeichen.“ (JGB 1) Inzwischen werde jede Berufung eines Philosophen auf unerschtterliche Gewissheiten „ein Lcheln und zwei Fragezeichen bereit finden“ (JGB 16) und umso mehr jedes „Martyrium“, jedes „Leiden ,um der Wahrheit willen‘“, und wenn der Leidende es noch so ernst nimmt. Da „bisher noch kein Philosoph Recht behalten hat,“ drfte „eine preiswrdigere Wahrhaftigkeit in jedem kleinen Fragezeichen liegen […], welches ihr hinter eure Leibworte und Lieblingslehren (und gelegentlich hinter euch selbst) setzt“ (JGB 25). Solche Fragezeichen jedoch sind „schauerlich“ (JGB 47). So sei „unser Europa von heute […] skeptisch in allen Hçhen und Tiefen, bald mit jener beweglichen Skepsis, welche ungeduldig und lstern von einem Ast zum andern springt, bald trbe wie eine mit Fragezeichen berladene Wolke“; es sei dadurch mit „Willenslhmung“ geschlagen (JGB 208). Doch Philosophen, „diese ausserordentlichen Fçrderer des Menschen, […] die sich selbst selten als Freunde 306 Vgl. van Tongeren, Nietzsches Vragen. Mit seinem Aufsatz bereitet van Tongeren zugleich einen Artikel zum Stichwort ,Frage‘ des NWB vor.
196 7. Philosophie als Kraft zum Misstrauen und das Bedrfnis nach Glauben der Weisheit, sondern eher als unangenehme Narren und gefhrliche Fragezeichen fhlten“, htten die „harte, ungewollte, unabweisliche Aufgabe, […] das bçse Gewissen ihrer Zeit zu sein.“ (JGB 212) In den neuen Vorreden macht Nietzsche rckblickend das Fragezeichen-Setzen zum Zeichen seines Philosophierens von Anfang an, beginnend mit „den Fragezeichen, die er zur vorgeblichen ,Heiterkeit‘ der Griechen und der griechischen Kunst gesetzt hatte“, eingeschlossen dem „grossen Fragezeichen vom Werth des Daseins“. Der „Name Dionysos“ sei dort „ein Fragezeichen mehr“ geworden, GT habe als ganze „das grosse dionysische Fragezeichen“ gesetzt (GT Versuch 1, 3, 6). Es sei, fhrt er dann in der neuen Vorrede zu MA I fort, die „g r o s s e L o s l ç s u n g“ von der Verehrung Schopenhauers und Wagners gewesen, durch die er selbst zu einem einzigen Fragezeichen wurde. Er beschreibt hier eindringlich, wie er es wurde – und wovon er dann in FW 346 ausgeht: Die grosse Loslçsung kommt fr solchermaassen Gebundene plçtzlich, wie ein Erdstoss: die junge Seele wird mit Einem Male erschttert, losgerissen, herausgerissen, – sie selbst versteht nicht, was sich begiebt. Ein Antrieb und Andrang waltet und wird ber sie Herr wie ein Befehl; ein Wille und Wunsch erwacht, fortzugehn, irgend wohin, um jeden Preis; eine heftige gefhrliche Neugierde nach einer unentdeckten Welt flammt und flackert in allen ihren Sinnen. ,Lieber sterben als h i e r leben‘ – so klingt die gebieterische Stimme und Verfhrung: und dies ,hier‘, dies ,zu Hause‘ ist Alles, was sie bis dahin geliebt hatte! Ein plçtzlicher Schrecken und Argwohn gegen Das, was sie liebte, ein Blitz von Verachtung gegen Das, was ihr ,Pflicht‘ hiess, ein aufrhrerisches, willkrliches, vulkanisch stossendes Verlangen nach Wanderschaft, Fremde, Entfremdung, Erkltung, Ernchterung, Vereisung, ein Hass auf die Liebe, vielleicht ein tempelschnderischer Griff und Blick r c k w r t s, dorthin, wo sie bis dahin anbetete und liebte, vielleicht eine Gluth der Scham ber Das, was sie eben that, und ein Frohlocken zugleich, d a s s sie es that, ein trunkenes inneres frohlockendes Schaudern, in dem sich ein Sieg verrth – ein Sieg? ber was? ber wen? ein rthselhafter fragenreicher fragwrdiger Sieg, aber der e r s t e Sieg immerhin: – dergleichen Schlimmes und Schmerzliches gehçrt zur Geschichte der grossen Loslçsung. Sie ist eine Krankheit zugleich, die den Menschen zerstçren kann, dieser erste Ausbruch von Kraft und Willen zur Selbstbestimmung, Selbst-Werthsetzung, dieser Wille zum f r e i e n Willen: und wie viel Krankheit drckt sich an den wilden Versuchen und Seltsamkeiten aus, mit denen der Befreite, Losgelçste sich nunmehr seine Herrschaft ber die Dinge zu beweisen sucht! Er schweift grausam umher, mit einer unbefriedigten Lsternheit; was er erbeutet, muss die gefhrliche Spannung seines Stolzes abbssen; er zerreisst, was ihn reizt. Mit einem bçsen Lachen dreht er um, was er verhllt, durch irgend eine Scham geschont findet: er versucht, wie diese Dinge aussehn, w e n n man sie umkehrt. Es ist Willkr und Lust an der Willkr darin, wenn er vielleicht nun seine Gunst dem zuwendet, was bisher in schlechtem Rufe stand, – wenn er
7.1. Philosophische Kritik als Setzen von Fragezeichen. Nr. 346
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neugierig und versucherisch um das Verbotenste schleicht. Im Hintergrunde seines Treibens und Schweifens – denn er ist unruhig und ziellos unterwegs wie in einer Wste – steht das Fragezeichen einer immer gefhrlicheren Neugierde. ,Kann man nicht a l l e Werthe umdrehn? und ist Gut vielleicht Bçse? und Gott nur eine Erfindung und Feinheit des Teufels? Ist Alles vielleicht im letzten Grunde falsch? Und wenn wir Betrogene sind, sind wir nicht ebendadurch auch Betrger? m s s e n wir nicht auch Betrger sein?‘ – solche Gedanken fhren und verfhren ihn, immer weiter fort, immer weiter ab. Die Einsamkeit umringt und umringelt ihn, immer drohender, wrgender, herzzuschnrender, jene furchtbare Gçttin und mater saeva cupidinum – aber wer weiß es heute, was E i n s a m k e i t ist? … (MA Vorrede 3)
Nietzsche sah sich bei seiner ,großen Loslçsung‘ in den Grundfesten seiner Orientierung erschttert. Er betont das Unvermutete und Unwillkrliche dieser Erschtterung, beschreibt sie als Vulkanausbruch. Sie ist nicht Ergebnis eines gezielten und beherrschten Zweifels, mit dem Descartes ein unerschtterliches Fundament fr den Bau einer neuen, nun vollkommen durchschaubaren und damit jedermann verstndlichen Welt freilegte, sondern treibt, dunkel vom „Fragezeichen einer immer gefhrlicheren Neugierde“ geleitet, der immer weniger folgen kçnnen, in die ußerste „Einsamkeit“. Die ,große Loslçsung‘ ist im dialektischen Sinn des ,Großen‘ (6.1.2.) eine ,große Kritik‘, die auch noch ihre eigenen Vorgaben und selbst ihre Verstndlichkeit und damit die Herrschaft ber den kritischen Prozess berhaupt in Frage stellt; sie wird zum ,großen Ereignis‘ des FraglichWerdens aller Grundlagen des Philosophierens nach dem UnglaubwrdigWerden des ,alten Gottes‘. Auch Descartes hatte von erschtternden Desorientierungserfahrungen berichtet,307 aber noch fraglos auf das Denken und seine ,notwendigen Verbindungen‘ von Begriffen gesetzt. Fr Nietzsche war auch das Denken schon zum Fragezeichen geworden. 1884 notierte er sich zum „U n f r e i w i l l i g e n i m D e n k e n“: „Der Gedanke taucht auf, oft vermischt und verdunkelt durch ein Gedrnge von Gedanken. Wir ziehen ihn heraus, wir reinigen ihn, wir stellen ihn auf seine Fße und sehen, wie er g e h t – alles sehr geschwinde! Wir sitzen dann ber ihn zu Gericht: denken ist eine Art bung der Gerechtigkeit, bei der es auch Zeugenverhçr giebt. Was b e d e u t e t er? fragen wir und rufen andere Gedanken herbei: das heißt: Der Gedanke also wird nicht als unmittelbar gewiß genommen, sondern nur als ein Z e i c h e n, ein Fragezeichen.“ (N 1884, 26[92], KSA 11.173 f.) So fllt die letzte Instanz der allgemeingltigen ,Feststellung‘ von etwas, seiner Identifikation durch Begriffe. Nietzsche kann daher nicht mehr damit rechnen, dass andere ihm 307 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 252 f., 324, 331 f.
198 7. Philosophie als Kraft zum Misstrauen und das Bedrfnis nach Glauben folgen werden. Der „grosse Schmerz“, den er erlitten habe (5.3.1.), stellt den Denkenden anders und tiefer in Frage als ein schmerzloses Denken; ein schmerzloses Denken, wie es Wissenschaft und Philosophie gewçhnlich voraussetzen, kann kaum nachvollziehen, wie einer aus ihm „als ein andrer Mensch heraus[kommt], mit einigen Fragezeichen mehr, vor Allem mit dem W i l l e n, frderhin mehr, tiefer, strenger, hrter, bçser, stiller zu fragen als man bis dahin gefragt hatte. Das Vertrauen zum Leben ist dahin: das Leben selbst wurde zum P r o b l e m.“ Erst dann, wenn ihnen das Leben selbst zum Problem wird, sind Philosophen, so Nietzsche, Philosophen und nicht nur „Objektivir- und Registrir-Apparate mit kalt gestellten Eingeweiden“ (FW Vorrede 3). Doch dann haben sie auch keinen fraglosen Begriff mehr von sich selbst, keine definierbare Identitt. Sie sind dann Fragezeichen. ,Fragezeichen‘, als Wort ausgeschrieben, wird so zum Anti-Begriff. Er durchzieht von FW 346 an das V. Buch der FW (FW 357: „K a n t ’ s ungeheures Fragezeichen, welches er an den Begriff ,Causalitt‘ schrieb“; FW 373: „Gelehrte, insofern sie dem geistigen Mittelstande zugehçren, [drfen] die eigentlichen g r o s s e n Probleme und Fragezeichen gar nicht in Sicht bekommen“; FW 375: „ein nahezu epikurischer Erkenntniss-Hang […], welcher den Fragezeichen-Charakter der Dinge nicht leichten Kaufs fahren lassen will“). Nietzsche beschließt es mit ihm in FW 382 („vielleicht d e r g r o s s e E r n s t erst anhebt, das eigentliche Fragezeichen erst gesetzt wird“) und betont das nochmals zu Beginn von FW 383 („– Aber indem ich zum Schluss dieses dstere Fragezeichen langsam, langsam hinmale“), um das Ganze dann mit dem Zeichen Fragezeichen und drei Auslassungspunkten enden zu lassen („W o l l t ihr das? …“). Danach wird er im Vorwort zu GD die „U m w e r t h u n g a l l e r W e r t h e“ ein einziges „Fragezeichen“ nennen, „so schwarz, so ungeheuer, dass es Schatten auf Den wirft, der es setzt“ (GD Vorwort). In den DD wird er Zarathustra zeigen „zwischen zwei Nichtse / eingekrmmt, / ein Fragezeichen, / ein mdes Rthsel – / ein Rthsel fr R a u b v ç g e l …“ (DD Raubvçgeln, KSA 6.392); er znde sich „unter schwarzem Himmel / […] seine Hçhenfeuer an, / Feuerzeichen fr verschlagne Schiffer, / Fragezeichen fr Solche, die Antwort haben … „ (DD Feuerzeichen, KSA 6.393). Ließ er Zarathustra noch mit den Anti-Lehren des bermenschen und der ewigen Wiederkehr des Gleichen die ,Feststellung‘ des Lebens durch Begriffe berhaupt zum Problem machen (1.4.), so reicht ihm dazu am Ende der schlichte Anti-Begriff des Fragezeichens ohne Antwort aus. Doch einem, der, wie Nietzsche fr eine „Einleitung“ notierte, „mit einem großen Probleme {Fragezeichen} wie mit seinem Schicksale zu-
7.1. Philosophische Kritik als Setzen von Fragezeichen. Nr. 346
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sammen{ge}lebt {hat} und dessen Tage u Nchte {sich} in lauter {einsamen} Zwiegesprchen und einsamen Entscheidungen {sich} verzehr{ten}“ (N 1885/86, 2[183], KSA 12.157 / W I 8, S. 49), wird, wie er dann in der Vorrede zu MA I schreibt, umso mehr ein letzter „Glaube“ nçtig sein, „der Glaube, n i c h t dergestalt einzeln zu sein, einzeln zu s e h n, – ein zauberhafter Argwohn von Verwandtschaft und Gleichheit in Auge und Begierde, ein Ausruhen im Vertrauen der Freundschaft, eine Blindheit zu Zweien ohne Verdacht und Fragezeichen, ein Genuss an Vordergrnden, Oberflchen, Nahem, Nchstem, an Allem, was Farbe, Haut und Scheinbarkeit hat.“ (MA I Vorrede 1) Auch und gerade er wird wenigstens von Zeit zu Zeit ,Verstecke‘ im Sinn von FW 359 (6.3.) brauchen, sei es, dass er „sich aus seinem Unglauben noch einen Glauben, einen Zweck, ein Martyrium selbst zurecht machen muss“ (FW 346), sei es, dass er in seiner Not nicht wie Agnostiker Gefahr luft, „die Verehrer des Unbekannten und Geheimnissvollen an sich, d a s F r a g e z e i c h e n s e l b s t jetzt als Gott an[zu]beten“ (GM III 25), es als Gott zu identifizieren. Um die Versuchung zu mindern und den berblick zu behalten, fasste Nietzsche zuletzt den Plan, ein „Register zu machen fr meine Ja, meine Neins, meine Fragezeichen.“ (N 1888, 12[1], KSA 13.204 / W II 4, S. 92; vgl. N 1887, 10[102], KSA 12.513 / W II 2, S. 69) Aber er realisierte ihn nicht. Er rechnete damit, dass eine „civilisirte Gesellschaft“ „Fragezeichen-Menschen in Hinsicht auf Fest-Geglaubtes“ ihrerseits in Frage stellen werde: „Solche Explosiv-Stoffe nicht nur unschdlich zu entladen, sondern wenn es irgend angeht, ihrer Entstehung und Hufung schon v o r b e u g e n: dazu rth der Instinkt jeder civilisirten Gesellschaft.“ (N 1888, 16[9], KSA 13.485) 7.1.2. Fragezeichen an begriffliches Wissen Fragezeichen an definierte Identitten sind Fragezeichen an begriffliches Wissen berhaupt. Im Fortgang von FW 346 bezeichnet sich (bzw. „uns“) Nietzsche zunchst durch Negationen: „Gottlose“, „Unglubige“, „Immoralisten“. Sie setzen die alten begrifflichen Vorgaben ,Gott‘, ,Glauben‘, ,Moral‘ noch voraus, besttigen sie auch noch in der Negation. ,Fragezeichen‘, die an sie gesetzt werden, negieren sie dagegen nicht. Sie nehmen ihnen stattdessen ihre Aussagekraft, entleeren sie gleichsam. Begriffe haben nicht nur darin ihre Bedeutung, was sie ber etwas sagen, sondern auch darin, wem sie etwas sagen. Das Zweite ist ihre „K r a f t“, von der Nietzsche in FW 110 gesprochen hat, die Kraft zu orientieren. Diese Kraft kçnnen sie
200 7. Philosophie als Kraft zum Misstrauen und das Bedrfnis nach Glauben unabhngig davon, ob und wie sie definiert sind, gewinnen und „in einem zu spten Stadium“ auch wieder verlieren. Sie werden dann „unglaubwrdig‘ (FW 343). Nach FW 346 haben fr Nietzsche die Begriffe ,Gottlose‘, ,Unglubige‘, ,Immoralisten‘ ihre Kraft verloren, sie schrecken ihn (bzw. „uns“) jedenfalls nicht mehr, wie sie frhere Geschlechter und auch noch seinen ,tollen Menschen‘ aus FW 125 geschreckt haben; selbst in FW 343 klang ihr Pathos noch nach, nun haben sie es eingebßt. Statt sich mit Grnden fr und Gegengrnden gegen sie auseinanderzusetzen, beschreibt Nietzsche sein „zu Muthe“-Sein bei ihnen: als Erkalten nach einem Sieden, durch das das Gesottene fest und haltbar wurde („abgesotten […] und in ihr kalt und hart geworden“) wie Lebensmittel oder die Lava eines Vulkans; mit beidem zielt Nietzsche auf einen natrlichen Prozess. Er nennt das „Einsicht“, whrend sich Einsicht in Philosophie und Wissenschaft seit der Antike gerade nicht natrlichen Prozessen, sondern der Vernunft und ihren Grnden verdanken sollte. Und er nennt es Wissen („wir wissen es“), wiewohl es kein begriffliches Wissen, sondern eben nur ein Zumute-Sein ist. Doch wenn Wissen durch gelassene Sicherheit und entschiedene Gewissheit gekennzeichnet ist, so ist das Kalt-und-hart-geworden-Sein in einer Einsicht Wissen und mehr als begriffliches Wissen, das stets durch Gegenbegriffe angefochten werden kann.308 Und von ihm aus entscheidet sich seinerseits, welches begriffliche Wissen berhaupt in Erwgung gezogen wird, mit welchen Begriffen und Grnden man sich dabei noch auseinandersetzen will, welche man als relevant gelten lsst oder fr belanglos hlt. Fr dieses nach aktuellen Begriffen nicht-propositionale Wissen mit der Kraft zu orientieren hat Nietzsche den Begriff des „einverleibten“ Wissens: es ist einverleibt, sofern man es „wirklich sich angeeignet“ hat (MA II, VM 96), durch „Lernen, Erfahren, Einben“ (M 540), sofern es zur selbstverstndlichen „Lebensbedingung“ geworden ist, bei der „Leugnung und Zweifel als Tollheit“ gelten wrden (FW 110).309 Auch das 308 Vgl. Wittgenstein, ber Gewißheit, § 96 („Man kçnnte sich vorstellen, daß gewisse Stze von der Form der Erfahrungsstze erstarrt wren und als Leitung fr die nicht erstarrten, flssigen Erfahrungsstze funktionierten“) und § 144 („Es bildet sich nach und nach ein System von Geglaubtem heraus, und darin steht manches unverrckbar fest, manches ist mehr oder weniger beweglich. Was feststeht, tut dies nicht, weil es an sich offenbar oder einleuchtend ist, sondern es wird von dem, was darum herumliegt, festgehalten“). 309 Vgl. Wittgenstein, ber Gewißheit, § 231 („Wenn einer bezweifelte, ob die Erde vor 100 Jahren existiert hat, so verstnde ich das darum nicht, weil ich nicht wßte, was dieser noch als Evidenz gelten ließe und was nicht“), § 234 („Wenn ich an der Existenz der Erde lang vor meiner Geburt zweifeln wollte, mßte ich alles mçgliche
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einverleibte Wissen ist nicht alternativlos, man kçnnte auch hier noch Fragezeichen setzen; aber man setzt sie nicht, solange es die Kraft zu orientieren hat. Nach Kant ist es ein Wissen, das dem „B e d r f n i ß“ entspringt, sich „zu o r i e n t i r e n“, und „nur abgençthigte Vo r a u s s e t z u n g“, nicht „f r e i e E i n s i c h t“ ist.310 7.1.3. Fragezeichen an transzendente Werte Doch wenn nach den Fragezeichen an definierte Identitten und begriffliches Wissen noch immer ein fr Bedrfnisse der Orientierung einverleibtes Wissen bleibt, so ist auch „Verehrung“ ein „B e d r f n i s s“: „Denn der Mensch ist ein verehrendes Thier!“ Gegenstand seiner Verehrung an den Begriffen ist gerade die Kraft, mit der sie orientieren, mit der sie seine Orientierung auf etwas ausrichten, zu dem er aufblicken, dem er folgen und sich ergeben kann, das seinem Leben Sinn gibt. Und so stellt er gerade solche Begriffe wie ,Gott‘, ,Glauben‘, ,Moral‘ hoch ber sich und die Welt, in der er lebt, macht sie zu Autoritten, die berall Verehrung genießen sollen, mit denen es ihm hçchster Ernst ist, die keine Infragestellungen und keine Alternativen dulden, kurz, er erhebt sie, wie Nietzsche sie spter nennt, zu „{obersthen Werthen}“ (N 1887, 9[35], KSA 12.350 / W II 1, S. 115, u. ç.). Sie sollen transzendent sein, „den Werth der wirklichen Welt b e r r a g e n“, damit sie der Welt im Ganzen Sinn geben kçnnen, und sie sind, als transzendente, nur in Gestalt von begrifflichem Wissen gegeben. Ihnen gilt Nietzsches unermdliche MoralKritik, die er hier jedoch nicht wiederholt und die auch wir nicht zu wiederholen brauchen. Hier sind sie ihm einfach „zum Lachen“. Lachen, unter dem der Ernst und gerade der Ernst von Verehrungen zusammenbricht, ist eine frçhliche Weise, „Misstrauen“ zu bekunden. Auch das Lachen setzt Fragezeichen, ohne Antworten zu geben, macht seinen Gegenstand unglaubwrdig. Es hebt das Bedrfnis nach Verehrungen nicht auf, misstraut ihm lediglich, wenn es sich meldet, und hindert daran, ihm nachzukommen (FW 1/2.1., 4.2.). Auch das Lachen verrt gelassene Sibezweifeln, was mir feststeht“), § 238 („Ich kçnnte also den, der sagt, die Erde habe vor seiner Geburt noch nicht existiert, weiter fragen, um herauszufinden, mit welchen meiner berzeugungen er im Widerspruch ist. Und da kçnnte es sein, daß er meinen Grundanschauungen widerspricht. Und wre es so, so mßte ich’s dabei bewenden lassen“). 310 Kant, Was heißt: Sich im Denken orientiren?, AA 8.137 – 139 mit Anm. Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 78 – 96, bes. 89 f.
202 7. Philosophie als Kraft zum Misstrauen und das Bedrfnis nach Glauben cherheit und entschiedene Gewissheit, ohne begriffliches Wissen zu sein („dass die Welt n i c h t das werth ist, was wir geglaubt haben, das ist ungefhr das Sicherste, dessen unser Misstrauen endlich habhaft geworden ist“). Mit diesem Misstrauen begngen sich Philosophen nicht mit der Skepsis, die sich allen Glauben an Wahrheiten verwehrt und dabei stehen bleibt. Mit dem Lachen aus abgesottenem Misstrauen gegen Verehrungen transzendenter Werte wird Philosophie zur frçhlichen Wissenschaft: mit ihren Fragezeichen ohne Antworten zwingt sie zu immer neuen und immer weitergehenden kritischen Fragen. Darin liegt ihre Kraft, und sie ist ihr Maßstab: „So viel Misstrauen, so viel Philosophie.“ Sie lçst sich durch Lachen von allen transzendenten Vorgaben, eingeschlossen einem vorgegebenen Gegenstand und einer vorgegebenen Methode. Sie ist dann keine Wissenschaft im Sinn einer Disziplin mehr, die beides, Gegenstand und Methode, voraussetzt, sondern eine Kunst, die Geschmack hat, um das Lcherliche als solches zu erkennen, und sich an „Abgeschmacktheiten“ stçßt. In einem vorausgehenden Notat hat Nietzsche fr sich ausgesprochen, dass seine Philosophie oder „{eine von meinen Philosophien}“ „{durchaus} nicht ,Liebe zur Weisheit‘ {genannt} sein will, sondern sich, aus Stolz {vielleicht}, einen viel {ver} bescheideneren Namen ausbittet:, einen abstoßenden Namen sogar, der schon seinerseits dazu beitragen mag, daß sie bleibt, was sie sein will: eine Philosophie fr Wenige {mich} […]. – Diese Philosophie will eine {nmlich heißt sich selber}: eine / {die} Kunst des {eines} Mißtrauens“ (N 1885, 34[196], KSA 11.487 / N VII 1, S. 60). Mit seiner ,frçhlichen Wissenschaft‘ will er das hohe Pathos mindern, das er selbst in den Begriff der Philosophie legt – und braucht, um seine ,Aufgabe‘ festzuhalten. 7.1.4. Fragezeichen an lebensverneinende Pessimismen Der philosophische „Ausdruck“ der Enttuschung ber die Welt, soweit sie nicht den Werten entspricht, die man ber sie gestellt hat, und damit die engste Bindung an diese Werte ist der „moderne Pessimismus“, wie ihn Nietzsche in Schopenhauers, aber auch Eduard von Hartmanns Philosophie vor Augen hatte. Er nennt auch sie hier nicht,311 auf beide wird er noch zurckkommen (FW 357/12.5., 7.). Den Buddhismus, zu dem Schopenhauer sich bekannt hatte, und das Christentum, dem Nietzsche die Verfhrung zum Pessimismus zuschreibt, streift er nur; um zeitgençssische 311 In der Vorstufe 14.273; W I 8, S. 44, hat Nietzsche Schopenhauer noch genannt.
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und historische Anhaltspunkte wird er sich im folgenden Aphorismus kmmern. Den „d i o n y s i s c h e n Pessimismus“, den er in FW 370 ausrufen wird (16.6.), lsst er ganz beiseite. Hier geht es ihm allein um die „Attitde ,Mensch g e g e n Welt‘“, mit der der Glaube an transzendente Werte zu langen Traditionen tiefer Weltverneinung gefhrt hat. Und auch was die Enttuschung dieses Glaubens ausmacht, fhrt er hier nicht aus; er vergegenwrtigt es sich spter sehr klar in einer „{Kritik des Nihilism}“: Das sind 1. „die Enttuschung ber einen angeblichen Zweck des Werdens“, 2. die Enttuschung, „wenn man eine Ganzheit, eine Systematisirung, selbst eine Organisirung in allem Geschehn u unter allem Geschehen angesetzt hat: so daß in der Gesammtvorstellung einer hçchsten Herrschafts- u. Verwaltungsform die nach Bewunderung u. Verehrung durstige Seele schwelgt“: „Eine Art Einheit, irgend eine Form des ,Monismus‘: und in Folge dieses Glaubens der Mensch in tiefem Zusammenhangs- und Abhngigkeits-Gefhl von einem ihm unendlich berlegenen Ganzen, ein modus der Gottheit …“. Mit seiner Enttuschung ber sie verliert er auch „den Glauben an seinen Werth“, „er hat ein solches Ganze concipirt, um an seinen Werth glauben zu kçnnen“. Und das ist schließlich 3. die Enttuschung der „Ausflucht“, „diese ganze Welt des Werdens als Tuschung zu verurtheilen und eine Welt zu erfinden, welche jenseits derselben liegt, als w a h r e Welt“, durch die Einsicht, dass dies eine Ausflucht „nur aus psychol. Bedrfnissen“ ist. „Kurz: die Kategorien ,Zweck‘, ,Einheit‘, ,Sein‘, erweisen sich als unanwendbar. {mit denen wir der Welt einen Werth eingelegt haben, werden nun von uns herausgezogen – u. nun sieht die Welt werthlos aus …}“ (N 1887/88, 11[99], KSA 13.46 – 49 / W II 3, S. 154 f.). Wenn Menschen in der Welt, unter ihren Bedingungen, zu denen das Bedrfnis zu werten gehçrt, diese Welt werten, so kçnnen sie das immer nur in ihren begrenzten Perspektiven tun und niemals ihren Wert im Ganzen bersehen, sondern nur „das u n s erkennbare Dasein“; der scheinbare Unwert der Welt ist in den metaphysischen Begriffen begrndet, die auf sie angewendet werden. In der Vorstufe zu FW 346 hatte Nietzsche noch notiert: „die Welt ist ber alle Begriffe mehr werth als wir zu denken vermçgen – aber dies ,mehr‘ ist eben etwas so Unfaßbares, so Negatives, daß es [leicht] auch etwas vçllig Gleichgltiges wird.“ (14.273) Es ist unfassbar und negativ, weil man, um es zu sehen, von der eigenen Orientierung absehen, ber sie hinaussehen kçnnen msste, was man nicht kann.
204 7. Philosophie als Kraft zum Misstrauen und das Bedrfnis nach Glauben 7.1.5. Fragezeichen an den tçdlichen Nihilismus Das Einzige, was Nietzsche der „Attitde ,Mensch gegen Welt‘“ entgegensetzt, ist wieder das Fragezeichen seines Lachens. Aber auch an dieses Fragezeichen setzt er nun noch ein Fragezeichen: „Wie aber? Haben wir nicht eben damit, als Lachende, nur einen Schritt weiter in der Verachtung des Menschen gemacht? Und also auch im Pessimismus […]?“ Und dann folgt ein langer, sich immer weiter verlngernder Satz, in dem das Lachen buchstblich vergeht und einem wachsenden Schrecken weicht („immer mehr, immer schlimmer“, „Gewalt“, „das furchtbare Entweder-Oder“). ber seinem Schluss, der Aussicht „kommender Geschlechter“, sich selbst „abschaffen“ zu mssen, bleibt zuletzt das Fragezeichen aus. Und dann folgt eine neue, letzte, rtselhafte Frage – zum „Nihilismus“. Dies ist die erste Stelle in Nietzsches verçffentlichtem Werk, an der er, nach einigen nur beilufigen Erwhnungen,312 den Nihilismus eigens thematisiert. Auch hier setzt er ihn als schon bekannten, bereits eingefhrten Begriff voraus,313 in FW 347 wird er auf einen „Nihilismus nach Petersburger Muster“ anspielen.314 Wie Nietzsche Pessimismus und Nihilismus zueinander ins Verhltnis setzt, ist nicht ganz klar.315 Er scheint sich, wie seine Notate ausweisen, selbst darber lange 312 Vgl. JGB 10 („dies ist Nihilismus und Anzeichen einer verzweifelnden sterbensmden Seele“), JGB 208 („ein Dynamit des Geistes, vielleicht ein neuentdecktes Russisches Nihilin, ein Pessimismus bonae voluntatis“) und GT Versuch 7 („ein Wille, welcher nicht gar zu ferne vom praktischen Nihilismus ist“). Vgl. Kuhn, Friedrich Nietzsches Philosophie des europischen Nihilismus, 135 f. Kuhn gibt im Anhang eine bersicht ber alle Nihilismus-Stellen in Nietzsches Werk (271 – 275). Im Nachlass setzen sie 1880 ein. 313 Zur Vorgeschichte des Nihilismus vgl. Mller-Lauter, Art. Nihilismus, zur Vorgeschichte von Nietzsches Gebrauch des Begriffs des Nihilismus Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, 329 – 348, Kuhn, Friedrich Nietzsches Philosophie des europischen Nihilismus, Sautet, Notes, 512 f., Fn. 385, Marmysz, Laughing at Nothing. 314 Vgl. dazu u. a. Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, 331 – 335. 315 Vgl. zuletzt Visser, Art. Nihilismus, und Dahlkvist, Art. Pessimismus, und Dahlkvist, Nietzsche and the Philosophy of Pessimism, 220 – 233. In seiner Monographie konzentriert sich Dahlkvist auf GT und UB. 1878 habe Nietzsche das Interesse am zeitgençssischen Pessimismus, insbesondere dem Eduard von Hartmanns, verloren. In seinem Sptwerk sei Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Pessimismus, wie schon Kuhn, Friedrich Nietzsches Philosophie des europischen Nihilismus, gezeigt hat, zum Teil, aber nur zum Teil, in seinem Denken des Nihilismus aufgegangen. In seinen Lektren (v. a. Julius Bahnsen und Paul Bourget)
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nicht im Klaren gewesen zu sein. So kann er vor dem V. Buch der FW beide zusammen nennen („jede Art Pessimismus u. Nihilismus“, N 1885/86, 2[101], KSA 12.111 / W I 8, S. 121), in „Arten“ des „Pessimismus“ „Vorspiele des Nihilismus, obschon nicht nothwendig“ (N 1885/86, 2[131], KSA 12.129 / W I 8, S. 87) sehen, sie aber auch einander entgegensetzen („Das Problem des Nihilismus (gegen Pessimism. usw.)“, N 1886/87, 5[57], KSA 12.206 / N VII 3, S. 117). Nach dem V. Buch der FW scheint sich fr ihn herauszuschlen, dass Nihilismus die logische Konsequenz des Pessimismus ist (N 1887, 10[192], KSA 12.571 / W II 2, S. 12), der Unterschied also im Grad der Einsicht liegt: Ist Pessimismus die Wertung der Welt als unwert, in ihr zu leben, so Nihilismus die Einsicht, dass es mit den Werten, nach denen man hier gewertet und die man bisher so hoch verehrt hat, nichts (,nihil‘) auf sich hat (vgl. N 1887, 9[107], KSA 12.396 – 398 / W II 1, S. 57).316 So ist „der eigentliche Nihilism“ „die extremste Form des Pess.“ (N 1887, 10[22], KSA 12.468 / W II 2, S. 124), in ihm lçst sich das „Mißverstndniß des Pessimismus“ auf (N 1888, 13[3], KSA 13.214; vgl. N 1888, 14[24], KSA 13.229 / W II 5, S. 181: „der Pessimismus, sagen wir deutlicher, der Nihilismus“). Zuletzt notiert Nietzsche, man msse begreifen, „was doch mit Hnden zu greifen: daß Pessimismus kein Problem, sondern ein Symptom ist, – daß der Name ersetzt werden {msse} durch Nihilismus“. Inzwischen hat er jedoch beide Begriffe durch den „einer physiologischen dcadence“ ersetzt (N 1888/89, 17[8], KSA 13.529).
Im verçffentlichten Aphorismus FW 346 unterscheidet Nietzsche einfach und scharf: Ist Pessimismus die „Verachtung des u n s erkennbaren Daseins“, so Nihilismus der Wille, sich darum das Leben zu nehmen („Das Letztere“ – „euch selbst“ abzuschaffen – „wre der Nihilismus“).317 Ist der fand Nietzsche Pessimismus und Nihilismus immer wieder verknpft (vgl. Dahlkvist, Nietzsche and the Philosophy of Pessimism, 221 f.). 316 Dahlkvist, Nietzsche and the Philosophy of Pessimism, 230, assoziiert den Pessimismus mit dem fehlenden ,Wert des Lebens‘, Nihilismus mit dem fehlenden ,Sinn des Lebens‘, eine Unterscheidung, die sich nur schwer plausibel machen lsst. 317 Man kann hier, so Mller-Lauter, Nietzsche, 105, „verschiedene Wege“ unterscheiden: „Ob der Nihilist sich durch ein instinktives Auswhlen von Lebensschdlichem allmhlich zugrunde richtet, ob er seinen Willen etwa im Sinne Schopenhauers zu verneinen sucht, ob er zur ,That des Nihilismus, dem Selbstmord‘, schreitet, oder ob er seinen Zerstçrungswillen zunchst nach außen richtet, getrieben von der berzeugung, daß nicht nur er selbst, sondern ,alles werth ist, zugrunde zu gehen‘: diese und andere Mçglichkeiten der nihilistischen Praxis hngen, Nietzsche zufolge, von der Kraft des Nihilisten, von der Strke oder Schwche ,seines Willens‘ ab.“ Das Rtsel des „furchtbaren Entweder-Oder“ und des „Fragezeichens“ hat Mller-Lauter, obwohl er es ankndigt (105), nicht mehr gelçst. Auch sonst ist nach Recherchen von Andreas Rupschus weder die Schlusspassage von FW 346 im Ganzen interpretiert noch das Rtsel gelçst worden. Lçwith, Gott, Mensch und Welt in der Metaphysik, 142 f., verweist auf die Abschaffung der wahren und scheinbaren Welt nach GD Fabel, KSA 6.80 f., ohne zu klren, worin in FW 346 die Alternative liegt. Das „Fragezeichen“ identifiziert er kaum plausibel mit der im Text vorausgehenden Frage „Haben wir
206 7. Philosophie als Kraft zum Misstrauen und das Bedrfnis nach Glauben Pessimismus lebensverneinend, so der Nihilismus tçdlich. Die Konsequenz des einen aus dem andern, die Nietzsche hier zieht, ist freilich sehr komplex. Er geht weiter von einem „Gegensatz“ aus, doch nicht mehr von der lcherlich gewordenen Entgegensetzung von „Mensch und Welt“, sondern von einem Gegensatz zweier Welten: „der Welt, in der wir bisher mit unsren Verehrungen zu Hause waren – um deren willen wir vielleicht zu leben a u s h i e l t e n –, und einer andren Welt, d i e w i r s e l b e r s i n d“. Dieser Gegensatz bleibt auch nach allen Fragezeichen, die Nietzsche bisher gesetzt hat, bestehen. Es ist der Gegensatz der scheinbar gemeinsamen Welt, in der und ber die wir uns durch eine gemeinsame Sprache und Moral orientieren, und der unaufhebbar eigenen Orientierungswelt, in der sich uns jene scheinbar gemeinsame Welt dennoch auf unsere individuelle Weise und abhngig von der jeweiligen Situation zeigt, mit der wir es zu tun haben. Wir erfahren stndig, dass beide nicht zusammenfallen, aber auch, dass wir sie nicht wirklich trennen kçnnen; denn auch die Welt jenseits unserer eigenen Orientierung haben wir immer nur in unserer eigenen Orientierung, und auch unsere eigene Orientierung ist durch die Sprache und Moral strukturiert, in denen wir uns unvermeidlich an anderen orientieren. Glauben wir an die Werte jenseits unserer eigenen Orientierung, entsprechen ihnen selbst aber nicht, wendet sich das Missverhltnis gegen uns, entsteht ein „Argwohn“ gegen uns selbst. Bei „uns nicht eben damit, als Lachende, nur einen Schritt weiter in der Verachtung des Menschen gemacht?“. Fleischer, Der „Sinn der Erde“ und die Entzauberung des bermenschen, 43 f., nimmt als Antwort auf das „Fragezeichen“ („Dies ist u n s e r Fragezeichen“) das Lenzer Heide-Notat, Abschnitt 4, N 1886/87, 5[71], KSA 12.212 / N VII 3, S. 15 f., den, so Fleischer, „Umschlag ins andere Extrem“. Das besagt das „Entweder-Oder“ freilich nicht. Nishitani, The Self-Overcoming of Nihilism, 89, betrachtet das „Entweder-Oder“ als „dilemma“, Reginster, The Affirmation of Life, 33, weist es als unstimmiges „dilemma“ zurck. Beide unterstellen, dass man leben will, den Nihilismus aber nicht wollen, nicht mit ihm leben wollen kann. Aber Nietzsche, der die Erkenntnis ber das Leben gestellt hat, erwartet eben das Letztere von einem freien Geist (7.2.3.1.). Taureck, Nietzsches Alternativen zum Nihilismus, 475, interpretiert die Schlusspassage von FW 346 so, dass es „das Erstere“ („schafft eure Verehrungen ab“) sei, „worum sich das eigentliche Denken des Nihilismus dreht: Der Nihilist verehrt noch die wahre Welt, er hat mit der Erkenntnis, daß es nichts ist mit dem Sein, noch den Anspruch auf Wesenswahrheit festgehalten.“ Der Nihilismus sei nach dem Notat N 1887, 10 [42], KSA 12.476, damit „unvollstndig dar[ge]stellt“. Der Text von FW 346 belegt das jedoch kaum. Brown, Nihilism, 142, Hatab, Nietzsche’s Life Sentence, 13, und Sommer, Nihilism and Skepticism in Nietzsche, 254, zitieren die Schlusspassage im Ganzen, klren aber weder, was es mit dem „Entweder-Oder“, noch, was es mit dem „Fragezeichen“ auf sich hat.
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Europern“ kehrt sich der Pessimismus und der Nihilismus nicht gegen jene Werte, sondern gegen uns selbst. Der einverleibte Gegensatz wirkt hier in Gestalt eines „unerbittlichen, grndlichen, untersten Argwohns“ mit einer „Gewalt“, die auch ein Nietzsche nicht mehr weglachen kann.318 Die moralische Herabwrdigung der eigenen Orientierung gegenber der jenseitigen ist ein dunkler ,Schatten Gottes‘; sie scheint das Denken weiterhin zwanghaft zu binden. Wir werden uns, erwartete Nietzsche, aus diesem Zwang erst in Jahrzehnten und Jahrhunderten lçsen. Zunchst rechnete er mit gewaltigen Erschtterungen, die er im schon mehrfach erwhnten Lenzer Heide-Notat zum „europischen Nihilismus“ (N 1886/87, 5[71], KSA 12.211 – 217 / N VII 3, S. 13) vorentworfen hat. Was er dort das „blinde Wthen“ eines „Willens zur Zerstçrung“ und „Selbstzerstçrung“ nennen wird, fasst er in FW 346 als „das furchtbare Entweder-Oder“: „,entweder schafft eure Verehrungen ab oder – e u c h s e l b s t!‘“ Der Gedankenstrich scheint eine logische Konsequenz zu verbergen: Wenn ihr es nicht schafft, eure in die Welt jenseits eurer Orientierungswelt projizierten Verehrungen loszuwerden, obwohl ihr deren Nichtigkeit eingesehen habt, dann werdet ihr eures Lebens nicht mehr froh werden und euch selbst loswerden wollen.319 Diese Konsequenz mag nachvollziehbar sein. Dann bleibt jedoch der Schluss rtselhaft: „Das Letztere wre der Nihilismus; aber wre nicht auch das Erstere – der Nihilismus? – Dies ist u n s e r Fragezeichen“. Das Rtsel liegt im Zusatz „nicht auch das Erstere“; in Nietzsches Vorentwurf stand er noch nicht (vgl. N 1885/86, 2[131], KSA 12.129 / W I 8, 87 f.): Wenn „das Letztere“, sich selbst loswerden zu wollen, der Nihilismus ist, scheint er doch die Konsequenz „des Ersteren“ zu sein, dass man der Verehrungen verlustig gegangen ist, durch die man sich am Leben hielt. Aber Nietzsche spricht nicht von einem Wenn-Dann, sondern betont von einem Entweder-Oder.320 Aber warum sollte man sich selbst abschaffen, 318 Marmysz, Laughing at Nothing, sieht Mçglichkeiten eines humorvollen Nihilismus, freilich nur begrenzt bei Nietzsche selbst. 319 Die „That des Nihilism“, notierte Nietzsche spter, ist der „Selbstmord“ (N 1888, 14[9], KSA 13.222 / W II 5, S. 184). Nach dem Lenzer Heide-Notat soll der Gedanke der ewigen Wiederkehr des Gleichen die „Schlechtweggekommenen“ dazu bringen. In diesem Sinn notierte Nietzsche schon 1885/86: „Der Hammer: eine Lehre, welche durch Entfesselung des todschtigsten Pessimismus eine Auslese der Lebensfhigsten bewirkt“ (N 1885/86, 2[100], KSA 12.110 / W I 8, S. 126). In FW 346 zieht er den Gedanken nicht heran. 320 Bayman, Nietzsche, God, and Doomsday, 203, bezichtigt Nietzsche dafr eines Irrtums und korrigiert ihn folgendermaßen: „If belief in God is dead, the
208 7. Philosophie als Kraft zum Misstrauen und das Bedrfnis nach Glauben wenn die Verehrungen unberhrt bleiben? Zur Lçsung des Rtsels kçnnte man Arten des Nihilismus unterscheiden, wie Nietzsche selbst es im Anschluss, u. a. auch wieder im Lenzer Heide-Notat, versucht hat, z. B. einen praktischen und einen theoretischen, einen aktiven und einen passiven, einen vollkommenen, radikalen, extremen Nihilismus.321 Er tat das jedoch nur in seinen Notaten und auch dort nicht scharf und nur probeweise. Im verçffentlichten Werk macht er von solchen Unterscheidungen keinen Gebrauch, und hier in FW 346 spricht nur von dem Nihilismus, einem einzigen. Aber gerade das scheint ein Entweder-Oder auszuschließen – und gerade hier setzt Nietzsche sein Fragezeichen, ein Fragezeichen nun (nach einem Gedankenstrich) an den tçdlichen Nihilismus.322 Wre also ein nicht-tçdlicher Nihilismus denkbar? Die Antwort gibt Nietzsche im anschließenden Aphorismus FW 347 (7.2.3.1.).
7.2. Analyse des Bedrfnisses nach Glauben Nr. 347: D i e G l u b i g e n u n d i h r B e d r f n i s s n a c h Glauben. Nietzsche erlutert nun das „B e d r f n i s s nach Glauben“, an das er seine Fragezeichen gesetzt hat, psychologisch, zeit- und religionsgeschichtlich; so bekommt es nachtrglich Kontur. Wir brauchen seine Erluterungen nicht ihrerseits noch ausfhrlich zu erlutern, sondern konzentrieren uns auf die Unterscheidungen, mit denen er das Bedrfnis nach Glauben strukturiert und die Loslçsung von ihm denkbar macht. Zu ihnen gehçren Schwche und Strke, Gehorchen und Befehlen, Krankheit und Gesundheit, Verlangen nach Gewissheit und Freiheit zur Ungewissheit, Halt an Anderem, scheinbar Festem, und Halt in der eigenen Bewegung (,Tanz‘). Als ihr Medium setzt Nietzsche den Willen an. Im Kontext des V. Buchs der FW thematisiert er ihn hier zum ersten und letzten Mal – um ihn
Doomsday is on the agenda. Humankind will self-destruct sooner or later in a gigantic spasm of insanity. Unbelief in God, in short, can mean only one thing: humanity’s collective suicide.“ 321 So verfahren etwa Kuhn, Friedrich Nietzsches Philosophie des europischen Nihilismus, ohne die Stelle als solche zu interpretieren, und Lossi, Nietzsche und Platon, 43. 322 Schottky, Nietzsches Dithyrambus „Zwischen Raubvçgeln“, 12 – 13, hlt die Frage nur fr eine rhetorische.
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in Begriffe der Kraft zur eigenen Orientierung aufzulçsen. Darin liegt sein ursprnglicher Sinn. 7.2.1. Glauben aus Schwche Der Mangel an „Kraft“ zum Misstrauen auch bei „unsren gescheidtesten Zeitgenossen“ ist in der Perspektive des kritischen Philosophen „Schwche“. Mit der Unterscheidung von Schwche und Strke, die Nietzsche im V. Buch der FW ebenfalls hier einfhrt, wertet er seinerseits die Werte, an die er zuvor Fragezeichen gesetzt hat, (vorerst in Parenthese) „deutlicher“ um. Die Einsicht in den Nihilismus kann danach sowohl Strke als auch Schwche beweisen (vgl. N 1887, 9[60], KSA 12.367; W II 1, S. 98). Es ist nach FW 346 eine Schwche, sich von der „Gewalt“ des „Argwohns eines Gegensatzes“ in das „furchtbare Entweder-Oder“ treiben zu lassen, seinen Glauben abzuschaffen oder aber sich selbst, dagegen eine Strke, dieser Gewalt zu widerstehen, seine „F r e i h e i t“ gegen sie durchzusetzen und dadurch zu steigern. Mit der Unterscheidung von Schwche und Strke misst Nietzsche die Menschen und insbesondere die Philosophen an ihrer Kraft zum Widerstand gegen die Gewalt geistiger Bindungen und, sofern solche Bindungen Erweiterungen und Steigerungen von Lebensmçglichkeiten verhindern, auch an ihrer Kraft zu leben berhaupt, der Kraft, im unablssigen Wandel der Lebensbedingungen durch eigene Wandlungen zu berleben. Schwche und Strke schließen auch kçrperliche und andere Bedingungen des Schlechter- oder Besser-Weggekommen-Seins ein; Nietzsche bekrftigt unermdlich auch diese Seite.323 Entscheidend ist jedoch die Kraft, mit seinem Misstrauen alleinstehen zu kçnnen; „die Strksten“ sind nach dem Lenzer Heide-Notat, wie bereits zitiert (2.4.), „die, welche keine extremen Glaubensstze nçthig haben“ (N 1887, 5[7] 15, KSA 12.217 / N VII 3, S. 24). Doch man ,hat‘ diese Kraft nicht einfach, sie muss sich vor immer neuen Herausforderungen in immer neuen Situationen immer neu beweisen und kann auch ermden und ausgehen, bis dahin, dass irgendwann selbst die kritischsten und mutigsten Philosophen Verstecke vor dem Geist suchen (FW 359/6.3.). Als Kraft hat sie Grade, und Schwche und Strke sind nur ihre Extreme. Auch dem sonst Widerstndigsten gegen die Gewalt geistiger Bindungen kann daher 323 Vgl. Stegmaier, Nietzsches ,Genealogie der Moral‘, 123 – 127. Zur moral- und zur sozialphilosophischen Dimension der Unterscheidung von Schwche und Strke vgl. zusammenfassend Gerlach, Art. Schwache, Schwche, und Gerlach, Art. Starke, Strke.
210 7. Philosophie als Kraft zum Misstrauen und das Bedrfnis nach Glauben weiterhin das furchtbare Entweder-Oder drohen, sich selbst abzuschaffen, selbst wenn er seine Verehrungen abgeschafft hat. Das gilt nach Nietzsche auch fr Gesellschaften und fr die Menschheit im Ganzen. Er verweist implizit nochmals auf Comte (5.): die ,Stadien‘ des Glaubens an Religion und Metaphysik, die im Fortschritt der Menschheit abgelçst sein sollten, wirken noch immer fort („Christenthum haben, wie mir scheint, im alten Europa auch heute noch die Meisten nçthig“, „Metaphysik haben Einige noch nçthig“), und auch der wissenschaftliche Positivismus, der sie berwinden soll, lebt noch vom „ungestmen V e r l a n g e n n a c h G e w i s s h e i t“, das sich durch sein bloßes Bedrfnis nach Glauben auch schon bewiesen glaubt.324 7.2.2. Schwche als Willensschwche: Verlangen nach Halt an Festem außer sich 7.2.2.1. „Instinkt der Schwche“. – Im Anschluss nennt Nietzsche die Schwche gegen die Gewalt geistiger Bindungen einen „I n s t i n k t“. Er verankert sie damit noch tiefer im Leiblichen; weiter unten fgt er den „Affekt“ hinzu. Instinkte und Affekte sind wie Triebe und Gefhle unfreiwillige Steuerungen des Verhaltens. Ein ,Trieb‘ gilt als dumpfer Drang nach Befriedigung elementarer Lebensbedrfnisse, ein ,Gefhl‘ als blinde Bindung. ,Affekte‘ und ,Instinkte‘ haben dagegen gemeinsam, dass sie das Verhalten ausrichten, Affekte durch augenblickliche Entscheidungen zwischen Zu- und Abtrglichem, Instinkte durch Vorgabe von unwill324 Zu „jenem berhmten ,Beweise der Kraft‘“ vgl. 1. Kor. 2, 3 – 5, und MA I 120. Paulus schreibt, mçglichst wortnah bersetzt: „ich kam zu euch in Schwche und in Furcht und in großem Zittern; und meine Rede und meine Verkndigung war nicht in berzeugungsreden der Weisheit, sondern im Beweis des Geistes und der Kraft (1m !pode_nei pve}lator ja· dum\leyr), auf dass euer Glaube nicht sei in Menschenweisheit, sondern in Gottes Kraft (dum\lei heoO).“ S. dazu Kaufmann, Commentary, 287 f., Fn. 22, und seine Hinweise auf Luthers und Schleiermachers Inanspruchnahme dieses ,Beweises‘. In der folgenden Fußnote weist Kaufmann darauf hin, dass Nietzsche hier das „V e r l a n g e n n a c h G e w i s s h e i t“ kritisiere, in FW 2 aber fordere. Der Widerspruch lçse sich aber auf, wenn man die Kontexte beachte: in FW 2 geht es um das „i n t e l l e c t u a l e G e w i s s e n“ in der Prfung der Beweise eines Glaubens, nicht um das Bedrfnis nach Glauben berhaupt; in FW 347 spielt Nietzsche mit der Parenthese „(whrend man es wegen der Hitze dieses Verlangens mit der Begrndung der Sicherheit leichter und lsslicher nimmt)“ darauf an. Kaufmann schiene in FW 2 darum statt ,desire for certainty‘ ,desire for intellectual cleanliness‘ ,better‘.
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krlichen Verhaltensablufen; beide orientieren in diesem Sinn.325 Instinkte kçnnen angeboren, aber auch durch Lebenserfahrung nach und nach einverleibt, unwillkrlich geworden sein; Nietzsche gebraucht den Begriff in seinem ganzen Werk ausgiebig gerade fr das Letztere326 und so auch in FW. Er trennt dabei nicht scharf zwischen ,Trieb‘ und ,Instinkt‘ („Trieb, Instinct, Thorheit, Grundlosigkeit“, FW 1). In den ersten vier Bchern spricht er vor allem von der „instinctiven Moralitt“ (FW 8 u. ç.) und vom „Heerden-Instinct“ (FW 50, 116 u. ç.), aber auch von jener „kaum noch deutlich erkennbaren A u f g a b e, d a s W i s s e n s i c h e i n z u v e r l e i b e n und instinctiv zu machen“ (FW 11). In JGB nennt er den „,Instinkt‘“ (in Gnsefßchen) „unter allen Arten von Intelligenz, welche bisher entdeckt wurden, die intelligenteste“ (JGB 218). Er kann „,Glauben‘“ unmittelbar mit „Instinkt“ gleichsetzen (JGB 191), so auch in FW 348 den „Instinkt des Gelehrten“ in seinem „Glauben an den Beweis“. Beim „Volk“ ist „seine Sinnen-Lustigkeit, sein ,gutes Herz‘“ zum Instinkt geworden (FW 350), hinter der Erkenntnis nicht nur beim „Volk“, auch bei Philosophen, vermutet Nietzsche den „I n s t i n k t d e r F u r c h t“ (FW 355). Deutsche Philosophen mßen „der Entwicklung instinktiv einen tieferen Sinn und reicheren Werth [zu] als dem, was ,ist‘“ (FW 357). Luther, als einem „Mann aus dem Volke“, sei „aller Instinkt fr Macht“ abgegangen; auch wo er Macht ausbte, wurde sie ihm nicht zum Instinkt (FW 358). Die mde gewordenen Philosophen „verkriechen sich in Hçhlen, werden w e i s e “ aus „Instinkt“ (FW 359). Und Gesellschaften leben vom Instinkt der Anpassung und der Schauspielerei (FW 361). Zuletzt legt Nietzsche aggressiv pauschalierend „Alles G u t e“ in den Instinkt, sofern er das Leben „leicht, nothwendig, frei“ macht (GD Irrthmer 2); die „Voraussetzung zu jeder Art Meisterschaft, zu jeder Art Vollkommenheit in der Kunst des Lebens“ sei der „vollkommne Automatismus des Instinkts“, nachdem „das Bewusstsein Schritt fr Schritt von dem als richtig erkannten (das heisst durch eine ungeheure und scharf durchgesiebte Erfahrung b e w i e s e n e n) Leben zurckgedrngt“ worden sei (AC 57). Nietzsche sieht aber auch die Grenze des Instinkts. Sie liegt darin, dass dem Instinkt, eben weil er dem Verstand entzogen ist, die bersicht fehlt und er darum eine „Vordergrunds-Optik“ ist: „Alle Instinkt-Urtheile sind k u r z s i c h t i g in Hinsicht auf die Kette der Folgen: sie rathen an, was z u n c h s t zu thun ist. Der Verstand ist wesentlich ein H e m m u n g s a p p a r a t gegen das Sofort-Reagiren auf das Instinkt-Urtheil: er hlt auf, er berlegt weiter, er sieht die Folgenkette ferner u. lnger.“ (N 1887, 10[167], KSA 12.554 / W II 2, S. 28)
7.2.2.2. „Verlangen nach Halt“. – Auch der tief einverleibte, durch Erfahrung bewiesene „I n s t i n k t d e r S c h w c h e“ ist gut – fr „d i e G l u b i g e n u n d i h r B e d r f n i s s n a c h G l a u b e n“. Er liegt im 325 Vgl. zu den Affekten Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 254 – 256. 326 Vgl. Vinzens, Nietzsches Instinktverwandlung, der allerdings eine durchgehende chronologische Analyse von Nietzsches Begriffsgebrauch vermissen lsst, Wotling, Pulsion, instinct et volont de puissance, und Stegmaier, Fearless Findings.
212 7. Philosophie als Kraft zum Misstrauen und das Bedrfnis nach Glauben „Verlangen nach Halt, Sttze“ in der Orientierung. „Halt“ – Nietzsche gebraucht die Wortfamilie ,Halt‘, ,sich halten‘ sechs Mal in FW 347 – ist das, was man insbesondere nach dem deutschen Sprachgebrauch in der Orientierung sucht. Dass man so spricht, zeigt, wie sehr man in ihr stets zu fallen und verfallen frchtet („das B e d r f n i s s nach Glauben, Halt, Rckgrat, Rckhalt…“).327 Man sucht Halt, weil es in der Orientierung keinen vorgegebenen Halt, keine letzte „G e w i s s h e i t“ gibt, und man sucht ihn darum mçglichst an „,Festem‘“ außer sich („Verlangen, durchaus etwas fest haben zu w o l l e n“), und in einer Richtung, die schon instinktiv vorgegeben ist. An einem solchen Halt macht man mit seinem Misstrauen Halt, nimmt ihn als Festes, wo nichts Festes ist, hlt sich damit an nichts, an das Nichts, und wird so in Pessimismus und Nihilismus getrieben. Aller Glaube aus dem Instinkt der Schwche „conservirt“ Illusionen der Orientierung, macht sie ihrerseits ,haltbar‘. 7.2.2.3. „Wollen“, „Wille“, „Affekt“. – Dieses Suchen nach einem festen Halt in einer Richtung, wo keiner zu finden ist, ist ein „Wollen“ im Sinn des Schlusses vom GM („lieber will noch der Mensch d a s N i c h t s wollen, als n i c h t wollen…“, GM III 28). Nachdem Nietzsche im V. Buch der FW den Willen zunchst vorausgesetzt hat als „Wille zur Wahrheit“ in FW 344, als „Wunsch und Willen unsrer Verehrung“ in FW 346, in FW 345 aber auch an den „Aberglauben des freien Willens“ erinnert hat, nimmt er in FW 347 die „Analyse des Willens“ wieder auf, die er vor allem in FW 127 und JGB 19 geleistet hatte.328 Er lçst ihn nun seinerseits in einen Orientierungsbegriff auf. Nach FW 127 ist „der Wille“ weder „etwas Einfaches, schlechthin Gegebenes, Unableitbares, An-sich-Verstndliches“ noch etwas Wirkendes, sondern nur ein Wort zur Vereinfachung eines hçchst komplexen Geschehens, das gerade dann nicht bemerkt wird, wenn „der Glaube an den Willen, als an die Ursache von Wirkungen“, „der 327 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 226. 328 Vgl. die ausfhrliche Analyse der Analyse Nietzsches bei Gerhardt, Vom Willen zur Macht, 217 – 245. Gerhardt will unter strengen Zurechtweisungen Nietzsches zeigen, dass er mit seiner Willens-Kritik den Anschluss an Kants praktische Philosophie verloren habe, so ins Taumeln gerate und zuletzt nur noch nach Macht verlange, die stattdessen in einer Metaphysik zu fundieren sei. Die kontextuelle Interpretation u. a. von FW 347 ergibt ein anderes Bild. Wotling, Notes, 402, Fn. 289, nennt die Willens-Analyse in FW 347 in ihrer Tiefe „capitale“. Cowan, „Nichts ist so sehr zeitgemss als Willensschwche“, erforscht ausfhrlich Quellen von Nietzsches Psychologie des Willens und der Willensschwche bei Thodule Ribot, Le maladies de la volont, Paris 1883, geht auf FW 347 jedoch nicht ein.
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Glaube an magisch wirkende Krfte“ als „N a c h w i r k u n g d e r l t e s t e n R e l i g i o s i t t“ seinerseits „instinctiv“ geworden sei. Tatschlich werde, „damit Wille entstehe“, „eine Vorstellung von Lust und Unlust“ durch den „Intellect“ zumeist „unbewusst“ „interpretirt“, jedenfalls bei „intellectuellen Wesen“, und nur bei ihnen kçnne man berhaupt von „Willen“ sprechen. In JGB 19329 verfeinert Nietzsche seine phnomenologische Analyse weiter und trgt nun die Begriffe des „A f f e k t s“ und des Befehls in sie ein. Sie erst lassen, was man ,Willen‘ nennt, als etwas erscheinen, das auf etwas aus ist, das eine Stoßrichtung hat. Unlust fasst Nietzsche jetzt als „das Gefhl des Zustandes, von dem w e g,“ Lust als „das Gefhl des Zustandes, zu dem h i n“ die Orientierung geht, den Intellekt als „commandirenden Gedanken“. Der Affekt sei der Affekt dieses „Commando’s“, ein „berlegenheits-Affekt in Hinsicht auf Den, der gehorchen muss“. Dies ergebe „jene Spannung der Aufmerksamkeit, jenen geraden Blick, der ausschliesslich Eins fixirt, jene unbedingte Werthschtzung ,jetzt thut dies und nichts Anderes Noth‘, jene innere Gewissheit darber, dass gehorcht werden wird, und was Alles noch zum Zustande des Befehlenden gehçrt.“ Diese Ausrichtung der Gefhle habe Widerstnde zu berwinden, „sofort nach dem Akte des Willens“ stellten sich die typischen „Gefhle des Zwingens, Drngens, Drckens, Widerstehens, Bewegens“ ein. Nun aber verberge der Glaube an die Einheit, an die definierte Identitt des ,Ich‘ diese „Zweiheit“ des Befehlens und Gehorchens, und daran kçnne sich „eine ganze Kette von irrthmlichen Schlssen und folglich von falschen Werthschtzungen des Willens selbst“ anschließen. 7.2.2.4. „,Freiheit des Willens‘“. – Dazu gehçrt das idealistische Verstndnis der „,Freiheit des Willens‘“, dessen Irrtmlichkeit Nietzsche schon frher (MA I 18, MA II, WS 9 – 11und 28) aus verschiedenen Perspektiven aufgezeigt hat und in JGB 21 und GM I 13 noch einmal neu beleuchtet.330 Er geht davon aus, dass auch im Verhltnis zu anderen unvermeidlich befohlen und gehorcht wird. Die Willensußerung des Handelnden kommt nicht nur bei ihm selbst, sondern auch beim andern als Befehl an, dem dieser dann gehorchen kann oder nicht. Gehorcht er nicht, sondern 329 In einer Vorstufe dazu hat Nietzsche den Willen eine „Erdichtung“ genannt (N 1884, 27[24], KSA 11.282), in einer weiter ausgearbeiteten Vorstufe „ein ungeheures Vorurtheil aller bisherigen Philosophen, ein Volks-Vorurtheil, nur bernommen und, wie es im Allgemeinen Philosophen thun, b e r t r i e b e n.“ (N 1885, 38[8], KSA 11.608). 330 Vgl. dazu Stegmaier, Nietzsches ,Genealogie der Moral‘, 124 – 127.
214 7. Philosophie als Kraft zum Misstrauen und das Bedrfnis nach Glauben widersteht, steht Wille gegen Wille. Dieses Gegeneinander von Willen, das man in sich selbst nur dunkel erlebt, ist in der Gesellschaft deutlich erfahrbar, und nur dafr haben wir von der Gesellschaft, wie Nietzsche in JGB 268 und FW 354 (9.) darlegt, auch eine Sprache erlernt. Um die Gefahren des Gegeneinanders der Willen in der Gesellschaft zu entschrfen, wird die „,Freiheit des Willens‘“ unterstellt, als Mçglichkeit des ,Befehlenden‘, von seinem ,Befehl‘ abzulassen und sich auf ,Grnde‘ einzulassen, in denen man bereinstimmung erwartet. Geht er darauf ein, braucht man nicht mehr von ,Willen‘ zu reden: man gehorcht nun gemeinsam den ,Grnden‘ – und glaubt dabei nicht mehr zu befehlen und zu gehorchen (1.4.). Nietzsches Gegenentwurf der „,Freiheit des Willens‘“ ist „jener vielfache Lust-Zustand des Wollenden, der befiehlt und sich zugleich mit dem Ausfhrenden als Eins setzt, – der als solcher den Triumph ber Widerstnde mit geniesst, aber bei sich urtheilt, sein Wille selbst sei es, der eigentlich die Widerstnde berwinde.“ (JGB 19) Es ist, weit entfernt von dem, was metaphysisch als ,Freiheit des Willens‘ unterstellt wird, ein Zustand, der sich von Fall zu Fall einstellt. 7.2.2.5. „Affekt des Befehls“. – In FW 347 fasst Nietzsche sein Verstndnis der Freiheit des Willens kurz „als Affekt des Befehls, das entscheidende Abzeichen der Selbstherrlichkeit und Kraft“. Wille ist das bloße „Abzeichen“ eines „Affekts“ und dennoch wirkungsvoll als Affekt eines „Befehls“. Auch hier wird der Wille lediglich unterstellt, aber auf ein „entscheidendes“, „Selbstherrlichkeit und Kraft“ verratendes Abzeichen hin. Entsprechend orientiert man sich (auch in scheinbar herrschaftsfreien Argumentationen): hat man hier zu gehorchen (bzw. mit seinen Grnden nachzugeben) oder seinerseits die Kraft zu ,befehlen‘ (bzw. den anderen mit ,strkeren‘ Grnde zu ,schlagen‘)? Im spteren Nachlass wird Nietzsche seine Analyse des Willens noch einmal przisieren. Er bleibt dabei: „es giebt keinen Willen, und folglich weder einen starken, noch schwachen Willen.“ „Schwche des Willens“ ist darum „ein Gleichniß, das irrefhren kann.“ Sie liegt nicht in der Schwche der „Antriebe“ selbst, sondern in deren „Disgregation“, im „Mangel an System unter ihnen“. Bildet sich in ihrem Gegeneinander kein „Schwergewicht“ aus, kommt es zu einem „Oscilliren“ der Antriebe, der Wille schlgt nicht durch, er ist schwach. Gelingt dagegen „die Coordination derselben unter der Vorherrschaft eines einzelnen“, erhalten die Antriebe „die Prcision und Klarheit der Richtung“, werden sie orientiert. Das „resultirt als ,starker Wille‘“ (N 1888, 14[219], KSA 13.394 / W II 5, S. 4, ohne Korrekturen). Ein schwacher Wille in diesem Sinn bedarf, damit berhaupt Handeln mçglich wird, der Ausrichtung
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seiner Antriebe durch andere, bedarf anderer Orientierung, um sich selbst zu orientieren. So geht es im Verhltnis von Willen zueinander als Abzeichen von Krften stets um Unterlegenheit und berlegenheit der Orientierungen, auch in Argumentationen mit Grnden: wer orientiert wen wobei, wer irritiert und fasziniert wen worin? Der jeweils in der Orientierung berlegene – in wechselnden Situationen kçnnen auch die berund Unterlegenheiten rasch wechseln – hat jeweils Macht ber den andern; in der berlegenheit der Orientierung liegt der Ursprung der Macht, die dann auch nicht als bçse gilt.331 Wer mit seiner Orientierung jedoch notorisch unterlegen ist, wird instinktiv den Vorgaben anderer gehorchen („um so dringlicher begehrt er nach Einem, der befiehlt, streng befiehlt, nach einem Gott, Frsten, Stand, Arzt, Beichtvater, Dogma, Partei-Gewissen“), wird zum ,Herdentier‘ und folgt, wie Nietzsche sie spter in einem Notat nennt, der „{Heerden-}Moralitt“ (N 1887, 9[116], KSA 12.403 / W II 1, S. 51). 7.2.2.6. „E r k r a n k u n g d e s W i l l e n s “. – Im Zug seiner der Analyse des Bedrfnisses nach Glauben dienenden Analyse des Willens fhrt Nietzsche betont hypothetisch („Woraus vielleicht […] gehabt haben mçchten“) die Unterscheidung von Krankheit und Gesundheit ein und wendet sie metaphorisch auf den Willen an („ungeheuren E r k r a n k u n g d e s W i l l e n s“). Er verstrkt damit die Wertung noch einmal. Die Erkrankung setzt einen gesunden Zustand voraus. Dies wre fr Nietzsche das Recht eines starken Willens, seine „Selbstherrlichkeit und Kraft“ offen zeigen zu kçnnen. Gebietet ihm die herrschende Moral, sie zu verbergen, und hat er selbst, weil er nichts anderes kennt, diese Moral verinnerlicht, wird er auf Dauer erkranken, nur noch mit schlechtem Gewissen andere fhren (,befehlen‘), zum Schaden seiner selbst und der Gesellschaft, die seine Orientierungs-, Urteils- und Fhrungsfhigkeiten braucht. Da nun „Gehorsam bisher am besten und lngsten unter Menschen gebt und gezchtet worden ist“, also „durchschnittlich jetzt einem Jeden das Bedrfniss darnach angeboren“ sein drfte und so „der Heerden-Instinkt des Gehorsams am besten und auf Kosten der Kunst des Befehlens vererbt“ ist, leiden, so Nietzsche in JGB 199, auch „die Befehlshaber und Unabhngigen“, die Machtbefugnisse auszuben haben, „innerlich am schlechten Gewissen“ und haben es nçtig, „sich selbst erst eine Tuschung vorzumachen, um befehlen zu kçnnen: nmlich als ob auch sie nur gehorchten. Dieser Zustand besteht heute thatschlich in Europa: ich nenne ihn die 331 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 489 f.
216 7. Philosophie als Kraft zum Misstrauen und das Bedrfnis nach Glauben moralische Heuchelei der Befehlenden. Sie wissen sich nicht anders vor ihrem schlechten Gewissen zu schtzen als dadurch, dass sie sich als Ausfhrer lterer oder hçherer Befehle gebrden (der Vorfahren, der Verfassung, des Rechts, der Gesetze oder gar Gottes) oder selbst von der Heerden-Denkweise her sich Heerden-Maximen borgen, zum Beispiel als ,erste Diener ihres Volks‘ oder als ,Werkzeuge des gemeinen Wohls‘.“ 7.2.2.7. „Fanatismus“. – Nietzsche schließt seine Analyse mit dem „Fanatismus“. Er gebraucht den Begriff, wie im 19. Jahrhundert noch blich, im Sinn von ,religiçser Begeisterung‘ (abgeleitet von lat. ,fanum‘, Tempel). Der Fanatiker ist fixiert auf einen Befehlenden, auf den er all seine Antriebe ausrichtet, so dass gerade der schwchste Wille wieder als der strkste, als grçßte „,Willensstrke‘“ erscheinen kann, whrend sie doch „eine Art Hypnotisirung des ganzen sinnlich-intellektuellen Systems zu Gunsten der berreichlichen Ernhrung (Hypertrophie) eines einzelnen Gesichts- und Gefhlspunktes [ist], der nunmehr dominirt“). Die dauernde Fixierung der Koordination der Antriebe lsst die Orientierung erstarren und durchdringt sie bis in die einverleibten Instinkte und Affekte hinein. Damit ist das Bedrfnis nach Glauben zuletzt aus seinem Extrem verstndlich gemacht. 7.2.3. Alternative Freiheit des Willens: Mut zum Halt in der eigenen Bewegung 7.2.3.1. Nihilismus als „gçttliche Denkweise“. – Nietzsches Analyse des Glaubens vom Abgrund des Nihilismus her macht klar, dass das Problem nicht in den Verehrungen selbst, sondern im Bedrfnis nach ihnen liegt. Besteht das Bedrfnis und ist es dringend genug, werden sich Gelegenheiten zu Verehrungen, welchen auch immer, bis hin zu Fanatismen stets finden lassen. Damit ist die Analyse auf dem Grund angekommen, von dem aus die – vorerst rein hypothetische („wre“) – Mçglichkeit eines nicht-tçdlichen Nihilismus denkbar wird: wenn man mit den Verehrungen auch das Bedrfnis nach ihnen loswrde. Sie wre das „Entweder“ zum „Oder“ aus FW 346. Dann bliebe es nicht bei der Enttuschung ber die Nichtigkeit der Verehrungen, sondern sie wren gar nicht mehr „nçthig“. Dann wrden „der Horizont“, „der Wille“, „die Werthgefhle“ „wieder frei“ (FW 343; GM II 24; N 1887, 9[60], KSA 12.368 / W II 1, S. 97), wrde jener „Ausbruch von Kraft und Willen zur Selbstbestimmung, Selbst-Werthsetzung,“ der „Wille zum f r e i e n Willen“ denkbar, von dem
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Nietzsche in der Vorrede zu MA I (3) gesprochen hat und mit dem er nun FW 347 schließt. Doch dieses „Entweder“ wre nicht weniger „furchtbar“: man msste sich dann nicht nur dem Nihilismus in seiner ganzen Abgrndigkeit aussetzen, sondern ihm auch standhalten und, mehr noch, aus ihm die Kraft zu neuen Orientierungen schçpfen, und stnde, da nur die Wenigsten dazu imstande wren, damit weitestgehend allein da. Es wre der Nihilismus eines freien Geistes, wie Nietzsche ihn sich denkt, und darum „u n s e r Fragezeichen“. Es wre ein Nihilismus im einverleibten Wissen, dass Orientierungen in der Welt keinen letzten Halt finden, und im dadurch bestrkten Willen, „den Fragezeichen-Charakter der Dinge nicht leichten Kaufs fahren [zu] lassen“ (FW 375/13.4.), sondern, wie Nietzsche es in dem schon zitierten Notat nannte, „mit einem großen Probleme {Fragezeichen wie mit seinem Schicksale}“ zusammenzuleben (N 1885/86, 2[183], KSA 12.157 / W I 8, S. 49). Ein großes Fragezeichen wre ein Fragezeichen, dem alles zum Fragezeichen wrde, einschließlich seiner selbst, eine Orientierung, die sich ihrer Ungewissheit vollkommen stellt. Sie wre, notierte er sich nach dem V. Buch der FW, „die extremste Form des Nihilism“: „daß jeder Glaube, jedes Fr-wahr-halten nothwendig falsch ist: weil es eine wahre Welt gar nicht giebt. Also: ein perspekt. Schein, dessen Herkunft in uns liegt (insofern wir knstliche Wahrheiten eine engere, verkrzte, vereinfachte Welt fortwhrend nçthig haben) / – daß es das Maaß der Kraft ist, wie sehr wir uns die Scheinbarkeit, {die Nothwendigkeit der Lge} eingestehn kçnnen, ohne zu Grunde zu gehn. / Insofern kçnnte Nihilism, als Leugnung einer wahrhaften Welt, eines Seins, eine gçttliche Denkweise sein: – – –“ (N 1887, 9[41], KSA 12.354 / W II 1, S. 111). Eine gçttliche Denkweise wre nicht nur eine, die eines Gottes wrdig, sondern auch eine, die nur einem Gott mçglich wre. Es bedrfte eines Zarathustra oder eines Dionysos, um sich in einer Denkweise zu halten, die all ihre Verehrungen und mit ihnen all ihre Illusionen abgeschafft hat. In GD Fabel 6 wird Nietzsche dann schreiben: „Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb brig? die scheinbare vielleicht? … Aber nein! m i t d e r w a h r e n W e l t h a b e n w i r a u c h d i e s c h e i n b a r e a b g e s c h a f f t! (Mittag; Augenblick des krzesten Schattens; Ende des lngsten Irrthums; Hçhepunkt der Menschheit; INCIPIT ZARATHUSTRA.)“ Dieser „Hçhepunkt der Menschheit“ ist der furchtlose, unbefangene, frçhliche Nihilismus, das große Fragezeichen. Aber zu ihm werden die Wenigsten fhig und auch sie sich ihrer Kraft dazu nie, nicht in allen Lagen sicher sein. Auch und gerade sie werden zu Zeiten versucht sein, ,sich selbst abzuschaffen‘. Das galt auch fr Nietzsche selbst, er lebte, wie vor allem seine Briefe bezeugen, mit dem Schicksal des großen
218 7. Philosophie als Kraft zum Misstrauen und das Bedrfnis nach Glauben Fragezeichens. Und darum kann er in FW 346 von „dem“ Nihilismus, dem einen Nihilismus sprechen. Beide Alternativen sind immer mçglich und kçnnen, auch bei den Strksten und Freiesten, jederzeit ineinander umschlagen. 7.2.3.2. Das Gleichnis vom Tanz. – Die Formel vom Nihilismus als ,gçttlicher Denkweise‘ hat Nietzsche nicht publiziert.332 Er schließt FW 347 stattdessen mit der Metapher des Tanzes („gebt, wie er ist, auf leichten Seilen und Mçglichkeiten sich halten zu kçnnen und selbst an Abgrnden noch zu tanzen“), die er im brigen V. Buch der FWmehrfach wiederaufnehmen wird. Mit „selbst an Abgrnden“ erinnert sie deutlich genug an den alten griechischen und Nietzsches neuen dionysischen Pessimismus, den er auch hier noch nicht (sondern erst in FW 370) nennt. Mit „sich halten zu kçnnen“ zeigt sie anschaulich, dass es weiterhin um Halt in der Orientierung geht. Doch Nietzsche leitet nun von ,sich an etwas halten‘ zu ,sich auf etwas halten‘ ber und von ,mssen‘ zu ,kçnnen‘. Orientierung an den Abgrnden des Nihilismus muss sich „auf leichten Seilen und Mçglichkeiten“ halten kçnnen, sie hat keinen festen Boden mehr, nur schwankende und dnne Seile. Aber diese Seile geben doch Richtungen vor, nicht wie das berhmte Seil in ZA die eine Richtung des Menschen auf den Anti-Begriff des bermenschen hin („Der Mensch ist ein Seil, geknpft zwischen Thier und bermensch, – ein Seil ber einem Abgrunde“; ZA I Vorrede 4), sondern viele mçgliche, fr die man sich entscheiden kann und muss.333 An solche Mçglichkeiten bindet man sich nicht, man glaubt nicht an sie wie an Festes; sie erçffnen vielmehr bewegliche Spielrume, in denen man sich seinerseits frei und immer freier bewegen kann – wenn man es kann, wenn man es gut eingebt und einverleibt hat. Um sich auf „leichten“ Seilen halten zu kçnnen, darf man auch selbst nicht feststehen wollen, sondern muss sich bewegen. In der Bewegung, im Gehen, im Laufen, beim Schwimmen, kann man sich leichter und lnger aufrecht und 332 Er nahm sie jedoch in seinen Plan von Anfang 1888 zu einem Werk Der Wille zur Macht auf. Vgl. N 1888, 12[1], KSA 13.196 / W II 4, S. 122, und dazu Montinari, Kommentar, KSA 14.758 u. 392. 333 Vgl. N 1882/83, 5[1]158, KSA 10.204 („Ich kann auf der schmalsten Stufe des Lebens noch stehen: aber wer wre ich, wenn ich diese Kunst euch zeigte? Wollt ihr einen Seiltnzer sehn?“), N 1883, 16[88], KSA 10.531 („Zarathustra selber der Possenreißer, der ber den armen Seiltnzer hinwegspringt“) und N 1888, 15 [117], KSA 13.476 („V o m A s k e t i s m u s d e r S t a r k e n. / […] – auf jedem Seile gehn, auf jeder Mçglichkeit tanzen: sein Genie in die F ß e b e k o m m e n“).
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im Gleichgewicht bzw. oben halten als im Stehen. Beim Tanzen aber kann man khn die ausgreifendsten Bewegungen wagen und hlt sich dann, wenn man die „Kraft und Geschmeidigkeit“ dazu hat, durch seinen eigenen Schwung in seinem eigenen Rhythmus auch noch auf schwankendem Boden; auch zum Tanzen braucht man einen Boden, aber nur einen schmalen, auf dem man so wenig wie mçglich steht. Das „Gleichniss vom Tanze“ ist ein Gleichnis fr die frçhliche Wissenschaft. Nietzsche hat es schon in MA vorweggenommen: G l e i c h n i s s v o m T a n z e . – Jetzt ist es als das entscheidende Zeichen grosser Cultur zu betrachten, wenn Jemand jene Kraft und Biegsamkeit besitzt, um ebenso rein und streng im Erkennen zu sein als, in andern Momenten, auch befhigt, der Poesie, Religion und Metaphysik gleichsam hundert Schritte vorzugeben und ihre Gewalt und Schçnheit nachzuempfinden. Eine solche Stellung zwischen zwei so verschiedenen Ansprchen ist sehr schwierig, denn die Wissenschaft drngt zur absoluten Herrschaft ihrer Methode, und wird diesem Drngen nicht nachgegeben, so entsteht die andere Gefahr eines schwchlichen Auf- und Niederschwankens zwischen verschiedenen Antrieben. Indessen: um wenigstens mit einem Gleichniss einen Blick auf die Lçsung dieser Schwierigkeit zu erçffnen, mçge man sich doch daran erinnern, dass der T a n z nicht das Selbe wie ein mattes Hin- und Hertaumeln zwischen verschiedenen Antrieben ist. Die hohe Cultur wird einem khnen Tanze hnlich sehen: wesshalb, wie gesagt, viel Kraft und Geschmeidigkeit noth thut. (MA I 278)
7.2.3.3. Der „f r e i e G e i s t“. – Nietzsche brauchte in dieses Gleichnis nur noch den Begriff einzutragen, den er ebenfalls seit MA entwickelt und dem er in JGB ein ganzes Hauptstck gewidmet hat, den des „f r e i e n G e i s t e s“, und wir brauchen nur noch unsere Exposition seines Begriffs des Geistes (6.3.2.) zu ergnzen. Nietzsches Begriff des freien Geistes lehnt sich zunchst an den des Freigeists der Aufklrung, besonders der franzçsischen, an, mit Voltaire als leuchtendem Vorbild. Ein erster Anhaltspunkt, ein „Wetterzeichen“, ob jemand zu den freien Geistern gehçrt, ist darum „seine Empfindung fr das Christenthum“, ob er „irgendwie anders zu ihm als k r i t i s c h“ steht (MA II, WS 182). Nietzsche erwartet von ihnen „das erlangte g u t e Gewissen bei der Feindseligkeit gegen das Gewohnte, Ueberlieferte, Geheiligte“ (FW 297). In JGB gibt er ein wachsend komplexes, strker von ihm selbst geprgtes, ,freieres‘ Bild vom freien Geist. So, wie er ihn sich denkt, hat ein freier Geist sich auch von den „Vorurtheilen der Philosophen“ zu lçsen gelernt, einschließlich der Vorurteile ber die Vernunft und ihre Freiheit und Gleichheit, denen die Aufklrung noch anhing, und von ihrem Glauben, durch das Wahre das Gute zu finden (JGB 35). Ein Jahrhundert spter sei aus den ehemals mutigen ,Freigeistern‘ wieder „eine sehr enge, eingefangne, an Ketten gelegte Art von Geistern“ geworden, „N i v e l l i r e r“, wie Nietzsche sie nun nennt, „beredte und schreibfingrige Sklaven des demokratischen Geschmacks und seiner ,mo-
220 7. Philosophie als Kraft zum Misstrauen und das Bedrfnis nach Glauben dernen Ideen‘“, darin „unfrei und zum Lachen oberflchlich […], vor Allem mit ihrem Grundhange, in den Formen der bisherigen alten Gesellschaft ungefhr die Ursache fr alles menschliche E l e n d und Missrathen zu sehn“. Er will sich darum „mit der gefhrlichen Formel ,jenseits von Gut und Bçse‘ […] vor Verwechslung behten“ (JGB 44) und seinerseits darauf verzichten, voreilig und populr das Dasein Gottes widerlegen zu wollen (JGB 37) und unter der „I n t e r p r e t a t i o n“ der Aufklrung den „T e x t“ des Lebens verschwinden zu lassen (JGB 38). Frei sei ein Geist erst, wenn er sich von ernster Gewissheit auf heitere Ungewissheit oder von allgemeiner und dauernder Gewissheit auf Gewissheit von Fall zu Fall und auf Zeit (JGB 24), vom „Martyrium“ fr ewige Wahrheiten auf mehr „Wahrhaftigkeit“ umgestellt habe (JGB 25). Dazu sei zwar Absonderung von der Allgemeinheit in selbst gewhlter „Vereinsamung“ nçtig, darber aber nicht das „Studium des d u r c h s c h n i t t l i c h e n Menschen“ zu vernachlssigen (JGB 26). Ein freier Geist habe sich in Sprache und Stil „der ergçtzlichsten und verwegensten Nuances des freien, freigeisterischen Gedankens“ zu erfreuen und zu befleißigen (JGB 28), dabei jedoch „unabhngig“ zu bleiben und sich den Bissen allein des eigenen Gewissens auszusetzen (JGB 29); er habe sich in der Mitteilung feiner Gedanken grober „Masken“ zu bedienen und sie dadurch vor Unberufenen zu schtzen (JGB 40), msse also zugleich ,exoterisch‘, fr das große Publikum, und ,esoterisch‘, fr wenige, reden kçnnen (JGB 30).334 Er msse mit dem „feinsten und redlichsten“ Gewissen zur „Selbstberwindung der Moral“ fhig werden und in einer moralischen „Absicht nur ein Zeichen und Symptom“ fr Außermoralisches sehen lernen (JGB 32), msse Vorsicht wahren gegen die „Selbstentusserungs-Moral“ und die „Aesthetik der ,interesselosen Anschauung‘“ (JGB 33), statt auf Gewissheiten und Selbstgewissheiten „allen Denkens“ Vertrauen zu „perspektivischen Schtzungen und Scheinbarkeiten“ fassen (JGB 34) und dabei auch das Denken als Verhalten von unterschiedlichen Trieben, von zuweilen gegenstzlichen Willen zur Macht zueinander verstehen lernen (JGB 36). Er gebe sich selbst „Proben“ seiner „Unabhngigkeit“ durch Loslçsungen von vertrauten Bindungen und bleibe dabei auch nicht „an seiner eignen Loslçsung hngen“ (JGB 41). Selbst in Namen wie „Philosophen der Zukunft“ beargwçhne er noch eine „Versuchung“ (JGB 42). Kurz, ein freier Geist, wie Nietzsche ihn sich denkt, muss noch mehr als Platon ber vielfltige „Vorder- und Hinterseelen“ verfgen, „denen Keiner leicht in die letzten Absichten sieht, mit Vorder- und Hintergrnden, welche kein Fuss zu Ende laufen drfte“ (JGB 44).
Im V. Buch der FW fhrt Nietzsche all diese Bestimmungen des freien Geistes in die ,heitere‘ zusammen, „jedem Wunsch nach Gewissheit den Abschied“ geben zu kçnnen (FW 347). Ein freier Geist kann sich auch inmitten von abgrndigen Ungewissheiten, auch im fr andere noch furchtbaren Nihilismus, weiter und so auch andere orientieren.
334 Vgl. Schmid, Nietzsches Gedanke der tragischen Erkenntnis, 55 – 71.
8. Was freie Geister immer noch von religiçsen Menschen lernen kçnnen Mit einer Aphorismenkette zur Kirche, den religiçsen Menschen („homines religiosi“, FW 350, 358) und Religionsstiftern schließt Nietzsche seine Analyse des Bedrfnisses nach Glauben, nach Bindungen des Denkens ab, die er bisher auf die Wissenschaftler (FW 344, 348, 349) und die Philosophen (FW 346) konzentriert hat ; schon in FW 347 hat er „die beiden Weltreligionen, den Buddhismus und das Christentum,“ in den Mittelpunkt gerckt. In der „H e i t e r k e i t“ (FW 343) des V. Buchs der FW lsst er seine Religionskritik, die die vorausgehenden Aphorismen-Bcher durchzogen hat und in den spteren Schriften erneut aufflammen und gehçrig an Hitze gewinnen wird, auf sich beruhen.335 Er blickt auf die Religion nun unter dem berraschenden Gesichtspunkt, was freie Geister immer noch von religiçsen Menschen lernen kçnnen. Er setzt mit einer Wrdigung der rçmischkatholischen Kirche (FW 350) und der „Priester-Naturen“ (FW 351) ein, stellt dann, die nchste Aphorismenkette vorbereitend, die er, zur Auflçsung von scheinbar letzten Grnden, der Frage nach dem „U r s p r u n g“ des Bewusstseins, der Erkenntnis und der Gesellschaft widmen wird (FW 354 – 356), die Ursprungsfrage an die Religionen (FW 353) und fhrt ber eine Kritik der „Lutherschen Reformation“ wieder zur rçmischen Kirche zurck (FW 358). Den letzten Aphorismus hat er noch im Zug der Drucklegung eingefgt.336 Whrend die ersten drei Aphorismen der Kette betont gelassen, heiter gehalten sind, kndigt sich im letzten mit eingestreuten Ausrufen, erstaunten Fragen an sich 335 Kçster, Art. Religion, 310, hat Nietzsches Religionskritik prgnant zusammengefasst: Nietzsche zielt in der Hauptsache auf „die kritische Forcierung des Endes der Religion“. Sie ist fr ihn „ein Phnomen der dekadenten Erlçsungsbedrftigkeit, der illusionistischen Schwche und der Zerfallenheit mit der Natur“ und gehçrt „folglich zur dunklen Krankheitsgeschichte des Menschen“; medizinisch betrachtet ist sie (wie auch die Genialitt, vgl. N 1885/86, 2[23], KSA 12.76 / W I 8, S. 236) eine „Neurose“ (JGB 47, GM III 21). Vgl. auch Henke, Gott und die Grammatik, und zuletzt Young, Nietzsches Philosophy of Religion. 336 Vgl. den Brief an Ernst Wilhelm Fritzsch, 18. Febr. 1887, KGB III/5, Bf.801.
222 8. Was freie Geister immer noch von religiçsen Menschen lernen kçnnen selbst, Auslassungsspunkten, immer neuen Beschleunigungen des Satztempos die Heftigkeit an, die GM und die Werke des Jahres 1888 kennzeichnen wird. Nietzsche ist bei seiner eigenen Vorgeschichte angekommen, hat gegen seine ,Instinkte‘ als Sohn eines protestantischen „Landpfarrers“ (FW 351) anzukmpfen. Die vier Aphorismen sind nur in ihrer kontextuellen Verschrnkung zu verstehen. Wir werden uns auf diese Verschrnkung konzentrieren.337
Nietzsches schriftstellerische Methoden : Fragwrdige Typisierungen statt Glauben erweckender Generalisierungen Nietzsche arbeitet, hier besonders auffllig, mit starken Typisierungen („oberflchlichere Naturen“ – „argwçhnischere Menschen“, Nordlnder – Sdlnder, „Volk“, „Landpfarrer-Sanftmuth“, „Wir Europer“, „die Deutschen“), darunter Fixierungen auf Stereotype („das uralte geheimnissreiche Asien und seine Contemplation“, Luthers „burische Verschlagenheit“ und „abgrndlicher Hass“), bis hin zu pauschalen Verunglimpfungen in einer Parenthese am Ende von FW 350 („dem Schaf, dem Esel, der Gans und Allem, was unheilbar flach und Schreihals und reif fr das Narrenhaus der ,modernen Ideen‘ ist“). hnliches zeigte sich auch in FW 366 (die Gelehrten mit ihrem „Buckel“, die Literaten als „Ladendiener des Geistes“ und „Bildungs-Schmarotzer“), Weiteres wird noch begegnen. Dass Nietzsche sich mit dieser forciert oberflchlichen Ausdrucksweise dem Stil der von ihm so gescholtenen politischen Tagespresse anpasst, um damit vordergrndig zu beeindrucken, ist in einem Text, der gerade von den „Oberflchlichen“ handelt und dem mit FW 354 ein Aphorismus folgen wird, der die „Veroberflchlichung und Generalisation“ als solche zum Thema macht (9.), eher unwahrscheinlich. Oberflchliche Generalisierungen sind, so Nietzsche dort, unvermeidlich mit der sprachlichen Mitteilung und bereits mit allem Bewusstwerden verbunden. Man muss, wenn man sich unter Zeitdruck rasch mitteilen will, massiv vereinfachen, freilich nicht polemisch stereotypisieren. Dass Nietzsche gerade hier darauf verfllt, lsst darum eine Absicht in diesem ,Stil‘ vermuten: durch die fragwrdige berziehung von Generalisierun337 Anregungen zu diesem Kapitel verdanke ich Philipp Meyers Bachelor-Arbeit „Frçhliche Weisheit der Religion. Interpretation ausgewhlter Aphorismen aus dem V. Buch von Nietzsches Frçhlicher Wissenschaft“, verfasst an der Universitt Greifswald im Herbst 2009.
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gen auf das Problem der Generalisierung als solcher aufmerksam zu machen. Angesichts der ,unsglich anders komplizierten Wirklichkeit‘ (5.1.2.) ist jede Generalisierung, auch wenn sie zur Orientierung unerlsslich ist, eine fragwrdige Vereinfachung; noch fragwrdiger wird sie, wenn religiçse, moralische und selbst wissenschaftliche Menschen versucht sind, an die Realitt des Verallgemeinerten zu glauben. Andererseits lassen sich Charaktere von Menschen, Vçlkern, Lndern, Epochen usw., deren Unterscheidung zur Orientierung hilfreich und manchmal unentbehrlich ist, nicht anders als typisierend erfassen, und dazu ist mehr Urteilskraft nçtig als fr die Generalisierung gesicherter Daten. So ist gerade die auffllige Typisierung, die sich selbst in Frage stellt, die ehrlichste Verallgemeinerung. Nietzsche bildet erkennbar Typen und nennt sie immer wieder ausdrcklich so. Ein Typus ist im Wortsinn eine ,Prgung‘, eine umrisshafte Kennzeichnung, ein vielfltig ausfllbares Schema, vorlufig und vernderlich. Er lsst der Orientierung Spielrume zur Bewegung. Er wird an Einzelnen oder Einzelnem festgemacht und nur hypothetisch als Allgemeines genommen, so lange, wie weitere Anhaltspunkte zu seiner Verschiebung nçtigen. Er ist ein Begriff auf Zeit, erlaubt Verallgemeinerungen auch dort, wo sie auf Dauer nicht haltbar sind, also bei allem Lebendigen in Natur und Geschichte. In diesem Sinn behandelt Nietzsche Figuren der Geschichte wie Sokrates und Jesus, Goethe und Napoleon als Typen und fhrt auch seinen Zarathustra oder den bermenschen als Typus ein. Und auch sie macht er durch berzeichnung als Typen kenntlich, karikiert sie bewusst. Er notierte sich schon frh: „Ich zeige eine Karikatur. Nicht in der Meinung, daß alle sie als Karikatur erkennen: Hoffnung daß am Schluß sie jedermann als Karikatur klar sein wird.“ (N 1869, 1[11], KSA 7.14).338 Auch die homines religiosi, priesterliche Naturen und Religionsstifter, von denen er hier redet, sind berzeichnete Typen, bewusste Karikaturen.
338 Max Weber hat in seinem Aufsatz Die ,Objektivitt‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis von 1904 den Nietzscheschen Typus als ,Idealtypus‘ aufgenommen (vgl. Stegmaier, Nietzsches ,Genealogie der Moral‘, 89 – 91). Der Begriff ist, zumindest im Blick auf Nietzsche, nicht glcklich. Denn wenn der Typus nur eine vorlufige Kennzeichnung ist, so ist er kein Ideal; Nietzsche setzt ,Ideal‘ und ,Typus‘ in Gegensatz zueinander (vgl. Simon, Nachwort, 365).
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8.1. „Argwohn ber die Natur des Menschen“ Nr. 350: Z u E h r e n d e r h o m i n e s r e l i g i o s i . 8.1.1. Die Kirche und der aktuelle Kampf gegen sie Nietzsche erçffnet die neue Aphorismenkette mit dem zu seiner Zeit aktuellen „Kampf gegen die Kirche“. Die „Kirche“, das ist hier fr ihn (ansonsten differenziert er durchaus) ohne weiteres die rçmisch-katholische im strengen Sinn ihres Kirchenbegriffs, nach dem die Kirche als durch die Autoritt des Papstes geleitete Rechtsinstitution des im gleichen Bekenntnis, den gleichen Sakramenten und die Nachfolge der Apostel einigen ,Volkes Gottes‘ nur eine sein kann. Luther dagegen bevorzugte die Begriffe ,Gemeine‘, ,heilig christlich Volk‘ oder ,Christenheit‘, und die protestantische Theologie folgte ihm darin.339 Nietzsche hat sich bisher durchaus nicht kirchenfreundlich geußert und wird es auch spter kaum tun;340 hier versucht er es. „Der Kampf “, das ist der sogenannte ,Kulturkampf ‘ im Deutschen Reich, den Papst Pius IX. 1864 mit der Enzyklika „Syllabus errorum“ ausgelçst hatte. Er eskalierte seit 1871 unter dem Reichskanzler Bismarck (vgl. MA I 453) und wurde gerade im Frhjahr 1887 vom Nachfolger des 1878 gestorbenen Pius’ IX. diplomatisch beigelegt. Pius hatte entschieden gegen die „,modernen Ideen‘“, namentlich die liberalen, und zugleich gegen die Grndung eines vom protestantischen Preußen dominierten, das berwiegend katholische sterreich ausschließenden Deutschen Reiches Front gemacht, woraus sich ein schillernder Kampf („denn er bedeutet Vielerlei“) entspann, in dem es schließlich nicht nur um die Macht des Staates (staatliche Schulaufsicht, staatliches ,Kulturexamen‘ fr Geistliche, Einfhrung der Zivilehe), sondern auch um das kulturelle Selbstverstndnis des neuen Deutschen Reiches ging. Nietzsche scheint die katholische Kirche in „E h r e n“ zu halten, weil ihm manches davon entgegenkam.341 Dennoch nimmt er nicht geradewegs Partei fr sie, 339 Vgl. Rendtorff, Art. Kirche, 837. 340 Vgl. u. a. MA I 476; ZA II Ereignissen, KSA 4.167 – 171; JGB 62; GM III 16; GD Moral 1; GD Verbesserer 2; AC 37 f.; AC 51; AC 62. 341 Das muss Nietzsche einige Selbstberwindung gekostet haben. Als sein Freund und Wohnungsgenosse in Basel Heinrich Romundt mit der lange gehegten Absicht herauskam, katholisch und Priester werden zu wollen, empfand er das, wie er an Erwin Rohde schrieb, „als das Bçseste, was man mir anthun konnte. […] Unsre gute reine protestantische Luft! Ich habe nie bis jetzt strker meine innigste Abhngigkeit von dem Geiste Luthers gefhlt als jetzt, und allen diesen befreienden Genien will der Unglckliche den Rcken wenden? Ich frage mich, ob er noch bei
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sondern blickt darauf, was der Kampf philosophisch, fr die Morgenrçte einer frçhlichen Wissenschaft bedeuten kçnnte.342 Er hlt sich auf Distanz, wechselt im Gang der Aphorismenkette mehrfach die Perspektive. 8.1.2. Argwohn des Volkes im Sden Er deutet den Kampf gegen die Kirche in FW 350 durch drei typisierende Entgegensetzungen. Er beginnt mit einer psychologischen Entgegensetzung von „gemeineren vergngteren vertraulicheren oberflchlicheren Naturen“ gegenber „schwereren tieferen beschaulicheren, das heisst bçseren und argwçhnischeren Menschen“ und deutet sie durch die soziologische Entgegensetzung von „Volk“ und Vornehmen und die geographische von Menschen im „Norden“ und im „Sden“ Europas. Was ,Volk‘ heißt, macht er erst in FW 351 deutlicher (8.2.1.), auch den Typus der ,Vornehmen‘ kndigt er zunchst nur im Gegensatz der ,gemeineren Naturen‘ an; am Ende von FW 358 wird er nicht Menschen, sondern die Institution ,vornehm‘ nennen, die solche Menschen hervorbringt: die Kirche; darberhinaus verstehen sich Vornehme nach Nietzsche ohnehin nicht aus Gegenstzen zu anderen (vgl. JGB 257 und GM I 2). Schließlich bringt er auch das Kriterium der Unterscheidung, den Grad der Geistigkeit, erst am Ende der Aphorismenkette. Auch mit dem „sdlndischen Argwohn ber die Natur des Menschen“ macht er es kurz, gibt nur einen knappen Hinweis auf „die Erbschaft des tiefen Orients, des uralten geheimnissreichen Asien und seiner Contemplation“.343 Nheres hatte er schon in JGB 48 ausgefhrt: Verstande ist und ob er nicht mit Kaltwasserbdern zu behandeln ist: so unbegreiflich ist es mir, dass dicht neben mir, nach einem 8jhrigen vertrauten Umgange, sich dies Gespenst erhebt. Und zuletzt bin i c h es noch, auf dem der Makel dieser Conversion hngen bleibt. Weiss Gott, ich sage das nicht aus egoistischer Frsorge; aber auch ich glaube etwas Heiliges zu vertreten und ich schme mich tief, wenn ich dem Verdachte begegne, dass ich irgend was mit diesem mir grundverhassten katholischen Wesen zu thun htte.“ (Brief an Rohde, 28. Februar 1875, KGB II/5, Bf.430) Heftige Ausbrche dieser Art sind bei Nietzsche selten. Protestanten brauchen die „protestantische Luft“ auch noch, wenn sie Atheisten geworden sind. 342 Zu Nietzsches wichtigsten historischen, theologischen und religionswissenschaftlichen Quellen vgl. Sautet, Notes, 515, Fn. 398, Orsucci, Orient – Okzident, 281 – 313, und Figl, Nietzsche und die Religionen, passim. 343 Zu Nietzsches Quellen dazu vgl. Figl, Nietzsche und die Religionen, 66 – 77 (Kenntnisse aus Nietzsches Schulzeit) und 287 – 292. Zu mçglichen methodischen
226 8. Was freie Geister immer noch von religiçsen Menschen lernen kçnnen Es scheint, dass den lateinischen Rassen ihr Katholicismus viel innerlicher zugehçrt, als uns Nordlndern das ganze Christentum berhaupt: und dass folglich der Unglaube in katholischen Lndern etwas ganz Anderes zu bedeuten hat, als in protestantischen – nmlich eine Art Empçrung gegen den Geist der Rasse, whrend er bei uns eher eine Rckkehr zum Geist (oder Ungeist –) der Rasse ist. Wir Nordlnder stammen unzweifelhaft aus Barbaren-Rassen, auch in Hinsicht auf unsere Begabung zur Religion: wir sind s c h l e c h t fr sie begabt. (JGB 48)
Whrend sich der Kirchenglaube im Sden, so Nietzsches kulturhistorische Spekulation, gegen die im Hellenismus vorherrschende gebildete Skepsis durchsetzen musste und sich dadurch eingewurzelt hat, berlagerte er im Norden nur die Barbarei; eben weil man hier den Glauben als etwas Fremdes annahm, warf man ihn umso leichter wieder ab „(der Norden war immer gutmthiger und flacher als der Sden)“. Bei sdlichen Menschen dagegen musste der Argwohn im Glauben fortgelebt und die Neugierde wachgehalten haben, so dass er sich Freiheiten schaffen konnte wie die ,frçhliche Wissenschaft‘ der Troubadours, die Kunst der Renaissance und den weltlichen Leichtsinn der Papstfamilie Borgia. Im Sden glaubte Nietzsche seinen Argwohn wiederzufinden, dorthin gingen die Vorlieben auch des von ihm so verehrten Stendhal, dort atmete er auf, dort konnte er leben: Ich habe nicht Kraft genug fr den Norden: dort herrschen die schwerflligen und knstlichen Seelen, die so bestndig und nothwendig an Maßregeln der Vorsicht arbeiten als der Biber an seinem Bau. Unter ihnen habe ich meine ganze Jugend verlebt! das fiel ber mich her, als ich zum 1. Male den Abend ber Neapel heraufkommen sah, mit seinem sammtnen Grau und Roth des Himmels – wie ein Schauder Mitleid mit mir, daß ich mein Leben damit anfieng, alt zu sein, und Thrnen und das Gefhl, noch gerettet zu sein, im letzten Augenblick. (N 1881, 12[181], KSA 9.607) Erschließungen der komplexen Erbschaft vgl. inzwischen Braudel, Das Mittelmeer. Mit seiner Unterscheidung einer langsam fließenden Geschichte geographischer und klimatischer Vernderungen (histoire quasi immobile), einer schon beweglicheren Geschichte der Vernderung sozialer, kultureller, çkonomischer und politischer Strukturen (longue dure) und der vergleichsweise oberflchlich und rasch verlaufenden Geschichte politischer Ereignisse (histoire vnementielle) trifft Braudel Intentionen Nietzsches. – Zu Nietzsches Vorliebe fr den Sden vgl. die Beitrge in: Stiftung Nietzsche-Haus in Sils-Maria (Hg.), A. T. Schaefer, Nietzsche. Sden, und Campioni, ,Gaya scienza‘, 25 – 27, 30 – 37, und Campioni, Der Sden und die Renaissance, 159 – 233, bes. 180 – 182. – Montesquieu, der der geographisch-klimatischen Bedingtheit des ,Geistes‘ in De l’esprit des loix (1748) umfassend nachgegangen ist, erwhnt Nietzsche zuweilen, aber nicht im Hinblick auf die Nord-Sd-Unterscheidung.
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Und dann setzt er triumphierend hinzu: „ich habe Geist genug fr den Sden“. Nietzsche belsst es bei solchen Andeutungen, berlsst es dem Leser auch, seine typisisierenden Entgegensetzungen aufeinander zu beziehen und ineinander einzutragen. So wre das Volk des sdlichen Europa wohl wiederum in dessen Vçlker und deren Eigenheiten und Erbschaften in ihrem „Argwohn ber die Natur des Menschen“ zu differenzieren. Davon hat Nietzsche ebenfalls schon in JGB, vor allem im Kapitel „Vçlker und Vaterlnder“, gehandelt. Auch dass „der Protestantismus […] ein Volksaufstand zu Gunsten der […] Oberflchlichen“ im Norden gewesen sei und dass „die franzçsische Revolution […] dem ,guten Menschen‘ das Scepter vollends und feierlich in die Hand gegeben“ habe, lsst er unverbunden nebeneinander stehen. Der Leser soll sich selbst daran erinnern, dass gerade der Protestantismus seinen Stolz darein legte, das Christentum ,schwerer‘ und ,tiefer‘ zu verstehen, und (berzeugt protestantische) Philosophen des Deutschen Idealismus wie Kant, Fichte, Hegel und Schleiermacher es auch so begriffen, den protestantischen Christen zugleich aber bis in seine tiefsten Wurzeln hinab zum ,guten Menschen‘ entnatrlichten und vermoralisierten,344 dass freilich auf anderen Wegen auch das katholische Frankreich die Idealisierung und Moralisierung des Menschen vorangetrieben und mit der Revolution in Politik umgesetzt hatte, teils zur Begeisterung, teils zum Befremden und Erschrecken der deutschen Denker, und dass beide, die protestantischen Deutschen und die katholischen Franzosen, so in den ,modernen Ideen‘ und in der Gegnerschaft zur Kirche zusammenfanden. Nietzsches Typisierungen, die mehr durch persçnliche Erlebnisse als durch wissenschaftliche Erkenntnisse plausibel werden, sind, das ist ihm klar, kaum dingfest zu machen und ließen sich leicht durch andere konterkarieren. Dennoch geben sie Richtungen vor, wo man zu suchen und zu fragen hat, wenn es um die Befreiung des philosophischen Denkens geht: nicht auf dem berschaubaren Feld der Inhalte des Glaubens, hier der Dogmen der Kirche, die man begrnden oder widerlegen kann – Nietzsche bergeht sie in der ganzen Aphorismenkette vçllig –, sondern in den verborgenen Tiefen psychologischer, soziologischer und natrlicher Bedingungen des Glaubens, hier des religiçsen, die sonst kaum auffallen.
344 Vgl. GM III 19: „Diese ,guten Menschen‘, – sie sind allesammt jetzt in Grund und Boden vermoralisirt und in Hinsicht auf Ehrlichkeit zu Schanden gemacht und verhunzt fr alle Ewigkeit: wer von ihnen hielte noch eine W a h r h e i t ,ber den Menschen‘ aus! …“
228 8. Was freie Geister immer noch von religiçsen Menschen lernen kçnnen 8.1.3. Ehrung religiçser Menschen? Der Titel des Aphorismus „Z u E h r e n d e r h o m i n e s r e l i g i o s i“ scheint in Verbindung mit seinem Auftakt „Der Kampf gegen die Kirche“ eine Ehrung der Mnner der Kirche anzukndigen. Doch nach Nietzsches Kritik der „Verehrungen“ in FW 346 wird man auch hier auf der Hut sein mssen. Spricht er, was seine Kritik an Religion und Kirche ja nahelegt, ironisch? Wen meint er mit „homines religiosi“? Das lateinische ,religiosus‘ bedeutet wohl ,gottesfrchtig, fromm‘, in erster Linie aber ,voller Bedenken‘, ,skrupulçs‘, ,gewissenhaft‘; von Tempeln, gçttlichen Zeichen und Gçttern gesagt hat es den Sinn von ,heilig‘, von einem Tag oder einem Tun aber auch ,unheilvoll‘. Nimmt man das ganze Spektrum zusammen, wren ,homines religiosi‘ religiçse Menschen, die auch gegen ihre Religion noch argwçhnisch sind, ihre Dogmen aus Religiositt in Frage stellen und dadurch unheilvoll wirken oder aber heilig gesprochen werden kçnnen. Nietzsche gebraucht die lateinische Formel im verçffentlichten Werk nur hier und noch einmal in FW 358, zuvor in JGB 45 und 59, und stets im Sinn des ganzen Bedeutungsspektrums.345 In JGB 45 bezeichnet er so Pascal, den er seit den UB regelmßig in seine Schriften einbezieht, dessen „Augen“ er stets auf sich „geheftet“ sieht und von dem er sich wie von nur wenigen „Recht und Unrecht geben lassen“ will (MA II, VM 408); „in der Vereinigung von Gluth, Geist und Redlichkeit“ war er fr ihn „der erste aller Christen“ (M 192). „Um zum Beispiel zu errathen und festzustellen,“ schreibt er in JGB, „was fr eine Geschichte bisher das Problem von W i s s e n u n d G e w i s s e n in der Seele der homines religiosi gehabt hat, dazu msste Einer vielleicht selbst so tief, so verwundet, so ungeheuer sein, wie es das intellektuelle Gewissen Pascal’s war“ (JGB 45); sein Glaube sehe „auf schreckliche Weise einem dauernden Selbstmorde der Vernunft 345 In M 66 spricht Nietzsche nur von „religiosi“ („Und im Grunde gehen die mittelalterlichen Lebensvorschriften aller hçheren Naturen (der religiosi) darauf hinaus, den Menschen der V i s i o n fhig zu machen!“). Vgl. N 1880, 4[132], KSA 9.134, und N 1880, 4[165], KSA 9.143. Bekannt war ihm die Formel ,homo religiosus / homines religiosi‘ wohl durch Cicero, De natura deorum IV, 3 (vgl. u. a. auch Epistulae ad familiares I, 7/8, 4), Livius (Ab urbe condita 24, 10), Seneca (De tranquillitate animi 11, 2) und Augustinus (De civitate Dei 22,8). Auch im Mittelalter war die Formel gebruchlich, zu Nietzsches Zeit, wie umfangreiche Recherchen von Andreas Rupschus ergaben, jedoch nicht. Erst Nietzsche hat sie zum Schlagwort gemacht. Seither tauchte sie regelmßig dort auf, wo Menschen nach Grundhaltungen typisiert wurden, meist aber ohne Berufung auf Nietzsche. Vgl. Hofstee, Art. Homo religiosus. Nietzsche wird auch hier nicht erwhnt. Das HWP hat gar keinen Artikel ,homo religiosus‘, auch keinen Verweis darauf.
8.1. „Argwohn ber die Natur des Menschen“. Nr. 350
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hnlich“ (JGB 46; vgl. EH klug 3). Das kann kaum ironisch gemeint sein. Fr sich nannte Nietzsche die „{grblerische} Selbstverachtung“, den „Glauben an die {menschliche} Unwrdigkeit{, der sich immer neue Beweise und Foltern sucht}“, die „Angst des ,Vielleicht-Verurtheilten‘, aus der heraus der Schrei einer unbegrenzten Begierde nach Errettung kommt“, kurz „Pascalismus“ (N 1885/86, 2[144], KSA 12.138 / W I 8, S. 77). Pascal blieb fr ihn bis zuletzt der „Typus“ des homo religiosus (N 1888, 14 [6], KSA 13.220 / W II 5, S. 187).346 In JGB 46 vergleicht er den Glauben Pascals mit dem „Glauben, wie ihn das erste Christenthum verlangt und nicht selten erreicht hat,“ einem Glauben inmitten jener „skeptischen und sdlich-freigeisterischen Welt, die einen Jahrhunderte langen Kampf von Philosophenschulen hinter sich und in sich hatte, hinzugerechnet die Erziehung zur Toleranz, welche das imperium Romanum gab“; in Pascal ist der „sdlndische Argwohn gegen die Natur des Menschen“ also prototypisch. In JGB 59 rhmt Nietzsche dann die „homines religiosi“ fr ihre „Weisheit“ und ihren „erhaltenden Instinkt“, „flchtig, leicht und falsch zu sein“, fr ihren „Cultus der Oberflche“. Man kçnne ihn gerade dann „n ç t h i g“ haben, wenn man „irgend wann einmal einen unglckseligen Griff u n t e r sie gethan hat“. Und so „kçnnte“ man solche Menschen, die aus tiefer Erfahrung des Lebens dessen „Bild verflscht, verdnnt, verjenseitigt, vergçttlicht zu sehn wnschen“, „mit unter die Knstler rechnen, als ihren h ç c h s t e n Rang“. Ihr Wille zur Oberflche komme aus einem „unheilbaren Pessimismus, der ganze Jahrtausende zwingt, sich mit den Zhnen in eine religiçse Interpretation des Daseins zu verbeissen: die Furcht jenes Instinktes, welcher ahnt, dass man der Wahrheit z u f r h habhaft werden kçnnte, ehe der Mensch stark genug, hart genug, Knstler genug geworden ist“ (JGB 59). Homines religiosi sind danach Menschen, denen das „grçsste neuere Ereigniss, – dass ,Gott todt ist‘“, bedrohlich nahegerckt ist und die sich aus religiçser Not ihre Art von Heiterkeit erworben haben, ohne dass ihnen schon die „Morgenrçthe“ eines freien Horizonts aufgegangen wre (FW 343): „Die Frçmmigkeit, das ,Leben in Gott‘, mit diesem Blicke betrachtet, erschiene dabei als die feinste und letzte Ausgeburt der F u r c h t vor der Wahrheit, als Knstler-Anbetung und -Trunkenheit vor der consequentesten aller Flschungen, als der Wille zur Umkehrung der Wahrheit, zur Unwahrheit um jeden Preis. Vielleicht, dass es bis jetzt kein strkeres Mittel gab, den Menschen selbst zu verschçnern, als eben Frçmmigkeit: durch sie kann der Mensch so sehr Kunst, 346 Vgl. Vivarelli, Nietzsche und die Masken des freien Geistes, und Willers, Distanz aus Nhe, 121 – 130.
230 8. Was freie Geister immer noch von religiçsen Menschen lernen kçnnen Oberflche, Farbenspiel, Gte werden, dass man an seinem Anblicke nicht mehr leidet.“ (JGB 59) Damit stehen homines religiosi Nietzsche so nahe wie seinem Zarathustra die ,hçheren Menschen‘: sie haben nur den letzten Schritt nicht getan, aus dem „Argwohn ber die Natur des Menschen“ heraus, auf dem „die ganze rçmische Kirche ruht“, sich vom Kirchenglauben selbst zu befreien. Er kann sie ehren fr ihr argwçhnisches, bis zum ußersten Zweifel getriebenes religiçses Ringen mit sich selbst und kann auch eine Kirche ehren, die solche Menschen beheimatet hat. Auch wenn Nietzsche als Protestant, der aus Redlichkeit auch noch seinen Protestantismus berwunden hat, die Kirche und die Dogmen, auf denen sie bestand, nicht schtzen konnte, so ehrte er doch ihre Art, auf jenem Argwohn zu „ruhen“. Daraus mssten die noch lernen kçnnen, die sich zu freien Geistern durchzuringen versuchen. In einem Notat hat Nietzsche drei „Phasen“ eines freien Geistes in seiner Stellung zur Religion unterschieden. Die erste ist „{Verlust, Oede, einbegriffen in} das Gefhl der Untreue u. Undankbarkeit, Loslçsung, {alles berwogen durch die Bewußth.}die unwiderrufliche {bittere Gewißheit}“. Die zweite ist „das Gefhl der Verehrung {der ehrfurchtsvollen Rcksicht} u. eines scheuen Ernstes {(mit großer Milde gegen die h. religiosi)}“, die dritte das „Gefhl der berlegenen u. gtigen Heiterkeit gegen sie alle Religionen u. eine Art von {gemischt mit einer leichten} Geringschtzung gegen die Redlichkeit {Unsauberkeit} des {intell.} Gewissens, solche welche es {immer noch} Vielen erlaubt, noch religiçs zu sein {oder einem kaum verhehlten Erstaunen, daß es mçglich ist zu [,]glauben‘}“ (N 1885/86, 1[190], KSA 12.53 f. / N VII 2, S. 68).
8.2. „Opfer“ fr das „Volk“ Nr. 351: Z u E h r e n d e r p r i e s t e r l i c h e n N a t u r e n . Der Titel von FW 351 ist dem von FW 350 sehr hnlich: „Z u E h r e n d e r p r i e s t e r l i c h e n N a t u r e n“. Nietzsche verklammert die beiden Aphorismen demonstrativ. In FW 351 ist es freilich „das Volk“, das verehrt; die hnlichkeit der Titel verbirgt einen Perspektivenwechsel. Doch Nietzsche schiebt gleich ein: „(und wer ist heute nicht ,Volk‘? –)“. Auch „die Philosophen“, zumal wenn sie verehren? Die „p r i e s t e r l i c h e n N a t u r e n“ kçnnten ebenfalls „homines religiosi“ sein. Aber es sind nun „die milden, ernst-einfltigen und keuschen Priester-Naturen“, an denen das Volk eine „kluge kuhmssige Gemthsstille, Frçm-
8.2. „Opfer“ fr das „Volk“. Nr. 351
231
migkeit und Landpfarrer-Sanftmuth“ verehrt, „welche auf der Wiese liegt und dem Leben ernst und wiederkuend z u s c h a u t“. Die Verehrung des Volkes gilt nicht dem Argwohn der homines religiosi und der Philosophen, sondern der „Weisheit“, so wie es die Weisheit versteht; die hnlichkeit der Titel verbirgt also auch einen Themenwechsel. Es sind freilich wiederum die Philosophen, die die Weisheit im Namen tragen. Nietzsche irritiert gezielt die Zuschreibungen: „Fhlen“ sich die Philosophen nun zu Recht in Distanz zum religiçsen Volk oder haben sie im Gegenteil von dessen Verehrungen noch zu lernen? 8.2.1. Distanz und Nhe des Philosophen zum Volk FW 350 war noch ganz aus der distanzierten Perspektive auf das Volk formuliert, und auch FW 351 setzt noch mit der Perspektive auf „das Volk“ und die Distanz der „Philosophen“ zu ihm ein („Ich denke“). Dann wechselt Nietzsche zuerst in die Perspektive des Volkes auf die „priesterlichen Naturen“, in der die Distanz der Philosophen verlorenzugehen droht, und schließlich in die Perspektive der Philosophen auf die Priester und das Volk, in der die Distanz neu behauptet wird. Doch nun bleibt ein ungeschriebenes Fragezeichen. Wer ist „das Volk“? Nietzsche gebraucht das Wort in FW 350 und zu Beginn von FW 351 zunchst ohne Gnsefßchen, dann zwei Mal mit Gnsefßchen, dann wieder fnf Mal ohne und zwei Mal mit. Wir werden seinen Gebrauch der Gnsefßchen spter thematisieren (NSM 10). Hier unterscheiden sie das Volk an sich (ohne Gnsefßchen) und das ,Volk‘ in der Perspektive der Philosophen (mit Gnsefßchen). Philosophen glauben danach das Volk anders und besser zu verstehen, als es sich selbst versteht; doch mit der Eingangsparenthese werden sie gewarnt, dessen zu sicher sein. ,Volk‘ kann vielerlei bedeuten, auch bei Nietzsche. Im V. Buch der FW verwendet er das Wort selten im Sinn von ,Stand‘ oder lat. ,plebs‘ (FW 349, 361), hufiger im Sinn von ,Ethnie‘ oder ,Nation‘ (FW 345, 348, 353, 361, 362, 377), am meisten aber und so auch in dieser Aphorismenkette zur Kirche, den religiçsen Menschen und Religionsstiftern im Sinn der berwiegenden Menge alltglicher und ihren Alltag ruhig bestreitender Menschen (FW 350, 351, 354, 355, 358, 359, 362, 368, 382). In diesem dritten Sinn glauben Philosophen sich vom Volk zu unterscheiden. „Die Philosophen“ sind hier sichtlich Philosophen in Nietzsches Sinn, die das Zeug zu freien Geistern haben, Philosophen mit „der grossen
232 8. Was freie Geister immer noch von religiçsen Menschen lernen kçnnen L e i d e n s c h a f t des Erkennenden, der bestndig in der Gewitterwolke der hçchsten Probleme und der schwersten Verantwortlichkeiten lebt, leben muss“, Philosophen, die skeptisch gerade gegen „Weisheit“ und „ganz und gar nicht zuschauend, ausserhalb, gleichgltig, sicher, objektiv“ sind, also vom Glauben an einen lebensenthobenen theoretischen Standpunkt Abschied genommen haben. Wenn das Volk ,zuschauende‘, am alltglichen Leben nicht beteiligte, zu diesem Opfer bereite Menschen will, so ist die Leidenschaft der Philosophen, wie Nietzsche sie sich denkt, eben darin „gross“, dass sie auch ihren eigenen Standpunkt mit Leidenschaft in Frage stellen. Aber Nietzsche lsst sie ihrer Distanz zum Volk auch hierin nicht sicher sein. Sie wollen schon, schreibt er, „daran glauben lernen, dass das Volk Etwas von dem verstehn d r f t e, was ihm am fernsten liegt“. Aber so sehr sie es wnschen mçgen, so sehr auch ihnen an der Verehrung des Volkes liegen mag, werden sie doch „am sptesten“ daran glauben. Und auch Nietzsche seinerseits glaubt das nur („wohl“). Die leidenschaftlichen Philosophen bleiben unsicher. 8.2.2. Ehrung des Opfers Von den „p r i e s t e r l i c h e n N a t u r e n“ in der katholischen Kirche hat Nietzsche schon in MA gesprochen: Keine Macht lsst sich behaupten, wenn lauter Heuchler sie vertreten; die katholische Kirche mag noch so viele ,weltliche‘ Elemente besitzen, ihre Kraft beruht auf jenen auch jetzt noch zahlreichen priesterlichen Naturen, welche sich das Leben schwer und bedeutungstief machen, und deren Blick und abgehrmter Leib von Nachtwachen, Hungern, glhendem Gebete, vielleicht selbst von Geisselhieben redet; Diese erschttern die Menschen und machen ihnen Angst: wie, wenn es n ç t h i g wre, so zu leben? – diess ist die schauderhafte Frage, welche ihr Anblick auf die Zunge legt. (MA I 55)
Dies glte auch fr einen Mann wie Pascal. Nietzsche bezieht ausdrcklich aber auch die ein, die Pascal seinerseits scharf angegriffen und zum Gespçtt gemacht hat, die Jesuiten. Bei all ihrer „Schlauheit“ und „verruchten Kunst“ seien sie doch fr ihre „Selbstberwindung“ im Dienst anderer, des Laienstands, zu achten. Und schon hier fragt Nietzsche zuletzt, „ob wir Aufgeklrten bei ganz gleicher Taktik und Organisation eben so gute Werkzeuge, ebenso bewundernswrdig durch Selbstbesiegung, Unermdlichkeit, Hingebung sein wrden“ (MA I 55). Die Jesuiten kçnnten auch fr Philosophen ein Vorbild sein – darin, dass und wie sie sich opfern.
8.2. „Opfer“ fr das „Volk“. Nr. 351
233
In FW 351 bringt Nietzsche die Selbstberwindung im Dienst der Kirche auf den Begriff des Opfers. Er steht im Mittelpunkt des Aphorismus. Das Volk ehrt priesterliche Naturen, weil sie sich opfern, ihm und Gott zugleich. Der Begriff des Opfers hat im V. Buch der FW nur hier herausragendes Gewicht. Doch auch sonst gebraucht ihn Nietzsche im Sinn des Opfers seiner selbst oder eines Stcks seiner selbst. Wissenschaftler opfern aus berzeugung andere berzeugungen (FW 344), man verlegt „das Charakteristicum der moralischen Handlung“ in das „Selbstlose, Selbstverleugnende, Sich-Selbst-Opfernde“ (FW 345), Lebewesen opfern zur Machterweiterung oft genug ihre Selbsterhaltung (FW 349), fast alle heutigen Europer in einem vorgerckten Alter werden heute Opfer ihres „,guten Spiels‘“ und sind nicht mehr imstande, sich weitreichenden Plnen zum Opfer zu bringen (FW 356), Gelehrte werden Opfer ihres Fachs (FW 366),347 und unsere christlichen Vorfahren haben „ihrem Glauben willig Gut und Blut, Stand und Vaterland zum Opfer gebracht“ (FW 377). berall ist das Selbstopfer tief einverleibt, fast selbstverstndlich geworden. Dass auch andere geopfert werden zum Vorteil des Opfernden oder eines Dritten, tritt hier zurck. Das Selbstopfer ist eines der Themen, die Nietzsche nicht losgelassen haben, die ihn selbst so irritierten und faszinierten, dass sie ihn mit ,gefhrlichen Konsequenzen‘ und ,ungeheuren Gedanken‘ experimentieren ließen. Es ist in seinem Werk von Anfang an gegenwrtig.348 Das Wort ,Opfer‘ hat religiçsen Ursprung. Es stammt von lat. ,operari‘, ,beschftigt sein, an etwas arbeiten‘, v. a. aber ,einer Gottheit dienen, Opfer bringen‘. Ein Opfer ist die gewissenhafte, durch hohe und hçchste Zwecke gerechtfertigte Zerstçrung oder Tçtung meist von Tieren, in manchen alten Religionen und Mythen auch von Menschen. Die christliche Religion wagte das irritierendste und faszinierendste Opfer: Gott opfert seinen eigenen, unschuldigen Sohn zur Erlçsung der Menschen von deren Schuld, opfert ihn also zu Gunsten Dritter, sofern er aber als Sohn Gottes auch Gott selbst ist, zugleich sich selbst (vgl. GM II 21).349 Das freiwillige Opfer des eigenen Lebens gab und gibt es auch in der 347 Vgl. schon SE, wonach junge Leute „wie eine verlorne Schaar sich ihr [der Wissenschaft] zu opfern angelehrt werden, um wieder neue Geschlechter zu dieser Opferung heranzuziehen“ (SE 2, KSA 1.343 f.), ohne dass sie, „obwohl in einen elenden Winkel gebannt,“ etwas von ihrer Aufopferung fhlen (SE 6, KSA 1.396). 348 Nietzsche war dem Opfergedanken viel zu tief verbunden, als dass er sich der billigen aufklrerischen Kritik des Opfers als Priesterbetrug htte anschließen kçnnen. Vgl. Seigfried/Lorenz/Schrçder, Art. Opfer. Die hier angefhrten Bemerkungen zu Nietzsches eigenem Denken des Opfers sind erstaunlich oberflchlich. 349 Das Christentum hebt im Sinn von Girard, Das Heilige und die Gewalt, das religiçse Opfer anderer Menschen im Selbstopfer auf. Girard besttigt, dass Nietzsche dies schon gesehen und in FW 125 auch den kollektiven Gottesmord thematisiert habe, durch den der scheinbar tote Gott erst zu existieren beginne (Girard, The Founding Murder in the Philosophy of Nietzsche, und Girard, Nietzsche gegen den Gekreuzigten, 96 und 105 – 113). Im brigen verquickt
234 8. Was freie Geister immer noch von religiçsen Menschen lernen kçnnen Politik und im Krieg; die alten Griechen waren, so der frhe Nietzsche, „einer so furchtbaren Entfesselung des politischen Triebes, einer so unbedingten Hinopferung aller anderen Interessen im Dienste dieses Staateninstinktes“ fhig wie kein anderes Volk der Geschichte, suchten sich besonders dadurch voreinander auszuzeichnen (CV 3, KSA 1.771). Im Christentum weicht der Ehrgeiz des Selbstopfers der Demut, und als demtiges Selbstopfer behielt es auch noch in Schopenhauers unbedingtem Atheismus hçchsten moralischen Wert. Gerade er verlangte „Hinopferung des Ich’s, Unterwerfung unter die edelsten Absichten, vor allem unter die der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit.“ (SE 3, KSA 1.357) Als Nietzsche noch eine Art Priester der Schopenhauerschen Philosophie war, wollte er auch ein „Schopenhauerischer Mensch“ werden, „also fr sich und sein persçnliches Wohl rein und von wundersamer Gelassenheit, in seinem Erkennen voll starken verzehrenden Feuers und weit entfernt von der kalten und verchtlichen Neutralitt des sogenannten wissenschaftlichen Menschen, hoch emporgehoben ber griesgrmige und verdriessliche Betrachtung, sich selbst immer als erstes Opfer der erkannten Wahrheit preisgebend, und im tiefsten von dem Bewusstsein durchdrungen, welche Leiden aus seiner Wahrhaftigkeit entspringen mssen.“ (SE 4, KSA 1.372) Auch durch Wagners Werk fand er sich darin besttigt („Die Einzelnen kçnnen gar nicht schçner leben, als wenn sie sich im Kampfe um Gerechtigkeit und Liebe zum Tode reif machen und opfern“; WB 4, KSA 1.451) und trumte, wie er sich in einem Notat dick unterstrich, von „e i n e r G e nossenschaf t von Menschen, welche unbedingt sind, k e i n e S c h o n u n g k e n n e n u n d , Ve r n i c h t e r ‘ h e i s s e n w o l len : sie halten an alles den Maassstab ihrer Kritik und o p f e r n s i c h d e r W a h r h e i t.“ (N 1875, 5[30], KSA 8.48) Dies blieb sein „heisses Verlangen“ (SE 4, KSA 1.372) auch noch, nachdem er sich von Schopenhauer und Wagner gelçst hatte. Doch nun hinterfragte er das Pathos dieses Sichaufopferns (vgl. MA I 49). Dass sich jemand fr etwas aufopfert, besagt noch nichts ber dessen Wert, Wahrheit und Recht (vgl. MA I 53, 229, 359, FW 13). Man bertrage zu leicht die „E h r e v o n d e r P e r s o n a u f d i e S a c h e“ (MA I 77). Das gilt auch fr die Wahrheit: „wahrscheinlich hat noch nie Girard, ohne nhere Kenntnis der Nietzsche-Forschung außer Heidegger, allzu oberflchlich Nietzsches Gedanken vom Tod Gottes mit dem Wiederkunftsgedanken und Nietzsches Philosophie im Ganzen mit seinem Wahnsinn und seiner faschistischen Rezeption (Girard, Superman in the Underground, und Girard, Ich sah den Satan vom Himmel fallen). Nietzsche hat zum Gottesopfer – fr sich – weitere eindringliche Fragen gestellt: „Der Mangel am E d e l m t h i g e n in den Voraussetzungen des Christenthums 1) wozu mußte die Gerechtigkeit Gottes ein Opfer haben? Der Martertod Chr war nicht nçthig außer bei einem Gott der Rache (der sich berdieß den S t e l l v e r t r e t e r gefallen lßt: ohne Generositt!) 2) wozu ist der Glaube an Chr nçthig, wenn es sein Wille ist, den Menschen zu helfen! 3) wozu der deus absconditus!“ (N 1880, 7[249], KSA 9.369; vgl. dazu zuletzt noch N 1888, 15[110], KSA 13.469 – 471). Nietzsches Denken des Opfers ist, soweit ich sehe, noch wenig erforscht. Vgl. jedoch die Anstze dazu bei Keenan, The Question of Sacrifice, 59 – 73, und Caussy, The Theory of Sacrifice in Nietzsche and Joseph de Maistre.
8.2. „Opfer“ fr das „Volk“. Nr. 351
235
ein Mensch sich fr die Wahrheit geopfert; […] eigentlich wollte man Recht behalten, weil man meinte, Recht haben zu m s s e n.“ (MA I 630). Die „schwrmerische opfer- und todbereite Glcks-Innigkeit im Glauben und Schauen s e i n e r ,Wahrheit‘ als der letzten Wahrheit“ tue „jedem Menschen gelegentlich wohl“ (MA II, VM 98), in der Selbstaufopferung suche man die genugtuende „Nachbarschaft alles Grossen und hoch Erregenden“ (MA I 138), und so erhçhe auch eine Gattin ihren Gatten (und damit wieder sich selbst), indem sie sich ihm als „f r e i w i l l i g e s O p f e r t h i e r“ ergibt (MA I 430; vgl. MA II, WS 272); ein Opfer kann auch noch in der Entsagung Ehrgeiz verbergen (FW 27). Die „M o r a l d e r O p f e r t h i e r e“ kann der bloße Genuss des „Rausches“ sein, „eins zu sein mit dem Mchtigen, sei es ein Gott oder ein Mensch, dem ihr euch weiht: ihr schwelgt in dem Gefhle seiner Macht, die eben wieder durch ein Opfer bezeugt ist.“ (M 215)350 Nchtern betrachtet ist Aufopferung berall, nicht nur bei der moralischen und religiçsen, sondern „bei j e d e r Handlung, die mit Ueberlegung gethan wird“ (MA II, VM 34), nicht nur in der gelehrten Wissenschaft (vgl. MA II, VM 206), sondern auch in der Aufrechterhaltung jeglicher Sitte gegen Abweichler (vgl. MA II, VM 89; M 9). „Tugenden (wie Fleiss, Gehorsam, Keuschheit, Piett, Gerechtigkeit) [sind] ihren Inhabern meistens s c h d l i c h […]. Wenn du eine Tugend hast, eine wirkliche, ganze Tugend (und nicht nur ein Triebchen nach einer Tugend!) – so bist du ihr O p f e r !“ (FW 21) So selbstlos sie scheinen, ntzen Tugenden doch allen, die nun Selbstlosigkeit, Selbstopferung auf Gegenseitigkeit erwarten kçnnen. Ist die Opfergesinnung erst tief genug einverleibt, sucht man Gelegenheiten, um sich (und andere) zu opfern, die Nation, den Staat, „eine Vçlker-Verbrderung“ (M 132, vgl. M 94, 140), oder will einfach „das allgemeine Gefhl der menschlichen M a c h t strken und hçher heben“ (M 146). Mit seinem Opfer kann man auch eine „Ausnahme“ darstellen wollen („Fr andere sich opfern ist ein Gelst, mit dem man zur Ausnahme wird“), die freilich, reflektierte Nietzsche fr sich weiter (N 1880, 6[168], KSA 9.240), wenn sie ihrerseits zur Regel wird, doch wieder „g e m e i n“ macht. Um „neuer Versuche des Lebens und der Gemeinschaft“ willen kçnnten darum wenigstens die „Redlichen und Wahrheitsuchenden“ aufhçren, die „Abweichenden, welche so hufig die Erfinderischen und Fruchtbaren sind,“ zu opfern (M 164). Andererseits kçnnte es „d e r l e t z t e E d e l s i n n“ sein, auch sein Ausnahme-sein-Wollen noch zu opfern und zum „Anwalt der Regel“ zu werden (FW 55). So msste das Opfer durch nchterne, ,vernnftige‘ Wert- und Zielsetzungen begrenzt werden (vgl. M 221, 295, 374, 420). Doch gerade die Wissenschaft kann solche Werte und Ziele nicht setzen – es sei denn, und da bricht sich Nietzsches „Leidenschaft“ wieder Bahn, fr sie selbst wrde alles geopfert: wenn berhaupt etwas, so kçnne es in ferner Zukunft (in „einigen Jahrtausenden“), schreibt er nun erneut, nur noch „die Erkenntniss der Wahrheit“ sein, fr die „kein Opfer zu gross“ sei. Er wagt nun den „ungeheuren Gedanken“ einer sich fr die Leidenschaft der Erkenntnis opfernden Menschheit (M 45 und 429).351 Hier kçnnte „jede Art von 350 Nietzsche bezieht im Notat N 1880, 5[14], KSA 9.184, darin auch sich selbst, seine einstmalige rauschhafte Verehrung fr Wagner ein. 351 Zur Opfermoral im Dienst der Erkenntnis, wie Nietzsche sie in M darstellt, vgl. Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis, 285 – 295. Nietzsche scheint, so
236 8. Was freie Geister immer noch von religiçsen Menschen lernen kçnnen Heroismus sich befriedigen“ in „einem Jahrhunderte langen Experimentiren, welches alle grossen Arbeiten und Aufopferungen der bisherigen Geschichte in Schatten stellen kçnnte.“ (FW 7)352 Bei aller kritischen und hypothetischen Reflexion des Opfers hlt Nietzsche selbst der Gedanke, sich seiner ,Aufgabe‘ zu opfern, geradezu am Leben.353 Mit ZA treibt er das Pathos des Selbstopfers in seine hçchste Hçhe: „Ich liebe Die, welche nicht erst hinter den Sternen einen Grund suchen, unterzugehen und Opfer zu sein: sondern die sich der Erde opfern, dass die Erde einst des bermenschen werde.“ (ZA Vorrede 4, KSA 4.17)354 Hier scheint er FW 351 vorwegzunehmen: „Und wahrlich, ihr berhmten Weisen, ihr Diener des Volkes! Ihr selber wuchset mit des Volkes Geist und Tugend – und das Volk durch euch! Zu euren Ehren sage ich das!“ Und hier bringt er auch den Begriff des Geistes ins Spiel, den er in FW 351 noch zurckhlt: „Aber Volk bleibt ihr mir auch noch in euren Tugenden, Volk mit blçden Augen, – Volk, das nicht weiss, was G e i s t ist! / Geist ist das Leben, das selber in’s Leben schneidet: an der eignen Qual mehrt es sich das eigne Wissen, – wusstet ihr das schon? / Und des Geistes Glck ist diess: gesalbt zu sein und durch Thrnen geweiht zum Opferthier, – wusstet ihr das schon?“ (ZA II Weisen, KSA 4.133 f.) Danach ist Geist seinerseits Selbstopfer … Doch in ZA IV ruft Nietzsche den Opfer-Begriff wieder zurck und ersetzt ihn durch den der bermßigen Gabe, der Verschwendung: „Dass ich von Opfern sprach und Honig-Opfern, eine List war’s nur meiner Rede und, wahrlich, eine ntzliche Thorheit! […] was opfern! Ich verschwende, was mir geschenkt wird, ich Verschwender mit tausend Hnden: wie drfte ich Das noch – Opfern heissen!“ (ZA IV Honig-Opfer, KSA 4.296) Mit JGB wchst sein Misstrauen gegen das Opfer erneut (vgl. JGB 33), auch gegen das Selbstopfer des Philosophen (vgl. JGB 25): „Es sind schçne glitzernde klirrende festliche Worte: Redlichkeit, Liebe zur Wahrheit, Liebe zur Weisheit, Aufopferung fr die Erkenntniss, Heroismus des Wahrhaftigen, – es ist Etwas daran, das Einem den Stolz schwellen macht.“ (JGB 230) Die Unabhngigkeit des Philosophen zeige sich gerade darin, sich fr nichts opfern zu wollen: „Man muss wissen, s i c h z u b e w a h r e n: strkste Probe der Unabhngigkeit.“ (JGB 41) Als ußerste Konsequenz des religiçsen Opfer-Gedankens sieht er nun, was er in FW 347 den „Nihilismus nach Petersburger Muster“ nennen wird, den Willen, den Brusotti, 287 f. mit Fn. 151, auch „keine bestimmte Idee davon zu haben“, wie diese „phantastische Vision“ sich verwirklichen kçnne. „Die Erkenntnis erscheint hier eher noch als Vorwand zum Opfer denn als dessen Ziel: Sie ist Funktion des Opfergedankens.“ Nietzsche denke sie sich als passionierte Liebe, die „im Grunde Nichts frchtet, als ihr eigenes Erlçschen“ (M 429). Mit FW 341 habe er die „wahnhafte Vorstellung“ dieses „Grenzgedankens“, an dem die Menschheit sich bewhren oder ber dem sie untergehen solle, durch den Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen ersetzt (290). 352 Vgl. M 501 und die spteren Notate N 1886/87, 7[6], KSA 12.280 f.; N 1888, 23 [3], KSA 13.602 f. 353 Vgl. N 1880, 6[289], KSA 9.271; N 1880, 7[91], KSA 9.335; N 1882/83, 4[227], KSA 10.174. 354 Vgl. ZA I Tugend 1, KSA 4.98.
8.2. „Opfer“ fr das „Volk“. Nr. 351
237
Glauben an Gott dem „G l a u b e n a n d e n U n g l a u b e n“ zu opfern (FW 347/7.3.2.1.–2.): Es giebt eine grosse Leiter der religiçsen Grausamkeit, mit vielen Sprossen; aber drei davon sind die wichtigsten. Einst opferte man seinem Gotte Menschen, vielleicht gerade solche, welche man am besten liebte, – dahin gehçren die Erstlings-Opfer aller Vorzeit-Religionen, dahin auch das Opfer des Kaisers Tiberius in der Mithrasgrotte der Insel Capri, jener schauerlichste aller rçmischen Anachronismen. Dann, in der moralischen Epoche der Menschheit, opferte man seinem Gotte die strksten Instinkte, die man besass, seine ,Natur‘; d i e s e Festfreude glnzt im grausamen Blicke des Asketen, des begeisterten ,Wider-Natrlichen‘. Endlich: was blieb noch brig zu opfern? Musste man nicht endlich einmal alles Trçstliche, Heilige, Heilende, alle Hoffnung, allen Glauben an verborgene Harmonie, an zuknftige Seligkeiten und Gerechtigkeiten opfern? musste man nicht Gott selber opfern und, aus Grausamkeit gegen sich, den Stein, die Dummheit, die Schwere, das Schicksal, das Nichts anbeten? Fr das Nichts Gott opfern – dieses paradoxe Mysterium der letzten Grausamkeit blieb dem Geschlechte, welches jetzt eben herauf kommt, aufgespart: wir Alle kennen schon etwas davon. – (JGB 55) Zuletzt macht Nietzsche es zum Kriterium der Rangordnung, ob jemand sich zum Opfer bestimmt sieht oder ber solchen Opfern steht. Wer ber ihnen steht, kann Gegenstand der Verehrung derer werden, die sich opfern wollen, und unumschrnkte Autoritt ber sie gewinnen. Gelingt ihm das, lebt er als „vornehme Seele“ im „unverrckbaren Glauben, dass einem Wesen, wie ,wir sind‘, andre Wesen von Natur unterthan sein mssen und sich ihm zu opfern haben.“ (JGB 265) Wenn eine solche Seele ihrerseits noch opfert, dann einem Gott, den sie sich selbst erschaffen hat, wie Nietzsche Dionysos als dem Gott seines Philosophierens; wenn sie sich selbst opfert, dann nur noch fr sich selbst (vgl. JGB 295). Nach dem V. Buch der FW bringt Nietzsche das Thema Opfer in GM und AC in seine Genealogie der Moral und der christlichen Religion ein und gibt ihm neue Prgnanz einerseits im Begriff des asketischen Ideals, das dazu anhlt, sich seiner Moral als seiner einzigen Gewissheit zu opfern, und andererseits im ,Typus Jesus‘, der seiner evangelischen Praktik und Heilsgewissheit alle andere Gewissheit opfert, auch die der Moral („die Unfhigkeit zum Widerstand wird hier Moral“, AC 29) und aller Realitt (vgl. AC 29 – 33).355
Wenn das Volk priesterliche Naturen fr ihr Opfer ehrt, geht es also auch um Macht, Geist und Rangordnung. Aber Nietzsche nennt sie in FW 351 nicht und auch nicht die Opfer der karitativen Hilfe, der Armen- und Krankenpflege, der Bildungseinrichtungen, die die Kirche bereitstellt. Er nennt nur die „Weisheit“ der Priester und legt diese Weisheit in ihre Kraft, zuhçren, die Beichte abnehmen, jedem Einzelnen sich çffnen und ihm gerecht werden zu kçnnen: „Hier gebietet eine grosse Nothdurft: [das 355 Zimmermann, Menschenopfer – Gottesopfer, verweist auf starke Parellelen des Dionysos- und Christus-Opfers.
238 8. Was freie Geister immer noch von religiçsen Menschen lernen kçnnen Volk] bedarf nmlich auch fr den seelischen Unrath der Abzugsgrben und der reinlichen reinigenden Gewsser drin, es bedarf rascher Strçme der Liebe und starker demthiger reiner Herzen, die zu einem solchen Dienste der nicht-çffentlichen Gesundheitspflege sich bereit machen und opfern – denn es i s t eine Opferung, ein Priester ist und bleibt ein Menschenopfer…“356 Er wird das fr die Priester in FW 358 wiederholen („der christliche Priester selbst […], dessen tiefste Ntzlichkeit immer die gewesen ist, ein heiliges Ohr, ein verschwiegener Brunnen, ein Grab fr Geheimnisse zu sein“), und er wird es in FW 378 auch von den „Freigebigen und Reichen des Geistes“ sagen, den freien Geistern, die ,geben‘ und dadurch ,schaffen‘ kçnnen, den Philosophen hçchsten Ranges. So aber stnden freie Geister „p r i e s t e r l i c h e n N a t u r e n“ denkbar nahe, wren ebenfalls „Menschenopfer“. Sollten sie es sein, kçnnten sie es sein? Priester, so schließt Nietzsche den Abschnitt zur Perspektive des Volkes auf sie, nehmen dem Volk die „Unsicherheit“, geben ihm Halt, eine feste Orientierung, die im religiçsen Glauben des Volkes von Gott kommt und an der sie ihr Leben ausrichten. Dadurch ,befehlen‘ sie ihm in Nietzsches Sinn (FW 347/7.2.2.5.). Auch dies erwartete er von Philosophen hçchsten Ranges. Priester und Philosophen bleiben einander zum Verwechseln hnlich. In der dritten Perspektive, die der Philosophen auf die Priester und das Volk, unterscheidet sie Nietzsche wieder, auf berraschende Weise. Danach wollen Philosophen aus „B e s c h e i d e n h e i t“ nicht „,Wissende‘“, sondern nur nach Wissen Suchende sein; dass sie sich nicht auf den Glauben an irgendeine Weisheit einlassen wollen, unterscheide sie vom Volk und von den Priestern. Man wird an Sokrates denken, doch Nietzsche nennt Pythagoras und Platon, „Ungethme von Stolz und Selbstherrlichkeit“, die gegenber Priestern und Religionsstiftern, die einen Gott verknden, immer noch bescheiden waren.357 Im III. Buch der FW hatte Nietzsche noch von ihnen 356 In einer Vorstufe zu FW 351 nennt Nietzsche als „Lieblingsheilige“ des Volkes halb spçttisch, halb ergriffen die „Franze von Assisi, die Menschen des berstrçmenden Herzens und der vergeßlichen milden Hand, welche ewig giebt, weggiebt, weggeben muß, Solche, die bestndig im Feuer einer mitleidigen Liebe gerçstet werden“ (14.274). 357 Zu Nietzsches im brigen hochkomplexen Auseinandersetzungen mit Platon vgl. Bremer, Platonisches, Antiplatonisches; Hager, Das Platon-Verstndnis Nietzsches; Ghedini, Il Platone di Nietzsche; Mller, Die Griechen im Denken Nietzsches, 234 – 244. Zur jngsten, wenig ergiebigen Literatur zu Nietzsche und Platon vgl. die Sammelbesprechungen von Porter, Nietzsche, die Griechen und die Philologie, und Enrico Mller, Nietzsche und Platon.
8.3. Einer „Lebensart“ „eine Interpretation geben“. Nr. 353
239
geschrieben: sie „waren darauf aus, neue Religionen zu grnden“, „hatten so chte Religionsstifter-Seelen und -Talente, dass man sich ber ihr Misslingen nicht genug verwundern kann: sie brachten es aber nur zu Secten.“ (FW 149) So sind sie erst bescheiden – und eben dadurch Philosophen geworden.
8.3. Einer „Lebensart“ „eine Interpretation geben“ Nr. 353: Vo m U r s p r u n g d e r R e l i g i o n e n . In FW 353 legt Nietzsche dar, was Religionsstiftung bedeutet. Warnend hat er seinen Aphorismus zur Moral als Versteck eingeschoben, dessen Europer inzwischen bedrfen (FW 352/6.2.) – in Folge eben der Durchsetzung der christlichen Religion, die die europische Moral erst zur Selbstaufopferungs-Moral gemacht hat. Doch der „U r s p r u n g d e r R e l i g i o n e n“, nach dem Nietzsche nun fragt, liegt tiefer als Dogmen einer Religion und Werte einer Moral und tiefer auch als Lehren einer Philosophie. Aus ihm entspringen alle drei. 8.3.1. Religionsstiftung als „Erkennungs-Fest“ Als Religionsstifter werden religiçse Menschen schçpferisch; es ist ihre „eigentliche Erfindung“, eine grundlegend neue Orientierung zu schaffen, wenn man ihrer bedarf. Doch das war nach JGB 211 auch die Aufgabe der „e i g e n t l i c h e n P h i l o s o p h e n“: „sie sagen ,so s o l l es sein!‘, sie bestimmen erst das Wohin? und Wozu? des Menschen“. Sie bndeln dabei schon Erarbeitetes und richten es neu aus,358 verfgen „ber die Vorarbeit aller philosophischen Arbeiter, aller berwltiger der Vergangenheit“. Der Erfolg ihrer Neuorientierungen liegt darin, dass sie dauerhaft Halt geben: „sie greifen mit schçpferischer Hand nach der Zukunft, und Alles, was ist und war, wird ihnen dabei zum Mittel, zum Werkzeug, zum Hammer.“ In diesem Sinn schaffen sie durch Erkennen (Nietzsche setzt ,Erkennen‘ in Gnsefßchen, er verschiebt seinen Sinn), geben der Orientierung der Menschen eine neue Verfassung und ben dadurch Macht aus: „Ihr ,Erkennen‘ ist S c h a f f e n , ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit ist – W i l l e z u r M a c h t.“ Doch vorerst ist das nur eine Vi358 Vgl. MA I 521 (6.1.2.).
240 8. Was freie Geister immer noch von religiçsen Menschen lernen kçnnen sion: „Giebt es heute solche Philosophen? Gab es schon solche Philosophen?“ Offenbar nein, Nietzsche sieht in einer Zeit, in der Gott, von dem man alle Lenkung der Geschicke erwartet hatte, unglaubwrdig geworden ist, nur das Bedrfnis nach solchen Philosophen: „M u s s es nicht solche Philosophen geben?…“ (JGB 211) In FW 353 antwortet er darauf. Wenn es (noch) keine solchen Philosophen gab, so gab es doch „Religionsstifter“, die hnliches und noch mehr geleistet, zu einer neuen Orientierung auch einen neuen Gott oder ein neues Bild eines alt gewordenen Gottes geschaffen haben. Von ihnen also kçnnten knftige Philosophen mit ihrer großen Leidenschaft der Erkenntnis am meisten lernen. Worauf htten sie zu achten? An der Erfindung der Religionsstifter unterscheidet Nietzsche „Lebensarten“ und deren „I n t e r p r e t a t i o n e n“. Mit ,Lebensart‘ meint er „eine bestimmte Art Leben und Alltag der Sitte […], welche als disciplina voluntatis wirkt und zugleich die Langeweile wegschafft“, also ungefhr das, was die Philosophie seit Wittgenstein eine ,Lebensform‘ nennt.359 Im Alltag einer Gesellschaft spielen sich Routinen ein, die Verlsslichkeit im Umgang miteinander 359 Der Begriff ist jedoch lter, er geht auf Schleiermacher zurck und hat bei Schleiermacher schon den Sinn, den Nietzsche dem Begriff der Lebensart gibt (vgl. Mittelstdt, Art. Lebensformen). Schleiermacher formulierte in seinen Vorlesungen zur Psychologie (nach deren Nachschriften) so: Der ist in einer Gesellschaft „der grçßeste, der eine neue Lebensform in das Gesammtleben bringt, in welches er eintritt, und in dem sich aus der allgemeinen beseelenden geistigen Lebensquelle ein grçßeres Maaß von geistiger Kraft zusammendrngt, als frher in den einzelnen derselben Masse gewesen ist und sich aus dem Zusammenwirken der einzelnen als solcher begreifen lßt.“ Solche großen Einzelnen werden dann „berall in einem gewissen Sinn als bermenschlich angesehen“. Schleiermacher verweist an dieser Stelle „auf den Begriff des h e r o i s c h e n “ und die „hellenischen Sagen und Mythen“. Zur Erklrung der Entstehung eines großen Einzelnen aus der Masse und seines prgenden Einflusses auf sie, rekurriert er notgedrungen „auf den Geist schlechthin“: man komme hier „an die Grenze des geheimnißvollen, wo alles Angeben einer Ursache aufhçrt“ (Schleiermacher, Psychologie, 334 f.). Das kommt Nietzsches Auffassungen verblffend nahe. Nietzsches Nhe zu Schleiermacher, den er demonstrativ verachtete (vgl. DS 6, KSA 1.191; M 190; EH WA 3), einschließlich seiner „psychologischen Erklrungen religiçser Zustnde“ (MA I 132; vgl. N 1876/77, 23[114], KSA 8.444), von dem er aber auf Umwegen vieles gelernt haben kçnnte, ist noch kaum erforscht. Vgl. zu ersten Anhaltspunkten Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz, 357 f., zu Schleiermachers Konzeption des Staates, die Nietzsche ebenfalls weit entgegenkommt, Stegmaier, „Eigentlich nur das Gebiet der persçnlichen Reibungen“. In berweg, Grundriß der Geschichte der Philosophie, 3.387, wurde Nietzsche zunchst selbst als „Anhnger Schleiermachers, Schopenhauers, Benekes“ gefhrt (zitiert nach Krummel, Nietzsche und der deutsche Geist, 1.85).
8.3. Einer „Lebensart“ „eine Interpretation geben“. Nr. 353
241
erzeugen, indem sie den ,Willen‘ der Einzelnen so ,disziplinieren‘, in Wittgensteins Sprache so ,abrichten‘, dass sie an ein abweichendes Verhalten schon gar nicht mehr denken.360 In FW 76 hat Nietzsche von einer „Zucht des Kopfes“ gesprochen, „welche die Menschheit erhalten hat“, von der „Arbeit der Menschen“ an der „Allgemeinheit und Allverbindlichkeit eines Glaubens“, an einem „G e s e t z d e r U e b e r e i n s t i m m u n g“ in wesentlichen Belangen der Gesellschaft, „gleichgltig, ob diese Dinge wahr oder falsch sind“. Es geht dabei, wie Nietzsche dazu notiert hat, um „alles, was n ç t h i g ist und alles, was blich ist,“ „Essen und Wohnen und Zeugen, der Handel, der Erwerb, das Geschft ja selbst das gesellschaftliche Leben“ (N 1881, 14[18], KSA 9.628). Solche Alltagsroutinen sind „gewçhnlich schon da“. Man whlt sie nicht, man entscheidet sich nicht fr sie, sondern lebt sich in sie ein, weitgehend ohne dass man sich dessen gewahr wird, und orientiert sich nun unwillkrlich, instinktmßig an ihnen (7.2.2.1.). Lebensarten sind in langen, von niemandem zu bersehenden Zeitrumen ausgebildete und nun so selbstverstndlich gewordene Orientierungswelten, dass sie nur noch auffallen, wenn gegen sie verstoßen wird. Aber es wird immer auch mehr oder weniger gegen sie verstoßen. Lçsen grçßere Verstçße gegen sie Skandale aus, erregen sie die Gesellschaft, schaffen sie die Langeweile weg. Auf diese Weise unterhlt sich eine Gesellschaft laufend ber ihre alltgliche Lebensart und setzt sie dabei Tests auf ihre weitere Verbindlichkeit aus.361 Nietzsche unterscheidet hier nicht mehr zwischen Volk und Philosophen. Wenn Philosophen in einer Gesellschaft leben und berleben wollen, mssen auch sie den „Alltag der Sitte“ mitleben. Dennoch kçnnen sich Lebensarten differenzieren und ausdifferenzieren; Nietzsche spricht so, im Sinn besonderer Lebensarten, in den vorausgehenden Aphorismen-Bchern z. B. von der „peinlichsten“ (MA I 80), „individuellen“ (MA I 495), „feineren“ (M 266) und „guten Lebensart“ (FW 326); erst in FW 353 gebraucht er den Begriff ohne Zusatz von der Lebensart einer Gesellschaft schlechthin. Im Blick auf sie empçre jede ausgeprgte individuelle Lebensart; denn „alle sehr individuellen Maassregeln des Lebens“ ließen das „Gewçhnliche“ der allgemeinen, fr alle verbindlichen Lebensart spren 360 Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, §§ 5 f., 86, 157 f., 189, 206 u. ç. Norbert Elias und Pierre Bourdieu haben den Begriff der Lebensart fr die Soziologie als sozialen Habitus gefasst. Zu Elias und Nietzsche vgl. Gnther/ Holzer/Mller (Hg.), Zur Genealogie des Zivilisationsprozesses, zu Bourdieu und Nietzsche Piazzesi, Abitudine e potere. 361 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 291 – 320 und 558 f.
242 8. Was freie Geister immer noch von religiçsen Menschen lernen kçnnen (MA I 495). In dem schon zitierten Notat von 1881 hat Nietzsche sich das eindringlich verdeutlicht. Es sei „eine Haupterkenntniß, daß bei der Werthschtzung aller Dinge der Mensch allem G e w ç h n l i c h e n und noch mehr allem schlechthin U n e n t b e h r l i c h e n einen niederen Werth gab. Das Gewçhnliche war dem Ungemeinen entgegengesetzt, als das ,Gemeine‘–: das Unentbehrliche als ein Zwang dem, was der freie Mensch sich willkrlich verschaffen kann oder nicht kann, dem berflssigen, Luxushaften des Lebens.“ Menschen fhlen, spren sich erst als Menschen, wo sie Freiheiten und Spielrume haben, und werten darum das Gewçhnliche und Unentbehrliche ab. Aber „auf die Dauer“ ist und bleibt „doch immer das Nçthige und Gewohnheitsmßige“ „der Boden unseres Lebens und unserer ganzen L e b e n s a r t“, es wirkt als „Fatum“ (N 1881, 14[18], KSA 9.627 f.). So schreibt Nietzsche dann in JGB 231: „Aber im Grunde von uns, ganz ,da unten‘, giebt es freilich etwas Unbelehrbares, einen Granit von geistigem Fatum, von vorherbestimmter Entscheidung und Antwort auf vorherbestimmte ausgelesene Fragen.“ Die als Lebensart tief einverleibte Orientierung entscheidet darber, welche Fragen berhaupt gestellt werden, und gibt auch die Antwort darauf vor, ohne dass das in der Regel bewusst wrde.362 Hier haben weder Religionsstifter noch Philosophen etwas auszurichten. Sie kçnnen eine bestimmte Art Leben und Alltag nicht schaffen, nur „ansetzen“, kçnnen, wo sich in der Lebensart einer Gesellschaft unterschiedliche Lebensarten ausdifferenzieren, eine gegenber anderen bestrken. Dazu aber mssen sie sie als solche zunchst einmal feststellen, und hierin liegt, so Nietzsche, „die Bedeutung, die Originalitt“, die eigentliche Leistung eines Religionsstifters wie Jesus (oder Paulus, der dessen ,evangelische Praktik‘ am erfolgreichsten auf missionsfhige Begriffe gebracht hat) oder Buddha.363 Nietzsche schlsselt sorgfltig auf, worin dieses Feststellen besteht: erstens darin, dass der Religionsstifter die Lebensart einer „bestimmten Durchschnitts-Art von Seelen“ berhaupt erst „s i e h t“, zweitens, „dass er sie a u s w h l t“, und drittens „dass er zum ersten Male e r r t h, wozu sie gebraucht, wie sie interpretirt werden kann.“ Etwas in den Blick zu bekommen, sich dafr als Anhaltspunkt zu entscheiden und zu entdecken, was man damit anfangen kann, sind die 362 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 14 – 22. 363 Zu Nietzsches „Analyse und Kritik der ,Religionsstifter‘“ vgl. Figl, Nietzsche und die Religionen, 312 – 318. Figl stellt FW 353 und EH Schicksal 1 in den Mittelpunkt. Zum letzteren Aphorismus s. 8.3.2.
8.3. Einer „Lebensart“ „eine Interpretation geben“. Nr. 353
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elementarsten Fhigkeiten der Orientierung seiner selbst und anderer,364 und ein Religionsstifter muss sie berlegen beherrschen. Religionsstifter aber wird er erst durch die „Interpretation“, die er einer Lebensart gibt: wenn er sie so interpretieren kann, dass sie „vom hçchsten Werthe umleuchtet scheint“ und „nunmehr zu einem Gute wird, fr das man kmpft und, unter Umstnden, sein Leben lsst“. Eine Religion, an die man glauben soll, muss der Orientierung der Menschen einen so vollkommenen Halt geben, dass sie ohne ihn nicht mehr leben zu kçnnen glauben und, wrde er geopfert, auch ihr Leben geopfert shen. Das kann auch noch fr eine Moral gelten, die in einer Gruppe oder einer ganzen Gesellschaft herrscht. Erlçsend wirkt eine solche Interpretation erst dann, wenn sich die, die sich mit ihrer abweichenden Lebensart bisher allein glaubten und an ihr litten, nun „als zusammengehçrig e r k a n n t haben“.365 Mit „psychologischer Unfehlbarkeit“ des „,Verstehens‘“ muss ein Religionsstifter ihre Lebensart so erfassen, dass sie in ihr ein Allgemeines erkennen, darin einander als Gleiche anerkennen und so von sich selbst loskommen kçnnen. Er stiftet eine religiçse Gemeinschaft, indem er ihnen „ein langes Erkennungs-Fest“ schafft. Dabei merken sie kaum, wie ihnen geschieht, sie brauchen sich ihrerseits kaum zu entscheiden, sie „rollen“, so Nietzsche zur Stiftung des Buddhismus, „mit Unvermeidlichkeit, mit der ganzen vis inertiae, in einen Glauben hinein“.
364 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 181 – 190 und 229 – 263. 365 Vgl. Schleiermacher, Psychologie, 335 – 337: „Denken wir uns nmlich auf diese Weise den einzelnen als Urheber eines neuen Lebenstypus, so daß die Masse erst durch ihn zum Bewußtsein ihrer Zusammengehçrigkeit gelangt, so bekommt also auch eigentlich erst durch ihn die Gesammtheit einen gemeinsamen Charakter“. Eine solche Gemeinschaft bildende Ttigkeit ist „ganz dem Typus des knstlerischen [Tuns] entsprechend“: „Es ist also ein Kunstwerk, wo sich eine Masse in der Form der lebendigen Empfnglichkeit verhlt“. Schleiermacher bezieht sich hier zunchst nicht auf die Religion, sondern auf den „brgerlichen Zustand“ eines Staates. Beim „Religions-stiften“ aber finde man „ganz dasselbe“. Hier habe man es „nur mit der Steigerung des Selbstbewußtseins“ zu tun. Ein Religionsstifter wirke „auf die Masse begeisternd“, „um sein eigenthmlich gesteigertes Selbstbewußtsein erregend auf dieselbe berzutragen.“ Auf dem Gebiet der Wissenschaft und der Kunst prgten große Einzelne „herrschende Formen“; man nenne sie dann nicht „heroische“, sondern „g e n i a l e“.
244 8. Was freie Geister immer noch von religiçsen Menschen lernen kçnnen 8.3.2. Nhe und Distanz des Philosophen zum Religionsstifter Auch Philosophen, wie Nietzsche sie sich denkt, geben einer Lebensart eine Interpretation, auch fr sie ist die Psychologie „der Weg zu den Grundproblemen“ (JGB 23), auch sie sind auf psychologische Unfehlbarkeit angewiesen. Doch entweder wollten oder konnten sie das Volk bisher nicht gewinnen (8.2.2.). 1872/73 hatte Nietzsche unter dem Stichwort „P h i l o s o p h i e u n d Vo l k“ noch notiert: Keiner der großen griechischen Philosophen zieht das Volk hinter sich drein: am meisten versucht von Empedokles (nach Pythagoras), doch auch nicht mit der reinen Philosophie, sondern mit einem mythischen Vehikel derselben. Andre lehnen das Volk von vornherein ab (Heraklit). Andre haben einen ganz vornehmen Kreis von Gebildeten als Publikum (Anaxagoras). Am meisten hat demokratisch-demagogische Tendenz Sokrates: der Erfolg sind Sektenstiftungen, also ein Gegenbeweis. Was solchen Philosophen nicht gelungen ist, wie sollte das den geringeren gelingen? Es ist nicht mçglich, eine Volkskultur auf Philosophie zu grnden. Also kann die Philosophie im Verhltniß zu einer Kultur nie fundamentale und immer nur eine Nebenbedeutung haben. (N 1872/73, 23[14], KSA 7.544).
Am Ende, in EH, wird Nietzsche dagegen Grund genug sehen, mit einem Religionsstifter verwechselt zu werden. „Ich w i l l ,“ wird er dann schreiben, „keine ,Glubigen‘“, „will kein Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst“, und nennt sich dann doch „einen f r o h e n B o t s c h a f t e r, wie es keinen gab“ (EH Schicksal 1).366 Er oszilliert bis zuletzt zwischen Nhe und Distanz zum Religionsstifter. Kçnnte Philosophen, kçnnte ihm nicht doch gelingen, was bisher nur Religionsstiftern gelungen war, dem Leben der Menschen eine neue Interpretation, eine neue Orientierung zu geben, jedoch eine, die sie nicht in einem Glauben festhlt, sondern gerade von ihm befreit? Musste es nicht gelingen, nun, da aller Glaube sichtlich unglaubwrdig geworden war? In FW 353 ußert Nietzsche sich nicht mehr zur Philosophie, belsst es vorlufig beim Hinweis aus FW 351: dass Philosophen ,bescheidener‘ sind im Anspruch auf irgendeine Gewissheit des Wissens und stattdessen bereit, sich radikaler Ungewissheit auszusetzen. Wenn sie etwas wissen, dann von der Ungewissheit ihres Wissens. In FW 358 deutet Nietzsche an, worin fr ihn der Unterschied zwischen Philosophen und Religionsstiftern liegt: im Grad und Rang des Geistes, so wie er den Geist versteht. Opfern sich Religionsstifter fr Gott als einem letzten und festen Halt der Orientierung des Volkes, so Philosophen fr 366 Zur kontextuellen Interpretation des Aphorismus im Ganzen vgl. Stegmaier, Schicksal Nietzsche?
8.4. „Plebejismus des Geistes“ vermeiden. Nr. 358
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den Geist, der sich jeden letzten und festen Halt verbietet, was nur wenige vermçgen. Wollen Religionsstifter den Geist binden, so Philosophen ihn befreien, soweit sie es vermçgen.
8.4. „Plebejismus des Geistes“ vermeiden Nr. 358: D e r B a u e r n a u f s t a n d d e s G e i s t e s . In FW 358, dem letzten und zuletzt noch ergnzten Aphorismus der Kette zu den religiçsen Menschen, fhrt Nietzsche in den Kontext von Religion, Kirche und Macht die Begriffe von Geist und Rang ein. Er schließt mit dem Aphorismus nicht nur die Kette zu den religiçsen Menschen ab, sondern fhrt sie auch mit anderen Aphorismen und Aphorismenketten zusammen. Nach den Ursprungsfragen zum Bewusstsein, zu unserem Begriff ,Erkenntnis‘ und zur modernen Gesellschaft und nach einem Aphorismus zu den „eigentlichen Errungenschaften des philosophischen Gedankens […], welche deutschen Kçpfen verdankt werden“ (FW 357), der damit schließt, dass die vermeintlichen deutschen Errungenschaften vielmehr europische sind, setzt Nietzsche mit dem europischen Blick auf die Kirche („Wir Europer“) ein, um die Wirkungen der deutschen Reformation auf sie zu thematisieren. Zunchst hatte er den Titel „D i e D e u t s c h e n u n d d i e R e f o r m a t i o n“ vorgesehen (KSA 14.274). Er konzentriert den Aphorismus ganz auf Luther, auch um den psychologischen Weg weitergehen zu kçnnen, den er eingeschlagen hat; der Aphorismus ist der Hçhepunkt seiner vehementen Auseinandersetzung mit ihm. Nietzsche zeigt Luther, der, wie auch er zugesteht, mit seiner Reformation eine neue „Beweglichkeit und Unruhe des Geistes“ freigesetzt, fr eine neue Vergeistigung der christlichen Religion gesorgt hat, als unbedarft in Fragen der „Macht“ des Geistes. Er stellt ihn nicht als Mann des Volkes, sondern als abstoßenden Plebejer dar und die rçmische Kirche als eine „Institution“, die die „Macht der Geistigkeit“ verkçrpert: in einer Rangordnung der Geister nach dem Grad ihrer Geistigkeit. Luther ist Nietzsches warnendes Beispiel fr freie oder sich schon frei glaubende Geister im aktuellen „Kampf gegen die Kirche“ (FW 350). Er selbst hlt sich zur Kirche nun in sthetischer Distanz. Er leistet sich, bevor er in FW 370 (16.) nach seiner Romantik und seiner Loslçsung von ihr fragen wird, ein romantisches Wohlgefallen an der Schçnheit von „Ruinen“, in denen er die Kirche jetzt liegen sieht, die Schatten Gottes in „einer ungeheuren Trmmerwelt“, die inzwischen „mit grossem und
246 8. Was freie Geister immer noch von religiçsen Menschen lernen kçnnen kleinem Unkraute“ berwachsen ist. Mit dem ,Unkraut‘ scheint er an sein Drngen auf eine neue Natrlichkeit der Menschen zu erinnern. Er hatte schon seinen Zarathustra vor „Kirchen und Gottes-Grbern“ heiter werden lassen: „wenn der Himmel erst reinen Auges durch ihre zerbrochenen Decken blickt“, sitze er gern „gleich Gras und rothem Mohne auf zerbrochnen Kirchen“ (ZA III Siegel 2, KSA 4.288) – er ist das große und kleine Unkraut. Darauf weitet Nietzsche das Bild der Kirchenruine zu einer „Stadt“, dann der „religiçsen Gesellschaft“ „des Untergangs“ und knpft damit an FW 356 (11.1.) an, seinem Aphorismus zu den „Ungeheuern von breiten Gesellschafts-Thrmen“, die das Mittelalter auszeichneten und die in der Moderne hinfllig geworden seien. Die mittelalterliche rçmische Kirche war der letzte auf unabsehbare Generationen hinaus errichtete „Rçmerbau“, der vom Weltherrschaft beanspruchenden Imperium Romanum blieb. Das Imperium Romanum habe, wird Nietzsche in AC 58 schreiben, einen „Bau“ errichtet, der „berechnet“ war, „sich mit Jahrtausenden zu b e w e i s e n “, eine „Organisation“, die „fest genug“ war, „schlechte Kaiser auszuhalten“. Das gilt auch noch fr die Kirche. FW 358 wird Nietzsche mit unverhohlener Bewunderung fr ihr „HerrschaftsGebilde“ schließen. Dann nimmt er seine Nord-Sd-Typisierung aus FW 350 wieder auf, um sie nun gegen „die Deutschen“ zu richten, deren beschrnkter „Geist“ („nicht geistig genug? nicht misstrauisch genug?“) Jahrhunderte lang an der Zerstçrung der Kirche gearbeitet habe und noch immer arbeite. Luther, der Deutsche, der Mann aus dem Norden, wollte im Sinn von FW 353 der Lebensart der Deutschen eine erlçsende Interpretation geben und zerstçrte die „s d l n d i s c h e Freiheit und Freisinnigkeit des Geistes“ der Kirche, als sie in der Renaissance ihren Hçhepunkt erreichte.367 „Dass Luther’s Reformation im Norden gelang,“ hatte er schon in FW 149 geschrieben, „ist ein Zeichen dafr, dass der Norden gegen den Sden Europa’s zurckgeblieben war und noch ziemlich einartige und einfarbige Bedrfnisse kannte“. Im blasseren Norden, hatte er in MA II, VM 97, vermutet, konnte sich der sthetische Sinn weit weniger entwickeln, die „kostspielige“ Freude an „Seelenmessen, Wallfahrten, Priester-Prunk und -Ueppigkeit“, an der „Symbolik und Formenlust der alten Kirche“, die das „viel mchtigere religiçse Heidenthum“ dem Sden hinterlassen hatte, „whrend im Norden das Christenthum einen Gegensatz und Bruch mit dem Altheimischen bedeutete und desshalb mehr gedankenhaft als sinnfllig von Anfang an war, eben desshalb aber auch, zu Zeiten der Gefahr, 367 Vgl. AC 61.
8.4. „Plebejismus des Geistes“ vermeiden. Nr. 358
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fanatischer und trotziger.“ Luther ist Nietzsches Typus des trotzigen religiçsen Fanatikers. Er zeigt ihn vor dem Hintergrund seiner sthetischen Sicht der Kirche. 8.4.1. Plebejismus und Vornehmheit des Geistes Nietzsches Auseinandersetzung mit Luther ist, auch in Verteidigung Luthers, oft dargestellt worden368 und braucht hier nicht noch einmal wiederaufgenommen zu werden. Festzuhalten ist, dass Nietzsche Luther bis zur Karikatur psychologisch typisiert. In FW 358 sieht er ihn wohl als einen „Mann aus dem Volke“, nun aber zugleich im abschtzigen Sinn der plebs oder des Pçbels. Was Nietzsche am Pçbel verachtet, ist nicht sein sozialer Stand, sondern sein Umgang mit Religion und Moral: „,Man gehçrt noch zum Pçbel, so lange man immer auf Andere die Schuld schiebt; man ist auf der Bahn der Weisheit, wenn man immer nur sich selber verantwortlich macht; aber der Weise findet Niemanden schuldig, weder sich noch Andere‘“, bersetzt Nietzsche Epiktet (MA II,
368 Vgl. Hirsch, Nietzsche und Luther; Benz, Nietzsches Ideen zur Geschichte des Christentums und der Kirche; Kaufmann, Nietzsche, 399 – 408; Bluhm, Nietzsche’s View of Luther and the Reformation; Bluhm, Nietzsche’s Final View of Luther and the Reformation; Baeumer, Nietzsche and Luther; Kleffmann, Die Notwendigkeit menschlicher Selbstvergçtterung – bei Luther und bei Nietzsche; Beutel, Das Lutherbild Friedrich Nietzsches; Large, „Der Bauernaufstand des Geistes“. – Nietzsches Bezge auf Johannes Janssen, Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters, 8 Bde., Freiburg i.Br. 1878 – 1894, seine wichtigste Quelle fr FW 358, dokumentiert Orsucci, Orient – Okzident, 352 – 364. Nietzsche besaß den I. Band. Janssen war Priester, Gymnasialprofessor, eine Zeit lang persçnlicher Prlat des Papstes, engagierte sich im Kulturkampf stark auf Seiten der katholischen Zentrumspartei und stellte Luther als pathologischen Fanatiker dar. Nietzsche folgte ihm in vielem, sah jedoch klar auch seine Unzulnglichkeit. Vgl. GM III 19: „Gedenken wir noch des komischen Entsetzens, welches der katholische Priester Janssen mit seinem ber alle Begriffe viereckig und harmlos gerathenen Bilde der deutschen Reformations-Bewegung in Deutschland erregt hat; was wrde man erst beginnen, wenn uns Jemand diese Bewegung einmal a n d e r s erzhlte, wenn uns einmal ein wirklicher Psycholog einen wirklichen Luther erzhlte, nicht mehr mit der moralistischen Einfalt eines Landgeistlichen, nicht mehr mit der ssslichen und rcksichtsvollen Schamhaftigkeit protestantischer Historiker, sondern etwa mit einer T a i n e’schen Unerschrockenheit, aus einer S t r k e d e r S e e l e heraus und nicht aus einer klugen Indulgenz gegen die Strke? …“ Danach schien Nietzsche auch seine eigene Typisierung Luthers unzulnglich.
248 8. Was freie Geister immer noch von religiçsen Menschen lernen kçnnen VM 386).369 Seinen Zarathustra stellt er in scharfen Gegensatz zu diesem Pçbel. Das Werk ist im Ganzen dagegen konzipiert, „dass der Pçbel Herr wrde und in seichten Gewssern alle Zeit ertrnke.“ Es bedrfe vielmehr „eines n e u e n A d e l s, der allem Pçbel und allem Gewalt-Herrischen Widersacher ist und auf neue Tafeln neu das Wort schrieb ,edel‘.“ (ZA III Tafel 11, KSA 4.254) Auch hier ist nicht der Adel des Standes, sondern des „Geistes“ gemeint – „Einst war der Geist Gott, dann wurde er zum Menschen und jetzt wird er gar noch Pçbel.“ (ZA I Lesen, KSA 4.48). Dieser Adel zeigt sich im Verzicht auf Schuldzuweisungen und im Willen zur eigenen Verantwortung oder kurz: in der Vornehmheit, von der Nietzsche dann in JGB ausfhrlich handelt. Wie den Begriff ,Pçbel‘ lsst er auch ihn zwischen seinem sozialen und seinem moralischen Sinn changieren. ,Vornehm‘ zu denken und zu handeln fllt leichter in gehobenen gesellschaftlichen Stnden, in denen weniger drckende Nçte herrschen, ist aber nicht an sie gebunden. Wie „unser vergoldeter falscher berschminkter Pçbel“ auch die „,gute Gesellschaft‘“ einschließen kann, die sich „,Adel‘ heisst“, so ist fr Zarathustra „heute die vornehmste Art“ „ein gesunder Bauer, grob, listig, hartnckig, langhaltig“. Whrend der Pçbel sich mçglichst mit anderen verbndet, um mit seinen Entscheidungen nicht allein zu stehen, mssen Bauern mit eigener Arbeit fr sich selbst sorgen und, abhngig vom Wechselhaftesten, dem Wetter, stets auf eigene Verantwortung mit hohen Risiken verbundene Entscheidungen treffen (ZA IV Kçnigen 1, KSA 4.305). In JGB trgt Nietzsche den Gegensatz pçbelhaft – vornehm auch in das Feld der Wissenschaft und der Philosophie hinein. Er findet „pçbelmnnische Feindschaft gegen alles Bevorrechtete und Selbstherrliche“ in den modernen Naturwissenschaften, die alles nach mçglichst einheitlichen Gesetzen zu erfassen suchen (JGB 14, 22), einen pçbelmnnischen „berlegenheits-Glauben“ beim Gelehrten, der „den religiçsen Menschen als einen minderwerthigen und niedrigeren Typus behandelt, ber den er selbst hinaus, hinweg, h i n a u f gewachsen ist“ (JGB 58), einen „pçbelmnnischen Instinkt“ in der „Unabhngigkeits-Erklrung des wissenschaftlichen Menschen“ berhaupt, seiner „Emancipation von der Philosophie“, so wie Nietzsche sie versteht. Die Trennung von der Philosophie sei freilich der „Armseligkeit der neueren Philosophen selbst“ zu verdanken (JGB 204), soweit auch sie den Durchschnittsmeinungen folgen, um Anklang und Beifall zu finden. Selbst Sokrates, der trotz seiner einfachen Herkunft jeden Mut zum Alleinstehn und zur Ironie gegen alles lehrbare Wissen bewiesen hat, gert mit seiner Forderung nach allgemeiner Rechtfertigung ohne Ansehen der Person auf die Seite des Pçbels.370 Auf ihn konnten sich seither alle berufen, die sich einem vorgegebenen Guten unterstellen wollten und damit „irgend eine widrige Unenthaltsamkeit, irgend einen Winkel-Neid, eine plumpe Sich-Rechtgeberei“ verrieten, „wie diese Drei zusammen zu allen Zeiten den eigentlichen Pçbel-Typus ausgemacht haben“ (JGB 264).
Sokrates hat mit seinem Glauben an die Gleichheit der Vernunft aller fr Nietzsche bis in die Gegenwart hinein Pçbelhaftigkeit auch im Geist, den 369 Epiktet, Encheiridion 5 (vgl. 14.182). 370 Vgl. JGB 190 u. 212 und GD Sokrates 3, 5, 7.
8.4. „Plebejismus des Geistes“ vermeiden. Nr. 358
249
„P l e b e j i s m u s d e s G e i s t e s“ mçglich gemacht. In FW 358 mnzt er die Formel auf den „modernen Gelehrten“, „seinen Mangel an Ehrfurcht, Scham und Tiefe“, seine „ganze naive Treuherzigkeit und Biedermnnerei in Dingen der Erkenntniss“. In seinen Notaten aus der Entstehungszeit von JGB und FW V greift Nietzsche auch die Religionen und Religionsstiftungen als „Pçbel-Angelegenheit“ an und bezieht hier ausdrcklich auch Luther und selbst Christus ein: „Man muß die vorhandenen Religionen vernichten, nur, um diese absurden Schtzungen zu beseitigen, als ob ein Jesus Christus berhaupt neben einem Plato in Betracht kme, oder ein Luther neben einem Montaigne!“ (N 1884, 25[491], KSA 11.143)371 Er verçffentlicht das jedoch nicht; Christus schreibt er in JGB 60, ohne ihn zu nennen, im Gegenteil „das vornehmste und entlegenste Gefhl“ zu, das bis jetzt „unter Menschen erreicht worden ist“, Luther dagegen wird er in GM einen „Rpel“ nennen, „den die g u t e E t i q u e t t e der Kirche verdross, jene Ehrfurchts-Etiquette des hieratischen Geschmacks, welche nur die Geweihteren und Schweigsameren in das Allerheiligste einlsst und es gegen die Rpel zuschliesst.“ (GM III 22) Die christliche „Denkweise“ ist fr „ideale, ganz zu ihr geschaffene Menschen“, „Pascal z. B.“, durchaus kein „Pçbel- und Bauern-Christenthum“, zu dem es „fr den durchschnittlichen Menschen“, „selbst fr solche Naturen, wie Luther“, geworden sei (N 1884, 26[191], KSA 11.200; vgl. EH WA 2). Nicht das Christentum macht Menschen zum Pçbel, sondern pçbelmnnisch denkende Menschen machen auch das Christentum zu einer Pçbel-Angelegenheit. Umso mehr geht es Nietzsche um „die aus dem Pçbel Sich-mhsam-Emporarbeitenden, die Menschen des sittlichen Durstes, der kmpfenden Spannung, die nach dem Vornehmen leidenschaftlich Verlangenden.“ (N 1886/87, 7[66], KSA 12.320 f.) Zu ihnen zhlt er, wie er Kçselitz schrieb, auch sich selbst: Ich notirte mir gestern, zur eigenen Bestrkung auf dem einmal eingeschlagenen Wege des Lebens, eine Menge Zge, an denen ich die ,Vornehmheit‘ oder den ,Adel‘ bei Menschen herauswittere – und was, umgekehrt, Alles zum ,Pçbel‘ in uns gehçrt. (In allen meinen Krankheits-Zustnden fhle ich, mit Schrecken, eine Art Herabziehung zu pçbelhaften Schwchen, pçbelhaften Milden, sogar pçbelhaften Tugenden – verstehen Sie das? Oh Sie Gesunder!).372 371 Vgl. N 1884, 26[324], KSA 11.235, und [351], KSA 11.242. S. auch EH Schicksal 1: „Religionen sind Pçbel-Affairen“. 372 Brief an Heinrich Kçselitz, 23. Juli 1885, KGB III/3, Bf.613. Zum im Brief erwhnten Notat vgl. N 1885, 35[76], KSA 11.543 – 545 / W I 3, S. 64 f.
250 8. Was freie Geister immer noch von religiçsen Menschen lernen kçnnen 8.4.2. Die Macht der Geistigkeit Es ist, so Nietzsche, sein ,Pçbel- und Bauern-Christentum‘, das Luther die Kirche nicht verstehen ließ. Daran trage er keine Schuld; in Anspielung auf das „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Luk 23, 34) verzichtet Nietzsche auch hier, wo er scharf angreift, ausdrcklich auf ,plebejische‘ Schuldzuweisungen. Stattdessen versucht er eine Erklrung: Luther sei als einem Mann aus dem Volk „alle Erbschaft einer herrschenden Kaste, aller Instinkt fr Macht“ abgegangen und konnte so nicht sehen, was ,der Geist‘ fr ,die Macht‘ und die Macht fr den Geist bedeutet. Nietzsche will das am Kampf der Reformation gegen die Kirche sichtbar machen. So habe Luther „den Ausdruck einer s i e g r e i c h e n Kirche“ nicht begriffen. Anders als die ,ecclesia militans‘ der Lebenden und die ,ecclesia triumphans‘ der Seligen, die alles auf den Kampf um die Seligkeit in einer andern Welt setzen und von dieser darum wegstreben, will sich die siegreiche Kirche (,ecclesia victrix‘) in der irdischen Welt durchsetzen, zunchst gegen die Heiden und die Juden (an Kirchenportalen wurde sie gerne als Siegerin ber die Synagoge dargestellt), dann auch im Kampf unter Frsten und Staaten, und sich mit ihrer geistlichen Oberhoheit auch politische Macht sichern. Die Macht der Geistigkeit muss sich fr die rçmische Kirche auch auf Erden zeigen; sie will sie dem Volk der Glubigen in ihrer ganzen Pracht und Herrlichkeit vor Augen fhren. Dass sie sich „vornehme Skepsis“, einen „L u x u s von Skepsis und Toleranz“, leistete und ein Renaissance-Papst wie der Spanier Roderic Borgia (Alexander VI.) sich unerhçrte (allerdings auch damals umstrittene) Freiheiten erlauben konnte, war fr Nietzsche ein Zeichen ihres Sieges; in GM wird er auch von gut gefestigten politischen Gesellschaften sagen, sie drften „sich den vornehmsten Luxus gçnnen […], den es fr sie giebt,“ in ihrem Fall der Verzicht auf Strafen (GM II 10). Erst eine „siegreiche selbstgewisse Macht“ ist zur Toleranz fhig. Eben darin kann und muss sich fr Nietzsche Geist beweisen: dass er sich nicht in ein jenseitiges Leben entzieht, sondern das irdische Leben zu ordnen vermag und zwar so, dass er sich Spielrume fr seine „Freiheit und Freisinnigkeit“ schafft, erhlt und erweitert. Die rçmische Kirche war fr Nietzsche nher an Zarathustras „b l e i b t d e r E r d e t r e u“ (ZA I Vorrede 3, KSA 4.15) als der Protestantismus. Die Verjenseitigung des Geistes zieht unweigerlich seine Moralisierung nach sich; nur so kann der Glaube im irdischen Leben hinreichenden Halt finden. In GM wird Nietzsche dann ausfhren, wie diese Moralisierung sich ausgewirkt hat: als Habitualisierung von schlechtem Gewissen und Ressentiments.
8.4. „Plebejismus des Geistes“ vermeiden. Nr. 358
251
Luther wollte, so Nietzsche schon in M, „unbedingt vertrauen kçnnen“ (M 207), und so durfte sich zwischen ihn und Gott, dem er in seiner Unfehlbarkeit allein vertrauen wollte, nicht die fehlbare Macht der Kirche und ihrer Priester stellen.373 Dass er in seinem Vertrauen die Kirche ausschalten wollte, fhrt Nietzsche psychologisch darauf zurck, dass er mit seinem Mçnchstum nicht zurechtgekommen war („der unmçgliche Mçnch“) und seither einen „abgrndlichen Hass auf den ,hçheren Menschen‘ und die Herrschaft des ,hçheren Menschen‘, wie ihn die Kirche concipirt hatte“, nhrte. Dieser Hass wiederum machte sein Denken und Handeln „in allen kardinalen Fragen der Macht“, die auch mit Glaubensentscheidungen verbunden sind, „verhngnissvoll“, „oberflchlich, unvorsichtig“, kontraproduktiv. Mit seinen Entscheidungen, das Lehramt zu beseitigen, das Recht und die Pflicht der Kirche, mit ihrer Autoritt die Heilige Schrift auszulegen, und auf Priester als „AusnahmeMenschen“ zu verzichten, die sich dem Volk als „heiliges Ohr“ fr seine „Geheimnisse“ opfern, nahm er nicht nur der Kirche ihre weltliche Macht, sondern dem Volk auch eine „Ordnung“ in der irdischen Welt, an die es sich halten konnte, auch wenn es nicht unbedingt an sie glaubte, und nçtigte es zu einem Grad an Vergeistigung der christlichen Religion, die ihm das irdische Leben verdarb. Er wollte die Entartung des „Ideals“ zu seiner Zeit bekmpfen und „zerschlug“ das Ideal. Er wollte das Christentum neu grnden und entzog ihm langfristig den Boden: mit seiner Lehre, dass jeder selbst die Heilige Schrift lesen und auslegen sollte, bewirkte er am Ende, dass sie „in die Hnde der Philologen“ geriet, der schon in der Renaissance einsetzenden historischen Bibelkritik, die schließlich kaum einen religiçsen Glaubensinhalt brig ließ, der auch wissenschaftlich noch glaubwrdig war. Und ganz trivial: Indem er „dem Priester den Geschlechtsverkehr mit dem Weibe zurckgab“, ihm wie allen andern eine Familie zugestand, setzte er ihn auch allzumenschlichen Verhltnissen aus. „Allzuviele {von} der deutschen Philosophen u. Gelehrten“, notierte sich Nietzsche dazu, haben „{als Kinder von Predigern u. Kirchen sonstigem Kirchen-Zubehçr} dem ,Priester‘ zugesehen – u glauben folglich nicht mehr an Gott.“ (N 1885, 34[157], KSA 11.474 / N VII 1, 373 Vgl. N 1880, 4[57], KSA 9.113. Nietzsche schçpft dort aus einer weiteren wichtigen Quelle seines Luther-Bilds, Julius J. Baumanns Handbuch der Moral nebst Abriß der Rechtsphilosophie (Leipzig 1879, BN). Schon in M 207 stellt er Luthers unbedingtem Vertrauen, das fr „die Deutschen“ typisch geworden sei, die „sdlndische Freiheit des Gefhls“ gegenber, „sich des ,unbedingten Vertrauens‘ zu erwehren und im letzten Verschluss des Herzens eine kleine Skepsis gegen Alles und Jedes, sei es Gott oder Mensch oder Begriff, zurckzubehalten.“
252 8. Was freie Geister immer noch von religiçsen Menschen lernen kçnnen S. 85) In den schrfsten Widerspruch aber geriet Luther in der konkreten Machtpolitik seiner Zeit, als er, wiewohl er sich selbst gegen die Macht der Kirche erhoben hatte, erbarmungslos die Bauern bekmpfte, die sich gegen die Macht des sie ausbeutenden Adels erhoben und dabei auf seine Frsprache und Untersttzung hofften, die er ihnen verweigerte. Luther hatte, so Nietzsche, ein widersprchliches Verhltnis zur Ordnung. 8.4.3. Rangordnung der Geister nach dem Grad ihrer Geistigkeit – in der Kirche Ordnung beruht immer auf Macht. Sie wird durch eine Macht geschaffen, und sie erhlt diese Macht.374 Als Ordnung stiftende ist Macht willkommen (7.2.2.5.); wer darum Ordnung will, will auch Macht.375 Was Nietzsche will, ist eine Ordnung, die auf der „Macht der Geistigkeit“ beruht. Und sie findet er beispielhaft in der rçmischen Kirche: „Vergessen wir es zuletzt nicht, was eine Kirche ist, und zwar im Gegensatz zu jedem ,Staate‘: eine Kirche ist vor Allem ein Herrschafts-Gebilde, das den g e i s t i g e r e n Menschen den obersten Rang sichert und an die Macht der Geistigkeit soweit g l a u b t, um sich alle grçberen Gewaltmittel zu verbieten, – damit allein ist die Kirche unter allen Umstnden eine v o r n e h m e r e Institution als der Staat.“ Der Satz ist der Schluss der Aphorismenkette. Mit ihm fasst Nietzsche zusammen, was freie Geister von der Kirche immer noch lernen kçnnen. Von Luthers Reformation kçnnen sie lernen: Auch die Steigerung der „Beweglichkeit und Unruhe des europischen Geistes, seines Durstes nach Unabhngigkeit, seines Glaubens an ein Recht auf Freiheit, seiner ,Natrlichkeit‘“ kann dennoch, wenn nmlich alle, hier alle Glubigen, gleichgestellt werden, seine Moralisierung und damit seine „Verflachung“ und seine „Ve r g u t m t h i g u n g“ zur Folge haben. Von der rçmischen Kirche kçnnen sie lernen: Ordnung muss nicht Gleichheit voraussetzen, 374 Vgl. Anter, Die Macht der Ordnung. – In Begriffen des Willens zur Macht konkurrieren Willen zur Macht darum, einander so einzuverleiben, dass dauerhafte Ordnungen oder ,Herrschafts-Gebilde‘ entstehen. Sobald, notierte sich Nietzsche, „die bermacht ber eine geringere Macht erreicht ist u. letztere als Funktion der grçßeren arbeitet“, entsteht „eine Ordnung des Rangs, {der Organisation}“, die dann „den Anschein einer Ordnung von Mittel u. Zweck erwecken muß“, ohne eine solche zu sein (N 1887, 9[91], KSA 12.386 / W II 1, S. 69). Vgl. Abel, Nietzsche, 24 u. 123 f. 375 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 460 – 462.
8.4. „Plebejismus des Geistes“ vermeiden. Nr. 358
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sondern kann sich, auch in der Religion, an der Ungleichheit orientieren. Eine Ordnung, die sich an der Ungleichheit orientiert, ist eine „R a n g o r d n u n g “. Nietzsche hat als „A u f g a b e “ freier Geister eben das „P r o b l e m d e r R a n g o r d n u n g“ betrachtet, das damit beginne, es gegen die Macht der ,modernen Ideen‘ berhaupt zu sehen (MA I Vorrede 6 u. 7). Es spricht darum fr die Kirche, dass sie auf Erden eine Rangordnung geschaffen und bewahrt hat, eine Rangordnung der Geister nach dem Grad ihrer Geistigkeit. In ihr setzt Nietzsche zuunterst das Volk an, dann die Priester mit ihrem Opfersinn, ihrer Sanftmut und Weisheit und ihrem offenen Ohr fr das Volk. Priester haben im Glauben des Volkes eine von Gott geliehene geistige Macht. Ihre Mittel sind, fgt Nietzsche in einem vorbereitenden Notat hinzu, „asketische Gewohnheiten und bungen“, „die Selbstberwindung, mit harten und furchtbaren Erfindungen“. Der Priester ist „Reprsentant eines bermenschlichen Machtgefhls“, „selbst als guter S c h a u s p i e l e r eines Gottes, den darzustellen sein B e r u f ist, wird [er] instinktiv nach solchen Mitteln greifen, wodurch er eine gewisse Furchtbarkeit in der Gewalt ber sich erlangt“. Er ist „Reprsentant von bermenschlichen Mchten, in Hinsicht auf Erkenntniß, Vorherwissen Fhigkeit zu schaden und zu ntzen, auch in Hinsicht auf bermenschliche Entzckungen und Arten des Glcks“. Bei den Glubigen muss seine „Schauspieler-Klugheit […] vor allem d a s g u t e G e w i s s e n […] erzielen, mit Hlfe dessen erst wahrhaft berredet werden kann.“ (N 1886/ 87, 7[5], KSA 12.271 f.). ber Priestern stehen im Rang aber die „Kirchenfrsten“. Schon in M hat Nietzsche seiner sthetischen Bewunderung fr ihre „mchtige Schçnheit und Feinheit“ beredten Ausdruck gegeben: A l l e r G e i s t w i r d e n d l i c h l e i b l i c h s i c h t b a r. – Das Christenthum hat den gesammten Geist zahlloser Unterwerfungslustiger, aller jener feinen und groben Enthusiasten der Demthigung und Anbetung in sich geschlungen, es ist damit aus einer lndlichen Plumpheit – an welche man zum Beispiel bei dem ltesten Bilde des Apostels Petrus stark erinnert wird – eine sehr g e i s t r e i c h e Religion geworden, mit Tausenden von Falten, Hintergedanken und Ausflchten im Gesichte; es hat die Menschheit Europa’s gewitzigt und nicht nur theologisch verschlagen gemacht. In diesem Geiste und im Bunde mit der Macht und sehr oft mit der tiefsten berzeugung und Ehrlichkeit der Hingebung hat es vielleicht die feinsten Gestalten der menschlichen Gesellschaft a u s g e m e i s s e l t, die es bisher gegeben hat: die Gestalten der hçheren und hçchsten katholischen Geistlichkeit, namentlich wenn diese einem vornehmen Geschlechte entsprossen waren und von vornherein angeborene Anmuth der Gebrden, herrschende Augen und
254 8. Was freie Geister immer noch von religiçsen Menschen lernen kçnnen schçne Hnde und Fsse hinzubrachten. Hier erreicht das menschliche Antlitz jene Durchgeistigung, die durch die bestndige Ebbe und Flut der zwei Arten des Glckes (des Gefhls der Macht und des Gefhls der Ergebung) hervorgebracht wird, nachdem eine ausgedachte Lebensweise das Thier im Menschen gebndigt hat; hier hlt eine Thtigkeit, die im Segnen, Sndenvergeben und Reprsentiren der Gottheit besteht, fortwhrend das Gefhl einer bermenschlichen Mission in der Seele, j a a u c h i m L e i b e wach; hier herrscht jene vornehme Verachtung gegen die Gebrechlichkeit von Kçrper und Wohlfahrt des Glckes, wie sie geborenen Soldaten zu eigen ist; man hat im Gehorchen seinen S t o l z, was das Auszeichnende aller Aristokraten ausmacht; man hat in der ungeheueren Unmçglichkeit seiner Aufgabe seine Entschuldigung und seine Idealitt. Die mchtige Schçnheit und Feinheit der Kirchenfrsten hat immerdar fr das Volk die W a h r h e i t der Kirche bewiesen; eine zeitweilige Brutalisirung der Geistlichkeit (wie zu Zeiten Luther’s) fhrte immer den Glauben an das Gegentheil mit sich. – Und d i e s s Ergebniss menschlicher Schçnheit und Feinheit in der Harmonie von Gestalt, Geist und Aufgabe wre, mit dem Ende der Religionen, auch zu Grabe getragen? Und Hçheres liesse sich nicht erreichen, nicht einmal ersinnen? (M 60)
Mit anderen Worten: Mssten nicht auch freie, von den Bindungen der Religion gelçste Geister mit Geist, Seele und Leib die nicht mehr Glubigen von der Freiheit des Geistes berzeugen kçnnen? Die homines religiosi vom Typus Pascal stehen alleine; sie irritieren jede Rangordnung, fgen sich in keine ein. Ebenso die Religionsstifter, auf die homines religiosi sich mit ihren bohrenden Fragen und Priester und Kirchenfrsten sich in ihrer Macht berufen. Dostojewski hat in Iwan Karamasows Erzhlung vom Großinquisitor durchgespielt, wie eine Ordnung, die aus der Botschaft Jesu abgeleitet wurde, irritiert wrde, wenn Jesus posthum wieder in sie eintrte.376 Auch er wrde die Rangordnung in der Kirche berschreiten – wie ein freier Geist, und Nietzsche hat ihn zuletzt auch, „mit einiger Toleranz im Ausdruck“, einen „,freien Geist‘“ genannt (AC 32). Um Ungleiches zu ordnen, bedarf die Rangordnung eines unterscheidenden Kriteriums: in der Kirche ist dies, so Nietzsche, der Grad der Geistigkeit. Er kann nur von den jeweils ,geistigeren‘ Menschen eingeschtzt werden. Nietzsche spricht im Komparativ, nicht im Superlativ. Wer der geistigere ist, steht niemals ein fr alle Mal fest, sondern muss sich 376 Vgl. auch dazu Schleiermacher, Psychologie, 338 – 340: Ist „das Leben einmal zur constanten Entwikklung gelangt und in gewissem Grade in die Masse eingedrungen“, so msste die Rckkehr des Stifters der herrschenden Formen „Zerstçrung“ anrichten. Wo immer sich eine haltbare Ordnung im Sinn ihrer Stifter entwickelt hat, werden diese berflssig und stçren nur noch. – Nietzsche wird die posthume Wiederkehr in FW 365 (15.2.) zum Thema machen.
8.4. „Plebejismus des Geistes“ vermeiden. Nr. 358
255
jeweils neu zeigen. Statt eines festen, einheitlichen, allgemeinen Kriteriums kann es fr die geistige Rangordnung nur Anhaltspunkte geben, die mehr oder weniger zutreffen, mehr oder weniger Gewicht haben kçnnen. Im Kapitel „Was ist vornehm?“ von JGB nennt Nietzsche den „I n s t i n k t d e r E h r f u r c h t“ (JGB 263), „welche Gruppen von Empfindungen innerhalb einer Seele am schnellsten wach werden, das Wort ergreifen, den Befehl geben“ (JGB 268), „w i e tief Menschen leiden kçnnen“ (JGB 270), „,wie viel Jahrhunderte braucht ein Geist, um begriffen zu werden?‘“ (JGB 285), „irgend eine Grundgewissheit, welche eine vornehme Seele ber sich selbst hat, Etwas, das sich nicht suchen, nicht finden und vielleicht auch nicht verlieren lsst“ (JGB 287). Der Kirche ist in der Tat zugutezuhalten, dass sie noch im stndisch organisierten Rçmischen Reich und seither in kaum unterbrochener Tradition Glubige und Priester, jedenfalls im Grundsatz, nicht nach ußeren Kriterien wie dem der sozialen Herkunft unterschieden hat und anders auch als das Heilige Rçmische Reich Deutscher Nation, in dem der Kaiser von einem Kreis geborener Wahlberechtigter noch lange einstimmig gewhlt werden musste, die Wahl des Papstes der Mehrheitsentscheidung von Kardinlen unterwarf, die, jedenfalls im Grundsatz, ihrerseits nach Maßgabe ihrer Orientierungs-, Urteils- und Fhrungsfhigkeit ausgewhlt wurden.377 Wenn Nietzsche schreibt, die Kirche „g l a u b t “ an die Macht der Geistigkeit und die Fhigkeit, sie hinreichend unterscheiden zu kçnnen, und dies durch Sperrung betont, so wre mehr auch fr freie Geister nicht mçglich. Er setzt hinzu: „soweit g l a u b t, um sich alle grçberen Gewaltmittel zu verbieten“. Der Glaube hat hier ein klares Maß, nmlich die Macht nicht zur Gewalt werden zu lassen, sie nicht den Betroffenen gegen ihren Willen aufzuzwingen. Eben darin liegt ihre Geistigkeit und, so Nietzsche, ihre Vornehmheit: Macht unterscheidet sich dadurch von Gewalt, dass sie willkommen ist als Macht einer Ordnung, unter der man leben will.378 Nietzsche differenziert sonst kaum, hier aber deutlich zwi-
377 Nach Berman, Recht und Revolution, und Prodi, Eine Geschichte der Gerechtigkeit, ist die kirchliche Rechtsordnung im Mittelalter zum Modell fr die staatliche in der Neuzeit geworden. 378 Vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik, 6.234 f. und 420 f., und Philosophie des Rechts, § 268, Zusatz, 7.414: „Durch die Gewalt, meint die Vorstellung oft, hnge der Staat zusammen; aber das Haltende ist allein das Grundgefhl der Ordnung, das alle haben“ – und in dem seine eigentliche Macht liegt.
256 8. Was freie Geister immer noch von religiçsen Menschen lernen kçnnen schen Macht und Gewalt.379 Vorbereitend hat er von der Schçnheit so gesprochen: sie sei „das hçchste Zeichen von Macht, nmlich ber Entgegengesetztes; außerdem ohne Spannung: – daß keine Gewalt mehr noth thut, daß alles so leicht f o l g t, g e h o r c h t, und zum Gehorsam die liebenswrdigste Miene macht – das ergçtzt den Machtwillen des Knstlers.“ (N 1886/87, 7[3], KSA 12.258) Und es ergçtzt Nietzsche an der ,Schçnheit‘ der Kirchenfrsten – wohl wissend, dass auch Ppste zu Zeiten Kriege gefhrt haben. Luther dagegen diskreditierte sich fr ihn dadurch, dass er Gewalt provozierte, die er wieder mit Gewalt bekmpfen ließ. Jede geistige Macht diskreditiert sich, wenn sie zu „grçberen Gewaltmitteln“ greifen muss. Ihre Vornehmheit liegt darin, dass sie gelernt hat, auf sie zu verzichten. Dagegen muss der Staat, um seine Ordnung zu behaupten, stets Gewalt bereithalten, um sie gegebenenfalls einsetzen zu kçnnen, und ist „damit allein“ schon die weniger vornehme „Institution“. Institutionen, auf Dauer angelegte und rechtlich verfasste Einrichtungen zur Ordnung des gesellschaftlichen Lebens, sind beide, und beide bergen die Gefahr, Macht in Gewalt umschlagen zu lassen: indem sie ,Stellen‘ schaffen fr Personen, die zur Ausbung von Macht befugt sind, auf diesen Stellen ihre Macht dann aber auch gegen den Willen der Betroffenen als Gewalt missbrauchen kçnnen. Institutionen bieten so Gelegenheit, die Macht zu korrumpieren, und auch Vertreter der Kirche haben sich oft genug korrumpieren lassen. Auch die Kirche ist darum nicht schon eine vornehme, sondern, weil sie faktisch in der Geschichte meist ber weniger Gewaltmittel verfgte, nur die vergleichsweise „v o r n e h m e r e“ Institution. Nietzsche ist gegen alle Institutionen skeptisch geblieben. FW 358 lsst daher das Fragezeichen zurck, ob die Macht der Geistigkeit auch ohne Institutionen denkbar wre, eben fr freie Geister, die ber keinerlei Institutionen verfgen. Nietzsche hat solche zuweilen ertrumt, aber nie ernsthaft mit ihnen gerechnet und im Gegenteil schon in SE im Kielwasser Schopenhauers scharf mit ihnen abgerechnet. Die Universitten waren fr ihn Institutionen nur fr Gelehrte und ,philosophische Arbeiter‘, die dem Staat fr ihre Stellen geistige Opfer zu bringen hatten: erst wenn „die Philosophie aus den Universitten ausscheidet und sich damit von allen unwrdigen Rcksichten und Verdunkelungen reinigt“, wird sie „ein hçheres Tribunal“ 379 Das scheint Gerhardt, Vom Willen zur Macht, 150, zu bersehen, wenn er schreibt, bei Nietzsche finde sich „keine kategoriale Trennung zwischen Gewalt und Macht“.
8.4. „Plebejismus des Geistes“ vermeiden. Nr. 358
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sein kçnnen: „ohne staatliche Macht, ohne Besoldung und Ehren, wird sie ihren Dienst zu thun wissen, frei vom Zeitgeiste sowohl als von der Furcht vor diesem Geiste – kurz gesagt, so wie Schopenhauer lebte, als der Richter der ihn umgebenden sogenannten Kultur.“ Dieses Tribunal sollte „frei vom Zeitgeiste“ und der Macht seiner Zeitungen sein (SE 8, KSA 1.425). Tatschlich aber mssen sich auch die ,eigentlichen‘ Philosophen dem Wettbewerb des jedermann offenen literarischen Marktes stellen und sich auf ihm durchsetzen, allein mit der Macht ihrer Geistigkeit, soweit sie ber sie verfgen, und mit den ,feineren Gesetzen ihres Stils‘, mit denen sie sich, wie auch ein Nietzsche es lange vergeblich versuchte, an die Vielen wenden mssen, um unter ihnen die Wenigen zu gewinnen, die ihnen folgen konnten und wollten. Die Kirche hatte im europischen Mittelalter ein Weltdeutungsmonopol inne, das auch die Wissenschaften einschloss. Sie bedurfte einer mçglichst genauen Kenntnis der Menschen und ihrer Lebensbedingungen, um sie sinnvoll leiten zu kçnnen, musste sich auf die Welt einlassen, um sie zum Heil zu fhren. Sie verstand die Macht, die ihr daraus zuwuchs, lange erfolgreich zu handhaben. Als zu Beginn der Neuzeit ihr Monopol nicht mehr aufrechtzuerhalten war, lçste die neue, mit allen Zweifeln gewappnete Philosophie sie in der Weltdeutung ab, ohne dazu eine institutionelle Autoritt zu haben oder auch nur zu suchen. Auf einen Anspruch auf Leitung der Welt verzichtete sie ohnehin. Nicht so Nietzsche: er nahm den Anspruch auch auf die Leitung der Welt wieder auf. Die Philosophie sollte, auch ohne Institutionen, allein durch den hçheren Grad ihrer Geistigkeit, durch die Befreiung von Bindungen des Denkens, in denen andere befangen blieben, Macht gewinnen. Und dieser Macht wollte Nietzsche auch die Religionen und Moralen dienstbar machen, einfach dadurch, dass ihr Platz in der geistigen Rangordnung klar wrde. Sie kçnnten dann, schien ihm, „Vorspiele und Vorbungen der Wissenschaft darstellen“, in „irgend einem fernen Zeitalter“ als „das seltsame Mittel“ erkannt werden, „dass einmal einzelne Menschen die ganze Selbstgengsamkeit eines Gottes und alle seine Kraft der Selbsterlçsung geniessen kçnnen“ (FW 300). Religionen seien gefhrlich, „wenn sie selber letzte Zwecke und nicht Mittel neben anderen Mitteln sein wollen.“ Philosophen aber kçnnten sie, wenn sie das Format dazu haben, „als Zchtungs- und Erziehungsmittel“ nutzen (JGB 62). Eben das kann man nach FW 350, 351, 353 und 358 von der rçmischen Kirche und ihrem ,sdlndischen Argwohn gegen die Natur des Menschen‘ lernen. Auf die „Gesetze der Rangordnung“ einer Philosophie, die nicht auf Bindungen eines Glaubens, sondern auf die Befreiung von ihnen angelegt ist, wird Nietzsche in FW 373 zurckkommen. Wir auch (13.2.).
II. Ursprungsfragen zur Auflçsung von scheinbar letztem Halt
In den drei aufeinanderfolgenden Aphorismen 354 bis 356 greift Nietzsche die bisher selbstverstndlichsten Voraussetzungen des Philosophierens in der Moderne an: die Gegebenheit eines Bewusstseins, den Sinn der Erkenntnis und die Einbindung in eine Gesellschaft. FW 354 und 355 lsst er als Solitre stehen, mit FW 356 erçffnet er eine neue Aphorismenkette – zur Unentrinnbarkeit der Schauspielerei (FW 361 und 362). Seine Vermutung ist: Die Einbindung in eine Gesellschaft verfhrt dazu, bei jedem einzelnen ihrer Mitglieder ein Bewusstsein und bei allen einen bestimmten Sinn der Erkenntnis anzunehmen, die Rckfhrung von Fremdem auf Bekanntes. Beide Voraussetzungen blockieren das ,frçhliche‘ Denken des ,freien Geistes‘. Nietzsche hat sich selbst nach Aufgabe seiner Basler Professur und dann auch seinen Zarathustra so weit wie nur mçglich von gesellschaftlichen Bindungen ferngehalten und sich und ihm so neue Freiheiten des Erkennens zu schaffen versucht. Mit seinen Fragen nach dem Ursprung des Bewusstseins, des Begriffs der ,Erkenntnis‘ und des Halts der ,freien Gesellschaft‘ lçst er im V. Buch der FW auch die scheinbar noch letzten philosophischen Gewissheiten der menschlichen Orientierung in der Moderne auf. Sie sind seine abgrndigsten Fragen mit befreiender Wirkung. Sie werden den, der sich ihnen stellen will und kann, zum „Einsiedler“ machen und ihn in die Unverstndlichkeit treiben (FW 364 und 365, FW 371 und 381/15.). Er muss sich dann aus eigener Kraft Halt im Haltlosen schaffen kçnnen (FW 377 und 380/18.). Das kann ihm gelingen durch Freigebigkeit des Geistes (FW 378 und 379/NSM 19) und im großen Ernst des Spiels mit allem (FW 382 und 383/20.). Sicherheiten dafr gibt es nicht.
9. Der Ursprung des Bewusstseins im Bedrfnis nach Mitteilung Nr. 354: Vo m , G e n i u s d e r G a t t u n g ‘ . FW 354 ist einer der philosophisch bedeutsamsten Aphorismen in Nietzsches ganzem Werk und gehçrt in der jngeren Nietzsche-Forschung zu den meistbeachteten.380 Bewusstsein als absolut gewisses Wissen seiner selbst ist der Startbegriff der modernen Philosophie, nach Descartes ihre erste Gewissheit. Auf sie baute nicht nur der gesamte Deutsche Idealismus auf, auch dessen Kritiker hielten an ihr fest, und selbst die besttigten sie noch, die dem (gewissen) Bewussten ein (ungewisses) Unbewusstes gegenberstellten; auch die aktuelle Philosophie des Geistes hngt noch an ihr fest. Mit der Frage nach seinem Ursprung und der berraschenden Antwort: aus dem „,Genius der Gattung‘“ orientiert Nietzsche das moderne Denken tiefgreifend um, auch hier im Horizont der Evolution („Physiologie und Thiergeschichte“). In evolutionsbiologischer Sicht wird unmittelbar plausibel, dass menschliches Bewusstsein nichts Vorgegebenes sein kann, sondern sich unter spezifischen Selektionsbedingungen 380 Vgl. v. a. Hilpert, Die berwindung der objektiven Gltigkeit; Hamacher, ,Disgregation des Willens‘; Behler, Nietzsches Sprachtheorie; Porter, Unconscious Agency in Nietzsche; Gutmann, Nietzsches ,Wille zur Macht‘ im Werk Michel Foucaults; Schlimgen, Nietzsches Theorie des Bewußtseins, 142 u. 146 (eine positive ,Theorie‘ des Bewusstseins wollte Nietzsche freilich gerade nicht entwickeln); Abel, Bewußtsein – Sprache – Natur; Orsucci, Quellen Nietzsches in Charles Richet, 317 f. In Piazzesi/Campioni/Wotling (Hg.), Letture della Gaia scienza/Lectures du Gai savoir, wurde FW 354 ein ganzes Kapitel mit fnf Beitrgen gewidmet: Pietro Gori erlutert die Formel des „Phnomenalismus und Perspektivismus“ im Blick auf Nietzsches Gesamtwerk (Gori, Fenomenalismo e prospettivismo in Gaia scienza 354), Alexander Kupin zieht aufschlussreiche Vergleiche zwischen FW 11 und FW 354 (Kupin, Die Gefahr des Bewusstseins), Andr Luis Muniz Garca stellt FW 354 in Kontinuitt zu JGB 268 (Garca, Nietzsches Umdeutung von Schopenhauers ,Genius der Gattung‘), und Jaanus Soovli zeigt, wie Nietzsches Kritik des Bewusstseins bereits tiefer greift als die, die Derrida spter gegen Husserls Metaphysik des Bewusstsein vorbrachte (Soovli, Die Abwesenheit des Ich). Vgl. auch Stegmaier, Nietzsches Mitteilungszeichen, und Stegmaier, Fearless Findings. Der Aphorismus im Ganzen und im Kontext des V. Buchs der FW ist, soweit ich sehe, noch nicht interpretiert worden.
9. Der Ursprung des Bewusstseins im Bedrfnis nach Mitteilung. Nr. 354
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entwickelt haben musste. Es erscheint dann nicht, wie seit Descartes selbstverstndlich angenommen, als Funktion der Erkenntnis von Gegenstnden, sondern als Funktion der Kommunikation der Gesellschaft, es produziert, registriert und reproduziert kein Wissen ber etwas, auch und gerade nicht ber das sich als ,Ich‘ bewusst werdende Individuum, sondern lediglich gemeinsam gebrauchte, aus der „Noth“ rascher Verstndigung geborene Zeichen.381 Auch das Denken und das von ihm gedachte Allgemeine, die als vorzgliche Leistungen des Bewusstseins galten, werden so von Grund auf umgewertet.382 FW 354 bietet weniger Geheimnisse als unvermutete Vermutungen. Im Kontext von Nietzsches Werk berraschen sie jedoch kaum; er fhrt hier Gedankengnge zusammen, die er von langer Hand vorbereitet hat. Der Aphorismus ist ungewçhnlich umfangreich; nur wenige andere Aphorismen haben, selbst im V. Buch der FW, das viele lange Aphorismen kennt, eine hnliche Lnge; nur FW 357, der große Aphorismus zu den europischen Errungenschaften der deutschen Philosophie, ist noch lnger. Wie zuvor FW 344 (5.1.1.) und FW 345 (6.1.) gibt Nietzsche auch FW 354 einen betont sachlichen, wissenschaftlichen Charakter: ein durchgehend ruhiges, fast gleichmßiges Tempo, durch zwei Trennungsstriche eine bersichtliche Gliederung in eine auf die Fragestellung hinfhrende Einleitung („Wo z u berhaupt Bewusstsein, wenn es in der Hauptsache b e r f l s s i g ist?“), einen Hauptteil mit zwei aufeinander aufbauenden „Vermuthungen“ und einen Schlussteil mit Folgerungen aus diesen Vermutungen. Der Aphorismus setzt ohne Umschweife unmittelbar mit dem Thema ein („Das Problem des Bewusstseins“), das allerdings in einer Parenthese sofort gegenber der traditionellen Fragestellung korrigiert wird („(richtiger: des Sich-Bewusst-Werdens)“). Unauffllig wird es als eines der großen Probleme angekndigt, das den Fragesteller selbst in Frage stellt (6.1.2.) („tritt erst dann vor uns hin, wenn wir zu begreifen anfangen,“ … „und an diesen Anfang des Begreifens stellt uns jetzt“). Dieser Anfang aber ist, als bewusster Versuch, den Menschen ohne Bewusstsein zu denken, ein paradoxes Gedankenexperiment. Auch hier entspringt die Paradoxie einer Selbstanwendung der Unterscheidung mit ihrem negativen 381 Niklas Luhmann hat Nietzsches Vermutung, ohne sich dabei auf ihn zu beziehen, aufgenommen und konsequent in seiner soziologischen Systemtheorie entfaltet. Vgl. einfhrend Luhmann, kologische Kommunikation, 65: „Realistisch gesehen wird man deshalb die bliche Vorstellung, erst msse ein ,Subjekt‘ sich bewußt zur Kommunikation entschließen und dann kçnne es kommunikativ handeln, umkehren mssen.“ 382 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 337 – 346.
264 9. Der Ursprung des Bewusstseins im Bedrfnis nach Mitteilung. Nr. 354 Wert (bewusst ohne Bewusstsein).383 Sie taucht im Schlussteil unauffllig wieder auf, in dem Nietzsche vom „eigentlichen Phnomenalismus und Perspektivismus“ spricht, „wie i c h ihn verstehe“: Wenn das Bewusstsein eine Funktion der Gesellschaft ist und die Individualitt des Einzelnen in ihm verschwindet, kann man nicht mehr glaubhaft sein ,ich‘ betonen. Doch genau das tut Nietzsche. Er wechselt vom ,wir‘ in der Einleitung zum ,ich‘ im Hauptteil, um dann im Schlussteil zwischen ,man‘, ,hier‘ und ,ich‘ zu oszillieren. Er behauptet sein ,ich‘ in der Paradoxie, dass es, nach seinen Vermutungen, gerade durch die bewusste Behauptung in der bloßen Sprachkonvention untergeht. Im Schlusssatz des Aphorismus zieht er die ußerste Konsequenz, dessen ganze Argumentation zu paradoxieren. Nachdem er durchgehend mit der evolutionren Ntzlichkeit des Bewusstseins argumentiert hat, schließt er: „und selbst, was hier ,Ntzlichkeit‘ genannt wird, ist zuletzt auch nur ein Glaube, eine Einbildung und vielleicht gerade jene verhngnissvollste Dummheit, an der wir einst zu Grunde gehn.“ Er stellt auch die letzte Plausibilitt, die er hier zunchst noch gelten ließ, die „Oekonomie der Arterhaltung“ (FW 1), in Frage.
Nietzsches schriftstellerische Methoden: Multifunktionale Sperrungen Nietzsche sperrt das „i c h“. Durch gezielte Hervorhebungen pflegt er seine Aphorismen nicht nur zu verlebendigen, sondern auch zu strukturieren. Er gebraucht sie zum einen (a), um bersicht ber den Gedankengang zu schaffen, indem er leitende Begriffe, Unterscheidungen und Thesen heraushebt – so verfhrt er in der Regel auch in seinen Notaten. In FW 354 sperrt er in diesem Sinn die Begriffe „ b e r f l s s i g“, „M i t t h e i l u n g s -F h i g k e i t“ und „M i t t h e i l u n g s -B e d r f t i g k e i t “, die Thesen, „dass B e w u s s t s e i n b e r h a u p t s i c h n u r u n t e r d e m D r u c k d e s M i t t h e i l u n g s -B e d r f n i s s e s e n t w i c k e l t h a t“ und: das „bewusste Denken g e s c h i e h t i n W o r t e n , d a s h e i s s t i n M i t t h e i l u n g s z e i c h e n“, schließlich den Begriff „t h i e r i s c h e s B e w u s s t s e i n“. Durch Sperrungen macht er aber auch (b) Oppositionen kenntlich, die Abschnitte bergreifen („v e r s t e h e n“, „E r k e n n e n“); dabei kann es sich erbrigen, den Gegensatz eigens zu nennen („w i r d“). Nietzsche kann daneben aber auch (c) Ausdrcken einfach Nachdruck verleihen („W o z u“, „b r a u c h t e“, „b e 383 Vgl. 5.1.2. und Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 9 f.
9.1. Schopenhauers metaphysischer Genius der Gattung
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w u s s t“, „n i c h t“, „A n d e r n“, „s c h e i n e n s i e e s n i c h t m e h r…“, „s c h e i d e n“, „n t z l i c h“). Liest man sie im Zusammenhang, bilden sie einen eigenen Kontext, eine stichwortartige Zusammenfassung der Argumentation des Aphorismus, hier im Blick auf die Heuristik der Not (5.3.1.), die in FW 354 am tiefsten fndig wird. Dazu gehçrt auch jenes „i c h“, das, um auszudrcken, was es sagen will, Begriffe gebrauchen muss, die immer auch anders verstanden werden kçnnen, als es sie selbst versteht. Hervorheben kann Nietzsche (d) aber auch im jeweiligen Kontext befremdliche Ausdrcke, hier „Ve r s c h w e n d e r“ und „m a j o r i s i r t“, mit denen er die herkçmmliche Bewusstseinsphilosophie in die Sprache der konomie und der Politik bersetzt. Eingangs sperrt Nietzsche einen Namen, den einzigen in diesem Aphorismus: „L e i b n i t z“, offenbar in allen genannten vier Funktionen und außerdem einer fnften (e), einen Kontext zu einem anderen Aphorismus herzustellen: in FW 357 (12.2.) wird Nietzsche auf Leibniz‘ „unvergleichliche Einsicht“ zurckkommen, „mit der er nicht nur gegen Descartes, sondern gegen Alles, was bis zu ihm philosophirt hatte, Recht bekam, – dass die Bewusstheit nur ein Accidens der Vorstellung ist, n i c h t deren nothwendiges und wesentliches Attribut, dass also das, was wir Bewusstsein nennen, nur einen Zustand unsrer geistigen und seelischen Welt ausmacht (vielleicht einen krankhaften Zustand) und b e i w e i t e m n i c h t s i e s e l b s t“. Er krzt die Einsicht, worauf wir spter zurckkommen (FW 372/NSM 17 ), durch einen Namen ab und schafft dadurch ebenfalls bersichtliche Kontexte. Im Titel „Vo m , G e n i u s d e r G a t t u n g ‘“, den er wie alle Titel seiner Aphorismen sperrt, sofern er ihnen solche gibt, setzt er zugleich Gnsefßchen (NSM 10): er erinnert mit einem (damals wohlbekannten) Zitat an Schopenhauer, ohne ihn eigens zu erwhnen. Er nennt Schopenhauer im V. Buch der FW erst in FW 357 (12.5.) und in FW 370 (16.), seinen großen Aphorismen zunchst zu den Errungenschaften, dann zu den neuen Mçglichkeiten der europischen Philosophie, sonst nicht ausdrcklich.
9.1. Schopenhauers metaphysischer Genius der Gattung Der „Genius der Gattung“ steht im Zentrum von Schopenhauers „Metaphysik der Geschlechtsliebe“.384 Danach steuert die Geschlechtsliebe unbewusst den Intellekt; mit seinem „derben Realismus“,385 auf den er stolz 384 Schopenhauer, WWV II, Kap. 44: „Metaphysik der Geschlechtsliebe“, 3.607 – 651.
266 9. Der Ursprung des Bewusstseins im Bedrfnis nach Mitteilung. Nr. 354 war, sollte Schopenhauer darin immer mehr Recht bekommen. Hier hatte sein Argwohn gegen die vermeintliche Klarheit und Deutlichkeit des Selbstbewusstseins, der er die Dunkelheit des Unbewussten als blinden Trieb des Willens entgegensetzte, seinen strksten Anhaltspunkt; hier wurde am plausibelsten, dass das Bewusstsein nur Oberflche, Spiegel und Werkzeug eines Unbewussten war.386 Schopenhauer fasste Leibniz’ Einsicht: „das Bewußtseyn ist bedingt durch den Intellekt, und dieser ist ein bloßes Accidenz unsers Wesens“ massiv materialistisch. Das Bewusstsein sei „eine Funktion des Gehirns“, „ein Produkt, ja, insofern ein Parasit des brigen Organismus […], als es nicht direkt eingreift in dessen inneres Getriebe, sondern dem Zweck der Selbsterhaltung bloß dadurch dient, daß es die Verhltnisse desselben zur Außenwelt regulirt“.387 Danach orientiert das Bewusstsein den Organismus in seiner Umwelt, ohne ihn selbst zu tangieren; Schopenhauers Metaphysik eines an sich seienden und unvernderlichen Willens ließ das nicht zu. Die Metapher des Parasiten besagt dennoch etwas anderes: Parasiten sorgen dafr, dass ihr Wirt, bei Strafe der Auszehrung, Mittel entwickelt, sie abzuwehren; so aber steigern gerade sie die Irritationsfhigkeit und Sensibilitt des Organismus fr seine Umwelt.388 Dies legte den Gedanken einer Entwicklung des Bewusstseins und des Gehirns „mit der Steigerung der Bedrfnisse“ nahe.389 Doch die Steigerung verluft nicht geordnet; der blinde Wille treibt fr Schopenhauer den Intellekt nur vor sich her, zwingt ihn zur „Vo r e i l i g k e i t“, wartet selten das „Geschft“ des Intellekts, „des Auffassens der Umstnde, Ueberlegens ihres Zusammenhanges und Beschließens des Rathsamen“ ab.390 Schopenhauer deutet so aus seiner Metaphysik des Willens heraus, 385 Schopenhauer, WWV II, 3.613. 386 Vgl. Gçdde, Traditionslinien des „Unbewußten“, und Gçdde, Nietzsches Perspektivierung des Unbewussten. 387 Schopenhauer, WWV II, Kap. 19: „Vom Primat des Willens im Selbstbewußtsein“, 3.224 – 276, hier 3.224. 388 Vgl. MA I 615 mit N 1880, 4[201], KSA 9.150, M 202, und Serres, Der Parasit. ber die fçrderlichen Wirkungen von Parasiten belas sich Nietzsche bei Espinas, Die thierischen Gesellschaften (vgl. N 1883, 7[244], KSA 10.318, und dazu Montinari, Kommentar, KSA 14.687). Zuletzt sieht auch Nietzsche den Parasiten vorwiegend als bloßes Krankheitssymptom (vgl. WA 3 und GD Streifzge 33 u. 36). Doch der Priester, der „heilige Parasit“ (AC 26; vgl. AC 38, 49 und 62 und EH Schicksal 7), hat, wenn auch unfreiwillig, so doch maßgeblich zur ,Hçherzchtung der Menschheit‘ beigetragen. 389 Schopenhauer, WWV II, Kap. 19: „Vom Primat des Willens im Selbstbewußtsein“, 3.229. 390 Schopenhauer, WWV II, 3.237 f.
9.1. Schopenhauers metaphysischer Genius der Gattung
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dass die Orientierung in unablssig wechselnden Situationen immer in Ungewissheit und Unruhe bleibt und nie zu einem befriedigenden Halt kommt,391 noch als beklagenswerten Mangel; Nietzsche wird darin die Nçtigung zu neuen Bindungen erkennen. Mit der Formel „Genius der Gattung“ spielt Schopenhauer auf den liebenswerten kleinen Gott der Verfhrung, gr. Eros, lat. Cupido an, der das Geschft des blinden Willens zum Dasein besorgt, indem er fr die Begattung und damit fr die Erhaltung des Lebens sorgt. Wenn zwei Leute prfend einander daraufhin ansehen, ob sie zueinander passen, um einander liebend zu erkennen, ist das „die M e d i t a t i o n d e s G e n i u s d e r G a t t u n g ber das durch sie Beide mçgliche Individuum und die Kombination seiner Eigenschaften“.392 Der Genius, der „Wille“, der „Sinn“, der „Geist“, das „Interesse der Gattung“ setzt sich gegen die „Genien“ der Individuen durch. Er fhrt „Krieg mit den schtzenden Genien der Individuen, ist ihr Verfolger und Feind, stets bereit das persçnliche Glck schonungslos zu zerstçren, um seine Zwecke durchzusetzen“.393 Nietzsche bergeht im „gebietenden ,Genius der Gattung‘“ ebenso die Geschlechtsliebe wie die Metaphysik. Er setzt methodisch konsequent dort an, wo der Genius der Gattung bewusst wird, nmlich im Bewusstsein, der „Spiegelung“ des Lebens, von der wir allein bewusst reden kçnnen und dies nur in allgemeinen Zeichen und Begriffen. Es ist das Bewusstsein, das, so individuell es den Individuen erscheinen mag, sie in den Dienst der Gattung stellt, das fr eine „Veroberflchlichung und Generalisation“ des Lebens sorgt und in deren Gefolge fr die „Gemeinschafts- und Heerden-Natur“ des Menschen. So aber verbirgt es unter den Oberflchen, die es schafft, die Tiefen, aus denen es hervorgeht, und damit gehen all seine metaphysischen Aussagen ins Leere. Wie Kant schon klarstellte, hat jedes Bewusstsein nur seine Vorstellungen und kann sie nicht außerdem noch mit dem vergleichen, wovon dies Vorstellungen sind, es sei denn wieder in seinen Vorstellungen. Nach Nietzsches Aphorismus M 119 ist „all unser sogenanntes Bewusstsein ein mehr oder weniger phantastischer Commentar ber einen ungewussten, vielleicht unwissbaren, aber gefhlten Text“. Wir kçnnen wohl wissen, dass wir uns mit unseren Vorstellungen tuschen kçnnen, denn sie erweisen sich immer wieder als haltlos; aber damit wissen wir nur, dass wir veroberflchlichen, aber nicht 391 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 162 – 167. 392 Schopenhauer, WWV II, Kap. 44: „Metaphysik der Geschlechtsliebe“, 3.629. 393 Schopenhauer, WWV II, 3.612, 616 f., 619 f., 632, 639, 638.
268 9. Der Ursprung des Bewusstseins im Bedrfnis nach Mitteilung. Nr. 354 was wir da veroberflchlichen. Mit seiner Metaphysik des blinden Willens der Geschlechtsliebe hat sich Schopenhauers Bewusstsein, dessen Wahrheitsfhigkeit er in Frage stellt, noch einmal einen letzten Halt geschaffen, auf den Nietzsche nun entschlossen verzichtet. Dennoch sind wir nicht vçllig haltlos, sondern finden Halt anderswo, nmlich eben in allgemeinen Zeichen und Begriffen einer Sprache.
9.2. Romantische Seele einer gemeinsamen Sprache ber Zeichen und Sprache dachte Schopenhauer ganz konventionell, er band sie an die Vernunft des Menschen: „Sprache ist das erste Erzeugniß und das nothwendige Werkzeug seiner Vernunft“.394 Die Vernunft bildet Begriffe, deren Zeichen die Wçrter der Sprache sind, mit denen sich Menschen einander „mit grçßter Schnelligkeit und feinster Nancirung mitzutheilen“ fhig sind.395 „Der Sinn der Rede wird unmittelbar vernommen, genau und bestimmt aufgefaßt, ohne daß in der Regel sich Phantasmen einmengten. Es ist die Vernunft, die zur Vernunft spricht, sich in ihrem Gebiete hlt, und was sie mittheilt und empfngt, sind abstrakte Begriffe, nichtanschauliche Vorstellungen, welche ein fr alle Mal gebildet und verhltnißmßig in geringer Anzahl, doch alle unzhligen Objekte der wirklichen Welt befassen, enthalten und vertreten.“396 In einem Entwurf von Ende 1874 (N 1874, 37[6], KSA 7.831 f.), noch zur Zeit des Abschlusses von SE, verzichtet Nietzsche auf die Voraussetzung der Vernunft, durch die sich ein Bewusstsein einem anderen angeblich unmittelbar verstndlich macht, und damit auch auf die Voraussetzung des Bewusstseins. Auch fr ihn ist Sprache nicht vom Individuum und seiner „Noth“ her zu verstehen; „hçchstens die Noth einer ganzen Heerde, eines Stammes“ erzeuge eine gemeinsame Sprache. Sie ist aber nicht „tçnender 394 Schopenhauer, WWV I, § 8, 2.44. 395 Schopenhauer, WWV I, § 71, 2.485. – Zu Schopenhauers Auffassung von Sprache und Erkenntnis und Nietzsches frhe Bezge auf sie vgl. Crawford, The Beginnings of Nietzsche’s Theory of Language, bes. 35 f. u. 184 – 188. 396 WWV I, § 9, 2.47. – Die von Wilhelm von Humboldt stark gemachte Vielfalt der Sprachen, durch die die Welt unterschiedliche Ansichten erhlt bis dahin, so Schopenhauer, „daß man in jeder Sprache anders denkt“, scheint fr ihn kein Einwand gegen das Vernunft-Theorem gewesen zu sein. Vgl. PP II, Kap. 25: „Ueber Sprache und Worte“, § 299, 6.601 – 605, hier 604. Auch wenn er den Ursprung der Sprache im „Instinkt“ vermutet (§ 298a, 6.600), hlt er daran fest, dass die „Vernunft“ sich in ihr ausspreche (§ 301, 6.608 – 610).
9.2. Romantische Seele einer gemeinsamen Sprache
269
Ausdruck“ der Vernunft, sondern einer „gemeinsamen“, „allgemeinen“, „gleichen Seele“, mit der die Sprache wachse, je „inniger und zarter“ der „Verkehr unter Menschen“ werde, und mit der sie auch verkmmern kann. Ohne die Voraussetzung einer allen gleichermaßen zu Gebote stehenden Vernunft werden die Bedeutungen fraglich, mssen erraten werden, und das gelingt nur, wenn man Erlebnisse miteinander teilt. So drngt sich romantisches Vokabular auf: „Sprechen ist im Grunde ein Fragen des Mitmenschen, ob er mit mir die gleiche Seele hat“. Nietzsche versteht Sprache von der Musik her, in die man lustvoll einstimmt, in der man so aufgeht, dass man seine Individualitt vergisst; auch hier klingt Schopenhauer nach.397 Damit die Musik der Sprache „als das Gemeinsame empfunden werde, muss schon die Seele weiter als das Individuum ist geworden sein, sie muss auf Reisen gehen, sich wieder finden w o l l e n, sie muss erst sprechen w o l l e n, bevor sie spricht; und dieser Wille ist nichts Individuelles.“ Dennoch tritt in diesem Wollen, das die Individuen ber sich hinaustreibt, alle Not zurck: „das herrliche Tonwesen einer Sprache“ klingt nicht mehr „nach Noth“, sondern alles ist „mit Lust und ppigkeit geboren“, „frei und mit den Zeichen betrachtenden Tiefsinns“. Nietzsche suspendiert hier den evolutionsbiologischen Gesichtspunkt, von dem er kurz zuvor in WL bei der Frage nach dem Ursprung der Sprache noch ganz selbstverstndlich ausgegangen war: „Was hat der affenartige Mensch mit unsern Sprachen zu thun!“, notiert er nun, mit ihrer „vollen gemeinsamen und berstrçmenden Seele“ brchten diese Sprachen „in einer spteren Zeit“ Dichter, Musiker, Schauspieler, Redner, Propheten hervor, „Sprachenbildner“, „die fruchtbarsten Menschen aller Zeiten“, deren Seele „grçsser, liebevoller, gemeinsamer [war] und beinahe mehr in allen als in einem einzelnen dumpfen Winkel lebend. In ihnen sprach die allgemeine Seele mit sich.“ Statt auf Vernunft und Bewusstsein greift Nietzsche nun auf „ein mythologisches Urwesen“ zurck, „mit hundert Kçpfen und Fssen und Hnden, als die Form des Urmenschen: so wrde es mit sich selbst reden; und erst als es merkte, dass es mit sich wie mit einem zweiten, dritten, ja hundertsten Wesen reden kçnne, liess es sich in seine Theile
397 Vgl. Nietzsche 1869/70, 3[37], KSA 7.70 f.: „Die Welt des S c h e i n s hlt die Individuation fest. / Die Welt des Tons knpft aneinander: sie muß dem Willen verwandter sein. / Der Ton: ist die S p r a c h e d e s G e n i u s d e r G a t t u n g. / Der Ton als Lockstimme ins Dasein. Erkennungszeichen, Symbol des Wesens. / Als Wehstimme bei Gefhrdung des Daseins. / Die Mimik und der Ton: beide Symbole fr Willensbewegungen.“
270 9. Der Ursprung des Bewusstseins im Bedrfnis nach Mitteilung. Nr. 354 zerfallen, die einzelnen Menschen, weil es wusste, dass es nicht ganz seine Einheit verlieren kçnne“.398 Einige Jahre spter konnte Nietzsche den Gedanken, dass die menschliche Sprache „aus der Sympathie der Thtigkeit“ hervorgegangen sei, in Ludwig Noirs Der Ursprung der Sprache (Mainz 1877) wiederentdecken, nun ohne die romantische Annahme einer gemeinsamen Seele und stattdessen wieder aus evolutionsbiologischer Sicht. Noir ging, so Benedetta Zavatta, „seinerseits von Humboldts Annahme aus, das unmittelbare, spontane Verstndnis des sprachlichen Zeichens ruhe auf der geteilten Erfahrung einer Gemeinschaft, das heißt auf jener ,gemeinsamen Thtigkeit‘ (Noir, 64), die der Kommunikation vorausgeht und sie motiviert. Die Entstehung der Sprache erklrt sich nach Noir somit aus dem Hang des Menschen zu gesellschaftlichem Leben und geteilter Erfahrung, wie die biologische berlebensnotwendigkeit sie diktiert. Zu den eigentlichen Mechanismen der Sprachschçpfung bergehend erlutert Noir, dass die Erregung und Begeisterung, die mit der in Gruppen ausgebten Muskelttigkeit einhergeht, spontan in Laute ausbricht, welche dann als Kommunikationszeichen verwendet werden, um die Ttigkeit, die sie hervorgebracht hat, zu bezeichnen und wieder in Erinnerung zu rufen. ,Der Sprachlaut ist also in seiner Entstehung der die gemeinsame Thtigkeit begleitende Ausdruck des erhçhten Gemeingefhls‘ (Noir, 333). Freilich wird die Sprache, wenn sie aus der Sympathie der Ttigkeit hervorgeht, auch nur die gemeinsame Erfahrung ausdrcken. Was von der Erfahrung des Einzelnen zum Ausdruck kommt, ist folglich nur der gemeinsame, allgemeine und gemeinverstndliche Teil: ,Die Sprache haßt und vermeidet berall das Individuelle, heftet sich vielmehr und zwar ausschliesslich an das Allgemeine, das Gemeinsame und darum Gemeinverstndliche‘ (Noir, 368).“399 Ob ein blinder Wille zum Dasein, eine romantische Seele, ein Instinkt, alles verwies darauf, mit der „Ueberschtzung und Verkennung des Bewusstseins“ in der Moderne zu brechen und den Halt der individuellen Orientierung anderswo, in der sprachlichen Kommunikation zu suchen. 398 Nietzsche experimentiert hier sichtlich mit fremden Gedanken, bei denen er denn auch nicht blieb. Wilson, Schelling und Nietzsche, 111, vermutet als Quelle des Notats Schellings spte Philosophie der Mythologie, die Nietzsche aus Eduard von Hartmanns Philosophie des Unbewussten kennengelernt und auf die er sich schon in seinem Entwurf Vom Ursprung der Sprache von 1869/70 bezogen haben kçnnte, in dem er am Ende Schelling zitiert. Vgl. schon Crawford, The Beginnings of Nietzsche’s Theory of Language, 17 – 20 u. 44 f. 399 Zavatta, Die in der Sprache versteckte Mythologie, 269 – 298, bes. 281 f.
9.3. Evolutionres Experiment mit Bewusstheit
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9.3. Evolutionres Experiment mit Bewusstheit Um die metaphysische Voraussetzung eines an sich bestehenden Bewusstseins im Sinn von Descartes’ res cogitans zu unterlaufen, konnte Nietzsche noch einmal an Schopenhauer anschließen, nun an dessen Gedanken der Oberflchlichkeit des Bewusstseins.400 In M 115 fasste er ihn so, dass wir bei der „Ergrndung innerer Vorgnge und Triebe […] eigentlich Worte allein fr s u p e r l a t i v i s c h e Grade dieser Vorgnge und Triebe“ haben und dort, wo Worte fehlen, sie nur schwer beobachten und unterscheiden kçnnen: „ja, ehedem schloss man unwillkrlich, wo das Reich der Worte aufhçre, hçre auch das Reich des Daseins auf. Zorn, Hass, Liebe, Mitleid, Begehren, Erkennen, Freude, Schmerz, – das sind Alles Namen fr e x t r e m e Zustnde: die milderen mittleren und gar die immerwhrend spielenden niederen Grade entgehen uns, und doch weben sie gerade das Gespinnst unseres Charakters und Schicksals.“ Wir sind nur zum geringsten Teil das, was wir bewusst sind; bewusst sind wir das, wofr „wir allein Bewusstsein und Worte – und folglich Lob und Tadel – haben; wir v e r k e n n e n uns nach diesen grçberen Ausbrchen, die uns allein bekannt werden, wir machen einen Schluss aus einem Material, in welchem die Ausnahmen die Regel berwiegen, wir verlesen uns in dieser scheinbar deutlichsten Buchstabenschrift unseres Selbst.“ Wir lesen die unabsehbare, sich unter wechselnden Bedingungen unablssig wandelnde Vielfalt unserer Zustnde als unsere eigene dauernde Einheit, als ein Bewusstsein unserer selbst, als Sein eines „s o g e n a n n t e n , I c h ‘“, weil wir nur dafr Worte haben, mit denen wir uns anderen verstndlich zu machen hoffen. In FW 11 bringt Nietzsche die Kritik des Bewusstseins zu Ende, indem er den Begriff ,Bewusstheit‘ einfhrt. In der berschrift („D a s B e w u s s t s e i n“) gebraucht er noch den metaphysischen Begriff, im Text verwirft er ihn. Den Begriff ,Bewusstheit‘ hat er schon frh verwendet, zunchst jedoch noch im Sinn von ,Wachheit‘ im Gegensatz zu Schlaf und Rausch (GT 8, KSA 1.57, DW 3, KSA 1.566 u. ç.), dann im Sinn von Absichtlichkeit, Entschiedenheit (MA II, WS 216; vgl. auch noch AC 24), schließlich als „Wissen um ein Wissen“, worunter er auch eine merkliche „Empfindung“ von ansonsten unmerklich ablaufenden leiblichen Vorgngen subsumiert.401 Doch „die gewçhnlichste Form des Wissens ist die 400 Vgl. Const ncio, On Consciousness. 401 Das Stichwort ,Bewusstheit‘ ist im einschlgigen 1. Band des Grimmschen Wçrterbuchs von 1854 nicht verzeichnet, auch Schopenhauer verwendet es nicht. Das HWP verzeichnet in Diemer, Art. Bewußtsein, den Begriff ,Bewusstheit‘ als
272 9. Der Ursprung des Bewusstseins im Bedrfnis nach Mitteilung. Nr. 354 ohne Bewußtheit“. Ein solches nicht bewusstes Wissen um ein Wissen ldt nicht ein, ihm ein eigenes Sein zu unterstellen, es gibt „dem Wissen nur eine Vernderung der Richtung […] – und dazu reichen zufllige Anstçße aus, die man vielleicht errathen kann.“ (N 1880/81, 10[F101], KSA 9.438) In FW 11 vereinfacht Nietzsche den Gegensatz zu dem von Bewusstheit und Instinkthaftigkeit und nimmt ihn so in FW 357 nochmals auf. In FW 354 erscheint der Begriff ,Bewusstheit‘ nicht, wohl aber in einer Vorstufe dazu – im Wechsel mit dem (auch hier abgewiesenen) Begriff ,Bewusstsein‘: Die Nçthigung zu denken, die ganze B e w u ß t h e i t, ist erst auf Grund der Nçthigung, sich zu verstndigen, hinzugekommen. Erst Zeichen, dann Begriffe, endlich ,Vernunft‘, im gewçhnlichen Sinn. An sich kann das reichste organische Leben ohne Bewußtsein sein Spiel abspielen: so bald aber sein Dasein an das Mit-Dasein anderer Thiere geknpft ist, entsteht auch eine Nçthigung zur Bewußtheit. Wie ist diese Bewußtheit mçglich? (N 1884/85, 30[10], KSA 11.356)
Nietzsche beantwortet die Schlussfrage nicht: „Ich bin fern davon, auf solche Fragen Antworten (d. h. Worte und nicht mehr!) auszudenken“. Hier wrde nur Bewusstheit mit Bewusstheit, wrden Worte mit Worten erklrt. Nietzsche verweist spçttisch auf „den alten Kant“ mit seiner Rede von „Vermçgen“, die eingeladen habe, sich metaphysisch schlafen zu legen.402 Er scheint sich nicht klar fr die terminologische Trennung von Bewusstsein und Bewusstheit entschieden zu haben. Er kann z. B. gleichbedeutend von „Bewußtheits-Zimmer“ (CV 1, KSA 1.760) und von „Bewusstseinszimmer“ (WL 1, KSA 1.877) sprechen, und noch im spten Nachlass tauchen beide Begriffe ohne deutlichen Sinnunterschied nebeneinander auf (vgl. N 1888, 14[128], KSA 13.310 / W II 5, S. 91). Prgung des 19. Jahrhunderts (1.889 u. 893), weist ihn aber nicht nach. Schlimgen, Nietzsches Theorie des Bewußtseins, thematisiert ihn nicht. Loukidelis, Nachweis aus Otto Liebmann, hat darauf aufmerksam gemacht, dass auch Liebmann, dessen Buch Nietzsche intensiv bearbeitet hatte (BN; vgl. auch N 1881, 11[236], KSA 9.531), den Begriff ,Bewusstheit‘ verwendete, und zwar, wie dann auch Nietzsche, in Bezug auf Leibniz; Nietzsche war er damals jedoch schon gelufig. Das NWB bercksichtigt in seinem Artikel ,Bewusstsein‘ den Begriff ,Bewusstheit‘ nur mit einer nebenschlichen Stelle (1.346). 402 „Wie kommt es doch, daß das Opium schlafen macht? Jener Arzt bei Molire antwortete: es ist dies die vis soporifica. Auch in jener Kantischen Antwort vom ,Vermçgen‘ lag Opium, mindestens vis soporifica: wie viele deutsche ,Philosophen‘ sind darber eingeschlafen!“ (N 1884/85, 30[10], KSA 11.356) Diesen Text hat Nietzsche dann fr JGB 11 verwendet.
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Dennoch schien ihm die Nicht-Unterscheidung, wie er sich rckblickend notiert, ein „Grundfehler“ der Philosophen zu sein: Sie setzen „die Bewußtheit, statt […] als Werkzeug und Einzelnheit im Gesammt-Leben, als Maaßstab, als hçchsten Werthzustand des Lebens“ an, sind darauf aus, ein Gesammtbewußtsein, ein bewußtes Mitleben u. Mitwollen alles dessen, was geschieht, einen ,Geist‘, ,Gott‘ zu imaginiren. Man muß ihnen {aber} sagen, daß eben damit das Dasein zum Monstrum {werde}; daß ein ,Gott‘ {und Gesammt-Sensorium} schlechterdings etwas wre, das {dessentwegen das Dasein} verurtheilt werden mßte… {Gerade daß wir} das zweck- {und mittel}setzende Gesammt-Bewußtsein eliminirt {haben}: das ist die unsere große Erleichterung, – {damit hçren wir auf, Pess. sein zu mssen} – Der {Unser} grçßte{r} Vorwurf gegen das Dasein war bisher die Existenz Gottes… (N 1887, 10[137], KSA 12.534 / W II 2, S. 47)
Auch die Rede vom ,Bewusstsein‘ ist ein Schatten Gottes. Nietzsche macht ihn in FW 11 wiederum unter evolutionsbiologischen Vorzeichen kenntlich: „Die Bewusstheit ist die letzte und spteste Entwickelung des Organischen und folglich auch das Unfertigste und Unkrftigste daran.“ So ist sie vorerst ein noch offenes evolutionres Experiment: „an ihrem verkehrten Urtheilen und Phantasiren mit offenen Augen, an ihrer Ungrndlichkeit und Leichtglubigkeit, kurz eben an ihrer Bewusstheit msste die Menschheit zu Grunde gehen“. Es gbe sie lngst nicht mehr, wre nicht „der erhaltende Verband der Instincte so beraus viel mchtiger“ und kçnnte „im Ganzen als Regulator“ dienen. Bewusstheit ist also nicht „d e r K e r n des Menschen; sein Bleibendes, Ewiges, Letztes, Ursprnglichstes“, es ist keine „feste gegebene Grçsse“, es tritt nur in „Intermittenzen“, nur gelegentlich auf. Im spten Nachlass hat Nietzsche erwogen, ob nicht auch der „Wille zur Macht“ noch eine verfhrerische „Einheitsconception“ sei, die der alten Philosophen-Gewohnheit folge, „die Ausgestaltung einer ungeheuren Flle von Formen vertrglich zu halten mit einer Herkunft aus der Einheit“, eine Gewohnheit, in die vor allem Heidegger mit seiner metaphysischen Interpretation des Willens zur Macht erneut verfiel. Nietzsche fhrt, um ihr zu entgehen, hier fr die „Lust“, die sprbar wird, wenn ein Wille zur Macht einen andern berwindet, den Begriff „Differenz-Bewußtheit“ ein (N 1888, 14[121], KSA 13.300 / W II 5, S. 96). Bewusst wird stets nur eine Differenz im Geschehen, und jede Differenz kann differentiell, ohne ,Gesamt-Bewusstsein‘, bewusst werden. Nietzsches spter Begriff der Differenz-Bewusstheit ist der prziseste und hilfreichste, um den meta-
274 9. Der Ursprung des Bewusstseins im Bedrfnis nach Mitteilung. Nr. 354 physischen Begriff des Bewusstseins zu berwinden, sich von ihm zu erleichtern.403
9.4. Gemeinheit und Gewalt einer Sprache zur leichten Mitteilbarkeit der Not In JGB 268 macht Nietzsche dann deutlich, wie die Sprache der individuellen Orientierung Halt gibt: indem sie sie mit „Gewalt“ entindividualisiert und an andere Orientierungen bindet. Es ist die „Gewalt“ der Sprache, die Menschen „g e m e i n“ macht, „nicht irgend ein Schopenhauerischer ,Genius der Gattung‘“. Nachdem Nietzsche in GT, DW und mehreren Notaten die Formel vom ,Genius der Gattung‘ noch bewundernd zitiert, dann, in einem Notat von 1876, von ihr Abstand genommen hatte („Mit dem ,Genius der Gattung‘ ist gar nichts gewonnen“), konnte er ber solche „m e t a p h y s i s c h e n Vo r s t e l l u n g e n“, wenn auch verhalten, lachen;404 bis JGB 268 und FW 354 taucht der Begriff dann nicht mehr auf. Stattdessen schrieb Nietzsche in WB Richard Wagner die Erkenntnis zu, dass die Sprache zu „einer Gewalt fr sich“ geworden sei, welche nun wie mit Gespensterarmen die Menschen fasst und schiebt, wohin sie eigentlich nicht wollen; sobald sie mit einander sich zu verstndigen und zu einem Werke zu vereinigen suchen, erfasst sie der Wahnsinn der allgemeinen Begriffe, ja der reinen Wortklnge, und in Folge dieser Unfhigkeit, sich mitzutheilen, tragen dann wieder die Schçpfungen ihres Gemeinsinns das Zeichen des Sich-nicht-verstehens, insofern sie nicht den wirklichen Nçthen entsprechen, sondern eben nur der Hohlheit jener gewaltherrischen Worte und Begriffe: so nimmt die Menschheit zu allen ihren Leiden auch noch das Leiden der C o n v e n t i o n hinzu, das heisst des Uebereinkommens in Worten und Handlungen ohne ein Uebereinkommen des Gefhls. (WB 5, KSA 1.455)
Die Sprache sei durch ihre wachsende Intellektualisierung „erkrankt“ und vermçge „nun gerade Das nicht mehr zu leisten […], wessentwegen sie allein da ist: um ber die einfachsten Lebensnçthe die Leidenden miteinander zu verstndigen.“ Denn durch fortschreitende Abstraktion gehe 403 Zum spteren, dem Nietzsches sich annhernden Gebrauch des Begriffs ,Bewusstheit‘ in der Psychologie vgl. Graumann, Bewußtsein und Bewußtheit, 79 – 127, und Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 337 – 346. 404 Vgl. GT 2, KSA 1.33; DW 4, KSA 1.575 u. 577; N 1873, 28[6], KSA 7.618; N 1874, 35[11], KSA 7.811; N 1876, 19[111], KSA 8.357; N 1876/77, 23[46], KSA 8.421.
9.4. Gemeinheit und Gewalt einer Sprache
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die damit verbundene starke Gefhlsregung verloren und mit ihr auch die „Individualitt“. Die Lçsung erwartete Nietzsche mit Wagner naturgemß wiederum von der Musik: Wenn nun, in einer solchermaassen verwundeten Menschheit, die Musik unserer deutschen Meister erklingt, was kommt da eigentlich zum Erklingen? Eben nur die r i c h t i g e E m p f i n d u n g, die Feindin aller Convention, aller knstlichen Entfremdung und Unverstndlichkeit zwischen Mensch und Mensch: diese Musik ist Rckkehr zur Natur, whrend sie zugleich Reinigung und Umwandelung der Natur ist; denn in der Seele der liebevollsten Menschen ist die Nçthigung zu jener Rckkehr entstanden, und i n i h r e r K u n s t e r t ç n t d i e i n L i e b e v e r w a n d e l t e N a t u r. (WB 5, KSA 1.456)
In JGB 268 beklagt Nietzsche nicht mehr die Abstraktion, die die Sprache ermçgliche und nur durch die Musik berwunden werden kçnne, sondern setzt bei der Sprache als solcher an und der Lebensnot, die sie zu bewltigen helfe. Er geht dabei von den Individuen, nun aber nicht mehr von ihrem Bewusstsein aus (der Begriff taucht hier nicht auf ), sondern von den „Erlebnissen“, die man gemein haben msse, um dieselben Worte gleich zu verstehen. ,Erleben‘ ist sein Begriff dafr, wie das Individuum sich das ,Leben‘ ,er‘-schließt, wie es sich von ihm irritieren und faszinieren lsst, kurz: sich auf seine Weise in der Welt orientiert. Seine Orientierung wird leichter durch die Orientierung an anderer Orientierung, wo immer sie mçglich ist, also „unter hnlichen Bedingungen“ unter „hnlicheren“, „gewçhnlicheren Menschen“, „welche mit hnlichen Zeichen hnliche Bedrfnisse, hnliche Erlebnisse andeuten“ kçnnen, schwerer dagegen fr die „schwerer Verstndlichen“, „die Ausgesuchteren, Feineren, Seltsameren“, sie „bleiben leicht allein, unterliegen, bei ihrer Vereinzelung, den Unfllen und pflanzen sich selten fort.“405 Wer sich in Notsituationen leichter und schneller mit andern verstndigen kann, wird eher berleben und sich eher durchsetzen. Teilen Menschen lange genug Gefahren, Bedrfnisse, Erfahrungen, „so e n t s t e h t daraus etwas, das ,sich versteht‘, ein Volk.“ Nach Nietzsches Heuristik der Not gewinnt die Sprache ihre Gewalt durch die „leichte M i t t h e i l b a r k e i t der Noth“: „sich in der Gefahr nicht misszuverstehn, das ist es, was die Menschen zum Verkehre schlechterdings nicht entbehren kçnnen.“ Und hier liegt auch der Sinn der Abstraktion, sie lsst immer strkere Abkrzungen zu: „die Geschichte der 405 Vgl. N 1886/87, 5[79], KSA 12.219 / N VII 3, S. 59: „was muß Einer Alles in sich erlebt haben, um mit seinen 25 Jahren die G der T zu concipiren!“
276 9. Der Ursprung des Bewusstseins im Bedrfnis nach Mitteilung. Nr. 354 Sprache ist die Geschichte eines Abkrzungs-Prozesses“.406 Die Abkrzungen durchdringen im Dienst der Gemeinverstndlichkeit die Orientierung eines jeden, strukturieren nicht nur die ,ußere‘ Welt, in der man mit anderen zusammenlebt, sondern auch die ,innere‘, sobald man sie zur Sprache zu bringen versucht. So bestrkt die zur Verstndigung in Nçten unentbehrliche Sprache „im letzten Grunde das Erleben von nur durchschnittlichen und g e m e i n e n Erlebnissen“ und schließt die, die anders erleben, zunehmend aus. Fr sie wird die Sprache „unter allen Gewalten, welche ber den Menschen bisher verfgt haben, die gewaltigste“. Die „hnlicheren, die gewçhnlicheren Menschen“ werden sie jedoch nicht so erfahren. So ist auch hier kein allgemeines Urteil mçglich, jeder wird aus seinen Erlebnissen heraus, soweit er sie sich unter der Gewalt der gemeinverstndlichen Sprache bewahren kann, anders urteilen. Also ist keine Allgemeingltigkeit beanspruchende Theorie ber die Sprache und ihre Gewalt mçglich. Um dem „natrlichen, allzunatrlichen progressus in simile, der Fortbildung des Menschen in’s hnliche, Gewçhnliche, Durchschnittliche, Heerdenhafte“ entgegenzutreten, bedrfte es vielmehr „ungeheurer Gegenkrfte“ – beim jeweiligen Individuum. Nietzsche schließt den Aphorismus konsequent mit seiner Not und seinem Kampf. Zuvor hatte er fr sich notiert: „die inneren Erlebnisse, Werthschtzungen und Bedrfnisse sind bei mir anders. Ich habe Jahre lang mit Menschen Verkehr gehabt und die Entsagung und Hçflichkeit so weit getrieben, nie von Dingen zu reden, die mir am Herzen lagen. Ja ich habe fast nur so mit Menschen gelebt.“407 Jenseits der Theorie bleibt ihm nur Polemik. In JGB 268 verschiebt er die Gemeinsamkeit der Sprache im Sinn ihrer Gemeinverstndlichkeit zur „Gemeinheit“ im Sinn der moralischen Niedertracht, mit der anders Erlebenden durch sie Gewalt angetan wird. In JGB 284 macht er aus seiner Not dann die Tugend, in einer „ungeheuren und stolzen Gelassenheit“ mit ihr leben zu kçnnen: „die Einsamkeit ist bei 406 Zum Nheren vgl. N 1885, 34[249], KSA 11.505 / N VII 1, S. 5, u. N 1885, 38 [2], KSA 11.597; N 1886/87, 5[16], KSA 12.190 / N VII 3, S. 173 f., u. N 1886/ 87, 6[11], KSA 12.237, und dazu Stegmaier, Weltabkrzungskunst, Stegmaier, Nietzsches Zeichen, und Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 282 – 285. 407 Nachlass 1885, 34[86] / N VII 1, S. 137 f. Vgl. den Brief an Overbeck vom 5. August 1886, KGB III/3, Bf.729. Im Notat kommt Nietzsche auch auf das Bewusstsein zurck (bei Montinari ein besonderes „Fragment“, 34[87]): „Wir b i l d e n u n s e i n, daß das Befehlende, Oberste in unserem Bewußtsein stecke. Zuletzt haben wir ein doppeltes Gehirn: die Fhigkeit, etwas von unserem Wollen, Fhlen, Denken selber zu wollen, zu fhlen und zu denken fassen wir mit dem Wort ,Bewußtsein‘ zusammen.“
9.5. Bewusstsein als Funktion der Mitteilungs-Bedrftigkeit
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uns eine Tugend, als ein sublimer Hang und Drang der Reinlichkeit, welcher errth, wie es bei Berhrung von Mensch und Mensch – ,in Gesellschaft‘ – unvermeidlich-unreinlich zugehn muss. Jede Gemeinschaft macht, irgendwie, irgendwo, irgendwann – ,gemein‘.“ Im V. Buch der FW beweist Nietzsche diese Gelassenheit auch gegenber dem Gemeinen.
9.5. Bewusstsein als Funktion der Mitteilungs-Bedrftigkeit In FW 354 fhrt Nietzsche seine Kritik der Metaphysizierung der Bewusstheit zum Bewusstsein in FW 11 mit seiner Heuristik der Sprache aus der ,leichten Mitteilbarkeit der Not‘ in JGB 268 zusammen. Er kehrt hier zum Begriff des Bewusstseins zurck – um es nun als Funktion der ,leichten Mitteilbarkeit der Not‘ zu entmetaphysizieren. Nach FW 11 entstand das Bewusstsein zufllig in der Evolution. In FW 354 sucht Nietzsche zu zeigen, dass „der Mensch“ diesen Zufall zur Steigerung seiner Kommunikation nutzen konnte. Das Bewusstsein wird damit zur Funktion der Kommunikation. Es wird in dieser Funktion bençtigt.408 Denn „Mittheilung und Verstndlichmachung“ ist stets riskant; gerade allgemeinverstndliche Zeichen, die von vielen in vielfltigen Situationen gebraucht werden kçnnen, mssen Spielrume ihres Gebrauchs lassen, um auch in immer neuen, immer anderen Situationen verstanden werden zu kçnnen; werden sie aber in Spielrumen immer wieder anders verstanden, kçnnen sie immer auch missverstanden werden. Daher ist beim Zeichengebrauch erhçhte Aufmerksamkeit vonnçten: sprachliche Kommunikation bedarf stndiger Bewusstheit und in diesem Sinn, nicht im Sinn eines bleibenden Seins, eines anhaltenden Bewusstseins.409 „Richtiger“ gestellt ist das „Problem des Bewusstseins“ also das „des Sich-Bewusst-Werdens“ von Fall zu Fall angesichts der stndigen Gefahr des Missverstehens im Zeichengebrauch. Nietzsche macht dabei keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Mensch und Tier. Er bleibt dabei, dass die meisten Lebensvorgnge auch beim Menschen ohne Bewusstsein, instinktiv verlaufen. 408 Die Kognitionswissenschaft spricht hier inzwischen von ,socializing cognition‘. Die Orientierung an anderer Orientierung formt die eigene Orientierung, und damit entsteht, allerdings nur fr wenige, das neue Problem, die eigene von der anderen zu unterscheiden. Vgl. de Jaegher/di Paolo/Gallagher, Does social interaction constitute social cognition?, und Bçckler/Knoblich/Sebanz, Socializing Cognition. 409 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 337 – 346.
278 9. Der Ursprung des Bewusstseins im Bedrfnis nach Mitteilung. Nr. 354 Er trgt seine „Antwort“ auf die „Frage“: „Wozu berhaupt Bewusstsein, wenn es in der Hauptsache b e r f l s s i g ist?“ in FW 354 in zwei „vielleicht ausschweifenden Vermuthungen“ vor. Nach der ersten scheint „die Feinheit und Strke des Bewusstseins immer im Verhltniss zur M i t t h e i l u n g s -F h i g k e i t eines Menschen (oder Thiers) zu stehn, die Mittheilungs-Fhigkeit wiederum im Verhltniss zur M i t t h e i l u n g s -B e d r f t i g k e i t“. Je riskanter die Situation, desto mehr ist Kommunikation und dafr Bewusstheit gefordert, und je mehr sie vonnçten sind, desto differenzierter und effizienter werden sie sich mit der Zeit ausbilden. Ist Mitteilungsfhigkeit aber einmal in einem bestimmten Grad erworben, steht sie auch noch bereit, wo keine akuten Nçte mehr herrschen, und so wird „endlich ein Ueberschuss dieser Kraft und Kunst der Mittheilung“ Gelegenheiten suchen, sich auch ohne Not „verschwenderisch“ auszugeben; sie kann nun von „Sprachbildnern“ aller Art,410 Knstlern, Rednern, Predigern, Schriftstellern und, darf man hinzufgen, auch von Wissenschaftlern und Philosophen genutzt werden. Doch auch hier geht es zuerst und zumeist, notierte sich Nietzsche vorab, um „E r o b e r u n g d e s A n d e r n“, die eben dann, wenn es auf „das (oft s c h m e r z h a f t e) E i n p r g e n e i n e s W i l l e n s a u f e i n e n a n d e r e n W i l l e n“ ankommt, mçglichst schnell verlaufen muss (N 1883, 7[173], KSA 10.298). Nietzsches zweite, noch tiefer ansetzende Vermutung ist dann, dass nicht nur die „Feinheit und Strke des Bewusstseins“, sondern „B e wusstsein berhaupt sich nur unter dem Druck des M i t t h e i l u n g s -B e d r f n i s s e s e n t w i c k e l t h a t“. Danach wre, was man ,Bewusstsein‘ nennt, „eigentlich nur ein Verbindungsnetz zwischen Mensch und Mensch“,411 und es ,enthlt‘ dann auch nur Mitteilbares. Dessen Mitteilbarkeit verdankt sich dann jedoch „n i c h t der Vernunft“ im traditionellen Sinn eines allen Menschen an sich zukommenden Vermçgens, sondern auch hier dem „Sich-bewusst-werden der Vernunft“, nun aber der ,großen Vernunft des Leibes‘, die nur gelegentlich bewusst wird – auch und gerade beim Zeichengebrauch. Mit 410 Vgl. WB 9, KSA 1.488, u. ç. 411 Vgl. zur Metaphorik des Netzes Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 631 f. Besonders Norbert Elias hat in seiner bei den Individuen ansetzenden und auf sie ausgerichteten Soziologie von den Metaphern des Geflechts und der Verflechtung intensiven Gebrauch gemacht. Vgl. v. a. Elias, Gesellschaft der Individuen, bes. 67 ff., zum Verhltnis seiner Symboltheorie (Elias, Symboltheorie) zu Nietzsches Philosophie der Sprache und des Zeichens insbes. in FW 354 Stegmaier, Nietzsches Mitteilungszeichen.
9.5. Bewusstsein als Funktion der Mitteilungs-Bedrftigkeit
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dieser Vernunft ist nichts mehr schlechthin Allgemeines und Allgemeingltiges unterstellt. Am Zeichengebrauch nimmt, weitgehend ohne Bewusstheit und Sprache, der Leib im Ganzen teil: „der Blick, der Druck, die Gebrde“.412 Die non-verbale Kommunikation teilt der Mensch fraglos mit anderen Tieren. Doch der „Zeichen-erfindende Mensch“ konnte sich mit seinen verbalen Zeichen leichter von der leiblichen Gegenwart in der jeweiligen Situation lçsen. Er konnte durch verbale Zeichen Sinneseindrcke „fixiren“, sich dadurch von der jeweiligen Situation berhaupt distanzieren und situationenbergreifend planen und handeln. Gerade dies aber musste er stets auch in Rcksicht auf andere tun, die mit denselben Zeichen hnliche Sinneseindrcke fixieren sollten, und darum musste er seine Zeichen kommunizieren: „das Bewusstwerden unserer Sinneseindrcke bei uns selbst, die Kraft, sie fixiren zu kçnnen und gleichsam ausser uns zu stellen, hat in dem Maasse zugenommen, als die Nçthigung wuchs, sie A n d e r n durch Zeichen zu bermitteln.“ Mit verbalen Zeichen kçnnen schließlich andere verbale Zeichen abgekrzt und so eine abgehobene „Oberflchen- und Zeichenwelt“ aufgebaut werden, in der und mit der weitgehend situationsunabhngig operiert werden kann. Dazu muss sie unablssig bewusst gehalten werden, je komplexer sie ausfllt, desto aufmerksamer: „Der Zeichen-erfindende Mensch ist zugleich der immer schrfer seiner selbst bewusste Mensch; erst als sociales Thier lernte der Mensch seiner selbst bewusst werden, – er thut es noch, er thut es immer mehr.“ Und je tiefer dann der Gebrauch von Zeichen und Sprache einverleibt ist, je routinierter, selbstverstndlicher er wird, desto weniger kann der Mensch seine Individualitt von seiner Sozialit unterscheiden. Das Bewusstsein, das der Einzelne fr sein Eigenstes, das Arcanum seiner Individualitt hlt, manifestiert mit seinen Zeichen gerade das Soziale, es ist bloßer Effekt seiner Sozialitt. Damit hat das Individuum nicht nur kaum einen Ansatz, sondern auch kaum einen Willen mehr, sich bewusst von seiner Sozialitt zu distanzieren. Seine bewusst gebrauchten Zeichen ziehen es im Gegenteil gerade in sie hinein; als Zeichen gebrauchender wird der Mensch immer mehr zu einem durch und durch sozialen Wesen. Und selbst seine „Wahrhaftigkeit“, die daran Anstoß nehmen kçnnte, ist nur, hatte sich Nietzsche vorab notiert, eine „W a h r h a f t i g k e i t in der Heerde“. Seine Gesellschaft fordert von ihm: „,Du sollst erkennbar sein, dein Inneres durch deutliche und constante Zeichen 412 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 369 – 422.
280 9. Der Ursprung des Bewusstseins im Bedrfnis nach Mitteilung. Nr. 354 ausdrcken – sonst bist du gefhrlich: und wenn du bçse bist, ist die Fhigkeit dich zu verstellen, das Schlimmste fr die Heerde. Wir verachten den Heimlichen Unerkennbaren‘“. Durch Erziehung wird er „zu einem b e s t i m m t e n G l a u b e n ber das Wesen des Menschen“ gebracht, offen und glaubhaft fr andere zu sein: „sie m a c h t e r s t d i e s e n G l a u b e n und fordert dann darauf hin ,Wahrhaftigkeit‘.“ (N 1883/84, 24[19], KSA 10.657)
9.6. Phnomenalismus und Perspektivismus des Bewusstseins In seinen Schlussfolgerungen im dritten Teil des Aphorismus bringt Nietzsche seine Kritik des metaphysischen Bewusstseins aus den Bedrfnissen der menschlichen Kommunikation auf die Termini des „Phnomenalismus und Perspektivismus“. Es ist einer der seltenen Flle, in denen er im verçffentlichten Werk solche Termini benutzt, und er umstellt sie denn auch sogleich mit deutlichen Einschrnkungen: „Dies ist der eigentliche Phnomenalismus und Perspektivismus, wie i c h ihn verstehe“. Die Termini Phnomen und Perspektive waren in der zeitgençssischen philosophischen Debatte allgemein verbreitet; Nietzsche bernimmt sie so, dass er sich zugleich von ihnen distanziert. Er sucht den Sinn, den er ihnen gibt, gegen den „vergemeinerten“ Gebrauch zu behaupten – mit der Gefahr des Missverstndnisses. Der Begriff ,Phnomenalismus‘ war vor allem auf Kants Lehre gemnzt, dass wir es niemals mit ,Dingen an sich‘, sondern immer nur mit ,Erscheinungen‘, ,Phnomenen‘, zu tun htten; auch dieser ,-ismus‘ wurde wie viele andere zunchst von Kritikern jener Lehre aufgebracht und dann auch zu ihrer Verteidigung und Fortbildung benutzt.413 Eine ,wahre 413 Vgl. Halbfass, Art. Phnomenalismus, 483. Besonders in den 1880er Jahren taucht der Begriff ,Phnomenalismus‘ hufig auf, ohne dass man przise sagen kçnnte, woher Nietzsche den Begriff hat. Nach Recherchen von Andreas Rupschus benutzte Eduard von Hartmann den Begriff, jedoch nur in Werken, die Nietzsche nicht besaß, namentlich in den Philosophischen Fragen der Gegenwart (Leipzig/ Berlin 1885) und in seiner Philosophie des Schçnen (Leipzig 1886). Der Begriff kommt in spteren Auflagen des Bandes zur Neuzeit in Friedrich Ueberwegs Grundriss der Geschichte der Philosophie (ab 1872) vor (wiederum jedoch nicht in der Auflage von 1866, die sich in BN findet), Johann Eduard Erdmann verwendete ihn in seinem Grundriss der Geschichte der Philosophie von 1866, Wilhelm Windelband in seiner Geschichte der neueren Philosophie von 1880, Hans Vaihinger in seinem Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft von 1881 und Eduard Zeller in seinem Aufsatz Ueber die Grnde unseres Glaubens an die Realitt der Außenwelt,
9.6. Phnomenalismus und Perspektivismus des Bewusstseins
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Wirklichkeit‘ ,hinter‘ den Phnomenen, wie sie unserem Bewusstsein gegeben sind, ist danach unerreichbar. Nietzsche gab es nicht nur auf, sie zu finden, er wies den Gegensatz von ,wahrer‘ und ,scheinbarer‘ Welt als solchen ab, der weiterhin einlud, sie zu suchen: „der Gegensatz von ,Ding an sich‘ und Erscheinung“ gehe ihn nichts an, „denn wir ,erkennen‘ bei weitem nicht genug, um auch nur so s c h e i d e n zu drfen.“414 Er zieht daraus die Konsequenz, auch die Gegebenheit der Phnomene in einem Bewusstsein als bloßes Phnomen zu betrachten, also auch transzendentalphilosophische Voraussetzungen im Sinn Kants (und spter Husserls) nicht vom Phnomenalismus auszunehmen. So stellt er auch das ,Ich‘ in Frage, das ein Bewusstsein ,habe‘.415 Nietzsche notierte zunchst dazu: Was mich am grndlichsten von den Metaphysikern abtrennt, das ist: ich gebe ihnen nicht zu, daß das ,Ich‘ es ist, was denkt; fhlt und will: vielmehr nehme ich das Denken Ich selber als eine Construktion des Denkens, von gleichem Range, wie ,Stoff ‘ ,Ding‘ ,Substanz‘ ,Individuum‘ ,Zweck‘ ,Zahl‘: also nur als regulative Fiktion, mit deren Hlfe eine Art Bestndigkeit, folglich ,Erkennbarkeit‘ in eine Welt des Werdens hineingelegt, hineingedichtet wird. […] Das Denken setzt {erst} das Ich. (N 1885, 35[35], KSA 11.526 / W I 3, S. 108)
Hier ist noch ,das Denken‘ als etwas an sich Gegebenes vorausgesetzt. In JGB 16 nimmt Nietzsche auch dies noch zurck. Es steht keineswegs fest, dass i c h es bin, der denkt, dass berhaupt ein Etwas es sein muss, das denkt, dass Denken eine Thtigkeit und Wirkung seitens eines Wesens ist, welches als Ursache gedacht wird, dass es ein ,Ich‘ giebt, endlich, dass es bereits fest steht, was mit Denken zu bezeichnen ist, – dass ich w e i s s, was Denken ist. (JGB 16)
Der Phnomenalismus, wie Nietzsche ihn versteht, lçst auch ,Bewusstsein‘, ,Ich‘, ,Denken‘ usw. in Phnomene auf, von denen man nicht sagen kann, abgedruckt 1884 in der dritten Sammlung seiner Vortrge und Abhandlungen. Die Liste ließe sich fortsetzen. 414 Nietzsche hat das vielfach wiederholt. Vgl. v. a. GD Fabel (6.80 f.). 415 Das geschah bereits bei David Hume, zu Nietzsches Zeit bei John Stuart Mill und in der deutschsprachigen Philosophie bei Ernst Mach und Richard Avenarius, deren Werke Nietzsche zum Teil bekannt waren. Vgl. Gori, Il meccanicismo metafisico, und Gori, The Usefulness of Substances. Mach und Avenarius benutzten den Begriff ,Phnomenalismus‘ jedoch nicht als Programmtitel (vgl. Halbfass, Art. Phnomenalismus, 484) und auch nicht in den Schriften, die Nietzsche nachweislich von ihnen gelesen hat, den Beitrgen zur Analyse der Empfindungen von Mach und Philosophie als Denken der Welt gemss dem Princip des kleinsten Kraftmasses von Avenarius (BN).
282 9. Der Ursprung des Bewusstseins im Bedrfnis nach Mitteilung. Nr. 354 wovon sie Phnomene sind.416 Man kann dann aber auch nicht mehr sagen, Phnomene seien ,vorhanden‘ oder ,lgen vor‘, denn damit htte man weiterhin ein an sich bestehendes Bewusstsein vorausgesetzt, dem sie vorlgen, fr das sie vorhanden wren. Damit hat man nichts mehr, keine irgendwie feststehende ,Realitt‘ in der Hand, man ist bei einem „ganz in Symbolen und Unfasslichkeiten schwimmenden Sein“ angekommen, wie es Nietzsche zuetzt seinem „Typus des Erlçsers“ zugeschrieben hat, den er als konsequentesten „Anti-Realisten“ verstand (AC 31 f.). Doch sein Phnomenalismus ist auch ein Perspektivismus. Perspektiven kann man ebenso wie Phnomene eng und weit fassen.417 Man kann jedes Phnomen als eine Perspektive betrachten, in der etwas von der (im brigen unbekannten) Welt, der ,ußeren‘ wie der ,inneren‘, aufgefasst und erfasst wird, eine Perspektive aber auch als einen Zusammenhang von Phnomenen, die einen Ausschnitt der Welt zeigen oder auch im grçßten Maßstab, nach einem Notat Nietzsches, eine „Welt der Phnomene‘“ oder „Phnomenal-Welt“ im Ganzen (N 1887, 9[106], KSA 12.395 f. / W II 1, S. 59).418 Perspektiven setzen jedoch Standpunkte und Horizonte voraus,
416 Vgl. das sptere Notat N 1888, 14[144], KSA 13.329 / W II 5, S. 62: „Wenn wir nur die inneren Phnomene beobachten, so sind wir vergleichbar den Taubstummen, die aus der Bewegung der Lippen die Worte errathen, die sie nicht hçren. Wir schließen aus den Erscheinungen des inneren Sinns auf sichtbare u andere Phnomene, welche wir wahrnehmen wrden, wenn unsere Beobachtungs-Mittel zureichend wren u. welche man den Nervenstrom nennt.“ – Dilthey, Beitrge zur Lçsung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realitt der Außenwelt, 91, definierte den Phnomenalismus dann so: „D e r P h n o m e n a l i s m u s ist die bewußte k r i t i s c h e E i n s c h r n k u n g d e r W i s s e n s c h a f t a u f E r s c h e i n u n g e n, nmlich auf die im Bewußtsein auftretenden Empfindungen und Gemtszustnde, auf ihre Koexistenz, ihre Abfolge und ihre logischen Beziehungen. Raum, Zeit, Substanz, Kausalitt, Zweck, Ich und Außenwelt werden in gleichfçrmige Beziehungen zwischen phnomenalen, nach ihrem objektiven Werte nicht bestimmbaren Beziehungspunkten aufgelçst.“ 417 Zur Herkunft des Begriffs der Perspektive aus der Malerei und ihrer Theorie in der anbrechenden Moderne und seinem Gebrauch bei Kant vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 207 – 213. 418 Nietzsche selbst verbindet, soweit ich sehe, die Begriffe ,Phnomenalismus‘ und ,Perspektivismus‘ bzw. ,Phnomen‘ und ,Perspektive‘ außer in FW 354 nicht ausdrcklich miteinander. N 1887, 7[1], KSA 12.249 („fr jedes [lebende Wesen] giebt es einen kleinen Winkel, von dem aus es mißt, gewahr wird, sieht und nicht sieht. Das ,Wesen‘ f e h l t: Das ,Werdende‘, ,Phnomenale‘ ist die einzige Art Sein“) ist offenbar eine Perspektive gemeint, aber nicht genannt.
9.6. Phnomenalismus und Perspektivismus des Bewusstseins
283
die ihr ,Gesichtsfeld‘ begrenzen. Dadurch sind sie ,festgestellt‘419 oder stehen doch, soweit auch sie sich ,verschieben‘, ,verndern‘, ,bewegen‘ kçnnen, wenigstens auf Zeit fest. Der Phnomenalismus bekommt als Perspektivismus eine – noch immer bewegliche – Struktur.420 Halt geben ihm die Bedrfnisse und Nçte der Orientierung, die sie jederzeit aber auch wieder in Bewegung bringen kçnnen. Sie richten die Perspektiven aus. Der Phnomenalismus und Perspektivismus, wie Nietzsche ihn versteht, fgt sich in seine Heuristik der Not ein. Er hat den Begriff ,Perspektive‘ seit GT und vor allem von den UB an regelmßig gebraucht, ohne ihm dort schon besonderes philosophisches Gewicht zu geben.421 Von 1881 an folgen Jahre der Erprobung in seinen Notaten. Nietzsche spricht, schon hier im Zusammenhang mit der Frage nach der Entwicklung des Bewusstseins, versuchsweise von einem „Perspectiv-Apparat“, „der 1) ein gewisses Stillestehen 2) ein Vereinfachen 3) ein Auswhlen und Weglassen mçglich macht“ (N 1884, 25[336], KSA 11.99). Er definiert den „Egoismus als das perspektivische Sehen und Beurtheilen aller Dinge zum Zweck der Erhaltung“; alles Leben ist nur in einer „perspektivischen Illusion“, einer „Welt der Perspective“ mçglich.422 Er verbindet das „,Perspektivische‘“, „das Vereinfachen und Flschen“, mit dem Gedanken der Willen zur Macht und dehnt es auf das „Reich des Unorganischen“, der Physik, aus.423 Dabei wird dann „das Wesentliche des organischen Wesens“ „die
419 Vgl. N 1884, 26[359], KSA 11.244: „Das Problem der W a h r h a f t i g k e i t. Das Erste und Wichtigste ist nmlich der Wille zum Schein, die F e s tstellung der Perspectiven, die ,Gesetze‘ der Optik d. h. das Setzen des Unwahren als wahr usw.“ 420 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 194 – 225. 421 Auch der Begriff ,Perspektive‘ war zu Nietzsches Zeit schon gngig, in der Mathematik, Geometrie und Physik und von ihnen aus auch in der Philosophie. Nicht der Begriff ,Perspektivismus‘, aber die Begriffe ,perspectivisch‘ bzw. ,das Perspectivische‘ tauchen hufig in Gustav Teichmller, Die wirkliche und die scheinbare Welt, auf. Teichmller, Nietzsches zeitweiliger Kollege in Basel, lehnte ,das Perspectivische‘ jedoch ab und wollte es berwinden („Das durch die perspectivische Auffassung getuschte Denken scheidet nun die wirkliche von der scheinbaren Welt und kommt zu einer festen Gewissheit und zu einer sicheren Ruhe, weil es den Grund seiner Tuschung erkennt“; 346). Zu Teichmller als Quelle vgl. CPJ 2.399, Nehamas, Immanent and Transcendent Perspectivism in Nietzsche, 474, Kçnig, Art. Perspektive, Perspektivismus, perspektivisch I, 367, und Riccardi, „Der faule Fleck des Kantischen Kriticismus“, 208 f., zur weiteren Vorgeschichte des Begriffs, insbesondere bei Leibniz, wiederum Kçnig, Art. Perspektive, 365 – 367. 422 N 1884, 26[71], KSA 11.167; N 1884, 26[334], KSA 11.238; N 1884, 27[41], KSA 11.285. 423 Vgl. N 1885, 39[13], KSA 11.623 / N VII 2, S. 183; N 1885, 35[68], KSA 11.540 / W I 3, S. 68; N 1885, 36[20], KSA 11.560 / W I 4, S. 30; N 1885, 40 [21], KSA 11.638 f. / W I 7, S. 66; N 1885, 40[39], KSA 11.648 f. / W I 7, S. 56.
284 9. Der Ursprung des Bewusstseins im Bedrfnis nach Mitteilung. Nr. 354 perspektivische innere Vielheit, welche selber ein Geschehen ist.“424 „,Ich‘ ,Subjekt‘“ zeigen sich in „Umkehrung des Perspektivischen Blicks“ als „Horizont-Linie“ eines Gesichtsfelds, sie sind „die scheinbare Einheit, in der wie in einer Horizontlinie alles sich zusammenschließt“; „Sinn“ berhaupt kçnnte „BeziehungsSinn“ und als solcher „Perspektive“ sein.425 Schließlich fhrt Nietzsche den Gedanken der Zeichen ein, die zu Perspektiven werden.426 Von JGB an gebraucht er den Begriff des ,Perspektivischen‘ mit seinem ganzen kritischen Potential auch im verçffentlichten Werk, er wird nun zum Terminus. Er bildet den Begriff der „Perspektiven-Optik des Lebens“ (JGB 11) und nun in FW V den des „Perspektivismus“. Mit FW 374 widmet er dem Perspektivischen einen eigenen Aphorismus (13.3.).
Nach FW 354 ist auch das Phnomen des Bewusstseins eine Perspektive; nach seiner Herkunft aus den Nçten der Mitteilung ist es eine „HeerdenPerspektive“. Ihr ,Phnomenalismus und Perspektivismus‘ ist komplexer Art. Nietzsche spricht von „bersetzen“ und „zurck-bersetzen“: es geht nicht mehr um die Absetzung von einer Welt an sich, sondern um die ,bersetzung‘ eines Phnomenalismus und Perspektivismus in einen andern. Nietzsche macht sie an „unsren Handlungen“ fest, die fr jedermann beobachtbar, nicht nur Phnomen des eigenen Bewusstseins sind: „Unsre Handlungen sind im Grunde allesammt auf eine unvergleichliche Weise persçnlich, einzig, unbegrenzt-individuell, es ist kein Zweifel“.427 Soweit sie bewusst geplant sind, kommen sie bereits aus der Bewusstseins-Perspektive, ihre Ausfhrung in einer konkreten Situation ist dennoch individuell; jede ist darin anders als jede andere. Spricht man aber von einer solchen individuellen Handlung zu andern und macht sie sich dazu neu bewusst, wird sie wieder „in die Heerden-Perspektive zurckbersetzt“; in allgemein verstndlichen Zeichen mitgeteilt, wird sie „verallgemeinert“ und dadurch „vergemeinert“, als individuelle Handlung entwertet. In der Mitteilung wird, was ,unbegrenzt-individuelle Handlungen‘ waren, zu sozialen Phnomenen: „sobald wir sie in’s Bewusstsein bersetzen, s c h e i n e n s i e e s n i c h t m e h r…“ In Nietzsches Perspektivismus der bersetzung und Rckbersetzung von Perspektiven ineinander werden die individuellen Perspektiven, auch die des scheinbar individuellen Bewusstseins der eigenen Handlungen, sobald sie mitgeteilt 424 N 1885/86, 1[128], KSA 12.41 / N VII 2, S. 113. 425 N 1885/86, 2[67], KSA 12.91 / W I 8, S. 147; 2[91], KSA 12.106 / W I 8, S. 130; 2[77], KSA 12.97 / W I 8, S. 138. – Vgl. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 5.632 – 5.6331. 426 N 1885/86, 2[193], KSA 12.162 / W I 8, S. 46. 427 Vgl. zum ,Unbegrenzt-Individuellen‘ darin Hamacher, „,Disgregation des Willens‘“, bes. 330.
9.7. Metaphysische Reste der philosophischen Sprache
285
und dazu bewusst gemacht werden, unvermeidlich von allgemein mitteilbaren Perspektiven „m a j o r i s i r t“. Dennoch lassen die Handlungen immer auch andere Perspektiven der Beobachtung und Interpretation und die allgemein mitteilbaren Perspektiven Alternativen zu. Der Perspektivismus ineinander bersetzbarer Perspektiven bleibt offen fr immer feinere und stimmigere Differenzierungen der Welt, ohne dass es dabei je zu einer letzten Wahrheit kommen kçnnte.
9.7. Metaphysische Reste der philosophischen Sprache Der Perspektivismus hatte, wenn auch nicht unter diesem Namen, vor dem 19. Jahrhundert und vor Kant eine lange Tradition bis zurck zum Perspektivismus des Protagoras, nach dem der Mensch, der Mensch im Allgemeinen und jeder Mensch im Besonderen, das Maß aller Dinge war. Spinoza ging von einem bestndigen Wechsel von Perspektiven aus („sub specie“), Leibniz verstand alles Seiende als individuelle Monaden und bloße Perspektiven aufeinander, beide jedoch im Horizont einer gçttlichen, fr uns unerreichbaren ,wahren Welt‘. Kant negierte zwar mit seinem „Gegensatz von ,Ding an sich‘ und Erscheinung“ prinzipiell die Erkennbarkeit einer an sich seienden Welt, setzte aber mit seinem „Gegensatz von Subjekt und Objekt“ noch Formen der Anschauung und des Verstandes voraus, die a priori in jedem „Gemt“ gleichermaßen „zum Grunde liegen“.428 Hinter ihnen treten im Kantischen Perspektivismus die individuellen Perspektiven zurck, aber auch die Sprache, die bestndig jene „Oberflchen- und Zeichenwelt“ erzeugt, die nach Nietzsche – und auch schon nach Hamann, Herder und Humboldt – die Bewusstseins-Perspektive beherrscht. Der Gegensatz von Subjekt und Objekt kçnnte sich seinerseits, wie Nietzsche schon in JGB 20 deutlich gemacht hat, dem spezifischen Satz-Schema der indo-europischen Sprachen verdanken, nach dem einem bleibenden ,zugrundeliegenden‘ Subjekt wechselnde ,zufllige‘ Prdikate beigelegt werden und aus dem seinerseits der Gegensatz von Substanz und Akzidens entsprungen sein kçnnte, der die europische Philosophie beherrschte; wie eine Substanz Akzidentien so hat, legt das Subjekt-Prdikat-Schema nahe, ein Bewusstsein Vorstellungen. Die europische Philosophie wre danach eine „Philosophie der Grammatik“ gewesen (JGB 20) und als solche eine unmittelbar plausible „Volks428 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 93/B 125; vgl. B 125.
286 9. Der Ursprung des Bewusstseins im Bedrfnis nach Mitteilung. Nr. 354 Metaphysik“, die „zu gewissen andern Mçglichkeiten der Welt-Ausdeutung den Weg wie abgesperrt erscheinen“ ließ (JGB 20).429 Aber auch Nietzsche muss sich dieser metaphysizierenden Sprache bedienen, um sich mitzuteilen. Wenn er, auch in den Schlussfolgerungen von FW 354, noch immer ,wir‘ sagt („Unsre Handlungen“; „sobald wir sie in’s Bewusstsein bersetzen“ usw.), so bezeichnet auch dieses ,wir‘ ein Subjekt des Denkens, Handelns, Umstellens von Perspektiven usw. Ein vorbereitendes Notat macht anschaulich, wie Nietzsche auch dort, wo er die metaphysischen Subjekte kritisiert, seinerseits dieses ,wir‘ voraussetzt: „Bisheriger Verlauf der Philosophie: man wollte die Welt erklren, aus dem, was uns selber k l a r ist – wo wir selber g l a u b e n zu verstehen. Also bald aus dem Geiste oder der Seele, oder dem Willen, oder als Vorstellung, Schein, Bild, oder vom Auge aus (als optisches Phnomen, Atome, Bewegungen) oder Leibe, oder aus Zwecken, oder aus Stoß und Zug d. h. unserem Tastsinn.“ Er schließt das Notat mit „Wir legen den Menschen h i n e i n – das ist Alles, wir schaffen immerfort diese vermenschlichte Welt“ (N 1884, 25[445], KSA 11.131 f.). Auch dieses ,wir‘ ist noch Teil dieser vermenschlichten Welt. Und mit ihm unterstellen ,wir‘ dann auch wechselseitig ein ,Bewusstsein‘, einfach deshalb, weil ,unsere‘ Kommunikation miteinander stndige Aufmerksamkeit auf die dabei gebrauchten Zeichen notwendig macht. Wenn Nietzsche fragt: „Wozu berhaupt Bewusstsein, wenn es in der Hauptsache b e r f l s s i g ist?“, so hlt auch er an dieser Funktion des Bewusstseins fest.430 Aber wir kçnnen das nun wissen 429 Vgl. Simon, Grammatik und Wahrheit. 430 Schlimgen, Nietzsches Theorie des Bewußtseins, 161, formuliert als Resultat von „Nietzsches Metakritik der philosophischen Grundbegriffe“: „In Wirklichkeit, so Nietzsches Kritik, entspricht diesem Begriff nichts: es gibt kein Bewußtsein“ – um dann darzulegen, dass damit keine Aussage ber Tatsachen, ber die Wirklichkeit gemacht wrde, es also natrlich doch Bewusstsein gebe, weil nach Nietzsche das Satzschema ,S ist P‘ trgerisch sei. Solche Winkelzge sind von Nietzsche kaum zu erwarten. Josef Simon, auf den Schlimgen sich beruft, hat zuvor hier sorgfltiger formuliert: „Auch das Bewußtsein ist nichts anderes als der Gegenstand, wie er sich in einer Explikation des Begriffs ,Bewußtsein‘ in Merkmale dieses Begriffs dadurch ergibt, daß diese Explikation so angelegt ist, daß sie fr den Leser bedeutend wird. […] ,Bewußtsein‘ ist also immer das, was ,darber‘ in einer Weise gesagt ist, in der es bestimmten anderen ,etwas‘ besagt. So nur ist ,Bewußtsein‘ berhaupt ,etwas‘, nmlich das, als was ,sein‘ Begriff jeweils auf akzeptierte Weise, und d. h. ,im‘ Bewußtsein verdeutlicht ist. Nietzsches Theorie des Bewußtseins weist in diese Zirkelstruktur ihres Gegenstandes.“ (Simon, Das Problem des Bewußtseins bei Nietzsche, 33). Breazeale, The Hegel-Nietzsche Problem, 152, erinnert an Hegels ,soziale‘ Theorie des Bewusstseins im 4. Kap. der Phnomenologie des Geistes.
9.7. Metaphysische Reste der philosophischen Sprache
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und darum gegenber der Rede von ,wir‘ und ,Bewusstsein‘ skeptisch bleiben. „Wir lernen“, hatte sich Nietzsche dazu notiert, „von allem Bewußten g e r i n g e r d e n k e n: wir verlernen uns fr unser Selbst verantwortlich zu machen, da w i r als bewußte, zwecksetzende Wesen nur der kleinste Theil davon sind. […] Es ist die Phase der B e s c h e i d e n h e i t d e s B e w u ß t s e i n s.“ (N 1883/84, 24[16], KSA 10.654) In FW 354 spricht er nun bescheiden vom „t h i e r i s c h e n B e w u s s t s e i n“, dessen „Natur“ es mit sich bringe, „dass die Welt, deren wir bewusst werden kçnnen, nur eine Oberflchen- und Zeichenwelt ist“.431 Bewusstsein erweitert die menschlichen Mçglichkeiten, begrenzt sie aber zugleich durch seine „Gemeinschafts- und Heerden-Natur“, seine „Gemeinschaftsund Heerden-Ntzlichkeit“. Mit dem (gesperrten) Hinweis auf dieses ,tierische‘ Bewusstsein bekrftigt Nietzsche, dass er auch ohne die von Schopenhauer noch festgehaltene Voraussetzung einer allgemeinen Ver431 Von „thierischem Bewußtseyn“ sprachen auch Schopenhauer, WWV II, Kap. 19 („Vom Primat des Willens im Selbstbewußtseyn“), 3.227 u. ç., und Eduard von Hartmann u. a. im Abschnitt „Gehirn und Ganglien als Bedingung des thierischen Bewusstseins“ seiner Philosophie des Unbewussten. Espinas, Die thierischen Gesellschaften, den Nietzsche grndlich studierte und hier sichtlich als Quelle nutzte, setzt Bewusstsein „in allen Acten des socialen Lebens, bei den Thieren, wie bei den Menschen“ voraus, wobei, „wenn der zur Function nothwendige Apparat sich fixirt hat,“ die Bewusstheit schwindet und schließlich verschwindet (124). Das „thierische Bewusstsein“ (183) ist fr Menschen zwar nur durch Analogien zu erfassen. Es ist jedoch Bedingung der Mçglichkeit der „Natur der thierischen Gesellschaften“, eben soweit solche Gesellschaften (wie die der Wespen, Ameisen oder Termiten) auf Mitteilungen in Zeichen beruhen (507 f.). Auch Espinas nimmt schon an, dass, in tierischen Gesellschaften, das Bewusstsein mit der Fhigkeit der Mitteilung durch Zeichen wchst (vgl. 513 f., 519). Als Realitt glten wohl die eigenen sinnlichen Erscheinungen, aber nur, soweit sie auch der in Zeichen mitgeteilten „Collektiverfahrung und -Vernunft“ standhalten (517). So kommt Espinas zu dem Schluss, „dass die sociale Einheit nur durch die Individuen besteht, welche sie zusammensetzen, dass diese aber ihre Realitt zum grossen Theil dem Ganzen entnehmen. […] Das Individuum ist also vielmehr das Werk, als der Urheber der Gesellschaft; denn die Wirkung, welche es auf sie ausbt, gilt fr eine, whrend die Modificationen, welche es empfngt, durch die Zahl der anderen Glieder ausgedrckt werden. Die individuelle Thtigkeit ist ferner auf eine sehr kurze Zeit beschrnkt, whrend die Collectivthtigkeit mit der ganzen Last der in der Vergangenheit der Rasse erworbenen Instincte und der erhaltenen Structurvernderungen auf den Individuen ruht.“ (521) Von hier aus schließt Espinas dann freilich ohne weiteres auch auf eine fortschreitend hçhere, sich vom Kampf ums Dasein immer weiter lçsende „Moral der Thiere“ (522 ff., vgl. 537), Nietzsche dagegen auf die ,Vergemeinerung‘ des Menschen. Er kehrt auch hier die Tendenz seiner Quelle um.
288 9. Der Ursprung des Bewusstseins im Bedrfnis nach Mitteilung. Nr. 354 nunft verstndlich machen kann, wie in der Kommunikation eine gemeinsame Welt zustande kommt, die jedoch nicht nur befreit, sondern auch beschrnkt. Solche Arten „von abgezwungenem Gesammt-Glauben u. Generalisation“, notiert er sich dazu, „haben entscheidenden Werth: sie sind trotz des Gegenhangs gewachsen“, trotz immer neuer skeptischer Einwnde gegen sie (N 1886/87, 5[17], KSA 12.191 / N VII 3, S. 174). Sie kçnnten, wie Nietzsche am Schluss von FW 354 sagt, die „verhngnissvollste Dummheit“ sein, „an der wir einst zu Grunde gehn“. Aber auch dafr hat er noch eine andere Perspektive. Zuvor hatte er sich notiert, wir kçnnten fragen, ob nicht alles bewußte W o l l e n, alle b e w u ß t e n Z w e c k e, alle W e r t h s c h t z u n g e n vielleicht nur Mittel sind, mit denen etwas wesentlich V e r s c h i e d e n e s e r r e i c h t w e r d e n soll, als innerhalb des Bewußtseins es scheint: […] es handelt sich vielleicht bei der ganzen Entwicklung des Geistes um den L e i b: es ist die fhlbar w e r d e n d e G e s c h i c h t e davon, daß ein h ç h e r e r L e i b s i c h b i l d e t. Das Organische steigt noch auf hçhere Stufen. Unsere Gier nach Erkenntniß der Natur ist ein Mittel, wodurch der Leib sich vervollkommnen will. Oder vielmehr: es werden hunderttausende von Experimenten gemacht, die Ernhrung, Wohnart, Lebensweise des Leibes zu verndern: das Bewußtsein und die Werthschtzungen in ihm, alle Arten von Lust und Unlust sind A n z e i c h e n d i e s e r V e r n d e r u n g e n und E x p e r i m e n t e. Z u l e t z t h a n delt es sich gar nicht um den Menschen : er soll b e r w u n d e n w e r d e n. (N 1883/84, 24[16], KSA 10.654 – 656)
10. Der Ursprung der Erkenntnis im Bedrfnis nach Beruhigung Nr. 355: D e r U r s p r u n g u n s r e s B e g r i f f s ,Erkenntniss‘. Nach der Metaphysik des Bewusstseins, das nur scheinbar ein Sein, tatschlich ein durch unsre Kommunikation induziert ist, in FW 354 unterwirft Nietzsche in FW 355 die scheinbare Selbstverstndlichkeit „u n s r e s B e g r i f f s , E r k e n n t n i s s ‘“ seiner Kritik. Schloss er FW 354 mit dsteren Tçnen („Wir haben eben gar kein Organ fr das E r k e n n e n“; „verhngnissvollste Dummheit, an der wir einst zu Grunde gehn“), so schlgt er nun einen hellen, leichten, frçhlichen Ton an; eine neue Morgenrçte geht auf (FW 343/4.5.). Die Frçhlichkeit berspielt eine klare Architektur: FW 355 ist durch einen Trennungsstrich in zwei gleich große und gleich gebaute Hlften geteilt. Die erste bringt Fragen, die zunchst zçgernd einsetzen, dann Tritt fassen und sich mehr und mehr beschleunigen, zu Entdeckungen werden, einander berschlagen, schließlich in Auslassungspunkten aussetzen und nach einer ersten besttigenden, aber noch rtselhaften Antwort („Dieser Philosoph whnte“) atemlos abbrechen (es bleibt bei „Diesem“, ein ,Jener‘ folgt nicht mehr). In der zweiten Hlfte die Antworten in einer Kette von Ausrufen, halb verwundert, halb empçrt, immer strker besttigt im anfnglichen Argwohn bis hin zu einem auftrumpfenden „Irrthum der Irrthmer!“, schließlich, wieder nach Auslassungspunkten, eine plçtzliche Beruhigung und eine letzte, wieder rtselhafte Antwort, die in neuerliche Auslassungspunkte mndet. Die Antwort kndigt einen vernderten, befreienden Sinn der philosophischen ,Erkenntnis‘ an, der aber den Wenigen vorbehalten bleiben soll, die sich ber tief einverleibte Selbstverstndlichkeiten hinwegzusetzen verstehen, einen Sinn fr ,Furchtlose‘, die jedenfalls in der Philosophie den „I n s t i n k t d e r F u r c h t“ berwinden, gegen ihr „Sicherheitsgefhl“ andenken (4.5.) und so dem Anspruch des V. Buchs der FW („W i r F u r c h t l o s e n “; 4.1.) gerecht werden kçnnen. Aber bezeugt die Komposition von FW 355 nicht ebenfalls ein „Frohlocken des wieder erlangten Sicherheitsgefhls“, das Nietzsche
290 10. Der Ursprung der Erkenntnis im Bedrfnis nach Beruhigung. Nr. 355 dem Instinkt der Furcht zuschreibt, ein Frohlocken ber immer neue Besttigungen in seinen Fragen und Antworten, das schließlich befriedigt zur Ruhe kommt? Besttigt der Aphorismus nicht ebenfalls den Argwohn, den Nietzsche eingangs hegt, dass in der Erkenntnis bisher immer nur „etwas Fremdes […] auf etwas B e k a n n t e s zurckgefhrt werden“ sollte? Doch muss er ihn nicht sogar besttigen? Denn auch ein Nietzsche kann aus den tief einverleibten Routinen der alltglichen Orientierung nicht einfach heraustreten, er kann nur ihre Horizonte erweitern, ihre Spielrume vergrçßern und sie dadurch befreien. Das Neue kann nur im Alten und aus dem Alten entstehen. Mehr, zeigt der Aphorismus, will Nietzsche nicht, kann er nicht wollen; mit diesem ,wollen‘ schließt er auch den Aphorismus („whrend es fast etwas Widerspruchsvolles und Widersinniges ist, das Nicht-Fremde berhaupt als Objekt nehmen zu w o l l e n…“). Und er will auch hier, bei der Infragestellung des herkçmmlichen Erkenntnisbegriffs, noch wissenschaftliche Allgemeinheit, selbst wenn nur wenige ihre Frçhlichkeit werden teilen kçnnen. Nachdem er den Aphorismus mit einem pointierten „Ich“ eingeleitet hat, dann zum „wir“ bergegangen ist („Und wir Philosophen“), spricht er in der zweiten Hlfte als „man“, als anonymes Allgemeines, in dem ein ,ich‘ seine Erkenntnis mit ,wieder erlangtem Sicherheitsgefhl‘ aussprechen zu drfen glaubt. FW 355 treibt exemplarisch die Gedanken durch ihre kunstvolle Gestaltung noch einmal um einen Reflexionsgrad weiter.432 Zugleich hat Nietzsche FW 355, abgesehen davon, dass er in ihm die Ursprungsfragen zur Auflçsung von scheinbar letztem Halt konsequent weiterfhrt, mit dem V. Buch der FW und der FW im Ganzen dicht vernetzt. Zum Rtsel der ersten Hlfte von FW 355 wird er in FW 372 etwas sagen (da geht es um Platons „Furcht vor den Sinnen“ und den „Idealismus“, mit dem er sie in den Griff zu bekommen suchte), zum Rtsel der zweiten Hlfte in FW 373 (wo er vom Mechanismus der „natrlichen Wissenschaften“ handelt). Bis dahin hlt er beide offen. Und wie FW 354 den Aphorismus Nr. 11 aus dem I. Buch, so fhrt FW 355 den Aphorismus Nr. 110 aus dem II. Buch fort. Lautete der Titel dort „U r s p r u n g d e r E r k e n n t n i s s“, so nun „D e r U r s p r u n g u n s r e s B e g r i f f s , E r k e n n t n i s s ‘“; der Focus wird, als Folge auch von FW 354, von der Sache auf den Begriff verschoben und der Begriff in Anfhrungszeichen oder ,Gnsefßchen‘ gesetzt. Zeigten die Gnsefßchen im Titel von FW 432 Vgl. daneben die Vorstufen N 1886/87, 5[10], KSA 12.187 f. / N VII 3, S. 177 f., und N 1886/87, 5[14], KSA 12.189 f. / N VII 3, S. 176, im Nachlass.
10. Der Ursprung der Erkenntnis im Bedrfnis nach Beruhigung. Nr. 355
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354 („Vo m , G e n i u s d e r G a t t u n g ‘“) ein Zitat an, so im Titel von FW 355 sichtlich etwas anderes, die Sinnverschiebung des Titelbegriffs.
Nietzsches schriftstellerische Methoden: Sinnverschiebung durch Gnsefßchen Anfhrungszeichen oder ,Gnsefßchen‘ sind Zeichen, die Zeichen als Zeichen anzeigen, auf ihren Zeichencharakter aufmerksam machen.433 Linguistisch kennzeichnen sie, (a) dass es an dieser Stelle um die Ausdrcke als solche geht – dazu kçnnen Titel, Namen, spezielle Bezeichnungen, aber auch die bloße Wortgestalt gehçren –, (b) dass Ausdrcke aus anderen Kontexten bernommen werden – Begriffe, aber auch wçrtlich angefhrte ,direkte‘ Reden –, (c) dass gewçhnliche Ausdrcke ungewçhnlich, z. B. vieldeutig, ironisch, metaphorisch, euphemistisch oder paradox verwendet werden – zur Sinnerweiterung oder Sinnverschiebung –, (d) dass Ausdrcke als solche ungewçhnlich, idiomatisch oder neu erfunden sind – so wie wenn man in der Druckersprache zu Anfhrungszeichen ,Gnsefßchen‘ sagt, und Nietzsche benutzte nur dieses Wort –, und schließlich (e), dass es sich bei einem Ausdruck um ,bloßes Gerede‘ handelt.434 In allen Funktionen wirken Gnsefßchen distanzierend und modalisierend, aber, indem sie unterschiedliche Kontexte zusammenfhren, auch kontextualisierend. So erzwingen sie kontextuelle Interpretationen. Sie zeigen ein reflektiertes Verhltnis zur Sprache an, sei es eine Sprachnot, wenn man gerade keinen passenderen Ausdruck hat, sei es eine Verlegenheit, wenn man von etwas reden muss, von dem man eigentlich nicht reden will, sei es eine berlegenheit, wenn man einen von andern gebrauchten Ausdruck vorfhren will, um sie zu kompromittieren, sei es ein frçhliches Spiel mit der Sprache, wenn man der gewohnten Ausdrcke berdrssig ist.
433 Zur Terminologie und Etymologie vgl. Brandt/Nail, Anfhrungszeichen, 407 f. Anfhrungszeichen sind, so Brandt/Nail, generell „Aufmerksamkeitszeichen“ (425). Nach Klockow, Linguistik der Gnsefßchen, 240, geben sie „Abweichungssignale“. 434 Brandt/Nail, Anfhrungszeichen, differenzieren 17 Funktionen. Anfhrungszeichen kçnnen immer auch mehrere Funktionen zugleich haben. Wie sie jeweils verstanden werden, hngt auch vom Leser ab. Wissenschaftliche Autoren kçnnen zur Vereindeutigung Anfhrungszeichen wiederum durch unterschiedliche graphische Symbole differenzieren (z. B. einfache und doppelte Anfhrungszeichen). Auch Kursivierungen und Sperrungen (NSM 9) kçnnen ihre Funktion bernehmen (Brandt/Nail, Anfhrungszeichen, 425 f.).
292 10. Der Ursprung der Erkenntnis im Bedrfnis nach Beruhigung. Nr. 355 Nietzsche setzte notorisch Gnsefßchen; Gnsefßchen sind eines seiner wichtigsten Ausdrucksmittel. Er lehnte zwar zunchst „ein bestndiges ironisches Citiren, ein unruhiges, unfriedfertiges Schielen des Auges nach rechts und links, ein Gnsefsschen- und Grimassen-Deutsch“ als affektierten „S t i l d e r U e b e r l e g e n h e i t“ von Studenten, Staatsmnnern und Zeitungs-Kritikern ab (MA II, WS 228). In JGB aber ironisierte er seinerseits „,die deutsche Philosophie‘“ im Ganzen als eine, die nur in „Gnsefsschen“ Philosophie genannt werden drfe (JGB 11).435 Auch in seinen Aphorismen-Bchern, heißt es dann in JGB 289, erhielten die Begriffe „zuletzt eine eigne Zwielicht-Farbe, einen Geruch ebensosehr der Tiefe als des Moders; etwas Unmittheilsames und Widerwilliges, welches jeden Neugierigen kalt anblst.“ Und in jenem oben (1.3., 3.1.7.) schon zitierten Notat fand er, „seine {eine Einsiedler-}Philosophie, wenn sie selbst mit einer Lçwenklaue geschrieben wre, wrde doch {immer} wie eine Philosophie der ,Gnsefßchen‘ aussehen.“ (N 1885, 37[5], KSA 11.579 f. / W I 6, S. 35)436 Er gebraucht Gnsefßchen im ganzen Spektrum ihrer Funktionen. Am bedeutsamsten aber ist fr ihn die Funktion (c), gewçhnliche Ausdrcke ungewçhnlich zu verwenden und dadurch ihren Sinn zu erweitern oder zu verschieben. Statt eine neue, fremde Sprache zu schaffen, spricht er die bekannte befremdlich neu und weist mit Gnsefßchen eigens darauf hin. Ist sein neuer Sprachgebrauch dann eingefhrt, lsst er die Gnsefßchen wieder weg; ansonsten wrden sie rasch inflationieren. Seine Gnsefßchen zeigen also vornehmlich Sinnverschiebungen an.437
435 Vgl. schon in hnlichem Sinn zur deutschen Literatur Jean Paul, ber die deutschen Doppelwçrter, 262 (Angabe nach Brandt/Nail, Anfhrungszeichen, 408 f.). 436 Zu Nietzsches Rede ber Gnsefßchen und ihren Gebrauch vgl. Greiner, Friedrich Nietzsche: Versuch und Versuchung in seinen Aphorismen, 182 – 186 („Anfhrungszeichen als Mittel versuchender Mitteilung“); Blondel, Les guillemets de Nietzsche; Derrida, Sporen, 153 („epochale Herrschaft der Anfhrungszeichen fr alle Begriffe“); Gebhard, Philosophie auf Gnsefßchen; Authier, ,In Gnsefßchen reden‘; Stegmaier, Nietzsches ,Genealogie der Moral‘, 78 (zu GM II 12, wo es um den Sinn von ,Sinn‘ berhaupt, um eine Sinnverschiebung von ,Sinn‘ geht). 437 Gebhard, Philosophie auf Gnsefßchen, 272, hat „drei lexikalische Großbereiche“ fr Nietzsches sinnverschiebende Apostrophierungen ausgemacht, (1) „die idealistische religions- und philosophiesprachliche Tradition“, (2) „trivial- bis bildungssprachliche Kategorien“ wie ,Fortschritt‘ oder ,Humanitt‘, (3) „Funktionsterme“ wie ,erkennen‘, ,sein‘, ,Zweck‘. Auf die Apostrophierung des Erkennens in FW 355 treffen alle drei Rubriken zu.
10. Der Ursprung der Erkenntnis im Bedrfnis nach Beruhigung. Nr. 355
293
In FW 355 ist das gerade am „B e g r i f f , E r k e n n t n i s s ‘“ zu sehen, den Nietzsche schon im Titel in Gnsefßchen setzt. Im Text fhrt er ihn zunchst in einem Zitat (a/b) ein, in einem von „Jemand aus dem Volke“ auf der „Gasse“ aufgeschnappten Ausspruch („,er hat mich erkannt‘“) – mit einem ungewçhnlichen, idiomatischen Nebensinn (d). Da kann jemand freudig oder erschrocken bemerkt haben, dass ihn (oder sie) ein anderer wiedererkannt hat, nachdem er (oder sie) ihm fremd geworden zu sein schien. In biblischer Sprache kann damit aber auch die sexuelle Vereinigung, die geschlechtliche Begattung gemeint sein, und so wrde Nietzsche zugeich an Schopenhauers „,Genius der Gattung‘“ erinnern, dessen Sinn er verschoben hat: von der Geschlechtsliebe zu den Sprachen der Vçlker, die in Europa von biblischer Sprache durchtrnkt sind. Dann tritt die Erkenntnis ohne Gnsefßchen auf, als etwas an sich selbst, das doch, gleich darauf in Gnsefßchen gesetzt, eine leere Fiktion (e) sein kçnnte („was versteht eigentlich das Volk unter Erkenntniss? was will es, wenn es ,Erkenntniss‘ will?“). Bei den „Philosophen“, zu denen Nietzsche nun bergeht, erscheint die Erkenntnis wieder ohne Gnsefßchen („unter Erkenntniss eigentlich m e h r verstanden“), obwohl sie hier grammatisch im Sinn von (a) zu erwarten wren. Aber Nietzsche bleibt vorerst dabei („unser Bedrfniss nach Erkennen“; „der uns erkennen heisst“; „das Frohlocken des Erkennenden“): fr Philosophen, wird signalisiert, ist klar, was Erkenntnis der Sache nach ist. Doch gerade der wirkungsvollste Philosoph der Erkenntnis, Platon, „whnte die Welt ,erkannt‘“, nur in Gnsefßchen, er kçnnte einer Fiktion (e) erlegen sein, die ihm der „I n s t i n k t d e r F u r c h t“ eingegeben hatte, als er annahm, seine Idee der „,Idee‘“ (drei Mal in Gnsefßchen) sei der Grund der ,Erkenntnis‘. Die Philosophen, die „Erkennenden“, wissen also auch nicht, was Erkenntnis eigentlich ist. Nietzsche setzt sie nun nicht mehr eigens in Gnsefßchen. Auch nicht, dass fr die Philosophen der Gegenwart „das Bekannte l e i c h t e r e r k e n n b a r als das Fremde“ sei. Dann erscheint ,erkannt‘ in einem Zitat, das jedoch kein Zitat ist (b/c); Nietzsche bringt die angeblich bereinstimmende Meinung in eine scheinbar gelufige Formel („,was bekannt ist, ist erkannt‘“); das einschlgige Zitat aus Hegels Phnomenologie des Geistes lautet anders: „Das Bekannte berhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt.“438 (10.4.) Schon Hegel hatte gegenber dem ,Volk‘ und den frheren ,Philosophen‘ den Begriff ,Erkenntnis‘ erweitert und verschoben, wenn auch nicht in der 438 Hegel, Phnomenologie des Geistes, 35. S. auch den Hinweis von Kaufmann, Commentary, 301, Fn. 58.
294 10. Der Ursprung der Erkenntnis im Bedrfnis nach Beruhigung. Nr. 355 Richtung, die Nietzsche nun einschlagen wollte. Mit der erklrten Absicht, seinen Sinn zu verschieben, setzt er nun den Begriff zum zweiten Mal in Gnsefßchen („zu ,erkennen‘, das heisst als Problem zu sehen, das heisst als fremd, als fern, als ,ausser uns‘ zu sehn…“). Und dann ersetzt er ihn fr sein Erkennen durch einen neuen Ausdruck („das Nicht-Fremde berhaupt als Objekt nehmen“).
10.1. Genealogie der Erkenntnis FW 110 nimmt seinerseits FW 11 auf, den Aphorismus, in dem Nietzsche den Ursprung und Sinn des Bewusstseins evolutionistisch gedeutet hatte (9.3.): „Der Intellect“, heißt es nun, „hat ungeheure Zeitstrecken hindurch Nichts als Irrthmer erzeugt; einige davon ergaben sich als ntzlich und arterhaltend: wer auf sie stiess, oder sie vererbt bekam, kmpfte seinen Kampf fr sich und seinen Nachwuchs mit grçsserem Glcke.“ So konnten „irrthmliche Glaubensstze […] immer weiter vererbt und endlich fast zum menschlichen Art- und Grundbestand“ werden, „zum Beispiel diese: dass es dauernde Dinge gebe, dass es gleiche Dinge gebe, dass es Dinge, Stoffe, Kçrper gebe, dass ein Ding Das sei, als was es erscheine, dass unser Wollen frei sei, dass was fr mich gut ist, auch an und fr sich gut sei.“ Sie haben sich bis heute gehalten, sind noch immer „Normen“ der ,Wahrheit‘, Standards, an denen weitere ,Wahrheiten‘ gemessen werden, „bis hinein in die entlegensten Gegenden der reinen Logik“: „uralt einverleibt“, sind sie alternativlose Plausibilittsstandards geworden. Man glaubte fraglos an sie, jeder, der ihnen nicht folgte, wurde fr unvernnftig erklrt („da galt Leugnung und Zweifel als Tollheit“). So wirkten sie wie Instinkte, die fraglos orientieren. Dies aber, fraglos zu orientieren, ist, so Nietzsche, ihre „K r a f t“, „die K r a f t der Erkenntnisse“. Sie, nicht ihre ,Wahrheit‘ im Sinn einer bereinstimmung mit außer ihnen gegebenen Gegenstnden, ist evolutionr betrachtet der Grund, warum sie sich durchgesetzt und erhalten haben, und seien es auch Irrtmer; sie „liegt nicht in ihrem Grade von Wahrheit, sondern in ihrem Alter, ihrer Einverleibtheit, ihrem Charakter als Lebensbedingung.“ (FW 110) Und das gilt auch fr die philosophischen ,Wahrheiten‘. Nietzsche zeigt das anhand einer skizzenhaften Genealogie der Philosophie, beginnend mit den Eleaten.439 Er fhrt sie als „AusnahmeDenker“ ein, „welche trotzdem die Gegenstze der natrlichen Irrthmer 439 Vgl. zur ,Dialektik‘ von FW 110 Bertino, La dialettica della conoscenza.
10.1. Genealogie der Erkenntnis
295
aufstellten und festhielten“. Ihre grundlegende Annahme, dass die Zeit nicht sein kçnne, weil sie Nicht-Sein einschlçsse, auf der einen Seite das Nicht-mehr-Sein der Vergangenheit, auf der andern das Noch-Nicht-Sein der Zukunft, das Nicht-Sein aber nun einmal nicht sein kçnne, widersprach sichtlich der alltglichen Erfahrung der Vernderung mit der Zeit und dem Glauben an sie. Die Stze der Eleaten hielten sich denn auch, so Nietzsche, nicht weil sie wahr gewesen wren, sondern weil es den Eleaten gelang, eine neue Lebensform zu schaffen, in der sie als wahr galten, einen geschlossenen Kreis von Mnnern, der nach einem besonderen Ideal, dem Ideal des „Weisen“, lebte, das als solches Schule machte: „sie erfanden den Weisen als den Menschen der Unvernderlichkeit, Unpersçnlichkeit, Universalitt der Anschauung“, in dem ihre Annahmen gelebt und damit wirklich wurden. Dazu war freilich eine massive Selbsttuschung nçtig: „sie mussten sich Unpersçnlichkeit und Dauer ohne Wechsel andichten, das Wesen des Erkennenden verkennen, die Gewalt der Triebe im Erkennen leugnen und berhaupt die Vernunft als vçllig freie, sich selbst entsprungene Activitt fassen“; sie mussten dabei von all dem absehen, was sie tatschlich zu ihren Annahmen gebracht haben kçnnte, das „Widersprechen gegen das Gltige“ oder das „Verlangen nach Ruhe oder Alleinbesitz oder Herrschaft“. Das Ideal ihrer Lebensform schloss solche Genealogien gerade aus. Ihre Bestreitung alles Zeitlichen im Widerspruch gegen die alltglichen Plausibilitten hielt der „feineren Entwickelung der Redlichkeit und Skepsis“, zu der sie selbst beitrugen, nicht stand, aber die philosophische Lebensform hielt sich. Es war nun mçglich geworden, „ber den hçheren oder geringeren Grad des N u t z e n s fr das Leben“ berhaupt zu streiten, nun mit einander widersprechenden Argumenten, die beide „sich dem Leben zwar nicht ntzlich, aber wenigstens auch nicht schdlich zeigten“, sondern sich „mit den Grundirrthmern vertrugen“. Philosophische Annahmen wurden zu „Aeusserungen eines intellectuellen Spieltriebes“, traten in Wettkampf miteinander. Und eben dies schien bei den Athenern anzukommen. Die neue Lebensform des Philosophierens im Wettkampf fgte sich in die Vorliebe der Griechen fr den Wettkampf ein, der ihnen seit homerischen Zeiten zur selbstverstndlichen Lebensform geworden war.440 Es erwies sich besonders fr Athen, das in der Philosophie fhrend werden sollte, als ntzlicher, ber den Nutzen von einverleibten Plausibilitten zu diskutieren, als sie nur hinzunehmen. Indem sie Plausibilitten, an denen andere fraglos festhielten, in Frage zu stellen wagten 440 Vgl. CV 5 und zum Thema des Wettkampfs oder Agons in Nietzsches Werk im Ganzen das ihm gewidmete Heft 24 (2002) des JNS.
296 10. Der Ursprung der Erkenntnis im Bedrfnis nach Beruhigung. Nr. 355 und sich so neue Orientierungsspielrume schufen, wurden sie auch politisch erfolgreicher.441 Nietzsche hebt die entscheidenden Anhaltspunkte dafr ausdrcklich hervor: Die „K r a f t der Erkenntnisse“ bewies einen neuen „N u t z e n“ fr das „L e b e n“ und wurde so zur „M a c h t“, und da sie sich „als eine lebenserhaltende Macht b e w i e s e n“ hatten wurde ihnen bald auch „die Unschuld des G u t e n“ zugesprochen (FW 110). Nietzsche sieht im Versuch der Athener, die Philosophie in ihre Lebensform aufzunehmen, das Beispiel eines historischen Experiments der ,Einverleibung‘ von Erkenntnissen, mochten sie wahr oder falsch sein, in ihre alltgliche Orientierung. Die philosophische Infragestellung ,lebenerhaltender Irrtmer‘ war zu einer Gegenmacht gegen die Macht dieser Irrtmer geworden. Hinter beiden Mchten stehen ,Bedrfnisse‘, Lebensnotwendigkeiten, die sich teils gegeneinander, teils miteinander durchsetzen kçnnen. Kriterium dafr, wie weit sie in die alltgliche Orientierung eingehen, darin plausibel und selbstverstndlich werden kçnnen, ist ihre ,Kraft‘, sich unter immer neuen Umstnden immer neu zu beweisen, also in einer Evolution sich durchzusetzen, in der es nicht zuerst um Wahrheit, sondern um berlebensfhigkeit geht. Auch der ,Trieb zur Wahrheit‘ unterliegt der Evolution, hier der Evolution der Gesellschaft und Kultur. Das ,Experiment‘ seiner Einverleibung dauert noch an, und sein Ausgang ist offen.
10.2. Genealogie des Begriffs ,Erkenntnis‘ FW 355 setzt mit der Frage ein, was vor dem Hintergrund dieses Ursprungs der Begriff ,Erkenntnis‘ inzwischen bedeutet. Statt einer Genealogie der Erkenntnis, nach deren ,Wahrheit‘ man wiederum fragen kann, versucht Nietzsche jetzt eine Genealogie des Begriffs ,Erkenntnis‘, auch hier aus seiner Heuristik der Not. So setzt er nicht mehr in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart, beim gegenwrtigen alltglichen oder volkstmlichen Sprachgebrauch an („Gasse“, „Volk“). An den problemlosen Routinen des alltglichen Sprachgebrauchs muss sich am ehesten zeigen, worin die Orientierung Halt findet, bevor das Vertraute, ob es sich nun um ,Wahrheiten‘ oder ,Irrtmer‘ handelt, durch Reflexion in Frage gestellt wird.442 Nietzsche beschreibt die alltgliche Lebenswelt prgnant in ihrer 441 Vgl. Vernant, Les origines de la pense grecque. 442 Heidegger hat in Sein und Zeit dafr die Namen des ,Alltglichen‘ und ,Durchschnittlichen‘, Husserl in Die Krisis der europischen Wissenschaften und die tran-
10.3. Bedrfnis nach Beruhigung
297
eigenen Sprache: „Das Bekannte, das heisst: das woran wir gewçhnt sind, so dass wir uns nicht mehr darber wundern, unser Alltag, irgend eine Regel, in der wir stecken, Alles und Jedes, in dem wir uns zu Hause wissen“. ,Unser Alltag‘ ist das, was jeden Tag geschieht und jeden Tag zu erwarten ist, was keine berraschungen bietet, was nach Regeln abluft, ohne dass sie explizit formuliert wrden, was in der Orientierung selbstverstndlich, zur Gewohnheit und Routine geworden ist.443 Wo man ,sich zu Hause weiß‘, kann man sich fraglos und eben darum sicher orientieren. Soweit Philosophen das ,Volk‘ in seiner unreflektierten Schlichtheit verachten (FW 351/8.2.1.), strafen sie sich selbst: sie verlieren dann leicht den Anschluss an die alltgliche Orientierung, die auch ihnen Halt in ihrem Alltag gibt und ohnehin immer Grundlage und Ausgangspunkt ihrer Transzendierungen bleibt. Nietzsches scheinbar verchtlicher Beginn mit der „Gasse“ erweist sich als Bescheidung: auch „wir Philosophen“ haben unter Erkenntnis „eigentlich“ nicht mehr verstanden als das ,Volk‘. Mit ,eigentlich‘ zeigt er wiederum an (NSM 6), dass er noch fragt, wo andere nicht mehr fragen, hinterfragt, was andere schon selbstverstndlich gelten lassen, ohne dass er selbst schon bndige Antworten htte. Er reflektiert den alltglichen Sprachgebrauch als Philosoph, aber nicht mehr so, dass er den alltglichen Sprachgebrauch gegenber dem philosophischen, sondern nun so, dass er den philosophischen gegenber dem alltglichen in Frage stellt. Daraus kçnnen sich keine „Principien und Weltrthsel-Lçsungen“ ergeben, nur neue Fragen.
10.3. Bedrfnis nach Beruhigung Darum formuliert er seine Antwort als Frage: „Sollte das Frohlocken des Erkennenden nicht eben das Frohlocken des wieder erlangten Sicherheitsgefhls sein?…“ Sie ergibt sich schlssig aus seiner Heuristik der Not. Sicherheit auf Verunsicherungen hin, Beruhigung auf Beunruhigungen hin ist ein Grundbedrfnis jeglicher Orientierung und damit auch szendentale Phnomenologie den Namen der ,Lebenswelt‘ gebraucht. Vgl. dazu Blumenberg, Theorie der Lebenswelt. Anders als Husserl betrachtet Nietzsche die Lebenswelt jedoch nicht erneut aus einer transzendentalen, also erfahrungsenthobenen, theoretischen Distanz, die die alltglich vertraute Lebenswelt gerade ausschließt, sondern stellt wie der spte Wittgenstein die Theoriesprache gegenber der alltglichen Lebenswelt, ihren Sprachspielen und Lebensformen in Frage (s.u.). 443 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, XV-XVII, 302 – 310.
298 10. Der Ursprung der Erkenntnis im Bedrfnis nach Beruhigung. Nr. 355 jeder Erkenntnis.444 Nietzsche spricht vom „Willen, unter allem Fremden, Ungewçhnlichen, Fragwrdigen Etwas aufzudecken, das uns nicht mehr beunruhigt“: der Wille zur Erkenntnis ist zuerst ein Wille zur Beruhigung, dann ein Wille zur Wahrheit. Die Wahrheit kann beunruhigen und beruhigen; in der Regel sucht man sie nur insoweit und nur solange, wie sie beruhigt. Sucht man sie wissenschaftlich oder philosophisch ,um ihrer selbst willen‘, so will man immer noch dem berraschenden das berraschende nehmen, das Fremde auf Bekanntes zurckfhren, im Beunruhigenden etwas Beruhigendes finden. Fragen kçnnten unbegrenzt weiter aufgeworfen, jede erreichte ,Wahrheit‘ wieder in Frage gestellt werden, aber irgendwo bricht das Fragen ab, beruhigt es sich, sei es, weil die Fragen nicht mehr interessant sind, sei es, weil sie zu beunruhigend werden; in beiden Fllen lsst man sie dann ,auf sich beruhen‘. Damit besttigt sich das Kriterium aus FW 110: die Lebensbedingungen entscheiden ber die ,Kraft der Erkenntnisse‘, sie entscheiden auch, ob, wann und welche Fragen in der Wissenschaft und der Philosophie berhaupt gestellt werden und welche wissenschaftlichen und philosophischen Kriterien bei den Antworten ins Spiel kommen. Die Grenze auch der wissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnis ist nicht die Grenze des Wissbaren, sondern des Wnschbaren (der „Wnschbarkeiten“, wie Nietzsche in JGB 39 sagte und in FW 382 wieder und dann immer hufiger sagen wird), die Grenze der mçglichen Beunruhigung, der mçglichen Selbstgefhrdung des Erkennenden in seiner jeweiligen Lebenssituation. Beunruhigung und Beruhigung tun sich in Instinkten (die „Furcht“) und Affekten (das „Frohlocken“) kund. Beide leiten die Orientierung unwillkrlich. Sie entscheiden nicht nach wahr und falsch, sondern nach zutrglich und abtrglich, ntzlich und schdlich. Und sie entscheiden vor allem schnell und fraglos und helfen eben dadurch aus berraschenden Situationen.445 Hatte die Philosophie stets versucht, die Erkenntnis den alltglichen Lebensbedingungen und den Affekten zu entziehen, so lsst Nietzsche sie wieder in sie ein. Er verzichtet auf weitere Erklrungen, setzt seine Auslassungspunkte. Stattdessen schickt er sich an, wieder Beispiele aus der Geschichte und Gegenwart der Philosophie zu geben und spricht nun im klassischen 444 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 162 – 167. Niklas Luhmann hat im Anschluss an die Organisationstheorie von „Unsicherheitsabsorption“ gesprochen. Vgl. u. a. Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, 238 f., und Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, 236 f. 445 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 254 – 256.
10.3. Bedrfnis nach Beruhigung
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philosophischen Affekt des Staunens („Oh ber diese“), dem einzigen, den die herkçmmliche Philosophie sich erlaubte.446 Er springt in seiner (echten oder inszenierten) Erregung von Platon zu den „Principien und Weltrthsel-Lçsungen“ seiner Zeit: Im 19. Jahrhundert waren die ,Systeme‘ und ,Erkenntnistheorien‘ so zahlreich und wohlfeil geworden, dass schon die mçgliche Wahl unter ihnen sie zunehmend fragwrdiger machte.447 Umso mehr suchte man sie zu beweisen. Zur Absicherung sollte ihnen nach Mçglichkeit die Mathematik („unser Einmaleins“), vor allem aber die „Logik“ verhelfen, die logische Disziplinierung der Erkenntnisse (5.1.2.); ist etwas Neues, Fremdes, berraschendes in eine logische Ordnung gebracht, hat es sein Neues, Fremdes, berraschendes verloren, es hat Vernunft angenommen, man kann sich mit ihm beruhigen, das „Sicherheitsgefhl“ ist wiederhergestellt. Selbst Schopenhauer hatte den Grund alles Erkennens im „Wollen und Begehren“ noch logisch beweisen wollen.448 Hatte ,die feinere Redlichkeit und Skepsis‘ hier Vorsicht geboten, setzte man in der Tradition Descartes’, nach dem „nichts leichter oder offenbarer von mir erfasst werden kann als mein Geist (mens)“,449 wenigstens „,Thatsachen des Bewusstseins‘“, der „,inneren Welt‘“, an, so von Fichte ber Herbart450 bis zu Afrikan Spir, den Nietzsche grndlich 446 Vgl. noch Schopenhauer, WWV II, Kap. 17: „Ueber das metaphysische Bedrfniß des Menschen“, 3.176: „Auch besteht die eigentliche philosophische Anlage zunchst darin, daß man ber das Gewçhnliche und Alltgliche sich zu wundern fhig ist“. 447 Mçglicherweise spielt Nietzsche auf Schopenhauer, Du Bois-Reymond und Haeckel an. Schopenhauer wies der Philosophie eine „wirkliche, positive Lçsung des Rthsels der Welt zu“ (WWV II, Kap. 17: „Ueber das metaphysische Bedrfniß des Menschen“, 3.206), Emil Du Bois-Reymond hatte 1880 in Leipzig seine berhmte Rede ber Die sieben Weltrthsel gehalten, die in seinem „Ignoramus et ignorabimus“ gipfelte. Ernst Haeckel trug dann 1899 – nachdem Nietzsche in Wahnsinn verfallen war – in seinem Weltbestseller Die Weltrthsel. Gemeinverstndliche Studien ber Monistische Philosophie wieder selbstbewusste Lçsungen vor. Nietzsche erwhnt Du Bois-Reymond in seinem Werk ein Mal mit einer ußerung ber Goethe (SE, KSA 1.390), die er mit Spott bedenkt. Haeckel ließ ihn deutlich aufhorchen (N 1875, 12[22], KSA 8.259; N 1880/81, 8[68], KSA 9.397; N 1881, 11[249], KSA 9.536), doch verwies er ihn dann auch unter die „Ecken-Talentchen“ der „Spezialisten“ (N 1881, 11[299], KSA 9.556). 448 Vgl. Schopenhauer, WWV I, Erstes Buch, § 9, 2.55, wonach die Logik im Alltag zwar wenig zu brauchen ist, doch „ihren eigentlichen Werth […] im Zusammenhange der gesammten Philosophie, bei Betrachtung des Erkennens, und zwar des vernnftigen oder abstrakten Erkennens“ erhalte. 449 Descartes, Meditationes, II 16. 450 Vgl. Diemer, Art. Bewußtsein, 892 – 894.
300 10. Der Ursprung der Erkenntnis im Bedrfnis nach Beruhigung. Nr. 355 gelesen hatte.451 Hier greift jedoch Nietzsches schon in FW 354 vorgetragene Kritik des Bewusstseins.452
10.4. ,Erkennen‘ als Verfremden Hegel hatte dem Satz „,was bekannt ist, ist erkannt‘“ freilich deutlich widersprochen und in seiner Phnomenologie des Geistes dagegengesetzt: Das Bekannte berhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt. Es ist die gewçhnlichste Selbsttuschung wie Tuschung anderer, beim Erkennen etwas als bekannt vorauszusetzen und es sich ebenso gefallen zu lassen; mit allem Hin- und Herreden kommt solches Wissen, ohne zu wissen wie ihm geschieht, nicht von der Stelle. Das Subjekt und Objekt usf., Gott, Natur, der Verstand, die Sinnlichkeit usf. werden unbesehen als bekannt und als etwas Gltiges zugrunde gelegt und machen feste Punkte sowohl des Ausgangs als der Rckkehr aus. Die Bewegung geht zwischen ihnen, die unbewegt bleiben, hin und her und somit nur auf ihrer Oberflche vor. So besteht auch das Auffassen
451 Vgl. Spir, Denken und Wirklichkeit, Erstes Buch: Vorbereitung, Erstes Kapitel: Das unmittelbar Gewisse, 27 f.: „Der Descartes’sche Satz Cogito, ergo sum muss, allgemein und prcis ausgedrckt, so lauten: Alles, was ich in meinem Bewusstsein vorfinde, ist als blosse Thatsache des Bewusstseins unmittelbar gewiss. Wenn ich einen Gegenstand sehe, so kann es zweifelhaft sein, ob der gesehene Gegenstand ausserhalb meines Bewusstseins existirt; aber es unterliegt keinem Zweifel, dass ich die gegebenen Gesichtseindrcke habe, welche bei mir die Vorstellung eines gesehenen Gegenstandes ausser mir erwecken.“ Die Stelle ist in Nietzsches Exemplar angestrichen. Auch Schopenhauer spricht von „Thatsache[n] des Bewußtseyns“. Vgl. Schopenhauer, WWV I, § 7, 2.40; WWV II, Kap. 1: Zur idealistischen Grundansicht, 3.5; Die beiden Grundprobleme der Ethik: Preisschrift ber die Freiheit des Willens, Schluß und hçhere Ansicht, 4.93. 452 Vgl. auch Nietzsches Unterredung mit Johannes Volkelt auf dem Basler Mnsterplatz 1884, dokumentiert CBT 586b, und die spteren Notate N 1886/87, 7[9], KSA 12.294, mit der Unterscheidung „der inneren und der ußeren Phnomenologie“, N 1888, 11[113], KSA 13.53 / W II 3, S. 148 („der wirkliche Vorgang der {inneren} ,Wahrnehmung‘, die Relation {der Causalvereinigung zwischen Gedanken, Gefhlen, Begehrungen, u wie die} zwischen Subjekt u. Objekt, ist uns absolut verborgen {– u vielleicht eine reine Einbildung}. […] Wir stoßen nie auf ,Thatsachen‘“), und N 1888, 14[152], KSA 13.335 f. / W II 5, S. 58 („Man muß den Phnomenalism nicht an der falschen Stelle suchen: nichts ist phnomenaler (oder deutlicher) nichts ist so sehr Tuschung, als diese innere Welt die wir mit dem berhmten ,inneren Sinn‘ beobachten“). – Auch Dilthey (9.6.) ging noch davon aus, es sei „methodisch geboten, von der ,inneren Welt‘, von den ,Thatsachen des Bewusstseins‘ auszugehen, weil sie die u n s b e k a n n t e r e Welt sei“. Vgl. Visser, Dilthey und Nietzsche.
10.4. ,Erkennen‘ als Verfremden
301
und Prfen darin, zu sehen, ob jeder das von ihnen Gesagte auch in seiner Vorstellung findet, ob es ihm so scheint und bekannt ist oder nicht.453
Das geht bereits deutlich in Nietzsches Richtung. Hegel hatte vorausgeschickt, „ein Bekanntes“ sei „ein solches, mit dem der daseiende Geist fertig geworden, worin daher seine Ttigkeit und somit sein Interesse nicht mehr ist.“ Dagegen sei das „Wissen“ gerade „gegen die hierdurch zustande gekommene Vorstellung, gegen dies Bekanntsein gerichtet“. Danach darf sich wohl die alltgliche Orientierung beim Bekannten beruhigen, die philosophische Erkenntnis jedoch nicht; sie muss einen strkeren Begriff des Erkennens haben. Fr Hegel (FW 359/6.3.) besteht er im selbstbezglichen Erkennen, im Erkennen des Erkennens selbst, der systematischen Reflexion der Kategorien, durch die die Welt erkennbar gemacht wird. Die Reflexion muss, um wahrhaft systematisch zu sein, all diese Kategorien in einer sich aus ihnen selbst ergebenden Konsequenz (dem ,notwendigen Gang‘ der ,Bewegung des Begriffs‘) bis zu Ende durchdenken und an diesem Ende das Prinzip rechtfertigen, von dem sie ausgegangen ist. Gelingt ihr das, so durchdringt sie alles scheinbar Bekannte und lsst nichts unerkannt, nichts philosophisch unreflektiert; sie lçst sich dadurch von allen undurchschauten Bindungen und wird ungebundener Geist, eben das, worum es auch Nietzsche geht. Hegel hielt sein Projekt in der Tat fr gelungen; sein Werk strahlt das ,Frohlocken des wieder erlangten Sicherheitsgefhls‘ aus. Da man sich nach Nietzsche durch die Systematizitt der Erkenntnis nicht von ihrer Situativitt befreien kann, muss man sich von der Systematizitt zur Situativitt befreien. Statt dem Erkennen absolute Autonomie zu verschaffen, richtet er es gerade auf das Fremde als „Fremdes, Ungewçhnliches, Fragwrdiges“, in neuen Situationen immer neu berraschendes aus. ,Etwas zu erkennen‘ heißt dann es „als Problem zu sehen, das heisst als fremd, als fern, als ,ausser uns‘ zu sehn …“ Das ist beim Bekannten am schwersten, auch und gerade, wenn es im Sinn Hegels erkannt ist. Das Erkennen muss das Bekannte dann gezielt verfremden, unter Verzicht auf das ,Sicherheitsgefhl‘.
453 Hegel, Phnomenologie des Geistes, 35.
302 10. Der Ursprung der Erkenntnis im Bedrfnis nach Beruhigung. Nr. 355
10.5. Beunruhigendes philosophisches Erkennen Wie dieses verfremdende, beunruhigende, aber philosophisch befreiende Erkennen zu denken ist, deutet Nietzsche nach weiteren Auslassungspunkten nur noch in Rtseln an. Er spricht von „natrlichen Wissenschaften“, wo man ,Naturwissenschaften‘ erwarten wrde, und setzt ihnen die „Psychologie und Kritik der Bewusstseins-Elemente“ als „u n n a t r l i c h e Wissenschaften“ entgegen, aber doch nur „beinahe“, und dann soll „es fast etwas Widerspruchsvolles und Widersinniges“ sein, „das Nicht-Fremde berhaupt als Objekt nehmen zu w o l l e n…“ Die Lçsungen kçnnten folgende sein: Die mathematischen Naturwissenschaften nehmen „das F r e m d e“ so „als Objekt“, dass sie es zum Gegenstand einer objektiven Erkenntnis machen. Doch diese Erkenntnis ist nicht einfach objektiv, sondern objektivierend: Indem die mathematischen Naturwissenschaften die vertraute Natur, die Sonnenauf- und untergnge, die Gebirgs- und Flusslandschaften, die Wiesen und Wlder, die Farbenspiele der Blumen, die Vielfalt der Tierarten, die wechselnden Wetterlagen, die Sternbewegungen am Himmel usw., auf abstrakte Ablufe nach von ihnen selbst formulierten Naturgesetzen reduzieren, verfremden sie sie, machen sie die vertraute Natur zu einer unvertrauten, konstruierten Natur und in diesem Sinn zu einem fremden Objekt. Anders aber als die phnomenalistischen Erkenntnistheoretiker halten sie an der ,natrlichen‘ Einstellung fest, die es unmittelbar mit der Welt und nicht nur mit Vorstellungen von ihr zu tun zu haben glaubt. Insofern sind sie „natrliche Wissenschaften“, die „Psychologie und Kritik der Bewusstseins-Elemente“, die die ,natrliche‘ Einstellung aufgegeben haben, dagegen „u n n a t r l i c h e“ – aber doch nur „beinahe“, sofern die „,innere Welt‘“ ja auch als natrliche gilt. Naturwissenschaftler glauben in der Regel, mag das auch philosophisch und psychologisch naiv sein, die Natur selbst zu erkennen, whrend sie sie durch ihre Objektivierung und Mathematisierung zugleich verfremden. Haben sie sich die Sprache der mathematisch formulierten Naturgesetze aber erst einmal einverleibt, ist sie ihnen zur Routine geworden, so sind ihnen die verfremdeten Objekte nicht mehr fremd, sondern auf neue Weise wieder vertraut. Wenn sie dann, was ja ihre Aufgabe ist, Ungewçhnliches und berraschendes in der alltglich vertrauten Natur auf Gesetze reduzieren, die ihnen vertraut sind, folgen sie erneut dem volkstmlichen Begriff des Erkennens, Fremdes auf Bekanntes zurckzufhren. Nach ihrer Verfremdung der Natur erhalten sie wieder eine – soweit eben mçglich – bekannte, vertraute, von berraschungen freie Natur. Hierin liegt, so Nietzsche, ihre „grosse Sicherheit“. Auch diese
10.5. Beunruhigendes philosophisches Erkennen
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Sicherheit ist ,groß‘ im dialektischen Sinn (6.1.2.), sofern sie gerade aus ihrem Gegensatz ihre Strke zieht, nmlich berraschungen der Natur mit gesetzlichen Erklrungen beikommen zu kçnnen. Die mathematischen Naturwissenschaften stellen wie die eleatische Philosophie aus FW 110 ein gelungenes historisches Experiment eines neuen verfremdenden Erkennens dar, das sich, nachdem es das Fremde zum Objekt neuer logischer Ordnungen gemacht hat, weiter vom alten ,Instinkt der Furcht‘ leiten lassen kann. Im abschließend noch angefgten Nebensatz „whrend es fast etwas Widerspruchsvolles und Widersinniges ist, das Nicht-Fremde berhaupt als Objekt nehmen zu w o l l e n…“ liegt das Rtsel nicht darin, dass es widerspruchsvoll und widersinnig sei, das Nicht-Fremde als Objekt zu nehmen; denn das Nicht-Fremde, also das Bekannte, Gewohnte, Vertraute, bedarf als solches natrlich keiner Erkenntnis. Das Rtselhafte ist das letzte, gesperrte Wort „w o l l e n…“ Man will etwas Widerspruchsvolles und Widersinniges, wenn man das Bekannte und Gewohnte, obwohl es bekannt und gewohnt ist und der Orientierung dadurch ein selbstverstndliches Sicherheitsgefhl gibt, verfremdet, indem man es zum Objekt der Erkenntnis macht. Wer das will, will sich durch Erkenntnis nicht mehr Beruhigung verschaffen, sondern sich bewusst der Beunruhigung aussetzen. Wenn es bei der Rede vom ,Wollen‘ nicht mehr um Grnde geht, denen andere zustimmen kçnnen (1.4.), den Wissenschaften und der herkçmmlichen Philosophie aber eben darum, zustimmungsfhige Grnde zu finden, dann stellen sie, soweit sie dezidiert etwas wollen, ihre gewohnte Wissenschaftlichkeit in Frage und kndigen ein ungewohntes, befremdliches, eigenwilliges Philosophieren an, ein beunruhigendes Philosophieren von ,Furchtlosen‘. Es ist widerspruchsvoll und widersinnig – fr ein Erkennen aus dem ,Instinkt der Furcht‘, das zur Sicherheit auf logischer Disziplin besteht. Aber eben nur „fast“: auf alle Grnde zu verzichten, kann auch fr ein logisch diszipliniertes Philosophieren in einem schmalen Spielraum sinnvoll sein – bei einem kritischen Philosophieren, das die traditionellen Begriffe der Erkenntnis und ihrer Objektivitt selbst in Frage stellt, nicht um wie Hegel zu einem selbstbezglichen System der Erkenntnis zu kommen, das der philosophischen Orientierung eine letzte Sicherheit schafft, sondern um gerade ber diesen Wunsch nach letzter Sicherheit hinauszukommen, der nun selbst als allzu gengsam fr ein philosophisches Erkennen erkannt ist. Was will dann also ein Wille zum Erkennen, der ber die Beruhigung hinauswill? Die Antwort drfte die nun schon oft erprobte sein: Befreiung – eine Befreiung, auf die ein furchtloses philosophisches Erkennen nicht mehr verzichten kann, wenn es
304 10. Der Ursprung der Erkenntnis im Bedrfnis nach Beruhigung. Nr. 355 erst einmal seine Bindungen erkannt hat. Nietzsche wird auch noch nach der Not dieses Erkennens fragen, in FW 370 (16.). Er hat im V. Buch der FW inzwischen deutlich gemacht, was dieses neue, andere Erkennen bedeutet: sich freiwillig der Furcht aussetzen, sein Sicherheitsgefhl herausfordern, seine routinierte Orientierung bewusst riskieren und sich damit selbst zum Experiment einer Menschheit machen, die endlich wahrhaben will, was lngst eingetreten ist, dass sie, mit Nietzsches bevorzugter Metapher, auf der hohen See offener Meere treibt und dort aus eigener Kraft neue Orientierungen gewinnen muss. Nietzsche hat viele Beispiele dieses Muts zum Fremden gegeben, gerade im V. Buch der FW, und sie sind in der Tat fr die meisten befremdlich geblieben.
11. Der Ursprung der ,freien Gesellschaft‘ im Bedrfnis nach Schauspielerei Bewusstsein und Erkenntnis (oder was man so genannt hatte) sind nach FW 354 und 355 am strksten gebunden durch eine Gesellschaft, ihre Sprache und die in sie einverleibte Moral. Der Ursprung von Europas freier Gesellschaft (oder was man so zu nennen begann) liegt, so Nietzsches weitere Vermutung, im Bedrfnis nach Schauspielerei. Die Aphorismen FW 356, 361 und 362, die er ihr widmet, gehçren zu den befremdlichsten und sperrigsten in seinem Werk. Gesellschaft und Politik gelten als heikelstes Themenfeld in seiner Philosophie; hier hat er sich am bedenklichsten, bis heute am schwersten akzeptabel geußert. Doch stehen seinen berchtigten Statements gegen den Liberalismus einerseits und den Sozialismus andererseits, gegen die ,demokratische Bewegung‘ im Ganzen und die ,Verweiblichung‘ Europas heute willkommene Verdikte gegen Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus gegenber. Beide sind nicht voneinander zu trennen und beide auch nicht nach gngigen Maßstben von Gut und Bçse zu beurteilen, die fr Nietzsche ja selbst auf dem Spiel standen. In seiner gewollten Distanz zur Gesellschaft und Politik seiner Zeit kçnnte er hellsichtiger ,als Problem‘ wahrgenommen haben, was andere fr selbstverstndlich hielten und halten. Seine ,große Politik‘, die im dialektischen Sinn von ,groß‘ ihren Gegensatz, die ,kleine‘, staatlich organisierte und militrisch ausgefochtene Machtpolitik einschließen, aber auch berschreiten sollte (6.1.2.), dachte er als „K r i e g“ „um der Gedanken und ihrer Folgen willen“ (FW 283), als Krieg, wie er nun in FW 362 schreibt, „der Mittel, der Begabungen, der Disciplin“, daher als in seinem Sinn verschobenen ,Krieg‘ (NSM 10) eben um die moralischen Maßstbe, nach denen Krieg bisher bewertet wurde. In der Situation des eingetretenen Nihilismus musste sich fr Europa entscheiden, ob es in diesem Krieg eine „Erhçhung der Cultur“ (JGB 239) schaffen konnte, seiner eigenen und der Erde im Ganzen, oder kraftlos zurckbleiben wrde.454 Nietzsche sah Europa vor einer Aufgabe von „welthistorischer“ 454 Vgl. Wotling, La culture comme problme.
306 11. Der Ursprung der ,freien Gesellschaft‘ im Bedrfnis nach Schauspielerei Dimension (FW 361),455 die eben deshalb nicht mit militrischen Mitteln zu erfllen war.456 Europa hatte fr ihn – und hat sie vielleicht noch – die einzigartige Chance, ,sich selbst zu berwinden‘, indem es sich von der Verchtlichmachung des Menschen durch das Christentum befreite, die es zweitausend Jahre geprgt und in vielem geistig berlegen gemacht hatte, sich nun aber als nicht mehr glaubwrdig erwies. Im Zug dieser „S e l b s t a u f h e b u n g“ seiner Moral (M Vorrede 4) konnte und kann es sich vielleicht weiterhin an die Spitze der Modernisierung der Weltgesellschaft setzen und so, im kulturellen, nicht im staatlichen oder militrischen Sinn, zur „H e r r i n d e r E r d e“ werden (FW 362). Dazu aber musste und muss Europa erst eines werden, und daran hinderte es bisher die „nationale Bewegung“ (FW 362), der „Nationalitts-Wahnsinn“ (JGB 256), in dem Deutschland im 20. Jahrhundert zwei verheerende militrische Weltkriege entfachte. Im welthistorischen Horizont der Selbstberwindung Europas kçnnte Nietzsches Philosophie der Gesellschaft und der Politik hnlich befreiend wirken wie seine Philosophie des Bewusstseins und der Erkenntnis, der Sprache und des Zeichens, der Moral, der Religion und der Kunst.457 455 Die Formel „welthistorisch“ taucht in Nietzsches verçffentlichtem Werk zuerst als Zitat auf – der Rede David Friedrich Strauß’ vom „,welthistorischen Humbug‘ der Auferstehung“ (UB I 7, KSA 1.195 u. ç.). Von MA I 143 an vergibt Nietzsche selbst das Prdikat des „welthistorischen Werths“, so nun auch in FW 361 („welthistorische Veranstaltung zur Zchtung von Schauspielern“). Im Sptwerk huft sich das Prdikat auffllig; Nietzsche gebraucht es nun sogar im Komparativ (vgl. GM I 9: „hatte nie ein Volk eine welthistorischere Mission“ als die Juden). Zuletzt bezieht er es auf sich selbst, teils ironisch („Ich bin der A n t i e s e l par excellence und damit ein welthistorisches Unthier“; EH Bcher 2), teils pathetisch („mit welcher ungeheuren Sicherheit ich meine Aufgabe und das Welthistorische an ihr in der Hand hielt“; EH MA 6). 456 Vgl. selbst noch die berhmte „L e t z t e E r w g u n g“ vom Jahreswechsel 1888/ 89: „Damit das Haus von Narren und Verbrechern [sc. das Haus Hohenzollern] sich obenauf fhlt, zahlt Europa jetzt jhrlich 12 Milliarden, reißt es Klfte zwischen den werdenden Nationen auf, hat es die hirnverbranntesten Kriege gefhrt, die je gefhrt wurden […] – ich wßte einen besseren Gebrauch von den 12 Milliarden zu machen, die der ,bewaffnete Friede‘ heute Europa kostet.“ – „Daß man eine solche Auslese der Kraft und Jugend und Macht nachher vor die Kanonen stellt, ist W a h n s i n n.“(N 1888/89, 25[14] u. [15], KSA 13.644 f.). 457 Das hat bisher am klarsten Ulmer, Nietzsches Philosophie in ihrer Bedeutung fr die Gestaltung der Weltgesellschaft, herausgestellt. Nietzsche habe es als Aufgabe der Philosophie gesehen, in der neuen Situation des „weltgeschichtlichen Daseins des Menschen“, in der er vor der „Umwertung aller Werte“ stand, eine bewusste „Entscheidung“ ber die Gestaltung der knftigen Weltgesellschaft zu treffen,
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Mit FW 356 geht Nietzsche von Fragen der herkçmmlichen Theoretischen Philosophie (Denken, Glauben, Bewusstsein, Erkennen) zu Fragen der Praktischen Philosophie im weitesten und der Politischen und Sozialphilosophie im engeren Sinn ber. Er berspringt solche Trennungen, um die Themenbereiche berraschend neu zusammenzubringen. FW 356 verknpft er mit den vorausgehenden Aphorismen nicht nur durch das Ursprungsthema und seine Heuristik der Not, sondern auch durch den (nun neun Mal wiederholten) Leitbegriff des Glaubens. FW 356 und FW 361 verbindet das Thema des „Schauspielers“, FW 361 und 362 darberhinaus das Thema der Frauen, die „zu allererst und -oberst Schauspielerinnen“ sein mssten. Sie entlocken Nietzsche das Bekenntnis eines eigenen Glaubens, des Glaubens „a n e i n e n e u e Ve r m n n l i c h u n g E u r o p a ’ s“. Der Glaube an den Geschlechter-Gegensatz einerseits und an Europa andererseits weist wieder auf den Anfang der Aphorismenkette zurck: FW 356 setzt mit den „mnnlichen Europern“ und ihrem Glauben ein, und „E u r o p a“ steht im Titel des Aphorismus. Um seine Philosophie der Gesellschaft und der Politik zu formulieren, bildet Nietzsche auf diese Weise ein irritierendes Geflecht aus den Themen des Ursprungs, des Glaubens, des Schauspielers, des Geschlechter-Gegensatzes und Europas.458 deren Dimensionen nur die Philosophie ausmessen kçnne. Dabei kçnne, so Ulmer, nicht „an dem bisherigen Vernunftwesen des Menschen“ festgehalten werden, und darum werde es auch „keine von einer einheitlichen Vernunft bestimmte Weltgemeinschaft geben“. Vielmehr msse von „einer grundstzlichen Vielfalt des Lebens des Menschen“ und auch von „einer mçglichen Vielfalt der Moralen“ und Kulturen ausgegangen werden (77). Ob darber hinaus Nietzsches Gedanken des Willens zur Macht, des bermenschen und der ewigen Wiederkehr des Gleichen hier weiter fhren, stellte Ulmer in Frage. Er hielt es jedoch fr wesentlich, dass Nietzsche zunchst berhaupt die „zwei Grundfragen“ gestellt habe: „Wenn die Metaphysik als Grundlage der Werte und ihrer Verbindlichkeit sich aufgelçst hat, ,mit welchem Blick wrden wir dann auf Menschen und Dinge sehen?‘ und ,wie wird sich dann die menschliche Gesellschaft, unter dem Einfluss einer solchen Gesinnung, gestalten?‘ (MA I 21)“. Diese Grundfragen sind, so Ulmer (79), immer noch offen. Denn Nietzsche habe „die erste nur in Grundzgen und versuchsweise ausgearbeitet, zu der zweiten ist er schon gar nicht mehr gekommen.“ Im Folgenden wird zu zeigen sein, welche Schritte Nietzsche in beiden Fragen in FW V versucht hat – ohne Rckgriff auf die Gedanken des Willens zur Macht, des bermenschen und der ewigen Wiederkehr des Gleichen. 458 Zur ,systematischen‘ Erschließung von Nietzsches Philosophie der Gesellschaft und der Politik vgl. Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche; AnsellPearson, An Introduction to Nietzsche as Political Thinker; Owen, Nietzsche, Politics, and Modernity; Conway, Nietzsche and the Political, und Shaw, Nietz-
308 11. Der Ursprung der ,freien Gesellschaft‘ im Bedrfnis nach Schauspielerei Nietzsche versucht hier, was man heute ,Gesellschaftsgeschichte‘ nennt, eine Synthese von Wirtschafts-, Sozial-, Politik- und Ideen- und Kulturgeschichte. In Aphorismen sind keine strengen soziologischen Analysen und keine ausgearbeitete Historie mit quellenkritischem Anspruch mçglich; stattdessen geht es um Gesichtspunkte, Perspektiven und Horizonte solcher Analysen, um Grundorientierungen. Nietzsche stellt auch seine Genealogie der Gesellschaft(en) Europas unter den Gesichtspunkt und in den Zeithorizont der Evolution. Als Ziel des gesellschaftlichen Fortschritts galt zu seiner Zeit (und gilt noch heute) die „,freie Gesellschaft‘“ ohne Nçte (FW 356), die schrittweise Befreiung von verbliebenen Nçten als hçchste moralische Forderung. Nietzsche dagegen hlt, da Evolutionen stets von Nçten ausgehen und kein Ziel haben (FW 343/4.2.), die Entwicklung auch der Gesellschaft bewusst offen („wer weiss, ob nicht“, FW 362). Dabei rechnet er in „Jahrtausenden“; er hat vor allem die zwei Jahrtausende vor Augen, die seit der Stiftung der Philosophie und des Christentums vergangen sind, geht aber noch weiter zu frheren Jahrtausenden alter Hochkulturen zurck.459 So berspringt er keck (eben dort, wo er den „Athener-Glauben“ „keck“ nennt, der auch der „Amerikaner-Glaube von heute“ sei) auch die gewohnte Einteilung der europischen Geschichte in die Epochen Antike, Mittelalter und Neuzeit, typisiert die europische(n) Gesellschaft(en) zeitbergreifend. In FW 356 kommt er von „unsrer Uebergangszeit“ ber das „Mittelalter“ auf die „Epoche des Perikles“, die Zge der Gegenwart vorwegnehme, und dann wieder ber das Mittelalter auf die Gegenwart zurck. In FW 362 bringt er auf hnliche Weise die Renaissance, die bergangszeit zwischen Mittelalter und Moderne, ins Spiel. Er macht Aussichten auf die Zukunft anhand typischer Evolutionen der Vergangenheit plausibel, ohne vermeintlich feste Anhaltspunkte oder Gesetze der Geschichte geltend zu machen.
sche’s Political Scepticism. Zu Nietzsches Analyse der Kommunikation der Gesellschaft ber sich selbst, der ,ffentlichen Meinung‘, vgl. Braatz, Friedrich Nietzsche. Eine Studie zur Theorie der ffentlichen Meinung, zu Nietzsches Wirkungen auf die deutschsprachige Soziologie Lichtblau, Kulturkrise und die Soziologie um die Jahrhundertwende; Hußling, Nietzsche und die Soziologie; Runciman, Can there be a Nietzschean sociology?, und Solms-Laubach, Nietzsche and Early German and Austrian Sociology. Zur jngsten stark am Wettbewerbsgedanken orientierten Interpretation von Nietzsches Politischer Philosophie vgl. Siemens/Roodt (Hg.), Nietzsche, Power and Politics. 459 Vgl. MA I 2, 236 u. M 96, zu Nietzsches Jahrtausend-Zeitmaß berhaupt Stegmaier, Schicksal Nietzsche?, 101 f.
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Nietzsches schriftstellerische Methoden: Musikalische Komposition von Aphorismen Die drei Aphorismen der Kette zum Ursprung der ,freien Gesellschaft‘ im Bedrfnis nach Schauspielerei sind nicht nur als Perspektiven eines kubistischen Gemldes komponiert (1.3.), sondern – hier besonders auffllig – auch musikalisch. Sie hçren sich an wie drei Stze einer Sonate nach der Art der spten Streichquartette Beethovens. FW 356 setzt ein mit einem allegro energico, wechselt dann zwischen Dur- und moll-Passagen (die „Ungeheuer von breiten Gesellschafts-Thrmen“ weichen dem „ArtistenGlauben“), geht in ein dramatisches grave ber („W i r s i n d a l l e k e i n M a t e r i a l m e h r f r e i n e G e s e l l s c h a f t“) und mndet in ein burleskes allegro con brio (der laute Wortwechsel mit den „Herrn Socialisten“). Nach einer lngeren Unterbrechung folgt mit FW 361 ein verhaltener Variationssatz andante con moto (alle mssen auf ihre Art Schauspieler sein), der nach einem scherzando vivace („Was aber die J u d e n betrifft“, „Endlich die F r a u e n“) in ein adagio misterioso („… Das Weib ist so artistisch …“) ausklingt. In diese geheimnisvolle Stimmung donnert dann FW 362 mit zwei Paukenschlgen („U n s e r G l a u b e a n e i n e Ve r m n n l i c h u n g E u r o p a ’ s. – Napoleon“) ein finale eroico hinein, das in vier großen Schritten (den vier Stzen, aus denen der Aphorismus besteht) alla marcia assai vivace zur mchtigen Coda hinfhrt („das Eine Europa […] als H e r r i n d e r E r d e“). Dieses Finale ist durch und durch auf schroffe und laute Tçne berechnet und ganz in Dur gehalten. „Napoleon“ ist das Grundthema, sein Name erklingt vier Mal, in jedem Satz neu (çfter als in jedem andern Aphorismus Nietzsches), der Grundton ist in der ersten Hlfte, dem langen ersten Satz, „Krieg“ („jetzt ein paar kriegerische Jahrhunderte“, „in’s k l a s s i s c h e Z e i t a l t e r d e s K r i e g s getreten“, „Kriegs-Glorie“) und wird dann, in der zweiten Hlfte, in „Herr“ („Herr“, „Herr“, „H e r r i n“) bergeleitet, alles ist auf Hrte gestimmt („ganz und gar nicht“, „Gegen-choc“, „geradewegs“, „Feindin“, „Feindschaft“, „Granit“, „muss“ vs. „blumichten“, „schwrmerischen“, „verhtschelt“). Hçrt man diesen Aphorismus mit seinen martialisch schmetternden Obertçnen („der M a n n in Europa wieder Herr“) als Antwort auf den Eingangs- und den Mittelsatz, macht er Sinn: er soll aus der Lethargie ihrer schweren moll-Tçne (der Tod des „Grundglaubens“ an eine fest gebaute Gesellschaft, die beunruhigende, qulende Schauspielerei) herausreißen und neue Hoffnung wecken durch einen befreienden Gegenglauben, der große Tçne braucht, um sich selbst zu bestrken. Doch man darf dabei wiederum die leisen Tçne nicht berhçren, die Nietzsche
310 11. Der Ursprung der ,freien Gesellschaft‘ im Bedrfnis nach Schauspielerei dazwischen anschlgt. Denn auch ein Gegenglaube ist ein Glaube, und jedes Geschlecht, auch das mnnliche, hat nicht nur zur Liebe, wovon der folgende Aphorismus FW 363 (14.) handeln wird, sondern auch zum Krieg „s e i n Vo r u r t h e i l“. Und es ist eben nicht vom Krieg der Waffen, sondern „der Mittel, der Begabungen, der Disciplin“ die Rede …
11.1. Eine Gesellschaft von Schauspielern Nr. 356: I n w i e f e r n e s i n E u r o p a i m m e r , k n s t l e r i s c h e r ‘ z u g e h n w i r d . 460 11.1.1. Flchtige Gesellschaftsbauten „Gesellschaft“ nennt Nietzsche hier „eine Gesellschaft im alten Verstande des Wortes“, als darunter noch eine Gemeinschaft eng aufeinander angewiesener Menschen, vor allem Handwerks- oder Heer-,Gesellen‘, verstanden wurde, eine Gesellschaft, die noch auf einem „Grundglauben“ aufgeruht habe, auf welchen hin man „rechnen, versprechen, die Zukunft im Plane vorwegnehmen, seinem Plane zum Opfer bringen kann“, einem Glauben an eine Gesellschaft, die, was man jetzt zu schaffen begann, auf Jahrtausende erhalten wrde.461 Ein solcher Glaube scheint, wie besonders die romanischen und gotischen Kathedralen bezeugen, deren Bau Jahrhunderte in Anspruch nehmen konnte, noch im Mittelalter geherrscht zu haben. Doch er verlor sich offensichtlich „in unsrer 460 Eine frhere Kurzfassung dieses Kapitels erschien in Stegmaier, Eine Gesellschaft von Schauspielern. 461 Tçnnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, hat gleichzeitig mit Nietzsche zu zeigen versucht, wie aus alten, in persçnlicher Verbundenheit begrndeten „organischen“ Gemeinschaften moderne, vor allem auf das Recht gebaute „mechanische“ Gesellschaften hervorgehen kçnnen. Vgl. zum Einfluss Nietzsches und insbesondere seiner GT auf Tçnnies‘ Unterscheidung Solms-Laubach, Nietzsche and Early German and Austrian Sociology, 154 – 184, und die von ihm aufgearbeitete Literatur. Nietzsche selbst macht zunchst keinen Unterschied zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft (vgl. PHG 3, KSA 1.813), rckt spter jedoch in seinen Notaten (und nur dort) die Gemeinschaft an die „Heerde“ (vgl. N 1884/85, 29[3], KSA 11.336) und die „Blutgemeinschaft“ heran (N 1887/88, 11[292], KSA 13.113 / W II 3, S. 88). ,Gesellschaft‘ dagegen gebraucht er auch im Plural im Sinn gelegentlicher Gastgesellschaften (vgl. z. B. MA I 351; MA II, WS 167), aber auch im Sinn stndig zusammenlebender Großgruppen (vgl. z. B. SE 3, KSA 1.353; MA II, WS 34; FW 116).
11.1. Eine Gesellschaft von Schauspielern. Nr. 356
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Uebergangszeit, wo so Vieles aufhçrt zu zwingen“, wie ebenfalls am deutlichsten die Kirche bezeugt, „der letzte Rçmerbau“, den Europa geschaffen hat (FW 358/8.4.). Es ist soziologisch nicht zwingend, bei Gesellschaften auf „Dauerfhigkeit“ zu bestehen. Nietzsche schrnkt ihr Konzept hier gezielt ein. Danach hat die „Vergesellschaftung“ von Menschen, die aus Zufall und Not zustandekommt,462 darin ihren Sinn, dass sie auf lange Sicht Orientierung und damit Zukunft schafft – fr die, die nicht zum „Alleinstehn“ fhig, sondern zu ihrer Orientierung dauernd auf andere Orientierung angewiesen sind.463 Bei aller Distanz zur Gesellschaft bemhte sich Nietzsche, wie er spter notierte, „die absolute Vernnftigkeit des gesellschaftlichen Urtheilens u. Werthschtzens zu begreifen: natrlich frei von dem Willen, dabei moralische Resultate herauszurechnen.“ (N 1887, 9[140], KSA 12.415 / W II 1, S. 37) Er wollte mit seinem Konzept der Gesellschaft nicht herrschende Moralen bestrken, sondern als unvermeidlich erklren. Gesellschaft bedeutete fr ihn, dass sie „die Einzelnen unterwirft, also aus ihrer Vereinzelung herauszieht und in einen Verband einordnet“, einen fr die meisten heilsamen Zwang zur Moral ausbt, der zur Lust und schließlich zur erklrten Tugend werden kann (MA I 99). Der zur Lust und zur Tugend gewordene Zwang schafft jenen „Glauben der gebundenen Geister“, durch den die Gesellschaft und ihre Institutionen „Kraft und Dauer“ gewinnen (MA I 227). Er macht die Einzelnen zu gefgigen „W e r k z e u g e n“ (FW 296) – auch noch Gesellschaftskritiker wie die „flschlich genannten ,freien Geister‘“, soweit sie „Menschen ohne Einsamkeit, ohne eigne Einsamkeit“, „unfrei und zum Lachen oberflchlich sind, vor Allem mit ihrem Grundhange, in den Formen der bisherigen alten Gesellschaft ungefhr die Ursache fr a l l e s menschliche Elend und Missrathen zu sehn“ (JGB 44). In JGB 258 hatte Nietzsche dem beschrnkten Grundglauben gebundener Geister an die Gesellschaft den „Grundglauben“ von Aristokraten entgegengestellt, die „sich n i c h t als Funktion (sei es des Kçnigthums, sei es des Gemeinwesens), sondern als dessen S i n n und hçchste Rechtfertigung“ gefhlt htten. Sie htten aus „ihrer hçheren Aufgabe“ die Berechtigung „zu einem hçheren S e i n“ gezogen und darum „mit gutem Gewissen das Opfer einer Unzahl Menschen“ hingenommen, „welche um i h r e t w i l l e n zu unvollstndigen Menschen, zu Sklaven, zu Werkzeugen herabgedrckt und vermindert 462 Nietzsche gebraucht den Begriff „Vergesellschaftung“ nur in seinen Notaten und hier ebenso von Trieben wie von Tieren und Menschen. Vgl. N 1880, 4[201], KSA 9.150; N 1881, 11[163], KSA 9.504; N 1883, 7[94], KSA 10.274. 463 Vgl. JGB 210, GM III 5 u. ç. und dazu 8.4.1.
312 11. Der Ursprung der ,freien Gesellschaft‘ im Bedrfnis nach Schauspielerei werden mssen“, habe in dem Glauben gelebt, „dass die Gesellschaft n i c h t um der Gesellschaft willen dasein drfe, sondern nur als Unterbau und Gerst, an dem sich eine ausgesuchte Art Wesen […] emporzuheben vermag“ (JGB 258; vgl. 18.1.2.). In FW 356 geht es um diesen „Unterbau“, der nun, so Nietzsche, kein Bau mehr sei. Seine analytische Skizze beginnt lento, um dann mit anwachsenden Perioden, Doppelpunkten, Ausrufezeichen, Sperrungen, Parenthesen, Auslassungszeichen Fahrt zum allegro energico zu gewinnen. Am Beginn der zweiten Hlfte tritt der Autor persçnlich auf, mit einer Befrchtung, mit der er sich wieder allein dastehen sieht („Aber was ich frchte, was man heute schon mit Hnden greift, falls man Lust htte, darnach zu greifen“). Er bereitet seine „Wahrheit“ vor („W i r A l l e s i n d k e i n M a t e r i a l m e h r f r e i n e G e s e l l s c h a f t: das ist eine Wahrheit, die an der Zeit ist!“), um sich zuletzt in jene lautstarke Auseinandersetzung darber mit den „Socialisten“ einzulassen. Weil er sie fr „die kurzsichtigste, vielleicht ehrlichste, jedenfalls lrmendste Art Mensch, die es heute giebt,“ hlt, schreit er, brav den Antagonisten spielend, zurck („Freie Gesellschaft? Ja! Ja!“).464 Nietzsche spielt 464 JGB 202 sprach er noch „beleidigend“ von „tçlpelhaften Philosophastern und Bruderschafts-Schwrmern, welche sich Socialisten nennen und die ,freie Gesellschaft‘ wollen“. Weit grçber noch im vorbereitenden Notat N 1885, 37[11], KSA 11.586 / W I 6, S. 51: „Der Socialismus {als die zu Ende gedachte Tyrannei der Mittelmßigsten Meisten Geringsten und Dmmsten Oberflchlichen Neidischen u. der Dreiviertels-Schauspieler} ist in der That die Schlußfolgerung der demokratischen Logik {modernen Ideen und des ihres latenten Anarchismus}: aber in der lauen Luft eines demokratischen Wohlbefindens erschlafft das Vermçgen, zu Schlssen oder gar zum Schluß zu kommen. Man folgt, – aber man folgert nicht mehr.“ – Zu Nietzsches çffentlicher Auseinandersetzung mit dem Sozialismus und den Sozialisten seiner Zeit vgl. MA I 235 („G e n i u s u n d i d e a l e r S t a a t i n W i d e r s p r u c h“), MA I 446 („E i n e F r a g e d e r M a c h t , n i c h t d e s R e c h t e s“), MA I 451 („G e r e c h t i g k e i t a l s P a r t e i e n -L o c k r u f“), MA I 452 („B e s i t z u n d G e r e c h t i g k e i t“), MA I 473 („D e r S o c i a l i s m u s i n H i n s i c h t a u f s e i n e M i t t e l“), MA II, VM 304 (Liberale sehen sich vom Sozialismus lediglich in ihrem Besitz bedroht), MA II WS 285 („O b d e r B e s i t z m i t d e r G e r e c h t i g k e i t a u s g e g l i c h e n w e r d e n k a n n“ – Nietzsches Antwort ist: nein, die Menschen brauchen Besitz als Halt), MA II WS 292 („S i e g d e r D e m o k r a t i e“ – die Angst vor dem Sozialismus fçrdert die Demokratie), FW 24 („V e r s c h i e d e n e U n z u f r i e d e n h e i t“: „die Socialisten und Staats-Gçtzendiener Europa’s kçnnten es mit ihren Maassregeln zur Verbesserung und Sicherung des Lebens auch in Europa leicht zu chinesischen Zustnden und einem chinesischen ,Glcke‘ bringen“) und zuletzt betont krass AC 57 („Das Socialisten-Gesindel, die Tschandala-Apostel, die
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sichtlich selbst. Und er spielt das Spiel demonstrativ auf eine bermtiges berspielen des Schulbeispiels vom logischen Widerspruch hinaus („Aber ihr wisst doch, ihr Herren, woraus man die [,freie Gesellschaft‘] baut? Aus hçlzernem Eisen! Aus dem berhmten hçlzernen Eisen! Und noch nicht einmal aus hçlzernem …“). Er hat zuvor anhand der metaphorischen Gegenstze Baumeister / Schauspieler und Stein / Rolle deutlich gemacht, dass die Architektur-Metaphorik, die die Philosophie Jahrtausende lang geprgt hat, nun nicht mehr trgt.465 Die Steine wurden zu seiner Zeit buchstblich durch Eisen ersetzt, den neuen Baustoff, aus dem neben den Eisenbahnen und ihren Gleisen und Brcken spektakulre Wahrzeichen der Kultur der entstehenden Weltgesellschaft errichtet wurden wie der Kristallpalast in London oder der Eiffelturm in Paris, der eben den Instinkt, die Lust, das Gengsamkeits-Gefhl des Arbeiters mit seinem kleinen Sein untergraben, – die ihn neidisch machen, die ihn Rache lehren …“). In seinen Notaten versuchte Nietzsche aber auch eine ebenso gelassene wie vorbehaltlose systematische Analyse des Sozialismus in acht Punkten (N 1877, 25[1], KSA 8.481 – 483), stellte ihn in langfristige Perspektiven (N 1881, 11[222], KSA 9.527: „Der Socialismus ist eine Ghrung, welche eine Unzahl von Staats-experimenten ankndigt, also auch von Staats-Untergngen und neuen Eiern. Das Reifwerden von jetzigen Staaten geschieht schneller; die militrische Gewaltsamkeit wird immer grçßer“) und wnschte sich, was dann tatschlich eingetreten ist: „einige große Versuche“, die ihn „ad absurdum“ fhren werden, „selbst {wenn sie mit einem ungeheuren Aufwande von} Menschenleben bezahlt“ wrden (N 1885, 37 [11], KSA 11.587 / W I 6, S. 51 u. 53). Vgl. Marti, „Der grosse Pçbel- und Sklavenaufstand“, 141 – 188. Marti stellt Nietzsches Urteile zum Sozialismus und ihre mçglichen Quellen detailgetreu und chronologisch, allerdings aus eben der Perspektive dar, die Nietzsche als sozialistisch verstanden hat. Da er zudem, obwohl „Nietzsche in politischen Angelegenheiten nie çffentlich Stellung bezogen hat“ (270), verçffentlichte Texte und Notate nicht unterscheidet und alle ußerungen Nietzsches schon als bare Meinungsußerungen nimmt, findet auch er bei Nietzsche vor allem Ambivalenz, Widersprchlichkeit und Verwirrung. Dies freilich wrde ihn ja soziologisch und politologisch uninteressant machen. 465 Vgl. zu Nietzsches Gebrauch der Bau-Metaphorik schon FW 343/4.6., zur BauMetaphorik in der Philosophie berhaupt Bçhringer, Art. Bauen, zu ihrem soziologischen Gebrauch Sennett, Flesh and Stone. – In MA war Nietzsche auf die Metaphorik der Bildhauerkunst zurckgegangen – und hatte sie ebenfalls als zweifelhaft erwiesen: „D i e S t a t u e d e r M e n s c h h e i t. – Der Genius der Cultur verfhrt wie Cellini, als dieser den Guss seiner Perseus-Statue machte: die flssige Masse drohte, nicht auszureichen, aber sie s o l l t e es: so warf er Schsseln und Teller und was ihm sonst in die Hnde kam, hinein. Und ebenso wirft jener Genius Irrthmer, Laster, Hoffnungen, Wahnbilder und andere Dinge von schlechterem wie von edlerem Metalle hinein, denn die Statue der Menschheit muss herauskommen und fertig werden; was liegt daran, dass hie und da geringerer Stoff verwendet wurde?“ (MA I 258).
314 11. Der Ursprung der ,freien Gesellschaft‘ im Bedrfnis nach Schauspielerei im Jahr 1887 begonnen wurde, um 1889, zum 100. Jahrestag der Franzçsischen Revolution, fertiggestellt zu werden. Beide sollten die ,freie Gesellschaft‘ feiern und beide mit ihren leichter beweglichen und weit vielfltiger einsetzbaren, aber auch vergnglicheren Baumaterialien (im Fall des Kristallpalasts neben dem rostanflligen Eisen das zerbrechliche Glas) sollten nur auf Zeit stehen bleiben. So ,eisern‘ sie sich darstellten, symbolisierten sie flchtige Gesellschaftsbauten. 11.1.2. Nietzsches Leitunterscheidungen: Natur und Kunst, Charakter und Rolle Nietzsches Leitunterscheidungen, durch die er die Evolution der europischen Gesellschaft(en) zu fassen suchte, sind in FW 356 „R o l l e“ und „Charakter“, „Kunst“ und „Natur“. Er stellt angestrengt Knstliches466 gelassen Natrlichem gegenber und das Gesellschaftliche auf die Seite des Knstlichen. Er fixiert die Unterscheidung jedoch nicht als Gegensatz, sondern lsst Evolutionen der einen zur andern Seite und Oszillationen zwischen beiden zu; so fhrt er vor, wie die Unterscheidungen selbst evoluieren. Eine angestrengt gespielte Rolle kann, wenn man sie lange genug spielt, zum prgenden Charakter, „aus der Kunst Natur“ werden. Wird aber das Rollenspiel selbst zur Natur, zur Schauspieler-Natur, hçrt damit „alle Natur“ auf und wird ihrerseits zur „Kunst“. Die „Uebergangszeit, wo so Vieles aufhçrt zu zwingen“, zwingt umso mehr zur Kunst, eine Rolle zu spielen, nmlich einen „Beruf“ zu whlen. Die Freiheit zur Wahl eines Berufs ist nur eine „anscheinende“; tatschlich entscheiden sich hier die wenigsten, und „Zufall, Laune, Willkr“ verfgen ber sie. Die meisten vergessen dabei um ihrer, aktuell gesprochen, Identitt willen gerne, „wie viele andre Rollen sie vielleicht htten spielen k ç n n e n“, also ebenso die mçgliche Entscheidung wie die tatschlichen Zuflle, und werden „Opfer ihres ,guten Spiels‘“, aus ihrer Rolle wird „wirklich Charakter“. Das Thema Freiheit bleibt im Hintergrund, wird allem Weiteren aber seinen Sinn geben. „Rolle“ steht fr die Entscheidbarkeit des „sogenannten Berufs“. Der Begriff ,Beruf ‘ seinerseits ist religiçser Herkunft: nach Luther und Calvin sollte jeder an
466 Das in Gnsefßchen gesetzte Zitat „,knstlerischer‘“ drfte auf Wagners hufige Klage anspielen, dass die moderne Zivilisation immer unknstlerischer werde – weil das Judentum sie zersetze (vgl. Borchmeyer/Figl, Art. Judentum, 169).
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seinen Beruf als eine Berufung glauben.467 Das Wort ,Rolle‘ ist im Deutschen seit dem 14./15. Jahrhundert bezeugt, wurde ber das Franzçsische aus dem Lateinischen entlehnt und bedeutete zunchst ,kleines Rad, kleine Scheibe, kleine Walze‘, dann Schriftrolle, dann, nach der Schriftrolle, auf der sein Part aufgezeichnet war, die Rolle des Schauspielers, schließlich die Rolle oder Rollen, die jedermann in der Gesellschaft zu ,spielen‘ hat: der soziologische Begriff der Rolle leitet sich aus der Sprache der Schauspieler ab.468 Schon nach Epiktet hat jeder seine (Theater-)Rolle (pq|sypov) in einem Schauspiel zu spielen, das der Direktor bestimmt.469 Montaigne, zu Beginn der Moderne, beobachtete tadelnd neue Verstellungsknste der hçfischen Gesellschaft („cette nouvelle vertue de faintise et de dissimulation“),470 die Rousseau dann scharf kritisierte: Mensch zu sein, verbiete, Rollen zu spielen. Auch nach Kant sind Menschen „je civilisirter, desto mehr Schauspieler“. Dadurch aber, „daß Menschen diese Rolle spielen, werden zuletzt die Tugenden, deren Schein sie eine geraume Zeit hindurch nur erknstelt haben, nach und nach wohl wirklich erweckt und gehen in die Gesinnung ber.“471 Nietzsche folgte hier Kant. Fr den Schauspieler gelte ebenso wie fr den Heuchler: Wenn Einer sehr lange und hartnckig Etwas s c h e i n e n will, so wird es ihm zuletzt schwer, etwas Anderes zu s e i n. Der Beruf fast jedes Menschen, sogar des Knstlers, beginnt mit Heuchelei, mit einem Nachmachen von Aussen her, mit einem Copiren des Wirkungsvollen. Der, welcher immer die Maske freundlicher Mienen trgt, muss zuletzt eine Gewalt ber wohlwollende Stimmungen bekommen, ohne welche der Ausdruck der Freundlichkeit nicht zu erzwingen ist, – und zuletzt wieder bekommen diese ber ihn Gewalt, er i s t wohlwollend. (MA I 51) Aus dem (ursprnglich religiçsen) Glauben an die Rolle wird „Charakter“, im Wortsinn (gr. waqajt^q) ein ,festes Geprge‘. Kant unterscheidet in ihm „Freiheit und Natur“: man kçnnte (Kant spricht hier stets im Konjunktiv) vom „empirischen Charakter“, der Natur sei, einen „intelligiblen Charakter“ unterscheiden, der frei und verantwortlich, aber nicht zu beobachten und darum nur zu postulieren 467 Vgl. Weber, Die protestantische Ethik, 63 – 83. Die berhmte Abhandlung von 1904/05 ist stark von Nietzsche beeinflusst. Vgl. Solms-Laubach, Nietzsche and Early German and Austrian Sociology, 82 – 89. 468 Nach Kaufmann, Translater’s Introduction, 24, und Kaufmann, Nietzsche als der erste große Psychologe, 274, hat Nietzsche als erster den modernen Rollenbegriff aus der Schauspieler-Sprache verallgemeinert. Die Begriffsgeschichte besttigt das jedoch nicht. Vgl. Konersmann, Art. Rolle, der die bertragung schon in der griechischen Antike nachweist. 469 Epiktet, Encheiridion 17, zit. nach Konersmann, Art. Rolle, 1065. „Die antike Rollen-Metaphorik“, so Konersmann, „beschrnkt die Entscheidungsmçglichkeiten strikt auf den Spielraum, den die Rolle zulßt, und konzentriert sich auf das Repertoire der konformen Verhaltensweisen.“ 470 Montaigne, Versuche II 17 (De la praesumption/ber den Hochmut), 2.470/ Micha 2.310/Stilett 322a. 471 Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA 7.151.
316 11. Der Ursprung der ,freien Gesellschaft‘ im Bedrfnis nach Schauspielerei sei.472 Dieser, der moralische Charakter, den Kant als „praktische konsequente Denkungsart nach unvernderlichen Maximen“ bestimmt,473 wird dann bei Schopenhauer zum metaphysischen unvernderlichen Willen eines Individuums, den (in Umkehrung von Kants Intention) der Intellekt nicht beeinflussen kçnne, dem er nur folge, weshalb er, der Intellekt, sich nur frei glaube.474 Nietzsche lçste sich von beidem, ebenso vom moralphilosophischen wie vom metaphysischen Verstndnis des Charakters.475 Die Unvernderlichkeit des Charakters ist, wie die Selbststndigkeit des Bewusstseins (FW 354/9.), ein sozial notwendiger Glaube; unter ihrer Voraussetzung kann man sich dauerhaft aufeinander verlassen: „,Man kann sich auf ihn verlassen, er bleibt sich gleich‘ – das ist in allen gefhrlichen Lagen der Gesellschaft das Lob, welches am meisten zu bedeuten hat.“ Darum ist es „fr jeden Einzelnen am zweckmssigsten, seinen Charakter und seine Beschftigung als unvernderlich z u g e b e n, – selbst wenn sie es im Grunde nicht sind.“ (FW 296) Nietzsche gebraucht den Begriff ,Charakter‘ sehr hufig, (a) im Sinn der – guten oder schlechten – Prgung einer Person (,schlichter‘, ,ehrlicher‘, ,stolzer‘, ,spielerischer‘, ,unredlicher‘, ,abnormer‘, ,ekelhafter Charakter‘ usw.), (b) im Sinn eines – schwer fassbaren – Grundzugs von etwas („Charakter jener vollendeten Unendlichkeit“, PHG 12, KSA 1.848) und (c), ohne Adjektiv und Genetiv, im Sinn der achtunggebietenden Festigkeit einer Persçnlichkeit (wonach jemand „Charakter“ oder einen „Mangel an Charakter“ hat, UB I 7, KSA 1.200). Ausschlaggebend ist fr ihn auch beim Charakter, wie viel Bindung er braucht und wie viel Ungebundenheit er zulsst. Er geht von der Vernderlichkeit der Charaktere aus. Lebten Menschen nur lange genug, so wrde sich zeigen, dass sie keinen unvernderlichen, sondern „einen absolut vernderlichen Charakter“ haben, dass auch sie Wandlungen unterliegen (MA I 41). Charaktere, Prgungen, festigen sich mit der Zeit, eben weil ein „gemeinsamer Glaube“ in einem durch die „Gleichheit“ von „gewohnten und undiscutirbaren Grundstzen“ gefestigten Gemeinwesen dazu anhlt (MA I 224). „Wenige Motive, energisches Handeln und gutes Gewissen“ – „im Einklange mit den Grundstzen der gebundenen Geister“ – „machen Das aus, was man Charakterstrke nennt.“ Aber dem Charakterstarken fehlt dann auch „die Kenntniss der vielen Mçglichkeiten und Richtungen des Handelns; sein Intellect ist unfrei, gebunden“ (MA I 228), der Preis der „Stabilitt“ kann „Verdummung“ sein. Neuerungen, „Fortschritt“ bringen dagegen „die ungebundneren, viel unsichereren und moralisch schwcheren Individuen“ – wenn denn passende Gelegenheiten sie zum Zug kommen lassen (MA I 224). Whrend sie das eingespielte Spiel nicht mitspielen, sitzen die, die glauben, „die Grundstze und Lehrmeinungen“ htten ihren „Charakter geschaffen, ihm Halt und Sicherheit 472 473 474 475
Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 538/B 566 – A 541/B 569. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Methodenlehre, AA 5.152. Vgl. Schopenhauer, WWV I, Viertes Buch, § 55, 2.341 ff. Dem gehen lange Auseinandersetzungen voraus. Vgl. N 1870/71, 7[194], KSA 7.213; N 1870 – 72, 8[98], KSA 7.261; N 1871, 9[105], KSA 7.312 f.; N 1873, 29[172], KSA 7.702; UB IV 11, KSA 1.506, und zur Entwicklung des CharakterBegriffs von Kant ber Schopenhauer zu Nietzsche Mller-Lauter, Nietzsche-Interpretationen, 2.29 – 40.
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gegeben“, einer „fast unbewussten Komçdie“ auf. Denn es ist umgekehrt: „Wir suchen unbewusst die Grundstze und Lehrmeinungen, welche unserem Temperamente angemessen sind“, und tuschen uns damit selbst (MA I 608). Charakter ist immer auch eine Charakter-Komçdie. Denn so fest sind vorgespielte Charaktere eben nicht. Aber weil man mit dem Begriff des Charakters Ungleiches gleichsetzen kann, kann man mit ihm trotz aller Vernderungen auf Stabilitt setzen (MA II, WS 11). Erscheint ein Charakter dann in einer Gesellschaft gefestigt, kann er „Richtung“ geben (M 178), sich und andere orientieren, und dies kçnnen „verschlagene Staatsmnner“ dann wiederum nutzen, um „ihre Komçdie“ zu spielen (M 182). Sind aus lange gespielten Rollen aber erst Charaktere geworden, sind Sein und Spiel an ihnen kaum noch zu unterscheiden. Darum kçnnen „G e i s t u n d C h a r a k t e r“ auseinanderfallen: „Mancher erreicht seinen Gipfel als Charakter, aber sein Geist ist gerade dieser Hçhe nicht angemessen – und Mancher umgekehrt.“ (FW 235) So notierte sich Nietzsche als Zwischenlçsung: „NB Fortsetzung der freiesten Erkenntniss und Leben mit provisorischem Charakter!“ (N 1880/81, 10[D87], KSA 9.433) Seine Lçsung war dann jene „grosse und seltene Kunst“, seinem Charakter vor andern und schließlich vor sich selbst ,Stil zu geben‘: „Sie bt Der, welcher Alles bersieht, was seine Natur an Krften und Schwchen bietet, und es dann einem knstlerischen Plane einfgt, bis ein Jedes als Kunst und Vernunft erscheint und auch die Schwche noch das Auge entzckt. Hier ist eine grosse Masse zweiter Natur hinzugetragen worden, dort ein Stck erster Natur abgetragen: – beidemal mit langer Uebung und tglicher Arbeit daran.“ (FW 290)476 Charakter ist damit nicht mehr wie fr Kant eine Frage von Freiheit und Natur, die einander entgegengesetzt sind, sondern von Kunst und Natur, die sich aneinander abarbeiten und dabei ineinander bergehen kçnnen. Doch auch der bloße Schein der Unvernderlichkeit fhrt zur „Versteinerung der Ansichten“ und sie wiederum dazu, dass die Erkenntnis der Vernderlichkeit „mit dem schlechten Gewissen behaftet“ ist (FW 296). So wird die Aufklrung des Charakters schwer; um die „V i e l h e i t v o n C h a r a k t e r e n“ bei Einzelnen ebenso wie bei Vçlkern zu sehen,477 muss man den Mut zum „,schlechten Charakter‘“ haben (JGB 34). Nietzsche notierte zuletzt fr sich und ber sich zur „{,Objektivitt‘ am Denker Philosophen}“: „{moral. Indifferentism gegen sich. Blindheit gegen die guten u. schlimmen Folgen: Unbedenklichkeit im Gebrauch gefhrlicher Mittel; Perversitt u. Vielheit des Charakters als Vorzug errathen u. entwickelt ausgentzt –} / m{s}eine tiefe Gleichgltigkeit gegen m{s}ich: ich will keinen Vortheil aus meinen Erkenntnissen u. weiche auch den Nachtheilen nicht aus, die sie mit sich bringen – hier ist eingerechnet das, was man Verderbniß des Charakters nennen kçnnte; diese Perspektive liegt außerhalb: ich handhabe meinen Charakter, aber denke weder daran, ihn zu verstehen, noch ihn zu verndern – der persçnliche calcul der Tugend ist mir nicht einen Augenblick in den Kopf gekommen.“ (N 1887/88, 11[300], KSA 13.126 f. / W II 3, S. 70) 476 Zur Kritik der aktuellen Lebenskunstethiken, die gerne daraus abgeleitet werden, vgl. Zittel, sthetisch fundierte Ethiken. 477 N 1884, 25[21], KSA 11.17; vgl. N 1884, 25[120], KSA 11.45; N 1884, 26[370], KSA 11.248.
318 11. Der Ursprung der ,freien Gesellschaft‘ im Bedrfnis nach Schauspielerei 11.1.3. Die Freiheiten der Schauspieler Im Mittelalter, als man, gebunden durch „Stnde, Znfte, erbliche Gewerbs-Vorrechte“, den „Zufall“, „das Willkrliche“ und damit auch die Mçglichkeit der Entscheidung in der Wahl des Berufs „schlechterdings nicht anerkennen wollte“, trat die Freiheit, wie Nietzsche sie versteht, in den Hintergrund. Etwa ein Jahrtausend lang glaubte man anders an gesellschaftliche Bindungen als zuvor und danach. Man konnte sich fr einen „Stein in einem grossen Baue“ halten, der „zuallerst f e s t“, keinen Evolutionen ausgesetzt war, fr einen Stein in einem Gesellschaftsbau ,im alten Verstande des Wortes‘. Nietzsche scheint Nostalgien nachzuhngen, indem er die „Dauerfhigkeit“ mittelalterlicher Gesellschaften zum Maßstab der Gesellschaft berhaupt macht. Doch er ist nicht der Mann, Nostalgien nachzuhngen. Indem er dem Glauben des Mittelalters den Glauben anderer Zeitalter entgegensetzt („Aber es gibt umgekehrte Zeitalter“), zeigt er zugleich, dass der Wert der Dauer selbst ein Wert auf Zeit ist. In „eigentlich demokratischen“ Zeitaltern, in denen, so scheint Nietzsche sie zu verstehen, die Brger bestndig mehrheitlich ber gemeinsame Belange zu entscheiden haben, kann immer alles in Frage gestellt werden. Die Griechen „in der Epoche des Perikles“ gingen das politische Experiment ein, statt auf fraglose Dauer auf Mehrheitsentscheidungen zu setzen, die im çffentlichen Redewettstreit herbeigefhrt wurden, und dazu allen (mnnlichen Voll-)Brgern ungeachtet aller Standes- und Einkommensunterschiede das Wahlrecht und die bernahme aller Wahlmter zuzugestehen.478 Das setzte bei jedem Einzelnen voraus, dass er „berzeugt“ war, „ungefhr Alles zu kçnnen, ungefhr j e d e r R o l l e g e w a c h s e n zu sein, wo Jeder mit sich versucht, improvisirt, neu versucht, mit Lust versucht“.479 Mit ihrer sprbaren Lust an RollenExperimenten brachten gerade die von Nietzsche so hoch geschtzten Athener auf „eine wunderliche und nicht in jedem Betracht nachahmenswerthe“ Weise den „Artisten-Glauben“ auf und „w u r d e n w i r k l i c h S c h a u s p i e l e r“. Sie waren damit, auch wenn sie militrisch schließlich von den Rçmern unterworfen wurden, welthistorisch erfolgreich: denn als Schauspieler „bezauberten sie, berwanden sie alle 478 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 481 – 486. 479 Vgl. Mller, Die Griechen im Denken Nietzsches, 177 f., der die Unfestigkeit der politischen und moralischen Maßstbe der Athener zur Zeit ihrer aggressivsten und erfolgreichsten Expansion hervorhebt.
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Welt und zuletzt selbst die ,Weltberwinderin‘“ Rom,480 die das ,schauspielerende Griechlein‘ („Graeculus histrio“) verachten zu drfen glaubte. Was die Griechen nach Nietzsches GT ursprnglich auszeichnete, ihre Kraft, sich den entsetzlichsten (dionysischen) Einsichten dadurch stellen zu kçnnen, dass sie (apollinisch) gemessen ber sie zu sprechen verstanden, trieb sie zugleich in die Schauspielerei, auch hier einander steigernd durch die Kultur des Wettstreits, des !c~v: Unter den Mnnern des Alterthums, welche durch ihre Tugend berhmt wurden, gab es, wie es scheint, eine Un- und berzahl von solchen, die v o r s i c h s e l b e r s c h a u s p i e l e r t e n: namentlich werden die Griechen, als eingefleischte Schauspieler, diess eben ganz unwillkrlich gethan und fr gut befunden haben. Dazu war Jeder mit seiner Tugend im W e t t s t r e i t mit der Tugend eines Andern oder aller Anderen: wie sollte man nicht alle Knste aufgewendet haben, um seine Tugend zur Schau zu bringen, vor Allem vor sich selber, schon um der bung willen! Was ntzte eine Tugend, die man nicht zeigen konnte oder die sich nicht zu zeigen verstand! (M 29)
Schon von alters her hatten die Griechen neben dem heroischen Ideal des zornig kmpfenden Achill das schauspielerische Ideal des zu allen Verstellungen fhigen Odysseus kultiviert (FW 344; 5.2.1.[5]): Vor Allem die Fhigkeit zur Lge und zur listigen und furchtbaren Wiedervergeltung; den Umstnden gewachsen sein; wenn es gilt, edler erscheinen als der Edelste; sein kçnnen, w a s m a n w i l l; heldenhafte Beharrlichkeit; sich alle Mittel zu Gebote stellen; Geist haben – sein Geist ist die Bewunderung der Gçtter, sie lcheln, wenn sie daran denken –: diess Alles ist griechisches I d e a l! Das Merkwrdigste daran ist, dass hier der Gegensatz von Scheinen und Sein gar nicht gefhlt und also auch nicht sittlich angerechnet wird. Gab es je so grndliche Schauspieler! (M 306)481
,Ungefhr Alles zu kçnnen, ungefhr jeder Rolle gewachsen zu sein‘ ist im modernen Europa wieder notwendig geworden, seit es, um wieder in Begriffen der soziologischen Systemtheorie Niklas Luhmanns zu sprechen, von segmentrer und stratifikatorischer Differenzierung der Gesellschaft, 480 „Weltberwinderin“ wurde Rom von Herder, Ideen, 576, genannt. Nach Herder hatten die Griechen Rom jedoch nicht mit ihrer „Cultur“ besiegt. Er bestand entschieden auf der Eigenstndigkeit der rçmischen Kultur: „In dem, worin die Griechen vortrefflich waren, haben die Rçmer sie nie bertreffen mçgen; was gegenteils sie Eignes besaßen, hatten sie von den Griechen nicht gelernet.“ (625). 481 Vgl. noch N 1884, 25[106], KSA 11.39: „unbewußt streben sie alle nach der schçnen B i l d s u l e – sie wollen vor Allem Tugend reprsentiren, es ist das große S c h a u s p i e l e r t h u m d e r T u g e n d. / aber sie sind Kinder i h r e r Zeit – nicht mehr t r a g i s c h e Schauspieler, n i c h t Darsteller des Heroenthums, sondern ,Olympier‘, o b e r f l c h l i c h.“
320 11. Der Ursprung der ,freien Gesellschaft‘ im Bedrfnis nach Schauspielerei von der Organisation zuerst nach Sippen und Stmmen, dann nach Stnden auf funktionale Differenzierung umgestellt hat, in der jeder nicht mehr nach Maßgabe seiner Geburt, sondern allein nach seinen Fhigkeiten zum Zug kommt, soweit sie am Markt nachgefragt werden. Dabei korrodiert der Charakter.482 Wenn der Glaube an die Souvernitt im RollenSpiel, der „R o l l e n -G l a u b e n“ oder „Artisten-Glauben“, frher der „Athener-Glaube“ war, wie er heute der „Amerikaner-Glaube von heute“ ist, „der immer mehr auch Europer-Glaube werden will“, war die kirchlich geprgte, fest gebaute Gesellschaft, auch wenn sie etwa ein Jahrtausend berdauert hat, eine bloße Episode zwischen ihnen. Die Souvernitt im Rollen-Spiel, sofern es eben nicht vergessen oder verdrngt, sondern bewusst gespielt wird, ist eine Freiheit. Doch sie ist nur die Freiheit, sich auf nichts endgltig festzulegen, und darum keine Freiheit, auf die sich irgendetwas dauerhaft ,bauen‘ ließe, keine, die auf Jahrtausende ,verspricht‘. Nietzsche personalisiert im Schlussteil von FW 356 den metaphorischen Gegensatz Dauer von Bauten / Zeitweiligkeit von Rollen zum Gegensatz „,Baumeister‘“ (er macht auch hier die Sinnverschiebung durch Gnsefßchen kenntlich, vgl. NSM 10) / „Schauspieler“ (ohne Gnsefßchen). Schauspieler spielen mit Fiktionen und Illusionen, kçnnen sie nach Bedarf vorgeben und wieder aufgeben, ohne zu den (vermeintlichen) Realitten zu kommen. Sie leben in knstlich-knstlerischen Welten – wie nach Nietzsche „wir modernen Menschen“ berhaupt. Die Schauspieler-Freiheiten sind die modernen Freiheiten, und mit ihnen kommen „die interessantesten und tollsten Zeitalter der Geschichte“ herauf. Was ist dann gerade fr Nietzsche daran zu frchten? Dass, so Nietzsche, „die ,Schauspieler‘, a l l e Arten Schauspieler, die eigentlichen Herren“ werden, das Schauspieler-Ideal als solches zum alleinigen Ideal wird.483 482 Vgl. Sennett, The Corrosion of Character. 483 Wotling, Notes, 407, Fn. 338, weist darauf hin, dass auch Stendhal, Correspondance, 3.264, das 19. Jahrhundert ein „sicle comdien“ nennt. Und natrlich lsst Stendhal, dessen Le Rouge et le Noir Nietzsche so sehr liebte (vgl. den Brief an Franz Overbeck, 23. Febr. 1887, KGB III/5, Bf.804), auch seinen Julien Sorel, als er vor seiner Hinrichtung vçllige Klarheit ber die Gesellschaft, in der er lebte, gewinnt (44. Kap.), davon sprechen. Nach Recherchen von Andreas Rupschus hat Stendhal den Ausdruck auch in Stendhal, Rome, Naples et Florence, 25, benutzt, das Nietzsche besaß (BN). Dort heißt es: „Dans ce sicle menteur et comdien (this age of cant, dit Lord Byron), cet excs de franchise et de bonhomie entre gens des plus riches et des plus nobles de Milan, me frappe si fort qu’il me donne l’ide de me fixer en ce pays.“ Stendhal verblffte die Offenheit und Arglosigkeit unter den reichsten und angesehensten Mailndern so, dass er mit dem Gedanken spielte,
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11.1.4. Die Unentrinnbarkeit der Schauspielerei Der frhe Nietzsche hatte die vorplatonischen Philosophen vom Drang zur Schauspielerei ausgenommen: Die „altgriechischen Meister Thales Anaximander Heraklit, Parmenides Anaxagoras Empedokles Demokrit und Sokrates“ brauchten keine Gesellschaft, denn es gab noch keine Gesellschaft fr sie. Sie bildeten stattdessen eine „wunderbar idealisirte Philosophengesellschaft“, in der jeder „ganz und aus einem Stein gehauen“ war. „Zwischen ihrem Denken und ihrem Charakter herrscht strenge Nothwendigkeit.“ (PHG 1, KSA 1.807) Sie waren gleichsam Bauten fr sich. Umso mehr beunruhigte Nietzsche, dass er sich selbst nicht aus der Schauspielerei ausschließen konnte, sich selbst vielleicht sogar am wenigsten. Nach FW 236 muss „der, welcher die Menge bewegen will, der Schauspieler seiner selber sein“, muss „sich selber erst in’s Grotesk-Deutliche bersetzen und seine ganze Person und Sache in dieser Vergrçberung und Vereinfachung v o r t r a g e n“ (FW 236). Nach JGB 25 zwingt das „Martyrium des Philosophen, seine ,Aufopferung fr die Wahrheit‘“ unweigerlich ans Licht, „was vom Agitator und vom Schauspieler in ihm steckt“: er entartet dann leicht „zum ,Mrtyrer‘, zum Bhnen- und Tribnen-Schreihals“. Mit der erklrten Kunst seiner Schriftstellerei war Nietzsche ein Schauspieler par excellence, der bewusst nach der Maxime verfuhr: „Je abstrakter die Wahrheit ist, die du lehren willst, um so mehr musst du noch die Sinne zu ihr verfhren.“ (JGB 128) So wurde das „P r o b l e m d e s S c h a u s p i e l e r s“ (FW 361) fr ihn selbst zu einem existenziellen Paradox: er, der am wenigsten Schauspieler sein wollte, musste am meisten Schauspieler sein. Um sein Paradox zu entparadoxieren, den Zwiespalt im Problem der einerseits unredlichen, andererseits unentrinnbaren Schauspielerei zu berbrcken, hatte Nietzsche in einem Notat von 1880 „Schauspielerei nach außen“ und „Schauspielerei gegen sich“ unterschieden (7[53], KSA sich dort festzusetzen. Dabei zitiert er seinerseits den von Nietzsche hoch geschtzten Byron (wohl Byron, Conversations of Lord Byron, 9), der gesagt habe: „After all, Lady … has one merit, and a great one in my eyes, which is, that in this age of cant and humbug, and in a country – I mean our own dear England – where the cant of Virtue is the order of the day, she has contrived, without any great resemblance of it, merely by force of – shall I call it impudence or courage? – not only to get herself into society, but absolutely to give the law to her own circle.“ (S. 11 ist von „this age of cant and hypocrisy“ die Rede). Den Ausdruck ,cant‘ hat dann auch Nietzsche mehrfach verwendet. Vgl. u. a. JGB 228, GD Streifzge 12 und N 1888, 18[10], KSA 13.535, hier in Bezug auf Europa im Ganzen.
322 11. Der Ursprung der ,freien Gesellschaft‘ im Bedrfnis nach Schauspielerei 9.328): die erste kann man in Gesellschaft nicht vermeiden, und sie ist darum auch nicht unredlich, die zweite wohl. Man kann sie in einem harten ,Krieg‘ gegen sich selbst, gegen die eigenen noch so lebensnotwendigen Illusionen bekmpfen. Doch Nietzsche war klar, und er machte gerade in FW klar, dass auch der Redlichste noch Illusionen nçtig haben kçnnte, um sich und die Welt zu ertragen, um gelassen, heiter, frçhlich in ihr leben zu kçnnen, und so hatte er zuletzt kein haltbares Kriterium, ,Schauspielerei nach außen‘ und ,Schauspielerei gegen sich‘ zu unterscheiden. Das aber bestrkte nur noch seine Idiosynkrasie gegen die Schauspielerei: Burisch, sehnschtig nach M, rachschtig gegen die Geselligkeit und deren Gesetze, bald tiefe Verzweiflung, bald plçtzliche Trunkenheit [ – ], versteckt, gegen seines Gleichen tyrannisch und berstreng, karg mit seiner Aufmerksamkeit, immer getrieben, ohne Zeit zur Muße, ohne Wissen um seine Liebenswrdigkeit, ohne Liebe und Erbarmen fr sich, glhend in seinen Werken und mit dem Hammer wie ein Feind auf seinen Marmor zuschlagend, niemals Schauspieler und so redlich in seinen guten wie in seinen bçsen Blicken.484
So blieb nur die „furchtbare Trbsal“ des „Zweifelns an sich“ (N 1880, 7 [177], KSA 9.353). Wenn Nietzsche in FW 361 auf den „Possenreisser, Lgenerzhler, Hanswurst, Narren, Clown“ zeigt, so wird er zuletzt auch sich selbst so nennen (EH Schicksal 1). Der Hanswurst ist, wenn man so will, der ,große Schauspieler‘, er spielt die Schauspielerei, seine und die aller andern, und macht sie dabei auffllig und lcherlich.485 11.1.5. Nietzsches Zweifel an den Schauspieler-Institutionen der Demokratie Die athenische Demokratie kam weitgehend ohne Institutionen einer staatlichen Verwaltung im modernen Sinn aus. Sie hatte, so Nietzsche in GT, „nur lcherlich engbegrenzte Institutionen“ (GT 15, KSA 1.97) und stattdessen, wie er spter notierte, Institutionen ganz anderer Art: Die Lust am R a u s c h e, die Lust am L i s t i g e n, an der R a c h e, am Neide, an der S c h m h u n g, an der U n z c h t i g k e i t – alles das wurde von den Griechen a n e r k a n n t, als menschlich, und darauf hin eingeordnet in das 484 N 1880, 7[137], KSA 9.346. Vgl. 7[95], KSA 9.336 f., und FW 366 (5.4.1.), wo Nietzsche Gelehrte vor allem „Scheinbaren, Halbchten, Aufgeputzten, Virtuosenhaften, Demagogischen, Schauspielerischen in litteris et artibus“ warnt. 485 Vgl. GD Sokrates 5: „Sokrates war der Hanswurst, der sich e r n s t n e h m e n m a c h t e“.
11.1. Eine Gesellschaft von Schauspielern. Nr. 356
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Gebude der Gesellschaft und Sitte. Die Weisheit ihrer Institutionen liegt in dem Mangel einer Scheidung zwischen gut und bçse, schwarz und weiss. (N 1875, 5[146], KSA 8.78 f.)486
Gesellschaft und Staat bleiben fr Nietzsche eben so weit problematisch, wie sie auf Institutionen beruhen, in denen Individuen nur noch ,Stellen‘ besetzen und austauschbar werden. Es ist nicht so sehr die Demokratie als solche, an der Nietzsche zweifelt – sonst htte er die Athener nicht so hoch schtzen kçnnen –, sein Argwohn gilt vielmehr den modernen demokratischen Institutionen, soweit sie den Wettbewerb unter den Individuen einschrnken oder beseitigen.487 „Die europische D“, notierte er sich, „ist zum kleinsten Theile eine Entfesselung von Krften: vor Allem ist sie eine Entfesselung von Faulheiten, von Mdigkeiten, von Schwchen.“ (N 1885, 34[163] f., KSA 11.475 f. / N VII 1, S. 81 [zweite, revidierte Niederschrift]) Je mchtiger moderne demokratische Institutionen werden, umso mehr brauchen sie Vertrauen; sie verlieren es aber umso mehr, je geringer die Spielrume und die Krfte der Individuen werden, in ihnen eigene Verantwortung wahrzunehmen. Ein haltbarer moderner Staat braucht darum, so Nietzsche und nicht nur Nietzsche,488 eine haltbare Religion als Autoritt. Nach dem großen Aphorismus ber „R e l i g i o n u n d R e g i e r u n g“ (MA I 472) sichert sie ihm „eine beruhigte, abwartende, vertrauende Haltung der Menge“. Aber Religionen sind gerade in modernen Demokratien umstritten. Sie machen einander 486 Spter nennt Nietzsche außer Staat, Kirche (und Beichte) Verkehr, Gesellschaft, Dynastien, Bildungsanstalten, Kranken- und Armenpflege, Recht, Ehe, Duell ,Institutionen‘. Ihr Nutzen und Zweck kçnne mit der Zeit durchaus wechseln (vgl. N 1884, 26[174], KSA 11.195). Auch Lehrsthle zur Interpretation des ZA kçnnten einmal zu Institutionen werden … (EH Bcher 1). Zuletzt brandmarkt Nietzsche in seinen Notaten „die zwei fluchwrdigsten Institutionen, an denen bisher die Menschheit krank ist, die eigentlichen Todfeindschafts-Institutionen gegen das Leben: die d y n a s t i s c h e Institution, die sich am Blut der Strksten, Wohlgerathenen und Herrlichen mstet und die p r i e s t e r l i c h e Institution, die mit einer schauerlichen Arglist eben dieselben Mnner, die Strksten, Wohlgeratenen Herrlichen von vornherein zu zerstçren versucht.“ (N 1888/89, 25[15], KSA 13.645). 487 Vgl. Marti, „Der grosse Pçbel- und Sklavenaufstand“, 214: „Demokratie ist eine Metapher fr die geistige Herrschaft der Mittelmßigkeit; die Formen der politischen Verfassung sind fr den Diagnostiker des Nihilismus von geringem Interesse.“ 488 Es war seit Vico, Rousseau und Tocqueville gelufig, dass gerade demokratische Gesellschaften einer Zivilreligion bedrfen. Vgl. Kleger, Art. Zivilreligion; Ziviltheologie, zuletzt bes. Bellah, Beyond Belief, zur gegenwrtigen Demokratie der USA.
324 11. Der Ursprung der ,freien Gesellschaft‘ im Bedrfnis nach Schauspielerei gegenseitig unglaubwrdig und treten schließlich zurck. So aber gert dann auch der Staat in Streit. Auf der einen Seite entsteht, so Nietzsche, „eine entschieden s t a a t s f e i n d l i c h e“ „Stimmung“, auf der anderen „eine fast fanatische Begeisterung f r den Staat“, er wird selbst zum Religionsersatz. In fortdauernden Kmpfen ermden beide Seiten, und der Staat, der einmal ein „Mysterium, eine berweltliche Stiftung“ war,489 wird immer mehr auf seine Ntzlichkeit hin befragt und schnell wechselnden „Parteien“ unterworfen. Dann aber fehlt allen Maassregeln, welche von einer Regierung durchgesetzt werden, die Brgschaft ihrer Dauer; man scheut vor Unternehmungen zurck, welche auf Jahrzehnte, Jahrhunderte hinaus ein stilles Wachsthum haben mssten, um reife Frchte zu zeitigen. Niemand fhlt eine andere Verpflichtung gegen ein Gesetz mehr, als die, sich augenblicklich der Gewalt, welche ein Gesetz einbrachte, zu beugen: sofort geht man aber daran, es durch eine neue Gewalt, eine neu zu bildende Majoritt zu unterminiren. (MA I 472)
Wchst „das Misstrauen gegen alles Regierende“, fhrt es schließlich zum „To d d e s S t a a t e s“. Dies, so Nietzsche, ist „die Consequenz des demokratischen Staatsbegriffes; hier liegt seine Mission“; „die moderne Demokratie ist die historische Form vom Ve r f a l l d e s S t a a t e s.“ Sttze ihn der „Glaube an eine gçttliche Ordnung der politischen Dinge, an ein Mysterium in der Existenz des Staates“ nicht mehr, werde er eines Tages durch „eine noch zweckmssigere Erfindung, als der Staat es war,“ ersetzt werden, Erfindungen, die dann von „Privatunternehmern“ betrieben wrden. So wie die „Geschlechtsgenossenschaft, als welche Jahrtausende lang viel mchtiger war, als die Gewalt der Familie,“ und dann die Familie selbst schon ihre Bedeutung verloren htten, kçnne auch der Staat „immer blasser und ohnmchtiger werden“, seine fraglose Autoritt als Institution verlieren (MA I 472). Nietzsche kçnnte auch hier hellsichtig unsere Gegenwart vorweggenommen haben. In GD kommt Nietzsche, unter Berufung auf MA I 472, auf das Versprechen von Zukunft in Gesellschaften zurck, um es nun an den „Willen zur Tradition“ zu knpfen: Damit es Institutionen giebt, muss es eine Art Wille, Instinkt, Imperativ geben, antiliberal bis zur Bosheit: den Willen zur Tradition, zur Autoritt, zur Verantwortlichkeit auf Jahrhunderte hinaus, zur S o l i d a r i t t von Geschlechter-Ketten vorwrts und rckwrts in infinitum. Ist dieser Wille da, so 489 Vgl. Derridas These vom „,mystischen Grund‘ der Autoritt“ der Gerechtigkeit des Rechts, mit der er auf Montaigne und Pascal zurckgreift (Derrida, Force de loi/ Gesetzeskraft).
11.1. Eine Gesellschaft von Schauspielern. Nr. 356
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grndet sich Etwas wie das imperium Romanum: oder wie Russland, die e i n z i g e Macht, die heute Dauer im Leibe hat, die warten kann, die Etwas noch versprechen kann (GD Streifzge 39).
Wenn nicht die Religion, so lsst die Tradition Institutionen selbstverstndlich, fraglos, zur „Fatalitt“ werden. Eine solche Traditionalitt von Institutionen wre ihrerseits „a n t i m o d e r n“. Nun aber haben wir, wie Nietzsche in einer Vorstufe zum zitierten Aphorismus schrieb, die „Instinkte“ nicht mehr, „die Institutionen schaffen“, und empfinden darum „auch das, was man an den bestehenden Institutionen hat und haben kçnnte, nicht mehr als […] Vortheil: vielmehr als Hemmung, Unsinn, Vergeudung, Tyrannei“.490 „Unsre Institutionen“, heißt es dann in GD Streifzge 39, taugen nichts mehr: darber ist man einmthig. Aber das liegt nicht an ihnen, sondern an u n s. […] Der ganze Westen hat jene Instinkte nicht mehr, aus denen Institutionen wachsen, aus denen Z u k u n f t wchst: seinem ,modernen Geiste‘ geht vielleicht Nichts so sehr wider den Strich. Man lebt fr heute, man lebt sehr geschwind, – man lebt sehr unverantwortlich: dies gerade nennt man ,Freiheit‘. Was aus Institutionen Institutionen m a c h t, wird verachtet, gehasst, abgelehnt: man glaubt sich in der Gefahr einer neuen Sklaverei, wo das Wort ,Autoritt‘ auch nur laut wird. So weit geht die dcadence im Werth-Instinkte unsrer Politiker, unsrer politischen Parteien: s i e z i e h n i n s t i n k t i v v o r, was auflçst, was das Ende beschleunigt …491
Die Folge ist, dass man nicht nur Rollen, sondern auch Institutionen spielen muss. Moderne Institutionen sind nach Nietzsche Schauspieler-Institutionen, die moderne demokratische Gesellschaft eine Schauspieler-Gesellschaft, die moderne Freiheit eine Schauspieler-Freiheit. Umso mehr ist eine solche Gesellschaft zu ihrer Integration auf Moral angewiesen. Doch weil auch eine scheinbar allgemeine und allgemeingltige Moral nur eine gespielte ist, kann auch sie einer Gesellschaft keinen hinreichenden Halt geben, wird um sie erst recht gestritten. Eine „,freie Gesellschaft‘“, die sich auf eine allgemeine Moral verlsst, ist erst recht eine desorientierte, haltlose Gesellschaft. Umso mehr bedarf sie auch und gerade als demokratische Gesellschaft Einzelner, die ihr Orientierung geben und die Fhrung bernehmen und „das Gewicht einer solchen Verantwortlichkeit ertragen“ kçnnen (JGB 203).
490 Vs. zu GD Streifzge 39, KSA 14.431 f. 491 Vgl. dazu Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, 293 – 313, bes. 299.
326 11. Der Ursprung der ,freien Gesellschaft‘ im Bedrfnis nach Schauspielerei
11.2. Tierische und menschliche Anpassungskunst Nr. 361: Vo m P r o b l e m e d e s S c h a u s p i e l e r s . Zwischen FW 356 und 361 schaltet Nietzsche die Themen Moral, Weisheit und Rede von Zwecken als Verstecken und beschçnigenden Vorwnden ein: sie alle machen Schauspielerei notwendig. In FW 361 thematisiert er dann die Schauspielerei als solche, als kulturanthropologische Kategorie: „der Mensch ein Schauspieler“ hatte er sich zuvor notiert (N 1884, 25[374], KSA 11.109). Er stellt nun das „Problem des Schauspielers“ im Blick auf den „gefhrlichen Begriff ,Knstler‘“. Es habe ihn „am lngsten beunruhigt“. Er gesteht seine wankende Orientierung und anhaltende Ungewissheit in diesem Punkt ein: „ich war im Ungewissen darber (und bin es mitunter jetzt noch)“, lsst darum alles in der Schwebe, hlt den Ton ganz im Hypothetischen („alles das ist vielleicht“, „wird sich am leichtesten […] ausgebildet haben“, „ich wrde brigens glauben“, „so mçchte man […] sehn“, „man denke […] nach“, „m s s e n sie nicht […]?“). 11.2.1. Wagner als Prototyp des Schauspielers Zunchst hatten die Griechen des alten Athen Nietzsche ber das Schauspielertum noch beruhigt. Man msse, hatte er sich notiert, sich „den Griechen in der vollendeten ußerung seines Lebens, als tragischen Schauspieler Snger Tnzer“ denken und zugleich „als einzig anspruchsvollen knstlerischen Zuschauer“ (N 1872/73, 25[1], KSA 7.566). In GT sprach er von „der affectlosen Khle des wahren Schauspielers, der gerade in seiner hçchsten Thtigkeit, ganz Schein und Lust am Scheine ist“ (GT 12, KSA 1.84). In GMD schrieb er: Welche Koncentration und bung der Krfte, welche langwierige Vorbereitung, welchen Ernst und Enthusiasmus im Erfassen der knstlerischen Aufgabe mssen wir hier voraussetzen, kurz, welch ein ideales Schauspielerthum! Hier waren Aufgaben fr die edelsten Brger gestellt, hier entwrdigte sich, auch im Falle des Mißlingens ein Marathonkmpfer nicht, hier empfand der Schauspieler, wie er in seinem Kostm eine Erhebung ber die alltgliche Menschenbildung darstellte, auch in sich einen Aufschwung, in dem die pathetischen schwerwuchtigen Worte des Aeschylus ihm eine natrliche Sprache sein mußten. (GMD, KSA 1.520)
Ein Schauspieler kçnne „den Kçnig noch kçniglicher“ zeigen, „als ihn die Wirklichkeit zeigt“, und der „Intellekt, jener Meister der Verstellung,“
11.2. Tierische und menschliche Anpassungskunst. Nr. 361
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kçnne hier „seine Saturnalien“ feiern. Nirgendwo sonst sei er „ppiger, reicher, stolzer, gewandter und verwegener“ (WL 2, KSA 1.888). Im Schauspieler erkenne man „den dionysischen Menschen wieder“, allerdings nur, wendete Nietzsche hier schon ein, „als g e s p i e l t e n dionysischen Menschen.“ (DW 3, KSA 1.567) Weil „die Weihe des inneren Trumers“, beruhigte er seine Zweifel noch, „auf allen seinen Aktionen“ liegt, ist ein solcher Schauspieler „niemals ganz Schauspieler“ (GT 12, KSA 1.84). Auch fr Schopenhauer waren Schauspieler noch kein Problem. Sonst so argwçhnisch, ußerte er sich hier ganz arglos. Wohl lebten Schauspieler gefhrlich. Denn dass sie Tag fr Tag Rollen lernen und vergessen mssten, treibe sie leicht zum Wahnsinn. Im brigen aber msse ein Schauspieler, um vielfltige Rollen darstellen zu kçnnen, „selbst ein tchtiges und ganz kompletes Exemplar der menschlichen Natur seyn“. Wenn Schauspieler Rollen bernhmen, bleibe doch „ihre Person die selbe“.492 Zum beunruhigenden Problem wurde der Schauspieler fr Nietzsche durch Richard Wagner. Whrend der Arbeit an WB dachte er unentwegt ber „e h r l i c h e K u n s t und u n e h r l i c h e K u n s t“ nach und rang um eine treffende Beschreibung Wagners. Wagner sei, notierte Nietzsche zunchst, „ein geborner Schauspieler“, und das war er im buchstblichen Sinn.493 Der geborene Schauspieler wurde jedoch – und damit hatte Nietzsche eine passende Formel gefunden – „ein versetzter Schauspieler“: seiner Begabung sei es „versagt“ gewesen, „sich auf dem nchsten Wege zu befriedigen,“ und habe erst „in der Heranziehung aller andern Knste zu einem großen schauspielerischen Ideale ihre Auskunft und ihre Rettung“ gefunden.494 Nietzsche, der vom Philologen immer mehr zum Philosophen und vom Philosophen immer mehr zum Knstler wurde, „um so endlich mit hundertfacher Deutlichkeit sich mitzutheilen und sich Verstndniss, volksthmlichstes Verstndniss zu erzwingen“, war selbst eine solche
492 Schopenhauer, WWV II, Kap. 32: „Ueber den Wahnsinn“, 3.457; PP II, Kap. 19, § 222, 6.464; WWV II, Kapitel 39: „Zur Metaphysik der Musik“, 3.522. 493 N 1874, 32[14], KSA 7.758, N 1874, 32[20], KSA 7.761, vgl. N 1874, 32[15], KSA 7.758 – 760. – Wagner war Sohn eines Juristen und Laienschauspielers; als sechs Monate nach seiner Geburt sein Vater starb, heiratete Wagners Mutter den Schauspieler und Dichter Ludwig Geyer. Wagner selbst heiratete 1836 eine Schauspielerin, Minna Planer, und als sie 1866 starb, heiratete er 1870 in Cosima von Blow die Tochter Franz Liszts, eines der, so Nietzsche, „Schauspieler-Genie’s der Kunst“ (N 1885, 41[2]8, KSA 11.676 / W I 5, S. 10). 494 N 1874, 32[8], KSA 7.756, u. 33[1], KSA 7.787. Vgl. WB 7, KSA 1.467 f.
328 11. Der Ursprung der ,freien Gesellschaft‘ im Bedrfnis nach Schauspielerei ,versetzte Begabung‘.495 In solchen Begabungen, die zur bernahme immer neuer Rollen zwangen, erkannte er einen Grundzug seiner Zeit, und Wagner wurde ihm zum Prototyp seiner Zeit. Umso mehr verstçrte ihn dessen „i n t e l l e k t u e l l e C h a r a k t e r l o s i g k e i t“: Als Richard Wagner mir gar von dem Genusse zu sprechen begann, den er dem christlichen Abendmahle (dem protestantischen) abzugewinnen wisse, da war es aus mit meiner Geduld. Er war ein großer Schauspieler: aber ohne Halt, und inwendig die Beute von allen Sachen, welche stark berauschen. (N 1884, 26 [377], KSA 11.250)
Bei allem Schauspielertum, trotz und eben wegen der Unentrinnbarkeit des Schauspielertums in der modernen ,freien Gesellschaft‘ bestand Nietzsche, Richard Wagner vor Augen, auf innerem ,Halt‘, auf unbestechlicher kritischer Distanz zum eigenen Schauspielertum. Wagner, „ein sehr zweideutiger M“, habe „zu keinem Ding ein chtes Verhltniß“ gehabt, „{(selbst zur Musik nicht)}“, und als er, Nietzsche, das erkannt habe, sei er „angeekelt u. krank“ gewesen (N 1885, 34[3], KSA 11.424 / N VII 1, S. 193). Er habe, wie er sich selbst noch einmal bekannte, Richard Wagner „eine Zeitlang mehr geliebt und verehrt als irgend sonst Jemand“, ihn, den „Tiefsten u. Khnsten, auch Verkanntesten aller Modernen dem begegnet zu sein zu den grçßten Glcksfllen meiner aller Schwer-Zu erkennenden von heute, dem begegnet zu sein mich meiner Erkenntniß mehr als irgend eine andere Begegnung gentzt hat gefçrdert hat. keine kleine Fçrderung gebracht hat. / fçrderlich gewesen ist“, und umso weniger hatte er sich ihm entziehen kçnnen, hatte es „ein gutes Stck Selbst-berwindung“ bedurft, um sich von ihm zu lçsen. Aber eben so war er „ber das außerordentliche Probl des Sch zur Besinnung gekommen“.496 Er hatte in einer Vorstufe zu FW 356 Wagner auch noch ausdrcklich erwhnt.497 In der verçffentlichten Aphorismenkette bergeht er ihn jedoch und kommt erst FW 368 (17.1.) – und dann ausfhrlich – auf ihn zurck. Von M an bricht sich Nietzsches Abwehr des Schauspielertums, auch seines eigenen, Bahn. Nach seiner „P h i l o s o p h i e d e r S c h a u s p i e l e r“ ist es „der beglckende Wahn der grossen Schauspieler“, mit ihren Darstellungen „in’s 495 WB 7, KSA 1.468. Vgl. Sloterdijk, Der Denker auf der Bhne, 17 ff. Nietzsches erstes ,dionysisches‘ Opfer, so Sloterdijk, 42, war sein wissenschaftlicher Ruf. 496 N 1885/86, 2[34], KSA 12.80 / W I 8, S. 197 f. 497 N 1885, 34[98], KSA 11.453 / N VII 1, S. 130: „Ein Zeitalter der Demokratie bringt treibt den Schauspieler auf die Hçhe, in Athen, ebenso wie heute. R. W. hat bisher Alles darin berboten, und einen hohen Begriff vom Schauspieler erweckt, der Schauder erwecken kann. Musik, Poesie, Religion, Cultur, Buch, Familie, Vaterland, Verkehr – alles vorerst Kunst, will sagen Bhnen-Attitde!“
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W e s e n irgend eines Zustandes hinabzuleuchten“, also, wie Nietzsche zuvor selbst noch dachte, die Wirklichkeit wirklicher zu zeigen, als sie ist. Aber, so bescheidet er nun hart „derartige Anmaassungen“, der Schauspieler ist eben „ein idealer Affe […] und so sehr Affe, dass er an das ,Wesen‘ und das ,Wesentliche‘ gar nicht zu glauben vermag: Alles wird ihm Spiel, Ton, Gebrde, Bhne, Coulisse und Publicum.“ (M 324) Selbst die ,Wahrhaftigen‘ schielten nach der Schauspielerei: mancher sei nur deshalb „wahrhaftig“, „weil es ihm schlecht gelingen wrde, seiner Heuchelei Glauben zu verschaffen“; ihre „Redlichkeit“ sei dann nichts anderes als „,Wahrspielerei‘“ (M 418). Die strkste Schauspielerei fordere die Liebe, zumal wenn beide darum wetteiferten, dem andern „jedes Gefhl von F r e m d s e i n“ zu ersparen (M 532). Andererseits beobachte niemand schrfer als ein Schauspieler den andern: „Htten wir doch erst das Auge dieses Schauspielers […] fr das Reich der menschlichen Seelen!“ (M 533) Fr ZA hatte Nietzsche eine eigene Rede „V o n d e n S c h a u s p i e l e r n“ entworfen (N 1883, 13[16], KSA 10.464), das Thema dann aber in die Rede „Von den Fliegen des Marktes“ einbezogen. Er lsst Zarathustra dort, erkennbar im Blick auf Richard Wagner, alle Schauspielerei von sich weisen: Wo die Einsamkeit aufhçrt, da beginnt der Markt; und wo der Markt beginnt, da beginnt auch der Lrm der grossen Schauspieler und das Geschwirr der giftigen Fliegen. / In der Welt taugen die besten Dinge noch Nichts, ohne Einen, der sie erst auffhrt: grosse Mnner heisst das Volk diese Auffhrer. […] / Geist hat der Schauspieler, doch wenig Gewissen des Geistes. Er glaubt immer an Das, womit er am strksten glauben macht, – glauben an s i c h macht! / Morgen hat er einen neuen Glauben und bermorgen einen neueren. Rasche Sinne hat er, gleich dem Volke, und vernderliche Witterungen. (ZA I Fliegen, KSA 4.65) Doch auch von „den kleinen Leuten“ seien die meisten Schauspieler, heißt es schon hier, freilich „schlechte Schauspieler“. Wohl gebe es „Schauspieler wider Wissen unter ihnen und Schauspieler wider Willen –, die chten sind immer selten, sonderlich die chten Schauspieler.“ (ZA III Tugend 2, KSA 4.213)498 Aber zugleich notierte sich Nietzsche: „,Wenn Z die Menge bewegen will, da muß er der Schauspieler seiner selber sein‘“ (N 1881, 12[112], KSA 9.596). Auch seinen Zarathustra lsst der Schauspielerei nicht entkommen; dessen Umgang mit den ,hçheren Menschen‘ in ZA IV wird seine hohe Kunst darin unter Beweis stellen. In JGB bezieht Nietzsche auch die Philosophen in die Schauspieler ein, lsst Epikur „gegen Plato und die Platoniker“ sagen, „,das sind Alles S c h a u s p i e l e r, daran ist nichts chtes‘“ (JGB 7), und nennt auch die Stoiker mit ihrem Glauben,
498 Indem er unechte von echten Schauspielern unterscheidet, den Gegensatz zum Schauspieler also wieder in seinen Begriff eintrgt, um ihn zu differenzieren (vgl. noch N 1887, 10[145], KSA 12.537; W II 2, S. 43: „Gesichtspunkte fr meine Werthe: […] ob {man} cht oder nur Schauspieler, {ob man als Schauspieler cht oder nur ein nachgemachter Schauspieler,} ,Vertreter‘ oder das Vertretene selbst ist“), nimmt er im Sinn Luhmanns ein klassisches Re-entry im Umgang mit Paradoxien vor.
330 11. Der Ursprung der ,freien Gesellschaft‘ im Bedrfnis nach Schauspielerei sie ahmten die Natur nach, „wunderliche Schauspieler und Selbst-Betrger“ (JGB 9). In einem Notat von 1884, das mit der Formel „der Mensch ein Schauspieler“ beginnt und schließt, sucht sich Nietzsche einen berblick zum Schauspielertum zu schaffen. Danach zwingt schon das vielfltige Rollenspiel in allen Lebenslagen dazu; es kann tageweise („z. B. der Sonntags-Englnder und der Alltags-Englnder“) und selbst mit den Tageszeiten wechseln („An Einem Tage sind wir als Wachende und Schlafende sehr verschieden. Und im Traume e r h o l e n wir uns vielleicht von der Ermdung, die uns die Tags-Rolle macht, – und stecken uns selber in andere Rollen“). So kçnnte „W i l l e“ schlicht bedeuten, die „Rolle durchfhren“, „Concentration und Aufmerksamkeit“ auf sie, „abwehren, was n i c h t dazu gehçrt, den andringenden Strom andersartiger Gefhle und Reize, und – unsere Handlungen im Sinne der Rolle thun und besonders i n t e r p r e t i r e n.“ Die Rolle aber „ist ein Resultat der ußeren Welt auf uns, zu der wir unsere ,Person‘ stimmen, wie zu einem Spiel der Saiten. Eine Simplifikation, Ein Sinn, Ein Zweck. Wir haben die A f f e k t e und B e g e h r u n g e n unserer Rolle – das heißt wir unterstreichen die, welche dazu passen und lassen sie sehen. / Immer natrlich peu prs.“ (N 1884, 25[374], KSA 11.109 f.) Das Wille-zur-MachtGeschehen ließe sich auch als Rollenspiel in Gesellschaft begreifen.499
In FW 361 nun befreit sich Nietzsche von den beunruhigenden Paradoxien im Problem des Schauspielertums, indem er es dem Begriff der „Anpassungskunst“ unterordnet und diese wieder in die moralisch unverfngliche Perspektive der Evolution stellt. Lebendiges kann sich in Lebensnçten, „unter wechselndem Druck und Zwang“, sich „auf neue Umstnde immer neu einzurichten“, sich „immer wieder anders zu geben und zu stellen“, nur durch „Anpassungs-Fhigkeiten aller Art“ erhalten. Am aufflligsten belegt das die „mimicry“ von Tieren, die gelernt haben, auf Zeit das Aussehen anderer Tiere anzunehmen, um ihre Fressfeinde zu tuschen (Zoologen nennen sie ,Schutzanpassung‘). In M hatte Nietzsche auch schon die „Anfnge der Gerechtigkeit, wie die der Klugheit, Mssigung, Tapferkeit, – kurz Alles, was wir mit dem Namen der s o k r a t i s c h e n Tu g e n d e n bezeichnen,“ als „eine Folge jener Triebe“ gedeutet, „welche lehren, nach Nahrung zu suchen und den Feinden zu entgehen“, und dabei mit den „Praktiken“ eingesetzt, welche in der verfeinerten Gesellschaft gefordert werden: das sorgfltige Vermeiden des Lcherlichen, des Aufflligen, des Anmaassenden, das Zurckstellen seiner Tugenden sowohl, wie seiner heftigeren Begehrungen, das Sich-gleich-geben, Sich-einordnen, Sich-verringern, – diess Alles als die gesellschaftliche Moral ist im Groben berall bis in die tiefste Thierwelt hinab zu 499 Braatz, Friedrich Nietzsche. Eine Studie zur Theorie der ffentlichen Meinung, 130 – 143, rollt das Thema anhand der Begriffe ,Maske‘ und ,Eitelkeit‘, nicht an dem des Schauspielers auf.
11.2. Tierische und menschliche Anpassungskunst. Nr. 361
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finden, – und erst in dieser Tiefe sehen wir die Hinterabsicht aller dieser liebenswrdigen Vorkehrungen: man will seinen Verfolgern entgehen und im Aufsuchen seiner Beute begnstigt sein. Desshalb lernen die Thiere sich beherrschen und sich in der Weise verstellen, dass manche zum Beispiel ihre Farben der Farbe der Umgebung anpassen (vermçge der sogenannten ,chromatischen Function‘), dass sie sich todt stellen oder die Formen und Farben eines anderen Thieres oder von Sand, Blttern, Flechten, Schwmmen annehmen (Das, was die englischen Forscher mit mimicry bezeichnen). (M 26)500
Die evolutionr herangezchteten Schauspieler-„Instinkte“ konnten schließlich, so Nietzsche nun, in menschlichen Gesellschaften eben dort, wo sie nicht mehr so nçtig waren, zu besonderen Funktionen werden, in denen sich das Schauspielertum mehr oder weniger frei ergehen konnte; mit dem „Ueberschuss von Anpassungs-Fhigkeiten aller Art, welche sich nicht mehr im Dienste des nchsten engsten Nutzens zu befriedigen wissen“, nimmt Nietzsche die Argumentationsfigur von FW 354 auf („endlich ein Ueberschuss dieser Kraft und Kunst der Mittheilung“). Das gilt offensichtlich fr den „Possenreisser, Lgenerzhler, Hanswurst, Narren, Clown“, der auf Mrkten auftrat und den man sich aber auch bei Hofe hielt, um der unvermeidlichen Schauspielerei vor der Macht einen Spiegel vorzuhalten, sich weise immer wieder an sie zu erinnern und so die Realitten nicht aus dem Auge zu verlieren (11.1.4.). Doch indem solche professionellen Narren die Schauspielerei als solche vorfhrten, sich nrrisch gaben, um von den Mrkten und Kçnigen ertragen zu werden, konnte sich die brige Gesellschaft umso mehr fr ,echt‘ halten; dadurch, dass die Narren das Rollenspiel bernahmen, konnte sich die „,gute Gesellschaft‘“ frei davon glauben. Die Schauspielerei der ,guten Gesellschaft‘, nach Zarathustra des „vergoldeten falschen berschminkten Pçbels“,501 der sich als festen Unterbau der Gesellschaft oder kurz als ,die‘ Gesellschaft sieht und sich doch nur an eine ,herrschende Moral‘ anpasst, kommt im Aphorismus nicht mehr vor. Doch eben diese ,gute Gesellschaft‘ ist es, die die brigen Mitglieder der Gesellschaft nçtigt, sich ihrer Schauspielerei anzupassen, bei Strafe, sie sonst aus der Gesellschaft auszuschließen. 500 Vgl. in Nietzsches spteren Werken zur Mimicry von „breiten Sklaven- und Hçrigen-Bevçlkerungen“ GM II 20, zur Mimicry des „Geistes“ GD Streifzge 14: „Ich verstehe unter Geist, wie man sieht, die Vorsicht, die Geduld, die List, die Verstellung, die grosse Selbstbeherrschung und Alles, was Mimicry ist (zu letzterem gehçrt ein grosser Theil der sogenannten Tugend).“ Wichtige Forschungen zur Mimicry gehen auf den britischen Naturforscher Henry Walter Bates (1825 – 1892) zurck. 501 ZA IV Kçnigen, KSA 4.305. Vgl. 8.4.1.
332 11. Der Ursprung der ,freien Gesellschaft‘ im Bedrfnis nach Schauspielerei 11.2.2. Schauspielerei als Anpassungskunst der Arbeiter, Diplomaten, Juden und Frauen Gerade wer Gefahr luft, aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden, muss sich ihr anpassen. Nietzsche greift vier Schichten und Gruppen am Rande der ,guten Gesellschaft‘ heraus und ordnet sie nach dem Kriterium wachsender Souvernitt in der Anpassungskunst: 1. die „Familien des niederen Volks“, „die unter wechselndem Druck und Zwang, in tiefer Abhngigkeit ihr Leben durchsetzen mussten“ und darum zur Anpassung jeder Art gezwungen waren, 2. Menschen „in hçheren gesellschaftlichen Bedingungen“, insbesondere Diplomaten, von denen gekonnte Schauspielerei im Dienst der Verstndigung mit fremden Vçlkern erwartet wird, 3. die Juden, die ber fast zwei Jahrtausende sich den europischen Gesellschaften ertrglich machen mussten, um in ihnen leben zu drfen, und 4. die Frauen. Bei Menschen in ,niederen gesellschaftlichen Bedingungen‘ vermutet Nietzsche die lange „Zchtung“ eines „Instinkts“ (7.2.2.1), vergleichbar dem der Mimicry; die Anpassungskunst lsst hier noch kaum Spielrume. Wohl aber bei ,besser gestellten‘ Menschen: hier kann der Instinkt zur Lust an gewollter Schauspielerei werden. Doch hier wirkt, so Nietzsche, ein „andrer Instinkt“ entgegen. Er nennt ihn nicht, es ist sein eigener: Schauspielerei, wenn die Gesellschaft sie schon erzwingt, nicht ohne Not von sich aus weiterzutreiben. So werden „,Diplomaten‘“ mçglich, die im 19. Jahrhundert noch weithin der Adel stellte: sie werden die Kunst der Doppelsinnigkeit, die ihre politischen Aufgaben nçtig machen, nicht aus Lust, sondern immer nur so weit ausspielen, wie es die jeweilige Aufgabe verlangt und wie sie von ihnen auch erwartet wird, und sich ihrer darberhinaus mçglichst enthalten; nur so werden sie glaubwrdig bleiben und sich von „Lgenerzhlern“ unterscheiden kçnnen. Darin sind sie dem alltglichen Gebrauch ,diplomatisch vieldeutiger‘ Zeichen nahe, die eine taktvolle Kommunikation ermçglichen, und noch nher einem philosophischen Schriftsteller wie Nietzsche, der gezielt seine Leser Spielrumen des Verstehen- und Nichtverstehen-Kçnnens aussetzt – und darber offen spricht (FW 371 u. 381; 15.3.1. u. 15.3.3.).502 Auch die Nçte, die die Juden zur Anpassung gezwungen haben, setzt Nietzsche als bekannt voraus: • dass sie seit der Diaspora in vielen Gesellschaften Europas wohl aufgenommen, zugleich aber aus ihnen ausgeschlossen wurden, 502 Vgl. Stegmaier, Diplomatie der Zeichen, 147 – 150.
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indem ihnen, weil sie sich in ihrer Religion nicht anpassen wollten, die blichen Rollen verweigert und Sonderrollen aufgezwungen wurden, die anderen als schmutzig und sndig galten (z. B. der Geldverleih gegen Zins); • dass sie dadurch in eine mehr oder weniger manifeste Ghetto-Existenz gezwungen wurden; • dass die Anpassungskunst, die sie sich im Lauf dieser „welthistorischen Veranstaltung zur Zchtung von Schauspielern“ erwarben, besonders in Mittel- und Westeuropa half, sich aus eigener Kraft neue Lebensmçglichkeiten zu schaffen, die fr sie berlebenschancen waren; • dass sie sich dadurch beharrlich an die Spitze der Modernitt setzten; • dass sie endlich im 19. Jahrhundert, als ihre Emanzipation aus den Ghettos voranschritt und mehr und mehr von ihnen, besonders ,in hçheren gesellschaftlichen Bedingungen‘, ihre religiçsen Bindungen aufgaben, das seinerseits aufstrebende Brgertum immer mehr bengstigten. In FW 361 fhrt Nietzsche nur noch das tagesaktuell daraus Entstandene an („der thatschliche Beherrscher der europischen Presse“) und zielt im brigen auch hier auf den „Litteraten“ (FW 366/5.4.2.). Er redet selbst diplomatisch: den antisemitischen Jargon seiner Zeit zitierend, lsst er auch hier umso mehr Achtung fr die Juden erkennen (FW 348/5.2.3.).503 Die Anpassungskunst ist dann vollkommen, wenn sie als solche nicht mehr bemerkt, wenn die Schauspielerei undurchschaubar wird. Nietzsche vermutet sie bei den „Frauen“. Die diskriminierende gesellschaftliche Integration, die Exklusion in der Inklusion, traf auch sie, und sie nicht nur in historischem, sondern in evolutionrem Maßstab („die ganze Geschichte“). Auch die Frauen schloss man aus den meisten brgerlichen Berufen und Fhrungsmtern aus, und auch ihnen gegenber oszillierte man in Europa zwischen Achtung und Verachtung. Nietzsche gebraucht hier und nur hier in FW V das Wort ,Frau‘, das ursprnglich ,die Herrin‘, 503 Das wird noch deutlicher im vorausgehenden Notat N 1884, 25[221], KSA 11.72: „Die Aufgabe ist, eine h e r r s c h e n d e K a s t e zu bilden, mit den umfnglichsten Seelen, fhig fr die verschiedensten Aufgaben der Erdregierung. Alle bisherigen Einzel-Fhigkeiten in Eine Natur zu centralisiren. / Stellung der Juden dazu: große Vorbung in der A n p a s s u n g. Sie sind einstweilen die grçßten Schauspieler d a r u m; auch als Dichter und Knstler die glnzendsten Nachmacher und Nachfhler. Was ihnen anderseits fehlt. Wenn erst das Christenthum vernichtet ist, wird man den Juden g e r e c h t e r werden: selbst als Urhebern des Christenthums und des hçchsten bisherigen Moral-Pathos.“ Vgl. auch N 1884, 25 [282], KSA 11.84.
334 11. Der Ursprung der ,freien Gesellschaft‘ im Bedrfnis nach Schauspielerei ,die Erste‘ bedeutete. Dann geht er ber das verniedlichende „Frauenzimmer“, ursprnglich das oder die Zimmer der Frau, dann, bis ins 19. Jahrhundert hinein, alles, was die Frau von Stand umgab und ihr zugehçrte, einschließlich ihrer standesgemßen Geschlechtsgenossinnen und ihrer weiblichen Bedienten, schließlich, mit dieser Aura, auch die einzelne Frau,504 wieder zum „Weib“ ber. Wagten Frauen, als gefllige Gespielinnen von Mnnern gern ,Frauenzimmerchen‘ genannt, von sich aus sexuelle Leidenschaft zu entfalten, wurden sie zum dmonischen und mysteriçsen ,Weib‘. Nietzsche, bei aller Reserve gegen die ,Frauenemanzipation‘, von der er eine weitere unheilvolle Nivellierung der europischen Gesellschaft, aber auch des fr ihn so bedeutsamen Geschlechter-Gegensatzes befrchtete (FW 363/14.), war durchaus offen dafr, auch Frauen sexuelle Leidenschaft zuzugestehen.505 Und er schtzte gerade am ,Weib‘ die souverne Anpassungskunst, die es unter den ihr zudiktierten Lebensbedingungen entwickelt hatte, eben weil sie auch ihm noch rtselhaft blieb. Auch hier greift er nur einen tagesaktuellen Anhaltspunkt heraus, die neuen Hypnose-Therapien, die ihn gerade im Zusammenhang mit dem „Problem des Schauspielers“ faszinierten: sie ermçglichen ein un- oder halbbewusstes und dadurch umso intensiveres Rollenspiel, in der hypnotischen Suggestion werden Rollen traumhaft sicher, die Schauspielerei vollendet. Die Hypnose tauchte im Kontext von FW Vauch schon in FW 347 auf und wird in FW 364 nochmals wiederkehren. Sie war eine sehr alte, frher meist von Priestern ausgebte Kunst, jemanden durch suggestives, rhythmisch-musikalisches Zureden nicht eigentlich in Schlaf, wie das Wort sagt (von gr. rpmor, Schlaf ), sondern in ein nur teilweises Wachsein zu versetzen. Im 17. und 18. Jahrhundert wurde sie mit Magnetismus (Mesmerismus) in Verbindung gebracht, dann durch James Braid (1795 – 1860), der den – spter zu ,Hypnose‘ verkrzten – Namen ,Neurypnology‘ prgte, physiologisch und psychologisch untersucht,506 was vor allem in Frankreich
504 Vgl. Grimm, Deutsches Wçrterbuch, Bd. 4, Leipzig 1878, 86 f.: Der Ausdruck ,Frauenzimmer‘ hat sich „unentbehrlich gemacht, weil er die vorstellungen jungfrau, ehfrau und matrone zugleich befasst, das einfache frau uns wie ehfrau oder herrin klingt […]. heutzutage heiszen die frauen nicht mehr gern frauenzimmer, auch dies eigentlich vornehme wort hat die zeit wieder herunter gebracht.“ 505 Vgl. Diethe, Vergiss die Peitsche, 54 – 59. 506 Nietzsche hatte sich sein Werk notiert. Vgl. N 1886/87, 5[110], KSA 12.229 / N VII 3, S. 188: „Braid, Hypnotism, deutsch von Preyer 1882“ (Braid, Neurypnology).
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lebhaft diskutiert wurde.507 Nietzsche hatte sich in seinen Notaten schon seit 1882 mit der Hypnose auseinandergesetzt508 und den hypnotischen Zustand schließlich als extreme Konzentration auf eine geistige Ttigkeit oder einen geistigen Zustand begriffen. So aber schien er Bedingung aller „großen geistigen Thtigkeiten“ zu sein: „Die großen geistigen Thtigkeiten krankhaft als Beherrschtsein von Einem Gedanken; Mangel von Spontaneitt – eine Art Hypnotismus. Sie entnerven und machen willensschwach unter anderen Umstnden. / Ob bei dem Gehorsam nicht oft so etwas ist wie Hypnotismus?“ (N 1884, 25[357], KSA 11.106). Das erklrte fr Nietzsche das Bedrfnis nach (Selbst-)Hypnotisierung. Denn so kçnne man am ehesten handeln und vor allem moralisch handeln:509 „Resultat, psychologisch-moralisch ausgedrckt: ,Entselbstung‘, ,Heiligung‘; physiologisch ausgedrckt: Hypnotisirung, – der Versuch Etwas fr den Menschen annhernd zu erreichen, was der W i n t e r s c h l a f fr einige Thierarten, der S o m m e r s c h l a f fr viele Pflanzen der heissen Klimaten ist, ein Minimum von Stoffverbrauch und Stoffwechsel, bei dem das Leben gerade noch besteht, ohne eigentlich noch in’s Bewusstsein zu treten.“ (GM III 17) Das „Beherrschtsein von Einem Gedanken“ lsst auf weitere Rcksichten im Handeln verzichten und rckhaltlos eine Rolle einnehmen, und dies verspricht erfolgreichste, weil glaubwrdigste Schauspielerei. So verknpft Nietzsche in seinen Notaten Hypnose und ,Weib‘ – und wieder Wagner und ,Weib‘: „Auch jener hysterisch{-erotische} Zug, den Wagner am Weibe besonders geliebt und in Musik gesetzt hat, gehçrt mehr nach Paris als irgend wo anders hin {ist am meisten heut am besten gerade bei Franzosen u. in Paris zu Hause}: man frage nur die Irrenrzte –; und ebenso nirgends wo werden einmal die hypnotisirenden Griffe und Hand-Auflegungen, mit denen unser musikalischer Magus und Cagliostro seine Weiblein zu{r} dieser wollstigen Nachtwandelei mit offnen Augen und geschlossenem Verstande zwingt und berredet, {so gut ,verstanden‘ werden als unter Pariserinnen}.“ (N 1885, 37[15], KSA 11.591 / W I 6, S. 67 u. 69)510 Doch Nietzsche beschrnkt Hypnose und Selbst-Hypnotisierung keineswegs auf das ,Weib‘. In GM macht er 507 Jean Martin Charcot (1825 – 1893), einer der Lehrer Freuds, deutete die Hypnose als knstliche Hysterie. Ihre Wirkungsweise ist bis heute unklar. Offenbar verndert sich durch sie die Informationsverarbeitung im Gehirn, wobei der Erfolg der Hypnose mehr noch als vom Hypnotiseur von der Suggestibilitt der hypnotisierten Person abhngt. Zur Verknpfung von Hysterie und Schauspielerei im 19. Jahrhundert vgl. Moore, Hysteria and Histrionics, zu FW 361 bes. 254. Moore geht auch auf Nietzsches Charakterisierung der Juden und Wagners als Schauspieler ein (255 ff.). Vgl. Moore, Art. Krankheit, 319 – 321. 508 Vgl. zuerst N 1882, 1[31], KSA 10.16: „Zur Erklrung der sogenannten ,spiritistischen Erscheinungen‘. Ein Theil der intellektuellen Funktionen des Mediums verlaufen ihm unbewußt: sein Zustand ist darin hypnotisch (Trennung eines wachen und schlafenden Intellekts) Auf diesen unbewußten Theil concentrirt sich die Nervenkraft.“ 509 Vgl. N 1886/87, 6[7], KSA 12.236; N 1887, 10[108], KSA 12.516 / W II 2, S. 65 f.; JGB 9; FW 347. 510 Vgl. WA 5 u. 7 und N 1887, 10[155], KSA 12.543 / W II 2, S. 37. Der Gedanke zieht sich durch das ganze spte Werk.
336 11. Der Ursprung der ,freien Gesellschaft‘ im Bedrfnis nach Schauspielerei eine „Selbst-Hypnotisirung nach Art des Fakirs und Brahmanen“ auch in der „sinnenfeindlichen, faul- und raffinirtmachenden Metaphysik der Priester“ aus (GM I 6).511 Selbst Gott, schreibt Nietzsche zuletzt (AC 17), wurde durch die Spinnweben der Metaphysiker hypnotisiert.
So beherrscht das ,Weib‘ nur souvern, worauf sich jeder in Gesellschaft verstehen muss: sich derart auf die in ihr unentrinnbare Schauspielerei zu konzentrieren, dass sie vollkommen wird und man die Schauspielerei darber vergisst. Nietzsche bringt das mit der Wendung „,sich geben‘“, zunchst mit, dann ohne Gnsefßchen (mit „,hypnotisiren‘“ macht er es umgekehrt), auf den (Schluss-)Punkt.512 ,Sich geben‘ kann im Deutschen heißen ,sich als etwas geben‘ (wie in FW 361 „sich […] immer wieder anders geben“), sich so als etwas ,ausgeben‘, dass es als ganz natrlich, echt erscheint. Es kann aber auch bedeuten ,Widerstand gegen Unannehmlichkeiten aufgeben, sie hinnehmen, sich willig in eine Situation schicken‘. Beides kommt zusammen im ,sich anpassen‘. Ohne Gnsefßchen wird das ,sich geben‘ zum ,sich hingeben‘, ,alle Vorbehalte und Rcksichten aufgeben, um sich ganz auf eine Situation einzulassen‘, darunter auch ,sich sexuell hingeben‘, auf das Nietzsche FW 363 (14.) zurckkommt. Hier lsst er das ,sich geben‘ in der Hingabe an die Schauspielerei – auch noch in der sexuellen Hingabe gipfeln.513 Dafr, dass Frauen vollendet beherrschen, was sie in ihrer (damaligen) gesellschaftlichen Stellung doch sein „m s s e n“, „zu allererst und -oberst Schauspielerinnen“, sind sie zu „lieben“. Wenn moderne ,freie Gesellschaften‘ aber Schauspieler-Gesellschaften sind, mssten die Frauen, die von ltesten Zeiten her die Schauspielerei zu lernen hatten, am ehesten das „Material“ dieser Gesellschaften sein. So lassen sich die Auslassungspunkte am Ende von FW 361 wohl ausfllen.
511 S. auch GM II 3. Vgl. Brusotti, Wille zum Nichts, 121 f., und Paschoal, Artes de hipnose. 512 Vgl. den Hinweis von Derrida, Sporen, 142. Derrida verknpft von hier aus Nietzsches Philosophie der Geschlechter mit seiner eigenen Philosophie der Gabe. Das ganze Sinnspektrum der deutschen Wendung ,sich geben‘ erfasst er jedoch nicht. 513 Vgl. Greaney, The Richest Poverty, 196, der seinerseits auf Irigaray, Ce sexe qui n’en est pas un / The Sex which is Not One, 76 f. / Das Geschlecht, das nicht eins ist, 78 f., verweist, die, wie sie in einem Gesprch zum Thema „Macht des Diskurses. Die Unterordnung des Weiblichen“ (deutsch 70 – 88) sagt, die „Subordination“ in der Anpassung durch Mimesis in eine „Affirmation“ umkehren will.
11.3. Von schauspielerischen Tugenden zu kriegerischen Tugenden. Nr. 362
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11.3. Von schauspielerischen Tugenden zu kriegerischen Tugenden der Erkenntnis Nr. 362: U n s e r G l a u b e a n e i n e Ve r m n n l i c h u n g E u r o p a ’s . 11.3.1. Krieg der Mittel, der Begabungen, der Disziplin FW 362 setzt mit „V e r m n n l i c h u n g“ und „Krieg“ den Gegenakzent. Von ,Krieg‘ spricht Nietzsche im V. Buch der FW (fast) nur hier (um ihn FW 377 nur kurz noch einmal zu erwhnen). Er stellt die Tugenden des ,Krieges‘ gegen die Tugenden der ,Schauspielerei‘, nicht um zu neuen Kriegen um Lnder und Vçlker aufzurufen, wie Europa sie bisher kannte, sondern um daran zu erinnern, dass dieses Europa inzwischen in einen neuartigen „gelehrten und zugleich volksthmlichen Krieg“ um „Mittel“ und „Begabungen“ eingetreten ist, in dem sich jeder Einzelne mit seinen eigenen Krften und Zielen durchsetzen muss, statt sich lediglich, im „Ueberschuss von Anpassungs-Fhigkeiten aller Art“, an andere anzupassen, und dass er darin umso erfolgreicher sein wird, je mehr „Disciplin“ er beim Einsatz seiner Mittel und Begabungen aufbringt. Krieg ist dann Wettbewerb „im grçssten Maassstabe“, aktuell gesprochen im Maßstab der Globalisierung, in dem jedes Land und darin jeder Einzelne zur Ausbildung und zum „gelehrten“ Einsatz aller seiner Krfte herausgefordert ist. Die entschlossene Umstellung auf diesen allumfassenden Wettbewerb der Krfte wird einmal, so Nietzsche, als das „k l a s s i s c h e Z e i t a l t e r d e s K r i e g s“ gelten, „auf den einmal alle kommenden Jahrtausende als auf ein Stck Vollkommenheit mit Neid und Ehrfurcht zurckblicken werden“. Denn sie wird eben „die nationale Bewegung“, die, wie schon die Herrschafts- und Besitzansprche der alten Dynastien Europas, immer neue militrische Kriege unter den Vçlkern hervorgerufen hat, zu einer bloßen Episode der Geschichte machen. Nietzsches Werk ist, was damals eher die Regel war, heute aber Schauder erregt, voll von der Sprache des Krieges. Er redete vom Krieg zunchst noch im gewohnten Sinn und betrachtete, wie der Hauptstrom der Philosophie bis Kant und Hegel, den militrischen Krieg als unvermeidlich und heilsam fr Staaten, die nicht in ,Fulnis‘ geraten wollen.514 Er stimmte, in der Nhe der Wagners, noch einen 514 Vgl. Kant, Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, Schluß-Anmerkung, AA 8.121 („Auf der Stufe der Cultur also, worauf das menschliche Geschlecht noch steht, ist der Krieg ein unentbehrliches Mittel, diese noch weiter zu bringen“), und Kritik der Urteilskraft, § 83, AA 5.433 (der Krieg ist „ungeachtet der schreck-
338 11. Der Ursprung der ,freien Gesellschaft‘ im Bedrfnis nach Schauspielerei „Pan auf den Krieg“ als den „rechten Weihe- und Reinigungsgott des Staates“ an, als „Gegenmittel“ „der Staatstendenz zur Geldtendenz“, zur bloßen Bereicherung Einzelner als Ziel der Politik (CV 3, KSA 1.774). Noch in MA erwartete er vom Krieg vor allem seelische Abhrtung und Krftigung: Einstweilen kennen wir keine anderen Mittel, wodurch mattwerdenden Vçlkern jene rauhe Energie des Feldlagers, jener tiefe unpersçnliche Hass, jene Mçrder-Kaltbltigkeit mit gutem Gewissen, jene gemeinsame organisirende Gluth in der Vernichtung des Feindes, jene stolze Gleichgltigkeit gegen grosse Verluste, gegen das eigene Dasein und das der Befreundeten, jenes dumpfe erdbebenhafte Erschttern der Seele ebenso stark und sicher mitgetheilt werden kçnnte, wie diess jeder grosse Krieg thut: von den hier hervorbrechenden Bchen und Strçmen, welche freilich Steine und Unrath aller Art mit sich wlzen und die Wiesen zarter Culturen zu Grunde richten, werden nachher unter gnstigen Umstnden die Rderwerke in den Werksttten des Geistes mit neuer Kraft umgedreht. (MA I 477) Aber er registrierte nun auch „Surrogate des Krieges“: bei den Rçmern in „Thierhetzen, Gladiatorenkmpfen und Christenverfolgungen“, bei den „jetzigen Englndern, welche im Ganzen auch dem Kriege abgesagt zu haben scheinen, […] gefhrliche Entdeckungsreisen, Durchschiffungen, Erkletterungen, zu wissenschaftlichen Zwecken, wie es heisst, […] in Wahrheit, um berschssige Kraft aus Abenteuern und Gefahren aller Art mit nach Hause zu bringen.“ (MA I 477) In WS nannte er den militrischen Krieg schon eine „Brutalitts-Cur“ „fr die Vçlker-Schwindsucht“, die ein tchtiges Volk „nicht nçthig“ habe (MA II, WS 187), und entdeckte nun, was den „Kriegsglorien-Baum“ mit einem Mal zerstçren kçnnte (MA II, WS 284). Darin geht er noch ber Kants spten Entwurf eines ,ewigen Friedens‘ hinaus, der Krieg immer noch als Mittel der Notwehr zugelassen hatte.515 Nach Nietzsche kann nicht „der sogenannte bewaffnete Friede“, in dem Staaten weiter Heere unterhalten und dafr „jene Moral, welche die Nothwehr billigt, […] als ihre Frsprecherin anrufen“, sondern nur der „Frieden der Gelichsten Drangsale, womit er das menschliche Geschlecht belegt, […] eine Triebfeder mehr […] alle Talente, die zur Cultur dienen, bis zum hçchsten Grade zu entwickeln“), Hegel, ber die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, 2.482, wiederholt in: Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 324, Anm. (der Krieg erhlt „die sittliche Gesundheit der Vçlker in ihrer Indifferenz gegen die Bestimmtheiten und gegen das Angewçhnen und Festwerden derselben […], als die Bewegung der Winde die Seen vor der Fulnis bewahrt, in welche sie eine dauernde Stille, wie die Vçlker ein dauernder oder gar ein ewiger Frieden, versetzen wrde“), und dazu Janssen, Art. Krieg, 594 f. Zu Nietzsche vgl. Reschke, Kommentar, 344 f., Marti, Art. Krieg, Kampf, und Niemeyer, Art. Krieg. 515 Kant, Zum ewigen Frieden, hatte am Recht zum Krieg bei Angriff, Rstung und bermchtig-Werden eines anderen Staates festgehalten im Sinn eines „Rechts des Gleichgewichts aller einander thtig berhrenden Staaten“, solange sie sich im „natrlichen Zustande“ und nicht Zustand eines „gesellschaftlichen Vertrages“ zum „Vçlkerbund“ befinden (AA 8.346, 344). – Vgl. zum Folgenden Stegmaier, Zum zeitlichen Frieden.
11.3. Von schauspielerischen Tugenden zu kriegerischen Tugenden. Nr. 362
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sinnung“ das „Mittel zum w i r k l i c h e n Frieden“ sein. Denn die Bereitschaft zur Notwehr unterstelle dem Nachbarn unausgesetzt „Eroberungsgelste“, die man fr sich selbst leugne. Man setze also „die schlechte Gesinnung des Nachbars und die gute Gesinnung bei sich voraus“: „Diese Voraussetzung ist aber eine I n h u m a n i t t, so schlimm und schlimmer als der Krieg: ja, im Grunde ist sie schon die Aufforderung und Ursache zu Kriegen, weil sie, wie gesagt, dem Nachbar die Immoralitt unterschiebt und dadurch die feindselige Gesinnung und That zu provociren scheint.“ Nur wenn man der „Lehre von dem Heer als einem Mittel der Nothwehr […] ebenso grndlich abschwçre als den Eroberungsgelsten“, komme vielleicht ein grosser Tag, an welchem ein Volk, durch Kriege und Siege, durch die hçchste Ausbildung der militrischen Ordnung und Intelligenz ausgezeichnet, und gewçhnt, diesen Dingen die schwersten Opfer zu bringen, freiwillig ausruft: ,w i r z e r b r e c h e n d a s S c h w e r t‘ – und sein gesammtes Heerwesen bis in seine letzten Fundamente zertrmmert. S i c h w e h r l o s m a c h e n , w h r e n d m a n d e r W e h r h a f t e s t e w a r, aus einer H ç h e der Empfindung heraus, – das ist das Mittel zum w i r k l i c h e n Frieden, welcher immer auf einem Frieden der Gesinnung ruhen muss (MA II, WS 284). Von da an ist Krieg fr Nietzsche nur noch ein Mittel der Selbstdisziplinierung. Er bertrgt den Krieg auf die Erkenntnis, den Geist, die Philosophie. Wie FW 362 hat er schon FW 283 kriegerisch angestimmt („Ich begrsse alle Anzeichen dafr, dass ein mnnlicheres, ein kriegerisches Zeitalter anhebt, das vor allem die Tapferkeit wieder zu Ehren bringen wird!“), um dann auszufhren: „Denn es soll einem noch hçheren Zeitalter den Weg bahnen und die Kraft einsammeln, welche jenes einmal nçthig haben wird, – jenes Zeitalter, das den Heroismus in die Erkenntniss trgt und K r i e g e f h r t um der Gedanken und ihrer Folgen willen.“ Er orientiert die kriegerischen Tugenden – Tapferkeit, Mut, sich in Gefahr zu begeben, „Heiterkeit, Geduld, Schlichtheit“ in der Gefahr und „Verachtung der grossen Eitelkeiten“, die sie erzwingt, „Grossmuth im Siege und Nachsicht gegen die kleinen Eitelkeiten aller Besiegten“, ein „scharfes und freies Urtheil ber alle Sieger und ber den Antheil des Zufalls an jedem Siege und Ruhme“, Sicherheit „im Befehlen“ und Bereitschaft, „wo es gilt, zu gehorchen“ (FW 283) – konsequent auf das philosophische Erkennen um als einen ,Krieg‘ mit sich selbst, in dem man gegen ußerste Widerstnde darum kmpft, die Illusionen zu durchschauen, die man zum Leben nçtig hat und die doch verhindern, sich unerschrocken den Realitten des Lebens zu stellen. In diesem Sinn lsst Nietzsche auch Zarathustra „Kriegsmnner“, nicht uniformierte „Soldaten“, zu „neuen Kriegen“ fr „Gedanken“ ermuntern: „Und wenn euer Gedanke unterliegt, so soll eure Redlichkeit darber noch Triumph rufen!“ (ZA I Krieg, KSA 4.58) Dabei bleibt er bis zuletzt: „Der Krieg war immer die grosse Klugheit aller zu innerlich, zu tief gewordnen Geister; selbst in der Verwundung liegt noch Heilkraft.“ (GD Vorwort) Mit sich Krieg fhren heißt sich nicht beruhigen beim „,Frieden der Seele‘“: „Man hat auf das g r o s s e Leben verzichtet, wenn man auf den Krieg verzichtet …“ (GD Moral 3) Notate wie „die allgemeine Wehrpflicht {mit wirklichen Kriegen, bei denen der Spaaß aufhçrt}“, als Mittel gegen die „Zuchtlosigkeit des {modernen} Geistes“ (N
340 11. Der Ursprung der ,freien Gesellschaft‘ im Bedrfnis nach Schauspielerei 1887, 9[165], KSA 12.432 f. / W II 1, S. 18) hat Nietzsche nicht mehr verçffentlicht.
11.3.2. Geschlechter-Gegensatz im Schauspieler-Krieger-Gegensatz Nietzsche glaubt, so berschreibt er FW 362, „a n e i n e Ve r m n n l i c h u n g E u r o p a ’ s“ in der Zukunft – als Gegenbewegung gegen die ,Verweiblichung‘, die es seit dem Einzug der Schauspieler-Tugenden beherrsche. Weil das ,Weib‘ die vollkommensten Schauspieler-Tugenden ausgebildet hat (ausbilden musste), trgt er in den Schauspieler-KriegerGegensatz den Geschlechter-Gegensatz ein. Das macht den Aphorismus noch irritierender, noch provokanter. Zwar sind kriegerische Tugenden traditionell mnnliche Tugenden, aber wo es nicht mehr um offene Feldschlachten, sondern um Erkenntnis geht, sind sie kaum dem biologischen mnnlichen Geschlecht vorbehalten. Zwar wird in der Erkenntnis „das Schwerste gefordert, das Beste gethan […], ohne dass dafr Lob und Auszeichnungen da sind, vielmehr [werden], wie unter Soldaten, fast nur Tadel und scharfe Verweise laut […], – denn das Gutmachen gilt als die Regel, das Verfehlte als die Ausnahme; die Regel aber hat hier wie berall einen schweigsamen Mund“. Doch die „m n n l i c h e Luft“ der „,Strenge der Wissenschaft‘“ muss Frauen, die souvernen Schauspielerinnen, nicht abschrecken, im Gegenteil, denn auch hier tue „viel Vorsicht, viel Verbergen und Ansichhalten noth“ (FW 293), also Schauspielerei zur Abwehr und berwindung von Schauspielerei. Wie den Krieg metaphorisiert Nietzsche auch die Mnnlichkeit, das biologische Geschlecht, auf das man (weitgehend) festgelegt ist, zu einer Atmosphre, in der man freiwillig leben will. Es geht, in aktueller Sprache, nicht um Sex, das festgelegte Geschlecht, sondern um Gender, einen angenommenen Geschlechtscharakter.516 Das macht JGB 209 noch deutlicher. Nietzsche sucht dort seine Vermutung, dass „das neue kriegerische Zeitalter, in welches wir Europer ersichtlich eingetreten sind, vielleicht auch der Entwicklung einer andern und strkeren Art von Skepsis gnstig sein mag“, am Beispiel Friedrichs des Großen und seines Vaters, des ,Soldatenkçnigs‘, zu belegen. Der Letztere, der „unbedenkliche Enthusiast fr schçne grossgewachsene Grenadiere“, der Friedrich seiner scheinbaren Unmnnlichkeit wegen ablehnte, sah ihn „dem esprit, der gensslichen Leichtlebigkeit geistreicher Franzosen verfallen“, der „Skepsis […] eines zerbrochnen Willens, der nicht mehr befiehlt, nicht mehr befehlen k a n n.“ Doch eben der Hass des Vaters 516 Vgl. zum „exciting entre into gender theory“ im II. Buch der FW Higgins, Comic Relief, 79 – 86.
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und „die eisige Melancholie eines einsam gemachten Willens“ kçnnte in Friedrich „jene gefhrlichere und hrtere neue Art der Skepsis“ herangezchtet haben, „die Skepsis der verwegenen Mnnlichkeit, welche dem Genie zum Kriege und zur Eroberung nchst verwandt ist und in der Gestalt des grossen Friedrich ihren ersten Einzug in Deutschland hielt.“ Friedrich, so Nietzsche, wurde zu „einem militrischen und skeptischen Genie“, aus dem skeptischen wurde ein militrisches. Dies sei „die d e u t s c h e Form der Skepsis, welche, als ein fortgesetzter und in’s Geistigste gesteigerter Fridericianismus, Europa eine gute Zeit unter die Botmssigkeit des deutschen Geistes und seines kritischen und historischen Misstrauens gebracht hat.“ Die bertragung des Soldatischen ins Geistige habe den „unbezwinglich starken und zhen Manns-Charakter der grossen deutschen Philologen und Geschichts-Kritiker“ hervorgebracht, „(welche, richtig angesehn, allesammt auch Artisten der Zerstçrung und Zersetzung waren)“,517 und dank ihnen habe „sich allmhlich und trotz aller Romantik in Musik und Philosophie ein n e u e r Begriff vom deutschen Geiste fest[gestellt], in dem der Zug zur mnnlichen Skepsis entscheidend hervortrat: sei es zum Beispiel als Unerschrockenheit des Blicks, als Tapferkeit und Hrte der zerlegenden Hand, als zher Wille zu gefhrlichen Entdeckungsreisen, zu vergeistigten Nordpol-Expeditionen unter çden und gefhrlichen Himmeln.“ Kurz, durch den „,Mann‘ im deutschen Geiste“ sei Europa „aus seinem ,dogmatischen Schlummer‘ geweckt“ worden (JGB 209).
Auf dem Gipfel der Genderisierung des mnnlichen Sexes verwischt Nietzsche in JGB 209 vollends den Geschlechter-Gegensatz – durch die Figur der Mme de Stal. Sie hatte in ihrem berhmten Werk De l’Allemagne Deutschland ganz anders gezeichnet, als liebenswert harmloses, unkriegerisch-unmnnliches „Land der Dichter und Denker“, und damit auf lange Zeit das Deutschland-Bild der Franzosen geprgt; Napoleon hatte das Werk bei seinem ersten Erscheinen 1810 sofort verbieten, konfiszieren und einstampfen lassen.518 Ohne sie auch nur zu nennen, schilt Nietzsche Mme de Stal, die einen Napoleon herausgefordert hatte, als „vermnnlichtes Weib […] in zgelloser Anmaassung“, genderisiert nun also, seinerseits anmaßend, auch das ,Weib‘ zum ,Mann‘. Dabei bringt er seinerseits Napoleon ins Spiel, der verwirrenderweise Goethes Leiden des jungen Werthers besonders schtzte, die tragische Geschichte nicht eines ,militrischen und skeptischen Genies‘, sondern eines bermßig gefhlvollen Jnglings, eine Geschichte, die als Autor eher einen ,verweiblichten Mann‘ erwarten ließ. Und so, im Sinn des ,weiblichen‘ Deutschen-Bilds der ,mnnlichen‘ Mme de Stal, versteht Nietzsche Napoleons berhmte Be517 Im vorbereitenden Notat nennt Nietzsche „die schçne verwegene Rasse der Lessing, Herder, Kant, Friedrich August Wolf, Niebuhr, und wie alle diese Tapferen heißen“ (KSA 14.363). 518 Vgl. JGB 232. De l’Allemagne konnte erst 1813 wieder erscheinen und nach 1815 seine ganze Wirkung entfalten.
342 11. Der Ursprung der ,freien Gesellschaft‘ im Bedrfnis nach Schauspielerei merkung ber Goethe, als er ihn sich beim Erfurter Frstentag vorstellen ließ: „,Voil un homme!‘ – das wollte sagen: ,Das ist ja ein M a n n! Und ich hatte nur einen Deutschen erwartet!‘“ (JGB 209).519 11.3.3. Schauspieler-Krieger Napoleon In FW 362 hlt sich Nietzsche an Napoleon selbst, der, aus kleinem korsischem Adel stammend, sich nicht nur zum Kaiser der Franzosen aufgeschwungen und Europa erobert, sondern ihm auch eine zukunftsweisende Ordnung, den Code Civil gegeben hatte: er hatte aus eigener Kraft geschaffen, was die kraftlos gewordenen alten Dynastien verspielt hatten, ein neues europisches ,Empire‘. Er hatte einen Typus der Alleinherrschaft hervorgebracht, der einer religiçsen oder dynastischen Legitimation nicht mehr bedurfte, und, wo er die alten Formen doch noch benutzt hatte, sie offenkundig nur zur Schau getragen. Napoleon war ein Militrdiktator, der mit rcksichtsloser kriegerischer Politik immer neue ungeheure Blutopfer brachte, aber auch wie kein anderer das Bewusstsein der Freiheit der Vçlker in Europa gestrkt und dafr teils heroisiert (gerade von der deutschen Geschichtsschreibung und Dichtung), teils dmonisiert wurde. Er war nicht mehr nach gngigen moralischen Maßstben zu fassen und darum Nietzsches Mann. Napoleon war fr Nietzsche die herausragendste Figur der jngeren Zeit, als Mann ,jenseits von Gut und Bçse‘ seiner politischen Vision am nchsten.520 519 Zu Nietzsches Quelle vgl. Montinari, Kommentar, KSA 14.363. Zur Begegnung Goethes mit Napoleon in Erfurt am 2. Oktober 1808 whrend des sog. Frstentags, des vierzehntgigen Kongresses der Kaiser und Kçnige Europas auf dem Hçhepunkt von Napoleons Macht, vgl. Seibt, Goethe und Napoleon, 117 ff. Goethe selbst erinnerte in spteren Jahren Napoleons Satz, der sogleich in alle Richtungen kolportiert wurde, so: „Der Kaiser winkt mir heranzukommen. Ich bleibe in schicklicher Entfernung vor ihm stehen. Nachdem er mich aufmerksam angeblickt, sagte er: ,vous Þtes un homme.‘ ich verbeuge mich.“ (Goethe, Smtliche Werke, 14.578) Er nannte seinerseits Eckermann gegenber Napoleon einen „Kerl“: „Immer erleuchtet, immer klar und entschieden, und zu jeder Stunde mit der hinreichenden Energie begabt, um das, was er als vorteilhaft und notwendig erkannt hatte, sogleich ins Werk zu setzen.“ (Gesprch mit Eckermann am 11. Mrz 1828, in: Goethe, Smtliche Werke, 19.605). Goethes Formel der „Produktivitt der Taten“, die er der eigenen, knstlerischen an die Seite stellt, hat Nietzsche schon frh zitiert (vgl. GT 18, KSA 1.116). 520 Zu Nietzsches Napoleon-Bild und dessen Quellen vgl. Sautet, Notes, 523, Fn. 450 (Stendhal, Mme de Rmusat, Las Cases, Barbey d’Aurevilly); Ottmann, Philo-
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Sich auf große Figuren, ,Heroen‘, zu konzentrieren, war im 19. Jahrhundert und besonders in Deutschland durchaus blich: es hatte in Beethoven seinen Heros der Musik, in Goethe und Schiller sein Heroen-Paar der Dichtung und in Napoleon, ob man ihn nun verehrte oder hasste, seinen Heros der Politik. All diese Heroen verstand man als betont mnnlich, Napoleon aber, ebenso in seiner çffentlichen wie in seiner privaten Existenz, die er kaum voneinander trennte, als den mnnlichsten (mnnlicher noch, da er die Frauen liebte, als Friedrich der Große). Er maß sich nicht an den Generlen und Kçnigen seiner Zeit, sondern an Alexander und Csar, stilisierte und inszenierte sich ohne Scheu als neuen Csar, er ,schauspielerte‘ in großem Stil. Dies lçste auch und gerade in Deutschland eine breite Debatte ber den ,Csarismus‘ aus, die zur Regierungszeit Napoleons III., der Jugendzeit Nietzsches, wieder aufflammte.521 Sie lebte davon, dass man nach dem Zusammenbruch der alten Regime in Europa und den selbstzerstçrerischen Auswchsen der Franzçsischen Revolution und ihrer Nachfolgerinnen 1830 und 1848 nach neuen politischen Ordnungen suchte. Alleinherrschaften, die wir heute unwillkrlich mit Figuren wie Hitler und Stalin verknpfen, waren damals noch eine ernsthafte Alternative. Sie erweckten mit der Erinnerung an Alexander und Csar wohl Erwartungen zahlloser und grausamer Opfer, aber auch glnzende Hoffnungen. Nietzsche entfesselte die Debatte nicht, er reagierte nur auf sie und konturierte sie auf seine irritierende Weise.522
Nach seinen Notaten zu urteilen, faszinierte Nietzsche an Napoleon wie an Alexander oder Csar die „große Leidenschaft der M“ (N 1880, 4 [197], KSA 9.149), die sie ebenso offen wie erfolgreich an den Tag legten. 1880/81, in der Zeit seiner intensivsten Beschftigung mit ihm – Nietzsche studierte die Mmoires der Mme de Rmusat523 und bereitete die erste Ausgabe der FW vor –, notierte er sich: „Durch die Weite seines sophie und Politik bei Nietzsche, 271 – 275 (unter besonderer Bercksichtigung der hufigen Zusammenstellung Napoleons mit Goethe); Gerhardt, Vom Willen zur Macht, 174 – 178 (unter besonderer Bercksichtigung des „Auftritts des Willens zur Macht“), und Dombowsky, Nietzsche as Bonapartist. Dombowsky stellt in Auseinandersetzung mit Glenn, Nietzsches Napoleon, Nietzsche nicht als blinden Parteignger dar, sondern arbeitet sein Interesse an Napoleons politischen Strategien heraus. Keiner der Interpreten liest den Aphorismus FW 362 in dessen Kontexten, Dombowsky zitiert ihn lediglich – zum Schluss. 521 Vgl. Groh, Art. Csarismus, Napoleonismus, Bonapartismus, Fhrer, Chef, Imperialismus. Nietzsche wird hier nicht erwhnt. Seine (allerdings sehr begrenzten) Bezge auf die Debatte stellt Holzer, ,Nietzsche Caesar‘, zusammen. 522 Vgl. van Tongeren, Nietzsche as ,ber-Politischer Denker‘. Van Tongeren setzt sich vor allem mit der „influential interpretation of Nietzsche as a political thinker“ von Conway, Nietzsche and the Political, auseinander: Nietzsche gebrauche, so van Tongeren, politische Termini, spreche ber Politik aber aus einer primr nichtpolitischen Perspektive. Van Tongeren fhrt zuletzt FW 356 an, eingestandermaßen ohne zu einer schlssigen Interpretation zu kommen. 523 Vgl. den Nachweis Montinaris, Kommentar, KSA 14.633.
344 11. Der Ursprung der ,freien Gesellschaft‘ im Bedrfnis nach Schauspielerei d u r c h d r i n g e n d e n S c h a r f s i n n s und die Z h i g k e i t s e i n e s W i l l e n s der außerordentl Mensch. Im Falle sein Ziel das Wohl der Menschheit gewesen wre, der grçßte Mensch.“ (N 1880/81, 8[118], KSA 9.407) Doch hier klingen auch Zweifel durch. Sie beginnen damit, dass Napoleons „Seele ohne A d e l“ war und „sein persçnlicher Aberglaube (Je russirai!)“ sein „Glck“, das er mit einem „Cult“ umgab (N 1880, 6 [26], KSA 9.199), dass er „von Unruhe verzehrt“ war, „von Verdacht und Mißtrauen, Sklave seiner inneren Leidenschaften, alle Macht frchtend, selbst die, welche er geschaffen hatte“ (N 1880/81, 8[119], KSA 9.407 f.), und dass er „allen Glanz h a b e n“ wollte („so verkleinerte er seine Umgebung und verstimmte sie“; N 1880/81, 10[A16], KSA 9.416). Sie enden damit, dass auch Napoleon auf seine Art Schauspieler war – „Napoleons p r s e n t a b l e s Motiv: ,ich will Allen berlegen sein‘. Wahres Motiv: ,ich will Allen berlegen erscheinen‘.“ (N 1880, 1[13], KSA 9.11) – und ein so guter, dass Talleyrand, der Großmeister der diplomatischen Schauspielerei, von ihm sagen konnte: „,Er findet ein Mittel seine Leidenschaften zu erheucheln obgleich sie wirklich existiren‘“ (N 1880, 6[94], KSA 9.218).524 Gerade an Napoleon wurden Nietzsche die Gefahren der Grçße deutlich: er war „durch die Mittel, die er anwenden m u ß t e, corrumpirt worden und hatte die n o b l e s s e des Charakters v e r l o r e n. Unter einer anderen Art Menschen sich durchsetzend htte er andere Mittel anwenden kçnnen und so wre es nicht n o t h w e n d i g, daß ein Csar s c h l e c h t w e r d e n m ß t e.“ (N 1883, 7[27], KSA 10.251)525 Doch gerade auch in seiner Schlechtigkeit kçnnte Napoleon interessant sein: „Die Skepsis mit den h e r o i s c h e n Gefhlen verknpfen / Skepsis der Schwche und die des Muthes / Einen Menschen o h n e M o r a l imaginiren, der berall auch das entgegengesetzte Urtheil hervorruft / Napoleon.“ (N 1883/84, 24[30], KSA 10.662) So beschrnkt sich Nietzsche zur Zeit der Erarbeitung von JGB und FW V schließlich auf die Formel „des ersten und vorwegnehmendsten Menschen neuerer Zeit“ (N 1885, 37 [9], KSA 11.584 / W I 6, S. 47), eines Menschen, der ein neues großes Ziel gesetzt, aber nicht erreicht hat. Das Bild, das Nietzsche in seinem verçffentlichten Werk und dann auch in FW 362 von Napoleon gibt, ist weit affirmativer. Hier konturiert er den „Typus“ Napoleon (M 245) als ,Krieger‘-Typus im Gegensatz zum ,Schauspieler‘-Typus, stilisiert ihn als Typus, der ganz aus eigener Kraft und 524 Von Nietzsche bersetztes Zitat aus Rmusat, Mmoires. Vgl. Montinari, Kommentar, KSA 14.635. 525 Vgl. schon MA I 164, M 109.
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in alleiniger Verantwortung handeln, urteilen und befehlen konnte. Als Handelndem schreibt er ihm (wie Hypnotikerinnen, vgl. 11.2.2.) das „Ausdichten Eines Motivs oder weniger Motive“ zu (M 245) – und merkt dazu an, „dass Vier von den Thatendurstigsten aller Zeiten Epileptiker gewesen sind (nmlich Alexander, Csar, Muhammed und Napoleon)“ (M 549). Als Urteilenden nannte er ihn zuletzt den „grçssten Thatschlichen“ (EH klug 3), einen vorbehaltlosen Realisten; selbst Goethe habe „kein grçsseres Erlebniss als jenes ens realissimum, genannt Napoleon“ gehabt (GD Streifzge 49). Dabei habe Napoleon nicht geduldet, den Maßstben anderer unterworfen zu werden.526 Als Befehlender aber (7.2.2.5.) stand er fr Nietzsche einzigartig da, war „das letzte grosse Zeugniss“ „eines unbedingt Befehlenden“ (JGB 199). Er konnte, notierte er dazu, „die grçßte Verantwortlichkeit tragen u. nicht daran zerbrechen.“ (N 1885/86, 1[56], KSA 12.24/N VII 2, S. 145).527 Das aber ist auch Nietzsches Bild vom ,eigentlichen Philosophen‘. 11.3.4. Renaissance-Menschen fr das eine Europa Napoleon hat vor allem, schließt Nietzsche FW 362, „sich als einer der grçssten Fortsetzer der Renaissance bewhrt: er hat ein ganzes Stck antiken Wesens, das entscheidende vielleicht, das Stck Granit, wieder heraufgebracht.“ Auch die Renaissance war fr Nietzsche das Zeitalter eines „grossen Krieges“, des ,Krieges‘ um die „U m w e r t h u n g d e r c h r i s t l i c h e n W e r t h e“ (AC 61), dessen Heros Machiavelli. Er und sein antiker Vorgnger Thukydides seien ihm „selber am meisten verwandt durch den unbedingten Willen, sich Nichts vorzumachen und die Vernunft in der R e a l i t t zu sehn, – n i c h t in der ,Vernunft‘, noch weniger in der
526 Vgl. N 1880, 6[68], KSA 9.211: „Napoleon haßte nichts mehr in der Welt, als daß jemand die Fhigkeit zu urtheilen in Bezug auf ihn bte, oder berhaupt nur hatte.“ 527 In diesem Punkt rckte Nietzsche zuletzt den Typus Wagner nahe an den Typus Napoleon heran: „Die Wagnerischen Kapellmeister in Sonderheit sind eines Zeitalters wrdig, das die Nachwelt einmal mit scheuer Ehrfurcht d a s k l a s s i s c h e Z e i t a l t e r d e s K r i e g s nennen wird. Wagner verstand zu commandiren; er war auch damit der grosse Lehrer. Er commandirte als der unerbittliche Wille zu sich, als die lebenslngliche Zucht an sich: Wagner, der vielleicht das grçsste Beispiel der Selbstvergewaltigung abgiebt, das die Geschichte der Knste hat“ (WA 11).
346 11. Der Ursprung der ,freien Gesellschaft‘ im Bedrfnis nach Schauspielerei ,Moral‘ …“ (GD Alten 2).528 Wie aber Reformation und Gegenreformation die Renaissance der antiken Werte zum Erliegen gebracht htten, so habe nun die nationale Bewegung Europa „um das Wunder von Sinn in der Existenz Napoleon’s gebracht“, dieser „force majeure von Genie und Wille […], stark genug, aus Europa eine Einheit, eine politische u n d w i r t s c h a f t l i c h e Einheit, zum Zweck der Erdregierung zu schaffen“ (EH WA 2).529 Das „Stck antiken Wesens“, das „auch endlich wieder ber die nationale Bewegung Herr werden wird und sich im b e j a h e n d e n Sinne zum Erben und Fortsetzer Napoleon’s machen muss“, ist jedoch nicht die Person Napoleons, sondern dass er „das Eine Europa wollte, wie man weiss, und dies als H e r r i n d e r E r d e“. Um seine Kriege nicht mehr mit teuren Sçldnern fhren zu mssen, sondern junge Mnner, die fr Ideale kmpften, fr sie zu begeistern, hatte er selbst die nationale Bewegung mitangefacht und dadurch das Ziel eines modernen einigen Europa zugleich konterkariert. Fr Nietzsche war es vielmehr die Kraft zur eigenen Verantwortung, die in Napoleon ihre Renaissance erlebte, aber nicht an seine Person gebunden bleiben musste. Sie konnte nun (nicht als traditionale Norm wie die mittelalterliche Vorstellung von Gesellschaft, sondern) als Vision wirken, die andere motivierte, unter neuen, vernderten Umstnden den „Nationalitts-Wahnsinn“ (JGB 256) zu berwinden und das eine Europa zu schaffen. Auch eine ,Vision‘, ein Begriff, den Nietzsche bis zuletzt hufig gebraucht, ist etwas ,Befehlendes‘, mit großer Bestimmtheit Orientierendes. Sie kann wohl Zeichen „einer tiefen geistigen Stçrung“ (M 66) oder etwas fr Mystiker sein (M 550), aber jeder, der in langen Zeithorizonten ,schafft‘, sei es knstlerisch, wissenschaftlich, politisch oder pdagogisch, braucht dafr eine Vision.530 Eine Vision hilft, an einem Ziel trotz aller Unvollkommenheiten und Enttuschungen seiner Verwirklichung langfristig festzuhalten.531 Sie muss den Realittssinn nicht trben, sondern kann ihn im Gegenteil immer mehr schrfen. Nietzsche schreibt zuletzt im Blick auf Shakespeare (in dem er Lord Bacon vermutet): „die Kraft zur mchtigsten Realitt der Vision ist nicht nur vertrglich mit der mchtigsten Kraft zur That, zum Ungeheuren der That, zum Verbrechen – s i e s e t z t s i e s e l b s t v o r a u s …“ (EH klug 4). Bei Tatkrftigen steigern die Visionen den Realittssinn und mit ihm die Tatkraft. Die „{Kraft zur Vision}“ ist dann „eine Lust am Gestalten sehen, Gestalten bilden“ (N 1888, 14[18], KSA 13.226 / W II 5, S. 183), und darum 528 Vgl. zu Nietzsches Bild der Renaissance Ottmann, Art. Renaissance/Renaissancismus. 529 Nietzsche zielt dabei vor allem auf „die Deutschen“. Vgl. N 1884, 25[115], KSA 11.43 f. 530 Vgl. MA II, VM 180; WS 73, 217. 531 Vgl. FW 79.
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mssen Knstler, doch nicht nur sie, „Visionre par excellence“ sein (GD Streifzge 10). So nennt sich Nietzsche auch wieder selbst einen „Visionr“, nmlich „des Zarathustra“ (EH klug 4).532 Im V. Buch der FW steht er fr die „Ahnung und Vision“ eines neuen „d i o n y s i s c h e n Pessimismus“ ein (FW 370, 16.6.).
Nietzsche hat es bei der Vision der Einheit Europas belassen. Er hat kaum Vorschlge fr seine politische Verfassung gemacht.533 Dennoch hat er erwartet, dass sich als Folge der „um sich greifenden Demokratisirung […] zunchst ein europischer Vçlkerbund“ bilden werde, „in welchem jedes einzelne Volk, nach geographischen Zweckmssigkeiten abgegrnzt, die Stellung eines Cantons und dessen Sonderrechte innehat“, die allmhlich korrigiert wrden: „die Gesichtspuncte fr diese Correcturen zu finden wird die Aufgabe der zuknftigen D i p l o m a t e n sein, die zugleich Culturforscher, Landwirthe, Verkehrskenner sein mssen und keine Heere, sondern Grnde und Ntzlichkeiten hinter sich haben.“ (MA II, WS 292) Und er redete „von der Demokratie als von etwas Kommendem“, die „mçglichst Vielen U n a b h n g i g k e i t schaffen und verbrgen“ will, „Unabhngigkeit der Meinungen, der Lebensart und des Erwerbs.“534 Sie htte dazu vor allem „nçthig“, „die drei großen Feinde der Unabhngigkeit“ davon abzuhalten, sie zu beeintrchtigen: zum einen die „Besitzlosen“, die von Zuwendungen abhngig sind, zum andern die „eigentlich Reichen“, die an deren Unabhngigkeit kein Interesse haben, und schließlich „die Organisation von Parteien“, die, um politische Stoßkraft zu entfalten, in ihren Reihen nur beschrnkt unabhngige Meinungen zulassen kçnnen (MA II, WS 293).535 Fr das außenpolitische Ziel, das er 532 Zu einem „Act 4“ von ZA hatte sich Nietzsche notiert: Zarathustra „v e r g i ß t s i c h und lehrt a u s d e m b e r m e n s c h e n h e r a u s die Wiederkehr: der bermensch h l t s i e a u s und z c h t i g t d a m i t. / Bei der Rckkehr aus der Vision stirbt er daran“ (N 1883, 10[47], KSA 10.378). Vgl. N 1883, 16[3], KSA 10.496: „Im Glck verkndet er den bermenschen und dessen Lehre. Alle fallen ab. Er stirbt, als die Vision ihn verlßt, vor Schmerz darber, welches Leid er geschaffen.“ 533 Vgl. die unbertroffene Darstellung von Nietzsches Europa-Vision durch Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, 124 – 129, zu ihren Unvollkommenheiten 244. 534 Vgl. Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, 128: „Nietzsche arrangiert sich mit der Demokratie, weil sie die Vorbotin kommender Freiheit ist.“ 535 Nietzsche dachte zunchst noch daran, den Besitzlosen und den Reichen „das politische Stimmrecht abzusprechen“ und Parteien zu „verhindern“ (MA II, WS 293). Die Geschichte der europischen Demokratien hat gezeigt, dass es auch anders geht. Spter notierte er, dass, wie der Nationalstaat „etwas Ephemeres gegenber der demokratischen Gesamtbewegung“, so auch „der Arbeiter selber nur ein Zwischenakt ist.“ (N 1884, 26[352], KSA 11.242 f.) In JGB 257 traut
348 11. Der Ursprung der ,freien Gesellschaft‘ im Bedrfnis nach Schauspielerei Europa setzte, „die Erde als Ganzes çkonomisch [zu] verwalten“ (MA I 24), oder kurz die „Erdregierung“ (MA I 245)536 entwickelte er, spter, die Idee „einer neuen ber Europa herrschenden Kaste“, die „einen langen furchtbaren eigenen Willen“ haben msste, „der sich ber Jahrtausende hin Ziele setzen kçnnte: – damit endlich die langgesponnene Komçdie seiner Kleinstaaterei und ebenso seine dynastische wie demokratische Vielwollerei zu einem Abschluss kme.“ (JGB 208) Hier griff er offenbar auf Platons Idee eines besonderen, fr die Regierung Europas und der Welt eigens herangebildeten Standes zurck; aktuell spricht man von gezielter Elitenbildung. Nietzsche legte sie sich in Notaten so zurecht, dass in diese „h e r r s c h e n d e K a s t e“ die „umfnglichsten Seelen, fhig fr die verschiedensten Aufgaben der Erdregierung“, einzubeziehen, dabei „alle bisherigen Einzel-Fhigkeiten in Eine Natur zu centralisiren“ und besonders die Juden mit ihrer „großen Vorbung in der A n p a s s u n g“ zu bercksichtigen seien (N 1884, 25[221], KSA 11.72). Aus der „neuen herrschenden Kaste“ solcher „Herren der Erde“ kçnnte dann „hier und da“ „der Verklrer des Daseins“ entspringen, „ganz epicurischer Gott, der bermensch“ (N 1885, 35[73], KSA 11.541 / W I 3, S. 69). Das ist offensichtlich kein politisches Programm mehr; wre es das, bliebe immer noch ganz offen, wie Nietzsche sich seine Realisierung gedacht htte.537 Er hat Europa gerade nicht auf politische Programme (wie Nationalismus, Liberalismus, Sozialismus oder gar Antisemitismus) festgelegt, wollte es, da solche Programme unvermeidlich zu Parteiprogrammen werden, eben davon abhalten und es stattdessen anregen, sich als „Cultur-Centrum“ zu begreifen. Als solches kçnnte Europa dann freilich auch eine andere Art von Renaissance erleben: sollte Russland „Herr Europas und Asiens“ werden – und nach Nietzsche „m u ß“ Russland das, „es muß c o l o n i s i r e n und C h i n a und Indien g e w i n n e n“ –, wrde Europa so etwas wie „das Griechenland unter der Herrschaft Roms.“ (N 1884, 25[112], KSA 11.42)538 Worauf Nietzsche vor allem bestand, war, die Freiheit nicht auf dem Boden der Moral, eines schon vorgegebenen Gut und Bçse, sondern auf dem Boden dessen zu verstehen, was er in GD (Streifzge 38) noch einmal Nietzsche dann jedoch nur noch einer neuen Aristokratie die ethischen Voraussetzungen fr die Steigerung der Unabhngigkeit im Denken zu, die gerade die demokratische Bewegung nçtig htte (vgl. Owen, Nietzsche, Ethical Agency and the Problem of Democracy, 160 – 166). 536 Vgl. N 1884, 25[307], KSA 11.90, und EH WA 2. 537 Vgl. Marti, Art. Europa, Europer. 538 Vgl. Poljakova, Die „Bosheit“ der Russen.
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den „Krieg“ nannte, als „Willen zur Selbstverantwortlichkeit“ in „Distanz“ zu andern und in immer neuer Auseinandersetzung mit andern, einer Auseinandersetzung, die gesellschaftliche „Institutionen“ hervorbringen kann, aber nicht durch sie stillgestellt werden darf. Diese „mnnliche“ Freiheit des „K r i e g e r s“ stand fr Nietzsche gegen die des ,Schauspielers‘, gegen das Vorspiegeln von Illusionen und Verdecken von Realitten. Sie ist eine Freiheit in der Gesellschaft von der Gesellschaft539 und hat ihren „Werth“ nicht darin, „was man mit ihr erreicht, sondern in dem, was man fr sie bezahlt“. Sie wird bemessen nach dem „Widerstand, der berwunden werden muss“, um sie zu erlangen. Und auch sie entspringt einer Not: „man muss es nçthig haben, stark zu sein: sonst wird man’s nie“ („schçnster Typus Julius Caesar“). So hat diese Freiheit mit der Not auch ihre Zeit; in unterschiedlichen Situationen wird sie sich unterschiedlich gestalten. Weil sie immer nur aus der berwindung von Widerstnden kommt, auch und gerade von Widerstnden in Gestalt eigener Illusionen, an denen man ,hngt‘, ist sie eine Freiheit, deren man sich nie sicher sein kann, die man nie ,hat‘, nie ,besitzt‘, eine Freiheit, die gerade gegen die Illusion ihres dauernden Besitzes gerichtet ist. Diese philosophisch, nicht politisch konzipierte Freiheit kçnnte wohl auch Boden einer weltweiten Demokratie sein, die nicht auf eigene Ansprche an die andern, sondern auf eigene Verantwortung fr die andern setzt, die Macht dort anerkennt, wo sie zur Orientierung anderer und zu kollektiv bindenden Orientierungsentscheidungen notwendig ist, und die nicht in Institutionen erstarrt, sondern sie erneuern kann, wenn neue Realitten es fordern.540 In Europa 539 Vgl. Derrida, Politiques de l’amiti/Politik[en] der Freundschaft, 56/67, unter Verweis auf Bataille und Blanchot. 540 Die Mçglichkeiten, die Demokratie von Nietzsche und seinen pluralistischen und antagonistischen Entwrfen aus neu zu denken, haben vor allem die angelschsische Nietzsche-Forschung gereizt. Vgl. bes. Warren, Nietzsche and Political Thought (zumindest der halbe Nietzsche kçnnte fr die Demokratie-Debatte bedeutsam sein), Hatab, A Nietzschean Defense of Democracy (besonders das antagonistische Konzept des Willens zur Macht kçnnte dafr bedeutsam sein), Appell, Nietzsche Contra Democracy (die andere Hlfte ist jedoch politisch umso gefhrlicher), Schrift, Nietzsche for Democracy (Nietzsches „perspectivism“ und „agonism“ lassen eine Demokratie denken, die immer im Werden ist und sein muss, und Nietzsche ist auch dort, wo er gegen die Demokratie spricht, ihr interessantester Gegner), und die daran anschließende Kontroverse (Dombowsky, A Response to Alan D. Schrift; Schrift, Response to Don Dombowsky), dann die Monographie von Dombowsky, Nietzsche’s Machiavellian Politics (Nietzsche war politisch klar ultra-konservativ). Eine bersicht ber die Debatte geben die Sammelbesprechungen von Bretz/Hofmann, Nietzsche now. Zum Stand der
350 11. Der Ursprung der ,freien Gesellschaft‘ im Bedrfnis nach Schauspielerei sah Nietzsche beste Voraussetzungen zu dieser Freiheit. Sie ist eine Freiheit, die ohne metaphysischen Halt auskommen muss und kann. Sie schafft Halt ohne die Gewissheit eines scheinbar letzten Halts. Sie wirkt als Freiheit, auch wenn sie nur gespielt wird. Und sie kann, wie Nietzsche fr sich notierte, auch sthetisch wirken, kraftvolle, schçne, ,fest auf sich selber sitzende‘ Menschen hervorbringen: womit er wohl kaum an die nationaloder realsozialistischen Muskelmnner dachte, die uns heute so grndlich verleidet sind: er dachte an neue Philosophen.541 amerikanischen Nietzsche-Forschung, 333 – 339, Siemens, Nietzsche’s Political Philosophy (zu Bonnie Honig, Dana Villa, Lawrence J. Hatab und Fredrick Appell), der in seiner Einleitung das „agonist movement“ Nietzsche-nah versteht als „a vitalist reaction against the ,law- or rule-induced sclerosis‘ of modern, bureaucratic democracies, as against the ,regularian‘ character of modern liberal theory“ (510), und Lotter, „So wenig als mçglich Staat!“ Nietzsches Stellung zu Recht und Politik. Das NWB hat mit seinem Art. Demokratie, 1.568 – 583, zum ersten Mal systematisch die Textbasis geklrt. In ihren jngsten Beitrgen haben Connolly, Nietzsche, Democracy, Time (Nietzsches Agonismus fçrdert Vornehmheit in der politischen Auseinandersetzung vçllig Andersdenkender, und diese fçrdert die Demokratie: „ennoblement of democracy“, 138), Owen, Nietzsche, Ethical Agency and the Problem of Democracy (bleibt hier im Blick auf Nietzsche skeptisch – seine Ethik und Politik folge zu sehr antiken Maßstben –, in der Sache aber optimistisch), Hatab, Breaking the Contract Theory (Politik und Recht leben vom Wettbewerb und am strksten in einer Demokratie und einem Rechtswesen US-amerikanischer Prgung) ihre Standpunkte bekrftigt und differenziert. Eine umfassende von Nietzsche ausgehende Philosophie der Demokratie als „etwas Kommendem“ (MA II, WS 293) steht noch aus. Owen, Nietzsche, Ethical Agency and the Problem of Democracy, 159 f., erinnert fr die Demokratie „,yet to come‘“ mit James Conant an John Stuart Mill, Emerson, Thoreau und de Tocqueville. Jacques Derrida, ein entschiedener Verteidiger der Demokratie, hat die „dmocratie venir“ immer wieder gefordert und zugleich fr unmçglich erklrt, eben weil sie zugleich Institutionen der Gleichheit brauche und doch niemals bei ihnen bleiben drfe, sich also wesentlich mit sich im Widerspruch befinde. Vgl. Derrida, Voyous/Schurken, 126/124: „(Gewalt ohne Gewalt, nicht kalkulierbare Singularitt und berechenbare Gleichheit, Kommensurabilitt und Inkommensurabilitt, Heteronomie und Autonomie, unteilbare und teilbare, nmlich teilhabbare Souvernitt)“. Die Demokratie kçnne, so Derrida zuvor in: Politiques de l’amiti/Politik[en] der Freundschaft, 128/156, nur als Dekonstruktion bestehen („keine Dekonstruktion ohne Demokratie, keine Demokratie ohne Dekonstruktion“). 541 Vgl. eine der mçglichen Vorstufen zu FW 362, N 1884, 26[417], KSA 11.263: „Ich f r e u e mich der militrischen Entwicklung Europa’s, auch der inneren anarchistischen Zustnde: die Zeit der Ruhe und des Chinesenthums, welche Galiani fr dies Jahrhundert voraussagte, ist vorbei. Persçnliche m n n l i c h e Tchtigkeit, Leibes-Tchtigkeit bekommt wieder Werth, die Schtzungen werden
11.3. Von schauspielerischen Tugenden zu kriegerischen Tugenden. Nr. 362
351
physischer, die Ernhrung fleischlicher. Schçne Mnner werden wieder mçglich. Die blasse Duckmuserei (mit Mandarinen an der Spitze, wie Comte es trumte) ist vorbei. Der Barbar ist in jedem von uns b e j a h t, auch das wilde Thier. G e r a d e d e s h a l b wird es mehr werden mit den Philosophen. – Kant ist eine Vogelscheuche, irgendwann einmal!“ S. auch N 1888, 19[1], KSA 13.539.
III. Befreiung zu vielfltigen Perspektiven
12. Deutsche Philosophie in europischer Perspektive Nr. 357: Z u m a l t e n P r o b l e m e : , w a s i s t d e u t s c h ?‘542 Mit FW 357, einem der ausfhrlichsten und gewichtigsten Aphorismen im V. Buch der FW, den Nietzsche wiederum als Solitr stehen lsst, geht er zu den Perspektiven ber, in denen sich die alltgliche wie die philosophische Orientierung ihren eigenen Halt schaffen kann, ohne zu einer Religion, Moral oder Metaphysik Zuflucht nehmen zu mssen. Sie sind es, die Freiheiten fr eine knftige frçhliche Wissenschaft erçffnen (Teil IV). Von nun an rcken die Begriffe der Perspektive und der Interpretation, nach einem schon herausgehobenen Gebrauch in FW 353 (8.3.1.: Interpretation) und FW 354 (9.6.: Perspektivismus), in den Mittelpunkt, bis sie in FW 373 (13.2.: Interpretation) und FW 374 (13.3.: Perspektive) selbst zum Thema werden. Sie gehçren zu den meist diskutierten in der Nietzsche-Forschung. Wenn ,Perspektive‘ der Begriff fr eine Sicht ist, die von einem jeweiligen Standpunkt aus etwas in einem Horizont als etwas sehen und verstehen lsst,543 so ist ,Interpretation‘ der Begriff fr dieses perspektivische Verstehen.544 Beide Begriffe, so wie Nietzsche sie gebraucht, 542 Auszge einer ersten Fassung dieses Kapitels erschienen in Stegmaier, „ohne Hegel kein Darwin“. 543 Vgl. zum Verhltnis der Begriffe Standpunkt, Horizont, Perspektive 9.6. Nietzsche gebraucht alle drei Begriffe hufig, in seinem ganzen Werk und auch im V. Buch der FW, bevorzugt aber deutlich, auch im V. Buch der FW, den Begriff ,Perspektive‘ mit seinen Ableitungen. Noch hufiger ist in seinem Werk und im V. Buch der FW das Wortfeld ,Interpretation‘ belegt. 544 Schrift, Between Perspectivism and Philology, 3, versteht umgekehrt ,Interpretation‘ als „the act of organizing, in one way or another, a collection of diverse perspectives“. Auch das ist mçglich, sofern immer verschiedene Perspektiven im Spiel sein kçnnen, dann freilich auch wieder mit verschiedenen Interpretationen. – Der Begriff der Interpretation war vor allem fr die deutschsprachige NietzscheForschung maßgeblich. Vgl. Figl, Interpretation als philosophisches Prinzip; Simon, Der gewollte Schein; Abel, Nietzsche, 133 – 186; Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz, 311 – 338; Spiekermann, Naturwissenschaft als subjektlose Macht?, 73 – 123; Hofmann, Wahrheit, Perspektive, Interpretation, 17 – 167, zu den Interpretationen von Nietzsches Philosophie der Interpretation 168 – 429. Zum berblick ber die Geschichte des philosophischen Begriffs der Interpretation vgl.
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12. Deutsche Philosophie in europischer Perspektive. Nr. 357
sind paradox: dass man alles in einer Perspektive versteht, kann man nur aus einer andern Perspektive feststellen, die man wiederum nur in der eigenen Perspektive wahrnehmen kann, und Interpretation setzt etwas voraus, das interpretiert wird, das man außer dieser Interpretation aber nicht kennt. Die Paradoxie entschrft sich durch die Zeit: weil Perspektiven und Interpretationen nicht starr, sondern beweglich sind, sich laufend verschieben, kann man in einer Perspektive deren Verschiebungen und die sich mit ihr wandelnden Interpretationen beobachten. Man interpretiert alles in einer Perspektive, erfhrt dabei aber auch, wie sich die Interpretations-Perspektiven mit der Zeit verschieben und vervielfltigen.545
12.1. Die europische Perspektive Die Perspektive, mit der Nietzsche die Aussicht auf die Vielfalt der Perspektiven erçffnet, in denen wir uns in Europa orientieren, ist – Europa selbst. Sie ist im V. Buch der FW von Anfang an gegenwrtig („beginnt bereits seine ersten Schatten ber Europa zu werfen“, FW 343) und wird in fast jedem neuen Aphorismus neu aufgerufen. Europa (oder was man so nennt) ist fraglos der Raum, in dem die Philosophie (oder was man in Europa so nennt) entstanden ist und sich ausgebildet hat, in dem und von dem sie geprgt wurde. Es ist nicht einfach ein geographischer Raum, sondern, nach aktuellen Begriffen, ein Kulturraum, in dem das, was man das jdisch-griechisch-christliche Erbe nennt, sich verbreitete, ohne dabei andere Einflsse auszuschließen. Europa ist, gemessen an der Dauer anderer sog. Hochkulturen und ihrer Rume, etwa der gyptischen oder chinesischen, jung, entwickelte sich geographisch und kulturell jedoch sehr rasch, eben indem es Fremdes zu integrieren und dadurch sein eigenes Erbe immer neu anzueignen verstand. Es zeichnet sich nach Nietzsche durch die „Fhigkeit zur bestndigen Ve r w a n d e l u n g“ aus (FW 24).546 Mit seiner Kultur berschritt Europa immer neu seine geographischen Grenzen, zunchst in Zeiten Alexanders des Großen mit seinen Asienzgen, dann im Zug der Ausbreitung des Christentums mit seinem Missionsauftrag, schließlich in der Moderne mit der Faszination seiner WissenAnton, Art. Interpretation, ber Nietzsches Gebrauch des Begriffs ,Interpretation‘ und den Stand der Forschung dazu Heit, Art. Interpretation. 545 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 214 – 216. 546 Vgl. Stegmaier (Hg.), Europa-Philosophie. Witzler, Europa im Denken Nietzsches, hat, was Nietzsche mit ,Europa‘ verband, umfassend aufgearbeitet.
12.1. Die europische Perspektive
357
schaften und der auf sie gegrndeten Technik und Industrie und mit seinen Entwrfen demokratischer Staatsmodelle. Nach einem griechischen Mythos ist ,Europa‘ der Name einer von Zeus vom phçnikischen Strand, also aus Asien entfhrten Kçnigstochter;547 ,Europa‘ nannte man aber nicht Griechenland selbst, sondern zunchst eine Gegend im sdlichen Balkan und erst nach einer langen und wechselvollen Geschichte „die kleine Halbinsel Asien’s“.548 Durch die Entdeckungen und Kolonisierungen der frhen Neuzeit kamen zu seinem Kulturraum Amerika mit seinen beiden Erdteilen hinzu („soweit es eben das Tochterland unserer Cultur ist“). Andererseits fiel aber „nicht einmal ganz Europa unter den Cultur-Begriff ,Europa‘; sondern nur alle jene Vçlker und Vçlkertheile, welche im Griechen-, Rçmer-, Juden- und Christenthum ihre gemeinsame Vergangenheit haben.“ (MA II, WS 215)549 Die Kultur Europas wurde, wie Nietzsche sich notierte, von den „Philos. u Moralisten Europas“ zunehmend als Kultur einer Moral (N 1885, 34[176], KSA 11.478 / N VII 1, S. 75), als, wie er dann in FW 380 schreibt, „eine Summe von kommandirenden Werthurtheilen verstanden, welche uns in Fleisch und Blut bergegangen sind.“ Im „Kampf mit dem Nihilismus“ (N 1886/87, 7[31], KSA 12.306) musste man diese Moral durchschauen lernen, woran Nietzsche seit MA arbeitete und wozu er mit GM einen großen Entwurf vorlegte. Zuvor hatte er sich die Kraft Europas zur Integration von Fremdem erschlossen. Er war davon ausgegangen, dass schon „die berhmte griechische Helle, Durchsichtigkeit, Einfachheit und Ordnung“, die ber ihrem Glanz leicht ihre Ursprnge vergessen lsst, erst allmhlich erarbeitet und mhsam „errungen“ worden war (MA II, VM 219). Dann vollbrachte das Christentum, „welches sich nicht an Vçlker sondern an Menschen wendete und deshalb gar kein Arg dabei hatte, den 547 Nietzsche nimmt in JGB 239 darauf Bezug. Eine unter anderen mçglichen Etymologien fhrt den Namen ,Europa‘ auf gr. ,eqq}r, weit‘ und ,ex, Sicht, Gesicht‘ zurck, so dass er – ganz im Sinn Nietzsches – bedeutete ,die mit der weiten Sicht‘. 548 MA II, WS 215. Vgl. MA I 265 („Anhngsel Asiens“) und JGB 52 („das alte Asien und sein vorgeschobenes Halbinselchen Europa“). 549 Vgl. N 1878, 33[9], KSA 8.566: „Was ist denn Europa? – Griechische Cultur aus thrakischen phçnizischen Elementen gewachsen, Hellenismus Philhellenismus der Rçmer, ihr Weltreich christlich, das Christenthum Trger antiker Elemente, von diesen Elementen gehen endlich die wissenschaftlichen Keime auf, aus dem Philhellenismus wird ein P h i l o s o p h e n t h u m: so weit an die Wissenschaft geglaubt , geht jetzt Europa. Das Rçmerthum wurde ausgeschieden, das Christenthum abgeblaßt. Wir sind nicht weiter als Epikur: aber seine Herrschaft ist unendlich verbreiteter – Hellenisirung in vierfacher Vergrçberung und Verungrndlichung.“
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12. Deutsche Philosophie in europischer Perspektive. Nr. 357
Menschen der indogermanischen Rasse das Religionsbuch eines semitischen Volkes“, die Bibel, „in die Hand zu geben“, eine erstaunliche Integrationsleistung ber alle Vçlker- und Rassengrenzen hinweg: Erwgt man aber welche Anstrengungen das nichtsemitische Europa gemacht hat, um diese fremdartige kleine jdische Welt sich recht nahe ans Herz zu legen, sich ber nichts darin mehr zu wundern, sondern sich nur ber sich selbst und seine Befremdung zu wundern – so hat vielleicht in nichts Europa sich so sehr selbst berwunden wie in dieser Aneignung der jdischen Litteratur. Das jetzige europische Gefhl fr die Bibel ist der grçßte Sieg ber die Beschrnktheit der Rasse und ber den Dnkel daß fr jeden eigentlich nur das werthvoll sei, was sein Großvater und dessen Großvater gesagt und gethan haben. Dieses Gefhl ist so mchtig, daß wer sich jetzt frei und erkennend zur Geschichte der Juden stellen will, erst viele Mhe nçthig hat, um aus der allzugroßen Nhe und Vertraulichkeit herauszukommen und das jdische wieder als fremdartig zu empfinden. (N 1880, 1[73], KSA 9.22)550
Der Erfolg Europas in der Verbreitung seiner Kultur weit ber seine geographischen Grenzen hinaus kçnnte sich der hier sichtbar werdenden Kraft zur religiçsen und moralischen Integration verdanken. Fr deren Dynamik schienen Nietzsche wiederum die Juden ausschlaggebend gewesen zu sein, auch wenn sie ihre eigene Religion aus ihr heraushielten. Sie, die „viel gefangen und unterworfen“ waren, notierte sich Nietzsche, kçnnten sich durch „einen Exceß von orientalischer Moralitt“ schadlos gehalten und darin ihr „Gelst der Unabhngigkeit“ ausgelebt haben: so bekamen sie eine unruhige, begehrliche, im Heimlichen sich schadlos haltende Phantasie, die Brutsttte jener sublimen anklgerischen Moralitt und jenes wilden Heroismus, der sich ebenso in der Hingebung an ihren Heerfhrer Gott als in der Verachtung gegen sich selbst kund giebt. Das Christenthum hat vermçge seiner jdischen Eigenschaften den Europern jenes jdische Unbehagen an sich selber gegeben, die Vorstellung von der inneren Unruhe als der menschlichen Normalitt: daher die Flucht der Europer vor sich selber, daher diese unerhçrte Thtigkeit; sie stecken Kopf und Hnde berallhin. […] Die Athener fhlten sich zwar als die unruhigsten Griechen: aber wie ruhig, wie voll von sich und anderen guten Dingen erscheinen sie neben uns! Sie wußten niemanden ber sich und brauchten sich selbst nicht zu verachten. (N 1880, 3[128], KSA 9.88 f.) 550 In JGB 263 heißt es dann: „Die Art, mit der im Ganzen bisher die Ehrfurcht vor der B i b e l in Europa aufrecht erhalten wird, ist vielleicht das beste Stck Zucht und Verfeinerung der Sitte, das Europa dem Christenthume verdankt: solche Bcher der Tiefe und der letzten Bedeutsamkeit brauchen zu ihrem Schutz eine von Aussen kommende Tyrannei von Autoritt, um jene Jahrtausende von D a u e r zu gewinnen, welche nçthig sind, sie auszuschçpfen und auszurathen.“
12.1. Die europische Perspektive
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Das aus seinen jdischen, griechischen und christlichen Wurzeln unruhig seine Kultur vorantreibende und ber seine geographischen Grenzen hinaus verbreitende Europa ist fr Europer die Perspektive und der Maßstab auch der Philosophie und Wissenschaft. Sie kçnnen diese Perspektive verschieben, erweitern und vervielfltigen, aber nicht verlassen. Nietzsche war sich dessen bewusst. Die „a l t e“ Frage „, w a s i s t d e u t s c h ? ‘“ im Blick auf die Philosophie, die Frage, was an der großen deutschen Philosophie deutsch sei, ignoriert den europischen Horizont. Nietzsche setzt die Frage in Gnsefßchen, sie ist nicht die seine, sondern war Richard Wagners Frage im Blick auf die Musik (12.2.); Nietzsche selbst hlt sie, gerade was „die eigentlichen Errungenschaften des philosophischen Gedankens, welche deutschen Kçpfen verdankt werden“, betrifft, fr beschrnkt (12.3.). Er entdeckt an Gedanken Leibniz’, Kants und Hegels wohl ,Deutsches‘, doch nur fr die „deutsche Selbsterkenntniss, Selbsterfahrung, Selbsterfassung“ eines, der lngst Europer geworden ist, nmlich seiner selbst (12.4.). Fraglich bleibt fr ihn, ob Schopenhauers unfrommes, undeutsches Bekenntnis zu seinem „unbedingten redlichen Atheismus“ europischen Rang hat (12.5.), nachdem sich „der Sieg des wissenschaftlichen Atheismus“ bereits als „gesammt-europisches Ereigniss“ vollzogen hatte (12.6.). Schopenhauers Anhngerschaft in Deutschland schien ihm jedenfalls zum Lachen (12.7.).
Nietzsches schriftstellerische Methoden: Inszenierung persçnlicher Entscheidungsprozesse im Philosophieren Perspektiven, ob europische oder deutsche, sind zuletzt die Perspektiven Einzelner von ihren Standpunkten aus und in ihren Horizonten. Nietzsche macht dies sichtbar, indem er Perspektiven erprobt, in FW 357 die europische und die deutsche Perspektive auf die deutsche Philosophie. Er wechselt in fnf durch Gedankenstriche getrennten Abschnitten des Aphorismus ([1]-[5]) sichtlich zwischen ihnen und inszeniert so einen persçnlichen Entscheidungsprozess. Dabei betont er seine Entscheidungen („Drfen wir sagen“, „Ja, ohne allen Zweifel“, „Ich glaube nicht“, „Oder htten etwa“, „Aber ich frage“). Im zweiten Abschnitt argumentiert er aus europischer (ist an Leibniz’, Kants, Hegels „Neuerungen“ „etwas Deutsches?“), im dritten aus deutscher Perspektive („fhlen wir“ „als Deutsche“). Doch so, wie er Leibniz, Kant und Hegel ,als Deutscher‘ versteht, hat man sie sonst in Deutschland nicht, hat nur Nietzsche sie verstanden, sein europischer Horizont hat sich schon gegen den deutschen durchgesetzt. Im vierten Abschnitt zieht er seine Folgerungen aus Scho-
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penhauers Atheismus, indem er ihn als „gesammt-europisches Ereigniss“, als „folgenreichsten Akt einer zweitausendjhrigen Zucht zur Wahrheit“ begreift. Im fnften Abschnitt schließt er daran eine Groteske an. Er verzichtet nun demonstrativ auf Argumente, trumpft nur noch mit seinen eigenen Perspektiven, seinen eigenen Entscheidungen zu diesen Perspektiven auf. Er fhrt im ganzen Aphorismus vor, wie sich ihm (scheinbar oder tatschlich) „alte“ Fragen neu stellen, wie ihm (vorlufige) Antworten kommen, die er dann neu in Frage stellt, mit offenem Ausgang auch fr ihn selbst, und wie dabei seine Stimmungen wechseln. So nçtigt er die Leser, sich seinen Entscheidungen zu stellen und selbst zu urteilen. Am ußersten fordert er dazu mit der eingeschalteten, heute besonders aufschreckenden Parenthese heraus „(– alle Juden werden ssslich, wenn sie moralisiren)“. Nietzsche setzt, wie sich zeigen wird (NSM 16), Parenthesen immer wieder gezielt so ein. Viele, wohl die meisten seiner Zeitgenossen werden der Bemerkung spontan zugenickt haben, heute werden die meisten mit Abscheu reagieren. Alle aber werden sich an dieser Stelle entschieden haben, sei es zum Beipflichten, sei es zum Widerspruch, jedoch unwillkrlich. Indem er seine Entscheidungsprozesse inszeniert, macht Nietzsche auf Entscheidungsprozesse auch beim Leser aufmerksam.551
12.2. Wagners Problem „Was ist deutsch?“ Die Frage Was ist deutsch? ist darum ein „a l t e s P r o b l e m“, weil es Richard Wagner jahrelang umgetrieben hatte: auf Drngen seiner Anhnger hatte er 1878 die Frage schließlich in einer Schrift mit diesem Titel beantwortet. Sie erschien in den Bayreuther Blttern, dem Organ der Bewegung, die sich um ihn gesammelt hatte und die, wie Wagner selbst, fr ihren Nationalismus und Antisemitismus berchtigt war.552 Er teile, heißt es dort, den „Schluß“ aus seinen grndlichen berlegungen als sein „letztes Wort im Betreff des angeregten, so traurig ernsten Themas“ mit. Er spricht 551 Vgl. schon FW 348/5.2.2. und FW 349/5.3.2. 552 Wagner, Was ist deutsch?, 29 – 42 (vgl. den Hinweis Montinaris in KSA 14.180, und Sautet, Notes, 518, Fn. 418). Wagner hatte, teilt er in einer Vorbemerkung mit, „bei einer neuerlichen Untersuchung“ seiner Papiere ein Manuskript aus dem Jahr 1865 „in zerstckelten Abstzen“ vorgefunden, das er nun auf Wunsch des Herausgebers der Bayreuther Bltter, Hans von Wolzogen, „fr unsre ferneren Freunde des Patronatsvereins zu bergeben [s]ich bestimmt habe“. Der Gesamtausgabe seiner Schriften (zuerst 1871 – 1873) habe er die Schrift, der Schwierigkeit des Themas wegen, sich dennoch nicht „beizugeben […] getraut“.
12.2. Wagners Problem „Was ist deutsch?“
361
mit der Autoritt des ,Meisters‘. Er will nicht bloßer „Verehrung“ des Deutschen Ausdruck geben, sondern erhebt den Anspruch, die „Bedeutung“ des Deutschen wissenschaftlich zu „untersuchen“, „auf geschichtlichem Wege“ im Anschluss an die „neuesten und grndlichsten Forschungen“ von Jakob Grimm (30). Seine Schrift ist jedoch weit entfernt davon, „vorurtheilsfrei“ (31) zu sein. Dabei ist ihr Duktus dem Nietzsches in vielem durchaus nah: auch Wagner spricht ganz aus eigenem Recht, fhrt seine Begriffe gleitend ein, ldt sie schrittweise pathetisch auf, um sie schließlich superlativisch zu bersteigern, auch er versteht seinen Text gekonnt dramaturgisch aufzubauen, auch er personalisiert, auch seine Prosa-Schriften sind, so Nietzsche in einem Notat, „im Sprech-stil, nicht im Schreibstil geschrieben“ (N 1875, 11[32], KSA 8.221).553 Die Antwort, die Wagner am Ende auf die gestellte Frage gibt, ist, fr einen Musiker naheliegend, ansonsten berraschend, der Name eines Musikers: „Sebastian Bach“.554 „Bach’s Geist“ sei „der deutsche Geist“, er vor allem andern zeige, „dass das Schçne und Edle nicht um des Vortheils, ja selbst nicht um des Ruhmes und der Anerkennung willen in die Welt tritt: und Alles was im Sinne dieser Lehre gewirkt wird, ist ,deutsch‘, und deshalb ist der Deutsche gross; und nur was in diesem Sinne gewirkt wird, kann zur Grçsse Deutschlands fhren.“ (38) In den Mittelpunkt seiner ,geschichtlichen Untersuchung‘ stellt Wagner die Reformation und den ihr folgenden Dreißigjhrigen Krieg. Zwar habe er Deutschland schwer verwstet, den „deutschen Geist“ aber 553 Vgl. MA II, WS 110, und dazu Masini, Rhythmisch-metaphorische ,Bedeutungsfelder‘, 282. 554 Ohne „Johann“: Der Name Sebastian stammt aus dem Griechischen sebast|r, (,verehrungswrdig‘), der Name Johannes aus dem Hebrischen (,Gott ist gndig‘). – Nietzsche redet nach Recherchen von Andreas Rupschus an zwei Stellen Bach mit Vornamen an und beides Mal mit „Sebastian“, ebenfalls ohne „Johann“ (WS 149, KSA 2.614, und N 1885, 34[42], KSA 11.433 / N VII 1, S. 167). Wagner selbst, obwohl er Bach hufiger als Nietzsche mit Vor- und Nachnamen schreibt, scheint ihn nie „Johann Sebastian Bach“ zu nennen, sondern immer nur „Sebastian Bach“. Nietzsche hat die Angewohnheit wohl von Wagner bernommen. Dass Wagner mit dem Weglassen von „Johann“ eine antisemitische Spitze verband, ist unsicher; er sprach Bach so schon vor seiner ,antisemitischen Wende‘ um 1850 an. Im 19. Jahrhundert waren beide Varianten blich. Vgl. etwa Emil Naumann, Deutsche Tondichter von Sebastian Bach bis auf die Gegenwart, 5.[, unvernderte] Aufl., Berlin 1882, der Bach im Titel wohl „Sebastian“, im Buch selbst aber durchgngig von „Johann Sebastian“ nennt. hnliches gilt von der großen Biographie von Carl Hermann Bitter, Johann Sebastian Bach, 2 Bde., Berlin 1865, und von E. Heinrich, Johann Sebastian Bach. Ein kurzes Lebensbild, Berlin 1885.
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12. Deutsche Philosophie in europischer Perspektive. Nr. 357
auch gestrkt, indem er ihn nach innen gewandt, in das „tiefste Innere“, das „innigste Innere“ versenkt habe (37). Und dieses „innerlichste Leben des deutschen Geistes“, verkçrpert durch Bach, setze Deutschland nun instand, alles „Fremde, ursprnglich ihm Fernliegende, in hçchster objektiver Reinheit der Anschauung zu erfassen und sich anzueignen“ (32), es mache „den Deutschen“ zur „Wiedergebung des Reinmenschlichen“ (33) fhig. Schon dem Wortsinn nach sei „das Deutsche“ das „unsrem Boden Entsprossene“ und diesem Boden Treue, kurz die „Urheimath“ (30). Das „Reinmenschliche“ ist nach Wagner im deutschen Boden beheimatet. Zwischen den noch leidlich ,historisch‘ zu nennenden Abschnitt und das mit Bach, „dem einzigen Horte und Neugebrer des deutschen Geistes“ (38), ausklingende Deutschen-Idyll schiebt Wagner unvermittelt einen Abschnitt ber „die Juden“ ein. Sie seien ein „allerfremdartigstes Element“, das „in das deutsche Wesen“ eingedrungen sei (34). Eben weil es das „deutsche Wesen“ sei, „sich auf den weltlichen Vortheil nicht zu verstehen“ (38), kçnne „der Jude“ es „ausbeuten“, kçnne er „die deutsche Geistesarbeit in seine Hand“ nehmen und dem Deutschen „ein widerwrtiges Zerrbild“ von sich zurckgeben (35). Die Juden seien die grçßte Gefahr fr die Deutschen und, weil die Deutschen das „Reinmenschliche“ vertrten, nicht nur fr sie, sondern fr die „schçnsten Anlagen des menschlichen Geschlechts“ berhaupt, die durch sie „vielleicht fr immer ertçdtet“ wrden (35). Eben weil der „deutsche Geist“ so offen fr alles „Fremde“ sei, sei er durch die Juden einem „schmachvollen Untergange“ geweiht (35), wrde er nicht durch entschiedene Anstrengungen davor bewahrt. Das „Gedeihen“ des „wahrhaftigen deutschen Wesens“ msse darum das Ziel einer „wahrhaft deutsch zu nennenden Politik“ sein (32). Wagner braucht die Juden und missbraucht sie, um den Deutschen eine nationale Identitt zu geben, die eine bernationale, universale sein soll, und eine welthistorische Aufgabe, die sie, unter hçchster Gefahr, zu Erlçsern der Menschheit machen wird. Nationale Typisierungen sind gebruchlich, seit es so etwas wie Nationen gibt, auch als ,nationes‘ noch bloße Herkunfts- und Sprachgemeinschaften im Ausland waren. Erfahrungen des Fremden fordern auch hier heraus, es zur Beruhigung irgendwie auf Bekanntes zurckzufhren.555 Doch an Wagners Schrift ging Nietzsche spter fast alles gegen den Strich: die Verherrlichung ,des Deutschen‘, das berspringen des europischen Horizonts, die Ausschweifung ins ,Reinmenschliche‘, der offene Antisemitismus. Hatte Wagner ein Problem mit den
555 Vgl. FW 355/10.3.
12.2. Wagners Problem „Was ist deutsch?“
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Juden, so hatte der sptere Nietzsche sein Problem mit Wagner und – auch deshalb – mit den Deutschen.556 Auch der sptere Nietzsche hat sich an nationalen Typisierungen beteiligt, ihnen unter anderem in JGB ein ganzes Hauptstck „Vçlker und Vaterlnder“ gewidmet. Es beginnt noch einmal mit Richard Wagner, seiner Ouvertre zu den Meistersingern, die er „ein rechtes chtes Wahrzeichen der deutschen Seele“ nennt, die, so schreibt er nun, „zugleich jung und veraltet, bermrbe und berreich noch an Zukunft ist.“ (JGB 240) Reich an Zukunft ist der europische Horizont. In ihm „vollzieht sich ein ungeheurer p h y s i o l o g i s c h e r Prozess, der immer mehr in Fluss gerth, – der Prozess einer Anhnlichung der Europer, ihre wachsende Loslçsung von den Bedingungen, unter denen klimatisch und stndisch gebundene Rassen entstehen, ihre zunehmende Unabhngigkeit von jedem b e s t i m m t e n milieu, das Jahrhunderte lang sich mit gleichen Forderungen in Seele und Leib einschreiben mçchte, – also die langsame Heraufkunft einer wesentlich bernationalen und nomadischen Art Mensch, welche, physiologisch geredet, ein Maximum von Anpassungskunst und -kraft als ihre typische Auszeichnung besitzt“, kurz der „Prozess des w e r d e n d e n E u r o p e r s“ (JGB 242). Die Deutschen sind „als ,Volk der Mitte‘“ in besonderem Maß „ein Volk der ungeheuerlichsten Mischung und Zusammenrhrung von Rassen“, sind deshalb „unfassbarer, umfnglicher, widerspruchsvoller, unbekannter, unberechenbarer, berraschender, selbst erschrecklicher, als es andere Vçlker sich selber sind“, und deshalb, nicht weil sie rein und edel sind, haben sie entwickelt, was man „die deutsche Tiefe“ nennt. Die deutsche Seele, so Nietzsche, hat „Gnge und Zwischengnge in sich, es giebt in ihr Hçhlen, Verstecke, Burgverliesse“ (so sprach er sonst von Sokrates557). Alles wachse bestndig, „,Entwicklung‘“ sei darum „der eigentlich deutsche Fund und Wurf im grossen Reich philosophischer Formeln“. Aber dieses Tiefe, das sich jeder Definition entziehe, kçnne ebensogut auch Tuschung sein (so sprach Nietzsche sonst vom Sein558). Und eben weil die Deutschen sich selbst so schwer fassbar seien, sterbe bei ihnen auch die Frage ,was ist deutsch?‘ niemals aus (JGB 244). In der Mitte Europas waren die Deutschen, kçnnte das bedeuten, zu einem besonders tiefschrfenden Philosophieren gençtigt und, wenn nach FW 354 sich aus Nçten mit der Zeit auch Fhigkeiten zu deren Bewltigung entwickeln, auch zu einem solchen Philosophieren besonders befhigt. Die Philosophen bringt Nietzsche in diesem Zusammenhang jedoch vorerst nur am Rande zur Sprache. Die „unzweideutigsten Anzeichen“, „dass E u r o p a E i n s w e r d e n w i l l“, sind vielmehr, so schließt er das Hauptstck, dass „alle tieferen und umfnglicheren Menschen dieses Jahrhunderts“ „versuchsweise den Europer der Zukunft vorwegnehmen“, und das sind fr ihn Staatsmnner, Musiker, Dichter, Maler (in dieser Reihenfolge: Napoleon, Goethe, Beethoven, Stendhal, Heine, Wagner, Delacroix, Balzac) und daneben ein Philosoph, Schopenhauer. Was Wagner betrifft, so mssten seine „deutschen Freunde“ „darber mit sich zu Rathe gehn“ (JGB 256).
556 Vgl. Rupschus, Nietzsche und sein Problem mit den Deutschen. 557 Vgl. N 1885, 34[66], KSA 11.440 / N VII 1, S. 153. 558 Vgl. GM II 12.
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[1] Erst in FW 357 stellt Nietzsche die Frage ,was ist deutsch?‘ im Blick auf die großen Philosophen – und stellt die Frage sogleich selbst in Frage: Kann man hier „in irgend einem erlaubten Sinne“ verallgemeinern? Was wren die „Symptome“, die Anhaltspunkte dafr? Muss man da nicht zu so zweifelhaften Begriffen greifen wie „Rasse“ und „,Seele‘“? Und da es um große Philosophen gehen soll: was wre hier als allgemeine Regel, was als „A u s n a h m e“ zu verstehen? Den Begriff „Rasse“ gebraucht Nietzsche noch unbefangen; er hat fr ihn nicht den rassistischen Sinn, den er zu seiner Zeit allmhlich erhielt.559 Der Rassen-Diskurs war zu seiner Zeit gngig, und ,Rasse‘ musste noch nicht einmal ethnisch verstanden werden. So spricht Nietzsche in JGB etwa von „lateinischen Rassen“ (JGB 48), „arbeitsamen Rassen“ (JGB 189), einer „Rasse von ehemaligen Puritanern“ (JGB 228) und selbst von „philosophischer Rasse“ (JGB 252).560 Die Rede von der „,deutschen Seele‘“ oder der „,griechischen Seele‘“ setzt Nietzsche nun in Gnsefßchen. Ist bei ,Rasse‘ an physiologische Bindungen gedacht, so bei ,Seele‘ an mentale; beide verweisen wiederum, nach Nietzsches Heuristik der Not, auf schwer zu erratende „B e d r f n i s s e“ (5.3.1.). Beide Kennzeichnungen waren, 559 Vgl. den genauen philologischen Nachweis bei Schank, „Rasse“ und „Zchtung“ bei Nietzsche. 560 Wagner verwendete in Was ist deutsch? und auch in seinem Pamphlet Das Judentum in der Musik von 1850, Ausdruck seines „unberwindlichen Widerwillens gegen jdisches Wesen“, den Rassebegriff noch nicht. In einer kleinen Schrift, die er unter dem Titel „Religion und Kunst“ zunchst separat, dann mit dem Untertitel „Erkenne dich selbst“ in den Bayreuther Blttern verçffentlicht hatte und die unter der berschrift „Zur Rassenfrage“ 1937 in den von Ernst Bcken hg. u. eingel. Hauptschriften bei Krçner in Leipzig wieder abgedruckt wurde, erçrterte er dann, ob eher reine oder gemischte Rassen „große Charaktere“ hervorbringen. Danach ist „der Jude das erstaunlichste Beispiel von Rassenkonsistenz, welches die Weltgeschichte noch je geliefert hat […]: er vermische sich mnnlich oder weiblich mit den ihm fremdartigsten Rassen, immer kommt ein Jude wieder zutage.“ (Wagner, Hauptschriften, 425) Der „deutschen Rasse“ dagegen gehe ein solcher „reiner Rasseninstinkt“ ab (426), sie fhle sich denn auch „nicht mehr als eine Rasse, als eine Abart der Menschheit, sondern als einen Urstamm der Menschheit selbst“ (427). In demselben Jahrgang der Bayreuther Bltter ließ Wagner jedoch einen zweiten Teil seiner „Ausfhrungen zu ,Religion und Kunst‘“ unter dem Titel „Heldenthum und Christenthum“ erscheinen. Dort behandelte er die ,Rassenfrage‘ auf erstaunlich antirassistische, nun christlich berhçhte Weise. So sei „beim berblick aller Racen die Einheit der menschlichen Gattung unmçglich zu verkennen“ (251). Das alle Rassen berbrckende Moment sei, so Wagner, das „Blut Jesu“, das auch den „niedrigsten Racen“ zu „gçttlichster Reinigung“ verhelfen kçnne – selbst den Juden (256 f.). Borchmeyer/Figl, Art. Das Judentum, 176, kommen daher zu dem Schluss: „Wagner war Antisemit, aber kein Rassist“.
12.2. Wagners Problem „Was ist deutsch?“
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ohne dass sie sich mit bestimmten Anhaltspunkten verknpfen und scharf abgrenzen ließen, damals noch zur Orientierung hilfreich.561 ,Seele‘ war seit der antiken Philosophie der Begriff fr das, was ein Lebendiges leben lsst, das Prinzip des Lebens; daran konnten, aber mussten sich nicht Spekulationen ber die ,Unsterblichkeit der Seele‘ anschließen.562 Nietzsche verteidigt den Begriff jenseits allen „Seelen-Aberglaubens“ (JGB Vorrede): „Es ist, unter uns gesagt, ganz und gar nicht nçthig, ,die Seele‘ selbst dabei los zu werden und auf eine der ltesten und ehrwrdigsten Hypothesen Verzicht zu leisten: […] der Weg zu neuen Fassungen und Verfeinerungen der Seelen-Hypothese steht offen: und Begriffe wie ,sterbliche Seele‘ und ,Seele als Subjekts-Vielheit‘ und ,Seele als Gesellschaftsbau der Triebe und Affekte‘ wollen frderhin in der Wissenschaft Brgerrecht haben.“ (JGB 12) Man redet von ,Seele‘ immer noch dort, wo das Verhalten eines Lebewesens etwas zu verraten scheint, das es ,beseelt‘, das dem Verhalten Sinn gibt, ohne dass man dieses ,etwas‘ hinreichend fassen kçnnte; denn es muss zumindest ebenso komplex sein wie das Lebewesen selbst. So schreibt man auch Vçlkern eine Seele gerade dann zu, wenn ihr Nationalcharakter, sofern man berhaupt davon sprechen will, besonders schwer fassbar ist, und das galt nach Nietzsche fr den griechischen, den deutschen und den russischen, weniger dagegen fr den englischen und franzçsischen (vgl. JGB 252 – 254); hier spricht er nur ausnahmsweise von ,Seele‘ (vgl. FW 37). Doch er bringt auch schon eine „S e e l e E u r o p a ’ s“ ins Spiel (JGB 245, vgl. JGB 254). In jedem Fall sind solche Seelen wandelbar und besonders eben die deutsche. Darum sollte man, so Nietzsche schon in MA, „die theoretische Frage: was i s t deutsch? sofort durch die Gegenfrage verbessern: ,was ist j e t z t deutsch?‘ – und jeder gute Deutsche wird sie practisch, gerade durch Ueberwindung seiner deutschen Eigenschaften, lçsen. […] Der also, welcher den Deutschen wohl will, mag fr seinen Theil zusehen, wie er immer mehr aus dem, was deutsch ist, hinauswachse“; gerade die Deutschen mssten sich, so Nietzsche contra Wagner, „e n t d e u t s c h e n“ (MA II, VM 323). Dies sollte ihnen umso mehr angesichts der „Widerspruchs-Natur im Grunde der deutschen Seele“ mçglich sein, die Nietzsche dann in JGB 244 geltend macht. In der neuen Vorrede zu M, wo die deutsche Seele noch nicht zwischen Gnsefßchen steht, charakterisiert er sie direkt durch den Hang zur paradoxen Logik des Glaubens, des ,credo quia absurdum est‘ (,ich glaube, weil es unvernnftig ist‘), den er wiederum bei Hegel wiederfindet und der sich durch ihn in ganz Europa durchgesetzt habe (M Vorrede 3).
Mehr als „Symptome“ hat man daran jedoch nicht. Sie kçnnten, an Philosophien und Philosophen festgemacht, gar nicht Bedrfnissen von Vçlkern entsprechen, auch nicht denen der ,deutschen Seele‘. Philosophen und zumal große Philosophen kçnnten die Regel, ihr Grund und ihr Maßstab sein, aber ebensogut auch die Ausnahme von ihr, so wie Goethe und Bismarck, die fraglos zu den grçßten Deutschen gerechnet wurden, 561 Inzwischen nennt man solche indefiniten Ausdrcke „generische Kennzeichnungen“. Vgl. Heyer, Generische Kennzeichnungen. 562 Vgl. Ricken u. a., Art. Seele.
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12. Deutsche Philosophie in europischer Perspektive. Nr. 357
mit dem „guten Gewissen“ fr sein „Heidenthum“ der eine, fr seinen „Macchiavellismus“ der andere, bloße Ausnahmen sein kçnnten.563 So wird gerade im Blick auf die Philosophie die Frage ,was ist deutsch?‘ fragwrdig.
12.3. Deutsche Errungenschaften in der europischen Philosophie [2] Sie wre die Frage: ,gibt es etwas, das man an der von Deutschen erdachten und im europischen Maßstab bedeutsamen Philosophie deutsch nennen kçnnte?‘, in Nietzsches Worten: „waren die deutschen Philosophen wirklich – philosophische D e u t s c h e?“ Er hlt sich an drei „Flle“ von Deutschen, die fraglos in der europischen Philosophie großes Gewicht haben: Leibniz, Kant und Hegel, und einen nun fraglichen: Schopenhauer. „Zwischen Leibnitz und Schopenhauer“, hatte er vorab notiert, hat „D den ganzen Kreis origineller Gedanken ausgedacht“ (N 1885/86, 2[6], KSA 12.69 / W I 8, S. 274). In FW 357 redet er von „Errungenschaften“. ,Errungenschaft‘ ist ein fr Nietzsche berraschendes Wort. Es klingt nach „Fortschritt der Mh“ (N 1885/86, 2[195], KSA 12.162 / W I 8, S. 43) auf ein vorgegebenes Ziel hin, der schrittweise zu erkmpfen und festzuhalten sei; seit Nietzsches Zeit wurde es gerne von sozialistischen Vorkmpfern gebraucht. Er verbindet es wie sie mit schwer erkmpften berwindungen, er jedoch, ohne eine gewisse Zukunft in Aussicht zu stellen. Eine „Errungenschaft“ ist in seinem Sprachgebrauch etwas, das man sich „mhsam“ und unter Umstnden „mit dem hçchsten Wagniß“, also unter Nçten „erkmpft“ hat und das man deshalb nicht „wieder fahren lassen“, sondern nun „festhalten“ will. Das kann von Einzelnen ebenso wie vom „Menschen“ berhaupt oder der „Menschheit“ im Ganzen gelten.564 563 Vgl. FW 103: „Goethe der Ausnahme-Deutsche“. 564 BA, KSA 1.691; N 1875, 9[1], KSA 8.164; N 1880, 3[122], KSA 9.86. Vgl. auch HL 9, KSA 1.317; MA I 26 und 248; N 1877, 23[46], KSA 8.421. Im çffentlichen Werk spricht Nietzsche betont auch von den Errungenschaften Einzelner, darunter seinen eigenen. Vgl. GM II 2 und EH Vorwort 3. Zu den Errungenschaften der Menschheit oder des Menschen vgl. GM II 12, III 3 und III 25, zu denen des „jdischen Volkes“AC 27 („die mhsam errungene l e t z t e Mçglichkeit, brig zu bleiben“).
12.3. Deutsche Errungenschaften in der europischen Philosophie
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Eine philosophische Errungenschaft ist dann ein „Sieg“ ber eine berzeugung, die das Denken bisher beherrscht hat, seine „Selbstberwindung“565 oder, sofern das Denken am strksten von moralischen berzeugungen beherrscht wird, ein Sieg ber das „Gewissen“. Den Begriff ,Gewissen‘ gebraucht Nietzsche in FW 357 acht Mal. Einsichten, die sich gegen das Gewissen durchsetzen mssen, sind nach Nietzsche die „schwersten“, und er fhrt den Aphorismus auf einen „endlich und schwer errungenen Sieg des europischen Gewissens“ hinaus, der erst das „gute Gewissen“ eines Goethe oder Bismarck ermçglicht haben kçnnte. 12.3.1. Leibniz Auf Leibniz’ Errungenschaft, in der „Bewusstheit nur ein Accidens der Vorstellung“ zu sehen, „n i c h t deren nothwendiges und wesentliches Attribut, dass also das, was wir Bewusstsein nennen, nur einen Zustand unsrer geistigen und seelischen Welt ausmacht (vielleicht einen krankhaften Zustand) und b e i w e i t e m n i c h t s i e s e l b s t“, hat Nietzsche schon in FW 354 hingewiesen (9.2.); im neuen Kontext greift er wieder auf den Begriff der ,Bewusstheit‘ aus FW 11 zurck (9.3.). Um nun aber zu prfen, ob an dieser Annahme „etwas Deutsches“ sei, stellt er das Lateinische dagegen („Giebt es einen Grund zu muthmaassen, dass nicht leicht ein Lateiner auf diese Umdrehung des Augenscheins verfallen sein wrde?“). Den Grund gibt er nicht mehr an; es drfte der sein, den er schon im ersten Hauptstck von JGB namhaft gemacht hat. Dort hatte er den Ursprung von Descartes‘ erster „,unmittelbarer Gewissheit‘“ des „,ich denke‘“ in einer „Verfhrung der Worte“ vermutet. Sie setze erstens schon voraus, „dass berhaupt ein Etwas es sein muss, das denkt,“ zweitens, „dass Denken eine Thtigkeit und Wirkung seitens eines Wesens ist, welches als Ursache gedacht wird,“ drittens, „dass es ein ,Ich‘ giebt,“ viertens, „dass es bereits fest steht, was mit Denken zu bezeichnen ist, – dass ich w e i s s, was Denken ist.“ Damit stellten sich „recht eigentliche Gewissensfragen des Intellekts, welche heissen: ,Woher nehme ich den Begriff Denken? Warum glaube ich an Ursache und Wirkung? Was giebt mir das Recht, von einem Ich, und gar von einem Ich als Ursache, und endlich noch von einem Ich als 565 Vgl. schon GT 18, KSA 1.118: „Der ungeheuren Tapferkeit und Weisheit K a n t ’ s und S c h o p e n h a u e r ’ s ist der schwerste Sieg gelungen, der Sieg ber den im Wesen der Logik verborgen liegenden Optimismus, der wiederum der Untergrund unserer Cultur ist.“
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Gedanken-Ursache zu reden?‘“ Solche „verwegenen Behauptungen“ (JGB 16) legt, so Nietzsche, die Grammatik der indoeuropischen Sprachen nahe, ihre „Gewohnheit“, jeden Vorgang als Ttigkeit eines Tters zu fassen (JGB 17). Das komme Schlssen gleich vom Vorgang des Blitzens auf etwas, das blitzt, vom Vorgang des Donnerns auf etwas, das donnert, vom Vorgang des Regnens auf etwas, das regnet; nur als „Philosophie der Grammatik“ sei das unmittelbar plausibel (JGB 20/9.7.). Indoeuropische Sprachen sind jedoch das Deutsche und das Lateinische, und Leibniz schrieb ebenso leicht lateinisch und franzçsisch wie deutsch. Hat hier das Deutsche dennoch dem Lateinischen etwas voraus? Kçnnte Leibniz’ Muttersprache seinen Argwohn gegen das Bewusstsein erweckt haben? Vielleicht ja: Descartes kçnnte deshalb so leicht von der ,Ttigkeit‘ des Denkens auf einen ,Tter‘, eine ,Substanz‘ des Denkens, geschlossen haben, weil im Lateinischen das Tun (,cogito‘, ,ich denke‘) durch eine bloße nderung des Suffix in das Partizip (,cogitans‘, ,denkend‘) und damit in eine Eigenschaft bergeht, die in den indoeuropischen Sprachen dann unwillkrlich zum Akzidens einer Substanz (der ,res cogitans‘) wird. Das Deutsche hingegen unterbricht diese scheinbar ,notwendige Verbindung‘ durch ein ,es‘ als ,Tter‘, das seinerseits unfassbar bleibt (,es blitzt‘, ,es donnert‘, ,es regnet‘). Hinter dem ,es‘ verbirgt sich offensichtlich keine Substanz, sondern nichts. Dieses nichtssagende ,es‘ kçnnte Leibniz stutzig gemacht und seine „Umdrehung des Augenscheins“ ausgelçst, die cartesische Evidenz in Frage gestellt haben, die seiner jeweiligen Bewusstheit, nach Leibniz einem nur vorbergehenden Zustand (tat passager566), ein dauerndes Bewusstsein vorspiegelte. Das deutsche ,es‘ (das Freud dann zum Terminus fr das vom Bewusstsein Unerreichbare machen sollte) kçnnte den Spielraum fr „eine A u s l e g u n g des Vorgangs“ gelassen haben, den die lateinische Sprache nicht zum Ausdruck bringt (JGB 17). 12.3.2. Kant Nietzsche greift als ,Errungenschaft‘ Leibniz’ nur diesen einen philosophischen Gedanken auf, lsst seine Metaphysik, in die er eingebunden ist, beiseite, erçrtert auch nicht, welchen (in der Tat grundlegenden) Belang er fr sie hat.567 Aber auch an dieser Metaphysik, hatte er zuvor notiert, kçnnte ,etwas Deutsches‘ sein: Leibniz wurde mit ihr „typisch d e u t s c h: 566 Leibniz, Monadologie, § 14 (Gerhardt 6.608). 567 Vgl. Stegmaier, Substanz, 155 – 195, bes. 184.
12.3. Deutsche Errungenschaften in der europischen Philosophie
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gutmthig, voll edler Worte, listig, geschmeidig, schmiegsam, ein Vermittler (zwischen Christenthum und der mechanistischen Weltansicht)“ und dies „ungeheuer verwegen fr sich, verborgen unter einer Maske und hçfisch-zudringlich, anscheinend bescheiden“ (N 1884, 26[248], KSA 11.215). Kant achtete Nietzsche eben dafr, dass er ber Leibniz’ verfhrerische Metaphysik „hinwegkam und das Beste vom vorigen Jh., den Sensualismus festhielt“ (N 1885, 34[116], KSA 11.459 / N VII 1, S. 113). Er hat sich mit Kant oft und scharf auseinandergesetzt, seiner Philosophie aber auch ganz neue Seiten abgewonnen.568 Im V. Buch der FW erwhnt er ihn nur hier (und noch einmal beilufig als Vertreter seines Zeitalters in FW 370). Es geht Nietzsche auch bei Kant nicht um dessen Philosophie als ganze, sondern nur um einen (aber wiederum zentralen) Gedanken, sein „ungeheures Fragezeichen, welches er an den Begriff ,Causalitt‘ schrieb“. Nietzsche versteht Kant entgegen dem Trend des 19. Jahrhunderts nicht als Erkenntnistheoretiker, nicht als einen, der endlich eine positive und haltbare Theorie der alltglichen und wissenschaftlichen Erkenntnis geliefert htte,569 sondern setzt ganz auf seine „vorsichtige“ Kritik, seine „Grenzabsteckung“, seine Leitfrage nach den ,Bedingungen der Mçglichkeit‘. So behauptete Kant weder die Kausalitt in der Natur noch negierte er sie, sondern zeigte, ebenfalls mit „resoluten Umkehrungen der gewohnten Perspektiven und Werthungen“, wie Nietzsche in GM III 12 schreiben wird, wie sie gegen Humes berechtigte skeptische Intervention dennoch denkbar wre: als bloße Kategorie, durch die der menschliche Verstand den ,Inhalten‘ sinnlicher Affekte eine begriffliche ,Form‘ gibt. Die sinnlichen Affekte sind dann zugleich die Auslçser, die den Verstand und seine Kategorien berhaupt ins Spiel bringen. Damit kommt wie fr Leibniz die Bewusstheit auch fr Kant das Denken als „die Handlung, gegebene Anschauung“ durch Begriffe „auf einen Gegenstand 568 Zum ersteren vgl. zuletzt Green, Nietzsche and the Transcendental Tradition; Hill, Nietzsche’s Critiques; Riccardi, „Der faule Fleck des Kantischen Kriticismus“, zum letzteren vor allem Friedrich Kaulbach und Josef Simon. Beide haben aus Nietzsches kritischem Verhltnis zu Kant sowohl Nietzsche als auch Kant neu zu verstehen gelehrt. Vgl. Kaulbach, Autarkie der perspektivischen Vernunft bei Kant und Nietzsche; Kaulbach, Perspektivismus und Rechtsprinzip in Kants Kritik der reinen Vernunft; Kaulbach, Philosophie des Perspektivismus; Simon, Die Krise des Wahrheitsbegriffs als Krise der Metaphysik; Simon, Aufklrung im Denken Nietzsches; Simon, Das neue Nietzsche-Bild; Simon, Moral bei Kant und Nietzsche. Kritisch gegen Nietzsche bleibt Grau, Wille zur Macht oder Wille zur Wahrheit?. 569 Vgl. Kçhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus.
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zu beziehen“,570 nur gelegentlich ins Spiel und dies mit Bezgen, zu denen stets alternative denkbar bleiben. Denn nach Kant kann etwas jeweils als Substanz oder als Ursache oder als Pol einer Wechselwirkung interpretiert werden, Kategorien stehen jeweils zur Wahl.571 Und welche auch gewhlt wird, sie wird mit Nietzsches Worten immer nur eine ,Simplifikation‘ der ,unsglich anders komplizierten Wirklichkeit‘ sein.572 12.3.3. Hegel Neben Leibniz’ „unvergleichliche Einsicht“ und Kants „ungeheures Fragezeichen“ stellt Nietzsche Hegels „erstaunlichen Griff“, „als er zu lehren wagte, dass die Artbegriffe sich a u s e i n a n d e r entwickeln“. Auch Hegel, der im V. Buch der FW so stark prsent ist, wird nur hier und nur mit diesem (fraglos leitenden) Gedanken ausdrcklich genannt. Dadurch, dass er, der die Gemter und die Lehrsthle in Deutschland bis in die 60er Jahre des 19. Jahrhunderts hinein beherrschte, die ,Bewegung‘ oder ,Entwicklung‘ ,des Begriffs‘ gelehrt hatte, in einem ,System‘, das sich in einem ,notwendigen Fortgang‘ schließt und dabei wiederum seinen Anfang notwendig macht, und in seiner Geschichte der Philosophie und seiner Philosophie der Geschichte zeigen konnte, dass die Bewegung sich auch zeitlich so vollzog, hat er sicherlich „die Geister in Europa zur letzten grossen wissenschaftlichen Bewegung prformirt“, zur Bereitschaft, auch Darwins Evolutionstheorie zu folgen.573 Wo Hegel von Begriffen der ,Wissenschaft der Logik‘ sprach, musste man nur ,Artbegriffe‘ einsetzen, die sich auseinander entwickeln, freilich mit einem entscheidenden Abstrich: in der Evolution der biologischen Arten konnte gerade nicht mehr von einem ,notwendigen Fortgang‘ und darum auch nicht mehr von einem ,System‘ die Rede sein. Die ,Entwicklung‘ musste darum neu gedacht, die logische Notwendigkeit ihrerseits verzeitlicht, dem Wechsel stets zuflliger 570 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 247/B 304. 571 Vgl. Simon, Kant, 151, 157. 572 Vgl. N 1885, 34[249], KSA 11.505; N VII 1, S. 5 f.; N 1887, 9[62], KSA 12.369; W II 1, S. 95 f., u. 5.1.2. 573 Bei allen historischen Fraglichkeiten im Einzelnen kommt auch Mayr, Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt, 104 – 106, zu dem Schluss, „daß die Formulierung von Darwins Forschungsprogramm von der Philosophie beeinflußt war“. Der Hauptweg zu Darwin ist auch fr ihn (bzw. M. Mandelbaum, auf den er hier verweist) Hegels „Historizismus“. Ebenfalls wie Nietzsche bestreitet Mayr auch, dass es sich beim Evolutionsdenken um etwas spezifisch Deutsches handele.
12.4. Die deutsche Selbsterkenntnis des Europers Nietzsche
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Bedingungen ausgesetzt werden. Dazu war Hegel selbst nicht bereit; er hatte sich entschieden schon gegen die Lamarckschen Anfnge der Evolutionstheorie gewandt, whrend Kant sie als denkbar gelten ließ, der wiederum auf seinen unvernderlichen ,Formen‘ des Verstandes und der Anschauung bestand.574 So war es erst Nietzsche, der die ußerste philosophische Konsequenz aus Darwins Evolutionsgedanken wagte (5.3.2.). Whrend der Arbeit an JGB und FW V zog er dazu fr sich Bilanz: „Was uns ebenso von Kant, wie von Plato u. Leibnitz trennt: wir glauben an das Werden allein auch im Geistigen, wir sind historisch durch u durch. Dies ist der große Umschwung. Lamarck und Hegel – Darwin ist nur eine Nachwirkung. Die Denkweise Heraklits u. Empedokles ist wieder erstanden. Auch Kant hat {die contradictio in adjecto} ,reiner Geist‘ nicht berwunden: {wir aber}.“ (N 1885, 34[73], KSA 11.442 / N VII 1, S. 147; vgl. N 1885, 38 [14], KSA 11.613).
12.4. Die deutsche Selbsterkenntnis des Europers Nietzsche Die Frage ,was ist deutsch an der deutschen Philosophie‘ war, anders als man erwarten kçnnte, im national bewegten 19. Jahrhundert keineswegs verbreitet. Nicht nur Wagner stellte diese Frage nicht, auch die Philosophen des 19. Jahrhunderts stellten sie kaum und nicht mit Nietzsches Nachdruck. Nach Fichtes Reden an die deutsche Nation sollte zwar eine zukunftsweisende Philosophie in der „Noth“ der bedrckenden Gegenwart und der „Morgenrçthe der neuen Welt“ nur in der „lebendigen“ deutschen Sprache (im Gegensatz zur „toten“ franzçsischen) und also auch nur dem „Volke der lebendigen Sprache“ mçglich sein, sie selbst aber konnte, auch wenn nach Fichte die „Deutschheit“ ber allem stand und wie keine andere Nationalitt die „Hlle des Ewigen“ war, in ihrem universalen Wesen nicht national, also auch nicht deutsch sein.575 So befragte Fichte nicht wie Nietzsche die deutsche Philosophie im Einzelnen auf Anzeichen ihrer Deutschheit hin. Schelling warnte ausdrcklich davor, mit so etwas wie „der tieferen Gemths- und Geistesanlage“ der Deutschen zu argumentieren, die sie ihrer Sprache verdankten, denn 574 Vgl. Stegmaier, Die Zeitlichkeit des Lebendigen. 575 Fichte, Reden an die deutsche Nation, 283, 279, 325, 327, 266 u. 387. Nietzsche schauderte vor dem „Sumpfe von Anmaaßung, Unklarkeit und Deutschthmelei“, „{wie es die Reden an die D N sind}“, hnlich wie vor dem „letzten Wagner u. seinen Bayr. Blttern“ (N 1886, 1[196], KSA 12.55 / N VII 2, S. 62). Das Notat ging in eine ausfhrlichere Vorstufe zu JGB 244 ein (vgl. KSA 14.369 f.). Fichte war fr Nietzsche einer der „Prediger des Franzosenhasses“ (MA II, WS 216) mit „verlognen, aber patriotischen Schmeicheleien und bertreibungen“ (JGB 244). Dass ein Volk „Schiller und Fichte ernst genommen hat“, sprach nach Nietzsche nicht fr seine philosophische Begabung (N 1886/87, 5 [79], KSA 12.220 / N VII 3, S. 60).
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12. Deutsche Philosophie in europischer Perspektive. Nr. 357
die englische Sprache sei der deutschen ja nahe verwandt, und wenn die schweren Glaubenskmpfe die Deutschen dazu getrieben haben sollten, „die ußerlich verlorene Einheit innerlich auf dem Felde der Wissenschaft wiederherzustellen“, so ließe sich das hnlich von den Franzosen sagen. Wenn Philosophie nicht nur fr die Englnder, sondern auch fr die Franzosen inzwischen mehr eine Erfahrungs- als eine reine Vernunftwissenschaft sei, so kçnne man auch die in Deutschland vorangetriebene Beobachtung des „Innern“, die „Selbstbeobachtung“ oder den Ausgang von „Thatsachen des Bewusstseyns“ unter „Erfahrungswissenschaft“ fassen. In ihrem jeweiligen „nationellen“ Denken zeigten die Europer nur ihre Grenzen im Blick auf das universale Denken, das „bis jetzt noch nicht existirt“: „Die wahrhaft allgemeine Philosophie kann unmçglich das Eigenthum einer einzelnen Nation seyn, und solang irgend eine Philosophie nicht ber die Grenzen eines einzelnen Volks hinausgeht, darf man mit Zuversicht annehmen, daß sie noch nicht die wahre sey, wenn vielleicht auch auf dem Weg dazu.“ Der Weg dazu ist, so Schelling, der Austausch unter den Nationen.576 Nietzsche suchte seit langem eine europische Perspektive auf die deutsche Philosophie.577 Sie zeigte ihm bei „Schiller, Wilhelm von Humboldt, Schleier576 Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie, Abschnitt „ber den nationellen Gegensatz in der Philosophie“, zitiert 264, 266, 269. Vgl. dazu Gamm, Der Deutsche Idealismus, 260 f.: „Das Prdikat ,deutsch‘ enthlt keinen positiven oder affirmativen Bezug auf die Wesensnatur einer deutschen Eigentmlichkeit; seine [sc. Schellings] Reflexionen wiederholen vielmehr eine Denkfigur, die im Idealismus durch Hegel fast kanonisch geworden ist: Sie setzen ,das Deutsche‘ zum Moment herab und zielen auf einen Begriff von Philosophie, dessen Kosmopolitismus oder Internationalismus zufolge Philosophie erst vollendet wre, wenn sich die Menschheit in ihm wiederzuerkennen vermçchte.“ Zu Nietzsches zunchst respektvollem, dann immer kritischerem Verhltnis zu Schelling, von dem er freilich wenig, wenn berhaupt etwas gelesen hatte, vgl. Wilson, Schelling und Nietzsche (eine Quelle zu FW 357 bei Schelling nennt Wilson nicht). Brobjer, Nietzsche’s Philosophical Context, 46, hat als erste Quelle von Nietzsches Kenntnissen ber Schelling Karl Fortlage, Genetische Geschichte der Philosophie seit Kant, Leipzig 1852, ausgemacht, der auch Fichte, Schelling und Hegel behandelt; dieses Werk habe Nietzsche whrend seines Studiums in Bonn gelesen. – ,Nationalphilosophische‘Anklnge finden sich gelegentlich auch bei Kuno Fischer, den Nietzsche hufig konsultierte. Nach Nietzsche hatte seine in FW 357 gestellte Frage durchaus Konjunktur. Vgl. etwa Kroner, Von Kant zu Hegel, 1.10 („Die Geschichte beweist, daß es innerhalb des europischen Gesamtgeistes die besondere Mission des deutschen Volkes gewesen ist, alle großen Bewegungen in das Innere der menschlichen Seele hineinzuziehen und in der Tiefe des Gemtes ausschwingen zu lassen“); Wundt, Die Nationen und ihre Philosophie; Haering (Hg.), Das Deutsche in der deutschen Philosophie. Seither hat man die Frage tunlichst fallen lassen. 577 Schon in einem frhen Notat (N 1873/74, 30[20], KSA 7.739 f.) zu einer geplanten Schrift ber ,den Philosophen‘ (vgl. Montinari, Kommentar, KSA 14.544) nahm Nietzsche die Perspektive „der Auslnder“ auf das „,Volk der Denker‘“ ein. „An einer ausserordentlich çffentlichen Stelle“ (es handelt sich nach dem vor-
12.4. Die deutsche Selbsterkenntnis des Europers Nietzsche
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macher, Hegel, Schelling“, den deutschen Philosophen der „e h e m a l i g e n d e u t s c h e n B i l d u n g“, die „die Europer genarrt“ habe, nur „glnzende knochenlose Allgemeinheiten, nebst der Absicht auf ein Schçner-sehen-wollen in Bezug auf Alles (Charaktere, Leidenschaften, Zeiten, Sitten)“, „einen weichen, gutartigen, silbern glitzernden Idealismus“, der vor der „,kalten‘ oder ,trockenen‘ Wirklichkeit“ zurckscheue, die nur Goethe und dann Schopenhauer zu sehen wagten (M 190). Es kçnnte auch, erwog er 1885, „die verhaltene und lange aufgestaute F r ç m m i g k e i t der Deutschen“ gewesen sein, die ihren Ruf in Europa so steigerte, eine Frçmmigkeit, „welche in ihrer Philosophie endlich explodirte, unklar und ungewiß freilich, wie alles Deutsche, nmlich bald in pantheistischen Dmpfen, wie bei Hegel und Schelling, als Gnosis, bald mystisch und weltverneinend, wie bei Schopenhauer: in der Hauptsache aber eine christliche Frçmmigkeit, und nicht eine heidnische, – fr welche Goethe und vor ihm schon Spinoza so viel guten Willen gezeigt haben.“ (N 1885, 38[7], KSA 11.605) Man kçnnte, reflektierte Nietzsche weiter, die „deutsche Philosophie als Ganzes – Leibnitz, Kant, Hegel, Schopenhauer, {um die Großen zu nennen –}“ auch verstehen als „die grndlichste Art Romantik {und Heimweh}, die es bisher g{ab: das Verlangen nach Allem dem Besten, was jemals war} […]: {und das ist die griech. Welt! Aber freilich gerade dorthin sind} alle Brcken sind abgebrochen, – ausgenommen die Regenbogen der Begriffe!“ (N 1885, 41[4], KSA 11.678/W I 5, S. 40). In JGB schrieb er dann, „,die deutsche Philosophie‘“, mçge sie auch eine „ungeheure Wirkung“ in Europa ausgebt haben, sei doch nur eine Philosophie in „Gnsefsschen“ (NSM 10): „man war entzckt, unter edlen Mssiggngern, Tugendhaften, Mystikern, Knstlern, Dreiviertels-Christen und politischen Dunkelmnnern aller Nationen, Dank der deutschen Philosophie, ein Gegengift gegen den noch bermchtigen Sensualismus zu haben, der vom vorigen Jahrhundert in dieses hinberstrçmte“ (JGB 11). Zugleich aber standen „die Auslnder […] erstaunt und angezogen vor den Rthseln, die ihnen die Widerspruchs-Natur im Grunde der deutschen Seele aufgab“, und ließen sich vom in Deutschland ausgehenden Notat um die Augsburger Allgemeine Zeitung) sei krzlich „auf den Inbegriff deutscher Philosophie der Gegenwart“ aufmerksam gemacht und dabei seien fnf Namen genannt worden: Ulrici, Frohschammer, Huber, Carrire, (Immanuel Hermann) Fichte. ber deren „Denkwirthschaft“ kann Nietzsche nur spotten, vor allem, weil Eduard von Hartmann nicht genannt wurde, ber den er damals noch nicht spottete („deshalb fehlt Hartmann unter den berhmten Namen des deutschen Reichs. Denn er hat Geist, und nur den Armen im Geiste gehçrt jetzt das ,Reich‘“). Johannes Huber, ein Publizist, der es mit kmpferischen Schriften gegen den ,Romanismus‘ und den ,Jesuitismus‘ der katholischen Kirche auf den Index geschafft hatte, 1864 gleichwohl zum ordentlichen Professor der Philosophie in Mnchen ernannt wurde und dort zum Vorkmpfer der altkatholischen Bewegung wurde, verçffentlichte 1871 eine Schrift Das Verhltniß der deutschen Philosophie zur nationalen Erhebung, in der er unter Rckgriff auf Fichtes Geschichtsphilosophie das weltgeschichtliche Schicksal der deutschen Nation und die Bedeutung der deutschen Philosophen – Leibniz, Kant, Fichte – fr die Erkenntnis und die Erfllung der „weltgeschichtlichen Kulturmission“ der Deutschen betonte, die Nietzsche gerade in Zweifel zog.
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„regierenden Begriff“ der Entwicklung „im Bunde mit deutschem Bier und deutscher Musik“ willig „verdeutschen“ (JGB 244). Inzwischen aber erstaunten sie noch mehr darber, dass Deutschland nach Goethe, Hegel, Heine, Schopenhauer keinen „fr Europa m i t z h l e n d e n Geist“ mehr aufzuweisen habe: „Dass es nicht einen einzigen deutschen Philosophen mehr giebt, darber ist des Erstaunens kein Ende.“ (GD Deutschen 4) Hoffnung sah Nietzsche zuletzt erst wieder durch sich selbst, allerdings nicht in Deutschland: „In Wien, in St. Petersburg, in Stockholm, in Kopenhagen, in Paris und New-York – berall bin ich entdeckt: ich bin es n i c h t in Europa’s Flachland Deutschland …“ (EH Bcher 2)
[3] Wenn Fichte und Schelling wie Nietzsche sahen, dass die ,eigentliche‘ oder ,wahrhafte‘ Philosophie keine nationale und darum auch nicht die deutsche sein konnte, bersprangen sie doch den europischen Horizont der europischen Philosophie, postulierten sogleich einen universalen Horizont und verloren dadurch auch den deutschen aus dem Blick. Nietzsche dagegen sucht im europischen Horizont deutsche Besonderheiten zu orten, die dazu beitrugen, diesen Horizont zu erweitern. Sie laufen nach FW 357 auf eine radikale Verzeitlichung des Denkens hinaus, seiner Bewusstheit, seiner Erkenntnis und seiner logischen Notwendigkeit. Dieses zeitliche Denken ist nicht mehr als ein „,Sein‘“ feststellbar, wird umso weniger fassbar, je kritischer es analysiert wird. Gerade als unfassbares aber ist es, so wie Nietzsche ,das Deutsche‘ zuvor typisiert hat (12.2.), ,deutsch‘. Dass „,unsre innre Welt […] viel reicher, umfnglicher, verborgener‘“ ist, wie er es „mit Leibnitz“ empfand, besttigten auf ihre Weise nicht nur Wagner, sondern auch Fichte und Schelling. Der Gedanke, dass „das Erkenn b a r e“, Feststellbare, deshalb „schon g e r i n g e r e n Werthes“ sei, den er Kant zuschreibt, und vor allem der Gedanke, den er Hegel doch nicht unterstellen will („auch wenn es nie einen Hegel gegeben htte“), dass „unsre menschliche Logik nicht […] die einzige Art Logik“ und also eine Logik auf Zeit ist, sind jedoch seine Gedanken, die niemand vor ihm so radikal gedacht hat, seine „deutsche Selbsterkenntniss, Selbsterfahrung, Selbsterfassung“, die niemand vor ihm so ,tief‘ und in seinem Sinn so ,deutsch‘ erlebt hat. Sie wurden ihm als einem Deutschen mçglich, der an dem, den er lange fr den grçßten Deutschen seiner Zeit, die Verkçrperung einer neuen, von Deutschland ausgehenden europischen Kultur gehalten hatte, Richard Wagner, am meisten gelitten hatte (FW 361/11.2.). Nachdem er nun seit langem nicht mehr unter den Deutschen gelebt und sie von außen zu beobachten gelernt hatte, verstand Nietzsche sich, den heimatlosen Deutschen, als Europer (FW 377 u. 380/ 18.).
12.5. Schopenhauers Bekenntnis zum Sieg des Atheismus
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12.5. Schopenhauers undeutsches Bekenntnis zum europischen Sieg des Atheismus [4a] Im vierten Abschnitt von FW 357 geht Nietzsche vom Modus des Wissens im zweiten Abschnitt („Ich erinnere an drei Flle“) und dem Modus der Glaubens im dritten Abschnitt („in allen drei Fllen fhlen wir“, „wir glauben kaum“) in den Modus der Frage ber. Aus dem zu erwartenden vierten „Fall“ deutscher Philosophen von europischem Rang wird eine „vierte Frage“, und sie stellt sich nun umgekehrt: da der „Sieg des wissenschaftlichen Atheismus“ offenkundig „ein gesammt-europisches Ereigniss“ war, lautet sie, „ob auch S c h o p e n h a u e r mit seinem Pessimismus, das heisst dem Problem vom W e r t h d e s D a s e i n s, gerade ein Deutscher gewesen sein msste“, ob er also, da er ja ebenfalls „ein Ausnahme-Fall unter Deutschen“ sein kçnnte, sich als erster deutscher Philosoph von Rang zum Atheismus bekannt hatte, weil oder obwohl er ein Deutscher war. Die Antwort lautet ,obwohl‘. Schopenhauers „unbedingter redlicher Atheismus“ war, so Nietzsche, kein „d e u t s c h e s Ereigniss“. Doch Nietzsche betont noch einmal, dass es um Einschtzungen aus eigenen Interpretations-Perspektiven, nicht um Tatsachen geht („sein msste“, „haben sollen“, „wre […] zuzurechnen“, „geben eine sichere Handhabe fr die Frage ab“). Schon in FW 99 hatte Nietzsche zusammengestellt, worin er Schopenhauer weiter folgen konnte: in seinem unerschtterlichen Atheismus, in „seinen unsterblichen Lehren von der Intellectualitt der Anschauung, von der Aprioritt des Causalittsgesetzes, von der Werkzeug-Natur des Intellects und der Unfreiheit des Willens“, und worin er von ihm Abschied genommen hatte: in der „unbeweisbaren Lehre von E i n e m W i l l e n“, der „L e u g n u n g d e s I n d i v i d u u m s“, der Annahme, dass die „E n t w i c k l u n g“ – die Evolution – „nur ein Schein ist“, der „Schwrmerei vom G e n i e“, einem „reinen, willenlosen, schmerzlosen, zeitlosen Subject der Erkenntniss“ „in der sthetischen Anschauung“, dem „Unsinn vom M i t l e i d e und der in ihm ermçglichten Durchbrechung des principii individuationis als der Quelle aller Moralitt“, dem „Hass gegen die Juden“ und dem Versuch, das Christentum durch Buddhismus auszustechen. Bisher wurden auch im V. Buch der FW zahlreiche Anschlsse an und kritische Anspielungen auf Schopenhauers Lehren erkennbar:578 578 Vielfache Hinweise darauf verdanke ich Jo¼o Const ncio, Lissabon. Jo¼o Const ncio bereitet eine umfassende Monographie zur philosophischen Auseinandersetzung Nietzsches mit Schopenhauer vor. Bisher ist der gewichtigste Beitrag dazu noch immer die Monographie von Simmel, Schopenhauer und Nietzsche, der beide jedoch nacheinander behandelt. Gegen Goedert, Nietzsche, der berwinder Schopenhauers und des Mitleids, hat Salaquarda, Nietzsches Metaphysikkritik und
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dass er den christlichen Gott entschieden fr tot erklrt (FW 343/4.), den Glauben an die Moral jedoch unberhrt gelassen hatte (FW 345/6.1.); dass wir im Schein bloßer Vorstellungen von der Realitt leben, die uns notwendig fremd bleibt, vom Glauben an die Wahrheit aber einen ,Willen zur Wahrheit‘ zurckbehalten haben, der uns zum ,metaphysischen Bedrfnis‘ geworden ist (FW 344/5.1.; FW 347/7.2.); dass Schopenhauer dabei auf einen ,Willen zum Nichts‘ und damit auf einen lebensverneinenden, tçdlichen Nihilismus verfiel (FW 346/7.1.); dass er, weil er die Evolution nicht akzeptierte, den Menschen noch immer fr ein ,wildes, entsetzliches Tier‘ hielt, das durch Moral nicht gezhmt wurde (FW 352/6.2.) und tierisch vor allem vom Geschlechtstrieb, dem ,Genius der Gattung‘, beherrscht werde (FW 354/9.1.).
Mag Schopenhauer unter den Philosophen „der e r s t e eingestndliche und unbeugsame Atheist“ gewesen sein, „den wir Deutschen gehabt haben“, so „n i c h t als Deutscher“: wenn man nmlich ,das Deutsche‘ an der europischen Philosophie in der radikalen Verzeitlichung des Denkens sieht. Dagegen stand Schopenhauers Metaphysik vom Willen zum Dasein als wahrem Ding an sich, sein Bestehen auf dem ,Satz vom Grunde‘ in diesem Willen und sein Bedrfnis nach Erlçsung in einer letzten Gewissheit und sei es der Gewissheit des Nichts. Deutsch war sein Atheismus auch nicht, wenn die tiefe Frçmmigkeit der Deutschen auf den Protestantismus zurckging; waren Leibniz, Kant und Hegel noch berzeugte Protestanten, so richtete sich eben dagegen Schopenhauers „Feindschaft“. Und dennoch, so Nietzsche, war etwas von dieser Frçmmigkeit an Schopenhauer hngen geblieben, eben in der unbedingten Redlichkeit, der Entschiedenheit und Unbeugsamkeit, der „Rechtschaffenheit“, mit der er sich nun zum Atheismus bekannte und die bei ihm zur moralischen „Entrstung“ wurde, „wenn er Jemanden hier zçgern und Umschweife machen sah“. „Die Ungçttlichkeit des Daseins galt ihm als etwas Gegebenes, Greifliches, Undiskutirbares“ – sie war, mit FW 347 (7.1.5.) zu sprechen, ein „G l a u b e a n d e n U n g l a u b e n, bis zum Martyrium ihre Vorbereitung durch Schopenhauer, gewichtige Einwnde erhoben. Jçrg Salaquardas eigene maßgebliche Beitrge zu Arthur Schopenhauer und Nietzsches Verhltnis zu ihm haben Konstantin Broese, Matthias Koßler und Barbara Salaquarda gesammelt herausgegeben (Broese/Koßler/Salaquarda (Hg.), Die Deutung der Welt). Taylor, Nietzsche’s Schopenhauerianism, bezieht sich nur auf Spuren Schopenhauers in GT. In Janaway (Hg.), Willing and Nothingness, wird das Verhltnis Nietzsches zu Schopenhauer von verschiedenen Autoren nach seinen wichtigsten Themenbereichen ausgeleuchtet. Berman, Schopenhauer and Nietzsche, behandelt dabei den Atheismus. Er macht darauf aufmerksam, dass Schopenhauer in seinem Werk die Existenz Gottes nicht explizit leugnet, aber in der Tat nicht mehr von ihr ausgeht, und stellt im brigen doxographische Vergleiche an.
12.5. Schopenhauers Bekenntnis zum Sieg des Atheismus
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dafr“, sie „zeigte immer vorerst das B e d r f n i s s nach Glauben, Halt, Rckgrat, Rckhalt…“ Dass Schopenhauer ber seinem Bekenntnis zum Atheismus seine „Philosophen-Besonnenheit“ verlor, verrt eine fr einen Philosophen von Rang bedenkliche Einschrnkung der Freiheit seines Geistes, „etwas Voreiliges, Jugendliches, nur eine Abfindung, ein Stehen- und Steckenbleiben in eben den christlich-asketischen Moral-Perspektiven, welchen, mit dem Glauben an Gott, d e r G l a u b e g e k n d i g t w a r …“579 So reiht Nietzsche auch Schopenhauer unter die „Verzçgerer“ ein, unter die großen Deutschen, die mit ihrer ,Frçmmigkeit‘ zu „Verzçgerern par excellence“ wurden: Luther, auf den er im folgenden Aphorismus kommen wird und der durch seine Reformation „Europa um die letzte grosse Cultur-Ernte gebracht“ habe, „die es fr Europa heimzubringen gab, – um die der R e n a i s s a n c e“,580 und auch Leibniz, Kant und Hegel mit der anderen, in Nietzsches Sicht zurckgebliebenen Seite ihrer Philosophien. Er nennt sie nun nicht mehr eigens, doch es war Leibniz, der die Natur noch ansah, „als ob sie ein Beweis fr die Gte und Obhut eines Gottes sei“, Kant, der trotz seiner Kritik aller spekulativen Beweise des Daseins Gottes an diesem noch als moralischem Postulat festhielt,581 Hegel, der nach Kants Kritik erneut den Gott des Christentums und der Philosophie mit der ,Logik‘ seines ,Systems‘ bewies und „die Geschichte […] zu Ehren einer gçttlichen Vernunft, als bestndiges Zeugniss einer sittlichen Weltordnung und sittlicher Schlussabsichten“ zu interpretieren verstand.582 579 Vgl. schon MA I 26 und dazu Heller, „Von den ersten und letzten Dingen“, 320 – 345, und N 1885, 39[15], KSA 11.626 / N VII 2, S. 179: „Die moral. Auslegung ist zugleich mit der religiçsen Auslegung hinfllig geworden: das wissen sie freilich nicht, die Oberflchlichen! Instinktiv halten sie, je unfrommer sie sind, mit den Zhnen an den moral. Werthschtzungen fest. Schopenhauer {als Atheist} hat einen Fluch gegen den ausgesprochen, der die Welt der moral. Bedeutsamkeit entkleidet.“ 580 AC 61; vgl. FW 358/8.4. 581 Vgl. Nietzsches sptere polemische Bekrftigungen in AC 10 („Der Erfolg Kant’s ist bloss ein Theologen-Erfolg: Kant war, gleich Luther, gleich Leibnitz, ein Hemmschuh mehr in der an sich nicht taktfesten deutschen Rechtschaffenheit – –“) und EH WA 2 („Leibniz und Kant – diese zwei grçssten Hemmschuhe der intellektuellen Rechtschaffenheit Europa’s!“). 582 Nietzsche insistierte zunehmend darauf, dass aus europischer (sdlicher, franzçsischer, englischer) Perspektive die Deutschen „die V e r z ç g e r e r par excellence in der Geschichte“, „das zurckgebliebenste Culturvolk Europa’s“ seien (WA Nachschrift, KSA 6.41). Dass man auch in der Philosophie „die eigenen Erleb-
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Sollte Schopenhauer aber doch „ein e u r o p i s c h e s Ereigniss gleich Goethe, gleich Hegel, gleich Heinrich Heine […], und n i c h t b l o s s ein lokales, ein ,nationales‘“ gewesen sein, wie Nietzsche zuletzt noch einmal erwog, also ein „Fall ersten Ranges“, dann freilich „fr einen Psychologen“. Er habe es mit seinem „bçsartig genialen Versuch“ geschafft, zu Gunsten einer nihilistischen Gesammt-Abwerthung des Lebens gerade die Gegen-Instanzen, die grossen Selbstbejahungen des ,Willens zum Leben‘, die Exuberanz-Formen des Lebens in’s Feld zu fhren. Er hat, der Reihe nach, die K u n s t, den Heroismus, das Genie, die Schçnheit, das grosse Mitgefhl, die Erkenntniss, den Willen zur Wahrheit, die Tragçdie als Folgeerscheinungen der ,Verneinung‘ oder der Verneinungs-Bedrftigkeit des ,Willens‘ interpretirt – die grçsste psychologische Falschmnzerei, die es, das Christenthum abgerechnet, in der Geschichte giebt. Genauer zugesehn ist er darin bloss der Erbe der christlichen Interpretation: nur dass er auch das vom Christenthum A b g e l e h n t e, die grossen Cultur-Thatsachen der Menschheit noch in einem christlichen, das heisst nihilistischen Sinne g u t z u h e i s s e n wusste ( – nmlich als Wege zur ,Erlçsung‘, als Vorformen der ,Erlçsung‘, als Stimulantia des Bedrfnisses nach ,Erlçsung‘ …). (GD Streifzge 21)
12.6. Europa als Ereignis der Selbstberwindung seines christlichen Gewissens [4b] So lag Schopenhauers Rang fr Nietzsche zuletzt in seinem ermutigenden Bekenntnis zum „grçssten neueren Ereigniss“, mit dem Nietzsche das V. Buch der FW erçffnet hatte, „dass ,Gott todt ist‘, dass der Glaube an den christlichen Gott unglaubwrdig geworden ist“ (FW 343/4.4.). Nietzsche erinnert daran, indem er nochmals auf die ansonsten verzçgerte Wahrnehmung dieses Ereignisses hinweist („jene Frage, die ein paar Jahrhunderte brauchen wird, um auch nur vollstndig und in alle ihre Tiefe hinein gehçrt zu werden“). Im brigen hatte der Atheismus in Europa alte und breite Wurzeln.583 Sein Ursprung und seine Verbreitung nisse auslegte, wie sie fromme Menschen lange genug ausgelegt haben, wie als ob Alles Fgung, Alles Wink, Alles dem Heil der Seele zu Liebe ausgedacht und geschickt sei“, drfte auf Schleiermacher zielen (8.3.1.). Er habe es, heißt es schon MA I 132, gerade „auf die Erhaltung der christlichen Religion und das Fortbestehen der christlichen Theologen abgesehen; als welche in der psychologischen Analysis der religiçsen ,Thatsachen‘ einen neuen Ankergrund und vor Allem eine neue Beschftigung gewinnen sollten.“ 583 Vgl. Schrçder, Ursprnge des Atheismus. Schrçder fhrt in detaillierten Untersuchungen den Atheismus als philosophisch begrndete Negation der Existenz des Daseins Gottes auf die Zeit um 1670 zurck, in der die vielfachen und gegen-
12.6. Europa als Ereignis der Selbstberwindung seines christlichen Gewissens 379
lsst sich nicht bestimmten Philosophen (oder Theologen) zuschreiben, weder deutschen noch anderen: „der Sieg des wissenschaftlichen Atheismus ist ein gesammt-europisches Ereigniss, an dem alle Rassen ihren Antheil von Verdienst und Ehre haben sollen.“ Es war ein Ereignis, das sich gegenber den Kçpfen verselbststndigte, die zu ihm beigetragen hatten, und das eben dadurch wirkte: dass man es mehr und mehr als ausgemachte Tatsache nehmen konnte und nach seinen Grnden und Begrndern nicht mehr fragte. Was sich in dieser Weise nicht an bestimmten Ursachen und Personen festmachen lsst, zwingt zu generischen Kennzeichnungen. Nietzsche setzt nun an Stelle der „Rasse“ oder der „Seele eines Volkes“ (HL 4, KSA 1.278; AC 16) das „europische Gewissen“ und lsst dieses einen „Sieg“ erringen. Er hat dafr auch eine einigermaßen sichere historische ,Handhabe‘: das Christentum, das ber Jahrtausende hinweg auf die Seelen der Menschen drckte und ihnen die Ausbildung und Verfeinerung von so etwas wie dem Gewissen abrang, eine dauernde Aufmerksamkeit auf die eigene Sndigkeit. In Nietzsches Sprache ,zchtete‘ das Christentum ein immer hellhçrigeres Gewissen heran, auch bei denen, die dem Christentum abschworen. Glaubte man zunchst, Gott, der auch ins verborgenste Innere sieht, aus dem Gewissen sprechen zu hçren, so meldete sich mehr und mehr im Gewissen ein „Frst, Stand, Arzt, Beichtvater, Dogma, Partei-Gewissen“ (FW 347), der „nivellirende Zauber der ,grçssten Zahl‘“ (FW 368) oder irgendein anderer „starker Glaube“ (FW 375). Solches verdichtete und verfestigte sich im modernen ,demokratischen Zeitalter‘ zu einer die Gesellschaft Europas durchherrschenden Moral, die auch noch berlebte, als dort der religiçse Glaube unglaubwrdig wurde.584 Es ist ein ,europisches Gewissen‘ insofern, als es sich bei Europern, die auf verwandte Art enkulturiert wurden, in verwandten Fllen auf verwandte Weise ußert, so dass sie einander darin als Europer erkennen. Sein „Sieg“ ist, so Nietzsche, der Erfolg einer „Selbstberwindung“, „Europa’s lngster und tapferster Selbstberwindung“, in der nach einer „zweitausendjhrigen Zucht zur Wahrheit […] am Schlusse sich die L g e im Glauben an Gott verbietet…“ Nietzsche wird seine These zum Schluss der GM nochmals zitieren: „die christliche Moralitt selbst, der immer strenger genommene Begriff der Wahrhaftigkeit, die Beichtvter-Feinheit des christlichen Gewissens, bersetzt und sublimirt zum wissenschaftlichen Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit stzlichen Versuche, die Existenz Gottes zu beweisen, vielerorts in Europa zu einem Skeptizismus fhrten, der sich seinerseits auf den antiken Skeptizismus berief. 584 Vgl. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens.
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12. Deutsche Philosophie in europischer Perspektive. Nr. 357
um jeden Preis“ (GM III 27). Er wird diesen fr Europa „folgenreichsten Akt“ dort „einen Akt der Selbstaufhebung“ nennen, nach dem „Gesetz der n o t h w e n d i g e n ,Selbstberwindung‘ im Wesen des Lebens“: „Nachdem die christliche Wahrhaftigkeit einen Schluss nach dem andern gezogen hat, zieht sie am Ende ihren s t r k s t e n S c h l u s s, ihren Schluss g e g e n sich selbst“ (GM III 27). Es ist nicht der Schluss einer reinen Vernunft, keine Dialektik Hegelscher Art, durch die dieses Gewissen ,notwendig‘ wird, sondern ein kontingentes evolutionres Geschehen, das von Bedrfnissen und Nçten ausgegangen ist und eine eigene „Art Logik“ ausgebildet hat, die Nietzsche dann in GM zu erschließen sucht.585 Das Ereignis dieser sich vielfltigen Wurzeln verdankenden Ausbildung des europischen Gewissens ist aber das, was das geographische Europa erst zu einem kulturellen ,Europa‘ gemacht hat, zu der zunchst christlich-religiçsen, dann philosophisch-wissenschaftlich-technischen Kultur, die sich inzwischen ber die ganze Welt verbreitet hat, es ist ,Europa‘ selbst, die auf Wahrhaftigkeit in allen Dingen pochende europische Perspektive auf die Welt. Wenn aber die Selbstberwindung nach einem „immer strenger genommenen Begriff der Wahrhaftigkeit“ ihr Maßstab ist, werden Europer insoweit „g u t e Europer“ sein, wie sie zu immer weiteren solcher Selbstberwindungen fhig sind, kurz, wie ihr Gewissen sich verfeinert. Nietzsche kehrt, wo er von den „feineren Gewissen“ spricht, zum „wir“ zurck, kommt wieder bei sich selbst an.
12.7. Zum Lachen: Deutsche Schopenhauerianer [5] Im fnften und letzten Abschnitt von FW 357 macht Nietzsche noch eine Probe („Oder htten etwa“), ob Schopenhauers Pessimismus mit seinem „unbedingten redlichen Atheismus“ wenn schon kein europisches, so vielleicht doch „ein d e u t s c h e s Ereigniss“ war. Er blickt dazu auf die deutschen Philosophen, die seine Philosophie weiterzubilden versuchten, um zu sehen, was sie von ihr aufnahmen und wie sie es verarbeiteten; und Schopenhauers Wirkung beschrnkte sich, so stark sie schließlich wurde, 585 Zur komplexen, bis zu Demokrit zurckreichenden Herkunft des Begriffs des Gewissens vgl. Reiner, Art. Gewissen, zu Nietzsches darber noch hinausgreifender Genealogie des Phnomens des Gewissens GM II 16 – 21 und dazu Stegmaier, Nietzsches ,Genealogie der Moral‘, 155 – 162. Zu Nietzsches von dem Hegelschen abweichenden Begriff der Selbstaufhebung vgl. Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz, 298 – 304, und (ohne Kenntnis des vorigen) Zittel, Selbstaufhebungsfiguren bei Nietzsche.
12.7. Zum Lachen: Deutsche Schopenhauerianer
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zunchst weitgehend auf Deutschland. Aber Nietzsche findet nur eine „eigenthmliche U n g e s c h i c k t h e i t dieses Nach-Schopenhauerischen Pessimismus“, ,ungeschickt‘ im Sinn von ,ungelenk‘, aber auch von ,unpassend‘. Hatte man nicht die philosophische Kraft, die Bedingungen und Grenzen von Schopenhauers Pessimismus zu sehen, sondern nahm ihn rundweg ernst, so musste man, wollte man damit weiterleben, diesen Ernst entweder mildern, indem man ihm neue Hoffnungen abgewann, oder aber aus ihm (im Sinn des Schlusses von FW 346/ 7.1.5.) persçnliche Konsequenzen ziehen. Nietzsche war vor beiden Alternativen gestanden. Die Hoffnung, die ihm Schopenhauer geboten und die sich fr ihn auch erfllt hatte, war Wagner mit seiner Verheißung einer neuen europischen Kultur, die er mit seinem Musikdrama schaffen werde; sie enthob ihn persçnlicher Konsequenzen, bis er sich ebenso von Schopenhauer und Wagner lçste. Anders die anderen berhmt gewordenen Schopenhauerianer. Der erste, den Nietzsche nennt, und der berhmteste unter ihnen, Eduard von Hartmann, sah neue Hoffnung in einer Kombination von Schopenhauers Pessimismus mit dem von Schopenhauer so angefeindeten optimistischen Idealismus Hegels. Von Hartmann charakterisierte sein „System“ spter selbst als „eine Synthese Hegel’s und Schopenhauer’s unter entschiedenem Uebergewicht des ersteren, vollzogen nach Anleitung der Principienlehre aus Schelling’s positiver Philosophie und des Begriffs des Unbewussten aus Schelling’s erstem System; das vorlufig noch abstract-monistische Ergebniss dieser Synthese ist alsdann mit dem Leibniz’schen Individualismus und dem modernen naturwissenschaftlichen Realismus zu einem concreten Monismus verschmolzen, in welchem der real-phnomenale Pluralismus zum aufgehobenen Moment geworden ist, und das so sich ergebende System ist endlich von empirischer Basis aus mit der inductiven Methode der modernen Natur- und Geschichtswissenschaften aufgebaut und errichtet.“586 Nietzsche kann solche hybriden Systembauten so wenig ernstnehmen, dass er, statt dagegen noch lange zu argumentieren, den Ausweg ergreift, von Hartmann lieber als „argen Schalk“ zu respektieren, als Hanswurst, der auf nrrische Weise die Wahrheit sagt.587 So wird aus Eduard von Hartmann, einem hochernst586 Von Hartmann, Philosophie des Unbewussten, xiii. Nietzsche konnte diese zusammenfassende Charakteristik nicht mehr gelesen, drfte sie aber auch nicht nçtig gehabt haben. 587 Vgl. schon HL 9, KSA 1.314 – 318 („Philosophie der unbewussten Ironie“, „philosophische Schelmerei“, „Spass-Philosophie“, „erster philosophischer Parodist aller Zeiten“, „Schalk aller Schalke“, „grosser deutscher Parodist“, „lustige Person“, „Schelm der Schelme“). Wie sehr von Hartmanns Halbschopenhaue-
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12. Deutsche Philosophie in europischer Perspektive. Nr. 357
haften Philosophen, Spross einer preußischen Generalsfamilie, populrer Autor der Philosophie des Unbewussten, ein „g e s c h i c k t e r“ Systembauer, der alle metaphysischen Interessen zu bedienen verstand – und sich damit „ber den deutschen Pessimismus lustig gemacht hat“. Die weiteren Schopenhauerianer macht Nietzsche nun seinerseits lcherlich. So wird aus Julius Bahnsen, der anfangs mit Eduard von Hartmann befreundet, dann heftig mit ihm verfeindet war, sich als Oberlehrer ernhrte und ein Werk Der Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt verfasst hatte, nach dem der Widerspruch im zerrissenen Willen durch nichts aufzuheben sei, ein „alter Brummkreisel“ (seine Schrift wird zotig als Papier fr den „verstopftesten Leib“ empfohlen) und Philipp Mainlnder, der Welterlçsung durch sexuelle Enthaltung und Suizid lehrte und den Suizid, als sein Buch Philosophie der Erlçsung erschienen war, dann auch beging, zum „Dilettanten“, zur „alten Jungfer“ und zum „ssslichen Virginitts-Apostel“.588 Und auf diese Weise beantwortet Nietzsche dann auch die Frage, was deutsch fr die Deutschen selbst sei: „unsre tapfre Politik, unsre frçhliche Vaterlnderei, welche entschlossen genug alle Dinge auf ein wenig philosophisches Princip hin (,Deutschland, Deutschland
rianismus Nietzsche weiterhin abstieß, zeigt ein spteres Notat: „Ich wnsche durchaus nicht, an der philo verchtlichen Komçdie mitzuspielen, welche heute {immer noch}, in Preußen zumal, philosophischer Pessimismus genannt wird; ich sehe selbst die Nçthigung nicht ein, von ihr zu reden. […] Mit Ekel sollte man sich {lngst} von dem Schauspiel abwenden {abgewandt haben}, wie es jener drre {geschwtzige} magere Affe Hr v Hartmann giebt; in meinen Augen ist jeder {damit} durchgestrichen, {der seinen daß er diesen Namen zus} immer nur mit dem Schopenhauers zusammen genannt {zugleich} mit dem Schopenhauers zugleich in den Mund nimmt.“ (N 1887/88, 11[101], KSA 13.50 / W II 3, S. 152 f.) Zum Schlagabtausch zwischen Nietzsche und von Hartmann seit den UB, in dem auch Julius Bahnsen eine Rolle spielte, vgl. Gçdde, Nietzsches Perspektivierung des Unbewußten, 165 – 168, und Wolf (Hg.), Eduard von Hartmann, 9 – 16. Zu weiteren Bezugnahmen Nietzsches auf Hartmann s. Sautet, Notes, 519, Fn. 431, zu Bahnsen 520, Fn. 432. Bahnsen hatte Nietzsche am 22. Februar 1878 zu seinen ersten Schriften gratuliert und „Coincidenzpunkte principieller Auffassungen“ festgestellt (Brief an Nietzsche, 22. Februar 1878, KGB II/6, Bf. 1034). 588 Vgl. dagegen die Wrdigung von Hartmanns, Bahnsens und Mainlnders durch Gerhardt, Art. Pessimismus, in: HWP 7.388 – 390, und durch Dahlkvist, Nietzsche and the Philosophy of Pessimism, 79 – 85. Die genannten Werke sind in BN verzeichnet. Mainlnders Werk lasen und besprachen Malwida von Meysenbug, Paul Re, Albert Brenner zusammen mit Nietzsche im Herbst 1876 in Sorrent; sein ungebundenes Exemplar der Philosophie der Erlçsung hatte Nietzsche binden lassen (BN, 375).
12.7. Zum Lachen: Deutsche Schopenhauerianer
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ber Alles‘) betrachtet“.589 Deutsch ist danach die entschlossene Veroberflchlichung im Sinn des ,Genius der Gattung‘ nach FW 354 (9.). Bevor Nietzsche sich schließlich selbst zur Ordnung ruft („Nein!“), verulkt er nationale Zurechnungen berhaupt, die in dieser Oberflchlichkeit eben nur „sub specie speciei“, in der Perspektive (specie) der jeweiligen Nation selbst (speciei), erfolgten und so zur bloßen Selbstverherrlichung werden. Darf man in dieser Groteske, soll man darin die Bemerkung zu Mainlnder „Zuletzt wird es ein Jude gewesen sein (– alle Juden werden ssslich, wenn sie moralisiren)“ ernstnehmen, die erneut so antisemitisch klingt und das in einem Aphorismus, der mit seinem Titel und seinem Thema auf den Antisemiten Wagner verweist?590 Die Bemerkung wird noch krasser angesichts der Umstnde des Todes von Philipp Mainlnder, die Nietzsche wohl bekannt waren. Philipp Mainlnder ist das Pseudonym fr Philipp Batz, geboren 1841 in Offenbach am Main. Er war Sohn eines Silberwarenfabrikanten, hielt sich fnf Jahre als Kaufmann in Italien auf, bereiste die europischen Lnder und arbeitete dann in Banken. Nach seiner Begegnung mit Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung 1869 widmete er sich nur noch seinem Werk Philosophie der Erlçsung. Unmittelbar nach dem Erscheinen des ersten Bandes, 1876, erhngte er sich. Auch fr ihn war „Gott […] gestorben, und sein Tod war das Leben der Welt“. Im Zerfall Gottes seien die Weltkrfte entstanden, die nun gegeneinander gerichtet seien und einander zerstçrten. Mit ihrer vçlligen Vernichtung sei die Welt erlçst, und der Wille sei dann gut, wenn er diese Erlçsung wolle: „Der von der Erkenntnis, dass Nichtsein besser ist als Sein, entzndete Wille […] ist das oberste Prinzip der Moral.“ Die Welterlçsung aber vollziehe sich durch sexuelle Enthaltung (Virginitt) und Selbstmord (dieser unter Berufung auf Buddha). Mainlnder konnte damit einen Kommu-
589 Das „Lied der Deutschen“, das Hoffmann von Fallersleben 1841 gedichtet hatte, wurde 1922 zur deutschen Nationalhymne erhoben. Zu Nietzsches weiteren spçttischen bis angewiderten Erwhnungen des „Deutschland, Deutschland ber alles“ vgl. Reschke, Kommentar, 341. 590 Selbst der stets loyale Overbeck vermerkte in einer Nachlassnotiz vom 17. Januar 1900 verwundert, Nietzsche habe sich hier – in Bezug auf Mainlnder – „zu einer seiner unberlegtesten Boutaden [frz. boutade: ,launenhafter Einfall‘, ,Ausfall‘] hinreissen lassen, wie sie auch ihm, der doch im Allgem. ein Genie der Bedchtigkt war, passiren konnten“ (Overbeck, Autobiographisches, 123). Overbeck reagiert hier, so seine Angabe, auf den „Protest“ von Max Seiling in seinem Artikel „Nietzsche und Mainlnder“ in der Frankfurter Zeitung vom 15. Aug. 1899, 1. Morgenblatt. Vgl. dazu Mller-Seyfarth, Mainlnder und Nietzsche, 334 Anm.
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12. Deutsche Philosophie in europischer Perspektive. Nr. 357
nismus und einen strengen Nationalismus verbinden. Aber er war nicht Jude, auch wenn sein Pseudonym und der Beruf seines Vaters das nahelegen mochten.591
Nietzsche vermutet ganz nebenbei, dass Mainlnder Jude war, er weiß es nicht, er unterstellt es scherzhaft nur einmal, um dann gleich alle Juden zu verunglimpfen. Doch Nietzsche sagt auch, dass er nur vermutet, und er sagt, wenn er sagt, dass alle Juden sßlich werden, „wenn sie moralisiren“, nicht schon, dass alle Juden moralisieren. Warum sollten Juden moralisieren? Die Religion des Gesetzes hielt sie gerade davon ab. Und wer htte es im damaligen Deutschland Juden abgenommen, wenn sie moralisiert htten, selbst dann, wenn sie sich damit im Zug ihrer Emanzipation dem ,sßlichen‘ Moralisieren ihrer Gastvçlker anpassten?592 Nietzsches Bemerkung zu Mainlnder gehçrt zu den irritierendsten Beispielen seines irritierenden Philosophierens: er fhrt eine antisemitische Bezichtigung vor, die sich bei nherem Hinsehen als leer und haltlos erweist. Es kompromittiert den Leser, wenn er sie ernstnimmt.
591 Vgl. Decher, Der eine Wille und die vielen Willen, 227. Decher weist auch darauf hin, dass Nietzsche seine Ansicht spter korrigiert hat, allerdings nur in einem Brief an Heinrich Kçselitz vom 17. Mai 1888. Dort schreibt er von einem „Anhnger Mainlnder’s, begeisterter Vegetarianer […]. Gestern sagte er mir, unaufgefordert, dass er J u d e sei … Nicht einmal getauft! – Er hat mir bewiesen, dass Mainlnder k e i n Jude war. –“ (KGB III/5, Bf.1035) Vgl. zur Rezeption Mainlnders im Ganzen Mller-Seyfarth (Hg.), „Die modernen Pessimisten als dcadents“. 592 Auch Walter Kaufmann, selbst Jude, fragte sich, wer hier gemeint sein kçnnte (Commentary, 309, Fn. 83).
13. Vervielfltigung von Interpretations-Perspektiven 13.1. Krfte und Zwecke als Interpretations-Perspektiven des Handelns Nr. 360: Z w e i A r t e n U r s a c h e , die man verwechselt. Der Vervielfltigung von Interpretations-Perspektiven widmet Nietzsche die drei aufeinanderfolgenden Aphorismen FW 373 – 375. Er kndigt die Kette weit frher durch einen vierten an, FW 360. Mit ihm unterbricht er die Aphorismenkette zur modernen Schauspieler-Gesellschaft (FW 356, 361, 362/11.), zwischen deren Glieder er außerdem die europische Interpretations-Perspektive einfgt (FW 357/12.), die unter Deutschen durch Luthers Reformation so lange verzçgert worden sei (FW 358/8.4.). Zwischen FW 360 und FW 373 – 375 erscheinen dann ein solitrer Aphorismus zur Bindung des Denkens an Geschlechter-Perspektiven (FW 363/14.) und danach der Beginn der Aphorismenkette zur Bindung an Kommunikations-Perspektiven berhaupt, der lngsten des V. Buchs der FW, die Nietzsche ihrerseits mehrfach unterbricht und zudem in sich thematisch verschlingt (FW 364, 365; 367; 369; 376; 371, 379, 381/15.), außerdem ein letzter Aphorismus zu den Bindungen der Gelehrten (FW 366/5.4.), ein solitrer Aphorismus zu den Alternativen in der europischen Kunst und Philosophie, die sich Nietzsche nun auftun (FW 370/ 16.), und zwei Aphorismen zur Musik des Lebens (FW 368, 372/17.). All dies ist also bei der Vervielfltigung von Interpretations-Perspektiven mitzudenken. FW 360 macht in Umfang, Anlage und Ton einen eher unscheinbaren Eindruck. Doch eben hier fhrt Nietzsche eine Grundunterscheidung ein, die er als einen seiner „wesentlichsten Schritte und Fortschritte“ bezeichnet, wenn man so will, als seine „Errungenschaft“ (FW 357/12.3.). Es ist die Unterscheidung einer „t r e i b e n d e n“ und einer „d i r i g i r e n d e n Kraft“ beim „Handeln“. Sie ist, so Nietzsche zum Schluss des Aphorismus, Teil „einer Kritik des Begriffs ,Zweck‘“, die noch ausstehe. Offenbar soll sie, das scheint der Sinn seiner Anordnung der Aphorismen in der Mitte des V. Buchs der FW zu sein, erst ihre Brauchbarkeit unter vielfltigen Perspektiven beweisen, bis dann in FW 373 – 375 die Vielfalt von Interpretations-Perspektiven zum Zeichen von Nietzsches
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13. Vervielfltigung von Interpretations-Perspektiven
neuem, Freiheiten einer knftigen frçhlichen Wissenschaft erçffnenden Philosophieren werden kann. Hier zeigt sich exemplarisch, in welch weitrumige Sinngefge Nietzsche seine Aphorismen in einem Aphorismen-Buch stellen kann. Krfte und Zwecke sind Interpretations-Perspektiven des Handelns. Auch Interpretieren ist Handeln, und so folgt es ebenfalls Krften und Zwecken. Aber es „v e r w e c h s e l t“ sie leicht – sobald es ein bewusstes Interpretieren ist. Es glaubt dann nach Zwecken zu handeln und bersieht dabei die Krfte, die erst zum Handeln und Interpretieren des Handelns nçtigen und ihm Zwecke eingeben. Glaubt das bewusste Interpretieren aber, es setze seine Zwecke ganz von sich aus, hlt es sich fr ein selbststndiges und von allen Bindungen freies Bewusstsein, dann ist es schon in die Fnge der Metaphysik der Moderne geraten (FW 354/9.5.). Bewusste Zwecke sind, so Nietzsche, Krfte, die von Krften abhngen, von denen sich das Bewusstsein nicht nur nicht frei, sondern die es sich auch nur begrenzt bewusst machen kann. Er lçst, wie so oft (NSM 14), den scheinbaren, metaphysischen Gegensatz auf, indem er die eine Seite, hier die scheinbar vom Bewusstsein allein gesetzten Zwecke, der andern, hier den fr es weitgehend unergrndlichen Krften des Leibes, unterordnet. Nietzsche hatte schon seinen Zarathustra von der Errungenschaft seiner Unterscheidung von treibenden und dirigierenden Krften beim Handeln sprechen lassen, in den Reden des I. Teils „Von den Verchtern des Leibes“ und „Vom bleichen Verbrecher“. Die Unterscheidungen einer „grossen Vernunft“ des Leibes, deren bloßes „Werk- und Spielzeug“ die „kleine Vernunft“ sei, die wir „,Geist‘“ nennen (6.1.2.), bzw. der „That“, zu der man unaufhaltsam getrieben werden kann, vom „Gedanken“, durch den man ihr nachtrglich einen Zweck zu geben versucht, gehçren zu seinen berhmtesten, auch hier schon mehrfach erwhnten Lehrstcken. Um die Vernunft, auf deren Bewusstheit und Eigenstndigkeit die Metaphysik der Moderne gebaut hatte, vollends in die Enge zu treiben, hatte Nietzsche die Unterscheidung in ZA auf die eines „Wahnsinns“ „vor der That“ und eines „Wahnsinns n a c h der That“ zugespitzt, zwischen denen „das Rad des Grundes“ nicht rolle. Der „Verbrecher“, der seiner Tat gewachsen war, „als er sie that“, der so handeln konnte, wie er handelte (er war zu einem Mord fhig), erbleichte, als ihm seine „arme Vernunft“ einen Zweck der Tat einredete, der ihm fremd war („zum mindesten einen Raub“ oder eine „Rache“), um ihm vor der Gesellschaft, in der er lebt, mit „Schuld“ belasten und richten zu kçnnen.593 Am „bleichen Verbrecher“ 593 ZA I Verchtern, KSA 4.39; ZA I Verbrecher, KSA 4.45 f.
13.1. Krfte und Zwecke als Interpretations-Perspektiven. Nr. 360
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wird deutlich, was nach Nietzsches Einsicht fr alles Handeln gilt: dass wir bei seiner Interpretation „einem uralten Irrthume“ aufsitzen, der Verwechslung der begrenzten Bewusstseins-Perspektive (9.6.) mit der des Handelns selbst. In FW 360 bersetzt Nietzsche die pathetisch-poetische Rede seines Zarathustra in die nchterne Prosa des Aphorismus,594 die Unterscheidung des Wahnsinns vor der Tat und nach der Tat in die schlichten Begriffe der „Ursache des Handelns“ berhaupt und der „Ursache des So- und So-Handelns, des In-dieser Richtung-, Auf-dieses Ziel hin-Handelns“ oder der Nçtigung zum Handeln und der Ausrichtung des Handelns. Nicht die Nçtigung zum Handeln, nur seine bewusste Ausrichtung an einem „sogenannten ,Zweck‘“ wird als Perspektive wahrgenommen; doch sie ist, so Nietzsche, nur die nachtrgliche Perspektivierung von etwas nicht Ausgerichtetem und insofern ein Wahnsinn. Um hinter die scheinbare Eigenstndigkeit des Bewusstseins zurckzukommen, setzt Nietzsche dafr die aus der Physik vertrauten, als „Quantum“ messbaren Parameter „Ursache“ und „Kraft“ ein. Naturwissenschaftlich quantifizierbare Krfte wirken fraglos ohne Bewusstsein, aber eben auch im Bewusstsein, als Krfte des Gehirns, von denen es physiologisch lebt. Auch physikalische Krfte sind in der Natur nicht an sich vorauszusetzen, sondern Teil unserer Hypothesen ber sie, unserer wissenschaftlichen Perspektive auf sie. In JGB und vorbereitenden Notaten dazu hatte sich Nietzsche auch eine Kritik des Begriffs ,Kraft‘ erarbeitet595 und unter den Titel einer „Psychologie des Irrthums“ gestellt. Danach kçnnen wir nur von einem „K r a f t g e f h l“ und einem „Glauben an Kraft“ ausgehen: Wenn wir etwas thun, so entsteht ein K r a f t g e f h l, oft schon vor dem Thun, bei der Vorstellung des zu Thuenden (wie beim Anblick eines Feindes, eines Hemmnisses, dem wir uns g e w a c h s e n glauben): immer begleitend. Wir meinen instinktiv, dies Kraftgefhl sei Ursache der Handlung, es sei ,die Kraft‘. Unser Glaube an Kausalitt ist der Glaube an Kraft und deren Wirkung; eine bertragung unsres Erlebnisses; wobei wir Kraft und Kraftgefhl identificiren. – Nirgends aber bewegt die Kraft die Dinge, die empfundene Kraft ,setzt nicht die Muskeln in Bewegung‘. ,Wir haben von einem solchen Prozeß keine Vorstellung, keine Erfahrung.‘ – ,Wir erfahren ebensowenig, wie die Kraft als Bewegendes, die N o t h w e n d i g k e i t einer Bewegung.‘ Die 594 Vgl. FW 378/NSM 19. 595 Vgl. die umfassenden Erçrterungen von Nietzsches Kraft-Begriff in: Abel, Nietzsche, 3 – 132, zu FW 360 93 – 95. Abel ordnet den Aphorismus in Nietzsches anti-teleologischen Kreuzzug ein. S. auch Schank, „Rasse“ und „Zchtung“ bei Nietzsche, 240 – 245, der ein weites Spektrum in Nietzsches Gebrauch des KraftBegriffs entfaltet.
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13. Vervielfltigung von Interpretations-Perspektiven
Kraft soll das Zwingende sein! ,Wir erfahren nur, daß eins auf das andere folgt – weder Zwang erfahren wir, noch Willkr, daß eins auf das andere folgt.‘ Die Kausalitt wird erst durch die Hineindenkung des Zwangs in den Folgevorgang geschaffen. Ein gewisses ,Begreifen‘ entsteht dadurch d. h. wir haben uns den Vorgang angemenschlicht, ,bekannter‘ gemacht: das Bekannte ist das Gewohnheitsbekannte des mit K r a f t g e f h l v e r b u n d e n e n m e n s c h l i c h e n E r z w i n g e n s. (N 1883/84, 24[9], KSA 10. 647 f.) Wie in der Antike die Substanz wird in der Moderne in das erfahrene Geschehen „die Kraft hineingedichtet“ (N 1883/84, 24[13], KSA 10.650). So ist ein Geflecht von Unterstellungen entstanden, die einander im Glauben an Ursachen, an freien Willen und an Zwecke besttigen: Der populre Glaube an Ursache und Wirkung ist auf die Voraussetzung gebaut, daß der freie Wille U r s a c h e i s t v o n j e d e r W i r k u n g: erst hierher haben wir das Gefhl der Causalitt. Also darin liegt auch das Gefhl, daß jede Ursache n i c h t Wirkung ist, sondern immer erst Ursache – wenn der Wille die Ursache ist. ,Unsere Willensakte sind n i c h t n o t h w e n d i g‘ – das l i e g t im Begriff ,W i l l e‘. Nothwendig ist die Wirkung n a c h der Ursache – so fhlen wir. – Es ist eine H y p o t h e s e, daß auch unser Wollen in jedem Falle ein Mssen sei. Aber Wollen: = Zweck-Wollen. Zweck enthlt eine Werthschtzung. Woher stammen die Werthschtzungen? Ist eine feste Norm von ,angenehm und schmerzhaft‘ die Grundlage? (N 1883/84, 24[15], KSA 10.652) Wie Wille und Zweck sind auch Ursache und Kraft anthropomorphe Begriffe; bei ihnen jedoch werden nicht schon Zwecke mitgedacht. Aus seinem Gedanken der ,Willen zur Macht‘ suchte Nietzsche ebenfalls Zwecke herauszuhalten; Willen zur Macht kçnnen sich in Zwecken aussprechen, ohne selbst Zwecke zu sein. So bestimmte Nietzsche auch sie durch die ,Kraft‘ („Vor Allem will etwas Lebendiges seine Kraft a u s l a s s e n – Leben selbst ist Wille zur Macht –“, JGB 13), und da er in FW 360 beides, treibende Krfte und dirigierende Zwecke, als Krfte fasst, wrde der Begriff des ,Willens zur Macht‘ hier nichts unterscheiden. So taucht er in FW 360 nicht auf. Nietzsche hat es aber auch mit der umgekehrten Argumentationsstrategie versucht. Indem er den „siegreichen Begriff ,Kraft‘“ als ,Willen zur Macht‘ fasste, konnte er seinen Begriff nicht nur auf alles Lebendige, sondern auch auf die ganze Natur beziehen: Der siegreiche Begriff ,Kraft‘, {mit dem unsere Physiker Gott aus der Welt geschafft haben,} bedarf noch einer Ergnzung: es muß ihm eine innere Welt zugesprochen werden, welche ich bezeichne als ,Willen zur Macht‘, dh. als unersttliches Verlangen nach Mehrung {Bezeigung} der Macht; oder Verwendung, Ausbung der Macht, als schçpferischen Trieb usw. […] man muß alle Bewegungen, alle ,Erscheinungen‘, alle ,Gesetze‘ nur als Symptome eines innerlichen Geschehens fassen u uns der Analogie des M zu Ende bedienen. Am Thier ist es mçglich, aus dem Willen zur Macht alle seine Triebe abzuleiten: ebenso alle Funktionen des organ. Lebens aus dieser Einen Quelle. (N 1885, 36[31], KSA 11.563 / W I 4, S. 26)
13.1. Krfte und Zwecke als Interpretations-Perspektiven. Nr. 360
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Zwar handelte er sich damit den hypothetischen Ansatz ,innerer Welten‘ ein. Wenn wir aber die Natur ohnehin nicht anders als anthropomorph sehen kçnnen, kçnnen wir sie auch aus der ,inneren Welt‘ unserer ,Willen zur Macht‘ verstehen und aus dem Begriff ,Willen zur Macht‘ dann den Begriff ,Kraft‘ bestimmen, soweit Kraft eben das ist, was, auf welche Weise auch immer, auf anderes eine Wirkung ausbt, der es sich nicht entziehen kann: „die einzige Kraft, die es giebt, ist gleicher Art wie die des Willens: ein Commandiren an andere Subjekte, welche sich daraufhin verndern.“ (N 1885, 40[42], KSA 11.650 / W I 7, S. 52) Im Ergebnis ist uns jede Kraft nur anthropomorph plausibel. So bleibt nur, die Not zur Tugend zu machen: Eine Kraft, die wir {uns} nicht vorstellen kçnnen ist ein leeres Wort u. darf kein Brgerrecht in der Wissenschaft haben {wie die sog. rein mechanische Anziehungs- u Abstoßungskraft}: welche uns die Welt vorstellbar machen will, nichts weiter! (N 1885/86, 2[88], KSA 12.105 / W I 8, S. 129) Nietzsche hatte schon in FW 109 ausfhrlich darauf aufmerksam gemacht, dass auch Naturwissenschaften auf Anthropomorphismen, auf die ,menschliche‘ Perspektive angewiesen sind, um plausibel zu werden, und zugleich eindringlich davor gewarnt, solche Anthropomorphismen mit der Natur selbst zu verwechseln, die man zuletzt als „Chaos“ ohne alle Bildlichkeit zu denken htte, als noch vçllig „fehlende Ordnung“, was in der ,menschlichen‘ Perspektive nicht mçglich ist. Krfte sind daher immer nur Interpretationen von Krften, alles, was wir als „,Zweck u Mittel‘“, „,Ursache u Wirkung‘“, „,Subjekt u. Objekt‘“, „{,Thun u Leiden‘}“, „,Ding an sich‘ u ,Erscheinung‘“ unterscheiden, ist nicht „Thatbestand“, sondern „Ausdeutung“, wenn es auch „vielleicht nothwendige Ausdeutungen“ sind (N 1885/86, 2[147], KSA 12.139 / W I 8, S. 78). In jedem Fall sind Krfte nicht als solche, sondern nur ihre Wirkungen zu beobachten, denen wir sie unterstellen. Diese Unterstellung ist aber so selbstverstndlich geworden, dass sie uns als Wirklichkeiten gelten: Ist jemals schon eine Kraft constatirt? Nein, sondern Wirkungen, bersetzt in eine vçllig fremde Sprache. Das Regelmßige im Hintereinander hat uns aber so verwçhnt, daß wir uns ber das Wunderliche daran nicht wundern (N 1885/86, 2[159], KSA 12.143 / W I 8, S. 71). So schreibt Nietzsche dann in JGB 21: Man soll nicht ,Ursache‘ und ,Wirkung‘ fehlerhaft v e r d i n g l i c h e n, wie es die Naturforscher thun (und wer gleich ihnen heute im Denken naturalisirt – ) gemss der herrschenden mechanistischen Tçlpelei, welche die Ursache drcken und stossen lsst, bis sie ,wirkt‘; man soll sich der ,Ursache‘, der ,Wirkung‘ eben nur als reiner B e g r i f f e bedienen, das heisst als conventioneller Fiktionen zum Zweck der Bezeichnung, der Verstndigung, n i c h t der Erklrung.
Menschliches ,Handeln‘ pflegen wir vom bloßen ,Verhalten‘ durch seine Bewusstheit zu unterscheiden. Nach FW 354 (9.) versetzt Bewusstheit als solche den Handelnden in die Perspektive der Gesellschaft und der
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13. Vervielfltigung von Interpretations-Perspektiven
Sprache, die sich in ihr fr die Bedrfnisse der Mitteilung entwickelt hat. Sie veranlasst ihn nach FW 356 (11.1.), die unvermeidliche Schauspielerei dieser Gesellschaft mitzuspielen und dabei auch die Fiktion eines in jedem an sich bestehenden Bewusstseins und seiner Fhigkeit zu ,rein logischer‘ Erkenntnis zu bernehmen, die Nietzsche in FW 110 als einen der „irrthmlichen Glaubensstze“ entlarvt hat. Nach FW 360 schließt dieser „uralte Irrthum“ ein, dass die bewussten Ziele des bewussten Handelns auch seine treibende Kraft seien. Um dennoch ihre Eigenart zu erfassen, arbeitet Nietzsche mit der Unterscheidung von „aufgestauter“ und (in Gnsefßchen) „,auslçsender‘“ Kraft, dem Ergebnis seines langen Lernprozesses („ich lernte […] unterscheiden“). Dieser Lernprozess ist anhand seiner Notate nachzuvollziehen. Nietzsche ging dabei von Gehirnprozessen aus: „Wenn wir in einen bestimmten physiologischen Zustand treten, dann tritt uns das ins Gedchtniß, was das letzte Mal, als wir in ihm waren, von uns gedacht wurde. Es muß eine Auslçsung im Gehirn fr jeden Zustand geben.“ (N 1880, 1[115], KSA 9.30) Ausgelçst werden Zeichen der Lust oder Unlust, anhand derer man allmhlich eine „Kenntniß seiner Krfte“ erwirbt, das „Gesetz ihrer Ordnung und Auslçsung, die Vertheilung derselben“ kennenlernt, „ohne die einen zu sehr, die andern zu wenig zu gebrauchen“: „wie s c h w e r ist diese i n d i v i d u e l l e W i s s e n s c h a f t!“ (N 1880, 4[118], KSA 9.130) Eine „V e r s t i m m u n g“ zeigt eine „v e r h i n d e r t e Auslçsung“ von Schrecklichem an. Man muss darum den Mut haben, „das Schreckliche der Auslçsungen anders und gnstiger zu beurtheilen.“ Nietzsche dachte dabei an „offene Gewalt“ (N 1881, 11[28], KSA 9.452), aber auch an die Auslçsung von Trieben „in einer mechanischen starken Thtigkeit, die zweckmßig gewhlt s e i n k a n n“: „Haß Zorn Geschlechtstrieb usw. kçnnen an die M a s c h i n e g e s t e l l t w e r d e n und ntzlich arbeiten lernen, z. B. Holz hacken oder Briefe tragen oder den Pflug fhren. Man muß seine Triebe ausarbeiten.“ Und das gilt auch fr das „Leben des Gelehrten“, auch er hat es vermutlich mit unterdrckten Trieben zu tun. Nietzsche bereitet hier vor, was er dann in FW 375 in das Bild des reitenden Philosophen bringen wird: „Aller M i ß m u t h ist auszulçsen: Handarbeit in der Nhe! Oder der Lauf Sprung Ritt. Man kçnnte als Denker sehr gut noch Pferde zureiten. Oder commandiren.“ (N 1881, 11[31], KSA 9.453) Nietzsche setzte sich, als er dies notierte, mit den naturwissenschaftlichen Theorien Rugjer Josip Boscovichs auseinander, auf die er ber Friedrich Albert Lange durch Gustav Theodor Fechner aufmerksam geworden war, las Robert Mayers Mechanik der Wrme, Wilhelm Roux’ Der Kampf der Theile im Organismus und Michael Forsters Lehrbuch der Physiologie, die ihn alle darin bestrkten, den Gedanken der auslçsenden Kraft zu generalisieren: „Es giebt fr uns nicht Ursache und Wirkung, sondern nur Folgen (,Auslçsungen‘) NB.“596 Bilder von Vorgngen 596 N 1881, 11[81], KSA 9.472. Vgl. Montinari, Kommentar, KSA 14.644 f., der seinerseits auf Mller-Lauter, Der Organismus als innerer Kampf, verweist. Zu
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kçnnen sich im Gedchtnis so verfestigen, dass sie zum „auslçsenden Reiz“ „entsprechender Bewegungen“ werden – wenn „Gegenreize“ dem nicht entgegenstehen: „Wir reden da von ,Wollen-und-nicht-kçnnen‘ – der Gegenreiz ist hufig nicht in unserem Bewußtsein, wir merken aber eine widerstrebende Kraft, die dem Reiz des Bildes und s e i e s n o c h s o d e u t l i c h die Kraft entzieht. Es ist ein Kampf da, obschon wir nicht wissen, wer kmpft.“ (N 1881, 11[131], KSA 9.489) „,Wirkung‘“ ist dann der „Reiz, den Einer ausbt, die Anregung, die er giebt, bei der Andere ihre Krfte auslçsen (z. B. der Religionsstifter)“ (N 1881, 11 [135], KSA 9.492). Die Richtung der Wirkung spielt sich durch Wiederholung und Gewohnheit ein: „Die hufigeren Reize e r z i e h e n auch d i e R i c h t u n g d e r s p o n t a n e n Auslçsung.“ (N 1881, 11[139], KSA 9.493) Nicht nur physiologisch, auch mikrophysikalisch und astronomisch ist berall mit solchen Kraftauslçsungen zu rechnen: „Es giebt im Molekle Explosionen und Vernderungen der Bahn aller Atome, und plçtzliche Auslçsungen von Kraft. Es kçnnte auch mit Einem Moment unser ganzen Sonnensystem eine solchen Reiz erfahren, wie ihn der Nerv auf den Muskel ausbt.“ (N 1881, 11[247], KSA 9.535) Lust, Willensregungen, selbst die Besinnung und das Aufblitzen von Gedanken sind als Kraftauslçsungen auf Reize hin zu verstehen,597 die ihrerseits dann Handlungen auslçsen – und so dann auch „alle sogenannten ,Zwecke‘“ (FW 360).
Im verçffentlichten Aphorismus macht Nietzsche die Unterscheidung von aufgestauten und auslçsenden oder treibenden und dirigierenden Krften durch noch strker anthropomorphisierende Metaphern plausibel, die Metaphern vom „Streichholz im Verhltniss zur Pulvertonne“, vom „Steuermann“ eines Schiffes und dem „Dampf“, das es antreibt, und vom „Schiff“ und der „Strçmung“, in der es treibt. Sie entstammen keinem gemeinsamen Bildfeld, geben kein einheitliches Bild. Nietzsche lsst die Bilder einander durchkreuzen, so dass der Gedanke, den sie veranschaulichen, auf keines von ihnen festgelegt, sondern seinerseits von ihnen wie von treibenden Krften ausgelçst wird. Der Gedanke bleibt dabei im Fluss. Alle Metaphern zeigen menschliches Handeln, das seinen Zwecken nichtmenschliche Krfte dienstbar zu machen versucht, beginnend mit der expressivsten Metapher fr die Auslçsung aufgestauter Kraft, der Explosion. Sprengstoff kann nicht nur zur Zerstçrung, sondern etwa auch zum Bau von Eisenbahnstrecken eingesetzt werden, und das nimmt die Metapher von Dampfmaschine und Steuermann auf: zum Antrieb von Ei-
weiteren Quellen vgl. Bauer, Zur Genealogie von Nietzsches Kraftbegriff, Abel, Nietzsche, 14, zu Mayer 43 – 49, zu Rugjer Josip Boscovich 85 – 90, und Zittel, Art. Naturwissenschaft. 597 Vgl. N 1885/86, 1[77], KSA 12.30 / N VII 2, S. 138; N 1886/87, 5[68], KSA 12.210 / N VII 3, S. 111 f.; GM III 8; N 1887/88, 11[38], KSA 13.20 / W II 3, S. 182.
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senbahnen und Schiffen wird die Kraft kontrolliert ausgelçst.598 In der Metapher von Strçmung und Schiff beruhigen sich die Krfteverhltnisse, aber das Steuern wird nun machtlos, das Schiff wird unmerklich von der Strçmung getrieben. So denkt Nietzsche das Bewusstsein mit seinen Zwecken. Es steht mit ihm im Ganzen wie beim bleichen Verbrecher: „Ist das ,Ziel‘, der ,Zweck‘ nicht oft genug nur ein beschçnigender Vorwand, eine nachtrgliche Selbstverblendung der Eitelkeit, die es nicht Wort haben will, dass das Schiff der Strçmung f o l g t, in die es zufllig gerathen ist? Dass es dorthin ,will‘, w e i l es dorthin – m u s s? Dass es wohl eine Richtung hat, aber ganz und gar – keinen Steuermann?“ Die ,treibende‘ Kraft, die auch die ,dirigierende‘ antreibt, einem Verhalten bewusste Zwecke zuzuschreiben, entzieht sich der Bewusstheit – bewusst wird erst der Zweck selbst. Sie ist darum nicht als solche wissenschaftlich, was ja hieße: bewusst zu fassen. Das philosophische Bewusstsein kann sie nur kritisch unterstellen und muss das auch: wenn die Bewusstseins-Perspektive eine begrenzte, in sich befangene und temporre ist, muss sie hypothetisch außer sich ,Krfte‘ voraussetzen, die sie von Fall zu Fall ins Spiel bringen und deren ,Werk- und Spielzeug‘ sie bleibt. In seiner bewussten Orientierung muss man sich kritisch bewusst bleiben, dass man immer zugleich anderen Orientierungen mit anderen ,Zwecken‘ folgt, die man sich nicht oder nur begrenzt bewusst machen kann: „was aus unserem Bewußtsein sich entfernt u deshalb d u n k e l w i r d , k a n n deshalb an sich vollkommen klar sein. D a s D u n k e l w e r d e n i s t S a c h e d e r B e w u ß t s e i n s -P e r s p e k t i v e.“ (N 1886/87, 5[55], KSA 12.205 / N VII 3, S. 119) Was dem Bewusstsein als sein freier Wille erscheint, kann zugleich ein Nicht-anders-Kçnnen sein, was es als eigene Entscheidung wahrnimmt, kann ihm durch Bedrfnisse und Nçte aufgedrngt sein, die ihm dunkel bleiben, weil es sie durch seine Ziele und Zwecke verdunkelt. Auf diese Weise lçst Nietzsche fast beiher das sog. Leib-Seele-Problem. Und er setzt hier den von ihm sonst kaum verwendeten Begriff der Orientierung ein. In einem Notat hat er die „Kritik des Begriffs ,Zweck‘“ so weitergefhrt: warum kçnnte nicht ,ein Zweck‘ eine B e g l e i t e r s c h e i n u n g sein, in der Reihe von Vernderungen wirkender Krfte, welche die zweckmßige Handlung hervorrufen – ein in das Bewußtsein vorausgeworfenes blasses Zeichenbild, das uns zur Orientirung dient dessen, was geschieht, als ein Symptom selbst vom Geschehen, n i c h t als dessen Ursache? – Aber damit 598 Beide Metaphern erscheinen bereits bei Robert Mayer. Vgl. Abel, Nietzsche, 94, Fn. 46 u. 49.
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haben wir den W i l l e n s e l b s t kritisirt: ist es nicht eine Illusion, das, was im Bewußtsein als Willens-Akt auftaucht, als Ursache zu nehmen? Sind nicht alle Bewußtseins-Erscheinungen nur End-Erscheinungen, letzte Glieder einer Kette, aber scheinbar in ihrem Hintereinander innerhalb Einer Bewußtseins-Flche sich bedingend? Dies kçnnte eine Illusion sein. – (N 1886/87, 7 [1], KSA 12.248)
Nietzsches schriftstellerische Methoden: Spannung zwischen Titel und Text Die Unterscheidung auslçsender und dirigierender von aufgestauten treibenden Krften machte fr Nietzsche nicht nur die Mçglichkeit der Bewusstseins-Perspektive denkbar, sie half zugleich, den erklrten ,Mechanismus‘ oder ,Mechanizismus‘ der Physik seiner Zeit in Frage zu stellen, den Versuch, das gesamte Naturgeschehen auf mathematisch noch vergleichsweise einfach formulierbare Gesetze der Verknpfung von Ursachen und Wirkungen treibender Krfte eindeutig identifizierbarer Kçrper zurckzufhren. Die Annahme auslçsender Krfte hebt den Determinismus der Natur nicht auf, lsst jedoch eine unbersehbare Komplexitt des Naturgeschehens zu und zeigt die Grenzen seiner Berechenbarkeit. Der Mechanizismus der Bewusstseins-Perspektive wird so zu einer beschrnkten Perspektive auf die Natur. Das wird fr die folgenden Aphorismen der Kette, insbesondere fr FW 373, von ausschlaggebender Bedeutung sein. Der Titel von FW 360 „Z w e i A r t e n U r s a c h e , d i e m a n v e r w e c h s e l t“ verrt das jedoch nicht, und die weiteren Titel „,W i s s e n s c h a f t ‘ a l s V o r u r t h e i l“ (FW 373), „U n s e r n e u e s , U n e n d l i c h e s ‘“ (FW 374) und „W a r u m w i r E p i k u r e e r s c h e i n e n“ (FW 375) lassen auch nicht die thematische Verkettung der drei Aphorismen erkennen. Nietzsche schafft, wie nun auffllig wird, eine Spannung zwischen Titeln und Texten. Bisher gebrauchte er noch weitgehend Titel, die, wie in wissenschaftlichen und philosophischen Abhandlungen zu erwarten, den folgenden Text ,auf den Punkt bringen‘, seinen Inhalt prgnant abkrzen, und zeigte so auch die thematische Verkettung der Aphorismen deutlich an: FW 348: „Vo n d e r H e r k u n f t d e r G e l e h r t e n“ – FW 349: „N o c h e i n m a l d i e H e r k u n f t d e r G e l e h r t e n“ – FW 366: „A n g e s i c h t s e i n e s g e l e h r t e n B u c h e s“ (5.) bzw. FW 345: „M o r a l a l s P r o b l e m“ – FW 352: „Inw i e f e r n M o r a l k a u m e n t b e h r l i c h i s t“ – FW 359: „D i e R a c h e a m G e i s t u n d a n d e r e H i n t e r g r n d e d e r M o r a l“ (6.). Anders schon die zitierenden Titel „Vo m , G e n i u s
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13. Vervielfltigung von Interpretations-Perspektiven
d e r G a t t u n g ‘“ (FW 354) und „Z u m a l t e n P r o b l e m e : , w a s i s t d e u t s c h ? ‘“ (FW 357): hier nennt Nietzsche im Text weder die zitierten Autoren noch verfolgt er ihre Fragestellungen weiter (9., 12.); die Begriffe in Gnsefßchen setzenden Titel (FW 355 und 356) kndigen unbestimmte Sinnverschiebungen an (NSM 10). Die Spannung der Titel zu den Texten beginnt zu irritieren, wird interpretationsbedrftig. Dies wird sich in der Folge steigern. Die Titel der langen Aphorismenkette zur Bindung des Philosophierens an Kommunikations-Perspektiven nennen teils die Kommunizierenden („D e r E i n s i e d l e r r e d e t“, FW 364 – „Der Einsiedler spricht noch einmal“, FW 365), deuten teils die Kommunikations-Bedingungen an („W i e m a n z u e r s t b e i K u n s t w e r k e n z u u n t e r s c h e i d e n h a t“, FW 367 – „U n s e r N e b e n e i n a n d e r“, FW 369 – „U n s r e l a n g s a m e n Z e i t e n“, FW 376) und stellen teils die Kommunikation berhaupt in Frage („W i r U n v e r s t n d l i c h e n“, FW 371; „Z u r F r a g e d e r Ve r s t n d l i c h k e i t“, FW 381); das gemeinsame Thema, das die Aphorismen in verschiedenen Perspektiven angehen, ist aus ihnen nicht sogleich erkennbar, man muss den Perspektiven erst nachgehen (15.). Die Titel der brigen Aphorismen steigern die irritierende Spannung zu den Texten noch, lassen deren tatschliche Themen immer weniger erkennen, der von FW 368 („D e r C y n i k e r r e d e t“) nicht, dass es um Wagners Musik, der von FW 370 („W a s i s t R o m a n t i k ?“) nicht, dass es um Alternativen des Philosophierens berhaupt, der von FW 372 („W a r u m w i r k e i n e I d e a l i s t e n s i n d“) nicht, dass es um die „Musik des Lebens“, der von FW 378 („, U n d w e r d e n w i e d e r h e l l ‘“) nicht, dass es um die Freigebigkeit des Geistes geht. Sie spielen nur noch auf die Texte an, werden knstlerisch; „,U n d w e r d e n w i e d e r h e l l ‘“ wiederholt zu Beginn des Aphorismus seinen Schluss als eine Art vorangestellter Refrain (NSM 19). Doch die Titel bilden nun ihrerseits Ketten, die sich nicht immer mit den thematischen Ketten decken. Da gibt es zum einen die subjektivierenden Titel „D e r E i n s i e d l e r r e d e t“ (FW 364) – „D e r E i n s i e d l e r s p r i c h t n o c h e i n m a l“ (FW 365) – „D e r C y n i k e r r e d e t“ (FW 368) – „,D e r W a n d e r e r ‘ r e d e t“ (FW 380), zum andern die perspektivierenden Titel „I n w i e f e r n a u c h w i r n o c h f r o m m s i n d“ (FW 344) – „I n w i e f e r n M o r a l k a u m e n t b e h r l i c h i s t“ (FW 352) – „I n w i e f e r n e s i n E u r o p a i m m e r , k n s t l e r i s c h e r ‘ z u g e h n w i r d“ (FW 356) und zum dritten die fragenden Titel „W a s e s m i t u n s e r e r H e i t e r k e i t a u f s i c h h a t“ (FW 343) – „Z u m a l t e n P r o b l e m e : , w a s i s t d e u t s c h ? ‘“ (FW 357) – „Wi e m a n z u e r s t b e i K u n s t w e r k e n
13.2. Vervielfltigung wissenschaftlicher Welt-Interpretationen. Nr. 373
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z u u n t e r s c h e i d e n h a t“ (FW 367) – „W a s i s t R o m a n t i k ?“ (FW 370) – „W a r u m w i r k e i n e I d e a l i s t e n s i n d“ (FW 372) – „W a r u m w i r E p i k u r e e r s c h e i n e n“ (FW 375). Auch der Titel des Schluss-Aphorismus FW 382 (vor dem bermtigen Satyrspiel des „E p i l o g s“) wird mit „D i e g r o s s e G e s u n d h e i t“ nicht sein Hauptthema, das „andre Ideal“, nennen (20.1.2.). Im Fortgang des V. Buchs der FW werden auch die Titel seiner Aphorismen irritierend, faszinierend, frçhlich.
13.2. Methodische Vervielfltigung wissenschaftlicher Welt-Interpretationen599 Nr. 373: , W i s s e n s c h a f t ‘ a l s Vo r u r t h e i l. 13.2.1. Wissenschaftstheorie: Wissenschaft als eine Welt-Interpretation Das erste Zeichen des Aphorismus FW 373 ist ein Gnsefßchen (NSM 10). „,W i s s e n s c h a f t‘“ steht im Titel und „,wissenschaftlich‘“ im Text zwei Mal in Gnsefßchen; ein weiteres Mal setzt Nietzsche ausdrcklich „wissenschaftlich in e u r e m Sinne“ hinzu. Thema des Aphorismus ist Nietzsches Sinnverschiebung des Begriffs der Wissenschaft und damit auch seine Umwertung. Danach generiert und garantiert Wissenschaft nicht schon, wie man es bisher erwartete, fr alle beweisbare und damit allgemeingltige Urteile, sondern ist, eben in Bezug auf diese Erwartung, ein „V o r u r t h e i l“. Sie ist im Sinn von FW 360 nur eine beschrnkte, eine „s o u n d s o“-Perspektive, eine „Welt-Interpretation“, die im Sinn von FW 355 (10.3.) „Ruhe“ und „Befriedigung“ schafft. Sie begngt sich mit „dem Glauben an eine Welt, welche im menschlichen Denken, in menschlichen Werthbegriffen ihr quivalent und Maass haben soll, an eine ,Welt der Wahrheit‘, der man mit Hlfe unsrer viereckigen kleinen Menschenvernunft letztgltig beizukommen vermçchte“ und in der man selbst „zu Rechte besteht“. Auch das ist natrlich eine hypothetische Theorie, und Nietzsche trgt sie, wenn auch wieder mit wissenschaftlich ungebhrlicher Erregung und Empçrung (5.2.1., 6.1.1.), auch so vor („Man soll“, „das fordert“, „Wre es umgekehrt nicht recht wahrscheinlich“, „vielleicht sogar allein fassen liesse“). Aber es ist eine 599 Auszge einer ersten Fassung dieses Kapitels erscheinen in Stegmaier, „Wissenschaft“ als Vorurteil.
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13. Vervielfltigung von Interpretations-Perspektiven
Theorie, die wissenschaftliche Theorien im Sinn widerspruchsfreier und vollstndiger Erkrungen eindeutig identifizierbarer Sachverhalte gerade in Frage stellt, und also eine wiederum paradoxe Wissenschaftstheorie.600 Ihre Paradoxie ist die einer jeden Perspektive, die von ihrer Perspektivitt nur in einer anderen Perspektive wissen kann, die sie wiederum nur in der eigenen Perspektive beobachten kann (FW 357 /12.). Sie will eine perspektivische Wissenschaftstheorie sein, die die Perspektiven der Wissenschaft gezielt vermehrt. Wenn Wissenschaft schon nicht schlechthin objektiv sein kann, weil auch sie ihre Perspektive nicht verlassen kann, so kann sie doch ihre Perspektive vervielfltigen und dadurch graduell objektiver werden. Sich selbst zu perspektivieren und dazu alte berzeugungen und Denkgewohnheiten aufzugeben, macht sie in Nietzsches Sinn frçhlich. Nachdem er in FW 354 (9.6.) den Begriff des Perspektivismus eingefhrt hat, verknpft er nun in FW 373 zum ersten und einzigen Mal in einem verçffentlichten Aphorismus berhaupt die drei Begriffe „Perspektive“, „Horizont“ und „Interpretation“. Im oft zitierten vorbereitenden Notat hat er ihnen nachtrglich den Begriff des Willens zur Macht unterlegt, den er im verçffentlichten Aphorismus wieder beiseite lsst: Daß der Werth der Welt in unserer Interpretation liegt (– daß natrlich {vielleicht irgendwo} noch andere Interpretationen mçglich sind als {bloß} menschliche –) daß die bisherigen Interpretationen perspekt.Schtzungen sind, vermçge deren wir uns {im Leben, das heißt im Willen zur Macht, zum Wachsthum der Macht erhalten}, daß {jede} Erhçhung der Menschen in der berwindung engerer Interpretationen {mit sich bringt, daß jede erreichte Verstrkung und Machterweiterung neue Perspektiven aufthut u an neue Horizonte glauben heißt} – dies geht durch meine Schriften. (N 1885/ 86, 2[108], KSA 12.114 / W I 8, S. 118).
In der Aphorismenkette des V. Buchs der FW zur Vervielfltigung von Interpretations-Perspektiven verzichtet Nietzsche auf den Begriff des Willens zur Macht und versucht der Wissenschaft in ihrer eigenen Perspektive neue Horizonte und weiterfhrende Interpretationen plausibel zu machen.
600 Zu Nietzsches Paradoxierung der Wissenschaft als solcher vgl. FW 344/5.1.2.
13.2. Vervielfltigung wissenschaftlicher Welt-Interpretationen. Nr. 373
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13.2.2. Wissenschaftsphilosophie: Gesetze der Rangordnung in der Wissenschaft Den Text selbst erçffnet Nietzsche mit „Gesetzen“ („Es folgt aus den Gesetzen“), Gesetzen im Sinn schlechthin allgemeingltiger wissenschaftlicher Aussagen ber regelmßige Zusammenhnge in einem bestimmten Bereich des Weltgeschehens. Spter im Text greift er die Beschrnktheit der Erklrung „alles Daseins“ aus den „ersten und letzten Gesetzen“ der „Mechanik“ an, die sich in der Tat bald schon als Illusion erweisen sollte. Wenn auch er von Gesetzen spricht, nimmt er seinerseits betont die Perspektive der Wissenschaft ein. Er, Nietzsche, spricht jedoch von „Gesetzen der Rangordnung“, ohne „Gesetze“ in Gnsefßchen zu setzen. Es sind die von ihm postulierten Gesetze und nicht nur die der Natur, sondern auch und vor allem der Gesellschaft. Nachdem er in FW 344 (5.1.2.) von der Wahrheit als Wert ersten „Rangs“ fr Wissenschaftler, in FW 356 (11.1.) von der Dauer als „Werth ersten Ranges“ fr Gesellschaften und in FW 358 (8.4.3.) vom „Rang“ der Geister in der Institution der Kirche gesprochen hat, fhrt er im V. Buch der FW nun den Begriff der „Rangordnung“ als solchen ein, um, nach der Ankndigung des „P r o b l e m s d e r R a n g o r d n u n g“ in der neuen Vorrede zu MA I (7), die Konsequenzen fr die Wissenschaft aus ihm zu ziehen. Der Begriff ,Rangordnung‘ fllt im V. Buch der FW nur hier. In einem vorbereitenden Notat zu JGB hatte er ihn noch gegen die ,demokratische Bewegung‘ gerichtet: „– ich bin dazu gedrngt, im Zeitalter des suffrage universel, d. h. wo Jeder ber Jeden und Jedes zu Gericht sitzen darf, die R a n g o r d n u n g wieder herzustellen.“ (N 1884, 26[9], KSA 11.152) Eine Zeit lang plante er ein Werk „D i e n e u e R a n g o r d n u n g“,601 und eine Fortschreibung der FW unter dem Titel „Gai saber. Versuch einer gçttlichen Art zu philosophiren“ sollte mit einem Kapitel „Von der Rangordnung“ schließen (N 1885, 34[213], KSA 11.494 / N VII 1, S. 42). Auch ZA wollte Nietzsche so fortsetzen: „Z kann nur beglcken, wenn er erst die Rangordnung hergestellt hat.“ (N 1885, 35[71], [73], KSA 11.540 / W I 3, S. 68) Dann sollte ein Werk unter dem Titel „{Von der Rangordnung} / Der Philosoph der Zukunft / {Vorspiel einer Ph der Zukunft / Ein erziehendes Buch}“ ber die Bcher „Zchtung und Zucht“, „die große Loslçsung“, „die sieben Einsamkeiten. {berwindung der Moral}“ auf den Willen zur Macht hinfhren (N 1885, 40[48], KSA 11.652 / W I 7, S. 51).602 Das
601 N 1884, 26[243], KSA 11.212. Vgl. N 1884, 26[468], KSA 11.274; N 1885, 34 [201], KSA 11.488 / N VII 1, S. 58, u. ç. 602 Vgl. N 1885/86, 1[237], KSA 12.63; N VII 2, S. 7, u. ç. – Schank, „Rasse“ und „Zchtung“ bei Nietzsche, 297 ff., stellt im Blick darauf unter dem Titel „Men-
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13. Vervielfltigung von Interpretations-Perspektiven
Werk gab er wie so viele andere auf. In der Zeit der Erarbeitung von JGB und FW V rckte die Frage der Rangordnung dennoch ins Zentrum seines Philosophierens: „Meine Philosophie ist auf Rangordnung gerichtet“ (N 1886/87, 7[6], KSA 12.280). Er war schon frh von einer „natrlichen Rangordnung im Reiche des Intellekts“ (BA III, KSA 1.699) ausgegangen, thematisierte sie jedoch zunchst als eine „Rangordnung der Gter“: sie werde „nicht nach moralischen Gesichtspuncten auf- und umgestellt; wohl aber wird nach ihrer jedesmaligen Festsetzung darber entschieden, ob eine Handlung moralisch oder unmoralisch sei.“ (MA I 42) Dann tritt die „R a n g o r d n u n g d e r G e i s t e r“ (MA II, VM 362) in den Vordergrund. Nietzsche unterscheidet, vorerst noch tastend und nur halb ernst, erstens oberflchliche Denker, zweitens tiefe Denker – solche, welche in die Tiefe einer Sache gehen –, drittens grndliche Denker, die einer Sache auf den Grund gehen, – was sehr viel mehr werth ist, als nur in ihre Tiefe hinabsteigen! – endlich solche, welche den Kopf in den Morast stecken: was doch weder ein Zeichen von Tiefe noch von Grndlichkeit sein sollte! Es sind die lieben Untergrndlichen. (M 446) Er sucht nach dem Kriterium der Rangordnung ebenso der „Moralitt“ wie der „denkenden Geister“ (N 1880, 1[73], KSA 9.22 f.; 4[305], KSA 9.176) und findet es schließlich in den Moralitten der denkenden Geister, ihrer moralischen Bewertung der „Triebe“ (N 1880, 6[204], KSA 9.251). Sie zeigen ihrerseits in sich eine Rangordnung. Nietzsche formuliert dann im III. Buch der FW: Wo wir eine Moral antreffen, da finden wir eine Abschtzung und Rangordnung der menschlichen Triebe und Handlungen. Diese Schtzungen und Rangordnungen sind immer der Ausdruck der Bedrfnisse einer Gemeinde und Heerde: Das, was ihr am ersten frommt – und am zweiten und dritten –, das ist auch der oberste Maassstab fr den Werth aller Einzelnen. Mit der Moral wird der Einzelne angeleitet, Function der Heerde zu sein und nur als Function sich Werth zuzuschreiben. […] Moralitt ist Heerden-Instinct im Einzelnen. (FW 116) Wer den „obersten Maassstab fr den Werth aller Einzelnen“ gibt, steht in der Rangordnung am hçchsten (N 1884, 25[355], KSA 11.106). Der Maßstab liegt eben in der Kraft, Werte erkennen und geben oder kurz: ,befehlen‘ zu kçnnen: „R a n g o r d n u n g der K r f t e […]: Befehlende als Befehlende erkennend, Gehorchende als Gehorchende.“ Und Nietzsche fgt ausdrcklich hinzu: „Natrlich abseits von allen bestehenden Gesellschaftsordnungen.“ (N 1886/87, 5[71] 14, KSA 12.217 / N VII 3, S. 23)603 Es geht nicht, jedenfalls nicht in erster Linie, schentypen: Maßstbe fr ihr Gelingen“ Belege zum Begriff ,Rangordnung‘ zusammen, ohne dessen Gebrauch bei Nietzsche nher zu untersuchen. 603 Vgl. zur weitgehenden Unabhngigkeit der Rangordnung von bestehenden Gesellschaftsordnungen auch schon N 1881/82, 16[23], KSA 9.665 („Was fr Staatsund Gesellschaftsformen sich auch ergeben mçgen, a l l e w e r d e n e w i g n u r F o r m e n d e r S k l a v e r e i s e i n“) und bes. N 1885, 39[3], KSA 11.620 / N VII 2, S. 192, ein Notat zur Fortschreibung von ZA: „Z. glcklich darber, daß der
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um festgefgte soziale Hierarchien, aber auch nicht um Individualismus; denn auch die „individualistische“ Bewegung kennt eine Rangordnung so wenig wie die „collektivistische“ und „will dem Einen die gleiche Freiheit geben wie allen.“ (N 1886/87, 7[6], KSA 12.280) Weder der Liberalismus noch der Sozialismus berhrt das Problem der berlegen- und Unterlegenheiten in der Orientierungs-, Urteilsund Fhrungsfhigkeit, und so sind sie die falsche Alternative. Nietzsche setzt ihr provokativ die seine von ,Herren‘ und ,Sklaven‘ entgegen; in FW 377 (18.1.2.) wird er darauf zurckkommen. Die „E r s t e F r a g e in Betreff der R a n g o r d n u n g“ ist fr ihn, „wie s o l i t r oder wie h e e r d e n h a f t Jemand ist / (im letzteren Falle liegt sein Werth in den Eigenschaften, die den Bestand seiner Heerde, seines Typus sichern, im anderen Falle in dem, was ihn abhebt, isolirt, vertheidigt u. s o l i t r e r m ç g l i c h t.“ Doch der Solitr und der Herden-Typus drfen nicht aneinander gemessen, aneinander ,abgeschtzt‘ werden, sie haben weder ein gemeinsames noch ein bergeordnetes Maß, sondern folgen ihrerseits unvereinbaren Perspektiven. Sie „sind beide nothwendig insgleichen ist ihr Antagonism nothwendig“ (N 1887, 10[59], KSA 12.492 / W II 2, S. 92). So ist die Rangordnung eine Rangordnung von antagonistischen Perspektiven. Sie hat keine gemeinsame Perspektive, kein gemeinsames Maß.604
Wissenschaftler stehen zwiespltig zu dieser Rangordnung. Sie sehen sich wohl wie Knstler in einer Rangordnung der Begabung und des Erfolgs. Auf methodische Disziplin und persçnliche Zurckhaltung verpflichtet folgen sie jedoch dem Ethos gleicher Anerkennung aller in ihrer Wissenschaft Arbeitenden. Nietzsche leitete den Entwurf einer Vorrede damit ein, „daß die Wissenschaft im Bunde mit der {Gleichheits-Bewegung vorwrts} geht, Demokratie ist, daß alle Tugenden des Gelehrten die Rangordnung ablehnen“ (N 1885/86, 2[179], KSA 12.155 / W I 8, S. 54), und dies gilt besonders dann, wenn die Gelehrten „dem geistigen Mittelstande zugehçren“. Von Philosophen, wie er sie dachte, erwartete er, dass sie sich der Rangordnung untereinander und in allem brigen stellen. Ob jemand in seinem Sinn Philosoph sein kann, hngt nicht nur davon ab, „in welcher Rangordnung die innersten Triebe seiner Natur zu einander gestellt sind“, wofr „seine Moral ein entschiedenes und entscheidendes Zeugniss“ abgibt (JGB 6), und er muss, als Solitr, nicht nur ertragen kçnnen, dass seine „hçchsten Einsichten […] wie Thorheiten, unter Umstnden wie Verbrechen klingen, wenn sie unerlaubter Weise Denen zu Ohren kommen, welche nicht dafr geartet und vorbestimmt sind.“ (JGB 30) Er muss auch gegen die tief einverleibten berzeugungen des Christentums, das mit Kampf der Stnde vorber ist, u. jetzt endlich Zeit ist fr eine Rangordnung der Individuen. Haß auf das demokr. Nivellirungs-system ist nur im Vordergrund: eigentlich ist er sehr froh, daß dies so weit ist. Nun kann er seine Aufgabe lçsen.“ 604 Sie kommt, wie Nietzsche skizzenhaft notiert hat (N 1887, 10[82], KSA 12.504 / W II 8, S. 80), auch antagonistisch zustande.
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13. Vervielfltigung von Interpretations-Perspektiven
seinem „,Gleich vor Gott‘ bisher ber dem Schicksale Europa’s gewaltet“ hat, „die abgrndlich verschiedene Rangordnung und Rangkluft zwischen Mensch und Mensch“ sehen und wiederherstellen kçnnen (JGB 62). Unter Philosophen zeigt sich diese Rangkluft eben darin, ob und wie jemand durch viele Generationen hindurch auf „die eigentlichen g r o s s e n Probleme und Fragezeichen“ vorbereitet ist, dann erst hat er „ein Recht auf Philosophie – das Wort im grossen Sinne genommen“ (JGB 213). So wird aus der Wissenschaftstheorie zur Vervielfltigung wissenschaftlicher WeltInterpretationen eine an den „Gesetzen der Rangordnung“ orientierte Wissenschaftsphilosophie. Nietzsche hat bekanntlich zuletzt versucht, nach dem „Urgesetz“, nach dem man „fr jede hohe Welt“ „geboren“, ja „g e z c h t e t“ sein msse, sich selbst eine Herkunft von „,Geblt‘“ zurechtzulegen (JGB 213, vgl. EH weise 3). Er dachte aber auch hier nicht an genetische Abkunft – große Philosophen sind bisher nicht aus Philosophen-Geschlechtern hervorgegangen –, sondern an Gesellschaften, die ber lange Zeit den Glauben an „Rangordnung und Werthverschiedenheit von Mensch und Mensch“ hochgehalten und gnstige Bedingungen geschaffen haben fr ein „Verlangen nach immer neuer Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst, die Herausbildung immer hçherer, seltnerer, fernerer, weitgespannterer, umfnglicherer Zustnde, kurz eben [fr] die Erhçhung des Typus ,Mensch‘, die fortgesetzte ,Selbst-berwindung des Menschen‘“, das „P a t h o s d e r D i s t a n z“ (JGB 257). Dies aber entsteht, so Nietzsche, vor allem aus Leidenserfahrungen, wie er sie selbst gemacht hat: „Der geistige Hochmuth und Ekel jedes Menschen, der tief gelitten hat – es bestimmt beinahe die Rangordnung, w i e tief Menschen leiden kçnnen –, seine schaudernde Gewissheit, von der er ganz durchtrnkt und gefrbt ist, vermçge seines Leidens m e h r z u w i s s e n, als die Klgsten und Weisesten wissen kçnnen, in vielen fernen entsetzlichen Welten bekannt und einmal ,zu Hause‘ gewesen zu sein, von denen ,i h r nichts wisst!‘“ (JGB 270) Die, die dagegen auf einer Moral fr alle bestnden, msse man „zwingen, sich zu allererst vor der R a n g o r d n u n g zu beugen, man muss ihnen ihre Anmaassung in’s Gewissen schieben, – bis sie endlich mit einander darber in’s Klare kommen, das es u n m o r a l i s c h ist zu sagen: ,was dem Einen recht ist, ist dem Andern billig‘.“ (JGB 221) Doch dies werde Zeit brauchen, die Zeit, die das „grçsste neuere Ereigniss“ braucht, „dass ,Gott todt ist‘,“ mit dem Nietzsche dann das V. Buch der FW erçffnet (FW 343/4.4.), es gehçre in dieses Ereignis: Das Licht der fernsten Sterne kommt am sptesten zu den Menschen; und bevor es nicht angekommen ist, l e u g n e t der Mensch, dass es dort – Sterne giebt. ,Wie viel Jahrhunderte braucht ein Geist, um begriffen zu werden?‘ – das ist auch ein Maassstab, damit schafft man auch eine Rangordnung und Etiquette, wie sie noth thut: fr Geist und Stern. – (JGB 285)
In FW 373 ordnet Nietzsche nach den Kirchenfrsten (8.4.3.) auch die „Gelehrten“, seien es Wissenschaftler oder Philosophen, nach dem Rang der ,Geistigkeit‘, der Fhigkeit, souvern mit wissenschaftlichen und
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philosophischen Unterscheidungen umzugehen. Doch ,Geist‘ erscheint hier nur als „geistiger Mittelstand“, schließlich als „Geisteskrankheit“. Der Druck einer scientific community auf gemeinsame Probleme und Methoden, sie zu lçsen, nivelliert, wissenschaftssoziologisch betrachtet, auf lange Sicht die Rangordnung der Wissenschaftler und ihre Kraft, neue Probleme vorurteilslos zu sehen und furchtlos anzugehen. Und da auf eine geistige Rangordnung naturgemß jeder seine eigene, von seinem eigenen Rang bedingte Perspektive hat, es von ihr also kein allgemeingltiges Verstndnis und erst recht keine allgemeingltigen „Gesetze“ geben kann, gert sie ihnen vollends aus dem Blick.605 Und das gilt dann auch fr die „grossen Probleme“, fr die man, so Nietzsche schon in FW 345 zur „M o r a l a l s P r o b l e m“ (6.1.), wie man sagt, ,geschaffen‘ sein muss. Mit dem Wort „eigentlich“, das er in FW 373 hinzufgt („die eigentlichen g r o s s e n Probleme“), dem Wort, mit dem er seinerseits in Frage stellt, was andere als selbstverstndlich gelten lassen (NSM 6), betont er das noch. Er erwhnt die „grossen Probleme“ vier Mal in seinen verçffentlichten Werken (und nur in ihnen),606 doch nur hier nennt er ein konkretes Problem: das der Wissenschaft. Sie, die methodisch Probleme stellt, hat es am schwersten, sich selbst als Problem zu sehen. Wenn er nun sagt, durchschnittliche Gelehrte „drfen“ die großen Probleme und Fragezeichen „gar nicht in Sicht bekommen“, geht er das Problem des Problematisch-Werdens normativ an. Maßstab sind fr ihn jedoch nicht bergeordnete moralische Normen, sondern die großen Probleme selbst: Sind Wissenschaftler fhig, sie sehen und angehen und damit das Problembewusstsein der Wissenschaft selbst verndern zu kçnnen, berschreiten sie die Grenzen ihrer Wissenschaft und werden zu Philosophen. In seiner „Anmerkung“ zur I. Abhandlung der GM schrieb Nietzsche dann: A l l e Wissenschaften haben nunmehr der Zukunfts-Aufgabe des Philosophen vorzuarbeiten: diese Aufgabe dahin verstanden, dass der Philosoph das 605 Schon Descartes hat seinen Discours ironisch damit erçffnet, dass der gesunde Menschenverstand (bon sens) die bestverteilte Sache der Welt sei, weil jeder glaube, damit gut ausgestattet zu sein und selbst die, die sonst schwer zufriedenzustellen seien, nicht mehr davon wnschten, als sie haben. Vgl. schon Montaigne, Versuche, II 17 (De la praesumption/ber den Hochmut), 2.490/Micha 2.319/Stilett 326 a. 606 Außer in FW 373 in M 127 („Die grossen Probleme liegen auf der Gasse“), FW 345 („die grossen Probleme verlangen alle die g r o s s e L i e b e, und dieser sind nur die starken, runden, sicheren Geister fhig, die fest auf sich selber sitzen“) und WA 1.
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P r o b l e m v o m W e r t h e zu lçsen hat, dass er die R a n g o r d n u n g d e r W e r t h e zu bestimmen hat. – (GM I 17, Anm.)
13.2.3. Wissenschaftsethik: Moralischer Angriff auf moralische Perspektiven der Wissenschaft Und dann greift Nietzsche an, als frçhlicher Wissenschaftler einen zum Philosophen gewordenen Wissenschaftler, der in der weltweit wahrgenommenen Rangordnung der zeitgençssischen Philosophen hoch oben stand, Herbert Spencer. Hat Spinoza Nietzsche lediglich als Beispiel dafr gedient, wie Krankheit das Philosophieren leiten kann (FW 349/5.3.), sind ihm die deutschen Schopenhauerianer nur Spott wert gewesen (FW 357/ 12.7.), hat er in Luther auf die deutsche Reformation gezielt (FW 358/8.4.) und sind seine Einwnde gegen die Musik Wagners „physiologischer“ Art gewesen (FW 368/17.1.1.), so sucht er sich in Herbert Spencer nun seinen philosophischen Gegner. Herberts Spencer hatte in der Philosophie eine zum Verwechseln hnliche Richtung eingeschlagen, was Nietzsche, wie oft in solchen Fllen, polemisch werden ließ. Er besaß einige Werke Spencers, hatte um 1880/81 besonders die 1879 im Original und auch schon in deutscher bersetzung erschienenen Thatsachen der Ethik durchgearbeitet und sich intensiv mit ihnen auseinandergesetzt.607 Er zhlte Spencer, wie er zuvor schon brieflich mitgeteilt hatte, zu den „philos Grçssen Engl“ und hielt ihn fr „hçchst l e h r r e i c h“.608 Spencer bestrkte ihn im Versuch einer Naturgeschichte der Moral, ihrer physiologischen Ableitung aus Trieben; er hatte wie Nietzsche versucht, das Verstndnis der Moral von theologischen und metaphysischen Voraussetzungen zu lçsen, und in den traditionellen englischen Utilitarismus, den er teilte und wie John Stuart Mill durch einen strikten Liberalismus ergnzte, den Evolutionismus eingetragen und auf die Gesellschaft angewandt.609 Durch Biologie, Psychologie, Soziologie und 607 Die Belege zu Nietzsches Verhltnis zu Herbert Spencer wurden zuletzt von Orsucci, Orient-Okzident, 155 – 159, und vor allem Fornari, Die Spur Spencers in Nietzsches „moralischem Bergwerke“, und Fornari, La morale evolutiva del gregge, aufgearbeitet und von Brobjer, Nietzsche and the „English“, 219 – 223, zusammengefasst. Fornari arbeitet heraus, worin Spencer Nietzsche zur Kritik eigener Annahmen, also zu Selbstberwindungen, angeregt haben kçnnte. Zu Nietzsches Angst vor Verwechslung mit Spencer vgl. Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, 130 – 137. 608 Briefe an Paul Re, Malwida von Meysenbug und Elisabeth Nietzsche von Anfang August 1877, KGB II/5, Bf.643, Bf.644, Bf.646; Brief an Schmeitzner vom 22. Nov. 1879, KGB II/5, Bf.907. 609 Spencer hatte 1852, vor Darwins Origin of Species (1859), in A Theory of Population den Evolutionismus in lamarckistischer Prgung propagiert und integrierte dann
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Ethik hindurch suchte er die Evolution der Natur und der Gesellschaft als fortschreitenden theoretischen und praktischen Erkenntnisgewinn zu erweisen, in dem aus ,Einfacherem‘ immer neu ,Komplexeres‘ und ,Hçheres‘ entstehe; die komplexeste und hçchste, die menschliche Erkenntnis msse darum auch die der Wirklichkeit angemessenste sein. Spencer dachte das gesamte Universum als Organismus, dessen Komponenten berlebten, indem sie sich einander anpassten, und so schließlich in einer vollkommen harmonischen Koordination enden mssten; das Ntzliche msse als Angepasstes auch zum Guten werden.610 Auf diese Weise bekam die Evolution ein letztes Ziel und einen guten Zweck, und damit war Nietzsche herausgefordert.
Er nennt Spencer „den pedantischen Englnder“, was wohl heißt, den zwar wissenschaftlich Schritt fr Schritt sein System entwickelnden, sich dabei mit großer Ausfhrlichkeit um genaue Belege bemhenden und dennoch „auf seine Weise schwrmenden“ Utilitaristen, der seine Belege so auswhlt, dass sich konsequent das Ntzliche durchsetzt und notwendig zum Guten wird und sich so „,Egoismus und Altruismus‘“ endlich versçhnen, und dabei die Perspektive dieser Auswahl nicht kritisch in Frage zu stellen fhig ist.611 Eine solche moralische Beschrnkung der Wissenschaft lçse in ihm, Nietzsche, „beinahe Ekel“ aus, den Ekel dessen, der (nach JGB 270) zu tief gelitten hat und dessen ,treibende Krfte‘ (nach FW 360) rebellieren. Die moralische Verengung der „Spencer’schen Perspektiven“, die ihn „einen Hoffnungs-Strich, eine Horizont-Linie der Wnsch-
Darwins Evolutionstheorie in sein System; Darwin, The Descent of Man, 101, nannte Spencer seinerseits „our great philosopher“. 610 Spencers Konzept wird unter den Namen ,Evolutionre Erkenntnistheorie‘ und ,Evolutionre Ethik‘ bis heute weiterverfolgt. Vgl. u. a. Ltterfelds (Hg.), Evolutionre Ethik zwischen Naturalismus und Idealismus (Bezge auf Spencer v. a. 114, 224), zur Bedeutung Spencers fr die Evolutionsbiologie Mayr, Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt, 307 f. 611 Vgl. N 1880/81, 8[35], KSA 9.390: „Der Werth des Altruism ist n i c h t das Ergebniß der Wissenschaft; sondern die Menschen der Wissenschaft lassen sich durch den j e t z t v o r h e r r s c h e n d e n Tr i e b verleiten, zu glauben, daß die Wissenschaft den Wunsch ihres Triebes besttige! cf. Spencer.“ Noch in GM I 3 begrßt Nietzsche wohl Spencers Ansatz beim Ntzlichen („dass in den Urtheilen ,gut‘ und ,schlecht‘ die Menschheit gerade ihre u n v e r g e s s n e n und u n v e r g e s s b a r e n Erfahrungen ber ntzlich-zweckmssig, ber schdlich-unzweckmssig aufsummirt und sanktionirt habe“), verwirft jedoch die einseitigmoralischen Folgerungen, die er aus ihm zieht („Gut ist, nach dieser Theorie, was sich von jeher als ntzlich bewiesen hat: damit darf es als ,werthvoll im hçchsten Grade‘, als ,werthvoll an sich‘ Geltung behaupten. Auch dieser Weg der Erklrung ist, wie gesagt, falsch, aber wenigstens ist die Erklrung selbst in sich vernnftig und psychologisch haltbar.“).
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barkeit“ ziehen ließen612 und fr ihn so zu „letzten Perspektiven“ der Menschheit wrden, – eine solche Menschheit scheine ihm „der Verachtung, der Vernichtung werth“.613 Auf der Spitze der Polemik fhrt Nietzsche seine eigenen „Fragezeichen“ (FW 346/7.) als Gegenargument an: „schon d a s s Etwas als hçchste Hoffnung von ihm empfunden werden muss, was Anderen bloss als widerliche Mçglichkeit gilt und gelten darf, ist ein Fragezeichen, welches Spencer nicht vorauszusehn vermocht htte…“ Wenn Spencer das Ziel und Ende der Evolution vorauszusehen glaubte, so hat er doch Nietzsche, den Kritiker seiner moralischen Perspektive, nicht vorausgesehen und in dieser moralischen Perspektive nicht voraussehen kçnnen. Spter, in EH, hat Nietzsche sich zu seiner „Kriegs-Praxis“ erklrt. Danach greift er grundstzlich – und so auch hier – „nur Sachen an, die siegreich sind,“ nur, wo er „keine Bundesgenossen finden wrde, wo ich allein stehe, – wo ich mich allein compromittire“, Personen nur, wo er sich ihrer „wie eines starken Vergrçsserungsglases“ bedienen kann, „mit dem man einen allgemeinen, aber schleichenden, aber wenig greifbaren Nothstand sichtbar machen kann“, und nur, „wo jeder Hintergrund schlimmer Erfahrungen fehlt.“ (EH weise 7) Das alles trifft zu auf sein Verhltnis zu Herbert Spencer. Mit seinem Angriff kompromittiert Nietzsche sich selbst, in seinem „Ekel“ macht er keinen Anspruch auf 612 Vgl. N 1880, 7[56], KSA 9.328 („Was nach wissenschaftlichen strengen Causalbegriffen uns wirklich g u t ist (z. B. unbedingter Glaube usw.) das ist vielleicht eben durch die Strenge des wissenschaftlichen Geistes uns nicht mehr mçglich! (Gegen Spencer’s harmlose Glubigkeit an die Harmonie von Wissen und Nutzen)“), und N 1881, 11[98], KSA 9.476 („Von jedem Augenblick im Zustand eines Wesens stehen zahllose Wege seiner E n t w i c k l u n g offen: der herrschende Trieb aber heißt nur einen einzigen g u t, den nach seinem Ideale. So ist das Bild Spencer’s von der Zukunft des Menschen nicht eine n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e N o t h w e n d i g k e i t, sondern ein W u n s c h aus jetzigen Idealen heraus.“). 613 Kaufmann, Commentary, 334, Fn. 135, zitiert ein hnliches Urteil von William James ber Spencer. – Vgl. N 1880, 6[456], KSA 9.316 („Es ist nicht wahr, daß gut und schlecht die Ansammlung von Erfahrung ber zweckmßig und unzweckmßig ist. A l l e b ç s e n Triebe sind i n e b e n s o h o h e m G r a d e z w e c k m ß i g und a r t e r h a l t e n d als die guten! NB gegen Spencer.“), und N 1881, 11[43], KSA 9.457 („Diese Verherrlicher der Selektions-Zweckmßigkeit (wie Spencer) glauben zu wissen, was b e g n s t i g e n d e U m s t n d e einer Entwicklung sind! und rechnen das B ç s e nicht dazu! Und was wre denn ohne Furcht Neid Habsucht aus dem Menschen geworden! Er existirte nicht mehr: und wenn man sich den reichsten edelsten und fruchtbarsten Menschen denkt, o h n e Bçses – so denkt man einen Widerspruch.“).
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Objektivitt, sondern setzt seine Moral gegen Spencers Moral, eine reflektierte, sich ihrer leitenden Affekte bewusste Moral gegen eine, wie er sie einschtzt, unschuldige, unreflektierte Moral, kurz eine problembewusste gegen eine problemlose Moral. Die „Rangordnung zwischen Mensch und Mensch“ wird zu einer „R a n g o r d n u n g zwischen Moral und Moral“ (JGB 228). Nietzsches Wissenschaftsphilosophie erweitert sich zu einer Wissenschaftsmoral, und wenn man Ethik als Reflexion der Moral, auch und gerade der eigenen, versteht, zu einer Wissenschaftsethik.614 Nach diesem ersten Angriff setzt Nietzsche Auslassungspunkte, gibt dem Leser einen Moment Zeit, sich dessen gewahr zu werden, dass da eine Moral aus der Perspektive einer andern beurteilt wird, die sich erregt ußert (immer weiter ausgreifende Stze, Satzbruch, empçrter Ausruf ), und dass er, der Leser, dies unwillkrlich wieder aus der Perspektive seiner Moral beobachtet – so kann er wahrnehmen, ob er seinerseits fr oder gegen Spencer Partei ergreift oder, reflektierter, ob er fr oder gegen diese Art von Kriegs-Praxis ist. Doch er kann auch diese Auslassungspunkte auch einfach berlesen … Mit dem zweiten Beispiel („Ebenso“) erweitert Nietzsche den Horizont seiner Argumentation von einer halb wissenschaftlichen, halb philosophischen Position auf die Wissenschaft und ihre philosophischen Voraussetzungen und Ansprche berhaupt. Er nhert sich ihnen ber den „Glauben“ „so vieler materialistischer Naturforscher“ „an eine ,Welt der Wahrheit‘“, mit dem man sich nach Kants Kritik philosophisch nicht mehr „zufrieden geben“ kann. Er benennt nun keine Personen mehr. Der Glaube an die physikalische „Mechanik“, der sich seit den vielfltigen Anfngen der modernen Naturwissenschaft bei Kepler, Galilei, Descartes, Pascal, Newton immer strikter formiert und immer strker durchgesetzt hat und der im 19. Jahrhundert schließlich zur Hoffnung wurde, das gesamte Weltgeschehen einschließlich des lebendigen und geistigen wie eine Maschine (lgwav^) verstehen zu kçnnen, war inzwischen so verbreitet, dass man keinen Einzelnen mehr zu seinem ,Vergrçsserungsglas‘ machen konnte. So greift Nietzsche nun den Glauben selbst an. Er hat sich, so inszeniert er es, weiter in Zorn geschrieben: neuer Satzbruch, Gedankenstrich, erregte rhetorische Fragen, auftrumpfende Belehrung („– wie? wollen wir uns wirklich dergestalt das Dasein zu einer Rechenknechts-Uebung und Stubenhockerei fr Mathematiker herabwrdigen lassen? Man soll es“), Anrede an die Gelehrten selbst, zu denen auch 614 Vgl. (im Anschluss an Kierkegaard, Nietzsche, Luhmann, Levinas und Derrida) Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 543 f., 591 ff.
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er, der Leser, gehçren kçnnte („meine Herren“), dann massive Beleidigungen („das ist eine Plumpheit und Naivett, gesetzt, dass es keine Geisteskrankheit, kein Idiotismus ist“, „Eine ,wissenschaftliche‘ Welt-Interpretation, wie ihr sie versteht, kçnnte […] eine der d m m s t e n […] sein“). Nietzsche widerlegt den Glauben nicht, und er kçnnte ihn auch nur widerlegen, wenn er mehr von der wahren Welt wsste als die „Mechaniker“. Er kann nur in einem weiteren „Horizont“ deren Beschrnktheit zeigen. Dies ist dann kein Horizont einer „,Welt der Wahrheit‘“ mehr, sondern einer Welt der Entscheidung zwischen „WeltInterpretationen“, die zuletzt von individuellen Orientierungen und ihren Bedrfnissen und Nçten abhngen. Nietzsche versetzt den Leser unmittelbar in den Streit konkurrierender Orientierungen, lsst ihn, wie die Sachlage es verlangt, sich selbst entscheiden.615 13.2.4. Wissenschaftssthetik: Hçren der Musik des Lebens in vielfltigen Welt-Interpretationen Eine Entscheidung aber, die keinen allgemeingltigen Kriterien folgt, ist zuletzt Sache des „Geschmacks“. Nietzsche erweitert die Wissenschaftsphilosophie damit nach der Wissenschaftsethik zur Wissenschaftssthetik, die eines anderen „Ohrs und Gewissens“ bedarf. Er ruft dazu wiederum moralisch auf („das fordert der g u t e Geschmack“), nimmt die Ethik und ihre „Ehrfurcht“ in die sthetik mit. In der ,Frçhlichkeit‘ des sthetischen Urteils bleibt der ethische Ernst des wissenschaftlichen Urteils erhalten. So aber bekommt nach Nietzsche die Wissenschaft erst ,Sinn‘: „eine essentiell mechanische Welt wre eine essentiell s i n n l o s e Welt“. 615 Giorgio Colli nimmt FW 373 als Beleg dafr, dass das V. Buch der FW die „magische Harmonie“ der ersten vier Bcher nicht mehr erreiche: whrend, so Colli, FW 373 „grimmig die Wissenschaft kritisiert“, fordert FW 293 aus dem IV. Buch „gelassen und scharfsinnig ihre Anerkennung“ (KSA 3.663). Doch die beiden Aphorismen handeln von Verschiedenem: FW 293 von der Strenge, FW 373 von der Enge der Wissenschaft. Beides widerspricht einander nicht, sondern gehçrt nach Nietzsche zusammen. Auch in FW 373 erkennt Nietzsche die Wissenschaft als solche durchaus an. So ist FW 373 vielmehr ein Beleg dafr, dass sich der Sinn eines Aphorismus erst im Kontext mit anderen, hier mit FW 360 und FW 374 und 375, und zugleich aus seiner Form und seinem Ton erschließt. – Mller-Lauter, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, interpretiert FW 373 und 374 auf Fragwrdigkeiten von Nietzsches „Lehre vom Wille zur Macht“ hin. Nietzsche hlt sie jedoch aus beiden Aphorismen heraus.
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,Sinn‘ ist ein Letztbegriff: die Frage nach dem Sinn von ,Sinn‘ setzt den Sinn von ,Sinn‘ schon voraus. Sinn ,ergibt sich‘, wenn sich Anhaltspunkte zu Zusammenhngen fgen, mit denen man, wie man sagt, ,etwas anfangen‘ kann.616 Er ist immer Sinn fr eine bestimmte Orientierung, er ergibt sich stets in einer bestimmten Perspektive, in der Begrenzung und Ausrichtung einer jeweiligen Sicht. Die Perspektive ,legt‘ ihre Interpretation in das jeweils Gegebene ,hinein‘, der Sinn wird ,gesetzt‘ oder ,gegeben‘. „Ein ,Ding an sich‘“, notierte sich Nietzsche, wre „ebenso verkehrt wie ein ,Sinn an sich‘, ,eine Bedeutung an sich‘. Es giebt keinen ,Thatbestand an sich‘, s o n d e r n e i n S i n n m u ß i m m e r e r s t h i n e i n g e l e g t werden, damit es einen ,Thatbestand‘ geben kçnne / Das ,was ist das?‘ ist eine S i n n -S e t z u n g von etwas Anderem aus gesehen. Die ,E s s e n z‘, die ,W e s e n h e i t‘ ist etwas Perspektivisches und setzt eine Vielheit schon voraus. Zu Grunde liegt immer ,was ist das fr m i c h?‘ (fr uns, fr alles, was lebt usw.)“ Entsteht der Sinn von etwas aber jeweils in der Perspektive von etwas anderem, so wird jenes ,etwas‘ umso deutlicher ,bezeichnet‘, aus je mehr Perspektiven es beobachtet wird, und jede weitere Perspektive kann sein ,Wesen‘ noch einmal verndern: „Ein Ding wre bezeichnet, wenn {an ihm erst} alle Wesen {an ihm} ihr ,was ist das?‘ {dazu} gefragt u. beantwortet htten. {Gesetzt,} ein einziges Wesen {Ding}, mit seinen eigenen {Relationen u} Perspektiven {zu allen Dingen}, fehlend: u das Ding ist immer noch nicht ,definirt‘.“ (N 1885/86, 2[149], KSA 12.140 / W I 8, S. 75) Wenn Sinn sich in Perspektiven ergibt, so wird er voller und reicher durch Perspektiven-Vervielfltigung. Wenn Nietzsche schreibt, der Sinn und „W e r t h“ (hier der Musik) werde „begriffen, verstanden, erkannt“ (oder nicht), scheint er doch vorauszusetzen, dass es ihn an sich schon gbe. Alltglich, in der ,natrlichen Einstellung‘, setzt man das in der Tat voraus; doch das heißt nur, dass man sich die Perspektive seiner Sinngebung in der Regel nicht bewusst macht. Nietzsche unterscheidet darum von der unbewussten Sinngebung den „Willen“, etwas bewusst im eigenen Sinn zu beurteilen, zu bewerten und dadurch ,umzuschaffen‘. In diesem Sinn ist „aller Sinn“ dann „Wille zur Macht“: „Giebt es denn einen Sinn im An-sich??“, notierte er. „Ist nicht nothwendig Sinn aber Beziehungs-sinn und Perspektive? / Aller Sinn ist Wille zur Macht (alle Beziehungs-Sinne lassen sich in ihn auflçsen).“ (N 1885/86, 2[77], KSA 12.97 / W I 8, S. 138) Ein Sinn ,gebender‘ oder ,schaffender‘ Wille zur Macht kann dann auf die Voraussetzung von gegebenem Sinn, der nur begriffen, verstanden oder erkannt wrde, verzichten und sich bewusst der Sinnlosigkeit der Welt an sich, dem Nihilismus aussetzen: „Es ist ein Gradmesser von Willenskraft, wie weit man des Sinnes in den Dingen entbehren kann, wie weit man {in} einer sinnlosen Welt zu leben aushlt: weil man ein kleines Stck von ihr selbst orga616 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 181 – 183.
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nisirt.“ (N 1887, 9[60], KSA 12.366 / W II 1, S. 97) So hat Nietzsche auch seinen Zarathustra sprechen lassen („Werthe legte erst der Mensch in die Dinge, sich zu erhalten, – er schuf erst den Dingen Sinn, einen Menschen-Sinn! Darum nennt er sich ,Mensch‘, das ist: der Schtzende“, ZA I Ziele, KSA 4.75). Im eigenen Namen formulierte Nietzsche dann kritisch: „Wer seinen Willen nicht in die Dinge zu legen weiss, der legt wenigstens einen Sinn noch hinein: das heisst, er glaubt, dass ein Wille bereits darin sei (Princip des ,Glaubens‘).“ (GD Sprche 18)
Interpretationen und ihre Perspektiven zu beschrnken, ist nach dem Selbstverstndnis der Wissenschaften methodisch zulssig und notwendig; je begrenzter die Perspektiven, desto schrfer die Abgrenzungen des in ihnen Beobachteten, die ,Definitionen‘. So wird mathematische Naturwissenschaft mçglich: sie beobachtet die Natur in der Perspektive ihrer mathematisch formulierbaren Gesetzlichkeit und opfert ihr alles brige. Glaubt sie dann, was sie da beobachtet, sei schon die Natur, wird aus der weisen methodischen Beschrnkung unweise philosophische Beschrnktheit, die „Welt-Interpretation“ kçnnte dann „eine der d m m s t e n, das heisst sinnrmsten aller mçglichen Welt-Interpretationen sein“. Bei genauerem Hinhçren ist Nietzsches Sprache gegenber den „Herren Mechanikern“ denn auch weniger beleidigend, als es scheint: „Idiotismus“ heißt im Wortsinn eben dies, Beschrnkung auf eine Perspektive, der Geist wird krank, wenn er durch Beschrnktheit in seiner Beweglichkeit gelhmt wird (6.3.2.), und Dummheit kçnnte als Perspektiven-Armut besser definiert sein denn als Intelligenz-Defizit (kluge und schlaue Leute mssen nicht intelligenter sein als andere, aber mehr Perspektiven haben, um eine Situation berlegen zu bewltigen). So kçnnte, wie Nietzsche vorab fr sich notiert hatte, die Beschrnkung der „Welt-Ausdeutungen“ auf den Mechanizismus oder das „Princip der grçßtmçglichen Dummheit“ „ein scherzhafter Ausdruck“ „in einer so ernsten Angelegenheit“ sein (N 1885/86, 36[34], KSA 11.564 / W I 4, S. 24). Nietzsche steigert noch einmal das Tempo und die Erregung – neue Parenthesen, einander berstrzende rhetorische Fragen – und wechselt dann plçtzlich die Szene: „dies den Herrn Mechanikern in’s Ohr und Gewissen gesagt, die heute gern unter die Philosophen laufen“. Die „Herrn Mechaniker“ sind wohl dieselben Herrn („meine Herren“) wie zuvor. Aber Nietzsche spricht sie nun nicht mehr an, sondern spricht ber sie als Dritte, er hat sich inzwischen unauffllig von ihnen abgewandt, seinerseits die Perspektive gewechselt. Er spricht nun offenbar als Philosoph zu Philosophen. Dass dem Mechanismus huldigende Wissenschaftler ihren Mechanismus zur Philosophie machen und diese ihrerseits mechanistisch
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als „Lehre von den ersten und letzten Gesetzen“ verstehen, ist nur fr einen wirklichen Philosophen zu erkennen, und als solcher bedient sich Nietzsche nun ,frçhlich‘ nicht nur wissenschaftlicher, sondern auch dichterischer Figuren. Er plausibilisiert seine philosophische „Welt-Interpretation“ mit Metaphern des Leibes („Wre es umgekehrt nicht recht wahrscheinlich, dass sich gerade das Oberflchlichste und Aeusserlichste vom Dasein – sein Scheinbarstes, seine Haut und Versinnlichung – am Ersten fassen liesse? vielleicht sogar allein fassen liesse?“), deutet nun die Erkenntnis des „Daseins“ als Begegnung von Leibern. Dazu gehçrt all das, wovon er teils gesprochen und was er teils gezeigt hat: Irritation, Emotion, Leidenschaft, Behauptungswille – Wissenschaft nicht als reduzierte Mechanik der Formulierung und Begrndung von „ersten und letzten Gesetzen“, sondern in ihren komplexen „Bedrfnissen“, „Wnschen“ und „Befriedigungen“. Diese Komplexitt der Wissenschaft fordert selbst eine andere Wissenschaft, keine reduktionistische, sondern eine perspektivistische, keine auf eine Methode festgelegte, sondern mit vielfltigen Methoden spielende. Auch sie hat es mit Oberflchen zu tun, weiß aber, dass es nur Oberflchen sind. Darin ist sie Philosophie. Zum Schluss bringt Nietzsche, scheinbar nur als Beispiel, die Musik ins Spiel. An der Oberflche bleibt er bei der Wissenschaftssthetik: Musik, mechanisch „gezhlt, berechnet, in Formeln gebracht“, verliert offensichtlich den Charakter der Musik, wrde etwas anderes als das, was bisher als Musik verstanden wurde. Ihr Sinn wrde verschoben, wenn nicht verloren. Wie zuerst „,Wissenschaft‘“, so steht jetzt, am Schluss des Aphorismus, „,Musik‘“ in Gnsefßchen, wie zuerst von der „Rangordnung“ der Gelehrten, so ist jetzt vom „W e r t h einer Musik“ die Rede, wie zuerst von den „eigentlichen g r o s s e n Problemen“, so jetzt „von dem, was eigentlich an ihr [der Musik] ,Musik‘ ist“. Anfang und Ende des Aphorismus verweisen aufeinander, die Auslassungspunkte am Ende weisen an den Anfang zurck. Die Musik wird darum mehr als nur ein Beispiel sein. Man hat von ihr nur etwas „begriffen, verstanden, erkannt“, wenn man von ihr auch in irgendeiner Weise ,ergriffen‘, ,bewegt‘, leiblich ,mitgenommen‘ wird. Das Theoretische, Moralische und sthetische ist darin nicht zu trennen. ,Musik‘ ist im griechischen Sinn die wissenschaftliche und knstlerische Bildung zugleich. So ist sie ein weniger beschrnkter, vorurteilsfreierer Begriff fr die Wissenschaft, ihr ins Philosophische verschobener Sinn, fr den Nietzsche ansonsten den Begriff der ,frçhlichen Wissenschaft‘ hat. Er lsst auch bei der Musik offen, „was eigentlich an ihr ,Musik‘ ist!…“ Aber er hat es in FW 372 (17.2.) schon gesagt: „die Musik des Lebens“, die „ehemals“ „die Philosophen“ hçrten,
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als sie die Sinne noch „frchteten“, weil sie noch nicht durch „,Ideen‘“ beruhigt, befriedigt, gezhmt waren. Im Druckmanuskript fr FW 373 hatte sich Nietzsche noch direkt darauf bezogen: „Die Naturforscher des mechanistischen Bekenntnisses l e u g n e n im Grunde gleich allen Tauben, daß es Musik giebt, daß das Dasein Musik ist, selbst daß es Ohren geben drfe … Sie e n t w e r t h e n damit das Dasein.“ (KSA 14.275) Im verçffentlichten Text sagt er das nicht, sondern zeigt es mit der Musikalitt seines Textes.
13.3. Unbegrenzte Vervielfltigung von Interpretations-Perspektiven Nr. 374: U n s e r n e u e s , U n e n d l i c h e s ‘. 13.3.1. Ontologischer und kritischer Perspektivismus In FW 374 formuliert Nietzsche auf sehr genaue, aber auch subtile Weise seinen ,Perspektivismus‘. Der Aphorismus wird hufig zur Charakteristik seiner Philosophie im Ganzen herangezogen, meist jedoch ohne dass sein innerer Kontext und seine Kontexte mit den Aphorismen beachtet werden, in die Nietzsche ihn eingefgt hat. Aus ihnen wird sein subtiler Sinn erst deutlich. Weil Nietzsche mit dem „perspektivischen Charakter des Daseins“ einsetzt und diesen dadurch zu erlutern scheint, dass „alles Dasein essentiell ein a u s l e g e n d e s Dasein“ sei, glaubte man, ihm nun doch eine Ontologie, Aussagen ber die Beschaffenheit des Seins an sich, zuschreiben zu kçnnen. Darin konnte man sich durch ein sptes Notat besttigt sehen, in dem Nietzsche von dem „nothwendigen Perspektivism“ spricht, nach dem „jedes Kraftcentrum – u nicht nur der Mensch – von sich aus die ganze brige Welt construirt d. h. mit {an} seiner Kraft mißt, betastet, gestaltet …“ (N 1888, 14[186], KSA 13.373 / W II 5, S. 20). Sofern ein „Kraftcentrum“ aber nach dem spten Nietzsche ein „Quantum ,Wille zur Macht‘“ ist (N 1888, 14[79], KSA 13.258 / W II 8, S. 138), wre mit ,Perspektivismus‘ eine Ontologie der Willen zur Macht, wenn nicht des Willens zur Macht bezeichnet, auf die Heidegger Nietzsches Philosophieren festlegen wollte.617 617 Der Sinn von Nietzsches Perspektivismus war und ist besonders in der angelschsischen Forschung umstritten. Angesichts der ,postmodernen‘, v. a. aus Frankreich kommenden Nietzsche-Deutungen sucht man Argumente dafr oder
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Ontologie im Sinn einer positiven Lehre ber ein Sein an sich bleibt stets eine Versuchung des Philosophierens. Sie bçte an einem Sein alles Seienden einen letzten Halt und eine erste Orientierung.618 Die indoeuropischen Sprachen mit ihrem Schema eines zugrundeliegenden Subjekts, dem sich wechselnde Eigenschaften zuordnen lassen, legen diese Versuchung bestndig nahe (12.3.1.). Doch in jenen spten Notaten spricht Nietzsche von den „Kraft-Quanta, deren Wesen darin besteht, auf alle anderen Kraft-Quanta Macht auszuben“, stets kritisch, im Rahmen seiner „{Kritik des Begriffs ,Ursache‘}“ und insbesondere des mechanistischen Kausalittsverstndnisses, das noch bleibende Dinge, Atome, die aufeinander wirken, voraussetzt (N 1888, 14[81], KSA 13.260 f. / W II 5, dagegen, dass Nietzsches Perspektivismus ein von den Perspektiven unabhngiges Sein fordere oder zulasse oder ausschließe, und fragt, ob im Blick auf ein solches Sein (eine Art von) Wahrheit mçglich sei oder nicht. Prgnante Darstellungen des Stands der Diskussion, die sich zumeist nicht an verçffentlichte Aphorismen, sondern an nicht autorisierte Notate hlt, geben RLN, 148 – 150, 192 – 196, und Dellinger, Art. Perspektivismus. Zur frheren Literatur vgl. Nehamas, Immanent and Transcendent Perspectivism in Nietzsche, 474, Fn. 9. Die strksten ontologischen und epistemologischen Interpretationen von Nietzsches Perspektivismus haben Clark, Nietzsche on Truth and Philosophy; Leiter, Perspectivism in Nietzsche’s Genealogy of Morals, und Richardson, Nietzsche’s System, vorgelegt, fr eine ontologisch und epistemologisch mçglichst zurckhaltende hat v. a. Cox, Nietzsche. Naturalism and Interpretation, pldiert. Nach Zittel, Art. Perspektivismus, 300, ist die „Grundtendenz von N.s Perspektivismus die Verhinderung von Absolutsetzungen“. Darauf laufen auch die ausfhrlichen Analysen von Hales/ Welshon, Nietzsche’s Perspectivism, hinaus, die sich mithilfe der Unterscheidung eines schwachen von einem starken Perspektivismus der Paradoxie eines Selbstbezugs des Perspektivismus zu entziehen versuchen, die sie fr tçdlich halten. Dazwischen wurden zahlreiche vermittelnde Anstze, z. T. mit Hilfe kreativer Terminologien, erprobt. U.a. wurde Nietzsche gegen seine ausdrcklichen Erklrungen ein transzendentalphilosophischer Standpunkt jenseits der jeweiligen Standpunkte, auch seines eigenen, unterstellt (vgl. Kaulbach, Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie; Kaulbach, Autarkie der perspektivischen Vernunft bei Kant und Nietzsche; Gerhardt, Die Perspektive des Perspektivismus; und zur Kritik solcher Unterstellungen Nehamas, Immanent and Transcendent Perspectivism in Nietzsche). Dass Nietzsche, wie Nehamas seinerseits zeigen will, außer dem ,immanent perspectivism‘ einen ,transcendent perspectivism‘ vertreten habe, der jede Kenntnis anderer Perspektiven und jeden Austausch mit ihnen und darum auch jede Wahrheit ausschließe, bestreitet wiederum Strong, Comment. Zu Recht: Perspektiven haben nach Nietzsche Kenntnis voneinander und reagieren aufeinander – sonst ließe sich von Perspektiven im Plural gar nicht sprechen –, nur nicht aufgrund metaphysisch-ontologischer oder transzendentalphilosophischer Aprioris. 618 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 645 – 654.
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13. Vervielfltigung von Interpretations-Perspektiven
S. 136 f.). Im Begriff „Quantum Macht“ sucht er gerade ein „Werden“ zu konzipieren, in dem „nichts […] den Charakter des ,Seins‘ hat“: „es giebt keine dauerhaften letzten Einheiten, keine Atome, keine Monaden: auch hier ist ,das Seiende‘ erst von uns hineingelegt, (aus praktischen, ntzlichen perspektiv. Grnden)“.619 Das gelte auch fr Willen: „es giebt keinen Willen: es giebt Willens-Punktationen, die bestndig ihre Macht mehren oder verlieren“ (N 1887/88, 11[73], KSA 13.36 / W II 3, S. 167).620 Nietzsches Perspektivismus ist danach keine Ontologie, und ihm liegt auch keine Ontologie der Willen zur Macht (oder gar des einen Willens zur Macht) zugrunde. Das macht die Aphorismenkette zur Vervielfltigung von Interpretations-Perspektiven so prgnant wie subtil deutlich. Man muss auch hier sehr genau lesen. Nietzsche lsst auf die ontologische Kritik in FW 373 („Aber eine essentiell mechanische Welt wre eine essentiell s i n n l o s e Welt!“) in FW 374 nicht seinerseits die ontologische Behauptung folgen, dass „alles Dasein essentiell ein a u s l e g e n d e s Dasein ist“. Die scheinbar positive ontologische Behauptung ist vielmehr das letzte Glied einer doppelten Alternative von Hypothesen, die Nietzsche erst in der einen, dann in der umgekehrten Richtung vortrgt und deren Sinn er dabei verschiebt (p oder q, q’ oder p’): „Wie weit der perspektivische Charakter des Daseins reicht oder gar ob es irgend einen andren Charakter noch hat, ob nicht ein Dasein ohne Auslegung, ohne ,Sinn‘ eben zum ,Unsinn‘ wird, ob, andrerseits, nicht alles Dasein essentiell ein a u s l e g e n d e s Dasein ist –“. Mit „der perspektivische Charakter des Daseins“ nimmt Nietzsche den „v i e l d e u t i g e n Charakter“ des Daseins aus FW 373 auf, den man ihm lassen solle (p). Er schließt nun die Frage an, wie weit dieser Charakter dann reiche, ob er etwa nur fr Menschen im Zustand ihrer Bewusstheit gelte und jenseits ihrer Bewusstseins-Perspektive nicht, also alternativ dazu noch „irgendein andrer Charakter“ des Daseins anzusetzen wre, ein „Dasein ohne Auslegung“ durch verschiedene Per619 Vgl. N 1888, 14[79], KSA 13.259 / W II 5, S. 139: „Die mechanist. Welt ist so imaginirt, wie das Auge u das Getast sich allein eine Welt vorstellen ({als} ,bewegt‘) / so, daß sie berechnet werden kann, – daß Einheiten fingirt sind, / so daß urschliche Einheiten fingirt sind, ,Dinge‘ (Atome), deren Wirkung constant bleibt (– bertragung des falschen Subjektbegriffs auf den Atombegriff )“. 620 Punktationen sind in der Rechtssprache des 19. Jahrhunderts Niederschriften der Hauptpunkte vorlufiger Vertrge, die noch keine Rechtskraft haben. Zwischen Willen zur Macht, wie Nietzsche sie konzipiert, gibt es immer neue berwltigungs- und Bindungsversuche, die jedoch stets vorlufig bleiben – bis zu neuen berwltigungs- und Bindungsversuchen in neuen Krfteverhltnissen.
13.3. Unbegrenzte Vervielfltigung von Interpretations-Perspektiven. Nr. 374
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spektiven (q). Das scheint zunchst nicht nur sinnvoll, sondern geradezu zwingend. Ist Perspektivitt ein Spezificum des Bewusstseins oder der Bewusstheit (9.3.), so muss Nicht-Perspektivitt ein Spezificum des NichtBewussten sein. Doch auch dieser andere Charakter des Daseins wrde von uns dann wieder in unsrer Bewusstseins-Perspektive angesetzt (p als Bedingung von q), man kçnnte ihn nicht ontologisch vom Dasein selbst behaupten. Unter dieser Bedingung stellt sich die Frage nach q neu, als Frage nach q’, nmlich danach, ob fr unsere Bewusstseins-Perspektive „nicht ein Dasein ohne Auslegung, ohne ,Sinn‘ eben zum ,Unsinn‘ wird“. Wenn Sinn sich aus einer Passung von Anhaltspunkten in einer Perspektive ergibt, die die Sicht eingrenzt und ausrichtet, kann jenseits solcher Perspektiven kein „,Sinn‘“ und daher auch keine fr uns sinnvolle Ontologie mçglich sein. Sie wren vielmehr Nicht-Sinn oder „,Unsinn‘“, und so wre es auch Unsinn, Sinn in einem Sein an sich vorauszusetzen. Damit ist aber nicht nur q, sondern auch p, sind beide ontologisch anmutenden Eingangsbehauptungen (der „v i e l d e u t i g e“ als „perspektivischer Charakter des Daseins“ vs. „irgend ein andrer Charakter“) in die Bewusstseins-Perspektive zurckgenommen (p’ und q’) und nur noch Fragen des Bewusstseins an sich selbst, selbstbezgliche „Fragezeichen“ – in FW 375 wird Nietzsche nur noch von diesem „Fragezeichen-Charakter der Dinge“ sprechen. So aber entsteht dann wiederum in der Bewusstseins-Perspektive die Frage, „ob, andrerseits, nicht alles Dasein essentiell ein a u s l e g e n d e s Dasein ist“. Denn wenn wir alles nur in unserer Perspektive sehen kçnnen, sehen wir es mit unserem anthropomorphisierenden Blick seinerseits stets als perspektivisches Dasein. Wenn wir aber, da wir ja auch sehen, dass wir es nicht berall mit Menschlichem zu tun haben, nicht allem denselben Charakter von Bewusstheit zuschreiben wollen, msste das wiederum „irgend ein andrer Charakter“ sein, ein perspektivischer, aber eben nicht von unserer Art (q’). Das sind berechtigte Fragen, die genau auseinander folgen. Dennoch kçnnen sie nicht beantwortet werden: „– das kann, wie billig, auch durch die fleissigste und peinlich-gewissenhafteste Analysis und Selbstprfung des Intellekts nicht ausgemacht werden“. Dass Fragen nach einem Sein an sich prinzipiell nicht beantwortet werden kçnnen, war schon das Ergebnis von Kants Kritik der reinen Vernunft. So bleibt Nietzsche auch hier auf der kritischen Bahn.621 Er vermeidet lediglich, wie Kant seinerseits metaphysikverdchtig von ,Vernunft‘ zu sprechen, und zieht den mit der 621 Gerhardt, Die Perspektive des Perspektivismus, 262, rgt, Nietzsche sei sich dessen „leider nicht mit der wnschenswerten Klarheit“ bewusst gewesen.
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13. Vervielfltigung von Interpretations-Perspektiven
Evolution vertrglichen Begriff ,Intellekt‘ vor (FW 110/10.1.). Doch wie Kants Kritik eine Kritik der Vernunft durch die Vernunft selbst so ist auch die Kritik des Intellekts fr Nietzsche eine selbstbezgliche Kritik. Eben in dieser Selbstbezglichkeit, dass sie sich auch selbst nur in ihrer eigenen Perspektive beobachten kann, liegt ihr ,notwendiger‘, unaufhebbarer Perspektivismus, der Fragen nach dem Sein an sich gar nicht mehr sinnvoll stellen lsst, keine Ontologie in diesem Sinn zulsst. Noch zur Zeit der Entstehung des V. Buchs der FW hat Nietzsche das in einem berhmt gewordenen Notat prgnant so formuliert: „Das vernnftige Denken ist ein Interpretiren nach einem Schema, welches wir nicht abwerfen kçnnen.“ Er schickte, auf den „sprachlichen Zwang“ bezogen, voraus: „wir langen gerade noch bei dem Zweifel an, hier eine Grenze als Grenze zu sehen.“ (N 1886/87, 5[22], KSA 12.193 / N VII 3, S. 165)622 Mehr lsst sich vom Perspektivismus, wie Nietzsche ihn versteht, einem streng kritischen, selbstkritischen Perspektivismus, der es sich verbietet, sich selbst zu ontologisieren, nicht sagen. Wo Nietzsche dennoch ontologisch spricht, ist er sich dessen bewusst, dass er es wiederum in der Bewusstseins-Perspektive tut, und das zeigt er in seinen zur Verçffentlichung bestimmten Texten in der Regel auch an. Nietzsche hat mit seinem Perspektivismus jede Ontologie, einschließlich die Ontologisierung des Perspektivismus selbst, in die Paradoxie (auch der Perspektivismus ist nur eine Perspektive) und die Aporie (der Perspektivismus kann als Perspektivismus ber sich selbst nichts wissen) getrieben.623 Sein Perspektivismus wahrt den „unerbittlichen, grndlichen, untersten Argwohn ber uns selbst“, den Nihilismus (FW 346/7.1.5.). Doch er hilft nicht nur, den Nihilismus auszuhalten, sondern auch ,etwas mit ihm anzufangen‘, ihm Sinn abzugewinnen. 13.3.2. Gçttliche und ungçttliche Mçglichkeiten der Interpretation So subtil Nietzsche zunchst argumentiert, so bereitwillig hilft er sogleich mit einer handfesten, bis in FW 375 hinein fortgefhrten Metapher fr die 622 Vgl. dazu Stegmaier, Josef Simons Nietzsche-Interpretation, 3. 623 Es kann deshalb nicht darum gehen, der Selbstbezglichkeit des Perspektivismus zu entgehen. Vielmehr wird man die vor allem in Teilen der angelschsischen Nietzsche-Forschung auch mit dem Perspektivismus noch verbundene Illusion einer außerperspektivischen Wahrheit aufgeben mssen. Vgl. RLN, 193 mit Fn. 421.
13.3. Unbegrenzte Vervielfltigung von Interpretations-Perspektiven. Nr. 374
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Begrenzung einer Perspektive auf sich selbst: „Wir kçnnen nicht um unsre Ecke sehn: es ist eine hoffnungslose Neugierde, wissen zu wollen, was es noch fr andre Arten Intellekt und Perspektive geben k ç n n t e“.624 Darauf betont er die eigene Entscheidung, zu der die sich auf sich selbst beziehende und dadurch paradoxierende Perspektive zwingt („Aber ich denke“). Zugleich versucht er die Leser mitzunehmen („wir sind heute“). Wo Begrndungen und Widerlegungen nicht mehr mçglich sind, entscheidet nach FW 373 „der gute Geschmack“ („zum Mindesten ferne von der lcherlichen Unbescheidenheit“). Damit kann Nietzsche nun ohne weitere Begrndungen das begriffliche Ergebnis seiner Kritik formulieren: „Die Welt ist uns vielmehr noch einmal ,unendlich‘ geworden: insofern wir die Mçglichkeit nicht abweisen kçnnen, dass sie u n e n d l i c h e I n t e r p r e t a t i o n e n i n s i c h s c h l i e s s t.“ Wir kçnnen positiv ber andere Perspektiven und eine Welt, deren Perspektiven sie wren, nichts behaupten – wir kçnnen nicht ausschließen, dass die Welt oder was wir so nennen unbegrenzt interpretiert wird und ihrerseits unbegrenzt interpretiert. Nietzsches Formulierung „u n e n d l i c h e I n t e r p r e t a t i o n e n i n s i c h s c h l i e s s t“ lsst beides zu. Ob nur eines von beiden oder beides zutrifft, kçnnen wir in unserer anthropomorphisierenden Bewusstseins-Perspektive nicht entscheiden. Das Wort ,unendlich‘ hat Nietzsche im Titel in Gnsefßchen gesetzt, im Text dann zunchst noch einmal, zuletzt jedoch nicht mehr; stattdessen sperrt er es. Er gibt ihm schrittweise einen neuen, seinen Sinn. Dem „n e u e n , U n e n d l i c h e n ‘“ ging ein altes, bekanntes voraus: das Unendliche der physikalischen Welt im Großen und Kleinen, von dem Pascal gesprochen hatte. Er hatte die Situation des Menschen als die eines „Verirrten“ in einer „doppelten Unendlichkeit“ beschrieben: auf der einen Seite das Weltall, „eine unendliche Kugel, deren Zentrum berall und deren Peripherie nirgendwo ist“, auf der anderen Seite das unendlich Kleine, das wieder eine Unendlichkeit von Universen enthalten kçnne. Der Mensch msse sich darin zurechtfinden, gegenber dem Weltall unendlich klein und den kleinen Universen gegenber unendlich groß zu sein, ohne einen Maßstab, sich zu beiden ins Verhltnis zu setzen, „ein Nichts im Vergleich mit dem Unendlichen, ein All im Vergleich mit dem Nichts, ein 624 Vgl. auch JGB 41: „Nicht an einer Person hngen bleiben: und sei sie die geliebteste, – jede Person ist ein Gefngniss, auch ein Winkel. Nicht an einem Vaterlande hngen bleiben […]. Nicht an einem Mitleiden hngen bleiben […]. Nicht an einer Wissenschaft hngen bleiben […]. Nicht an seiner eignen Loslçsung hngen bleiben […]. Nicht an unsern eignen Tugenden hngen bleiben […].“
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13. Vervielfltigung von Interpretations-Perspektiven
Mittelding zwischen nichts und allem, unendlich weit davon entfernt, die Extreme zu erfassen“. Doch in begrenzten Horizonten beginnt fr die menschliche Vernunft etwas fassbar zu werden, sich eine Welt zu zeigen, in der wir uns orientieren kçnnen. Auf unserem zwischen dem unendlich Großen und dem unendlich Kleinen verlorenen Standpunkt wissen wir zwar nichts „sicher“, aber auch nicht „absolut nichts“, und so treiben wir auf einer weiten Mitte, immer unsicher und schwankend, von einem Ende zum andern gestoßen. Jeder Grenzpunkt, an den wir uns zu halten und festzumachen dachten, schwankt und entzieht sich uns, und wenn wir ihn verfolgen, entkommt er unseren Zugriffen, entgleitet uns und flieht in ewiger Flucht. Nichts bleibt fr uns stehen (Rien ne s’arrÞte pour nous). Das ist der Zustand, der uns natrlich ist, und dennoch der unserer Neigung am meisten entgegengesetzte; wir brennen vor Verlangen, einen festen Sitz zu finden und eine letzte feste Basis, um einen Turm darauf zu errichten, der sich ins Unendliche erhebt; aber unser ganzes Fundament kracht auseinander, und die Erde çffnet sich bis zu den Abgrnden.
Darber erfasst uns Schauder, der ein tiefes Bedrfnis nach festem Halt an festen Bestnden erregt und dazu drngt, letzte Gewissheit zu finden oder, wo sie sich nicht findet, zu erfinden. Pascal warnte, sich blind von diesem Bedrfnis leiten zu lassen, und empfahl als Gegenmittel die Maxime: Suchen wir also berhaupt keine Sicherheit und Festigkeit (Ne cherchons donc point d’assurance et de fermet).
In der Situation einer Ungewissheit, die Sicherheit und Festigkeit grundstzlich nicht zulsst, msse man sich auf diese Ungewissheit einlassen und sich in ihr mit geeigneten Mitteln zu halten versuchen, msse fr das Ungewisse arbeiten, ber das Meer fahren, ber ein Brett laufen (travailler pour l’incertain; aller sur la mer; passer sur une planche).625
Nietzsches Philosophieren, wie es seine Aphorismen-Bcher dokumentieren, ist ein solches Arbeiten am Ungewissen. M hatte er mit dem Gleichnis von Vçgeln geschlossen, die weit hinausgeflogen sind und sich schließlich mde irgendwo niedergelassen haben. Aber „a n d e r e V ç g e l“ kçnnten noch weiter fliegen, dorthin, wo kein Land mehr, sondern alles nur noch „Meer, Meer, Meer“ ist. Er fragte sich Zuspruch und Hilfe suchend, ob er ein Columbus sein kçnne, der alle Ziele und Zwecke preisgibt, darin sein neues ,Unendliches‘ findet – und daran scheitert: „Wird man vielleicht uns einstmals nachsagen, dass auch wir, n a c h W e s t e n s t e u e r n d , e i n I n d i e n z u e r r e i c h e n h o f f t e n, – 625 Pascal, Penses, Nr. 101/324.
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dass aber unser Loos war, an der Unendlichkeit zu scheitern? Oder, meine Brder? Oder? –“ (M 575) In FW 124 hat er unter dem Titel „I m H o r i z o n t d e s U n e n d l i c h e n“ das Gleichnis dann mutig weitergetrieben. Wir seien, schreibt er nun, „zu Schiff gegangen“, htten „das Land hinter uns abgebrochen“ – mssten jedoch bald „erkennen“, dass „es nichts Furchtbareres giebt, als Unendlichkeit“, und „den armen Vogel, der sich frei gefhlt hat“, kçnne nun „das Land-Heimweh“ befallen, als ob dort, im Kfig“, „mehr Freiheit gewesen wre“ als auf der grenzenlosen hohen See. Im V. Buch, in FW 374, steigert Nietzsche auch diesen Schauder noch: jenes Unendliche kann auch noch auf unendlich viele Weisen interpretiert werden. War das Pascalsche Unendliche immerhin noch physikalisch fassbar, so bietet das Nietzschesche keinerlei Halt mehr. Fr Interpretations-Perspektiven gibt es nicht wieder eine Perspektive ihrer Eingrenzung. Dieses Unendliche setzt Nietzsche nicht mehr in Gnsefßchen. Doch er bleibt nun gelassen, heiter, setzt dem „grossen Schauder“ die schlichte Unlust entgegen, sich von ihm weiter beirren zu lassen („– aber wer htte wohl Lust“). Auch der „grosse Schauder“ scheint ein dialektischer, sich selbst aufhebender zu sein (6.1.2.). Hat man die Kraft, den Nihilismus bis in seine ußersten Konsequenzen zu treiben, ihm vorbehaltlos ins Auge zu sehen (FW 346 u. 347/7.), wird man eben dadurch auch die Kraft finden, sich den ,grossen Problemen‘ zu stellen und sie mit ,grossen Entscheidungen‘ anzugehen; FW 378 (NSM 19) wird eigens davon handeln. Nach der „alten Weise“, das „Ungeheure von unbekannter Welt […] zu vergçttlichen“, beruhigte man sich damit, aus der schaudervollen Ungewissheit des Weltgeschehens die Gewissheit des Glaubens an einen wohl schaudervollen, aber auch wohlmeinenden, gtigen, liebenden Gott, aus „d e m Unbekannten“, das alles scheinbar Bekannte in Frage stellt, „,d e n Unbekannten‘“ zu machen, dem man alles verdankt und der es uns in seiner Gte stets auch hinreichend bekannt sein lsst. Pascal, Leibniz konnten ihr „Ungeheures von unbekannter Welt“ noch unbefangen in ungebrochenem christlichem Glauben vergçttlichen. Leibniz, der bereits jedes Seiende konsequent als Perspektive auf alles brige Seiende dachte, konnte auf dem Boden seiner Theologie auch noch eine Ontologie des Perspektivismus aufrechterhalten: danach sind zwar alle Perspektiven auf sich beschrnkt (,fensterlos‘), drfen jedoch glauben, im Wissen Gottes vollkommen aufeinander bezogen zu sein. In Gott wenigstens sind sie keine Fragezeichen freinander. Aber natrlich ist auch die unendliche gçttliche Perspektive, wie Leibniz sie dachte, eine menschliche, und so sorgfltig er und nach ihm Kant die gçttliche Perspektive von der menschlichen ab-
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13. Vervielfltigung von Interpretations-Perspektiven
grenzte, geschah dies doch in ihrer menschlichen, „u n g ç t t l i c h e n“ Perspektive. Sie ist nach FW 373 unvermeidlich begrenzt und damit ,dumm‘, und nach Schopenhauer wre es ,nrrisch‘, sich auf neue Vergçttlichungen des Unbekannten einzulassen. Fr Nietzsche scheinen die „u n g ç t t l i c h e n Mçglichkeiten“ dieser „Interpretation“ aber durchaus ihre interessanten Seiten zu haben, in der „Teufelei“, zu der „unsre eigne menschliche, allzumenschliche“ Interpretation fhig ist, „die wir kennen…“ Wir kennen sie vor allem aus JGB: hieß es schon in MA, „Menschen, die zugleich edel und ehrlich sind,“ brchten „es zu Wege, jede Teufelei, welche ihre Ehrlichkeit ausheckt, zu vergçttlichen und die Wage des moralischen Urtheils eine Zeit lang stillzustellen“ (MA II, VM 73),626 und in M von Schopenhauer, ihm sei „viel wirkliche Welt und Teufelei der Welt wieder sichtbar geworden“ und er habe „ebenso grob als begeistert“ von ihrer „S c h ç n h e i t“ gesprochen (M 190),627 ging Nietzsche in JGB seinerseits entschlossen daran, der Teufelei in „allem Bçsen, Furchtbaren, Tyrannischen, Raubthier- und Schlangenhaften am Menschen“ sein Recht in der „Erhçhung der Species ,Mensch‘“ zu geben (JGB 44) und fr sein Philosophieren alles zu Hilfe zu rufen, „was wir nur an Teufelei in uns haben – unsern Ekel am Plumpen und Ungefhren, unser ,nitimur in vetitum‘, unsern Abenteuerer-Muth, unsre gewitzte und verwçhnte Neugierde, unsern feinsten verkapptesten geistigsten Willen zur Macht und Welt-berwindung, der begehrlich um alle Reiche der Zukunft schweift und schwrmt,“ „alle unsere ,Teufel‘“ fr „unsern ,Gott‘“ der Redlichkeit: „Unsre Redlichkeit, wir freien Geister, – sorgen wir dafr, dass sie nicht unsre Eitelkeit, unser Putz und Prunk, unsre Grenze, unsre Dummheit werde!“ (JGB 227) Und dann vergçttlichte er seine eigene Teufelei als Gott seines Philosophierens, als „Gott D i o n y s o s“ – auch dies mit einiger Teufelei (JGB 295). Nietzsche hatte durchaus Lust, die Mçglichkeit unendlicher Interpretationen wieder zu vergçttlichen, jedoch in einem Gott, der nicht ber sie beruhigt, sondern im Gegenteil sie immer neu wachruft.
626 Vgl. die sptere Vorrede zu M (3): „Die Moral versteht sich eben von Alters her auf jede Teufelei von Ueberredungskunst“. 627 Vgl. jedoch N 1880/81, 9[7], KSA 9.411: „Schopenhauer der Grobe hat die Teufelei der Welt wieder sichtbar werden lassen – er kam nicht ganz so weit, auch die Teufelei des Guten und die Schçnheit und Gte der Teufelei zu entdecken und aufzudecken.“
13.4. Selbstbeherrschung im Drang nach Gewissheit. Nr. 375
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13.4. Selbstbeherrschung im Drang nach Gewissheit Nr. 375: Wa r u m w i r E p i k u r e e r s c h e i n e n . In FW 375 blickt Nietzsche auf die Errungenschaften „moderner Menschen“ zurck, von denen bisher im V. Buch der FW die Rede war, die Vorsicht „gegen letzte Ueberzeugungen“, das „Misstrauen“ „gegen die Bezauberungen und Gewissens-berlistungen“ durch einen „starken Glauben“, die Lust am „Fragezeichen-Charakter der Dinge“, den „Widerwillen gegen die grossen Moral-Worte und -Gebrden“, den „Geschmack“ fr feinere Unterscheidungen und die „Uebung in Vorbehalten“, trgt darin die Erfahrung des „neuen ,Unendlichen‘“ ein und zeigt in einem grandiosen Bild, welche Lebenshaltung sich daraus ergibt. Er beginnt mit der Vorsicht, fragt, wie sie sich erklrt, nmlich aus der Enttuschung ber all die illusionren Idealismen, die die europische Philosophie hervorgebracht hat, bis sie schließlich im 19. Jahrhundert in den Nihilismus fhrten, und schließt mit dem „Stolz“, der aus der Befreiung der Philosophie zu einer realistischeren Orientierung in beweglichen Perspektiven entspringen kann. Sie kann die Enttuschung in „frohlockende Neugierde“ verwandeln, die zuerst „schwelgt und schwrmt“, um sich dann beherrschen zu lernen. Kommt die Einsicht in die Begrenztheit der eigenen Perspektive zunchst als „Verzweiflung“ ber den Verlust des Halts an einem Sein an sich und einer fr alle gleich gltigen Wahrheit, so kann sie, wenn sie sich von den Paradoxien und Aporien nicht lhmen lsst, die die sich auf sich selbst beziehende Perspektive auslçst, leicht umschlagen in den Glauben an ein „Unbegrenztes“, ein „,Freies an sich‘“, der ebenso haltlos bleibt und in die alte Versuchung neuer Vergçttlichungen zurcktreibt. Hier bringt Nietzsche, fast nebenbei, die „E p i k u r e e r“ ins Spiel, die er im Titel angekndigt hat („Damit bildet sich ein nahezu epikurischer Erkenntniss-Hang aus, welcher den Fragezeichen-Charakter der Dinge nicht leichten Kaufs fahren lassen will“). In der Befreiung zum Perspektivismus scheint der Epikureismus wiederzukehren mit seiner Distanz zu aller Metaphysik, aus der er Gçttern nur eine wirkungslose Nischenexistenz einrumte, seiner Zurckhaltung gegenber allen positiven Behauptungen, seinem Mut zum horror vacui, seinem Determinismus (der mit seinem Ansatz bei Atomen und sie bewegenden Krften freilich auch schon etwas von einem Mechanismus an sich hatte), seinem Perspektivismus darin, die Atome nicht physikalisch, wohl aber mathematisch als teilbar zu betrachten, seinem Unendlichen in der Annahme unendlich
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13. Vervielfltigung von Interpretations-Perspektiven
vieler Welten, seinem Sensualismus, seiner Heuristik der Bedrfnisse, seinem klug gewordenen, im berhmten ,Garten‘ kultivierten Hedonismus, seiner moralischen Unbekmmertheit, seinem Streben nach unerschtterlicher Gelassenheit und eben seinem fr einen modernen freien Geist noch immer vorbildlichen „Erkenntniss-Hang“.628 Die „erwachenden Wissenschaften“, hatte Nietzsche schon in MA bemerkt, htten „Punct um Punct an Epikur’s Philosophie angeknpft.“ (MA I 68) Aber er hatte, wie er in FW 370 schreibt, Epikur allmhlich auch als „den Gegensatz eines dionysischen Pessimisten“ begreifen gelernt, und Epikureer steckten auch in Christen und in Romantikern; sie bestritten die Weisheit des Silen (4.2.). So konnte es nur so „s c h e i n e n“, als ob er und seinesgleichen Epikureer seien. Nun stand man schaudernd vor dem „neuen ,Unendlichen‘“ der unendlichen Interpretationen unendlicher Perspektiven, die nirgendwo Halt finden und vor denen man sich auch nicht mehr in irgendeinen Garten einfrieden kann. Umso strmischer musste jetzt der „Drang nach Gewissheit“ sein und umso schwerer dessen Beherrschung. Hier Erfolge zu erringen, sich Freiheit zu schaffen gegen das hartnckige Verlangen nach Halt und mçglichst letztem, unbedingtem Halt in Ontologien, Metaphysiken und Theologien war jetzt der „Stolz“ freier Geister, wie Nietzsche sie sich um sich dachte („wir“, „unsern“). Er greift Platons berhmten Vergleich der Seele mit einem beflgelten Rossegespann auf, nach dem die Vernunft einen Wagen zu steuern hat, der einerseits von einem wilden und hsslichen Pferd zu schlimmen Leidenschaften fortgerissen, andererseits von einem anderen, besonnenen und schçnen auf der rechten Bahn gehalten werden kann, und dabei zuweilen die Zgel heftig anziehen muss, so dass das wilde Pferd, das sich nicht fgen will, schamlos in wste Schmhungen ausbricht und den Wagen mit Gewalt weiterzerrt.629 Es geht, bei Platon und bei Nietzsche, um „Selbstbeherrschung“. Nietzsche besetzt jedoch die Rollen um. Waren wild fr den „Idealisten“ Platon noch die Leidenschaften und lag fr ihn der Stolz der Vernunft darin, die Macht der Leidenschaften der Besonnenheit zu unterwerfen (FW 372/17.2.), so ist nach Nietzsche der euro628 Vgl. Roos, Nietzsche et Epicure; Bornmann, Nietzsches Epikur; Milkowski, Idyllic heroism. Nietzsche’s View of Epicurus; Elbersbach, Nietzsche im Garten Epikurs; und (kritisch gegenber Bornmann) Bertino, Nietzsche und die hellenistische Philosophie, 96 – 110. Danach hat Nietzsche von den Epikureern die Person Epikurs unterschieden, dessen Charakter er stolz war „anders zu empfinden“, als einen, der mit großer Vornehmheit sein Glck gerade seinem Leiden abgewann (FW 45). 629 Platon, Phaidros, 246a-256e.
13.4. Selbstbeherrschung im Drang nach Gewissheit. Nr. 375
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pische ,Geist‘ inzwischen so gezhmt und in Moral verkleidet und versteckt (FW 352/6.2.), dass die „tollen feurigen Thiere“ in „wildesten Ritten“ nun von scheinbaren Gewissheiten fortgerissen werden und man hier Zgel anlegen muss.630 Statt eines Rossegespanns zeigt er einen „Reiter“ auf wechselnden Pferden, die aber immer das Gleiche wollen und die so viel Gewalt haben, dass der Reiter ihnen nicht seinerseits mit Gewalt, sondern nur mit gekonntem „leichtem Zgel-Straffziehn“ beikommt. Zçgert dieser Reiter beim Drang nach Gewissheit, so nicht mehr aus Furcht vor der „Gefahr“ neuer Enttuschungen ber neue Idealismen („Behutsamkeit des ,gebrannten Kindes‘“), aber auch nicht – Nietzsche schließt mit Auslassungspunkten – vor leidenschaftlichen Abenteuern des Geistes. Sie behlt er sich vor: mit der kraftvollen Beweglichkeit unter wechselnden und immer neuen Perspektiven, wie sie ein freier Geist, wie er ihn denkt, bei seinen immer gestraffteren Ritten erworben hat. Bei allem Drang nach Gewissheit kçnnte er gelernt haben, so Nietzsche in der neuen Vorrede zu MA I, „das Perspektivische“ so zu „begreifen“, dass er „Gewalt ber [s]ein Fr und Wider bekommt“, seine „Werthschtzungen“ als Perspektiven „aus- und wieder einzuhngen“ versteht, um „das Stck Dummheit in Bezug auf entgegengesetzte Werthe und die ganze intellektuelle Einbusse“ weiß, „mit der sich jedes Fr, jedes Wider bezahlt macht“, um „die n o t h w e n d i g e Ungerechtigkeit in jedem Fr und Wider“, zumal dort, „wo das Leben am kleinsten, engsten, drftigsten, anfnglichsten entwickelt ist und dennoch nicht umhin kann, s i c h als Zweck und Maass der Dinge zu nehmen“. In der Bewusstseins-Perspektive entkommt man den Zwecken nicht, die das Perspektivische fr das Handeln erçffnet und mit denen es Gewissheiten vorspiegelt, denn sie sind „unablçsbar vom Leben“. Aber man kann lernen, ihnen nicht allzu leicht nachzugeben, indem man sich fr andere Krfte und Perspektiven offenhlt – und sich vor „das Problem der R a n g o r d n u n g“ stellt. Man werde dann „mit Augen sehn“, „wie Macht und Recht und Umfnglichkeit der Perspektive mit einander in die Hçhe wachsen.“ (MA I Vorrede 6)
630 Bei Nietzsches Pathos fr Abenteuer des Geistes und angesichts des stolzen Bildes htte man einen vorwrtsstrmenden Drang nach Ungewissheit erwartet. Doch auch die Vorstufe hat die komplexere Lesart „vorwrts strmendes Verlangen nach Gewißheit“. Dort steht jedoch noch der Singular „ein feuriges Thier“ (14.276), geht es also noch um eine Gewissheit, nicht um perspektivische Gewissheiten.
14. Bindung an und Befreiung von Geschlechter-Perspektiven631 Nr. 363: W i e j e d e s G e s c h l e c h t b e r d i e L i e b e s e i n Vo r u r t h e i l h a t. FW 363 scheint ein wilder Ritt im „vorwrts strmenden Drange nach Gewissheit“ zu sein, wie ihn FW 375 schildert. Der Aphorismus wirkt, zumindest auf heutige Ohren, abschreckend. Sein Vokabular („Weib“, „Sklave“, „Besitz“), sein leitender Gegensatz („Das Weib giebt sich weg, der Mann nimmt hinzu“), seine These (bei Mann und Weib kçnne „von g l e i c h e n Rechten in der Liebe“ nicht die Rede sein) und sein unschçner Seitenhieb auf Homosexuelle („gesetzt aber, dass es auch Mnner geben sollte, denen ihrerseits das Verlangen nach vollkommener Hingebung nicht fremd ist, nun, so sind das eben – keine Mnner“) sind, wenn das alles so beim Wort zu nehmen ist, moralisch und politisch hoffnungslos inkorrekt; es scheint alle Vorurteile ber Nietzsche zu besttigen. Außerdem spricht er hier dogmatisch, fr seine Begriffe geradezu metaphysisch („Natur-Gegensatz“, „Definition“, „W e s e n“, „Thatschlich ist“) und noch dazu im Befehlston („werde ich doch niemals zulassen“).632 Doch auch das kçnnte nur irritierender Vorder631 Auszge einer ersten Fassung dieses Kapitels erschienen in Stegmaier, „Wie jedes Geschlecht ber die Liebe sein Vorurtheil hat.“ Nietzsche zwischen Hegel und Levinas. 632 Das HWP ordnet Nietzsche denn auch, nach einer engagierten Darstellung des bei Rousseau kulminierenden Geschlechterdiskurses in der Philosophie der Neuzeit, umstandslos aufgrund eines einschlgigen Zitats (JGB 232) als reaktionren Frauenfeind ein (vgl. Heinz, Art. Weiblich/mnnlich III, 363). Die NietzscheForschung war hier schon weiter. In der komplexen Debatte ber die sexuelle Differenz bei Nietzsche in der franzçsischen Nietzsche-Interpretation von Bataille und Deleuze ber Klossowski, Foucault und Derrida bis zu Sarah Kofman und Luce Irigaray wurde in geduldigen Interpretationen seinen ußerungen schon lngst ihr Schrecken genommen (vgl. RLN, 14 – 59). S. auch Burgard (Hg.), Nietzsche and the Feminine, und Oliver/Pearsall (Hg.), Feminist Interpretations of Friedrich Nietzsche. Vgl. die Diskussionsbeitrge und Sammelbesprechungen von Behler, Nietzsche and the Feminine; Pulkkinen, Feminist Interpretations of Nietzsche; und Thorgeirsdottir, Frauen im Leben Nietzsches. Auch und gerade
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grund fr die einen, faszinierende Oberflche fr die andern sein. Tatschlich ist der Aphorismus nicht weniger raffiniert gebaut als die brigen Aphorismen des V. Buchs der FW, vielleicht noch raffinierter. Er ist ein Kabinettstck der Perspektivierung und des Spiels mit Oberflchen und treibt im Sinn von FW 374 in neue, ,unendliche‘ Abenteuer der Interpretation. Wir werden ihn seinerseits perspektivisch interpretieren, zunchst vom Thema her, der Bindung an und Befreiung von GeschlechterPerspektiven, dann von Nietzsches schriftstellerischer Methode her, dem Schaffen, berspielen und Auflçsen von Gegenstzen, die hier exemplarisch deutlich wird. Der Titel „W i e j e d e s G e s c h l e c h t b e r d i e L i e b e s e i n V o r u r t h e i l h a t“ macht neugierig. Er ist im Mrchenton gehalten, kndigt eine Erzhlung von Verwunderlichem, Erstaunlichem an. Nietzsche war schon im I. Buch der FW erstaunt darauf gestoßen, „W a s a l l e s L i e b e g e n a n n t w i r d“, wie Hingabe und Besitzenwollen oder, wie er hier sagt, „Habsucht“ sich bei wechselnden Gelegenheiten und aus unterschiedlichen Perspektiven ineinander verkehren kçnnen (FW 14). In JGB (232 – 239) hatte er laut gegen die Frauenemanzipation aufgetrumpft: „Sich im Grundprobleme ,Mann und Weib‘ zu vergreifen, hier den abgrndlichsten Antagonismus und die Nothwendigkeit einer ewig-feindseligen Spannung zu leugnen, hier vielleicht von gleichen Rechten, gleicher Erziehung, gleichen Ansprchen und Verpflichtungen zu trumen: das ist ein t y p i s c h e s Zeichen von Flachkçpfigkeit“; ein Mann von „Tiefe“ werde „ber das Weib immer nur o r i e n t a l i s c h denken“, es „als Besitz, als verschliessbares Eigenthum, als etwas zur Dienstbarkeit Vorbestimmtes und in ihr sich Vollendendes fassen“ (JGB 238).633 Aber er hatte dort auch Feministinnen, wenn auch nicht alle, schtzen inzwischen Nietzsches Interpretationen des Weiblichen als interessantestes Experiment seines Perspektivismus. Dabei reicht das Spektrum von der Meinung, Nietzsche sei im Grunde Feminist, ber die, er sei ntzlich fr den Feminismus, bis zu der, er sei heillos misogyn, Nietzsche, der Kritiker des Ressentiments, hege seinerseits ein tiefes Ressentiment gegen das Weibliche, weil es und nicht er zur Geburt des bermenschen fhig sei (so Picart, Resentment and the „Feminine“ in Nietzsche’s Politico-Aesthetics). Wichtigster Anhaltspunkt der Debatte war Derridas gewagtes Kastrationstheorem in Anschluss an dessen Interpretation von FW 361. FW 363 wurde dagegen keiner grndlichen Analyse unterzogen. Auch Oliver, Womanizing Nietzsche, geht in ihrer Nietzsche stets zusammen mit Freud und vor allem Derrida behandelnden Monographie nicht nher auf den Aphorismus ein, ebensowenig Picart. 633 Vgl. dazu Schopenhauers Sammlung seiner in bestem Glauben vorgetragenen Vorurteile „Ueber die Weiber“, „das in j e d e m Betracht zurckstehende zweite Geschlecht“, in: PP II, Kap. 27, 6.650 – 663, hier 657. Auch in der Frage der
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schon vor der abgrndigen Tiefe ,des Weibes‘ gewarnt, wenn es zum philosophischen Problem wird. „Vorausgesetzt, dass die Wahrheit ein Weib ist –, wie? ist der Verdacht nicht gegrndet, dass alle Philosophen, sofern sie Dogmatiker waren, sich schlecht auf Weiber verstanden?“ hatte er die Vorrede zu JGB begonnen, um dann, bevor er halb verzweifelt, halb belustigt fragte, „was liegt dem Weibe an Wahrheit!“ (JGB 232), seine „Wahrheiten“ ber ,das Weib‘ allesamt zu seinen Wahrheiten, die eines mnnlichen Philosophen, der sich schlecht auf Weiber versteht, zu erklren, zum Ausdruck von „etwas Unbelehrbarem, einem Granit von geistigem Fatum, von vorherbestimmter Entscheidung und Antwort auf vorherbestimmte ausgelesene Fragen“, von „gewissen Lçsungen von Problemen, die gerade uns starken Glauben machen; vielleicht nennt man sie frderhin seine ,berzeugungen‘.“ berzeugungen verhindern nach FW 344 (5.1.2.) Wahrheiten, sind hçchstens „Fusstapfen zur Selbsterkenntniss, Wegweiser zum Probleme, das wir s i n d, – richtiger, zur grossen Dummheit, die wir sind, zu unserem geistigen Fatum, zum U n b e l e h r b a r e n ganz ,da unten‘.“ (JGB 231) Nun, im V. Buch der FW, spricht Nietzsche geradewegs von „Vorurtheilen“, Vorurteilen, wie sie auch Wissenschaft (FW 373/13.2.) und Moral darstellen. FW 380 (18.2.) wird von „,Gedanken ber moralische Vorurtheile‘“ handeln, „falls sie nicht Vorurtheile ber Vorurtheile sein sollen“; „Gedanken ber die moralischen Vorurtheile“ hatte Nietzsche M im Untertitel genannt. Mit seinen Vorurteilen ber Vorurteile bringt er sich von Anfang an selbst ins Spiel („ich“). Da redet ein Mann, Friedrich Nietzsche, der die mnnlichen Vorurteile ber die Vorurteile beider „Geschlechter“ ber die Liebe so scharf zuspitzt, dass er damit keinen Spielraum fr wissenschaftliche Neutralitt lsst, sondern unweigerlich Zustimmung oder Widerspruch provoziert. Aber weder Frauen noch Mnner drften darauf einheitlich votieren, haben es wohl damals nicht und werden es heute nicht tun. Auch hier macht jede und jeder sich selbst dadurch kenntlich, wie sie oder er auf den Aphorismus reagiert. Nietzsche kompromittiert sich mit ihm eklatant, um seine Leser sich an ihm kompromittieren zu lassen. Denn der sexuellen Differenz gegenber kann niemand gleichgltig und wissenschaftlich neutral sein; man ist, bis auf wenige Ausnahmen, entweder Mann oder Frau oder fhlt sich doch so. Und da auf der sexuellen Differenz weitgehend die Evolution des Lebendigen beruht, scheint sie, wenn irGeschlechter-Vorurteile muss man Nietzsche vor dem Hintergrund Schopenhauers lesen, um zu ermessen, wie viel er selbst ,dem Weibe‘ abzugewinnen gelernt hat.
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gendeine, ein „Natur-Gegensatz“ zu sein. Da sie bei den Geschlechtern unterschiedliche Leiblichkeiten hervorbrachte, die als ,grosse Vernnfte‘ vermutlich die ,kleinen Vernnfte‘ auf unterschiedliche Weise zu ihren ,Werk- und Spielzeugen‘ machen, was inzwischen Physiologie und Gehirnforschung bestens besttigen, werden Frauen und Mnner auf vieles andere Perspektiven haben und zumal auf die Geschlechter.634 Die sexuelle Differenz ist ein Perspektiven-Gegensatz par excellence. Kein Geschlecht kann den Geschlechter-Gegensatz transzendieren und einen neutralen Standpunkt zu ihm einnehmen, um ihn ,rein theoretisch‘ zu betrachten. Etwas anderes sind die Vorurteile ber ihn. Nirgendwo drften so starke Stereotype und Ressentiments entstehen, in der Menschheits- und Kulturgeschichte und in jeder und jedem Einzelnen, wie bei der Beurteilung der Geschlechter durch die Geschlechter, und am tiefsten drften sie sich einverleiben, wenn sie auf schmerzliche Erfahrungen und Verletzungen zurckgehen. Weil aber Vorurteile ihrerseits verletzen kçnnen, bedarf es moralischer und politischer Korrektheit in der Kommunikation ber sie, deren Konventionen dann die Bewusstseins-Perspektiven beherrschen (FW 354/9.4.–5.). Nietzsche gesteht das von vornherein zu und sogar so weit zu, dass er das „monogamische Vorurtheil“ noch bestrkt, dass eine Frau einem Mann und ein Mann einer Frau fr immer bestimmt und dafr die Ehe mit ihrer traditionellen Rollenverteilung geschaffen sei. Aber er bleibt natrlich nicht dabei. Unter eben den moralischen Vorurteilen will er die „Natur“ der Liebe wieder freilegen, das „Harte, Schreckliche, Rthselhafte, Unmoralische“ im „Natur-Gegensatz“ der Geschlechter, ber das man durch „sociale Vertrge“ und „den allerbesten Willen zur Gerechtigkeit hinwegkommen“ wolle und doch nicht kçnne. „Denn die Liebe, ganz, gross, voll gedacht, ist Natur und als Natur in alle Ewigkeit etwas ,Unmoralisches‘.“ Es geht um Spielrume gegenber dem sozialen Druck der moralischen Geschlechter-Perspektiven, und Nietzsche sucht sie zu gewinnen, indem er in seiner mnnlichen Perspektive auch die weibliche einzunehmen und beide Schritt fr Schritt in einem mehrfachen Perspektiven-Wechsel aneinander zu reflektieren versucht. Unter der provokant dogmatischen Oberflche erscheint die Kritik. Nietzsches Zugestndnis an das „monogamische Vorurtheil“ gehen in seinem Werk erstaunlich vorurteilslose, ,freigeistige‘ Ansichten und Einsichten ber die „Z u k u n f t d e r E h e“ voraus. Sie finden sich zum Teil schon bei Schopenhauer.635 Nietzsche rt zur Entdiskriminierung des Konkubinats und der Prostitution. Als 634 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 442 – 446. 635 Vgl. Schopenhauer, PP II, Kap. 27 („Ueber die Weiber“), 6.650 – 663.
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soziale Institution sei die Ehe auf Dauer gestellt, und da bei der „alleinigen Befriedigung des geschlechtlichen Bedrfnisses“ nicht mit dauernder Zufriedenheit zu rechnen sei, msse und kçnne die Wahl der Ehegatten anders geregelt und die Ehe aus Vernunft geschlossen und auf „glckliche Erziehung“ ausgerichtet werden. Vorbild sind fr Nietzsche die fr die Verhltnisse des 19. (und auch noch des 21.) Jahrhunderts hier vergleichsweise vorurteilslosen alten Griechen mit ihrem selbstverstndlichen Nebeneinander von Ehefrau, Hetre und Jngling, die alle, aber auf unterschiedliche Weise geliebt werden (MA I 424).636 Auch die spteren Aristokratien wussten hier noch zu trennen, wie Nietzsche fr sich notierte, und „außerhalb der Ehe etwas Freiheit zu geben“ (N 1880, 4[81], KSA 9.120). Das sollte nun auch fr die „Arbeiterbevçlkerung“ gelten: „Geschlechtsbefriedigung soll n i e das Ziel der Ehe sein. – Eine Arbeiterbevçlkerung braucht gute Hurenhuser. – Zeitehen.“ (N 1881, 11[82], KSA 9.472) Ehen sind auch auf Zeit, „mit Garantie fr die Kinder“ denkbar und bei dafr geeigneten Mnnern und Frauen auch polygame Ehen.637 In MA I 421 macht Nietzsche den Vorschlag, ein Mann sollte sich zu seiner Reifung nacheinander zwei Mal verheiraten und dadurch „G e l e g e n h e i t z u w e i b l i c h e r G r o s s m u t h“ geben: „Wenn man sich ber die Ansprche der Sitte einmal in Gedanken hinwegsetzt, so kçnnte man wohl erwgen, ob nicht Natur und Vernunft den Mann auf mehrfache Verheirathung nach einander anweist, etwa in der Gestalt, dass er zuerst im Alter von zwei und zwanzig Jahren ein lteres Mdchen heirathet, das ihm geistig und sittlich berlegen ist und seine Fhrerin durch die Gefahren der zwanziger Jahre (Ehrgeiz, Hass, Selbstverachtung, Leidenschaften aller Art) werden kann. Die Liebe dieser wrde spter ganz in das Mtterliche bertreten, und sie ertrge es nicht nur, sondern fçrderte es auf die heilsamste Weise, wenn der Mann in den dreissiger Jahren mit einem ganz jungen Mdchen eine Verbindung eingienge, dessen Erziehung er selber in die Hand nhme. – Die Ehe ist fr die zwanziger Jahre ein nçthiges, fr die dreissiger ein ntzliches, aber nicht nçthiges Institut: fr das sptere Leben wird sie oft schdlich und befçrdert die geistige Rckbildung des Mannes.“ Ein Jahrhundert spter sind in modernen demokratischen Gesellschaften tatschlich immer mehr ,Lebensabschnittspartnerschaften‘ Ehen vorgezogen worden und gelten inzwischen als ,vernnftiger‘, auch wenn ihre Beendigung schmerzlich werden kann. Eine sexuell entlastete Partnerschaft wird, so dachte es sich (der ehelose und sexuell, soweit wir wissen, nicht oder kaum erfahrene) Nietzsche, zur Freundschaft unter den Partnern fhig, zur Freundschaft wiederum im hohen griechischen, von Aristoteles in der Nikomachischen Ethik beschriebenen Sinn.638 „Der beste Freund wird wahrscheinlich die beste Gattin bekommen, weil die gute Ehe auf dem Talent zur Freundschaft beruht.“ (MA I 636 Vgl. N 1881, 11[97], KSA 9.476 u. ç. 637 Vgl. N 1881, 11[179], KSA 9.508, und N 1888, 16[35], KSA 13.495, und Schopenhauer, PP II, § 370, 6.659 – 661 („Die Mormonen haben Recht“). 638 So hat Nietzsche whrend seiner bewegten Wochen mit Lou von Salom in Tautenburg brieflich Heinrich Kçselitz gebeten, „den Begriff einer Liebschaft von unserem Verhltniß fernzuhalten. Wir sind F r e u n d e und ich werde dieses Mdchen und dieses Vertrauen zu mir heilig halten“ (Brief aus Tautenburg an Heinrich Kçselitz vom 13. Juli 1882, KGB III/1, Bf.263).
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378) Dies Talent sei vor allem eines zum „l a n g e n G e s p r c h“: „Man soll sich beim Eingehen einer Ehe die Frage vorlegen: glaubst du, dich mit dieser Frau bis in’s Alter hinein gut zu unterhalten? Alles Andere in der Ehe ist transitorisch, aber die meiste Zeit des Verkehrs gehçrt dem Gesprche an.“ (MA I 406)639 Von „g u t e m B e s t a n d“ sind vor allem Ehen, in denen sich der eine durch den andern, wie man heute sagt, selbst verwirklichen kann (MA I 399). Das monogamische Vorurteil und seine „große Wucht“ kçnnte, so machte sich Nietzsche in einem vorausgehenden Notat klar, freilich ein alteingewurzeltes Vorurteil des Mannes sein. Es kçnnte soziobiologisch auf eine Situation der Knappheit an Weibchen zurckgehen, die die Mnnchen zwinge, hart um sie zu kmpfen und dann erbittert an ihnen festzuhalten: „Das Mnnchen lßt das einmal erworbene Weibchen nicht wieder los, weil es weiß, wie schwer ein neues zu finden ist, wenn es dies verloren hat.“ In „Menschenstaaten“ kmen „verschiedene Rcksichten der Ntzlichkeit“ hinzu, „vor allem zum Wohle der mçglichst fest zu organisirenden Familie“, die dem „Weib“, selbst wenn es einmal „ein Besitzstck nach Art eines Haussklaven war,“ wachsende Achtung und Selbstachtung einbrachten, „so daß es v o n s i c h a u s spter das Verhltniß der Monogamie allen brigen vorzog.“ Danach schtzte das Mnnchen die Monogamie „nicht freiwillig“, das Weibchen sehr wohl. Inzwischen sei jedoch „die natrliche Basis […] gar nicht mehr vorhanden“, sei „die Monogamie nur noch durch die allmhlich bermchtig gewordene Sanktion des Herkommens geschtzt“: „Ebendeshalb besteht hinter dem Rcken der feierlich behandelten und geheiligten Monogamie thatschlich eine Art Polygamie.“ (N 1876/77, 23[79], KSA 8.429 f.) Daher ist der „Eifer fr die Monogamie“, wie es dann wieder in MA I heißt, jetzt nur noch das Vorurteil eines „gebundenen Geistes“, das einen tiefen „Glauben“ verrt: „Man nçthige zum Beispiel einen gebundenen Geist, seine Grnde gegen die Bigamie vorzubringen, dann wird man erfahren, ob sein heiliger Eifer fr die Monogamie auf Grnden oder auf Angewçhnung beruht. Angewçhnung geistiger Grundstze ohne Grnde nennt man Glauben.“ (MA I 226) Die Mnner wollen die Monogamie, weil sie sonst dauernder Konkurrenz ausgesetzt wren und darin stndig Gefahr liefen, ,schlechter wegzukommen‘. Das kçnnte auch fr ,die Weiber‘ gelten, aber davon spricht Nietzsche nicht.
Vor diesem Hintergrund scheint, was in FW 363 so selbstherrlich mnnlich klingt, zur ngstlichen Selbstbehauptung eines Mannes zu werden. Das wendet den Blick zurck auf den in Auslassungspunkten eingelassenen 639 Vgl. dazu N 1876, 18[37], KSA 8.325, N 1880, 6[191], KSA 9.246, und bes. ZA I Ehe, KSA 4.90 – 92, sowie ZA III Tafel 24, KSA 4.264. Im spten Nachlass (N 1887, 10[76], KSA 12.499 / W II 2, S. 85) wird Nietzsche notieren: „Die Ehe ist genau so viel werth, als die, welche sie schließen: {also ist sie, durchschnittlich, wenig werth …}; die ,Ehe an sich‘ hat noch gar keinen Werth, – wie brigens jede Institution.“ Seit in der Romantik die Liebe als Passion, die „L i e b e s-Heirath“, zur „Grundlage der Ehe“ gemacht wurde, ist die Institution gefhrdet, hat sie ihren Sinn verloren – „folglich schafft man sie ab.“ (GD Streifzge 39) Ein Freigeist geht entsprechend vorsichtig mit der Ehe und ihren Bindungen um (vgl. MA I 426 f., 429 u. 431 – 433).
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abgrndigen Schluss von FW 361 (11.2.2.) „… das Weib ist so artistisch …“ und den umso lauter auftrumpfenden Einsatz von FW 362 (11.3.1.–2.) „U n s e r G l a u b e a n e i n e Ve r m n n l i c h u n g E u r o p a ’ s“. Auch dies ist (nur) ein Glaube. Und wenn Nietzsche in FW 363 nun schreibt „Ein Mann, der liebt wie ein Weib, wird damit Sklave; ein Weib aber, das liebt wie ein Weib, wird damit ein v o l l k o m m e n e r e s Weib …“ und wieder Auslassungspunkte setzt, in die man vielleicht voreilig ,eine vollkommenere Sklavin‘ einsetzen wird, so muss man sich erinnern, dass nach Nietzsche die Frauen, eben weil sie sich so lange anzupassen hatten, wohl auch am vollkommensten von allen die Anpassungs- und Schauspielkunst gelernt hatten, mit denen sie jetzt, hnlich wie Juden, am meisten zu den ,Herren‘ der modernen SchauspielerGesellschaften prdestiniert sein kçnnten. Die Auslassungspunkte kçnnten also auch mit ,eine vollkommenere Herrin‘ auszufllen sein.640 So schrieb Nietzsche denn auch schon in MA: „Das vollkommene Weib ist ein hçherer Typus des Menschen, als der vollkommene Mann: auch etwas viel Selteneres. – Die Naturwissenschaft der Thiere bietet ein Mittel, diesen Satz wahrscheinlich zu machen.“ (MA I 377) Denn „der Intellect der Weiber zeigt sich als vollkommene Beherrschung, Gegenwrtigkeit des Geistes, Benutzung aller Vortheile. Sie vererben ihn als ihre Grundeigenschaft auf ihre Kinder, und der Vater giebt den dunkleren Hintergrund des Willens dazu. Sein Einfluss bestimmt gleichsam Rhythmus und Harmonie, mit denen das neue Leben abgespielt werden soll; aber die Melodie desselben stammt vom Weibe.“ Damit kehrte Nietzsche die gngigen Vorurteile ber die Geschlechter um. Doch auch das, reflektierte er wiederum, kçnnte nur das Vorurteil eines Mannes sein, „fr Solche gesagt, welche Etwas sich zurecht zu legen wissen: die Weiber haben den Verstand, die Mnner das Gemth und die Leidenschaft. Dem widerspricht nicht, dass die Mnner thatschlich es mit ihrem Verstande so viel weiterbringen: sie haben die tieferen, gewaltigeren Antriebe; diese tragen ihren Verstand, der an sich etwas Passives ist, so weit.“ Beiden Geschlechtern kçnnte es gar nicht so sehr um das andere Geschlecht, sondern um die Vervollkommnung des eigenen gehen: „Wenn die Mnner vor Allem nach einem tiefen, gemthvollen Wesen, die Weiber aber nach einem klugen, geistesgegenwrtigen und glnzenden Wesen bei der Wahl ihres Ehege640 Vgl. Schopenhauer, PP II, § 366, 6.653 f.: „wie den Lçwen mit Klauen und Gebiß, den Elephanten mit Stoßzhnen, den Eber mit Hauern, den Stier mit Hçrnern und die Sepia mit der wassertrbenden Tinte, so hat die Natur das Weib mit Verstellungskunst ausgerstet, zu seinem Schutz und Wehr, und hat alle die Kraft, die sie dem Manne als kçrperliche Strke und Vernunft verlieh, dem Weib in Gestalt jener Gabe zugewendet. […] Darum ist ein ganz wahrhaftes, unverstelltes Weib vielleicht unmçglich. Eben deshalb durchschauen sie fremde Verstellung so leicht, daß es nicht rathsam ist, ihnen gegenber, es damit zu versuchen.“ Erst Nietzsche fhrte diese machtvolle Verstellungskunst auf den Zwang der Frauen zur Anpassung zurck (FW 361/11.2.2.).
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nossen suchen, so sieht man im Grunde deutlich, wie der Mann nach dem idealisirten Manne, das Weib nach dem idealisirten Weibe sucht, also nicht nach Ergnzung, sondern nach Vollendung der eigenen Vorzge.“ (MA I 411) So kçnnte es die Strke der Frauen sein, den Mnnern ihre (angebliche) Schwche vorzuspiegeln (vgl. FW 66), und damit wrden sie zu „H e r r i n n e n d e r H e r r e n“. Nietzsche machte das an „tiefen mchtigen Altstimmen“ im Theater fest: „wir glauben mit Einem Male daran, dass es irgendwo in der Welt Frauen mit hohen, heldenhaften, kçniglichen Seelen geben kçnne, fhig und bereit zu grandiosen Entgegnungen, Entschliessungen und Aufopferungen, fhig und bereit zur Herrschaft ber Mnner, weil in ihnen das Beste vom Manne, ber das Geschlecht hinaus, zum leibhaften Ideale geworden ist.“ (FW 70)
„ber das Geschlecht hinaus“ – erinnert man sich ferner, dass Nietzsche in FW 362 den Geschlechter-Gegensatz unauffllig vom sex zum gender verfeinert und schließlich ad absurdum gefhrt hat, so wird man auch die These von FW 363, er werde „niemals zulassen, dass man bei Mann und Weib von g l e i c h e n Rechten in der Liebe rede“, anders lesen. Nietzsche redet hier nicht mehr wie in JGB 238 und wieder in FW 377 von juristischen Rechten, sondern von moralischen, und er betont „g l e i c h e“: es geht ihm um die moralische Nivellierung der Liebe zwischen den Geschlechtern, die die Liebe zerstçren msste, und gegen diese Nivellierung geht er an.641 Dazu fragt er kritisch nach den Bedingungen der Mçglichkeit der sexuellen Liebe berhaupt, bei der sich zwei Tiere oder Menschen eine Zeit lang, wenn auch oft nur fr einen Augenblick, nahezu schutz- und besinnungslos einander ausliefern und das nicht nur, um neues Leben zu zeugen. Mit der „vollkommnen Hingabe […] mit Seele und Leib, ohne jede Rcksicht, jeden Vorbehalt“ setzen sie sich, nchtern soziobiologisch betrachtet, grçßter Gefahr aus, gehen sie jedes Mal ein extremes Risiko ein. Den Mut dazu aber schreibt Nietzsche dem „Weib“ zu, das den Mann ,empfngt‘ und von ihm dabei ein Kind ,empfangen‘ kann, das sie dann in langer Schwangerschaft ,auszutragen‘ hat, mit der sie sich noch einmal mehr und mehr schutzlos macht. Eben fr diese bedingunglose Hingabe braucht das Weib, so Nietzsche, einen bedingungslosen „G l a u b e n“ an 641 Vgl. dagegen Schopenhauer, PP II, Kap. 27, § 369 f., 6.658 f.: „das Weib, von den Alten mit Recht sexus sequior [zweitrangiges Geschlecht] genannt, ist keineswegs geeignet, der Gegenstand unserer Ehrfurcht und Veneration zu seyn, den Kopf hçher zu tragen, als der Mann, und mit ihm gleiche Rechte zu haben“; die „monogamische Einrichtung und die ihr beigegebenen Ehegesetze“ verschaffen „dem Weibe“ eine „widernatrlich vorteilhafte Stellung“; „als die Gesetze den Weibern gleiche Rechte mit den Mnnern einrumten, htten sie ihnen auch eine mnnliche Vernunft verleihen sollen.“ Nietzsche kmpfte gegen gleiche Rechte fr alle, aber nicht dafr, sie speziell Frauen vorzuenthalten.
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die Liebe. Nur in der Ausblendung der Gefahren und der Schmerzen, die ihm bevorstehen, die entschlossene Einschrnkung der Perspektive auf die Liebe wird seine Hingabe berhaupt mçglich. In MA I 412 hatte Nietzsche das respektlose Argument erwogen, die „Weiber“ htten es verstanden, sich von den „Mnnern“ ernhren zu lassen, sich unter dem „Vorwand“ der Pflege der Kinder „der Arbeit mçglichst zu entziehen“ und „sich durch Unterordnung doch den berwiegenden Vortheil, ja die Herrschaft zu sichern.“ Dabei hatte er jedoch, wie im ganzen 7. Hauptstck von MA I zu „Weib und Kind“, noch einen ber den Geschlechtern schwebenden Standpunkt eingenommen. Seinen Zarathustra ließ er dann von Weib und Kind unter dem Vorbehalt sprechen „,ber das Weib soll man nur zu Mnnern reden‘“, um ihn vom „alten Weiblein“ sogleich davon abbringen zu lassen. Auch hier inszeniert er die Vorurteile der Geschlechter ber die Liebe perspektivisch. Dafr, dass „Alles am Weibe […] ein Rthsel“ ist, ließ er Zarathustra „Eine Lçsung“ verknden: „sie heißt Schwangerschaft“. Dabei sei der Mann „fr das Weib ein Mittel“, fr den Mann dagegen sei das Weib nur „Gefahr und Spiel“, und darum liebe er gerade das gefhrliche Weib. Diese Art der Liebe wiederum betrachte das Weib als kindlich, und gerade das Weib verstehe sich auf Kinder.642 So spielen beide, „chte“ Mnner und Weiber, mit dem anderen Geschlecht, das Weib aber auf berlegene Weise. Zarathustra leitet dabei die Hoffnung, dass sie „den bermenschen“ zeugen und gebren. Auch hier ist es das Weib, das ihn mit seinem „Opfer“, mit seinem Mehr an Liebe ermçglichen kann. Whrend der Mann „im Grunde seiner Seele nur bçse“ sei, also im Gegensatz von Gut und Bçse stecke, sei das Weib „dort schlecht“, also jenseits von Gut und Bçse und darum nher an Nietzsches Bild vom bermenschen. Wenn darum das „Glck des Mannes heisst: ich will“ und das „Glck des Weibes heisst: er will“, so hat das Weib nicht den unterlegenen, sondern den berlegenen Willen: der Mann ist sein ,Werk- und Spielzeug‘, es lsst ihn wollen. In der „Tiefe“ „gehorcht“ das Weib dabei, so Zarathustra weiter, aber nicht dem Mann, sondern dessen „Gemth“, in dessen „Strom“ und „Kraft“ er „begreift“, aber nicht das Weib, sondern den bermenschen: es gehorcht also dem Gedanken des bermenschen. Und wenn Nietzsche schließlich das alte Weiblein Zarathustra die berhmte, scheinbar so mnnliche „kleine Wahrheit“ „Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!“ schenken lsst (sie sagt „zu Frauen“, nicht ,zum Weibe‘; ZA I Weiblein, KSA 4.84 – 86), bleibt, wie oft bemerkt worden ist, offen, wer hier die Peitsche in der Hand hlt, der Mann, das Weib oder im ,Geschlechter-Krieg‘ (6.1.3.) vielleicht auch beide. Jedenfalls hat der Mann das Weib offenbar mehr zu frchten als das Weib den Mann.
642 Nach Schopenhauer sind „die Weiber“ „selbst kindisch, lppisch und kurzsichtig, mit Einem Worte, Zeit Lebens große Kinder“ und kçnnten darum so gut mit Kindern spielen (PP II, Kap. 27, § 364, 6.651).
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Nietzsches schriftstellerische Methoden: Schaffen, berspielen und Auflçsen von Gegenstzen Auch ein „Natur-Gegensatz“ besteht nicht an sich, auch er wird, fr Nietzsche ganz selbstverstndlich, in einer spezifischen Perspektive geschaffen. Nietzsche hat ihn, um das zu zeigen, dogmatisch hingestellt, um ihn Zug um Zug zu berspielen und schließlich kritisch aufzulçsen. Am Ende steht auch hier ein Gedankenstrich, mit dem nach Nietzsche erst seine eigenen Gedanken anfangen (NSM 6). Dem geht im II. Buch, gleichsam als Vorspiel, ein Rollenspiel voraus: W i l l e u n d W i l l i g k e i t. – Man brachte einen Jngling zu einem weisen Manne und sagte: ,Siehe, das ist Einer, der durch die Weiber verdorben wird!‘ Der weise Mann schttelte den Kopf und lchelte. ,Die Mnner sind es, rief er, welche die Weiber verderben: und Alles, was die Weiber fehlen, soll an den Mnnern gebsst und gebessert werden, – denn der Mann macht sich das Bild des Weibes, und das Weib bildet sich nach diesem Bilde.‘ – ,Du bist zu mildherzig gegen die Weiber, sagte einer der Umstehenden, du kennst sie nicht!‘ Der weise Mann antwortete: ,Des Mannes Art ist Wille, des Weibes Art Willigkeit, – so ist es das Gesetz der Geschlechter, wahrlich! ein hartes Gesetz fr das Weib! Alle Menschen sind unschuldig fr ihr Dasein, die Weiber aber sind unschuldig im zweiten Grade: wer kçnnte fr sie des Oels und der Milde genug haben.‘ – Was Oel! Was Milde! rief ein Anderer aus der Menge; man muss die Weiber besser erziehen! – ,Man muss die Mnner besser erziehen,‘ sagte der weise Mann und winkte dem Jnglinge, dass er ihm folge. – Der Jngling aber folgte ihm nicht. (FW 68)
Das „Gesetz der Geschlechter“, hier noch als Gegensatz von „W i l l e u n d W i l l i g k e i t“ formuliert, bleibt nicht nur unter den Mnnern umstritten, es ist auch ein Mann, der es behauptet. Nach dem Weisen ist es „ein hartes Gesetz fr das Weib“, und nicht die Natur ist fr es verantwortlich, die Mnner tragen die Schuld, ,den Weibern‘ die Schuld dafr zu geben, ,die Weiber‘ sind „unschuldig im zweiten Grade“. Die Mnner sind es, die ,die Weiber‘ so wollen, und sie sind auch nicht bereit, darin umzulernen, noch nicht einmal die jungen Mnner. Nach dem Aphorismus haben sie Unrecht, und vom angeblichen Natur-Gegensatz bleibt dann nur, dass er ein Gegensatz ist; alles brige ist geschlechtsspezifische und selbst innerhalb der Geschlechter umstrittene Interpretation. Das gilt auch fr den „Begriff ,Liebe‘“, der dem Gegensatz zugrundeliegt und nach dem beide Seiten „n i c h t das gleiche Gefhl“, „n i c h t ein gleiches Pathos“ von ihr haben. Auch Liebe als „unbedingtes Verzichtleisten auf eigne Rechte“ zugunsten eines andern ist ein spezifischer, perspektivischer Begriff der Liebe. Es ist die „Liebe a l s P a s s i o n“, die
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nach Nietzsche „unsre europische Spezialitt“ ist und der, nachdem die „provenÅalischen Ritter-Dichter“ sie erfunden hatten (JGB 260/6.1.3.), die europische Romantik so erfolgreich zum Durchbruch verhalf, dass sie im 19. Jahrhundert ganz selbstverstndlich, zum „Gefhl“ und „Glauben“ wurde: man empfand sie als „Natur“. „Vollkommne Hingabe“ wird nur bei der Liebe als Passion erwartet, die Hingabe ist die Passion. Aber das „unbedingte Verzichtleisten auf eigne Rechte“ zugunsten eines andern war und ist in Europa auch ein ethisch außerordentlich hoch stehender Begriff; moralisch unverstellte, selbstverstndliche, ,natrliche‘ Hingabe nçtigt uns hçchste ethische Achtung ab. So wird die als Natur empfundene Liebe als Passion zugleich ethisch geadelt und auf diese Weise ein denkbar starker Glaube. Aber sie ist, wie Nietzsche sich notierte, auch ein „Ve r l a n g e n n a c h a b s o l u t e r M a c h t ber eine Person: (z. B. wollen, daß man der einzige Gegenstand von Gedanken und Empfindungen sei) Der Liebende sieht die brige Welt kaum und opfert alle anderen Interessen in diesem Machtdurste. An das Geliebtwerden glauben bringt eine tiefe Sttigung mit sich: ,wir werden als absolute Macht empfunden‘!“ (N 1880, 6[54], KSA 9.207) Dieses Verlangen nach Macht in der passionierten Liebe muss dann bei den Geschlechtern gegenstzliche Perspektiven entwickeln: „denn wenn Beide aus Liebe auf sich selbst verzichteten, so entstnde daraus – nun, ich weiss nicht was, vielleicht ein leerer Raum?“ Nietzsche teilt den Aphorismus FW 363 wieder bersichtlich durch Gedankenstriche ein, nun in vier Abschnitte von etwa gleicher Lnge und gleichem Gewicht. In jedem Abschnitt wechselt er die Geschlechter-Perspektive. Handelt Abschnitt [1] vom „Weib“ („Was das Weib unter Liebe versteht“), so Abschnitt [2] vom Mann („Der Mann, wenn er ein Weib liebt“), Abschnitt [3] wieder vom Weib („Das Weib will“) und Abschnitt [4] nach einer kurzen Bemerkung zum Weib noch einmal ausfhrlich vom Mann („Die Tr e u e […] bei dem Manne“). Da es stets um den Gegensatz von Mann und Weib bzw. ihre gegenstzlichen Vorurteile ber die Liebe geht, spielt dennoch jeweils die andere Seite mit. In Abschnitt [1] lsst Nietzsche ausdrcklich alle Nuancen und bergnge beiseite. Er differenziert auch nicht mehr wie noch in FW 361 (11.1.2.) zwischen „Frau“ und „Weib“; nun soll nur noch das unverblmt Geschlechtliche an den Frauen zhlen. Und die „vollkommene Hingabe“ soll „Hingebung“ ausschließen, soll eine Hingabe „mit Seele und Leib, ohne jede Rcksicht, jeden Vorbehalt, mit Scham und Schrecken vielmehr vor dem Gedanken einer verklausulirten, an Bedingungen geknpften Hingabe“, also nicht gewollt, berechnet, gespielt, geheuchelt sein. Nur so wird diese Seite des Gegensatzes „klar genug“ vorausgesetzt,
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und die andere, mnnliche Seite muss nach der Logik dieses Gegensatzes „folglich fr seine Person selbst am entferntesten von der Voraussetzung der weiblichen Liebe“ sein. Aber in Abschnitt [2] ist dann bei jenen Mnnern, die wie Weiber lieben, von „vollkommener Hingebung“ die Rede, und in Abschnitt [4] schließlich auch beim ,Weib‘ nicht mehr von Hingabe, sondern von „Hingebung“; am Ende steht „,hinzugeben‘“ in Gnsefßchen. Der Sinn der Hingabe verschiebt sich Schritt fr Schritt, und die Verschiebung beginnt mit Mnnern, die „keine Mnner“ sind, eben weil ihnen „das Verlangen nach vollkommner Hingebung nicht fremd ist“. Weil sie die weibliche Perspektive auf die Liebe haben, werden sie, um der Reinheit des Gegensatzes willen, ausgeschlossen, nicht nur aus dem Geschlecht der Mnner, sondern scheinbar auch aus Nietzsches Argumentation ber die Liebe. Und dennoch gibt es sie, und ihre Liebe ist nicht weniger natrlich als die der brigen Mnner.643 Gerade solche Mnner kçnnten, nach der Logik von Nietzsches Gegensatz, den Wechsel der Perspektiven auf die Liebe der Geschlechter als „Hingabe“ vollziehen, nicht gewollt, berechnet, gespielt, geheuchelt.644 Zum Heucheln, Spielen, Berechnen, Wollen nçtigten sie damals noch die moralischen Vorurteile gegen sie, auf die Nietzsche anspielt. Ihm selbst war die Erfahrung „vollkommner Hingabe“ oder „Hingebung“ keineswegs fremd; er hatte zumindest „klar genug“ davon getrumt und diesen Traum auch publiziert, in einem seiner schçnsten Gedichte, „D e r g e h e i m n i s s v o l l e N a c h e n“, das er unverndert aus den IM in die PV bernahm.645 643 Homosexuelle Liebe, wenn Nietzsche sie meint, kommt auch unter zahllosen Tierarten vor, ist also durchaus ,natrlich‘. Vgl. Sommer, Wider die Natur? Homosexualitt und Evolution. 644 Im Fall Wagners mçglicherweise auch gespielt, „denn Wagner“, so Nietzsche im Epilog zu WA, „war in alten Tagen durchaus femini generis“. 645 Nietzsche war bei der „Pderastie“, wie er sie noch nannte, sichtlich nicht wohl, aber er verurteilte sie (anders als etwa Schopenhauer) nicht, schon weil sie ihm durch die alten Griechen bestens vertraut war. „Die griechische Pderastie“, notierte er, war „nicht unnatrlich“ (N 1876, 19[112], KSA 8.357), sie wurde wie „die A r b e i t, die Armut, der Z i n s“ „zu verschiedenen Zeiten entwrdigt, zu anderen Zeiten ideal gemacht.“ (N 1881, 11[56], KSA 9.462). Ob daraus und aus weiteren Anhaltspunkten Schlsse auf eine mçgliche Homosexualitt Nietzsches zu ziehen sind, wie Kçhler, Zarathustras Geheimnis, sie zu konstruieren versuchte und Schulte, Nietzsches Morgenrçthe und Frçhliche Wissenschaft, sie vehement einforderte, kann hier offenbleiben. Gegen Wagners (angebliche) Vermutung der „Pderastie“ bei Nietzsche (vgl. Brief an Heinrich Kçselitz, 11. April 1883, KGB III/1, Bf.405) empçrte dieser sich heftig (vgl. Gilman (Hg.), Otto Eiser and
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In Abschnitt [2] hat Nietzsche auf der mnnlichen Seite des Gegensatzes zugleich den Begriff des Willens eingetragen („Der Mann, wenn er ein Weib liebt, w i l l von ihm eben diese Liebe“). In Abschnitt [3] wechselt er auch mit ihm die Seite, gebraucht ihn auch vom „Weib“ („Das Weib will genommen, angenommen werden“). Sie will, wie Nietzsche schon Zarathustra andeuten ließ, den Willen des Mannes und damit zugleich weniger und mehr als er, weniger, sofern sie sich ihm fgt, mehr, sofern sie ihn so will, dass sie sich ihm fgen kann. Ihr Wille ist ein selbstbezglicher und paradoxer Wille, als solcher ein komplexerer als der des Mannes und damit seinem Willen berlegen. Was ,das Weib‘ will, ist, so Nietzsche, „genommen, angenommen werden als Besitz“. Kann die sexuelle Hingabe flchtig sein, so ist der Besitz von Dauer. ,Das Weib‘ will sich den Mann, von dem sie sich einmal hat ,nehmen‘ lassen, auf Dauer sichern, und es kann, nach dieser Logik der Liebe, auf diese Weise den es Besitzenden besitzen.646 So schafft es dem Mann, in dessen Besitz es und der zugleich in seinem Besitz ist, und damit auch sich selbst einen „Zuwachs an Kraft, Glck, Glaube“. Dabei will es „aufgehn in den Begriff ,Besitz‘“, will sich nach Nietzsches Vorgaben (9.4.) die Gewalt der Konvention und der Sprache der Gesellschaft zunutze machen, um den Mann zu beherrschen. Ein Besitz von Dauer aber wird erst in einer Gesellschaft mçglich, die ihn zur Institution gemacht hat, und so hlt sich ,das Weib‘ in all seiner „Hingebung“ mehr an die Gesellschaft als an das Individuum;647 seine Liebe ist keine unbedingte Liebe zu einem andern Individuum mehr. Und hier, an dieser Stelle, an der der Gegensatz der Vorurteile der Geschlechter ber die Liebe sich als gesellschaftlicher Nietzsche’s Illness, und dazu Winteler, Nietzsches Bruch mit Wagner). Zur Interpretation des Gedichts vgl. Ptz, Nachwort zu: F.N, Die frçhliche Wissenschaft, 283 – 285. Ptz spricht nur von einer „außergewçhnlichen Grenzerfahrung“, aus der das lyrische Ich gestrkt hervorgehe. 646 Vgl. auch hier schon Schopenhauer, PP II, Kap. 27, § 369, 6.656: „Der Mann strebt in Allem eine d i r e k t e Herrschaft ber die Dinge an, entweder durch Verstehn, oder durch Bezwingen derselben. Aber das Weib ist immer und berall auf eine bloß i n d i r e k t e Herrschaft verwiesen, nmlich mittelst des Mannes, als welchen allein es direkt zu beherrschen hat.“ Nach Schopenhauer hat ,das Weib‘ das nçtig, weil es selbst „keines r e i n o b j e k t i v e n A n t h e i l s an irgend etwas fhig“ ist, weder Verstand noch Sinn fr Schçnheit hat. 647 Vgl. Schopenhauer, PP II, § 367, 6.655: „Weil im Grunde die Weiber ganz allein zur Propagation des Geschlechts dasind und ihre Bestimmung hierin aufgeht; so leben sie durchweg mehr in der Gattung, als in den Individuen: nehmen es in ihrem Herzen ernstlicher mit den Angelegenheiten der Gattung, als mit den individuellen.“
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entpuppt, spricht Nietzsche von „Natur-Gegensatz“. Ein „Natur-Gegensatz“ ist er nur insoweit, als er „etwas ,Unmoralisches‘“ fordert, gegenber der herrschenden Moral der Gleichheit und Gegenseitigkeit „Natur“ zurckfordert: „Das Weib giebt sich weg, der Mann nimmt hinzu“. Als Gegensatz des Besitzes ist er der Gegensatz des Gebens und Nehmens. Nietzsche spinnt nun das Spiel mit dem vielfltigen Sinn von ,sich geben‘, das er am Schluss von FW 361 (11.2.2.) erçffnet hat, fort, erweitert, verschiebt, perspektiviert seinen Sinn noch einmal.648 Hatte ,sich geben‘ dort den dreifachen Sinn von ,sich hingeben‘, ,sich als etwas ausgeben‘ und ,sich in etwas schicken‘ und erwies sich ,das Weib‘ eben darin als ,artistisch‘, dass es mit diesem dreifachen Sinn spielen, dem Mann etwas vorspielen kann, so hingebungsvoll, dass die Hingebung als Hingabe erscheint, die Schauspielerei vollkommen, nmlich als solche nicht mehr bemerkt wird, so wird nun aus dem ,sich geben‘ ein bloßes ,sich weggeben‘, aus dem ,sich hingeben‘ im Sinn von ,Liebe schenken und erwarten‘ ein ,sich verschenken und nichts erwarten‘. Nach der ,Natur‘ verschwindet auch die ,Liebe‘ aus dem Natur-Gegensatz der Liebe. Es bleibt nun der ,Besitz‘. Der Besitz in der Liebe wird, so Nietzsche im letzten Abschnitt [4], durch „Tr e u e“ mçglich. In der weiblichen Perspektive folge das schon aus der „Definition“ ihrer Liebe, freilich nur aus der Definition; was ,dem Weib‘ trotz dieser Definition mçglich ist, darber schweigt Nietzsche. In der mnnlichen Perspektive dagegen, in der die Liebe nicht durch dauernden Besitz definiert und durch gesellschaftliche Institutionen garantiert sei, verlange sie folgerichtig ein immer neues In-Besitz-Nehmen.649 Dies lsst Spielrume, Alternativen der Untreue zu („natrliches Widerspiel zwischen Liebe und Treue beim Manne“), und von ihnen redet Nietzsche, wenn auch freundlich und weiter zugunsten des „monogamischen Vorurtheils“. Der Mann, bei dem die Treue nicht „in’s W e s e n seiner Liebe“ gehçre, kçnne sie bei sich darin erfahren, dass er dankbar sei fr die Hingabe („Dankbarkeit“) oder dass ihm die Frau weiterhin gefalle 648 Derrida, Sporen. Die Stile Nietzsches, 142, macht auf das „Wortspiel“ aufmerksam, geht auf FW 363 aber nicht ein, sondern zitiert den Aphorismus nur in einer Anmerkung („Ein weiteres Zitat …“, 166). 649 Zur Frage, ob und wie weit ein Mann ,ein Weib‘ ,besitzen‘ kann, vgl. JGB 194, zur unberwindlichen „D i s t a n z“ der Geschlechter gerade fr den Mann FW 60, zur nicht nur erotischen Faszination, die „Frauen“ mit einem „fast gespenstischen, nothwendig unbefriedigenden Wesen“ auf einen Mann ausben kçnnen, MA I 405.
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(„Idiosynkrasie des Geschmacks“) oder dass sie einfach zu ihm passe („Wahlverwandtschaft“) und so Freundschaft zwischen ihnen mçglich werde. Nach der Logik von Nietzsches Gegensatz geht sein „Haben-Wollen“ aber „jedes Mal mit dem H a b e n zu Ende …“, so wie es Kierkegaard im (Nietzsche nicht bekannten) Tagebuch des Verfhrers vorgefhrt hat. Statt einfach die Hingabe ,des Weibes‘ hinnehmen zu kçnnen, kann seine Liebe „noch nach der Hingebung wachsen“, ein wachsendes Verlangen nach ihr entstehen und dadurch sein Wille von ihrem Willen abhngig werden. Dabei kçnnte er Selbsttuschungen aufsitzen („sich selten und spt eingesteht“) und seiner Eitelkeit ausgeliefert sein, die ihn noch mehr in Wnschbarkeiten seiner eigenen Perspektive einschließt. So gert die Hingebung ,des Weibes‘ zwischen Gnsefßchen …650 Wenn wie der Besitz auch Begriffe von Dauer sind, kann in letzter Konsequenz der Mann weder von der Treue in der Liebe noch von der Liebe selbst noch von dem Gegensatz, der sie ausmachen soll, einen Begriff haben – sie verschieben sich und entziehen sich ihm schließlich –, und noch weniger kann der mnnliche Autor des Perspektiven-Gegensatzes sagen, ob dieser der Natur der Liebe tatschlich entspricht. Von der Natur der Liebe an sich kann er ohnehin nichts sagen.651 Der Geschlechter-Gegensatz, wenn es denn ein Gegensatz ist, bleibt fr unendliche Interpretationen offen. In FW V spricht Nietzsche nur kritisch von Gegenstzen. Nach FW 346 kann man „dem Argwohne eines Gegensatzes“ verfallen, nach FW 354 sollen die Gegenstze von Subjekt und Objekt und von ,Ding an sich‘ und Erscheinung „den Erkenntnisstheoretikern“ berlassen bleiben, „welche in den Schlingen der Grammatik (der Volks-Metaphysik) hngen geblieben sind“, nach FW 375 kommt „ein ehemaliger Eckensteher“ „im Gegensatz der Ecke“ ins Schwelgen und Schwrmen. „Alle plumpen vierschrçtigen Gegenstze“ sind gegen Nietzsches „Geschmack“. Er versucht Gegenstze, deren Seiten einander ausschließen, in Unterscheidungen berzufhren, die bergnge zwischen beiden Seiten zulassen. Gegenstze orientieren klar, lassen ein Ja oder Nein zu, trennen die Seiten aber voneinander und lassen sie als isolierte Gegenstnde erscheinen, metaphysizieren, was sie unterscheiden. Doch „in der Natur“ gibt es „keine Gegenstze, sondern nur Gradverschiedenheiten“; es ist „unsglich viel Schmerzhaftigkeit, Anmaassung, Hrte, Entfremdung, Erkltung […] in die menschliche Empfindung hineingekommen, dadurch dass man Gegenstze an Stelle der Uebergnge zu sehen meinte.“ (MA II, WS 67) „Man darf nmlich zweifeln, erstens, ob es Gegenstze berhaupt giebt, 650 In welche Feinheiten hinein sich die Hingebung dabei entwickeln kann, hat Nietzsche in zahlreichen Notaten weiter verfolgt. Vgl. etwa N 1882, 1[73], KSA 10.29; N 1882/83, 5[1]64, KSA 10.194; N 1884, 26[143], KSA 11.187. 651 So in der Tendenz auch Higgins, Comic Relief, 85 f. Sie betrachtet die Behauptung als bestreitbar, Nietzsche sei „still locked into the notion of a heterosexuel binarism“. Er sei „a pioneer in gender theory“.
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und zweitens, ob jene volksthmlichen Werthschtzungen und Werth-Gegenstze, auf welche die Metaphysiker ihr Siegel gedrckt haben, nicht vielleicht nur Vordergrunds-Schtzungen sind, nur vorlufige Perspektiven“ (JGB 2). „Ruhe-Bewegung, fest-locker“, erlutert Nietzsche dazu, „alles Gegenstze, die nicht an sich existirt u mit denen thatschlich nur Gradverschiedenheiten ausgedrckt werden, die fr ein gewisses Maaß an Optik sich als Gegenstze ausnehmen.“ (N 1887, 9 [91], KSA 12.384 / W II 1, S. 73). Die Gegenstze, die Nietzsche im V. Buch der FW einfhrt, sind solche graduellen Unterscheidungen: z. B. Strke und Schwche, Befehlen und Gehorchen, Kunst und Natur, Rolle und Charakter. Er fhrt sie auch ausdrcklich als „Unterscheidungen“ ein: „die Ursache des Handelns unterscheiden von der Ursache des So- und So-Handelns“ (FW 360); „W i e m a n z u e r s t b e i K u n s t w e r k e n z u u n t e r s c h e i d e n h a t“ (FW 367); „bediene ich mich jetzt dieser Hauptunterscheidung“; „Von vornherein mçchte sich eine andre Unterscheidung mehr zu empfehlen scheinen“ (FW 370). Und er zeigt jedes Mal, wie solche Unterscheidungen einander kreuzen und ineinander bergehen kçnnen – wie in FW 363 die Unterscheidung von Mann und Weib und ihrer Vorurteile ber die Liebe der Geschlechter.
15. Befreiende Perspektiven im Umgang mit Menschen Nietzsches schriftstellerische Methoden: Basso ostinato: Fortgesetzte Selbstgesprche vor Publikum Nicht nur die verschiedenen Geschlechter haben nicht nur ber die Liebe „Vorurtheile“, beurteilen sie aus verschiedenen Standpunkten und in verschiedenen Perspektiven (FW 363/14.), die Orientierungen der Menschen sind im Ganzen unaufhebbar getrennt und lassen sich nur durch Kommunikation auf der Oberflche der Zeichenwelt miteinander vermitteln (FW 354/9.). Jede und jeder ist, auch wenn man das in der Regel nicht sieht und sehen will, am Ende auf die eigene Orientierung verwiesen und ist mit ihr allein, muss aus ihr heraus entscheiden, was sie oder er von anderen Orientierungen annehmen und in die seine aufnehmen will. Wir sind, so Nietzsche, Einsiedler auch in Gesellschaft. Mit diesem nchternen Eingestndnis, das philosophisch alles verndert, ist er am strksten gegen den Strom der ,modernen Ideen‘ geschwommen, der seither noch weit mchtiger geworden ist, trat er gegen die Illusion eines gemeinsamen Denkens, Erlebens und Handelns, des Aufgehens des Einzelnen in Gemeinschaften an, deckte er unter der Oberflche pathetischer HumanittsSchwre die harten Bedingungen der perspektivischen Orientierungen, die „ganze unterirdische verborgne stumme unentdeckte Einsamkeit“ auf (FW 365). Er besann sich auf das Alleinstehn mit der eigenen Orientierung, stellte sich ihrer Realitt, blickte in ihre Abgrnde – um darber neu frçhlich zu werden. Er wollte den „Antagonism“, den Kant auf den paradoxen Begriff der „u n g e s e l l i g e n G e s e l l i g k e i t der Menschen“ gebracht hatte, nicht mehr versçhnen.652 Der Einzelne kann in der Gemeinschaft nicht aufgehen, und er soll es auch gar nicht. Das will nur, wer es nçtig hat, wer mit seiner Orientierung nicht alleinstehn kann. Die zweite Hlfte des V. Buchs der FW ist von einer langen Aphorismenkette zum furchtlosen Alleinstehen mit der eigenen Orientierung 652 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbrgerlicher Absicht, AA 8.20: „Ich verstehe hier unter dem Antagonism die u n g e s e l l i g e G e s e l l i g k e i t der Menschen, d. i. den Hang derselben in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgngigen Widerstande, welcher die Gesellschaft bestndig zu trennen droht, verbunden ist.“ Auch Kant spricht von „Versçhnung“ fast nur in religionsphilosophischem Kontext.
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durchzogen; sie ist die lngste im V. Buch.653 Sie wird vorbereitet durch die Aphorismenkette zur unvermeidlichen Schauspielerei in modernen Gesellschaften (FW 356, 361, 362/11.), zuletzt durch den Aphorismus zum Ausspielen von Geschlechter-Perspektiven (FW 363/14.), und setzt mit den beiden Aphorismen „D e r E i n s i e d l e r r e d e t“ (FW 364) und „D e r E i n s i e d l e r s p r i c h t n o c h e i n m a l“ (FW 365) ein. Die Titel sind paradox: Man wird gerade Einsiedler, um nicht reden zu mssen. Aber selbst Einsiedler, die sich in Klausen zurckziehen, sind in einer Gesellschaft aufgewachsen, damit in deren Bewusstseins-Perspektive eingebunden und bleiben auch in ihrer Einsiedelei noch vom Verkehr mit der Gesellschaft abhngig, wenn sie nicht wie Zarathustras Greis im Walde von Wurzeln leben wollen. Gerade sie, die unabhngig von anderen Menschen denken, erleben und handeln kçnnen und wollen, werden sich am strksten ihrer bleibenden Abhngigkeit von ihnen bewusst, und mssen eine „Kunst“ entwickeln, „mit Menschen umzugehn“, um diese Abhngigkeit zu ertragen. Nietzsche lsst seinen Einsiedler im V. Buch der FW davon reden, wie er sich auch in der Gesellschaft noch Spielrume von Unabhngigkeit schaffen, wie weit er sich in der Gesellschaft von den Bindungen der Gesellschaft freihalten kann – darin ist er in Nietzsches Sinn bei aller „Geduld“ mnnlich, kriegerisch (FW 362/11.3.4.) –, und lsst ihn schließlich mit einem „Kunststck“ ber sie triumphieren: der Schriftstellerei. Dem ersten Kurs seiner Freiheitslehre folgt, unterbrochen durch den Aphorismus zu der Bindung des Gelehrten an sein Spezialistentum (FW 366/5.4.), ein zweiter zu den Freiheiten der Knstler (FW 367, 369, 376): Knstler sind Einsiedlern darin berlegen, dass sie nicht nur dulden, sondern schaffen. Hat Nietzsche in der Rolle des Einsiedlers noch im Namen des „man“ (FW 364) und des „wir“ (FW 365) geredet, geht er jetzt zum „ich“ ber (FW 367, 369). In FW 376 spricht er von „allen Knstlern und Menschen der ,Werke‘“, lsst auch das „ich“ noch im „Reifgewordensein eines Werks“ aufgehen. Er hat den Aphorismus in die Mitte der beiden Aphorismen „Z u r F r a g e d e r V e r s t n d l i c h k e i t“ gestellt, die wir schon zu Beginn im Kontext von Nietzsches Erwartungen an seine Leser herangezogen haben (FW 371 und 381/3.1.). Denn in ihnen geht es um die Kunst, die Nietzsche vor allem beherrschte, die der Schriftstellerei, die sich auf einem anonymen Buchmarkt jedermann feilbietet. So schaltet Nietzsche eine „Z w i s c h e n r e d e d e s 653 In der Forschung hat sie, auch in ihrer Verkettung, mit Ausnahme ihres abschließenden Aphorismus FW 381 bisher kaum Beachtung gefunden.
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15. Befreiende Perspektiven im Umgang mit Menschen
N a r r e n“ zu „diesem Buch“ ein, eben dem V. Buch der FW, dessen Titel „Wir Furchtlosen“ er hier ausdrcklich zitiert, und fhrt sie auf die „Flucht des Knstlers vor dem Menschen oder den Spott des Knstlers ber den Menschen oder den Spott des Knstlers ber sich selber“ hinaus (FW 379), bevor er dann von jenen „feineren Gesetzen eines Stils“ spricht, durch die „jeder vornehmere Geist und Geschmack“ sich seine Zuhçrer auch noch auf einem anonymen Buchmarkt zu „whlen“ weiß (FW 381). Die Aphorismenkette im Ganzen besteht in fortgesetzten Selbstgesprchen des philosophischen Schriftstellers Nietzsche vor seinem Publikum ber die Auswahl und weitestgehende Ausschließung eben dieses Publikums, um die Wenigen im Publikum zu erreichen, fr die diese Aphorismen und das ganze Buch und Nietzsches Philosophieren berhaupt trotz allem vielleicht verstndlich sein kçnnten. Er hatte lange Mark Aurel fr seine Selbstgesprche bewundert, den rçmischen Kaiser, der hinter seinem Amt sein Ringen um geistige Freiheit fr die Erfllung seiner Fhrungsaufgaben erkennen ließ.654 Doch der Stoiker wusste seine Vernunft noch in trçstlichem Einklang mit der Vernunft des Kosmos, Nietzsche die seine oder was sich ohne metaphysische Idealisierung noch so nennen ließ, nicht einmal im Einklang mit der Vernunft der Vernnftigsten, die ihn in seiner Gesellschaft umgaben. Seine Selbstgesprche handeln von zunehmend subtileren Erfahrungen, die fr andere zunehmend schwerer nachzuvollziehen sind. Auch die, die dafr offen bleiben und nicht ihre eigenen Erfahrungen zum Maßstab der Erfahrungen Nietzsches machen, werden dabei mehr und mehr die Beschrnkung auf ihre Perspektive zu spren bekommen. Wie nach FW 361 (11.2.2.) die Juden und die Frauen werden sich so auch die Leser der Aphorismenkette in der Einschließung ausgeschlossen oder diskriminierend integriert sehen. Dafr mssen sie ihrerseits wachsende Geduld mit 654 Vgl. M 450. „Ich wnsche Dir“, hatte Nietzsche whrend des Kampfes um çffentliche Anerkennung seiner GT Erwin Rohde geschrieben, der sich unter Gefhrdung seines eigenen Rufs selbstlos fr sie eingesetzt hatte, „reinen Himmel, heitres Gemth und empfehle, als mein Strkungsmittel, Dir den Marcus Antoninus; man wird so ruhig dabei.“ (22. Mrz 1873, KGB II/3, Bf.300) Er besaß ein Exemplar der Selbstgesprche (BN). Doch allmhlich wich die Bewunderung der Ironie fr den „Moralisten“ (vgl. N 1884, 25[511], KSA 11.147; N 1886/87, 7 [12], KSA 12.298; N 1887, 9[11], KSA 12.344 / W II 1, S. 131). Vgl. zu Nietzsches Mark Aurel-Rezeption Ferber/Zentner, „Und werden wieder hell“ – Nietzsches Mark Aurel, und Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis, 224 ff., zu Nietzsches Rezeption und Kritik des Stoizismus im Ganzen zuletzt Bertino, Nietzsche und die hellenistische Philosophie, 110 – 124.
15.1. Einsiedler in Gesellschaft. Nr. 364
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dem Einsiedler aufbringen. Sie kçnnen daran testen, wie weit sie ihm folgen kçnnen. Und sie werden sich mehr und mehr zurckhalten mssen, hier noch mitzureden. Nietzsche hlt die Aphorismen dieser Kette vergleichsweise kurz, fgt sie als Zwischenstcke zwischen die mchtigen thematischen Aphorismen zu den Alternativen des Philosophierens (FW 370/16.), zum Hçren der Musik des Lebens (FW 372/17.2.), zum Halt im Haltlosen (FW 377 und 380/18.) und zur Freigebigkeit des Geistes (FW 378/NSM 19) ein. Er erinnert mit der Kette dieser Aphorismen laufend daran, dass auch sie aus einer Perspektive gedacht und vorgetragen sind; je weiter Nietzsche in die Freiheiten einer knftigen frçhlichen Wissenschaft ausgreift, desto deutlicher macht er die Bedingungen auch seiner Perspektive kenntlich. Musikalisch gesprochen gibt die Aphorismenkette den basso ostinato, der meist nur als Begleitstimme im Hintergrund zu hçren ist, ber dem sich jedoch die anderen Stimmen aufbauen, so dass er sie trgt. Gespielt von sog. Fundamentinstrumenten, die verschieden zu besetzen sind, kann er gelegentlich auch mit einer Melodiestimme hervortreten (so wie im archaischen griechischen Drama der Chor in einzelnen Schauspielern). Er klingt in dem, was zum Thema wird, immer mit und klang, unauffllig, schon von Anfang an mit. Nietzsche macht ihn nun, in der zweiten Hlfte des V. Buchs der FW, nachdem schon vieles an Freiheit des Geistes gewonnen ist, zunehmend hçrbar, in deutlichen Abstnden, bis er schließlich selbst zum Thema eines großen Aphorismus wird (FW 381). Vor den thematischen Schlussfolgerungen zur „g r o s s e n G e s u n d h e i t“ (FW 382/20.1.) bringt er die methodischen Schlussfolgerungen zu Nietzsches philosophischer Schriftstellerei, und zuletzt spielt Nietzsche beide in seinem burlesken „E p i l o g“ ineinander (FW 383/20.2.).
15.1. Einsiedler in Gesellschaft Nietzsche hat sich schon frh in den Typus des Einsiedlers gefunden. Er hatte seine Vorbilder dafr: Heraklit, Descartes, Spinoza, Pascal, Schopenhauer, die sich fr ein zurckgezogenes Leben entschieden hatten, aber auf ihre Art auch Empedokles, Platon, Beethoven, Goethe und Wagner, soweit auch sie, aus Nietzsches Sicht, niemanden hatten, mit dem sie sich ber das Unerhçrte ihres Denkens und ihrer Kunst htten austauschen kçnnen.655 Philosophen als solche, so wie er sie verstand, als unzeitgemße Menschen, die ber den Menschen abenteuerlich weiter- und 655 Vgl. bes. PHG 8, KSA 1.834; SE 3, KSA 1.353.
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15. Befreiende Perspektiven im Umgang mit Menschen
vorausdenken, schienen ihm zur Einsamkeit bestimmt.656 Zarathustra ist Einsiedler und ehrt die Einsiedler, die schlichten und die zu „hçheren Menschen“ gewordenen;657 er warnt, ihnen „Unrecht zu thun“ und sie zu „beleidigen“.658 Jeder freie Geist muss, notierte sich Nietzsche, Einsiedler sein (N 1885, 37[6], KSA 11.580 / W I 6, S. 34). In JGB bereitete er sein Publikum auf das „Unmittheilsame und Widerwillige“ in den „Schriften eines Einsiedlers“ vor, „das jeden Vorbergehenden kalt anblst“ (JGB 289). Zuletzt wird er sich in einem Notat einen „{Philosophen u} Einsiedler Geist aus Instinkt“ nennen (N 1887/88, 11[411]3, KSA 13.190 / W II 3, S. 4).
15.1.1. Die Kunst, mit Menschen umzugehn (bei Tisch) Nr. 364: D e r E i n s i e d l e r r e d e t. Die ersten beiden Aphorismen der Kette zu den befreienden Perspektiven im Umgang mit Menschen hçren sich noch nach lockeren Beitrgen zu einem Tischgesprch in Gesellschaft an. Da ist scherzhaft von „Principien“ die Rede, wo es um ganz alltgliche Routinen geht,659 und sie werden fr die gebildete Runde am Tisch, wie es sich damals gehçrte, mit einem Zitat aus Goethes Faust gewrzt. Doch bald erweist sich die frçhliche Auslassung als gallig. Der da als Einsiedler redet, lsst seine Zuhçrer wissen, wie zudringlich er ihre Gesellschaft empfindet und wie er sie sich mhevoll ertrglich macht; er drngt sie seinerseits in eine Schlsselloch-Perspektive, in der sie ihre Zudringlichkeit zu spren bekommen und das in der Tischgesellschaft auch noch lustig finden sollen. Nietzsche gibt „Hausmittel“ aus seiner Hausapotheke zum Besten,660 und er setzt ganz elementar an, mit 656 Vgl. bes. N 1885, 36[17], KSA 11.559 / W I 4, S. 35. 657 Vgl. ZA I Vorrede 2, 8 und 9 und ZA IV im Ganzen. All die „hçheren Menschen“ sind Einsiedler. 658 Vgl. ZA I Natter, KSA 4.88 f., und dazu die Notate N 1882/83, 4[92], KSA 10.142, und 5[1]154, KSA 10.204. Nietzsche hatte weitere Gesprche mit dem Einsiedler geplant. Vgl. N 1882/83, 4[132]; 10.152 f., 4[167], KSA 10.161; 5[1] 170 f., KSA 10.206; N 1883, 18[57], KSA 10.581. 659 Die Formulierung von Prinzipien lsst immerhin eine Systematisierung der Routinen erwarten. Vor allem im Hauptstck „Der Mensch im Verkehr“ und im viel lngeren Hauptstck „Der Mensch mit sich allein“ von MA I hat Nietzsche dazu in einer langen Reihe von Sentenzen und Aphorismen reiches Material bereitgestellt, scharfe Beobachtungen der vorsichtigen Orientierung der Menschen im Umgang miteinander, die einander niemals gut genug kennen, um nicht immer wieder berraschungen, gute und schlimme, voneinander zu erleben. Dort lsst er sich noch vom klassischen Thema der Eitelkeit leiten. 660 Wotling, Notes, 407, Fn. 338, verweist auch hier auf Parallelen zu Stendhal, Correspondance 3.264.
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der Ernhrung und Verdauung als Metaphern der alltglichen Kommunikation in Gesellschaft. Man hat den „Verkehr“ mit Menschen „anzunehmen“ und „einzunehmen“ wie die tgliche Nahrung und muss sie auch wie sie „verdauen“, und je weniger man die „Kche“ kennt, desto schwerere Verdauungsprobleme wird man damit haben. Nietzsche hlt die Verdauungsmetaphorik bis zum Ende durch (FW 381: „Wir haben andre Bedrfnisse, ein andres Wachsthum, eine andre Verdauung“). Wie zu einer andern Kche kann man auch zu anderen Orientierungen letztlich „kein Vertrauen“ haben, eben weil sie andere Orientierungen von anderen Standpunkten aus sind. Besonders wer in seinen Orientierungs-, Urteils- und Entscheidungsfhigkeiten anderen berlegen ist, wird durch die Orientierung an ihnen weniger gewinnen als durch sie behindert werden und muss zudem darauf achten, sie nicht zu beschmen.661 Umso besser muss er sie kennen. Mag „jeder auserlesene Mensch […] instinktiv […] von der Menge, den Vielen, den Allermeisten“ Abstand suchen, darf er ihnen doch nicht ausweichen: „Das Studium des d u r c h s c h n i t t l i c h e n Menschen, lang, ernsthaft […]: das macht ein nothwendiges Stck der Lebensgeschichte jedes Philosophen aus, vielleicht das unangenehmste, belriechendste, an Enttuschungen reichste Stck.“ (JGB 26) Fr sein Studium muss er lernen, seinen Widerwillen nicht zu zeigen. Im Sog der Bemhung um Einklang mit andern aber wird er Mhe haben, die eigene Perspektive noch zu sehen und zu wahren, und gerade die Moral, die alle ber- und Unterlegenheiten, auch jede ,Rangordnung‘ in Orientierungsfhigkeiten, nivellieren will, wird dann schwer verdaulich sein. Kommunikationsangebote aus ihrer Kche wird er nur bei „Wolfshunger“, wenn er unter hçchstem Druck doch auf andere angewiesen ist, „leicht“, wie man sagt, ,schlucken‘ kçnnen. Ansonsten – „Erstes Princip“ – wird so jemand „wie bei einem Unglcke seinen Muth einsetzen, tapfer zugreifen, sich selbst dabei bewundern, seinen Widerwillen zwischen die Zhne nehmen, seinen Ekel hinunter stopfen“ mssen. „Ekel“ hatte Zarathustra vor dem „kleinen Menschen“, der sich fr den „l e t z t e n“ hlt.662 Hier die Distanz zu berwinden, um die alltglichen Kommunikations-Konventionen zu wahren, bedarf lang eingespielter Routinen der Selbstberwindung („Uebung“ und „Geschicklichkeit“), der „populre Name“ dafr ist – Nietzsche wird ihn erst FW 379 nennen – „Menschenfreundlichkeit“. 661 Vgl. FW 273 – 275. 662 ZA III Genesende 2, KSA 4.274, u. ZA I Vorrede 5, KSA 4.19.
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Das „zweite Princip“ oder Hausmittel, „seinen Mitmenschen ,verbessern‘“, empfiehlt, die Moral anderer selbst zu nutzen, um es mit ihnen auszuhalten, indem man sie mit einer anerkennenden Bemerkung dazu bringt, ber sich selbst zu reden und ihr „Glck ber sich selbst auszuschwitzen“, das dann „,interessant‘“ nennt und sie zu mehr ermuntert, bis man sie im Sinn von FW 352 (6.2.) im ganzen Aufputz ihrer Moral bewundern kann. „Man hat“, wie Nietzsche dann in FW 381 schreibt (wie haben die Stelle in 3.1.2. schon zitiert), „nmlich als Immoralist zu verhten, dass man die Unschuld verdirbt, ich meine die Esel und die alten Jungfern beiderlei Geschlechts, die Nichts vom Leben haben als ihre Unschuld; mehr noch, meine Schriften sollen sie begeistern, erheben, zur Tugend ermuthigen.“ So gallig das Moralisten schmeckt, auch diese Kommunikationstugend wird alltglich gebt, ihr „populrer Name“ ist nach FW 379 „Hçflichkeit“. Nach der Illusionierung der anderen ist das ußerste Mittel, das „dritte Princip“, die kurzzeitige Illusionierung seiner selbst, die „Selbsthypnotisirung“, auf die sich nach FW 361 (11.2.2.) am besten die Frauen verstehen. Und so sei es denn gerade in „Ehe und Freundschaft“ als „Hausmittel“ „reichlich erprobt“, sein „populrer Name“, und ihn nennt Nietzsche nun gleich hier, ist „Geduld“.663 Nietzsche nennt nur ihn, weil er fr die Gebildeten am Tisch damit das abgebrochene Faust-Zitat auf berraschende Weise zu Ende bringt. In der zweiten Studierzimmer-Szene von Goethes Faust I bricht Faust in seine berhmte Klage ber sein Dasein („Und so ist mir das Dasein eine Last, / Der Tod erwnscht, das Leben mir verhaßt“), in Flche auf dessen „Blend- und Schmeichelkrfte“ aus und bezieht darin auch die hçchsten christlichen Werte ein („Fluch jener hçchsten Liebeshuld! / Fluch sei der Hoffnung! Fluch dem Glauben“) und zuletzt auch die Geduld („Und Fluch vor allen der Geduld!“). Mephistopheles lsst daraufhin, hçchst ironisch, einen unsichtbaren Geisterchor klagen ber die Zerschlagung der alten Welt („Ein Halbgott hat sie zer663 Inzwischen ist das „Hausmittel“ auch „wissenschaftlich […] formulirt“, exemplarisch in Erving Goffmans Mikrosoziologie, in der er dicht beschrieben hat, wie wir bestndig taktvoll einander helfen, unsere Illusionen ber einander und ber uns selbst aufrechtzuerhalten. Vgl. Goffman, Stigma. Notes on the Management of Spoiled Identity; Goffman, Interaction Ritual; Goffman, Relations in Public; Goffman, Frame Analysis. Goffman beobachtet die Kunst, mit Menschen umzugehen, seinerseits stets aus der distanzierten Perspektive eines Menschen, der Gesellschaft nicht leicht ertrgt und sie sich darum vom Leib hlt. So konnte er schrfer und lustvoller als andere sehen, welche Routinen Menschen entwickeln, um notdrftig miteinander auszukommen.
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schlagen“, „mit mchtiger Faust“) und aufrufen zum Aufbau einer neuen, eigenen Welt „In deinem Busen“: „Neuen Lebenslauf / beginne / Mit hellem Sinn, / Und neue Lieder / Tçnen darauf!“ Die Geister sollen Faust aus der „Einsamkeit“ „locken“, „Wo Sinnen und Sfte stocken“. Darauf dann Mephistopheles: „Hçr auf, mit deinem Gram zu spielen, / Der, wie ein Geier, dir am Leben frißt; / Die schlechteste Gesellschaft lßt dich fhlen, / Daß du ein Mensch mit Menschen bist.“ Er will Faust nicht „unter das Pack“ stoßen, nur seinen Teufelspakt mit ihm schließen. Faust, der mit dem Leben abgeschlossen hatte, greift das mit seiner philosophischen Neugier darauf, „was die Welt / im Innersten zusammenhlt“, freudig auf, und da wre nun – nach Mephistopheles, dessen teuflischer ,Kche‘ man wahrlich nicht trauen kann – jedwede Gesellschaft eine Erleichterung. Nietzsche dagegen sperrt das „f h l e n“ in Goethes Vers und kehrt damit dessen Sinn um: aus dem bei Goethe unbetonten angenehmen ,fhlen‘ wird bei Nietzsche ein betont unangenehmes, so wie man jemand ,die Folter fhlen lassen‘ kann. Gesellschaft, die Mephistopheles Faust als befreiend empfiehlt, erfhrt Nietzsches Einsiedler als qulend. Aber was er nun braucht, ist gerade das, was Faust verflucht hat, die Geduld – fr ,die schlechteste Gesellschaft‘.664 Seinen Zarathustra lsst Nietzsche ebenfalls drei „Menschen-Klugheiten“ aufzhlen, die ihm seinen „Untergang“ unter die Menschen mçglich und ertrglich machen sollen: „erste Menschen-Klugheit, dass ich mich betrgen lasse, um nicht auf der Hut zu sein vor Betrgern“; zweite „Menschen-Klugheit: ich schone die E i t l e n mehr als die Stolzen“; „dritte Menschen-Klugheit, dass ich mir den Anblick der B ç s e n nicht verleiden lasse durch eure Furchtsamkeit“. Die drei Klugheiten berhren sich mit den „Principien“ des sich befreienden Geistes, unterscheiden sich aber auch charakteristisch von ihnen. Nietzsches Zarathustra hat wie Goethes Faust ,den Menschen‘ als solchen im Blick: „An den Menschen klammert sich mein Wille, mit Ketten binde ich mich an den Menschen, 664 Gerber, Nietzsche und Goethe, 99, setzt Nietzsche und Goethe im Blick auf die Erlçsungsidee im Faust und den „Nietzsche-Begriff des bermenschen“ in Beziehung. Faust kçnne in manchem das Modell des bermenschen sein, whrend Nietzsche den bermenschen gerade von Faust abgrenzte. Nach Politycki, Umwertung aller Werte?, 319 f., sind seine Urteile ber Faust „ein Zeugnis von eiferschtiger Bewunderung und kritischer Rivalitt“. Der „,Typus Faust‘“ gelte Nietzsche „als negative Leitfigur, als Inkarnation des modernen Menschen mit all seinen ,Albernheiten‘, seiner Zerrissenheit …“. Rennie, Speculating on the Moment, 266 f., diskutiert die Bedeutung des ,hçchsten Augenblicks‘ fr Faust und Zarathustra (vgl. ZA IV Nachtwandler-Lied 10, KSA 4.402).
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weil es mich hinauf reisst zum bermenschen“. Und dazu muss er die Augen verschließen vor den Menschen, die er vorfindet: auf „dass meine Hand ihren Glauben an Festes nicht ganz verliere“ (ZA II MenschenKlugheit, KSA 4.183 – 185). Nietzsches einsiedlerischer frçhlicher Wissenschaftler dagegen will vorerst lediglich mit den Menschen (im Plural) auskommen, weil er nun einmal unter ihnen leben und das aushalten muss. Zarathustra hat dafr eine vierte und „letzte Menschen-Klugheit“: „Aber verkleidet will ich euch sehn, ihr Nchsten und Mitmenschen, und gut geputzt, und eitel, und wrdig, als ,die Guten und Gerechten,‘ – / Und verkleidet will ich selber unter euch sitzen, – dass ich euch und mich verkenne: das ist nmlich meine letzte Menschen-Klugheit.“ (4.186) Mit dieser letzten Menschen-Klugheit schließt Nietzsche auch in FW 365: „auch wir ziehn bescheiden das Kleid an, in dem (a l s das) man uns kennt, achtet, sucht, und begeben uns damit in Gesellschaft, das heisst unter Verkleidete, die es nicht heissen wollen“. Er nennt sie nicht ein viertes Prinzip. Sie ist die Summe der vorigen drei Prinzipien, die in der Notwendigkeit der Illusionierung in der Kommunikation der Gesellschaft zusammenkommen.665 Die wechselseitige Illusionierung und die seiner selbst ermçglicht die Kommunikation, aber sie schrnkt sie auch massiv ein, begrenzt sie auf die Identitten, die die Menschen in ihrer jeweiligen Perspektive einander zeigen wollen.666 In den „Masken“ ihrer freinander prsentierten Identitten werden sie „,Menschen‘“ in Gnsefßchen.667 665 „Vier Cardinaltugenden“ nennt Nietzsche auch in M 556 („R e d l i c h gegen uns und was s o n s t uns Freund ist; t a p f e r gegen den Feind; g r o s s m t h i g gegen den Besiegten: h ç f l i c h – immer“) und in JGB 284 („Muth“, „Einsicht“, „Mitgefhl“, „Einsamkeit“), in N 1882/83, 6[1], KSA 10.232 f., nochmals vier andere: „Die Freigeisterei s e l b e r w a r m o r a l i s c h e H a n d l u n g / 1) als Redlichkeit / 2) als Tapferkeit / 3) als Gerechtigkeit / 4) als Liebe“. Die fnf ViererSets Tugenden sind, soweit zu sehen ist, bisher nicht aufeinander bezogen worden. Solomon, Living with Nietzsche, bezweifelt, ob die „short lists of virtues“ berhaupt aufeinander bezogen werden drfen, da Nietzsche sie „at different times (and no doubt in different moods)“ niedergeschrieben und vielleicht nicht ernst gemeint habe. Zudem msse unterschieden werden „between those virtues Nietzsche preached and those he exemplified in his writing.“ (145 f.) Solomon differenziert eine Vielzahl weiterer Tugenden bei Nietzsche, „Nietzsche’s Aristotelian Virtues“ (courage, generosity, temperance, honesty, honor/integrity, justice, pride, courtesy, friendship, wittiness; 147 – 158), „Distinctively Nietzschean Virtues“ (exuberance, style, depth, risk-taking, fatalism (amor fati), aestheticism, playfulness, solitude; 158 – 166) und „Nietzsche’s Crypto-Virtues“ (health, strength, ,hardness‘, egoism, responsibility; 166 – 173), ohne sie nher in Zusammenhang zueinander zu setzen. 666 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 430 – 459.
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15.1.2. Die ,Kunst‘, mit ,Menschen‘ ,umzugehn‘ (posthum, als Gespenst) Nr. 365: D e r E i n s i e d l e r s p r i c h t n o c h e i n m a l . Wenn der Einsiedler in FW 365 „n o c h e i n m a l“ spricht, obwohl er zunchst nur zusammenfasst, worber er und Zarathustra schon geredet haben, so, um nun anders, mit „andren Arten und Kunststcken“ wiederzukehren, „um unter Menschen, mit Menschen ,umzugehn‘“: als „Gespenst“. Nach „,Menschen‘“ steht nun auch „,umgehn‘“ in Gnsefßchen, der ganze Sinn der „Kunst, mit Menschen umzugehn,“ hat sich verschoben, und bald wird auch der Sinn von „,Kunst‘“ ein anderer sein.668 Ein Gespenst schafft Distanz zu Menschen, indem es sie schreckt und abschreckt, es erregt wie ein ,Geist‘, mit dem man es im Deutschen leicht verwechseln kann (6.3.2.), Furcht, vor allem dann, wenn man begreift, dass man es/ihn nicht begreifen kann („man greift nach uns und bekommt uns nicht zu fassen“). In einer weiteren Anspielung fr Gebildete am Tisch parodiert der Einsiedler nun selbst die Evangelien, die von Christus berichten, er sei „durch eine geschlossne Thr“ gekommen (Joh. 20, 19), nachdem er von den Toten auferstanden sei („nachdem wir bereits gestorben sind“), so dass die Jnger erschraken und glaubten, sie shen einen ,Geist‘ (Lk. 24, 37) – und darum nicht an ihn glauben konnten (Mk. 16, 11 – 14). Als (bçses) Gespenst den Glauben an einen (guten) Geist zu irritieren ist nach dem Einsiedler „das Kunststck der p o s t h u m e n Menschen par excellence“. Am Ende von FW 365 lsst Nietzsche in einer Schluss-Parenthese (NSM 16) gleich ein solches Geist/Gespenst erscheinen – ihm selbst, dem Einsiedler, der als Geist/Gespenst posthum wiederkehren will, aber ohne die Geduld, die der Einsiedler sich vorgenommen hat („sagte ein Solcher einmal ungeduldig“). Dieses Geist/Gespenst fr ein Geist/Gespenst weiß, „was aus uns w i r d“, nmlich „dass wir nach dem Tode erst zu u n s e r m Leben kommen und lebendig werden, ah! sehr lebendig! wir posthumen Menschen!“ So gespenstig sich das anhçrt, es geht ganz einfach: als Autor von Bchern auf anonymen Buchmrkten, von Bchern, die imstande sind, auch nach dem Tod des Autors das Publikum noch wie ein Gespenst zu irritieren und zu faszinieren. Nietzsche ist es gelungen. Im V. Buch der FW lsst er zur Verdeutlichung gleich den Aphorismus „A n g e s i c h t s e i n e s g e l e h r t e n B u c h e s“ folgen (FW 366/5.4.), 667 Vgl. JGB 5 zu Kant: „wie viel eigne Schchternheit und Angreifbarkeit verrth diese Maskerade eines einsiedlerischen Kranken!“ 668 Vgl. NSM 10 und bes. das dort zitierte Notat N 1885, 37[5], KSA 11.580.
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eines Buches, das eben nicht dazu imstande ist, sondern zu Nachsicht und moralischer Ermunterung einldt. In Nietzsches Sprache ist ein solches Buch das eines gelehrten ,Esels‘. Selbst wenn es in seiner Gelehrsamkeit auch nach dem Tod seines Autors noch geschtzt wird, stirbt es doch, wenn seine Gelehrsamkeit berholt ist. Irritierende und faszinierende Bcher leben lnger. Nietzsche hat in MA I 375 noch nchtern davor gewarnt, „auf die Anerkennung einer fernen Zukunft zu hoffen“. Was „als gross empfunden“ werde, verndere sich sehr stark. So sei es „Phantasterei, von sich zu glauben, dass man eine Meile Wegs voraus sei und dass die gesammte Menschheit u n s e r e Strasse ziehe. Zudem: ein Gelehrter, der verkannt wird, darf jetzt bestimmt darauf rechnen, dass seine Entdeckung von Anderen auch gemacht wird, und dass ihm besten Falls einmal spter von einem Historiker zuerkannt wird, er habe diess und jenes auch schon gewusst, sei aber nicht im Stande gewesen, seinem Satz Glauben zu verschaffen. Nicht-anerkannt-werden wird von der Nachwelt immer als Mangel an Kraft ausgelegt. – Kurz, man soll der hochmthigen Vereinsamung nicht so leicht das Wort reden.“ Es seien „unsere Fehler, Schwchen und Narrheiten, welche die Anerkennung unserer grossen Eigenschaften verhindern.“ Immerhin rumte Nietzsche damals „Ausnahmeflle“ ein. Auf sie musste er sich nun berufen, nachdem er, als seine GTerschienen war, als wissenschaftlicher Autor schon fr tot erklrt worden war, weil es nicht die Art von Gelehrsamkeit bot, die man von ihm erwartete,669 und seine weiteren Schriften sich immer schlechter verkauften. Doch er dachte sein eigenes posthumes Leben nicht so sehr in der Zukunft als in der Gegenwart, als, wie er dann in GM III 8 schrieb, „Freiheit von Zwang, Stçrung, Lrm, von Geschften, Pflichten, Sorgen“, von allem, was den Geist bindet und sein Philosophieren behindert, so dass „das Herz fremd, jenseits, zuknftig, posthum“ werden kann. In GD wird er auf solche bei Lebzeiten posthumen Menschen zurckkommen: „Posthume Menschen – ich zum Beispiel – werden schlechter verstanden als zeitgemsse, aber besser g e h ç r t. Strenger: wir werden nie verstanden – und d a h e r unsre Autoritt …“670 Sie wirken posthum, einer fernen Zukunft zugehçrig, eben weil sie ihrer Zeit voraus sind, aber nur, wenn die Musik gehçrt wird, die Schriften erst verstndlich macht (FW 367 und 372/17.), und diese Musik so irritiert und fasziniert, dass man sich ihnen, wie im Fall Nietzsches, trotz der bisher unerhçrten Worte nicht entziehen kann. Unter der Bedingung, dass die Orientierungen der Menschen getrennt bleiben, werden ihre Mitteilungen im strengen Sinn „nie verstanden“, wirken aber als Autoritt, die man 669 Vgl. CPJ 1.474, wonach Hermann Usener, ein von Nietzsche sehr geschtzter Bonner Fachkollege, seinen Studenten gesagt haben soll, GT „sei der bare Unsinn, mit dem rein gar nichts anzufangen sei: jemand, der so etwas geschrieben habe, sei wissenschaftlich tot“. 670 GD Sprche 15. Vgl. die Vorstufe N 1887, 9[76], KSA 12.375 / W II 1, S. 87: Nietzsche erwgt hier weitere Beispiel fr ,Posthume‘, teils mit, teils ohne Fragezeichen: „Epikur? / Schopenhauer / Stendhal / Napoleon / Goethe? / Shakespeare? / Beethoven? / Macchiavell“. Verçffentlicht hat er eine derartige Liste nicht.
15.2. Knstler beim Schaffen
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nicht verstehen muss, um ihr zu folgen. Im Vorwort zu AC wird sich Nietzsche als „posthu geboren“ ankndigen und die Formel in EH wiederholen („Ich selber bin noch nicht an der Zeit, Einige werden posthum geboren“). Er verweist nun ausdrcklich auf seine „Schriften“ und „die Frage nach dem Verstanden- oder N i c h t-verstanden-werden dieser Schriften“ (EH Bcher 1).671 Wenn sie denn im Sinn von FW 343 (4.4.) ein ,grosses Ereignis‘ ankndigen, kçnnen sie vorerst gar nicht verstanden werden.
15.2. Knstler beim Schaffen 15.2.1. Weltvergessenheit beim Schaffen Nr. 367: W i e m a n z u e r s t b e i K u n s t w e r k e n z u unterscheiden hat. Nun werden die Aphorismen der Kette wortkarg, kryptisch, dunkel. Ein einsiedlerischer Knstler spricht vor Publikum darber, dass einsiedlerische Knstler den Publikumsgeschmack und schließlich auch den eigenen vergessen und dadurch reif zum Tod werden. Danach macht die „Einsamkeit“ erst Kunst zu Kunst, gleichgltig, ob nun „gedacht, gedichtet, gemalt, componirt, selbst gebaut und gebildet wird“. Sie scheide die „monologische Kunst“ von der „Kunst vor Zeugen“ oder „vom Auge des Zeugen aus“. Eine Kunst vor Zeugen ist eine Kunst, bei der man sich von andern beobachten und beurteilen lsst und ihren Maßstben gerecht werden will, bei der man also in Nietzsches Sinn zu schauspielern hat, eine, wie der folgende Aphorismus FW 368 deutlich macht, theatralische Kunst. „Monologisch“ ist dann die „antitheatralische“ Kunst. Sie ist noch immer eine Art zu sprechen, spricht aber in einer Sprache, die sich (vorerst) dem Verstndnis und damit auch dem Urteil des Publikums entzieht.672 671 Kaufmann, Commentary, 321, Fn. 102, erzhlt an dieser Stelle vom berhmten Graffito „,God is dead.‘ Nietzsche. ,Nietzsche is dead.‘ God“, dem immer wieder eine dritte Zeile hinzugefgt worden sei. Als die gelungenste erschien ihm: „,Some are born posthumously.‘ Nietzsche.“ – Fr Hamacher, ,Disgregation des Willens‘, 328 f., sind die „posthumen Menschen“ in FW 365 die Individuen als „Abgeschiedene par excellence“, abgeschieden „auch vom Tod und der Gemeinschaft der Toten“, was die Sprache notwendig verberge. 672 Vgl. MA I 625: „E i n s a m e M e n s c h e n. – Manche Menschen sind so sehr an das Alleinsein mit sich selber gewçhnt, dass sie sich gar nicht mit Anderen vergleichen, sondern in einer ruhigen, freudigen Stimmung, unter guten Gesprchen mit sich, ja mit Lachen ihr monologisches Leben fortspinnen.“ Nietzsche konnte so auch MA, das im Winter 1876/77, den er mit Paul Re und Malwida von Meysenbug in Sorrent verbrachte, im stndigen Gesprch mit ihnen entstand, in seiner
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15. Befreiende Perspektiven im Umgang mit Menschen
Nietzsche fhrt hier eine Kunst ein, die ansonsten nicht als Kunst gilt, die „Lyrik des Gebets“, „welche den Glauben an Gott in sich schließt“. Er hatte Zarathustra von den hçheren Menschen „n i c h t Muth vor Zeugen, sondern Einsiedler- und Adler-Muth“ verlangen lassen, „dem auch kein Gott mehr zusieht“ (ZA IV Menschen 4, KSA 4.358), und im Plan fr einen V. Teil der Lehrdichtung Zarathustra selbst den „{gottlosen Einsiedler}“ genannt, „{den ersten Einsamen, der nicht betete}“ (N 1885, 39 [3], KSA 11.620 / N VII 2, S. 191).673 Ein Knstler ,schafft‘ in Nietzsches starkem Sinn dann neue Orientierungswelten mit neuen Werten, wenn er mit der Sprache seiner Kunst die Sprache berwindet, die die ,Schatten Gottes‘, all die Metaphysik und Moral, die sich in sie eingenistet haben, noch bewahrt, und das wird ihm nur dann mçglich sein, wenn er Gott und
Widmung an Voltaire dennoch ein „monologisches Buch“ nennen. „{Das vollkommene Buch}“, notiert er spter, wre „ein idealer Monolog? absol. Ausschluß des gelehrtenhaften Zuschnitts? ,dramatisch‘? {Alles Gelehrtenhafte aufgesaugt in die Tiefe} / alle Accente der tiefen Leidenschaft, Sorge, auch der Schwchen, Milderungen, Sonnenstellen, – das kurze Glck, {die sublime Heiterkeit} / berwindung der Demonstration; absolut persçnlich. Kein ,ich‘ …“ (N 1887, 9 [115], KSA 12.400 / W II 1, S. 54). In M 255 hat Nietzsche die Musik, „welche ganz und gar nur an sich denkt, an sich glaubt, und ber sich die Welt vergessen hat, – das Von-selber-Ertçnen der tiefsten Einsamkeit, die ber sich mit sich redet und nicht mehr weiss, dass es Hçrer und Lauscher und Wirkungen und Missverstndnisse und Misserfolge da draussen giebt“, „eine u n s c h u l d i g e M u s i k“ genannt – und sie ironisch in einem ausschweifenden Dialog eingefhrt. 673 Vgl. Brief an Franz Overbeck vom 2. Juli 1885, KGB III/3, Bf.609: „ich schme mich oft genug, so viel publice gesagt zu haben, was zu k e i n e r Zeit, selbst zu viel werthvollern und tiefern Zeiten, vor das ,Publicum‘ g e h ç r t htte. […] und ich halte mir das Bild Dante’s und Spinoza’s entgegen, welche sich besser auf das Loos der Einsamkeit verstanden haben. Freilich, ihre Denkweise war, gegen die meine gehalten, eine solche, welche die Einsamkeit e r t r a g e n ließ; und zuletzt gab es fr alle die, welche irgendwie einen ,Gott‘ zur Gesellschaft hatten, noch gar nicht das, was ich als ,Einsamkeit‘ kenne.“ Es geht Nietzsche nun nicht mehr um die demonstrative Absonderung, die sich ihm frher, bei Schopenhauer, als „Gesetz seiner Philosophie“ „zur çffentlichen Lehre, zum sichtbaren Beispiel“ zu empfehlen schien (N 1874, 34[37], KSA 7.804; vgl. N 1873, 29[205], KSA 7.712). Nach FW 367 wre diese Philosophie „fr sich“ noch immer eine „vor Zeugen“. – Hamacher, ,Disgregation des Willens‘, findet in einer freilich sehr angestrengten Interpretation von FW 367 in der Einsamkeit ohne Gott erst den Ursprung von Individualitt: „Individuell ist erst dasjenige Leben, in dessen Einsamkeit kein Gott mehr reicht“ (326).
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„,die Welt vergessen hat‘“,674 die Welt im Sinn des Publikums, das von ihm die konventionelle metaphysisch-moralische Sprache erwartet. Man muss erst lernen, argwçhnisch gegen diese Sprache und aus eigenen Erfahrungen anders zu sprechen. Davon hat Nietzsche in der neuen Vorrede zu MA II gehandelt: „Damals lernte ich erst jenes einsiedlerische Reden, auf welches sich nur die Schweigendsten und Leidendsten verstehn: ich redete, ohne Zeugen oder vielmehr gleichgltig gegen Zeugen, um nicht am Schweigen zu leiden, ich sprach von lauter Dingen, die mich nichts angiengen, aber so, als ob sie mich etwas angiengen.“ (MA II Vorrede 5) Hier redet er noch von ,sich geben‘, vom Schauspielern vor Publikum (FW 361, FW 363/NSM 14). Er hat das Publikum nicht vergessen, kann es nicht vergessen, muss angestrengt gegen dessen Zeugenschaft ankmpfen. Zuvor hatte er das oben schon (7.1.1.) zitierte Notat niedergeschrieben: „Fr Jeden, der mit einem großen Probleme {Fragezeichen wie mit seinem Schicksale} zusammengelebt hat und dessen Tage u Nchte {sich} in lauter {einsamen} Zwiegesprchen und einsamen Entscheidungen sich verzehrten, sind fremde Meinungen {ber das gleiche Problem} ein{e Art} Lrm, gegen den er sich wehrt und die Ohren zuhlt“. Aber eben das muss ihn misstrauisch gegen sich selbst machen. Denn er will und muss ja hçren, „was Alles ber sein Problem gesagt {und geschwiegen} ist, gesagt wird“. So versucht Nietzsche in diesem Notat, aus der Not eine Tugend zu machen, nmlich zu glauben, dass „alles Laute, Lrmende, ffentliche, der ganze Vordergrund von Politik, Alltag, Jahrmarkt, ,Zeit‘ {nur} erfunden zu sein scheint, damit {alles, was uns heute} Einsiedler u. Philosophen {ist}, sich dahinter / {hierin} verstecken kçnnen – als in ihrer eigensten Einsamkeit“. Der Lrm der Welt wre ihr Versteck, aber eben immer noch ein Versteck (N 1885/86, 2[183], KSA 12.157 f. / W I 8, S. 49).
674 Nietzsche zitiert hier sich selbst (M 255) und parodiert zugleich einen Vers aus einem damals berhmten Liebesgedicht von Friedrich Rckert: „Wer in der Liebsten Auge blickt, / Der hat die Welt vergessen. / Der kann nicht, wen ihr Arm umstrickt, / Was draußen liegt, ermessen.“ Es folgen noch „Menschenherz“ und „Liebeslust und Schmerz“ (Rckert, Gesammelte Gedichte, 351). Die Wendung erscheint aber auch in Lessings Minna von Barnhelm (V 9, Major von Tellheim: „Sie wird mich um mich selbst lieben; und ich werde um sie die Welt vergessen“, vgl. Lessing, Werke, 1.694) und in Wielands Geschichte des Agathon (Erster Theil, Fnftes Buch, 9. Kapitel: „Daß diese Danae izt verchtliche Blicke in die g r o s s e W e l t zurck warf, und nichts angenehmers fand als die lndliche Einfalt, nichts schçners als […] von der Welt vergessen zu seyn, und die Welt zu vergessen – –“; Wieland, Smmtliche Werke, 1.273).
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15. Befreiende Perspektiven im Umgang mit Menschen
In FW 367 lsst Nietzsche davon ab und besinnt sich auf das bloße Vergessen: eine monologische Kunst „ruht a u f d e m V e r g e s s e n“. Die „Kraft zu vergessen“ hatte er in HL entdeckt (HL 1, KSA 1.250). Nicht das angestrengte Ausblenden, sondern das unwillkrliche Absehen von allen Problemen, die mit ihm verbunden sein mçgen, macht Handeln erst mçglich, alles Handeln hngt davon ab, „dass man eben so gut zur rechten Zeit zu vergessen weiss, als man sich zur rechten Zeit erinnert“, „dass man mit krftigem Instincte herausfhlt, wann es nçthig ist, historisch, wann unhistorisch zu empfinden.“ (HL 1, KSA 1.252) Die „Kunst und Kraft vergessen zu kçnnen“ ist die, „sich in einen begrenzten H o r i z o n t einzuschliessen“ (HL 10, KSA 1.330), also eine alles brige ausschließende Perspektive einzunehmen. Sie ist mit einem gelufigeren Wort, das Nietzsche in seinen Notaten dafr gebrauchte, „Concentration“ (N 1873, 29[65], KSA 7.657), die Sammlung und Ausrichtung der Aufmerksamkeit: „Die knstlerische Kraft veredelt den unbndigen Trieb und engt ihn ein, concentrirt ihn (zu dem Wunsch, dies Werk mçglichst vollkommen zu gestalten).“ (N 1874, 32[45], KSA 7.768) Konzentration brauchen wir auch als Schauspieler unserer alltglichen Rollen (11.2.1.). Doch auch hier mssen wir meist noch „abwehren, was n i c h t dazu gehçrt, den andringenden Strom andersartiger Gefhle und Reize, und – unsere Handlungen im Sinne der Rolle thun und besonders i n t e r p r e t i r e n.“ (N 1884, 25[374], KSA 11.110) Beim Schaffen in Nietzsches Sinn wird die Konzentration aus der Abwehr zur Lust: „das Kunstwerk als ein Zeugniß unserer Lust an der Ve r e i n f a c h u n g, an dem Fort-Schaffen durch Concentration unter Ein Gesetz“ (N 1884, 25[409], KSA 11.119). Man vergisst das Publikum, die Bewusstseins-Perspektive und ihre Sprache, indem man, wie man sagt, lustvoll aus ihr ,abtaucht‘, in die des Schaffens ,eintaucht‘, um irgendwann wieder aus ihr ,aufzutauchen‘. Man bemerkt das so wenig, wie man das Einschlafen bemerkt, und kann nur nachtrglich feststellen, dass man da aus der theatralischen in eine monologische Orientierungswelt geglitten ist. Doch so wird die Kraft zu eigenem Schaffen frei, in dem erst die eigene Perspektive wirksam und damit auch wirklich wird. Sie ist dann nicht mehr in der konventionellen Sprache zu beschreiben. Nennt man das, was der Sprache, die jemand spricht, ihre charakteristische Eigenart gibt, die man sofort wiedererkennt, ohne dass man sie hinreichend beschreiben kçnnte, die Stimmfarben, Tonhçhen, Betonungen, Lautstrken, Rhythmen usw., – nennt man dies die „Musik“ einer Sprache, so ist die monologische Kunst die „Musik des Vergessens“. Sie ist Teil der „Musik des Lebens“, von der Nietzsche in FW 372 (17.2.) handeln wird. Nach FW
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373 (13.2.4.) ist an ihr gerade das Musik, was nicht in irgendeiner Weise „gezhlt, berechnet, in Formeln gebracht werden“ kann. Kann man erst einmal diese Musik des Vergessens, des Vergessens der Konventionen einer Sprache, hçren, so kann aus dieser Musik etwas Neues ,geboren werden‘, auch neue Konventionen, an die sich dann ein Publikum, soweit sie sich durchsetzen, neu halten kann. So hatten sich im großen Stil Wagner die Geburt des Dramas aus der Musik und Nietzsche die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik gedacht. FW 368 (17.1.) handelt davon, wie Wagner aus seiner Musik wieder „Theater“ gemacht hat. 15.2.2. Selbstvergessenheit beim Schaffen Nr. 369: U n s e r N e b e n e i n a n d e r . FW 369 fhrt von der Weltvergessenheit zur Selbstvergessenheit beim Schaffen. Die eigene Perspektive tritt nach Nietzsche dabei in die der eigenen „schçpferischen Kraft“ und die des eigenen „Geschmacks“ auseinander. Haben sie sich aus der gesellschaftlich dominierten BewusstseinsPerspektive gelçst, kehrt im Selbst die Scheidung wieder, nun als eine „unheimliche Verschiedenheit in uns“. Die schçpferische Kraft, die sich vom urteilenden Geschmack, auch noch vom eigenen, lçst, muss dann eine ausgelçste aufgestaute Kraft im Sinn von FW 360 (13.1.) sein; sie bleibt auch fr den Schaffenden zufllig, unberechenbar, berraschend, so dass er, wenn er nachtrglich sein vollendetes Werk beurteilt, selbst ins Staunen kommen kann. Nietzsche macht das wieder durch musikalische „tempi“ und an einem „Musiker“ deutlich, wieder an Richard Wagner, an dem er selbst die „fast peinlich-regelmssige Erfahrung“ machen konnte.675 Er deutete sie in WB nur an („Wagner’s Kçnnen und sein ,Geschmack‘ und ebenso seine Absicht – alles diess passte zu allen Zeiten so eng in einander, wie ein Schlssel in ein Schloss: – es w u r d e mit einander gross und frei – aber damals war es diess nicht“, WB 8, KSA 1.473), um sie dann im II. Buch der FW „d e r E i t e l k e i t d e r K n s t l e r“ zuzuschreiben: er schildert dort einen Musiker, der es zur grçßten Meisterschaft im „ganz Kleinen“ gebracht habe, sich darber aber tusche, weil sein „Geschmack und Hang“ ins ganz Große wolle: „Aber er weiss es nicht! Er ist zu eitel dazu, es zu wissen.“ (FW 87) An „Bestndig-Schaffenden“, unentwegt „fruchtbaren Knstlern“ ist wiederzuentdecken, was beim bleichen Verbrecher aus ZA zu sehen war (13.1.): dass auch bei ihnen die Einheit des 675 Vgl. die Vorstufe N 1881, 12[37], KSA 9.583.
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,ich‘ sagenden Selbst eine Illusion ist, dass sie, um schaffen zu kçnnen, nicht schon wissen mssen und vielleicht nicht einmal wissen drfen, was sie wollen, sondern ihrerseits erst nachtrglich deuten, was sie vordem unwillkrlich geschaffen haben. Nietzsche hatte zuvor noch notiert, „unser ,Ich‘“ drfte „eine perspektivische Illusion“ sein, eine „scheinbare Einheit, in der wie in einer Horizontlinie alles sich zusammenschließt“ (N 1885/86, 2[91], KSA 12.106 / W I 8, S. 130), und in GD dann „das Ich“ berhaupt zur „Fabel […], zur Fiktion, zum Wortspiel“ erklrt, das „ganz und gar aufgehçrt [hat], zu denken, zu fhlen und zu wollen“ (GD Irrthmer 3).676 Ein Schaffender „vergisst“ seinen Geschmack, indem er ihn „stehn“ lsst wie einen Gesprchspartner, der unertrglich wird, „liegen“ lsst wie ein Problem, das sich als unlçsbar erweist, „fallen“ lsst wie einen Verbndeten, der sich unhaltbar gemacht hat, einfach, um in der Perspektive des Schaffens bleiben zu kçnnen. Am Ende kndigt Nietzsche an („die ganze griechische Dichter- und Knstler-Welt“), worauf er den folgenden Aphorismus FW 370 zu den Alternativen des Philosophierens hinausfhren wird: den „d i o n y s i s c h e n Pessimismus“, in dem die Kunst „niemals ,gewusst‘ [hat], was sie gethan hat…“ 15.2.3. ,Lebensabschnitte‘ beim Schaffen Nr. 376: U n s r e l a n g s a m e n Z e i t e n . Der wiederum kurze Aphorismus FW 376, neben FW 378 einer der beiden krzesten, lakonischsten des V. Buchs der FW, knpft mit „die mtterliche Art Mensch“ an „eine ,Mutter‘ von Mensch, im grossen Sinne des Wortes, ein Solcher, der von Nichts als von Schwangerschaften und Kindsbetten seines Geistes mehr weiss und hçrt, der gar keine Zeit hat, sich und sein Werk zu bedenken, zu vergleichen“, aus FW 369 an. Er geht nun ber die „Knstler“ im engeren Sinn hinaus, handelt von „Menschen der ,Werke‘“, Schaffenden berhaupt. Das nicht bewusst zu wollende Schaffen begegnet am Ende im „Werk“ und wird als solches fr den Geschmack des Schaffenden und den des Publikums zum Gegenstand der Beurteilung. Begann die Aphorismengruppe mit dem „werdenden Kunstwerk“ (FW 367), so folgt auf die Geburt des Kunstwerks („Niemand kennt ein Kind schlechter als seine Eltern“, FW 369) nun das Reifen des Werks und das Reifen der Schaffenden durch das Werk. Im vollendeten Werk erfahren sie, 676 Vgl. zur Problematik des ,ich‘ sagenden Selbst v. a. M 115 (9.3.) und die bersicht von Christians, Art. Selbst.
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so Nietzsche, ihr eigenes „Reifgewordensein“.677 Es gibt ihrem Leben einen Rhythmus, eine Gestalt, jedes Mal aber auch einen Abschluss. Es macht sie reif, „den Tod geduldig entgegenzunehmen“, mit ihm kçnnen sie es genug sein lassen. Nietzsche bringt auch dies in die Sprache der Musik: „Da verlangsamt sich das tempo des Lebens und wird dick und honigflssig – bis zu langen Fermaten, bis zum Glauben an d i e lange Fermate…“ Die Fermate ist in der Notenschrift das Ruhezeichen, sie bezeichnet einen ,Halt‘, einen ,Aufenthalt‘ und oft das lange ausgehaltene Ende des Musikstcks. So kçnnen Schaffende glcklich sterben. In der glcklichen Erfahrung ihres Todes in ihrem Werk kommen sie ganz zu sich, werden sie ganz frei.
15.3. Schriftsteller auf dem Buchmarkt 15.3.1. Sich-verwechseln-Lassen durch das Publikum Nr. 371: W i r U n v e r s t n d l i c h e n . In der letzten Gruppe der Aphorismenkette spricht Nietzsche teils als „wir“, teils als „ich“ nur noch von sich, seinen Schriften und ihrem posthumen Wirken. Sein Wirken kçnnte, vermutet er, 1901 einsetzen, womit er es gut traf; um diese Zeit begann man ihn tatschlich als Philosophen ernstzunehmen.678 Er spricht jetzt von einem auszeichnenden „Loos“, einem Schicksal, das er annimmt und gutheißt, und fhrt es auf sein noch fortdauerndes Wachsen im Schaffen seines Werkes zurck. 677 Nietzsche hat seine Philosophie der Kunst vorwiegend, aber nicht ausschließlich aus der Perspektive des Schaffenden und dabei eher eine Produktions- als eine Rezeptionssthetik entwickelt. Vgl. zu ihrem Kontext mit seiner Philosophie im Ganzen Stegmaier, Friedrich Nietzsche, Klassiker der Kunstphilosophie, und, sehr prgnant, Reschke, Art. sthetik. 678 1901 erschien zum ersten Mal die von Heinrich Kçselitz im Auftrag von Elisabeth Fçrster-Nietzsche aus Nietzsches Notaten zusammengestellte Kompilation Der Wille zur Macht, die man lange als Nietzsches Hauptwerk verstand und die als solches neben ZA bis zur Gegenwart eine berragende Wirkung entfaltet hat, 1902 Hans Vaihingers Studie Nietzsche als Philosoph, mit der Nietzsche nicht mehr nur als ,Literat‘ gelesen, sondern auch als Philosoph in Betracht gezogen zu werden begann. – Auch fr die aufs Jahr festgelegte Prophezeiung des eigenen posthumen Wirkens gibt es, so Wotling, Notes, 409, Fn. 351, eine Parallele zu Stendhal, der erwartete, nicht vor 1880 gelesen zu werden (Correspondance 3.404). In Frankreich wurde Nietzsche, wie er selbst erwartete, schon frher beachtet. Vgl. Sautet, Notes, 526, Fn. 471.
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Nietzsche hat sich in zahlreichen Briefen durchaus „darber beklagt, missverstanden, verkannt, verwechselt, verleumdet, verhçrt und berhçrt zu werden“; noch zuletzt forderte er „Ve r w e c h s e l t m i c h v o r A l l e m n i c h t !“ (EH Vorwort 1). Doch hier gewinnt er auch dem eine befreiende Seite ab. „Man verwechselt“ ihn, weil sein Philosophieren nicht nur Perspektiven durchlaufen hat, in denen andere, Gelehrte, epigonale Philosophen wie Dhring oder von Hartmann und maßgebende Philosophen wie Leibniz, Kant, Hegel und Schopenhauer steckengeblieben sind, sondern sich unentwegt noch immer neue Perspektiven zu erschließen sucht, gerade hier in der FW. So ist es fr andere und auch fr ihn selbst nicht ,feststellbar‘. Es wchst an allen Stellen und in alle Richtungen, ohne dass man sagen kçnnte, was da wchst, ohne dass man so etwas wie seinen festen Kern, geschweige denn seinen festen Grund bezeichnen kçnnte. Wovon Nietzsche hier spricht, ist sein kontextuelles Denken, das sich in immer neue Kontexte ausweitet, verflicht und vertieft, das wchst wie Lebendiges und so das Wachstum des Denkens im Leben zeigt („das ist schwer zu verstehn, wie alles Leben!“). In seinem kontextuellen Denken steht es Nietzsche „gar nicht mehr frei, irgend Etwas einzeln zu thun, irgend etwas Einzelnes noch zu s e i n …“; jedes Einzelne ist von vielem, zuletzt von allem anderen her zu verstehen, es ist nur in seinen Kontexten.679 Das Gleichnis vom in alle Richtungen, auch in die Tiefe des Bçsen wachsenden Baum hatte Zarathustra fr den erkenntnishungrigen und sich dabei selbst immer mehr zum Fragezeichen werdenden Jngling gebraucht. Der Jngling will „in die Hçhe“, klagt aber, er werde dort immer weniger verstanden und vereinsame, ringt mit Verachtung, Scham und Neid, dem Neid anderer auf ihn, aber auch seinem eigenen Neid auf Zarathustra. Dessen Neidlosigkeit trifft ihn wie ein „Blitz“. Zarathustra trçstet den Jngling damit, dass zur „Freiheit“ des „Geistes“, die er suche, er sich zuerst von solchen Ressentiments reinigen, sich berhaupt davon lçsen msse, sich an andern zu messen und sich nach ihren moralischen Maßstben zu richten. Er erkennt in ihm den „Edlen“, der durch Edle den rechten Weg zur Hçhe finden werde (ZA I Baum, KSA 4.51 – 54.). Nun spricht Nietzsche mit demselben Gleichnis von seiner Reife, einer fortdauernden Reifung, die keine Maßstbe und Autoritten mehr außer sich hat. Er werde in ihr nicht nur „hçher, strker“, sondern auch „immer jnger, 679 McIntyre, Communion in Joy, spricht hier von „holism of becoming“ (35). Doch auch ein Ganzes ist fr Nietzsche im Werden nicht fassbar, sondern ein unendlicher Kontext, den man nur endlich verfolgen kann.
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zuknftiger“. Jnger ist, wer mehr Zukunft hat, offenere, ungewissere Horizonte fr Wahrheiten und Irrtmer, fr Gutes und Bçses. Aber dazu ldt Nietzsche nun niemand mehr ein. Er wiederholt sich – was in diesen Aphorismen sonst kaum vorkommt und darum auffllig ist („So ist es unser Loos, wie gesagt“, „wir halten es darum nicht weniger in Ehren“) –, wiederholt jedoch nur noch eine Richtung seines Wachstums, die „in die H ç h e“, die auch der Jngling vor Augen hatte, und warnt nun vor dem „Verhngniss“, das dort in Aussicht steht, weil die „Blitze immer nher“ seien. Der Blitz ist nun jedoch nicht mehr Zarathustra, es ist jetzt „u n s e r Verhngniss“, die Reifung zu einem Denken, das schlagartig alles erhellen, aber auch tçten kçnnte. Der glckliche Tod im Werk muss kein sanfter Tod sein. Hier trennt sich der schreibende Einsiedler vollends von seinem Publikum. Mehr, teilt er ihm mit, will er ihm „nicht mittheilen“, weil er sein Verhngnis „nicht“ mit ihm „theilen“ will, teils aus Stolz, teils aus Schonung. Damit stellt er, aus seiner Sicht, die Rangordnung klar. 15.3.2. Feine Verachtung des Publikums Nr. 379: Z w i s c h e n r e d e d e s N a r r e n . Das wird ihm von Moralisten den Vorwurf der Misanthropie, des „Menschenhasses“, der Menschenverachtung einbringen. Nietzsche scheint darber besorgt zu sein, er bestreitet ihn. Aber er entschuldigt sich nicht bei seinem Publikum, womit er sich untreu wrde, sondern erklrt sich auf eine Weise, die die Irritation noch steigert. Den Titel „Z w i s c h e n r e d e“ hat er zuvor schon zwei Mal gebraucht. Auch dort hat er dabei von „diesem Buch“ gesprochen. Seine „Zwischenreden“ unterbrechen nicht Gesprche bei Tisch oder unter Gelehrten, sondern das Publikum bei der Lektre eben des Buches, das sie enthlt.680 In M lautete die Z w i s c h e n r e d e. – Ein Buch, wie dieses, ist nicht zum Durchlesen und Vorlesen, sondern zum Aufschlagen, namentlich im Spazierengehen und auf
680 1885/86 hatte Nietzsche als Titel eines neuen Buches auch erwogen: „Halkyonische Zwischenreden. / Zur Erholung von ,Also sprach Zarathustra‘ / seinen Freunden geweiht / von / Friedrich Nietzsche“ (2[4], KSA 12.68; W I 8, S. 274). So kçnnten alle Aphorismen des V. Buchs der FW auch als Zwischenreden zu ZA gedacht gewesen sein.
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Reisen, man muss den Kopf hinein- und immer wieder hinausstecken kçnnen und nichts Gewohntes um sich finden. (M 454)
Wo und wie oft man ein Nietzschesches Aphorismen-Buch aufschlgt, man wird immer von neuen Kontexten des vermeintlich schon Bekannten berrascht werden. In FW IV lautete die Z w i s c h e n r e d e. – Hier sind Hoffnungen; was werdet ihr aber von ihnen sehen und hçren, wenn ihr nicht in euren eigenen Seelen Glanz und Gluth und Morgenrçthen erlebt habt? Ich kann nur erinnern – mehr kann ich nicht! Steine bewegen, Thiere zu Menschen machen – wollt ihr das von mir? Ach, wenn ihr noch Steine und Thiere seid, so sucht euch erst euren Orpheus! (FW 286)
Neue philosophische Horizonte werden sich in einem solchen Buch nur Lesern auftun, die selbst mit ihrem Philosophieren dazu gereift sind. Die Musik von Nietzsches Aphorismen soll und kann nicht wie Orpheus Felsen bewegen und Tiere vergeistigen. Nietzsche redet in seinem Buch ber sein Buch als „N a r r“ dazwischen und damit wieder als eine Art von Schauspieler (FW 356/11.1.4.–5.). Er schlpft nun selbst in die Rolle des Narren, weil Narren die Freiheit haben, unangenehme Wahrheiten zu sagen und dabei damit rechnen drfen, dass man sie nicht ernstnehmen und doch auf sie hçren wird, wenn sie nur geistreich genug sind; so kann er sein Publikum foppen, ohne dass es sich je sicher sein kann, wann, wo und wie es gefoppt wird.681 Menschenhass wre, ist seine Antwort auf den zu erwartenden Vorwurf der Moralisten, nicht unmoralisch, sondern unçkonomisch („bezahlt sich heute zu theuer“). Denn, wie das Beispiel Timons von Athen, Gegenstand einer berhmten Satire (Lukians Timon oder Der Menschenfeind), Tragçdie (Shakespeares Timon von Athen), Oper (Purcells Timon von Athen) und Komçdie (Molires Komçdie Der Menschenfeind), zeigt, bindet Hass ebenso so stark wie die Liebe (6.1.3.): zuerst argloser Philanthrop, wurde Timon aus Enttuschung ber seine Mitmenschen, die ihm nicht dieselbe Gte erwiesen, ein erbitterter „Misanthrop“, der sich in eine Einsiedelei vor den Toren Athens zurckzog, um auf Rache gegen seine frheren Freunde zu sinnen, wo immer es sich anbot. Nietzsche sinnt nicht auf Rache, weder an den Menschen berhaupt noch an seinem Publikum. Denn Hass wrde 681 Vgl. Nietzsches berhmten Satz zum Nihilismus in seinem Lenzer Heide-Notat: „Die Dauer, mit einem ,Umsonst‘, ohne Ziel und Zweck, ist der lhmendste Gedanke, namentlich noch wenn man begreift, daß man gefoppt wird und doch ohne Macht , sich nicht foppen zu lassen.“ (N 1886/87, 5[71]5, KSA 12.213 / N VII 3, S. 16).
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„Furcht“ einschließen, die „Furchtlosen“ nicht ansteht, und ihn, wogegen Nietzsche gerade anschreibt, den Gehassten „gleichstellen“. Umgekehrt mssten die „geistigeren“ Geister dieses Buchs Furcht erregen bei allen, die ber Publikationen fr das Publikum zu entscheiden haben (FW 359/6.3.). Doch das tun sie keineswegs. Man denkt gar nicht daran, ihn zu „kçpfen, einzusperren, zu verbannen; man wird nicht einmal unsre Bcher verbieten und verbrennen“. Man behandelt ihn tatschlich als Narren, seine Rolle ist gar keine Rolle, sondern ein Los, ein Schicksal (FW 371/ 15.3.1.).682 Stattdessen bevorzugt Nietzsche, wenn auch nicht immer, die Feinheiten des „Verachtens“ („wie viel feine Freude, wie viel Geduld, wie viel Gtigkeit selbst verdanken wir gerade unsrem Verachten!“). Es hlt Distanz, erlaubt khle Beobachtung, Einsicht in das Verachtete und dadurch berlegenen Umgang mit ihm, aber auch „Milde, Geduld, Menschenfreundlichkeit, Hçflichkeit“, eben die Freiheiten, die einem frçhlichen Wissenschaftler mçglich sind. Nietzsche erlaubt sich den Spaß, sich dafr auf Gott zu berufen, aber nur in Gnsefßchen („Zudem sind wir damit die ,Auserwhlten Gottes‘“): den Juden, nach der Tora Gottes auserwhltem Volk, wurde von den Rçmern noch unerbittlicher Hass auf die brige Menschheit nachgesagt, so dass sie entsprechend selbst verhasst waren;683 nun gehçrten sie mit ihrer „Anpassungskunst par excellence“ 682 Anders als Schriften z. B. von Machiavelli, Hobbes, Montaigne, Descartes, Bacon, Pascal, Spinoza, Rousseau, Voltaire, Diderot, Kant, Bentham und Comte befand sich nach Recherchen von Andreas Rupschus erstaunlicherweise tatschlich kein einziges von Nietzsches Werken jemals auf dem Index des Vatikan. Mehr noch: Nietzsches Schriften waren auch nie direkt Gegenstand der Index-Kongregation, d. h. es wurde noch nicht einmal ber eine mçgliche Aufnahme in den Index verhandelt. Die Grnde dafr lassen sich nur mutmaßen. Generelle Erklrungsversuche (nicht spezifisch im Blick auf Nietzsche) unternehmen Busemann/ Schratz, „Examinata Fuerunt Opera Sequentia…“. Inzwischen verbietet immerhin das Opus Dei in Spanien die Lektre von Nietzsches Werken. Auch die politische Zensur beachtete Nietzsche nicht, whrend etwa Heines Schriften in Preußen und vom Bundestag des Deutschen Bundes noch verboten worden waren. Die Zensur bestand zu Nietzsches Zeit zwar noch fort, galt aber vor allem politischen Schriften und nahm auch hier nicht die Gestalt von Verfolgungen und Bcherverbrennungen an (damit begannen erst die Nationalsozialisten wieder). Spter wollte Nietzsche mit AC die Toleranz der Zensur eigens testen (vgl. Brief an Heinrich Kçselitz vom 30. Oktober 1888, KGB III/5, Bf.1137, und Brief an Brandes von Anfang Dezember 1888 (Entwurf ), KGB III/5, Bf.1170). Der Test fiel negativ aus, AC wurde nicht zensiert. 683 Vgl. Tacitus, Annales XV, 44 („odio humani generis convicti“), und Historiae V, 3, und dazu Stegmaier, Nietzsches ,Genealogie der Moral‘, 222, Fn. 55.
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(FW 361/11.2.2.) zu den „Modernsten unter den Modernen“. Und mit all diesen Freiheiten bekennt sich Nietzsche unbekmmert zu seinem „Vorurtheile“ – „gegen die Nhe eines Menschen“, fr „die Natur“, „je weniger menschlich es in ihr zugeht“, und „die Kunst, w e n n sie die Flucht des Knstlers vor dem Menschen oder der Spott des Knstlers ber den Menschen oder der Spott des Knstlers ber sich selber ist…“ Der Spott ber sich selber ist das letzte Wort des Narren, muss es sein. Menschenhass jedenfalls sieht anders aus. 15.3.3. Tanz vor dem Publikum Nr. 381: Z u r F r a g e d e r Ve r s t n d l i c h k e i t. Mit dem Aphorismus, durch den Nietzsche die Kette schließt, haben wir begonnen (3.1.2). Er nimmt vor allem auf FW 371 Bezug: sagte Nietzsche dort, er werde leicht „verwechselt“, heißt es nun, „unsre Aufgabe ist und bleibt zuerst, uns nicht selber zu verwechseln“, schrieb Nietzsche dort „missverstanden“, so hier „n i c h t verstanden“. Missverstehen setzt ein richtiges Verstehen voraus, Nicht-Verstehen nicht. Da es kein richtiges Verstehen gibt (wer oder was sollte nach Nietzsche die Instanz dafr sein?), wohl aber ein Nicht-Verstehen, kann es philosophisch nur um das Verstehen des Nicht-Verstehens gehen.684 So macht Nietzsche die Unverstndlichkeit seines Buches, die er in FW 371 konstatierte („W i r U n v e r s t n d l i c h e n“), nun wieder zur Frage („Z u r F r a g e d e r V e r s t n d l i c h k e i t“). Auch das ist kein Widerspruch. Denn unverstndlich wollte Nietzsche in dem Sinn sein, dass man nicht glauben solle, ihn ein fr alle Mal richtig verstehen, sein wachsendes und reifendes Philosophieren ,feststellen‘ zu kçnnen. Mit der ganzen Aphorismenkette aber wollte er zeigen, wie diese Unverstndlichkeit zu verstehen sei – nmlich aus der unaufhebbaren Trennung der Orientierungen und ihren ber- und Unterlegenheiten. Nun gibt er Hinweise, wie sein Buch im Hinblick darauf zu lesen sei. Das geschieht gewçhnlich in einer Vorrede, und FW 381 hat vieles von einer Vorrede. Verstndlich wird sie dem Leser jedoch erst jetzt, am Ende des Buchs, nachdem er mit ihm hinreichend Erfahrungen gemacht hat, auch unangenehme, und dennoch dabeigeblieben ist. Er wird nun die Metapher des Tanzes besser verstehen, mit der Nietzsche in FW 347 die „gçttliche Denkweise“ seines Nihilismus verdeutlicht hat (7.2.3.): „ich 684 Vgl. Simon, Philosophie des Zeichens, 39 f.
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wsste nicht, was der Geist eines Philosophen mehr zu sein wnschte, als ein guter Tnzer. Der Tanz nmlich ist sein Ideal, auch seine Kunst, zuletzt auch seine einzige Frçmmigkeit, sein ,Gottesdienst‘ …“ Auch er ist noch fromm (FW 344/5.1.), aber nicht mehr im Glauben an eine allgemein gltige Wahrheit, sondern an die „Geschmeidigkeit und Kraft“ des eigenen Denkens, und auch er hat noch ein Ideal, das er im folgenden Aphorismus FW 382 beschreiben wird als „das Ideal eines Geistes, der naiv, das heisst ungewollt und aus berstrçmender Flle und Mchtigkeit mit Allem spielt, was bisher heilig, gut, unberhrbar, gçttlich hiess“ (20.1.2.). Aber er tanzt nun vor dem Publikum, und Tanz versteht man so, wie man die Musik versteht, die ihn bewegt: man kann ihn beim Zuhçren und Zusehen in Ruhe genießen, man kann sich von ihm anregen, vielleicht begeistern lassen, ohne seine Choreographie und die Schwierigkeit und Neuheit seiner Figuren zu erkennen, und man kann als Kenner mittanzen und an ihm die eigene Kraft und Geschmeidigkeit erproben. Man kann, wie in die Musik, die ihn leitet, ,einstimmen‘, ohne in etwas ,bereinzustimmen‘, das man benennen kçnnen msste. Aber man kann von der Musik und dem Tanz nach ihr auch irritiert und abgestoßen sein.685 Nietzsche handelt davon in FW 368 (17.1.1.1.) und im „E p i l o g“ des V. Buchs der FW (FW 383/20.1.).
685 Masini, Die „zweite Unschuld“, 106 f., interpretiert den Tanz als „Ekstase des Sichtbaren“, „wo die Spannung jenes Hinberschreitens, das die Rhythmik der Extreme regiert, transparent wird“ und „das Gçttliche als exakte musikalische Signatur der neuen Unschuld Ausdruck“ findet. Vielleicht muss man nicht so hoch greifen.
IV. Freiheiten einer knftigen frçhlichen Wissenschaft
16. Alternativen der europischen Kunst und Philosophie Nr. 370: Wa s i s t R o m a n t i k ? FW 370 ist nach FW 343 (4.) zur neuen Heiterkeit, FW 354 (9.) und FW 355 (10.) zu den Ursprngen des Bewusstseins im Bedrfnis nach Mitteilung und der Erkenntnis im Bedrfnis nach Beruhigung, FW 357 (12.) zur europischen Perspektive auf große deutsche Philosophien und FW 363 (14.) zu den Vorurteilen der Geschlechter ber die Liebe einer der großen Solitre unter den allesamt herausragenden Aphorismen des V. Buchs der FW. Er handelt, nach einer Neujustierung der Rangordnung der Geister und einer Erweiterung der Heuristik der Not, von Alternativen in der europischen Kunst und Philosophie, die Nietzsche mit Hilfe des logischen Verfahrens einer Kreuztabelle ermittelt, und zeigt dadurch ein neues freies Feld fr ein knftiges Philosophieren, das dionysische, auf.686 FW 370 erçffnet, nach unserer Einteilung des V. Buchs der FW, darin noch einmal ein neues Kapitel, nun das Schlusskapitel: es teilt die Ertrge der kritischen Entgrenzungen und Befreiungen des Philosophierens als Freiheiten einer knftigen frçhlichen Wissenschaft mit. Sie schaffen einen neuen „{Freiheits-Spielraum}“ und eine „noch grçßere Macht“ im Philosophieren (N 1887, 9[139], KSA 12.414 / W II 1, S. 40/6.1.2.) durch • eine Erweiterung der logisch ermittelten Alternativen der europischen Kunst und Philosophie um den dionysischen Pessimismus gegenber 686 Auch FW 370 wird hufig zitiert, jedoch ebenfalls meist nur mit einzelnen Begriffen, Formeln und Stzen. Soweit der Aphorismus im Ganzen betrachtet wurde, gehen die Deutungen weit auseinander. Kaufmann, Nietzsche, 436 ff., der sich dem Aphorismus ausfhrlich gewidmet hat, interpretiert ihn merkwrdigerweise nur im Blick auf das Ressentiment, Heinrich Heines Auseinandersetzung mit Ludwig Bçrne, Nietzsches Kampf gegen die Romantik und seine Nhe zu Goethe und Aristoteles. Steinmann, Die Ethik Friedrich Nietzsches, 135 f., entwickelt anhand des Aphorismus Bezge zwischen „Lebensflle“ und „Mchtigkeit“; aus Macht lasse sich Leiden wenn nicht berwinden, so doch tragen. Von „Mchtigkeit“ ist in FW 370 allerdings nur im Zusammenhang der „dionysischen Mchtigkeit der deutschen Seele“ die Rede. Van Tongeren, Nietzsches Diagnostiek, sucht aus Nietzsches leitenden Unterscheidungen ein diagnostisches Instrument auch fr unsere Gegenwart zu gewinnen.
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Schopenhauers und Wagners „romantischem Pessimismus“ (FW 370/ 16.); • eine Erweiterung der sthetischen Sensibilitt des Philosophierens um das Hçren der Musik des Lebens (FW 372/17.2.); sie wurde in FW 367, 369 und FW 376 (15.2.) und wird in FW 368, hier physiologisch, gegen Wagner abgegrenzt (17.1.); • eine Erweiterung des existentiellen Halts des Philosophierens um den Glauben an die eigene Kraft zur Selbstberwindung als Halt im Haltlosen (FW 380/18.2.); im moralisch-politischen Horizont wird sie zur berwindung des in Europa herrschenden Egalitarismus und Nationalismus hin zu einem guten Europertum (FW 377/18.1.); • eine Erweiterung des Ethischen um das Geben-Kçnnen ohne Erwartung von Gegengaben (FW 378/NSM 19); Nietzsche fasst die Wasser-, See-, Fluss-, Strom und Meeres-Metaphorik fr den bermenschen aus ZA nun in das Bild eines fest gefgten Brunnens, der aus sich selbst wieder hell wird; und schließlich durch • eine Erweiterung der physiologischen Bedingungen des Philosophierens fr dessen erweiterte Aufgaben (FW 382/20.1.), der neuen „g r o s s e n G e s u n d h e i t“ fr einen neuen „g r o s s e n E r n s t“ des Philosophierens, der mit allem, auch mit sich selbst spielen kann, wie der burleske „E p i l o g“ unter Beweis stellen soll (FW 383/20.2.). So zeigt Nietzsche mit der Reihe dieser Aphorismen, in die wie stets andere Aphorismenketten eingeflochten sind – man kçnnte sie ihrerseits als eine große Aphorismenkette lesen –, wie die Erweiterung der logischen Alternativen, der sthetischen Sensibilitt und der Kraft zum eignen Halt im Philosophieren eine Steigerung auch und gerade der individuellen Fhigkeiten zu ihm, der ethischen ebenso wie der physiologischen Krfte, fordert. Alternativenreicher, sensibler und allein auf sich selbst gesttzt wird das Philosophieren in jeder Hinsicht anspruchsvoller: es wird unvermeidlich zu einem Philosophieren Weniger fr Wenige. Man muss darin keine Selbstberhebung Nietzsches sehen; ein so aggressiv kritisches und selbstkritisches Philosophieren, wie er es betrieb, war sonst kaum jemand mçglich und wird wohl auch weiterhin kaum jemand mçglich sein. Die Wenigen, vielleicht nur Einzelnen, die dazu fhig sind, sieht Nietzsche umso mehr in der Verantwortung fr die Orientierung der brigen, die zu gewinnen sie darum Wege finden mssen: durch eine Sprache, die viele verstehen kçnnen, so dass die, die ber gengend Kraft und Mut dazu verfgen, die Chance haben, in deren Tiefen vorzudringen. Er erinnert darum auch in diesem dritten und letzten Teil des V. Buchs der FW noch
16.1. Neue Rangordnung: geschrfter Blick auf „romantischen Pessimismus“
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einmal an die Bedingung der „Ve r s t n d l i c h k e i t“ seiner Schriften (FW 371 und 381/15.3): dass die Freiheiten einer knftigen frçhlichen Wissenschaft, einer aus Jahrtausende alten Vorurteilen gelçsten Lebensorientierung, nicht durch eine allgemein gltige Lehre zu erhalten, sondern von jedem nur selbst auf dem Weg seiner Befreiung zu ,erringen‘ sind. Nietzsche kann und will nur den Blick fr die Notwendigkeit und die Mçglichkeiten der Befreiung des Denkens zu neuen Horizonten çffnen. Wer leichter und lieber in engen Horizonten weiterleben will, mag das so nçtig haben und soll darin nicht gestçrt werden. Auch zu den Freiheiten einer knftigen frçhlichen Wissenschaft muss man frei sein. Sie bleiben knftige Freiheiten, weil niemand, auch Nietzsche nicht, ihrer jemals sicher sein kann (3.1.2.–5.).
16.1. Neue Rangordnung: geschrfter Blick auf Schopenhauers und Wagners „r o m a n t i s c h e n P e s s i m i s m u s“ Zum Auftakt, in FW 370, redet Nietzsche entschlossen als „ich“. Das „man“ ist hier nur Publikum. Kein ,wir‘, kein ,ihr‘, mit denen er sich noch identifizierte oder auseinandersetzte, auch die „Freunde“ sind nur noch Teil des Publikums („Man erinnert sich vielleicht, zum Mindesten unter meinen Freunden, dass ich …“). Nietzsche spricht als einer, der in seinem Philosophieren nun ganz auf sich gestellt ist, spricht allein von seinen Anfngen und seinen „persçnlichen Erfahrungen“, spricht von der Reifung seines Urteils, die seinen „Blick“ auf die strksten Bindungen seines anfnglichen Denkens, den „philosophischen Pessimismus des neunzehnten Jahrhunderts“ und die „deutsche Musik“, „geschrft“ hat, spricht dabei zunchst auch nicht von Schopenhauer und Wagner, sondern nur von den Hoffnungen, die sie in ihm erweckten („Anfangs mit einigen dicken Irrthmern und Ueberschtzungen und jedenfalls als H o f f e n d e r auf diese moderne Welt losgegangen“). Die gewachsene „Kraft“ seines Pessimismus lsst ihn nun neu nach der Kraft ihres Pessimismus fragen, und er sieht, dass er sich in dieser getuscht hat. Einerseits die „tragische Erkenntniss“ der Griechen, ihre Fhigkeit, illusionslos in die tiefsten Untiefen des menschlichen Lebens zu blicken (4.2.), andererseits die Aufklrung des 18. Jahrhunderts vor Augen, die selbst dort, wo sie den Mut zu einem entschiedenen Sensualismus hatte und alle Wahrheit an die Sinnlichkeit band, deren Wirkung dann doch auf ,Eindrcke‘ oder ,Affekte‘ durch ,Sinnesdaten‘ beschrnkte, die das Denken in seinen mehr
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oder weniger festen ,Formen‘ ungefhrdet verarbeiten konnte, musste Nietzsche der Pessimismus des neunzehnten Jahrhunderts, der das Denken gnzlich zum ,Werk- und Spielzeug‘ eines nicht mehr Denkbaren machte,687 „von hçherer Kraft des Gedankens, von verwegenerer Tapferkeit, von siegreicherer F l l e des Lebens“ erscheinen. Da schien keine ,Not‘ zu sein, die Heuristik der Not schien nicht zu greifen; zumal in Wagners Musik schien der Pessimismus der Griechen, der sie eine bis heute glnzende Kultur hatte schaffen lassen, als „der eigentliche L u x u s unsrer Cultur“ wiedererstanden.688 Luxus als das nicht Nçtige, berflssige, muss man nicht schtzen, zumal wenn er schamlos auf Kosten anderer geht. Nietzsche, der immer asketisch lebte, hat ihn als solchen nicht geschtzt, auch und gerade nicht an Wagner, und es war wiederum Wagner, an dem ihm der Luxus zum Problem wurde. Wagner begriff, hatte Nietzsche in WB geschrieben, dass fr „eine seelenlose oder seelenharte Gesellschaft, welche sich die gute nennt und die eigentlich bçse ist, Kunst und Knstler zu ihrem sclavischen Gefolge zhlt, zur Befriedigung von S c h e i n b e d r f n i s s e n“, kurz: dass Kunst und Knstler von einer „Luxus-Gesellschaft“ als „Luxus“ gehalten wurden (WB 8, KSA 1.475). Mit seinem eigenen „leidenschaftlichen Verlangen nach Luxus und Glanz“, notierte sich Nietzsche weiter, verstand Wagner das und wusste es fr sich zu nutzen (N 1875, 11[51], KSA 8.242), sah auch, dass mit der „L u x u s-Kunst“, der „Verwendung der Mittel zu unwahren Bedrfnissen“, die „sociale Frage“ verbunden war (N 1875, 11[59], KSA 8.244). So suchte er fr seine „Noth“, das Ungengen an der Kultur seiner 687 Vgl. FW 354/9.1., FW 359/6.3.2., FW 360/13.1., FW 363/14. 688 In vorausgehenden Notat spricht Nietzsche von der „fehlerhaften Nutzanwendung“ seiner Deutung der griechischen Tragçdie „auf die Gegenwart“: „ich deutete {verstand, wer weiß aus welcher pers. Erfahrung heraus?} den {philosoph.} Pessimismus {des neunzehnten Jahrh. wie als ob er} als {die} Folge der einer hçheren Kraft u. Lebensflle {sei}, welche sich das Tragische wie Erkenntniß wie einen} den Luxus des Tragischen {aufgrund ihres berreichthums} erlaubt kann {darf }. Insgleichen deutete ich {mir} die deutsche Musik als Ausdruck einer dionys. berflle {Mchtigkeit} u Ursprnglichkeit {einer gleichsam von Alters her aufgestauten Kraft, die sich endlich Luft machen darf u dabei den Erdboden unserer europischen Cultur erzittern lßt zum Erzittern bringt. / Man sieht, ich war Romantiker genug, um begriff weder an der pess. Phil. noch an der d. M ihrer wesentlichen Zug nmlich ihre Romantik} d. h. 1) ich berschtzte das deutsche Wesen / {Es ist mir jetzt ersichtlich genug, wie sehr ich doch das d.W. berschtzte,} 2) ich verstand die Quellen {wie fremd mir die eigentl. Ursache} der modernen Verdsterung nicht {war / u} 3) mir fehlte das kulturhistor. Verstndniß fr den Ursprung der modernen Musik und ihre essentielle Romantik.“ Er fgt hier auch schon die Frage an: „Abgesehen von dieser fehlerhaften Nutzanwendung bleibt das Problem bestehen: wie wrde eine Musik sein, welche nicht romantischen Ursprungs wre – sondern eines dionysischen).“ (N 1885/86, 2[111], KSA 12.117 / W I 8, S. 113 f.).
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Zeit, die er mit seiner Musik neu erschaffen wollte, wenn nicht das Volk, so doch ein Volk, sein „Volk“ zu gewinnen: seine Musik sollte „ein Trost der Niedrigen und Schlichten“, „seine Kraft zum Drama“ eine „herrliche“ „verbindende Kraft“ sein. Doch „seine Noth wird nicht empfunden, sein Kunstwerk ist eine Mittheilung an Taube und Blinde, die Aussicht auf Wirkung und Macht ist hoffnungslos. Er taumelt und gerth ins Schwanken“ (N 1875, 12[15], KSA 8.252), sucht nun die Wirkung um ihrer und seiner selbst willen (N 1875, 12[17], KSA 8.254). Diese Art von luxurierender, immer mehr auch vor sich selbst schauspielender Kunst widerstrebte Nietzsche so sehr (11.1.2.), dass er, nach dem Bruch mit Wagner, fr sich ein langes Bekenntnis gegen sie ablegte: „Das B e d r f n i ß L u x u s scheint mir immer auf eine tiefe innerliche G e i s t l o s i g k e i t hinzudeuten: wie als ob jemand sich selber mit Koulissen umstellt, weil er nichts Volles Wirkliches ist, sondern nur etwas, das ein Ding vorstellen soll, vor ihm und vor Anderen.“ Wer Geist habe, schme sich dessen; „schimpflich“ sei, „wer geistig reich und unabhngig ist“ und „unersttlich“ auch an Geld und Luxus „noch mehr haben will“; „mit einer Art von weißer Wsche“ habe sich Lassalle fr ihn „widerlegt“. Man msse, als Mann mit Geist, „entbehren kçnnen, o h n e Dulderfalten.“ Aber Nietzsche erkannte seinen asketischen Moralismus zugleich als „Beschrnktheit“ („Es ist eine Beschrnktheit, aber so empfinde ich“; N 1880, 6[341], KSA 9.283 f.). Er suchte sich daraus zu befreien, indem er sich Schritt fr Schritt erschloss, was ein „e r l a u b t e r Luxus“ sein kçnne: nicht fr sich den Luxus zu genießen, aber ihn als „Form eines fortwhrenden Tr i u m p h e s – ber alle die Armen Zurckgebliebenen Ohnmchtigen Kranken Begehrlichen“ zu betrachten, der gerade fr diese das Leben rechtfertigen kann (N 1881, 15[45], KSA 9.650); aus Moralitt „einen geheimen Feind sich halten kçnnen“ (FW 211); „immer nur da zu loben, wo man n i c h t bereinstimmt“ (JGB 283); sich „Wahrhaftigkeit“ gestatten, im Wissen, „wie viel Falschheit mir noch not thut“ (MA I Vorrede 1; vgl. N 1886/87, 5[49], KSA 12.201; N VII 3, S. 133, u. ç.); sich, wenn man stark genug dazu geworden ist, „Skepsis und Toleranz“ (FW 358) und den Verzicht auf Vergeltung und Strafe (GM II 10) zu erlauben.
Erlaubter, moralisch unangreifbarer Luxus war fr Nietzsche Luxus im Geistigen. Er sah in ihm einen Luxus, der aus einer berwundenen Not kommt. Nietzsche hat so schon in FW 354 (9.5.) argumentiert: Wenn eine „Noth die Menschen lange gezwungen hat“, aber endlich bewltigt ist, kçnnen die Krfte, die sie ausgebildet hat, frei „verschwendet“ werden. Nun rechtfertigt sich der Luxus aus einem „Ueberreichthum“, der ein Bedrfnis nach moralischer Rechtfertigung gar nicht mehr aufkommen lsst; er wird nun als „eine von Alters her aufgestaute Urkraft“ erfahren, die „sich endlich Luft macht – gleichgltig dagegen, ob Alles, was sonst Cultur heisst, dabei in’s Zittern gerth“.689 Doch dies schien Nietzsche 689 Vgl. schon JGB 262: „Endlich aber entsteht einmal eine Glckslage, die ungeheure Spannung lsst nach; es giebt vielleicht keine Feinde mehr unter den Nachbarn, und die Mittel zum Leben, selbst zum Genusse des Lebens sind berreichlich da.
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nun eben nicht mehr der Schopenhauersche und noch weniger der Wagnersche Pessimismus zu sein. Dass er dies, nach dem langen Prozess seiner Loslçsung von Schopenhauer und Wagner,690 nun sehen kann, beweist ihm seine eigene Kraft zu einem tieferen, kritischeren Pessimismus, und nachdem er sie eben in seinem reifsten Buch, dem V. Buch der FW, immer neu erprobt und gestrkt hat, kann, darf und muss er sich nun selbst zum Maßstab der „tragischen Erkenntniss“ nehmen. Hatte er frher zu Schopenhauers Pessimismus in der Philosophie und Wagners Pessimismus in der Kunst aufgeblickt, so kehrt sich ihm nun, nachdem er beide „tiefer anzusehn“ gelernt hat, die Rangordnung in der Geistigkeit um (8.4.3., 13.2.2.).691 An ihrer Spitze steht er nun allein und kann und darf dort nur noch „ich“ sagen.
16.2. Dionysischer Begriffsgebrauch: neue Spielrume in der Unterscheidung der Romantik und des Pessimismus Nietzsche demonstriert seinen neuen ,Freiheits-Spielraum‘ in FW 370 gleichwohl auf wissenschaftlichem Weg. Er verschiebt nach seiner Methode die Begriffe, durch die er Schopenhauers Philosophie und Wagners Musik zu fassen gedenkt, ,Pessimismus‘ und ,Romantik‘, konsequent Schritt fr Schritt. „W a s i s t R o m a n t i k ?“ ist unter Nietzsches Titelfragen im V. Buch der FW (NSM 13) die einzige direkte. Auch sie steht in Spannung mit dem Text; am Ende des Aphorismus wird sich zeigen, dass es um sie letztlich gar nicht gegangen ist. Zwar ist FW 370 der oft vermerkte Hauptort von Nietzsches Auseinandersetzung mit der Romantik, und im V. Buch der FW ist sie nur hier Thema (in FW 380 wird nur an sie erinnert). Doch es handelt sich nicht, wie schon bald deutlich wird, um die Mit Einem Schlage reisst das Band und der Zwang der alten Zucht: sie fhlt sich nicht mehr als nothwendig, als Dasein-bedingend, – wollte sie fortbestehn, so kçnnte sie es nur als eine Form des L u x u s, als archaisirender G e s c h m a c k.“ S. auch N 1887, 9[139], KSA 12.414 / W II 1, S. 40, u. N 1887, 9[153], KSA 12.426 / W II 1, S. 27 f. 690 Vgl. FW 343/4.4.–6., FW 346/7.1.1., FW 347/7.2.2.3. 691 Vgl. Brief an Elisabeth Nietzsche, Mitte Mrz 1885 (Entwurf ), KGB III/3, Bf.583: „Vergiß nicht, daß ich solche Wesen wie Rich. W. oder A. Schopenhauer eben so sehr verachte als tief bedaure und daß ich den Stifter des Christenthums als oberflchlich empfinde im Vergleich mit mir ich habe sie alle geliebt, als ich noch nicht begriff, was der Mensch ist.“
16.2. Dionysischer Begriffsgebrauch
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Romantik als geistesgeschichtliche Epoche Europas. So hatte Nietzsche den Begriff noch in JGB gebraucht und ihn dort als „eine, historisch gerechnet, noch krzere, noch flchtigere, noch oberflchlichere Bewegung“ bestimmt, „als es jener grosse Zwischenakt, jener bergang Europa’s von Rousseau zu Napoleon und zur Heraufkunft der Demokratie war“ (JGB 245). In FW 370 subsumiert er unter ,Romantik‘ nicht Dichter wie Novalis und Eichendorff, Shelley und Keats, Hugo und Musset, Leopardi und Manzoni, Lermontow und Puschkin, Komponisten wie Schubert und Schumann, Chopin und Berlioz und Knstler wie Caspar David Friedrich, Turner und Delacroix oder Philosophen wie Friedrich Schlegel, Schelling und Schleiermacher, sondern allein Schopenhauer und Wagner, und gerade sie wird man ihr nur bedingt zurechnen. Schopenhauer mit seiner enttuschten Abwendung vom Optimismus der auf Vernunft setzenden Aufklrung und seiner Hoffnung auf Erlçsung in der Kunst und Wagner mit seiner die hergebrachten Formen berspielenden und berwindenden literarischen und musikalischen Gestaltung von Stimmung, Rausch und Erlçsung stehen der Romantik wohl nahe, gehen aber nicht in ihr auf,692 und Schopenhauers ,Romantik‘ ist nicht Wagners ,Romantik‘. Sie, die sein 692 JGB 245 nennt Nietzsche Weber, Marschner, Mendelssohn und Schumann, aber nicht Wagner als Musiker der Romantik. N 1875, 12[8], KSA 8.248, hatte er notiert: „Wie durch Wagner die aesthetischen Gegenstze ,subjektiv‘, ,objektiv‘, romantisch, klassisch, naiv, sentimentalisch, ganz aufgehoben sind; sie p a s s e n nicht.“ Nach N 1877, 22[17], KSA 8.382, hat Wagner die Romantik berwçlbt, gehçrte ihr zugleich zu und nicht zu. JGB 256 nennt Nietzsche Wagner mit der „f r a n z ç s i s c h e n S p t -R o m a n t i k der Vierziger Jahre“ verwandt, mit seinem „antiromanischen Siegfried“ aber zugleich „eine Snde wider die Romantik“ (vgl. N 1885, 34[205], KSA 11.491 / N VII 1, S. 47 f., u. N 1885, 37 [15], KSA 11.590 – 592 / W I 6, S. 66 – 69, und EH klug 5). In weiteren Notaten reiht Nietzsche Wagner umstandsloser in die Romantik ein (vgl. N 1885, 34[221], KSA 11.496 / N VII 1, S. 29 f.: „die Romantik, mit R. W. als letztem Romantiker {synthetisch}“), im Blick vor allem darauf, dass er am Ende „vor dem Kreuze ausgestreckt“ gelegen habe (N 1885/86, 1[197], KSA 12.55 / N VII 2, S. 62). Wenn er Wagner in MA II Vorrede 3, „einen morsch gewordenen, verzweifelnden Romantiker“ nennt, so schon im Sinn von FW 370. Dabei bleibt es dann in den spteren Notaten. Nietzsche kann nun auch Beethoven in die Romantik einbeziehen („Beethoven der erste große Romantiker, im Sinne des franz. Begriffs Romantik, wie Wagner der letzte dieser großen Romantiker ist … Beides instinktive Widersacher des klassischen Geschmacks, des ,großen Stils‘ strengen Stils, – um vom ,großen‘ hier nicht zu reden…“; N 1888, 14[61], KSA 13.248 / W II 5, S. 153). In WA gebraucht er den Begriff Romantik nicht in Bezug auf Wagner. – Zu Schopenhauers Distanz zur Romantik, die vielfltige Verwandtschaften mit ihr dennoch nicht ausschließt, vgl. Pikulik, Schopenhauer und die Romantik.
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frhes Denken am tiefsten geprgt hatten, verursachten jedoch, so Nietzsche, seine Romantik. So handelt der Aphorismus von seiner Romantik und seiner Befreiung von ihr. Sicher hat Nietzsches Romantik mit der geistesgeschichtlichen Epoche dieses Namens zu tun. Soweit sie als berwindung der europischen Aufklrung gilt, die keine Dunkelheiten im Leben der Menschen dulden und es durchgehend auf klare, eindeutige und gltige Begriffe der Vernunft zu bringen suchte, soweit sie berall auf persçnliche Bindungen und das Gefhl Wert legte, sich vom Fremden und Rtselvollen einnehmen ließ, sich dem Schmerz und der Sehnsucht, der Einsamkeit und der Zerrissenheit ergab, aber auch auf natrlichen und geschichtlichen Herknften bestand und das Unbegrenzte, unendlich Bedingte und Unbestimmbare nicht scheute und mit dem vielfltig Ironischen und Paradoxen, dem Vorlufigen und Fragmentarischen zu spielen verstand, stand sie Nietzsches philosophischen Neuorientierungen durchaus nahe. Auch die Musik, die Nietzsche komponiert hatte, lsst sich am ehesten als sptromantisch charakterisieren,693 und der Tradition der ,gaya scienza‘ der Troubadours, in die er seine ,frçhliche Wissenschaft‘ gestellt hatte, der, war, wie viele meinten, ,das Romantische‘ entsprungen.694 Dennoch blieb er skeptisch gegen die Romantik und damit auch gegen sich selbst. Er beschrieb sie vor allem, schon in MA und M, dann erneut in den neuen Vorreden von 1886, als Flucht in die Religion, in die Geschichte und in den Rausch.695 In FW 693 Vgl. zur bersicht Schellong, Art. Die Kompositionen; Landerer, Art. Musik; zum Nheren Libert, Nietzsche et la musique; ric Dufour, L’esthtique musicale de Nietzsche; Florence Fabre, Nietzsche Musicien. 694 Vgl. Schlegel, Briefe ber den Roman, 335, zit. nach Ernst Behler, Art. Romantik, das Romantische, 1078: „Da suche und finde ich das Romantische, bei den ltern Modernen, bei Shakespeare, Cervantes, in der italinischen Poesie, in jenem Zeitalter der Ritter, der Liebe und der Mrchen, aus welchem die Sache und das Wort selbst herstammt.“ Mit Friedrich Schlegel hatte Nietzsche sich schon in Schulpforta auseinandergesetzt. Vgl. Wischke, Friedrich Nietzsches Bekanntschaften mit der Romantik in Pforta, und Wischke, Art. Romantik. 695 Vgl. MA I 110; M 159; GT Versuch 7; MA II Vorrede 7; FW Vorrede 4. S. auch die spteren Notate N 1887, 9[44], KSA 12.357 / W II 1, S. 107 f.; N 1887, 9 [165], KSA 12.432 / W II 1, S. 18; N 1887, 9[178], KSA 12.441 f. / W II 1, S. 9 f., und N 1887, 10[25], KSA 12.469 f. / W II 2, S. 121; N 1887/88, 11[312], KSA 13.131 – 133 / W II 3, S. 66 f.; N 1888, 16[34], KSA 13.494 f., zur bersicht Zittel, Art. Romantik. – Zuletzt, „nach der Lektre von Paul Bourgets Essay ber Baudelaire, wird Romantik fr Nietzsche beinahe synonym mit Dekadenz“ (Behler, Diskussionsbemerkung zu Peter Heller, 53). Nietzsches Stellung zur Romantik war lange umstritten. Jol, Nietzsche und die Romantik, hatte Nietzsches enge Verbundenheit mit der Frhromantik und seine Distanz zur
16.2. Dionysischer Begriffsgebrauch
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370 definiert er sie gezielt als einen Gegenbegriff zu sich, definiert er mit ihr Schopenhauer und Wagner von sich weg, verschiebt ohne GnsefßSptromantik herausgearbeitet, freilich Nietzsche fr den „fernsten, allerfernsten der Mystiker“ gehalten (193), woran Dietzsch, Karl Jols Nietzsche und die Romantik neu lesen, nochmals erinnert. Nach dem Dritten Reich bestritt Kaufmann, Nietzsche, 159 – 164, jede Nhe Nietzsches zur Romantik; sie sei Teil der Nietzsche-Legende, die die Schwester, Ernst Bertram und Thomas Mann gefçrdert htten. Dagegen sah Heller,“Von den ersten und letzten Dingen“, 299 – 320, und Heller, Nietzsches Kampf mit dem romantischen Pessimismus, Nietzsche tiefer in die Romantik verstrickt, als er selbst wahrhaben wollte: in ihm habe sich der romantische Pessimismus dialektisch ber einen anti-romantischen zum dionysischen entwickelt – und ihn zu einem Protofaschisten werden lassen (dem Letzteren wurde scharf widersprochen; vgl. die Diskussion NSt 7 (1978), 51 – 58). Mit Behler, Nietzsches Auffassung der Ironie; Behler, Nietzsche und die Frhromantische Schule; Behler, Friedrich Schlegels ,Rede ber die Mythologie‘ im Hinblick auf Nietzsche; Behler, Die Auffassung des Dionysischen durch die Brder Schlegel und Friedrich Nietzsche; Behler, Sokrates und die griechische Tragçdie, begann die przise quellenkritische Erforschung von Nietzsches Verhltnis zur Romantik. In der Sache nahm Behler im wesentlichen die Linie Jols wieder auf und betonte besonders den Einfluss Friedrich Schlegels auf Nietzsches frhes Denken. Daran schlossen mit weiteren Differenzierungen Del Caro, Anti-Romantic Irony in the Poetry of Nietzsche; Hennemann Barale, Subjektivitt als Abgrund; von Petersdorff, Nietzsche und die romantische Ironie, an. Inzwischen wird fr ein nuanciertes Sowohl-als-auch pldiert. Politycki, Umwertung aller Werte? Deutsche Literatur im Urteil Nietzsches, 230 – 243, stellt zwçlf Vorwrfe zusammen, die Nietzsche mit der Romantik-Kritik seiner Zeit geteilt habe: Formlosigkeit, Eklektizismus, L’art pour l’art, Unsittlichkeit, Unehrlichkeit, Phantasterei, Unmnnlichkeit, Maß- und Besinnungslosigkeit, Krankhaftigkeit, Mangel an Instinkt, Zerrissenheit sowie Verfall. Benne, Nietzsche und die historisch-kritische Philologie, hat die besondere Nhe Nietzsches und der Brder Schlegel als Philologen herausgearbeitet. Zuletzt hat Gçrner, „[…] das letzte grosse Ereignis im Schicksal unserer Cultur“, Nietzsche wieder ganz als Romantiker verstanden – in einer ausfhrlichen Interpretation von FW 370: Nietzsches Denken habe sich nicht nur „maßgeblich“ im Kontext der Sptromantik entwickelt, er setze auch das „universalpoetische Denken und Schreiben“ der Frhromantik fort. In seinem „diskursiven Verfahren“ erneuere er Novalis’ „Reden in Chiffren“, „ein Verschlsseln und Dekodieren von Sachverhalten in einem“ (100). Gçrner liest so die „Umwege“, die Nietzsche geht, um zu einer Definition der Romantik zu kommen, die er tatschlich aber gar nicht anstrebe, weil sie gar nicht mçglich sei; so bleibe es trotz des „binren Definitionsverfahrens“ bei einer „scheinbar freien Improvisation“ und, was Epikur und die Christen betreffe, „kuriosen Ergebnissen“ (95). Entgegen hermeneutischen Prinzipien „berlagern, verstellen und entstellen“ nach Gçrner Nietzsches Interpretationen den „Text“ der Romantik, schaffen „einen eigenstndigen Nebentext“ (100). Gçrner selbst verfhrt freilich mit Nietzsches Text nicht anders. Im Folgenden soll deutlich werden, dass Nietzsches Text in seinem Kontext (nicht dem der Romantik) durchaus schlssig ist.
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chen ihren Begriff, um Schopenhauer und Wagner unter ihm begreifen und sich von ihnen abheben zu kçnnen. Er versteht ihn statt geistesgeschichtlich physiologisch. Dazu verhalf ihm Goethe mit seiner berhmten Entgegensetzung des Klassischen und des Romantischen und deren Gleichsetzung mit dem Gesunden und dem Kranken: „Classisch ist das Gesunde, romantisch das Kranke.“696 Goethes Satz leitet die Argumentation des Aphorismus. Es kçnne, wird es in der Schluss-Parenthese heißen, „noch einen ganz anderen Pessimismus geben“, „einen klassischen“, also klaren, starken und gesunden. Aber Nietzsche wird ihn anders, „den d i o n y s i s c h e n Pessimismus“ nennen. Den Begriff ,klassisch‘ hatte Nietzsche in seinen frhen Schriften und Vortrgen zunchst, wie naheliegend, im Zusammenhang der klassischen Philologie und der klassischen Bildung verwendet. Aber mit GT hatte er auch der ,griechischen Klassik‘ ihre Klassizitt bestritten. Als klassisch im Sinn von ,maßstblich‘, ,mustergltig‘ galten ihm, wie er dann in GD schreiben wird, die Rçmer, allen voran Horaz mit seinem nie mehr erreichten souvernen Formsinn (3.1.7.). Darin seien die Griechen nie klassisch gewesen, habe man von ihnen nur wenig lernen kçnnen: „Wer htte je an einem Griechen schreiben gelernt! Wer htte es je o h n e die Rçmer gelernt! …“ (GD Alten 2) Das irritierende und faszinierende Dionysische der Griechen, wie Nietzsche sie verstand, kann nicht maßstblich, mustergltig wirken: „Man l e r n t nicht von den Griechen – ihre Art ist zu fremd, sie ist auch zu flssig, um imperativisch, um ,klassisch‘ zu wirken.“ (GD Alten 2)697 In der Moderne fand Nietzsche die, wenn man so will, ,klassische‘ Klassik in der franzçsischen Klassik des 17. Jahrhunderts, die konsequent auf alle ,romantischen‘ Reize des Interessanten, Verfhrerischen, Berauschenden zugunsten des Einfachen, Maßstblichen, Strengen verzichtete: „Nicht Individuen, sondern mehr oder weniger idealische Masken; keine Wirklichkeit, sondern eine allegorische Allgemeinheit; Zeitcharaktere, Localfarben zum fast Unsichtbaren abgedmpft und mythisch gemacht; das gegenwrtige Empfinden und die Probleme der gegenwrtigen Gesellschaft auf die einfachsten Formen zusammengedrngt, ihrer reizenden, spannenden, pathologischen Eigenschaften entkleidet, in jedem andern als dem artistischen Sinne w i r k u n g s l o s gemacht; keine neuen Stoffe und Charaktere, sondern die alten, lngst gewohnten in immerfort whrender Neubeseelung und Umbildung“ (MA I 221).698 Im „klassischen Geschmack“ wird „die 696 Goethe, Smtliche Werke, 17.893. Vgl. bei Nietzsche schon MA II, WS 217. – Der Goethe dieses Satzes vor allem war Nietzsches Goethe. Vgl. Heftrich, Nietzsches Goethe; Zittel, Art. Deutsche Klassik und Romantik, Goethe, 385 f. Politycki, Umwertung aller Werte? Deutsche Literatur im Urteil Nietzsches, 220 – 230, kommt hier zu keinen klaren Bestimmungen. 697 Vgl. die subtile Interpretation des Satzes bei Mller, Die Griechen im Denken Nietzsches, 245 – 253. 698 Vgl. noch N 1888, 14[7], KSA 13.221 / W II 5, S. 187: „Romantik: die Feindschaft […] gegen den klassischen Geschmack, den einfachen, den strengen, den großen Stil“.
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Kraft der Zeit“ nicht, wie Nietzsche weiter notierte, transzendiert, sondern „zu reinem und mustergltigem Ausdruck“ gebracht.699 Und eben im Blick auf den Umgang mit der Zeit unterscheidet Nietzsche ,klassisch‘ und ,romantisch‘ als ,stark‘ und ,schwach‘: „Sowohl die classisch als auch die romantisch gesinnten Geister – wie es diese beiden Gattungen immer giebt – tragen sich mit einer Vision der Zukunft: aber die ersteren aus einer S t r k e ihrer Zeit heraus, die letzteren aus deren S c h w c h e .“ (MA II, WS 217)
In der Schluss-Parenthese von FW 370 tut Nietzsche „das Wort ,klassisch‘“ ab: es sei „bei weitem zu abgebraucht, zu rund und unkenntlich geworden“, wie eine zu lange im Umlauf gewesene Mnze. In seinen Notaten wird er wohl noch weiter nach der „Nçthigung“ zum „klassischen Geschmack“, dem „Willen zur Vereinfachung, Verstrkung, zur Sichtbarkeit des Glcks, zur Furchtbarkeit,“ dem „Muth zur psycholog. N a c k t h e i t“ fragen. Aber es geht ihm nun auch hier um eine „Wahl“, die Wahl, vor der man stehe, wenn man sich aus dem „Chaos“ zur „G e s t a l t u n g emporzukmpfen“ und „entweder zu Grunde zu gehn oder s i c h d u r c h z u s e t z e n“ habe. Eine ,klassische‘ Kultur kann danach erst wieder entstehen, wenn eine neue „herrschaftliche Rasse“ „aus furchtbaren u. gewaltsamen Anfngen emporwachse“.700 Dies ist kein ,klassischer‘ Begriff des Klassischen mehr. Nietzsche hat den Begriff bis zur Unkenntlichkeit verschoben. Im verçffentlichten und zur Verçffentlichung vorgesehenen Werk gibt er die Begriffe ,Romantik‘ und ,Klassik‘ vollends auf. Als er den Text von FW 370 in seine zuletzt noch geplante Schrift NW aufnimmt,701 ersetzt er die berschrift „W a s i s t R o m a n t i k ?“ durch „W i r A n t i p o d e n“ und tilgt im Text alle Hinweise auf Romantik und Klassik. Die Unterscheidung hat sich nun fr ihn erbrigt. 699 N 1879, 41[34], KSA 8.589; vgl. N 1880, 4[260], KSA 9.164. Im V. Buch der FW spricht Nietzsche so auch vom Krieg (FW 362/11.3.1.). Im Kontext der GM fragt er sich, „ob nicht der Gegensatz des Aktiven u. Reactiven hinter jenem Gegensatz von Classisch und Romantisch verborgen liegt? …“ (N 1887, 9[112], KSA 12.400 / W II 1, S. 56). 700 N 1887/88, 11[31], KSA 13.18 / W II 3, S. 188. Nietzsche fhrt fort: „Problem: wo sind die Barbaren des 20. Jahrhunderts? Offenbar werden sie erst nach ungeheuren socialistischen Krisen sichtbar werden und sich consolidiren, – es werden die Elemente sein, die der grçßten Hrte gegen sich selber fhig sind und den lngsten Willen garantiren kçnnen…“ Solche Reflexionen haben zu Nietzsches Ruf als Protofaschisten beigetragen. Wenn er jedoch schon von den Wagnerianern des 19. Jahrhunderts angewidert war, drfte er kaum auf Menschen vom Schlag der Faschisten des 20. Jahrhunderts gesetzt haben. 701 Zu den wechselnden Konzeptionen der Schrift und Nietzsches Schwanken, sie zu verçffentlichen, vgl. Montinari, Kommentar, KSA 14.518 – 522.
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Die Einheit seiner Unterscheidung romantisch – klassisch – dionysisch ist der „Pessimismus“. Nietzsche verschiebt auch dessen Begriff und bahnt dadurch die Erweiterung seiner Heuristik der Not an (16.4.). Er beginnt damit in den neuen Vorreden. Der ersten, der Vorrede zu GT, gibt er jetzt den Untertitel Griechenthum und Pessimismus. Er unterzieht darin seinen philosophischen Erstling eben im Blick auf das Verstndnis des Pessimismus der Griechen dem „Versuch einer Selbstkritik“.702 Dass die „wohlgerathenste, schçnste, bestbeneidete, zum Leben verfhrendste Art der bisherigen Menschen, die Griechen“, einem Pessimismus anhing, einer „intellektuellen Vorneigung fr das Harte, Schauerliche, Bçse, Problematische des Daseins aus Wohlsein, aus berstrçmender Gesundheit, aus F l l e des Daseins“, fordere dazu heraus, einen „Pessimismus der S t r k e“ zu denken. Wenn aber der Pessimismus ein Leiden ist, muss auch das Leiden neu gedacht werden, und so fragt Nietzsche: „Giebt es vielleicht ein Leiden an der Ueberflle selbst? Eine versucherische Tapferkeit des schrfsten Blicks, die nach dem Furchtbaren v e r l a n g t , als nach dem Feinde, dem wrdigen Feinde, an dem sie ihre Kraft erproben kann? an dem sie lernen will, was ,das Frchten‘ ist?“ Kçnnte das „ungeheure Phnomen des Dionysischen“, das die Griechen zu einem Gott erhoben, also in einem „Leiden an der Ueberflle“ liegen, das ,Furchtlose‘ zu neuen Auseinandersetzungen treibt, in denen sich die berflle ausleben und vielleicht noch weiter steigern kann? Demgegenber wre dann „der Sokratismus der Moral, die Dialektik, Gengsamkeit und Heiterkeit des theoretischen Menschen“, der die Kultur Europas und ihre Wissenschaft geprgt hat, schon „ein Zeichen des Niedergangs, der Ermdung, Erkrankung, der anarchisch sich lçsenden Instinkte“, „eine Furcht und Ausflucht vor dem Pessimismus“ (GT Versuch 1). Fragt man nun „,was ist dionysisch?‘“ (GT Versuch 3), so wird man sich hten mssen, die Frage ihrerseits sokratisch, also moralisch, dialektisch, theoretisch beantworten zu wollen. Nietzsche belsst es beim „grossen dionysischen Fragezeichen“, sucht lediglich Zeichen des Dionysischen in seinem Buch und gert dabei – an die Romantik, zunchst die Romantik der „deutschen letzten Musik“, der Wagners (GT Versuch 6), dann an seine eigene Romantik in seinem Erstling. Er errt sie im Berauschenden und Benebelnden seines Stils, ber den jetzt, nachdem es nicht mehr um die „K u n s t d e s m e t a p h y s i s c h e n Tr o s t e s“ durch Schopenhauers Pessimismus geht, die „jungen Freunde“ „l a c h e n lernen“ sollen, wenn sie „durchaus Pessimisten bleiben“ wollen (GT Versuch 7). Ein solcher kmpferischer und lachender, ein frçhlicher Pessimismus also im Gegensatz zum „romantischen“, fhrt er in der neuen Vorrede zu MA II fort, war seine „pessimistische Perspektive von Anbeginn“ (MA II Vorrede 7), ein Pessimismus „der Strke des Intellekts (Geschmacks, Gefhls, Gewissens)“: mit dem „Willen zum Tragischen“ frchtet man nicht „das Furchtbare und Fragwrdige, das allem Dasein eignet; man sucht es selbst auf. Hinter einem solchen Willen steht der Muth, der Stolz, das Verlangen nach einem g r o s s e n Feinde.“ (MA II Vorrede 7) Es ist ein 702 Vgl. die grndliche Interpretation von Came, Nietzsche’s Attempt at a Self-Criticism. Came liest die Selbstkritik freilich zu sehr als Selbstinterpretation und zu wenig als Selbstdistanzierung.
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philosophischer Pessimismus in neuem Sinn, nicht der Ergebung in das Schlimme des Daseins, sondern der furchtlosen Erkundung auch des Schlimmen des Daseins, ein Pessimismus, der noch aus dem Schmerz und gerade aus ihm befreiende Erkenntnis gewinnt, aus jenem „grossen Schmerz“, der „der letzte Befreier des Geistes“ ist, das Philosophieren „v e r t i e f t“ und zum „Glck“, zur „Freude am X“ werden kann (FW Vorrede 3).703 Vorbereitend hatte Nietzsche dazu notiert: „Es ist zuletzt eine Sache der Kraft: diese ganze romantische Kunst kçnnte von einem berreichen u. willensmchtigen Knstler ganz ins Antiromantische – ich will persçnlicher reden {oder um meine Formel zu brauchen} – ins Dionysische umgebogen werden, ebenso wie jede Art Pessimismus u. Nihilismus in der Hand des Strksten nur ein Hammer u. Werkzeug mehr wird, mit dem eine neue Treppe zum Glck gebaut wird {man sich ein neues Paar Flgel zulegt}.“ (N 1885/86, 2[101], KSA 12.111 / W I 8, S. 121)
Hier schließt Nietzsches komplexer Versuch im V. Buch der FW an, den Pessimismus als lebensbejahenden Nihilismus weiterzudenken (FW 346/ 7.1.4.–5.), dem nun, in FW 370, die Entgegensetzung eines „d i o n y s i s c h e n Pessimismus“ gegen den „romantischen Pessimismus“ als dem „letzten g r o s s e n Ereigniss im Schicksal unsrer Cultur“ folgt. Das neue Gewicht liegt nun auf dem Dionysischen. Der Begriff fllt im V. Buch der FW nur hier, hier aber gebraucht ihn Nietzsche gleich sechs Mal, stets als Adjektiv; der Begriff ,dionysisch‘ durchzieht den Aphorismus FW 370 wie der Begriff des Gewissens FW 357. Zuerst ist kritisch von der vermeintlichen „dionysischen Mchtigkeit der deutschen Seele“ die Rede, dann, bejahend, von der „dionysischen Kunst“ und schließlich vom „dionysischen Gott und Menschen“. An dieser Stelle erlutert Nietzsche ihn nher: Der Reichste an Lebensflle, der dionysische Gott und Mensch, kann sich nicht nur den Anblick des Frchterlichen und Fragwrdigen gçnnen, sondern selbst die frchterliche That und jeden Luxus von Zerstçrung, Zersetzung, Verneinung; bei ihm erscheint das Bçse, Unsinnige und Hssliche gleichsam erlaubt, in Folge eines Ueberschusses von zeugenden, befruchtenden Krften, welcher aus jeder Wste noch ein ppiges Fruchtland zu schaffen im Stande ist.
In JGB 295 hatte Nietzsche den „Gott D i o n y s o s“ zum Philosophen erklrt, zum Gott seines Philosophierens erhoben und dessen „Heimliches, Neues, Fremdes, Wunderliches, Unheimliches“ den „Freunden“ „mit halber Stimme“ mitzuteilen angeboten.704 Nun unterscheidet er im Dio703 Vgl. 5.3.1. u. 6.3.2. und zur „Freude am X“ Stegmaier, Das Zeichen X in der Philosophie der Moderne, 244 – 247. 704 Vgl. Kaufmann, Commentary, 331, Fn. 126; van Tongeren, Die Moral von Nietzsches Moralkritik, 243 f. – Zur Entwicklung von Nietzsches Begriff des Dionysischen vgl. den erschçpfenden Art. dionysisch/apollinisch in: NWB 1.619 –
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nysischen „Gott und Mensch“ nicht mehr. Ein berreichtum, ein erlaubter Luxus von Krften macht einen Menschen zu einem die Grenzen des Menschlichen sprengenden, die menschliche Angst und Moral berspringenden Gott – so, wie ihn berreiche Menschen gerade noch denken kçnnen. Der Gott bleibt auch hier noch ein menschlicher: In GD bricht Nietzsche das Gçttlich-Menschliche wieder auf das Menschliche, auf einen Menschen herunter, auf Goethe, den starken, hochgebildeten, in allen Leiblichkeiten geschickten, sich selbst im Zaume habenden, vor sich selber ehrfrchtigen Menschen, der sich den ganzen Umfang und Reichthum der Natrlichkeit zu gçnnen wagen darf, der stark genug zu dieser Freiheit ist; den Menschen der Toleranz, nicht aus Schwche, sondern aus Strke, weil er Das, woran die durchschnittliche Natur zu Grunde gehn wrde, noch zu seinem Vortheile zu brauchen weiss; den Menschen, fr den es nichts Verbotenes mehr giebt, es sei denn die S c h w c h e, heisse sie nun Laster oder Tugend (GD Streifzge 49).
Goethes „freudiger und vertrauender Fatalismus mitten im All“, sein „G l a u b e, dass nur das Einzelne verwerflich ist, dass im Ganzen sich Alles erlçst und bejaht“, den Nietzsche „auf den Namen des D i o n y s o s getauft“ hat, hatte weder etwas Pessimistisches noch etwas Optimistisches, Goethe hatte auch diesen Gegensatz berwunden. So geht auch der Begriff des Pessimismus in dem des Dionysischen auf. In ZA, wo Nietzsche alles Fremdsprachliche vermeidet, konnte der Begriff des Dionysischen nicht vorkommen. Er sei jedoch eben dort, so Nietzsche zuletzt, „h ç c h s t e T h a t“ geworden (EH ZA 6).705 Zarathustra habe „die h ç c h s t e A r t a l l e s S e i e n d e n […] definirt“ und mit ihm den „B e g r i f f d e s D i o n y s o s s e l b s t“ (EH ZA 6) als „die Seele, welche die lngste Leiter hat und am tiefsten hinunter kann, / die umfnglichste Seele, welche am weitesten in sich laufen und irren und schweifen kann, / die nothwendigste, welche sich mit Lust in den Zufall strzt, / die seiende Seele, welche ins Werden, die habende, welche ins 656. Das V. Buch der FW wird hier jedoch flschlich als JGB vorausgehend eingeordnet (1.642 f.). Zu den Einwnden von Baeumer, Das moderne Phnomen des Dionysischen und seine „Entdeckung“ durch Nietzsche, gegen Nietzsches Behauptung, er habe das Dionysische „e n t d e c k t“ oder doch „als der Erste begriffen“ (EH GT 2), s. die Richtigstellung NWB 1.653: ,entdeckt‘ heißt bei Nietzsche nicht nur ,aufgefunden‘, sondern auch ,aufgedeckt‘ im Sinn von ,in seinem wahren Charakter erfasst‘. 705 Groddeck, Die „neue Ausgabe“ der „Frçhlichen Wissenschaft“, 194 – 196, arbeitet heraus, wie Nietzsche am Ende des IV. Buchs der FW zuerst Zarathustra, am Ende von JGB dann Dionysos ankndigt, um in EH schließlich beide Gestalten, Symbole oder Begriffe zusammenzufhren.
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Wollen und Verlangen w i l l – / die sich selber fliehende, welche sich selber in weitesten Kreisen einholt, / die weiseste Seele, welcher die Narrheit am sssesten zuredet, / die sich selber liebendste, in der alle Dinge ihr Strçmen und Wiederstrçmen und Ebbe und Fluth haben – –“ (EH ZA 6; vgl. ZA III Tafel 19, KSA 4.261). Dieser Begriff des Dionysischen schließt, wie der Begriff des Geistes, alle definierenden Unterscheidungen in sich ein und hebt sie auf,706 er ist seinerseits ein ,dionysischer‘, nicht feststellbarer und doch aussagekrftiger Begriff. Das Dionysische, gelçst auch noch von der Vorstellung einer gçttlichen Person, ist dann auch kein Sein und kein Werden, sondern die Aufhebung des einen in das andere als „Lust“ des einen, das jeweils andere zu sein oder zu werden (GD Alten 5, zit. EH GT 3). Nietzsche, der diesen Begriff des Dionysischen und Zarathustra als dessen Verkçrperung geschaffen hatte, nennt seine Philosophie darum nun – zusammen mit der Heraklits – eine „dionysische Philosophie“ und sich selbst „den ersten t r a g i s c h e n P h i l o s o p h e n“ (EH GT 3). Nietzsches Ehrgeiz war schon frh, zu zeigen, „wie kann etwas aus seinem Gegensatz entstehen, zum Beispiel Vernnftiges aus Vernunftlosem, Empfindendes aus Totem, Logik aus Unlogik, interesseloses Anschauen aus begehrlichem Wollen, Leben fr Andere aus Egoismus, Wahrheit aus Irrthmern?“ (MA I 1) Indem er lernte, den bislang abgewerteten Gegensatz einer Unterscheidung zu ihrer Einheit, den Gegenbegriff zum Oberbegriff zu machen, bte er einen dionysischen Begriffsgebrauch ein. Er verstand so den Begriff als eine Art der Metapher, den Ernst als eine Art der Frçhlichkeit (2.1.), die Wissenschaft als eine Art der Kunst (2.3.), die Wahrheit als eine Art des Irrtums, die Freiheit als eine Art der Not (5.3.1.) usw. Immer mehr gebrauchte er auch den Begriff des Großen, um denkbar zu machen, dass etwas seinen Gegensatz einbeziehen und dadurch strker werden kann (6.1.2.). Er machte es zur Methode, Gegenstze zu schaffen, zu berspielen und aufzulçsen, wie er sie am Gegensatz der Geschlechter exemplarisch demonstriert hat (NSM 14). Nach dem dionysischen Begriff – oder der Metapher – des Dionysischen ist all dies ein dionysischer Umgang mit Begriffen, der den sokratischen nicht ausschließt, aber in sich aufhebt. Und so, zugleich sokratisch und dionysisch, erweitert Nietzsche nun auch seine Heuristik der Not.
706 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz, 365 – 372, bes. 367.
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16.3. Neue Heuristik der Not: Unterscheidung nicht nur von Nçten der Verarmung, sondern auch der berflle des Lebens Er versucht auch die Frage „Was ist Romantik?“ aus seiner Heuristik der Not (5.3.1.) zu beantworten und wiederholt eigens deren Prinzip: „Jede Kunst, jede Philosophie darf als Heil- und Hlfsmittel im Dienste des wachsenden, kmpfenden Lebens angesehn werden: sie setzen immer Leiden und Leidende voraus.“ Nietzsche macht nun jedoch auch auf das Problematische dieser Heuristik aufmerksam, „jener schwierigsten und verfnglichsten Form des R c k s c h l u s s e s, in der die meisten Fehler gemacht werden – des Rckschlusses vom Werk auf den Urheber, von der That auf den Thter, vom Ideal auf Den, der es n ç t h i g h a t, von jeder Denk- und Werthungsweise auf das dahinter kommandirende B e d r f n i s s.“ Die Heuristik der Not zieht Rckschlsse, sofern sie sich auf etwas Vorausgehendes und nicht mehr unmittelbar Fassbares erstreckt – bald wird Nietzsche ihr den Namen ,Genealogie‘ geben –, und ihre Rckschlsse sind die schwierigsten, weil es hier nur Anhaltspunkte geben kann, die man mit gebtem Blick ,erraten‘ und mit sicherer Urteilskraft deuten muss.707 Warnendes Beispiel ist die Mi707 Logisch handelt es sich, worauf Brotbeck, Nietzsche erraten, 146 – 150, hingewiesen hat, im Sinn von Charles Sanders Peirce’ ,logic of discovery‘ um eine Abduktion, einen Schluss, der gegenber der stets gewissen Deduktion, dem Schluss vom Allgemeinen aufs Einzelne (Kirschen sind sß, dies ist eine Kirsche, also ist diese Kirsche sß), und der wachsend gewissen Induktion, dem Schluss von einer Reihe von Einzelnen auf ein Allgemeines (die erste Kirsche ist sß, die zweite Kirsche ist sß, die dritte Kirsche ist sß, … alle Kirschen sind sß) immer nur begrenzte Gewissheit bringt: zu einem fragwrdigen Einzelnen muss ein Allgemeines erst ,kreativ‘ gefunden werden (eine Kirsche liegt neben einem Korb voller Kirschen, sie wird wohl aus dem Korb gefallen sein, oder: die Kchenchefin, die eine Kirschtorte backen will, wird sie dorthin gelegt haben, um mir zu bedeuten, dass ich diese Kirsche gleich essen darf, oder: sie will mich prfen, ob ich diese Kirsche essen wrde, wenn sie nun schon einmal neben dem Korb liegt, was ich aber eigentlich nicht soll, usw.). Abduktionen, jeweils passende Vermutungen, lassen Spielrume fr Interpretationen des logischen Zusammenhangs, der immer auch anders gedacht werden kann, also jedes Mal neu ,erraten‘ werden muss. Sie entsprechen am meisten den alltglichen, empirisch-wissenschaftlichen – und Nietzsches Schlussfolgerungen. Es geschieht etwas von Bedeutung (Wagner, ein Schopenhauerianer, sinkt vor dem Kreuz nieder), man hat dafr entweder schon eine Regel (Induktion: die ,dionysische‘ ,deutsche Seele‘ hat auch dazu die ,Urkraft‘), oder man muss, wenn diese Regel aufgrund weiterer Anhaltspunkte nicht mehr ausreicht (diese Seele aber sucht ,den Rausch, den Krampf, die Betubung‘), eine neue Regel finden (hypothetische Unterscheidung von Nçten der Verarmung
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lieutheorie, die ebenfalls ganze Philosophien oder doch ihre leitenden Gedanken aus den Lebensbedingungen der Philosophen zu verstehen suchte. Sie gehçrte zu den großen Theorien des 19. Jahrhunderts. ,Milieu‘ war zunchst, bei d’Alembert, der Begriff fr das rumlich Umgebende, dann, bei Lamarck, fr die Gesamtheit der notwendigen Lebensbedingungen eines biologischen Organismus, deren Vernderung zur Anpassung zwingt. Comte hatte ,milieu‘ als soziologischen Begriff fr die Gesamtheit der natrlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bedingungen gebraucht, die auf Einzelne, Gruppen und soziale Schichten einwirken. Haeckel machte die Wechselbeziehungen von Lebewesen und ihren Lebensbedingungen zum Gegenstand einer neuen ,Ethologie‘ bzw. ,kologie‘. Der franzçsische Physiologe Claude Bernard unterschied, fr Nietzsche sehr bedeutsam, vom „milieu extrieur“ das „milieu intrieur“.708 Balzac hatte das milieu zur Leitidee seiner Comdie humaine erhoben, Zola es, im Anschluss an Bernard, zum Programm seiner Rougon-Macquarts gemacht, und der von Nietzsche so geschtzte Taine, der am strksten zur Verbreitung des Milieu-Begriffs beitrug, hatte die Milieutheorie zum Milieudeterminismus verschrft.709 So war sie Nietzsche sehr prsent, und zunchst schien sie ihm auch plausibel. 1884 notierte er: „durchschnittlich ist ein C h a r a k t e r die F o l g e e i n e s M i l i e u – e i n e f e s t e i n g e p r g t e Rolle, vermçge deren gewisse Facta immer wieder u n t e r s t r i c h e n und g e s t r k t werden. […] berall beginnt es mit dem Z w a n g (wenn ein Volk in eine Landschaft kommt). Die Natur, die Jahreszeiten, die Wrme und Klte usw. das Alles ist zunchst ein t y r a n n i s i r e n d e s Element. Allmhlich weicht das Gefhl des Gezwungenseins –“. Doch Nietzsche fragte weiter, was beim „Wechsel der Milieu’s“ geschieht. Denn erst dabei stellt sich heraus, wie abhngig etwas oder jemand von einem Milieu ist, erst dann, beim Risiko des „Zugrundegehens“, treten die „ntzlichsten und anwendbarsten Eigenschaften“ erkennbar hervor. „Der Europer“ habe gezeigt, dass er Milieuwechsel aushlt, also nicht von einem bestimmten Milieu abhngt. Insofern sei er eine „ber-Rasse. Ebenso der Jude; es ist zuletzt eine h e r r s c h e n d e Art, obwohl sehr verschieden von den einfachen alten herrschenden Rassen, die ihre Umgebung nicht verndert hatten.“ (N 1884, 25[462], KSA 11.136) All das gelte jedoch nur fr eine Masse von Menschen, fr das Verstndnis von Philosophien aus den Lebensbedingungen der Philosophen kann es nur ein erster Anhaltspunkt sein: „Jetzt – ist die Theorie des M i l i e u am bequemsten! a l l e s bt Einfluß, das Resultat ist der Mensch selber.“ (N 1885, 34[12], KSA 11.426 / N VII 1, S. 190) und der berflle des Lebens). Vgl. (unter zahlreichen anderen Entwrfen) Peirce, Argumente. Nach Brotbeck, Nietzsche erraten, 146, kçnnte Nietzsche in der Revue philosophique de la France et de l’tranger Aufstze von Peirce gelesen haben. Brotbeck attestiert ihm „abduktiven Instinkt“ (154) und „abduktive Intelligenz“ (161) und weist sie auf vier „Schaupltzen“ nach, 1. der Lektre, 2. des Schauspielers, 3. der Politik und 4. generell der Interpretation als des Willens zur Macht. 708 Vgl. Stegmaier, Darwin, Darwinismus, Nietzsche, 272 f., Fn. 16, und Stingelin, Nietzsche und die Biologie. Neue quellenkritische Studien, 510. 709 Vgl. Feldhoff, Art. Milieu.
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Von starken Einzelnen und Genies dagegen kçnnen „genau dieselben milieu’s […] entgegengesetzt ausgedeutet und ausgenutzt werden“. So stellt sich Nietzsche „gegen die Lehre vom Einfluß des milieu u. der ußeren Ursachen: die innere Kraft ist unendlich berlegen“ (N 1885/86, 2[175], KSA 12.154 / W I 8, S. 53).710 In GD verurteilt er „die Theorie vom milieu“ dann scharf als „eine wahre Neurotiker-Theorie“, die „sakrosankt und beinahe wissenschaftlich geworden ist und bis unter die Physiologen Glauben findet“ (GD Streifzge 44).711
So plausibel es sein mag, Philosophien aus den Bedrfnissen und Nçten zu verstehen, die die Philosophen bei ihren Entwrfen geleitet haben, man kommt dabei niemals bei so etwas wie wissenschaftlich nachweisbaren positiven Tatsachen an, sondern ist auf die eigene Urteilskraft verwiesen. Eben darum ist die Heuristik der Not auch die „verfnglichste Form des R c k s c h l u s s e s“. Nicht nur, weil, wie Nietzsche in JGB 16 und 20 gezeigt hat, die Grammatik der indoeuropischen Sprachen Schlsse von einer ,Tat‘ auf einen ,Tter‘ auch dort nahelegt, wo, wie bei Blitz und Donner, keiner ist (FW 357/12.3.1), sondern, weil eben dort, wo nichts sein kçnnte, sich die eigenen Bedrfnisse und Nçte des Schließenden aufdrngen. Denn bei seinem ,Erraten‘ kann er nur von sich selbst, nur von Bedrfnissen und Nçten ausgehen, die ihm einfallen und einleuchten. So wird er sich mit seinen Rckschlssen leicht in sich selbst verfangen. Wenn „jedes romantische Ideal eine Selbstflucht, eine Selbst-Verachtung und Selbst-Verurtheilung dessen ist, der es erfindet“, wie Nietzsche notiert, kçnnte auch der Schluss darauf eine Selbstflucht, Selbst-Verachtung und Selbst-Verurteilung dessen sein, der es zu erraten glaubt (N 1885/86, 2[101], KSA 12.111 / W I 8, S. 121). Nietzsche traute sich den Rckschluss dennoch zu und hatte Grund dazu. In der neuen Vorrede zu FW hat er auf eine wiederum sehr persçnliche Weise geschildert, was gerade seinen Blick fr die Heuristik der Not geschrft hat. Sein „schweres Siechthum“ (FW Vorrede 3), die „Tyrannei des Schmerzes“ und die „radikale Vereinsamung“, in die sie ihn gefhrt habe, „als Nothwehr gegen eine krankhaft hellseherisch gewordene Menschenverachtung“, habe ihn gelehrt, einerseits unempfindlich gegen Nçte zu werden, andererseits gegen „eine unvorsichtige geistige Dit und Verwçhnung – man heisst sie Romantik –“, „E k e l“ zu empfinden: sie verschlimmere die Nçte nur. Beides habe ihn seine Nçte „geduldig, streng, kalt“ sehen gelehrt. Die „Tr u n k e n h e i t“ der Genesung habe ihn in eine neue Hoffnung versetzt, die „Hoffnung auf Gesundheit“ inmitten der Krankheit, die Wiederkehr der 710 Vgl. N 1886/87, 7[33], KSA 12.306. 711 Vgl. N 1888, 15[105] u. [106], KSA 13.468, und zuvor N 1888, 14[133], KSA 13.315 f. / W II 5, S. 82 f.
16.3. Neue Heuristik der Not
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Frçhlichkeit habe sich seiner Wissenschaft mitgeteilt und dabei auch „viel Unvernnftiges und Nrrisches an’s Licht“ gebracht (FW Vorrede 1). Der stndige Wechsel des Leidens an der Krankheit und der Hoffnung auf Gesundheit, den er zu erdulden hatte, aber habe gerade ihn zugleich befhigt, „nach dem Verhltniss von Gesundheit und Philosophie“ zu fragen; er habe „seine ganze wissenschaftliche Neugierde mit in seine Krankheit“ gebracht. So machten ihn seine Nçte hellsichtiger fr die Bedrfnisse zu philosophieren berhaupt und die Arten von Philosophien, zu denen sie nçtigten. Sie erweiterten seinen Horizont fr alle „khnen Tollheiten der Metaphysik“, ebenso „Welt-Bejahungen“ wie „Welt-Verneinungen“ (FW Vorrede 2). Seine „wechselreiche Gesundheit“ habe ihm den „Gang durch viele Gesundheiten“ und damit „auch durch ebensoviele Philosophien“ mçglich gemacht (FW Vorrede 3). Seine sehr persçnlichen Erfahrungen stießen ihn aber auch darauf, dass seine bisherige Heuristik der Not nicht mehr ausreichte: doch giebt es da einen erheblichen Unterschied. Bei dem Einen sind es seine Mngel, welche philosophiren, bei dem Andern seine Reichthmer und Krfte. Ersterer hat seine Philosophie n ç t h i g, sei es als Halt, Beruhigung, Arznei, Erlçsung, Erhebung, Selbstentfremdung; bei Letzterem ist sie nur ein schçner Luxus, im besten Falle die Wollust einer triumphirenden Dankbarkeit, welche sich zuletzt noch in kosmischen Majuskeln an den Himmel der Begriffe schreiben muss. (FW Vorrede 2)
Nietzsche unterscheidet auch hier noch zwischen Nçten auf der einen und „Luxus“ auf der anderen Seite und fragt darum weiterhin nur, wie Krankheiten Philosophien bedingen: Jede Philosophie, welche den Frieden hçher stellt als den Krieg, jede Ethik mit einer negativen Fassung des Begriffs Glck, jede Metaphysik und Physik, welche ein Finale kennt, einen Endzustand irgend welcher Art, jedes vorwiegend aesthetische oder religiçse Verlangen nach einem Abseits, Jenseits, Ausserhalb, Oberhalb erlaubt zu fragen, ob nicht die Krankheit das gewesen ist, was den Philosophen inspirirt hat. (FW Vorrede 2)
Zum Philosophieren inspirieren aber kçnnte nicht nur die Krankheit, sondern auch die Gesundheit, also die Leiblichkeit berhaupt. Man kçnnte darum auch den Gegensatz von Krankheit und Gesundheit berschreiten und fragen, „ob nicht, im Grossen gerechnet, Philosophie bisher berhaupt nur eine Auslegung des Leibes und ein M i s s v e r s t n d n i s s d e s L e i b e s gewesen ist.“ „Welt-Bejahungen“ wie „Welt-Verneinungen“ kçnnten „Symptome […] des Leibes, seines Gerathens und Missrathens, seiner Flle, Mchtigkeit, Selbstherrlichkeit in der Geschichte, oder aber seiner Hemmungen, Ermdungen, Verarmungen, seines Vorgefhls vom
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Ende, seines Willens zum Ende“ sein (FW Vorrede 2, Kursivierung WS). Doch Nietzsche stellt hier das „Problem der Gesammt-Gesundheit“ weiterhin vom Standpunkt eines Arztes aus, der Krankheiten diagnostiziert und therapiert, obwohl es sich ebenso „um Gesundheit, Zukunft, Wachsthum, Macht, Leben…“ handelt (FW Vorrede 2). Erst in FW 370 vollzieht er den neuen, dionysischen Schritt. Er macht nun auch hier den Gegenbegriff zum Oberbegriff, versteht den „Luxus“ als eine Art seines Gegensatzes, der „Noth“, und nennt die neue Unterscheidung sogleich seine „Hauptunterscheidung“. Danach gibt es zweierlei Leidende, einmal die an der U e b e r f l l e d e s L e b e n s Leidenden, welche eine dionysische Kunst wollen und ebenso eine tragische Ansicht und Einsicht in das Leben, – und sodann die an der V e r a r m u n g d e s L e b e n s Leidenden, die Ruhe, Stille, glattes Meer, Erlçsung von sich durch die Kunst und Erkenntniss suchen, oder aber den Rausch, den Krampf, die Betubung, den Wahnsinn.
Die Annahme eines Leidens „an der U e b e r f l l e d e s L e b e n s “, an einem berreichtum an Lebensmçglichkeiten und Begabungen, ist fr die meisten schwer nachvollziehbar. Es ist naturgemß das Leiden nur weniger, der Schçpferischen, ,Schaffenden‘; fr sie aber kann, so Nietzsche in einem Notat, das „Schaffen-mssen“, der „dionysische Trieb“, eine „Tortur“ sein (N 1885/86, 2[110], KSA 12.116 / W I 8, S. 115). Protagonist des Leidens der Schaffenden war fr Nietzsche wiederum sein Zarathustra, der zehn Jahre lang einen solchen „berfluss“ an Weisheit gesammelt hat, dass er nun von ihr „berfliesst“ und unter die Menschen gehen muss, um von ihm abzugeben, d. h. zu lehren. Doch dies ist ein „Untergang“. Denn es gibt, wie sich zeigt, niemand, der ihm seinen berreichtum abnehmen, ihn auf der Hçhe seiner Weisheit verstehen kçnnte (ZA I Vorrede 1/1.4.). Er wird mit der Not seines Schaffens, wie Nietzsche sie vor allem an der „Genesung“ von seinem „abgrndlichen Gedanken“ der ewigen Wiederkehr schildert (ZA III Genesende, KSA 4.270 – 277), tragisch scheitern und, selbst unter „hçheren Menschen“, immer mehr vereinsamen. Auch Schopenhauer und vor allem Wagner schienen Nietzsche „Anfangs“ zu diesen Leidenden zu gehçren. Doch nun sieht er es anders. Er erlutert seine neue Unterscheidung vor allem an ihrer Romantik – und zwar nach der Seite der „Ve r a r m u n g d e s L e b e n s“ hin. Danach suchen die darunter Leidenden „Erlçsung von sich“, die Schopenhauer und Wagner einerseits in einer „Kunst und Erkenntnis“ fanden, die „Ruhe, Stille, glattes Meer“ versprach, und andererseits, was jedoch sicher mehr fr Wagner zutraf, im „Rausch“, im „Krampf“, in der „Betubung“, im „Wahnsinn“. Dieses „Doppel-Bedrfniss“ teilten sie mit der Romantik; am
16.3. Neue Heuristik der Not
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prgnantesten kommt es in Eichendorffs Gedicht Der Abend zum Ausdruck, das als die Seele der Romantik gilt: in der Stille wird ein Rauschen hçrbar, ein Rauschen der Stille, an dem die romantische Seele sich berauscht in schauerlicher Sehnsucht nach Erlçsung – im Tod.712 Im Blick auf dieses Erlçsungsdoppelbedrfnis rckt Nietzsche Erlçsungshoffnungen zusammen, die bis dahin kaum etwas miteinander zu tun zu haben schienen: den „,Heiland‘“ des Christentums, die „Logik“ und das Lebensideal der „Epikureer“. Sie haben gemeinsam, dass sie alle „eine gewisse warme, furchtabwehrende Enge und Einschließung in optimistische Horizonte“ gewhren und darin Halt und Geborgenheit geben, dem Christen in seiner Glaubensgewissheit (FW 353/8.3.1.), dem Wissenschaftler in den logischen Schemata, in denen er sich das Dasein zurechtlegt (FW 374/13.2.2.), dem Epikureer in seinem Garten, in den er sich von den Leiden der Welt zurckzieht (FW 375/13.4.). Damit entziehen sie gleichermaßen die Untiefen des Lebens, in die „dionysische Pessimisten“ zu blicken wagen, dem Blick. Nietzsche macht von seiner neuen „Hauptunterscheidung“ in seinem verçffentlichten Werk nur hier Gebrauch, in GD schon nicht mehr.713 Er wird dort in seinem „A n t i - D a r w i n“-Aphorismus (Streifzge eines Unzeitgemssen 14) den Reichtum, die Verschwendung wieder der Not entgegensetzen („der Gesammt-Aspekt des Lebens ist n i c h t die Nothlage, die Hungerlage, vielmehr der Reichthum, die ppigkeit, selbst die absurde Verschwendung“), um den, wie er meint, auf die „Nothlage“ fixierten Darwinismus als verengt darzustellen (FW 349/5.3.1.). Zwar heißt es dort auch: „Darwin hat den Geist vergessen […]. Man muss Geist nçthig haben, um Geist zu bekommen, – man verliert ihn, wenn man ihn nicht mehr nçthig hat.“ Auch der Geist – d.i. hier „die Vorsicht, die Geduld, die List, die Verstellung, die grosse Selbstbeherrschung und Alles, was mimicry“ ist – entspringt danach einer Not und wandelt sich mit der Not und kann berreich in seinen Schçpfungen werden. Doch das macht Nietzsche dort nicht mehr geltend. Seine „Hauptunterscheidung“ ist somit ad hoc, allein zum Begreifen von Schopenhauers und Wagners romantischem Pessimismus gebildet, von dem Nietzsche den seinen unterscheiden wird. Dies ist keine logische Nachlssigkeit. Es ist die ußerste Konsequenz des dionysischen 712 „Schweigt der Menschen laute Lust: / Rauscht die Erde wie in Trumen / Wunderbar mit allen Bumen, / Was dem Herzen kaum bewußt, / Alte Zeiten, linde Trauer, / Und es schweifen leise Schauer / Wetterleuchtend durch die Brust.“ (von Eichendorff, Werke, 33). 713 Zu einem weiteren Gebrauch in Notaten vgl. 17.1.1.
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Begriffsgebrauchs: eine Unterscheidung genau dafr zu bilden, wofr sie im Augenblick gebraucht wird, um sie dann wieder aufzugeben.
16.4. Alte Unterscheidung von Philosophien des Seins und des Werdens In der zweiten Hlfte des Aphorismus, nach einem Trennungsstrich, kndigt Nietzsche an, die ad hoc gebildete „Hauptunterscheidung“ „jetzt“ generell zu gebrauchen: „In Hinsicht auf alle sthetischen Werthe bediene ich mich jetzt dieser Hauptunterscheidung: ich frage, in jedem einzelnen Falle, ,ist hier der Hunger oder der Ueberfluss schçpferisch geworden?“ Er versucht eine kritische Sichtung und Ordnung der europischen Kunst und Philosophie so, dass fr ihn eine neue Alternative sichtbar wird. Die Ordnung fhrt nicht nur ber die historisch zur Verçffentlichung gekommenen Philosophien hinaus, sondern berschreitet auch die Grenze zur Kunst, die Schopenhauer zum Fluchtpunkt seiner Philosophie gemacht hatte, so dass Wagner seine Musik aus ihr rechtfertigen konnte, bis Nietzsche selbst dann Kunst und Philosophie jenseits von Metaphysik und Erlçsungshoffnungen in seiner ,frçhlichen Wissenschaft‘ zusammenfhrte. In diesem Horizont beurteilt Nietzsche Philosophien nicht allein nach logischen Argumentationen durch den Allgemeingltigkeit beanspruchenden Verstand, sondern auch und zuletzt nach „sthetischen Werthen“ durch die individuelle Urteilskraft. In sthetischen Werten, franzçsisch ,valeurs‘, den nuancierten ,Tçnen‘ und ,Farben‘ von Knsten und Philosophien, kommen die individuellen Bedrfnisse und Nçte am ehesten und deutlichsten zum Ausdruck.714 Sie sind ihrerseits nicht unter der Vorgabe „begrifflicher Verstndlichkeit“ im Sinn der sokratischen Logik zu erfassen; ihre Heuristik setzt schon den dionysischen Begriffsgebrauch voraus. Die alte, der sokratischen Logik folgende Leitunterscheidung der europischen Philosophie, die Unterscheidung nach „S e i n“ und „W e r d e n“, bergeht die in sthetischen Werten zum Ausdruck kommenden Bedrfnisse und Nçte des Philosophierens. Sie hlt sich stattdessen an scheinbar unabhngig von den Begriffen gegebene Gegenstnde. Sie ist darin 714 Vgl. JGB 34: „Ja, was zwingt uns berhaupt zur Annahme, dass es einen wesenhaften Gegensatz von ,wahr‘ und ,falsch‘ giebt? Gengt es nicht, Stufen der Scheinbarkeit anzunehmen und gleichsam hellere und dunklere Schatten und Gesammttçne des Scheins, – verschiedene valeurs, um die Sprache der Maler zu reden?“
16.4. Alte Unterscheidung von Philosophien des Seins und des Werdens
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„bei weitem augenscheinlicher“ und „mçchte sich“ darum „von vornherein […] mehr zu empfehlen scheinen“. Von Platon und Aristoteles, den Begrndern der Metaphysik, im Blick auf die Philosophien von Parmenides und Heraklit geprgt, beherrschte die Unterscheidung von Sein und Werden seitdem die europische Philosophie. Sie hat sie bis heute, bis in den Gegensatz zwischen Analytischer Philosophie auf der einen und Hermeneutik und Dekonstruktivismus auf der anderen Seite hinein, in Atem gehalten. ,Sein‘ und ,Werden‘ waren, so selbstverstndlich sie Philosophen inzwischen geworden sein mçgen, ungeheure Verallgemeinerungen. Unter ,Werden‘ fasste man alle Arten von Vernderungen zusammen, die man hinnehmen, alle sinnlichen Wahrnehmungen, die man ,rezipieren‘, alle Erfahrungen, mit denen man sich auseinandersetzen, alle Schicksale, die man erleiden muss, um all dem das ,Sein‘ als das Unvernderliche, immer Gleiche entgegenzusetzen, das man ruhig ,theoretisch‘ betrachten und ,sein lassen‘ kann, wie es ist. Dieses Sein konnte folgerichtig nicht den Sinnen, sondern nur einer eigens fr sie erdachten Vernunft zugnglich sein: das Denken sollte eben dann Vernunft sein, wenn es das zeitlose Sein denkt. Daran sollte man sich unbedingt halten kçnnen, whrend alles zeitlich bedingte Werdende sich stets wieder entzog: so galt es als haltlos, scheinbar, trgerisch, weniger wert. In dieser Wertung verrt sich das Bedrfnis, dem die Unterscheidung entspricht und das sie herrschend gemacht hat, das Bedrfnis nach einem logisch, fr jedermann gleich festzustellenden unbedingten Halt, der doch nur ein sthetisch ruhig gestellter sein konnte. Verallgemeinerungen wie das ,Sein‘ und das ,Werden‘ gehçren nach JGB 4 zu den „logischen Fiktionen“, die fr die menschliche Orientierung lebensnotwendig sind: „ohne ein Geltenlassen der logischen Fiktionen, ohne ein Messen der Wirklichkeit an der rein erfundenen Welt des Unbedingten, Sich-selbst-Gleichen, ohne eine bestndige Flschung der Welt durch die Zahl [kçnnte] der Mensch nicht leben“. Man muss sie, so Nietzsche nun in FW 370, aus dem „Verlangen“ verstehen, das sie erzeugt. Dass mit ,Sein‘und ,Werden‘ stets mehr gewollt ist als ein theoretisches Allgemeines, entdeckte Nietzsche schon bei seiner selbstkritischen Analyse von GT, als er die neue Vorrede zu ihr vorbereitete. Er fand dort in den „psycholog. Grunderfahrungen“, die er mit den Namen ,apollinisch‘ und ,dionysisch‘ belegt hatte, den „Antagonismus“ des „entzckten Verharrens vor einer erdichteten u. ertrumten Welt, vor der Welt des schçnen Scheins {als einer Erlçsung vom Werden}“ auf der einen Seite und der „wthenden Wollust des Schaffenden (der immer zugleich auch der Zerstçrende ist), {der zugleich den Ingrimm des Z. kennt}“, auf der andern Seite, und verstand ihn als den Gegensatz einer „Begierde“, die „die Erscheinung ewig“ will – „vor ihr wird der Mensch
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stille, wunschlos, halkyonisch {meeresglatt}, geheilt, einverstanden mit sich u allem Dasein“ – und einer Begierde, die „zum Werden, zur Wollust des Werden=machens dh. des Schaffens u. Vernichtens“ drngt. Er hatte, sah er nun, das Werden „von innen her empfunden u. ausgelegt,“ vom „fortwhrenden Schaffen eines Unbefriedigten, berreichen, Unendlich-Gespannten und Gedrngten“ her, „eines Gottes, der die Qual des Seins nur durch bestndiges Verwandeln u. Wechseln berwindet“, um diese „Artisten-Metaphysik“ „der einseitigen Betrachtung Schopenhauer’s“ entgegenzustellen, der die Kunst nur „vom Genießenden {Empfangenden} aus“ verstand und von ihr nur Erlçsung im Zur-Ruhe-Kommen erwartete (N 1885/86, 2[110], KSA 12.115 / W I 8, S. 115). In FW 370 tritt sowohl der Antagonismus der „Grunderfahrungen“ zurck als auch die Absicht, Schopenhauer zu korrigieren. Beide Seiten der Unterscheidung, ,Sein‘ und ,Werden‘, stehen nun gleichrangig da, erweitert jedoch um das „Verlangen nach Starrmachen, Verewigen“ bzw. „nach Zerstçrung, nach Wechsel, nach Neuem, nach Zukunft“, erweitert also um die weniger augenscheinlichen und schwerer generalisierbaren ,sthetischen Werte‘ des Feststellen- und Festhalten- bzw. des nderns- oder Anders-Haben-Wollens. Der Drang danach kann unterschiedlich stark sein. Nietzsche geht unauffllig vom Begriff des „B e d r f n i s s e s“ ber den des „Verlangens“ zu dem des „Willens“ ber und zeigt so einen wachsenden Druck an, ttig zu werden, das Bedrfnis zu befried(ig)en. Je aktiver man wird, und sei es aus einem Zwang heraus, desto freier glaubt man sich von seinen Nçten. Am freiesten aber glaubte man sich im ,theoretischen‘ Blick auf ein ,reines‘, von allen Erinnerungen an zwanghafte Nçte gereinigtes Sein oder Werden. Die Metaphysik, so Nietzsches Vermutung, kçnnte aus den strksten Zwngen entsprungen sein.
16.5. Unterscheidung der alten durch die neue Unterscheidung: Kreuztabelle zu Alternativen der europischen Kunst und Philosophie Die sthetischen Werte der metaphysischen Verallgemeinerungen von Sein und Werden treten hervor, wenn deren Unterscheidung feiner unterschieden wird. Dazu nutzt Nietzsche ein logisches Verfahren: er kreuzt die alte Unterscheidung mit seiner neuen „Hauptunterscheidung“. Durch eine Kreuzung von Unterscheidungen erhlt man eine klare logische Ordnung, die sich als Kreuztabelle sichtbar machen lsst. Das gilt auch in Bezug auf sthetische Werte. Die sthetische Unterscheidung der Nçte des Lebens
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16.5. Unterscheidung der alten durch die neue Unterscheidung
wird logisch rekonstruiert und dabei die scheinbar rein theoretische Unterscheidung von Sein und Werden sthetisch dekonstruiert. Nietzsche ordnet nicht einfach der einen Seite die eine Not (z. B. der Seite des Seins die Not der Verarmung des Lebens, der Seite des Werdens die Not der berflle des Lebens) zu, sondern macht auf beiden Seiten beide Nçte geltend; beide Seiten werden in diesem Sinn „zweideutig“. Die Zweideutigkeit bleibt jedoch nicht stehen; sie wird durch die erweiterte Heuristik der Not gerade aufgelçst. Die Unterscheidung der alten durch die neue Unterscheidung ergibt eine Kreuztabelle mit vier Feldern:
Nietzsches Kreuztabelle zu Alternativen der europischen Kunst und Philosophie
„andre Unterscheidung“ („bei weitem augenscheinlicher“) nach Sein und Werden
Nietzsches neue „Hauptunterscheidung“ in „Hinsicht auf alle sthetischen Werthe“ „an der Ve r a r m u n g des Lebens Leidende“
„an der Ueberflle des Lebens Leidende“
„Verlangen nach Starrmachen, Verewigen, nach S e i n“
Schopenhauer, Wagner
Rubens, Hafis, Goethe, Homer
„Verlangen nach Zerstçrung, nach Wechsel, nach Neuem, nach Zukunft, nach W e r d e n“
Anarchisten
X
Die Kreuztabelle ist, weit ber die Frage nach der Romantik hinaus, Nietzsches strkster ordnender Zugriff auf die europische Kunst und Philosophie im Ganzen. Sie eignete sich, alle Knstler und Philosophen der europischen Geistesgeschichte einzuordnen. Nietzsche verzichtet darauf. Er beschrnkt sich auf wenige Identifikationen, und unter den wenigen ist nur ein einziger Philosoph, Schopenhauer. Nur sein und Wagners romantischer Pessimismus soll bestimmt werden. Nietzsche fhrt im Text schrittweise auf ihn hin. Er beginnt mit den Anarchisten. Verdankt sich das
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„Verlangen nach Zerstçrung, nach Wechsel, nach Neuem, nach Zukunft, nach W e r d e n“ der Not der „Ve r a r m u n g d e s L e b e n s“, kann es „der Hass des Missrathenen, Entbehrenden, Schlechtweggekommenen sein, der zerstçrt, zerstçren m u s s, weil ihn das Bestehende, ja alles Bestehn, alles Sein selbst empçrt und aufreizt – man sehe sich, um diesen Affekt zu verstehn, unsre Anarchisten aus der Nhe an.“ Man wird sich an die „lange Flle und Folge von Abbruch, Zerstçrung, Untergang, Umsturz“ erinnern, auf die Nietzsche zu Beginn in FW 343 vorbereitet hat, die „ungeheure Logik von Schrecken“, wenn der Glaube an „unsre ganze europische Moral“ vollends unglaubwrdig geworden ist. Dann wechselt Nietzsche in beiden Unterscheidungen die Seiten. Entspringt das „Verlangen nach Starrmachen, Verewigen, nach S e i n“ der Not einer berflle, kann es „aus Dankbarkeit und Liebe kommen: – eine Kunst dieses Ursprungs wird immer eine Apotheosenkunst sein, dithyrambisch vielleicht mit Rubens, selig-spçttisch mit Hafis, hell und gtig mit Goethe, und einen homerischen Licht- und Glorienschein ber alle Dinge breitend.“ Was Nietzsche sonst mit Schopenhauer ,Verklrung‘ des Daseins durch die Kunst genannt hat, gleichgltig, ob durch Malerei oder Dichtung, nennt er nun (und wiederum nur hier) „Apotheosenkunst“, ,Verklrung ins Gçttliche‘, und er macht fr sie, stets unter dem Vorzeichen des „vielleicht“, einige der beseligendsten Erlebnisse geltend, die er durch die Kunst erfahren hat. Ein vorbereitendes Notat gibt einen Einblick, wer hier zur Wahl stand: „H o m e r a l s A p o t h e o s e n - K n s t l e r; auch Rubens. Die Musik hat noch keinen gehabt.“ (N 1885/86, 2[114], KSA 12.119; W I 8, S. 112) Vielleicht als Erluterung zu Homer setzt Nietzsche hinzu: „Die Idealisirung des g r o ß e n F r e v l e r s (der Sinn fr seine G r ç ß e) ist griechisch“; gemeint sein kçnnten Achill auf der einen, Odysseus auf der andern Seite. Rubens hatte Nietzsche eine regelrechte Erlçsung gebracht. Am 13. Mai 1877 schrieb er an Malwida von Meysenbug (KGB II/5, Bf.615), er sei nach zahllosen „Leiden“ bei der Ausschiffung in Genua, eingeschlossen einen „grsslichen Kopfschmerz“ und Wutausbrche gegen Gepcktrger und Kutscher, schließlich in die Galerie des Palazzo Brignole gegangen: „und erstaunlich, der Anblick dieser Familienportrts war es, welcher mich ganz heraushob und begeisterte; ein Brignole zu Pferd, und in’s A u g e dieses gewaltigen Streitrosses der ganze Stolz dieser Familie gelegt – das war etwas fr mein deprimirtes Menschenthum! Ich achte persçnlich von Dyk und Rubens hçher als alle Maler der Welt. […] So kam ich wieder in’s Leben zurck“. Nach dem oben angefhrten Notat gehçrt „auch Raffael […] hierhin, nur daß er jene Falschheit hatte, den A n s c h e i n der christlichen Weltauslegung zu vergçttern. Er war dankbar fr das Dasein, wo es n i c h t spezifisch-christlich sich
16.5. Unterscheidung der alten durch die neue Unterscheidung
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zeigte.“715 Nietzsche schweigt im Notat und im Aphorismus von Claude Lorrain, dessen in feinsten Nuancen leuchtende Stimmungen ber sog. heroischen Idyllen, die den Blick meist sehnsuchtsvoll aufs offene Meer leiten, ihn in „Entzckungen“ versetzen und „in langes heftiges Weinen“ ausbrechen ließen: „Daß ich dies noch erleben durfte! Ich hatte nicht gewußt, daß die Erde dies zeige und meinte, die guten Maler htten es erfunden.“ (N 1879, 43[3], KSA 8.610) Noch zuletzt schrieb Nietzsche in EH GD 3 von einem Tag in Turin: „Ich habe nie einen solchen Herbst erlebt, auch nie Etwas der Art auf Erden fr mçglich gehalten, – ein Claude Lorrain ins Unendliche gedacht, jeder Tag von gleicher unbndiger Vollkommenheit.“716 Schien Lorrain Nietzsche zwar heidnisch, aber nicht heiter genug? Fr beides standen ihm stets Hafis und Goethe. Sie, „die Allerseltensten {und Best-Gerathenen}: und auch diese nur, nachdem sie selber und ihre Vorfahren ein langes vorbereitendes Leben auf dieses Ziel hin, und nicht einmal im Wissen um dieses Ziel, gelebt haben“, htten, notierte er sich, eine „Ahnung“ gegeben von „den hçchsten und erlauchtesten Menschen-Freuden, in denen das Dasein seine eigene Verklrung feiert“: von dem „berstrçmenden Reichthum vielfltigster Krfte“, der „{behendesten} freiesten Macht eines ,freien Wollens‘ und {herrschaftlichen} Verfgens“, einem „Geist“, der „ebenso in den Sinnen {heimisch und zu Hause} [ist], {wie} als die Sinne in dem Geiste {zu Hause und heimisch sind}“, von dem „feinen außerordentlichen Glck {und Spiel}“, das sich darin abspielt, von der „Vergçttlichung des Leibes“, durch die „bei solchen {vollkommenen und wohlgerathenen} Menschen der hçchsten Wohlgerathenheit […] zuletzt die allersinnlichsten Verrichtungen, der Beischlaf, das Essen, das Trinken, die Bewegung selber {sogar}, von einem Gleichniß-Rausche der hçchsten Geistigkeit verklrt {werden}“. Einer solchen „Vergottung {vergçttlichten Form} und Selbst-Rechtfertigung der Natur […], bis hinab zu der Freude gesunder Bauern und gesunder {Halbmensch-}Thiere: diese ganze {lange} ungeheure Licht- und Farbenleiter des Glcks“ htten die Griechen „nicht ohne die frommen {dankbaren} Schauder der {begeisterten} Dankbarkeit {dessen, der in ein Geheimniß eingeweiht ist, nicht ohne viele Vorsicht u fromme Schweigsamkeit}“ den „Gçtternamen: Dionysos“ gegeben (N 1885, 41[6], KSA 11.680 f.; W I 5, S. 28). In JGB 198 schrnkte Nietzsche ein: „selbst jene entgegenkommende und muthwillige Hingebung an die Affekte, wie sie Hafis und Goethe gelehrt haben, jenes khne Fallen-lassen der Zgel, jene geistig-leibliche licentia morum in dem Ausnahmefalle alter weiser Kuze und Trunkenbolde, bei denen es ,wenig Gefahr mehr hat‘“, kçnne noch ins „Kapitel ,Moral als Furchtsamkeit‘“ gehçren. Nach FW 370 wrdigte Nietzsche Hafis und Goethe aber wieder vorbehaltlos als „die Feinsten und Hellsten“, im 715 Vgl. Nietzsches Interpretation von Raffaels Transfiguration GT 4, KSA 1.39 f., und M 8 und dazu van Tongeren, Die Kunst der Transfiguration, seine Interpretationen der Heiligen Ccilie WB 9, KSA 1.490, und der Sixtinischen Madonna MA II, WS 73, und dazu Zittel, Art. Malerei/Bildende Kunst, 404. S. auch 20.1.1. 716 Vgl. Schulze, Nietzsche und Claude Lorrain, die auf die vorausgehende Begeisterung Goethes, Stifters und Burckhardts fr Lorrain aufmerksam macht; Shapiro, Archaeologies of Vision, 41 ff., der Deutungen von Gemlden Lorrains in Nietzsches Sinn versucht, und Stegmaier, Friedrich Nietzsche, Klassiker der Kunstphilosophie.
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Vergleich mit Wagner „wohlgerathenere, wohlgemuthere Sterbliche“, fr die „ihr labiles Gleichgewicht zwischen ,Thier und Engel‘“, „zwischen Keuschheit und Sinnlichkeit“, „ein Lebensreiz m e h r“ war (GM III 2). Fr die Musik htte sich wohl Mozart nennen lassen, der mit seinem scheinbar „heiteren, sonnigen, zrtlichen, leichtsinnigen Geist“ (MA II, WS 165) auf „das Zeitalter Ludwig des Vierzehnten und der Kunst Racine’s und Claude Lorrain’s in k l i n g e n d e m Golde“ antwortete (MA II, VM 171), dies freilich nur, wie Nietzsche bald bemerkte, fr melancholische Ohren: „Ich habe Mozart fr heiter gehalten – wie tief muß ich melancholisch sein!“ (N 1880, 7[182], KSA 9.354/4.2.). So blieb auch Mozart beiseite.
Zuletzt also kommt Nietzsche auf Schopenhauer und Wagner, um sie den „an der Ve r a r m u n g d e s L e b e n s Leidenden“ zuzuordnen, die „nach Starrmachen, Verewigen, nach S e i n“ verlangen. Bei ihnen verrate sich ,in seiner ausdrucksvollsten Form‘ der ,tyrannische Wille eines Schwerleidenden, Kmpfenden, Torturirten […], welcher das Persçnlichste, Einzelnste, Engste, die eigentliche Idiosynkrasie seines Leidens noch zum verbindlichen Gesetz und Zwang stempeln mçchte und der an allen Dingen gleichsam Rache nimmt, dadurch, dass er ihnen s e i n Bild, das Bild s e i n e r Tortur, aufdrckt, einzwngt, einbrennt.‘
Dies scheint wieder strker auf Schopenhauer gemnzt, was Nietzsche in GM besttigen wird. Schopenhauer wird dort zum Philosophen des asketischen Ideals, dem, ganz gegen Kant, „das Schçne aus einem ,Interesse‘ gefalle, sogar aus dem allerstrksten, allerpersçnlichsten Interesse: dem des Torturirten, der von seiner Tortur loskommt“ (GM III 6). Er habe „Feinde n ç t h i g“ gehabt, htte es „ohne Hegel, das Weib, die Sinnlichkeit und den ganzen Willen zum Dasein, Dableiben“, nicht ausgehalten, „sein Zorn war, ganz wie bei den antiken Cynikern, sein Labsal, seine Erholung, sein Entgelt, sein remedium gegen den Ekel, sein G l c k.“ Doch darin kçnnte er typisch sein fr Philosophen berhaupt, ihre „Philosophen-Gereiztheit und -Rancune gegen die Sinnlichkeit“ und ihre „Philosophen-Vor eingenommenheit und -Herzlichkeit in Bezug auf das ganze asketische Ideal“: „der Philosoph lchelt bei seinem Anblick einem Optimum der Bedingungen hçchster und khnster Geistigkeit zu, – er verneint n i c h t damit ,das Dasein‘, er bejaht darin vielmehr s e i n Dasein und n u r sein Dasein, und dies vielleicht bis zu dem Grade, dass ihm der frevelhafte Wunsch nicht fern bleibt: pereat mundus, fiat philosophia, fiat philosophus, f i a m! …“ (GM III 7; vgl. N 1888, 14[134], KSA 13.317 – 319 / W II 5, S. 78 f.) Philosophen finden ihr Glck schon in der Freiheit von Zwang, Stçrung, Lrm, von Geschften, Pflichten, Sorgen; Helligkeit im Kopf; Tanz, Sprung und Flug der Gedanken; eine gute Luft, dnn, klar, frei, trocken, wie die Luft auf Hçhen ist, bei der alles animalische
16.5. Unterscheidung der alten durch die neue Unterscheidung
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Sein geistiger wird und Flgel bekommt; Ruhe in allen Souterrains; alle Hunde hbsch an die Kette gelegt; kein Gebell von Feindschaft und zotteliger Rancune; keine Nagewrmer verletzten Ehrgeizes; bescheidene und unterthnige Eingeweide, fleissig wie Mhlwerke, aber fern; das Herz fremd, jenseits, zuknftig, posthum, – sie denken, Alles in Allem, bei dem asketischen Ideal an den heiteren Ascetismus eines vergçttlichten und flgge gewordnen Thiers, das ber dem Leben mehr schweift als ruht. (GM III 8)
Heraklit und Platon bescheinigt Nietzsche in FW 372 (17.2.4.) immerhin eine „berreiche und gefhrliche Gesundheit“; aber selbst ihnen scheint er nicht zugetraut zu haben, dass sie aus dem berreichtum des Lebens philosophiert htten. Platon, Aristoteles, Leibniz, Kant und Hegel haben im metaphysischen Gegensatz von Sein und Werden bergnge geschaffen und ihn schließlich berwunden, doch nicht in einem Akt dionysischer Befreiung, sondern um offenkundige Unstimmigkeiten im philosophischen Denken zu bereinigen; sie blieben, so sieht Nietzsche es, dem asketischen Ideal verpflichtet. Und auch hier nimmt er sich selbst nicht aus. Auch sein Philosophieren, das sich gegen alles stellte, was sonst geglaubt wurde, erlebte er als „Tortur“.717 Der „Schopenhauer’schen Willens-Philosophie“ und der „Wagner’schen Musik“, in denen Nietzsche das Leiden an der Verarmung des Lebens erraten hat, das auch allem bisherigen Philosophieren zugrunde liegen kçnnte, stehen in der Kreuztabelle nach der einen Unterscheidung die Anarchisten, nach der andern die Apotheosenknstler gegenber. Doch zum romantischen Pessimismus zumindest Wagners gehçrte sicher auch das „Verlangen nach Zerstçrung, nach Wechsel, nach Neuem, nach Zukunft, nach W e r d e n“. Wagner, der große Zweideutige fr Nietzsche, war zu Zeiten auch Anarchist,718 und man htte wohl auch zumindest sein Siegfried-Idyll unter die Apotheosenkunst rechnen kçnnen. So erscheinen die Zuordnungen gewollt, von Nietzsche gewollt. Aber das gilt nach seiner Philosophie fr alle Zuordnungen. Wenn Ordnungen auf Unterschei717 N 1886/87, 7[8], KSA 12.291; vgl. N 1887, 9[177], KSA 12.440 / W II 1, S. 11, u. N 1887, 10[118], KSA 12.524 / W II 2, S. 58. Nur seinen „Typus Jesus“ nahm Nietzsche zuletzt von der Torturierung aus (N 1887/88, 11[368], KSA 13.164 / W II 3, S. 28). 718 Zum Anarchismus zu Nietzsches Zeit und den Auseinandersetzungen um ihn im Deutschen Reichstag vgl. Sautet, Introduction, 54. Nietzsche schrieb, wie viele seiner Zeitgenossen, auch dem „Socialismus“ einen „{latenten Anarchismus}“ zu (N 1885, 37[11], KSA 11.586 / W I 6, S. 51; vgl. 11.1.1.). Aber er setzte auch provokativ den Assassinen, dem schiitischen Geheimbund, der im 13. Jahrhundert systematisch hohe sunnitische Wrdentrger und christliche Regenten ermordete, ein Denkmal – als einem „Freigeister-Orden par excellence“ (GM III 24).
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dungen beruhen, die durch Entscheidungen ins Spiel kommen, sind sie zuletzt Scheidungen, fr die es irgendwann keine Grnde mehr gibt – außer den Nçten, gerade sie vorzunehmen. Nietzsche demonstriert das in seiner Neufassung von FW 370 fr NW (6.424 – 427). Er spitzt dort den „Hunger“ im Leben auf einen „Hass g e g e n das Leben“ zu, streicht den ganzen Passus zum philosophischen Gegensatz von Sein und Werden, ersetzt ihn durch einen neuen kurzen Abschnitt zu „Artisten jeder Art“ und stellt lediglich Goethe auf der Seite des „berflusses“, der „schçpferisch“ wird, Flaubert auf der Seite des „Hasses“ gegenber: Flaubert, eine Neuausgabe Pascal’s, aber als Artist, mit dem Instinkt-Urtheil aus dem Grunde: ,Flaubert est toujours h a s s a b l e, l’homme n’est rien, l ’ o e u v r e e s t t o u t‘ … Er torturirte sich, wenn er dichtete, ganz wie Pascal sich torturirte, wenn er dachte – sie empfanden beide unegoistisch … ,Selbstlosigkeit‘ – das dcadence-Princip, der Wille zum Ende in der Kunst sowohl wie in der Moral. (NW Antipoden)
Das „Verlangen nach Zerstçrung, nach Wechsel, nach Neuem, nach Zukunft, nach W e r d e n“ erscheint nur noch als das Leiden derer, „welche eine dionysische Kunst wollen und ebenso eine tragische Einsicht und Aussicht auf das Leben“, und Nietzsche gibt dafr kein Beispiel mehr, es sei denn sich selbst als „Antipoden“ zu Wagner (NW Antipoden).
16.6. Ein freies Feld fr eine knftige Kunst und Philosophie („d i o n y s i s c h e r Pessimismus“) Das vierte Feld der Kreuztabelle in FW 370 bleibt frei. Es zeigt an, was noch denkbar wre und noch aussteht, ein kommender „d i o n y s i s c h e r Pessimismus“. Dieser dionysische Pessimismus wre jedoch eine Kunst und Philosophie, die sich nicht logisch einordnen, nicht auf ein Feld einer Kreuztabelle beschrnken ließe. Als dionysischer kann er nicht festgelegt, von anderem abgegrenzt werden; denn er drfte nichts ausschließen, auch nicht seine Gegenstze. Er wre eine Kunst und Philosophie, die Sein und Werden, Verewigung und Zerstçrung, Zeitlosigkeit und Zeit, Logisches und sthetisches bejahen und also zugleich aus unterschiedlichen Bedrfnissen und Nçten kommen kçnnte, eine Kunst und Philosophie, die sich nicht festlegt, sondern in den wechselnden Nçten des Lebens dieses Leben auf wechselnde Weise auslegen kann. Er wre eine Kunst und Philosophie, die souvern genug geworden ist, Unterscheidungen nur als Unterscheidungen zu verstehen, die man je nach seinen Bedrfnissen und
16.6. Ein freies Feld fr eine knftige Kunst und Philosophie
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Nçten durch Unterscheidungen weiter unterscheiden kann – so wie es Nietzsche mit FW 370 im Kontext seines Werkes vorgefhrt hat. Mit FW 370, dem Aphorismus, den Nietzsche im V. Buch der FW dem dionysischen Philosophieren widmet, gibt er selbst ein Beispiel eben dieses dionysischen Philosophierens.719
Nietzsches schriftstellerische Methoden: Schluss-Parenthesen zur eigenen Stellung in der Philosophie Das vierte, freie Feld fhrt Nietzsche denn auch gar nicht eigentlich an. Es erscheint nur in einer Schluss-Parenthese: (Dass es noch einen ganz anderen Pessimismus geben k ç n n e, einen klassischen – diese Ahnung und Vision gehçrt zu mir, als unablçslich von mir, als mein proprium und ipsissimum: nur dass meinen Ohren das Wort ,klassisch‘ widersteht, es ist bei weitem zu abgebraucht, zu rund und unkenntlich geworden. Ich nenne jenen Pessimismus der Zukunft – denn er kommt! ich sehe ihn kommen! – den d i o n y s i s c h e n Pessimismus.)
Den eigentlichen Text schließt Nietzsche damit, der romantische Pessimismus Schopenhauers und Wagners sei „das letzte g r o s s e Ereigniss im Schicksal unsrer Cultur“. War es ein großes Ereignis in dem Sinn, den Nietzsche in FW 343 eingefhrt hat, ein Ereignis, das, wenn berhaupt, nur verzçgert und von wenigen wahrgenommen wird und dessen Beispiel der ,Tod Gottes‘ war (4.4.), so ist FW 370 auch eine große Wrdigung Schopenhauers und Wagners: ,groß‘ auch hier im dialektischen Sinn (6.1.2.), nach dem sie ihr Gegenteil, die Rangabstufung, einschließt. Ihr Rang sinkt im Blick auf das, was nun „kommen“ kçnnte, was sich vielleicht schon ereignet hat und nur, wie das Erlçschen von Sternen, noch nicht wahrgenommen wurde, eine „neue schwer zu beschreibende Art von Licht, Glck, Erleichterung, Erheiterung, Ermuthigung, Morgenrçthe …“ Der kommende dionysische Pessimismus ist Nietzsches Antwort darauf, „dass der ,alte Gott todt‘ ist“ (FW 343/4.5.). Nach „das letzte g r o s s e Ereigniss im Schicksal unsrer Cultur“ htte es Nietzsche bei Auslassungspunkten oder Gedankenstrichen (NSM 6) bewenden lassen und dem Leser selbst die Schlussfolgerung auf das vierte freie Feld seiner Kreuztabelle berlassen kçnnen. Aber auch seine SchlussParenthesen haben Methode. Parenthesen innerhalb von Texten unterbrechen diese Texte, fgen etwas in sie ein, was sich nicht einfgt. Sie 719 Zu Nietzsches Versuch, die Kreuztabelle zur Ordnung seiner physiologisch fundierten sthetik einzusetzen, vgl. 17.1.1.
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verweisen inmitten eines Kontextes auf einen anderen. Sie machen, indem sie den Kontext stçren, auf ihn aufmerksam; nach einer Parenthese muss man wieder in ihn zurckfinden. Nietzsche fgt in die meisten Aphorismen des V. Buchs der FW mehr oder weniger umfangreiche Parenthesen ein, jedoch nicht zu Beginn, in FW 343 – 344, und nicht am Ende, in FW 378 – 383, wo er die Kontexte des Buches erçffnet und beschließt. An sechs der mittleren Aphorismen fgt er meist umfangreichere Schluss-Parenthesen an. Mit ihnen unterbricht er den Kontext nicht, um ihn dann wieder aufzunehmen, sondern erweitert ihn, um ihn in einer weiteren Perspektive, in einem neuen Horizont sehen zu lassen. Sie lassen das Gesagte plçtzlich anders dastehen: • In FW 348 („Vo n d e r H e r k u n f t d e r G e l e h r t e n“; 5.2.3.) wird mit der Schluss-Parenthese der Gesichtspunkt der Herkunft der Gelehrten plçtzlich verlassen; Nietzsche dankt den Juden fr ihre klareren logischen Ordnungen, nutzt das Herkunftsthema als Anlass zur Ehrenrettung der Juden gegen die Antisemiten. • In FW 350 („Z u E h r e n d e r h o m i n e s r e l i g i o s i“; 8.1.) bekrftigt Nietzsche mit der Schluss-Parenthese die vorausgehende Argumentation durch Schimpfworte („dem Schaf, dem Esel, der Gans …“). Er unterstreicht so die eigenen Typisierungen und warnt, ihn hier beim Wort zu nehmen. • In FW 365 („D e r E i n s i e d l e r s p r i c h t n o c h e i n m a l“; 15.1.2.) lsst Nietzsche in der Schluss-Parenthese ein satyrhaftes ,leibhaftiges‘ Geist-Gespenst vor dem Autor erscheinen, einen „p o s t h u m e n Menschen“, als den sich der Autor zuvor selbst angekndigt hat. So steht er sich selbst gespenstisch gegenber, ist da und nicht da und wird sich, ohne das wirklich behaupten zu kçnnen, als Autor eben des Buches, in dem er auftritt, umso mehr bemerkbar machen. • In FW 366 („A n g e s i c h t s e i n e s g e l e h r t e n B u c h e s“; 5.4.2.) schließt Nietzsche die Schluss-Parenthese, die lngste von allen im V. Buch der FW, ihrerseits mit Auslassungspunkten. Er gibt eine berraschende Ehrenrettung des Gelehrten und seiner „unbedingten P r o b i t t von Zucht und Vorschulung“ gegenber dem Genie, auch dem eigenen, ab. • In FW 368 („D e r C y n i k e r r e d e t“; 17.1.), dem Aphorismus, in dem Nietzsche physiologische Einwnde gegen Wagners Musik vorbringt, die nicht gesund sei, lsst er in der Schluss-Parenthese einen Wagnerianer gegen ihn einwenden, er sei „eigentlich nur nicht gesund
Schluss-Parenthesen
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genug fr unsere Musik“; er kehrt die Perspektive ironisch um und lsst offen, wer hier befangen ist, Nietzsche oder (der) Wagner(ianer). Alle Schluss-Parenthesen verweisen auf Nietzsches eigene Stellung in der Philosophie, die er auf diese Weise zugleich sichtbar in den Kontext einbringt und aus ihr heraushlt. Die Schluss-Parenthese von FW 370, die abschließende im V. Buch der FW, ist, wenn man so will, die SchlussParenthese par excellence. Sie vereinigt die Pointen der vorigen, bringt eine Ehrenrettung (des eigenen Philosophierens gegenber dem Schopenhauers), kndigt einen Typus des Philosophierens an, der sich als solcher nicht festlegen lsst und der Sache nach knftig, posthum bleiben muss, und schafft auf gelehrte Weise (mit Hilfe einer Kreuztabelle) Raum fr eine neue Genialitt des Philosophierens, Nietzsches eigene Genialitt eben im souvernen Wechsel von Perspektiven. Auch die Schluss-Parenthesen des V. Buchs der FW kçnnten so einen eigenen strukturierten Kontext in ihm bilden, der auf die Schluss-Parenthese von FW 370 hinausfhrt. Ob Nietzsche ihn bewusst so geschaffen hat, kann offenbleiben. Auch die Schluss-Parenthese von FW 370 erfllt zunchst die Erwartungen an eine Parenthese. Sie zeigt eine weitere denkbare Mçglichkeit an, die nicht mehr weiter ausgefhrt wird. Doch, nach einem Gedankenstrich, steigt plçtzlich das Pathos in den Begriffen („Ahnung und Vision“) und der Rhetorik („gehçrt zu mir, als unablçslich von mir, als mein proprium und ipsissimum“), dann, nach einem berraschendes ankndigenden Doppelpunkt, sinkt das Pathos wieder in der nchternen Auskunft, dass der klassische Begriff des Klassischen fr ihn, Nietzsche, nicht mehr brauchbar, weil zu abgenutzt sei. Damit kçnnte die Parenthese wiederum enden. Wrde Nietzsche Fußnoten setzen, htte sie bis dahin, wenn auch ohne die pathetische Steigerung, eine Fußnote bilden kçnnen. Doch Nietzsche fgt noch einen lapidaren und darin noch einmal hochpathetischen Satz, ebenso in seinem Rhythmus wie in seinem Gewicht, hinzu. Jedes seiner Worte ist im vorausgegangenen Text vorbereitet und fllt nun mit schwerem Nachdruck („Ich nenne jenen Pessimismus der Zukunft“), die Parenthese wird ihrerseits durch eine Parenthese in Gedankenstrichen unterbrochen, sie potenziert sich („– denn er kommt! ich sehe ihn kommen! –“), um dann, auf dem so erreichten Gipfel des Pathos, alles zuvor Ausgefhrte in ein Schlagwort, eine Formel, einen Begriff zu vereinen, auf den der ganze Aphorismus hingedrngt hat: „den d i o n y s i s c h e n Pessimismus“, Nietzsches dionysischen Pessimismus.
17. Hçren der Musik des Lebens In den verbleibenden Aphorismen des V. Buchs der FW gibt Nietzsche seiner „Vision“ eines dionysischen Philosophierens Kontur, nicht in einem einzigen großen Entwurf, sondern, entsprechend dem Duktus der bisherigen Aphorismen, in sorgfltig bemessenen, stets kritisch abgesicherten Schritten. Er sucht Wege, die Moral-, Sprach- und Bewusstseins-Perspektive aufzubrechen, die „Oberflchen- und Zeichenwelt“ zu durchstoßen, die sich nach FW 354 (9.5.–6.) zur allgemeinen Verstndigung in Nçten des Lebens gebildet hat und auch dort, wo die Nçte berstanden sind, noch prgend bleibt, um die Freiheiten einer knftigen frçhlichen Wissenschaft zu erkunden und im Sinn von FW 357 (12.3.) zu ,erringen‘. Nietzsche erwartet sie zunchst von einer Erweiterung der sthetischen Sensibilitt des Philosophierens, doch nicht von der Dichtung und der Bildenden Kunst. Denn Dichtung und Bildende Kunst sind auf Sprache, Zeichen und Bilder angewiesen, die stehenbleiben und so unvermeidlich ein ruhiges Sein vorspiegeln. Dagegen kann man mit der Musik, deren Medium die Zeit ist, eher der Moral-, Sprach- und Bewusstseins-Perspektive entkommen. Nietzsche entgrenzt dazu ihren Begriff ber die von Musikern geschaffene Musik hinaus zu einer „Musik des Lebens“, die von den alten Philosophen geleugnet und schließlich vergessen worden sei und fr die ein zuknftiger dionysischer Pessimismus die Ohren wieder çffnen kçnnte. Nachdem er das Dionysische ehemals in der ,Musik‘ der alten Griechen gefunden und es in Wagners Musik wiederzuentdecken geglaubt hatte, sucht Nietzsche es nun neu in den Spielrumen der frçhlichen Wissenschaft. Das Thema Musik setzt im V. Buch der FW dort ein, wo das Thema Lehre / Gelehrter / Gelehrsamkeit zu Ende kommt, in FW 366: „Unsre ersten Werthfragen, in Bezug auf Buch, Mensch und Musik, lauten: ,kann er gehen? mehr noch, kann er tanzen?‘“ Es beherrscht, grob gemessen, die zweite Hlfte des V. Buchs; in den beiden Hlften stehen einander also Lehre und Musik gegenber. Das Thema Musik wird prludiert vom Thema des Tanzes, der leiblichen Bewegung nach Musik (FW 347/ 7.2.3.2.), das sich dann seinerseits tnzerisch durch die zweite Hlfte des V. Buchs der FW bewegt. Eigenstndig tritt das Thema Musik zuerst in der nigmatischen Formel von der „Musik des Vergessens“ auf (FW 367/
17.1. Aufbrechen der Moral-, Sprach- und Bewusstseins-Perspektive. Nr. 368
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15.2.1.), die, wie sich dann zeigt, Teil der „Musik des Lebens“ ist. Unmittelbar danach, in FW 368 (17.1.), stellt sich Nietzsche noch einmal der Wagnerschen Musik, nun so kalt wie mçglich, als „C y n i k e r“. Er hat Wagner, ohne ihn zunchst zu nennen, inzwischen als notorischen Schauspieler bloßgestellt (FW 361/11.2.1.), seine auf das Drama ausgerichtete Musik als eine „Kunst vor Zeugen“ (FW 367), die weder die Welt noch sich selbst vergessen kann; so bleibt sie in die Oberflchen- und Zeichenwelt der Moral-, Sprach- und Bewusstseins-Perspektive eingebunden und teilt dies ihrem Publikum mit: sie macht es zu „Wagnerianern“. Erst hier, im Zusammenhang mit den Wagnerianern, werden Wagner und seine Musik im V. Buch der FW ausdrcklich genannt. Unmittelbar auf seine Erçffnung eines knftigen dionysischen Philosophierens in FW 370 hin verweigert Nietzsche ausdrcklich eine Mitteilung fr alle („es bleibt Das, was wir nicht theilen, nicht mittheilen wollen“; FW 371/15.3.1.). In FW 372 (17.2.) macht er den zweiten Schritt hin zu einem dionysischen Philosophieren: nun von der Philosophie selbst aus. Er entwickelt auch hier keine positive, jedermann gleich zugngliche Lehre. Der Weg bleibt die Selbstkritik der Philosophie, die Kritik eben ihrer Festlegung auf ,Positionen‘ in ,-ismen‘, sei es einem Idealismus oder einem Sensualismus. Solche Positionen verschließen Philosophen die Ohren fr eben das, was ihnen zu hçren aufgegeben sein kçnnte, die „Musik des Lebens“. Nach FW 373 (13.2.4.) entzieht sie sich einer „,wissenschaftlichen‘Abschtzung“. Eben darum, was an der Musik im gewçhnlichen Sinn und an der Musik des Lebens „eigentlich“ Musik ist und sich darin dem Begreifen und seinen Idealismen entzieht, geht es Nietzsches dionysischem Philosophieren. Es wre, als Musik des Lebens, das, was das Begreifen erst ermçglicht.
17.1. Aufbrechen der Moral-, Sprach- und Bewusstseins-Perspektive Nr. 368: D e r C y n i k e r r e d e t . 17.1.1. „Meine ,Tathsache‘“: Physiologische Einwnde gegen die Musik Wagners In FW 368 spricht Nietzsche von dem, worin Wagner wirklich groß war, von seiner Musik, oder scheint doch davon zu sprechen: auch dieser Aphorismus hat eine raffinierte schriftstellerische Form. Nietzsche erhebt „Einwnde gegen die Musik Wagner’s“, jedoch keine philosophischen,
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17. Hçren der Musik des Lebens
auch keine sthetischen, sondern „physiologische Einwnde“, er beurteilt sie nach der fr ihn nun leitenden Unterscheidung von Krankheit und Gesundheit. Nach seiner Heuristik der Not wird ber alles sthetische und Philosophische durch physiologische Bedrfnisse und Nçte vorentschieden. Das bedeutet, dass bei unterschiedlichen Bedrfnissen sthetisch und philosophisch anders geurteilt wird, und darum bleiben solche Urteile auch notorisch umstritten. Im Fall der Musik hngen sie von leiblichen Resonanzen ab. Leibliche Erfahrungen sind immer eigene, nicht ohne weiteres mit andern zu teilen und ihnen mitzuteilen, also kaum zu verallgemeinern, und dennoch „,Thatsachen‘“: sie sind unleugbar, doch nur fr die eigene Empfindung, keine Tatsachen einer allgemeingltigen positiven Wissenschaft und darum ,Tatsachen‘ in Gnsefßchen. Nietzsche spricht konsequent (wie auch in FW 370/16.1.) allein von sich („Meine Einwnde“, „Meine ,Thatsache‘“, „mein F u s s“ usw.). Leibliche Reaktionen auf Musik sind nicht nur schwer zu beschreiben, manchmal nicht einmal zu orten. Beim „Fuss“ und seinem „g u t e n Gehen, Schreiten, Springen, Tanzen“ zu Musik mag es noch angehen, doch bei Magen, Herz, Kreislauf usw. stellt Nietzsche nur noch vorsichtige Fragen („Protestirt aber nicht auch mein Magen? mein Herz? mein Blutlauf ? mein Eingeweide? Werde ich nicht unvermerkt heiser dabei?“). Hier ,hçrt‘ man, wie man sagt, auf seinen Leib, ohne Erwartung, etwas Genaues feststellen zu kçnnen. Nietzsche hçrt auf Resonanzen von Wagners Musik in seinem Leib, darauf, ob sie ihn hemmt oder animiert. Zeichen dafr sind Lust oder Unlust, im Fall der Lust die „E r l e i c h t e r u n g: wie als ob alle animalischen Funktionen durch leichte khne ausgelassne selbstgewisse Rhythmen beschleunigt werden sollten“. Erleichterungen, die aus dem Leiblichen kommen, sind nach FW 370 Bedingungen der „Apotheosenkunst“, fr die Nietzsche dort kein Beispiel hat. Mit seinen „physiologischen Einwnden“720 unterluft Nietzsche auch seine eigene frhere Musiksthetik, nach der er, im Anschluss vor allem an Eduard
720 Vgl. die Schlusswendung in der Vorstufe zu FW 368 in N 1886/87, 7[7], KSA 12.285: „Was ich nçthig habe, ist Musik, bei der man das Leiden vergißt; bei der das animalische Leben sich vergçttlicht fhlt und triumphirt; bei der man tanzen mçchte; bei der man vielleicht, cynisch gefragt, gut verdaut? Die Erleichterung des Lebens durch l e i c h t e khne selbstgewisse ausgelassene Rhythmen, die Vergoldung des Lebens durch g o l d e n e zrtliche gtige Harmonien – das nehme ich mir aus der ganzen Musik heraus. Im Grunde sind mir wenige Takte genug. / Wagner vom Anfang bis zum Ende ist mir unmçglich geworden, weil er nicht
17.1. Aufbrechen der Moral-, Sprach- und Bewusstseins-Perspektive. Nr. 368
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Hanslick, Musik formal in ihren eigenen Strukturen beschrieben sehen wollte.721 Er verfolgte die Einwnde weiter in großen, stark bearbeiteten Notaten von 1887722 und probierte, wie es scheint, sie in Anlehnung an die Kreuztabelle aus FW 370 (16.5.) logisch zu ordnen. „Was uns instinktiv w i d e r s t e h t, aesthetisch,“ schreibt er dort, „ist aus allerlngster Erfahrung dem M als schdlich, gefhrlich, mißtrauen-verdienend bewiesen“. Auch bei sthetischen Urteilen handle es sich um „E r h a l t u n g s w e r t h e“, „E r h a l t u n g s b e d i n g u n g e n.“ Sie seien instinktiv, soweit sie dem Verstand zuvorkommen, und schienen deshalb schon hinreichend, weil sie dem Gegenstand „noch eine ganze Flle anderer u. anderswoher stammender Vollkommenheiten“ andichten, ihn mit ihnen „ b e r h u f e n“ und mit einem „Z a u b e r“ umgeben. Ihre „interpretirende, hinzugebende, ausfllende dichtende Kraft“ kçnne man nicht „aushngen“, und so hindere sie, „o b j e k t i v zu bleiben“. Zur Differenzierung greift Nietzsche in diesen Notaten versuchsweise noch einmal seine Hauptunterscheidung nach der Verarmung und der berflle des Lebens (FW 370/16.3.) auf. Danach werden die Bedrfnisse und Nçte, weil sie beim „Heerdenmenschen“ und beim „Ausnahme{u ber-}menschen“ andere sind, auch „bei anderen Dingen das WohlWerthgefhl des Schçnen haben“. Die „Schwachen“, „{Delikaten}“, werden eher den „Geschmack am Hbschen u Zierlichen“ haben, die Starken „{hart genug}“ sein, „{um das Leiden als L u s t zu empfinden}“, und eher die „Vorliebe fr {fragwrdige} u furchtbare Dinge“ haben. Doch die rmer Erlebenden werden sich auch diese Dinge auf ihre Weise „{schmackhaft machen}“, etwa die Tragçdie als „,Triumph der sittl. Weltordnung‘“, und so wird sich in der sthetik ein „knstlerischer {Knstler-}Pessimismus“ als „Gegentheilstck {zum} moralisch-religiçsen Pessimismus“ abzeichnen. Daraus ergibt sich fr die physiologisch begrndete sthetik folgende Kreuztabelle: • Die Schwachen, die nach Sein verlangen, wollen „{eine Lçsung, wenigstens eine Hoffnung auf Lçsung …} Die Leidenden, Verzweifelten, An-sich-Mißtrauischen“, „{die Kranken mit Einem Wort, haben zu allen Zeiten die entzckenden Visionen nçthig gehabt, um es auszuhalten (der Begriff ,Seligkeit‘ ist dieses Ursprungs)}“. Zu diesem moralisch-religiçsen Pessimismus gehçrt nach FW 370 Wagners Musik. • Die Schwachen, die nach Werden verlangen, „die Knstler {der dcadence}, welche im Grunde nihilistisch zum Leben stehen, flchten in die Schçnheit der Form … in die ausgewhlten Dinge wo die Natur vollkommen ward, wo sie indifferent groß u. schçn ist… / – die ,Liebe zum Schçnen‘ ist {kann somit} g e h e n kann, geschweige denn tanzen. / Aber das sind physiologische Urtheile, keine aesthetische: nur – habe ich keine Aesthetik mehr!“ 721 Vgl. Dufour, L’esthtique formaliste de Nietzsche; Landerer / Schuster, Nietzsches Vorstudien zur Geburt der Tragçdie in ihrer Beziehung zur Musiksthetik Eduard Hanslicks. Hanslicks Einfluss auf Nietzsche bleibt jedoch strittig. Vgl. Prange, Nietzsche, Art, and Aesthetics, 495, Fn. 12. 722 N 1887, 10[167] u. [168], KSA 12.554 – 557 / W II 2, S. 25 – 28. Beide Notate sind nachtrglich „{Aesthetica}“ berschrieben und gehçren sichtlich zusammen. Eilon, Nietzsche’s Principle of Abundance, entfaltet Nietzsches „Hauptunterscheidung“ im Blick auf seine sthetik, geht auf die beiden Notate jedoch nicht ein.
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17. Hçren der Musik des Lebens
etwas Anderes als das Vermçgen {sein}, ein Schçnes zu sehen, {das Schçne} zu schaffen: sie kann {gerade} der Ausdruck von Unvermçgen dazu sein“. Hierher gehçrt nach FW 370 der Anarchismus, an dem nach Nietzsche Wagner auch musikalisch teilnahm. • Die Starken, die nach Sein verlangen, „die berwltigenden Knstler, welche einen Consonanz-Ton aus jedem Conflikte erklingen lassen, sind die, welche ihre eigene Mchtigkeit u. Selbsterlçsung noch den Dingen zu Gute kommen lassen: sie sprechen ihre innerste Erfahrung in der Symbolik jedes Kunstwerks aus, – ihr Schaffen ist Dankbarkeit fr ihr Sein.“ Nach FW 370 ist dies die Apotheosenkunst, bisher ohne Beispiel in der Musik. Nietzsche wollte hier gerne, nach einer Andeutung in WA, Zweite Nachschrift, Heinrich Kçselitz, seinen ,Peter Gast‘, sehen („Ich kenne nur Einen Musiker, der heute noch im Stande ist, eine Ouvertre aus ganzem Holze zu schnitzen: und Niemand kennt ihn …“). • Der Starke schließlich, der nach Werden verlangt, der „tragische Knstler“, wird seine „Tiefe“ darin haben, „daß sein aesthet. Instinkt die ferneren Folgen bersieht, daß er nicht kurzfristig beim Nchsten stehen bleibt, daß er die konomie im Großen bejaht, welche das Furchtbare, Bçse, Fragwrdige {nicht nur rechtfertigt und nicht nur …} rechtfertigt“. Dies wre der dionysische Knstler-Pessimismus, fr den Nietzsche in der Musik noch weniger ein Beispiel sieht. Als er mit WA beschftigt ist, berprft er seine „Einwnde gegen die Musik Wagner’s“ noch einmal. Er bleibt dabei, die „Principien und Praktiken Wagner’s“ und ihre „schdliche Wirkung“ „auf physiologische Nothstnde“, auf „tiefe organische Gebrechlichkeit“ zurckzufhren („unregelmßiges Athmen, Stçrung des Blutumlaufs, extreme Irritabilitt mit plçtzlichem Coma“), und spitzt seine These nun scharf zu, „das Fundament aller Aesthetik“ liege darin, „daß die aesthetischen Werthe auf biologischen Werthen ruhen, daß die aesthetischen Wohlgefhle biologische Wohlgefhle sind“.723 In Briefen an den Musiker und Musikschriftsteller Carl Fuchs aus derselben Zeit macht er die leibliche Resonanz der Musik an der Rhythmik fest und verweist auf seine frhe Unterscheidung von antiker kultivierter „Zeit-Rhythmik“ und moderner und „b a r b a r i s c h e r“ „AffektRhythmik“: U n s e r Rhythmus ist ein A u s d r u c k s m i t t e l d e s A f f e k t s: der antike Rhythmus, der Z e i t - R h y t h m u s, hat umgekehrt die Aufgabe, den Affekt zu beherrschen und bis zu einem gewissen Grade zu eliminiren. Der Vortrag des antiken Rhapsoden war extrem leidenschaftlich (man findet im Jon Platon’s eine starke Schilderung der Gebrden, der Thrnen u.s.w.): das Z e i t - G l e i c h m a ß wurde wie eine Art O e l auf den Wogen empfunden. Rhythmus im antiken Verstande ist, m o r a l i s c h u n d s t h e t i s c h, der Z g e l, der der Leidenschaft angelegt wird. / In summa: unsre Art Rhythmik gehçrt in die Pathologie, die antike zum ,E t h o s‘ …
723 N 1888, 16[75], KSA 13.510 f.; vgl. schon N 1887, 10[167], KSA 12.544 / W II 2, S. 27; spter WA, Epilog.
17.1. Aufbrechen der Moral-, Sprach- und Bewusstseins-Perspektive. Nr. 368
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Die „P r a x i s Wagner’s“ sei ganz auf die Affekterregung ausgerichtet, auf eine „rhythmische berlebendigkeit des Kleinsten“, in der „die weiten, langen, großen Formen“ verlorengingen: „es ist ein t y p i s c h e s V e r f a l l s - S y m p t o m, ein Beweis dafr, daß sich das Leben aus dem Ganzen z u r c k g e z o g e n hat und im Kleinsten l u x u r i r t.“724 Dies war nicht das Dionysische, das Nietzsche sich von Wagners Musik erhofft hatte; ihr fehlte fr seine Ohren das Apollinische, das dem Dionysischen Ordnung, Klarheit und Ganzheit gibt und es so erst erfahrbar macht.725
17.1.1.1. Nietzsches çffentliche Auseinandersetzung mit Wagner: Angriff auf die „Schauspieler-Sinnenflligkeit“ von Wagners Musik. – FW 368 ist durch drei Trennungsstriche in vier Abschnitte geteilt, dazu kommt ein fnfter Abschnitt in Gestalt einer Schluss-Parenthese (NSM 16). Nach dem physiologischen Widerspruch des Bewegungsgefhls gegen Wagners Musik in Abschnitt [1] und dem Versuch, auf die „Eingeweide“ zu hçren, in Abschnitt [2] reflektiert Nietzsche in Abschnitt [3] philosophisch ber die leiblichen Resonanzen und begibt sich damit in die Moral-, Sprachund Bewusstseins-Perspektive gegenber seinen eigenen leiblichen Erfahrungen: „Und so frage ich mich: was w i l l eigentlich mein ganzer Leib von der Musik berhaupt?“ Es bleibt auch hier bei Vermutungen und Erwartungen; Nietzsche sagt zwei Mal „sollte“, es geht mehr um Wnsche als um physiologische ,Tatsachen‘. Was er will, ist, seine „Schwermuth“ vergessen, „in den Verstecken und Abgrnden der V o l l k o m m e n h e i t ausruhn: dazu brauche ich Musik.“ Doch er bekommt von Wagner stattdessen Schauspieler-Musik, die ihn noch schwermtiger macht. Nach dem Schauspielerischen an ihr (FW 361/11.1.) greift Nietzsche nun ihre „Theorie“ an, Wagners Programmschrift fr sein ,Musikdrama‘ Oper und Drama. Wagner will dort den „Irrthum in dem Kunstgenre der Oper“ aufklren, „daß ein Mittel des Ausdruckes (die Musik) zum Zwecke, der Zweck des Ausdruckes (das Drama) aber zum Mittel gemacht war“,726 mit Nietzsche positiv formuliert „,das Drama ist der Zweck, die 724 Brief an Carl Fuchs, 26. August 1888, KGB III/5. , Bf.1096; Brief an Carl Fuchs, vermutlich Ende August 1888, KGB III/5, Bf.1097. Vgl. dazu und zu Nietzsches mehr postulierter als ausgearbeiteter, im 19. Jahrhundert nicht ungewçhnlicher Physiologie der Musik im Ganzen und ihrer Fortfhrung in WA Dufour, La physiologie de la musique de Nietzsche. FW 368 bildet in dessen Ausfhrungen ein Schwergewicht. Zu Nietzsches frher Unterscheidung von Zeit- und AffektRhythmik vgl. Dufour, La physiologie de la musique de Nietzsche, 227 f., und ausfhrlich Gnther, Rhythmus beim frhen Nietzsche. 725 Vgl. Schfer, Die Wandlungen des Dionysischen bei Nietzsche, 188 f. 726 Wagner, Oper und Drama, 231.
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17. Hçren der Musik des Lebens
Musik ist immer nur dessen Mittel‘“. Ist das, so Nietzsche weiter, die „Theorie“ Wagners, so war „seine P r a x i s […] von Anfang bis zu Ende, ,die Attitde ist der Zweck, das Drama, auch die Musik ist immer nur i h r Mittel‘“, das „Mittel zur Verdeutlichung, Verstrkung, Verinnerlichung der dramatischen Gebrde und Schauspieler-Sinnenflligkeit“. Eine Diskrepanz von Theorie und Praxis wird Nietzsche auch in FW 372 geltend machen (17.2.1.) und die Differenz dort durch den Begriff der „Praktik“ unterlaufen, der das Hçren der „Musik des Lebens“ denken lsst. Wagners Praktik leiteten, nach Nietzsche, „die commandirenden Instinkte eines grossen Schauspielers, in Allem und Jedem“. Auf Wagners Theorie selbst geht er mit keinem Wort nher ein, sei es, weil er sie einmal selbst geteilt und sich fr GT anverwandelt hatte, sei es, weil er sie der Auseinandersetzung nicht mehr fr wert befindet. Wagners „Attitde“ dagegen wird er sich in WA noch einmal vornehmen: WA im Ganzen kann als Kommentar zu FW 368 verstanden werden. 17.1.1.2. Nietzsches zurckgehaltene Auseinandersetzung mit Wagner: berwltigung durch das Parsifal-Vorspiel. – Aufschlussreich ist hier, was er ebenso in FW 368 wie in WA dem Publikum außerdem vorenthlt: seine berwltigung durch das Parsifal-Vorspiel lange nach seinem Bruch mit Wagner. Sein entschiedenes Urteil ber Wagners Musik und insbesondere seinen Parsifal scheint dem Parsifal-Vorspiel nicht standgehalten zu haben, seine „physiologischen Einwnde“ sanken unter der Erschtterung zusammen, die es in ihm auslçste. Er hçrte es, noch als er die neuen Vorreden und das V. Buch der FW konzipierte, im Winter 1886/87 in Monte Carlo, das er von Nizza aus besuchte. Danach schrieb er an Kçselitz: rein sthetisch gefragt: hat Wagner je Etwas b e s s e r gemacht? Die allerhçchste psychologische Bewußtheit und Bestimmtheit in Bezug auf das, was hier gesagt, ausgedrckt, m i t g e t h e i l t werden soll, die krzeste und direkteste Form dafr, jede Nuance des Gefhls bis aufs Epigrammatische gebracht; eine Deutlichkeit der Musik als descriptiver Kunst, bei der man an einen Schild mit erhabener Arbeit denkt; und, zuletzt, ein sublimes und außerordentliches Gefhl, Erlebniß, Ereigniß der Seele im Grunde der Musik, das Wagnern die hçchste Ehre macht, eine Synthesis von Zustnden, die vielen Menschen, auch ,hçheren Menschen‘, als unvereinbar gelten werden, von richtender Strenge, von Hçhe im erschreckenden Sinne des Worts, von einem Mitwissen und Durchschauen, das eine Seele wie mit Messern durchschneidet – und von Mitleiden mit dem, was da geschaut und gerichtet wird.727
727 Brief an Heinrich Kçselitz, 21. Januar 1887, KGB III/5, Bf.793. – Georg-Lauer,
17.1. Aufbrechen der Moral-, Sprach- und Bewusstseins-Perspektive. Nr. 368
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Spter, schon nach dem Abschluss des V. Buchs der FW, notierte er fr sich selbst noch einmal: Vorspiel des P., grçßte Wohlthat, die mir seit langem erwiesen ist. Die Macht {u Strenge} des Gefhls, unbeschreiblich, {ein Ausdruck von Grçße seelischer Grçße im Mitleiden,} ich kenne nichts, was das Christenthum so in der Tiefe nhme u. so scharf zum Mitgefhl brchte. die Grçße {im Erfassen} einer furchtbaren Empfindung {Gewißheit}, aus der etwas von Mitleiden quillt Ganz erhoben und ergriffen – kein Maler hat einen so unbeschreiblich schwermthigen und zrtlichen Blick gemalt wie W. / das grçßte Meisterstck des Ausdrucks {Erhabenen}, das ich kenne, die Macht u Strenge im Erfassen einer furchtbaren Gewißheit, ein unbeschreibl. Ausdruck von Grçße im Mitleiden darber; kein Maler hat einen solchen dunklen, schwermthigen, zrtlichen Blick gemalt wie W. in der dem letzten Theile des Vorspiels. Auch Dante nicht, auch Leonardo nicht. / Wie als ob seit vielen Jahren endlich einmal Jemand zu mir ber die Dinge {Probleme} redete, die mich bekmmern, nicht natrlich mit den Antworten, die ich eben dafr bereit halte, sondern mit den christlichen – an denen zuletzt {welche zuletzt die Antwort} strkere M. {Seelen} gearbeitet haben gewesen ist als unsere letzten beiden Jahrhunderte hervorgebracht haben. (N 1886/87, 5[41], KSA 12.198 f. / N VII 3, S. 151 f.)728
Auch im Winter 1887/88 besuchte Nietzsche Monte Carlo „zu einem concert classique (welchem auch der Kaiser von Brasilien beiwohnte)“ und schrieb darber, ebenfalls an Kçselitz: Lauter modernste franzçsische Musik: oder vielmehr, deutlicher zu reden, lauter schlechter Wagner. Ich halte diese pittoreske Musik ohne Ideen, ohne
Dionysos und Parsifal, 50 f., zitiert die Stelle und lobt Nietzsches „wache sthetische Urteilskraft“. 728 „Grçße“ ist beim ersten Mal durchgestrichen, beim zweiten Mal nicht. Dem Notat gehen erste Entwrfe zur GM voraus, die Nietzsche im Juli und August 1887 erarbeitete, als das V. Buch der FW schon abgeschlossen war (vgl. Stegmaier, Nietzsches ,Genealogie der Moral‘, 34). Darauf folgen Notizen zu Einkufen und Restaurant-Preisen in Nizza und Monte Carlo und ein Entwurf zu einem Geburtstagsbrief an Franz Overbeck (geboren am 16. 11. 1837). Vgl. N VII 3, S. 149 f. (Die Notizhefte sind meist von rckwrts beschrieben und so in KGW IX wiedergegeben). Danach kçnnte das Notat zum Parsifal-Vorspiel (vorausgesetzt, dass Nietzsche in seinem Notizheft hier Seite nach Seite fllte, was nicht immer vorauszusetzen ist) noch in Sils-Maria, aber auch erst in Nizza entstanden sein, wohin Nietzsche von Venedig aus am 21. Oktober 1887 aufbrach. Einige Punkte und Formulierungen des Briefs und des Notats berhren sich, andere nicht; Nietzsche kçnnte das Notat in schon ferner gerckter Erinnerung niedergeschrieben und mit ihm die Eindrcke des Briefes noch einmal bekrftigt haben.
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17. Hçren der Musik des Lebens
Form, ohne jedwede Naivett und Wahrheit nicht mehr aus. Nervçs, brutal, unausstehlich zudringlich und großthuerisch – und so geschminkt!!729
Die physiologischen Einwnde meldeten sich wieder, nun gegen die Wagner-Nachfolger.730 Physiologische Einwnde sind naturgemß von wechselnden physiologischen Zustnden abhngig, kçnnen also ihrerseits wechseln. Nietzsche hat in GM III darum nochmals gefragt, ob „der ,Parsifal‘ Wagner’s sein heimliches berlegenheits-Lachen ber sich selbst, der Triumph seiner errungenen letzten hçchsten Knstler-Freiheit, Knstler-Jenseitigkeit“ sein und Wagner damit seine bisherige Schauspielerei berwunden haben kçnnte (GM III 3). Doch er entscheidet schließlich auf „d i e t y p i s c h e Ve l l e i t t des Knstlers“, der „auch der altgewordne Wagner“ verfallen sei (GM III 4); in WA nennt er ihn erneut ein „Romantiker-Verhngniss“ (WA 3). Frher hatte sich Nietzsche notiert, damals noch ohne das Vorspiel gehçrt zu haben, Wagner sei „mit seiner Siegfried-Caricatur, ich meine {mit} seinem Parsifal, nicht nur dem romanischen, sondern geradezu dem rçmisch-katholischen Geschmacke entgegen gekommen“ (N 1884/85, 37[15], KSA 11.592 / W I 6, S. 69, u. ç.), vielleicht sogar „den katholischen Instinkten seines Weibes, {der Tochter Liszt’s}“ (N 1887/88, 11[27], KSA 13.16 / W II 3, S. 190), und hielt ihm seine eigene „absolute Bestimmtheit des N e i n“ gegen das Christentum entgegen: „Daß ich Wagner seinen Parsifal aus einem anderen Grunde nicht verzeihe, wissen Sie. Das ist eine Frage der Redlichkeit – und wenn Sie wollen der Rangordnung.“ (N 1888, 15[17], KSA 13.416)731 Im Notat von N 1886/87 (5[41], KSA 12.199 / N VII 3, S. 151) fgt er stattdessen hinzu: Man legt allerdings beim Hçren dieser Musik das Protestant. wie ein Mißverstndniß bei Seite: so wie die Musik W’s in Montecarlo mich dazu brachte, {wie ich nicht leugnen will} auch die sonst gehçrte sehr gute Musik (Haydn Berlioz Brahms Reihers Sigurd-Ouvertre) ebenfalls wie ein Mißverstndniß {der Musik} bei Seite zu legen. Sonderbar! Als Knabe hatte ich mir die Mission zugedacht, das Mysterium auf die Bhne zu bringen. 729 Brief an Heinrich Kçselitz, 6. Januar 1888, KGB III/5, Bf.973. Vgl. WA, Zweite Nachschrift. 730 Nach dem Nachbericht zu KGB III 7/3, 1.243, handelte es sich um Csar Franck und Sir Charles Villiers Stanford, einem Iren [!]. Nietzsche verrt im brigen hier seinen deutlich konservativen Kunstgeschmack nicht nur in der Bildenden Kunst, sondern auch in der Musik (vgl. Dufour, La physiologie de la musique de Nietzsche, 245). 731 Zur Briefform des Notats vgl. Montinari, Kommentar, KSA 14.764.
17.1. Aufbrechen der Moral-, Sprach- und Bewusstseins-Perspektive. Nr. 368
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In WA kommt Nietzsche auch auf Parsifal und wohl besonders auf das Vorspiel zurck, ohne es aber noch eigens zu nennen: Der Parsifal wird in der Kunst der Verfhrung ewig seinen Rang behalten, als der G e n i e s t r e i c h der Verfhrung … Ich bewundere dies Werk, ich mçchte es selbst gemacht haben; in Ermangelung davon v e r s t e h e i c h e s … Wagner war nie besser inspirirt als am Ende. Das Raffinement im Bndniss von Schçnheit und Krankheit geht hier so weit, dass es ber Wagner’s frhere Kunst gleichsam Schatten legt: – sie erscheint zu hell, zu gesund. […] Ah dieser alte Zauberer! Dieser Klingsor aller Klingsore! Wie er u n s damit den Krieg macht! uns, den freien Geistern! (WA Nachschrift, KSA 6.43)732
Er bleibt fr die Macht der Verfhrung durch die Sinne, durch dieses Vorspiel Wagners offen, auch wenn ihm im ,Bhnenweihfestspiel‘ selbst alles folgt, was ihm widersteht. Und trotz allem, was er zugunsten von Brahms und Bizet vorbringen mochte, fgt er in der Zweiten Nachschrift zu WA lapidar hinzu: „A n d r e Musiker kommen gegen Wagner nicht in Betracht.“733 732 In seiner Jugend, so Nietzsche in EH klug 6, hatte Wagners Tristan und Isolde hnlich auf ihn gewirkt: „Von dem Augenblick an, wo es einen Klavierauszug des Tristan gab […], war ich Wagnerianer. […] ich suche heute noch nach einem Werke von gleich gefhrlicher Fascination, von einer gleich schauerlichen und sssen Unendlichkeit, wie der Tristan ist, – ich suche in allen Knsten vergebens. Alle Fremdheiten Lionardo da Vinci’s entzaubern sich beim ersten Tone des Tristan. […] Ich denke, ich kenne besser als irgend Jemand das Ungeheure, das Wagner vermag, die fnfzig Welten fremder Entzckungen, zu denen Niemand ausser ihm Flgel hatte“. 733 Nietzsches Faszination durch das Parsifal-Vorspiel hat unterschiedliche Interpretationen gefunden. Love, Nietzsche’s Saint Peter, 159, meint, Nietzsche habe sich eben nie vçllig von Wagner lçsen kçnnen. Heller, Nietzsches Kampf mit dem romantischen Pessimismus, 50, argwçhnt, das Parsifal-Vorspiel habe Nietzsches eigenen und bei ihm widersprchlichen Anspruch auf Religionsstiftung bestrkt. Baumeister, Stationen von Nietzsches Wagnerrezeption und Wagnerkritik, 306 f., vermutet, Nietzsche sei im Parsifal-Vorspiel die Dekadenz auf nicht-dekadente Weise begegnet. Gçrner, „Ohne Musik wre das Leben ein Irrthum“, 15, entdeckt in Nietzsches „Lob“ fr die „Synthesis von Zustnden“ und vor allem in seiner Wrdigung des Mitleids „latente Kritik“. Schank, „Rasse“ und „Zchtung“ bei Nietzsche, 330 – 333, versteht die „Synthesis“ dagegen als echte Wrdigung. Borchmeyer, Richard Wagner und Nietzsche, 131, nimmt schlicht „extreme Schwankungen des Urteils“ in Nietzsches ußerungen ber Wagner in den letzten Jahren vor dem Zusammenbruch an (und wiederholt dies in mehreren weiteren Verçffentlichungen). Keppler, Das Lachen der Frauen, 150, trennt schließlich Musik und „Plot“; im „Plot“ habe Nietzsche, worauf er GM III 2, KSA 5.343, anspiele, „keusch-gemachte, verunglckte Schweinerei“ gesehen. Auch nach Knoepffler, Art. Parsifal, wollte Nietzsche gar nicht die Musik, sondern „den Inhalt
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17. Hçren der Musik des Lebens
Aber Nietzsche setzt sich der Verfhrung nicht schutzlos aus, er wappnet sich mit ,Cynismus‘: Man muss Cyniker sein, um hier nicht verfhrt zu werden, man muss beissen kçnnen, um hier nicht anzubeten. Wohlan, alter Verfhrer! Der Cyniker warnt dich – cave canem … (WA Nachschrift, KSA 6.43 f.).
Eben den „Cyniker“ aber hat er in FW 368 reden lassen. 17.1.2. ,Cynisches‘ Anreden gegen die Verfhrung durch die Musik Wagners Ein „C y n i k e r“ – Nietzsche folgt noch der alten Schreibweise – konnte zu seiner Zeit sowohl ein Kyniker im Sinn der antiken Philosophenschule als auch ein moderner Zyniker sein. Die antiken Kyniker, die alles auf Bedrfnislosigkeit setzten, schamlos wie ,Hunde‘ (j}mer) auf Natrlichkeit drngten und die herrschende Moral, wo immer es sich anbot, als zwanghafte Schauspielerei bloßstellten, standen Nietzsche denkbar nahe; wenn er Epikureer nur schien (FW 375/13.4.), war er Kyniker. Nach MA I 275 ist der Epikureer der Reflektiertere, aber auch der ngstlichere: Er wandelt gleichsam in windstillen, wohlgeschtzten, halbdunkelen Gngen, whrend ber ihm, im Winde, die Wipfel der Bume brausen und ihm verrathen, wie heftig bewegt da draussen die Welt ist. Der Cyniker dagegen geht gleichsam nackt draussen im Windeswehen umher und hrtet sich bis zur Gefhllosigkeit ab.
In der Sprache von FW 367 waren die antiken Kyniker Anti-Schauspieler in einer Schauspieler-Gesellschaft, lebten ,vor Zeugen‘ ein Leben ,ohne Zeugen‘. Der moderne Zynismus – ,zynisch‘, von ,kynisch‘ abgeleitet, wurde seit Ende des 18. Jahrhunderts gebruchlich734 – wurde bçser, weil die Moral strker wurde; man hatte lernen mssen, dass man die çffentliche Moral, wenn man sie çffentlich verachtet, nicht schwcht, sondern strkt: weil man bei ihren Anhngern çffentliche Bekenntnisse zu ihr herausfordert. So verliert man den Humor, fr den die alten Kyniker noch gerhmt wurden, und verbeißt sich in die çffentliche Moral. Und da kaum einer selbst frei von ihr ist, kann man auch nicht dauernd als Zyniker leben, der Oper, ihre Botschaft“ angreifen, sie aber zu Unrecht, weil Parsifal gar „kein christliches Werk im Sinne der Grundberzeugungen der Evangelien“ sei. So laufe sein Angriff ins Leere. 734 Vgl. Art. Zyniker, zynisch, Zynismus in: Grimm, Deutsches Wçrterbuch, Bd. 32, Leipzig 1954, 1455 f.
17.1. Aufbrechen der Moral-, Sprach- und Bewusstseins-Perspektive. Nr. 368
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sondern nur gelegentlich als solcher reden.735 Die Frçhlichkeit wird schwerer. Doch nur als frçhlicher ist der Cynismus (im Doppelsinn) philosophisch interessant, verhilft er zur Erkenntnis der herrschenden Moral und ihres Mediums, der Moral-, Sprach- und Bewusstseins-Perspektive.736 In FW 368 gibt Nietzsche einen frçhlichen Cyniker. So hat Nietzsche den Cynismus auch kurz zuvor, in JGB 26, erlutert. Er redete dort jedoch noch nicht als Cyniker, sondern als „Ausnahme“ von der „Regel ,Mensch‘“, der sich wie sein Zarathustra dieser Regel trotz allen „Ekels“ aussetzt, um sie zu ,erkennen‘. „Cyniker“, Menschen, „welche das Thier, die Gemeinheit, die ,Regel‘ an sich einfach anerkennen und dabei noch jenen Grad von Geistigkeit und Kitzel haben, um ber sich und ihres Gleichen v o r Z e u g e n reden zu mssen“, erleichterten das. „Possenreisser ohne Scham“, „wissenschaftliche Satyrn“, streiften sie an das, „was Redlichkeit ist“, sie kompromittierten sich, um ,die Regel‘ zu kompromittieren. Sie machten sich dadurch selbst mit ihr gemein, hlfen aber dem „hçheren Menschen“, in Distanz zur ,Regel‘ zu bleiben und krzten so deren Erkenntnis fr ihn ab, wrden zu „eigentlichen Abkrzern und Erleichterern seiner Aufgabe“. Denn sie forderten zugleich „den entrsteten Menschen“ heraus, sich umso mehr zur Moral der ,Regel‘ zu bekennen, so dass diese ungeschçnt sichtbar wird. Man kann nirgendwo die herrschende Moral besser beobachten als am schamlosen Cyniker auf der einen Seite und dem sich ber ihn schamlos entrstenden Menschen auf der andern.737 In der bald folgenden neuen Vorrede zu
735 Vgl. Niehues-Prçbsting, Der Kynismus des Diogenes, 206 – 261. 736 Die erkenntnisfçrdernde Seite des bis dahin moralisch naturgemß verfemten Cynismus stellte in der Moderne zuerst wieder der selbst als cynisch geltende Friedrich Schlegel heraus (vgl. Niehues-Prçbsting, Der Kynismus des Diogenes, 300 – 306). Auch Schopenhauer schtzte die antiken Kyniker in diesem Sinn hoch (296 f.). Nietzsche war der Kynismus aus seinen philologischen Forschungen zu Diogenes Laertios und dessen Sammlung der Lebensbeschreibungen und Lehrmeinungen der Philosophen bestens vertraut. Niehues-Prçbsting, Der Kynismus des Diogenes, 306 – 340, und Niehues-Prçbsting, Der „kurze Weg“: Nietzsches „Cynismus“ (großenteils ein Auszug aus dem Vorigen), hat vorbildlich auch fr Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft (vgl. den Hinweis dort 954) herausgearbeitet, wie Nietzsche sich den antiken Kynismus erschloss und sich, auch in den Formen seiner philosophischen Schriftstellerei (vgl. GT 14, KSA 1.93), selbst als Kyniker darstellte, und daraus eine aufschlussreiche Interpretation von FW 125 entwickelt (s.u.). Von Sloterdijks großzgiger Art der Verwendung seiner Unterscheidungen hat er sich allerdings distanziert (Der Kynismus des Diogenes, 8). 737 Vgl. Niehues-Prçbstings ausfhrliche Interpretation von JGB 26 in: NiehuesPrçbsting, Der Kynismus des Diogenes, 324 f., und Niehues-Prçbsting, Der „kurze Weg“: Nietzsches „Cynismus“, 113 – 116. Die Rede von den „Abkrzern“, so seine These, sei eine Anspielung auf den kynischen „kurzen Weg“ zur Tugend. Das ist denkbar, hier aber wohl nicht naheliegend: Nietzsche spricht in sehr viel umfassenderem Sinn von ,Abkrzungskunst‘ (vgl. NWB, Art. Abkrzung, 1.14 – 19). Die Formel „v o r Z e u g e n“, die JGB 26 mit FW 367 und dem Sinn nach
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17. Hçren der Musik des Lebens
MA II verbindet sich Nietzsche schon enger mit dem Cynismus („etwas Cynismus vielleicht“). Als er sich von Wagner lçste, erzhlt er dort, „lernte“ er „erst jenes einsiedlerische Reden, auf welches sich nur die Schweigendsten und Leidendsten verstehn: […] ohne Zeugen oder vielmehr gleichgltig gegen Zeugen, um nicht am Schweigen zu leiden“. Es half ihm, gegen die Verfhrung durch Wagners Musik anzureden, vom „romantischen Pessimismus“ loszukommen. Cynismus war ihm nun „ein Minimum von Leben, eine Loskettung von allen grçberen Begehrlichkeiten, eine Unabhngigkeit inmitten aller Art usserer Ungunst, sammt dem Stolze, leben zu k ç n n e n unter dieser Ungunst; […] etwas ,Tonne‘, aber ebenso gewiss viel Grillen-Glck, Grillen-Munterkeit, viel Stille, Licht, feinere Thorheit, verborgenes Schwrmen“, ein Stck aufkeimender frçhlicher Wissenschaft, die ihn zu seiner „A u f g a b e“ zurckfinden ließ (MA II Vorrede 5).
Nachdem Nietzsche in den Abschnitten [1]-[3] ein lockeres Selbstgesprch ohne Zeugen beim Hinhçren auf seine leiblichen Erfahrungen mit Wagners Musik gefhrt zu haben scheint, perspektiviert er in Abschnitt [4] plçtzlich die schriftstellerische Form: „Dies machte ich einstmals einem rechtschaffenen Wagnerianer klar, mit einiger Mhe“. Danach war alles bisher Gesagte eine angestrengte Argumentation und blieb in der Moral-, Sprach- und Bewusstseins-Perspektive. Was eigene Erlebnisse schienen, waren „Grnde“, die einen berzeugten Wagnerianer in seiner Wagnerianer-Perspektive erschttern sollten. Die Grnde reichten jedoch sichtlich nicht aus. Nietzsche, so erzhlt er, musste seine Meinung ber die Schauspieler-Gesellschaft „hinzufgen“, ber das Dasein-vor-Zeugen selbst, das er fr den Wagnerianer auf das Bild des „Theaters“ abkrzt. Die Schauspieler-Gesellschaft, die das Theater nur zeitweilig zu besuchen scheint, lebt in Wirklichkeit stndig in ihm (FW 356/11.1).738 Denn das Dasein-vor-Zeugen, das den eigenen Geschmack und das eigene Urteil verstummen lsst und in dem sich jeder am andern orientiert, versetzt alle zusammen in eine fiktive Welt, in der alle zusammen orientierungslos werden: „da ist man Volk, Publikum, Heerde, Weib, Phariser, Stimmvieh, Demokrat, Nchster, Mitmensch, da unterliegt noch das persçnlichste Gewissen dem nivellirenden Zauber der ,grçssten Zahl‘, da wirkt die Dummheit als Lsternheit und Contagion, da regiert der auch mit FW 368 verbindet, beachtet Niehues-Prçbsting nicht, wiewohl er sie zitiert. 738 Nach Francis Bacons berhmter Unterscheidung der vier ,idola‘ oder Trugbilder wren das die ,idola tribus‘, die Trugbilder, die die menschliche Gattung durch ihre Sprache und Moral erzeugt, nicht erst die, die er ,idola theatri‘ nennt und die die Philosophen mit ihren Theorien und Beweisen hervorbringen. – In NW Einwnde wird Nietzsche „Theater“ schlicht durch „Bayreuth“ ersetzen, ber dem rechtschaffene Wagnerianer „Gott und Welt“ vergessen.
17.1. Aufbrechen der Moral-, Sprach- und Bewusstseins-Perspektive. Nr. 368
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,Nachbar‘, da w i r d man Nachbar…‘“ Wagnerianer sind fr Nietzsche Herden-Menschen par excellence. In NW heißt es dann kurzerhand: „Im Theater wird man Volk, Heerde, Weib, Phariser, Stimmvieh, Patronatsherr, Idiot – W a g n e r i a n e r“ (NW Einwnde). Und wenn Nietzsche auch das Theater widerstrebte, so war er doch, wie er freimtig bekannte, einst selbst „Einer der corruptesten Wagnerianer … Ich war im Stande, Wagnern ernst zu nehmen … Ah dieser alte Zauberer! was hat er uns Alles vorgemacht!“ (WA 3) Um den Wagnerianer zu berzeugen, muss er sich auf ihn einlassen und selbst noch einmal dessen Wagnerianer-Perspektive einnehmen. Auch hier war in einem Fall die Verfhrung dazu berwltigend. Nietzsche hatte vermutlich im „Wagnerianer“ von FW 368 den jungen Heinrich von Stein (1857 – 1887) vor Augen, den ihm Re 1876 als „Jngling von 19 Jahren, mit einer Feuerseele, einer edlen Erscheinung, leuchtenden Augen und einer tiefen Empfnglichkeit fr alles Große“, kurz als „Prachtexemplar“ geschildert und der ihn Ende August 1884 einige Tage in Sils-Maria aufgesucht hatte.739 Stein, mit einer Arbeit ber Wahrnehmungen promoviert, mit einer Schrift Die Bedeutung des dichterischen Elementes in der Philosophie des Giordano Bruno habilitiert, bei Malwida von Meysenbug eingefhrt, zeitweilig Erzieher Siegfried Wagners, gab 1883 ein Wagner-Lexikon mit heraus und eine von Wagner eingeleitete Aufsatzsammlung Helden und Welt. Dramatische Bilder. Nietzsche hatte große Hoffnungen auf ihn gesetzt („Endlich, endlich ein neuer Mensch, der zu mir gehçrt und instinktiv vor mir Ehrfurcht hat“740), ihm gar brieflich ein Gedicht mit dem Titel „E i n s i e d l e r s S e h n s u c h t“ gewidmet.741 Doch Stein, vorsichtig auf seine Bayreuther Verbindungen bedacht, entzog sich ihm; Nietzsche wird, als von Stein, gerade 30 Jahre alt, am 15. Juni 1887 starb, seinen Tod heftig beklagen: Ich habe ihn wirklich geliebt; es schien mir, daß er mir aufgespart sei fr ein spteres Alter. Er gehçrte zu den ganz wenigen Menschen, an dessen D a s e i n ich Freude hatte; auch hatte er großes Vertrauen zu mir. Er sagte noch zuletzt, in meiner Gegenwart kmen ihm Gedanken, zu denen er sonst nicht den Muth fnde; ich ,befreite‘ ihn. Und was haben wir hier oben zusammen g e l a c h t! Er stand im Rufe, nicht zu lachen. Sein zweitgiger Besuch hier in Sils, ohne Nebenabsichten von Natur und Schweiz, sondern direkt von Bayreuth hier her kommend und direkt von mir zu seinem Vater nach Halle zurckreisend – ist eine der seltsamsten und feinsten Auszeichnungen, die ich erfahren habe.742 Von Stein hatte ihm, schon vor ihrer persçnlichen Begegnung, dringend Wagners Parsifal ans Herz gelegt, und bekannte sich dabei selbst als „Wagnerianer“:
739 740 741 742
Vgl. Sautet, Notes 524 f., Fn. 464. Brief an Overbeck, 14. September 1884, KGB III/1, Bf.533. Brief an Heinrich von Stein, Ende November 1884, KGB III/1, Bf.562. Brief an Heinrich Kçselitz, 27. Juni 1887, KGB III/5, Bf.868.
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17. Hçren der Musik des Lebens
Wie sehr wnschte ich, dass Sie diesen Sommer zum Parsifal nach Bayreuth kmen. […] Wenn ich an den Parsifal denke, so denke ich an ein Bild reiner Schçnheit, – an ein Seelen-Erlebniss reinmenschlicher Art, die dargestellte Entwickelung eines Knaben zum Manne. Durchaus kein Pseudo-Christenthum, und berhaupt weniger Tendenz ist fr mich im Parsifal, als in irgend einem Wagner’schen Werk. So schreibe ich denn auch – zaghaft und khn zugleich, meinen Wunsch hier nicht als Wagnerianer nieder, sondern weil ich dem Parsifal diesen Hçrer, und diesem Hçrer den Parsifal wnsche.743 Als ob Wagner Parsifal gerade fr ihn, Nietzsche, komponiert htte, um ihn zurckzugewinnen – Nietzsche muss alle seine Kraft zum Cynismus aufgebracht haben, um in FW 368 nicht davon zu reden.
Er belsst es nicht bei der ersten Perspektivierung, in der Schluss-Parenthese [5] lsst er eine zweite folgen. Er leitet sie ein mit „Ich vergass zu erzhlen“: danach hat er in seiner (fiktiven oder nicht-fiktiven) Nacherzhlung des Gesprchs dessen beide Perspektiven, seine eigene und die des Wagnerianers, in der eigenen Perspektive arrangiert und dabei mit leichter Hand hinzugefgt oder weggelassen, was ihm, seinem Gedchtnis oder seinem Stolz, gerade passend erschien.744 Und er hatte es, wie er nun erst hinzufgt, mit einem nicht nur „rechtschaffenen“, sondern auch „aufgeklrten Wagnerianer“ zu tun, der sich ebenfalls nicht ohne weiteres von Erlçsungshoffnungen berauschen und betuben lsst und seinerseits auch Einwnde macht. Der Wagnerianer hatte offenbar schon zu Beginn des Gesprchs einen Einwand gegen Nietzsches „physiologische Einwnde“ gemacht, der dessen philosophische Reflexion von vornherein erbrigt htte: „,Sie sind also eigentlich nur nicht gesund genug fr unsere Musik?‘“ Der Wagnerianer hat recht: bei ungesunder Resonanz ist gar nicht zu entscheiden, welche Seite die gesunde oder die ungesunde ist, und Nietzsche kann das am Ende, in heiterer Selbstironie, so stehen lassen. Er hatte es ursprnglich, in der schon zitierten Vorstufe zu FW 368, auch selbst so notiert: „Ich bin fr diese ganze romant Musik (Beethoven eingerechnet) nicht glcklich genug, nicht gesund genug.“ (N 1886/ 87, 7[7], KSA 12.285)
743 Heinrich von Stein an Nietzsche, 17. Mai 1884, KGB III/2.437, korr. nach KGB III/7,1.771 f. – Zu Heinrich von Steins Leben und Werk vgl. Bernauer, Heinrich von Stein, zum zitierten Brief 153. Auf FW 368 geht das umfangreiche Buch, soweit ich sehe, nicht ein. 744 Vgl. JGB 68: „,Das habe ich gethan‘ sagt mein Gedchtniss. Das kann ich nicht gethan haben – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – giebt das Gedchtniss nach.“
17.1. Aufbrechen der Moral-, Sprach- und Bewusstseins-Perspektive. Nr. 368
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Was bloße Polemik gegen Wagner schien, entpuppt sich als ein Meisterwerk frçhlicher Perspektivierungskunst in der Rolle eines Cynikers. Nietzsche hçrt als antiker Kyniker nur noch auf seine eigenen natrlichen Bedrfnisse, redet vor Zeugen gegen die Kunst vor Zeugen an, scheint sich dann wie ein moderner Zyniker darin zu verbeißen und kann zuletzt ber sich selbst lachen. Als Episode zwischen den beiden Aphorismen FW 367 und 369 zur Kunst ohne Zeugen wird FW 368 zu einer humorvollen Anekdote, die Nietzsche ber sich selbst erzhlt. Die Anekdote aber ist die typische literarische Form des antiken Kynismus.745 Als Cyniker redet Nietzsche auch der Form nach cynisch, fhrt in einer cynischen Anekdote die Unentscheidbarkeit der eigenen physiologischen Einwnde ,vor Zeugen‘ vor und damit auch die Verfnglichkeit seiner Heuristik der Not (FW 370/16.3.). Das heißt: der Moral-, Sprach- und Bewusstseins-Perspektive kann ein Gesprchspartner, aber auch ein Autor vor einem anonymen Publikum nur in der Moral-, Sprach- und Bewusstseins-Perspektive, also gar nicht entkommen, er kann nur gegen sie anreden oder wie ein Hund gegen sie anbellen. Darum ist so auch nicht ber Wagner und seine pseudodionysische Verfhrung zum romantischen Pessimismus hinauszukommen. Wie ein rechter Cyniker kompromittiert Nietzsche sich selbst, indem er Wagner zu kompromittieren sucht. In NW wird er den Aphorismus polemisch entdifferenzieren, den Titel „D e r C y n i k e r r e d e t“ durch „W o i c h E i n w n d e m a c h e“ ersetzen, die perspektivierende Schluss-Parenthese weglassen, einen direkten Angriff in kurzen dogmatischen Formeln fhren („ sthetik ist ja nichts als eine angewandte Physiologie“, „Aber Wagner macht krank“, „E r f o l g auf dem Theater – damit sinkt man in meiner Achtung bis auf Nimmer-wieder-sehn“) und mehrere polemische Verschrfungen eintragen („– nach Wagner’s Kaisermarsch kann nicht einmal der junge deutsche Kaiser marschiren –“, „um Wagner zu hçren, brauche ich Pastilles
745 Vgl. Niehues-Prçbsting, Der Kynismus des Diogenes, 39 f. u. 308 ff., und Niehues-Prçbsting, Der „kurze Weg“: Nietzsches „Cynismus“, 111 f. Nietzsche hatte in der Einleitung zu PHG in Anlehnung an Jacob Burckhardts Griechische Kulturgeschichte als methodisches Programm formuliert: „Aus drei Anecdoten ist es mçglich, das Bild eines Menschen zu geben; ich versuche es, aus jedem Systeme drei Anecdoten herauszuheben, und gebe das Uebrige preis.“ (1.803) Vgl. dazu Niehues-Prçbsting, Anekdote als philosophiegeschichtliches Medium, 280. Auch bei FW 125 handelt es sich, so Niehues-Prçbsting, Der „kurze Weg“: Nietzsches „Cynismus“, 116 – 118, um eine Anekdote. FW 368 erkennt er jedoch nicht als solche. – Zu Nietzsches Aufwertung des Anekdotischen und seiner Empfehlung beharrlichen bens im Anekdoten-Schreiben vgl. MA I 163 und dazu (ohne Bezug auf Niehues-Prçbsting) Reschke, „Anekdotenmeister“, 25 – 39.
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17. Hçren der Musik des Lebens
Grandel…“746). Der eigentliche Vorwurf an Wagner bleibt: „es fehlt die Einsamkeit, alles Vollkommne vertrgt keine Zeugen…“ Nur, wer nicht auf andere schielt, kann zu einem eigenen Urteil und zu eigenem wegweisendem Schaffen kommen. Aber Nietzsche wre nicht Nietzsche, wenn er bei so viel Polemik und Dogmatik nicht ein „vielleicht“ einfgen wrde: Wagner, „der begeistertste Mimomane, den es vielleicht gegeben hat“.
Nietzsches schriftstellerische Methoden: Abkrzung des „philosophischen Gedankens“ durch Namen Im V. Buch der FW nennt Nietzsche nicht allzu viele Namen, auffllig viele nur in FW 357, 370 und 372, in denen es um die „Errungenschaften des philosophischen Gedankens“, die Alternativen der europischen Kunst und Philosophie und ein neues dionysisches Philosophieren geht. An Philosophen werden Pythagoras, Platon, Augustin (der jedoch nur als heiliger Moralist erscheint, FW 359), Descartes, Spinoza, Leibniz, Hume, Condillac, Kant, Hegel, Schopenhauer, die deutschen Schopenhauerianer und zuletzt Herbert Spencer (FW 373) genannt. Nach FW 373 enden die Namen ganz oder kommen nur noch als typisierende Adjektive vor („epikurisch“, FW 375; „timonisch“, FW 379). Zuvor, in der neuen Vorrede zur FW, fllt nur ein Name, der Nietzsches, der aber keine Rolle spielen soll: „Aber lassen wir Herrn Nietzsche: was geht es uns an, dass Herr Nietzsche wieder gesund wurde?“ (FW Vorrede 2) Auch solche Namen schaffen Kontexte unter den Aphorismen. blicherweise gebraucht man in der Philosophie Namen, um komplexe philosophische Konzepte zusammenzufassen (z. B. Platons, Kants, Hegels Idealismus), sie dienen der Abkrzung. Man krzt generell in Namen ab, was immer neu zu schaffen macht und wovon man darum auch immer neu – angenehm oder unangenehm – irritiert und berrascht werden kann.747 Namen beziehen sich stets auf Einzelnes und Einzelne. Im Unterschied zu Begriffen sagen sie nichts darber, was etwas ist. Sie ermçglichen stattdessen, in wechselnden Kontexten auf dasselbe zurckzukommen und die Begriffe, die sich mit ihnen verbinden, durch diese Kontexte anzureichern, die dann weitestgehend unausgesprochen bleiben. Bildet man dennoch explizite Begriffe zu 746 Eigentlich „Pastilles Graudel“: Wie Andreas Rupschus herausfand, handelt es sich um Pastillen gegen Husten und Asthma, hergestellt aus norwegischem pflanzlichem Teer. Ihr Erfinder und Vertreiber Auguste Arthur Graudel bewarb sie ab 1887 offenbar ziemlich effektiv, sie wurden ein Verkaufsschlager. Vgl. Stupp, Auguste Arthur Graudel. 747 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 282 – 285.
17.2. Neue ffnung fr die Sinne. Nr. 372
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Namen, so sind auch sie Abkrzungen; sie mssen von eben jenen Kontexten, in denen sie einmal gebraucht worden sind und knftig gebraucht werden kçnnen, weitestgehend absehen. Nur so werden sie ,allgemein‘ verwendbar. Sie ermçglichen dann Anschlsse an andere Begriffe und erlauben so eine schrittweise Lçsung aus allen Kontexten, am Ende die Bildung allgemeinster Theorien, wie die europische Philosophie sie zu ihrer vornehmlichen Aufgabe gemacht hat. In gleichem Maß aber entziehen sie die Namen dem ,Leben‘, eben den Kontexten, in denen sie ihren Sinn unablssig fortbilden. Fr dieses ,Leben‘ hat Nietzsche in FW 373 die Metapher der Musik (13.2.4.). Er gebraucht auch die Namen von Philosophen, wenn man so will, ,musikalisch‘, nicht, um unter ihnen Lehren zu definieren und zu diskutieren, sondern um mit ihnen vielfache Resonanzen anklingen zu lassen. So verfhrt er exemplarisch in FW 368 auch mit dem Namen Wagner,748 in FW 372, dem Aphorismus zur „Musik des Lebens“, mit den Namen Spinoza und Platon. Sie weisen zuletzt alle auf ihn selbst zurck, sind „Zeichenrede“, „Semiotik“, „Gelegenheit zu Gleichnissen“ (AC 32). Schon in den UB waren „die Namen Schopenhauer und Wagner“, so Nietzsche zuletzt, „ein Paar Formeln, Zeichen, Sprachmittel mehr“ fr ihn selbst, als er, was er zu sagen hatte, noch nicht im eigenen Namen sagen konnte oder wollte. „Dergestalt hat sich Plato des Sokrates bedient, als einer Semiotik fr Plato.“ (EH UB 3/1.4.)
17.2. Neue ffnung fr die Sinne Nr. 372: Wa r u m w i r k e i n e I d e a l i s t e n s i n d . 749 In FW 372 ist von Musik nur noch metaphorisch die Rede, in dem sie auch nicht von Knstlern geschaffene Musik, eben die „Musik des Lebens“ einschließt. Um ihre Spielrume jenseits der Moral-, Sprach- und Bewusstseins-Perspektive zu erkunden, geht Nietzsche von der gegenwrtigen Philosophie aus und schrittweise bis zu Platon zurck. Auch diesen Aphorismus hat er durch Trennungsstriche klar eingeteilt: in einem ersten 748 Vgl. WA, Zweite Nachschrift: „Wenn Wagner der Name bleibt fr den R u i n d e r M u s i k, wie Bernini fr den Ruin der Skulptur“. 749 Eine Vorstufe des folgenden Kapitels erschien unter dem Titel Stegmaier, Wie idealistisch ist die alltgliche Orientierung?, eine erste Fassung unter dem Titel Stegmaier, ,Philosophischer Idealismus‘ und die ,Musik des Lebens‘. Der Hauptgesichtspunkt der gegenwrtigen Fassung ist nun die Kontextualisierung des Aphorismus im V. Buch der FW.
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17. Hçren der Musik des Lebens
Abschnitt [1] exponiert er die „Furcht vor den Sinnen“, die Philosophen die „Musik des Lebens“ unhçrbar gemacht hat, in einem zweiten [2], dem lngsten, tastet er sich ber Platon zu Spinoza hin, in einem dritten [3], sehr kurzen, scheint er seine Ausgangsvermutung, dass Philosophen generell Opfer ihres „Idealismus“ sind, zu besttigen und mit einem doppelten Gedankenstrich an den Anfang zurckzufhren („Und wir frchten die Sinne nicht, weil – –“). Aber soweit Gedankenstriche offene Fragen anzeigen, kçnnte die Ausgangsvermutung nicht sicherer, sondern problematischer geworden sein. Wenn die „Musik des Lebens“ das Begreifen erst ermçglicht, wird man gerade dazu keinen Beweis erwarten drfen. Die Verknpfung von FW 368 und FW 372 fllt nicht ins Auge, ist jedoch sehr eng. Vor allem nimmt Nietzsche die Wendung des „aufgeklrten Wagnerianers“ „nur nicht gesund genug“ im eigenen Namen auf: „wir Modernen“ kçnnten nur nicht gesund genug fr die „Furcht vor den Sinnen“ sein. Hatte er in FW 368 seine eigene leibliche Perspektive auf „die Musik Wagner’s“ durch eine Erinnerung an ein (einseitiges) Gesprch mit einem Wagnerianer perspektiviert, so perspektiviert er in FW 372 seine philosophische Perspektive auf die „Musik des Lebens“ durch eine Erinnerung an frhere Philosophen und ein (ebenso einseitiges) Gesprch mit dem Leser („Fhlt ihr nicht“, „Seht ihr das Schauspiel nicht“, „Ahnt ihr nicht“). FW 372 erweitert den Horizont von der Geschichte der eigenen Loslçsung von Wagner auf die Geschichte der europischen Philosophie, der Nietzsche nun zur Loslçsung von ihren unfreiwilligen Bindungen verhelfen will. Ging es in FW 368 um seinen Widerstand gegen Wagners Musik, der sich in ihm mit der Zeit gebildet hatte, so dass er sie nun – bis auf eine große Ausnahme – nicht mehr hçren konnte, so macht er nach FW 372 beim Verlust der „Furcht vor den Sinnen“ selbst die Ausnahme – und vielleicht Spinoza, den er im Aphorismus als ernstestes Opfer des Idealismus darstellt, der ihm aber, wie Wagners Parsifal-Vorspiel in FW 368, auch noch ganz anders begegnete. So entpuppt sich FW 368 als ein Vorspiel fr FW 372, ein Vorspiel auch in der schriftstellerischen Kunst. Beide Aphorismen sind Selbstbefragungen mit offenem Ausgang, und wie FW 368 so ist auch FW 372 mit weiteren Aphorismen im V. Buch der FW kontextualisiert. Mit dem Stichwort „Sensualisten“ und der Rede von den „Gegenwrtigen und Zuknftigen in der Philosophie“ zu Beginn und der Formel von der „berreichen und gefhrlichen Gesundheit“ Platons gegen Ende knpft FW 372 an FW 370 an. Platon war schon in FW 344 mit seinem „Glauben […], dass Gott die Wahrheit ist“, vertreten, dann in FW 351 mit seiner zugleich stolzen und bescheidenen „Schauspielerei des Geistes“ und in FW
17.2. Neue ffnung fr die Sinne. Nr. 372
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357 wieder mit seiner „Ideomanie, seinem fast religiçsen Formen-Wahnsinn“. So erschien er wechselnd als ungesund und gesund. Nun lsst ihn Nietzsche zum letzten Mal auftreten, um zu zeigen, wie seine Gesundheit von der Krankheit erfasst wurde, die Spinoza schließlich, wie Nietzsche es in FW 349 genannt hatte, „schwindschtig“ machte. Nietzsche schafft aber auch einen Bezug zum unmittelbar vorausgehenden Aphorismus FW 371 („W i r U n v e r s t n d l i c h e n“, 15.3.1.), einen hçrbaren: als er sich dort mit dem fortwhrend wachsenden „Leben“ verglich, das unvermeidlich „missverstanden, verkannt, verwechselt, verleumdet, verhçrt und berhçrt“ werde, gebrauchte er „verhçrt“ auf ungewçhnliche Weise. Das lsst nun aufhorchen. Wir kommen darauf zurck (17.2.5.). Die alten Philosophen, so die leitende These des Aphorismus, durften die „Musik des Lebens“ nicht hçren, „l e u g n e t e n“ sie, um ihrer Verfhrung zu entgehen, und erfanden zum Schutz vor ihr den Idealismus. In der Folge dogmatisierten die Philosophen die ,ideale‘ Oberflchen- und Zeichenwelt der Moral-, Sprach- und Bewusstseins-Perspektive und verarmten mit der Zeit in ihren Sinnen, wurden taub fr die Musik des Lebens. So kçnnen sie sie nun nicht mehr hçren und vermissen sie nicht einmal – bis auf eine Ausnahme, den, der zu begreifen begonnen hat, was da mit der Philosophie geschehen ist. Er, Nietzsche, begriff, dass „w i r k e i n e I d e a l i s t e n“ mehr sind, nicht weil der Idealismus widerlegt oder auch nur unglaubwrdig geworden wre, sondern weil wir ihn einfach nicht mehr „n ç t h i g [ … ] h a b e n“ – weil wir ihn nicht mehr nçtig haben, wurde er unglaubwrdig. Nietzsche deckt mit seiner Heuristik der Not einen physiologischen Wandel auf, der die Philosophie im Ganzen verndert haben kçnnte. Aber dieser Wandel kçnnte den „Zuknftigen in der Philosophie“ auch die Ohren fr die „Musik des Lebens“ wieder çffnen.
17.2.1. Gegenwrtige philosophische Praktik ohne Theorie: Oszillieren zwischen Sensualismus und Idealismus Um den Wandel der philosophischen Begrifflichkeit selbst zu begreifen, steht keine Metabegrifflichkeit zur Verfgung; auch sie wre eine tradierte Begrifflichkeit. Nietzsche setzt auch hier statt auf eine Transzendierung auf die gezielte Verschiebung der tradierten Begriffe, macht bereits plausible Begriffe in neuen Kontexten und neuen Horizonten neu plausibel. Er verfhrt in FW 372 so mit den Begriffen der Idee und des Idealismus, der
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17. Hçren der Musik des Lebens
Sinne und des Sensualismus, des Theorie-Praxis-Gegensatzes und der Praktik und schließlich und vor allem der Musik. Schon der Titel „W a r u m w i r k e i n e I d e a l i s t e n s i n d“ zeigt eine Begriffsverschiebung an. Nietzsche scheint mit ihm klar Position zu beziehen, auf die Frage schlicht zu antworten: „Wir sind heute allesammt Sensualisten“. Als „Sensualisten“ aber sind „wir“ heute nicht schon Anhnger der in FW 370 genannten Hume, Condillac und Kant oder weiterer Sensualisten des 18. Jahrhunderts (Nietzsche schrieb dort: das „Zeitalter Hume’s, Kant’s, Condillac’s und der Sensualisten“, aber Hume und Condillac gelten als die bedeutendsten Sensualisten dieser Zeit, „Sensualisten“ ist also zugleich Neben- und Oberbegriff ). Nach einem Notat aus der Zeit der Erarbeitung des V. Buchs der FW fasst Nietzsche den Begriff sehr weit. Danach sind auch und gerade die „geistigsten Menschen“ „Sensualisten im besten Glauben, weil sie den Sinnen einen hçheren {grundstzlicheren} Werth zumessen als zugestehen als den {jenen} feinen Sieben {oder}, u. Abstraktions {jenen} Verdnnungs-, {Verkleinerungs}apparaten, welche man {mit Einem Worte} ,Geist‘ nennt. oder was das sein {heißen} mag, was man, in der Sprache des Volkes ,Geist‘ nennt. Die Kraft u. Macht der Sinne – dies ist das Wesentlichste an einem wohlgerathenen u. ganzen Menschen“ (N 1886/87, 5[34], KSA 12.196 / N VIII 3, S. 160). Das ist kein Sensualismus in Gestalt einer dogmatisch festgelegten erkenntnistheoretischen Position, eher schon im Sinn von FW 357 eine „Errungenschaft“ der europischen Philosophie im Ganzen. Sie aber lsst sich nicht dogmatisch festlegen. Kant, der Dritte, den Nietzsche nennt und der nach der neuen Vorrede zur M ein „gutes Stck Sensualismus […] in seine Erkenntnisstheorie hinbernahm“ (M Vorrede 3), verband ihn, entgegen Hume und Condillac, mit einem neuen Idealismus, um die Objektivitt der Naturwissenschaften denkbar zu machen. In seinem Sinn wird Nietzsche in GD schreiben: „Wir besitzen heute genau so weit Wissenschaft, als wir uns entschlossen haben, das Zeugniss der Sinne a n z u n e h m e n, – als wir sie noch schrfen, bewaffnen, zu Ende denken lernten.“ (GD Vernunft 3) Das Zeugnis der Sinne kann angenommen werden oder nicht, sie brauchen, so Kant, „einen bestallten Richter, der die Zeugen nçthigt auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt.“750 Sensualismus alleine reicht nicht aus, er fhrt „ad absurdum“. Denn nach ihm wren, so Nietzsche in JGB 15, unsere Sinnesorgane ebenfalls nur Gegenstnde der Sinne, nur „das Werk“ unsrer Sinnesorgane. Andererseits gilt aber auch fr Kants transzendentalen Idealismus, es sei „etwas son750 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XIII.
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derbar, zu verlangen, dass ein Werkzeug seine eigne Trefflichkeit und Tauglichkeit kritisiren solle“ (M Vorrede 3). Beide Positionen sind fr eine Erkenntnistheorie unverzichtbar, aber beide werden auch unhaltbar, wenn sie sich alleine zu behaupten und aus sich selbst zu begrnden versuchen. Nach Nietzsche ist der „Sensualismus“ nur „als regulative Hypothese, um nicht zu sagen als heuristisches Princip“ (JGB 15) zu gebrauchen und so auch Kants transzendentaler Idealismus. Beide bezeichnen nur Pole einer mçglichen Erkenntnistheorie, und als solche stellen sie die jeweils andere Position kritisch in Frage, sobald diese sich dogmatisch zu verfestigen droht. Fr Nietzsche haben sie nur darin ihren Sinn. So kçnnen wir Idealisten und Sensualisten nur zugleich sein. Idealismus und Sensualismus schließen einander nicht aus, sondern setzen einander voraus. Wir sind darum Sensualisten „n i c h t der Theorie nach“; wir kçnnten es gar nicht sein. Dennoch wandte sich der Hauptstrom der Philosophie im Lauf des 19. Jahrhunderts durch das Vordringen der empirischen Naturwissenschaften, die Physiologisierung des Kantischen transzendentalen Idealismus und die Verabschiedung der romantischidealistischen Naturphilosophie „der Praxis“ nach vom Idealismus ab und dem Sensualismus zu.751 Wissenschaftler und Philosophen aber nehmen gewçhnlich an, dass eine Praxis die Praxis einer zugehçrigen Theorie und nur aus ihr zu verstehen ist. Nietzsche dagegen geht gleitend zum Begriff der „Praktik“ ber und unterluft damit den Gegensatz von Theorie und Praxis. Vorher hat er wie blich von „Praktiken“ gesprochen („ganz verschiedene Mittel und Praktiken“, M 12), nun gebraucht er den Begriff „Praktik“, zum ersten Mal in seinen Schriften, als kollektiven Singular. „Praktik“ in diesem Sinn umfasst viele Praktiken, unterscheidet sie aber nicht bewusst, hat keinen Begriff und schon gar keine Theorie von sich, sondern geht wie selbstverstndlich vor sich. Spter wird Nietzsche den Begriff fr seinen „Typus Jesus“ in AC gebrauchen. Er charakterisiert Christus dort durch seine „evangelische Praktik“ (AC 33), nach der er keinen „Glauben“ gehabt habe, der sich auf Begriffe und Dogmen sttzte, einen solchen Glauben auch nicht brauchte und nicht brauchen konnte. Seine Praktik, so Nietzsche, war ein „andres Handeln“, das von der „Unfhigkeit zum Widerstand“ geleitet war, ein „Leben in der Liebe, in der Liebe ohne Abzug und Ausschluss, ohne Distanz“ (AC 29), in dem alles die Hrte fixierter Realitten verliert und zu jenem „ganz in Symbolen und Unfasslichkeiten schwimmenden Sein“ wird (AC 31/9.6.). Eine solche Praktik ist in der Sprache von FW 354 ein Phnomenalismus und Perspektivismus, in dem alle Instanzen der Theorie, ,Bewusstsein‘, ,Ich‘, ,Denken‘ 751 Vgl. fr die Entwicklung in Deutschland Schndelbach, Philosophie in Deutschland, 89 – 137.
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17. Hçren der Musik des Lebens
usw., zurcktreten, und als eine solche Praktik versteht Nietzsche auch, was er im Anschluss „Musik des Lebens“ nennt.
Auch die Kunst und zumal die Musik bewegt sich „in Symbolen und Unfasslichkeiten“. In JGB 188 hatte Nietzsche, ohne dort schon den Begriff zu verwenden, von der Praktik der Knstler geschrieben, sie gehorche „tausendfltigen Gesetzen […], die aller Formulirung durch Begriffe gerade auf Grund ihrer Hrte und Bestimmtheit spotten (auch der festeste Begriff hat, dagegen gehalten, etwas Schwimmendes, Vielfaches, Vieldeutiges – ).“ Die Kunst kehrt die Wertung der Wissenschaft um, ihre „Hrte und Bestimmtheit“ liegt in den starken sinnlichen Orientierungen, die unmittelbar einnehmen, nicht in den Begriffen, die man erst bilden muss. Eine Praktik, sei es eine religiçse oder eine knstlerische, kann auf ihre Weise ,hrter‘, ,bestimmter‘ und ,eindeutiger‘ sein als die „festesten Begriffe“; weil es zu Begriffen immer Gegenbegriffe gibt, kçnnen sie eine eingespielte, routinierte, selbstverstndliche Orientierung verunsichern, statt sie zu festigen. Eine Praktik ist so sehr in Fleisch und Blut des Handelnden bergegangen, dass ihm gar nicht einfllt, Begriffe fr sie zu bilden und nach ihren Grnden zu fragen.752 Sie ist mit den spteren Begriffen Husserls und Wittgensteins eine Lebensform in einer Lebenswelt, die eine Theorie nicht nçtig hat und durch Theorien nur irritiert wird.753 Da aber auch und gerade Musik ohne Begriffe verstanden wird, leichter als jede Begriffssprache, ist sie eine Praktik des Lebens, eine Praktik, so Nietzsche, die „ein chter Philosoph“ „ehemals“, als er noch „Furcht vor den Sinnen“ hatte, nicht mehr hçrte. Kçnnten wir mit unserem heutigen Sensualismus die „Musik des Lebens“ wieder hçren und wieder nach ihr leben, nach ihr ,tanzen‘?
752 Nietzsches Begriff der Praktik (im Singular) steht Pierre Bourdieus Begriff des Habitus nahe, der regelmßige, aber theoretisch weder artikulierte noch artikulierbare Praktiken (pratiques, im Plural) reproduziert. Bourdieu, Sozialer Sinn, 3. Kapitel: Strukturen, Habitusformen, Praktiken, 97 – 121, rekurriert jedoch nicht auf ihn. Er sieht, wie schon Heidegger, an den er anschließt (vgl. etwa 108 f.), bei Nietzsche nur ein „Spiel der umgekehrten Prferenzen“ zwischen Theorie und Praxis (55), und benutzt sein Werk im brigen als Spruchquelle. 753 Vgl. Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, bes. 9 – 108.
17.2. Neue ffnung fr die Sinne. Nr. 372
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17.2.2. Kants Ermßigung des griechischen Idealismus durch die Entsinnlichung der Sinne Dass wir die „Furcht vor den Sinnen […] vielleicht allzusehr verlernt“ haben, zeigt sich wiederum am deutlichsten bei Kant. In der Moderne wurde wie der Begriff der Sinnlichkeit auch der Begriff der Idee depotenziert. Gegenber ihrem platonischen Ursprung hatten ,Ideen‘ bei Descartes und im englischen Empirismus nur noch den Sinn von Vorstellungen des Bewusstseins, die vom Verstand geordnet werden. Kant gab zwar, unter Berufung auf Platon,754 den Ideen wieder einen strkeren Sinn als ,Ideen der Vernunft‘, und der Deutsche Idealismus, insbesondere Hegel, verstrkte ihn weiter. Doch zugleich wollte Kant den Idealismus Platons abschwchen, und er tat das, indem er ihn mit Humes Sensualismus verknpfte. Man kann mit Nietzsche von einer „E r m ß i g u n g“ des Idealismus sprechen. Nach dem Lenzer Heide-Notat war er als „Gegenmittel“ gegen den Nihilismus „nicht mehr so nçthig“, weil das Leben in Europa allmhlich weniger „ungewiß, zufllig, unsinnig“ geworden, die Furcht im Dasein langsam geschwunden war.755 Auf der andern Seite haben die Sinne bei Kant sichtlich ihre Kraft verloren. Sie „affizieren“ wohl das „Gemt“, jedoch nur mit „sinnlichen d a t i s“, dem „rohen Stoff sinnlicher Eindrcke“, den der Verstand unangefochten in seinen Formen „verarbeiten“ kann.756 Als bloße Datenlieferanten haben sie nichts Bedrngendes, berwltigendes, Verfhrerisches, und das galt auch schon fr Lockes ,sensations‘ und Humes ,impressions‘. Was die Furcht der Griechen vor den Sinnen einmal gewesen sein kçnnte, zeigt Nietzsche am berhmten Abenteuer des Odysseus, der whrend der Vorbeifahrt an der Insel der Sirenen die Gefhrten Wachs in ihre Ohren stopfen und sich selbst am Schiffsmast festbinden ließ. Nur so konnte er sich ungefhrdet dem ebenso verfhrerischen wie todbringenden Gesang der Sirenen aussetzen.757 Was bei Odysseus noch zeitweiliger Schutz vor der Verfhrung durch die Sinne war, wurde, so Nietzsche, bei den Philosophen zur dauernden Flucht vor ihr in ein „kaltes Reich der ,Ideen‘“, auf die der Erkennende immer dann blicken sollte, wenn die 754 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 370 ff. 755 N 1886/87, 5[71]3, KSA 12.212 / N VII 3, S. 15. Vgl. die Abschnitte 4 u. 15 des Notats. 756 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 68, A 250, B 1. 757 Levinas, Die Versuchung der Versuchung, 57 – 95, hat darin die Grundhaltung des europischen Philosophierens berhaupt gesehen.
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17. Hçren der Musik des Lebens
Verfhrung drohte; sie stopften sich selber Wachs in die Ohren. Das Reich der Ideen war, wie Platon an Sokrates’ Schicksal zeigte, nicht leicht zu errichten und, wie dann die harten Angriffe seines Schlers Aristoteles erwiesen, nur schwer zu verteidigen. Umso strker, vermutet Nietzsche, muss die Gewalt der Verfhrung gewesen sein: es muss sich um die strksten sinnlichen Verlockungen, die erotischen, gehandelt haben, die, denen Platon seinen Sokrates demonstrativ immer wieder ausgesetzt hat. Sokrates hatte, so zeigte ihn Platon in vielen seiner Dialoge, der Verfhrung strahlend schçner Kçrper standzuhalten. Platon sagte, so Nietzsche in GD, mit einer Unschuld, zu der man Grieche sein muss und nicht ,Christ‘, dass es gar keine platonische Philosophie geben wrde, wenn es nicht so schçne Jnglinge in Athen gbe: deren Anblick sei es erst, was die Seele des Philosophen in einen erotischen Taumel versetze und ihr keine Ruhe lasse, bis sie den Samen aller hohen Dinge in ein so schçnes Erdreich hinabgesenkt habe. (GD Streifzge 23)758
Exemplarisch lsst Platon im Dialog Phaidros den schçnen jungen Mann offen mit seiner erotischen Macht Sokrates nçtigen, die Ideen mit hçchstem Glanz auszustatten. Auf der andern Seite schrnkt sein Sokrates in der Politeia, wo es um die rechte Erziehung der jungen Mnner zu guten Brgern eines idealen Staates geht, Musik, Dichtung, Kunst aufs pdagogisch Sinnvolle und Ntzliche ein und schließt Sirenen-Geschichten jeglicher Art davon aus. Die Strenge dieses Ausschlusses zeigt nach Nietzsches Heuristik der Not das Maß der Gefahr an, das Platon frchtete. Und Platon hatte auch selbst, wenn man der berlieferung glauben darf, seine Insel der Sirenen, sein „gefhrliches sdlicheres Eiland“: Sizilien, wo er seine „Philosophen-Tugenden“ in der Politik erprobte und dabei der Leidenschaft zu Dion verfiel. Wie wenig verfhrerisch die Sinne und wie blass die Ideen bei Kant geworden sind, wird Nietzsche in GD auf die Formel bringen: „Die alte 758 Vgl. schon MA I 259: „Die erotische Beziehung der Mnner zu den Jnglingen war in einem, unserem Verstndniss unzugnglichen Grade die nothwendige, einzige Voraussetzung aller mnnlichen Erziehung (ungefhr wie lange Zeit alle hçhere Erziehung der Frauen bei uns erst durch die Liebschaft und Ehe herbeigefhrt wurde), aller Idealismus der Kraft der griechischen Natur warf sich auf jenes Verhltniss, und wahrscheinlich sind junge Leute niemals wieder so aufmerksam, so liebevoll, so durchaus in Hinsicht auf ihr Bestes (virtus) behandelt worden, wie im sechsten und fnften Jahrhundert“. Foucault, Der Gebrauch der Lste, ist diesen Hinweisen grndlich nachgegangen. Welche Schwierigkeiten mit dieser Art erotischer Sinnlichkeit die gegenwrtige philologische und philosophische PlatonForschung immer noch hat, zeigt Erler, Platon.
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Sonne im Grunde, aber durch Nebel und Skepsis hindurch; die Idee sublim geworden, bleich, nordisch, kçnigsbergisch.“ (GD Fabel). Dass „wir“, die „heute geneigt“ seien, „gerade umgekehrt zu urtheilen (was an sich noch eben so falsch sein kçnnte): nmlich dass die I d e e n schlimmere Verfhrerinnen seien als die Sinne“, drfte ebenfalls auf Kant zielen. Er hatte seine „Unterscheidung aller Gegenstnde berhaupt in Phaenomena und Noumena“ in der Kritik der reinen Vernunft ebenfalls mit einer InselMetapher eingeleitet. Doch nun hat sich das Verhltnis umgekehrt, nun sind es die Ideen, die tuschen, verfhren, Illusionen erwecken kçnnen, und nun ist es die Insel der (ungefhrlich gewordenen) Sinne, auf die man sich vor ihnen retten kann und muss. Sie, nicht mehr das Reich der Ideen, ist nun „das Land der Wahrheit“, und sie ist, so Kant, umgeben von einem weiten und strmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitze des Scheins, wo manche Nebelbank, und manches bald wegschmelzende Eis neue Lnder lgt, und indem es den auf Entdeckungen herumschwrmenden Seefahrer unaufhçrlich mit leeren Hoffnungen tuscht, ihn in Abenteuer verflicht, von denen er niemals ablassen und sie doch auch niemals zu Ende bringen kann.759
Aus der Verfhrung zum Eiland des Erotisch-Sinnlichen, gegen die sich Platon mit seinem Idealismus zu wappnen hatte, ist die Selbstbehauptung der Vernunft auf der Insel des bloßen sinnlichen Datenmaterials geworden, auf der man sich gegen die Verfhrung des Idealismus zu wappnen hat. Furchtlos kann man nun nicht mehr Idealist, sondern nur noch Sensualist sein. Den moralischen Sinn, den der Begriff des Idealismus im alltglichen Sprachgebrauch inzwischen angenommen hatte als Streben, selbstlos moralischen Idealen gerecht zu werden, bergeht Nietzsche in FW 372. Er hatte ihn schon in M unter dem Titel „D i e e h e m a l i g e d e u t s c h e B i l d u n g“ einer scharfen Kritik unterworfen und darin die Deutschen Idealisten (er nennt dort Schiller, W. v. Humboldt, Schleiermacher, Hegel und Schelling) einbezogen. In ihrer „Sucht, um jeden Preis moralisch e r r e g t zu erscheinen“, und ihrem „Verlangen nach glnzenden knochenlosen Allgemeinheiten, nebst der Absicht auf ein Schçner-sehen-wollen in Bezug auf Alles (Charaktere, Leidenschaften, Zeiten, Sitten), – leider ,schçn‘ nach einem schlechten verschwommenen Geschmack, der sich nichtsdestoweniger griechischer Abkunft rhmte,“ htten sie einen „weichen, gutartigen, silbern glitzernden Idealismus“ geschaffen, „welcher vor Allem edel verstellte Gebrden und edel verstellte Stimmen haben will, ein Ding, ebenso anmaasslich als harmlos, beseelt vom herzlichsten Widerwillen gegen die ,kalte‘ oder ,trockene‘ Wirklichkeit, gegen die Anatomie, gegen die vollstndigen Leidenschaften, gegen jede Art philosophischer Enthaltsamkeit und Skepsis, zumal 759 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 235 f./B 294 f.
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aber gegen die Naturerkenntniss, sofern sie sich nicht zu einer religiçsen Symbolik gebrauchen liess.“ (M 190) Dies sei ein Idealismus, der sich, so Nietzsche dann in GM, „vermçge seiner moralischen Verssslichung“ nur „,Idealismus‘ nennt und jedenfalls Idealismus glaubt.“ (GM III 19) Er lenke von den Realitten des Lebens ab und sei ein „Hirngespinst“ (WA, Epilog).760 Von diesem gespenstischen Idealismus glaubt sich Nietzsche allzu lang selbst infiziert, und „verflucht“ ihn dafr zuletzt: die Unwissenheit in physiologicis – der verfluchte ,Idealismus‘ – ist das eigentliche Verhngniss in meinem Leben, das berflssige und Dumme darin, Etwas, aus dem nichts Gutes gewachsen, fr das es keine Ausgleichung, keine Gegenrechnung giebt. Aus den Folgen dieses ,Idealismus‘, erklre ich mir alle Fehlgriffe, alle grossen Instinkt-Abirrungen und ,Bescheidenheiten‘ abseits der A u f g a b e meines Lebens, zum Beispiel, dass ich Philologe wurde – warum zum Mindesten nicht Arzt oder sonst irgend etwas Augen-Aufschliessendes? (EH klug 2)
17.2.3. Der „schwindschtige Spinoza“ als (angebliches) Opfer des Idealismus Nietzsche stellt Platon in FW 372 jedoch nicht Kant und die Deutschen Idealisten, sondern Spinoza gegenber. Dafr lieferte ihm wiederum Gustav Teichmller mit seinen Studien zur Geschichte der Begriffe von 1874 und seinem systematischen Hauptwerk Die wahre und die scheinbare Welt. Neubegrndung der Metaphysik von 1882 ein Modell.761 Wo in „Wie die ,wahre Welt‘ endlich zur Fabel wurde“ aus GD steht: „ lteste Form der Idee, relativ klug, simpel, berzeugend. Umschreibung des Satzes ,ich, Plato, b i n die Wahrheit‘“, stand zunchst: „vernnftig, simpel, thatschlich, sub specie Spinozae {Umschreibung des Satzes ,ich, Spinoza, bin die Wahrheit‘}“ (KSA 14.415; W II 5, S. 64). Spinoza scheint in Nietzsches Heuristik der Not von ,Idealisten‘Anhaltspunkt fr Platon gewesen zu sein, nicht umgekehrt. In der Sache ist das berraschend: Spinoza wird ge760 Auch nach Kant muss bei „reinen Vernunftbegriffen“ erst erwiesen werden, „dass sie nicht bloße Hirngespinste sind“ (Proleg. § 40, AA 4.327). Wie Nietzsche bleibt auch Kant gegen ,das Ideale‘ misstrauisch, vor allem, wenn es mit Liebe in Verbindung gebracht wird. Vgl. Nachlass, AA 22.76: „Die Wollustige Liebe ist der Grund der Geschlechterneigung. Daher ist alles schçne u. Erhabene in dieser Liebe nur ein Hirngespinst wenn diese nicht vorausgesetzt wird. Der Ehemann muß bey Tage u. Nacht Mann seyn. Es dient auch diese Anmerkung dazu vor zrtliche u. hochachtungsvolle Liebe der Geschlechter zu warnen denn diese artet ofters in den Ausbruch der Wollust aus.“ 761 Vgl. Gawoll, Nietzsche und der Geist Spinozas, 58 mit Anm. 27.
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wçhnlich wohl dem modernen Rationalismus, nicht aber dem Idealismus zugeordnet, auch wenn er fr den Deutschen Idealismus große Bedeutung hatte. Auch Nietzsche scheint, so stellt er es dar, Spinoza nur nebenbei, als Beispiel einzufallen („Fhlt ihr nicht an solchen Gestalten, wie noch der Spinoza’s“); er ist noch bei den „alten Philosophen“, als es sich ihm plçtzlich aufdrngt und dann nicht mehr loslsst. Seine Sprache wird erregt, ergriffen. Er steigert sich, hçrbar durch eine Parenthese und ein Anakoluth, dann durch die Apostroph an die Leser mit drei rhetorischen Fragen, ein neuerliches Anakoluth und einer abschließenden Parenthese, in ein regelrechtes Grauen davor hinein, was der Idealismus auch in der Moderne noch mit einer solchen „Gestalt“ anrichten konnte. In der Erregung fllt die merkwrdige Einordnung Spinozas kaum auf. Sie ist fr Nietzsche jedoch nicht merkwrdig: Spinoza, dessen Philosophie ebenso als Metaphysik wie als Ethik, als Materialismus wie als Rationalismus, als Monismus wie als Perspektivismus, als jdisch wie als christlich, als Pantheismus wie als Atheismus verstanden werden konnte und so sich allen Rubrizierungen und Festlegungen auf dogmatische Positionen entzog, stand, was schon seine Zeitgenossen beeindruckte, als Person fr seine Philosophie, er war, wie fr Nietzsche nur die alten Philosophen, eine Persçnlichkeit eigenen Ranges. Aber eben diese Persçnlichkeit schien ihm von ihren „I d e e n“ nun ausgesaugt, nicht mehr sie selbst. Ihre Ideen verselbststndigten sich, so stellt Nietzsche es dar, zu einem Vampyr, einer „Blutaussaugerin, welche mit den Sinnen ihren Anfang macht und zuletzt Knochen und Geklapper brig behlt, brig lsst“. Das Wort „brig“ erscheint gleich drei Mal, zuletzt gesperrt („ b r i g b l i e b“). Dazwischen wechselt Nietzsche die Perspektive. Die Blutaussaugerin behlt brig: das heißt, sie behlt Knochen und Geklapper, ein Skelett, das sie befriedigt ausgeweidet sieht, fr sich zurck. Sie lsst brig: das heißt, sie berlsst es achtlos anderen, fr die das „Kategorien, Formeln, Wo r t e“ sind. Und das bleibt den Lesern nun von Spinoza, die daraus nicht mehr entnehmen kçnnen, was in ihm gelebt, was ihn zu seinem Werk gebracht, was ihn fr dieses Werk am Leben gehalten hat. Selbst fr eine Heuristik der Not bietet es kaum mehr Anhaltspunkte. Nietzsches Erregung kçnnte weniger dem Schauder ber Spinozas Schwindsucht entsprungen sein, die ihn sein halbes Leben lang heimgesucht hatte – Vergleichbares kannte er selbst gut genug –, sondern dass es Spinoza augenscheinlich gelungen war, ganz in seiner Philosophie aufzugehen, in seiner Philosophie zu leben oder, mit Nietzsches Begriff, seine Philosophie als Praktik zu leben.
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Diese Praktik entsprang einer tief durchdachten Theorie – und hob diese Theorie in sich auf. Spinoza misstraute noch den Sinnen, aber auch schon den Ideen. Er frchtete eine Verfhrung nach beiden Seiten, nach der Seite der Ideen, weil sie gefhrliche Wunschvorstellungen sein kçnnen,762 aber auch nach der Seite der sinnlichen Affekte, weil sie solche Ideen hervorrufen.763 Affekte waren fr ihn noch nicht bloße Sinnesreize, die Stoff fr Erkenntnisse abgeben, sondern etwas, das beunruhigt, verstçrt, leiden macht und das Denken berwltigen kann. Im Verein mit den Ideen, die sie hervorrufen, treiben sie in immer neue Unzufriedenheit, Leiden und Nçte. Fr Spinoza waren die sinnlichen Affekte noch eine so schwere Not, dass er seine ganze Ethik darauf ausrichtete, sie fr den Intellekt durchsichtig und dadurch beherrschbar zu machen; seine Ethik ist im Sinn von FW 360 (13.1.) eine Ethik der Beherrschung der affektiven Wnsche als ,treibender Krfte‘, einschließlich der Ideale, die sie ,dirigieren‘ (zugleich als ihre Objekte und ihre scheinbaren Subjekte). Der Weg, von den Wnschen, den durch Affekte insinuierten Zwecken loszukommen, ist der mos geometricus, die mathematische Methode, nach der Spinoza die Propositionen seiner Ethik aus vorgegebenen Definitionen und Axiomen deduzieren und systematisch ordnen wollte. Denn nur die Mathematik kenne keine Zwecke.764 Spinoza hat damit Nietzsches Kritik der Zwecke vorweggenommen, was Nietzsche auch bewusst war („er leugnet die Willensfreiheit –; die Zwecke –“).765 Was Nietzsche „die immer idealischer ausgelegte Entsinnlichung“ nennt, ist in Spinozas Philosophie dennoch nicht die Befreiung von der Wirkung sinnlicher Affekte zugunsten von idealen Vorstellungen. Denn von sinnlichen Affekten kann man nach Spinoza wie auch nach Nietzsche gar nicht loskommen, sie halten das Leben in Gang. Doch sie sollen das Denken nicht nçtigen. Das ist, auch hier stimmen Spinoza und Nietzsche berein, seinerseits nur durch Affekte mçglich, nmlich so, dass das Denken zum strkeren Affekt und zur treibenden Kraft wird. Dazu muss es so konsequent wie mçglich die Ursachen der Nçtigung durch die Affekte erschließen und dazu wiederum die Notwendigkeit all dessen, woraus sie herrhren, zuletzt also all dessen, was ist; denn alle Ursachen haben wieder Ursachen in anderen Ursachen, sie sind in einem unendlich komplexen Netzwerk verknpft. Je weiter man die Notwendigkeit dieses Ursachengeflechts erschließt, desto mehr werden die Wunschvorstellungen, die Ideale, zu denen die Affekte treiben, zur Ruhe kommen, der Widerstand gegen das Notwendige, das Streben, auf dem eigenen Sein zu beharren (conatus in suo esse perseverandi; 5.3.2.), schwindet, und das Denken, das auf diese Weise aus uneinsichtiger Unzufriedenheit einsichtige Zufriedenheit schafft, wird selbst zu einem Affekt, zum wohltuenden Affekt der Freude: Nietzsche schrieb beglckt an Overbeck, dass Spinozas „Gesamttendenz gleich der meinen ist – die Erkenntniß z u m m c h t i g s t e n A f f e k t zu machen“.766 Das Ganze aber, in das es Einsicht zu gewinnen gilt, ist nach Spinoza Gott. Denn Gott, wenn er alles geschaffen hat, muss sich auch selbst geschaffen haben, also causa sui sein, und als 762 763 764 765 766
Vgl. den Schluss des Appendix zum I. Teil der Ethik. Vgl. den III. und IV. Teil der Ethik. Vgl. den Appendix zum I. Teil der Ethik. Postkarte an Franz Overbeck, 30. Juli 1881, KGB III/1, Bf.135. Postkarte an Franz Overbeck, 30. Juli 1881, KGB III/1, Bf.135.
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causa sui zeigt er sich unmittelbar in seiner Schçpfung, der Natur (deus sive natura). Diese Natur ist fr den Menschen dann wie Gott nur begrenzt zu begreifen; Nietzsche notierte, Spinoza „empfand sogar ,natura sive deus‘“ (N 1885, 36[15], KSA 11.557 / W I 4, S. 40), und sprach von „u n v e r n n f t i g e r N o t h w e n d i g k e i t“ (N 1881, 11[225], KSA 9.528). So bleibt die vollkommene Einsicht in die Notwendigkeit der Natur zuletzt in der Tat ein Ideal. Wrde man sie aber vollkommen einsehen, kçnnte man sie, mit Nietzsche zu sprechen, nur lieben, „ohne Abzug und Ausschluss, ohne Distanz“ (AC 29). Und da auch die Erkennenden Teil der Gott-Natur sind, ist es, so Spinozas letzte Konsequenz, Gott selbst, der in ihrer einsichtigen Liebe zu ihm sich selbst liebt (amor Dei intellectualis). Sie wre in Nietzsches Begriffen die Praktik Gottes, der keine Theorie nçtig hat, in dem alle Theorie immer schon aufgehoben ist.
17.2.3.1. Nietzsches çffentliche Auseinandersetzung mit Spinoza: Angriff auf die „immer idealischer ausgelegte Entsinnlichung“. – Nietzsche lsst sich in FW 372 auf all das nicht ein, sondern macht kurzen medizinischen Prozess. Er belsst es dabei, dass dem „amor intellectualis dei“ „jeder Tropfen Blut fehlt“. Er verzichtet hier seinerseits auf alle Beweise, geht gleitend vom Philosophischen (Spinozas angeblicher Idealismus) ins Medizinische („anmisch“, „Blut“, „Herz“, „Knochen“) und vom Medizinischen ins halb Dmonische, halb Komische ber („Vampyrismus“, „Blutaussaugerin“), hlt alles in der Schwebe des Metaphorischen. Zunchst gebraucht er noch Gnsefßchen („,Blut‘“, „,Herz‘“), verzichtet aber auf sie, je greller die Metaphern werden. Die leitende Metapher ist ,Blut‘. Nietzsche gebraucht sie hufig und wechselnd. Schon in PHG hatte er geschrieben: „Die Spinne will doch das Blut ihrer Opfer; aber der parmenideische Philosoph haßt gerade das Blut seiner Opfer, das Blut der von ihm geopferten Empirie“ (PHG 10, KSA 1.844), und in MA: „jedes Talent ist ein Vampyr, welcher den brigen Krften Blut und Kraft aussaugt“ (MA I 260). Blut nennt Nietzsche in einem Notat aber auch, was ihn mit Platon und Spinoza verbindet: „Wenn ich von Plato Pascal Spinoza und Goethe rede, so weiß ich, dass ihr Blut in dem meinen rollt“ (N 1881, 12[52], KSA 9.585). Es ist das Blut, mit dem man, wie Nietzsche seinen Zarathustra sagen lsst, schreiben soll: „Schreibe mit Blut: und du wirst erfahren, dass Blut Geist ist.“ (ZA I Lesen, KSA 4.48) Danach lebt Geist vom Blut, zehrt aber das Blut auch auf. Mit bloßem Blut ist nichts bewiesen. Von den Priestern lsst Nietzsche Zarathustra sagen: „Blutzeichen schrieben sie auf den Weg, den sie giengen, und ihre Thorheit lehrte, dass man mit Blut die Wahrheit beweise. / Aber Blut ist der schlechteste Zeuge der Wahrheit; Blut vergiftet die reinste Lehre noch zu Wahn und Hass der Herzen.“ (ZA II Priestern, KSA 4.119)767 767 Nietzsche zitiert die Stelle nochmals in AC 53. N 1882/83, 4[249], KSA 10.180, notiert er: „Blut grndet Kirchen: was hat Blut mit Wahrheit zu schaffen! / Und wollt ihr Recht von mir haben, so beweist mir mit Grnden und nicht mit Blute.“
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Spinoza schreibt Nietzsche nur Blutleere, nicht Blutvergiftung zu, Spinoza wird krank, aber nicht Priester im Sinn von FW 351 (8.2.) oder Religionsstifter im Sinn von FW 353 (8.3.) oder der GM; dazu bleibt seine Philosophie zu irritierend, auch fr Nietzsche selbst. Seine ußerungen ber Spinoza gehen extrem auseinander, sowohl im verçffentlichten Werk als auch im Nachlass. Nicht nur die Stellungnahmen, auch die Themen der Auseinandersetzungen unterscheiden sich stark.768 FW 372 muss in deren Kontext gelesen werden. In MA, also bevor er Spinoza im Juli 1881 als Vorgnger wiederentdeckt hat (2.4.), geht Nietzsche bis zur Huldigung, nennt Spinoza einen „wissenden Genius“ (MA I 157) und den „reinsten Weisen“ (MA I 475), inszeniert im II. Band jene „Hadesfahrt“, wie sie (der in FW 372 ungenannt wiederkehrende) Odysseus unternommen hatte, um unter anderen auch Spinoza zu begegnen (MA II, VM 408/ 4.3.); er will den Schatten, die fr ihn weit lebendiger sind, als die jetzt Lebenden es sein kçnnten, sein Blut opfern. Dann aber und gerade nach der emphatischen Neuentdeckung Spinozas setzt mit den ersten IV Bchern der FW eine Serie scharfer kritischer ußerungen ein. Spinoza, heißt es nun, „der sich als Erkennender gçttlich fhlte“, sei dem „Irrthum“ aufgesessen, „in der Wissenschaft etwas Selbstloses, Harmloses, Sich-selber-Gengendes, wahrhaft Unschuldiges zu haben und zu lieben […], an dem die bçsen Triebe des Menschen berhaupt nicht betheiligt seien“ (FW 37). Sein gçttliches Gefhl beim Erkennen habe ihn naiv
Vgl. auch N 1882/83, 5[1]175, KSA 10.206: „Blut ist ein schlechter Zeuge fr Wahrheit: Blut vergiftet eine Lehre, so daß sie ein Haß wird“ und spter GM II 3: „wie viel Blut und Grausen ist auf dem Grunde aller ,guten Dinge‘!…“ 768 Zu Nietzsches Auseinandersetzungen mit Spinoza vgl. die umfassenden Aufarbeitungen von Wurzer, Nietzsche und Spinoza; Stambaugh, Amor dei and Amor fati; Whitlock, Roger Boscovich, Benedict de Spinoza and Friedrich Nietzsche; Schacht, Making Sense of Nietzsche, 167 – 186; Yovel, Spinoza und Nietzsche, 384 – 420; Gawoll, Nietzsche und der Geist Spinozas; Liveri, Nietzsche e Spinoza; Spindler, Philosophie de la puissance; Brobjer, Nietzsche’s Philosophical Context, 77 – 82. Yovel spricht von „verblffender ,Zweisamkeit‘“, deretwegen „sich Nietzsche immer von Spinoza verfolgt“ sah (417), und zuletzt von „feindlicher Bruderschaft“ (420). Einerseits meint er, in Spinozas Substanz und seinem Vertrauen in die Logik noch „Schatten des toten Gottes“ und Nietzsche daher in sicherer Entfernung von Spinoza sehen zu kçnnen (399 ff.), andererseits bringe Spinoza Nietzsches „genealogisches System“ aber eklatant durcheinander: denn danach htte Spinoza von Ressentiments vergiftet sein mssen, war es aber offenbar nicht (419). Gawoll arbeitet strker die „Provokation“ (57), die Spinozas Philosophie fr Nietzsche bedeutete, ihren fr ihn „innovativen Geist“ (61) heraus und trennt dabei im Unterschied zu Yovel sorgfltig Nietzsches „exoterische“ Auseinandersetzung mit Spinoza im çffentlichen Werk von der „esoterischen“ in den Notaten. Auf FW 372 geht er nicht nher ein.
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genug gemacht, hier nicht mehr weiter nachzufragen (FW 333).769 Von hier aus greift Nietzsche in JGB 5 auch den mos geometricus als „Hocuspocus“ und bloße „Maskerade eines einsiedlerischen Kranken“ an, „um damit von vornherein den Muth des Angreifenden einzuschchtern, der auf diese unberwindliche Jungfrau und Pallas Athene den Blick zu werfen wagen wrde“, whrend er, Nietzsche, Masken fr sich selbst durchaus schtzt (JGB 40). Damit sind, noch am Rande, die Motive des kranken, schwindschtigen Spinoza und des gespenstischen Geklappers eingefhrt, die im V. Buch der FW in den Mittelpunkt rcken. In JGB 25 fgt Nietzsche (anders als in FW 372) noch das Motiv der Rache hinzu, auf die „Zwangs-Einsiedler“ wie Spinoza (und wohl auch Nietzsche), diese „Ausgestossenen der Gesellschaft, diese Lang-Verfolgten, Schlimm-Gehetzten,“ unvermeidlich verfallen mssten.770 Als „naiv“ stellt er nun auch Spinozas Vertrauen in die „Zerstçrung der Affekte“ – um die es Spinoza gar nicht ging – „durch Analysis und Vivisektion derselben“ (JGB 198) dar.771 In der GM aber ruft er Spinoza fr seine eigene Kritik der Moral zum Zeugen an.772 In GD zhlt er Spinozas Begriff der causa sui, den nicht nur er seinem Gottesbegriff, sondern die Philosophen berhaupt dem Glauben an selbststndige Begriffe zugrunde gelegt htten, dann wieder zu den „Gehirnleiden kranker Spinneweber“ (GD Vernunft 4). Am nchsten aber rckt er mit dem ,amor fati‘ an Spinoza heran. Er verbindet mit ihm das, was Spinoza mit dem ,amor Dei intellectualis‘ verband: „dass man Nichts anders haben will, vorwrts nicht, rckwrts nicht, in alle Ewigkeit nicht. Das Nothwendige nicht bloss ertragen, noch weniger verhehlen […], sondern es l i e b e n …“ Dies soll nun seine „Formel fr die Grçsse am Menschen“ sein. Und sie soll, fgt er in Parenthese ein, allen Idealismus ausschließen („– aller Idealismus ist Verlogenheit vor dem Nothwendigen –“, EH klug 10). Also auch bei Spinoza? Sofern nach Spinoza Gott von der Natur nicht zu unterscheiden ist, kçnnte auch der amor fati vom amor Dei intellectualis nicht zu unterscheiden sein.773 769 Vgl. (ohne Bezug auf Spinoza) M 129 und JGB 36. Nietzsche hat seinerseits die Analyse der Denkprozesse als evolutionre Lebensprozesse in einer Reihe von Notaten weiterverfolgt. Vgl. v. a. N 1884, 26[92], KSA 11.173 f. (7.1.1.), und N 1885, 38[1], KSA 11.595 f. 770 Sie wrden, heißt es dort weiter, „zuletzt immer, und sei es unter der geistigsten Maskerade, und vielleicht ohne dass sie selbst es wissen, zu raffinirten Rachschtigen und Giftmischern (man grabe doch einmal den Grund der Ethik und Theologie Spinoza’s auf!)“. Nietzsche verzichtet jedoch im verçffentlichten Werk darauf, ihn aufzugraben, konkretisiert die Rache-Vermutung nicht. Spottverse, die ihm dazu einfielen und die Antisemiten in die Hnde gespielt htten, hlt er zurck. Vgl. N 1883, 7[35], KSA 10.253, und den Gedichtentwurf in N 1884, 28 [49], KSA 11.319. Nach dem Notat von 1885/86, 2[47], KSA 12.85 / W I 8, S. 168, hatte Nietzsche zunchst erwogen, das Gedicht unter die PV aufzunehmen. 771 Vgl. Yovel, Spinoza und Nietzsche, 398. Zur angeblichen „Inconsequenz“ Spinozas in der Annahme eines „Selbsterhaltungstriebs“, des conatus in suo esse perseverandi, vgl. 5.3.2. 772 GM Vorrede 5, II 15 und III 7. 773 Kaufmann, Nietzsche, 484, identifiziert Spinozas amor Dei und Nietzsches amor fati ohne weiteres, Stambaugh, Amor dei and Amor fati, nahezu (Nietzsche rede
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17.2.3.2. Nietzsches zurckgehaltene Auseinandersetzung mit Spinoza: Ewige Wiederkehr des Gleichen im Pantheismus. – Aus Nietzsches Notaten ergibt sich ein wieder anderes Bild. Er bekennt sich dort auch nach dem Sommer 1881 nahezu ungeteilt zu Spinoza. Danach will er Spinoza nicht nur sein Blut opfern, sondern dessen Blut „rollt“ in seinem.774 Nicht nur sei Spinozas amor Dei intellectualis ein „großes Ereigniß“ (4.4.), er selbst sei auch „tiefer umfnglicher {hçhlenhafter} verborgener“ als Descartes, wenn auch weniger als Pascal; „voller“ seien auch die vorsokratischen Philosophen.775 Im Zeitraum, als das V. Buch der FW entsteht und erscheint, nimmt Nietzsche schließlich keinen Philosophen ernster als Spinoza: er rckt ihn in das Zentrum seiner Auseinandersetzung mit dem europischen Nihilismus.776 Sein „{Hauptsatz: es giebt keine moral. Phnomene, sondern nur eine moral. Interpretat. dieser Phnomene. Diese Interpretation selbst ist selbst außermoral. Ursprungs}“ (N 1885/86, 2[165], KSA 12.149 / W I 8, S. 66) geht auf Spinoza zurck.777 Im Zug neuer Spinoza-Studien im Frhjahr 1887778 macht er Spinozas Hauptsatz „Nichts ist gefhrlicher als eine dem Wesen des L e b e n s widerstreitende Wnschbarkeit“ zum Angelpunkt einer „Geschichte des europischen Nihilismus“ (N 1886/87, 7[8], KSA 12.291 – 293). Schließlich konfrontiert er im Lenzer Heide-Notat den Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen mit dem Pantheismus Spinozas. Er fragt sich, ob der Gedanke nicht auch schon von Spinoza gedacht worden sein kçnnte: „,Alles vollkommen, gçttlich, ewig‘ zwingt ebenfalls zu einem Glauben an die ,ewige
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lediglich nicht von Gott), Yovel, Spinoza und Nietzsche, 411 – 413, strubt sich dagegen. Er sieht in Spinozas amor Dei „eine harmonische bereinstimmung mit dem Universum“, in Nietzsches amor fati dagegen „einen inneren Bruch“, der „durch trotzige Affirmation berbrckt“ werde und, anders als bei Spinoza, „alle mystischen Konnotationen“ ausschließe; wenn Nietzsche mit dem amor fati das Christentum berwinden wolle, bleibe ein „pessimistischer Atheismus“ „im Grund eine christliche Geisteshaltung“. Nietzsche habe der „pantheistischen Versuchung“ widerstehen wollen, eben weil sie noch theistisch war. Das sind sichtlich gesuchte Einwnde. Nietzsche hat sich zumindest dem letzten selbst gestellt. S. u. N 1881, 12[52], KSA 9.585. Vgl. N 1881, 15[17], KSA 9.642, und N 1884, 25 [454], KSA 11.134. N 1884, 26[416], KSA 11.262; N 1885, 36[32], KSA 11.564 / W I 4, S. 26; N 1884, 26[3], KSA 11.151; vgl. N 1884, 26[285], KSA 11.226. Vgl. v. a. N 1885/86, 2[131], KSA 12.131 / W I 8, S. 87 f. Vgl. Spinoza, Ethik IV, Praefatio (Spinoza, Opera, 2.384/385 f.: „Was das Gute und Bçse betrifft, so bedeutet auch diess nichts Positives in den Dingen, nmlich wenn man diese an sich betrachtet. Sie sind nur Modi des Denkens oder Begriffe, die wir daraus bilden, dass wir die Dinge miteinander vergleichen.“) Vgl. N 1886/87, 7[4], KSA 12.260 – 263. Nach Montinari, Kommentar, KSA 14.739, hat Nietzsche Mitte Mai bis Anfang Juni 1887 in der Bibliothek von Chur Exzerpte aus Spinoza, Leibniz, Hume, Kant selbst angefertigt; Gawoll, Nietzsche und der Geist Spinozas, 61, und Brobjer, Nietzsche’s Philosophical Context, 77 f., meinen, er habe lediglich noch einmal Kuno Fischers Spinoza-Darstellung studiert.
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Wiederkunft‘“ (N 1886/87, 5[71]7, KSA 12.213 / N VII 3, S. 17).779 Denn betrachtet man mit Spinoza „die ganze Natur (totam naturam) als ein Individuum (unum esse Individuum), dessen Teile, d. h. alle Kçrper, ohne irgendeine Vernderung des ganzen Individuums sich auf unendliche Weise unterscheiden und verndern (infinitis modis variant),“780 und nimmt man an, wie Nietzsche es tut, dass sich die Zahl der mçglichen Variationen der Kçrper im Einzelnen irgendwann erschçpft, so ergibt sich, dass sub specie aeternitatis, unter der Voraussetzung ewiger Zeit, die jeweiligen Variationen wiederkehren mssen.781 Bringe man „die Zweckvorstellung aus dem Prozesse weg“, wie Spinoza es tat, kçnne man „trotzdem den Prozeß“ genau dann „bejahen“, „wenn Etwas innerhalb jenes Prozesses in jedem Momente desselben erreicht wrde – und immer das Gleiche / Spinoza gewann eine solche bejahende Stellung, insofern jeder Moment eine logische Nothwendigkeit hat: und er triumphirte mit seinem logischen Grundinstinkte ber eine solche Weltbeschaffenheit.“ (N 1886/87, 5[71]7, 213 f. / N VII 3, S. 17 f.) ,Er triumphierte ber sie‘ heißt: er hielt sie aus. Spinoza wre danach mit seinem Pantheismus, sofern er den Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen einschließt, schon die berwindung des Nihilismus gelungen. Nietzsche scheint das so jedoch nicht hinnehmen zu kçnnen. Er wendet ein, Spinozas Fall sei „nur ein Einzel-Fall“ gewesen. Fr Nietzsche ist das ein merkwrdiger Einwand. Denn gerade fr ihn wird amor Dei intellectualis oder, mit seinem Begriff, amor fati immer nur Einzelnen mçglich sein, so wie immer nur Einzelne fhig sein werden, den Gedanken der ewigen Wiederkunft im Denken ernstzunehmen und ihm standzuhalten. Im Lenzer Heide-Notat lsst er denn auch das Problem ungelçst stehen, hlt lediglich daran fest, dass mit dem Nihilismus und dem Gedanken der ewigen Wiederkehr „ein Gegensatz zum Pantheismus erreicht ist angestrebt wird“ (N 1886/87, 5[71]7, 213 / N VII 3, S. 17).782 Und er schließt den Entwurf, wie 779 Abel, Nietzsche, geht in seinen umfassenden Erçrterungen des WiederkunftsGedankens auf Nietzsches Auseinandersetzung mit Spinoza an dieser Stelle nicht ein. 780 Ethik II, Propositio XIII, Lemma VII, Scholium (Spinoza, Opera, 2.190/191). 781 Dass sich aus Spinozas Ansatz der Gedanke eines „grundlosen Kreislaufs“ ergibt, hat schon Thomas Wizenmann (1759 – 1787) gesehen. Vgl. Otto, Studien zur Spinozarezeption, 207. – Whitlock, Roger Boscovich, Benedict de Spinoza and Friedrich Nietzsche, macht fr den Gedanken einer begrenzten Anzahl mçglicher Variationen des Universums Boscovich namhaft, fr dessen Universum punktfçrmiger Kraftzentren in seiner Philosophiae naturalis theoria, redacta ad unicam legem virium in natura existentium von 1758 sich Nietzsche stark interessiert hatte (13.1.). Whitlock konstruiert hier jedoch einen Gegensatz zu Spinoza und geht dabei von einem unhaltbaren Verstndnis von dessen Ethik aus, in dem die eine gçttliche Substanz schlicht als Materie erscheint. Zugleich gesteht er aber zu, dass Boscovichs Konzept, das er als Ursprung der „Theorien“ des Willens zur Macht und der ewigen Wiederkehr des Gleichen erweisen will, eben dazu durch Spinozas Konzept des conatus ergnzt werden msse. Die Auseinandersetzung mit Spinoza im Lenzer Heide-Notat ignoriert er ganz. 782 Simmel, Schopenhauer und Nietzsche, 356 f., wollte den Gegensatz so berwinden, dass er beiden, Spinoza und Nietzsche, die Leidenschaft zuschrieb, „mit
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erwhnt (2.4.), mit dem Gedanken, dass „die Reichsten an Gesundheit, […] Menschen die ihrer Macht sicher sind“, gar „keine extremen Glaubensstze nçthig haben“, also auch nicht „die ewige Wiederkunft“ (N 1886/87, 5[71]15 – 16, KSA 12.217 / N VII 3, S. 24). Spinoza htte sie nach Nietzsches eigener Interpretation denken kçnnen, hat sie aber nicht gedacht, vielleicht, weil er sie nicht nçtig hatte.
So wre Spinoza weniger als Nietzsche der philosophischen Auszehrung ausgesetzt gewesen, und Nietzsches Ergriffenheit vom Schicksal Spinozas in FW 372 kçnnte ihm selbst gegolten haben. Und, wenn man diese Parallele ziehen darf, sein Spinoza-Erlebnis in der Philosophie wre dann so etwas gewesen wie sein Erlebnis des Parsifal-Vorspiels in der Musik: Beide stellten seine scheinbar so bestimmten Urteile ,vor Zeugen‘ in Frage und nçtigten ihn, fr sich, ,ohne Zeugen‘, weiter und tiefer zu fragen. Wenn Wagners ,reiner Tor‘, Parsifal als Held seines ,Bhnenweihfestspiels‘, bei Nietzsche wenig Glauben fand, so umso mehr der ,reinste Weise‘ Spinoza. 17.2.4. Der „kluge Sokratiker“ Platon als (angebliches) Opfer des Idealismus Nietzsche malt Spinozas angebliche Auszehrung durch den Idealismus so grell aus, dass man keinem Idealismus mehr traut, aber auch Nietzsche nicht mehr, der dessen Wirkung so bersteigert. Dazu generalisiert er („In summa“) außerordentlich khn, von dem einzigen, auch fr ihn selbst fragwrdigen Beispiel Spinozas aus auf „allen philosophischen Idealismus“. Aber er erinnert auch daran, dass man es hier mit nur schwer dingfest zu machenden, nur metaphorisch zu fassenden Rckschlssen zu tun hat („Etwas wie Krankheit“). Und schließlich macht er auch hier sogleich eine Ausnahme: Platon mit seiner „berreichen und gefhrlichen Gesundheit“. Eine solche Ausnahme rckt, jedenfalls fr Nietzsche, die Regel in ein anderes Licht. Der Idealismus von uns „Gegenwrtigen“, Gott vçllig Eins zu werden, oder, mit dem khnsten Ausdruck: Gott zu werden“. Beide htten es (im Sinn von ZA II Insel, KSA 4.110) „nicht ertragen, nicht Gott zu sein.“ So habe der eine die Individualitt, der andere Gott geleugnet. Yovel, Spinoza und Nietzsche, 410 – 412, dagegen lsst eine unio mystica bei Spinoza noch zu, schließt sie bei Nietzsche zu Recht aber aus. Nietzsche habe der „pantheistischen Versuchung“ widerstanden, weil sein amor fati sie nicht zulasse (413). Aber Yovel meint auch (trotz JGB 295), Nietzsche habe eine Vergçttlichung des „Symbols“ Dionysos nicht zugelassen. Riedel, Das Lenzerheide-Fragment ber den europischen Nihilismus, betrachtet sowohl Spinoza als auch Nietzsche als „Extremisten“, denen ein Verzicht auf „extreme Hypothesen“ gar nicht mçglich gewesen sei (75).
17.2. Neue ffnung fr die Sinne. Nr. 372
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der Idealismus von Kant und der Idealismus von Spinoza ist nicht derselbe wie der Idealismus Platons, weder in den jeweiligen Theorien noch in den jeweiligen Bedrfnissen und Nçten, auf die sie schließen lassen. Die Idealismen haben nur eines gemeinsam, dass alle Philosophen einen Idealismus „n ç t h i g [ … ] h a b e n“. Fr die „Zuknftigen“ geht es deshalb nicht darum, an den einen oder andern anzuschließen oder ihn zu bernehmen, sondern sich fr die Idealismen in allem Philosophieren zu sensibilisieren, um das wieder hçren zu lernen, wovon alle Idealismen „weglocken“, die „Musik des Lebens“. Der Rckschluss auf den Anfang des Aphorismus, zu dem Nietzsche mit seinem doppelten Gedankenstrich einldt, scheint zu besagen: Wir sind wohl keine Idealisten, wie Platon mit seiner berreichen und gefhrlichen Gesundheit einer war, schon eher Idealisten nach dem Beispiel Spinozas, Kants, Hegels usw., vermutlich aber noch blassere, noch krnkere Idealisten, und wir halten uns nur darum fr Sensualisten, weil, im Vergleich mit dem Platons, unser Idealismus auf ußerste verblasst ist. Doch kçnnte dieser unser Sensualismus, der keinen ausgeprgten Idealismus, keine Theorie in der Art von Kants transzendentalem oder Hegels dialektischem Idealismus zum Schutz vor der Verfhrung durch die Sinne mehr nçtig hat, etwas Neues sein, etwa jene „freudigere wohlwollendere Goetheschere Stellung zur Sinnlichkeit“, kçnnte sie auch die „Zuknftigen in der Philosophie“ auszeichnen? Und wenn Nietzsche Platon „einen klugen Sokratiker“ nennt, msste er nicht gerade klug im Umgang mit seinem Idealismus gewesen sein? Was kçnnte das fr die „Zuknftigen“ bedeuten? Worin kçnnte ihre Klugheit in der Praktik des Sensualismus bestehen? Werden sie die Musik des Lebens wieder hçren kçnnen? Und was, wenn nicht mehr todbringend verfhrerische Sirenen, wrden sie da nun hçren? Dass auch Platon, der Begrnder des Idealismus, ein Opfer seines Idealismus war, hat die berlieferung und hat Nietzsche darauf gesttzt, dass er als junger Mann Tragçdien, Dithyramben und Epigramme verfasst, sie unter dem Einfluss des Sokrates aber verbrannt und seinem Knstlertum von da an nur noch in seinen Dialogen Raum gelassen haben soll.783 Wenn Nietzsche ihn in FW 372 „einen klugen Sokratiker“ nennt, so rckt er auch ihn in eine Reihe mit den Kynikern, die sich ebenfalls als kluge Sokratiker verstanden.784 So sehr Platon sich in seinem Lebensstil von ihnen abhob, war er nach Nietzsche doch ein begnadeter „Schauspieler des Geistes“ (FW 351/8.2.), der die Sophisten vor der athenischen Gesellschaft unermdlich eben als solche bloßzustellen suchte, nicht im eigenen 783 Vgl. v. a. GT 14, KSA 1.92 – 95. Zum einschlgigen Stand der Platon-Forschung s. Erler, Platon, 45. 784 Vgl. ebenfalls GT 14, KSA 1.93.
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17. Hçren der Musik des Lebens
Namen, sondern in der ,Semiotik‘ Sokrates. Platon lehrte auch die Ideen, die er nçtig haben mochte, um sich der Verfhrung durch die Sinne zu erwehren, nicht in einer Lehrschrift, mit der er seine Not allzu leicht htte offenbaren kçnnen, sondern ließ Sokrates ber sie mit andern argumentieren, doch auch nicht so, dass er eine einheitliche Lehre fr jedermann vertreten htte. Stattdessen hat er Sokrates den Vorschlag, Ideen anzunehmen, in verschiedenen Dialogen auf verschiedene Weise ins Gesprch bringen lassen. Wo Platon ihn doch einmal, als jungen Mann, versuchen ließ, aus der Ideen-Annahme eine bndige Lehre zu machen, im Dialog Parmenides, bertrug er es dem lteren, Parmenides, diese Lehre Punkt fr Punkt als unreif zu entlarven. Aus Nietzschescher Perspektive machte der reife Sokrates wechselnden Gebrauch von Ideen, je nachdem, wo und wie er sie nçtig hatte, und er tat das nach Platon denkbar souvern.785 So ging er klug mit den Ideen um. Aber Nietzsche schrieb whrend der Arbeit an ZA auch: „beim Lesen Teichmllers bin ich immer mehr starr vor Verwunderung, w i e w e n i g ich Plato kenne und wie sehr Zarathustra pkatom_fei“, wie sehr er platonisiere.786 Das lsst sich ebenfalls dahingehend verstehen, dass Nietzsche die Figur des Zarathustra wie Platon die Figur des Sokrates als Semiotik gebrauchte.787 Aber wahrscheinlicher ist, dass Nietzsche dabei an Platons Idealismus gedacht hat. Platon hatte die Ideen ins Spiel gebracht, um inmitten des haltlosen heraklitischen Werdens immer Gleiches, immer Wiederkehrendes denken zu kçnnen. Dazu mussten die Ideen ihrerseits immer die gleichen bleiben, fr Platon/Sokrates ewig sein. Nach Nietzsches/Zarathustras Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen soll alles, nicht nur Ideen wiederkehren. Und doch kann der Gedanke nur in platonischen Ideen (des Ewigen, der Wiederkehr, des Gleichen, all dessen, was ist) gedacht werden. In diesem Sinn muss auch Zarathustra platonisieren (doch Nietzsche lsst ihn den Gedanken dann gar nicht selbst aussprechen, 1.4.). Und schließlich platonisiert nach Nietzsche auch die Kunst. In einem Notat von 1886/87 mit dem Titel „W e r t h v o n W a h r h e i t u n d I r r t h u m“ schrieb er: Ein Knstler hlt keine Wirklichkeit aus, er blickt weg, zurck, seine ernsthafte Meinung ist, daß was ein Ding werth ist, jener schattengleiche Rest ist, 785 In den Dialogen Lysis und Charmides entfaltet Platon eigens die Unterscheidung von Gebrauch und Wissen, ohne eine Theorie des Gebrauchs zu geben. Stattdessen fhrt er an verschiedenen Figuren, vor allem natrlich an Sokrates, vor, dass man sich auf den Gebrauch von Wissen verstehen kann, ohne ein explizites Wissen von ihm haben zu mssen, exponiert ihn also in Nietzsches Sinn als Praktik. Vgl. Stegmaier, Philosophieren als Vermeiden einer Lehre. – Zu Platons Verzicht auf eine Ideenlehre vgl. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, und von Perger/ Hoffmann, Ideen, Wissen und Wahrheit nach Platon (Forschungsbericht). Die Autoren schließen mit der Feststellung: „Eine verbindliche Darstellung der ,Ideenlehre‘, oder auch nur eine wohlbestimmte Anzahl von diskutierbaren Rekonstruktionen einer solchen Lehre, ist nicht auszumachen. Dies mag man bedauern; aber […] dieser Befund [liegt] in der Sache, in einer Eigenart von Platons Œuvre, begrndet.“ 786 Postkarte an Franz Overbeck, 22. Oktober 1883, KGB III/1, Bf.469. 787 Vgl. Mller, Die Griechen im Denken Nietzsches, 234 – 244.
17.2. Neue ffnung fr die Sinne. Nr. 372
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den man aus Farben, Gestalt, Klang, Gedanken gewinnt, er glaubt daran, daß, je mehr subtilisirt verdnnt verflchtigt ein Ding, ein Mensch wird, u m s o m e h r s e i n W e r t h z u n i m m t: je weniger r e a l , u m s o m e h r W e r t h. Dies ist Platonismus: der aber noch eine Khnheit mehr besaß, im Umdrehen: – er maß den Grad Realitt nach dem Werthgrade ab und sagte: je mehr ,Idee‘, desto mehr Sein. Er drehte den Begriff ,Wirklichkeit‘ herum und sagte: ,was ihr fr wirklich haltet, ist ein Irrthum, und wir kommen, je nher wir der ,Idee‘ kommen, der ,Wahrheit‘. (N 1886/87, 7[2], KSA 12.253).
So wren im Sinn von FW 372 auch Knstler, deren Sinne am sensibelsten sein mssen, am Ende Idealisten, „n i c h t der Theorie nach, aber der Praxis, der Praktik…“ 17.2.5. Zuknftige Genesung vom Idealismus: neue Sensibilitt fr die „Musik des Lebens“ Was also wre nun jene „Musik des Lebens“, die „ein chter Philosoph“ nicht mehr hçren kann, seit die Philosophen den Idealismus erfanden, um sich vor der Verfhrung durch die Sinne zu schtzen? Das Leben kann nicht einfach Musik sein, aber als Musik gehçrt werden. 788 Philosophen glaubten es dagegen sehen zu kçnnen, nmlich unter Ideen, die dem Wortsinn nach Ideen der Sichtbarkeit sind. Aus der Musik oder doch ihrem Geist kann, so Nietzsche, wie schon der Titel seiner philosophischen Erstlingsschrift Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik besagte, etwas geboren werden, das Drama, Gestalten menschlichen Handelns.789 Strkster Anhaltspunkt dafr schien ihm die Rhythmik, die die Zeit erfahrbar ordnet, ohne sichtbare Gestalten vorzugeben (17.1.1.). Doch war hier noch mehr an die Musik von Knstlern als des Lebens gedacht. In einem Notat von 1883/84 setzte Nietzsche beim Leben selbst an, dem Leben als „Ernhrungs-Vorgang“, dem auch „alles sogenannte Fhlen, Vorstellen, Denken“ zugehçre. In ihnen ußere sich „1) ein Widerstreben gegen alle anderen Krfte 2) ein Zurechtmachen derselben nach Gestalten 788 Zur Musik als Gestalt des Lebens und Denkens vgl. Fietz, Medienphilosophie; Stegmaier, Musik und Bedeutung. Zur bersicht ber Nietzsches Musik-Denken und zu dessen Wirkung auf die Musik vgl. Ottmann, Art. Musik; Sorgner, Nietzsche; Hong, Friedrich Nietzsche und die Musik; Pçltner/Vetter (Hg.), Nietzsche und die Musik. 789 Zu den Anfngen von Nietzsches Musik-Denken vgl. Bruse, Die griechische Tragçdie als „Gesamtkunstwerk“; Fietz, Am Anfang ist Musik; Mller, „Aesthetische Lust“ und „dionysische Weisheit“.
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17. Hçren der Musik des Lebens
und Rhythmen 3) ein Abschtzen in Bezug auf Einverleibung oder Abscheidung.“ So wird der Mensch ein „formen- und rhythmenbildendes Geschçpf“: „Die Gestalten und Formen, die wir sehen und in denen wir die Dinge zu haben glauben, sind alle nicht vorhanden. Wir vereinfachen uns und verbinden irgend welche ,Eindrcke‘ durch Figuren, die w i r schaffen.“ (N 1883/84, 24[14], KSA 10.650 f.).790 Wir verstehen das Leben, einschließlich unserer selbst, indem wir Musik in ihm hçren. Und so verstehen wir auch die Sprache: „Das Verstndlichste an der Sprache ist nicht das Wort selber, sondern Ton, Strke, Modulation, Tempo, mit denen eine Reihe von Worten gesprochen werden – kurz die Musik hinter den Worten, die Leidenschaft hinter dieser Musik, die Person hinter dieser Leidenschaft“ (N 1882, 3[1]296, KSA 10.89).791 Das hatte, so Nietzsche, einmal etwas Lustvolles; jetzt droht mit den Zwngen der Arbeit zu çkonomischer Abkrzung der Zeit die Freude daran verloren und „auch das Gefhl fr die Form selber, das Ohr und Auge fr die Melodie der Bewegungen zu Grunde“ zu gehen (FW 329). Im spten Nachlass unterscheidet Nietzsche einen „aesthet. Zustand“ von einem „depressiven“: im depressiven werde „Hßliches“ erlebt, in den Bewegungen Hinken, Stolpern, in den Gestalten „der Niedergang, {die Verarmung an Leben,} die Ohnmacht, die Auflçsung, die Verwesung“, „im Logischen {– Schwere, Dumpfheit…}“. Dagegen habe der sthetische Zustand „einen berreichthum von Mittheilungsmitteln, zugleich mit einer extremen Empfnglichkeit fr Reize u. Zeichen. Er ist der Hçhepunkt der Mittheilsamkeit und bertragbarkeit zwischen lebenden Wesen, – er ist die Quelle der Sprachen.“ Er steigere im Sinn von FW 354 (9.5.) „die Mittheilungs-Kraft, insgl. die Mit Verstndniß-Kraft des Menschen.“ Man verstehe andere dann leichter, verstehe mehr von ihnen (was dann „,Sympathie‘“ oder moralisch „,Altruismus‘“ genannt werde). „Man theilt sich“, schließt Nietzsche die berlegung, „nie Gedanken mit, man theilt sich Bewegungen mit, mimische Zeichen, welche von uns auf Gedanken hin
790 Vgl. Dufour, La physiologie de la musique de Nietzsche, 236 – 238. 791 Masini, Rhythmisch-metaphorische ,Bedeutungsfelder‘, 282, spricht von „metasemantischer oder ,totaler‘ Sprache“. Sie sei „eine mimische Sprache, in der Modulation, Ton, Tempo, Rhythmus, ihre sinnliche Entsprechung in der Bewegung und im Innehalten der Gebrden, in der Bewegungsharmonie, im modulierten Skandieren der Haltungen, in der Beweglichkeit des Ausdrucks und der Blicke finden.“ Insbesondere in ZA habe Nietzsche sie im Schreibstil zu ußerster Expressivitt zu bringen versucht.
17.2. Neue ffnung fr die Sinne. Nr. 372
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zurck gelesen werden…“ (N 1888, 14[119], KSA 13.296 f. / W II 5, S. 100).792 Danach wrden Gedanken nicht nur leichter, sondern berhaupt erst aus der Rhythmik und Melodik der leiblichen Bewegung verstanden und blieben ansonsten freudlos, ausdruckslos, leer. Man muss sich nur tote Automatensprachen vergegenwrtigen, um das nachzuvollziehen: beim lebendigen Sprechen bewegt sich der Kçrper gestisch mit, der Kopf und die Augen, die Arme, Hnde und Finger, die Beine und Fße (die beim Sprechen gerne wippen); jeder Sprecher folgt in jeder Situation einem charakteristischen Sprechtempo und -rhythmus und einer signifikanten Intonation, einer Prosodie. Im Sprechen werden Stimmungen vorgegeben und Nachdruck verteilt; beides verhilft zur Einstimmung zwischen Sprecher und Hçrer und erleichtert den Austausch im Gesprch.793 Die Rhythmik und Melodik in den leiblichen und sprachlichen Bewegungen begleiten die geistigen; ohne diese so konkrete wie schlichte „Musik des Lebens“ fehlte ihnen die Orientierung. Die Resonanzen von Lebens-, Leib-, Sprech- und Denkrhythmik sind ganz unspektakulr, etwas vçllig Alltgliches, Unaufflliges, kaum Bewusstes und doch Unentbehrliches. Als ganz selbstverstndliche, kaum bewusste aber ist die „Musik des Lebens“ eine Kunst vor und doch ohne Zeugen. Sie ist die „Musik des Vergessens“ aus FW 367 (15.2.1.). Denn sucht man die Musik des Lebens als solche, fr sich, getrennt von dem zu ,hçren‘, was fr das Bewusstsein mitgeteilt wird, so wird sie ihrerseits unverstndlich, wirkt bizarr, grotesk (man sieht jemand grimassieren und gestikulieren, aber versteht nicht, was er sagt; heute brauchen wir nur den Ton beim Fernsehen abzuschalten). Beide, Mimik und Gebrdensprache auf der einen und bewusste Mitteilung auf der andern Seite, werden nur mit Hilfe der andern verstanden; die eine macht deutlich, was die andere meint, ergnzt ihre Zeichen; man oszilliert im Verstehen zwischen beiden (und in ihrer philosophischen Deutung darum zwischen Idealismus und Sensualismus). Doch die Zeichen der Musik des Lebens bleiben dabei im Hintergrund, ,vergessen‘. So wie man alles, was man sieht, nur vor einem Horizont sehen kann, dabei aber nicht auf den Horizont selbst blicken darf, ist die Musik des Lebens der 792 Von hier aus kehrt Nietzsche dann wieder zur Kritik an Wagners Musik zurck, der „lauter Krankheitsgeschichten in Musik gesetzt“ habe (N 1888, 15[99], KSA 13.465). Vgl. N 1888, 16[75], KSA 13.510 f., und schließlich WA 5. 793 Nach Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 398 – 408, hier 398. Es entsteht, so Wachsmuth, Kommunikative Rhythmen in Gestik und Sprache, „Interaktionssynchronizitt“.
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17. Hçren der Musik des Lebens
stets gegenwrtige und doch stets sich dem Bewusstsein und seiner Perspektive entziehende Horizont des Verstehens. Und das gilt dann nicht nur fr die willentliche sprachliche und die unwillentliche leibliche Mitteilung, sondern auch fr den Inhalt und die Form von Texten und insbesondere fr Nietzsches Aphorismen (3.1.7., 3.2.). Selbst scheinbar rein gedankliche Texte leben von ,Musik‘: in den Modi des Auftretens von Behauptungen (dogmatisch, kritisch, ironisch, zynisch, selbstironisch), der Einfhrung und des Gebrauchs von Begriffen (durch explizite Definition und Explikation, bloße Beiziehung oder Verschiebung, durch Ein- oder Entgrenzung, Systematisierung oder Dekonstruktion), der Gedankenfhrung (assoziierend, verflechtend, entfaltend, ergrndend, rekonstruierend, beweisend), der Plausibilisierung (durch Argumente, Metaphern, Geschichten, Beispiele) und der Originalitt der Argumente, Metaphern, Geschichten und Beispiele (standardisiert, erwartbar, einfallsreich, berraschend). Nietzsche versteht, wie sich gezeigt hat, seine Texte denkbar reich ,musikalisch‘ zu intonieren und zu orchestrieren. Wenn man will, kann man es als besonderes Raffinement von Nietzsches Aphorismenkunst betrachten, dass er von der „Musik des Vergessens“ vor der „Musik des Lebens“ gesprochen, FW 367 als thematischen Horizont fr FW 368 und FW 368 als Vorspiel fr FW 372 komponiert, dazwischen aber FW 371 mit der auffllig-unaufflligen Wortbildung „verhçrt“ eingeschoben hat. „Verhçrt“, das bedeutet nun: Als Musik des Vergessens darf man die Musik des Lebens nicht bewusst hçrt und nicht bewusst berhçren wollen, sondern man verhçrt sich dabei in dem Sinn, dass man, wenn man etwas hçrt, das gesagt wird, zugleich etwas anderes hçrt, als gesagt wird (so wie man beim bewussten Hçren sagt, ,da habe ich mich verhçrt‘). Man muss sich in der Musik des Lebens verhçren, wenn man sie so hçren will, wie sie gehçrt werden will, als Musik des Vergessens. Dazu berschreitet man, ganz alltglich, in aller Selbstverstndlichkeit und Leichtigkeit, die Oberflchen- und Zeichenwelt der Moral-, Sprach- und Bewusstseins-Perspektive, um mit ihr berhaupt etwas anfangen zu kçnnen. Den Sinn dafr haben wir lngst, und wenn die Philosophen heute allesamt Sensualisten geworden sind, jedenfalls der Praktik nach, so kçnnten sie nun auch dafr sensibel werden, woran auch sie sich unvermeidlich zuerst orientieren, an der Musik des Lebens – auch im Denken. Es kçnnte ein Schritt, einer von vielen, zu einem zuknftigen dionysischen Philosophieren, einer frçhlichen Wissenschaft sein.
18. Halt im Haltlosen Nach den vorsichtigen Versuchen in FW 368 und 372, die Moral-, Sprachund Bewusstseins-Perspektive aufzubrechen, schafft Nietzsche in FW 377 und 380 fr die „Kinder der Zukunft“ Aufbruchsstimmung. Die beiden Aphorismen gehçren schon nach ihren Titeln, „W i r H e i m a t l o s e n“ und „,D e r W a n d e r e r ‘ r e d e t“, zusammen;794 das Stichwort „ihr Auswanderer“ am Ende von FW 377 verweist direkt auf den Titel von FW 380. Die Titel wirken scheinbar entmutigend: der heimatlose Wanderer kann nicht, wie ehemals Odysseus, in sein angestammtes Erbe zurckkehren und will es auch nicht, und whrend sich Nietzsches „E i n s i e d l e r“ noch in der Gesellschaft zurckzieht (FW 364 und 365/15.1.), der „Cyniker“ sich in ihr von ihr distanziert und zur Selbsterkenntnis provoziert, verlsst der Wanderer die Gesellschaft eben dann, wenn sie ihm zur Heimat zu werden beginnt, und begibt sich im Sinn von FW 355 (10.) um der Erkenntnis willen in die Fremde. Sein Weg ist einsam und doch, das ist sein Pathos, zukunftsweisend fr eine Gesellschaft, die in einer „zerbrechlichen zerbrochenen Uebergangszeit“ lebt, deren Werte unsicher geworden sind und deren Zukunft gnzlich ungewiss ist. Wenn der christliche Gott, an den man sich Jahrtausende in allen Belangen gehalten hat, seine Glaubwrdigkeit verliert, wird alle Orientierung haltlos; Halt im Haltlosen kann sie dann nur noch aus eigener Kraft gewinnen. Ob sie diese Kraft hat, kann sie daran bemessen, wie weit sie den scheinbaren Halt der eigenen Zeit als solchen durchschauen kann, Halt, wie ihn politisch im damaligen Deutschland „Nationalismus“ und „Rassenhass“ anboten und weiterhin Parteiprogramme und „Zukunfts-Sirenen des Marktes“ anbieten und wie ihn mehr noch moralisch der Wille zur Gleichstellung und die Gegnerschaft gegen Rangordnung besonders im Geistigen zu geben scheinen, die Europa durch seine lange christliche Tradition tief einverleibt wurden. Der Preis fr den Mut, sich davon zu lçsen, ist nach Nietzsche die Chance, „g u t e E u r o p e r“ zu werden, die als „Erben“ von Europas immer neu bewiesener „Kraft“, „die obersten Werthmaasse“ einer Zeit 794 Nietzsche hatte sie schon in einem Plan zu ZA IV zusammengebracht. Vgl. N 1884/85, 31[10], KSA 11.362: „der Unstte, Heimatlose, Wanderer – der sein Volk verlernt hat zu lieben, weil er viele Vçlker liebt, der gute Europer.“
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18. Halt im Haltlosen
„,berwinden‘“ zu kçnnen, um ein neues, freieres Denken und dadurch auch neue Lebensmçglichkeiten zu schaffen. Der Aphorismus FW 377 ist berhmt durch eine der ausdrucksvollsten Metaphern Nietzsches („Das Eis, das heute noch trgt, ist schon sehr dnn geworden: der Thauwind weht, wir selbst, wir Heimatlosen, sind Etwas, das Eis und andre allzudnne ,Realitten‘ aufbricht…“), berchtigt durch eine seiner fragwrdigsten politischen Provokationen („wir denken ber die Nothwendigkeit neuer Ordnungen nach, auch einer neuen Sklaverei“) und wird immer wieder beschworen mit seinem gewinnendsten Versprechen, dem kommenden „J a“ zum „g u t e n E u r o p e r“. Er fhrt wie kaum ein anderer in Nietzsches Werk die Grundlinien seiner Zeitkritik zusammen. Der Aphorismus FW 380 zeigt dann den Weg, auf dem man ber die Zeitkritik hinaus neue Horizonte und Perspektiven gewinnen kann: „Um unsrer europischen Moralitt einmal aus der Ferne ansichtig zu werden, um sie an anderen, frheren oder kommenden, Moralitten zu messen,“ msse man versuchen, ber sie hinauszukommen, sie zu verlassen. Wenn FW 370 das dionysische Philosophieren erçffnet und FW 368 und 372 es sthetisch konkretisiert hatten, so konkretisieren es FW 377 und 380 politisch und ethisch. FW 377 ist der einzige Aphorismus im V. Buch der FW, in dem Nietzsche ausdrcklich ermuntert und ermutigt, ihm zu folgen. Er beschwçrt hier 34 Mal das „wir“, oft mit Nachdruck an Satzanfngen, und geht dann am Ende, in einer Schluss-Apostroph, zum „ihr“ ber. So wird aus dem ganzen Aphorismus rhetorisch eine Parnese. Es ist Nietzsches „Kunststck“, den Heimatlosen „einen Trost zu erfinden“. In FW 380 erinnert er an den anderen Trost, den man dafr fahren lassen kann und muss, „seine R o m a n t i k“. Beide Aphorismen verknpfen darber hinaus auf vielfache Weise die frheren Aphorismen und Aphorismenketten des V. Buchs der FW und pointieren sie noch einmal. So sind sie auch summierende, synthetische Aphorismen. Zwischen FW 372 und 377 klingt die „Musik des Lebens“ noch deutlich hçrbar nach: in den drei Aphorismen zunchst zur methodischen (FW 373), dann unbegrenzbaren Vervielfltigung von Interpretations-Perspektiven (FW 374) und ihrer souvernen Beherrschung (FW 375) die Erinnerung an ihre wissenschaftliche Unabschtzbarkeit, Unberechenbarkeit, Unformulierbarkeit (FW 373/13.2.), der „Schauder“, in der ffnung fr sie den Halt in der Moral-, Sprach- und BewusstseinsPerspektive zu verlieren (FW 374/13.3.), und das Stichwort vom „enttuschten Idealisten“ (FW 375/13.4.). Nietzsche hçrt die Musik des Lebens auch in der Reife und Todesbereitschaft der Schaffenden, wenn „das
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tempo des Lebens“ sich verlangsamt „bis zu langen Fermaten“ (FW 376/ 15.2.3.). Nun, von FW 377 an, redet Nietzsche nicht mehr von der Musik, sondern lsst sie nur noch im Hintergrund anklingen, immer leiser, bis er im Epilog die Geister seines Buches lrmend hervorbrechen und die „rabenschwarz“ gewordene Musik, all die „Unkenrufe, Grabesstimmen und Murmelthierpfiffe“, frçhlich berschreien lsst. Zwischen FW 377 und FW 380 hat er noch einmal einen Solitr eingeschaltet, FW 378 zur Freigebigkeit eines frei gewordenen Geistes. Er ist liedhaft komponiert, kehrt wie FW 372 zum Schluss an seinen Anfang zurck („U n d w e r d e n w i e d e r h e l l“) und erinnert an das Vergessen aus FW 367 („denn wir sind tief, wir vergessen nicht“). Hier, im Anschluss an das Thema der Freigebigkeit des Geistes, hat Nietzsche das Ende der Aphorismenkette zum Umgang mit Menschen eingeflochten, zunchst, vor FW 380, den Aphorismus „Z w i s c h e n r e d e d e s N a r r e n“ zur feinen Verachtung des Publikums und zum „Spott […] ber sich selber“ (FW 379/15.3.2.), dann, nach FW 380, den abschließenden Aphorismus der Kette, „Z u r F r a g e d e r Ve r s t n d l i c h k e i t“ (FW 381/15.3.3.).
Nietzsches schriftstellerische Methoden: Metaphorisierung von Metaphern: Das noch tragende Eis im Tauwind der Heimatlosen Nun, da es um die „gaya scienza“ im Ganzen gehen soll und die, fr die sie bestimmt ist, exponiert Nietzsche noch einmal die Situation im Schatten des „grçssten neueren Ereignisses, – dass ,Gott todt ist‘, dass der Glaube an den christlichen Gott unglaubwrdig geworden ist“ (FW 343). Er gebraucht jedoch nicht mehr die Metapher des von fernen Sternen sich nhernden, aber noch nicht sichtbaren Lichts, sondern eine neue: die des noch tragenden Eises im Tauwind. Beide Metaphern sprechen von einem Zwischen- oder bergangszustand, in dem klar zu werden beginnt, dass die alte Orientierung ihren Halt schon verloren hat, die Umrisse einer neuen Orientierung, vielleicht auch einer neuen Orientierungslosigkeit, aber noch nicht absehbar sind. Whrend aber die Metapher der verzçgerten Wahrnehmung der Umorientierung die Alternative zwischen „Verdsterung“ und „Erheiterung“ offenlsst, kndigt die des noch tragenden, aber tauenden Eises nur noch Gefahr an. Im Gang der Argumentationen des V. Buchs der FW hat sich die Prognose verdstert. Doch zugleich ist die Einsicht in die Krfte, mit denen die Umorientierung bewltigt werden
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kann, gewachsen; es sind die Krfte eines dionysischen Philosophierens oder der frçhlichen Wissenschaft. Nietzsche bahnt die Metapher des noch tragenden, aber tauenden Eises durch die Metapher von Heimat und Haus, die der Heimat durch die der Heimatlosen an. Er wertet sie von Anfang an um. Das „Loos“ der Heimatlosen mag „hart, ihre Hoffnung ungewiss“ sein, sie werden nicht nur schwer um ihre befreienden Erkenntnisse ringen mssen, sondern in fest verfassten Gesellschaften dafr auch noch gechtet werden. Dennoch kçnnen sie heimatlos „in einem abhebenden und ehrenden Sinne“ sein, nmlich dann, wenn sie keine Heimat mehr brauchen und eben durch ihre Heimatlosigkeit neue Krfte entwickeln. Nietzsche identifiziert sie hier nicht. „H e i m a t l o s e“ in diesem Sinn kçnnten fr ihn gewesen sein • die nirgendwo gerne geduldeten, immer aufs neue vertriebenen Juden der Diaspora, die nur berleben konnten, wenn sie sich mit herausragender Anpassungkunst an die Spitze der Modernisierung der Gesellschaft setzten (FW 361/11.2.2.). In der antisemitischen Umgebung von Richard und Cosima Wagner hatte Nietzsche die Juden noch „wahrhaft internationale heimatlose Geldeinsiedler“ genannt, „die, bei ihrem natrlichen Mangel des staatlichen Instinktes, es gelernt haben, die Politik zum Mittel der Bçrse und Staat und Gesellschaft als Bereicherungsapparate ihrer selbst zu mißbrauchen.“ (CV 3, KSA 1.774) Als er sich hierin lngst korrigiert hatte (5.2.3., 11.2.2.), stimmte er ihrem Wunsch zu, in den europischen Gesellschaften, in denen sie lebten, endlich auch eine Heimat zu erhalten: „Einstweilen wollen und wnschen sie vielmehr, sogar mit einiger Zudringlichkeit, in Europa, von Europa ein- und aufgesaugt zu werden, sie drsten darnach, endlich irgendwo fest, erlaubt, geachtet zu sein und dem Nomadenleben, dem ,ewigen Juden‘ ein Ziel zu setzen –; und man sollte diesen Zug und Drang (der vielleicht selbst schon eine Milderung der jdischen Instinkte ausdrckt) wohl beachten und ihm entgegenkommen: wozu es vielleicht ntzlich und billig wre, die antisemitischen Schreihlse des Landes zu verweisen.“ (JGB 251) Nietzsche macht den ,ewigen Juden‘, der nie sesshaft wird und nach der antisemitischen Propaganda wegen der Zustimmung der Juden zur Kreuzigung Christi nie zur Ruhe kommt, selbst zur Metapher. So will auch der „Schatten“, der Zarathustra folgt, nicht mehr „Wanderer“ sein: „Ein Wanderer bin ich, der viel schon hinter deinen Fersen her gieng: immer unterwegs, aber ohne Ziel, auch ohne Heim: also dass mir wahrlich wenig zum ewigen Juden fehlt, es sei denn, dass ich nicht ewig, und auch nicht Jude bin.“ (ZA IV Schatten, KSA 4.339)795 In Wagners Musikdramen wollen „die Knstler, die Genie’s – und das sind ja
795 Eine vorbereitende Sammlung von Sprchen hatte Nietzsche mit den Titeln „D a s H e i m w e h o h n e H e i m . D e r W a n d e r e r“ und „D e r g u t e E u r o p e r“ berschrieben (N 1884/85, 32[8], KSA 11.401 – 404).
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die ,ewigen Juden‘ –“ erlçst sein durch ein „Weib“, das sie „anbetet und festmacht“ (WA 3). die Nomaden, von denen Nietzsche nur noch metaphorisch spricht: Danach fhren in modernen kapitalistischen Gesellschaften „alle Nicht-Landbesitzer“ ein „Nomadenleben“, was – fr Nietzsche dankenswerterweise – „eine Schwchung und zuletzt eine Vernichtung der Nationen, mindestens der europischen, mit sich [bringt]: so dass aus ihnen allen, in Folge fortwhrender Kreuzungen, eine Mischrasse, die des europischen Menschen, entstehen muss.“ (MA I 475) Nicht nur freie, sondern auch „freizgige“, an keinem Ort „festgewurzelte“ Geister shen ihr „Ideal fast in einem geistigen Nomadenthum […], – um einen bescheidenen und fast abschtzigen Ausdruck zu gebrauchen.“ (MA II, VM 211).796 Der „Prozess des w e r d e n d e n E u r o p e r s“ wird „die langsame Heraufkunft einer wesentlich bernationalen und nomadischen Art Mensch [sein], welche, physiologisch geredet, ein Maximum von Anpassungskunst und -kraft als ihre typische Auszeichnung besitzt“ (JGB 242/12.2.).797 die Zigeuner, wie man sie damals noch nannte und die moralisch als notorisch unzuverlssig galten (vgl. MA II, VM 40). Einen Zigeuner nannte Nietzsche auch Wagner – in der frhen, ihn ehrenden Schrift WB: er habe, da kein Amt fr ihn passen konnte, „immer wieder zu den Zigeunern und Ausgestossenen unserer Cultur als einer der Ihrigen zurckkehren“ mssen. „Aus einer Lage sich losreissend, verhilft er sich selten zu einer besseren, mitunter gerth er in die tiefste Drftigkeit. So wechselte Wagner Stdte, Gefhrten, Lnder, und man begreift kaum, unter was fr Anmuthungen und Umgebungen er es doch immer eine Zeit lang ausgehalten hat.“ Er hoffte „nur noch von heute zu morgen, und so verzweifelte er zwar nicht, ohne doch zu glauben.“ (WB 3, KSA 1.440 f.) Auch hierin war Wagner sichtlich eine ,Semiotik‘ fr Nietzsche selbst. kosmopolitische Menschen: Fr Wagner war der Kosmopolitismus, der Glaube und der Wille, berall und nirgends zu Hause, ein ,Weltbrger‘ zu sein, das Undeutsche schlechthin, und Nietzsche schloss sich dem lange an, prangerte „die furchtbaren Wirkungen abenteuernder Auswanderungslust“ zumal „bei ganzen Vçlkerschwrmen“ an und beklagte den „Zustand eines Volkes“, „das die Treue gegen seine Vorzeit verloren hat und einem rastlosen kosmopolitischen Whlen und Suchen nach Neuem und immer Neuem preisgegeben ist.“ (HL, KSA 1.266; vgl. HL 5, KSA 1.279) Die klassische Bildung habe einen „undeutschen, beinahe auslndischen oder kosmopolitischen Charak-
796 Die Formel vom „geistigen Nomadenthum“ hat Nietzsche in seinem EmersonExzerpt von 1881/82, 17[13], KSA 9.667, notiert. In der Nietzsche-Rezeption ist sie durch Deleuze/Guattari, Mille plateaux, berhmt geworden. 797 Auch diesen Aphorismus fhrt Nietzsche auf die Ankndigung „eines zur Sklaverei im feinsten Sinne vorbereiteten Typus“ hinaus. „Zur Geschichte der modernen Verdsterung“ rechnet er im brigen auch, dass „{Beamte usw.}“ „Staats-Nomaden […] {ohne ,Heimat‘}“ geworden sind (N 1885/86, 2[122], KSA 12.122 / W I 8, S. 102). Beamte, scheint das zu bedeuten, brauchen zur Erfllung der ihnen vorgegebenen Aufgaben auch vorgegebene Orientierungen.
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ter“, man glaube, dass es „mçglich sei, sich den heimischen Boden unter den Fßen fortzuziehn und dann doch noch fest stehen zu kçnnen“ (BA II, KSA 1.689). Doch fr sich wertete Nietzsche den Kosmopolitismus zugleich um: „Der Kosmopolitismus ist ein Ideal, fr die Meisten eine Illusion“ (N 1869/ 70, 3[8], KSA 7.61); die „kosmopolitische Tendenz nothwendig“, gerade fr Bayreuth (N 1872/73, 19[274], KSA 7.505; vgl. N 1872/73, 19[298], KSA 7.511, u. N 1873, 29[141], KSA 7.693); Wagner ist hier „r e a k t i o n r“ (N 1875, 11[4], KSA 8.190). In MA bekennt Nietzsche sich dann auch çffentlich dazu: „der Verkehr der Menschen [muss] immer kosmopolitischer werden“ (MA I 267); der „besonnene und seines Verstandes sichere Mensch“ sollte „zuletzt zu jenem Kosmopolitismus des Geistes […] gelangen, welcher ohne Anmaassung sagen darf: ,nichts Geistiges ist mir mehr fremd‘“ (MA II, VM 204). Nizza, dem er „die B e e n d i g u n g des Zarathustra“ verdankte, nannte er nun ehrend „kosmopolitisch“ (N 1884/85, 29[4], KSA 11.337). Zuletzt kehrte er jedoch zur Abwertung des „Kosmopolitischen“ zurck, fr sich („der Pessimismus als Niedergang – {worin? als Verzrtlichung, als kosmopolit. Anfhlerei, als ,tout comprendre‘ u. Historismus}“; N 1887/88, 9[126], KSA 12.410 / W II 1, S. 43; vgl. N 1887/88, 11[31], KSA 13.17 / W II 3, S. 188) und im verçffentlichten Werk (Sainte-Beuve als „kosmopolitischer libertin fr Vielerlei“, GD Streifzge 3; ein Gott, der gtig wird, „wird Gott fr Jedermann, wird Privatmann, wird Kosmopolit …“, AC 16). die von Hof zu Hof, von Wettstreit zu Wettstreit, von Abenteuer zu Abenteuer ziehenden Troubadours, in denen Nietzsche die Urvter seiner „gaya scienza“ entdeckte (2.2.).798 schließlich Nietzsche selbst, der 1869 die preußische Staatsbrgerschaft aufgegeben hatte, um im Kriegsfall nicht eingezogen werden zu kçnnen, und von da an staatenlos oder, mit dem Schweizerischen Terminus, „heimatlos“ blieb799 und sein kosmopolitisches Juden-, Nomaden-, Zigeuner- und Troubadourleben fhrte. Seine Heimatlosigkeit hat er immer mehr auch metaphorisch verstanden.
,Heimatlose‘ nicht nur im physischen, sondern auch und vor allem im bertragenen, geistigen Sinn bilden untereinander keine Gemeinschaft, geben auch einander keine Heimat. Das von Nietzsche so stark beschworene „wir“ ist keine Gemeinschaft, die zusammenlebte oder auch nur zusammenkme oder zusammen korrespondierte. Diese Heimatlosen machen sich auf keine Weise miteinander ,gemein‘.800 Ihre „Weisheit“ 798 Vgl. Borsche, Vom romantischen Traum einer frçhlichen Wissenschaft, 176. Borsche sieht in den „Heimatlosen“ freilich nur die Troubadours. 799 Nietzsche erhielt von der Basler Kantonsbehçrde einen Pass nicht als Brger, sondern als Professor der Universitt. Vgl. CPJ 1.263 f. u. 740. 800 Vgl. N 1885, 36[17], KSA 11.559 / W I 4, S. 35: „Einstweilen sind die diese neuen Philosophen {leben sie noch} sich {selber} einander {fremd u.} verborgen. Es wird ihnen {aus vielen Grnden} nçthig sein, wie es mir nçthig war, versteckt zu leben, {Einsiedler zu sein und beinahe} selbst Masken vorzunehmen, – sie werden folglich schlecht zum Suchen von Ihresgleichen taugen. Sie sind einsamer {werden allein
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bleibt „geheim“, auch wenn sie sie einander „ausdrcklich an’s Herz“ legen. Das Wort ,geheim‘ gehçrt zu derselben Wurzel wie ,Heimat‘. ,Heim‘ war im Germanischen das ,Haus‘, dem man zugehçrte, wurde lange jedoch nur noch als Adverb ,daheim‘ tradiert, bis das schon sprachtote Wort in der deutschen Romantik mit ihrer Sehnsucht nach Heimat wieder auflebte. ,Heimatlose‘ sind so auch im Sinn von FW 370 ihrer ,Romantik‘ Entronnene. Das Wort ,geheim‘ aber, ursprnglich das, was zum eigenen Haus und Heim gehçrte, entwickelte sich anders, meinte schließlich das, was man fr sich behlt und anderen vorenthlt. Wenn Nietzsches Heimatlose ihre geheime Weisheit einander ans Herz legen, so nur, um sie den jeweils Anderen aus dem Pathos der Distanz (13.2.2.) ,erraten‘ zu lassen – soweit diese Anderen eben dazu imstande sind. Ihr Heim oder Haus ist die Zeit („Wir Kinder der Zukunft, wie v e r m ç c h t e n wir in diesem Heute zu Hause zu sein!“). Nietzsche verzeitlicht die Metaphorik des Hauses, auf die Descartes zu Beginn der Moderne gebaut hatte. Das auf das gesicherte Fundament der ersten Gewissheit des ,ich denke, ich bin‘ nach eigenen Regeln und eigenem Plan errichtete Gebude einer konsequent rationalen Ordnung der Welt sollte der Zeit trotzen, war, auch wenn es selbst ein zeitlicher Vorgang war, gegen die Zeit gebaut. Nach Nietzsche ist man in einer Zeit zu Hause. Ist vieles, was zu einer Zeit gehçrt, in ihr gegeben ist, vertraut und weitgehend selbstverstndlich geworden, sagt man, wenn sich doch Einschneidendes verndert, die Zeit sei eine andere geworden, man lebe jetzt in einer andern Zeit, und spricht von Zeiten im Plural; sie werden wie Wohnrume eines Hauses behandelt, ohne dass da ein Haus wre. Nietzsches Heimatlose nun sind „Kinder der Zukunft“. Die „Zuknftigen“ hatte er sie in FW 372 genannt, die „posthumen Menschen“ in FW 365 (15.1.2.). Sie leben „,unzeitgemss‘, in vergangnen oder kommenden Jahrhunderten“, in Zeiten, die auch sie sich nur denken, nur ausdenken kçnnen und fr die sie selber einstehen mssen. Durch ihr eigenes Denken anderer Zeiten aber gewinnen sie Distanz zum Heute, zum Heimisch-Sein im Heute, zum Glauben an einen festen Boden ihrer Orientierung jenseits ihres Vertrauens auf ihr eigenes Denken. Was in der Zeit noch fest zu sein scheint, verzeitlicht Nietzsche mit der Metapher von der „zerbrechlichen zerbrochnen Uebergangszeit“. Sie leben u wahrscheinlich} leiden sie an den Martern aller sieben Einsamkeiten {kennen. Und laufen sie sich aber ber den Weg, durch einen Zufall, so ist darauf zu wetten,} sie werden {daß sie} sich verkennen oder verfehlen und wahrscheinlich {betrgen}.“
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holt alles scheinbar der Zeit Entzogene in die Zeit zurck. Im bergang von einer zu einer andern Zeit wird die Zeit als Zeit erfahren. Zeit, die bergeht, die zerbrechen kann und schon zerbrochen ist, ist nichts Festes, sondern eben Zeit. Zeit, deren „D a u e r“ man sich wnscht, solange man sich in ihr wohlfhlt, erweist sich in ihrem Zerbrechen und bergehen in eine andere Zeit als das, was sie ist, Zeit. Die im Scheitern begriffene ZeitIllusion fasst Nietzsche in die Metapher des noch tragenden Eises im Tauwind. Eis ist Wasser, Wasser ist haltlos wie die Zeit, passt sich jeder Gestalt an, ist das Unfeste schlechthin, kann aber unter Umstnden, bei hinreichender Klte, fest werden, zu Eis erstarren und, wenn es dick genug ist, auch schwere Lasten tragen. Wird es „dnn“, zeigt es unter den Lasten Risse, es wird „zerbrechlich“ und verspricht nun keinen Halt mehr. Fr den Halt, der von ihm erwartet wird, ist es damit schon „zerbrochen“, es kann nun jederzeit einbrechen; die Mçglichkeit eines Vertrauensverlustes ist auch schon seine Wirklichkeit. Ahnt man die Gefahr des Einbrechens lange nicht und wird ihrer dann plçtzlich gewahr, kann schon der Schrecken tçten. So schilderte es Gustav Schwab in seinem ebenso bekannten wie biederen Gedicht Der Reiter und der Bodensee: ein Reiter berquert in großer Hast den zugefrorenen Bodensee, ohne es zu bemerken; als er erfhrt, was hinter ihm liegt, bricht er tot zusammen.801 Was das Eis zerbrechlich macht, ist der „Thauwind“. Er nimmt dickem Eis sehr langsam, kaum merklich seine Tragkraft. Er wird nach langer, lebensfeindlicher Klte durchaus als angenehm empfunden, kndigt den Frhling an, bringt das Leben, nach Goethes Osterspaziergang („Vom Eise befreit sind Strom und Bche …“) das „Hoffnungsglck“ zurck, endlich wieder „Mensch“ sein zu kçnnen („Zufrieden jauchzet groß und klein: / Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein“). Aber eben in dieser Zufrie801 Der Schluss lautet so: „Es stocket sein Herz, es strubt sich sein Haar, / Dicht hinter ihm grinst noch die grause Gefahr. / Es siehet sein Blick nur den grsslichen Schlund, / Sein Geist versinkt in den schwarzen Grund. / Im Ohr ihm donnert’s, wie krachend Eis, / Wie die Well umrieselt ihn kalter Schweiß. / Da seufzt er, da sinkt er vom Ross herab, / Da ward ihm am Ufer ein trocken Grab.“ Nietzsche kannte das Gedicht. Vgl. den Briefentwurf fr Richard Wagner, Juli 1876, KGB II/ 5, Bf.537, anlsslich der Verçffentlichung von WB: „Meine Schriftstellerei bringt fr mich die unangenehme Folge mit sich daß jedesmal, wenn ich eine Schrift verçffentlicht habe irgend etwas in meinen persçnlichen Verhltnissen in Frage gestellt wird und erst wieder, mit einem Aufwand von Humanitt, eingerenkt werden muß. In wiefern ich dies heute ganz besonders empfinde, mag ich gar nicht deutlicher aussprechen. berlege ich, was ich diesmal gewagt habe, so wird mir hinterdrein schwindlig und befangen zu Muthe und es will mir wie dem Reiter auf dem Bodensee ergehen.“
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denheit des frhlingshaften Menschseins sieht Nietzsche die Gefahr. Denn was im Tauwind schmilzt, ist das, was die Zeit gefestigt und getragen hat, die Gewissheit eines vertrauten festen Halts der Orientierung. Und der Tauwind kommt nicht seinerseits erwartbar, regelmßig mit der Jahreszeit und auch nicht von selbst. Nietzsche verwandelt, metaphorisiert die Metaphern noch weiter: „wir selbst, wir Heimatlosen, sind Etwas, das Eis und andre allzudnne ,Realitten‘ aufbricht…“ Es ist nicht einfach die Zeit selbst, es sind die Unzeitgemßen, in ihr Heimatlosen, die den bergang, den Wandel bringen. Ihr „A r g w o h n“ (FW 343/4.4.), der „unerbittliche, grndliche, unterste Argwohn ber uns selbst, der uns Europer immer mehr, immer schlimmer in Gewalt bekommt“ (FW 346/7.1.), lsst das grundlose, lngst unterhçhlte Vertrauen in Festigkeiten trotz der Zeit zerbrechen. Es kommt dann darauf an, so Nietzsche in GM II 1, „fr sich a l s Z u k u n f t gut sagen“ zu kçnnen. Die Tauwind-Metapher hat sich in Nietzsches Werk langsam vorbereitet. In MA II, VM 349 („I m G e f r i e r p u n c t d e s W i l l e n s“) hat er zunchst vom „eingefrorenen Willen“ gesprochen. Das Innehalten, Zur-Ruhe-Kommen, StillStehen des sonst immer weiter treibenden Willens bereitet ein Schopenhauersches Glck, das Nietzsche als Zitat wiedergibt: „,Endlich einmal kommt sie doch, die Stunde, die dich in die goldene Wolke der Schmerzlosigkeit einhllen wird: wo die Seele ihre eigene Mdigkeit geniesst und glcklich im geduldigen Spiele mit ihrer Geduld den Wellen eines See’s gleicht, die an einem ruhigen Sommertage, im Widerglanze eines buntgefrbten Abendhimmels, am Ufer schlrfen, schlrfen und wieder stille sind – ohne Ende, ohne Zweck, ohne Sttigung, ohne Bedrfniss, – ganz Ruhe, die sich am Wechsel freut, ganz Zurckebben und Einfluthen in den Pulsschlag der Natur.‘“ Spter wird Nietzsche die Tiere Zarathustras dessen Glck ganz hnlich beschreiben lassen, als „himmelblauen See von Glck“, in dem Zarathustra liege (19.2.5.). In MA weist er dieses Glck jedoch zurck: „Diess ist Empfindung und Rede aller Kranken: erreichen sie aber jene Stunden, so kommt, nach kurzem Genusse, die Langeweile.“ So komme „der Thauwind“ ber den „eingefrorenen Willen“ als „Anzeichen von Genesung oder Besserung“, als Wiederkehr des Lebens mit seinen Wnschen. Die Metapher des Einfrierens passt schlecht zur „goldenen Wolke der Schmerzlosigkeit“ und den „Wellen eines See’s […] an einem ruhigen Sommertage“. Das Bild wirkt erzwungen. In ZA verndert es Nietzsche. Er deutet mit ihm nun ber das Zum-Stehen-Kommen des Willens hinaus das Zum-Stehen-Kommen des Lebens berhaupt. Er zielt damit nun auf Metaphysiken, die das Leben im Ganzen in tçdlicher Klte einfrieren lassen. Allenthalben widersprchen „Stege und Gelnder“ und erst recht „der harte Winter, der Fluss-Thierbndiger“ Heraklits desillusionierendem Satz „,Alles ist im Fluss‘“ und machten fr die „Tçlpel“ den gegenteiligen Satz „,Im Grunde steht Alles stille‘“ plausibel. „D a g e g e n aber predigt der Thauwind!“ Er kommt nun als „ein Stier, der kein pflgender Stier ist,“ sondern „ein wthender Stier, ein Zerstçrer, der mit zornigen Hçrnern Eis bricht! Eis aber – – b r i c h t S t e g e!“
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Das Bild des Tauwinds als wtendem Stier ist noch strker erzwungen. Es soll offenbar an Dionysos denken lassen, der mit seinem ekstatischen Gefolge das Leben durch Zerstçrung wieder zum Leben bringt; der Stier als Symbol geballter fruchtbarer Gewalt gehçrte mit dem (eher komischen) Bock und Esel zum phallusbetonten Dionysoskult.802 Sinn dieses Stier-Tauwinds ist es, allen scheinbaren Halt an Gut und Bçse umzureißen: „Wer h i e l t e sich noch an ,Gut‘ und ,Bçse‘? / ,Wehe uns! Heil uns! Der Thauwind weht!‘“ (ZA III Tafel 8, KSA 4.252) In den Notaten dieser Zeit lsst Nietzsche Zarathustra auf „d e n W e g e n d e s E r k e n n e n d e n“ „jauchzen“, „wenn mir ein Thauwind kam: daß mein Strom stieg und stieg und mein Eis sich thrmte“ (N 1883, 23[5], KSA 10.638), und „sein Herz zittern bis in die Wurzel“, als auch die hçheren Menschen „das Frohlocken“ lernen: es „kam ihm wie ein Thauwind: seine Hrte schmolz.“ (N 1884/85 29[61], KSA 11.350) Im Frhjahr 1884 skizziert Nietzsche einen Text, der zu einer Vorstufe von FW 377 werden wird. Er bringt dort seine Zeit, eine Zeit des „Verfallens und Auseinanderfallens“, in der nichts „auf festen Fßen und hartem Glauben an sich“ steht, in das Bild des glatten Eises, das der Tauwind dnn werden lsst: „Es ist Alles glatt und gefhrlich auf unsrer Bahn, und dabei ist das Eis, das uns noch trgt, so dnn geworden: wir fhlen Alle den warmen unheimlichen Athem des Thauwindes – wo wir noch gehen, da wird bald Niemand mehr gehen k ç n n e n.“ (N 1884, 25[9], KSA 11.12) Ein ergreifend wehmtiges Bild, das oft zitiert wird. Doch in JGB kehrt Nietzsche es entschlossen um. Als er dort Dionysos wieder nennt und nun zum Gott seines Philosophierens erhebt, fhrt er ihn als „Genie des Herzens“ ein, das „zu scheinen versteht“, „alles Laute und Selbstgefllige verstummen macht und horchen lehrt“, „die rauhen Seelen glttet und ihnen ein neues Verlangen zu kosten giebt, – still zu liegen wie ein Spiegel, dass sich der tiefe Himmel auf ihnen spiegele –“. Das ist nicht mehr das Einfrieren des Willens aus Angst vor dem Leben. Die Angst ist wohl noch da in Gestalt von „trbem dickem Eise“. Doch darunter „errth“ das dionysische Genie des Herzens „den Tropfen Gte und ssser Geistigkeit“. Das Dionysische kommt nicht mehr mit zerstçrerischer Gewalt, sondern als sanfte „Berhrung“, durch die „Jeder reicher fortgeht, nicht begnadet und berrascht, nicht wie von fremdem Gute beglckt und bedrckt, sondern reicher an sich selber, sich neuer als zuvor, aufgebrochen, von einem Thauwinde angeweht und ausgehorcht, unsicherer vielleicht, zrtlicher zerbrechlicher zerbrochener, aber voll Hoffnungen, die noch keinen Namen haben, voll neuen Willens und Strçmens, voll neuen Unwillens und Zurckstrçmens.“ (JGB 295) „Zrtlicher zerbrechlicher zerbrochener“ ist noch nicht das Eis und die Zeit, sondern das Lebensgefhl unter ihm, das Gefhl eines Erwachens zu einem neuen, noch ganz unbestimmten und unsicheren Leben in einem nun sanft wehenden Tauwind, der die alten Sicherheiten aushorcht, wie Nietzsche dann in GD mit dem Auskultationshammer Gçtzen aushorchen wird. Nun fgen sich Eis und Tauwind zu einem stimmigen Bild: der Tauwind befreit sanft das Denken und Leben der Menschen, bricht das Eis, in dem oder unter dem sie gedacht und gelebt haben. Doch er kommt noch immer von anderswoher ber sie. Das bleibt auch noch so in der neuen Vorrede zu MA I: „Ein 802 Vgl. Schmidt/Schmidt-Berger (Hg.), Mythos Dionysos, 17.
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Schritt weiter in der Genesung: und der freie Geist nhert sich wieder dem Leben, langsam freilich, fast widerspnstig, fast misstrauisch. Es wird wieder wrmer um ihn, gelber gleichsam; Gefhl und Mitgefhl bekommen Tiefe, Thauwinde aller Art gehen ber ihn weg. Fast ist ihm zu Muthe, als ob ihm jetzt erst die Augen fr das N a h e aufgiengen.“ (MA I Vorrede 5) Erst in der Vorrede zu FW, in der Nietzsche die Geschichte seiner Genesung fortschreibt, wendet sich die Metapher. Die FW im Ganzen, heißt es da gleich zu Beginn, sei „in der Sprache des Thauwinds geschrieben: es ist Uebermuth, Unruhe, Widerspruch, Aprilwetter darin, so dass man bestndig ebenso an die Nhe des Winters als an den S i e g ber den Winter gemahnt wird, der kommt, kommen muss, vielleicht schon gekommen ist.“ (FW Vorrede 1) Nietzsche selbst, der Autor des Buches, ist nun der Tauwind oder war es, ohne sich dessen recht bewusst zu sein. Er erkennt sich im Aprilwetter wieder, das raschen und hufigen Wechsel ankndigt, aber nicht erkennen lsst, in welche Richtungen es sich wenden wird. Und so kommt der Tauwind der Heimatlosen in FW 377 dann ber ihre Zeit. Zuletzt, in den DD, wird Nietzsche den Tauwind noch einmal zitieren. Nun identifiziert er ihn mit Zarathustra. Zarathustra ist selbst zum Tauwind geworden, der „u n t e r h a l b seines Eises“ wartet. Das Eis aber ist nicht mehr die Eisdecke ber einem See oder einem Fluss, die im Tauwind wegschmilzt, sondern das Eis auf den hohen Bergen, das schwer erreichbar und kaum begehbar ist und niemals schmilzt, sondern in der Sonne weithin leuchtet, das Eis Zarathustras, des „Schaffenden“, der es von sich aus fest und flssig werden lassen kann: „Krank heute vor Zrtlichkeit, / ein Thauwind, / sitzt Zarathustra wartend, wartend auf seinen Bergen, – / im eignen Safte / sss geworden und gekocht, / u n t e r h a l b seines Gipfels, / unterhalb seines Eises, / mde und selig, / ein Schaffender an seinem siebenten Tag.“ (DD Armut, KSA 6.407 f.)
Was im Tauwind zerbricht, sind die „,Realitten‘“. Nietzsche setzt sie in Gnsefßchen: sie waren keine oder doch nicht das, wofr man sie hielt, etwas Unantastbares, Unleugbares. Von Realitten im Plural hatten seit langem schon unter anderem Leibniz, Mendelssohn und Kant gesprochen.803 Sie huften sich im Deutschen Idealismus und wurden im Lauf des 19. Jahrhunderts unbersehbar. In unterschiedlichen Perspektiven zeigten sich unterschiedliche Realitten, sinnliche und geistige, empirische und formale, subjektive und objektive, relative und absolute, dazu fiktive und phantastische, niedere und hçhere, individuelle und soziale, Realitten der Wissenschaft und des Glaubens usw. Durch die Vielfalt der Realitten war die ,Realitt‘ der angeblich einen Realitt lngst fragwrdig geworden. Nietzsche redete von frh an von „Realitten“, etwa in Bezug auf Heraklit und Anaximander davon, dass es „im Wesen der Dinge vielleicht gar kein Werden giebt, sondern nur ein Nebeneinander vieler wahrer ungewordner unzerstçrbarer Rea803 Vgl. Leibniz, Theodizee, III. Teil, § 393 („ralits“); Mendelssohn, Morgenstunden, 101, 149, 151; Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 211, B 320, B 328, B 603, B 630, B 669, B 706.
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litten?“ (PHG 6, KSA 1.827), und forderte andererseits gegen Parmenides eine „Mehrheit von Realitten“ ein (PHG 13, KSA 1.850). Soweit in der Moderne von den Vorstellungen aus gedacht wurde, wre, notierte sich Nietzsche 1880, „fr einen einzigen Menschen […] die Realitt der Welt ohne Wahrscheinlichkeit.“ Erst in der Kommunikation unterstellen wir einander „Realitt“, „schließen wir […] daß es Realitten außer uns giebt.“ (N 1880, 2[10], KSA 9.35 f.) Fragwrdig bleiben solche Realitten fr Nietzsche besonders im Blick auf die moralischen Phnomene. Am ehesten gesteht er sie noch naturwissenschaftlich erfassbaren Gegenstnden zu („erst diese zoologischen termini drcken Realitten aus – Realitten freilich, von denen der typische ,Verbesserer‘, der Priester, Nichts weiss – Nichts wissen w i l l …“).804 Aber es gibt eben auch die „i n n e r e n Realitten“ des Typus Jesus, der nur sie „als ,Wahrheiten‘ nahm“ und „den Rest, alles Natrliche, Zeitliche, Rumliche, Historische nur als Zeichen, als Gelegenheit zu Gleichnissen verstand.“ (AC 34) Ein solcher „grosser Symbolist“ setzt wie die Heimatlosen aus FW 377 alle „,Realitten‘“ in Gnsefßchen und kçnnte damit allen anderen (auch nicht religiçs) Glubigen berlegen sein. Nur in FW 377 (und ein weiteres Mal im Nachlass) setzt Nietzsche „,Realitten‘“ in Gnsefßchen.805 Was bleibt, sind ,zerbrechliche zerbrochne‘, immer auch anders zu verstehende Zeichen, an die man sich in der Orientierung aneinander durchaus halten kann, aber eben nicht wie an Realitten. Realitten sind ,Realitten‘ in der Oberflchenund Zeichenwelt.806 Dort ,frieren‘ Zeichen ,ein‘, verlieren sie in den Nçten rascher und zuverlssiger Verstndigung ihre Beweglichkeit. Mit diesem Einfrieren aber verliert die Orientierung auch an Lebenskraft, die sie braucht, um sich dem Wechsel der andern in der Verstndigung und dem unablssigen Wandel der Zeit stellen zu kçnnen. Die Heimatlosen, die „fest auf sich selber sitzen“ (FW 345), brechen mit ihrem Tauwind die Vereisung der Orientierung wieder auf. Am Ende von AC kehrt Nietzsche zu den handfesten Realitten zurck – in seinem erklrten Krieg gegen die Priester des Christentums, dies „heimliche Gewrm, das sich in Nacht, Nebel und Zweideutigkeit an alle Einzelnen heranschlich und jedem Einzelnen den Ernst fr w a h r e Dinge, den Instinkt berhaupt fr R e a l i t t e n aussog“ (AC 58). Denn sie nutzen die Zerbrechlichkeit der Zeichen in aller Orientierung, um sie fr ihre Zwecke dogmatisch festzulegen. In diesem Sinn beklagt Nietzsche in EH auch die „,klassische Bildung‘“, die „von vornherein die R e a l i t t e n aus den Augen verlieren lehrt, um durchaus pro804 GD Verbesserer 2. Vgl. GD Vorwort, und GD Verbesserer 1. 805 Vgl. N 1884, 25[116], KSA 11.44: „Wenn das W e s e n t l i c h e des Fhlens und Denkens ist, daß es Irrthmer (,Realitten‘) ansetzen m u ß“. Im Schrifttum des 19. Jahrhunderts scheinen solche ,Realitten‘ in Gnsefßchen, wie Andreas Rupschus festgestellt hat, sonst kaum vorzukommen, außer in Friedrich Albert Langes von Nietzsche so geschtzter Geschichte des Materialismus und hier in genau einschlgiger Weise. Es heißt dort ab der 2. Auflage, man drfe aus naturwissenschaftlichen „,Realitten‘“ wie Kraft, Bewegung oder Atom „kein Dogma machen“ (2. Aufl. 2.220; 3. Aufl. 550). Nietzsche kannte die ersten beiden Auflagen und besaß die dritte. 806 Vgl. 9.2.–6. zu FW 354, NSM 10 zu den Gnsefßchen, die Zeichen als Zeichen bezeichnen, und 17. zur „Musik des Lebens“.
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blematischen, sogenannten ,idealen‘ Zielen nachzujagen“ (EH klug 1). Er sah sich „mit Erbarmen […] ganz mager, ganz abgehungert: die R e a l i t t e n fehlten geradezu innerhalb meines Wissens und die ,Idealitten‘ taugten den Teufel was!“ (EH MA 3) Realitten ohne Gnsefßchen sind auch hier nicht Realitten an sich, nur eher haltbare Gegeninstanzen gegen weniger haltbare ,Idealitten‘. Nach FW 377 bleiben alle ,Realitten‘ im Spielraum der Zeichen.
18.1. Halt an einem Gegenglauben807 Nr. 377: W i r H e i m a t l o s e n . Der Aphorismus FW 377 ist durch einen Trennungsstrich in ungefhr zwei gleich große Hlften und diese sind wiederum durch Auslassungspunkte in zwei bzw. drei Abschnitte geteilt; so ergeben sich fnf Abschnitte. Nachdem Nietzsche in Abschnitt [1] mit der Tauwind-Metapher die Zeitlichkeit allen Halts in der Orientierung exponiert hat, konkretisiert er sie in Abschnitt [2] politisch. Auch und gerade der gemeinsame moralische Halt, der Glaube, eine Gesellschaft msse vom Konsens aller getragen sein und alle htten ohne ber- und Unterlegenheiten die gleichen Fhigkeiten, ihre Politik mitzugestalten, ist die ,zerbrechliche zerbrochne‘, aber lebensnotwendige Illusion der damaligen und vielleicht auch noch heutigen ,bergangszeit‘. Sie verfestigt die Moral-, Sprach- und Bewusstseins-Perspektive, macht aber zugleich „eine neue Sklaverei“ wahrscheinlich. In politischen Manifesten wird sie unter der „Maskerade“ einer Moral-Verkleidung verborgen (FW 352/6.2.). Im Abschnitt [3] belegt Nietzsche das mit der aufflligen religiçsen berhçhung der Humanitts-Moral zur „,Religion des Mitleidens‘“, die sie in Frankreich, dem Land der ,Großen Revolution‘, offenbar nçtig hatte („oh wir kennen die hysterischen Mnnlein und Weiblein genug, welche heute gerade diese Religion zum Schleier und Aufputz nçthig haben“) und mit der die christliche „,Liebe zur Menschheit‘“ ins Politische bersetzt wird. Deutschland dagegen suchte, nach Abschnitt [4], moralischen Halt „zwischen zwei Todhassen“, einem bersteigerten „Nationalismus“ auf der einen und dem antisemitischen „Rassenhass“ auf der andern Seite; so wurden die Deutschen das verhngnisvollste Volk in der Mitte Europas. Nach der berwindung ihrer eigenen Kleinstaaterei drohen sie nun die „Kleinstaaterei Europa’s“ zu verewigen und wirken dadurch erneut als „Verzç807 Auszge des folgenden Kapitels erschienen in einer ersten Fassung in Stegmaier, Eugenik und die Zukunft im außermoralischen Sinn: Nietzsches furchtlose Perspektiven.
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gerer par excellence in der Geschichte“ (WA, Nachschrift; FW 357/12.5.). „G u t e E u r o p e r“ kçnnen darum vorerst nur die „Heimatlosen“ sein; Abschnitt [5] setzt noch einmal mit ihnen ein. Aber auch sie kçnnen nicht ohne einen Glauben leben, denken und handeln. So macht ihnen Nietzsche Mut zu einem Gegenglauben, dem Glauben an die Kraft Europas zur Selbstberwindung seiner Moral im Sinn von FW 357 (12.6.). Nietzsche bekmpft auch hier nicht die Demokratie, die nach ihm unaufhaltsam kommen wird (MA II, WS 293/11.3.4.). Er drngt stattdessen darauf, kritisch ihre Voraussetzungen und Folgen zu sehen. Als Heimatloser hlt er gegen die sich in Deutschland und Europa nun fest etablierende demokratische Politik seinen philosophischen Argwohn aufrecht, entlarvt schonungslos die neuen Illusionen, nach denen gerade eine Zeit verlangt, deren schon eingetretener Nihilismus mutigste Illusionslosigkeit fordern wrde. Auch hier distanziert er sich ausdrcklich von der „k l e i n e n Politik“ der Dynastien, Nationalstaaten und nun auch politischen Parteien – um jener ,grossen Politik‘ willen, die mit Moral, Religion, Wissenschaft, Philosophie gefhrt wird (6.1.2.). 18.1.1. Gemeinsamer moralischer Halt als Bedingung demokratischer Politik Die politischen Parteien im II. Deutschen Reich unter der Fhrung Bismarcks waren nach der Reichsgrndung zunchst alle mehr oder weniger ,konservativ‘, ,liberal‘ und ,fortschrittlich‘, auf die Erhaltung und Erweiterung brgerlicher Besitzstnde und Freiheitsrechte bedacht; sie polarisierten sich im Zug des Kulturkampfs (FW 350/8.1.1.) vor allem an ihrer Haltung zu Bismarck. Erst allmhlich verbanden sie sich deutlicher mit sozialen Milieus; Sozialdemokraten gewannen erst langsam Einfluss und Sitze im Reichstag.808 Nietzsche ergreift fr keine von ihnen Partei, die Wahl unter ihnen ist fr ihn zweitrangig („Wir ,conserviren‘ Nichts, wir wollen auch in keine Vergangenheit zurck, wir sind durchaus nicht ,liberal‘, wir arbeiten nicht fr den ,Fortschritt‘“). Er zielt tiefer auf die Herkunft, die sie alle teilen, die Ideale der Franzçsischen Revolution, die Gleichheit der Rechte, die Freiheit des Einzelnen und die Brderlichkeit aller, deren gemeinsamer Boden der Glaube an eine gemeinsame Vernunft 808 Vgl. zur bersicht ber die vielfltige Verzweigung der im Deutschen Reichstag vertretenen Parteien Ploetz, 858 f., zur historischen Gewichtung Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918, 312 f.
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aller in der franzçsischen Philosophie des 18. Jahrhunderts war, fr Nietzsche ein Schatten des ,alten Gottes‘, der mit dessen ,Tod‘ unglaubwrdig geworden ist (FW 343/4.3.).809 Nietzsche geht auch hinter die Alternative Kapitalismus – Sozialdemokratie/Sozialismus/Kommunismus zurck („wir brauchen unser Ohr nicht erst gegen die Zukunfts-Sirenen des Marktes zu verstopfen – das, was sie singen, ,gleiche Rechte‘, ,freie Gesellschaft‘, ,keine Herrn mehr und keine Knechte‘, das lockt uns nicht!“). Die Sirenen aus FW 372 (17.2.2.), die ,echte Philosophen‘ zu den Ideen flchten ließen, singen nun das Lied politischer Verheißungen einer wohlsituierten, kostenfreien und risikolosen Zukunft fr alle, sie sind selbst zu Parteigngerinnen geworden. Nietzsche krzt die Verheißungen prgnant ab: der „Markt“ der politischen Verheißungen („,gleiche Rechte‘“) progagiert den „Markt“ der freien Wirtschaft („,freie Gesellschaft‘“), auf dem Kapitalisten so lange maßlos Reichtmer erwirtschaften werden, bis Kommunisten sie denen bereignen, die sie tatschlich erarbeiten, den Arbeitern („,keine Herrn mehr und keine Knechte‘“), und jede Form von Sklaverei berwunden ist.810 Er setzt die politischen Schlagwçrter seiner 809 Vgl. Marti, Nietzsches Kritik der Franzçsischen Revolution; Marti, „Der grosse Pçbel- und Sklavenaufstand“, 8 – 140. 810 Zu Nietzsches Auseinandersetzung mit der sozialistischen Bewegung vgl. 11.1.1. Was Marx und Engels betrifft, so hat er sie wohl nicht gelesen, wird aber auf vielfltigen Wegen von ihren Schriften Kenntnis genommen haben. Vgl. Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, 26, und Brobjer, Nietzsche’s Knowledge of Marx and Marxism. Nietzsche, so Ottmann, 25 f., „war von Kapitalismus und Sozialismus gleich weit entfernt.“ Er hieß beide nicht gut, ußerte sich aber, weil er hier die strkeren Illusionen sah, aus philosophischen (oder ideologiekritischen) Grnden schrfer gegen den Sozialismus. Darum stufte ihn, wer sein Denken trotz seiner Distanz zum Politischen politisch einordnete, als extrem konservativ, wenn nicht reaktionr ein. Auch die nicht politisch, sondern ethisch gemeinte Formel „aristokratischer Radikalismus“, die ihm Georg Brandes geliefert hatte und die er begeistert aufnahm (Brief an Georg Brandes, 2. Dezember 1887, KGB III/5, Bf.960), wurde dahingehend gedeutet. Vgl. zuletzt Losurdo, Nietzsche, der aristokratische Rebell, 379 – 600 (zu Marx und Nietzsche als AntiMarx 407 – 409). Dagegen hat schon Ottmann, 27 – 29, die Gewichte des Politischen und Philosophischen bei Nietzsche klar zurechtgerckt: „Wenn Nietzsche eine ,Rettung‘ vor dem Sozialismus suchte, dann vor allem, weil er in ihm den optimistischen, eudaimonistischen Geist auf der einen, ihren Weg zur Egalitt auf der anderen Seite symbolisiert sah. […] Was Nietzsche suchte, war die berwindung der Entfremdung, die Wiedergewinnung der allseitigen Persçnlichkeit und der Dominanz der Kultur ber konomie und Politik.“ Er war in diesem Sinn ein berpolitischer Denker (Ottmann, 144; Marti, „Der grosse Pçbel- und Sklavenaufstand“, 300; van Tongeren, Nietzsche as ,ber-Politischer Denker‘). Darauf bestand zu Recht auch Brobjer, The Absence of Political Ideals in Nietz-
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Zeit allesamt in Gnsefßchen – und spricht zugleich selbst in Schlagwçrtern, grob und oberflchlich („das Reich der Gerechtigkeit und Eintracht auf Erden“, „das Reich der tiefsten Vermittelmssigung und Chineserei“811). Er zahlt wie schon am Ende von FW 356 (11.1.5.) in gleicher Mnze zurck, entgegnet politischen Manifestationen selbst in der Sprache eines politischen Manifests.812 Acht Stze in einem Satz, alle mit dem „wir“ beginnend, berbieten einander in stampfendem Rhythmus, bestrken schrittweise die Parole von der „neuen Sklaverei“. So ist sie Teil eines Gegenmanifests einer scheinbar ebenfalls gemeinsamen Gegenmoral, also ihrerseits ,zerbrechliches zerbrochenes Eis‘ und so auch zu verstehen. Doch dann bricht Nietzsche mit einem Gedankenstrich den Ton des Manifests abrupt mit einem fragenden, zweifelnden „nicht wahr?“ ab und lsst rhetorische Fragen und Beteuerungen folgen, die er „hsslichere Hintergedanken“ nennt. Es sind Gedanken, die hinter die politische Perspektive zu den physiologischen Notstnden zurckgehen und ihre schçn geredete Oberflchen- und Zeichenwelt als „Maskerade“ erkennen lassen.813 Damit stellt Nietzsche seine berpolitische Perspektive wieder her, ohne die der politischen Geister fallen zu lassen: „hsslicher“ sind seine Gedanken fr sie, in ihrer Perspektive. Er lsst die politische und die berpolitische, philosophische Perspektive kunstvoll oszillieren.
sche’s Writings, und noch einmal in Brobjer, Nietzsche as Political Thinker. Dombowsky hatte gerade den Abschnitt [2] von FW 377 herangezogen, um spezifische politische Ideale auch beim spten Nietzsche nachzuweisen. 811 Vgl. zu dem auch bei Tocqueville und John Stuart Mill zu findenden ChinaStereotyp der damaligen Zeit Losurdo, Nietzsche, der aristokratische Rebell, 315 – 319. 812 Die konstitutionelle Monarchie des II. Deutschen Reiches sah die bernahme der Regierungsverantwortung durch eine Parlamentsmehrheit nicht vor und damit auch nicht, dass Parteifhrer in Regierungsmter aufrckten; der Kaiser berief und entließ die Regierung (vgl. Ploetz, 857). So blieben den Parteien außer ihren parlamentarischen Rechten vor allem die politischen Manifeste. Wenn Nietzsche ihre Sprache annimmt, wirkt das verstndlicherweise missverstndlich. Doch in FW 381 (15.3.3.) wird er ausdrcklich vor seiner gewollt missverstndlichen Verstndlichkeit warnen. 813 Vgl. FW 370 (16.3.), FW 354 (9.6.), FW 352 (6.2.).
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18.1.2. Neue Sklaverei als Bedingung der Erhçhung des Typus ,Mensch‘ Die Rangordnung nach der Geistigkeit, die Nietzsche in seinem Werk und besonders im V. Buch der FW zur Geltung bringen will,814 wird dann, jedoch nur dann, durch gleiche politische Rechte fr alle eingeebnet, wenn in deren staatlicher Gewhrung schon die Wrde des Menschen gesehen und damit Kultur auf Recht, Staat und Politik verkrzt und der Unterschied zwischen philosophischer und politischer Perspektive eingeebnet wird.815 Die Ansprche der Humanitt sind nach Nietzsche nicht schon mit der Gewhrung der Menschenrechte erfllt. Um dies den politischen Geistern auf hsslichste Weise deutlich zu machen, denkt Nietzsche offen „ber die Nothwendigkeit neuer Ordnungen nach, auch einer neuen Sklaverei – denn zu jeder Verstrkung und Erhçhung des Typus ,Mensch‘ gehçrt auch eine neue Art Versklavung hinzu“. Er spricht von „neuer“ Sklaverei. Die alte, die soziale Institution, die Menschen zum verkuflichen Eigentum anderer, zu einer Ware machte, war die ußerste rechtliche und moralische Entwrdigung des Menschen. Sie wurde zu Nietzsches Zeit gerade erst weltweit vollends verboten und abgeschafft,816 und Nietzsche denkt nicht daran, sie wieder einzufhren. Stattdessen geht es ihm um die neue Entwrdigung des Menschen, seine geistige Enteignung durch eine mehr oder weniger mechanische Arbeit und eine herrschende Moral, die mit der Formel von der ,Wrde der Arbeit‘ glauben machen wollte, sie sei Teil der ,Wrde des Menschen‘. Doch Nietzsche sah auch, dass trotz der fortschreitenden Erleichterung der Arbeit durch Maschinen ,mechanische‘ Arbeit im weitesten Sinn regelmßig ablaufender, nicht immer neue geistige Anstrengungen erfordernder Ttigkeiten von Menschen zum berleben der Gesellschaft notwendig bleiben und der Großteil der Menschen auch mit ihr zufrieden sein wrde. Er zog die Konsequenz, seine Konsequenz, daraus, dass eben diese Arbeit Voraussetzung einer neuen Steigerung des Menschen und seiner Kultur werden 814 Vgl. FW 358 (8.4.3.), FW 370 (16.1.), FW 373 (13.2.2.). 815 Vgl. Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, 129: Nietzsche stimmt der Demokratie „immer dort nicht zu, wo sie total zu werden droht, ihre Volkssouvernitt, ihre Gleichheit, ihre Partizipation der vielen als einzig gltige Werte setzt.“ 816 Vgl. Flaig, Weltgeschichte der Sklaverei. – Das auch in romanischen Sprachen gebruchliche Wort ,Sklave‘ (z. B. frz. ,esclave‘, it. ,schiavo‘) stammt vom mittelgriechischen sjk\bor und war dort gleichbedeutend mit ,Slawe‘: schon der frhe, aber mehr noch der mittelalterliche Sklavenhandel bediente sich zu großen Teilen aus den slawischen Vçlkern.
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kçnnte, ohne die er die „Uebergangszeit“ des Nihilismus und die neue Zeit nach ihm nicht berstehen werde. Begreiflicherweise scheuen sich gerade die, die auf diese Arbeit materiell und ideell angewiesen sind, sie ,hsslich‘, illusionslos, ,Sklaven-Arbeit‘ und die Moral, die sie in die Wrde des Menschen einschließt, ,Sklaven-Moral‘ zu nennen. Nietzsche war bereit, sich auch damit zu kompromittieren. Auch seinem Umdenken der Sklaverei ging ein langer und komplexer Prozess des Nachdenkens voraus.817 Dass zu „jeder Verstrkung und Erhçhung des Typus ,Mensch‘“ Sklaverei gehçrt, war eine berzeugung schon des frhen Nietzsche, inspiriert einerseits durch Schopenhauer, andererseits durch Jacob Burckhardt, ausgeprgt durch sein Studium der alten griechischen Kultur. Schopenhauer hatte wohl die Missstnde der Sklaverei (und noch mehr ihren Missbrauch durch „die Anglikanischen Pfaffen“) empçrt angeklagt, war im Ganzen aber vom „Sklavendienst des Willens“ ausgegangen, in dem auch der Intellekt zum „bloßen Sklaven und Leibeigenen des Willens“ wird;818 Jacob Burckhardt hatte Nietzsche darin ermutigt, „das Ziel der Menschheit“ nur in ihren „hçchsten“, „seltensten und werthvollsten Exemplaren“ zu sehen (HL 9, KSA 1.317; SE 6, KSA 1.384). Nietzsche sah die Sklaverei oder was er so nannte von Anfang an in einem sehr weiten, auch noch die eigene Zeit einschließenden Horizont. Er ging davon aus, dass fr Griechen die Sklaverei noch ganz selbstverstndlich war: „Die Griechen sind naiv wie die Natur, wenn sie von den Sklaven sprechen.“819 Und Sklaven gebe 817 Vgl. zuletzt Lemm, Nietzsche’s Animal Philosophy, 50 – 54, die Nietzsches Gedanken der Notwendigkeit einer neuen Sklaverei zur Erhçhung des Typus ,Mensch‘ durch die Unterscheidung von Zivilisation und Kultur plausibel zu machen sucht: „Whereas ,lower‘ designates the process of civilization, ,higher‘ designates the process of cultivation. The question is whether the ,lower‘ (civilization) can become means for the elevation of the ,higher‘ (culture).“ (50) Die ,civilization‘ sieht sie bei Nietzsche durch ,incompletion‘, die ,culture‘ durch ,completion‘ gekennzeichnet. Nietzsche betont den von Kant, Schiller und W. v. Humboldt angebahnten, im Deutschland des 19. Jahrhunderts modisch gewordenen, bei Jacob Burckhardt aber wenig ausgeprgten „Antagonismus von Cultur und Civilisation“ freilich erst sehr spt, als er gegen die dcadence ankmpft (vgl. N 1887, 9[142], KSA 12.416 / W II 1, S. 38, u. N 1888, 16[10], KSA 13.485); vorher macht er zwischen ihnen keinen scharfen Unterschied (vgl. u. a. MA I 285 u. N 1885/86, 2[128], KSA 12.127 / W I 8, S. 96). S. dazu Bollenbeck, Art. Zivilisation, 1370 – 1374. Auch die Unterscheidung von ,incompletion‘ und ,completion‘ ist hier prekr. Denn gerade eine herrschende Moral gibt vollstndigen Halt; eine Moral dagegen, mit der man auch anderen Moralen gerecht werden kann, bleibt immer fraglich und ,fragmentiert‘. 818 Schopenhauer, PP II, Kap. 8: Zur Ethik, § 114, 6.225 – 227; WWV I, Drittes Buch, § 38, 2.232; WWV II, Kap. 19: Vom Primat des Willens im Selbstbewußtseyn, 3.238. 819 Fr Aristoteles war ein Sklave bekanntlich ein „lebendiges Besitzstck“ oder „beseeltes Werkzeug“ (Politik I 4, 1253b27 – 33). Allerdings erçrtert er ausfhrlich,
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es „berall wo es eine Kultur giebt.“ Denn berall lebe man „auf K o s t e n Andrer“, berall wrden krasse Benachteiligungen anderer akzeptiert: „Wir tuschen uns absichtlich ber das Schreckliche, das in den Dingen liegt, hinweg.“ (N 1870/71, 7[5], KSA 7.138) Sklaverei im damals noch massiven Sinn war sichtlich eine der Bedingungen der berragenden griechischen Kultur. Weil sie die Aristokraten von tglicher mhevoller Arbeit freihielt, konnten sie sich ganz ihrer musischen und gymnastischen Bildung, den Auseinandersetzungen des çffentlichen Lebens, allflligen Kriegen – und der Kunst, Wissenschaft und Philosophie widmen. Da die Sklaverei auch Aristokraten treffen konnte, wenn sie in Kriegen unterlagen, wurden nicht so sehr die Betroffenen selbst als die Abhngigkeit verachtet, in der sie lebten, und die aufgezwungene Arbeit, die sie verrichten mussten. Das blieb Nietzsches Begriff von Sklaverei. „Die ,Wrde der Arbeit‘“, war sein Schluss daraus in einem weiteren Notat, „ist eine moderne Wahnvorstellung der dmmsten Art. Sie ist ein Traum von Sklaven. Alles qult sich um elend weiter zu vegetieren. Und die verzehrende Lebensnoth, die Arbeit heißt, soll ,wrdevoll‘ sein?“ (N 1870/71, 7[16], KSA 7.140) Man bedrfe heute, schrieb er dann fr Cosima Wagner, „solcher Begriffs-Hallucinationen“, um die „Arbeitsnoth aller der Millionen“ zu verdecken; mit der Rede von der ,Wrde der Arbeit‘ bestimme jetzt „der Sklave die allgemeinen Vorstellungen: als welcher seiner Natur nach alle seine Verhltnisse mit trgerischen Namen bezeichnen muß, um leben zu kçnnen.“ Daraus zog Nietzsche wiederum sozialpdagogische Konsequenzen. Wenn Menschen von mhevoller Arbeit leben mssten und das nicht absehbar zu ndern sei, drfe man sie nicht „zum Nachdenken ber sich und ber sich hinaus aufreizen“. Denn wenn ihr Dasein nicht noch unseliger werden sollte, drften sie „nicht begreifen, auf welcher Stufe und in welcher Hçhe erst ungefhr von ,Wrde‘ gesprochen werden kann, dort nmlich wo das Individuum vçllig ber sich hinaus geht und nicht mehr im Dienste seines individuellen Weiterlebens zeugen und arbeiten muß.“ Nietzsche beschçnigte dabei den „erschrecklichen Grund“ keineswegs, auf dem und ber dem eine freie Entfaltung von Kunst und Kultur mçglich werde: dass nmlich „die ungeheure Mehrzahl im Dienste einer Minderzahl, b e r das Maaß ihrer individuellen Bedrftigkeit hinaus, der Lebensnoth sklavisch unterworfen sein“ muss. Doch sein damaliger romantischer Pessimismus rechtfertigte fr ihn dieses Opfer der Millionen: „Auf ihre Unkosten, durch ihre Mehrarbeit soll jene bevorzugte Klasse dem Existenzkampfe entrckt werden, um nun eine neue Welt des Bedrfnisses zu erzeugen und zu befriedigen.“ So „verstand“ sich Nietzsche unter Schaudern dazu, als grausam klingende Wahrheit hinzustellen, daß z u m W e s e n e i n e r K u l t u r d a s S k l a v e n t h u m g e h ç r e: eine Wahrheit freilich, die ber wieweit Menschen „von Natur aus“ Sklaven seien – nmlich wenn sie nicht die Fhrung bernehmen (%qwov 5weiv) kçnnten (I 2, 1252b6 – 7) – oder aber durch Gewalt dazu gemacht worden seien. Aber auch gewaltsame Unterwerfung anderer kçnne eine berlegenheit in Fhrungsfhigkeiten beweisen, und Fhrung als solche aber sei immer notwendig (I 6, 1255a3 – 1255b15). – Zur Thematisierung und Rechtfertigung der Sklaverei in der europischen Philosophie vgl. Flaig, Art. Sklaverei; Kapust, Der Krieg und der Ausfall der Sprache, 144 – 166.
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den absoluten Werth des Daseins keinen Zweifel brig lßt. S i e ist der Geier, der dem prometheischen Fçrderer der Kultur an der Leber nagt. Das Elend der mhsam lebenden Menschen muß noch gesteigert werden, um einer geringen Anzahl olympischer Menschen die Produktion der Kunstwelt zu ermçglichen. Hier liegt der Quell jenes Ingrimms, den die Kommunisten und Socialisten und auch ihre blasseren Abkçmmlinge, die weiße Race der ,Liberalen‘ jeder Zeit gegen die Knste, aber auch gegen das klassische Alterthum genhrt haben. (CV 3, KSA 1.763 – 767) Nietzsche war nie wirklich mit dem Leben von Arbeitern in Berhrung gekommen; im Tribschener Idyll konnte er den Wagners und sich in solch grausamen berzeugungen gefallen. Er verçffentlichte sie so jedoch nicht. In GT wirft er ein heiteres Licht auf die Sklaven der griechischen Welt, die ber hçchste Bildung verfgen und umfassende Freiheiten genießen konnten. Mit Euripides, dem Ende der Tragçdie und dem Beginn der alexandrinischen Kultur seien der „Augenblick, der Witz, der Leichtsinn, die Laune“ zu den „hçchsten Gottheiten“ geworden, und „wenn jetzt berhaupt noch von ,griechischer Heiterkeit‘ die Rede sein“ durfte, so sei es „die Heiterkeit des Sclaven, der nichts Schweres zu verantworten, nichts Grosses zu erstreben, nichts Vergangenes oder Zuknftiges hçher zu schtzen weiss als das Gegenwrtige.“ (GT 11, KSA 1.78)820 Doch auch hier folgt sein „Man soll es merken: die alexandrinische Cultur braucht einen Sclavenstand, um auf die Dauer existieren zu kçnnen“. Nachdem nun eine „optimistische Betrachtung des Daseins“ eingekehrt sei, leugne man „die Nothwendigkeit eines solchen Standes“ und setze seither auf den „Effect“ der „schçnen Verfhrungs- und Beruhigungsworte von der ,Wrde des Menschen‘ und der ,Wrde der Arbeit‘“. Sei dieser Effekt aber einmal „verbraucht“, gehe man „allmhlich einer grauenvollen Vernichtung entgegen. Es giebt nichts Furchtbareres als einen barbarischen Sclavenstand, der seine Existenz als ein Unrecht zu betrachten gelernt hat und sich anschickt, nicht nur fr sich, sondern fr alle Generationen Rache zu nehmen.“ (GT 18, KSA 1.117)821
Nietzsche war jedoch nicht der Mann, solche realen sozialen Gefahren, wenn schon nicht an der Spitze der Arbeiterbewegung revolutionr zu berwinden, so doch mit Vorschlgen zu klugen politischen Maßnahmen pragmatisch zu entschrfen, wie sie Bismarck in den Jahren nach der Grndung der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (1875) ergriff. Das wre „k l e i n e Politik“ gewesen. Nietzsche setzte im Gegenteil weiter, bis hin zu FW 377, auf extreme Spannungen, um sie fr seine 820 Zum Kontext beim frhen Nietzsche vgl. von Reibnitz, Ein Kommentar zu GT, 303 – 306. 821 Anlass dieser Bemerkung war wohl der Brand der Tuilerien (und, wie Nietzsche glaubte, auch des Louvre) whrend der Pariser Commune, der Nietzsche entsetzte, und eine Anregung Wagners in Ursprung und Ziel der Tragçdie. Vgl. Sautet, Nietzsche et la Commune; Sautet, Notes, 528 f., Fn. 484; Marti, „Der große Pçbel- und Sklavenaufstand“, 143 – 145. Losurdo, Nietzsche, der aristokratische Rebell, interpretiert von hier aus Nietzsches ganze Philosophie.
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,grosse Politik‘ der Steigerung der Kultur und die Erhçhung des Typus ,Mensch‘ produktiv zu machen („wir freuen uns an Allen, die gleich uns die Gefahr, den Krieg, das Abenteuer lieben, die sich nicht abfinden, einfangen, versçhnen und verschneiden lassen, wir rechnen uns selbst unter die Eroberer“). In MA griff er sogar zum Begriff der Kaste: „Eine hçhere Cultur kann allein dort entstehen, wo es zwei unterschiedene Kasten der Gesellschaft giebt: die der Arbeitenden und die der Mssigen, zu wahrer Musse Befhigten; oder mit strkerem Ausdruck: die Kaste der Zwangs-Arbeit und die Kaste der Frei-Arbeit.“ Dabei beanspruchte Nietzsche fr „die Kaste der Mssigen“, „die leidensfhigere, leidendere“ zu sein: „ihr Behagen am Dasein ist geringer, ihre Aufgabe grçsser.“ Dennoch wollte er von Anfang an keine stndische Verfestigung sozialer Klassen, sondern gerade einen „Austausch der beiden Kasten“, durch den „ein Zustand erreicht“ werde, „ber den hinaus man nur noch das offene Meer unbestimmter Wnsche sieht.“ (MA I 439) Es ging ihm um die knftige Kultur im Ganzen, nicht um Privilegien fr Wenige. Er entgrenzte nun gezielt auch den Begriff der Sklaverei, fasste jede Ttigkeit darunter, die nicht „individuell“, nicht die „ganz bestimmter einzelner und einziger Menschen“ sei, sondern nach Vorgaben anderer und „gemss der Dummheit der Mechanik“ ablaufe: „Alle Menschen zerfallen, wie zu allen Zeiten so auch jetzt noch, in Sclaven und Freie; denn wer von seinem Tage nicht zwei Drittel fr sich hat, ist ein Sclave, er sei brigens wer er wolle: Staatsmann, Kaufmann, Beamter, Gelehrter.“ (MA I 283) Damit ist so etwas wie geistige Sklaverei eingefhrt. Dazu gehçrt fr Nietzsche schon, dass man einfach dem Herkçmmlichen folgt: „wer im Herkçmmlichen bleibt, ist der Sclave desselben.“ (MA I 552) Das kann beim „modernen Arbeiter“, der sich von der ,Wrde‘ seiner Arbeit betçren lsst, weit mehr der Fall sein als bei der erzwungenen „Sclavenarbeit“ in der Antike (MA I 457). Sklave im Sinn geistiger Abhngigkeit kann man auch durch Besitz und Reichtum werden: „Nur bis zu einem gewissen Grade macht der Besitz den Menschen unabhngiger, freier; eine Stufe weiter – und der Besitz wird zum Herrn, der Besitzer zum Sclaven: als welcher ihm seine Zeit, sein Nachdenken zum Opfer bringen muss und sich frderhin zu einem Verkehr verpflichtet, an einen Ort angenagelt, einem Staate einverleibt fhlt: Alles vielleicht wider sein innerlichstes und wesentlichstes Bedrfniss.“ (MA II, VM 317)
Moderne Sklaverei ist fr Nietzsche so wenig Sache des Standes oder des Besitzes, dass er gerade in den „Arbeitern der Fabrik-Sclaverei“ mçgliche Protagonisten des freien Geistes und guten Europers entdeckt, wie er sie schtzt. Das geschieht in M 206. Nietzsche ist Kyniker (und fr unser heutiges moralisches Empfinden Zyniker) genug (FW 368/17.1.2.), um den Fabrikarbeitern zu sagen, wenn sie „es nicht berhaupt als S c h a n d e“ empfnden, „als Schrauben einer Maschine und gleichsam als Lckenbsser der menschlichen Erfindungskunst v e r b r a u c h t zu werden“, dann kçnne „durch hçhere Zahlung das W e s e n t l i c h e ihres Elends […], ihre unpersçnliche Verknechtung, [nicht] gehoben werden“; sie
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steigere im Gegenteil noch die „Unpersçnlichkeit“ (in marxistischer Sprache: die Entfremdung822): „Pfui! einen Preis zu haben, fr den man nicht mehr Person, sondern Schraube wird!“ Der Preis ist die vollstndige Selbstauslieferung an das (in marxistischer Sprache) kapitalistische System: Seid ihr die Mitverschworenen in der jetzigen Narrheit der Nationen, welche vor Allem mçglichst Viel produciren und mçglichst reich sein wollen? Eure Sache wre es, ihnen die Gegenrechnung vorzuhalten: wie grosse Summen i n n e r e n Werthes fr ein solches usserliches Ziel weggeworfen werden! Wo ist aber euer innerer Werth, wenn ihr nicht mehr wisst, was frei athmen heisst? euch selber nicht einmal nothdrftig in der Gewalt habt? eurer wie eines abgestandenen Getrnkes allzu oft berdrssig werdet? nach der Zeitung hinhorcht und den reichen Nachbar anschielt, lstern gemacht durch das schnelle Steigen und Fallen von Macht, Geld und Meinungen? (M 206)
So empfiehlt Nietzsche den Arbeitern, statt sich von „socialistischen Rattenfngern“ „mit tollen Hoffnungen brnstig machen“ zu lassen und eines Tages zur „bestia triumphans“ zu werden, kynische „Freimthigkeit des Bedrfnisslosen“.823 Aber er macht ihnen einen noch viel weitergehenden Vorschlag, eben den, den er in FW 377 und 380 an die „Heimatlosen“ und „g u t e n E u r o p e r“ richten wird: ,lieber auswandern, in wilden und frischen Gegenden der Welt Herr zu werden suchen und vor Allem H e r r ber mich selber; den Ort so lange wechseln, als noch irgend ein Zeichen von Sclaverei mir winkt; dem Abenteuer und dem Kriege nicht aus dem Wege gehen und fr die schlimmsten Zuflle den Tod in Bereitschaft halten: nur nicht lnger diese unanstndige Knechtschaft, nur nicht lnger diess Sauer- und Giftig- und Verschwçrerisch-werden!‘ (M 206)
Der Kynismus freier Geister, wie Nietzsche sie sich denkt, wre nicht nur fr Philosophen, sondern auch fr die Arbeiter „die rechte Gesinnung“. Sie wren durch ihr Los dazu bestimmt, sich a l s S t a n d frderhin fr eine Menschen-Unmçglichkeit, und nicht nur, wie meistens geschieht, als etwas hart und unzweckmssig Eingerichtetes [zu] erklren; sie sollten ein Zeitalter des grossen Ausschwrmens im europischen Bienenstocke herauffhren, wie dergleichen bisher noch nicht erlebt 822 Auch Nietzsche gebrauchte den Begriff, wenn auch nicht im spezifisch marxistischen Sinn. Vgl. etwa N 1885, 36[17], KSA 11.559 / W I 4, S. 35: „Die {Wir} neuen Philosophen aber: {wir} beginnen {nicht nur} mit der Lehre {Darstellung} der menschl. {thatschlichen} Rangordnung u. {Werth-}Verschiedenheit u der {jener} Menschen, {sondern sie wollen auch gerade das Gegentheil einer Anhnlichung, sie verlangen nicht einer Ausgleichung, sondern Entfremdung: sie lehren die Entfremdung in jedem Sinne, sie reißen grçßere Klfte auf, als es je / wie es noch keine gegeben hat gab, sie wollen z. B., daß der M. bçser werde als er je war}.“ 823 Vgl. N 1880, 7[97], KSA 9.337.
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wurde, und, durch diese That der Freizgigkeit im grossen Stil, gegen die Maschine, das Capital und die jetzt ihnen drohende Wahl protestiren, entweder Sclave des Staates oder Sclave einer Umsturz-Partei werden zu m s s e n. (M 206)
Gerade die Arbeiter kçnnten gute Europer werden: In der Ferne erst, bei den Unternehmungen schwrmender Colonisten-Zge wird man recht erkennen, wie viel gute Vernunft und Billigkeit, wie viel gesundes Misstrauen die Mutter Europa ihren Sçhnen einverleibt hat […]. Ausserhalb Europa’s werden die Tugenden Europa’s mit diesen Arbeitern auf der Wanderschaft sein; und Das, was zu gefhrlichem Missmuth und verbrecherischem Hange innerhalb der Heimath zu entarten begann, wird draussen eine wilde schçne Natrlichkeit gewinnen und Heroismus heissen. (M 206)
Das war nicht weltfremd.824 In der Tat wanderten seit etwa 1820 Dutzende von Millionen Europer aus, großenteils in die beiden Amerikas, und viele davon entwickelten dort stolz, was Nietzsche „wilde schçne Natrlichkeit“ und „Heroismus“ nennt. Dass Europa dann einmal ,Arbeitssklaven‘ fehlen kçnnten, kmmerte Nietzsche nicht: Vielleicht auch wird man dann C h i n e s e n hereinholen: und diese wrden die Denk- und Lebensweise mitbringen, welche sich fr arbeitsame Ameisen schickt. Ja, sie kçnnten im Ganzen dazu helfen, dem unruhigen und sich aufreibenden Europa etwas asiatische Ruhe und Betrachtsamkeit und – was am meisten wohl noth thut – asiatische D a u e r h a f t i g k e i t in’s Geblt zu geben. (M 206)
Wer in Europa blieb, gewçhnte sich so sehr an die strengen moralischen, rechtlichen und staatlichen Ordnungen, denen er mehr und mehr unterworfen wurde, dass er den Sinn fr die persçnliche Unabhngigkeit verlor, der den Griechen noch selbstverstndlich war: Ein Wesen, das nicht ber sich selber verfgen kann und dem die Musse fehlt, – das gilt unserem Auge noch keineswegs als etwas Verchtliches; es ist von derlei Sclavenhaftem vielleicht zu viel an Jedem von uns, nach den Bedingungen unserer gesellschaftlichen Ordnung und Thtigkeit, welche grundverschieden von denen der Alten sind. – Der griechische Philosoph gieng durch das Leben mit dem geheimen Gefhle, dass es viel mehr Sclaven gebe, als man vermeine – nmlich, dass Jedermann Sclave sei, der nicht Philosoph sei; sein Stolz schwoll ber, wenn er erwog, dass auch die Mchtigsten der Erde unter diesen seinen Sclaven seien. Auch dieser Stolz ist uns fremd und un-
824 Selbst Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, 142, kann hier nur „Merkwrdigkeiten“ erkennen.
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mçglich; nicht einmal im Gleichniss hat das Wort ,Sclave‘ fr uns seine volle Kraft. (FW 18) So versuchte Nietzsche weiter, „das Wort ,Sclave‘“ eben „im Gleichniss“ stark zu machen. Auch wenn moderne Menschen weit mehr als die antiken zur ,Sklaverei‘ der Abhngigkeiten aller Art bereit sind, ist das antike „Gefhl“ dabei nicht vçllig abgestumpft. Ob die moderne Sklaverei als akzeptabel oder peinlich empfunden wird, hngt, so Nietzsche, von der „Form“ ab. In der „militrisch begrndeten Cultur“ werde sie weiterhin akzeptiert, weil hier eine lange Tradition des Befehlens und Gehorchens nachwirke; im Verhltnis von „Soldaten und Fhrer“ habe sie noch etwas von der „v o r n e h m e n F o r m“. Das Verhltnis von „Arbeiter und Arbeitgeber“ dagegen stehe vorerst nur unter dem „Gesetz der Noth: man will leben und muss sich verkaufen, aber man verachtet Den, der diese Noth ausntzt und sich den Arbeiter k a u f t.“ Hier werden die Abhngigkeiten „peinlich“: „in dem Arbeitgeber sieht der Arbeiter gewçhnlich nur einen listigen, aussaugenden, auf alle Noth speculirenden Hund von Menschen, dessen Name, Gestalt, Sitte und Ruf ihm ganz gleichgltig sind.“ Fabrikherrn mit ihrer „berchtigten FabrikantenVulgaritt“, denen ihre Macht durch „den Zufall und das Glck“ des Marktes zugefallen ist, fehlt „die Vornehmheit des Geburts-Adels im Blick und in der Gebrde“, die sich in langen Generationen entwickelt; htten sie sie, „so gbe es vielleicht keinen Socialismus der Massen. Denn diese sind bereit zur S c l a v e r e i jeder Art, vorausgesetzt, dass der Hçhere ber ihnen sich bestndig als hçher, als zum Befehlen g e b o r e n legitimirt – durch die vornehme Form!“ (FW 40) Auch dafr gab es am Ende des 19. Jahrhunderts schon Beispiele. Massen, folgerte Nietzsche in FW weiter, haben geradezu „ein Bedrfniss nach Sclaverei“; sie sind gerade darin Massen, dass sie gleichfçrmige Bedrfnisse teilen, die sie zuverlssig und rasch befriedigt sehen wollen, von Leuten, die dazu hinreichend mchtig sind. Aber „wo es Sclaverei giebt,“ bemerkte er zunchst noch im Blick auf die alten Philosophen, „da sind der Individuen nur wenige, und diese haben die Heerdeninstincte und das Gewissen gegen sich.“ (FW 149) In JGB, wo er die Unterscheidung von „S k l a v e n - M o r a l“ und „H e r r e n - M o r a l“ einfhrte (JGB 260), zog er daraus die ußersten Konsequenzen. Er begann damit, dass in der Moderne selbst mutige Freigeister zu „beredten und schreibfingrigen Sklaven des demokratischen Geschmacks und seiner ,modernen Ideen‘“ werden konnten (JGB 44). Sklaven im ursprnglichen Sinn wollten, sofern sie schwer litten, „Unbedingtes“, keine „Unbekmmertheit um den Ernst des Glaubens“ und schon gar keine „Skepsis“ gegen ihr Leiden, wie sie sie von den Aristokraten zu vergegenwrtigen hatten; das kçnnte auch noch „an der Entstehung des letzten grossen Sklaven-Aufstandes“ mitgewirkt haben, „welcher mit der franzçsischen Revolution begonnen hat“. Sklaven im alten und neuen Sinn verstehen „nur das Tyrannische, auch in der Moral“ (JGB 46). Das aber msste zur Folge haben, dass aus der modernen Demokratisirung Europas eine „unfreiwillige Veranstaltung zur Zchtung von T y r a n n e n“ wird, „– das Wort in jedem Sinne verstanden, auch im geistigsten.“ Denn der Prozess der „Anhnlichung der Europer, ihre wachsende Loslçsung von den Bedingungen, unter denen klimatisch und stndisch gebundene Rassen entstehen, ihre zunehmende Unabhngigkeit von jedem b e s t i m m t e n milieu“, ihre fortschreitende „Ausgleichung und Vermittelmssigung“ msste einerseits „ein ntzliches arbeitsames, vielfach brauchbares und
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anstelliges Heerdenthier Mensch“ hervorbringen, einen „zur S k l a v e r e i im feinsten Sinne vorbereiteten Typus“, andererseits aber nach statistischer Wahrscheinlichkeit auch „Ausnahme-Menschen der gefhrlichsten und anziehendsten Qualitt“. Diesen stehen jetzt weit reichere Mçglichkeiten der „Schulung“, „bung, Kunst und Maske“ zu Gebote, und so werde, „im Einzel- und Ausnahmefall, der s t a r k e Mensch strker und reicher gerathen mssen, als er vielleicht jemals bisher gerathen ist“. Ihre Alleinherrschaft, ihre Tyrannei, kçnnte dann von den Massen gewollt werden, im Guten und im Schlimmen (JGB 242). Im Blick auf die Zukunft der demokratischen Bewegung von ,Tyrannen‘ zu sprechen, ist nicht weniger provokativ als von ,Sklaven‘. Tyrannen kçnnen brutale Machthaber sein, und sie wurden es im Europa des 20. Jahrhunderts in einem Maß, das im 19. Jahrhundert noch kaum vorstellbar war. Auch im antiken Sinn konnten sie ber „Lge, Mord, Verrath, Verkauf der Vaterstadt“ gleichgltig hinweggehen (M 199). Sie konnten aber auch weise, willkommene und hoch verehrte Herrscher sein. „T y r a n n e n d e s G e i s t e s“ waren fr Nietzsche auch „die griechischen Philosophen“ in solchen Exemplaren wie Parmenides, Pythagoras, Empedokles, Anaximander und Platon. Sie „hatten einen handfesten Glauben an sich und ihre ,Wahrheit‘ und warfen mit ihr alle ihre Nachbarn und Vorgnger nieder; Jeder von ihnen war ein streitbarer gewaltthtiger T y r a n n.“ Eine Ausnahme war Solon, der nicht Tyrann sein wollte, es durch seine Gesetzgebung aber wurde: „und Gesetzgeber sein ist eine sublimirtere Form des Tyrannenthums.“ Doch nun, so Nietzsche noch in MA, ist „die Periode der Tyrannen des Geistes“ vorbei. Die Herrschaft, die es „in den Sphren der hçheren Cultur“ immer geben msse, werde nun eher von „O l i g a r c h e n d e s G e i s t e s“ ausgebt, die, wie Nietzsche damals noch hoffte, einander „erkennen und anerkennen“ werden, weil sie „einander nçthig“ haben (MA I 261). Diese Illusion hatte er zur Zeit von JGB und FW V verloren. Er sieht die Gefahr brutaler Tyrannen, redet ihnen aber nicht das Wort. Nach JGB 257 denkt er sich die „Erhçhung des Typus ,Mensch‘“ – die Formel erscheint hier zuerst – in einer „aristokratischen Gesellschaft“, „welche an eine lange Leiter der Rangordnung und Werthverschiedenheit von Mensch und Mensch glaubt und Sklaverei in irgend einem Sinne nçthig hat.“ (JGB 257) Sie kann aus einer stndischen Gesellschaft erwachsen sein, ist aber nicht an sie gebunden. Sie setzt nur das „P a t h o s d e r D i s t a n z“ voraus, „das Gefhl der Rangverschiedenheit“ (N 1885/86, 1[10], KSA 12.13 / N VII 2, S. 166) und den „Willen zur Selbstverantwortlichkeit“ (GD Streifzge 38):825 wer Fhrungsverantwortung fr die Massen bernimmt, muss deren Moral kennen, darf sich aber nicht wie sie allein an ihr orientieren, weil er sie sonst nicht fhren kçnnte. Auch dies charakterisiert Nietzsche nun „ohne Schonung“. Zum Herrschen fhige Menschen seien einmal „Raubmenschen“ gewesen, „noch im Besitz ungebrochner Willenskrfte und Macht-Begierden,“ die sich „auf alte mrbe Culturen“ warfen, „in denen eben die letzte Lebenskraft in glnzenden Feuerwerken von Geist und Verderbniss verflackerte“. Doch Nietzsche fgt hinzu: „ihr bergewicht lag nicht vorerst in der physischen Kraft, sondern in der seelischen, – es waren die g a n z e r e n Menschen 825 Vgl. zum ,Pathos der Distanz‘ GM I 2 u. III 14; GD Streifzge 37; AC 43 u. 57, und dazu Stegmaier, Nietzsches ,Genealogie der Moral‘, 100 – 102.
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(was auf jeder Stufe auch so viel mit bedeutet als ,die ganzeren Bestien‘ – ).“ (JGB 257) ,Ganzere Bestien‘ sind sie aus Sicht der Unterworfenen, ,ganzere Menschen‘ aus ihrer eigenen. Ihr ,Pathos der Distanz‘, „das Wesentliche an einer guten und gesunden Aristokratie“, liege darin, „dass sie sich n i c h t als Funktion (sei es des Kçnigthums, sei es des Gemeinwesens), sondern als dessen S i n n und hçchste Rechtfertigung fhlt – dass sie deshalb“ – und hier ließ Nietzsche dann seine ußerste moralische Provokation folgen – „mit gutem Gewissen das Opfer einer Unzahl Menschen hinnimmt, welche u m i h r e t w i l l e n zu unvollstndigen Menschen, zu Sklaven, zu Werkzeugen herabgedrckt und vermindert werden mssen.“ (JGB 258/11.1.1.) Der Gedanke dahinter scheint zu sein: Wer neue Orientierungen ber die alte Moral hinaus geben soll, um die Gesellschaft im Ganzen auf die Zukunft auszurichten, muss nicht nur moralisch unabhngig, frei zu eigenen Wertungen sein, er muss sein Gefhl fr Rangordnung auch so einverleibt haben, dass ihn kein schlechtes Gewissen daran hindert, die, die es nçtig haben, in beschrnkteren Lebensformen zu halten und diesen beschrnkteren Lebensformen den Sinn zu geben, das Mittel zu knftigen freieren Lebensformen zu sein. So schroff Nietzsche den Gedanken vortgt, kçnnte er illusionslos nach wie vor wirksame soziale Sinngebungsprozesse charakterisieren. Im Anschluss daran bringt Nietzsche seine berchtigte Bestimmung des „Lebens selbst“ als „w e s e n t l i c h Aneignung, Verletzung, berwltigung des Fremden und Schwcheren, Unterdrckung, Hrte, Aufzwngung eigner Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung“ oder weniger „verleumderisch“, wie er hofft, als „Wille zur Macht“, und verlangt statt moralischer Korrektheit Ehrlichkeit auch fr sie (JGB 259). Dann lsst er seine Unterscheidung von „H e r r e n - M o r a l und S k l a v e n - M o r a l“ folgen, mit dem ausdrcklichen Zusatz, „dass in allen hçheren und gemischteren Culturen auch Versuche der Vermittlung beider Moralen zum Vorschein kommen, noch çfter das Durcheinander derselben und gegenseitige Missverstehen, ja bisweilen ihr hartes Nebeneinander – sogar im selben Menschen, innerhalb Einer Seele.“ (JGB 260).826 Zu derselben Zeit hatte sich Nietzsche notiert, es werde ein „Zeitpunkt“ eintreten, „wo der Mensch Kraft im berfluß zu Diensten hat: die Wissenschaft ist darauf aus, diese Sklaverei der Natur herbeizufhren. / Dann bekommt der Mensch Muße: sich selbst auszubilden, zu etwas Neuem Hçherem. Neue Aristokratie“; „die bisherigen Aristokratien, {geistliche und weltliche}, beweisen nichts gegen die Nothwendigkeit einer neuen Aristokratie.“ (N 1886/87, 5[61], KSA 12.207 f. / N VII 3, 115 f.) Danach ist der Typus ,Mensch‘ schon dadurch ,erhçht‘, dass er durch Wissenschaft und Technik zunehmend von mhevoller kçrperlicher Arbeit freigesetzt wird. Zugleich schafft die moderne industrielle Welt aber ein immer enger verzahntes „Rderwerk“, das, wie Nietzsche im Rckblick auf HL schreiben wird, neu „entmenscht“, die Arbeiter jeder Art wieder zur „,U n persçnlichkeit‘“ herabdrckt, die errungene „Cultur“ wieder „b a r b a r i s i r t“ (EH UB 1), also in eine neue Sklaverei zwingt. Dies wird freilich von den meisten nicht so empfunden. Sie fgen sich willig in die immer strker geregelte moderne Gesellschaft ein, und nur so kann sie auch funktionieren. Als Demokrat, als der man 826 Vgl. Stegmaier, Nietzsches ,Genealogie der Moral‘, 21 f., 120 f.
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an dem Regelwerk des Rderwerks bestndig mitarbeitet, will oder darf man das nicht wahrhaben; man nçtigt stattdessen auch Ausnahmemenschen, die selbstverantwortlich neue moralische Maßstbe setzen kçnnten, sich in das Regelwerk einzufgen.827 Man misstraut ihrer fraglosen Autoritt: „man glaubt sich in der Gefahr einer neuen Sklaverei, wo das Wort ,Autoritt‘ auch nur laut wird.“ (GD Streifzge 39; vgl. FW 356/11.1.5.)
Nietzsche spricht nach alldem von der Notwendigkeit einer neuen Sklaverei nicht, um knftig wieder eine Sklaverei, welcher Art auch immer, herbeizufhren, sondern um ihrem unausweichlichen Eintreten einen Sinn zu geben. Um ihre scheinbare Rechtfertigung durch die Formel von der ,Wrde der Arbeit‘ zu konterkarieren, setzt er ihr eine ,neue Aristokratie‘ und ,Ausnahme-Menschen‘ als ,Tyrannen‘ entgegen. Er legt den Sinn der Gesellschaft in die ,Aristokratie‘, weil er nicht in ihre ,Sklaverei‘ gesetzt werden kann.828 Das scheint antidemokratisch, ist es aber nur in einem engen politischen Horizont, nicht in Nietzsches weitem Horizont einer Befreiung des Denkens, in dem es darum geht, die Demokraten allzu naheliegende Illusion eines allen gemeinsamen Willens zur Gleichheit und Gemeinsamkeit, einer Herden- oder Sklavenmoral in seinem Sinn, sichtbar zu machen. In Nietzsches Blick auf die Erhçhung der Kultur im Ganzen wird Arbeit und werden Regelwerke und Ordnungen nicht schon durch die Ruhe, die sie in die Gesellschaft bringen, sondern erst durch die neuen Freiheiten gerechtfertigt, die sie freisetzen, nicht fr privilegierte Stnde oder bestimmte Einzelne, sondern fr jede und jeden, die oder der, unter welchen Bedingungen und in welchem Grad auch immer, die Kraft zu unabhngigen und selbstverantwortlichen eigenen Orientierungen aufbringt.829 Im schon angefhrten Notat hat Nietzsche fr sich festgehalten, dass die neue Aristokratie „einen Gegensatz nçthig [hat], gegen den sie ankmpft: sie muß eine furchtbare Dringlichkeit haben, sich zu erhalten.“ Dieser Gegensatz ist die ,neue Sklaverei‘, die gerade Demokraten nicht wollen kçnnen, er soll die Notwendigkeit einer neuen Aristokratie im Sinn einer Fhrungselite fr die bevorstehende ,Erdregierung‘ plausibel machen. Denn nach Nietzsche gibt es „zwei Zuknfte der Mheit: 1) die Consequenz der Vermittelmßigung 2) das bewußte Abheben, sich-Gestalten“, und er will dafr „{eine Lehre}“ entwerfen, „{die eine Kluft schafft: sie erhlt die oberste u. die niedrigste Art (sie zerstçrt die mittlere)}“ 827 Vgl. Owen, Nietzsche, Ethical Agency and the Problem of Democracy (11.3.4.). 828 Vgl. in diesem Sinn auch Lemm, Nietzsches Vision einer ,neuen Aristokratie‘. 829 Vgl. M 96: „Zwischen den Stnden! Zwischen Arm und Reich! Zwischen Befehlenden und Unterworfenen! Zwischen den unruhigsten und den ruhigsten, beruhigendsten Menschen!“
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(N 1886/87, 5[61], KSA 12.207; N VII 3, S. 116). Der Gegensatz von neuer Aristokratie und neuer Sklaverei soll in einer Gesellschaft, die immer zufriedener wird mit sich und mit ihrem illusionren Willen zur Gleichheit und Gemeinsamkeit aller, wieder Agonalitt freisetzen, einen neuen Wettbewerb um eine mçglichst illusionslose und dadurch erst zukunftsfhige Fhrung der Gesellschaft anstoßen. Die schon eingetretene und immer weiter zunehmende Machinalisierung des Menschen erzwingt auch die Steigerung seiner Fhigkeiten zur Steuerung der Maschine im Ganzen. Nur beides zusammen, so Nietzsche, kann den Typus ,Mensch‘ erhçhen – nicht fr ,Optimismus‘, aber fr den ,dionysischen Pessimismus‘. In einem weiteren, oben (FW 373/13.2.) schon zitierten Notat hat Nietzsche seinen politisch-berpolitischen Entwurf versuchsweise noch einmal auf die Spitze getrieben. Dort will er der Menschheit noch schonungsloser das Illusionre ihrer bisherigen Ziele vor Augen stellen, um ihr so bewusst zu machen, dass sie sich selbst Ziele setzen muss. Danach kann es nicht mehr um die „M e n s c h h e i t“ im Sinn eines allgemeinen, fr alle gleich verbindlichen Menschheits-Ideals und seiner „E n t w i c k l u n g“ gehen; eben solche Ideale sind nun unglaubwrdig geworden. Nietzsche setzt nun dem Allgemeinen unmittelbar die Einzelnen entgegen: die Ziele kçnnten nur noch „E i n z e l n e“ sein. Wenn aber Einzelne neue Ziele setzen, neue Ziele sein sollen, drfen sie nicht in den Dienst aller gestellt, nicht zu ihrer Funktion gemacht werden: „Meine Gedanken drehen sich nicht um den Grad von Freiheit der dem Einen oder dem Anderen oder Allen zu gçnnen ist, sondern um den Grad von M a c h t, den Einer oder der Andere ber Andere oder Alle ausben soll, resp. in wiefern eine Opferung von Freiheit, eine Versklavung selbst, zur Hervorbringung eines h ç h e r e n T y p u s die Basis giebt.“ Die Einzelnen unterscheiden sich von der Masse eben durch die Freiheit, sich nicht in Dienst nehmen zu lassen: „In grçßter Form gedacht: w i e k ç n n t e m a n d i e E n t w i c k l u n g d e r M e n s c h h e i t o p f e r n, um einer hçheren Art als der Mensch ist, zum Dasein zu helfen? […] Mein Gedanke: es fehlen die Ziele, und d i e s e m s s e n E i n z e l n e s e i n! / Wir sehn das allgemeine Treiben: Jeder Einzelne wird geopfert und dient als Werkzeug. Man gehe durch die Straße, ob man nicht lauter ,Sklaven‘ begegnet. Wohin? Wozu?“ (N 1886/87, 7[6], KSA 12.280 f.) Das bleibt ein Gedankenexperiment. Bald darauf stellt Nietzsche die Frage nach dem ,Wozu?‘ der Menschheit noch einmal im Blick auf die „unvermeidlich bevorstehende Wirthschafts-Gesammtverwaltung der Erde“ und beantwortet sie nun wieder im Sinn der wechselseitigen Bedingtheit von Machinalisierung und Steuerung der Gesellschaft. Darin trgt er dann auch sein „Wort ,bermensch‘“ ein (NSM 19). Er hat mit dem Text des Notats stark gerungen – und ihn dann nicht verçffentlicht: Die Nothwendigkeit zu erweisen, daß zu einem immer çkonomischeren Ge {Ver}brauch von Mensch u. Menschheit, zu einer immer fester in einander verschlungenen Maschinerie {,Maschinerie‘} der Interessen u. Leistungen eine Gegenbewegung gehçrt. die {Ich bezeichne dieselbe als} Ausscheidung von
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Luxus-berschusse{s} der Menschheit: {zum Zweck der Bildung} von strkeren Typen, deren Entstehungs- Erhaltungsbedinungen andere sind als die innerhalb der ersten Bewegung: solche, denen nur die persçnliche Existenz genug thut nicht ein Thun, als ein anderes Sein {in ihr tritt aus ihr soll eine strkere Art, ein hçherer Typus ans Licht treten, ein hçherer Typus, der andere Entstehungs- und andere Erhaltungsbedinungen hat als der DurchschnittsMensch. / Das ist Mein Begriff, des mein Gleichniß vom ,bermenschen‘ / Mein Begriff, mein Gleichniß dafr fr diesen Typus, ist wie man weiß, das Wort ,bermensch‘.} Auf dem jenem ersten Wege{, der vollkommen jetzt berschaubar ist,} entsteht die Anpassung, {die} Abflachung, das hçhere Chinesenthum, {Individual- Instinkt- Instinkt-}Bescheidenheit, {kurz, die endgltige eine Zufriedenheit in der Verkleinerung des Menschen im} – eine Art StillstandsHçhe u. Niveau des Menschen. Wobei die wirthschaftl. {Haben wir erst jene unvermeidlich bevorstehende unvermeidlich bevorstehende Wirthschafts-}Gesammt-Verwaltung der Erde, den wesentlichen Faktor abgiebt: dann kann die Mh als Maschinerie organisirt in deren Diensten ihren besten Sinn finden: {als} ein ungeheures Rderwerk von immer kleineren, {immer feiner} ,angepaßteren‘ Rdern; {als} ein ein immer wachsendes berflssigwerden {aller} dominirender u. commandirender Elemente; {als} ein Ganzes von ungeheurer Kraft, dessen einzelne Faktoren Minimal-Krfte, {Minimal-Werthe} darstellen. {Im Gegensatz zu dieser Verkleinerung u. Ver Anpassung des M zu an einer eigenen spezialisirtere Ntzlichkeit bedarf es der Gegensatz- umgekehrten Bewegung – der / einer Erzeugung des synthetischen, des summirenden, des rechtfertigenden Menschen, fr den jene Machinalisirung der Mh. eine Daseins-Voraussetzungbedingung ist, als ein Grund ein Untergestell, auf dem er seine hçhere Form zu sein erst schaffen kann sich erfinden kann …} der hçhere M. als der strkere, reichere, vielfachere … / darum nicht zgellose Mensch / nicht nur eine ntzliche Spezialitt, sondern eine Art Erfllung u. Summirung des Menschen. Er braucht {ebenso sehr} die Gegnerschaft der Menge, der ,Nivellirten‘, {das Distanz-Gefhl im Vergleich zu ihnen}; andererseits steht er auf ihr ihnen, {er} lebt von ih{nen. Diese hçhere Form des Aristokratism ist die der Zukunft.} – Der Rechtschaffenheit als die große Ntzlichkeit in Hinsicht auf {Moralisch geredet, stellt jene Gesammt-Maschinerie, die Solidaritt aller Rder, ein maximum in der} Ausbeutung des Menschen {dar}: aber sie setzt Ausbeuter voraus! {solche voraus, derentwegen diese Ausbeutung Sinn hat.} Im anderen Falle endet sie mit einer Gesammt-Verringerung des Typus {endlich wre sie gleichbedeutend mit einer thatschlich bloß die Werth-Verringerung des Typus Mensch, – ein Rckgangs-Phnomen im grçßten Stile.} – Der Optimismus, der von mir bekmpft wird, ist der çkonomische: als ob aus dem Nutzen immer fort auf Unkosten Aller erreicht wird. {Man sieht, was ich bekmpfe, ist Optimismus: wie als ob mit den} wachsenden {Unkosten Aller auch der Nutzen Aller immerfort nothwendig wachsen mßte}. Mir scheinen {Das Gegentheil scheint mir der Fall: summiren sich} die Unkosten Aller endlich den berschuß zu haben: {zu einem Gesammt-Verlust: der
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Mensch wird geringer:} so daß man nicht mehr weiß, wozu {berhaupt} dieser ungeheure Prozeß gedient hat. {gedient hat. Maschinerie in Thtigkeit ist}. Ein wozu? ein neues ,Wozu!‘ – das ist es, was die Menschheit nçthig hat … (N 1887, 10[17], KSA 12.462 f. / W II 2, S. 129 f.)
18.1.3. Gegenglaube an die Selbstberwindung der Moral in Europa Den Gedanken von der „Nothwendigkeit neuer Ordnungen, auch einer neuen Sklaverei“, der zugleich die Notwendigkeit einer neuen Aristokratie oder herausragend verantwortungsfhiger Ausnahme-Menschen nahelegt und den Nietzsche im Rahmen eines oszillierend politischen und berpolitischen Gegenmanifests eingefhrt hat, fhrt er in den folgenden Abschnitten [3]-[5] des Aphorismus FW 377 konsequent auf einen Gegenglauben hinaus. Er stellt sich in seiner Kritik der zur „,Religion des Mitleidens‘“ berhçhten „,Liebe zur Menschheit‘“ selbst unter ein moralisches Gebot („nie zu erlauben wagen“), trgt Bekenntnisse vor („Nein, wir lieben die Menschheit nicht; andererseits sind wir aber auch lange nicht ,deutsch‘ genug“, „wir ziehen es bei Weitem vor“), kommt schließlich bei seinem Versprechen an („es soll unser Ehrenwort sein!“) und lenkt auf FW 357 zurck, die Formel von den „g u t e n Europern und Erben von Europa’s lngster und tapferster Selbstberwindung“ (12.6.). In sie hat er nun auch seine „Hauptunterscheidung“ von Verarmung und berflle des Lebens aus FW 370 (16.3.) eingetragen: „g u t e E u r o p e r , die Erben Europa’s,“ heißt es nun, „die reichen, berhuften, aber auch berreich verpflichteten Erben von Jahrtausenden des europischen Geistes“.830 Er spricht nun jedoch nicht mehr von „Errungenschaften“ und „Ereignissen“, sondern von einem „G l a u b e n“, nimmt, was dort noch als objektiv historisch erscheinen konnte, in die Perspektive seines in die Politik bergreifenden, seine Leser zur ,großer Politik‘ ermunternden und ermutigenden Philosophierens zurck. Es ist kein Glaube mehr an die Wahrheit (FW 344/5.1.2.) und kein Glaube mehr an die Moral, auf dem jener ruht (FW 345/6.1.1.); hier hat Nietzsches freier Geist sich lngst zum „Unglauben“ durchgerungen. Nietzsche appelliert auch nicht an eine ,hçhere Wahrheit‘ oder eine ,hçhere Moral‘, behauptet nicht einmal, seinen Glauben zu durchschauen. Denn 830 Venturelli, Die gaya scienza der „guten Europer“, entwickelt von hier aus, gesttzt auf zahlreiche Quellenforschungen von Giuliano Campioni, die Kontexte der Formel vom ,guten Europer‘ in ihrem ganzen Spektrum.
18.2. Halt in der eigenen Leichtigkeit. Nr. 380
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wenn dies nun der Glaube ist, der sein Philosophieren leitet und den er auch den „Freunden“ ansinnt, so hat er keine Distanz zu ihm. Auch hier ist Nietzsche konsequent. Er kann seinen Gegenglauben nur als „verborgnes J a“ erfahren, das ihn treibt und – er zitiert die Formel „auf ’s Meer msst“ aus FW 343 (4.6.) – in diesem Buch schon von Anfang an getrieben hat; es ist ein Gegenglaube auch gegen seinen eigenen „Unglauben“, seine „Neins“, und gegen seine Skepsis, seine „Vielleichts“: „Das verborgne J a in euch ist strker als alle Neins und Vielleichts, an denen ihr mit eurer Zeit krank seid; und wenn ihr auf ’s Meer msst, ihr Auswanderer, so zwingt dazu auch euch – ein G l a u b e!…“ Der Glaube ist auch nicht ein Glaube an etwas – außer an die Mçglichkeit seiner eigenen Selbstberwindung. Nietzsche belsst es beim bloßen „J a“, gibt keine Ziele an, lsst die Zukunft offen.831 Im Druckmanuskript stand zunchst noch: „Wir Heimatlosen, wir haben gar keine Wahl: wir m s s e n nunmehr Eroberer und Entdecker sein! Vielleicht, daß wir, wessen wir selbst entbehren, wessen wir uns selbst beraubten, unseren Kindern einst noch hinterlassen – neue Ideale, neue Realitten, eine neue Heimat! – –“ (KSA 14.276) Auch die „neuen Ideale“, „neuen Realitten“, „neue Heimat“ hat er zuletzt noch gestrichen, um der offenen Zukunft willen. Die Heimatlosen bleiben ohne Heimat.
18.2. Halt in der eigenen Leichtigkeit Nr. 380: , D e r Wa n d e r e r ‘ r e d e t . FW 380 ist ein noch strker summierender Aphorismus als FW 377. Er steht nun fast am Ende des V. Buchs der FW und fhrt es auch mit MA, M, ZA und JGB, den vorausgehenden Werken, zusammen.832 Nach der politischen bringt er die ethische Konkretion des dionysischen Pessimismus, und er geht dabei auch noch ber die europische Perspektive hinaus. Der „g u t e E u r o p e r“ geht ber Europa und seine Moralitt hinaus, um auch zu ihr einen Spielraum zu gewinnen, um auch sie kritisch sehen zu kçnnen, um auch an sie nicht einfach glauben zu mssen. Er hat in ihr wohl seine Heimat, will aber auch in ihr heimatlos, auch und gerade fr sie ein Tauwind werden, der ihr zerbrechliches Eis zerbrechen lsst. Einen mçglichen Standpunkt seiner Kritik sucht Nietzsche wiederum nicht in einem metaphysischen oder transzendentalen Jenseits, sondern in 831 Vgl. zu Nietzsches Bejahungen Stegmaier, Nietzsche zur Einfhrung, Kap. XI. 832 Vgl. Sautet, Notes, 529 f., Fn. 491.
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einem konkreten Gegenstandpunkt: „Ich muß o r i e n t a l i s c h e r denken lernen ber Philosophie und Erkenntniß“, hatte Nietzsche vorab notiert: „M o r g e n l n d i s c h e r b e r b l i c k b e r E u r o p a.“ (N 1884, 26[317], KSA 11.234) Schon mit Zarathustra hat er einen Propheten aus dem Orient eingefhrt, um das europische Gut und Bçse in Frage zu stellen: „Zarathustra s c h u f diesen verhngnissvollsten Irrthum, die Moral: folglich muss er auch der Erste sein, der ihn e r k e n n t.“ (EH Schicksal 3) Von den alten Kulturen des Orients, denen auch das Judentum entstammt, msste ein neues Licht auch auf die europische fallen, die sich scheinbar ganz von ihnen gelçst hat. Aber in andere Kulturen kann man sich nicht einfach versetzen. Man muss sie, so Nietzsche, schrittweise erwandern, als „Wanderer“ ohne Heimat und ohne Ziel. Im Druckmanuskript trug FW 380 noch den Titel „Vo m Z i e l e u n d v o m W e g e.“ Mit dem neuen Titel „,D e r W a n d e r e r ‘ r e d e t“ schuf Nietzsche nicht nur einen Kontext zu den vorausgehenden Titeln „D e r E i n s i e d l e r r e d e t“ (FW 364/15.1.1.) und „D e r C y n i k e r r e d e t“ (FW 368/17.1.), sondern auch mit MA und ZA. „,D e r W a n d e r e r‘“ steht nun in Gnsefßchen. Der Titel zitiert den Aphorismus „D e r W a n d e r e r“, der MA I abschloss (MA I 638) und den gleichlautenden Titel am Beginn von ZA III (4.193 – 196). Er verschiebt auch deren Sinn. Zugleich weist er zurck auf den II. Teil des II. Bandes von MA mit dem Titel „D e r W a n d e r e r u n d s e i n S c h a t t e n“ und dessen Symbolik (4.3.). Das Wanderer-Motiv durchzieht Nietzsches ganzes Werk; es gipfelt in FW 380.833 Nietzsche stellte sich den Philosophen von Anfang an vor als „zuflligen einsamen Wanderer in feindseligster Umgebung, entweder sich durchschleichend oder mit geballten Fusten sich durchdrngend“. Zufllig und einsam ist er, soweit er unzeitgemß ist, nicht in sie passt und darum unangenehm auffllt. Aber zugleich ist er wie jeder andere stark an seine Zeit gebunden: „Es giebt eine sthlerne Nothwendigkeit, die den Philosophen an eine wahre Kultur fesselt“. Wie er in ihr steht, hngt dann von dieser Kultur ab: „aber wie, wenn diese Kultur nicht vorhanden ist? Dann ist der Philosoph ein unberechenbarer und darum Schrecken einflçßender Komet, whrend er im guten Falle als ein Hauptgestirn im Sonnensysteme der Kultur leuchtet.“ (PHG 1, KSA 1.808 f.) Dies ist von den alten griechischen Philosophen gesagt. Da Nietzsche in der Moderne gar nicht mehr mit einer „wahren Kultur“ rechnete, waren Philosophen, wie er sie schtzte, vor allem Schopenhauer (SE 7, KSA 1.406), alternativlos zu „zufllig erscheinenden Wanderern“ verdammt, mit der Chance immerhin, „als Individuum“ den „Volkstrieb“ als „W e l t t r i e b“ zu erklren, „zur Weltrthsel833 Vgl. Iwawaki-Riebel, Nietzsches Philosophie des Wanderers, und die weiteren Perspektiven, die Jung, Nietzsches Philosophie des Wanderers, in seiner Besprechung dazu entwickelt.
18.2. Halt in der eigenen Leichtigkeit. Nr. 380
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lçsung“ zu benutzen (N 1872/73, 19[16], KSA 7.420 f.). Das verrt noch die Bindung an das Denken Wagners. Wird der Philosoph jedoch zum Freigeist und ringt er sich von da zum freien Geist durch, muss er sich „auf unbegangenen Pfaden vorwrts“ bewegen und darauf vertrauen, dass „seine Kraft wchst, je mehr er wandert.“ In der Zeit von MA kommt er noch nicht als Tauwind, sondern ist „einer grossen Feuersbrunst gleich, die ihren eigenen Wind mit sich bringt, und von ihm gesteigert und weiter getragen wird.“ (N 1876/77, 23[14], KSA 8.408) MA I lsst Nietzsche dann auf das Wanderer-Motiv hinauslaufen. Nun variiert er die Wanderungen: in MA I 638 beginnt er mit einer Wstenwanderung, bei der der Wanderer nach Schrecknissen und Erschçpfungen zuletzt auf freie Geister trifft, die „gleich ihm, in ihrer bald frçhlichen bald nachdenklichen Weise, Wanderer und Philosophen sind“ und ihm „Geschenke“, „lauter gute und helle Dinge“ zuwerfen (2.1.). In MA II, VM 31, setzt er die Wstenwanderung fort. Nun tauchen vor dem verdurstenden Wanderer „glnzende Lufterscheinungen“, „,philosophische Systeme‘“, auf, deren Zauber er in seiner Erschçpfung zu erliegen droht. In MA II gibt es zugleich eine „Gletscher- und Eismeer-Wanderung“ (MA II, VM 21) und Reisen „zu sogenannten wilden und halbwilden Vçlkerschaften namentlich, dorthin wo der Mensch das Kleid Europa’s ausgezogen oder noch nicht angezogen hat“, die man aber auch mit dem historischen Sinn machen kann: man wird dann „in Aegypten und Griechenland, Byzanz und Rom, Frankreich und Deutschland, in der Zeit der wandernden oder der festsitzenden Vçlker, in Renaissance und Reformation, in Heimat und Fremde, ja in Meer, Wald, Pflanze und Gebirge, die Reise-Abenteuer [seines] werdenden und verwandelten ego wieder entdecken.“ (MA II, VM 223) In den ersten IV Bchern der FW betont Nietzsche die Ungewissheit und Offenheit der Zukunft: „,Meine Gedanken, sagte der Wanderer zu seinem Schatten, sollen mir anzeigen, wo ich stehe: aber sie sollen mir nicht verrathen, w o h i n i c h g e h e. Ich liebe die Unwissenheit um die Zukunft und will nicht an der Ungeduld und dem Vorwegkosten verheissener Dinge zu Grunde gehen.‘“ (FW 287) Nichtsdestoweniger verfolgt ihn noch in der „s i e b e n t e n E i n s a m k e i t“ der „Hang und Drang zum Wahren, Wirklichen, Un-Scheinbaren, Gewissen!“ (FW 309) Zarathustra lsst Nietzsche zu Beginn des III. Teils, der seine „Genesung“ vom Gedanken der ewigen Wiederkehr bringen wird, an sein „einsames Wandern von Jugend an“ zurckdenken. Ein „Wanderer und ein Bergsteiger“, ist er in der Fremde zu sich gekommen, hat ohne Heimat in sich Halt gefunden und will weiter wandern. Er will auf seinen „letzten Gipfel“ steigen, der zugleich ein „Abgrund“ ist; der „Weg der Grçsse“ ist seine „letzte Zuflucht“. Weil er ber sich selbst hinaussteigen muss („noch auf deinen eigenen Kopf […] steigen: wie wolltest du anders aufwrts steigen?“), kann er seinen Weg nur allein gehen. „Um V i e l zu sehn“, muss er vor allem „von sich a b s e h n lernen“. Er ermutigt sich dazu selbst, mit „harten Sprchlein sein Herz trçstend“, hnlich wie Nietzsche am Ende von FW 377 seine Leser ermutigt hat (ZA III Wanderer, KSA 4.193 – 195). In JGB ist wenig vom Wanderer die Rede. Der Aphorismus JGB 260, in dem Nietzsche die Unterscheidung von „H e r r e n -M o r a l“ und „S k l a v e n -M o r a l“ einfhrt, aber beginnt ebenfalls mit dem Wanderer-Motiv: „Bei einer Wanderung durch die vielen feineren und grçberen Moralen, welche bisher
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auf Erden geherrscht haben oder noch herrschen,“ fand Nietzsche jenen „Grundunterschied“ (JGB 260).
So fhrt er nun in FW 380 fort: „Um unsrer europischen Moralitt einmal aus der Ferne ansichtig zu werden, um sie an anderen, frheren oder kommenden, Moralitten zu messen, dazu muss man es machen, wie es ein Wanderer macht, der wissen will, wie hoch die Thrme einer Stadt sind: dazu v e r l s s t er die Stadt.“834 Das Bild ist verfhrerisch; schon Leibniz hatte es zur Einfhrung seines Perspektivismus gebraucht.835 Danach scheint man beliebige Standpunkte oberhalb dessen einnehmen zu kçnnen, was man beobachten will; aber man nimmt dabei den eigenen Standpunkt ja immer mit. Nietzsche hat gelernt, statt vom deutschen vom europischen Standpunkt aus zu philosophieren (FW 357/12.1.); von ihm aus sieht er nun sowohl das Deutsche als auch das Außereuropische und kann es nur von ihm aus sehen; auch er ist ein konkreter Standpunkt, an den Nietzsche gebunden ist; auch physisch ist er nie ber Europa hinausgekommen. Er zitiert den Untertitel von M: „,Gedanken ber die moralischen Vorurtheile‘“; sie kçnnen, wie die „Vorurtheile“ der Geschlechter ber die Liebe (FW 363/14.), nur „Vorurtheile ber Vorurtheile“ sein. Wie man dennoch „eine Stellung a u s s e r h a l b der Moral“, als Europer eine Stellung außerhalb der „europischen Moralitt“ gewinnen kann, ist gerade das Problem des Aphorismus. Nietzsche entfaltet es im Rckbezug auf JGB, wo so wenig, wie er nun sieht, vielleicht zu wenig vom Wandern die Rede war (außer in JGB 260 nur noch in JGB 44 und JGB 278). Er stellt dessen Titel drei Mal auf wie Wegzeiger im Gebirge und lsst den Leser gleichsam von einem zum andern steigen; dabei verndert sich der Wegzeiger jedes Mal. Zuerst heißt es (1) „irgend ein Jenseits von Gut und Bçse“; es ist kein bestimmtes, schon zuvor festgestelltes. Der Wanderer hat nicht ein klar zu sehendes Jenseits „unserer“ europischen Moralitt vor sich, sondern diese Moralitt nur hinter sich, und nur von ihr aus kommt er ber sie hinaus. Das kann mehr oder weniger leicht gelingen, je nachdem ob und wie man „steigen, klettern, fliegen“, sich immer behender bewegen kann. Aber dabei „kommandiren“ weiterhin die 834 Orsucci, Orient – Okzident, viii, hat sich den Eingangssatz von FW 380 zum Leitfaden genommen und dazu Nietzsches Brief an Heinrich Kçselitz vom 13. Mrz 1881, KGB III/1, Bf.88, zitiert: „Fragen Sie meinen alten Kameraden Gersdorff, ob er Lust habe, mit mir auf ein bis zwei Jahre nach Tunis zu gehen. […] Ich will unter Muselmnnern eine gute Zeit leben, und zwar dort, wo ihr Glaube jetzt am strengsten ist: so wird sich wohl mein Urtheil und mein Auge fr alles Europische schrfen.“ 835 Leibniz, Monadologie, § 57.
18.2. Halt in der eigenen Leichtigkeit. Nr. 380
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„Werthurtheile“, die „,Europa‘“ ausmachen und die „uns in Fleisch und Blut bergegangen sind“; sie haben ihren Eigenwillen, ber den man nicht verfgt, sind „Idiosynkrasien“ eines „,unfreien Willens‘“. Das Jenseits ist also (2) ein Jenseits nur „von u n s r e m Gut und Bçse“. „Der Mensch eines solchen Jenseits“ findet (3) denn auch keine neuen „obersten Werthmaasse“, die positiv feststellbar wren; man kann von ihm aus auf „die obersten Werthmaasse seiner Zeit“ nur herabblicken. So fgt Nietzsche das scheinbar frei schwebende „Jenseits von Gut und Bçse“ streng in den erklrten Perspektivismus des V. Buchs der FW ein (FW 373 – 375/13.). Auch um das scheinbar freie Wollen zieht er die Grenzen des letztlich physiologischen Kçnnens. Dafr, dass ein europischer freier Geist auch noch die Grenzen der europischen Moralitt berblicken „w i l l“, sorgt das „verborgne J a“ aus FW 377; es setzt weder die Freiheit noch die Unfreiheit seines Willens, nur Spielrume seiner Beweglichkeit voraus (FW 347/7.2.3.). Das „man […] k a n n“ begrenzt das „man […] will“; soll nach Kant gelten, dass man ,kann‘, weil man ,soll‘, muss metaphysisch die Freiheit des Willens vorausgesetzt werden.836 Nietzsche gebraucht stattdessen eine physikalische Metapher, spricht von der „,spezifischen Schwere‘“ des geistig gebundenen Menschen, dessen Glaube an die Moral ihn am Boden hlt oder zu Boden zieht, zu einem Boden, der doch keiner ist. War im V. Buch der FW bisher von ,schwer‘ in den Kontexten von schweren Beschreibungen (FW 343), „schwereren tieferen beschaulicheren“ religiçsen Menschen (FW 350), „schwersten Verantwortlichkeiten“ (FW 351), schwerster Erkenntnis (FW 355), „endlich und schwer errungenem Sieg des europischen Gewissens“ (FW 357), schwer verdaulichen Mitmenschen (FW 364), der „Schwermuth“, die Verstecke sucht (FW 368), des „tyrannischen Willens eines Schwerleidenden“ (FW 370) die Rede, so ist der Wanderer nun selbst schwer oder leicht, und es wird ihm nicht nur leichter, wenn er lange genug zu steigen, klettern und fliegen gelernt hat, er wird selbst leichter. Im folgenden Aphorismus FW 381 wird Nietzsche das physiologisch ausbuchstabieren: ein „Geist“, dessen „Geschmack auf Unabhngigkeit gerichtet [ist], auf schnelles Kommen und Gehn, auf Wanderung, auf Abenteuer vielleicht, denen nur die Geschwindesten gewachsen sind,“ lebe, um „grçsste Geschmeidigkeit und Kraft“ zu gewinnen, „lieber frei mit schmaler Kost, als unfrei und gestopft.“ Er versucht auch kçrperlich ber sich hinaus-, zu einem Jenseits zu kommen. Doch dabei wird er irgendwann an seine Grenzen stoßen, und das Wandern ber die eigene Moralitt hinaus, um ihrer „aus der Ferne ansichtig zu werden“, wird immer weniger Menschen mçglich sein, je weiter es in die Ferne 836 Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 283.
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geht. Denn man msste dabei „nicht nur seine Zeit, sondern auch seinen bisherigen Widerwillen und Widerspruch g e g e n diese Zeit, sein Leiden a n dieser Zeit, seine Zeit-Ungemssheit, seine R o m a n t i k“ berwinden. Wie schwer das ist, daran hat Nietzsche in FW 370 erinnert. In FW 380 vermeidet er auffllig, vom Tanz zu sprechen, der im V. Buch der FW immer wieder Thema war, vor allem in FW 347 (7.2.3.2.), und auf den er gleich in FW 381 zurckkommen wird (15.3.3.). Noch geht es um das Lernen und Einben der Leichtigkeit, und noch wird ihr, wie dann in FW 381 und FW 382, kein neues „Ideal“ gesetzt. Nietzsche nennt nur einen Anhaltspunkt dafr, ob man geistig „leicht“ wird, einen wiederum schwer greifbaren, den „reinen Himmel“ nicht ber, sondern „in“ den „Augen“. Die Klarheit und Heiterkeit kommt dem leicht gewordenen Wanderer nicht mehr von außen, von irgend einem Himmel ber ihm, sondern aus seinen eigenen Augen, seiner eigenen Perspektive. An einen Freund hatte Nietzsche 1876 noch von „der Idee der Reinheit vor den Augen“ geschrieben – „so wnsche ich mein und meiner Freunde Leben.“837 In ZA lsst er dann Zarathustra zu sich selber sagen: „die Sehnsucht der ber-Flle blickt aus deinem lchelnden Augen-Himmel!“ (ZA III Sehnsucht, KSA 4.279). So hat er auch den Greis im Walde Zarathustra charakterisieren („Rein ist sein Auge, und an seinem Munde birgt sich kein Ekel“, ZA I Vorrede 2, KSA 4.12) lassen. Dem guten Glauben des „Volkes“ „,Dem Reinen ist Alles rein‘“ hlt Zarathustra seinen bçsen Glauben „den Schweinen wird Alles Schwein!“ entgegen (ZA III Tafel 14, KSA 4.256). Die Quelle ist Paulus, Rçm 14, 14, der von der Gewissheit im Glauben an Christus spricht, „dass nichts gemein (joim¹m) ist an sich selbst; nur dem, der es als gemein beurteilt, dem ist es gemein“. Im Sinn Nietzsches ist eine Orientierung, die sich herausarbeitet aus ihrem Gut und Bçse, dann frei und stark genug, wenn sie alles rein von ihrem Gut und Bçse und das heißt auch: von ihren Ressentiments sehen kann, sich bei nichts und niemandem, das ihr in Sicht kommt, Gutes oder Bçses denkt und es darum liebend annehmen kann, wie es ist, oder kurz: wenn sie an den amor fati rhrt (17.2.3.1.). Dazu gehçrt fr „g u t e E u r o p e r“, wie Nietzsche in einer Vorstufe zu FW 377 und FW 380 notiert hatte, auch die „unbedingte Heilighaltung der Heerden-Moral“ und „{wahrsch.}“ die Untersttzung der „Entwicklung {u. Ausreifung} des demokrat. Wesens“, als „{Stachel}“ eben fr das befreiende Philosophieren (N 1885, 35[9], KSA 11.511 / W I 3, S. 126). Aber ein solcher Halt in der eigenen Leichtigkeit gelingt selbst denen, die sich einige Freiheit zur Frçhlichkeit erworben haben, 837 Brief an Heinrich Romundt, 15. April 1876, KGB II/5, Bf.521.
18.2. Halt in der eigenen Leichtigkeit. Nr. 380
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selten. Sie befreit zu etwas bermenschlichem: in FW 378 nennt Nietzsche es die Freigebigkeit des Geistes.
19. Freigebigkeit des Geistes Nr. 378: , U n d w e r d e n w i e d e r h e l l ‘ . Der Aphorismus Nr. 378 der FW fhrt die ethische Konkretion des dionysischen Philosophierens auf subtile, ,feine‘ Weise fort. Er schließt unmittelbar an FW 377 an (18.1.): Wie kann man mit der „Zeit“ umgehen, an der man „krank“ ist, wie kann man „verhindern“, dass sie den „Geist“ immer neu infiziert, „t r b t, finster macht“? Die notwendige Bedingung dafr ist weiterhin die „Hauptunterscheidung“ aus FW 370 nach der „U e b e r f l l e“ und der „Ve r a r m u n g d e s L e b e n s“. Der Reichtum des Lebens ermçglicht ethisch nicht nur Freigebigkeit, sondern erzwingt sie nach Nietzsche sogar, weil „Reiche des Geistes“, wie er es an Zarathustra gezeigt hat, nur schwer mit ihrem Reichtum an sich halten kçnnen. Die hinreichende Bedingung dafr ist der „reine Himmel in [den] Augen“ aus FW 380 (18.2.), die Kraft, ihn immer neu von Vorurteilen ber Gut und Bçse reinigen zu kçnnen. FW 378 fhrt auch das 34-fache „wir“ aus FW 377 fort; es erscheint in diesem kurzen Aphorismus 11 Mal, „uns“ und „unsre“ eingeschlossen 16 Mal. Doch nun geht es nicht mehr um Analyse, Kritik und Befreiung. Mit der Kraft zur Freigebigkeit, dem Geben-Kçnnen und -Mssen ohne Erwartung irgendeiner Gegengabe, ist das dionysische ,Schenken‘ und ,Schaffen‘ erreicht.838 In FW 378 ermuntert und ermutigt Nietzsche nicht mehr andere, „Freunde“ (FW 377), sondern nur noch sich selbst, doch nicht in einer imperativischen Selbstermahnung, sondern einer gelassenen, heiteren Selbstbeschreibung. Er erinnert sich in widrigen Zeiten („leider“) seiner erprobten Kraft, weiß, dass er nun im Sinn des spteren Aphorismus GM II 1 versprechen kann („Aber wir werden es machen, wie wir es immer gemacht haben“). Dafr ist eben die nunmehr gewonnene Gelassenheit und Heiterkeit der ,frçhlichen Wissenschaft‘ die hinreichende Bedingung. Wenn Nietzsche in AC die „evangelische Praktik“ des „Typus Jesus“ als ein „andres Handeln“ aus der „Unfhigkeit zum Widerstand“ begreifen wird, die ihm ein „Leben in der Liebe, in der Liebe ohne Abzug und Ausschluss, ohne Distanz“ ermçglichte (AC 33, 29/ 838 Vgl. zur Ethik der Gabe in Nietzsches ZA und ihrer Fortschreibung durch Jacques Derrida Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 621 – 625.
19. Freigebigkeit des Geistes. Nr. 378
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17.2.1.), so spricht er in FW 378 von seiner Praktik, der heiter-gelassenen Praktik der Freigebigkeit eines berreichen Geistes. Der Grundton des Aphorismus ist sein ,es ist vollbracht‘, nicht am Kreuz, sondern mitten im Leben. FW 378 ist trotz seiner vielfachen Kontexte im V. Buch der FW und ber es hinaus ein Solitr. Er ist (zusammen mit FW 376) der krzeste und am strksten verdichtete Aphorismus in diesem Buch, und er wird zum Lied. Walter Kaufmann hat ihn ein „prose poem“ genannt.839 Er umfasst nur zwei Stze, der zweite ist etwa halb so lang wie der erste. Sie sind wie zwei Strophen eines Liedes gleich gebaut, beide durch einen Doppelpunkt geteilt, nach dem sie, Atem holend, nochmals neu ansetzen, der erste nach einem Subjekt, das sich zuerst durch einen langen Relativsatz, dann durch einen Nebensatz zweiten Grades erweitert („Wir Freigebigen und Reichen des Geistes, die wir gleich offnen Brunnen an der Strasse stehn und es Niemandem wehren mçgen, dass er aus uns schçpft:“), der zweite, die Antwort darauf, nach einem knappen, entschiedenen eigenen Satz („Aber wir werden es machen, wie wir es immer gemacht haben:“). Beide sind in ihrer zweiten Hlfte, die die erste erlutert, grammatisch aufgewhlt, der erste jedoch, in dem es noch um das Leiden an der Zeit geht, strker als der zweite, der von der Kraft spricht, das Leiden berwinden zu kçnnen. Im zweiten klingt die ,Musik‘ dieses Aphorismus in einer langen Fermate aus – im eingangs angeschlagenen Grundton („u n d w e r d e n w i e d e r h e l l…“). Eine solche Fermate ist nach FW 376 (15.2.3.) ein Zeichen der Reife, in seinem Werk aufgehen und „den Tod geduldig entgegennehmen“ zu kçnnen. „Hell“ will jeder „freie Geist“ schon nach MA sein: „Was fr Labyrinthe er auch durchwandert, unter welchen Felsen sich auch sein Strom zeitweilig durchgeqult hat – kommt er an’s Licht, so geht er hell, leicht und fast geruschlos seinen Gang und lsst den Sonnenschein bis in seinen Grund hinab spielen.“ (MA I 291) Schon hier deutet Nietzsche das Bild des tiefen Brunnens an. In M verknpft er Helligkeit und Wind (NSM 18): „,Gestern noch war es in mir so strmisch und dabei so warm, so sonnig – und hell bis zum ussersten.‘“ (M 492: „U n t e r d e n S d w i n d e n“) Zarathustra soll, so will es Nietzsche, „flssig feurig glhend – aber hell“ sein, und das bedeutet: „, i c h k l a g e n i c h t a n , i c h w i l l s e l b s t d i e A n k l g e r n i c h t a n k l a g e n ‘“ (N 1881, 12[225], KSA 9.616). Konfrontiert mit den „Seufzern“ des Wahrsagers, wird „Zarathustra wieder hell und sicher, gleich Einem, der aus einem tiefen Schlunde an’s Licht kommt.“ (ZA IV Nothschrei, KSA 4.302) Er wandelt unter den ,hçheren Menschen‘ im Pathos des Hellen (ZA IV Schatten, KSA 4.341), als „Brausewind, der euch die 839 Kaufmann, Commentary, 341, Fn. 150.
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19. Freigebigkeit des Geistes. Nr. 378
Seelen hell blst“ (ZA IV Eselsfest 3, KSA 4.393).840 „Hell und gtig“ hat Nietzsche in FW 370 Goethe genannt, „tief, aber hell und gtig“ wird er in EH seine eigenen Aphorismen-Bcher M und FW nennen (EH FW).
Im Ausklang des Aphorismus, anders als in seinem Titel, erscheint die Formel „u n d w e r d e n w i e d e r h e l l…“ ohne Gnsefßchen, im eigentlichen Sinn: aus einem bloßen Lied-Vers scheint Wirklichkeit geworden zu sein. Weil seit FW 371 alle Aphorismen mit Auslassungspunkten (oder doppelten Gedankenstrichen) enden (NSM 6), wren die folgenden Auslassungspunkte noch nicht auffllig. Doch whrend sie sonst ber den Aphorismus hinausfhren, fhren sie hier, wie die doppelten Gedankenstriche am Ende von FW 372, an den Anfang des Aphorismus zurck und schließen so einen Kreis: Nietzsche komponiert das Thema der Freigebigkeit des Geistes wie das Thema der Musik des Lebens, nun aber deutlich als Lied, das hçrbar und sichtbar zu seinem Anfangsvers und dem in ihm angeschlagenen Grundton zurckkehrt und ihn bestrkt. Die schriftstellerische Form des Liedes hat auch hier tiefen Sinn fr den Inhalt des Aphorismus: erst in Liedern kann ein „Einsiedler“, „Heimatloser“, „Wanderer“ sich so aussprechen, wie es ihm entspricht. Denn Lieder kann man fr sich singen, und wenn andere sie hçren, kçnnen sie einstimmen oder nicht und sie auf ihre Weise wiederholen oder nicht, ganz von sich aus, ohne dass sie dadurch von etwas berzeugt oder ber etwas belehrt wrden. Lieder lassen die andern ganz frei. Und eben das wollen freie Geister, will Zarathustra und will Nietzsche. In FW 378 spricht er nur noch in Bildern. Aber es sind nicht Bilder fr etwas, das man auch ohne sie benennen und begreifen kçnnte. Worum es hier geht, zeigt sich nur in diesen Bildern. Die Bilder in FW 378 haben ihren eigenen Kontext, und sie greifen weit zurck auf FW 285 aus dem IV. Buch. Auch FW 285 ist hochrhetorisch, hochmetaphorisch, hochsymbolisch angelegt, und auch dort ist schon von der ethischen Kraft die Rede, jedoch noch von der angestrengten Kraft zur „Entsagung“, aus der die Kraft zur berwindung und Steigerung seiner selbst kommt. Nietzsche wird sie dann Zarathustra in Reden auf dem Markt und vor seinen Jngern als Kraft zum bermenschlichen lehren lassen. FW 285 fhrt sie im Bild eines Sees ein, der „es sich eines Tages versagte, abzufliessen, und einen Damm dort aufwarf, wo er bisher abfloss“, und so „immer hçher“ steigt. In 840 Vgl. N 1882/83, 5[1]198, KSA 10.209 („Werde nothwendig! Werde hell! Werde schçn! Werde heil!“), N 1883, 12[18], KSA 10.403 („Werde hell! Werde heil! Werde nothwendig!“), und N 1884/85, 31[45], KSA 11.380 („– einem Winde gleich, der alle Himmel hell und alle Meere brausen macht“).
19.1. Der See mit der Kraft der Entsagung
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ZA entfaltet Nietzsche das Thema des bermenschen weiter vor allem in Metaphern des Wassers, Sees, Flusses, Stromes, Meeres.841 Er bringt sie dort ihrerseits in Fluss, trgt den Sinn des „bermenschen“ in lauter „Symbolen und Unfasslichkeiten“ (AC 31) vor. In FW 378 fasst er sie dann in das Bild eines tiefen Brunnens mit der Kraft zur Selbstreinigung und dadurch unbeschrnkter Freigebigkeit. Das Bild verdichtet die langen Schicksale Zarathustras mit seinen Erwartungen an den bermenschen in ein schlichtes Gleichnis; das große Pathos Zarathustras und seine Rede vom bermenschen bleibt zurck. Nietzsche braucht in den ersten IV Bchern der FW die Rede vom bermenschen noch nicht, im V. Buch braucht er sie nicht mehr, sie erbrigt sich wieder. Es klingt nur noch wie eine ferne, heitere Erinnerung an sie, wenn er zuletzt in FW 382 „das Ideal eines menschlich-bermenschlichen Wohlseins und Wohlwollens“ aufruft, „das oft genug u n m e n s c h l i c h erscheinen wird“ und sich als „leibhafteste unfreiwillige Parodie“ und „eigentliches Fragezeichen“ neben das alte Ideal stellt.
Nietzsches schriftstellerische Methoden: Metaphorisierung des bermenschlichen842 19.1. Der See mit der Kraft der Entsagung FW 285 hat den Titel „E x c e l s i o r!“. ,Excelsior‘, lat. fr ,hçher‘, ,erhabener‘, ,herausragend‘, steht im Siegel des Staates New York. Henry Wadsworth Longfellow hatte in Anspielung darauf 1841 ein lange sehr populres Gedicht verfasst, in dem ein junger Mann mit klaren blauen Augen ein Banner mit der Aufschrift „Excelsior“ in Schnee und Eis durch ein fremdes Dorf hinauf ins Eisgebirge trgt (darauf verweist unmittelbar der Passus „Ausblick auf ein Gebirge, das Schnee auf dem Haupte und Gluthen in seinem Herzen trgt“ in FW 285) und, alle Warnungen der Dorfbewohner in den Wind schlagend, immer hçher steigt. Eines Tages wird er schließlich „lifeless, but beautiful“ von einem „faithful hound“ im Schnee gefunden, in seinen erfrorenen Hnden noch immer das Banner haltend: „And from the sky, serene and far, / A voice fell, like a falling star, / 841 Zur Metaphorik des Fließens in der europischen Philosophie berhaupt vgl. Stegmaier, Art. Fließen. 842 Das folgende Kapitel umfasst neu berarbeitete Auszge aus dem Beitrag Stegmaier, Der See des Menschen, das Meer des bermenschen und der Brunnen des Geistes.
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19. Freigebigkeit des Geistes. Nr. 378
Excelsior!“.843 Nietzsche hat seinem Aphorismus die Form eines Dialogs gegeben. Er erçffnet ihn mit einer in Gnsefßchen gesetzten großen Frage, einer Frage auf eine lange Reihe atemlos gestammelter, zunehmend bengstigender Einsichten hin, und gibt, getrennt durch einen Gedankenstrich, die gefasste Antwort mit dem Bild eines ungewçhnlichen Sees, „der es sich eines Tages versagte, abzufliessen, und einen Damm dort aufwarf, wo er bisher abfloss“, um „von da an immer hçher zu steigen“. Wer oder was da fragt, bleibt offen, ein Anderer, ein ,toller Mensch‘ wie jener aus FW 125 oder das eigene intellektuelle Gewissen? Die Antwort jedoch scheint in ihrer Entschiedenheit die des Autors selbst zu sein. Der Aphorismus handelt von der Kraft zur Entsagung von allem Halt, den die Religion bisher gegeben hat. Zu einer solchen Entsagung bedrfte es einer Kraft, die das bisherige menschliche Maß berschreitet, und insofern einer bermenschlichen Kraft. Doch dazu muss kein Gegensatz von Mensch und bermensch aufgemacht werden: Kraft ist graduell, sie kann unterschiedlich groß sein, aber sie ist auch immer begrenzt. Nietzsche spielt mit seltenen und hçchst voraussetzungsvollen Gegebenheiten und in diesem Sinn unwahrscheinlichen Wirklichkeiten und mit 843 Nietzsche kannte das Gedicht. Mathilde Trampedach hatte es ihm bersetzt (CPJ 1.630), und er spielte dann in seinem schriftlichen Heiratsantrag an sie darauf an: „Glauben Sie nicht auch daran, dass in einer Verbindung jeder von uns freier und besser werde als er es vereinzelt werden kçnnte, also excelsior?“ (Brief an Mathilde Trampedach, 11. April 1876, KGB II/5, Bf.517) Ein paar Tage spter schrieb er an Erwin Rohde, „daß hier und dort ein Kreis von Menschen sitzt, die auf mich hçren und erwarten, daß man noch hçher steigt, freier wird, um dabei selber freier zu werden. Kennst Du Longfellow’s Gedicht ,Excelsior‘?“ (Brief an Erwin Rohde, 14. April 1876, KGB II/5, Bf.519), und einen Tag darauf an Heinrich Romundt: „Ich verehre, sobald ich mir wiedergegeben bin, nur Eins stndlich und tglich, die moralische Befreiung und Insubordination und hasse alles Matt- und Skeptischwerden. Durch die tgliche Noth sich und andre immer hçher heben, mit der Idee der Reinheit vor den Augen, immer als ein excelsior – so wnsche ich mein und meiner Freunde Leben.“ (Brief an Heinrich Romundt, 15. April 1876, KGB II/5, Bf.521) Pestalozzi, Die Entstehung des lyrischen Ich, 102 – 116, hat das Gedicht ausfhrlich interpretiert und seine mçgliche Wirkung auf Nietzsche dargestellt. Er verweist auch auf den naheliegenden religiçsen Ursprung der Formel aus dem ,Hosanna in excelsis Deo‘. Bei Longfellow hat der Jngling „in exemplarischer Weise Gott in seinen Willen aufgenommen und ist auf dem Weg, seinen Weltenthron zu ersteigen“ (113). Bei Nietzsche wird daraus das ,ber Gott hinaus‘ des Gottes Entsagenden. Vgl. auch Biser, Nietzsche und Heine, 212, Anm. 9, der auf Parallelen bei Heinrich Heine verweist. Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis, 418 – 423, interpretiert den Aphorismus vergleichend mit FW 125 und im Blick auf die Vorstufen.
19.1. Der See mit der Kraft der Entsagung
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noch unwahrscheinlicheren Mçglichkeiten. Nachdem er mit Stimmen ungenannter Herkunft eingesetzt hat, verleiht er auch dem See seine ungewçhnliche Kraft. Was bei einem See, in der Natur wirklich ist, msste auch beim Menschen mçglich sein, der ja ebenso Teil der Natur ist.844 Es wre dann mçglich, wenn die Kraft aus der Entsagung selbst kme, wenn man eben dadurch, dass man auf einen letzten Halt verzichten lernt, der als Illusion erkennbar geworden ist, die Kraft gewnne, in die abgrndige Realitt zu sehen, und, je leichter das gelingt, desto strker an intellektuellem Selbstvertrauen wchse – ja, die Kraft zur „Entsagung“ von Illusionen kann, wenn nicht wieder an einen neuen illusionren Halt appelliert werden soll, nur noch aus dieser Entsagung selbst kommen. Doch das wird dann eben nicht wahrscheinlicher und hufiger sein als jener ungewçhnliche See. So bleibt der Vorbehalt eines doppelten „vielleicht“: „Vielleicht wird gerade jene Entsagung uns auch die Kraft verleihen, mit der die Entsagung selber ertragen werden kann; vielleicht wird der Mensch von da an immer hçher steigen, wo er nicht mehr in einen Gott a u s f l i e s s t.“ (FW 285)845 Es wird schwer sein, das „E x c e l s i o r!“ durchzuhalten, aber es ist denkbar, seine Erfllung ist unwahrscheinlich, aber mçglich. Die Hçhen, auf die es fhrt, eigene neue Hçhen des Menschen, nicht mehr des christlichen Gottes, sind die unwahrscheinlichen Wirklichkeiten und noch 844 Im Schwarzwald, den Nietzsche aufgrund eines mehrwçchigen Kuraufenthalts in Steinabad 1875 ein wenig kannte, gibt es einen ,See ohne Abfluss‘, den sagenumwobenen Blindensee. Er liegt ca. 70 km nordçstlich von Steinabad an der Grenze zwischen Schçnwald und Schonach, ist, so die çrtliche Tourismus-Werbung, tintenschwarz und unergrndlich, von Schilf gesumt, duftet nach Moor, und hufig steigen Nebelschwaden ber ihm auf. Er entstand wie alle Hochmoore in der Region durch Hebungen der Gesteinsmassen und Gletscherwirkungen; in der Folge bildeten sich Risse, Hçhlen und Ausbuchtungen, die sich mit Wasser und teilweise mit Erde fllten. Die Moorvegetation wurde bei Hochwasser berflutet, im Laufe der Jahrhunderte vermoderten Pflanzen und Bume, und so hob sich der Moorboden mit der Zeit. 845 In MA II, WS 46 („K l o a k e n d e r S e e l e“), hatte Nietzsche noch formuliert: „Auch die Seele muss ihre bestimmten Kloaken haben, wohin sie ihren Unrath abfliessen lsst: dazu dienen Personen, Verhltnisse, Stnde oder das Vaterland oder die Welt oder endlich – fr die ganz Hoffhrtigen (ich meine unsere lieben modernen ,Pessimisten‘) – der liebe Gott.“ In der Vorstufe zu FW 285 taucht das Motiv der bloßen Entladung in eine Kloake nochmals auf („Und w o h i n werden sich alle diese Triebe e n t l a d e n? Und welche Menge schlechten intellektuellen Gewissens wird entstehen, weil sie sich entladen mssen und sich dabei s c h m e n!“, KSA 14.264). Im verçffentlichten Aphorismus verzichtet Nietzsche darauf. In FW 351 wird das Kloaken-Motiv jedoch wieder auftauchen (8.2.2., 19.3.).
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unwahrscheinlicheren Mçglichkeiten, die Nietzsche Zarathustra dann in die Metapher ,des bermenschen‘ bringen lsst.
19.2. Zarathustra und das Meer des bermenschen ZA ist, noch mehr als die brigen Werke Nietzsches, von einem dichten Metapherngeflecht durchzogen.846 Die Metaphern stehen nicht einfach fr etwas Bestimmtes, Feststehendes.847 Nietzsche lsst hier Metaphern und Metaphern-Linien wie Meereswogen einander kreuzen und sich aneinander brechen, lsst sie sich auftrmen und wieder zur Ruhe kommen. Statt definitiver Konstruktionen gibt er ein Naturschauspiel aus Metaphern des Wassers, Sees, Stromes und Meeres. Das gilt insbesondere fr Zarathustras Rede vom bermenschen. Er fhrt das Thema ein mit den Metaphern von Ebbe und Flut: „I c h l e h r e e u c h d e n b e r m e n s c h e n. Der Mensch ist Etwas, das berwunden werden soll. Was habt ihr gethan, um ihn zu berwinden? / Alle Wesen bisher schufen Etwas ber sich hinaus: und ihr wollt die Ebbe dieser grossen Fluth sein und lieber noch zum Thiere zurckgehn, als den Menschen berwinden?“ (ZA I Vorrede 3, KSA 4.14) Dann weitet er den Blick zum offenen Meer hin: „Seht, ich lehre euch den bermenschen: der ist diess Meer, in ihm kann eure grosse Verachtung untergehn.“ (KSA 4.15) Doch noch am Ende derselben Rede gebraucht Zarathustra die Metaphern des Blitzes und des Wahnsinns („Seht, ich lehre euch den bermenschen: der ist dieser Blitz, der ist dieser Wahnsinn!“, KSA 4.16). Was Zarathustra ,den bermenschen‘ nennt, ist danach unaufhaltsam wie Ebbe und 846 Nach Naumann, Nietzsches Sprache „Aus der Natur“, ist Nietzsches Sprache in ZA im Ganzen als metaphorische zu verstehen. Naumann begrndet das aus Nietzsches frher ,Sprachtheorie‘, die erst im ,dionysischen‘ Sprechen Zarathustras eingelçst werde. So konzentriert sie sich in der Folge auf die ,dionysische‘ Metaphorik des Weinstocks im Lied „Von der grossen Sehnsucht“. Gasser, Rhetorische Philosophie, verschrnkt im Anschluss an Derrida die Beschreibung von Nietzsches Metaphern in ZA laufend mit theoretischen berlegungen zu seinem Metapherngebrauch. So wird das „Bild des Meeres“ wohl zur „Metapher einer Metapher“, die „Meeresmetaphorik“ als solche erscheint aber nur „in punktuell ausgewhlten Variationen“ (58 f.), nicht in einem kontinuierlichen Zusammenhang. 847 Vgl. Biebuyck, „Eine Gleichnis- und Zeichensprache, mit der sich vieles verschweigen lsst“, 146. Biebuyck konstruiert im brigen beim spteren Nietzsche eine (sicherlich berzogene) systematische „Immunittstheorie“ der Kommunikation, die „jegliche sprachliche Berhrung“ verneine (141). Die Metapher dagegen schaffe dem andern gezielt Interpretationsspielrume (146). Das schließt freilich eine „Systematik der Metaphernprgung“ nicht aus (148), wie Biebuyck meint.
19.2. Zarathustra und das Meer des bermenschen
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Flut, weit und tief wie das Meer, kann aber schlagartig wie ein Blitz dem Denken seine herkçmmliche Ordnung rauben. Die Metaphern konturieren den Sinn ,des bermenschen‘, ohne dass er wie ein Gegenstand fassbar wrde; getrennt kçnnen Blitz und Meer kaum auf dasselbe verweisen, zusammen aber ein neues Bild ergeben, etwa das Bild eines Blitzes ber einem Meer oder von in der Sonne blitzenden Meereswogen; indem eines den Deutungsspielraum des andern begrenzt, leuchten beide wieder ein, ohne dass sie darum etwas Bestimmtes identifizierten. Dann folgen in ZA die Metaphern der „Treppen des bermenschen“ (ZA I Vorrede 9, KSA 4.26) und der „Brcken zum bermenschen“ (ZA I Verchtern, KSA 4.41): man kann sich dem Unaufhaltsamen, Weiten und Tiefen, schlagartig Aufblitzenden schrittweise nhern und muss dazu Abgrnde berwinden. Dann erscheint der bermensch als Person oder als etwas an einer Person: „in deinem Freunde sollst du den bermenschen als deine Ursache lieben“ (ZA I Nchstenliebe, KSA 4.78), als jemand, den eine Frau „gebren“ kann (ZA I Weiblein, KSA 4.85), als jemand, nach dem man Sehnsucht haben kann: „Pfeil und Sehnsucht zum bermenschen: sprich, mein Bruder, ist diess dein Wille zur Ehe?“ (ZA I Ehe, KSA 4.92), als jemand, der aus einem Volk „erwachsen“ kann (ZA I Tugend 2, KSA 4.101), und ist doch etwas, das ber den Menschen und darum auch ber fassbare Personen hinaus ist („Und das ist der grosse Mittag, da der Mensch auf der Mitte seiner Bahn steht zwischen Thier und bermensch“) und an die Stelle alter Gçtter treten soll, nur etwas Gedachtes, Gewolltes („,To d t s i n d a l l e G ç t t e r : n u n w o l l e n w i r , d a s s d e r b e r m e n s c h l e b e.‘“, ZA I Tugend 3, KSA 4.102).848 So bleibt vom bermenschen als Person nur ein „Schatten“, dessen „Schçnheit“ Zarathustra fr ihn einnimmt (ZA II Insel, KSA 4.112). ,bermensch‘ ist auch nicht Eines oder Einer. Die „Liebe zum bermenschen“ soll die Menschen zu „Erfindern von Bildern und Gespenstern“ machen (ZA II Taranteln, KSA 4.130) im „Reich der Wolken: auf diese setzen wir unsre bunten Blge und heissen sie dann Gçtter und bermenschen: – / Sind sie doch gerade leicht genug fr diese Sthle! – alle diese Gçtter und bermenschen.“ (ZA II Dichtern, KSA 4.164).849 Aber es ist ein Bild, das Zarathustra „hinauf reisst“ zum bermenschen (ZA II Menschen-Klugheit, KSA 4.183). Es ist sein bermensch, und er nennt „meinen bermenschen“, was selbst die „hçchsten Menschen“ „Teufel heissen“ wrden (4.185 f.); er kann so ,mit Lust‘ und ohne gleich dafr angefeindet zu werden von einem neuen Guten und Bçsen sprechen. Dafr braucht er ein Wort, das sichtlich schon gut angekommen ist, und so sagt er gelegentlich, dass er „das Wort ,bermensch‘ vom Wege auflas“ (ZA III Tafel 3, KSA 4.248).850 Und nun lsst ihn Nietzsche lange vom bermenschen schweigen. Nur 848 Vgl. N 1882/83, 4[80], KSA 10.137: „[…] 5. Den b e r m e n s c h e n schaffen, nachdem wir die ganze Natur auf uns hin gedacht, denkbar g e m a c h t haben./6. Wir kçnnen nur etwas uns ganz Verwandtes lieben: wir lieben am besten ein erdachtes Wesen.“ 849 Vgl. N 1885, 35[72], KSA 11.54 / W I 3, S. 69: „N B. Es mssen [sic] v i e l e bermenschen geben: alle Gte entwickelt sich nur unter seines Gleichen. E i n Gott wre immer ein T e u f e l!“. 850 Zu Nietzsches mçglichen Quellen vgl. Kaufmann, Nietzsche, 359 f. Er nennt Lukian, Heinrich Mller, Herder, Jean Paul, Goethe und Byron. Marie-Luise
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seine Tiere reden noch davon, dass er wiederkehren und „wieder den Menschen den bermenschen knden“ werde (ZA III Genesende 2, KSA 4.276). Erst vor den „hçheren Menschen“, fern vom „Markt“, wiederholt er seine frhere Lehre fr den Markt: „Wohlan! Wohlauf! Ihr hçheren Menschen! Nun erst kreisst der Berg der Menschen-Zukunft. Gott starb: nun wollen w i r, – dass der bermensch lebe.“ (ZA IV Menschen 1/2, KSA 4.356 f.) Nun ist sie eine Lehre fr ausgewhlte Hçrer, doch auch hier hat sie zweifelhaften Erfolg. Fr Zarathustra selbst ist sie kaum mehr von Belang. Fr das „Zeichen“, das ihm am Ende „kommt“, gebraucht er nicht mehr die Metapher des bermenschen.
Das Bild, das Zarathustra eine Zeit lang vom bermenschen entwirft, festigt sich nicht zum Begriff eines Gegenstands, der jenseits des Bildes zum Stehen kme.851 Nietzsche hlt in einem spten Notat noch einmal fest, dass es sich bei seinem „Begriff“ des bermenschen um ein „{Gleichniß}“ handle (N 1887, 10[17], KSA 12.462 / W II 2, S. 130).852 Darum ,lgt‘ es auch nicht. Wenn Zarathustra sagt: „die Dichter lgen zuviel“ (ZA II Insel, KSA 4.110), so sagt er zugleich: „Aber auch Zarathustra ist ein Dichter.“ (ZA II Dichtern, KSA 4.163) Die Dichter lgen nur, sofern sie am traditionellen Wahrheitsbegriff gemessen werden, den Zarathustra mit seiner Haase (s. folgende Fußnote) fgt Liebmann, Zur Analysis der Wirklichkeit, 618, und Espinas, Die thierischen Gesellschaften, 510, hinzu. 851 Haase, Der bermensch in Also sprach Zarathustra und im Zarathustra-Nachlass 1882 – 1885, erhebt, statt den Gedanken des bermenschen aufs Geratewohl spekulativ zu deuten (vgl. dazu etwa Penzo, Art. bermensch, und die von ihm herangezogene Literatur), seine Analyse streng aus den Texten, in denen Nietzsche das Wort ,bermensch‘ tatschlich gebraucht. Sie kann so zeigen, dass Nietzsche den Gedanken des bermenschen dem Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen vorausschickt, um diesen vorzubereiten und ,ertrglich‘ zu machen. In N 1883, 15[4], KSA 10.479 f., zeichnet sich insbesondere die Konzeption ab, dass der (evolutionistische) Gedanke der (zuflligen) Abstammung des Menschen vom Tier nicht zu ertragen ist – den Stolz des Menschen bricht und Mitleid mit ihm erweckt – ohne den (schçpferischen) Gedanken der (entschiedenen) Hçherzchtung des Menschen zum bermenschen. Dennoch lsst sich der Sinn des Gedankens des bermenschen auch aus den Notaten nicht zweifelsfrei erheben. Nietzsche erprobt sichtlich wechselnde Konzeptionen des Gedankens, und im verçffentlichten Text von ZA kçnnte er noch einmal anders gedacht sein. So ergeben weder die Notate einen berzeugenden Zusammenhang noch lassen sich Notate und Text zwingend aufeinander beziehen. Wir halten uns darum an den verçffentlichten Text. Am Ende bleibt auch fr Haase der Gedanke ein „Vexierbild“: „Die Bilder verschleiern mehr als sie zeigen.“ (244) Aber sie sollen auch nichts Bestimmtes zeigen, sondern neue Deutungsspielrume erçffnen und begrenzen. Die Metaphern als solche, in denen Nietzsche den Gedanken entwickelt, analysiert Haase in ihrem Beitrag nicht. 852 Vgl. dazu Biebuyck, Art. Gleichnis.
19.2. Zarathustra und das Meer des bermenschen
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in Metaphern gehaltenen Redeweise gerade aufhebt.853 Man soll nicht wissen, was der bermensch in Wahrheit, jenseits der miteinander verflochtenen, einander berkreuzenden und sich aneinander brechenden Metaphern ist: Nietzsche zeigt nur die Spielrume, in denen sein Sinn sich bewegt. Eben so erfllt die Metapher ,bermensch‘ ihren Sinn, ber jeden festgestellten Begriff des Menschen, wo immer es nçtig wird, hinauszugehen. Nietzsche lsst Zarathustra das in die Gegen-Metapher vom „l e t z t e n M e n s c h e n“ fassen,854 die so den Sinn des letzten, endgltigen, definitiven Begriffs oder kurz: einer allgemeingltigen Definition des Menschen bekommt, die Menschen nçtig haben kçnnen, um selbst unter sie zu fallen und dadurch ihre zeitweise schwer zu ertragende Individualitt loszuwerden (1.4.). Es kann erleichtern, sich nicht in seiner Individualitt, nicht so sehen zu mssen, wie man ist, anders als alle andern und nur sich selbst berantwortet, und Nietzsche legt ja nahe, seinen Gedanken der ewigen Wiederkehr von allem eben so zu verstehen, dass alles, so wie es jetzt auf individuelle Weise ist, „dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast“, und damit „alles unsglich Kleine und Grosse deines Lebens“ „noch einmal und noch unzhlige Male“ „dir wiederkommen“ wird, ein Gedanke, der nach ihm am schwersten zu ertragen ist (FW 341). So besttigt sich, dass ,der bermensch‘ ,nur‘ eine Metapher sein kann und darf; wre er ein Begriff, wre er wieder etwas definitiv Festgestelltes und also selbst ein ,Letztes‘, ein Selbstwiderspruch. Wenn er ein Begriff ist, dann ein beweglicher Gegen-Begriff gegen jede feste Bestimmung des Begriffs ,Mensch‘. 19.2.1. Der See Zarathustras In FW 285 lsst Nietzsche den See nur steigen, er sagt nicht, dass er irgendwann, wenn der Damm eine bestimmte Hçhe erreicht htte, auch wieder abfließen 853 Zittel, Das sthetische Kalkl von Friedrich Nietzsches ,Also sprach Zarathustra‘, 212, nimmt dagegen Zarathustras Wort von den „lgnerischen Wort-Brcken“ beim Wort (ZA IV Schwermuth 3, KSA 4.372), wiewohl es ein Wort in einem Lied, einer Dichtung in der Dichtung ist; mit Metaphern, die „keine stabilen Bedeutungen“ htten, msse Zarathustra als Lehrer „grundstzlich scheitern“. Das ist sicher richtig, doch es bedeutet darum nicht schon, dass Zarathustras Bild vom bermenschen nur „ein sprachliches Trugbild“ (216) und ZA ein bloßes und leeres „sthetisches Kalkl“ sei. 854 Nietzsche gebraucht die Wendung vom „letzten Menschen“ zuvor schon vielfach und auch in vielfach anderem Sinn. Vgl. z. B. N 1872/73, 19[131], KSA 7.461; N 1873, 29[181], KSA 7.706; MA I 221; MA II, VM 177; MA II, WS 14; M 49.
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werde. Gleich im ersten Satz von ZA erscheint wieder ein See: „Als Zarathustra dreissig Jahr alt war, verliess er seine Heimat und den See seiner Heimat und gieng in das Gebirge.“ (ZA I Vorrede 1, KSA 4.11) Man nimmt ihn zunchst noch als gewçhnlichen See wahr. Doch als Nietzsche dann seinen Zarathustra vor die Sonne treten und zu ihr von ihrem „berfluss“ und dann vom berfluss seiner „Weisheit“ sprechen lsst, deren er nun „berdrssig“ geworden sei „wie die Biene, die des Honigs zu viel gesammelt hat“, und von der er darum nun, nach zehn Jahren des Sammelns, abgeben muss, kehrt das Bild des ungewçhnlichen Sees zurck, der sich selbst aufgestaut hat und der nun, im Fall Zarathustras, ber seine Ufer tritt und berfließt. Zarathustra will nun ausfließen und spricht zur Sonne: Segne den Becher, welcher berfließen will, dass das Wasser golden aus ihm fließe und berallhin den Abglanz deiner Wonne trage! / Siehe! Dieser Becher will wieder leer werden, und Zarathustra will wieder Mensch werden. (ZA I Vorrede 1, KSA 4.11 f.) Doch weil er nicht anders kann als zu mehr oder weniger gewçhnlichen Menschen, zunchst zu denen des Marktes, schließlich zu den ,hçheren‘ hin auszufließen, ,steigt‘ er nicht ,hçher‘, sondern ,geht‘ immer nur ,unter‘. Das ist seine ,Tragçdie‘.
19.2.2. Das Meer des bermenschen Den berfließenden Zarathustra treibt es, im Bild und in der von Nietzsche gedichteten Handlung, vor allem zum Meer. Er ist lngst mit ihm vertraut („Wie im Meere lebtest du in der Einsamkeit, und das Meer trug dich.“ ZA I Vorrede 2, KSA 4.12/4.6.) Im Meer leben, vom Meer getragen werden Fische, und so verkndet Zarathustra denn auch, auf dem Markt in der Stadt angekommen, seine Lehre vom bermenschen gleich in Metaphern des Meeres, den Bildern von Ebbe und Flut. Die Flut des bermenschen bersplt den Menschen, neue bewegende Bilder vom Menschen die alten und starren. Die Flut kommt unwillkrlich, achtlos, ausgelçst von der bloßen Masse des Mondes, und sie zieht sich genau so unwillkrlich und achtlos wieder in eine Ebbe zurck. Gegen das Letztere kann man jedoch etwas tun, kann, wie jener See aus FW 285, die Dmme schließen, die die Flut aufsplt, und sie darin halten, um im eigenen Meer Tiefe zu gewinnen. In ein solches Meer kann ,der Mensch‘, als „ein schmutziger Strom“, dann einfließen, um in ihm, dem Meer des bermenschen, wieder rein zu werden: „Wahrlich, ein schmutziger Strom ist der Mensch. Man muss schon ein Meer sein, um einen schmutzigen Strom aufnehmen zu kçnnen, ohne unrein zu werden.“ (ZA I Vorrede 3, KSA 4.15) Das Meer kann, ohne unrein zu werden, Schmutz nur aufnehmen, wenn es die Kraft zur Selbstreinigung hat, wenn es durch eigene Strçmungen den Schmutz absetzen und daraus Dmme bauen kann. Im Bild des sich selbst reinigenden Meeres bildet Nietzsche das Bild des selbst seine Dmme aufschichtenden Sees fort: „Seht, ich lehre euch den bermenschen: der ist diess Meer, in ihm kann eure grosse Verachtung untergehn.“ (ZA I Vorrede 3, KSA 4.15)
19.2. Zarathustra und das Meer des bermenschen
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,Der Mensch‘ hat sich, so Nietzsches (und Feuerbachs und anderer) bekannte Botschaft, in Jahrtausenden durch eine Religion verachten gelernt, die ihn erniedrigte, indem sie Gott erhçhte, und ihn zum Trost zugleich im Glanz eben dieses Gottes erstrahlen ließ. Nachdem er beides als Illusion durchschaut hat, kann er sich nur noch verachten – er hat zunchst weder der Erniedrigung noch dem Trost darber etwas entgegenzusetzen. Er fhlt sich ,nicht mit sich im Reinen‘, ,schmutzig‘.
19.2.3. Der See in Zarathustra Zu Beginn des II. Teils ist Zarathustra zurck im Gebirge. Seine Weisheit wchst in ihm wieder bis zum berfluss, so dass er wieder von ihr abgeben, sich anderen mitteilen, unter die Menschen gehen muss, umso mehr, als sein Traum vom Kind mit dem Spiegel ihn daran erinnert, wie seine Lehren sich bald schon entstellt haben. Nun lsst ihn Nietzsche die Bilder des Stromes und des Meeres wieder mit dem Bild des Sees verknpfen: Meine ungeduldige Liebe fliesst ber in Strçmen, abwrts, nach Aufgang und Niedergang. Aus schweigsamem Gebirge und Gewittern des Schmerzes rauscht meine Seele in die Thler. / Zu lange sehnte ich mich und schaute in die Ferne. Zu lange gehçrte ich der Einsamkeit: so verlernte ich das Schweigen. / Mund bin ich worden ganz und gar, und Brausen eines Bachs aus hohen Felsen: hinab will ich meine Rede strzen in die Thler. / Und mag mein Strom der Liebe in Unwegsames strzen! Wie sollte ein Strom nicht endlich den Weg zum Meere finden! / Wohl ist ein See in mir, ein einsiedlerischer, selbstgenugsamer; aber mein Strom der Liebe reisst ihn mit sich hinab – zum Meere! (ZA II Kind, KSA 4.106) Der See, der sich als Strom der Liebe zu den Menschen hin ergießt, ist jetzt ein See in Zarathustra, ein demonstrativ metaphorisierter See. Seine Lehren und so auch die vom bermenschen fließen aus ihm aus; so kann, aber muss er nicht selbst bermensch sein; wenn er es ist, ist er es ebenso metaphorisch wie der See in seinem Innern. Es kommt nicht darauf an, ob er selbst ein bermensch ist oder nicht, sondern nur darauf, dass die Metapher, die der See in ihm ebenso wie der bermensch ist, das (erstarrte) Bild des (letzten) Menschen bewegt. Und dazu will Zarathustra sich jetzt auf neue, beweglichere Weise mitteilen: er begibt sich in der ,Handlung‘ der Lehrdichtung wieder auf sein Element, das Meer, das ihn trgt und es ihm leicht macht. Nietzsche lsst Zarathustra bers Meer fahren und zwischen Meeren wandern und in seinen Reden immer neu in Metaphern des Meeres schwelgen: aus dem berflusse heraus ist es schçn hinaus zu blicken auf ferne Meere. / Einst sagte man Gott, wenn man auf ferne Meere blickte; nun aber lehrte ich euch sagen: bermensch. (ZA II Insel, KSA 4.109) Dabei lçst er metaphorisch wieder die Weisheit von sich und lsst sie ,ber das Meer gehen‘, wie ein Segelschiff und doch ,wild‘ – Zarathustra ist nicht Herr seiner Weisheit:
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Dem Segel gleich, zitternd vor dem Ungestm des Geistes, geht meine Weisheit ber das Meer – meine wilde Weisheit! (ZA II Weisen, KSA 4.135) Die Weisheit wird vielmehr fr ihn selbst zu einem Meer, dem er auf den Grund zu gehen sucht: Still ist der Grund meines Meeres: wer erriethe wohl, dass er scherzhafte Ungeheuer birgt! (ZA II Erhabenen, KSA 4.150) Und dieses Meer will die Sonne, die ihren berfluss Aufnehmende sucht, in sich saugen, aufsaugen – so verknpft Zarathustra die Metapher des Meeres mit seiner ersten von der Sonne und zugleich mit der des ,tollen Menschen‘ vom auszutrinkenden Meer: Seht doch hin, wie sie [die Sonne] ungeduldig ber das Meer kommt! Fhlt ihr den Durst und den heissen Athem ihrer Liebe nicht? / Am Meere will sie saugen und seine Tiefe zu sich in die Hçhe trinken: da hebt sich die Begierde des Meeres mit tausend Brsten. / Geksst und gesaugt will es sein vom Durste der Sonne; Luft w i l l es werden und Hçhe und Fusspfad des Lichts und selber Licht! / Wahrlich, der Sonne gleich liebe ich das Leben und alle tiefen Meere. / Und diess heisst mir Erkenntniss: alles Tiefe soll hinauf – zu meiner Hçhe! (ZA II Erkenntniss, KSA 4.159) Die Metaphern werden selbst zu Treppen, auf denen die eine ber die andere hinaufsteigt: nun ,reißt‘ es das Meer selbst ,hinauf‘ in die Hçhe einer den Menschen von Grund auf verwandelnden Erkenntnis, die doch eine Erkenntnis des Menschen ber den Menschen ist.
19.2.4. Auf hoher See Der an sich haltende See, der reißende Strom, das sich erhebende Meer, in all diesen Bildern zeigt sich der bermensch und zeigt sich Zarathustra, und dennoch ist der bermensch nicht Zarathustra, sondern das jeweilige Bild, das ihn bewegt und mit ihm die Leser von ZA von ihrem erstarrten Bild vom Menschen wegbewegen und zu einem hçheren und beweglicheren ,hinaufreißen‘ soll. Nietzsche lsst die Metaphern fruchtbar und stark werden, lsst sie sich vervielfltigen, miteinander neue zeugen, sich gegenseitig in neue Hçhen sttzen und dabei einen Halt aneinander gewinnen, in dem sie dennoch beweglich bleiben kçnnen. Zu Anfang des III. Teils bewegt sich Zarathustra zwischen zwei Meeren. Er will „von den glckseligen Inseln ber das Meer“ zu einem „anderen Meer“, hat die Zuversicht aufgegeben, jemanden mit seinen Lehren zu erreichen, sich auch von seinen Freunden verabschiedet und wandert allein in den Bergen. Nun solle sein „eigen Selbst“ zu ihm zurckkehren, das in vieles andere zerstreut gewesen sei, sein „letzter Gipfel“ stehe ihm bevor (ZA III Wanderer, KSA 4.193, 195). Er sammelt sich, macht sich selbst Mut, sieht seine einsame „Grçsse“ nun darin, sich selbst zu bersteigen – und lsst sich dabei weiter von seinem Gedanken des bermenschen leiten. Er unterredet sich vor dem Meer mit sich als einem Meer, das erfllt ist von der „schwrzesten Fluth“ seines Schmerzes:
19.2. Zarathustra und das Meer des bermenschen
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Ich erkenne mein Loos, sagte er endlich mit Trauer. Wohlan! Ich bin bereit. Eben begann meine letzte Einsamkeit. / Ach, diese schwarze traurige See unter mir! Ach, diese schwangere nchtliche Verdrossenheit! Ach, Schicksal und See! Zu euch muss ich nun h i n a b steigen! Vor meinem hçchsten Berge stehe ich und vor meiner lngsten Wanderung: darum muss ich erst tiefer hinab als ich jemals stieg: / – tiefer hinab in den Schmerz als ich jemals stieg, bis hinein in seine schwrzeste Fluth! So will es mein Schicksal: Wohlan! Ich bin bereit. (ZA III Wanderer, KSA 4.194 f.) Es ist nicht mehr der See, sondern die See, vor und von der er spricht, also das Meer: er spricht das Meer jetzt als die See an und verknpft sie mit seinem Schicksal. Die See ist das Schicksal des Seefahrers, das er nicht in der Hand hat, sondern als unvermeidlich hinnehmen muss, zumal ,auf hoher See‘, wo kein Land mehr in Sicht und man allen Strmen schutzlos ausgesetzt ist. Die See ist „schwarz“, nicht schmutzig und dennoch undurchsichtig und in ihren Strçmungen beweglich, sie ist „traurig“ als „schwrzeste Fluth“ (des Schmerzes), die alles bengstigend berrollt. Sie ist aber auch „schwanger“, gebiert aus dem Dunkel etwas, das noch niemand kennt (wir wissen: es wird der Gedanke der ewigen Wiederkehr des Gleichen sein), etwas, das einen neuen und festen und dennoch gefhrlichen Halt gibt, Berge, die „aus dem Meere kommen“, Hçhen aus den Tiefen, in die man zuvor hinabsteigen muss. Dieses Meer, das Zarathustra nun vor sich und/oder in sich hat, „schlft“ tief und „trumt“ schwere Trume (wie spter die Mitternacht) und will von diesen Trumen erlçst werden (KSA 4.195). Zarathustra kommt bei seiner Wanderung in vielen seiner Reden auf dieses Meer zurck, ohne nun noch vom bermenschen zu sprechen; diese Metapher hat sich inzwischen erbrigt, er geht nun auf den Gedanken der ewigen Wiederkunft zu. In seiner Rede „Von alten und neuen Tafeln“ rekapituliert er zuvor das Sprechen in Gleichnissen (2, KSA 4.247), das „Wort bermensch“, das er „vom Wege auflas“ (3, KSA 4.248), „,Alles ist im Fluss‘“ (8, KSA 4.252), um dann die „hçchste Art alles Seienden“ auszurufen: Die Seele nmlich, welche die lngste Leiter hat und am tiefsten hinunter kann […], / – die umfnglichste Seele, welche am weitesten in sich laufen und irren und schweifen kann; die nothwendigste, welche sich aus Lust in den Zufall strzt: – / – die seiende Seele, welche in’s Werden taucht; die habende, welche in’s Wollen und Verlangen w i l l: – / – die sich selber fliehende, die sich selber im weitesten Kreise einholt; die weiseste Seele, welcher die Narrheit am sssesten zuredet: – / – die sich selber liebendste, in der alle Dinge ihr Strçmen und Wiederstrçmen und Ebbe und Fluth haben (ZA III Tafel 19, KSA 4.261). Nicht hier, erst in EH, als er dort die Stelle wiederholt, belegt sie Nietzsche mit dem „Begriff ,bermensch‘“ – und zugleich mit dem „B e g r i f f d e s D i o n y s o s s e l b s t“ (EH ZA 6). Hier steht zuerst noch „der grosse Schrecken, das grosse Um-sich-sehn, die grosse Krankheit, der grosse Ekel, die grosse See-Krankheit“ bevor (ZA III Tafel 28, KSA 4.267). Zarathustra redet zu sich selber und spricht im Reden mit sich selbst zu seinen Brdern. Und er trçstet sich und diese nun schon fernen Brder noch immer mit einem Land, das man einst erreichen werde, ein Land, auf dem man wieder „aufrecht gehn“ kann, dem „Land ,Menschen-Zukunft‘“. Aber er weiß sich auf dem Meer, auf hoher See, im Sturm:
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Das Meer strmt: Viele wollen an euch sich wieder aufrichten. / Das Meer strmt: Alles ist im Meere. Wohlan! Wohlauf! Ihr alten Seemanns-Herzen! / Was Vaterland! D o r t h i n will unser Steuer, wo unser K i n d e r -L a n d ist! Dorthinaus, strmischer als das Meer, strmt unsre grosse Sehnsucht! – (ZA III Tafel 28, KSA 4.267 f.) An sturmerprobten Seemanns-Herzen wird man sich aufrichten, an ihnen wird man im Sturm auf hoher See Halt finden kçnnen. Und da Nietzsche es fr die Aufgabe von „e i g e n t l i c h e n P h i l o s o p h e n“ hielt (JGB 211), anderen einen solchen Halt geben, sie in schwersten Nçten orientieren zu kçnnen, verschmilzt das Bild des bermenschen mit dem des Philosophen und geht in ihm auf, des Philosophen, fr den wiederum „Dionysos ein Philosoph“ geworden ist (JGB 295). Die „Seele“ Zarathustras geht dem schwermtig lchelnd entgegen: Oh meine Seele, ich verstehe das Lcheln deiner Schwermuth: dein ber-Reichthum selber streckt nun sehnende Hnde aus! / Deine Flle blickt ber brausende Meere hin und sucht und wartet; die Sehnsucht der ber-Flle blickt aus deinem lchelnden Augen-Himmel! (ZA III Sehnsucht, KSA 4.279) Und er findet nun die Form der Kommunikation, die er schon mit andern erprobt hat, ihm aber in der Einsamkeit seiner Hçhe allein noch bleibt, das Lied. Das Lied erbrigt die Lehre, es erlçst Zarathustra von der Lehre, die ihm, dem hoch ber allen Stehenden, nicht gelingen kann. Nietzsche lsst Zarathustra nun mit seiner Seele sprechen und ihr sagen: Aber willst du nicht weinen, nicht ausweinen deine purpurne Schwermuth, so wirst du s i n g e n mssen, oh meine Seele! – Siehe, ich lchle selber, der ich dir solches vorhersage: / – singen, mit brausendem Gesange, bis alle Meere still werden, dass sie deiner Sehnsucht zuhorchen, – / – bis ber stille sehnschtige Meere der Nachen schwebt, das gldene Wunder, um dessen Gold alle guten schlimmen wunderlichen Dinge hpfen: – (ZA III Sehnsucht, KSA 4.280) Mit Liedern wird Zarathustra die Strme und das Meer beruhigen, so dass er wieder getrost auf ihnen fahren kann.
19.2.5. Im „himmelblauen See von Glck“ ZA IV beginnt damit, dass Zarathustra, Jahre spter, in denen sein Haar weiß wurde, auf einem Steine vor seiner Hçhle sass und still hinausschaute, – man schaut aber dort auf das Meer hinaus, und hinweg ber gewundene Abgrnde – da giengen seine Thiere nachdenklich um ihn herum und stellten sich endlich vor ihn hin. / ,Oh Zarathustra, sagten sie, schaust du wohl aus nach deinem Glcke?‘ – ,Was liegt am Glcke! antwortete er, ich trachte lange nicht mehr nach Glcke, ich trachte nach meinem Werke.‘ – ,Oh Zarathustra, redeten die
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Thiere abermals, Das sagst du als Einer, der des Guten bergenug hat. Liegst du nicht in einem himmelblauen See von Glck?‘ – ,Ihr Schalks-Narren, antwortete Zarathustra und lchelte, wie gut whltet ihr das Gleichniss! Aber ihr wisst auch, dass mein Glck schwer ist und nicht wie eine flssige Wasserwelle: es drngt mich und will nicht von mir und thut gleich geschmolzenem Peche.‘ (ZA IV Honig-Opfer, KSA 4.295) Nietzsche trgt nun nach, dass Zarathustras Hçhle auf ’s Meer blickt, „hinweg ber gewundene Abgrnde“, das heißt offenbar, so wie Nietzsche die Metaphorik des Meeres inzwischen entwickelt hat, auf den bermenschen oder den Menschen auf hoher See, nachdem er den abgrndlichsten Gedanken gedacht hat. Sein gefasster stiller Blick, lsst Nietzsche die Tiere raten, ist Zarathustras Glck, sein „himmelblauer See von Glck“. Er liegt nun in diesem See, wieder einem ruhigen und umfriedeten See (mask.!) und lsst sich von ihm tragen, wie ihn zuvor das Meer getragen hat. Was er zuvor in sich trug, trgt nun ihn, er ist, so die Tiere, eins geworden mit der Welt, die er sich geschaffen hat. Zarathustra widerspricht zunchst den Tieren und verweist auf das „Werk“, das noch zu tun sei, stimmt ihnen dann aber doch zu: dieses Glck ist sein Werk, es ist sein glcklich gelungenes Werk, allen leeren Verheißungen entsagt und die Kraft gewonnen zu haben, die Wirklichkeit des Menschen zu sehen, sich, metaphorisch, in den Strmen der hohen See des Menschen halten und dabei anderen Menschen Halt geben zu kçnnen. Das Glck auf hoher See, die Zarathustra mit seinem ,Singen‘ beruhigt hat, ist ihm ein umfriedeter Binnensee geworden. Und doch ist er kein See, in dem man wohlig in „flssigen Wasserwellen“ pltschert, sondern ein Werk, das nicht loslsst, nicht endet, weil sich immer neue Illusionen aufdrngen, die leicht ber die Realitten hinweghelfen, und man darum immer neue Dmme der Entsagung errichten muss, um sich selbst und anderen Halt geben zu kçnnen. Wie schwer das Glck eines solchen nie endenden Werks ist, zeigen dann die hçheren Menschen, die Nietzsche im IV. Teil auftreten lsst. Zarathustra ist neugierig auf sie, will nach ihnen angeln im „Menschen-Meer“, das „ein abgrndliches reiches Meer“ bleibt, ein „Menschen-Abgrund“ voller Menschen, die sich vom Bild des bermenschen ,hinaufreißen‘ lassen kçnnten: „Oh welche vielen Meere rings um mich, welch dmmernde Menschen-Zuknfte!“ (ZA IV Honig-Opfer, KSA 4.296 – 299) Aber sie enttuschen. Damit endet Zarathustras Untergang.
19.3. Der Brunnen des freien Geistes In FW 378 bringt Nietzsche die in ZA aufgewhlte Metaphorik des Wassers, Sees, Flusses, Stroms und Meeres, die er zuletzt in einen stillen See von Glck hat mnden lassen, in das Bild eines von Menschen gebauten Brunnens. Auch ein Brunnen ist eine Art von See, nun ein tief ausgeschachteter und durch Mauerwerk eingefasster Abgrund, in den man strzen kann. Er hat keinen Abfluss, seine Zuflsse sind oft unbekannt. Er ist zum Abschçpfen reinen Wassers aus der Tiefe gebaut, aber auch offen fr
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vielerlei Verschmutzungen. Nietzsche gibt seinem Brunnen wiederum eine ungewçhnliche Kraft. Er lsst ihn allem Schmutz, der in ihn geworfen wird, trotzen und immer wieder hell werden, sich also selbst reinigen.855 Dies verbindet den Brunnen sowohl mit dem See aus FW 285 als auch mit dem Bild aus ZA vom bermenschen als dem sich selbst vom Schmutz des Menschen reinigenden Meer. Der wieder hell werdende Brunnen fhrt die beiden Bilder, die Nietzsche in ZA weit voneinander abdriften ließ, wieder zusammen. Wie FW 285 ist auch FW 378 in Form und Inhalt geheimnisvoll, rtselhaft angelegt. FW 378 verlangt Interpretation, und man kann ihn als Bild der Interpretation verstehen. Der Brunnen wre dann das am Buchmarkt verçffentlichte Werk, das laufend mit Interpretationen beschmutzt wird, sich aber immer wieder von ihnen reinigen kann, allerdings wieder nur durch neue Interpretationen.856 Es kann sich als Werk, anders als Zarathustra, dem Nietzsche diese Mçglichkeit eigens schuf, seine Leser nicht selbst auswhlen, sich gegen ihre Missverstndnisse seiner ,Lehren‘ nicht wehren und sich auch nicht in eine Einsamkeit zurckziehen. In seinen Aphorismen ,entsagt‘ Nietzsche einer fiktiven Zwischenperson wie Zarathustra mit ihren besonderen Mçglichkeiten und beschreibt die tatschliche Situation des Schriftstellers. Nietzsches schriftstellerisches Werk bçte sich dann dafr an, den Menschen ihren Schmutz, ihre immer neuen Illusionen, die ihnen ber die Realitten hinweghelfen, abzunehmen, ihn zu reinigen und als klares Wasser wiederzugeben. Und damit leistete es eben das, was Zarathustra von seinem bermenschen erwartete. Es wre die grçßte Gabe an die Menschheit. Auch Zarathustra hat Nietzsche oft von Brunnen sprechen lassen. Nach der Lehre, die ihm der ,Markt‘ ber das Lehren erteilte, sagt er: „Langsam ist das Erleben allen tiefen Brunnen: lange mssen sie warten, bis sie wissen, w a s in ihre Tiefe fiel.“ (ZA I Fliegen, KSA 4.66)857 Ihre Selbstreinigung ist eine Selbstentdeckung, die Zeit braucht und oft so viel Zeit, dass sie nie zu Ende kommt. Sie sind dabei 855 Ferber/Zentner, „Und werden wieder hell“ – Nietzsches Mark Aurel, haben als Quelle fr FW 378 Mark Aurels Selbstgesprche, Aph. 51a, nachgewiesen, die Nietzsche in einer Auflage von 1866 besaß und mit Anstreichungen versah (BN). Mark Aurel spricht dort allerdings von einer Quelle, nicht von einem Brunnen, der sich selbst zu reinigen imstande ist. – Schulte, Nietzsches Morgenrçthe und Frçhliche Wissenschaft, 190 – 194, stellt zahlreiche ,gute Fragen‘ zu FW 378, weiß aber, nach eigenem Eingestndnis, keine Antworten auf sie. Die, dass der Brunnen einen „Strichjungen“ symbolisiere (192), kann es kaum sein. 856 Vgl. Kaufmann, Commentary, 341, Fn. 150, und Venturelli, Kunst, Wissenschaft und Geschichte bei Nietzsche, 150, Anm. 114. 857 Nietzsche zitiert damit MA II, WS 328.
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verletzlich: „Wie ein tiefer Brunnen ist ein Einsiedler. Leicht ist es, einen Stein hineinzuwerfen; sank er aber bis zum Grunde, sagt, wer will ihn wieder hinausbringen? / Htet euch, den Einsiedler zu beleidigen! Thatet ihr’s aber, nun, so tçdtet ihn auch noch!“ Denn ein Einsiedler kçnne nicht „vergessen“ und nicht „vergelten“ (ZA I Natter, KSA 4.88 f.): er hçrt nur und spricht nicht, nimmt alles auf und gibt nichts zurck, eben dadurch reinigt er, kann dabei aber auch zerbrechen.858 Zarathustra, der Einsiedler, stimmt darum eine große Klage ber das „Gesindel“ an: „Das Leben ist ein Born der Lust; aber wo das Gesindel mit trinkt, da sind alle Brunnen vergiftet. / Allem Reinlichen bin ich hold; aber ich mag die grinsenden Muler nicht sehn und den Durst der Unreinen. / Sie warfen ihr Auge hinab in den Brunnen: nun glnzt mir ihr widriges Lcheln herauf aus dem Brunnen. / Das heilige Wasser haben sie vergiftet mit ihrer Lsternheit; und als sie ihre schmutzigen Trume Lust nannten, vergifteten sie auch noch die Worte.“ Er hasse das Gesindel nicht, aber es ekle ihn vor ihm, so sehr, dass er „des Geistes“ oft mde wurde, als er „auch das Gesindel geistreich fand“. Er muss seinen Ekel vor dem kleinen Menschen erst noch berwinden. Verbindet er hier noch „Geist“ und „Flamme“ („Unwillig wird die Flamme, wenn sie ihre feuchten Herzen an’s Feuer legen; der Geist selber brodelt und raucht, wo das Gesindel an’s Feuer tritt“, ZA II Gesindel, KSA 4.124 f.), so bald darauf „Geist“ und „Brunnen“: „Eiskalt sind die innersten Brunnen des Geistes: ein Labsal heissen Hnden und Handelnden.“ (ZA II Weisen, KSA 4.134) Sie khlen die Hitze ab, machen gelassen. Und so, rein und khl, singen die Brunnen dann auch Zarathustras „Nachtlied“: „Nacht ist es: nun reden lauter alle springenden Brunnen. Und auch meine Seele ist ein springender Brunnen.“ Nietzsche fgt nun im Bild des Brunnens zum „Geist“ das „Licht“ hinzu, das die wiederum ungewçhnliche Kraft habe, aus sich selbst zu leuchten: „ich lebe in meinem eignen Lichte, ich trinke die Flammen in mich zurck, die aus mir brechen.“ Dann lsst er wieder eine Klage folgen, die Klage des „Schenkenden“, der „das Glck des Nehmenden“ nicht kenne (ZA II Nachtlied, KSA 4.136 f.): der Brunnen, der vom Schmutz der Illusionen reinigt und die Hitze der Leidenschaften abkhlt, nimmt gegen den Anschein nicht, sondern ,schenkt‘, indem er neue Anfnge im Leben der Menschen ,schafft‘. Stille Brunnen werden jedoch leicht bertçnt: „Aber da unten – da redet Alles, da wird Alles berhçrt. Man mag seine Weisheit mit Glocken einluten: die Krmer auf dem Markte werden sie mit Pfennigen berklingeln! / Alles bei ihnen redet, Niemand weiss mehr zu verstehn. Alles fllt in’s Wasser, Nichts fllt mehr in tiefe Brunnen.“ Dieses laute Reden „zerredet“ alles: „was gestern noch zu hart war fr die Zeit selber und ihren Zahn: heute hngt es zerschabt und zernagt aus den Mulern der Heutigen.“ (ZA III Heimkehr, KSA 4.233) Schließlich, in ZA IV, fhrt Nietzsche auch das Bild der Ewigkeit in das Bild des Brunnens ein, bildet ihn zum „Brunnen der Ewigkeit“ fort (ZA IV Mittags, KSA 4.344 f.). So kommen im Bild des Brunnens auch die Bilder des bermenschen und der Ewigkeit zusammen, der Brunnen wird 858 Das gilt nach FW 351 (8.2.2.) auch fr „priesterliche Naturen“, die dem „Volk“ damit „eine grosse Nothdurft“ abnehmen. Indem Luther dem Priester die Ohrenbeichte nahm, „war im Grunde der christliche Priester selbst abgeschafft, dessen tiefste Ntzlichkeit immer die gewesen ist, ein heiliges Ohr, ein verschwiegener Brunnen, ein Grab fr Geheimnisse zu sein.“ (FW 358/8.4.).
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zum Bild des sich im Bild des bermenschen selbst reinigenden und im Bild der Ewigkeit selbst schaudernd erkennenden Menschen.
Beide großen Lehr-Bilder, die Nietzsche in ZA im Bild des Brunnens zusammengefhrt hat, das vom ,bermenschen‘ und das von der ,ewigen Wiederkehr des Gleichen‘, lsst er in FW 378 zurck. Da steht schlicht ein Brunnen „an der Strasse“ und kann es „Niemandem wehren“, aus ihm zu schçpfen und ihn zu trben, kann nicht verhindern, „dass die Zeit, in der wir leben, ihr ,Zeitlichstes‘, dass deren schmutzige Vçgel ihren Unrath, die Knaben ihren Krimskrams und erschçpfte, an uns ausruhende Wandrer ihr kleines und grosses Elend“ in ihn werfen. Alles MythischAuratische des Lehrgedichts ist weggeweht, doch die bildliche Sprache bleibt. In ihr wird nun die nchterne Gegenwart aufgerufen: das ,Zeitlichste‘ der Zeit, die Zeitungen, und die von Nietzsche so oft geschmhten Zeitungsschreiber, die „schmutzigen“ Geier, die sich auf das Aas der Zeit strzen, die Krmerseelen mit ihrer Krmerware und Wanderer, deren Krfte ausgeschçpft, die als Brunnen versiegt sind, Erkennende, die die Enttuschungen von ihren Illusionen nicht ertragen. ,Elend‘ war ursprnglich das ,Fremdsein‘, ,in einem fremden Land Sein‘. Es wird ,gross‘, wenn man ,Geist‘ hat und doch eine Heimat sucht (FW 377/18.1.), wenn der Geist im Sinn Nietzsches sich selbst fremd geworden ist und selbst Philosophen ein „Versteck“ vor ihm suchen (FW 359/6.3.2.). „Freigebige und Reiche des Geistes“ dagegen, Einsiedler, die alles „tief“ nehmen, nicht „vergessen“ und dabei nicht untergehen, werden nach FW 378 wieder hell. Wie kann ein tiefer Brunnen hell sein? Wenn die Sonne an einem ,grossen Mittag‘ genau ber ihm steht? Doch davon ist nicht die Rede. So msste der Brunnen sich aus der Tiefe selbst erhellen, aus seinem eigenen Licht, wie Zarathustra es angedeutet hat, und eben darin msste er ein Bild des Geistes sein. Der Geist kann nach der herkçmmlichen Licht-Metaphorik, der auch Nietzsche noch folgt, von sich aus alles brige erhellen, und dies umso mehr, je ,tiefer‘ er selbst ist. Er ist umso tiefer, je mehr er scheinbar Selbstverstndliches aus ,tieferen‘ Gesichtspunkten kritisch in den Bedingungen seiner Mçglichkeit unterscheiden kann, so dass zu ihm Alternativen sichtbar werden, und er ist am tiefsten, wenn er auch noch die Bedingungen seiner eigenen Kraft zur Tiefe durchschauen kann. Dann vollendet sich seine Selbstkritik. Im Brunnen erhlt der Fluss der Metaphorik seine feste Fassung, sie wird begrenzt. Wir mssen unsere Begriffe dem Fluss der Metaphorisierung aussetzen, wenn sie dem unablssigen Fluss des Lebens gerecht werden sollen. Doch auf Zeit brauchen wir auch feste Begriffe, die wir bewusst
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festigen, mit denen und auf die wir ,bauen‘ kçnnen. So werden wir immer auch Begriffe vom Menschen haben, mehr oder weniger natrliche oder bernatrliche, Begriffe, die sein Bild mehr oder weniger verschmutzen. Aber mit der Metapher des bermenschen, die den Blick auf die hohe See des Menschen çffnet, und der Metapher des Brunnens, die diesen Blick in klare Grenzen fasst, haben wir auch den Horizont und die Perspektive fr unsere Kritik, d. h. unsere Unterscheidung und Begrenzung aller Bilder vom Menschen. So sind wir frei zum ,Geben‘, ,Schenken‘ und ,Schaffen‘, zum Ethischen des dionysischen Philosophierens.
20. Der große Ernst des Spiels mit allem Wenn es in Nietzsches ,frçhlicher Wissenschaft‘ um die Befreiung des Philosophierens zu einem dionysischen Philosophieren geht, wie kann dann ein Buch ber sie zu einem Ende kommen? Den ersten Entwurf, die Bcher I-IV der FW, ließ Nietzsche nicht frçhlich, sondern mit der Ankndigung einer Tragçdie enden, die sich dann als der ,Untergang‘ Zarathustras auf dem Markt der Menschen entpuppte. Aber Zarathustra sollte auch der sein, der die europische Philosophie befreite, indem er ihre Vorurteile berwand und ihr eine bisher ungeahnte Weite und Tiefe und Leichtigkeit schuf. Das V. Buch der FW nun scheint frçhlich auszuklingen, mit einer Art Satyrspiel. Aber Nietzsche hat in FW 236 gewarnt, „Der, welcher die Menge bewegen will,“ msse „sich selber erst in’s Grotesk-Deutliche bersetzen und seine ganze Person und Sache in dieser Vergrçberung und Vereinfachung v o r t r a g e n“ (FW 236/11.1.4.), und in JGB 25 hinzugefgt, dass ein solches Satyrspiel „nur der fortwhrende Beweis dafr“ ist, „dass die lange eigentliche Tragçdie z u E n d e i s t: vorausgesetzt, dass jede Philosophie im Entstehen eine lange Tragçdie war.“ (2.1.) „Eine preiswrdigere Wahrhaftigkeit“, stand dort auch, kçnne „in jedem kleinen Fragezeichen liegen […], welches ihr hinter eure Leibworte und Lieblingslehren (und gelegentlich hinter euch selbst) setzt“ (JGB 25/ 7.1.1.). Nietzsche hat dem V. Buch der FW zwei Schlsse gegeben, einen ernsten, FW 382, und einen frçhlichen, FW 383. Beide enden berraschend, der erste mit „die Tragçdie b e g i n n t …“ (nicht: sie ist „z u E n d e“), der zweite mit einem Fragezeichen und drei Auslassungspunkten, zum ersten Mal in diesem Buch. Zuvor, in FW 382, hat Nietzsche vom „eigentlichen Fragezeichen“ gesprochen, das „erst gesetzt“ werde, wenn „d e r g r o s s e E r n s t“ anhebt. So scheint der ganze Schluss ein großes Fragezeichen zu sein, „u n s e r Fragezeichen“, wie es am Ende von FW 346 hieß, und dies war „der Nihilismus“ (7.1.5.). Danach wre er eine Antwort auf dieses Fragezeichen. Aber der Nihilismus wird nicht mehr erwhnt. Die Irritation wird aufs ußerste gesteigert. Die Faszination auch: die Schluss-Aphorismen des V. Buchs der FW gehçren zu den musikalischsten, die Nietzsche gelungen sind. So machen sie seinem Satz aus EH noch einmal alle Ehre:
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Es giebt durchaus keine stolzere und zugleich raffinirtere Art von Bchern: – sie erreichen hier und da das Hçchste, was auf Erden erreicht werden kann, den Cynismus; man muss sie sich ebenso mit den zartesten Fingern wie mit den tapfersten Fusten erobern. (EH Bcher 3)
Hier wird, wie er 1887/88 notierte, die ,Form‘ zum ,Inhalt‘: Man ist um den Preis Knstler, daß man das, was alle Nichtknstler ,Form‘ nennen, umgekehrt als Inhalt, als ,die Sache selbst‘ empfindet, dagegen den Inhalt bloß als Form (als relativ gleichgltig, willkrlich, zufllig). Damit gehçrt man freilich {grndlich} in die {eine} verkehrte Welt: denn nunmehr wird einem der Inhalt relativ gleichgltig, willkrlich, zufllig {zu etwas bloß Formalem}, {also – das eigene unser Leben eingerechnet}.859
Als Nietzsche das Notat im Juli/August 1888 kopiert, lsst er aus der bereinigten Fassung auch noch die Gnsefßchen und die Sperrungen als Verstndnishilfen beiseite und krzt den tragischen Schluss: Man ist um den Preis Knstler, daß man das, was alle Nichtknstler Form nennen, als Inhalt, als die Sache selbst empfindet. Damit gehçrt man freilich in eine verkehrte Welt. (N 1888/89, 18[6], KSA 13.533)
Ging bei der ersten Niederschrift ein Notat „Man soll von sich nichts wollen, was man nicht kann“ und ein Notat zu vornehmen Gastfreunden („sie erwarten Gste, mit denen man nicht nicht frlieb nimmt …“) voraus,860 so in der spteren Niederschrift die beiden berhmt gewordenen Notate „Ich mißtraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. […] Vielleicht errth man, bei einem Blick h i n t e r dies Buch, welchem Systematiker ich selbst nur mit Mhe ausgewichen bin …“ (N 1888/89, 18 [4], KSA 13.533) und „Ich habe den Deutschen das tiefste Buch gegeben, das sie besitzen, meinen Z a r a t h u s t r a, – ich gebe ihnen hiermit das unabhngigste“ (N 1888/89, 18[5], KSA 13.533). Nietzsche verçffentlicht das Notat weder in der einen noch in der andern Version, die andern beiden, zuletzt zitierten wohl, freilich ebenfalls verndert. Beim ersten lsst er die eigene Versuchung zum System beiseite (vgl. GD Sprche 26), beim zweiten stellt er das unabhngigste Buch erst in Aussicht („ich gebe ihr ber kurzem das unabhngigste“, GD Streifzge 51). Es wird AC sein, sein „Fluch auf das Christenthum“. In GD aber lsst er zunchst seine Hommage an Horaz folgen, dem es gelungen sei, mit einem „minimum in Umfang und Zahl der Zeichen“ ein „maximum in der Energie der Zeichen“ 859 N 1887/88, datiert 24. November 1887, 11[3], KSA 13.9 f. / W II 3, S. 198. Vgl. Masini, Rhythmisch-metaphorische ,Bedeutungsfelder‘, 277. 860 N 1887/88, datiert 24. November 1887, 11[1]-[2], KSA 13.9 / W II 3, S. 198.
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zu erzielen, indem er in allem die Form sprechen ließ (GD Alten 1/3.1.7.). Nietzsches Philosophieren, kçnnte das heißen, wird nicht durch ein System, sondern durch seine Form plausibel. Dem sind wir bisher gefolgt. So ließen sich Rtsel, die Nietzsche aufgeworfen hat, lçsen, und so haben sich Rtsel, die er versteckt hat, erst gezeigt. Eine kontextuelle Interpretation, die die Form eines Aphorismus fr seinen Inhalt stark macht, kçnnte sich nun, beim Schluss des V. Buchs der FW, einem Schluss voller Rtsel, als besonders ergiebig erweisen.
20.1. Ernster Schluss Nr. 382: D i e g r o s s e G e s u n d h e i t . Zu Beginn von FW 382 nennt Nietzsche ein, vielleicht auch schon das Ergebnis des gedanklichen Wegs, den er im V. Buch zurckgelegt hat („nachdem wir lange dergestalt unterwegs waren“): aus • den Hellsichtigen, die den Blick fr große Ereignisse haben (FW 343/ 4.), • den nicht an ihre Gelehrsamkeit Gebundenen (FW 344 u. a./5.), • den „grosse Probleme“ Liebenden, auch die Moral noch in Frage Stellenden (FW 345 u. a./6.), • den stets Misstrauischen (FW 346/7.1.), • den vom Bedrfnis nach Glauben Befreiten (FW 347/7.2.), • den an der Rangordnung der Geister sich Orientierenden (FW 350 u. a./8.), • den jenseits Gewalt der Sprache sich auf ihre eigenen Erlebnisse Besinnenden (FW 354/9.), • den ihre Erkenntnis nicht mehr auf das Bekannte, sondern das Fremde Ausrichtenden (FW 355/10.), • den dennoch ihre eigene unvermeidliche Schauspielerei in Rechnung Stellenden (FW 356 u. a./11.), • den nicht mehr in einem nationalen, sondern im europischen Horizont Denkenden (FW 357/12.), • den zur Vervielfltigung von Interpretations-Perspektiven Fhigen (FW 360 u. a./13.), • den aus Geschlechter-Perspektiven Emanzipierten (FW 363/14.), • den Einsiedlern in Gesellschaft, den Knstlern beim Schaffen, den Schriftstellern auf dem anonymen Buchmarkt (FW 364 u. a./15.),
20.1. Ernster Schluss. Nr. 382
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den zu einem „d i o n y s i s c h e n Pessimismus“ Bereiten (FW 370/ 16.), • den die „Musik des Lebens“ wieder Hçrenden (FW 368 u. 372/17.), • den „Heimatlosen“ und „Wanderern“ (FW 377 u. 380/18.) und • den „Freigebigen und Reichen des Geistes“ (FW 378/NSM 19) sind nun „Wir Neuen, Namenlosen, Schlechtverstndlichen, wir Frhgeburten einer noch unbewiesenen Zukunft“ geworden. Sie sind • „Namenlose“, sofern die alte Sprache der Philosophie fr sie noch keinen Namen hat, • „Schlechtverstndliche“ fr alle, die an die alte Sprache noch gebunden sind, und • „Frhgeburten einer noch unbewiesenen Zukunft“ als „p o s t h u m e Menschen“ (FW 365/15.1.2.), die erst in unabsehbarer Zeit, wenn – vielleicht – die neue Sprache durchgedrungen ist, mit ihren Schriften wirken werden. Sie werden darum vorerst auch einander noch schlecht verstehen und sogar sich selbst leicht missverstehen, werden in vielem auch sich selbst noch ein ,Fragezeichen‘ sein. Frs erste bleibt ihnen nur das Pathos des Neuen, das Nietzsche gleich vierfach betonen wird. Dies Neue, das man in der alten Sprache nicht feststellen kann, muss sich in einer neuen Sprache, einer neuen Form zeigen, durch die dann auch der neue Inhalt plausibel werden kann. Doch Nietzsche spricht dabei auch von einem „neuen Zweck“, berraschend, nachdem er die FW mit einer grundstrzenden Kritik der „Lehrer vom Zwecke des Daseins“ erçffnet hatte (FW 1/4.2.). Er nennt aber den neuen Zweck nicht ausdrcklich, nur das „neue Mittel“ dazu, „eine neue Gesundheit“, die er dann zur „g r o s s e n G e s u n d h e i t“ steigern wird. Dabei wird er vom Begriff des Zwecks zu dem des „Ideals“ bergehen und „ein andres Ideal“ ausrufen. Zwecke und Ideale haben gemeinsam, dass sie der Zukunft einen Sinn geben, die Gegenwart auf sie ausrichten. Sie sind beide „Werthe und Wnschbarkeiten“, die erst noch erreicht, errungen, erfllt werden mssen. Doch Zwecke kann man erfllen, Ideale nicht; sie sind als solche unerreichbar und darum bloße Wnschbarkeiten. So scheint FW 382 auf etwas lngst der befreienden Kritik Verfallenes hinauszufhren und damit ein weiteres Fragezeichen zu setzen, ein Fragezeichen an sich selbst. Aber dieses Fragezeichen kçnnte auch schon eine Antwort sein, eine ,stolzere und zugleich raffiniertere‘, eine ,verkehrte‘ Antwort. Denn trotz seines Ernstes klingt der Aphorismus denkbar frçhlich, neben FW 383 wirkt er unter allen Aphorismen des V.
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Buchs der FW am frçhlichsten, heitersten. So kçnnte der „neue Zweck“ die Frçhlichkeit nicht im Inhalt, sondern in der Form sein, es kçnnte die Form sein, die den Inhalt, ,gleichgltig‘ welchen, frçhlich zu machen hat, bis hin zum Schluss des Aphorismus („das Schicksal der Seele sich wendet, der Zeiger rckt, die Tragçdie b e g i n n t…“). Denn es sollte ja gerade der Sinn von Nietzsches reifer, ernster Frçhlichkeit sein, ber dem Tragischen heiter bleiben oder sogar erst werden zu kçnnen. Nietzsche sagt noch einmal ausschließlich „wir“ und „uns“. FW 382 scheint ein Gesprch mit den immer wieder und in FW 383 noch einmal ausdrcklich angesprochenen Freunden zu sein, „ungeduldigen Freunden“, wie es dort heißt.861 Aber auch sie werden hier nicht genannt. So kçnnte Nietzsche auch nur zu sich selbst reden, kçnnte nur zum Zuhçren bei einem Selbstgesprch einladen, wie er es in der langen Kette von Aphorismen zum Einsiedler-Dasein des ,Schaffenden‘ beschrieben hat (FW 364 … FW 381/15.), und dabei nun frçhlich sein. In diese Frçhlichkeit kçnnen die Leser einstimmen wie bei einem Lied, ohne schon mit dem Inhalt bereinstimmen zu mssen (FW 378/NSM 19). FW 382 ist denn auch als großes musikalisches Finale angelegt.862 Thematisch ist es wohl in drei Abschnitte gegliedert: Rckblick auf das Geschehene, Anblick der Gegenwart, Ausblick auf das Kommende. Auch die Gliederung ist jedoch nicht wie sonst oft durch Trennungsstriche kenntlich gemacht. Trotz seiner Lnge besteht der Aphorismus aus nur sechs Stzen. Die ersten drei zum zurckgelegten Weg wachsen kontinuierlich an, intonieren ein Crescendo. Es wird durch eine vergleichsweise kurze rhetorische Frage zum „g e g e n w r t i g e n M e n s c h e n“ verzçgert, die auch schon die Antwort enthlt („Wie kçnnten wir uns“ an ihm noch „gengen lassen?“ – „nur mit einem bel aufrecht erhaltenen Ernste“). Auf das Ritardando folgt ein neues, noch einmal beschleunigtes Crescendo, ein einziger großer Schluss-Satz, der lngste Satz im V. Buch der FW berhaupt, lnger als manche seiner brigen Aphorismen, eine, man mçchte mit Schillerschem Pathos sagen: ,jauchzend‘ sich aufschwingende, immer hçher, immer frçhlicher gestimmte Schluss-Coda, die dann jedoch, nach einem Ge861 Wotling, La tragdie et ,nous‘. L’inflexion du livre V du Gai Savoir, nimmt darum an, dass Nietzsche nun „collaborateurs“ suche, um gemeinsam mit ihnen die praktische Aufgabe der berwindung des Nihilismus anzugehen. Das scheint mir gerade im Blick auf das V. Buch der FW fraglich, in dem Nietzsche nun immer strker herausgestellt hat, wie hoch die Hrden zur Befreiung des Geistes sind und wie wenige sie darum berspringen werden. Je freier ein Geist, desto einsamer wird er werden; er weiß das und will es darum auch. 862 Vgl. zur ,Musik‘ von FW 343, mit der das V. Buch der FW einsetzt, NSM 4.
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dankenstrich und einem „trotzalledem“, in einem staccato martellato von fnf angehngten kurzen und nun immer krzer werdenden, schließlich nur noch aus drei Worten bestehenden ,gehmmerten‘ Satzbruchstcken wie unter Paukenschlgen wieder einbricht und in den Auslassungspunkten, nun gespenstisch Unhçrbarem, Schwerverstndlichem, ausklingt. Unmittelbar nachdem er FW 382 in EH ZA 2 in Gnze zitiert hat, beschreibt Nietzsche seine „I n s p i r a t i o n“ zu ZA: Eine Entzckung, deren ungeheure Spannung sich mitunter in einen Thrnenstrom auslçst, bei der der Schritt unwillkrlich bald strmt, bald langsam wird; ein vollkommnes Ausser-sich-sein mit dem distinktesten Bewusstsein einer Unzahl feiner Schauder und berrieselungen bis in die Fusszehen; eine Glckstiefe, in der das Schmerzlichste und Dsterste nicht als Gegensatz wirkt, sondern als bedingt, als herausgefordert, sondern als eine n o t h w e n d i g e Farbe innerhalb eines solchen Lichtberflusses; ein Instinkt rhythmischer Verhltnisse, der weite Rume von Formen berspannt – die Lnge, das Bedrfniss nach einem w e i t g e s p a n n t e n Rhythmus ist beinahe das Maass fr die Gewalt der Inspiration, eine Art Ausgleich gegen deren Druck und Spannung … (EH ZA 3)
Er kçnnte damit auch die Rhythmik der Schluss-Coda von FW 382 beschrieben haben. Der mitreißende Satz lsst ber seiner musikalischen Form in der Tat seinen Inhalt vergessen, man berhçrt ihn zuerst ber seinem Pathos und kann sich erst nach dem plçtzlichen Einbruch der Stimmung auf ihn besinnen. Nietzsche hat im V. Buch der FW immer wieder ber den Tanz geredet. Jetzt bringt er wie nie zuvor die Sprache zum Tanzen, versetzt sie in eine immer schnellere und immer leichtere Bewegung, lsst sie ber weite Bçgen hinweg nicht mehr zur Ruhe kommen, sich auf festem Boden halten. Sie scheint keinen Boden mehr zu brauchen, bis sie doch wieder schwer auf ihm aufsetzt. Mit dieser nun zur Meisterschaft gekommenen Sprachkunst ldt Nietzsche die Leser ein, in einen frçhlichen Rausch hineinzutanzen, in „Erholung, Blindheit, zeitweiliges Selbstvergessen“ und „menschlich-bermenschliches Wohlsein und Wohlwollen“, um sie dann erneut und umso hrter dem „g r o s s e n E r n s t“ auszusetzen („das Schicksal der Seele sich wendet, der Zeiger rckt, die Tragçdie b e g i n n t…“). Vielleicht wird man nun auch diesen Ernst heiter nehmen kçnnen. ber das crescendo – ritardando – crescendo con accelerazione hinaus strukturiert Nietzsche dieses Finale choreographisch, durch in Sperrungen augenscheinlich gemachte Schrittfolgen. Im Text hervorgehoben sind (1) die Notwendigkeit einer „g r o s s e n G e s u n d h e i t“, (2) das Ungengen „a m g e g e n w r t i g e n M e n s c h e n“, (3) das „R e c h t
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d a r a u f“, nmlich auf „ein andres Ideal“, das (4) „oft genug u n m e n s c h l i c h erscheinen wird“, womit (5) „d e r g r o s s e E r n s t“, (6) „die Tragçdie b e g i n n t“. Das „Recht“ gibt, worauf Nietzsche lange vorbereitet hat (FW 359, FW 377), der Rang. So steht die Rangordnung nach der Geistigkeit, auch sie unausgesprochen, im Mittelpunkt. Sie gibt den Grundschritt vor (3). Die Sperrungen (2) und (4) schließen sie geradezu figrlich ein, verdecken sie, machen sie unsichtbar. So verstellt der gegenwrtige Mensch, dem die Rangordnung nach der Geistigkeit unmenschlich erscheint, den Blick auf sie, indem er sie moralisch abweist. Doch was in Jahrtausenden griechisch-christlicher Philosophie zur moralischen Blick-Versperrung geworden ist, wird in Nietzsches Text wieder umschlossen von den Sperrungen (1) und (5), der großen Gesundheit und dem großen Ernst, die die Selbstbehauptung des ,kleinen‘, ,kranken‘, auf einer herrschenden Moral beharrenden Menschen durchdringen und damit die Rangordnung wieder sichtbar machen. Nietzsches Sperrungen (NSM 9) fhren hier die Erweiterung des philosophischen Horizonts vor Augen, um die es im ganzen V. Buch der FW ging. Und was sie dadurch erçffnen, ist ein neues „Fragezeichen“, ein neues „b e g i n n t …“. 20.1.1. Das Schicksal der Seele und die große Gesundheit FW 382 handelt im Ganzen vom „Schicksal der Seele“. Im zweiten Satz ist von Menschen die Rede, deren „Seele danach drstet, den ganzen Umfang der bisherigen Werthe und Wnschbarkeiten erlebt“ zu haben, und gegen Ende heißt es, dass „das Schicksal der Seele sich wendet“. Alles, was dazwischen gesagt ist, auch ber die „g r o s s e G e s u n d h e i t“, die im Titel steht, ist von der Seele gesagt. Wie sich gezeigt hat, spricht Nietzsche auch im V. Buch der FW weiterhin ohne Scheu von ,Seele‘, trotz der metaphysischen Anklnge des Begriffs, verbindet sie jedoch stets mit dem ,Leib‘, von dem sie nicht zu trennen sei (6.3.2.).863 In der Verbindung mit dem Leib und der Welt, in die er eingelassen ist, hat sie ein „Schicksal“, wird mit ihm gesund und krank. Wenn Ariston von Chios, ein Stoiker, der zum Kyniker wurde und den Nietzsche im III. Buch der FW zitiert, die „Tugend“ mit der „G e s u n d h e i t d e r S e e l e“ identifizierte, so pluralisiert Nietzsche diese Gesundheit zu „unzhligen Gesundheiten des Leibes“, die die Seele durchlaufen kann. Die Gesundheiten hngen ih863 Den metaphysischen Gebrauch des Seelen-Begriffs kritisiert Nietzsche unmissverstndlich. Vgl. Klauck, Art. Seele.
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rerseits von der Seele ab: „Es kommt auf dein Ziel, deinen Horizont, deine Krfte, deine Antriebe, deine Irrthmer und namentlich auf die Ideale und Phantasmen deiner Seele an, um zu bestimmen, w a s selbst fr deinen L e i b Gesundheit zu bedeuten habe.“864 So kçnne die „Gesundheit und Krankheit der S e e l e“ beim Einen so aussehen wie der „Gegensatz der Gesundheit“ beim Andern. Den Erkennenden aber kçnnten Krankheiten der Seele ebenso nçtig sein wie Gesundheiten, so dass „der alleinige Wille zur Gesundheit ein Vorurtheil, eine Feigheit und vielleicht ein Stck feinster Barbarei und Rckstndigkeit sei“ (FW 120). Sie werden ihre Gesundheiten also nicht schonen, sondern riskieren, sie bewusst einem ungewissen Schicksal aussetzen. Nietzsche nennt das nun, im Zeichen der furchtlosen Erkenntnis, „unsre Neugierde“ nach „Schçnem, Fremdem, Fragwrdigem, Furchtbarem und Gçttlichem“. Ob die jeweilige Gesundheit der Seele dazu ausreicht, zeigt sich, wie Nietzsche sich notierte, am Leib: „Der Maaßstab bleibt die Efflorescenz des Leibes, die Sprungkraft, Muth und Lustigkeit des Geistes – aber, natrlich auch, w i e v i e l v o n K r a n k h a f t e m er a u f s i c h n e h m e n u b e r w i n d e n k a n n – gesund m a c h e n kann.“ Das kçnnen kçrperliche Krankheiten wie Tuberkulose oder Cholera oder Syphilis sein, auch wenn es wenig Sinn htte, sich bewusst damit zu infizieren. Denn es geht nicht darum, den Kçrper daraufhin zu testen, welche Infektionen er bersteht, sondern allein darum, was Seele und Geist daraus machen.865 Dafr bildet Nietzsche den Begriff der „großen Gesundheit“: „Das, woran die zarteren M zu Grunde gehen {wrden}, gehçrt zu den Stimulanz{-Mitteln} der großen Gesundheit.“ (N 1885/86, 2[97], KSA 12.108 / W I 8, S. 128) Auch als er mit dem Begriff an die ffentlichkeit geht, in der neuen Vorrede zu MA I, bezieht er ihn auf die „Erkenntniss“ und „r e i f e Freiheit des Geistes“, die „das gefhrliche Vorrecht giebt, a u f d e n Ve r s u c h h i n leben und sich dem Abenteuer anbieten zu drfen“ (MA I Vorrede 4). In der neuen Vorrede zu FW fhrt er fort: „so ergeben wir Philosophen, gesetzt, dass wir krank werden, uns zeitweilig mit Leib und Seele der Krankheit – wir machen gleichsam vor uns die Augen zu“ – um gezielt zu beobachten, ob 864 Im Entwurf zu einer Umarbeitung fr das Kapitel „Der Mensch im Verkehr“ aus MA I, N 1885, 40[59]1, KSA 11.657 / W I 7, S. 40, beruft sich Nietzsche auf Montaigne, Versuche I 25/26 (De l’institution des enfans / Von der Erziehung der Kinder), 1.275/Micha 1.208/Stilett 88 b: „,Eine Seele, in welcher die Weltweisheit wohn[e]t, muß durch ihre Gesundheit auch den Kçrper gesund machen‘“. 865 Thomas Mann schtzte diesen Gedanken besonders und widmete ihm unter anderem seinen Zauberberg (Tuberkulose), den Tod in Venedig (Cholera) und Doktor Faustus (Syphilis).
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der Geist mit „Schwche oder Umkehr oder Ergebung oder Verhrtung oder Verdsterung und wie alle die krankhaften Zustnde des Geistes heissen“, reagiert (FW Vorrede 2). Gesund wre dagegen Frçhlichkeit an Leib und Seele. Wenn die „Kunst der Transfiguration“ von Krankheiten in Gesundheiten Philosophie ist, steht es „Philosophen nicht frei, zwischen Seele und Leib zu trennen, wie das Volk trennt, es steht uns noch weniger frei, zwischen Seele und Geist zu trennen.“ (FW Vorrede 3). Mit dem Begriff der „Transfiguration“ drfte Nietzsche den Titel des Gemldes von Raffael aufgenommen haben, das er in GT 4 interpretiert hat. In M 8 versetzt er den Renaissance-Knstler in die Gegenwart: „er wrde eine neue Transfiguration mit Augen sehen“ (16.6.). Ansonsten gebraucht er den Begriff meist unspezifisch. In einem Notat bestimmt er sie als „Verklrungs-Gefhl des Einzelnen“, zu dem vor allem Musik verhilft, „als Nachklang von Zustnden, deren begrifflicher Ausdruck M y s t i k war“ (N 1884, 25[241], KSA 11.75).866 Schon Kant hatte im ersten Abschnitt seiner Verkndigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie (1796) unter dem Titel „Frohe Aussicht zum nahen ewigen Frieden“ von „d e r p h y s i s c h e n W i r k u n g d e r P h i l o s o p h i e“ gesprochen. Es sei „jetzt statt des Worts Seele das der L e b e n s k r a f t zu brauchen beliebt“; denn die Seele sei keine Substanz, sondern die Wirkung „reizender Krfte“. Wenn man nun „denjenigen Menschen g e s u n d nennt, in welchem ein proportionierlicher Reiz weder eine bermßige noch eine gar zu geringe Wirkung hervorbringt“, so seien Menschen vor (seelischer) Faulheit und (leiblicher) Fulnis dadurch bewahrt, dass sie „p h i l o s o p h i r e n“, nmlich „durch Begriffe vernnfteln“, mit anderen „d i s p u t i r e n“, „z a n k e n“ und schließlich „in Masse gegeneinander (Schule gegen Schule als Heer gegen Heer) vereinigt offenen K r i e g“ fhren. Auf diese Weise bewirke die Philosophie physisch „die G e s u n d h e i t (status salubritatis) der V e r n u n f t“. Diese sei kein dauernder Zustand, sondern „ein unaufhçrliches Erkranken und Wiedergenesen“. Um „das Gleichgewicht, welches Gesundheit heißt und auf einer Haaresspitze schwebt, zu erhalten“, msse die Philosophie vorbeugend auf „D i t“ dringen, aber auch „(therapeutisch) als A r z e n e i m i t t e l (materia medica) wirken, zu dessen Gebrauch dann Dispensatorien und rzte (welche letztere aber auch allein diesen Gebrauch zu v e r o r d n e n berechtigt sind) erfordert werden: wobei die Polizei darauf wachsam sein muß, daß zunftgerechte rzte und nicht bloße Liebhaber sich anmaßen a n z u r a t h e n , w e l c h e P h i l o s o p h i e m a n s t u d i r e n s o l l e , und so in einer Kunst, von der sie nicht die ersten Elemente kennen, Pfuscherei treiben.“ (AA 8.413 – 415) Kant war schon sehr nah an Nietzsches Gedanken zur Gesundheit der Philosophie.867
866 Vgl. van Tongeren, Die Kunst der Transfiguration (16.5.), und Nicodemo, Das große Leben als Verklrungsprozess. 867 Faustino, Nietzsches Umkehrung des Gesundheitsbegriffes und die „große Gesundheit“, interpretiert FW 382 im Blick auf Nietzsches Absicht, zum Arzt der Kultur zu werden. Vgl. dazu auch Pasley, Nietzsche’s Use of Medical Terms.
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20.1.2. Die große Gesundheit und das Ideal im Umgang mit dem Ideal Der „neue Zweck“, der nicht genannt wird und zu dem die „neue Gesundheit, eine strkere gewitztere zhere verwegnere lustigere, als alle Gesundheiten bisher waren“, das „neue Mittel“ sein soll, scheint im Streben zu bestehen, „den ganzen Umfang der bisherigen Werthe und Wnschbarkeiten erlebt und alle Ksten dieses idealischen ,Mittelmeers‘ umschifft zu haben“. Damit ist offenbar das Anliegen des V. Buchs der FW im Ganzen gemeint, das Streben nach Erkenntnis und Kritik der Bedingungen des europischen Philosophierens, damit es von sich aus, frei, entscheiden kann, auf welche Bedingungen es sich wann und wie und wie lange sttzen will. Bei den „Frhgeburten einer noch unbewiesenen Zukunft“, die darin schon weiter gekommen sind, wirkt dieses Streben als „Drsten“ der Seele, als unerlsslicher Wunsch und ußerste Not, denen sie sich nicht entziehen kann. Nietzsche spricht im Futur II, dem futurum exactum, der vollbrachten und damit schon vergangenen Zukunft („umschifft zu haben“). Ein „Zweck“ strukturiert die „Zukunft“ so, dass er Mittel mobilisiert, um sie zu erreichen.868 Die Mittel werden im Blick auf den Zweck ausgewhlt und gehçren darin dessen Zukunft an; vom erreichten Zweck aus gesehen, werden sie Vergangenheit sein. Zunchst ist ungewiss sowohl, ob man den Zweck erreichen wird, als auch, ob die Mittel dazu die richtigen gewesen sein werden. Das gilt auch und gerade fr die Gesundheit der Seele, die als Mittel der Erkenntnis eingesetzt und riskiert werden soll. Sie hat selbst die Struktur einer zuknftigen Vergangenheit. Denn als gegenwrtige, solange man sie „hat“, fllt sie nicht auf, wird sie nicht bewusst, redet man nicht von ihr; eine gute Gesundheit zeichnet sich gerade dadurch aus, dass man sich nicht um sie zu kmmern, nicht an sie zu denken, nicht von ihr zu sprechen braucht;869 sie ist eine ,Musik des Lebens‘, die man berhçrt, solange sie klingt. Und doch kann man sich in ihr ,verhçren‘ (17.2.5.). Man kann seiner Gesundheit nie sicher sein; solange man sie noch zu ,haben‘ glaubt, kçnnte sie lngst ,angegriffen‘ sein. Man wird sich ihrer erst als verlorener bewusst, in ausbrechenden Krankheiten, und dann wieder als neu erworbener, wenn die Krankheiten berstanden oder durch eigenes Zutun berwunden sind. So ist die Gesundheit etwas, das „man nicht nur hat, sondern auch bestndig noch erwirbt und erwerben muss“. 868 Vgl. N 1883, 7[6], KSA 10.237: „die Z u k u n f t als das, was wir w o l l e n , w i r k t auf unser Jetzt.“ 869 Vgl. Decher, Vom Sinn der Krankheit, 277.
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Gilt das von der Gesundheit berhaupt, so unterscheidet Nietzsche von ihr die „neue Gesundheit“ dadurch, dass man sie deshalb immer wieder erwerben muss, weil man sie bewusst „immer wieder preisgiebt“, nicht aus Leichtsinn und Mutwillen, sondern weil man sie „preisgeben muss“, weil man dazu von einem „Heisshunger in Gewissen und Wissen“ gençtigt ist, den man sich bei „den Abenteuern der eigensten Erfahrung“ erworben hat. Sie wird dann zu einer „g r o s s e n G e s u n d h e i t“ im dialektischen Sinn des Großen (6.1.2.). Gerade die Gesundheit ist das plausibelste Beispiel fr den dialektischen Sinn des Großen: indem man sich gefhrlichen ,Krankheiten‘ aussetzt, steigert man seine Abwehrkrfte und kann sich dann noch gefhrlicheren Krankheiten aussetzen, immer ohne Gewhr, dass man an ihnen nicht zugrunde gehen wird. Das Mittel, das Nietzsche zur großen Gesundheit empfiehlt, ist ein ebenfalls dialektisches, nmlich in Freunden „Feinde“, starke Gegner, zu suchen: „Feind sein k ç n n e n, Feind sein – das setzt vielleicht eine starke Natur voraus, jedenfalls ist es bedingt in jeder starken Natur. Sie braucht Widerstnde, folglich s u c h t sie Widerstand“ (EH weise 7). Einen solchen Feind-Freund sah Nietzsche natrlich vor allem in Wagner, der ihn ,krank‘ gemacht habe, wodurch er selbst aber strker und Wagner also der Wohltter seines Lebens geworden sei: „so wie ich bin, stark genug, um mir auch das Fragwrdigste und Gefhrlichste noch zum Vortheil zu wenden und damit strker zu werden, nenne ich Wagner den grossen Wohlthter meines Lebens“ (EH klug 6).870 In FW 382 nennt ihn Nietzsche nicht mehr.
Da Nietzsche den Zweck, fr den die große Gesundheit ein Mittel ist, alsbald ein „Ideal“ nennt, scheint er ihn nicht als erreichbare, sondern als nicht oder nur selten erreichbare „Wnschbarkeit“ zu verstehen. Bisher hat er das Ideal im V. Buch der FW sehr kritisch behandelt. Er fhrte es ein als „Ideal des ,Weisen‘“ beim Volk (FW 351) und verknpfte es dann mit dem „Glauben an das christlich-aketische Ideal“, das „eben noch seinen letzten Kampf“ kmpfe (FW 358). Ein Ideal ist nach FW 370 etwas, das man „n ç t h i g h a t“, das den philosophischen Horizont beengt. In FW 372 und FW 375 wehrte Nietzsche darum alles ,Idealische‘ und ,Idealistische‘ ab. Es spiegelt eine Heimat vor, wo keine ist: „Wir sind allen Idealen abgnstig, auf welche hin Einer sich sogar in dieser zerbrechlichen zerbrochnen Uebergangszeit noch heimisch fhlen kçnnte“, hieß es noch in FW 377. Ideale kçnnten auch bloße Illusionen sein. Dennoch hat Nietzsche den Aphorismus FW 381 mit einem neuen „Ideal“ geschlossen, dem Ideal fr den „Geist eines Philosophen“, „ein guter Tnzer“ zu sein. Er hat damit die Erwartung nahegelegt, dass dies Ideal in FW 382 nun zum 870 Vgl. Hermens, „und so […] nenne ich Wagner den grossen Wohltter meines Lebens“.
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Thema wird. Das wird es auch tatschlich, obwohl das Mittel, die große Gesundheit, im Titel steht; das Wort ,Gesundheit‘ erscheint vier Mal, das Wort ,Ideal‘ dagegen acht Mal. So schafft Nietzsche auch hier eine Spannung zwischen Titel und Text (NSM 13), und er scheint das gezielt zu tun: die Spannung stellt vor die Frage, wie sich Gesundheit und Ideal zueinander verhalten und was ,Ideal‘ in diesem Zusammenhang bedeutet. Anders als Zwecke, die man mehr oder weniger kurzfristig erreichen kann, braucht man Ideale, um auf Dauer existenzielle Nçte auszuhalten oder zu berwinden, seien es Nçte des Mangels oder des berflusses. Ein Ideal richtet nicht nur wie ein Zweck die Gegenwart auf eine wnschbare Zukunft aus, sondern lsst jene auch ber dieser vergessen: es lsst ein sinnloses, lhmendes Leiden an der Gegenwart vergessen, indem es ein selbstgewolltes Leiden in Gestalt einer dauernden mhseligen Anstrengung, kurz: eine Askese rechtfertigt. Wird die Askese dann zur Gewohnheit und zur Lebensform, ist sie kein bloßes Mittel mehr, sondern wird ihrerseits Zweck, Selbstzweck, und damit zur Illusion. Die Askese hat dann, sollte ihr altes Ideal seine Glaubwrdigkeit verlieren und sich tatschlich als Illusion erweisen, ein neues nçtig. Nietzsche hat bald darauf in GM das Syndrom des ,asketischen Ideals‘, in dem Askese und Ideal einander wechselseitig nçtig machen, eindringlich beschrieben und am christlich-asketischen Ideal verdeutlicht, das der europischen Kultur ber ihren ersten Nihilismus hinweggeholfen, zugleich aber in einen tieferen und nun hoffnungslosen Nihilismus getrieben habe, den jetzigen Nihilismus nach dem Unglaubwrdigwerden des ,alten Gottes‘.871 Ist es also ein Zweck oder ein Ideal oder eine Illusion, „den ganzen Umfang der bisherigen Werthe und Wnschbarkeiten erlebt und alle Ksten dieses idealischen ,Mittelmeers‘ umschifft zu haben“? In jedem Fall gehçrt die Erkenntnis und Kritik der Bedingungen des europischen Philosophierens zu der „Aufgabe“, die sich Nietzsche seit langem aufgedrngt und deren „Nothwendigkeit“ und „heimliche Gewalt“ ber ihn er in der neuen Vorrede zu MA I noch einmal betont hat. Seine Aufgabe bestimmte, fr ihn unverfgbar, seine Zukunft: „Unsre Bestimmung verfgt ber uns, auch wenn wir sie noch nicht kennen; es ist die Zukunft, die unserm Heute die Regel giebt.“ (MA I Vorrede 7) Sie war es, die ihm den Durst nach Erkenntnis und Selbsterkenntnis, den „Heisshunger in Gewissen und Wissen“ verursachte. Sie hielt Nietzsche, der mit seinen medizinisch nicht zu bewltigenden, kçrperlich schwer behindernden und seelisch tief deprimierenden Leiden oft am Rande des Todes lebte, wie er immer wieder an Freunde schrieb, am 871 Vgl. Stegmaier, Nietzsches ,Genealogie der Moral‘, 169 – 208.
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Leben, wurde buchstblich zu seiner Lebensaufgabe. Als er ber der ,Erkrankung‘ an Schopenhauers und Wagners ,Romantik‘ den Blick fr sie verloren habe, gab die „g r o s s e L o s l ç s u n g“ von ihnen sie ihm wieder zurck (MA I Vorrede 3). Sein Werk habe ihm „das Gleichgewicht, die Gelassenheit, sogar die Dankbarkeit gegen das Leben aufrecht erhalten“; er habe sich, „als Arzt und Kranker in Einer Person“, auf Zeit zum „Optimismus“ gezwungen, habe durch „langes Herumziehn“ von einem „K l i m a d e r S e e l e“ zum andern und durch „Loskettung von allen grçberen Begehrlichkeiten“ um „Unabhngigkeit inmitten aller Art usserer Ungunst“ gerungen und so endlich seine Aufgabe und seine Gesundheit wieder zurckgewonnen (MA II Vorrede 5). Seine Aufgabe wirkte auf ihn ebenso zwanghaft wie heilend und befreiend: „Jenes verborgene und herrische Etwas, fr das wir lange keinen Namen haben, bis es sich endlich als unsre A u f g a b e erweist, – dieser Tyrann in uns nimmt eine schreckliche Wiedervergeltung fr jeden Versuch, den wir machen, ihm auszuweichen oder zu entschlpfen, fr jede vorzeitige Bescheidung, fr jede Gleichsetzung mit Solchen, zu denen wir nicht gehçren, fr jede noch so achtbare Thtigkeit, falls sie uns von unsrer Hauptsache ablenkt, ja fr jede Tugend selbst, welche uns gegen die Hrte der eigensten Verantwortlichkeit schtzen mçchte. Krankheit ist jedes Mal die Antwort, wenn wir an unsrem Rechte auf u n s r e Aufgabe zweifeln wollen, – wenn wir anfangen, es uns irgendworin leichter zu machen.“ (MA II Vorrede 4) In diesem Zugleich von Zwang und Befreiung, in das ihn die Verantwortung fr seine Aufgabe versetzte, erfuhr Nietzsche das Tragische: „es giebt einen Willen zum Tragischen und zum Pessimismus, der das Zeichen ebensosehr der Strenge als der Strke des Intellekts (Geschmacks, Gefhls, Gewissens) ist.“ Der Wille zum Tragischen nahm ihm die Furcht davor, ließ es ihn mit dem „grossen Feind“ aufnehmen: „Man frchtet, mit diesem Willen in der Brust, nicht das Furchtbare und Fragwrdige, das allem Dasein eignet; man sucht es selbst auf. Hinter einem solchen Willen steht der Muth, der Stolz, das Verlangen nach einem g r o s s e n Feinde.“ Den großen Feind sah er nun nicht mehr in Wagner, sondern im Widerstand gegen die Forderungen der Aufgabe selbst, die sich ihm in seiner „pessimistischen Perspektive von Anbeginn“ gestellt habe: „Bis zu diesem Augenblick halte ich an ihr fest, und, wenn man mir glauben will, ebensowohl f r mich, als, gelegentlich wenigstens, g e g e n mich …“ (MA II Vorrede 7) EH wird Nietzsche mit der „Grçsse [s]einer Aufgabe“ einleiten (EH Vorwort 1) und dann vom „S c h i c k s a l der Aufgabe“ sprechen, die er sich zeitweilig verbergen, die er vergessen musste, um sie aushalten zu kçnnen (EH klug 9). Seine Aufgabe hielt ihn nicht nur am Leben, sie verlangte auch den Einsatz seines Lebens.872 872 Vgl. 2.1., 2.4., 5.3.1., 6.1.2., NSM 6, 8.2.2., 8.3.1., 13.2.2. – Betrachtet man das ,Hauptwerk‘, das Nietzsche lange angestrebt hatte, als die Aufgabe seines Lebens, so stellte sie sich Nietzsche nach dem Abschluss jedes seiner spteren Werke wieder neu, bis er sich zuletzt im Nachhinein dafr entschied, sie in AC vollbracht zu sehen. Auch das ,Hauptwerk‘ hatte die Struktur eines futurum exactum. Die Nietzsche-Forschung streitet noch darber, nicht ob, sondern wann und auf welche Weise sich Nietzsche gegen das systematische Hauptwerk entschied. Vgl. zuletzt Winteler, Nietzsches Antichrist als (ganze) Umwerthung aller Werthe, und Brobjer, The Place and Role of Der Antichrist.
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Im V. Buch der FW spricht Nietzsche von seiner Aufgabe nur in FW 381 („unsre Aufgabe ist und bleibt zuerst, uns nicht selber zu verwechseln“) und FW 382 („neben alle Art Feierlichkeit in Gebrde, Wort, Klang, Blick, Moral und Aufgabe wie deren leibhafteste unfreiwillige Parodie“) und auch hier nur nebenbei. Mit den Begriffen ,Zweck‘ und ,Ideal‘, denen ihr Begriff nahesteht, verknpft er sie nicht. Hat er es in FW 355 (10.4.) noch als Aufgabe fr Philosophen dargestellt, das Bekannte und Gewohnte „als fremd, als fern, als ,ausser uns‘ zu sehn“, so scheint nun „eine Welt so berreich an Schçnem, Fremdem, Fragwrdigem, Furchtbarem und Gçttlichem“ tatschlich entdeckt, die Aufgabe scheint erfllt. War sie also ein erreichbarer Zweck? Oder kann sie gar nicht erfllt werden, muss sie ein Ideal, vielleicht eine Illusion bleiben? Nietzsches unaufflliger bergang vom Begriff des Zwecks zu dem des Ideals in FW 382 spricht fr das Letztere. Verfolgt man diesen bergang, so erkennt man auch in Nietzsches Ideal die Dialektik des ,Grossen‘. Nachdem er noch unter dem Vorzeichen des Zweck-Begriffs vom „idealischen ,Mittelmeer‘“ gesprochen hat, erscheinen, in der Metaphorik der Seefahrt und des offenen Meers, „Eroberer und Entdecker des Ideals“, dann „wir Argonauten des Ideals“, und schließlich „ein andres Ideal“, „das Ideal eines Geistes, der naiv, das heisst ungewollt und aus berstrçmender Flle und Mchtigkeit mit Allem spielt, was bisher heilig, gut, unberhrbar, gçttlich hiess“. Ein neues Ideal tritt an die Stelle eines alten. Die Ideale wechseln, ein Ideal bleibt. Beim „idealischen ,Mittelmeer‘“ handelt es sich sichtlich noch um das alte Ideal. ,Mittelmeer‘ war im 19. Jahrhundert noch nicht der gngige Name fr das, was wir heute so nennen; man sagte ,Mittellndisches Meer‘, in wçrtlicher bersetzung von lat. ,mare mediterraneum‘.873 Die Griechen 873 Noch die 6. Aufl. von Meyers Großem Konversations-Lexikon (1905 – 1909) verweist unter „Mittelmeer“ (13.921) auf „Mittellndisches Meer“ (13.918 – 920). In Zedlers Universal Lexicon, Art. Mittellndisches Meer, 21.600 – 602, hier 600 (1739), wird die Bezeichnung „Mittelmeer“ noch gar nicht erwhnt. In Georges, Ausfhrliches lateinisch-deutsches Handwçrterbuch, 2.846, wird unter „mediterraneus, a, um“ vermerkt „– sptlat., mare m., das Mittell. Meer, Isid. orig. 13, 16.“ In Isidors Origines oder Etymologiae (7. Jh. n. Chr.) wird die Bezeichnung „mare mediterraneum“ so erklrt: „Mare Magnum est quod ab occasu ex Oceano fluit et in meridiem vergit, deinde ad septentrionem tendit; quod inde magnum appellatur quia cetera maria in conparatione eius minora sunt. Iste est et Mediterraneus, quia per mediam terram usque ad orientem perfunditur, Europam et Africam Asiamque disterminans.“ (Das Große Meer ist das, das von Westen her aus dem Ozean einfließt und sich nach Sden erstreckt, dann sich nach Norden richtet; das deshalb ,groß‘ genannt wird, weil die brigen Meere im Vergleich mit
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umspannten es, indem sie seine Ksten kolonisierten, die Rçmer beherrschten es, indem sie die Lnder rundum eroberten. So nannten sie es ,mare internum‘ oder ,mare nostrum‘, und erst nach dem Zusammenbruch des Rçmischen Reiches hieß es ,mare mediterraneum‘. Man hatte es stets als vom Land umgrenztes Binnenmeer verstanden, dessen Ksten man umfahren konnte, im Gegensatz zum unbegrenzten Ozean, zu dem der schmale Zugang durch die ,Sulen des Herkules‘, die Straße von Gibraltar, als gefhrlich und verboten galt und der umso mehr die Seefahrer des Altertums lockte – wie auf seine Weise Nietzsche.874 Er lsst mit Hilfe des noch ungewohnten Ausdrucks ,Mittelmeer‘ die ,Lnder‘ weg, ber die sich die griechisch-rçmische Kultur verbreitet hatte und die durch sie zu einer ,idealischen‘ Einheit geworden waren. Die idealische Einheit ihrer Kultur hatte sich von ihren angestammten Lndern gelçst, weil die Europer sie als universal idealisiert hatten. Das „idealische ,Mittelmeer‘“ war ihnen zu einem globalen Ideal geworden, in und als dessen Mitte sie sich sahen. Platon war, wie Nietzsche in M geschrieben hatte, aus der „ziemlich freisinnigen und neuerungsschtigen Stadt Athen“ drei Mal nach Sizilien aufgebrochen, um dem „gesammtgriechischen Mittelmeer-Staat“, der sich dort „vorzubereiten schien“, seine Gesetze zu geben, „die grossen und kleinen Bruche und namentlich die tgliche Lebensweise von Jedermann festzusetzen“. „Ein paar Zuflle weniger und ein paar andere Zuflle mehr“, der idealische Mittelmeer-Staat wre Wirklichkeit geworden, „und die Welt htte die Platonisirung des europischen Sdens erlebt“ (M 496). Aber andere Zuflle sorgten dafr, dass Platon, vor allem durch die platonistische Imprgnierung des Christentums, Europa im Ganzen viel nachhaltiger prgte, als es ihm durch einen Staat htte gelingen kçnnen, eben durch den Glauben an universale Ideen, die doch die einer begrenzten Kultur, einer philosophisch geprgten Kultur waren. Wie ,mittelmeerisch‘ diese Ideen waren, bewies noch Kant, als er mit seiner Kritik der reinen Vernunft „das Land der Wahrheit“ vermaß, dabei vorsichtige Kstenschifffahrt betrieb und vor dem „weiten und strmischen Ozeane“ warnte. An den transzendentalen Idealisten Kant (der zugleich Sensualist war) und die „immer idealischer ausgelegte Entsinnlichung“ der modernen Idealisten hat Nietzsche in FW 372 (17.2.2.) erinnert. Schon frher hat er vom „idealischen Zuschauer“ A. W. Schlegels gesprochen (GT 7, KSA 1.52), den „mehr oder weniger idealischen Masken“ des klassischen franzçsischen Dramas (MA I 221), der „rechten i d e a l i s c h e n S e l b s t s u c h t“ von Schwangeren, „immer zu sorgen und zu wachen und die Seele still zu ihm klein sind. Es ist auch insofern ein ,Mitten-im-Land‘, weil es sich mitten durch das Land bis zum Osten ergießt, Europa, Afrika und Asien voneinander abgrenzend.) Fr die lexikographischen Recherchen danke ich wiederum Andreas Rupschus. 874 Vgl. Gasser, „Columbus novus“, 151. Gasser verknpft das verlorengegangene „idealische ,Mittelmeer‘“ mit der seit Kopernikus verlorengegangenen Mitte der Welt.
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halten, dass unsere Fruchtbarkeit s c h ç n z u E n d e g e h e“ (M 552), den „rauscherzeugenden Mitteln und idealischen Peitschenschlgen“ von Kunst- und Musikabenden (FW 86) – und von seiner eigenen „idealischen Dachstuben-Einsamkeit“, „bei der alle jene nothwendigen und einfachsten Anforderungen meiner Natur, wie viele, viele Schmerzen sie mich gelehrt haben, zu ihrem Rechte kommen“ (Brief an Franz Overbeck, 2. Hlfte November 1880, KGB III/1, Bf.66).
Nietzsche verschiebt nun ,frçhlich‘ Schritt fr Schritt den Sinn des Ideals, ohne noch Gnsefßchen zu setzen. Ein „Eroberer und Entdecker des Ideals“ kçnnte noch ein Priester des christlich-asketischen Ideals vom Schlag eines Paulus oder Augustinus oder Luther sein; dafr spricht die folgende Aufreihung von „priesterlichen Naturen“ („insgleichen einem Knstler, einem Heiligen, einem Gesetzgeber, einem Weisen, einem Gelehrten, einem Frommen, einem Wahrsager, einem Gçttlich-Abseitigen alten Stils“; vgl. FW 351/8.2.). Doch ,entdecken‘ kann bei Nietzsche auch ,aufdecken‘ bedeuten und ,erobern‘ ,berwltigen‘. Dann werden „Eroberer und Entdecker des Ideals“ zu „Argonauten des Ideals“. Auf der Argos hatten sich vielfltigen Mythen zufolge die grçßten griechischen Heroen versammelt, zu einem klaren Zweck: um vom çstlichen Ende des Schwarzen Meers ein Widderfell, das Goldene Vlies, zurckzugewinnen. Aber dabei bekamen sie Lust auf Abenteuer, vollbrachten unterwegs mrchenhafte Heldentaten (widerstanden unter anderem auch den Sirenen: hier bertçnte sie Orpheus mit seinem Gesang), erlitten immer wieder Schiffbruch, durchfuhren dennoch viele andere Meere und Flsse und wagten sich auch auf den Ozean hinaus. Darin waren sie „muthiger vielleicht, als klug ist“. Die „Freude am X“ (FW Vorrede 3) scheint bei ihnen, wie nun bei den freiesten Geistern, selbst zum Bedrfnis und zur Not geworden zu sein; sie berspielte den ursprnglichen Zweck. Damit waren sie schon nahe an Nietzsches „andrem Ideal“, das dann ebenfalls, wie zu vermuten ist, außerordentliche Fhigkeiten, schwere Opfer und heroischen Mut fordert. Soweit das auch fr die gilt, die das asketische Ideal auf den Weg gebracht haben, liegt der Unterschied fr Nietzsche im „R e c h t“ auf das „andre Ideal“, das die Rangordnung nach dem Grad der Geistigkeit gibt (FW 368/8.4.3.; FW 373/13.2.2.). Der Grad der Geistigkeit aber steigt mit der frçhlichen Unbefangenheit und heiteren Distanz, die man auch noch zum Ernst der Wissenschaft und seiner Aufgabe in ihr gewonnen hat. Der Unterschied des „andren Ideals“ zum christlich-asketischen Ideal ist denn auch kein grundstzlicher, nur ein gradueller. Er liegt nicht darin, dass, sondern wie sehr man ein Ideal nçtig hat, wie schwer man zu ihm gençtigt und wie weit man von seiner Erfllung
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entfernt ist. Schwache, gebundene Geister bedrfen ,hoher‘, hoch ber ihnen stehender Ideale, an denen sie sich ihr Leben lang ausrichten und abarbeiten kçnnen, ohne sie je zu erreichen, und seien dies auch nur eine herrschende Moral und die sie vertretenden Autoritten. Aber auch ,hçhere‘, strkere, freier gewordene Geister durchleben schlechte Zeiten, in denen sie mde werden und sich nach einem Versteck, einer Heimat, nach Ruhe und Tod sehnen (FW 359/6.3.). Auch sie brauchen darum noch Ideale und Autoritten, an denen sie sich ausrichten kçnnen, wie in ZA die ,hçheren Menschen‘ an Zarathustra. Doch je erfahrener und freier Geister werden, je mehr Krankheiten und Gesundheiten des Leibes und der Seele sie durchlaufen haben, desto weniger werden sie Ideale nçtig haben, je strker das Mittel gediehen ist, um sie zu erfllen, desto geringer werden die Anstrengungen, ihm nher zu kommen. Die Zukunft, die sich auch die freiesten Geister vorhalten mssen, um sich in der Gegenwart orientieren zu kçnnen, wird dann immer krzer, und sie kçnnen sich, statt sich fr lange Zeit auf eine einzige Zukunft festzulegen, von Fall zu Fall andere und neue Ideale entwerfen. Das andre Ideal, schreibt Nietzsche, „luft vor uns her“, es luft mit freien Geistern mit wie ein Schatten, den sie selbst werfen (4.3.). Am krzesten aber wird der Schatten der Zukunft sein bei einem „Geist, der naiv, das heisst ungewollt und aus berstrçmender Flle und Mchtigkeit mit Allem spielt, was bisher heilig, gut, unberhrbar, gçttlich hiess“. Auch das Spiel hat seine Zukunft, aber eine ußerst kurze, es luft und soll einfach weiterlaufen, sein Zweck ist sein bloßes Andauern, es ist fast ganz frçhliche Gegenwart und braucht kein Ideal mehr, um Richtung und Halt zu gewinnen. Es ist der Idealzustand des freien Geistes, ein „neues Glck“ (FW Vorrede 3), in dem das Ideal sich aufhebt und berflssig wird. Aber gerade ein Glck hat seine Zeit, es ist nie von Dauer.875 Hier, im Glck des freien Geistes ber seine Entdeckung „eines noch unentdeckten Landes […], dessen Grenzen noch Niemand abgesehn hat“, lçst sich die Spannung von Mittel und Zweck und damit auch von Titel und Text in FW 382. Je geringer der Abstand zwischen Mittel und Zweck, Greifbarem und Erstrebtem, Wirklichkeit und Wnschbarkeit, 875 Dass Nietzsche zu einem herausragenden Philosophen des Spiels wurde (vgl. Corbineau-Hoffmann, Art. Spiel, 1386 f.), braucht hier nicht ausgefhrt zu werden. Vgl. u.v.a. Fink, Nietzsches Philosophie; Strong, Friedrich Nietzsche and the Politics of Transfiguration, 278 – 281; Abel, Nietzsche, 346 – 349; Mihailo Djuric´, Nietzsche und die Metaphysik, 148 – 187; Blondel, Nietzsche, le corps et la culture, passim; Wohlfart, Das spielende Kind; Aichele, Philosophie als Spiel, und dazu Hetzel, Spiel ohne Grenzen. Neue Studien zu Nietzsches Paizismus.
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desto geringer wird das Bedrfnis nach Illusionen, um ihn zu berbrcken. Die Anstrengung wird leicht, nicht mehr sprbar. „Die Heiterkeit“, wird Nietzsche in der Vorrede zu GM schreiben, oder „d i e f r ç h l i c h e W i s s e n s c h a f t – ist ein Lohn: ein Lohn fr einen langen, tapferen, arbeitsamen und unterirdischen Ernst, der freilich nicht Jedermanns Sache ist.“ (GM Vorrede 7) Doch dieser „Lohn“ kommt, so Nietzsche in FW 382, „ungewollt“, als Glck. Und dennoch bleibt das andre, neue Ideal ein Ideal. Eben weil es glcklich macht, entfaltet es seine eigene Dynamik. Denn nun sind „unsre Neugierde ebensowohl wie unser Besitzdurst ausser sich gerathen“ und „durch Nichts mehr zu ersttigen“. Wie das hohe, ferne und schwere asketische Ideal in der dauernden Askese verlangt das nahe und leichte Ideal der furchtlosen Geister auch dann, wenn es erfllt ist, nach neuer Erfllung, es perpetuiert sich selbst. Schon bald, in GM II 24, wird Nietzsche wieder ein deutliches Fragezeichen an alle Ideale setzen und sich dabei auch auf FW 382 zurckbeziehen. Er fragt im bergang von der II. zur III. Abhandlung noch einmal auch nach seinem eigenen Ideal: Wird hier eigentlich ein Ideal aufgerichtet oder eines abgebrochen?‘ so fragt man mich vielleicht … Aber habt ihr euch selber je genug gefragt, wie theuer sich auf Erden die Aufrichtung j e d e s Ideals bezahlt gemacht hat? Wie viel Wirklichkeit immer dazu verleumdet und verkannt, wie viel Lge geheiligt, wie viel Gewissen verstçrt, wie viel ,Gott‘ jedes Mal geopfert werden musste? Damit ein Heiligthum aufgerichtet werden kann, m u s s e i n H e i l i g t h u m z e r b r o c h e n w e r d e n: das ist das Gesetz – man zeige mir den Fall, wo es nicht erfllt ist! … (GM II 24)
Auch Nietzsches andres Ideal msste sich danach unantastbar machen wollen. Darin liegt ein Moment seiner Tragik (20.1.4.). Womit es aber zunchst und zumeist zu tun hat, ist das alte, schwere, ernste asketische Ideal, dies will Nietzsche ,zerbrechen‘, dies ist der ,grosse Feind‘. Weil es bestndig verlockt, sich ihm zu ergeben, fordert es das andre Ideal des kritischen Philosophen heraus, der Verlockung nicht zu erliegen, sondern, wenn immer es sich aufdrngt, der Kritik zu unterwerfen und dabei ihre kritischen Krfte weiter zu strken. Das Ideal eines freien, reichen und freigebigen Geistes ist zuletzt, kein Ideal nçtig zu haben. Doch wie man als Wissenschaftler eine berzeugung braucht, um alle andern berzeugungen zu opfern (FW 344/5.1.2.), als freier werdender Geist einen Glauben, um nicht seinen Bedrfnissen nach Glauben zu erliegen (FW 347/7.2.1.; FW 359/6.3.) und noch als „Muthigster“ im Denken zu Zeiten Gefahr luft, den Mut zu seinen Gedanken zu verlieren (GD Sprche 2/NSM 6), brauchen auch freieste Geister noch ihr andres, neues Ideal, um die immer
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neuen Versuchungen des alten Ideals immer neu zu berwinden, und machen es zu ihrem „Heiligthum“. So ist das „andre Ideal“ durchaus ein Ideal wie andere, in Nietzsches dialektischem Sinn des ,Großen‘ aber ein Ideal im Umgang mit dem Ideal, ein großes Ideal. „Das Hçchste, was auf Erden erreicht werden kann“, der „Cynismus“ im standhaften Misstrauen gegen das herrschende moralische Ideal um der eigenen Verantwortlichkeit willen, ist nur „hier und da“ zu erreichen (EH Bcher 3). Auch er hlt sich nur in Gestalt eines Ideals, eines andren, selbstbezglichen, großen Ideals. 20.1.3. Stelldichein von Großem: der große Ernst und die große Entscheidung Nietzsche hat seine Formel von der „g r o s s e n G e s u n d h e i t“ nur an wenigen, aber stets prominenten Stellen gebraucht, dort immer gesperrt setzen lassen und mit weiterem Großem im dialektischen Sinn verbunden: außer in der neuen Vorrede zu MA I, wo er sie zusammen mit der „g r o s s e n L o s l ç s u n g“ eingefhrt hat (MA I Vorrede 3 u. 4), auch in FW 382, wo er ihr „d e n g r o s s e n E r n s t“ zur Seite stellt, in GM II 24, wo er sie mit dem „e r l ç s e n d e n Menschen der grossen Liebe und Verachtung“ und mit der „grossen Entscheidung“ verbinden wird, und in EH, wo er FW 382 im Ganzen wçrtlich wiederholen wird (EH ZA 2). In FW 382 spielt jedoch noch weiteres Großes mit, außer dem großen Ideal auch schon die große Entscheidung. Indem Großes, Selbstbezgliches, seinen Gegensatz einschließt, stabilisiert es sich gerade in Auseinandersetzungen mit ihm und schafft sich eigenen, berlegenen Halt. Auf diese Weise kçnnen Prozesse wie jene „starken, runden, sicheren Geister“ nicht nur „fest auf sich selber sitzen“, sondern ihren Halt in sich bestndig steigern (FW 345/6.1.1.).876 In solchem Großem kann auch der Prozess der unbefangenen, befreienden, ,frçhlichen‘ Infragestellung alles scheinbar vorgegebenen, an sich bestehenden, metaphysischen Halts in der Orientierung, die frçhliche Wissenschaft, zum Schluss kommen. Nietzsche beschließt das V. Buch der FW mit einem Stelldichein von solchem Großem. Von Großem war fast in jedem Aphorismus des V. Buchs der FW die Rede gewesen, hufiger noch, wie zu erwarten, im quantitativen Sinn („grosse Kindereien“, FW 345; „halten grosse Stcke auf die Logik“, FW 876 Im Sinn von Niklas Luhmanns Systemtheorie werden sie zu Systemen, die sich in wechselnden Umwelten selbst erhalten und ihren Halt autopoietisch steigern kçnnen.
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348; „grosser und kleiner Kampf“ ums Dasein, FW 349; „grosse Nothdurft“, FW 351; „grosse grndliche Verderbniss“, FW 354; die „grosse Sicherheit der natrlichen Wissenschaften“, FW 355; usw.) und im emphatisch wertenden, qualitativen Sinn („grosse L e i d e n s c h a f t des Erkennenden“, FW 351; „die grossen ,Baumeister‘“, FW 356; „letzte grosse wissenschaftliche Bewegung“, FW 357; „alle grossen modernen Knstler“, FW 366; ein „Bestndig-Schaffender, eine ,Mutter‘ von Mensch, im grossen Sinne des Wortes“, FW 369; usw.). Mit dem Großen im dialektischen Sinn, mit dem er das V. Buch nun schließt, hat Nietzsche in der neuen Vorrede zu FW („Erst der grosse Schmerz ist der letzte Befreier des Geistes, als der Lehrmeister des g r o s s e n Ve r d a c h t e s“, FW Vorrede 3) und im Auftakt des V. Buchs selbst („grçsstes neueres Ereigniss“, FW 343; „grosse Form des Lebens“, FW 344; „grosse Probleme“, die „die g r o s s e L i e b e“ verlangen, FW 345) auch begonnen. Es umschließt das Buch. Nietzsche antwortet auf das „grçsste neuere Ereigniss, – dass ,Gott todt ist‘“, mit „d e r g r o s s e n G e s u n d h e i t“ und „d e m g r o s s e n E r n s t“. Auch der Begriff des Ernstes hat bei Nietzsche seine Geschichte. Das ursprngliche Vorwort zu GT an Richard Wagner, das er in der Neuausgabe wegfallen ließ, betonte noch ganz den Ernst: Wagner solle und werde sehen, dass „der Verfasser etwas Ernstes und Eindringliches zu sagen hat“. Die Schrift, die „in den Schrecken und Erhabenheiten des eben ausgebrochnen Krieges“ von 1870/71 konzipiert worden sei (an dem Nietzsche als Sanitter teilgenommen hatte), sei dennoch nicht durch den „Gegensatz von patriotischer Erregung und aesthetischer Schwelgerei, von tapferem Ernst und heiterem Spiel“ gekennzeichnet. Es gehe vielmehr um das „ernsthaft deutsche Problem“, „das von uns recht eigentlich in die Mitte deutscher Hoffnungen, als Wirbel und Wendepunkt hingestellt wird.“ Es mçge „anstçssig sein, ein aesthetisches Problem so ernst genommen zu sehn“. Doch die Kunst sei hier mehr „als ein lustiges Nebenbei, als ein auch wohl zu missendes Schellengeklingel zum ,Ernst des Daseins‘“, und die Schrift sei „Ernsthaften“ zur Belehrung darber gewidmet, dass sie, die Kunst, die „hçchste Aufgabe und die eigentlich metaphysische Thtigkeit“ des Lebens sei, im Sinn Schopenhauers und eben Wagners (GT, Vorwort an Richard Wagner). Zugleich rhmt Nietzsche jedoch am Schluss von WL, vor Wagner verborgen, das „Spielen mit dem Ernste“. Er stellt im Blick auf die „gespenstischen Schemata, die Abstraktionen“, einerseits, die metaphorischen „Intuitionen“ der Sprache andererseits als deren Schçpfer den „vernnftigen Menschen“ und den „intuitiven Menschen“ „neben einander“ und fhrt beim letzteren das Motiv der Frçhlichkeit und des Spiels mit dem Ernst ein. Der Vernnftige lebe „in Angst vor der Intuition“, der Intuitive, Knstlerische „mit Hohn ber die Abstraction“: Beide begehren ber das Leben zu herrschen: dieser, indem er durch Vorsorge, Klugheit, Regelmssigkeit den hauptschlichsten Nçthen zu begegnen weiss, jener indem er als ein ,berfroher Held‘ jene Nçthe nicht sieht und nur das
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zum Schein und zur Schçnheit verstellte Leben als real nimmt. Wo einmal der intuitive Mensch, etwa wie im lteren Griechenland seine Waffen gewaltiger und siegreicher fhrt, als sein Widerspiel, kann sich gnstigen Falls eine Kultur gestalten, und die Herrschaft der Kunst ber das Leben sich grnden; jene Verstellung, jenes Verlugnen der Bedrftigkeit, jener Glanz der metaphorischen Anschauungen und berhaupt jene Unmittelbarkeit der Tuschung begleitet alle Aeusserungen eines solchen Lebens. Weder das Haus, noch der Schritt, noch die Kleidung, noch der thçnerne Krug verrathen, dass die Nothdurft sie erfand; es scheint so als ob in ihnen allen ein erhabenes Glck und eine olympische Wolkenlosigkeit und gleichsam ein Spielen mit dem Ernste ausgesprochen werden sollte. (WL 2, KSA 1.888 f.) In dem „geheim gehaltenen Schriftstck“ (MA II Vorrede 1) zeichnen sich schon die Unterscheidungen ab, die die ,frçhliche Wissenschaft‘ leiten werden: die Wissenschaft, die Nçte des alltglichen Lebens und das Trachten „nach mçglichster Freiheit von Schmerzen“ auf der einen Seite, die Kunst, das berreiche Leben, „eine fortwhrend einstrçmende Erhellung, Aufheiterung, Erlçsung“, die anflliger und sensibler fr Leiden macht, auf der andern (WL 2, KSA 1.889).877
Das Nebeneinander von Ernst und Spiel ist nur im Spiel mit dem Ernst verknpft; der Ernst dagegen kann mit dem Spiel nichts anfangen, es nicht ernstnehmen.878 Es ist die Kunst, die sich selbst als Spiel ernst nimmt; ein Thema, das sich durch die folgenden Aphorismen-Bcher zieht. Unter den Philosophen bedurfte es eines Platon, um auch mit dem Ernst spielerisch umzugehen (vgl. MA I 628). Fr Nietzsches Zarathustra war die unbe877 Vgl. Ponton, Nietzsche – philosophie de la lgret, 62 – 65, in Bezug zunchst auf Wagner, dann, unter Verweis auf Friedrich Schlegel, auf Ironie und Parodie. 878 Baecker, Ernste Kommunikation, zeigt im Anschluss an Niklas Luhmann, wie das Spiel mit dem Ernst und das Ernstnehmen dieses Spiels notwendige Bedingung jeder Kommunikation ist. Ein Spiel mit dem Ernst ist die Form jeder Kommunikation, sofern, wie Nietzsche es mit der Philosophie der Moderne voraussetzt, der Inhalt, das Gemeinte ungewiss bleibt, weil das Bewusstsein des Anderen undurchschaubar ist, er es also immer anders meinen kann, als man selbst denkt. So hat man stets zu unterscheiden, womit es dem andern in der Sache ernst ist und welche Form er gebraucht, um sie mitzuteilen und plausibel zu machen. Dazu sei, so Baecker, ein „,neuer‘ Ernst“, eine „Unterscheidung zwischen Ernst erster Ordnung und Ernst zweiter Ordnung“, nçtig (393). Er beruft sich dabei ausdrcklich auf FW 382: „Dieser Ernst ist auf radikale Weise paradox. Man kann ihn nicht in Anspruch nehmen und ist ihm unvermeidbar ausgeliefert. Man kann sich nicht auf ihn berufen, darf sich jedoch immer auf ihn verlassen – vorausgesetzt, man widersteht der Neigung, ihn selbst zu kommunizieren.“ (401) Im Spiel der Kommunikation werden die Unterscheidungen erkennbar, die zur Unterscheidung von etwas gebraucht werden, so dass man selbst frei wird, andere Unterscheidungen zu gebrauchen. Da davon aber abhngt, wie die weitere Kommunikation verluft und ob sie berhaupt weiterluft oder man sich enttuscht oder empçrt abwendet, ist nichts so ernst wie dieses Spiel (402 f.).
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fangene Frçhlichkeit des spielenden Kindes, das, im Anklang an Heraklits Fragment B 52, in aller Unschuld die Weltherrschaft ausbt, die hçchste der „drei Verwandlungen“ des Geistes (ZA I, KSA 4.31). Sie klingt nun zum Abschluss des V. Buchs der FW mit jenem „Ideal eines Geistes, der naiv, das heisst ungewollt und aus berstrçmender Flle und Mchtigkeit mit Allem spielt, was bisher heilig, gut, unberhrbar, gçttlich hiess“, noch einmal an, um dann die PV einzuleiten: „Welt-Rad, das rollende, / Streift Ziel auf Ziel: / Noth – nennt’s der Grollende, / Der Narr nennt’s – Spiel … // Welt-Spiel, das herrische, / Mischt Sein und Schein“ (An Goethe, KSA 3.639). Das Spiel, notierte sich Nietzsche zuvor, ist das „Ideal des U mit Kraft berhuften“ (N 1885/86, 2[130], KSA 12.129 / W I 8, S. 89). Nietzsche selbst fiel das Spiel mit dem Ernst sichtlich nicht leicht. Noch in seinen Briefen aus den Jahren 1887 und 1888 betont er stets seinen Ernst – ohne das Spiel.879 Er entschuldigt sich geradezu fr eine gelegentliche Heiterheit. So schreibt er an Heinrich Kçselitz: „Lieber Freund, vergeben Sie mir diesen vielleicht zu heiteren Brief“, in dem er unter anderem von Brandes’ Vorlesungen ber ihn und eine „glnzende Auffhrung von Carmen“ berichtet hatte: „aber nachdem ich, Tag fr Tag, ,W e r t h e u m g e w e r t h e t‘ habe und s e h r e r n s t zu sein Grund hatte, giebt es eine gewisse F a t a l i t t und Unvermeidlichkeit zur H e i t e r k e i t. Ungefhr wie bei einem Begrbniß …“, das man mit einem frçhlichen Leichenschmaus beschließt.880 Der Ernst des geplanten „Hauptwerks“ soll dadurch nicht beeintrchtigt werden. So heißt es im Brief an Nietzsches Verleger zur GD: „Ich habe es nçthig, sie jetzt noch herauszugeben, weil wir Ende nchsten Jahres wahrscheinlich daran gehen mssen, mein Hauptwerk die U m w e r t h u n g a l l e r W e r t h e zu drucken. Da dasselbe einen sehr strengen und ernsten Charakter hat, so kann ich ihm nichts Heiteres und Anmuthiges hinten nach schicken. Andrerseits muß ein Zeitraum z w i s c h e n meiner letzten Publikation und jenem e r n s t e n Werke liegen. Auch chte ich nicht, daß es unmittelbar auf die bermthige farce gegen Wagner folge.“881 Gegenber Kçselitz ergnzt er: „weil ich eine Zwischenzeit brauche bis zur Verçffentlichung der Umwerthung (– diese mit einem r i g o r o s e n Ernst und hundert Meilen weit abseits von allen Toleranzen und Liebenswrdigkeiten)“.882 Selbst „die bermthige farce gegen Wagner“ sollte Jacob Burckhardt mçglichst ernst nehmen: „Hiermit nehme ich mir die Freiheit, Ihnen eine kleine sthetische Schrift vorzulegen, die, wie sehr auch immer mitten im Ernst meiner Aufgaben als E r h o l u n g gemeint, doch ihren Ernst fr sich hat. Sie werden sich hierber nicht einen Augenblick durch den
879 Vgl. Brief an Franziska Nietzsche, 18. Oktober 1887, KGB III/5, Bf.929; Brief an Heinrich Kçselitz, 7. April 1888, KGB III/5, Bf.1013. 880 Brief an Heinrich Kçselitz, 17. Mai 1888, KGB III/5, Bf.1035. 881 Brief an Constantin Naumann, 7. September 1888, KGB III/5, Bf.1103. Vgl. die Bekrftigung im Brief an Naumann, 18. September 1888, KGB III/5, Bf.1121. 882 Brief an Heinrich Kçselitz, 12. September 1888, KGB III/5, Bf.1105.
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leichten und ironischen Ton irrefhren lassen.“883 Gegenber Franz Overbeck nennt er auch GD eine Schrift von „b e d i n g t e r Lustigkeit“,884 und NW sollte „der E r n s t “ zu der „kleinen Posse“ WA werden.885 Auch im zur Verçffentlichung bestimmten AC hat Nietzsche auf seinem Ernst bestanden. Seine Leser, schreibt er dort drohend im Vorwort, mssen „rechtschaffen sein in geistigen Dingen bis zur Hrte, um auch nur meinen Ernst, meine Leidenschaft auszuhalten.“ (AC, Vorwort) Von Frçhlichkeit ist hier nicht mehr die Rede.
In FW 327 hatte Nietzsche den Ernst des bisherigen philosophischen und wissenschaftlichen Denkens angegriffen, weil er alle „,frçhliche Wissenschaft‘“ ausschließe, nach seinen spteren Begriffen also den ,kleinen‘ Ernst. Nun, nach FW 382, schließt „d e r g r o s s e E r n s t“ die Frçhlichkeit der frçhlichen Wissenschaft ein und steigert sich durch sie, und das V. Buch der FW kann damit zu dem ihm angemessenen Abschluss kommen. Ernst wird es, hatten wir einleitend (2.1.) gesagt, wenn es zur Entscheidung kommt, und eine Frçhlichkeit, die keinen Ernst aufkommen lsst, vereitelt darum Entscheidungen. Der große Ernst dagegen msste zu Entscheidungen fhig sein, nun aber zu weitergehenden, weniger gebundenen, freieren. Entscheidungen sind an Kriterien gebunden, denen sie folgen, und an Alternativen, die sich ihnen bieten. Freiere, frçhlichere Entscheidungen mssten sich von solchen vorgebenen Kriterien und Alternativen lçsen und auch ber sie noch entscheiden kçnnen. Sie wren dann ihrerseits ,grosse Entscheidungen‘. Als Nietzsche in GM II 24 auf die „g r o s s e G e s u n d h e i t“ zurckkommt, die den großen Ernst ermçglicht, und dabei auch die „grosse Entscheidung“ einfhrt, besttigt er das. Die große Entscheidung, heißt es dort, mache „den Willen wieder frei“: sie entscheidet auch noch ber die Voraussetzungen von Entscheidungen, die Bedingungen der Entscheidbarkeit. Sie schafft dadurch, so Nietzsche weiter, eine neue „Vertiefung i n die Wirklichkeit“, eine „E r l ç s u n g dieser Wirklichkeit“, „ihre Erlçsung von dem Fluche, den das bisherige Ideal auf sie gelegt hat.“ Die Kraft zur Entscheidung ber die Bedingungen der Entscheidbarkeit selbst ist die denkbar freieste Geistigkeit, die Freiheit zur Umwertung aller Werte. Nietzsche traut sie vorerst niemandem zu, erwartet sie, wie den dionysischen Pessimismus (FW 370/16.6.), vom „Menschen der Zukunft“ (GM II 24). Große Gesundheit, großer Ernst und große Entscheidung sind groß im dialektischen Sinn, wie Nietzsche ihn versteht, nicht dialektisch im Hegelschen Sinn. In ihrer Selbststeigerung durch die Einbeziehung ihres 883 Brief an Jacob Burckhardt, 13. September 1888, KGB III/5, Bf.1108. 884 Brief an Franz Overbeck, 18. Oktober 1888, KGB III/5, Bf.1132. 885 Brief an Constantin Naumann, 15. Dezember 1888, KGB III/5, Bf.1191.
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Gegensatzes wird das Aufgehobene im Aufhebenden nicht unwirksam.886 Krankheit und Gesundheit, Ernst und Frçhlichkeit, Entscheidung und Entscheidbarkeit verschwinden nicht ineinander, sondern bleiben im befreiten Spiel miteinander Gegenstze, die einander weitertreiben. Nietzsche drckt das sehr einfach mit jenem schlichten „neben“ aus („neben den ganzen bisherigen Erden-Ernst“). Auch wenn das neue, andre, große Ideal sich am alten Ideal als großem Feind steigert und strkt, bleibt das alte doch neben ihm bestehen und wirkt weiter, in weniger freien Geistern, die den freieren umso mehr zusetzen kçnnen. Nietzsche vermittelt die Ideale wohl miteinander, aber versçhnt sie nicht. Denn gerade in ihrem Nebeneinander erçffnen sie den Spielraum, in dem auch noch der freieste Geist in schlechten Zeiten, die es auch ihm aufnçtigen, zwischen dem alten und dem neuen oszillieren kann. Nietzsches Dialektik bleibt in der Zeit. 20.1.4. Tragçdie und Parodie Die schriftstellerische Form des „neben“ ist, so Nietzsche selbst, die „Parodie“. Will man etwas parodieren, bleibt man an die Vorgaben der Vorlage gebunden. Die Parodie ist von der Vorlage erst im bloßen „neben“ frei. Eine paq\d_a ist wçrtlich eine ,Nebenmusik‘, paq\de?m bedeutet ,ein Lied entstellt singen‘, anders, auf eine berraschende Weise hçren lassen, die nicht schon der Vorlage zu entnehmen ist; in frçhlichen Variationen wird der Sinn der Vorlage verschoben. Die ganze ,frçhliche Wissenschaft‘ ist in diesem Sinn eine „unfreiwillige Parodie“. Und da das andre Ideal fr seine andren ,Tçne‘ auch andre ,Ohren‘ voraussetzt, andre Menschen, die in es einstimmen, mit ihm mitgehen, mittanzen und dazu anders hçren kçnnen mssen, ist es die „leibhafteste unfreiwillige Parodie“ des alten. Die Frçhlichkeit ist die leibhafteste unfreiwillige Parodie des Ernstes. Kommt neben ihm Frçhlichkeit auf, verliert sich der Ernst, fllt sein angestrengtes Pathos in sich zusammen. Das gilt auch umgekehrt: Wenn Frçhlichkeit herrscht und Ernst eintritt, weil etwas Besorgniserregendes geschehen ist, das eine Entscheidung erzwingt, verstummt die Frçhlichkeit oder wird schal. Frçhlichkeit und Ernst sind Stimmungen, die sich ungewollt verbreiten und durcheinander verstrken. Will jemand ernst bleiben oder werden, wo alle frçhlich sind, steigert das deren Frçhlichkeit noch, will jemand frçhlich sein, wo alle ernst sind, steigert das deren Ernst 886 Vgl. Stegmaier, Die Substanz muss Fluktuanz werden. Nietzsches Aufhebung der Hegelschen Dialektik.
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noch. Welche Stimmung die Oberhand gewinnt, hngt meist von Zufllen ab (2.1.). Die Stimmungen des Ernstes und der Frçhlichkeit bestimmen, wie etwas aufgenommen wird, ob man eine Entscheidung fllt oder sich noch Alternativen offenhlt. Sie sind ausschlaggebend fr das Handeln, aber willentlich schwer zu beeinflussen und in diesem Sinn leibhaft. Sie machen Seele und Geist am offensichtlichsten zu ,Werkzeugen des Leibes‘. Nietzsche fhrt immer wieder Auseinandersetzungen unter Stimmungen und unfreiwillige Stimmungswechsel vor. JGB zum Beispiel erçffnet er mit einer parodistischen Rede ber den Ernst im Glauben an die Wahrheit, mit der es dann jedoch ernst wird. Er parliert zunchst ausgelassen von der Wahrheit als einem Weib, das dogmatische Philosophen mit „schauerlichem Ernst“ und „linkischer Zudringlichkeit“ zu erobern versuchen, um sich dann selbst ins Wort zu fallen: „Ernstlich geredet …“ (JGB Vorrede). Spter spottet er ber die Illusionsbereitschaft auch der Wissenschaftler (JGB 24) und setzt dann fort: „Nach einem so frçhlichen Eingang mçchte ein ernstes Wort nicht berhçrt werden: es wendet sich an die Ernstesten.“ Sie mçgen sich „vor dem Martyrium“, „vor dem Leiden ,um der Wahrheit willen‘“ hten, denn – erneute Wendung – dies vertreibe den „philosophischen Humor“ (JGB 25/2.1.). Bei Philosophen, die meist hinreichend ber Ernst verfgen, ist auch die Kraft zur Frçhlichkeit, zur Parodie und zur Selbstparodie eine Frage der Rangordnung, der Vornehmheit und des Geschmacks, die nicht lehrbar sind (vgl. JGB 43 u. ç.). Ein Philosoph nach Nietzsches Geschmack aber braucht beides, „jenes cht philosophische Beieinander einer khnen ausgelassenen Geistigkeit, welche presto luft, und eine dialektische Strenge und Nothwendigkeit, die keinen Fehltritt thut“. Doch dies sei „den meisten Denkern und Gelehrten von ihrer Erfahrung her unbekannt und darum, falls Jemand davon vor ihnen reden wollte, unglaubwrdig.“ Hier sei „Nichts mehr ,willkrlich‘“. Am ehesten htten Knstler dafr „eine feinere Witterung“, weil sie „nur zu gut wissen, dass gerade dann, wo sie Nichts mehr ,willkrlich‘ und Alles nothwendig machen, ihr Gefhl von Freiheit, Feinheit, Vollmacht, von schçpferischem Setzen, Verfgen, Gestalten auf seine Hçhe kommt, – kurz, dass Nothwendigkeit und ,Freiheit des Willens‘ dann bei ihnen Eins sind.“ Schon dies zu sehen, sei eine Frage der „Rangordnung seelischer Zustnde, welcher die Rangordnung der Probleme gemss ist“. Erst sie erlaubt, nicht einfach allgemeinen Normen zu folgen, sondern allem, was geschieht, auf angemessene Weise gerecht zu werden, also eine „grosse Gerechtigkeit“, auch sie im dialektischen Sinn (JGB 213). So kann der Ernst, etwa bei einem Mitleiden, das den Menschen „verkleinert“, gefhrlicher sein „als irgend welche Leichtfertigkeit“ (JGB 225). Probleme kçnnen aber auch ungeteilten Ernst verlangen. Auch dafr gibt Nietzsche in JGB ein Beispiel. Nach einer „heiteren Deutschthmelei“, dem Vorschlag, „die strkeren und bereits fester geprgten Typen des neuen Deutschthums“, „zum Beispiel der adelige Offizier aus der Mark“, sollten sich mit den Juden verschwgern, die „ohne allen Zweifel die strkste, zheste und reinste Rasse“ seien, „die jetzt in Europa lebt“, kommt Nietzsche entschlossen auf seinen „E r n s t“ zurck, „das ,europische Problem‘, wie ich es verstehe, […] die Zchtung einer neuen ber Europa regierenden Kaste.“ (JGB 251)
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Mit dem Nebeneinander von Ernst und Frçhlichkeit hat Nietzsche in der Komposition seines Werkes im Ganzen gespielt. Das gilt sichtlich fr die UB, fr die frhen Aphorismen-Bcher, fr GD, fr das spte Nebeneinander fr WA und NW, insbesondere aber fr FW, die mit den ersten IV und dem V. Buch ZA umgreift. In FW 382 hat Nietzsche ZA und FW noch einmal auf irritierend komplexe, offenbar bewusst verrtselnde Weise aufeinander bezogen, miteinander kontextualisiert: • Am Ende des IV. Buchs der FW, im berhmten Aphorismus FW 342, hat er ZA als Tragçdie angekndigt: unter der berschrift „I n c i p i t t r a g o e d i a“ erscheint der Text des ersten Abschnitts von „Zarathustra’s Vorrede“. Nun, am Ende des V. Buchs, in FW 382, wiederholt Nietzsche die Formel „I n c i p i t t r a g o e d i a“ in deutscher bersetzung: „die Tragçdie b e g i n n t …“ und sperrt das „b e g i n n t …“. Damit scheint er den bergang zu ZA nicht nur zu besttigen, sondern noch zu bestrken, und das war auch der ursprngliche Plan (2.4.). Dennoch lag ZA inzwischen lange zurck, und es war nicht mehr das Werk ZA, das nun beginnen sollte. Andererseits wird Nietzsche auch die „Geschichte eines Irrthums“ aus GD „Wie die ,wahre Welt‘ endlich zur Fabel wurde“ mit einem „INCIPIT ZARATHUSTRA“ beschließen und in EH den Aphorismus FW 382 innerhalb der Abschnitte zu ZA zitieren. Danach kçnnte ZA doch, in anderer Gestalt, beginnen. • Zusammen mit dem Stichwort „Parodie“ verweist die Formel „I n c i p i t t r a g o e d i a“ / „die Tragçdie b e g i n n t …“ auch auf den Schluss des ersten Abschnitts der neuen Vorrede zu FW: „,Incipit t r a g o e d i a‘ heisst es am Schluss dieses bedenklich-unbedenklichen Buches: man sei auf seiner Hut! Irgend etwas ausbndig Schlimmes und Boshaftes kndigt sich an: incipit p a r o d i a, es ist kein Zweifel…“ Nietzsche setzt „,Incipit t r a g o e d i a‘“ als Zitat in Gnsefßchen, verschiebt aber zugleich seinen Sinn in ein „incipit p a r o d i a“. Was ehemals als Tragçdie angekndigt war, also ZA, kçnnte inzwischen, und das kann nur heißen: durch JGB und das V. Buch der FW, zur Parodie geworden sein. Zur neuen Vorrede fr FW notierte sich Nietzsche in der Tat, die ersten IV Bcher, aus denen sie zunchst noch bestand, seien als „Vorbereitung zu Zarathustras naiv-ironischer Stellung zu allen heiligen Dingen“ gedacht gewesen (N 1885/86, 2[166], KSA 12.150 / W I 8, S. 63 / 3.3.). Spter notiert er: „Zarathustra, sich bestndig parodisch zu allen frheren Werthen verhaltend, aus der Flle heraus.“ (N 1886/87, 7[54], KSA 12.313) Danach wre ZA
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selbst eine Parodie gewesen, und dafr spricht insbesondere der IV. Teil mit seinem Eselsfest.887 Die „naiv-ironische Stellung zu allen heiligen Dingen“ htten dann JGB und das V. Buch der FW nur fortgefhrt. Sie wren dann alle Parodien auf den heiligen Ernst. Soweit ZA im ernsten Pathos des ,Untergangs‘ des Protagonisten aber doch auch eine Tragçdie bleibt, wren sie auch Parodien auf eine Tragçdie und diese, also ZA, das „Opfer“, das sich der von seiner Romantik Genesene, zur „,frçhlichen Wissenschaft‘“ Befreite als „parodischen Stoff“ gesucht hat (FW Vorrede 1). Sofern ZA seinerseits auch eine Parodie ist, handelte es sich dann um Parodien auf eine Parodie, und darum wren sie vielleicht auch wieder ernstzunehmen. Dann kçnnte auch das „die Tragçdie b e g i n n t …“ am Ende von FW 382 parodistisch gemeint sein, und tatschlich begnne nun die Parodie. Doch sie htte dann ja lngst mit ZA, JGB und dem V. Buch der FW begonnen. Der „Schluss dieses bedenklich-unbedenklichen Buches“, von dem Nietzsche in der neuen Vorrede zu FW spricht, kçnnte sowohl der des IV. als auch der des V. Buchs sein, sofern sie beide die Formel „I n c i p i t t r a g o e d i a“ / „die Tragçdie b e g i n n t …“ bringen. In der neuen Vorrede ist jedoch nur noch „t r a g o e d i a“ bzw. „p a r o d i a“ gesperrt, das „incipit“ tritt zurck. So kçnnte es sich auch nur noch um den bergang der „t r a g o e d i a“ in eine „p a r o d i a“ handeln, und es wre dieses bergehen-Kçnnen der Tragçdie in die Parodie und umgekehrt, das nun beginnt, das Nebeneinander und die Untrennbarkeit beider, das Oszillieren zwischen ihnen. Der Schluss von FW 382 betont aber dann wieder das „b e g i n n t …“. Tatschlich beginnt nach FW 382 mit FW 383 eine offenkundige Parodie, worauf die frçhlich, manchmal frech gestimmten, ebenfalls voller Parodien steckenden PV folgen. Doch auch FW 383 und die PV sind nicht ohne tragische Untertçne. Sie kçnnten nicht nur Parodien auf alles Heilige und nicht nur auf ZA, JBG und das V. Buch der FW, sondern auch eine Selbstparodie sein und damit eine Parodie auf den Parodisten, die wieder ernstzunehmen wre.
Die Nietzsche-Forschung ringt bis heute um eine Lçsung dieser Rtsel.888 Sie kçnnten Ausdruck des raffiniertesten Cynismus sein, des spoudaioc]koiom, mit dem die Kyniker sich in der Gesellschaft Distanz von der Gesellschaft verschafften:
887 Vgl. Salaquarda, Zarathustra und der Esel. 888 Fr seine Hilfe bei der Literaturrecherche danke ich Andreas Rupschus.
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„Der Ernst muß heiter, der Scherz ernsthaft schimmern.“889 – Pierre Klossowski, der den nicht nur schriftstellerischen, sondern auch philosophischen Sinn der Parodie bei Nietzsche entdeckt hat, hebt auf die, wie er schließt, notorische Zweideutigkeit, das Masken- und Rollenspiel Nietzsches, seine vielfachen Identitten und seine zwei Gçtter, Dionysos und den Gekreuzigten, ab. Er zitiert dabei hufig aus dem V. Buch der FW, geht auf FW 382 jedoch nicht nher ein. Er erwartete selbst den Vorwurf, „unter dem Vorwand, den Sinn der Parodie bei Nietzsche darzustellen, selbst eine Parodie auf Nietzsche zu schreiben.“890 – Jacques Derrida hat zu Recht das Risiko von Nietzsches Umgang mit Parodien fr seine Interpreten betont. Unterstelle man ihm darin eine „unbegrenzte Meisterschaft“, eine „unbezwingbare Macht“, eine „fehlerlose Handhabung der Falle“, „eine Art von unendlicher Berechnung, nahezu die des Leibnizschen Gottes, die diesmal jedoch eine unendliche Berechnung des Unentscheidbaren ist, um den Zugriff der Hermeneutik zu vereiteln“, kçnne man leicht in die Falle gehen, aus den Parodien ein „Herrschaftsinstrument“ zu machen, um es dann selbst als Interpreten-Priester fr die eigene Interpretation einzusetzen und diese womçglich zum Kult zu stilisieren. Man wird den Parodien also nachgehen mssen, ohne letztlich ber sie entscheiden zu wollen und ihrer Interpretation je sicher sein zu drfen. Bei Nietzsche andererseits msse man, so Derrida, „irgendwo eine Naivitt“ voraussetzen, „die an ein Unbewußtes angelehnt ist, und das Schwindelgefhl der NichtMeisterschaft, eine Bewußtlosigkeit“, keine vollstndige Berechnung.891 Auch dem wird man zustimmen. Die Grenze zwischen Berechnung und Naivitt bei Nietzsche aber wird man wieder selbst ziehen mssen. – Sander L. Gilman hat Nietzsches Parodien bisher am grndlichsten erforscht. Er setzt mit den sehr ernsthaften Parodien ein, die Nietzsche in seiner Jugend verfasste. Sie sollten im Sinn von Goethes nachgelassenem Text Ueber die Parodie bei den Alten die Originale nicht ins Lcherliche ziehen, sondern ihre „glckliche Umformung“ sein, was, so Goethe, „wieder einen eben so grndlichen Ernst, ein eben so entschiedenes Talent“ erfordere.892 Die Parodie kann, aber muss also das Parodierte nicht ins Komische ziehen: „Within his own juvenile experimentation, Nietzsche attempted to create parodies which would have the same nobility as the originals he admired.“893 So muss das „andre Ideal“, das sich „neben den ganzen bisherigen ErdenErnst stellt“ (FW 382), ihn nicht auch lcherlich machen und darum als Parodie gar nicht auffallen. Das „incipit p a r o d i a“ am Ende von FW Vorrede 1 verweist nach Gilman klar auf die PV, von denen er im Folgenden An Goethe und das auf Heine bezogene Rimus remedium. Oder: Wie kranke Dichter sich trçsten als Parodien interpretiert. Nietzsche mache „a use of parody unique“, sofern nach ihm nur die Kunst wahr sein kçnne, weil sie Schein nicht als Sein ausgibt. Die letzte Wahrheit 889 Jol, Geschichte der antiken Philosophie, 913 – 915, zitiert nach Niehues-Prçbsting, Der Kynismus des Diogenes, 301. 890 Klossowski, Polytheismus und Parodie, 15 – 45, hier 17. 891 Derrida, Sporen, 151. 892 Titel nach: Goethe’s Werke. Vollstndige Ausgabe letzter Hand, 46. Bd.: Goethe’s nachgelassene Werke, 6. Bd., Tbingen 1833, 5 – 10. Unter dem Titel Zum Kyklops des Euripides in: Goethe, Smtliche Werke, 13/1.331. 893 Gilman, INCIPIT PARODIA, 59.
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sei darum die „poetic lie“, und sie habe Nietzsche im großen Schluss-Satz von FW 382 formuliert.894 Doch Nietzsche zielt mit seinem „incipit p a r o d i a“ unmissverstndlich ber die PV („Lieder, in denen sich ein Dichter auf eine schwer verzeihliche Weise ber alle Dichter lustig macht“) hinaus: „Ach, es sind nicht nur die Dichter und ihre schçnen ,lyrischen Gefhle‘, an denen dieser Wieder-Erstandene seine Bosheit auslassen muss: wer weiss, was fr ein Opfer er sich sucht, was fr ein Unthier von parodischem Stoff ihn in Krze reizen wird?“ (FW Vorrede 1). In seiner bald folgenden Monographie Nietzschean parody bezeichnet Gilman „the concept of parody as the sign of ,die grosse Gesundheit‘“, ohne zu verdeutlichen, wie das Rtsel des Gegenstands von Nietzsches Parodie zu lçsen wre. Er identifiziert die Tragçdie, auf die Nietzsche sowohl in FW 342 als auch FW 382 verweist, schlicht als ZA, was zumindest im Fall von FW 382 kaum sinnvoll ist. Im brigen verknpft er das Tragische und Komische nur noch vage als „the universal tragic-comedy of the pattern of return, a pattern from which no escape is possible and which can conclude only on a comic note, the comedy which closes the tragic circle. The philosopher becomes the fool, the poet abandons his lute for a bagpipe.“895 – Die weiteren Beitrge zur Lçsung der Frage, was wodurch parodiert wird, sind ebenfalls vage geblieben. Nach Jrgen Sçring896 lsst die „,unfreiwillige Parodie‘“ „die Werte der abendlndischen Kultursynthese […] in sich selbst zusammenfallen“. Doch mit dem „g r o s s e n E r n s t“ werde auch sie wieder zur Tragçdie „transzendiert“, womit sich die „Schicksals-Wende“ vollziehe, die Vorbereitung neuer Werte im Untergang der parodistisch verlachten alten Werte. – Reinhold Grimm schließt wieder an Gilman an, betrachtet dessen Vorschlge aber als einseitig und unvollstndig und postuliert nun die Unentscheidbarkeit zwischen Parodie und Parodiertem bei Nietzsche schlechthin: „Comic mode and tragic mode, sovereign play and its somber contrary alternate or fluctuate, as it were: the former succeeding the latter, and vice versa. Indeed the two, more often than not, merge and blend indistinguishably.“897 – Claus-Artur Scheier nimmt an, dass die PV, „in denen sich der Dichter parodisch selbst berwindet, nur das Vorspiel der Parodie katexochen, der hyperbolischen Parodie sind, unmittelbar wohl des ,Parsifal‘, dann aber des ,g e g e n w r t i g e n M e n s c h e n‘ und mit ihm der Geschichte berhaupt“. Im Blick auf „Wie die ,wahre Welt‘ endlich zur Fabel wurde“ aus GD msse „die Parodie zur Tragçdie werden, weil die Tragçdie zur Parodie geworden war.“898 – Daniel Conway erwhnt die FW nur am Rande, jedoch nicht das V. Buch, also auch FW 382 nicht.899 – Henk Oosterlink lokalisiert die Parodie beim „menschlich-bermenschlichen Wohlsein und Wohlwollen, das oft genug u n m e n s c h l i c h erscheinen wird“ (FW 382): „Der bermensch als Parodie des Menschen ist mehr als dessen Verneinung, selbst wenn der christliche Mensch ihn nur als seine Negation denken kann. Die Parodie, die diese Verneinung setzt, zielt auf etwas ußerst ,Leibhaftes‘: auf die Verkçrperung ,(der) grossen 894 895 896 897 898 899
Gilman, INCIPIT PARODIA, 74. Gilman, Nietzschean parody, 26 f. Sçring, Incipit Zarathustra – Vom Abgrund der Zukunft, 341 f. Grimm, Antiquity as Echo and Disguise, 212. Scheier, Einleitung, XCII f. Conway, Nietzsche’s art of this-worldly comfort.
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Gesundheit‘. Sie kann allerdings nur ,unfreiwillig‘ sein, weil sie durch die beschrnkte moral-psychologische Optik des christlichen Menschen als ein Idealtyp erscheint.“900 – Roger W. Mller Farguell sieht im „andren Ideal“ eines Geistes, der „mit Allem spielt“ (FW 382), im Sinn von FW 356 ein bloßes Schauspieler-Ideal. Nietzsches „nunmehr offen ausgespielte Persuasionsstrategie fr ein knftiges Denken“ sei – unter Hinweis auf das „luft vor uns her“ – eine „Rhetorik vorauseilender Parodie“, die immer neu verlocke, „sich selbst als ,Selbst‘ parodistisch zu berwinden“. Mit dem „incipit p a r o d i a“ springe „die Parodie ber den Schatten der Tragçdie. Die rhetorische Verfhrung zum allemal neueren Lied ist bis zum Schluss im autopoetischen Gestus des berwindens komponiert.“901 Die nchste Parodie sei dann gleich FW 383. – Wolfram Groddeck beobachtet genau die Bezge der Formeln des ,incipit‘, mit dem Nietzsche ein Verwirrspiel treibe. Nach ihm bezieht es sich auf ZA, „aber auf ,Zarathustra‘ als seine eigene Parodie“, als „parodierte Tragçdie“, „als eine neue ,Geburt der Tragçdie‘ – Nietzsches parodiertes Werk insgesamt.“902 – Patrick Wotling verknpft, wie schon in FW 343 (4.5.) deutlich wird, zu Recht das „die Tragçdie b e g i n n t …“ mit N 1886/87, 7 [31], KSA 12.306: „D a s t r a g i s c h e Z e i t a l t e r f r E u r o p a: bedingt durch den Kampf mit dem Nihilismus“.903 – Nach Paul van Tongeren ist die Tragçdie zugleich eine Parodie und soweit mit beiden ZA gemeint sei, ZA wiederum eine Parodie auf das Evangelium; gemeint sein kçnne aber auch Nietzsches jasagende Philosophie, die nach FW 382 eine Parodie auf alles sei, was einmal heilig war.904 – Jeremy Tambling verweist auf das „INCIPIT ZARATHUSTRA“ am Ende des Abschnitts „Wie die ,wahre Welt‘ endlich zur Fabel wurde“ aus GD; schon hier sei „Mittag; Augenblick des krzesten Schattens; Ende des lngsten Irrthums; Hçhepunkt der Menschheit“ (6.81). Dabei sei ZA als Tragçdie, FW dagegen als „tragedy and parody combining“ zu lesen.905 – Claus Zittel streift die FW nur, ohne das V. Buch und FW 382 zu erwhnen. Man drfe, stellt er im brigen fest, Nietzsches Heiterkeit nicht trauen, sondern msse sie als Problem erkennen. Nach dem Tod Gottes seien „nur noch falsche Gçtter mçglich“, und also kçnne man „nur noch Possen reißen“, Parodieren mit „einem tragischen Kern“. Fremdparodie gehe in Selbstparodie in der Fremdparodie und mit Hilfe von Fremdparodien ber.906 – Fr Christian Benne bleibt die Deutung des Sinns der Parodie insbesondere in FW 382 ein Forschungsdesiderat. Vorerst verweist er auf die mit Nietzsches Berhmtheit rasch aufgekommenen Nietzsche-Parodien.907
Man kann zunchst festhalten: • Wenn nach FW 382 „die Tragçdie b e g i n n t …“, aber auch „d e r g r o s s e E r n s t“, der Frçhlichkeit einschließt, so kann die Tragçdie 900 901 902 903 904 905 906 907
Oosterlink, Psychologie als Kunst?, 78. Mller Farguell, Vorreden der Zukunft, 297 f. Groddeck, Die „Neue Ausgabe“ der „Frçhlichen Wissenschaft“, 197. Wotling, Notes, 410, Fn. 363. Vgl. Wotling, La tragdie et ,nous‘, 107. Van Tongeren, Reinterpreting Modern Culture, 79. Tambling, Becoming Posthumous, 97 f. Zittel, „Incipit tragoedia, incipit parodia“, 230 f. u. 236. Benne, Art. Parodie.
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zugleich eine Parodie sein, kann die eine die andere einschließen und daher die eine in die andere umschlagen. Es hngt dann von der Stimmung ab, aus der heraus man beide versteht, dem Ernst oder der Frçhlichkeit, die ihrerseits unfreiwillig ineinander umschlagen kçnnen. So kçnnen beide, ZA und das V. Buch der FW, als Parodien und als Tragçdien und jedes von beiden als Parodie des andern verstanden werden: die ,frçhliche Wissenschaft‘ als Parodie auf das hohe Pathos des Lehrers Zarathustra, der an der Mitteilung seiner Lehren gescheitert ist, und die Figur Zarathustra als „leibhafteste“ Erfllung des Ideals im Umgang mit dem Ideal, das fr einen noch so frçhlichen Wissenschaftler doch immer nur ein Ideal bleibt. Es ist daher weder mçglich noch notwendig zu unterscheiden, was die Parodie und was das Parodierte ist. Im Sinn Goethes kçnnen beide einander ebenbrtig und ebenso heiter wie ernst sein. Entscheidend ist dann allein das Nebeneinander, das Nietzsche in FW 382 herausstellt. Nietzsche wollte offenbar Ernst und Parodie nicht mehr trennen, sondern, indem er sie nebeneinander stehen und durcheinander verstummen ließ, den Spielraum schaffen, um auch im Ernst noch frçhlich und auch in der Frçhlichkeit noch ernst zu bleiben. Dafr lassen sich weitere Anhaltspunkte fr weitere Schlussfolgerungen gewinnen: Nietzsche hat so auch Wagners Parsifal fr sich zu retten versucht (17.1.): indem er sich wnschte, er mçge „heiter gemeint sein, gleichsam als Schlussstck und Satyrdrama, mit dem der Tragiker Wagner auf eine gerade ihm gebhrende und wrdige Weise von uns, auch von sich, vor Allem v o n d e r Tr a g ç d i e habe Abschied nehmen wollen, nmlich mit einem Excess hçchster und muthwilligster Parodie auf das Tragische selbst, auf den ganzen schauerlichen Erden-Ernst und Erden-Jammer von Ehedem, auf die endlich berwundene g r ç b s t e F o r m in der Widernatur des asketischen Ideals.“ (GM III 3) Danach macht die Parodie die Tragçdie und die Tragçdie die Parodie erst ertrglich. Nicht nur die parodistischen PV, auch das offenkundig parodistische Stck FW 383 kann zugleich tragisch verstanden werden. Auf eine antike Tragçdie hatte ein Satyrspiel zu folgen, dessen Frçhlichkeit von ihr erleichterte; es war fester Bestandteil einer Tragçdien-Auffhrung. Umgekehrt ging nach Nietzsche von der Weisheit des Satyrs Silen die griechische Tragçdie erst aus, die Tragçdie war ihrerseits dazu geschaffen, diese Weisheit ertrglich zu machen (4.2.).
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Doch es wrde FW 383 und den PV offenkundig ein zu großes Gewicht geben, wrde man die Schluss-Wendung von FW 382 „das Schicksal der Seele sich wendet, der Zeiger rckt, die Tragçdie b e g i n n t…“ allein mit ihnen verbinden. Sie muss auf etwas jenseits von FW 383 und der PV verweisen, etwas dem Schwergewicht von ZA Entsprechendes. Dies msste etwas sein, das entweder nur ernst, nur als Tragçdie oder zugleich als Tragçdie und als Parodie, also auch frçhlich verstanden werden kann. Nur ernst wollte Nietzsche sein geplantes Hauptwerk zur Umwertung aller Werte verstanden wissen. Eben die Umwertung aller Werte aber setzte fr ihn voraus, dass der Geist, der zu ihr fhig wre, dem „Ideal eines Geistes“ nahekme, „der naiv, das heisst ungewollt und aus berstrçmender Flle und Mchtigkeit mit Allem spielt, was bisher heilig, gut, unberhrbar, gçttlich hiess“, oder wie Nietzsches Zarathustra zu einer „naiv-ironischen Stellung zu allen heiligen Dingen“ imstande ist; erst ein solcher Geist wre zur Umwertung aller Werte frei. Dass „die Tragçdie b e g i n n t…“, hieße dann, dass nach der Befreiung der Philosophie von ihren ungewollten Bindungen, wie Nietzsche sie nun im V. Buch der FW vollendet hat, ein neuer Zarathustra kommen msste, aber nicht mehr in einer hochpathetischen Lehrdichtung und in der Maske eines orientalischen Propheten. Es msste vielmehr jener „e r l ç s e n d e Mensch der grossen Liebe und Verachtung“ sein, „der schçpferische Geist, den seine drngende Kraft aus allem Abseits und Jenseits immer wieder wegtreibt, dessen Einsamkeit vom Volke missverstanden wird, wie als ob sie eine Flucht v o r der Wirklichkeit sei –: whrend sie nur seine Versenkung, Vergrabung, Vertiefung i n die Wirklichkeit ist, damit er einst aus ihr, wenn er wieder an’s Licht kommt, die E r l ç s u n g dieser Wirklichkeit heimbringe: ihre Erlçsung von dem Fluche, den das bisherige Ideal auf sie gelegt hat“ (GM II 24). Dieser „Mensch der Zukunft“ msste einer sein, der die Umwertung aller Werte, so tragisch sie sich, auch auf ihn selbst, auswirken kçnnte, dann auch ,frçhlich‘ vollbringt. Er msste den Menschen eine illusionslose neue Orientierung geben, die sie ihre Welt und ihr Leben in weiteren Horizonten besser verstehen und dadurch neue Lebensmçglichkeiten gewinnen lsst, und er msste dazu nicht im hohen Pathos eines Propheten, sondern in der frçhlichen Sprache des Alltags reden. Der „Excess hçchster und muthwilligster Parodie auf das Tragische selbst“ (GM III 3), den Nietzsche bei Wagner vermisste, kçnnte ein weiterer Name fr das kommende Dionysische sein, das Nietzsche am Ende von FW 370 beschworen hat und an das er in EH erinnern wird.
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Er wird dort dem Pessimismus vollends abschwçren und „das Recht“ beanspruchen, „mich selber als den ersten t r a g i s c h e n P h i l o s o p h e n zu verstehn – das heisst den ussersten Gegensatz und Antipoden eines pessimistischen Philosophen.“ Denn ihm sei zum ersten Mal in der Geschichte der Philosophie die „Umsetzung des Dionysischen in ein philosophisches Pathos“ gelungen, in eine „t r a g i s c h e W e i s h e i t“, die als Weisheit zugleich frçhlich, heiter ist, weil nichts Dionysisches einseitig ist, sondern die andere Seite jedes Gegensatzes mit umfasst (EH GT 3). Ein dionysischer Philosoph wird nach GM Vorrede 7, „aus vollem Herzen sagen“ kçnnen: „,vorwrts! auch unsre alte Moral gehçrt i n d i e K o m ç d i e!‘“ und wird damit „fr das dionysische Drama vom ,Schicksal der Seele‘ eine neue Verwicklung und Mçglichkeit entdeckt“ haben. Dionysisch kann Nietzsche nun auch die Lehren oder Anti-Lehren seines Zarathustra parodieren. Im „Ideal eines menschlich-bermenschlichen Wohlseins und Wohlwollens“ luft der Gedanke des bermenschen nur noch beiher mit. Das ,Sein‘ kommt vor dem ,Wollen‘, und zum Menschlich-Allzumenschlichen besteht kein Gegensatz mehr, nur noch ein gradueller Unterschied. Der Gedanke des bermenschen ist im „Heisshunger in Gewissen und Wissen“ aufgegangen, sich nicht „a m g e g e n w r t i g e n M e n s c h e n gengen“ zu lassen.908 Den Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen, den Nietzsche in FW 341 als das „g r ç s s t e S c h w e r g e w i c h t“ des Tragischen angekndigt hatte und den Zarathustra nur mit „Ekel! Ekel! Ekel!“ zur Welt brachte (ZA III Genesende 2, KSA 4.275), hat Nietzsche schon in JGB 56 zu einem dionysischen Schauspiel transfiguriert (1.4.) und in seinem Lenzer Heide-Notat mit einem Fragezeichen versehen (7.2.1., 17.2.3.2.). Und schließlich wird mit dem ,Unfreiwilligen‘ der Parodie auch der Gedanke des Willens zur Macht parodiert. Gleich im Anschluss, in FW 383, wird Nietzsche ein parodistisches Wille-zur-Macht-Spiel auffhren. So kommt am Ende des V. Buchs der FW der Schluss des ersten Aphorismus der FW wieder zu seinem Recht: „der vorsichtigste Menschenfreund wird hinzufgen: ,nicht nur das Lachen und die frçhliche Weisheit, sondern auch das Tragische mit all seiner erhabenen Unvernunft gehçrt unter die Mittel und Nothwendigkeiten der Arterhaltung!‘ – Und folglich! Folglich! Folglich! Oh versteht ihr mich,
908 Vgl. ZA II Nachtlied, KSA 4.137: „Oh Begierde nach Begehren! Oh Heisshunger in der Sttigung!“
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meine Brder? Versteht ihr dieses neue Gesetz der Ebbe und Fluth? Auch wir haben unsere Zeit!“ FW 383 zeigt das Gesetz von Ebbe und Flut am Frçhlichen und Tragischen auf frçhliche – und zuletzt wieder tragische Weise.
20.2. Frçhlicher Schluss Nr. 383: E p i l o g . Nietzsches schriftstellerische Methoden: Selbstparodie Den frçhlichen Schluss hat Nietzsche einen „E p i l o g“ genannt. Ein 1p_kocor kann der Schluss eines Dramas oder einer Rede sein oder eine Schlussbetrachtung, Schlussberlegung, Schlussfolgerung, wie sie einem philosophischen Werk geziemt; 1pikoc_feshai bedeutet aber auch ,den Schluss seiner Rede an jemanden richten‘. Nietzsche fasst nicht gelehrtpedantisch seine Hauptgedanken zusammen, um weitere Schlussfolgerungen aus ihnen zu ziehen, sondern wendet sich zum Schluss noch einmal an seine Leser. Er stellt sie noch einmal auf die Probe, verunsichert sie ein letztes Mal, indem er selbst sein eigenes Buch parodiert und damit seine Wirkung spielerisch-ernst anheimstellt. Nietzsche hat in seinem Werk auch den Epilog zu einer eigenen schriftstellerischen Form mit eigenen Aufgaben ausgebildet. 1877 entwirft er einen ersten „E p i l o g“ zu MA, ohne ihn zu verçffentlichen. Er ist ebenfalls schon an die Leser gerichtet und noch sehr ernst: Nietzsche wirbt um ihre Bereitschaft zu einem sorgfltigen und wohlwollenden, nicht absichtlich verdrehenden Verstndnis, traut ihnen die Kenntnis seiner Absichten zu und erwartet sogar berlegene Leser. Er hofft im Sinn Goethes auf ebenbrtige Parodien, „glckliche Umformungen“ seines Buchs und schließt mit einem antikisierenden Epigramm in Distichen, das fr Jacob Burckhardt gedacht war (N 1877, 22[81], KSA 8.393): E p i l o g. – Ich grße euch Alle, meine Leser, die ihr nicht absichtlich mit falschen und schiefen Augen in dies Buch seht, ihr, die ihr mehr an ihm zu erkennen vermçgt als eine Narrenhtte, in welcher ein Zerr- und Fratzenbild geistiger Freiheit zur Anbetung aufgehngt ist. Ihr wißt, was ich gab und wie ich gab; was ich konnte und wie viel mehr ich wollte – nmlich ein elektrisches Band ber ein Jahrhundert hin zu spannen, aus einem Sterbezimmer heraus bis in die Geburtskammer neuer Freiheiten des Geistes. Mçgt ihr nun fr alles Gute und Schlimme, was ich sagte und that, eine schçne Wiedervergeltung ben! Es sind solche unter euch, welche Kleines mit Grossem und Gewolltes mit Gekonntem vergelten sollten: – mit welcher Empfindung ich an Jeden von diesen denke, soll hier am Ende des Buches als rhythmischer Gruss
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ausgesprochen werden: Seit dies Buch mir erwuchs, qult Sehnsucht mich und Beschmung, Bis solch Gewchs dir einst reicher und schçner erblht. Jetzt schon kost’ ich des Glcks, dass ich dem Grçßeren nachgeh‘, Wenn er des goldnen Ertrags eigener Ernten sich freut. (N 1877, 24[10], KSA 8.480)
Mit FW 383 wird er den ersten „E p i l o g“ verçffentlichen – und zugleich eine Parodie auf ihn. Er parodiert nun die Wnsche der Leser, in seinem Buch zu finden, was ihnen gut verstndlich ist, dabei aber auch sein eigenes Buch, ironisiert das Verstehen-Wollen berhaupt und dabei auch sich selbst. Ein berlegener Leser wie Jacob Burckhardt ist nicht mehr in Sicht. Nietzsche setzt hinter die 40 Aphorismen des V. Buchs der FW ein ausgelassen frçhliches Fragezeichen; kein anderes Buch Nietzsches hat einen hnlich frçhlichen Schluss. Doch am Ende dieses Epilogs steht ein dsteres Fragezeichen, das die hochgestimmte Frçhlichkeit wieder herunterstimmt und erneut zur Besinnung, zur gelassenen Heiterkeit zurckruft. Er drngt nicht auf Verstndnis, schon gar nicht auf ein bestimmtes. Im weiteren Werk wird Nietzsche zu diesem parodistischen Epilog wiederum Parodien folgen lassen. Gleich in der ersten Abhandlung der GM wird er dem Abschnitt zum „leibhaftigen Evangelium der Liebe“ als Krone des „jdischen Hasses“ auf die Unterwerfung unter die rçmische Herrschaft (GM I 8) den „Epilog“ eines „,Freigeistes‘“ (in Gnsefßchen) zur heutigen Aufgabe der Kirche anhngen, der die Unterscheidung von Herren und Sklaven inzwischen fr abgetan hlt und nur noch in der Kirche seine Gegnerin sieht. Nietzsche wird das mit ausdrcklichem Schweigen kommentieren: „Dies der Epilog eines ,Freigeistes‘ zu meiner Rede, eines ehrlichen Thiers, wie er reichlich verrathen hat, berdies eines Demokraten; er hatte mir bis dahin zugehçrt und hielt es nicht aus, mich schweigen zu hçren. Fr mich nmlich giebt es an dieser Stelle viel zu schweigen. –“ (GM I 9) Freigeister und Demokraten dieser Art sind nicht auf der Hçhe seiner vorausgegangenen Aphorismen-Bcher, werden weiter Mhe haben, sie zu ertragen, und umso weniger bereit sein, sie in Nietzsches Sinn zu verstehen. In WA 3 wird Nietzsche einen Dialog mit einem Wagnerianer ber Wagners Sucht inszenieren, alles und alle erlçsen zu wollen, selbst Goethes Verse, und wird dem Goethes vermutliche Skepsis gegen Wagners „Romantiker-Verhngniss“ und die „sittlichen und religiçsen Absurditten“ entgegensetzen, die er im Parsifal wohl gesehen htte. Dazu nimmt er dann in einem „Epilog“ des „Philosophen“ Stellung: „Volk und Weib“, die Erlçsung in „hçheren Werthen“ suchten, wollten auch von der Philosophie zuletzt „H e i l i g k e i t“, den „Horizont des Ideals“, der alle weiteren Fragen durch das „blosse Nichtverstndniss“, das dem Heiligen gebhrt, abhalte. Sein ironischer Beleg dafr ist Ernest Renan („Hçflicher gesagt: la philosophie ne suffit pas au grand nombre. Il lui faut la saintet. –“), dem er in AC 29 das grçbste Missverstndnis des Typus des Erlçsers nachweisen wird.909 909 Vgl. Montinari, Kommentar, KSA 14.404: Zitat aus Renan, Vie de Jsus, 451 f. –
20.2. Frçhlicher Schluss. Nr. 383
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Auf eine erste, frçhliche „Nachschrift“ zur unfreiwilligen Parodie der Inschrift auf dem Kranz des Mnchner Wagner-Vereins am Grab Wagners „,Erlçsung dem Erlçser!‘“ und eine zweite, ernste zum unbestrittenen Rang Wagners gegenber allen zeitgençssischen Musikern wird er in WA noch einen sarkastischen „Epilog“ folgen lassen: zur Rangordnung in der sthetik und zur dcadence von Wagners falschem, geschauspielertem Christentum, das ihn zum „l e h r r e i c h s t e n Fall“ in der „D i a g n o s t i k d e r m o d e r n e n S e e l e“ mache und fr den „der Philosoph“ nur dankbar sein kçnne. Schließlich fgt Nietzsche auch NW noch einen „Epilog“ hinzu. Darin stellt er berarbeitete Auszge aus EH WA 4, zum amor fati, zum grçßten Teil aber aus dem Schluss der neuen Vorrede zu FW, den letzten Abschnitten 3 und 4, zusammen. Damit parodiert er die Vorrede, die gewçhnlich zuletzt geschrieben wird (die neue Vorrede zu FW war hier die Ausnahme), um das Buch dem Verstndnis der Leser nahezubringen, als Epilog. Er macht aus der „a n d r e n Kunst“, „einer spçttischen, leichten, flchtigen, gçttlich unbehelligten, gçttlich knstlichen Kunst,“ „einer Kunst fr Knstler, nur fr Knstler“, die dort im Mittelpunkt steht, eine spielerisch-ernste Parodie auf das „andre Ideal“ aus FW 382. Um das andre Ideal zu verwirklichen, wird eine andre Kunst und, wie er hier (und auch schon in FW Vorrede 4) hinzugefgt hat, „Heiterkeit, j e d e H e i t e r k e i t“ nottun. Den Zusatz in der Vorrede zu FW „auch als Knstler –: ich mçchte es beweisen“ lsst Nietzsche jedoch fallen. Auch damit parodiert er sich. Er hat es nun entweder schon bewiesen oder die Absicht, es zu beweisen, aufgegeben.
FW 382 hat mit heiteren Tçnen begonnen und mit dsteren geschlossen. Mit dem „die Tragçdie b e g i n n t …“ scheint alle Frçhlichkeit entschwunden, das ganze Unternehmen einer frçhlichen Wissenschaft gescheitert – wre da nicht die vorausgeschickte Warnung von der „leibhaftesten unfreiwilligen Parodie“. Zu Beginn des „E p i l o g s“ klingt der dstere Ton zunchst noch nach („dieses dstere Fragezeichen“), aber so berdeutlich, dass sich ein gleich ausbrechendes Lachen ankndigt („langsam, langsam hinmale“). Als dann auch noch der hoch erhobene lehrerhafte Zeigefinger hinzukommt („eben noch Willens bin, meinen Lesern die Tugenden des rechten Lesens – oh was fr vergessene und unbekannte Tugenden! – in’s Gedchtniss zu rufen“), ist das Lachen nicht mehr zurckzuhalten („begegnet mir’s, dass um mich das boshafteste, munterste, koboldigste Lachen laut wird“), das Satyrspiel beginnt.910 Leser Nietzsches, die die angemahnten Tugenden des rechten
In EH Schicksal 1 wird Nietzsche die Erwartung, er selbst kçnne fr seine neue frohe Botschaft einmal heilig gesprochen werden, gezielt zerstreuen. Vgl. Stegmaier, Schicksal Nietzsche?, 92 – 94. 910 Braun, Topographien der Leere, 347 – 366, nimmt FW 383 auf den Spuren Derridas unter dem Titel „,Bio-graphischer‘ Tanz an den Rndern. Skripturale Wildnis im ,E p i l o g‘ der ,Frçhlichen Wissenschaft‘“ zum Anlass weit verzweigter
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Lesens nicht vergessen haben, werden kaum erwarten, dass er ihnen den Ausgang aus diesem V. Buch der FW einfach, platt und leicht macht. Sie werden geradezu gewaltsam aufgeheitert, die Frçhlichkeit ist allzu demonstrativ. Nietzsche lsst die „Geister [s]eines Buchs“ mit dem „boshaftesten, muntersten, koboldigsten Lachen“ ber ihn, den Autor, herfallen. Das eben zu Ende gekommene, fertig gewordene, ausgeklungene Buch macht sich gegenber seinem Autor selbststndig. Es kommt nun auf den anonymen Buchmarkt und meldet dort seine Ansprche an, will Erwartungen befriedigen, die es bei den Lesern vermutet. Kobolde sind gewçhnlich gute, aber neckische Hausgeister, die man gegen die unheimlichen Gespenster aufrufen kann, die Nietzsche zuvor fr seine posthume schriftstellerische Wirkung beschworen hat (FW 365/15.1.2.). So hat er Zarathustra sagen lassen: „Ich will Kobolde um mich haben, denn ich bin muthig. Muth, der die Gespenster verscheucht, schafft sich selber Kobolde, – der Muth will lachen.“ (ZA I Lesen, KSA 4.48) Doch ansonsten sind Kobolde bei Nietzsche nicht gutmtig, sondern „bçse“ (GMD, KSA 1.516, vgl. N 1869, [1]1), „schadenfroh, tckisch“ (N 1873, 29[76], KSA 7.663), „hsslich“ (SE 8, KSA 1.412), „bçse ffisch“ (MA I 535), „trgerisch“ (MA II, VM 227), „hçllisch“ (M 76), „grausam“ (N 1885/86, 2[13], KSA 12.72 / W I 8, S. 263) und dmonisch (JGB 6). Sie berraschen den Autor mit seinen hsslichen Gedanken, die er sich ber seine Leser macht („begegnet mir’s“). Sie wnschen sich ein anderes „Lied“, ein frçhlicheres, als ihm gelungen ist („fort, fort mit dieser rabenschwarzen Musik“), wollen dasselbe Buch mit einer andern Musik, also eine Parodie. Sie zitieren seine Stichworte aus den vorigen Aphorismen herbei („Musik“, „Tanz“, „frçhlich“), aber auch das Glck des Wanderers am „Vormittag“, das Nietzsche in MA erfahren hat, als ihm nach bçsen Nchten aus „Wipfeln und Laubverstecken heraus lauter gute und helle Dinge zugeworfen“ wurden und der Tag ein „reines, durchleuchtetes, verklrt-heiteres Gesicht“ bekam: die Stimmung der „P h i l o s o p h i e d e s Vo r m i t t a g e s“ (MA I 638). In MA II, VM 356, hatte er den Vormittag auch schon mit dem verbunden, was er nun die „g r o s s e G e s u n d h e i t“ nennt, den „N u t z e n d e r K r n k l i c h k e i t“, die ihm einen „viel grçsseren Genuss am Gesundsein, wegen seines hufigen Gesundwerdens“ verschafft habe und „einen hçchst geschrften Sinn fr Gesundes und Krankhaftes in Werken und Handlungen, eigenen und Erkundungen zum Status des Schreibens in Nietzsches Philosophie. Dabei ermittelt er auch aufschlussreiche kontextuelle Bezge des Aphorismus.
20.2. Frçhlicher Schluss. Nr. 383
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fremden“. Der „Lehrmeister“ dieser „Philosophie der seelischen Gesundheit und Genesung“ aber war der „Vormittag, Sonnenschein, Wald und Wasserquelle“, den die Kobolde sich nun zurckwnschen. Auch in ZA hat Nietzsche noch das Glck des Vormittags beschworen („Unbewegt ist meine Seele und hell wie das Gebirge am Vormittag“, ZA I Vorrede 5, KSA 4.21), und im Lied „Mein Glck!“ des Prinzen Vogelfrei und GM III 8 wird er die Piazza di San Marco in Venedig dafr feiern. Am Vormittag, schrieb er in einem Brief an seine Schwester, hielt er das Leben noch am ehesten aus: „Ich ertrage Vormittags das Leben, aber kaum mehr Nachmittags und Abends; und es scheint mir sogar, daß ich genug gethan habe, unter ungnstigen Umstnden, um mich mit Ehren aus dem Staube machen zu kçnnen.“911 So locken die Kobolde seine tiefsten existenziellen Nçte hervor. Und dann reden sie von den „Grillen“, die er nicht verscheuchen solle, unbekmmert darum, dass sie abends und nachts zirpen und im Deutschen auch ,Grabschrecken‘ heißen. Den Chor der Zikaden aber ließ Platon im Dialog Phaidros singen, nachdem er Sokrates vor die Mauern hatten gehen und sich dort auf „grnem weichem Grund und Rasen“ unter einer schattenspendenden Platane lagern lassen, um ihn in freier, von Gçttern erfllter Natur so dem erotischen Bann des schçnen Phaidros auszuliefern, dass er sich beim Reden in gçttlichen Wahnsinn verlor und seinen glnzenden Mythos vom wahren Sein erzhlte – den er, ernchtert, gleich wieder zu vergessen drohte. Auf „grnem weichem Grund und Rasen“ hat Sokrates die „Musik des Lebens“ gehçrt und sich vor ihr zu den Ideen geflchtet (FW 372/17.2.4.).912 Die Geister der auf den Buchmarkt gelangten FW wollen am Ende ein ungebrochen frçhliches, glckliches, auf die Musik des Lebens gestimmtes Lied – und verunglimpfen den Ernst, der, nach FW 343, die Heiterkeit grundiert (4.2.). Sie lassen von den „geheimnissvollen Lauten“, „mit denen Sie uns in Ihrer Wildniss bisher regalirt haben, mein Herr Einsiedler und Zukunftsmusikant“, von seiner verzweifelt raffinierten Heiterkeit nur „Unkenrufe, Grabesstimmen und Murmelthierpfiffe“ brig. Aber auch diese (nach FW 236) Vergrçberungen und Vereinfachungen gengen ihnen noch nicht. Zuletzt verfallen sie in die Tçne des 911 Brief an Elisabeth Nietzsche, 7. Mai 1885, KGB III/3, Bf.600. 912 Platon, Phaidros 230b-c, 258e-259d. Auch Platon erinnert bei der Gelegenheit, wie Nietzsche in FW 372, an die Sirenen (259a). – Braun, Topographien der Leere, 351 f., weist darauf hin, dass Platon gerade im Phaidros die Missverstndlichkeit der Schrift herausstellt.
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20. Der große Ernst des Spiels mit allem
anhebenden Schluss-Satzes von Beethovens IX. Symphonie („Nicht solche Tçne! Sondern lasst uns angenehmere anstimmen und freudenvollere!“), dem pathetischsten Ausdruck des von Schiller gedichteten, von Beethoven grandios intonierten Menschheitspathos und der Quelle von Wagners Idee des Musikdramas. Wer diesen Satz kennt, und jeder, der damals Bcher kaufte, kannte ihn, musste unwillkrlich-unfreiwillig in die Tçne von Beethovens Musik einstimmen und die Worte mitsingen. Hier, beim hohen Lied der Freude ber die freie, gleiche und brderliche Menschheit, gelang, so die Kobolde, was der Autor der FW doch so sehr wollte: mit seinen Weisen zum allseitigen Mitsingen, Mittanzen einladen. Aber das war nicht zu erwarten, und mit FW 371 (15.3.1.) und FW 381 (15.3.2.) hat Nietzsche sich solche Erwartungen auch schon entschieden aus dem Kopf geschlagen. Nach einem Gedankenstrich antwortet er als „ich“, als Autor, den Geistern seines Buchs auf die mçglichen Erwartungen der Leser, der „ungeduldigen Freunde“, die hinter ihnen stecken. Er ist nicht weniger munter und bçse als sie, entspricht und widerspricht ihnen zugleich, macht es ihnen parodistisch recht. Sie haben ihm einen „einfltigen burischen Dudelsack“ empfohlen, er wartet mit einem auf, lsst aber andere Tçne verlauten, Tçne nicht des Marktes, sondern des „Gebirges“. Der Dudelsack ist das einzige Musikinstrument, das im V. Buch der FW genannt wird. Das ist umso aufflliger, als Nietzsche auch sonst nur selten bestimmte Musikinstrumente erwhnt. Mit dem Dudelsack aber wird er einen seiner strksten Sentenzen zur Musik verknpfen: „Wie wenig gehçrt zum Glcke! Der Ton eines Dudelsacks. – Ohne Musik wre das Leben ein Irrthum. Der Deutsche denkt sich selbst Gott liedersingend.“ (GD Sprche 33)913 Der Dudelsack ist ein fr Nietzsche beziehungsreiches Instrument. Man spielt ihn eher allein, doch er ersetzt ein Orchester. Er ist so etwas wie eine Hirten- oder Bauern-Orgel: mit einem Rohr geblasen, erzeugt er aus mehreren Pfeifen vielfltige Tçne, orchestriert er sich selbst. Man kann mit dem Luftvorrat im Sack Dauertçne und zugleich dazu abgestimmte Melodien blasen, die, wenn man so will, einander parodieren. Man hat nicht allzu viele Modulationsmçglichkeiten und wenig Tonarten zur Verfgung, kann aber sehr laut werden. Und der Dudelsack kam, wird zuweilen vermutet, aus Thrakien – wie Dionysos. Im kultivierten Frankreich wurde er zu hçfischer Musik verfeinert, in den rauhen schottischen Highlands wurde er besonders heimisch, in Indien wurde er auch zur Schlangenbeschwçrung eingesetzt, und auch im Iran, der Heimat Zarathustras, war er bekannt.914 913 Im vorbereitenden Notat fehlt noch der ironische Nachsatz: „Wie wenig gehçrt zum Glck! Der Ton eines Dudelsacks … Ohne Musik wre das Leben ein Irrthum.“ (N 1888, 15[118],13.478). 914 Mller Farguell, Vorreden der Zukunft, 298, der FW 383 zu Recht so versteht, dass Nietzsche hier auf ein „kalkuliertes Mißverstndnis“ hinauswill, nennt den Du-
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Wie zu Beginn von FW 382 legt Nietzsche auch hier den Hauptton auf das Neue („was ihr zu hçren bekommt, ist wenigstens neu“) und seine Missverstndlichkeit („und wenn ihr’s nicht versteht, wenn ihr den S n g e r missversteht, was liegt daran!“). Er bleibt bei seiner Weise, stimmt sie noch einmal an. Aber zugleich parodiert er sie auch selbst und bietet den ungeduldigen Freunden ein scheinbar leichtes Verstndnis ihres Missverstndnisses an. Er kommt mit der altbekannten biederen Ballade „,des Sngers Fluch‘“ vom wackeren Schwaben Ludwig Uhland. Schwaben, das kçnnen geduldige Freunde wissen, mochte Nietzsche nicht. Schwaben waren fr ihn bis zur Biederkeit eingefleischte Pietisten, schwerfllig, schon wieder gutmtig in ihrer Hinterlist, kokett, wenn sie Geist haben, unschuldige Lgner, Khe,915 das Volk eben von Friedrich Schiller, David Friedrich Strauss und Ludwig Uhland, das Volk, aus dem die Hohenzollern kamen, freilich neben Schelling und Hegel auch Hçlderlin.916 In Uhlands Ballade wollen zwei Snger, ein alter und ein junger, das „steinern Herz“ eines Kçnigs rhren, der „Schrecken“ „sinnt“, „Wut“ „blickt“, „Geißel“ „spricht“ und „Blut“ „schreibt“. Der Alte schlgt die Harfe, der Junge lsst zu ihr seine „himmlisch helle“ Stimme „vorstrçmen“, und der Bass des Alten begleitet ihn „wie dumpfer Geisterchor“. Sie „singen von allem Sßen, was Menschenbrust durchbebt,“ und „von allem Hohen, was Menschenherz erhebt“, also eben das, was die Kobolde der FW hçren wollen, und sie rhren alle, nur den Kçnig nicht, der, um diese Tçne zum Schweigen zu bringen, den blondgelockten Jngling mit dem Schwert durchbohrt. Darauf zieht der alte Snger davon und stçßt, zurckgewandt, den Fluch des ewigen Vergessens gegen das Kçnigsschloss aus, der sich dann auch erfllt: es fllt in Ruinen. Also eine schlichte Tragçdie, wie das Publikum sie kennt und wie sie dem Publikum gefllt. In Nietzsches Mund aber eine nichtsdestoweniger vertrackte Tragçdie. Denn „,des Sngers Fluch‘“ ist keiner, wie FW 383 glauben lsst, der auf dem Snger lastet, weil er missverstanden wird, sondern einer, den er schleudert, weil er – in Nietzsches Sinn – gut verstanden und ernstgenommen wurde. Der grausame Kçnig hat den Gesang nicht missverstanden, sondern richtig als Menschheits-Sirenen-Gesang delsack das „vielstimmigste, indirekteste, ja mißverstndlichste aller Pfeifeninstrumente“ (was vielleicht nicht jeder Dudelsack-Spieler akzeptieren wird), identifiziert aber dann die am Ende von FW 383 genannte „Pfeife“ des Rattenfngers mit ihm, die, so weit das eben bei Musikinstrumenten mçglich ist, wohl eher einstimmig, direkt und unmissverstndlich klingt (s.u.). 915 Vgl. MA II, VM 324; JGB 244; AC 10, 52. 916 Vgl. Stegmaier, Nietzsches Hegel-Bild.
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verstanden, vor dem er seinen Hof wie Nietzsche sein Publikum bewahren will. Und den Fluch des Vergessens hat Uhland mit seiner Ballade wieder aufgehoben; sie hat den Kçnig und die Ruinen seines Schlosses wie Nietzsche den Nihilismus, die Entwertung der obersten Werte, unsterblich gemacht. So ist, an Uhland gemessen, doch nicht „neu“, was Nietzsche erzhlt – er parodiert nur Uhland und mit Uhland sich selbst. Auf Verstndnis und Missverstndnis, die hier einander parodieren, aber soll es nun nicht mehr ankommen, nicht mehr auf Worte, den Inhalt, nur noch die Form, auf die „Musik und Weise“, und nach ihr soll man in jedem Fall tanzen kçnnen. Nietzsche scheint eine weitere Vergrçberung und Vereinfachung anzubieten: keine Harfe, keine helle und keine dumpfe Geisterstimme mehr, sondern eine „Pfeife“. Die eines Dudelsacks oder eines Rattenfngers? Die Pfeife hat bei Nietzsche keinen guten Leumund. In M 206 erscheint sie als „Pfeife der socialistischen Rattenfnger“, die „mit tollen Hoffnungen brnstig machen wollen“. Einen „Rattenfnger“ hat Nietzsche in FW 340 auch den „spçttischen und verliebten Unhold“ Sokrates genannt, „der die bermthigsten Jnglinge zittern und schluchzen machte“, in JGB 205 einen Philosophen, der „zum grossen Schauspieler“ und „Verfhrer“ wird, in JGB 295 aber auch den Philosophen-Gott Dionysos, den „geborenen Rattenfnger der Gewissen, dessen Stimme bis in die Unterwelt jeder Seele hinabzusteigen weiss, welcher nicht ein Wort sagt, nicht einen Blick blickt, in dem nicht eine Rcksicht und Falte der Lockung lge, zu dessen Meisterschaft es gehçrt, dass er zu scheinen versteht“, und schließlich auch sich selbst, den „alten Psychologen und Rattenfnger, vor dem gerade Das, was still bleiben mçchte, l a u t w e r d e n m u s s …“ (GD Vorwort) Eine Flçte spielt aber auch der Satyr Marsyas laut der Liebesrede des Alkibiades auf Sokrates in Platons Symposion, Nietzsches Lieblings-Dialog. Silene wrden stets mit Pfeifen und Flçten dargestellt, und Marsyas bezaubere alle Menschen. Sokrates aber, trotz seiner Hsslichkeit, bezaubere sie auch ohne ein Instrument durch bloße Worte auf faszinierende, dionysische, willenlos machende Weise, so dass man sich vor ihm die Ohren verstopfen msse wie vor den Sirenen. Er, Alkibiades, einer der schçnsten und mchtigsten Mnner zugleich, schme sich allein vor ihm. Er kçnne Sokrates nicht widersprechen, so dass er ihm manchmal den Tod wnsche, der ihn doch, wenn er eintrte, hilflos machen wrde, „so daß ich gar nicht weiß, wie ich es halten soll mit dem Menschen“.917 Sokrates orientiert und desorientiert ihn zugleich, und das 917 Platon, Symposion 215a-216c (bers. Schleiermacher). Den Hinweis auf Platons Symposion verdanke ich Braun, Topographien der Leere, 361.
20.2. Frçhlicher Schluss. Nr. 383
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ist es, was Nietzsche mit den Kobolden seines Buchs tut, den anonymen Lesern, die ein grobes und einfaches Verstndnis erwarten. In FW 84 hatte er sich zu erklren versucht, wie die unntz erscheinende rhythmische Sprache der Poesie sich neben offensichtlich viel Ntzlicherem behaupten konnte, und vermutet: „der Rhythmus ist ein Zwang; er erzeugt eine unberwindliche Lust, nachzugeben, mit einzustimmen; nicht nur der Schritt der Fsse, auch die Seele selber geht dem Tacte nach, – wahrscheinlich, so schloss man, auch die Seele der Gçtter! Man versuchte sie also durch den Rhythmus zu z w i n g e n und eine Gewalt ber sie auszuben: man warf ihnen die Poesie wie eine magische Schlinge um.“ Er schlgt seinen Lesern vor, sich, wenn sie schon den Inhalt seiner Bcher nicht verstnden, doch wenigstens von ihrer Form, ihrer Musik, und, noch einfacher, von seinen Rhythmen umschlingen zu lassen. Und so fragt er sie am Ende selbst: „W o l l t ihr das?…“ Doch „W o l l t“ ist gesperrt, nicht, wie zu erwarten wre, „das“, das Wollen, nicht der Gegenstand des Wollens. Das V. Buch der FW endet nicht mit Alternativen des Wollens, sondern mit dem Wollen als solchem. Am Ende steht ein ernstes Spiel auch mit dem Wollen und den Willen zur Macht. Die Schluss-Frage „W o l l t ihr das?…“ fehlt noch im Entwurf zu FW 383 in N 1886, 4[9], KSA 12.182 f. Er ist „N a c h s p i e l“ berschrieben, noch ganz auf Ermunterung gestimmt und soll zugleich zu den PV berleiten. Es ist auch noch nicht von den „Geistern meines Buches“, sondern von „freien Geistern“ die Rede, die sich ihren Ruf nicht verderben lassen wollen; noch nicht vom „Vormittag“, sondern vom „hellen blauen Tag“. Der Entwurf spricht noch von „Wahrheiten“, nach denen die freien Geister „tanzen“ kçnnen und wollen; noch von „Grillen“ im Sinn von Absonderlichkeiten des Autors, die sie verscheuchen wollen; noch von der Forderung nach einem „Regenbogen“, dem gçttlichen Zeichen fr einen neuen Bund aller Menschen. Es wird auch noch nicht vom rauhen und lauten Dudelsack gesprochen, sondern von „zarten sonnigen windstillen Gedanken-Lmmern und Gedanken-Bçcken“, wohl den PV, wenn sie brav und ohne Sinn fr Ironie und Parodie verstanden werden; auch noch nicht von „,des Sngers Fluch‘“, sondern von „einem ganzen Eimer“ Schillerscher „Milch“ der „frommen, von Herzen thçrichten und milchichten Denkungsart“. Das „w o l l t“ („so soll es nicht an Liedern fehlen, wie ihr sie wollt!“) ist noch nicht betont, es macht auch noch nicht den Schluss, sondern setzt einen neuen Anfang „mit einem Tanzliede fr die muntersten Beine und Herzen: und wahrlich, wer es singt, der thut es Einem zu Ehren, der Ehre verdient, einem der Freiesten unter freien Geistern, der alle Himmel wieder hell und alle Meere brausen macht“, wohl Goethe, dem das erste der PV gewidmet ist. Zu dieser Vorstufe hat Nietzsche zuvor, 1885, schon eine Vorstufe notiert. Das Notat war zunchst zur Umarbeitung des Kapitels „D e r M e n s c h i m
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20. Der große Ernst des Spiels mit allem
V e r k e h r“ aus MA I gedacht918 und fr eine „Vorrede und Vorfrage ,was sind freie Geister‘“ entworfen. Hier soll es die „freien Geister“ nicht kmmern, verwechselt zu werden („Was liegt daran, daß man uns verwechselt? Werden wir uns deshalb verwechseln?“), wenn sie sich nur ihrer selbst sicher sind. Doch dieser Text enthlt auch schon das „Jemand muß uns dazu aufspielen!“, das in der Neufassung von 1886 fehlt und in FW 383 in den Vordergrund tritt. Der „Regenbogen“ wird schon „eine bunte schçne Lgen-Brcke“ genannt, aber noch mit dem Zusatz: „auf der nur Geister, sehr freie, {sehr} luftige lustige Geister wandeln kçnnen!“ Am Ende aber steht wieder ein „Incipit: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch {gute Milch Gute Milch} fr freie Geister“ und davor: „Wollt ihr davon trinken?“ (N 1885, 40[59], KSA 11.657 – 660 / W I 7, S. 38 f.) Auch diese Milch ist voll Bosheit fr fromme Geister bereitgestellt. Freien Geistern kann sie den Magen verderben, die Sinne verwirren und den Geist verfhren.
Auch das „W o l l t“ am Ende von FW 383 ist bçse, bitterbçse. Freie Geister kçnnen nicht nach einer Pfeife tanzen wollen, die allein und unmissverstndlich den Ton angibt; sie verlçren damit all ihre neu errungenen Freiheiten des Geistes, mit eigener Urteilskraft unterscheiden und in eigener Verantwortung entscheiden zu kçnnen, ohne jede Gewissheit der Orientierung im brigen. Aber sie kçnnten immer noch ,wollen‘, das heißt: etwas Bestimmtes wollen, um daran wenigstens einen Halt zu haben. Eben dies wird Nietzsche am Ende von GM von denen sagen, die im asketischen Ideal befangen sind, das ihrem Denken und Leben einen Zweck, ein Ziel in Gestalt eines leeren Ideals vorgibt. Aber Frçhlichkeit kann man nicht einfach wollen (2.1., 20.1.4.). Schon das bloße Wollen erstickt im Sinn des Schlusses von GM die Frçhlichkeit des Lebens und der Wissenschaft: Man kann sich schlechterdings nicht verbergen, w a s eigentlich jenes ganze Wollen ausdrckt, das vom asketischen Ideale her seine Richtung bekommen hat: dieser Hass gegen das Menschliche, mehr noch gegen das Thierische, mehr noch gegen das Stoffliche, dieser Abscheu vor den Sinnen, vor der Vernunft selbst, diese Furcht vor dem Glck und der Schçnheit, dieses Verlangen hinweg aus allem Schein, Wechsel, Werden, Tod, Wunsch, Verlangen selbst – das Alles bedeutet, wagen wir es, dies zu begreifen, einen W i l l e n z u m N i c h t s, einen Widerwillen gegen das Leben, eine Auflehnung gegen die grundstzlichsten Voraussetzungen des Lebens, aber es ist und bleibt ein W i l l e! (GM III 28)
Auch die freiesten Geister mit ihrem „andren Ideal“ laufen stets Gefahr, in neuen Nçten wieder etwas zu wollen, woran sie sich halten kçnnen, mag es auch noch so sinnleer sein. 918 Vgl. Montinari, Kommentar, KSA 14.728. Teile des Entwurfs gingen dann in die neue Vorrede zu MA I ein.
20.2. Frçhlicher Schluss. Nr. 383
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Nietzsche hat FW 383 damit eingeleitet, er sei „Willens“, etwas fr seine Leser zu tun, und dann wiederholt, er sei ihnen „gern zu Willen“. Wenn er nun am Ende fragt „W o l l t ihr …“, so spielt er ein Spiel Willen gegen Willen, parodiert er auch noch das Spiel der Willen zur Macht gegeneinander. Denn es sind hier ja nicht die Leser, die etwas wollen, sondern er ist es, der sie zu einem Wollen einldt, das er ihnen vorschlgt und das sie so nicht wollen kçnnen, jedenfalls nicht offen wollen kçnnen, im Geheimen aber vielleicht doch. Gingen Leser auf seinen Vorschlag ein, kçnnten sie es sich einfach machen. Sie wssten dann, was sie zu tun htten, folgten einer Autoritt, wie es einmal Sokrates war und Nietzsche mit seiner frçhlichen Wissenschaft vielleicht werden kçnnte. Aber sie werden durch eben diese frçhliche Wissenschaft nun hinreichend gewarnt sein. Ein inszeniertes Spiel der Willen zur Macht wre eine schlechte Parodie, ohne Freiheit und ohne Ungewissheit und ohne Frçhlichkeit. Dennoch endet mit solchen Tçnen FW 383 und mit ihm das V. Buch der FW nicht frçhlich. Die Frçhlichkeit ist zum zweiten Mal, nach dem ernsten auch im frçhlichen Schluss verstummt. Und damit beginnt eine neue Tragçdie, nach der fiktiven Zarathustras die wirkliche Tragçdie Europas. Denn mit der dionysischen, frçhlich-ernsten, parodistisch-tragischen Befreiung zuerst der philosophischen und dann auch der alltglichen Orientierung wird das „grçsste neuere Ereigniss“, das Nietzsche in FW 343 angekndigt hat, „dass ,Gott todt ist‘, dass der Glaube an den christlichen Gott unglaubwrdig geworden ist“, das Ereignis, das erst mit langer Verzçgerung wahrgenommen werden wird, schließlich ankommen. Es ist die frçhliche Wissenschaft selbst, die die Tragçdie herbeifhrt. Dies ist nach FW 382 nur noch eine Frage der Zeit („der Zeiger rckt“). Die Zeit der „Erleichterung, Erheiterung, Ermuthigung, Morgenrçthe“ fr die Wenigen, die das Ereignis vorab erraten konnten, wird irgendwann vorbei und die Menschen werden voll dem Nihilismus und seiner „ungeheuren Logik von Schrecken“ ausgesetzt sein (FW 343/4.5.). Die Zeit der frçhlichen Wissenschaft wird dann ein futurum exactum, eine Zwischenzeit gewesen sein: eine Zwischenzeit zwischen ihrem eigenen „Entstehen“, das nach JGB 25 „eine lange Tragçdie“ sein muss (2.1.), und der Tragçdie des unglaubwrdig gewordenen Ideals der bisher herrschenden Moral, mit der „das Schicksal der Seele sich wendet“. Das Schicksal wird sich dann ebenso fr die wenden, die es berrascht, als auch fr die, die es kommen sahen: denn ihnen wird dann die Schuld zugeschrieben werden. Nietzsche hat noch whrend der Arbeit am V. Buch der FW und danach noch einmal fr sich bekrftigt: „D a s t r a g i s c h e Z e i t a l t e r f r E u r o p a: bedingt durch dem Kampf mit dem Nihilismus.“ (N 1886/87, 7[31], KSA
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20. Der große Ernst des Spiels mit allem
12.306) – „Eintritt in das tragische Zeitalter von Europa.“ (N 1887, 9 [83], KSA 12.378 / W II 1, S. 82) Die Tragçdie Europas wird auf die Tragçdie des frçhlichen Wissenschaftlers und die fiktive Tragçdie Zarathustras folgen und beide zur bloßen Parodie machen. Die Einsichten des „G a i s a b e r“, so hat Nietzsche 1885/86 „Unter Freunden“ einen Titel entworfen, werden „Zwischenspiele zwischen zwei Ernsten“ sein (W I 7, S. 1). In seinen folgenden Werken wird Nietzsche den Eintritt der Tragçdie, den er prophezeit hat, noch zu beschleunigen suchen, und es wird ihm schwer werden, wie er im Vorwort zur GD schreiben wird, „inmitten einer dstern und ber die Maassen verantwortlichen Sache seine Heiterkeit aufrecht [zu] erhalten“. Die Werke nach dem V. Buch der FW sind, mit Ausnahme vielleicht der ,Farce‘ WA, kaum mehr frçhlich, sondern vor allem kmpferisch-ernst angelegt: Mit GM forciert Nietzsche die Desillusionierung der in Europa herrschenden Moral, mit GD spitzt er ihre Desillusionierung weiter zu, mit AC schleudert er seinen „Fluch auf das Christenthum“, von dem er die Wende zur Umwertung aller Werte erwartet. Er wird auf sich nehmen, dass ihm, dem „Vorausverknder“, der das Ereignis nicht aufhalten konnte und darum auch nicht wollte (FW 343), die Tragçdie des Nihilismus mit all ihren Folgen zugeschrieben wird. Illusionslose Diagnostiker laufen, gerade wenn es die Moral selbst betrifft, Gefahr, ihrerseits moralisch bekmpft zu werden. „Neue, Namenlose, Schlechtverstndliche“, die fr alle brigen „das eigentliche Fragezeichen“ sind, wirken unertrglich irritierend – vielleicht aber auch faszinierend, wenn sie die Kraft dazu und außerdem Glck haben. Dann berstehen sie die Tragçdie, und dann kçnnte auch der große Ernst des Spiels mit allem, eine frçhliche Wissenschaft in all ihrer Unbefangenheit und tragischen Gewissheit ihrer Ungewissheit, in der philosophischen und in der alltglichen Orientierung ihre Zukunft haben.
Schluss Das V. Buch der FW entlsst uns nicht frçhlich, kaum heiter, eher bedenklich, verunsichert, mit neuen Fragen, die umso mehr beunruhigen, als sie nicht mehr ausdrcklich gestellt werden. Es hat in ebenso unerhçrter wie gelassener Illusionslosigkeit Einblicke in die Grnde und Abgrnde unserer philosophischen, wissenschaftlichen und alltglichen Orientierung gegeben (Stichwort ,Nihilismus‘). Es hat klar gemacht, dass jeder in seiner Orientierung auf sich gestellt ist und jeder Halt, den er in ihr findet, ein Halt ist, den er sich selbst zurechtgelegt hat (Stichwort ,Schaffen‘). Es geht davon aus, dass die meisten sich wohl aneinander orientieren, um es miteinander auszuhalten und voreinander bestehen zu kçnnen, und sich darum auf eine gemeinsame Moral auf Gegenseitigkeit festlegen (Stichwort ,Moral‘). Aber Nietzsche besteht darauf, dass solche Orientierungen an anderen Orientierungen alle zusammen irrefhren kçnnen und das umso mehr, je fragloser und selbstverstndlicher sie werden (Stichwort ,Herdenmoral‘). Stattdessen verlangen von Grund auf neue Umstnde von Grund auf neue Orientierungen, auch in den moralischen Wertungen (Stichwort ,Umwertung aller Werte‘). Zu ihnen sind jedoch nur wenige fhig, auf die dann die meisten angewiesen sind (Stichwort ,das souverne oder autonome bersittliche Individuum‘). Auf diesen Wenigen liegt dann die grçßte Verantwortung (Stichwort ,außerordentliches Privileg der Verantwortlichkeit‘). Sie kommt ihnen nicht durch kodifizierte Rechte und etablierte Institutionen zu, weil auch diese ihre Zeit haben, sondern fllt an solche, die in der jeweiligen Situation anderen berlegene Orientierungs-, Urteils- und Entscheidungsfhigkeiten beweisen (Stichwort ,Rangordnung‘). Man gesteht ihnen dann Macht zu, um mit ihrer Hilfe ber die eingetretenen Desorientierungen hinwegzukommen (Stichwort ,Befehlende und Gesetzgeber‘). Solche neu Orientierenden mssen sich nicht nur von den alten Orientierungen so weit wie mçglich gelçst haben (Stichwort ,freieste Geister‘), sondern auch von dem Bedrfnis, sich weiter vor den meisten, die ihnen noch anhngen, zu rechtfertigen (Stichwort ,Pathos der Distanz‘). Sie mssen die neuen Umstnde jenseits gngiger philosophischer und wissenschaftlicher Vorurteile unbefangen wahrnehmen und unbeschwert begrßen kçnnen (Stichwort ,Frçhlichkeit‘). Sie haben dabei keine letzten Gewissheiten, leben vielmehr im Argwohn gegen alle Be-
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drfnisse nach Glauben (Stichwort ,Argwohn ber die Natur des Menschen‘). Sie mssen sich gegenber den in der Sprache verfestigten Orientierungen die Sensibilitt fr ihre eigene bewahren (Stichwort ,Gewalt der Sprache‘) und sich den gesellschaftlichen Zwngen zur Schauspielerei entziehen kçnnen (Stichwort ,Schauspieler-Gesellschaft‘). Sie legen es darauf an, Bindungen, die auch sie noch nçtig haben, in Frage zu stellen (Stichwort ,So viel Misstrauen, so viel Philosophie‘), suchen ihr Glck darin, sich gerade dem Unbekannten, Fremden, Bedrohlichen auszusetzen (Stichwort ,Furchtlosigkeit‘), und werden so ,Versuchstiere‘ der menschlichen Orientierung (Stichwort ,Experiment‘). Je mehr sie erlebt, erfahren und durchgemacht haben (Stichwort ,grosse Gesundheit‘), je mehr sie dadurch ihre Perspektiven vervielfltigt haben (Stichwort ,Welt-Interpretationen‘) und je umfassender auf diese Weise ihre Orientierung wird (Stichwort ,berreichtum‘), desto hellhçriger werden sie sich dem Spiel des Lebens çffnen (Stichwort ,Musik des Lebens‘) und nicht nur dem Neuen, sondern auch dem Alten gerecht werden (Stichwort ,Freigebigkeit des Geistes‘). Sie wollen dann nichts anders haben, wollen gar nicht mehr, werden immer freier von Ressentiments (Stichwort ,amor fati‘). Gebrauchen sie ihre berlegenheit jedoch dazu, sich in der Macht auf Dauer einzurichten oder auch nur Weisheit zu beanspruchen, erliegen sie ihrerseits dem Bedrfnis nach festem Halt (Stichwort ,Versteck vor dem Geist‘). Dann kehren sich die auf die Gleichheit, Freiheit und Solidaritt aller drngenden moralischen berzeugungen moderner demokratischer Gesellschaften zu Recht gegen sie (Stichwort ,Gewissen‘). Diese berzeugungen tuschen ihrerseits freilich darber hinweg, dass auch und gerade moderne demokratische Gesellschaften Ordnungen wollen, in denen man einigermaßen unbehelligt leben kann, und darum auch Mchte, die sie gewhrleisten, und Menschen, die durch berlegene Orientierungs-, Urteils- und Entscheidungsfhigkeiten imstande sind, sie gegen widerstrebende Interessen durchzusetzen (Stichwort ,Willen zur Macht‘). Der moralische Wille zur Gleichheit und Gemeinsamkeit aller in allem kçnnte daher, wenn er zum Widerwillen gegen alles berlegene und gegen alle Machtausbung wird, die grçßte und gefhrlichste Illusion sein (Stichwort ,dcadence‘). Bekmpft man jedoch seinen Ernst mit eigenem moralischem Ernst, stellt man sich auf eine Stufe mit ihm. Von neuen Illusionen kann darum nur eine Wissenschaft befreien, die auch zum Ernst, zu dem anderer und zum eigenen, noch eine Alternative hat, eben die Frçhlichkeit (Stichwort ,grosser Ernst des Spiels mit allem‘). Frçhliche Wissenschaft befreit von Glauben aller Art, schafft dadurch aber keine Gewissheit, sondern nur tiefere Ungewissheit (Stichwort ,tra-
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gische Erkenntnis‘). Sie hlt die Fraglichkeit aller menschlichen Orientierung wach. Nietzsche sorgt dafr durch seine Aphorismen-Kunst, mit der er seine Begriffe nicht aus einem oder wenigen Prinzipien zu einem System (Stichwort ,Mangel an Rechtschaffenheit‘), sondern ohne Prinzipien in einem Geflecht einander perspektivierender Perspektiven entfaltet (Stichwort ,Perspektiven aus- und wieder einhngen‘). Whrend die frçhliche Fraglichkeit von Nietzsches Philosophie durch systematische Interpretationen konterkariert wird, tritt sie in kontextuellen Interpretationen, die die Aphorismen als solche und im Ganzen in den Blick nehmen, sich ihren berraschungen aussetzen und auch die Rtsel nicht bergehen, die Nietzsche in ihnen aufwirft, erst ganz hervor. Dabei zerfllt Nietzsches Philosophie nicht in isolierte Teile (Stichwort ,Disgregation‘). Soweit die vorliegende kontextuelle Interpretation gelungen ist, zeigt sie im Gegenteil • die durchgehende Kohrenz von Nietzsches Denken im V. Buch der FW und dieses Buchs mit seinem Werk im Ganzen – wenn beachtet wird, dass der Sinn von Nietzsches Begriffen sich sinnvollerweise in neuen Kontexten verschiebt (Stichwort ,flssiger Sinn‘). Darin folgt Nietzsche der alltglichen Orientierung. Sinnverschiebungen in wechselnden Kontexten werden nur von Wissenschaften und Philosophien ausgeschlossen, die darauf aus sind, zeitlose Theorien zu entwickeln (Stichwort ,historische Methodik‘). • eine den Gang des V. Buchs der FW durchziehende Konsequenz der Gedankenentwicklung – in der kritischen und selbstkritischen Befreiung des Philosophierens von unbewussten und ungewollten Bindungen. Frçhliche Wissenschaft schafft Fortschritte im Bewusstsein der Freiheit des Philosophierens ohne den in Europa ausgeprgten, zuletzt von Hegel betonten Willen, das Philosophieren mit logischer Notwendigkeit zu einer letzten Einheit und Allgemeingltigkeit zu fhren (Stichwort ,Freiheit von allem Europa‘). Nietzsche orientiert sich im Gang seines Philosophierens stattdessen an den in allen Lebenszusammenhngen sich anbietenden Bindungen des Denkens selbst und setzt gegen sie nicht eine wiederum nur metaphysisch zu behauptende absolute Freiheit, sondern sucht Schritt fr Schritt lediglich grçßere Spielrume gegen sie zu gewinnen (Stichwort ,heimatloser Wanderer‘), im Wissen, dass auch ein kritisches und selbstkritisches Philosophieren den Boden eines Glaubens nçtig hat, jedoch nicht immer denselben und immer nur auf Zeit (Stichwort ,Tanz‘). • Nietzsches entschiedenen Ansatz bei seiner eigenen, persçnlichen Orientierung, da alle Orientierung, auch die eines Philosophen, letztlich
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individuell, anders als alle andern ist (Stichwort ,Einsiedler in Gesellschaft‘). Dennoch kann eine Orientierung andere ermuntern und ermutigen, sich auf ihre Weise an ihrer befreiten Leichtigkeit zu orientieren (Stichwort ,das neue Lied mittanzen‘) – soweit sie ihrerseits die Voraussetzungen dazu haben. • Nietzsches Willen, von anderen verstanden zu werden – aber nicht von allen, weil nur wenige imstande sein werden, mit seinen schwindelerregenden Einsichten mitzugehen und dann auch mit ihnen zu leben (Stichwort ,feinere Gesetze des Stils‘). Nietzsche setzt seine ganze Kunst dazu ein, die zu erreichen, die ihm vielleicht folgen kçnnen, und die zu verschonen, denen das zu schwer wrde (Stichwort ,Wollt ihr es so schwer haben wie ich?‘). Jeder muss selbst sehen, wie schwer er es sich machen will, um leicht im Denken zu werden. Auch die frçhliche Wissenschaft, gibt Nietzsche mit dem Ausgang des V. Buchs zu verstehen, hat ihre Zeit. Wird sie verstanden und wird also der alte Glaube vollends unglaubwrdig, so muss sie bei denen, die ihn weiter zum Leben brauchen, eine schwere Desorientierung und lange Haltlosigkeit auslçsen, muss das Wissen um ein Dasein ohne Ziel und Zweck zu einer Tragçdie fhren (Stichworte ,Wille zur Zerstçrung‘, ,Wille ins Nichts‘). Nietzsche hat schlimme, aber unvermeidliche Folgen des europischen Nihilismus erwartet. Es drngt sich auf, die moralisch-politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts als solche zu verstehen, die willige Unterwerfung kulturell hochstehender Vçlker unter totalitre Regime, die mit Erlçsungsversprechen lockten und verheerende Kriege und staatlich organisierte Vçlkermorde betrieben (Stichwort ,die Mchtigen zwingen, Henker zu sein‘). Wre mit diesen Regimen dann auch der Nihilismus berwunden? Die Frage ist schwer zu entscheiden. Einerseits ist in Europa und weltweit, besonders aber in Deutschland, das sich der schwersten Menschheitsverbrechen schuldig gemacht hat, der Drang nach moralischer Einheit und geistiger Gemeinsamkeit deutlich gewachsen, werden die Einzelnen immer strker sozial eingebunden (Stichwort ,Herde‘). Das kçnnte ein Zeichen fortschreitender Nivellierung der Menschen in den modernen demokratischen Gesellschaften, gegen die Nietzsche so sehr angekmpft hat, und schwindender Verantwortung der Einzelnen sein (Stichwort ,Mut zum Alleinstehn‘). Doch andererseits ist das Leben der Menschen durch seine Sozialisierung und Technisierung zunehmend leichter, bequemer, unterhaltsamer, lustvoller und so auch frçhlicher geworden (Stichwort ,Spiel‘), und der alte Ernst im Glauben an ein besseres Leben und an einen jenseitigen Anhalt dafr ist nicht mehr so nçtig
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(Stichwort ,extreme Glaubensstze‘). Die Menschen sind offener dafr geworden, statt auf Wahrheiten zu bauen, die sich allzu oft als Illusionen entpuppt haben, sich eben auf Illusionen einzulassen, soweit und solange man sie eben nçtig hat, um sie dann auch wieder aufzugeben (Stichwort ,Geltenlassen von Fiktionen‘). So scheint, nach einem Jahrhundert, die frçhliche Wissenschaft nicht mehr nur Sache weniger furchtlos Erkennender (Stichwort ,Abenteuer‘), sondern zunehmend selbstverstndlich geworden, scheint der Nihilismus entschrft zu sein (Stichwort ,Praktik‘). Zugleich aber haben sich neue globale Gefhrdungen aufgetan, die Zerstçrung der natrlichen Lebensgrundlagen durch ihre çkonomische Ausbeutung, die Bedrohung des friedlichen zivilen Zusammenlebens der Menschen durch allgegenwrtigen Terrorismus, die wachsende Abhngigkeit von immer komplexerer und damit auch stçranflligerer Technik, die unabsehbaren Risiken der Zukunftsvorsorge durch ein schwer durchschaubares und kaum beherrschbares weltweites Wirtschafts- und Finanzsystem. Ihnen kann nicht allein durch eine weitere Steigerung der moralischen Korrektheit begegnet werden, sie erfordern zu ihrer Bewltigung auch eine enorme Steigerung der Orientierungs-, Urteils- und Entscheidungsfhigkeiten, wie Nietzsche sie fr nçtig hielt (Stichwort ,Erhçhung des Typus Mensch‘). Darf man darauf setzen, dass die Nçte des Lebens und berlebens diese Steigerung gegen die Tendenz zur Nivellierung der Menschen erzwingen werden? Nietzsche sah eine Zukunft fr die Menschheit vor allem im Seltenen, Außerordentlichen, Großen (Stichwort ,Grçße‘). Im Zug der Globalisierung sind wir inzwischen berall dem Großen im quantitativen Sinn ausgesetzt, gegen die Großen im qualitativen Sinn aber immer misstrauischer geworden. Auch das kann ein Zeichen wachsender Nivellierung sein, aber auch der Entpathetisierung und Entheroisierung, des Alltglich-Werdens des Großen, der Gewçhnung an es; in der sich globalisierenden Welt werden alle Grçßen kleiner. Vielleicht kommt uns darum, wie Friedrich Drrenmatt, ein passionierter NietzscheLeser, schon 1955 schrieb, „nur noch die Komçdie bei.“917 Ebenso verliert in der Wissenschaft das Große im dialektischen, paradoxen Sinn allmhlich seinen Schrecken. Wir haben begonnen, Paradoxa nicht mehr nur als Blockierungen des Denkens, sondern auch als Anstçße und Anfnge eines anderen Denkens zu begreifen, eines dialektischen Denkens, das sich durch seine Selbstbezglichkeit nicht aus seinen Lebensbedingungen lçst, sie aber komplexer erfassen und beeinflussen kann, ohne je zu letzten 917 Drrenmatt, Theaterprobleme, 122. Vgl. zu Drrenmatts Nietzsche-Lektre Kçrber, Nietzsche nach 1945, 100 – 110.
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Gewissheiten und einem festen Halt der Orientierung zu kommen. Und da Paradoxien immer gleich gltige gegenstzliche Alternativen offenhalten, kçnnte auch dies ein Schritt weiter in der frçhlichen Wissenschaft sein (Stichwort ,Dionysos als Philosoph‘). Das V. Buch von Nietzsches Frçhlicher Wissenschaft, dem wir denkbar aufschlussreiche Befreiungen des Philosophierens verdanken, bestrkt die Gewissheit, dass Interpretationen ungewiss bleiben, dass es keine letztgltigen Interpretationen geben kann, auch nicht in einer kontextuellen Interpretation eben dieses V. Buchs. Auch hier bleiben immer noch Alternativen, und das macht frçhlich. Nietzsches Texte berraschen so unerschçpflich, dass die Freude an ihnen nicht versiegt.
Literaturverzeichnis Hinweise zur Zitation der Werke Nietzsches Nietzsches Texte werden zitiert nach KGW/KSA und KGB. Die verçffentlichten oder zur Verçffentlichung vorgesehenen Werke werden mit Sigle und Kapitel- bzw. Aphorismen-Nummer, ggf. Untertiteln nachgewiesen, die nicht verçffentlichten Notate mit dem von Montinari vermuteten Entstehungsjahr, der Nummer des Notizhefts bzw. der Manuskriptmappe, der Nummer des Notats in eckigen Klammern und Band und Seite der KSA. Die Notate von 1885 an werden außerdem nach der neuen Edition der KGW IX mit der Signatur des Notizhefts bzw. der Manuskriptmappe nach Hans-Joachim Mette und Seite der KGW IX nachgewiesen und auch nach KGW IX zitiert, soweit sie bereits ediert sind (Stand Juli 2011). Die in KGW IX kenntlich gemachten Streichungen werden als solche wiedergegeben und die nachtrglichen Einfgungen in geschwungene Klammern gesetzt. Die Seitenzhlung setzt in KGW IX bei der Wiedergabe jedes Notizhefts bzw. jeder Manuskriptmappe neu ein. Briefe werden mit Datum und Briefnummer der KGB/KSB zitiert. Auslassungen und Einfgungen werden durch […], Anpassungen der Flexion und nderungen der Groß- und Kleinschreibung am Beginn von Zitaten nicht angezeigt. Auf Kapitel und Abschnitte des vorliegenden Buchs wird anhand der Dezimalnotierung des Inhaltsverzeichnisses verwiesen; kursiv gesetzte Nachweise beziehen sich auf die Abschnitte zu Nietzsches schriftstellerischen Methoden (NSM X). Zitate aus dem jeweils behandelten Aphorismus sind dort fett gesetzt, wo sie Thema der Interpretation sind, außerdem dort, wo die KGW/KSA es vorgibt.
Siglen der Werke Nietzsches AC BA CV CV 1 CV 3 CV 5 DD DS DW EH FW GD
Der Antichrist ber die Zukunft unserer Bildungsanstalten Fnf Vorreden zu fnf ungeschriebenen Bchern Ueber das Pathos der Wahrheit Der griechische Staat Homer’s Wettkampf Dionysos-Dithyramben David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller (UB I) Die dionysische Weltanschauung Ecce homo Die frçhliche Wissenschaft Gçtzen-Dmmerung
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Namenregister Abel, Gnter 262, 355, 387, 391 f., 531, 612 Adorno, Theodor W. 4, 139, 188 Agamben, Giorgio 37 Aichele, Alexander 612 Aischylos 326 Albert, Henri 78 Alberts, Benjamin 151 Alexander der Große 18, 107 f., 343, 345, 356 Alexander VI. 250 Alkibiades 636 Allen, Gary Wilson 40 Allison, David B. 63, 112 Anaxagoras 244, 321 Anaximander 321, 549, 563 Andreas-Salom, Lou 25, 51, 99, 108, 118, 121, 426 Ansell-Pearson, Keith 91, 307 Anter, Andreas 252 Anton, Herbert 356 Appel, Sabine 96 Appell, Fredrick 349 f. Ariston von Chios 602 Aristoteles 7, 19, 71, 122, 426, 446, 465, 487, 493, 522, 556 Arouet, FranÅois 141 Assisi, Franz von 238 Augustinus 7, 182, 228, 514, 611 Authier, Jacqueline 292 Avenarius, Richard 281 Babich, Babette 9, 49, 79 Bach, Johann Sebastian 361 f. Bacon, Francis 62, 122, 141, 346, 459, 510 Baecker, Dirk 616 Baeumer, Max L. 247, 478 Baeumler, Alfred 47, 62 Bahnsen, Julius 204, 382
Balzac, Honor de 363, 481 Br, Jochen A. 96 Barbey d’Aurevilly, Jules Amde 342 Bataille, Georges 349, 422 Bates, Henry Walter 331 Batz, Philipp (siehe Mainlnder, Philipp) Baudelaire, Charles 472 Bauer, Martin 391 Baumann, Julius J. 251 Baumeister, Thomas 507 Baumgarten, Eduard 40 Bayman, Henry 207 Beethoven, Ludwig van 309, 343, 363, 441, 448, 471, 512, 634 Behler, Diana 422 Behler, Ernst 262, 472 f. Bellah, Robert N. 323 Beneke, Eduard 240 Benne, Christian 66, 79, 82, 473, 625 Bennholdt-Thomsen, Anke 16 Bentham, Jeremiah 141 Bentham, Jeremy 141, 166, 459 Benz, Ernst 247 Berlioz, Hector 471, 506 Berman, David 255, 376 Bernard, Claude 481 Bernauer, Markus 512 Bernini, Gian Lorenzo 515 Bernoulli, Carl Albrecht 38, 141 Bertino, Andrea Christian 37, 294, 420, 440 Bertram, Ernst 70, 473 Beutel, Albrecht 247 Biebuyck, Benjamin 582, 584 Birault, Henri 125 Biser, Eugen 580
704
Namenregister
Bismarck, Otto von 224, 365, 367, 552, 558 Bitter, Carl Hermann 361 Bizet, Georges 51, 101, 507 Blanchot, Maurice 349 Blondel, ric 65, 292, 612 Bluhm, Heinz 247 Blumenberg, Hans 149, 297, 520 Bçckler, Anne 277 Bohrer, Karl-Heinz 75 Bçhringer, Hannes 313 Bollenbeck, Georg 556 Borchmeyer, Dieter 106, 144, 314, 364, 507 Borgia, Roderic (siehe Alexander VI.) Bçrne, Ludwig 465 Bornedal, Peter 70 Bornmann, Fritz 420 Borsche, Tilman 9, 37–39, 184, 544 Bosˇcovic´, Nikola 151 Bosˇcovic´, Rugjer Josip 151, 390 f., 528, 531 Bourdeau, Jean 100 Bourdieu, Pierre 241, 520 Bourget, Paul 204, 472 Bovenschen, Silvia 139 Boyle, Robert 150 Braatz, Kurt 158, 308, 330 Brahe, Tycho 150 Brahms, Johannes 506 f. Braid, James 334 Brandes, Georg 13, 178, 459, 553, 617 Brandt, Wolfgang 291 f. Braudel, Fernand 226 Braun, Stephan 631, 633, 636 Brutigam, Bernd 142 Breazeale, Daniel 183, 286 Bremer, Dieter 238 Bretz, Martina 349 Brobjer, Thomas H. 155, 166, 372, 402, 528, 530, 553 f., 608 Broese, Konstantin 376 Broglie, Paul de 93–95 Brotbeck, Stefan 24, 68, 480 f. Brown, Richard 206 Bruno, Giordano 511
Bruse, Klaus-Detlef 535 Brusotti, Marco 18, 48, 63, 173, 235 f., 336, 440, 580 Brutus, Marcus Iunius 108 Bcken, Ernst 364 Buckle, Henry Thomas 166 Buddha (Siddhartha Gautama) 84, 92, 101, 242, 383 Blow, Cosima von (siehe Wagner, Cosima) Burckhardt, Jacob 38, 142, 491, 513, 556, 617 f., 629 f. Burgard, Peter J. 422 Busemann, Jan Dirk 459 Byron, George Gordon Noel Lord 320 f., 583 Caesar, Gaius Iulius 343–345, 349 Cagliostro, Alexander Graf von (Joseph Balsamo) 335 Calvin, Johannes 314 Came, Daniel 476 Campioni, Guiliano 38, 41, 64, 104, 159, 226, 262, 568 Carrire, Moritz 373 Caussy, Ferdinand 234 Cellini, Benvenuto 313 Cervantes, Miguel de 134, 472 Chamisso, Adelbert von 103 Charcot, Jean Martin 335 Chopin, Frdric 471 Chrtien de Troyes 37 Christians, Ingo 454 Cicero, Marcus Tullius 228 Clark, Maudemarie 81, 411 Colli, Giorgio 52, 62, 79, 82, 406 Columbus, Christoph 50, 116, 416, 610 Comte, Auguste 122, 210, 351, 459, 481 Conant, James 350 Condillac, tienne Bonnet de 514, 518 Conolly, William E. 350 Const ncio, Jo¼o 271, 375 Conway, Daniel 307, 343, 624 Corbineau-Hoffmann, Angelika 612
Namenregister
Cowan, Michael 212 Cox, Christoph 411 Crawford, Claudia 268, 270 Dahlkvist, Tobias 133, 204 f., 382 D’Alembert, Jean-Baptiste le Rond 481 Dante Alighieri 103, 450, 505 Danto, Arthur C. 136 Darwin, Charles 31, 86, 128, 150–152, 166, 187, 370 f., 402 f., 485 Darwin, Robert Waring 150 Darwin, Susannah 150 Daston, Lorraine 127 Decher, Friedhelm 384, 605 Del Caro, Adrian 473 Delacroix, Eugne 373, 471 Deleuze, Gilles 422, 543 Dellinger, Jakob 411 Demokrit 321, 380 Derrida, Jacques 131, 181, 188, 262, 292, 324, 336, 349 f., 405, 422 f., 435, 576, 582, 623, 631 Descartes, Ren 6 f., 62, 121 f., 149, 197, 262 f., 265, 271, 299 f., 367 f., 401, 405, 441, 459, 514, 521, 530, 545 Detering, Heinrich 76 Deussen, Paul 141 Dewey, Melville 7 d’Holbach, Paul Henri Thiry 150 Diderot, Denis 459 Diemer, Alwin 271, 299 Diethe, Carol 334 Dietzsch, Steffen 473 Dilthey, Wilhelm 141, 154 f., 282, 300 Diogenes Laertios 509, 513, 623 Dion von Syrakus 522 Dixsaut, Monique 131 Djuric´, Mihailo 48, 612 Dombowsky, Don 343, 349, 554 Dostojewsky, Fjodor 140, 254 Doudan, Ximns 93–95 Du Bois-Reymond, Emil 299 Dudley, Will 183
705
Dufour, ric 472, 501, 503, 506, 536 Dhring, Eugen 166, 173, 182, 456 Drrenmatt, Friedrich 645 Dyck, Anthonis van 490 Eckermann, Johann Peter 342 Egert, Andreas 11 Eichendorff, Joseph von 471, 485 Eiser, Otto 433 Elbersbach, Volker 420 Elias, Norbert 241, 278 Ellrich, Lutz 75 Emerson, Ralph Waldo 40 f., 46, 59 f., 142, 350, 543 Empedokles 244, 321, 371, 441, 563 Engels, Friedrich 553 Epiktet 247 f., 315 Epikur 103, 116, 329, 357, 420, 448, 473 Erasmus von Rotterdam 94 Erler, Michael 522, 533 Eschenbach, Wolfram von 37 Espinas, Alfred 266, 287, 584 Euripides 558, 623 Fabre, Florence 472 Fauriel, Claude-Charles 38 Faustino, Marta 604 Fechner, Gustav Theodor 390 Fedler, Stephan 10 Feldhoff, Jrgen 481 Ferber, Rafael 440, 592 Feuerbach, Ludwig 128, 141, 587 Feuerbach, Paul Johann Anselm von 141 Fichte, Immanuel Hermann 373 Fichte, Johann Gottlieb 227, 299, 371–374 Fietz, Rudolf 535 Figal, Gnter 48 f., 63 Figl, Johann 91, 144, 225, 242, 314, 355, 364 Fink, Eugen 612 Fischer, Kuno 372, 530 Flaig, Egon 555, 557
706
Namenregister
Flaubert, Gustave 494 Fleischer, Margot 206 Foissac, Pierre 110 Fornari, Maria Cristina 402 Fçrster, Bernhard 54 Forster, Michael 390 Fçrster-Nietzsche, Elisabeth 17, 21, 25, 51 f., 54, 70, 82, 93, 176, 402, 455, 470, 473, 633 Fortlage, Karl 372 Foucault, Michel 262, 422, 522 Franck, Csar 506 Freud, Sigmund 335, 368, 423 Friedrich II. (Staufer) 38 Friedrich II. von Preußen 340 Friedrich Wilhelm I. von Preußen 340 Friedrich, Caspar David 471 Fritzsch, Ernst Wilhelm 36, 54–58, 221 Frohschammer, Jakob 373 Frchtl, Joseph 188 Fuchs, Carl 50 f., 502 f. Galen 139 Galiani, Fernando 350 Galilei, Galileo 151, 405 Galison, Peter 127 Gallagher, Shaun 277 Gamm, Gerhard 372 Garca, Andr Luis Muniz 262 Gasser, Peter 582, 610 Gast, Peter (siehe Kçselitz, Heinrich) Gauger, Hans-Martin 75, 118 Gawoll, Hans-Jrgen 524, 528, 530 Gebhard, Walter 62, 292 Gebhart, mile 38 Gentili, Carlo 14, 75, 144 Georges, Karl Ernst 609 Georg-Lauer, Jutta 504 Graudel, Auguste Arthur 514 Gerber, Hans Erhard 445 Gerhardt, Carl Immanuel 368 Gerhardt, Volker 18, 212, 256, 343, 382, 411, 413 Gerike, Inga 82 Gerlach, Hans-Martin 209
Gersdorff, Carl von 157, 572 Geyer, Ludwig 327 Ghedini, Francesco 238 Giametta, Sossio 63 Gilman, Sander L. 433, 623 f. Girard, Ren 233 f. Gçdde, Gnter 266, 382 Goedert, Georges 375 Goethe, Johann Caspar 141 Goethe, Johann Wolfgang von 52, 103, 108, 141, 170, 223, 299, 341–343, 345, 363, 365–367, 373 f., 378, 441 f., 444 f., 448, 465, 474, 478, 489–491, 494, 527, 533, 546, 578, 583, 617, 623, 626, 629 f., 637 Goffman, Erving 180, 444 Gori, Pietro 262, 281 Gçrner, Rdiger 76, 473, 507 Granier, Jean 69 f. Grau, Gerd-Gnther 369 Graumann, Carl-Friedrich 274 Gray, Richard T. 183 Greaney, Patrick 336 Green, Michael Steven 369 Greiner, Bernhard 9, 75, 292 Grimm, Jacob 29, 158, 169, 271, 334, 361, 508 Grimm, Reinhold 624 Grimm, Wilhelm 29, 158, 169, 271, 334, 508 Groddeck, Wolfram 40, 54, 59 f., 82, 85, 478, 625 Groh, Dieter 343 Grçzinger, Karl 143 Gsell-Fels, Theodor 38 Guattari, Flix 543 Gnther, Friederike Felicitas 241, 503 Gutmann, Thomas 262 Guyau, Jean-Marie 167 Haase, Marie-Luise 19, 82, 583 f. Habermas, Jrgen 4 Haeckel, Ernst 122, 150, 299, 481 Haering, Theodor 372 Hafis 489–491 Hager, Fritz-Peter 238
Namenregister
Hales, Steven D. 411 Hamacher, Werner 262, 284, 449 f. Hanslick, Eduard 501 Hartmann, Eduard von 166, 202, 204, 270, 280, 287, 371, 381 f., 456 Hatab, Lawrence J. 49, 206, 349 f. Hausdorff, Felix 21 Hauser, Arnold 39 Hußling, Roger 308 Havemann, Daniel 182 Haydn, Joseph 506 Heftrich, Eckhard 24, 474 Hegel, Georg Ludwig 141 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 7, 86, 125, 141, 161, 166, 183–189, 227, 255, 286, 293, 300 f., 303, 337 f., 355, 359, 365 f., 370–374, 376–378, 380 f., 422, 456, 492 f., 514, 521, 523, 533, 618 f., 635, 643 Heidegger, Martin 9, 18, 21, 43, 47–49, 62, 69 f., 105 f., 131, 234, 273, 296, 410, 520 Heine, Heinrich 363, 374, 378, 459, 465, 580, 623 Heinrich, Ernst 361 Heinz, Marion 422 Heit, Helmut 356 Heller, Peter 13, 28, 77, 377, 472 f., 507 Henke, Dieter 221 Hennemann Barale, Ingrid 473 Henrich, Dieter 77 Heraklit 21, 115, 183, 244, 321, 371, 441, 479, 487, 493, 547, 549, 617 Herbart, Johann Friedrich 299 Herder, Johann Gottfried 36–38, 285, 319, 341, 583 Hermens, Janske 606 Hetzel, Andreas 612 Heyer, Gerhard 365 Higgins, Kathleen Marie 49, 63, 85, 340, 436 Hill, R. Kevin 369 Hilpert, Konrad 262 Hirsch, Emanuel 247
707
Hitler, Adolf 343 Hobbes, Thomas 149, 166, 459 Hoffmann von Fallersleben, Heinrich 383 Hofmann, Doris Vera 349 Hofmann, Johann Nepomuk 355 Hofstee, Willem 228 Hçlderlin, Friedrich 97, 635 Holzer, Angela 106, 241, 343 Home of Chirnside, Joseph 141 Homer 107, 489 f. Hong, Wen-Tsien 535 Honig, Bonnie 350 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 75, 94, 474, 597 Horkheimer, Max 4 Houlgate, Stephen 183 Huber, Johannes 373 Hufnagel, Henning 115 Hugo, Victor 471 Humboldt, Wilhelm von 184, 268, 270, 285, 372, 523, 556 Hume, David 141, 166, 281, 369, 514, 518, 521, 530 Husserl, Edmund 262, 281, 296 f., 520 Huygens, Christiaan 150 Huygens, Constantijn 150 Irigaray, Luce 336, 422 Isidor von Sevilla 609 Iwawaki-Riebel, Toyomi 570 Jaegher, Hanne de 277 James, William 404 Janaway, Christopher 376 Janssen, Johannes 247 Janssen, Wilhelm 338 Janz, Curt Paul 14, 37, 93, 283, 448, 544, 580 Jaspers, Karl 70 Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter) 29, 292, 583 Jesus Christus 30, 37, 43, 59, 91, 140, 172, 182, 223, 237, 242, 249, 254, 364, 447, 470, 493, 519, 542, 550, 574, 576 Jol, Karl 472, 623
708
Namenregister
Jokisch, Rodrigo 150 Jolly, Julius 13 Jung, Joachim 570 Jurist, Elliot T. 183 Kant, Immanuel 4, 6 f., 19, 46, 70, 86, 121, 125, 127 f., 141, 161, 164, 166, 178, 201, 212, 227, 267, 272, 280–283, 285, 315–317, 337 f., 341, 351, 359, 366, 368–374, 376 f., 405, 411, 413 f., 417, 438, 447, 456, 459, 492 f., 514, 518 f., 521–524, 530, 533, 549, 556, 573, 604, 610 Kant, Johann Georg 141 Kapust, Antje 557 Katz, Claire 143 Kaufmann, Walter 8 f., 40, 47 f., 62 f., 70, 78, 85, 125, 136, 150, 166, 210, 247, 293, 315, 384, 404, 449, 465, 473, 477, 529, 577, 583, 592 Kaulbach, Friedrich 369, 411 Keats, John 471 Keenan, Dennis King 234 Kepler, Johannes 151, 405 Kiedaisch, Petra 96 Kierkegaard, Søren 6 f., 43, 405, 436 Kittsteiner, Heinz-Dieter 379 Klauck, Thomas 602 Kleffmann, Tom 247 Kleger, Heinz 323 Klockow, Reinhard 291 Klossowski, Pierre 21, 62, 422, 623 Knoblich, Gnther 277 Knoepffler, Nikolaus 507 Knortz, Karl 52 Kofman, Sarah 75, 145, 422 Kohlenbach, Michael 82 Kçhler, Joachim 64, 433 Kçhnke, Klaus Christian 369 Kondylis, Panajotis 150 Konersmann, Ralf 315 Kçnig, Gert 283 Kopernikus, Nicolaus 150, 610 Kçrber, Thomas 645
Kçselitz, Heinrich 10, 25, 38, 50–52, 54–58, 70, 82, 249, 384, 426, 433, 455, 459, 502, 504–506, 511, 572, 617 Koßler, Matthias 376 Kçster, Peter 221 Krochmalnik, Daniel 144 Kroner, Richard 372 Krger, Heinz 9 Krummel, Richard Frank 240 Kuhn, Elisabeth 9, 204, 208 Khn, Manfred 141 Kuhnle, Till R. 139 Kupin, Alexander 17, 262 Lamarck, Jean-Baptist de 150, 371, 402, 481 Lampert, Laurence 62 Landerer, Christoph 472, 501 Lange, Friedrich Albert 128, 142, 390, 550 Langer, Monika M. 63 Large, Duncan 247 Las Cases, Emmanuel-Augustin-Dieudonn-Joseph Comte de 342 Lassalle, Ferdinand 469 Lebrun, Grard 183 Leibniz, Gottfried Wilhelm 106, 128, 141, 265 f., 272, 283, 285, 359, 366–371, 373 f., 376 f., 381, 417, 456, 493, 514, 530, 549, 572, 623 Leibntz, Friedrich (Vater von G. W. Leibniz) 141 Leiter, Brian 411 Lemm, Vanessa 556, 565 Leo XIII. 224 Leonardo da Vinci 505, 507 Leopardi, Giacomo 471 Lermontow, Michail Jurjewitsch 471 Lessing, Gotthold Ephraim 106, 341, 451 Levi, Hermann 13 Levinas, Emmanuel 405, 422, 521 Lichtblau, Klaus 308 Lichtenberg, Georg Christoph 11 Libert, Georges 472
709
Namenregister
Liebmann, Otto 272, 584 Liszt, Franz 327, 506 Liveri, Giuseppe Turco 528 Livius, Titus 228 Locke, John 521 Loeb, Paul 21 Longfellow, Henry Wadsworth 579 f. Lorenz, Stefan 233 Lorrain, Claude 491 f. Lossi, Annamaria 208 Losurdo, Domenico 144, 553 f., 558 Lotter, Maria-Sibylla 350 Loukidelis, Nikolaos 272 Love, Frederick R. 507 Lçw, Reinhard 70 Lçwith, Karl 62, 85, 205 Ludwig XIV. von Frankreich 94 Luhmann, Niklas 4, 105, 131, 172, 263, 298, 319, 329, 405, 614, 616 Lukas (Evangelist) 250 Lukian von Samosata 458, 583 Lupo, Luca 103 f. Luther, Martin 29, 187, 210 f., 221 f., 224, 245–247, 249–252, 254, 256, 314, 377, 385, 402, 593, 611 Ltterfelds, Wilhelm 403 Mach, Ernst 281 Machiavelli, Niccol 345, 349, 366, 448, 459 Mainlnder, Philipp 382–384 Maistre, Joseph de 234 Makropoulos, Michael 115 Malthus, Daniel 151 Malthus, Thomas Robert 150 f. Mancini, Mario 37, 172 Mandelbaum, Maurice 370 Mann, Thomas 473, 603 Manzoni, Alessandro 471 Marcus Aurelius 440, 592 Marmysz, John 204, 207 Marrou, Henri-Irne 38 Marschner, Heinrich 471 Marti, Urs 313, 323, 338, 348, 553, 558
Martins, Andr 50 Marx, Karl 188, 553, 560 Masini, Ferrucio 75, 361, 461, 536, 597 Mattenklott, Gert 85 Mayer, Robert 390–392 Mayr, Ernst 151, 370, 403 McIntyre, Alex 456 Mendelssohn, Moses 549 Mendelssohn Bartholdy, Felix 471 Meyer, Philipp 222 Meysenbug, Malwida von 382, 402, 449, 490, 511 Milkowski, Marcin 420 Mill, John Stuart 166, 281, 350, 402, 554 Miranda de Almeida, Rogrio 131 Mittelstdt, Gerhard 240 Mittmann, Thomas 144 Mohammed 345 Molire (Jean Baptiste Poquelin) 272, 458 Mongr, Paul (siehe Hausdorff, Felix) Montaigne, Michel de 41, 94 f., 98, 103, 249, 315, 324, 401, 459, 603 Montesquieu 226 Montinari, Mazzino 12, 65, 72, 79, 82, 99, 113, 117 f., 172, 218, 266, 276, 342–344, 360, 372, 390, 475, 506, 530, 630, 638 Moore, Gregory 151, 335 Moss, Stphane 144 Mozart, Wolfgang Amadeus 98, 492 Mller, Enrico 5, 238, 318, 474, 534 f. Mller, Heinrich 583 Mller, Max 91 Mller Farguell, Roger W. 625, 634 Mller-Lauter, Wolfgang 21, 69 f., 204 f., 316, 390, 406 Mller-Seyfarth, Winfried H. 383 f. Mulsow, Martin 149 Musset, Alfred de 471 Nail, Norbert
291 f.
710
Namenregister
Napoleon 18, 108, 160, 223, 309, 341–346, 363, 448, 471 Naumann, Barbara 582 Naumann, Constantin Georg 42, 108, 617 f. Naumann, Emil 361 Nehamas, Alexander 75, 283, 411 Newton, Isaac 149 f., 405 Nicodemo, Nicola 604 Niebuhr, Barthold Georg 341 Niehues-Prçbsting, Heinrich 509 f., 513, 623 Niemeyer, Christian 49, 64, 87, 338 Nietzsche, Carl Ludwig 91, 142, 152, 222 Nietzsche, Elisabeth (siehe FçrsterNietzsche, Elisabeth) Nietzsche, Franziska 21, 93, 617 Nipperdey, Thomas 552 Nishitani, Keiji 206 Noir, Ludwig 270 Nostredame, Jehan de 38 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 471, 473 Oliver, Kelly 422 f. Oosterlink, Henk 624 f. Orsucci, Andrea 225, 247, 262, 402, 572 Ottmann, Henning 49, 59, 87, 169, 171, 204, 307, 325, 342, 346 f., 402, 535, 553, 555, 561 Otto, Rdiger 531 Overbeck, Franz 14, 25, 50–52, 56, 60, 157, 178, 276, 320, 383, 450, 505, 511, 526, 534, 611, 618 Overbeck, Ida 50 Owen, David 307, 348, 350, 565 Paolo, Ezequiel di 277 Parmenides 7, 19, 121, 321, 487, 527, 534, 550, 563 Pascal, Blaise 7, 10, 103, 113, 141, 228 f., 232, 249, 254, 324, 405, 415–417, 441, 459, 494, 527, 530 Pascal, tienne 141 Paschoal, Antonio Edmilson 336
Pasley, Malcolm 604 Paulus (Apostel) 39, 42, 182, 210, 242, 574, 611 Pearsall, Marilyn 422 Peirce, Charles Sanders 480 f. Penzo, Giorgio 584 Perger, Mischa von 534 Perikles 308, 318 Pestalozzi, Karl 580 Petersdorff, Dirk von 473 Petronius, Titus 39 Petrus (Apostel) 253 Phaidros 522, 633 Piazzesi, Chiara 64, 171 f., 241, 262 Picart, Caroline Joan S. 423 Pikulik, Lothar 471 Pippin, Robert 49 Pius IX. 224 Platon 5, 7, 17, 44, 62, 101–104, 136, 181, 187, 208, 220, 238, 249, 290, 293, 299, 321, 329, 348, 371, 420, 441, 487, 493, 502, 514–516, 521–524, 527, 532–535, 563, 610, 616, 633, 636 Politycki, Matthias 445, 473 f. Poljakova, Ekaterina 140, 348 Pçltner, Gnther 535 Pontius Pilatus 91 Ponton, Olivier 49, 616 Porter, James I. 238, 262 Prodi, Paolo 255 Protagoras 285 Pulkkinen, Tuija 422 Purcell, Henry 458 Purtschert, Patricia 183 Puschkin, Alexander Sergejewitsch 471 Ptz, Peter 9, 48, 55, 434 Pythagoras 187, 238, 244, 514, 563 Racine, Jean 492 Raffael 490 f., 604 Raglan, Fitzroy James Henry Somerset Lord 94 Reckermann, Alfons 21, 62, 75, 411, 414, 422
Namenregister
Re, Paul 25, 51 f., 166, 382, 402, 449 Reginster, Bernard 206 Reibnitz, Barbara von 78, 558 Reich, Hauke 157 Reiner, Hans 380 Rmusat, Claire de 342–344 Renan, Ernest 630 Rendtorff, Trutz 224 Rennie, Nicholas 445 Renzi, Luca 87 Reschke, Renate 38 f., 62, 78, 166, 338, 383, 455, 513 Reuter, Caspar 141 Reyer, Ernest 506 Ribot, Thodule 212 Riccardi, Mattia 283, 369 Richardson, John 70, 151, 411 Richardson, Robert D. 40 Richet, Charles 95, 262 Ricken, Friedo 365 Riedel, Manfred 532 Rist, Johann 91 Ritschl, Friedrich 7, 142 Rohde, Erwin 35 f., 156 f., 224 f., 440, 580 Romundt, Heinrich 224, 574, 580 Roodt, Vasti 308 Roos, Richard 79, 420 Rorty, Richard 75 Rose, Gillian 144 Rosenkranz, Karl 139 Rousseau, Jean-Jacques 103, 315, 323, 422, 459, 471 Roux, Wilhelm 390 Rubens, Peter Paul 489 f. Rckert, Friedrich 451 Runciman, Walter Garrison 308 Rupschus, Andreas 149, 205, 228, 280, 320, 361, 363, 459, 514, 550, 610, 622 Sainte-Beuve, Charles-Augustin 544 Saint-Ogan, Lefebvre 38 Salaquarda, Barbara 376 Salaquarda, Jçrg 53, 63, 79, 375 f., 622
711
Salis, Meta von 56 Salom, Lou (siehe Andreas-Salom, Lou) Sautet, Marc 37 f., 78, 95, 141, 153, 166 f., 204, 225, 342, 360, 382, 455, 493, 511, 558, 569 Schacht, Richard 62, 81, 86, 528 Schaefer, A. T. 226 Schfer, Rainer 503 Schank, Gerd 364, 387, 397, 507 Scheier, Claus-Artur 624 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 141, 270, 371–374, 381, 471, 523, 635 Schellong, Dieter 472 Schiller, Friedrich 343, 371 f., 523, 556, 600, 634 f., 637 Schlaffer, Heinz 76, 175 Schlegel, August Wilhelm 141, 473, 610 Schlegel, Friedrich 141, 471–473, 509, 616 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 210, 227, 240, 243, 254, 378, 471, 523 Schlimgen, Erwin 262, 272, 286 Schmeitzner, Ernst 52, 402 Schmid, Holger 220 Schmid, Wilhelm 64 Schmidt, Jochen 548 Schmidt-Berger, Ute 548 Schndelbach, Herbert 519 Schobinger, Jean-Pierre 64, 85 Schopenhauer, Arthur 9 f., 22, 41 f., 86, 98, 103, 107 f., 110, 117, 128, 133, 141, 144, 161, 173, 176, 181, 183, 196, 202, 205, 234, 240, 256 f., 262, 265–269, 271, 274, 287, 293, 299 f., 316, 327, 359, 363, 366, 373–378, 380–383, 402, 418, 423–426, 428–430, 433 f., 441, 448, 450, 456, 466 f., 470 f., 473 f., 476, 480, 484–486, 488–490, 492 f., 495, 497, 509, 514 f., 531, 547, 556, 570, 608, 615 Schottky, Richard 208 Schratz, Sabine 459
712
Namenregister
Schrift, Alan D. 145, 349, 355 Schrçder, Winfried 233, 378 Schubert, Franz 471 Schulte, Gnter 64, 433, 592 Schulze, Ingrid 491 Schumann, Robert 471 Schwab, Gustav 546 Sebanz, Natalie 277 Seibt, Gustav 342 Seigfried, Adam 233 Seiling, Max 383 Seneca, Lucius Annaeus 228 Sennett, Richard 313, 320 Serres, Michel 266 Shakespeare, William 108, 188, 346, 448, 458, 472 Shakhovudinov, Nurudin 17 Shapiro, Gary 491 Shaw, Tamsin 307 Shelley, Percy Bysshe 471 Siemens, Herman 308, 350 Simmel, Georg 375, 531 Simon, Josef 16, 144, 188, 223, 286, 355, 369 f., 414, 460 Simonis, Linda 118 Simson, Wojciech 175 Sinn, Dieter 106 Skowron, Michael 31, 151 Sloterdijk, Peter 48, 328, 509 Sokrates 4–7, 17, 30, 43 f., 97, 107, 121, 140, 223, 238, 244, 248, 321 f., 363, 473, 476, 479, 486, 515, 522, 530, 532–534, 633, 636, 639 Solms-Laubach, Franz Graf zu 122, 308, 310, 315 Solomon, Robert C. 446 Solon 563 Sommer, Andreas Urs 78, 140, 206 Sommer, Volker 433 Soovli, Jaanus 262 Sophokles 97 Sorgner, Stefan Lorenz 535 Sçring, Jrgen 624 Spencer, Herbert 31, 150, 166, 402–405, 514 Spiekermann, Klaus 355 Spindler, Fredrika 528
Spinoza, Baruch de 7, 25, 50, 83, 86, 103, 108, 128, 138, 143, 145, 148–152, 285, 373, 402, 441, 450, 459, 514–517, 524–533 Spir, Afrikan 299 f. Spitteler, Carl 108 Spreafico, Andrea 64 Stal, Anne Louise Germaine de 341 Stalin, Josef 343 Stambaugh, Joan 528 f. Stanford, Charles Villiers 506 Stein, Heinrich von 154, 511 f. Steinmann, Michael 465 Stendhal (Henri Beyle) 37 f., 172, 226, 320, 342, 363, 442, 448, 455 Stewart, Balfour 110 Stifter, Adalbert 491 Stingelin, Martin 9, 11, 151, 481 Strauß, David Friedrich 42, 306, 635 Strindberg, August 172 Strobel, Eva 9 Strong, Tracy B. 190, 411, 612 Stupp, FranÅois 514 Tacitus, Publius Cornelius 459 Taine, Hyppolite 157, 481 Talleyrand, Charles Maurice de 344 Tambling, Jeremy 625 Tanner, Michael 62 f. Taureck, Bernhard H. F. 206 Taylor, Charles Senn 376 Teichmller, Gustav 283, 524, 534 Telesio, Bernardino 149 Thales 321 Thom, Dieter 40 Thomas von Aquin 7 Thoreau, Henry David 350 Thorgeirsdottir, Sigridur 422 Thukydides 345 Tiberius Iulius Caesar Augustus 237 Timon von Athen 458, 514 Tocqueville, Alexis de 323, 350, 554
Namenregister
Tongeren, Paul van 9, 24, 65, 142, 175 f., 193, 195, 343, 465, 477, 491, 553, 604, 625 Tçnnies, Ferdinand 310 Trampedach, Mathilde 580 Treccani, Irene 110 Turenne (Henri de la Tour d’Auvergne) 93–95 Turner, Joseph Mallord William 471 Ueberweg, Friedrich 240, 280 Uhland, Ludwig 635 f. Ulmer, Karl 306 f. Ulrici, Hermann 373 Usener, Hermann 448 Vaihinger, Hans 128, 280, 455 Vattimo, Gianni 37, 62 Venturelli, Aldo 38, 151, 568, 592 Vernant, Jean-Pierre 296 Vetter, Helmuth 535 Vico, Giambattista 323 Vieweg, Klaus 183 Villa, Dana 350 Vinzens, Albert 70, 211 Visser, Gerard 204, 300 Vivarelli, Vivetta 229 Volkelt, Johannes 300 Volkov, Shulamit 144 Voltaire 61, 141, 219, 450, 459 Wachsmuth, Ipke 537 Wagner, Carl Friedrich 327 Wagner, Cosima 37, 106, 327, 542, 557 Wagner, Johanna Rosine 327 Wagner, Richard 8, 12 f., 37, 42, 47, 51, 70, 76, 86, 93, 96–98, 100 f., 106–108, 118, 144, 146, 153, 157, 159, 176, 196, 234 f., 274 f., 314, 326–329, 335, 337, 345, 359–365, 371, 374, 381, 383, 394, 402, 433 f., 441, 453, 466–471, 473–476, 480, 484–486, 489, 492–508, 510–516, 532, 537, 542–544,
713
546, 558, 571, 606, 608, 615–617, 626 f., 630 f., 634 Wagner, Siegfried 511 Warren, Mark 349 Weber, Carl Maria von 471 Weber, Max 223, 315 Wedgwood, Josiah 150 Welshon, Rex 411 White, Hayden 75 Whitlock, Greg 528, 531 Widmann, Josef Viktor 13 Wieland, Christoph Martin 451 Wieland, Wolfgang 534 Wienand, Isabelle 114, 123 Wilcox, John T. 72 Wildermuth, Armin 106 Wilhelm II. (Friedrich Wilhelm Viktor Albert von Preußen) 513 Willers, Ulrich 229 Wilson, John Elbert 270, 372 Winteler, Reto 12, 18, 434, 608 Wischke, Mirko 472 Wittgenstein, Ludwig 7, 43, 86, 200, 240 f., 284, 297, 520 Witzler, Ralf 356 Wizenmann, Thomas 531 Wohlfart, Gnter 612 Wolf, Friedrich August 341 Wolf, Jean-Claude 382 Wolzogen, Hans von 360 Wotling, Patrick 37 f., 64 f., 79, 166, 211 f., 262, 305, 320, 442, 455, 600, 625 Wundt, Wilhelm 372 Wurzer, William S. 528 Wuthenow, Ralph-Rainer 62 Young, Julian 63, 157, 221 Yovel, Yirmijahu 528–530, 532 Zavatta, Benedetta 40 f., 270 Zedler, Johann Heinrich 609 Zentner, Marcel R. 440, 592 Zimmermann, Hans Dieter 237 Zittel, Claus 16, 82, 151, 317, 380, 391, 411, 472, 474, 491, 585, 625 Zola, mile 481
Begriffsregister Die jeweiligen Hauptstellen sind kursiv gesetzt. abenteuerlich, Abenteuer, Abenteurer, wagemutig, wagen, Wagehals 6, 10, 26, 38, 44, 48, 67, 77 f., 108, 157, 173, 190, 388, 418, 421, 423, 441, 521, 523, 543 f., 559 f., 571, 573, 603, 606, 611, 645 abgrndig, abgrndlich, Abgrund, Menschen-Abgrund, Mittags-Abgrund 4, 7, 16, 18–21, 48, 52 f., 79, 88, 95, 100, 113, 116, 176, 216–218, 220, 222, 251, 261, 400, 416, 423 f., 428, 438, 484, 503, 571, 581, 583, 590 f., 641 abkrzen, Abkrzung, Abkrzungsprozess, Abkrzungskunst 87, 275 f., 393, 509 f., 514 f., 536 abschaffen, wegschaffen 148, 204, 207, 209 f., 217, 241, 593 abstrahieren, abstrakt, Abstraktion 32, 77, 118, 127, 166, 185, 268, 274 f., 299, 302, 321, 381, 518, 615 achtbar/verchtlich, achten, achtungsvoll, Achtung/Verachtung, Menschenverachtung, Selbstachtung/ Selbstverachtung 26, 80, 82, 86, 99, 112, 144, 158, 169, 171–174, 181, 186, 188, 194, 196, 204–206, 232, 240, 247, 254, 280, 297, 316, 319, 325, 333, 339, 358, 369, 404, 426 f., 432, 446, 456–459, 470, 482, 490, 508, 513, 541 f., 557, 562, 582, 586 f., 614, 627 Affekt, affektlos 153, 210–216, 298 f., 326, 330, 365, 369, 405, 467, 490 f., 502 f., 526, 529
Agon, Antagonismus, Wettbewerb, Wettkampf, Wettstreit, Auseinandersetzung 5, 23, 30, 35, 103, 128, 143, 171, 174, 180 f., 187, 189, 191, 245, 257, 295, 312, 318 f., 323, 337, 349 f., 399, 423, 438, 476, 487 f., 503 f., 527 f., 544, 566, 614, 620 Alleinstehen, Alleinbleiben, Alleinsein 10–12, 178 f., 191, 209, 217, 248, 254, 275, 311 f., 404, 438, 442, 449, 470, 544 f., 571, 588, 644 ambivalent, Ambivalenz, zweideutig/ unzweideutig, Zweideutigkeit, vieldeutig/eindeutig, Vieldeutigkeit 11, 28, 70 f., 77, 81, 86, 112, 142, 187, 291, 313, 328, 332, 363, 393, 396, 412 f., 472, 489, 493, 520, 550 amor Dei intellectualis 108, 143, 149, 527–531 amor fati 53, 58, 446, 528–532, 574, 631, 642 anpassen, Anpassungskunst 211, 330–334, 336 f., 363, 403, 428, 459, 481, 542 f., 567 Anti-Begriff, Gegen-Begriff, Anti-Lehre, Anti-Realist 15–24, 47, 128, 152, 198, 218, 282, 585, 628 antisemitisch, Antisemit, Antisemitismus/Anti-Antisemitismus (s.a. jdisch ! Juden) 78, 143–145, 305, 333, 360–362, 364, 383 f., 496, 529, 542, 551 Aphorismus, Aphorismen-Buch, Form/ Kunst des Aphorismus/des Aphorismen-Buchs V, 8, 9–12, 49,
716
Begriffsregister
61, 64, 71 f., 76–81, 85–88, 105, 292, 308–310, 386, 416, 458, 538, 578, 621, 643 Aphorismen-Gruppe, AphorismenKette, Aphorismen-Reihe 39, 62 f., 77, 124 f., 162, 221, 225, 245, 261, 307, 328, 385 f., 394, 412, 438–441, 454 f., 466, 540 f. Apotheose, Apotheosen-Kunst, Apotheosen-Knstler 490–493, 500, 502 arbeitsam, arbeiten, Arbeit, Arbeiter/ Arbeitgeber, philosophischer Arbeiter, Freiarbeit/Zwangsarbeit, Geistesarbeit, Handarbeit, Sklavenarbeit, Arbeitsnot, ArbeitsSommer, Segen der Arbeit, sich emporarbeiten 26, 32, 51, 65, 87, 99, 121, 130, 139, 141, 156, 160, 173, 181, 185 f., 226, 233, 236, 239, 241, 248 f., 252, 256, 313, 317, 332, 347, 357, 362, 364, 390, 399, 401, 416, 426, 430, 433, 505, 521, 536, 552 f., 555–565, 612 f. aristokratisch, Aristokrat, Aristokratie, Aristokratismus 39, 141, 254, 311, 348, 426, 553, 557, 562–568 arm/reich, Armut, Verarmung, Mangel / Reichtum, Flle, berflle, berfluss, berschuss, berreichtum 15 f., 29, 39, 41, 61, 73, 116, 138, 145, 150, 152, 160, 163, 166 f., 169, 175, 189, 209, 218, 234, 248 f., 273, 316, 331, 335, 337, 386, 417, 433, 448, 461, 468 f., 473, 476–478, 480 f., 483–486, 489–494, 501, 517, 536, 559, 564 f., 568, 576, 586–588, 590, 601, 607, 609, 612, 617, 627, 642 f. asketisch, Askese, Asket, asketisches Ideal 129, 134, 182, 218, 237, 253, 377, 468 f., 492 f., 607, 611–613, 626, 638 sthetisch, das sthetische, sthetik 80, 133, 139, 220, 245–247, 253, 350, 375, 406, 409, 455, 466, 471,
483, 486–489, 494 f., 498, 500–505, 513, 536, 540, 585, 615, 617, 631 Atheismus, Atheist 98, 107, 121, 225, 234, 359 f., 375–380, 525, 530 Aufgabe, Lebensaufgabe, Zukunftsaufgabe 6, 25, 32, 51 f., 58, 61, 64, 66, 85, 147, 169 f., 178, 196, 202, 211, 236, 239, 253 f., 305 f., 311, 326, 333, 347 f., 362, 399, 401, 460, 466, 509 f., 515, 524, 559, 590, 607–609, 611, 615, 617 aufklren, Aufklrung, Selbstaufklrung, Aufklrer 3 f., 7, 52, 96, 109, 123, 143, 178, 182, 219 f., 233, 317, 467, 471 f., 503 Auge, Augen, augenscheinlich, Augenschein 10, 65, 98 f., 102 f., 106, 108, 111, 114, 155, 157, 162, 173, 186, 199, 228, 236, 246, 253, 273, 286, 292, 317, 329, 335, 367 f., 412, 421, 446, 449, 487–489 f., 511, 524, 536 f., 549, 561, 572, 574, 576, 580, 590, 593, 601, 603 f., 629 Auslassungspunkte 21, 78, 87, 118 f., 126, 134, 175, 177, 178–180, 198, 289, 298, 302, 336, 405, 409, 421, 427 f., 495 f., 551, 578, 596, 601 Autoritt, Lehrautoritt 16, 121, 130, 137, 161, 168, 201, 224, 237, 251, 257, 323–325, 358, 361, 448, 456, 565, 612, 639 Bauer, Bauernaufstand des Geistes 26, 38, 141, 150 f., 187, 245, 248–250, 252, 491, 634 bedrftig, Bedrfnis, Bedrftigkeit/ Bedrfnislosigkeit, Scheinbedrfnis 30 f., 53, 71, 86, 96, 123 f., 146, 162, 185, 189, 192, 201, 203, 208, 210–212, 215 f., 221, 240, 246, 264, 266, 275 f., 278, 280, 283, 293, 296 f., 299, 305, 355, 364 f., 376–378, 380, 390, 392, 394, 398, 406, 409, 416, 420, 426,
Begriffsregister
443, 468 f., 480, 482–488, 494, 500 f., 508, 513, 533, 547, 557, 559 f., 562, 598, 601, 611, 613, 616, 641 f. befehlen/gehorchen, Befehl/Gehorsam, Befehlender, Befehlshaber, kommandieren, Kommando 30, 140, 164, 167, 189, 196, 208, 213–216, 235, 238, 254–256, 276, 335, 339 f., 345 f., 357, 398, 422, 430, 437, 480, 504, 562, 565, 572, 641 begrifflich, begreifen, (definitiver) Begriff, Artbegriff, Begriffs-Halluzination 14, 18–24, 34, 47, 65, 71, 75 f., 81, 87, 110, 114 f., 126, 135, 147, 172, 191, 194, 197–203, 255, 263, 267 f., 272, 291 f., 301, 311, 361, 370, 373, 388, 389, 394, 400, 407, 409, 415, 421 f., 430, 436, 447, 472, 479, 483 f., 486, 499, 514–517, 520, 524, 529 f., 538, 557, 578, 584 f., 594, 604, 638 Begrndung, Verzicht auf Begrndungen 16, 22, 79, 125, 137, 142 f., 162, 166, 210, 409, 415 beleidigen, Beleidigung 68 f., 312, 406, 408, 442, 593 bescheiden, Bescheidung, Bescheidenheit/Unbescheidenheit 127 f., 140, 152 f., 159, 202, 238 f., 244, 287, 297, 369, 415, 446, 493, 516, 524, 543, 567, 608 Besitz, Besitzloser, Besitzdurst, Besitzstck, von sich Besitz ergreifen 118, 130, 138, 140, 170, 184 f., 295, 312, 337, 347, 349, 422 f., 427, 434–436, 518, 543, 552, 556, 559, 613 betuben, Betubung, berauschen, Rausch 38, 235, 271, 328, 471 f., 474, 476, 480, 484 f., 491, 512, 601, 611 betrgen, Betrger, sich betrgen lassen, Selbstbetrger 153, 197, 330, 445, 545
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beweisbar/unbeweisbar, beweisen/zeigen, Beweis 20 f., 26, 34, 46, 80, 84 f., 87, 96, 100 f., 107, 118–120, 123, 137 f., 142 f., 210 f., 229, 246, 296, 299, 375, 377, 395, 503, 510, 516, 527, 538, 596, 631 bewundern, Bewunderung, verehren, Verehrung, Verehrer, ehrfrchtig, ehrfurchtsvoll, Ehrfurcht 37, 98, 141, 153, 157, 159, 169, 182 f., 196, 199, 201–208, 210, 212, 216 f., 226, 228, 230–232, 235, 237, 246, 249, 253, 274, 319, 328, 337, 343, 345, 358, 361, 406, 429, 440, 443–445, 478, 507, 511, 563, 580 bewusst/unbewusst, Bewusstes/Unbewusstes, Bewusstheit/Bewusstlosigkeit, Bewusstsein, Bewusstwerden, Bewusstseins-Perspektive, Differenz-Bewusstheit, GesamtBewusstsein 6, 29, 53, 73, 84, 97, 102, 108, 124, 129, 162, 189, 211, 213, 221 f., 230, 245, 261–289, 294, 299 f., 302, 305–307, 316 f., 319 f., 334 f., 367–369, 372, 374, 381 f., 386 f., 389–393, 407, 412–415, 421, 425, 439, 452 f., 498 f., 503 f., 509 f., 513, 515, 517, 519, 521, 537–540, 551, 594, 601, 605 f., 616, 623, 643 bilden, Bildung, Gebildete, Bildungsanstalten, Bildungs-Schmarotzer, Menschenbildung 8, 26, 39, 84, 158, 181–186, 189 f., 222, 244, 323, 326, 373, 409, 431, 444, 447, 449, 474, 478, 523, 543, 550, 557 f., 564, 567 biologisch, Biologie, evolutionsbiologisch, soziobiologisch 53, 151, 262, 269 f., 273, 340, 370, 402 f., 427, 429, 481, 502 blind, erblindet, Blinder, Blindheit, blenden, Blendung, Blendkrfte, Blendwerk, Selbstverblendung 4, 61, 68 f., 73, 102, 111, 128,
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Begriffsregister
133, 135 f., 139, 147, 151, 165, 173 f., 199, 207, 210, 266–268, 270, 317, 343, 392, 416, 444, 469, 601 Blut, Blutaussaugerin, Blutgemeinschaft, Blutumlauf, blutsverwandt, Vampyrismus 37, 84, 121, 233, 310, 323, 357, 364, 500, 502, 525, 527 f., 530, 573, 635 boshaft, Bosheit 27, 33, 50, 98, 113, 172, 324, 621, 624, 631 f., 638 Brunnen 238, 466, 577, 579, 591–595 Buckel 124, 153, 156–158 causa sui 526–529 Chaos 51, 53, 389, 475 Charakter/Charakterlosigkeit, Charakter/Rolle, Charakteristik, Charakteristikum, Fragezeichen-Charakter, Manns-Charakter, Nationalcharakter, Zeitcharakter 10, 43, 48, 50, 58, 63, 84, 104, 113, 116, 123, 132–134, 147, 167, 181, 198, 217, 223, 233, 243, 271, 294, 314–318, 320 f., 328, 340 f., 344, 364 f., 373, 409 f., 412 f., 419 f., 437, 474, 481, 523, 543 f., 617 chinesisch, Chinese, China, Chineserei, Chinesentum 312, 348, 350, 356, 554, 561, 567 christlich, Christ, Christentum, Christen-Glaube, christliche Werte, Antichrist 29 f., 37–39, 42 f., 60, 70, 84, 91 f., 98, 108–110, 114 f., 121, 126, 136, 143 f., 148, 167, 173 f., 181 f., 202, 210, 219, 224–229, 233 f., 239, 245 f., 249, 251, 253, 306, 308, 333, 345, 356–359, 369, 373, 375–380, 399, 417, 420, 444, 470, 485, 490, 505 f., 525, 530, 539, 550 f., 593, 597, 606 f., 611, 624 f., 631, 640 cynisch/kynisch/zynisch, Cyniker, Cynismus 492, 499 f., 508–513,
533, 538 f., 559 f., 597, 602, 614, 622 dankbar/undankbar, Dankbarkeit/Undankbarkeit 25, 99, 114, 119, 154 f., 230, 435, 483, 490 f., 502, 608, 631 dauern, Dauer, Dauerfhigkeit, Dauerhaftigkeit 4, 26, 102, 107, 112, 146, 152, 154, 181, 215 f., 220, 223, 228, 239, 242, 252, 256, 271, 294–296, 311, 316, 318, 320, 324 f., 349, 356, 358, 368, 379, 397, 412, 426 f., 434–436, 455 f., 458, 508, 521, 546, 558, 561, 604, 607, 612 f., 642 dcadent, dcadence, dekadent, Dekadenz 140, 205, 221, 325, 472, 494, 501, 507, 556, 631, 642 demokratisch, Demokrat, Demokratie, Demokratisierung, demokratischdemagogisch 137–139, 219, 244, 305, 312, 318, 322–325, 328, 347–350, 357, 379, 397, 399, 426, 471, 510, 552 f., 555, 562–565, 574, 630, 642, 644 Denken, Gedanken, gedankenhaft/ gedankenlos, philosophisches Denken, philosophischer Gedanke, Gedankensystem, Hintergedanken, Gedanken-Lmmer, Gedanken-Bçcke (s. a. experimentieren) 6–13, 32, 34, 47, 49, 53, 56, 60 f., 63, 65–67, 70 f., 74–77, 82, 85, 87, 91, 98, 102, 110, 112–114, 118, 130, 136, 138–140, 142, 145 f., 155–157, 161 f., 165, 178 f., 190, 193, 197 f., 207, 213, 220, 227, 245 f., 253, 257, 261, 263 f., 272, 276, 281, 286, 300, 305, 307, 321, 335, 339, 359, 367–369, 372, 374, 376, 389, 391, 395, 414, 432, 438, 456 f., 461, 467 f., 487, 492 f., 511, 514 f., 519, 526, 535–538, 540, 545, 548, 550, 554, 565, 571, 583, 613, 618, 637 f., 643–645
Begriffsregister
deutsch/undeutsch, Deutscher, Deutschland, Deutschtum, Deutschtmelei, deutsche Bildung, deutscher Geist, deutscher Kaiser, deutsche Musik, deutsche Philosophie, deutsche Seele, deutsches Wesen 35, 54 f., 97, 108, 122, 155, 176, 211, 222, 227, 245 f., 251, 272, 275, 292, 341–343, 346, 355–384, 465, 467 f., 476 f., 480, 513, 523, 539, 543, 551 f., 568, 572, 597, 615, 620, 634, 644 dichterisch, dichten, andichten, ausdichten, erdichten, hineindichten, zurechtdichten, Dichter, RitterDichter 12, 27, 33, 35 f., 38–40, 46, 75 f., 85, 97, 108, 147, 172, 269, 281, 295, 333, 341, 345, 363, 388, 409, 432, 449, 454, 471, 487, 494, 501, 584, 624 dionysisch, Dionysos, Dionysismus, dionysischer Pessimismus 8, 21, 36, 43, 50, 76 f., 84, 96 f., 117, 196, 217 f., 237, 319, 327 f., 418, 420, 465, 468, 473–480, 484–487, 491, 493–499, 502 f., 514, 532, 538, 540, 542, 548, 566, 569, 576, 582, 589 f., 595 f., 599, 618, 623, 627 f., 634, 636, 639, 646 diplomatisch, Diplomat 146, 224, 332 f., 344, 347 Distanz, distanzieren, sich distanzieren, Selbstdistanz, Zeitdistanz, DistanzErweiterung, Distanz-Gefhl, Pathos der Distanz, ohne Distanz 39, 44–46, 48, 62, 67 f., 104, 111, 124, 154, 159, 173 f., 176, 225, 231 f., 244 f., 279 f., 291, 297, 305, 311, 328, 349, 400, 419, 435, 443 f., 447, 459, 471 f., 476, 509, 519, 527, 539, 545, 552 f., 563 f., 567, 569, 576, 611, 622, 641 disziplinieren, Disziplin, Disziplinierung, Selbstdisziplin, zchten, Zucht/Zuchtlosigkeit, Zchtung, Hçherzchtung, Selbstzucht 30, 47, 128 f., 157, 159, 168,
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240 f., 257, 299, 303, 305, 310, 332 f., 337, 339, 341, 345, 358, 360, 379, 397, 399 f., 470, 496, 562, 584, 620 Dudelsack 634–637 ego, egoistisch/unegoistisch/altruistisch, Egoismus/Altruismus 51, 164, 185, 225, 283, 403, 446, 479, 494, 536, 571 Ehe 39, 323, 425–429, 444, 522, 524, 583 ehrlich/unehrlich, Ehrlichkeit/Unehrlichkeit, redlich/unredlich, Redlichkeit/Unredlichkeit, rechtschaffen, Rechtschaffenheit 12, 30, 41, 48, 72, 107, 122 f., 149, 154 f., 172, 181, 220, 223, 227 f., 230, 235 f., 253, 295, 299, 312, 316, 321 f., 327, 329, 339, 359, 375–377, 380, 418, 446, 473, 506, 509 f., 512, 564, 567, 618, 630, 643 eigentlich 6, 15, 26, 34, 50, 56 f., 113 f., 119, 144, 146–148, 153, 175, 178 f., 198, 205, 214, 235, 239, 245, 248, 257, 264, 271, 274 f., 278, 280, 291, 293, 297, 318, 320, 323, 335, 345, 347, 358 f., 363, 367, 399–401, 409, 468, 492, 496, 499, 503, 509, 512, 524, 579, 590, 596, 613, 615, 638, 640 einfach, Einfaches, vereinfachen, Vereinfachung, Wille zur Vereinfachung 14, 32 f., 36, 96, 128, 212, 217, 222 f., 272, 274, 283, 321, 357, 403, 452, 474 f., 536, 596, 611, 633, 636 f. Eingeweide 198, 493, 500, 503 einsam, Einsamkeit, Vereinsamung, Dachstuben-Einsamkeit 16, 26, 30, 51, 74, 116–118, 169, 174, 183 f., 197, 199, 220, 276, 311, 329, 341, 397, 438, 442, 445 f., 448–451, 456, 472, 482, 484, 511, 514, 539, 544 f., 570 f., 586–592, 600, 611, 627
720
Begriffsregister
einsiedlerisch, Einsiedler 16, 26, 74, 79, 261, 292, 394, 438 f., 441 f., 445–451, 457 f., 510, 529, 542, 544, 578, 587, 593 f., 598, 600, 633, 644 einstimmen, Einstimmung, bereinstimmen, bereinstimmung, zustimmen, Zustimmung 5, 22, 53, 68, 127, 137, 142, 167, 214, 269, 293 f., 303, 424, 461, 469, 530, 537, 542, 578, 600, 619, 634, 637 Eis, Eisgebirge 540–542, 579 ekelhaft, Ekel 19, 26, 33, 73, 139, 316, 328, 382, 400, 403 f., 418, 443, 482, 492, 509, 574, 589, 593, 628 englisch, Englnder, England, AlltagsEnglnder/Sonntags-Englnder 41, 122, 150, 166, 330 f., 338, 365, 372, 377, 402 f., 521 entsagen, Entsagung 91 f., 94, 170, 235, 276, 578–581, 591 f. entscheidbar/unentscheidbar, entscheiden, entscheidend, Entscheidung, Entschiedenheit, Entscheidungsfhigkeit, Entscheidungsprozess, Unentscheidbarkeit 5 f., 9, 23, 29, 31, 44, 46, 51, 55, 82, 84, 86 f., 100, 107 f., 114, 116, 118, 126, 129 f., 132, 142, 144, 148 f., 159, 164, 166, 169, 171, 175, 180, 189, 199 f., 202, 209 f., 214, 218 f., 224, 241–243, 248, 251, 271 f., 288, 296, 298, 305 f., 314 f., 318 f., 324, 341 f., 345, 349 f., 359 f., 362, 370 f., 376, 381, 392, 398 f., 406, 415, 417, 424, 438, 441, 443, 451, 459, 467, 494, 500, 504, 506, 512 f., 577, 580, 584, 605, 608, 614, 618–620, 623 f., 626, 634, 638, 641–645 Enttuschung (s.a. tuschen) 166, 202 f., 216, 346, 419, 421, 443, 458, 594 Entweder-Oder 204–210, 216 f.
Epilog, Nachspiel, Nachspiel-Farce 8, 34, 42, 59, 117, 187, 395, 433, 441, 461, 466, 541, 629–637 Erbe, vererben 141, 346, 356, 378, 428, 539, 568 Erde, auf Erden, Erdregierung, ErdenJammer 53, 109, 111, 113, 122, 191, 236, 250, 253, 305, 333, 346–348, 468, 491, 522, 554, 561, 565–567, 572, 597, 613 f., 626 Ereignis, großes Ereignis 5, 40, 55, 83, 92, 95, 105–112, 119, 162, 166, 169, 175, 197, 226, 229, 359 f., 375, 378–380, 400, 449, 473, 477, 495, 504, 530, 541, 568, 598, 615, 639 f. Erhçhung/Gesamtverringerung der Spezies/des Typus Mensch, Hçherzchtung der Menschheit 396, 400, 418, 555 f., 559, 563 f., 566–568, 645 Erholung, sich erholen 26 f., 30, 48 f., 56, 61, 156, 176, 330, 457, 492, 601, 617 erkennbar/unerkennbar, erkennen/verkennen, Erkennender, Erkenntnis (s.a. tragisch), Erkenntnishang, Erkennungsfest, Erkennungszeichen, Erkenntnistheorie, Erkenntnistheoretiker, Schwer-zuErkennende 3 f., 6, 16 f., 20, 24, 26, 32 f., 38, 45 f., 48 f., 51, 68, 70, 73, 76, 84, 95, 96 f., 100, 103–105, 107, 114, 116, 120–124, 127 f., 130 f., 136, 146 f., 149, 164, 171, 191, 194, 198, 203, 205 f., 211, 219, 223, 227, 232, 234–236, 239–243, 249, 253, 261, 263, 267, 269–271, 274, 279–281, 285, 288–304, 317, 328 f., 339 f., 358, 369, 375, 378 f., 383, 390, 394, 398, 403, 409, 417, 419 f., 436, 446, 467 f., 470, 477, 481, 484, 509, 518 f., 521, 526–528, 539, 542, 545, 554, 561, 563, 570, 581, 588 f., 594, 598, 603, 605, 615, 629, 643, 645
Begriffsregister
erleben, Erlebtes, Erlebnis, Seelen-Erlebnis 3, 5, 25, 40, 51, 53, 68, 74, 100, 106–108, 110, 119, 166, 214, 227, 269, 275 f., 345, 377 f., 387, 438 f., 458, 490 f., 501, 504, 510, 512, 532, 560, 592, 598, 602, 605, 607, 642 erlçsen, Erlçsung, Selbsterlçsung, Welterlçsung, Erlçser, Typus des Erlçsers (s.a. Typus Jesus), erlçsender Mensch 98, 115, 155, 174, 233, 243, 246, 257, 282, 362, 376, 378, 382 f., 471, 478, 483–485, 487 f., 490, 502, 512, 543, 589 f., 614, 616, 618, 627, 630 f., 644 ernsthaft, Ernst, Erden-Ernst 13, 21, 24, 29–34, 40 f., 43–46, 48 f., 55, 60 f., 68, 98, 112, 156, 161, 170, 189, 195, 198, 201, 220, 230 f., 322, 326, 360, 371, 381, 383 f., 398, 406, 408, 443, 458, 466, 479, 511, 516, 534, 550, 562, 596–640, 642, 644 erotisch, Erotik, Erotiker 5, 49, 335, 435, 522 f., 633 erraten/unerraten, Erratenes, rtselhaft, Rtsel, Rtselhaftigkeit, Rtselform, Rtselrater, Weltrtsel-Lçsungen, verrtseln 3, 13 f., 24 f., 28, 42, 45 f., 63, 68, 73 f., 77, 86, 104, 107, 111, 115, 119, 137, 142, 145, 148, 155, 160, 167, 192–194, 196, 198, 204 f., 207 f., 228, 242, 269, 272, 277, 282, 289 f., 297, 299, 302 f., 317, 334, 364, 373, 425, 430, 472, 476, 480–482, 493, 545, 548, 570 f., 592, 597 f., 621 f., 624, 639, 643 Errungenschaft 245, 263, 359, 366–371, 385 f., 419, 514, 518, 568 europisch, Europa, Europer, Europer-Glaube, guter Europer 3 f., 8, 29, 35, 37, 39, 43, 64, 69, 86, 92, 94, 101, 110 f., 114, 118, 121, 123, 138 f., 144, 147, 161 f., 167 f., 170, 176, 181, 187, 194 f.,
721
207, 210, 215, 222, 225, 227, 233, 239, 245 f., 252 f., 257, 263, 265, 285, 293, 305–312, 314, 319–321, 323, 332–334, 337, 340–350, 356–360, 362 f., 365–368, 370–381, 383, 385, 400, 419, 428, 432, 465 f., 468, 471 f., 476, 481, 486–490, 514–516, 518, 521, 530, 532, 539 f., 542 f., 547, 551 f., 557, 559–563, 568–574, 579, 596, 598, 605, 607, 609 f., 620, 625, 639 f., 643 f. Evangelium, Evangelien 173, 447, 508, 625, 630 evolutionr, evolutionistisch, Evolution, Evolutionsgedanke, Evolutionstheorie, Evolutionismus (s.a. biologisch) 31, 86, 95 f., 123, 132 f., 151 f., 160, 180, 262, 264, 269–273, 277, 294, 296, 308, 314, 318, 330 f., 333, 370 f., 375 f., 380, 402–404, 414, 424, 529, 584 ewig, Ewigkeit, verewigen, Formen der Ewigkeit, Wille zum Verewigen 11 f., 19, 21, 51, 73, 99, 117, 133, 135, 148, 191, 220, 227, 238, 273, 338, 371, 398, 416, 423, 425, 487–490, 492, 494, 507, 529, 534, 551, 593 f., 604, 635 ewige Wiederkehr/Wiederkunft des Gleichen 15–22, 25, 47 f., 50, 53, 60 f., 63 f., 100, 176, 178, 198, 207, 236, 307, 484, 530–532, 534, 571, 584 f., 589, 594, 628 experimentieren, Experiment, Gedankenexperiment 9, 21, 32, 82, 95, 130, 233, 236, 263, 270, 271–274, 288, 296, 303 f., 313, 318, 423, 566, 642 fanatisch, Fanatiker, Fanatismus 5, 52, 159, 216, 247, 324 Farce 34, 42, 59, 617, 640 faszinieren, Faszination VI, 5–7, 15, 17, 24 f., 28, 41 f., 75 f., 108, 118, 215, 233, 275, 334, 343, 356,
722
Begriffsregister
395, 423, 435, 447 f., 474, 507, 596, 636, 640 fein, verfeinern, Feinheit 13, 50, 65–68, 98, 106, 143, 147, 172, 191, 193 f., 197, 213, 220, 229, 241, 253 f., 257, 268, 275, 278, 285, 295, 299, 330, 358, 365, 379 f., 418 f., 429, 436, 440, 457, 459, 488, 491, 510 f., 518, 541, 543, 563, 567, 571, 576, 601, 603, 620, 644 feindselig, Feindseligkeit, Feind, Feindin, Feindschaft, lebensfeindlich, sinnenfeindlich, Todfeindschaft 36, 42, 51, 107, 113, 126, 130, 133 f., 182, 219, 248, 267, 275, 309, 322 f., 330, 336, 338 f., 347, 376, 387, 423, 446, 469, 474, 476, 492 f., 546, 570, 606, 608, 613, 619 feststellen, fixieren, starrmachen VI, 10, 14, 106, 115, 146, 189, 191, 197 f., 200, 213, 216, 222, 242, 279, 283, 287, 314, 349, 356, 374, 452, 456, 460, 479, 485, 488–490, 492, 500, 519, 534, 546, 572 f., 585–588, 599 fiktiv, Fiktion, konventionelle, logische, regulative Fiktion, Einbildung, illusionr/illusionslos, Illusion, Illusionierung/Desillusionierung, Selbstillusionierung/Selbstdesillusionierung, Illusionsbereitschaft 4 f., 20, 22, 53, 58, 82, 115, 126–129, 152, 165, 171–173, 186, 191, 212, 217, 264, 276, 281, 283, 293, 300, 320, 322, 339, 349, 389 f., 393, 397, 414, 419, 438, 444, 454, 464, 467, 487, 510, 512, 523, 544, 546 f., 549, 551–553, 556, 563–566, 581, 587, 591–594, 606 f., 609, 613, 620, 627, 649–642, 645 Formel, formelarm 18, 28, 31, 36, 40 f., 46–48, 74, 83, 91–93, 146, 151, 172, 176, 180, 218, 220, 249, 267, 274, 306, 327, 330, 342, 344, 363, 409, 449, 453, 477, 497 f.,
509, 513, 515 f., 522, 525, 529, 543, 553, 555, 563, 565, 568 f., 578, 580, 614, 621 f., 625, 629 formenbildend, Form/Inhalt, apriorische, historische, vornehme Form, Form des Lebens/Lebensform, Form philosophischer Schriftstellerei, Form des Wissens, FormVerwandlung, Formenlust, Formsinn, Formen-Wahnsinn, Darstellungsform, glckliche Umformung (s.a. Parodie) 7–15, 22, 49, 61, 63 f., 69, 73, 75, 77, 79, 81, 86 f., 125 f., 133, 137, 153, 161, 170, 178, 240, 243, 246, 271, 273, 285, 293, 295–297, 324, 331, 369, 371, 378, 468, 471, 474, 491 f., 499, 501, 503 f., 506, 509 f., 513, 517, 520 f., 536, 538, 562–564, 566 f., 578, 580, 590, 592, 597–601, 607, 615 f., 619, 623, 636 f. fragen, Frage, rhetorische Frage, Fragezeichen, Fragezeichen-Charakter der Dinge, Ursprungsfrage, Infragestellung des Fragestellers, vorfragend 23 f., 44, 112, 119, 126, 137, 152, 162 f., 175 f., 179 f., 182, 192 f., 195–208, 217 f., 221, 231, 245, 256, 261, 263, 269, 297 f., 369 f., 375, 400, 404 f., 408, 413, 417, 419, 448, 451, 456, 476, 554, 579 f., 596–602, 613 f., 628, 630 f., 640 f. franzçsisch, Franzosen, Frankreich, Franzçsische Revolution 7, 11, 35, 122, 219, 227, 314 f., 334 f., 340 f., 343, 365, 368, 371 f., 377, 410, 422, 455, 471, 474, 481, 486, 505, 551–553, 562, 571, 610, 634 Frau, Frauen, Frauenzimmer, Frauenemanzipation, Frauenfeind 37, 45, 53, 86, 307, 332–336, 340, 343, 422–432, 435, 440, 444, 522, 583 frei/unfrei, befreiend, frei geworden, Befreiung, Freiheit, Freiheiten, Frei-Arbeit, Freiheitsrechte, Frei-
Begriffsregister
heits-Spielraum, Freiheit der Gedanken, Freiheit der Vernunft, Knstler-Freiheit, Narrenfreiheit, Schauspieler-Freiheit, freimtig, Freimtigkeit, freisinnig, Freisinnigkeit, Freiheitssinn, im Freien, ins Freie, Freies an sich, vogelfrei, Vogel-Freiheit V, 3 f., 18, 25 f., 28–34, 37, 39, 44, 49, 51, 55, 61–63, 77 f., 84, 88, 91, 94, 100, 114, 116–118, 124, 138 f., 144, 146 f., 149, 154–156, 160, 162 f., 170, 185, 187, 189–191, 194–196, 201, 208, 211, 218, 224, 226 f., 229 f., 242, 244–246, 250–252, 257, 261, 269, 288–290, 295, 301–303, 305 f., 308 f., 311–316, 318, 320, 325, 328, 331, 336, 339, 342, 347, 348–350, 355, 358, 386, 399, 417, 419 f., 423, 426, 439–442, 445, 448, 452 f., 455 f., 458–460, 465, 467, 469 f., 472, 477–479, 488, 491–493, 506, 508, 511, 526, 540–542, 548, 552 f., 557–560, 564–566, 573–575, 578, 580, 596, 598–600, 605, 608, 610, 614–620, 622, 627, 633 f., 639, 642–644, 646 freier Geist, sich befreiender Geist, frei im Geist, Freiheit des Geistes, Freigeist, Freigeisterei 27, 30, 32 f., 38, 58, 77, 114, 117–119, 125, 134, 157, 160, 187, 190 f., 194, 206, 217, 219–221, 229–231, 238, 245 f., 252–256, 261, 311, 377, 418, 420 f., 425, 427, 440–442, 445 f., 456, 477, 493, 507, 543, 549, 559 f., 562, 568, 571–573, 577 f., 591–595, 600, 603, 611–613, 618 f., 629 f., 637 f., 641 freigebig, Freigebige, Freigebigkeit, Freizgigkeit 187, 189, 238, 261, 394, 441, 466, 541, 561, 575–595, 599, 613, 642 freiwillig/unfreiwillig, Freiwilligkeit/ Unfreiwilligkeit, freier/unfreier
723
Wille, Freiheit/Unfreiheit des Willens, Willensfreiheit 3, 6, 61, 131, 134, 138 f., 146 f., 153, 160, 171, 196 f., 210, 212–220, 233, 235, 266, 294, 304, 339 f., 375, 388, 392, 427, 491, 516, 526, 562, 573, 579, 609, 618–620, 624–626, 628, 631, 634 fremd, Fremder, Fremdes, Fremdheit, Fremdsein, befremden, entfremden, verfremden, Selbstentfremdung 4, 38, 68, 72, 103, 107 f., 111, 115, 140, 144, 156 f., 177, 184–186, 194–196, 226, 261, 265, 275, 290–294, 298–304, 305, 329, 332, 356–358, 362, 364, 376, 386, 389, 422, 433, 436, 448, 451, 472, 474, 477, 483, 493, 507, 539, 544, 548, 553, 560, 564, 571, 594, 598, 603, 609, 632 f., 642 freudig/freudlos, sich freuen, Freude, Freuden, geistige Freude, sinnenfreudig, Festfreude, MenschenFreuden, Mitfreude, Freude am X 30, 32 f., 39, 41, 44–46, 48, 94, 97, 114, 119, 148, 186, 190, 220, 237, 246, 271, 293, 449, 459, 477 f., 491, 511, 526, 533, 536 f., 547, 559, 611, 630, 634, 646 Freund, Freunde, gute Freunde, Freundschaft, befreundet 19, 31, 40, 68 f., 153 f., 156 f., 172, 183, 195, 199, 338, 363, 426, 436, 444, 446, 457 f., 467, 476 f., 569, 574, 576, 580, 583, 588, 600, 606 f., 634 f., 640 freundlich, Freundlichkeit, Gastfreund, Gastfreundschaft, Menschenfreund, Menschenfreundlichkeit/ Menschenhass 30, 100, 174, 315, 435, 443, 457–460, 597, 628 friedfertig/unfriedfertig, Friedfertigkeit, friedlich, Frieden, einfrieden, Eintracht 29 f., 104, 292, 338 f., 420, 426, 483, 554, 645 froh, frohlocken, Frohlocken, berfroh, frohe Botschaft 26, 29, 32, 41,
724
Begriffsregister
196, 207, 289 f., 293, 297 f., 301, 399, 419, 548, 615, 631 frçhlich, Frçhlichkeit, frçhliche Wissenschaft (s.a. gai saber) 4, 7, 13, 25–49, 52 f., 59, 61, 73, 76, 78 f., 84, 88, 95 f., 98, 100, 112, 114, 118, 124, 146, 154, 156 f., 168, 170, 192, 201 f., 217, 219, 225 f., 261, 289–291, 322, 355, 382, 386, 395 f., 402, 406, 409, 438, 441 f., 446, 459, 465, 467, 472, 476, 483, 498, 509 f., 513, 538, 541 f., 571, 574, 576, 596, 599–601, 604, 611 f., 614–622, 625–633, 638–646 fromm, Frçmmigkeit 122, 124–136, 181, 228 f., 373, 376–378, 461, 491, 611, 637 f. fhlbar, fhlen, Gefhl, gefhlsam, gçttliches Gefhl, heroische/lyrische Gefhle, herausfhlen, nachfhlen, Nachfhler, Fhlhçrner, Gefhllosigkeit, Gefhlspunkt, Gefhls-Geschwtzigkeit, Anfhlerei, Abhngigkeitsgefhl, Bewegungsgefhl, Distanzgefhl, Formgefhl, Gengsamkeitsgefhl, Kraftgefhl, Lebensgefhl, Machtgefhl, Mitgefhl, Notgefhl, Rachegefhl, Schwindelgefhl, Sicherheitsgefhl, Verklrungsgefhl, Vorgefhl, Wertgefhl, Wohlgefhl, Freiheit des Gefhls, Gefhl von Freiheit, Gefhl von Fremdsein, Gefhl des Gezwungenseins, Gefhl der Rangverschiedenheit 13, 26, 47, 52, 58 f., 73, 75, 83 f., 86, 98, 108, 110, 113 f., 119, 137, 144, 146–148, 154, 157, 165, 167, 186, 193 f., 203, 210, 213, 216, 230 f., 235, 242, 249, 251, 253–255, 267, 274–276, 288, 290 f., 297, 299, 300 f., 303 f., 313, 319, 324, 329 f., 333, 344, 358 f., 375, 378, 387 f., 431 f., 445 f., 452, 454, 472, 476, 481, 483, 501–505, 508, 516, 525, 528, 535 f., 544, 546,
548, 550, 559, 561–564, 567, 604, 606, 608, 620, 623 f. Flle s. berflle furchtbar, furchtsam/furchtabwehrend/ furchtlos, Furcht/Furchtsamkeit/ Furchtlosigkeit, Furchtlose, schaudervoll, Schauder, schrecklich, Schrecken, aufschrecken, erschrecken, zurckschrecken, Schreckstarre 3 f., 19, 25, 47, 53–55, 66, 68, 77, 86, 88, 93–98, 106, 108, 110–113, 116, 119, 121, 146, 159, 162 f., 169, 172, 174, 177, 183, 188–190, 196 f., 200, 204 f., 207, 209–211, 217, 220, 226–229, 232, 234, 249, 253, 257, 289 f., 293, 298, 303 f., 319, 322, 328, 337 f., 340, 348, 360, 363, 371, 390, 400 f., 404, 416–422, 425, 432, 438, 440, 445, 447, 459, 475–477, 485, 490 f., 501 f., 504 f., 516, 520 f., 523, 525, 540, 543, 546, 557 f., 565, 570 f., 589, 594, 601, 603, 608 f., 613, 615, 635, 638 f., 642, 645 gai saber, gaya scienza (s.a. frçhlich ! frçhliche Wissenschaft) 27 f., 35–37, 40 f., 50, 117, 172, 397, 472, 541, 544, 640 Gnsefßchen, Anfhrungszeichen 23, 28, 31, 69, 87, 92 f., 117 f., 163, 211, 231, 239, 265, 290–294, 314, 320, 336, 359, 364 f., 373, 390, 394 f., 397, 409, 415, 417, 433, 436, 446 f., 459, 473 f., 500, 527, 549–551, 554, 570, 578, 580, 597, 611, 621, 630 geben, sich geben, Gabe 17, 20, 189, 236, 238, 330, 336, 435, 451, 466, 576, 592, 595 gebundener/ungebundener Geist, Bindungen/Ungebundenheit des Denkens 62, 91–257, 267, 301, 304 f., 311, 316, 318, 333, 385 f., 427, 439, 448, 467, 516, 571, 573, 598 f., 612, 618, 627, 642 f.
Begriffsregister
Gedankenstrich 78 f., 87, 175–177, 181 f., 192, 207 f., 359, 405, 431 f., 495, 497, 516, 533, 554, 578, 580, 634 geduldig/geduldsam/ungeduldig, Geduld/Ungeduld 13, 25, 32, 59, 65–67, 80, 85, 99, 177, 195, 328, 331, 339, 439 f., 444 f., 447, 455, 459, 482, 485, 547, 571, 577, 587 f., 600, 634 f. gefhrlich, Gefahr, Gefhrlichkeit 3 f., 6, 24, 32, 34, 61, 67, 69, 74, 98, 100, 107 f., 113–117, 130, 132, 148, 159, 168, 176 f., 181, 183, 190, 194, 196 f., 199, 214, 219 f., 233, 246, 256 f., 275, 277, 280, 316 f., 325–327, 332, 338 f., 341, 344, 362, 421, 426 f., 429 f., 491, 493, 501, 507, 516, 522, 526, 530, 532 f., 541, 546–548, 558 f., 561, 563, 565, 589, 603, 606, 610, 613, 620, 638, 640, 642 gegenstzlich, Gegensatz, GeschlechterGegensatz, Natur-Gegensatz, entgegensetzen, Entgegensetzung 29, 31, 44, 48, 74, 134, 143, 147, 153, 172 f., 188, 205–207, 209, 220, 223, 225, 227, 246, 248, 252, 264, 266, 271 f., 281, 285, 303, 305, 307, 313 f., 318–320, 329, 334, 340 f., 344, 386, 420, 422, 425, 429, 431–437, 471, 474–479, 483–487, 493 f., 518 f., 531, 565–567, 580, 601, 603, 614 f., 618 f., 628, 630, 646 gegenseitig, Gegenseitigkeit, Moral auf Gegenseitigkeit 17, 30, 47, 185 f., 189, 235, 564, 588, 641 geistig, Geist (s.a. freier Geist), Geistiges, Geistigkeit/Geistlosigkeit, deutscher Geist, moderner Geist, geistiges fatum, geistige Welt, Geistesgegenwart, Geisteskraft, Geisterkrieg, Geisteskrankheit, Vergeistigung, Ladendiener, Schauspieler, Tyrannen des Geistes 6, 25 f., 30, 32, 38 f., 41 f., 48, 56, 59, 61, 82, 85, 93, 98, 118,
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122, 124, 128, 130 f., 139, 141, 147, 149, 152, 157–160, 162–164, 169–171, 174, 177, 182–191, 194 f., 198, 204, 209 f., 219 f., 222, 225–228, 236–238, 240, 242, 244–246, 248, 250–257, 261 f., 265, 267, 273, 286, 288, 299, 306, 317, 319, 323, 325, 329, 331, 335, 338 f., 341, 346, 361 f., 367, 370 f., 373 f., 377, 386, 394, 397–401, 404 f., 406, 408, 418, 421, 424, 426, 428, 440–442, 445, 447 f., 453 f., 458 f., 461, 465, 469 f., 475, 477, 479, 482, 485, 491–493, 496, 509, 516, 518, 527, 529, 533, 535, 537, 539, 541, 543 f., 548 f., 554 f., 559, 562–564, 568, 573–578, 588, 593 f., 598–600, 602–604, 606, 609, 611–615, 617 f., 620, 625, 627, 632–635, 637 f., 642, 644 gelassen/ausgelassen, Gelassenheit/ Ausgelassenheit V, 26, 29, 36, 43 f., 49, 94 f., 97, 173, 178, 191, 200 f., 221, 234, 276 f., 313 f., 322, 406, 417, 420, 500, 576 f., 593, 608, 620, 630, 641 gelehrt, Gelehrter 15, 36, 43, 47, 67, 79, 100, 121–160, 164, 198, 211, 222, 233, 235, 248 f., 251, 256, 322, 337, 390, 399–401, 448, 450, 456, 496–498, 559, 611, 620 gemeinsam, Gemeinsamkeit, gemein/ ungemein, Gemeinheit (s.a. Sprache), gemein machen, vergemeinern, durchschnittlich, Durchschnittlichkeit, Durchschnitts-Art, mittelmßig, Mittelmaß, Mittelmßigkeit, Vermittelmßigung, geistiger Mittelstand, Pçbel, Plebejismus (s.a. Herde, Volk) 83 f., 169 f., 181, 183, 206, 215, 220, 225, 235, 242, 245–250, 263, 268–270, 274–277, 284, 288, 296, 312, 316, 318, 323, 331, 338, 399, 401, 427, 438, 443, 478, 509,
726
Begriffsregister
544, 551–554, 562, 565–567, 574, 641 f., 644 genealogisch, Genealogie 8, 42, 163, 237, 294–296, 308, 480 genesen, Genesung 25–27, 36, 62, 482, 484, 535, 547, 549, 571, 604, 622, 633 Genie, Genius, Genius der Kultur 130, 153 f., 159 f., 218, 313, 327, 341, 346, 375, 378, 383, 482, 496, 528, 542, 548 Genius der Gattung 262, 265–269, 274, 293, 376, 383 gerecht/ungerecht, Gerechtigkeit/Ungerechtigkeit, Recht/Unrecht, Recht auf etwas, gleiche Rechte, Rechtsinstitution, Brgerrecht, Wille zur Gerechtigkeit 3 f., 21, 45, 49, 51 f., 55, 57, 68, 73, 80, 83, 99, 103, 110, 113, 121, 130, 134, 144, 164, 166, 170, 172 f., 182 f., 185 f., 197, 215 f., 224, 228, 234 f., 237, 251 f., 256, 310, 312, 323 f., 330, 333, 338, 361, 365, 367, 389, 395, 400, 418, 421–432, 442, 446, 527, 552–555, 558, 561, 601 f., 608, 611, 620, 628, 641 Geschlecht, frhere/kommende Geschlechter, Geschlechter-Ketten, Generationen 94, 110, 143, 160, 194, 200, 204, 233, 237, 246, 253, 324, 337 f., 340, 362, 400, 558, 562 Geschlecht, Geschlechtlichkeit, Geschlechtsliebe, Geschlechtstrieb, Geschlechtsverkehr, GeschlechterPerspektiven (s.a. gegenstzlich) 21, 39, 67, 171–173, 251, 265–268, 293, 310, 336, 376, 390, 422 f., 424–439, 444, 524, 572, 598 Geschmack, demokratischer Geschmack, klassischer Geschmack, rçmisch-katholischer Geschmack, Beigeschmack, Publikumsgeschmack, Abgeschmacktheit 55, 58, 65, 80, 94, 139, 160, 202,
219, 249, 406, 415, 419, 436, 440, 449, 453 f., 470 f., 474–476, 501, 506, 510, 523, 562, 573, 608, 620 gesellschaftlich, Gesellschaft, aristokratische Gesellschaft, ,freie‘ Gesellschaft, ,gute Gesellschaft‘, Gesellschaftsbau, Gesellschaftsordnung, Gesellschafts-Trme, Luxus-Gesellschaft, SchauspielerGesellschaft, Weltgesellschaft 16, 38, 53, 98, 103, 106, 117, 122, 124, 138 f., 162, 167, 181, 185 f., 189, 199, 210 f., 214 f., 220 f., 240–243, 245 f., 248, 250, 253, 256, 261, 263 f., 270, 277, 279, 287, 296, 305–350, 365, 379, 386, 390, 397 f., 400, 402 f., 428, 434 f., 438–446, 450, 453, 468, 474, 508, 510, 529, 533, 539, 542 f., 551, 553, 555, 559, 561, 563–566, 598, 622, 642, 644 gesetzmßig, Gesetzmßigkeit, Gesetz, Gesetzgeber, Dreistadiengesetz, Naturgesetz, Gesetz der Ebbe und Flut, der Geschlechter, Gesetze der Kunst, Gesetz des Lebens, der Not, einer Philosophie, Gesetze der Rangordnung, Gesetz der Selektion, Gesetze des Stils, Gesetz der bereinstimmung, Konzentration unter ein Gesetz 11, 13, 23, 31, 38, 41, 44, 47, 67, 83, 122, 146, 191, 216, 239, 241, 248, 257, 283, 302 f., 308, 322, 324, 375, 380, 384, 388, 390, 393, 397–402, 408 f., 431, 440, 450, 452, 492, 520, 562 f., 610 f., 613, 629, 641, 644 Gespenst 59, 99, 174, 188, 225, 274, 435, 447, 496, 524, 529, 583, 615, 632 gesund/krank, Gesunder/Kranker, Gesundheit/Krankheit, Gesundheiten, Gesundsein/Gesundwerden, große Gesundheit, Gesamt-Gesundheit, Gesundheits-/Krankenpflege, Erkrankung, Krankheitsgeschichten, Krank-
Begriffsregister
heitszustnde, Geisteskrankheit 26, 28, 34 f., 39, 41, 50, 60, 62, 64, 98, 148, 150, 152, 168, 170, 185, 189, 191, 194, 196, 208, 215 f., 221, 237 f., 248 f., 265 f., 274, 323, 328, 335, 338, 367, 395, 401 f., 406, 408, 441, 447, 466, 469, 474, 476, 482–484, 491, 493, 496, 500 f., 507, 512–514, 516 f., 528 f., 532 f., 537, 547, 549, 561, 564, 569, 576, 589, 598–608, 612, 614 f., 618 f., 624 f., 632 f., 642 gewaltsam/gewaltherrisch/gewaltttig, Gewalt (s.a. Sprache), organisierende Gewalt, Gewaltmittel, Gewalt der Inspiration, Selbstvergewaltigung 18, 47, 146, 183, 204, 207, 209 f., 219, 248, 252 f., 255 f., 274–276, 295, 313, 315, 324, 345, 350, 390, 420 f., 428, 434, 475, 522, 547 f., 557, 560, 563, 598, 601, 607, 632, 637, 642 gewiss/ungewiss, Gewissheit/Ungewissheit, Erlçsungsgewissheit, Heilsgewissheit, Glaubensgewissheit, Grundgewissheit, Selbstgewissheit 3–6, 10, 70, 77, 92, 98, 105, 111–115, 117, 119, 123, 125, 135, 163, 178 f., 190, 192, 195, 197, 202, 208, 210, 212 f., 217, 220, 230, 237, 244, 250, 255, 261 f., 267, 283, 300, 326, 350, 366 f., 373, 376, 400, 416 f., 420–422, 457, 480, 485, 500, 505, 521, 539, 542, 545, 547, 571, 574, 603, 605, 616, 638–642, 645 f. gewissenhaft, Gewissen, bçses/schlechtes/gutes, christliches, europisches, intellektuelles, persçnliches, wissenschaftliches Gewissen, Gewissen des Geistes, Gewissensberlistung, Parteigewissen 52, 83, 99, 108, 112, 153 f., 157, 161 f., 186, 196, 210, 215 f., 219 f., 228, 230, 233, 250, 253, 311, 316 f., 329, 338, 366 f., 378–380, 400, 406, 408, 413, 419,
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476, 510, 562, 564, 573, 580 f., 606–608, 613, 628, 636, 642 giftig, vergiften, Gift/Gegengift, Giftgetrnk 47, 99, 159, 181 f., 184–186, 329, 373, 527–529, 593 glauben, Glubiger, Glaube/Unglaube, Gesamtglaube, Grundglaube, Glaubensartikel, Glaubensentscheidung, Glaubensgewissheit, Glaubenskampf, Glaubenssatz, Glaubenszeuge, AmerikanerGlaube, Artisten-Glaube, AthenerGlaube, Europer-Glaube, Glaube an den Unglauben 4, 6, 26, 31, 33, 39, 43, 52, 60 f., 79 f., 92 f., 101, 111, 114, 121–128, 129–131, 134–136, 140, 143, 145, 152, 159, 161 f., 165, 171, 177, 179, 192, 199, 201–203, 208–220, 226–229, 233–235, 237 f., 241, 243 f., 248, 250 f., 264, 280, 286, 288, 294 f., 307–312, 315 f., 318–320, 324, 329, 337, 365, 372, 375–379, 387–389, 395, 400, 404–406, 408, 417, 419, 423 f., 427–429, 432, 434, 444, 446–448, 450, 455, 461, 466, 482, 485, 490, 492, 516, 518 f., 529 f., 532, 541, 543, 545, 548–552, 562 f., 568 f., 572–574, 598, 606, 610, 613, 620, 632, 639, 642–645 glaubwrdig/unglaubwrdig, Glaubwrdigkeit/Unglaubwrdigkeit 92, 112, 114, 121, 123, 125, 127, 136, 197, 200 f., 240, 244, 251, 306, 324, 332, 335, 378 f., 490, 517, 539, 541, 553, 566, 607, 620, 639, 644 glcklich/unglcklich, Glck/Unglck, beglcken, Glckslage, Glckstiefe, Grillen-Glck, Hoffnungsglck, halkyonisch, Halkyonismus 5, 25, 45, 50–52, 99 f., 107, 109, 112–114, 116, 123, 148, 155, 165, 194, 235 f., 253–255, 267, 294, 312, 328, 344, 347, 397 f., 420, 426, 430, 434, 443 f.,
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Begriffsregister
450, 455, 457, 469, 475, 477, 483, 491–493, 495, 510, 512, 526, 546–548, 562, 590–593, 601, 612 f., 616, 623, 629 f., 632–634, 638, 640, 642 gçttlich/ungçttlich, gotthnlich, Gott, Deus, Gçtter, Gottesdienst, Gottheit, Gottloser, alter, christlicher, moralischer Gott, Heerfhrer Gott, Philosophen-Gott, Reinigungsgott, Auserwhlte Gottes, Volk Gottes, Schatten Gottes, Tod Gottes, Gottes-Grber, vergçttlichen, Vergottung 8, 20 f., 29, 33, 36, 40–44, 52 f., 59 f., 61–63, 70, 83, 91 f., 95, 97, 101–115, 119, 121–123, 126 f., 135 f., 140, 143, 149, 159 f., 162, 174, 176, 179, 181, 189, 192, 194, 197, 199–201, 203, 207, 210, 215–218, 220, 224, 228 f., 233–240, 244–246, 248, 251, 253 f., 257, 273, 285, 300, 324, 336, 338, 348, 358, 364, 376–379, 383, 388, 397, 400, 414, 417–419, 450, 459–461, 476–479, 488, 490 f., 493, 495, 500, 516, 526–532, 539, 541, 544, 548, 553, 558, 580 f., 583 f., 587, 603, 607, 609, 611–613, 615, 617, 623, 625, 627, 631, 633 f., 636 f., 639 grenzenlos/begrenzt/unbegrenzt, Grenze, Begrenztheit/Unbegrenztheit, geographische/kulturelle/begriffliche Grenzen, Grenzabsteckung, Grenzberschreitung, Abgrenzung, Eingrenzung, Entgrenzung, Umgrenzung 10, 67, 87, 96, 98, 113–117, 128, 154, 164, 184 f., 187, 192 f., 203, 211, 229, 235, 283 f., 287, 298, 322, 356, 358 f., 369, 372, 381, 386 f., 392 f., 401, 407 f., 410, 413–419, 446, 452, 465, 472, 478, 486, 494, 498, 527, 538, 540, 559, 573, 580, 583 f., 594 f., 610, 612 griechisch, Griechen, Griechenland, Griechentum, griechische Klassik,
griechische Seele, hellenisch, Hellenen, Hellentum, Hellenisierung 4–6, 21, 43, 76, 91, 96–98, 102, 107–109, 138, 160, 180, 196, 218, 234, 240, 244, 295, 318 f., 321 f., 326, 348, 356–359, 364 f., 373, 426, 433, 441, 454, 467 f., 474, 476, 490 f., 498, 521–523, 556–558, 561, 563, 570 f., 602, 609–611, 616, 626 groß, grçßer, grçßter, bergroß, Grçße 5–8, 16, 19, 31, 37, 39, 52 f., 58, 70, 83, 86, 95, 98 f., 105–110, 113, 116, 119, 122 f., 131, 133, 144, 146–148, 153, 155, 159 f., 162 f., 168–174, 189–191, 195–198, 217, 219 f., 229–232, 235–237, 240, 243–246, 263, 273, 278, 302 f., 305, 313, 317–319, 322, 327–329, 331, 333, 335, 337–339, 341, 343–348, 359, 361, 364–366, 370–374, 377–379, 386, 397, 400–402, 408 f., 415–417, 419, 424 f., 441, 448 f., 451, 453 f., 465 f., 471, 474–477, 483, 485, 490, 493, 495, 499, 501–505, 510 f., 524, 529 f., 541, 550, 552, 558–561, 566–568, 571, 573, 582 f., 585 f., 588–590, 592–594, 596, 598 f., 601–603, 606–620, 624 f., 627–632, 636, 640, 642, 645 großmtig, Großmut 99, 339, 426, 446 gut/bçse, das Gute/das Bçse, Gut und Bçse, Gutes und Bçses, ,guter/bçser Mensch‘, ,gute Gesellschaft‘, ,die Guten und Gerechten‘, Jenseits von Gut und Bçse 3, 18, 29 f., 32 f., 36, 42, 50, 61, 83, 102, 144, 166, 172, 181, 183, 195, 197 f., 211, 219 f., 225, 227, 248, 280, 294, 296, 305, 317, 322 f., 331, 342, 348, 403 f., 418, 430, 442, 445, 447, 456 f., 468, 476 f., 502, 508, 528, 530, 548, 560, 563,
Begriffsregister
570, 572–574, 576, 583, 629, 632, 634, 638 gtig, Gte, Gtigkeit 28, 98, 100, 104, 110, 116, 121, 230, 377, 417 f., 458 f., 490, 500, 544, 548, 578, 583 gutmtig, Gutmtigkeit, Vergutmtigung 15, 148, 187, 226, 252, 369, 632, 635 haltbar/haltlos, halten, Halt, Rckhalt, rckhaltlos, Halt im Haltlosen 4, 6, 20, 42, 53, 92, 122 f., 130 f., 135, 164, 182, 189, 200, 208, 210–212, 216–219, 223, 238 f., 243–245, 250 f., 255, 261, 267 f., 270, 273 f., 283, 290, 296 f., 312, 316, 323, 325, 328, 335, 350, 355, 377, 411, 416 f., 419 f., 466, 483, 485, 487, 534, 539–575, 580 f., 588–591, 612, 614, 638, 641 f., 644, 646 heilig, Heiligkeit, Heiligtum, Heiliger, Geheiligtes, Allerheiligstes, Heiligung, Heilighaltung, Heiligenschein, Lieblingsheiliger 28, 33, 40, 61, 84, 97, 159, 182, 189, 219, 225, 228, 237 f., 244, 249, 251, 335, 426 f., 461, 514, 574, 593, 609, 611–614, 617, 621 f., 625, 627, 630 f. Heimat, Heimatloser 230, 362, 374, 539–552, 560 f., 569–571, 578, 586, 594, 599, 606, 612, 643 heiter, Heiterkeit, Aufheiterung, Erheiterung 27, 34, 41, 43 f., 47, 50–52, 61, 64, 84, 92, 94–101, 107, 109, 112, 114, 118–120, 171, 192, 196, 220 f., 229 f., 246, 322, 339, 417, 450, 476, 491–493, 495, 512, 541, 558, 574, 576 f., 579, 600 f., 611, 613, 615–617, 620, 623, 625 f., 628, 630–633, 639–641 hell, Helle, Helligkeit, hellhçrig, hellseherisch, Hellsicht, Aufhellung, Erhellung 6, 26, 28, 30, 33, 48, 50, 73, 98, 101–105, 114, 117,
729
289, 305, 324, 357, 379, 445, 466, 482 f., 486, 490–492, 507, 541, 571, 577 f., 592, 594, 598, 616, 632 f., 637, 642 Herde, Herdendenkweise, Herdeninstinkt, Herdenmaxime, Herdenmensch, Herdenmoral, Herdennatur, Herdenntzlichkeit, Herdenperspektive, Herdentier, Herdentierbedrfnis, Herdentypus (s.a. gemeinsam) 30, 53, 158, 180 f., 211, 215 f., 267 f., 276, 279 f., 284, 287, 310, 398 f., 501, 510 f., 562 f., 565, 574, 641, 644 heroisch, heroischer Mensch, Heros, Heroentum, Heroismus, Entheroisierung 27, 47, 97, 134, 160, 236, 240, 243, 319, 339, 342–345, 358, 378, 491, 561, 611, 645 Herren-/Sklaven-Moral (s.a. moralisch) 562, 564, 571 herrschen, Herr, Herrin, beherrschen, Beherrschung/Beherrschtsein, gewaltherrisch, herrschende Kaste, herrschaftliche/herrschende Rasse, Herrschaftsgebilde, Herrschsucht, Alleinherrschaft, Fabrikherr, Weltherrschaft, Herren der Erde, Herrin der Herren, Herr der Tugenden 18, 23, 26, 37, 59, 139, 146, 158, 195–197, 203, 219, 226, 243, 246, 248, 250–254, 274, 295, 306, 309, 320, 333–337, 342 f., 346, 348, 357, 367, 370, 376, 389, 399, 403 f., 420, 425, 428–430, 434, 466, 475, 481, 487, 491, 502, 526, 540, 553, 559 f., 562 f., 571 f., 587, 608, 610, 615–617, 630 herrschende Moral (s.a. moralisch) 161 f., 167 f., 171, 174, 180, 215, 243, 311, 331, 379, 435, 508 f., 555 f., 602, 612, 614, 639 f. himmelblau, himmlisch, Himmel, Himmels-Heiterkeit, Himmel der Begriffe 29, 51, 57, 96, 99 f., 110, 117, 198, 226, 246, 302, 341,
730
Begriffsregister
440, 483, 547 f., 574, 576, 578, 590 f., 635, 637 Hingabe, Hingebung 157, 160, 232, 253, 336, 358, 422 f., 429–436, 491 historisch/unhistorisch/berhistorisch, historische Methodik, historischer Sinn, Historie, Historiker, das Historische, historistisch, Historismus, Historisierung, welthistorisch 8, 16–18, 24, 37, 42, 73, 79 f., 115, 121 f., 124, 144 f., 149, 160, 166, 203, 225 f., 247, 251, 296, 303, 305 f., 308, 318, 324, 333, 341, 362, 370 f., 379, 448, 452, 468, 471, 544, 550, 552, 568, 571, 643 hoch, hçher, Hçhe, Hçhenluft, Hçhepunkt, erhçhen, Erhçhung 8, 15–17, 47, 130, 147, 155, 171 f., 216 f., 228, 235, 253 f., 256, 287 f., 305, 311, 317, 328, 332 f., 339, 396, 400, 403, 418, 421, 428 f., 456 f., 468, 483, 490, 492, 504, 518, 555–559, 562–568, 577–581, 584–591, 612, 620, 625, 630 hoffen, Hoffender, Hoffnung, hoffnungslos 26, 28, 61, 97 f., 100, 110, 115, 122 f., 223, 237, 309, 313, 343, 374, 381, 403–405, 415, 430, 444, 448, 458, 467, 469, 471, 482 f., 485 f., 501, 503, 511 f., 523, 542 f., 546, 548, 560, 563 f., 607, 615, 629, 636 hçherer Mensch, hçherer Typus des Menschen 16 f., 33, 147, 230, 251, 329, 428, 442, 450, 484, 504, 509, 548, 567, 577, 612 hçrbar/unhçrbar, hçren, Hçrer, Gehçr, hinhçren, berhçren, verhçren, zuhçren 59, 67, 74, 76, 87, 103, 110, 119, 147, 237, 282, 309, 379, 406, 408 f., 441, 448, 450 f., 453, 456, 458, 461, 466, 485, 498–500, 503 f., 506, 510, 512 f., 516 f., 520, 525, 533, 535–538,
540, 578, 580, 584, 593, 599–601, 605, 619 f., 630, 633, 635 Horizont, Horizontlinie, Horizonterweiterung, Horizontumschrnkung, Horizontverengung 50, 73, 113–115, 124 f., 128 f., 155, 216, 229, 282, 284, 290, 308, 355, 359, 396, 403, 405 f., 416, 452, 454, 457 f., 467, 483, 485, 537 f., 540, 603, 606, 627, 630 humorvoll, Humor 34, 48, 99, 508, 513, 620 hypnotisch, Hypnotikerinnen, Hypnose, Hypnotisierung, Selbsthypnotisierung 216, 334–336, 345, 444 hypothetisch, Hypothese, vermuten, Vermutung, Unvermutetes, unvermutete Vermutungen 3, 21, 23 f., 60, 65, 67 f., 117, 119, 126–128, 132–134, 140, 152, 179, 197, 215 f., 223, 236, 261, 263 f., 278, 326, 340, 346, 365, 367, 384, 387–389, 392, 395, 412, 433, 455, 480, 488, 503, 516, 519, 522, 529, 532 Ich
213, 271, 281, 284, 367, 450, 453 f., 519 ich/wir/ihr/man 55, 125 f., 168, 178 f., 193 f., 263–265, 286 f., 290, 380, 420, 424, 439, 455, 467, 470, 518, 523, 540, 544, 554, 576, 600, 634 ideal, Ideal/andres Ideal, Idealitt, Idealmenschen (s.a. asketisch ! asketisches Ideal) 28, 38, 60 f., 83 f., 118, 136, 170, 174, 179, 189, 223, 249, 251, 254, 295, 319 f., 326 f., 329, 346, 395, 404, 429, 433, 450, 461, 474, 482, 485, 522, 526 f., 543 f., 551 f., 554, 566, 569, 574, 579, 599, 602 f., 605–614, 617–619, 623, 625–628, 630 f., 638 f. idealisch, idealistisch, Idealist, Idealismus, Idealisierung, IdealistenMntel, Deutscher Idealismus
Begriffsregister
150, 182, 190, 213, 227, 262, 290, 292, 321, 372 f., 381, 419–421, 429, 440, 490, 499, 514–529, 532–537, 540, 549, 551, 605–607, 609–611 idealtypisch, Idealtypus 118, 223, 625 ideell, Ideen, moderne Ideen, Ideenlehre, Ideomanie 190, 220, 222, 224, 227, 253, 293, 312, 348, 410, 438, 505, 517, 521–526, 535, 556, 562, 574, 580, 610, 633 f. idiosynkratisch, Idiosynkrasie 139–141, 143, 145, 147, 322, 436, 492, 573 Idiot, Idiotismus 124, 140, 406–408, 511 individuell, Individuum, Individualitt, individualistisch, Individualismus, individuieren, entindividualisieren 5 f., 46, 53, 77, 108, 122, 137, 139 f., 147, 151, 159, 164, 184, 187–189, 206, 241, 263, 267–270, 274–276, 279, 281, 284 f., 287, 316, 323, 375, 381, 390, 399, 406, 434, 449 f., 466, 474, 486, 531 f., 549, 557, 559, 562, 567, 570, 585, 641, 644 instinktiv, Instinkt, Instinktabirrung, Instinktbescheidenheit, logischer Grundinstinkt, jdische Instinkte, Instinkt der Ehrfurcht, der Furcht, der Schwche, Herdeninstinkt, Staateninstinkt 6, 39, 53, 74, 148, 156, 160, 199, 205, 210–216, 222, 229, 234, 237, 241, 248, 250, 253, 255, 268, 270, 272 f., 277, 287, 289 f., 293 f., 298, 303, 313, 324 f., 331 f., 364, 377, 387, 398, 442 f., 452, 471, 473, 476, 481, 494, 501 f., 504, 506, 511, 524, 531, 542, 550, 562, 567, 601 Institution 189, 224 f., 245, 252, 256 f., 311, 322–325, 349 f., 397, 426 f., 434 f., 555, 641 intelligent, Intelligenz, intellektuell, Intellekt, Intellektualisierung, intellektuelle Charakterlosigkeit, in-
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tellektuelles Gewissen, intellektuelle Idiosynkrasie, intellektuelle Maskerade, intellektuelle Rechtschaffenheit, intellektuelle Sauberkeit, sinnlich-intellektuelles System 26, 32, 50, 52 f., 80, 112, 139, 141, 145, 157, 210 f., 213, 216, 228, 230, 265 f., 274, 294 f., 315 f., 326, 328, 335, 339, 367, 375, 377, 379, 398, 408, 413–415, 421, 428, 476, 526, 556, 580 f., 608 interpretierend/auslegend, Interpretation/Auslegung, christliche, erlçsende, metaphysische, moralische, religiçse, unendliche Interpretation/Auslegung, kontextuelle Interpretation, Interpretations-Perspektive, Kunst der Auslegung, WeltInterpretation/-Ausdeutung/-Auslegung, Weltdeutungsmonopol 11, 23 f., 34, 60, 66, 68–88, 132, 143, 146, 148, 213, 220, 229, 239–244, 246, 251, 257, 273, 285 f., 291, 323, 330, 355 f., 368, 375, 377–379, 385–387, 389, 395–420, 436, 452, 483, 490, 494, 501, 530, 540, 592, 598, 642 f., 646 ironisch, Ironie, selbstironisch, Selbstironie 6, 13, 51, 72, 142, 158, 228 f., 248, 291 f., 306, 381, 401, 440, 444, 450, 472, 497, 512, 538, 618, 621 f., 627, 630, 634, 637 irritieren, Irritation, Irritabilitt, Irritationsfhigkeit VI, 5–7, 15, 17, 24 f., 28, 41–44, 60, 71–73, 75–77, 86 f., 103, 106, 118, 137, 144, 148, 153, 165, 193–195, 215, 231, 233, 254, 266, 275, 307, 340, 343, 384, 394 f., 409, 422, 447 f., 457, 461, 474, 502, 514, 520, 528, 596, 621, 640 Ja, Jasagen/Neinsagen, bejahen/verneinen, Bejahung/Verneinung, Lebensbejahung/Lebensverneinung, Selbstbejahung, Weltbejahung/
732
Begriffsregister
Weltverneinung 20 f., 29, 32, 46–48, 59, 100, 126, 134, 144, 148, 154, 156, 171, 195, 199, 202 f., 205 f., 346, 351, 376, 378, 383, 436, 477 f., 483, 492, 494, 502, 506, 531, 540, 569, 573, 624 jdisch, Juden, Judentum, hebrisch, Hebrer, hebrische Bibel, ewiger Jude (s.a. antisemitisch ! Antisemitismus/Anti-Antisemitismus) 86, 91, 102, 137 f., 142–144, 174, 250, 306, 314, 332 f., 335, 348, 356–358, 360, 362–364, 366, 375, 383 f., 428, 440, 459, 496, 525, 542–544, 570, 620, 630 Kampf ums Dasein, Kampf ums Leben 145, 150, 287, 615 Kaste 250, 333, 348, 559, 620 Kausalitt, Kausalismus 22–24, 56, 84, 198, 282, 300, 369, 375, 387 f., 404, 411 Kirche, Kirchenfrsten, Kirchenglauben 130, 148, 182, 187, 221, 224–228, 230–233, 237, 245–257, 311, 373, 397, 400, 527, 630 klassisch, Klassik, klassisches Zeitalter des Kriegs 182, 337, 471, 474–476, 495, 497, 543, 550, 558 klimatisch, Klima 226, 335, 363, 562, 608 klug/unklug/dumm, Klugheit/Dummheit, Lebensklugheit, Menschenklugheit, Verdummung 6, 30, 46, 55, 128, 131 f., 142, 148, 157, 183, 190, 230, 237, 247, 253, 264, 288 f., 316, 330, 339, 408, 418, 420 f., 424, 428, 445 f., 510, 524, 532–534, 558 f., 611, 615 komisch, Komçdie 27, 95, 134, 247, 317, 348, 382, 458, 527, 548, 623 f., 628, 645 kompromittieren 33, 291, 384, 404, 424, 509, 513, 556 Kraft, aufgestaute/auslçsende Kraft, knstlerische/illusorische/verkl-
rende Kraft, treibende/dirigierende Kraft, Gegenkraft, Geisteskraft, Heilkraft, Lebenskraft, Leuchtkraft, Nervenkraft, Schaffenskraft, Schwungkraft, Sinneskraft, Sprungkraft, Urteilskraft, Willenskraft, Kraft zum Alleinstehn, zur Anpassung, zum Cynismus, zur eigenen Orientierung, zur Entsagung, zur Entscheidung, der Erkenntnisse, zur Feststellung, zur Freigebigkeit, zur Gelassenheit, zur Gesetzgebung, der Liebe und Verachtung, zum Misstrauen, zum Nihilismus, zum Pessimismus, zur Selbstbestimmung, zur Selbsterlçsung, zur Selbstparodie, zur Selbstreinigung, zur Tat, zum Vergessen, zur Vision, zur Ungewissheit, der Zeit 6, 10, 18, 23, 26 f., 41, 44, 48, 75 f., 94 f., 101, 123 f., 147, 156, 172–174, 188, 190–192, 194, 196, 199–201, 205, 209 f., 214, 216 f., 219, 223, 226, 232, 237, 240, 257, 276, 278 f., 294, 296, 298, 311, 317, 319, 323, 326, 331, 335, 338 f., 346, 363, 385–398, 401, 407, 417, 434, 448, 452 f., 461, 466–470, 475–478, 480, 482 f., 486, 491, 501, 512, 518, 521, 526 f., 535 f., 539, 541–543, 550, 552, 562–565, 567, 571, 573, 576–581, 586, 591–594, 603 f., 617 f., 620, 627, 638, 640 kriegerisch, Krieger, Krieg, das Kriegerische, Kriegs-Praxis 27, 47, 95, 171–174, 234, 256, 267, 305 f., 309 f., 322, 337–346, 349, 404 f., 439, 475, 483, 507, 550, 557, 559 f., 604 kritisch, Kritik, selbstkritisch, Selbstkritik, Zeitkritik 4, 6–8, 23 f., 33 f., 42, 56, 60 f., 68, 71, 83 f., 88, 121, 125–136, 151, 156 f., 159, 161, 164, 166–168, 178, 180 f., 183 f., 192 f., 195, 197, 201–203, 209 f., 212, 219, 221,
Begriffsregister
228, 233 f., 236, 262, 271, 277, 280 f., 284, 286, 289, 300, 302 f., 328, 341, 369, 374 f., 377, 385, 387, 392 f., 402–406, 408, 410–415, 423, 425, 429, 431, 436, 440, 465 f., 470, 476 f., 486 f., 498 f., 519, 523, 526, 528 f., 538, 540, 552, 568 f., 576, 594 f., 599, 605–607, 613, 643 Kultur, Kulturernte, Kulturforscher, Kulturtatsachen, Kulturvolk, Kulturzentrum, Erhçhung der Kultur 8, 28, 38, 43, 50, 54, 107 f., 130, 140, 153, 182, 219, 224, 244, 257, 296, 305 f., 337 f., 347 f., 356–359, 367, 374, 377 f., 380 f., 468 f., 475–477, 495, 543, 553, 555–559, 563–565, 570, 607, 610, 616 kunstvoll, Kunst, knstlerisch, Knstler, Kunststck, Kunstwerk, dionysische Kunst, monologische Kunst/Kunst vor Zeugen, Knstlerfreiheit, Knstlerjenseitigkeit, Apotheosenkunst, Luxuskunst, Kunst der Abkrzung, der Anpassung, des Aphorismus, der Auslegung, des Befehlens, der Doppelsinnigkeit, der Erfindung, des Lebens, des metaphysischen Trostes, des Misstrauens, der Mitteilung, der Perspektivierung, der Satzzeichen, der Schauspielerei, der Schriftstellerei, der Sprache, der Transfiguration, der Transformation, der berredung, des Umgangs mit Menschen, der Verfhrung, der Verstellung, Kunst fr Knstler 7, 10–13, 28, 41, 43–53, 61, 66, 71–76, 78 f., 83–86, 96–98, 100, 107, 118, 123, 138, 153, 174 f., 183, 185, 188, 190, 196, 202, 211, 215, 218, 229, 232, 243, 256, 276, 278, 290, 306, 310, 313–315, 317, 320 f., 326–335, 342, 346 f., 363, 373, 378, 385, 394, 399, 409, 418, 428, 437, 439–442, 444, 447, 449 f., 452–455, 459–461, 465,
733
468–471, 476 f., 479 f., 484, 486, 488–490, 492–494, 498–502, 504, 506 f., 509, 513–516, 520, 522, 533–535, 537 f., 540, 542 f., 554, 557, 559, 563, 597 f., 601, 604, 611, 615 f., 620, 623, 631, 643 f. lachen, Lachen, Gelchter 16 f., 29–33, 44, 59 f., 68 f., 95 f., 99, 161, 196, 201–207, 220, 274, 311, 359, 380, 449, 476, 506, 511, 513, 628, 631 f. lebend/lebendig, leben, Lebendigkeit, Leben, alltgliches, animalisches, auskçmmliches, bedenkliches, bewusstes, frçhliches, gesellschaftliches, großes, innerliches, irdisches, jenseitiges, militrisches, monologisches, neues, çffentliches, organisches, persçnliches, posthumes, praktisches, soziales, berreiches Leben, lebensbejahend, lebensenthoben, lebensfhig, lebensfeindlich, lebensgefhrlich, lebenslang, lebenslnglich, lebensnah, lebensnotwendig, lebensblich, lebensverneinend, lebenswert, auf den Versuch hin leben, aufleben, ausleben, berleben, vorausleben, vorbeileben, weiterleben, Lebensabschnitt, Lebensalter, Lebensart, Lebensaufgabe, Lebensbedingung, Lebensbedrfnis, Lebenserfahrung, Lebensform, Lebensflle, Lebensgefhl, Lebensgeschichte, Lebensgrundtrieb, Lebenshaltung, Lebensklugheit, Lebenskraft, Lebenslage, Lebensmittel, Lebensmçglichkeit, Lebensnot, Lebensorientierung, Lebensreiz, Lebenssituation, Lebensumstnde, Lebensvorgnge, Lebensvorschriften, Lebensweise, Lebenszusammenhang, Abgrnde, Absichten, Erhaltung, Ernst, Exuberanzformen, Flle, Hrte, Generalisation, Gesamtaspekt, Gesamtabwertung, Heiter-
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Begriffsregister
keit, große Form, Kunst, Meer, Musik, Perspektivenoptik, Realitten, Sinn, Spiegelung, Stufe, Tempo, Text, berflle, Veroberflchlichung, Versuchungen, Voraussetzungen, Wertzustand, Wesen, Wohltter des Lebens, Leben in der Liebe, Gesamtleben, Menschenleben, Mitleben, Nomadenleben, Privatleben, Angst vor dem Leben, Kampf um das Leben, Minimum von Leben, Nutzen, Wert fr das Leben, Widerwille gegen das Leben, Wille zum Leben, berlebendigkeit, verlebendigen 4–6, 8, 13, 16, 20–23, 29, 32, 34, 37, 43–49, 51–53, 57 f., 61, 67 f., 73 f., 80, 94, 96 f., 99, 102 f., 107, 110, 113 f., 116, 122 f., 126, 128, 130, 132–135, 140 f., 143, 145–147, 150–152, 156–159, 167, 170–172, 178, 180–183, 186, 188, 190 f., 196, 198, 200–202, 205–207, 209–211, 218, 220, 223, 226, 228 f., 231–236, 238–244, 246, 249–251, 254–257, 264, 267, 270, 272–277, 282–284, 287 f., 294–298, 307, 312 f., 317, 322 f., 326, 330, 332–335, 339, 345, 347, 362, 365, 371, 376, 378, 380, 383, 388, 390, 394, 396, 405–407, 409, 419, 421, 424, 426, 428 f., 441, 443–450, 452, 454–456, 465–470, 472, 476 f., 480 f., 484 f., 487–494, 498–501, 503 f., 507 f., 510, 515–517, 519–522, 524–526, 528 f., 535–538, 540–552, 555–558, 561–564, 568, 574, 576–578, 585, 588, 593 f., 597, 599, 603–608, 610, 612, 615 f., 627, 633 f., 638, 642, 644 f. lehren, Lehrer, Lehre, çffentliche Lehre, Grundlehre, Lieblingslehren (s.a. Anti-Begriff ! Anti-Lehren) V, 12, 15–22, 30–32, 44, 47, 63, 66, 69 f., 72, 95, 118, 152, 173, 182,
195, 207, 239, 313, 321, 345, 347, 409, 411, 450, 467, 484, 498 f., 515, 527 f., 534, 560, 565, 578, 582, 584–588, 590, 592, 596, 626, 628, 631 leiblich, leibhaft, Leib, Leiblichkeit, einverleiben, Einverleibung, Einverleibtheit, verstopftester Leib, Leibestchtigkeit, Effloreszenz, Metaphern, Vergçttlichung des Leibes, Leib-Seele-Problem 22, 44, 49, 51, 53, 61, 110, 123, 129, 146 f., 160, 170, 180, 189–191, 200 f., 207, 210 f., 216–218, 232 f., 235, 252–254, 271, 278 f., 286, 288–290, 294–296, 302, 305, 325, 350, 363, 382, 386, 392, 399, 409, 425, 429, 432, 478, 483, 491, 496, 498, 500, 502 f., 510, 516, 536–539, 559, 561, 564, 579, 602–604, 609, 612, 619 f., 624, 626, 630 f. leicht/schwer, Leichtigkeit/Schwere, Leichtlebigkeit, Erleichterung, schwerfllig, schwerleidend, schwermtig, schwer zu erfassen, schwer zu erbringen, beschweren, unbeschwert, Geist der Schwere VI, 7 f., 26, 29, 32 f., 43, 46, 49 f., 62 f., 66, 69 f., 72, 84, 97 f., 101 f., 110, 112, 114 f., 124, 130, 137, 146–148, 150 f., 154–156, 169, 182, 186, 190 f., 210 f., 218, 225–227, 229, 232, 237, 256, 271, 273–275, 277, 289, 299, 301, 305, 309, 315–317, 328, 339 f., 363–367, 372, 390, 401, 420 f., 427, 440, 443–445, 456, 484, 488, 492, 495, 500, 503, 505, 509, 526, 532, 536–538, 542, 546, 549, 555, 558, 562, 569–577, 581, 583, 585, 587, 589–591, 596, 601, 607 f., 611, 613, 617 f., 620, 624, 626, 631, 635, 639–641, 644 f. leichtsinnig, Leichtsinn, leichtfertig, Leichtfertigkeit, Leichtglubigkeit 18, 29, 43 f., 98, 226, 273, 492, 558, 606, 620
Begriffsregister
Leiden, Schmerz, großer Schmerz, Tortur, Martyrium 9, 26, 31, 34, 39, 45, 97 f., 100, 146–148, 153, 170, 182, 186, 190, 195 f., 198 f., 215, 220, 230, 234, 255, 271, 274, 321, 347, 375 f., 388, 400, 420, 425, 430, 436, 451, 465, 472, 476 f., 480, 482–484, 489 f., 492–494, 500 f., 510, 523, 526, 536, 545, 547, 559, 562, 573 f., 577, 587–589, 601, 607, 611, 615 f., 620 leidenschaftlich, Leidenschaft, Passion 14, 35, 38 f., 44–48, 73, 85, 115, 164 f., 172, 232, 235 f., 240, 249, 334, 343 f., 373, 409, 420 f., 426 f., 428, 431 f., 450, 468, 502, 522, 593, 618 lesen, Leser, durchlesen, berlesen, verlesen, vorlesen, zurcklesen, Zeitunglesen 3, 12 f., 15, 25, 17, 47, 63, 65–76, 79, 81 f., 87 f., 104, 126, 134, 138, 142 f., 148, 155 f., 158, 175–177, 183, 186, 193 f., 227, 251, 271, 286, 291, 332, 360, 384, 405 f., 415, 424, 439 f., 457 f., 460, 495, 516, 525, 537, 568, 571 f., 588, 592, 600 f., 618, 629–639 liebevoll, Liebe, liebenswrdig, Liebenswrdigkeit, große Liebe, sich selber lieben, Liebe als Passion, der liebe, der liebende Gott, Evangelium der Liebe, Mutterliebe, Hass auf die Liebe, Leben in der Liebe, Strom der Liebe (s.a. amor fati, amor Dei intellectualis, erotisch, Geschlecht ! Geschlechtsliebe) 28, 35, 39, 45 f., 51, 59 f., 104, 122 f., 171–174, 182, 186, 190, 193, 196, 202, 234, 236, 238, 256, 269, 271, 275, 329, 331, 336, 401, 417, 427, 422, 444, 446, 451, 458, 479, 490, 501, 519, 522, 524, 527–529, 539, 551, 559, 568, 571, 574, 576, 581, 583, 587–589, 598, 614 f., 617, 627, 630
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liedhaft, Lied 14, 16 f., 85, 541, 577 f., 585, 590, 600, 632–634, 637, 644 literarisch, Literat/Sachkenner, Literatur 10, 15, 55, 58, 74, 81, 93, 96, 108, 128, 153 f., 158, 185, 222, 257, 333, 358, 455, 471, 513 logisch, Logik, Logisierung, Logizitt 3, 5, 13, 20, 22, 24, 43, 53, 63 f., 67, 71, 79 f., 84, 111, 119, 123, 128, 132, 138, 143, 169, 176 f., 205, 207, 294, 299, 303, 312 f., 365, 367, 370, 374, 377, 380, 390, 433 f., 436, 465 f., 479 f., 485–490, 494, 496, 501, 528, 531, 536, 614, 639, 643 Loslçsung 108, 117, 144, 196 f., 208, 220, 230, 245, 363, 397, 415, 470, 516, 562, 608, 614 lgen, Lgenerzhler, Lge, Lgenbrcke, Notlge 18, 20, 130, 136, 146, 217, 319, 322, 331 f., 379, 563, 584, 613, 638 luxushaft, luxurieren, Luxus, Luxusgesellschaft, Luxus von Krften, von Skepsis und Toleranz, von Zerstçrung, Luxusberschuss der Menschheit 39, 242, 250, 468–470, 477 f., 483 f., 503, 567 mchtig/ohnmchtig, machtvoll/ machtlos, Macht/Ohnmacht, Mchtiger, Mchtigkeit, absolute, erotische, lebenserhaltende Macht, Machtbegierde, Machtdurst, Machterweiterung, Machtgefhl, Machtpolitik, Machtquantum, Machtwille, Macht im Erfassen, Macht der Fabrikherren, des Gefhls, der Geistigkeit, der Leidenschaften, der Sinne, des Staates, der Verfhrung durch die Sinne, der Zeitungen, Allmacht, Gestaltungsmacht, Physiologie der Macht, willensmchtig, bermchtig, bermchtigung (s.a. Wille/n zur Macht) 18, 20, 23 f., 26, 39, 44, 51, 60 f., 73, 83,
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Begriffsregister
106, 138, 150–152, 158, 164, 170, 185, 187, 189–191, 211 f., 215, 224, 232 f., 235, 237, 239, 245 f., 250–257, 273, 296, 305 f., 312, 323–325, 331, 338, 344, 346, 349, 358, 396, 410–412, 420 f., 427–429, 432, 458, 461, 465, 468 f., 477, 483 f., 491, 502, 505, 507, 518, 526, 532, 536, 560–563, 566, 609, 612, 617, 623, 636, 641 f., 644 mnnlich/weiblich, Mann/Weib, Mnnlein/Weiblein, Vermnnlichung/Verweiblichung, große, junge, schçne Mnner, Mnner der Kirche, Mannscharakter, Dunkelmnner, Kriegsmnner, Muskelmnner, Staatsmnner, altes, gefhrliches, idealisiertes, vollkommenes Weib, verweiblichter Mann/vermnnlichtes Weib 5, 30, 45, 94 f., 103, 121, 141, 160, 168, 228, 251, 292, 305, 307, 309 f., 317–319, 323, 329, 334–343, 346, 349–351, 363 f., 373, 422–437, 439, 492, 506, 510–512, 522, 524, 543, 551, 579, 620, 630, 636 Maske, Maskerade 53, 80, 84, 100, 113, 181, 185, 220, 315, 330, 369, 446 f., 474, 529, 544, 551, 554, 563, 610, 623, 627 mathematisch, Mathematik, Mathematisierung, Mathematiker 21, 24, 128, 283, 299, 302 f., 393, 405, 408, 419, 526 mechanisch, Mechanik, mechanistisch, Mechanismus, Mechanizismus, Maschine, Maschinerie, Machinalisierung 32, 96, 310, 369, 389 f., 393, 397, 405–412, 419, 555, 559, 561, 566–568 mediterran, Mittelmeer 50, 155, 605, 607, 609 f. Medizin, Medikament 139, 168, 180 f., 221, 527 Meer, offenes Meer, Metaphorik des Meers (s.a. mediterran) 18, 26,
28, 50, 101, 113–117, 119 f., 304, 416, 466, 484, 488, 491, 559, 569, 571, 578 f., 582–592, 609, 611, 637 meisterhaft, meisterlich, Meisterschaft, Meister, Meisterin, Meisterstck, Baumeister, Lehrmeister 11, 59, 153, 155, 161, 170, 191, 211, 275, 313, 320 f., 326, 361, 453, 505, 513, 601, 615, 623, 633, 636 menschlich/allzumenschlich/unmenschlich, Mensch, Menschentum, Menschheit, Menschlichkeit, Art der Menschen, menschliche Natur, gegenwrtiger Mensch, letzter Mensch, Menschen-Abgrund, Menschen-Freuden, Menschen-Welt, Menschen-Zuknfte, Mensch der Zukunft, Liebe zur Menschheit, liebliche Bestie Mensch, Idealmensch, Ideale des Menschen, das Reinmenschliche, Anmenschlichung der Dinge, Entmenschlichung der Natur, Vermenschlichung der Welt, Attitde ,Mensch gegen Welt‘ (s.a. Erhçhung des Typus Mensch, hçherer Mensch, bermenschlich) 18 f., 21, 27, 29–32, 35, 40, 42, 44 f., 50–53, 60 f., 72, 83 f., 91, 95–97, 101 f., 105, 107–110, 112, 115 f., 128, 130, 135, 140, 146, 148, 150, 157, 159 f., 167–172, 174, 177, 179–182, 186, 188–190, 201, 203 f., 206, 209 f., 212, 215, 217 f., 223, 225, 227–229, 232, 234–237, 239, 241 f., 244, 246, 248 f., 251–255, 257, 266 f., 273–280, 285–288, 294, 304, 306 f., 311, 313, 315, 320, 322 f., 326 f., 344, 362, 364, 366, 372, 376, 378, 388 f., 395 f., 400, 403 f., 408, 415–419, 428, 443, 445, 448 f., 470, 476–478, 487, 491, 509, 512, 546, 551, 558 f., 563 f., 566–568, 579, 585, 601 f.,
Begriffsregister
614–616, 618, 624 f., 627 f., 634 f., 642, 645 Metapher/Begriff 18, 79, 87, 111, 114–117, 180 f., 215, 291, 304, 313, 320, 340, 391 f., 479, 515, 527, 532, 538, 540–551, 578–595, 615 f. metaphysisch, Metaphysik, Metaphysizierung, Antimetaphysiker 5 f., 9–11, 18–24, 33 f., 42, 48, 53, 61, 69, 77, 122, 126 f., 133, 135 f., 152, 191, 194, 203, 210, 212, 214, 219, 262, 265–268, 271–274, 277, 280 f., 286, 299, 307, 316, 336, 350, 355, 368 f., 376, 382, 386, 402, 413, 419 f., 422, 436 f., 440, 450 f., 476, 483, 486–488, 493, 525, 547, 569, 573, 602, 614 f., 643 Milieu, Milieutheorie 84, 363, 481 f., 552, 562 mimicry 330–332, 485 mitleiden, Mitleid 31 f., 147, 158, 167, 172, 174, 193, 226, 238, 271, 375, 415, 504 f., 507, 551, 568, 584, 620 mitteilbar/nicht mitteilbar, mitteilen, Mitteilbarkeit, Mitteilung, Mitteilungsbedrftigkeit, Mitteilungsfhigkeit, Kraft und Kunst der Mitteilung, berreichtum von Mitteilungsmitteln, Unmitteilsames 14, 17, 62, 82, 100, 104 f., 137, 159, 220, 222, 262–288, 292, 331, 390, 442, 448, 457, 469, 499, 504, 536–538, 587, 626 modern, wir Modernen, Moderne, Modernisierung, moderne Ideen 3, 14, 26, 39, 41, 46, 61, 63, 71 f., 83, 102, 130, 138 f., 147–150, 153, 158, 164, 181, 202, 222, 224, 227, 245 f., 248 f., 253, 261 f., 270, 282, 306, 308, 310, 312, 314 f., 319 f., 322–325, 328, 333, 336, 339, 346, 350, 356, 379, 381, 385 f., 388, 405, 419 f., 426, 428, 438 f., 445, 460, 467 f., 472, 474, 502, 505, 508 f., 513, 516,
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521, 525, 542 f., 545, 550, 557, 559, 562, 564, 570, 581, 610, 615 f., 631, 642, 644 monogam/polygam, Monogamie/Polygamie 425–427, 429, 435 moralisch/unmoralisch/außermoralisch, Moral, Moralen, Moralitt/ Immoralitt, Moralismus, moralisieren, Moralisierung, Moral-Interpretation, Moral-Kritik, MoralPathos, Moral-Perspektive, MoralVergangenheit, Moral-Worte und -Gebrden, moralischer Gott, moralischer Indifferentismus, christliche Moral-Hypothese, großer Stil in der Moral, Selbstaufhebung/Selbstberwindung der Moral (s.a. Herren-/Sklaven-Moral, herrschende Moral) 3 f., 8, 18, 23, 31, 39, 53–55, 60 f., 72, 79 f., 83, 94, 109 f., 114 f., 123 f., 126 f., 132–137, 140, 144, 146, 160–191, 201, 206 f., 211, 215 f., 220, 227, 233–235, 237, 239, 243, 247 f., 250, 252, 257, 276, 287, 305–308, 311, 316 f., 325, 330, 333, 335, 338 f., 342, 346, 348, 355, 357 f., 360, 367, 375–377, 379, 383 f., 397–406, 409, 418–422, 424 f., 429, 432 f., 435, 443, 446, 448, 450 f., 454–458, 466, 469, 476, 478, 490 f., 494, 498 f., 501–503, 508–510, 513, 515, 517, 523 f., 529, 530, 536, 538–540, 543, 550–556, 559, 561–574, 580, 598, 602, 609, 628, 640–642, 644 f. Moralist/Immoralist 11, 194, 199 f., 357, 440, 444, 514 Morgenrçte 29, 37, 42, 112, 114, 119, 136, 192, 225, 229, 289, 371, 458, 495, 639 musikalisch, Musiker, Musik, Musik des Lebens, Musik des Vergessens, Zukunftsmusikant 13 f., 42, 46, 49, 59, 72 f., 76, 79, 84–87, 119, 147, 155, 185, 187, 190, 269, 275, 309 f., 328, 334 f., 341, 343,
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Begriffsregister
359, 361, 363, 374, 406 f., 409 f., 441, 448, 450, 452 f., 455, 458, 461, 466–472, 476, 490, 498–512, 515–520, 522, 533, 535–538, 540 f., 577 f., 596, 599–601, 604 f., 632–637, 642 Mut 3, 37, 42, 55, 66 f., 85, 93 f., 115, 157, 178 f., 216, 248, 304, 317, 339, 344, 390, 418 f., 429, 443, 446, 450, 466 f., 475 f., 511, 529, 539, 552, 588, 603, 608, 611, 613, 632, 644 nackt, Nacktheit 181, 475, 508 nahe, sich nhern, das Nahe, Nhe, Nchster, Nchstenliebe 26, 36, 45, 54 f., 59, 112, 119, 145, 156 f., 174 f., 199, 230 f., 240, 244, 331, 337, 358, 390, 446, 460, 465, 473, 490, 502, 506, 510, 535, 549, 583, 612 f. Namen, Namenlose 25, 48, 87, 121, 167, 194, 196, 202, 205, 220, 231, 265, 271, 291, 330, 443 f., 478, 491, 514 f., 548, 557, 562, 599, 608, 640 nrrisch, Narr, Narrheit, Schalk, Possenreißer, Hanswurst, Kobold 33, 40, 59, 112 f., 196, 218, 222, 248, 306, 322, 331, 373, 381, 418, 448, 457–460, 479, 483, 509, 560, 589, 591, 617, 629, 631–637 national/antinational/bernational, Nation, Nationalismus, Nationalitt, Nationalitts-Wahnsinn, Nationalcharaktere, Vaterlnderei 84, 231, 235, 305 f., 337, 346–348, 360, 362–365, 371–374, 378, 382–384, 466, 539, 543, 551 f., 598 Natur, Natur/Kunst, erste/zweite Natur, Naturerkenntnis, Naturgegensatz, Naturgeschehen 23, 51, 62, 151, 187, 189, 223–225, 227, 229 f., 237, 257, 275, 288, 300, 302 f., 314 f., 317, 330, 369, 377, 388 f., 393, 397, 403, 408, 422, 425 f., 428, 431 f., 435–437, 460,
481, 491, 501, 524, 527–531, 547, 556 f., 564, 581, 583, 633, 642 Naturgesetz 11, 23, 302 f., 397 natrlich/unnatrlich/bernatrlich, natrlich/knstlich, vernatrlichen/entnatrlichen, Natrlichkeit, natrliche/unnatrliche Wissenschaften, Wider-Natrliches 62 f., 99 f., 126, 159, 185, 190, 200, 227, 237, 246, 252, 276, 290, 294, 302 f., 314, 336, 398, 407, 416, 427, 429, 432 f., 435, 472, 478, 481, 508, 513, 542, 550, 561, 595, 645 naturwissenschaftlich, Naturwissenschaft/en, Naturforscher 21, 24, 83, 122, 145, 148–150, 248, 302 f., 381, 387, 389 f., 405, 408, 410, 428, 518 f., 550, 564 neugierig, Neugierige, Neugierde, frohlockende, gefhrliche, hoffnungslose, rcksichtslose, verwçhnte, wissenschaftliche Neugierde 56, 98, 165 f., 193 f., 196 f., 226, 292, 415, 418 f., 423, 445, 483, 591, 603, 613 Nichts, Nichtse, nihilistisch, Nihilismus, Nihilist, Wille zum/ins Nichts 60, 64, 97, 83, 86, 111, 115, 134 f., 148, 153, 179 f., 192, 198, 203–209, 212, 216–218, 220, 236 f., 305, 323, 357, 376, 378, 407, 414–417, 419, 458, 460, 477, 501, 521, 530–532, 552, 556, 596, 600, 607, 625, 636, 638–641, 644 f. nivellierend, nivellieren, Nivellierer, Nivellierung, Nivellierungssystem 219, 334, 379, 399, 401, 429, 433, 510, 567, 644 f. nçtig, nçtig haben, notsein, nottun, Not, Nçte, Notdurft, Notlage, Notstand, nçtigen, Nçtigung, Notbehelf, Nothafen, Notlge, Notwehr, Arbeitsnot, Lebensnot, Gesetz der Not, Heuristik der Not 4–6, 10, 12, 16, 20, 25 f., 32 f., 39, 51, 57, 60 f., 67, 69, 72,
Begriffsregister
78 f., 91, 93 f., 99 f., 102, 105 f., 115, 132, 136, 139, 145–150, 152–154, 156, 159 f., 165, 172 f., 180 f., 184, 186, 199, 211, 213, 215, 217, 219 f., 223, 229, 232, 237, 241, 251, 256, 263, 265, 267–269, 274–278, 283, 295–297, 304, 307, 311, 322, 331 f., 338–340, 348 f., 360, 363 f., 386 f., 371, 389, 400, 404, 426, 432–434, 438, 451, 465, 467–469, 476, 479–484, 489 f., 492, 500, 502, 513, 517, 520, 522, 524–527, 532–534, 551, 554, 557, 560–562, 564 f., 580, 585, 593, 603, 605–607, 611–613, 615–617, 619, 631, 642–645 notwendig, Notwendigkeit, denknotwendig/lebensnotwendig, Denknotwendigkeit/Lebensnotwendigkeit (s.a. berleben ! berlebensnotwendigkeit) 20, 23, 31, 48 f., 53, 55, 67 f., 106, 113, 133, 160, 167, 177, 185, 197, 205, 217, 226, 265, 268, 270, 286, 296, 301, 316, 319, 321 f., 326, 342, 344, 349, 367 f., 370, 374, 376, 380, 387–389, 399, 403, 407 f., 410, 414, 421, 423, 435, 443, 446, 449, 467, 470, 478, 481, 487, 522, 526 f., 529, 531, 540, 544, 551, 555–558, 564–568, 570, 576, 578, 589, 601, 607, 611, 616, 620, 626, 628, 643 nuance, Nuancen 62, 65, 193, 220, 432, 491, 504 nutzen/ntzen, ntzlich, Ntzlichkeit, Ntzlichkeits-Kalkl, praktische Ausntzung, Gemeinschaft- und Herden-Ntzlichkeit 40, 54, 121–123, 126 f., 132 f., 159, 235 f., 238, 253, 257, 264, 277, 287, 294–296, 298, 317, 319, 323 f., 328, 331, 347, 390, 403 f., 412, 426 f., 444, 468, 481, 522, 542, 550, 562, 567, 593, 632, 637
739
oberflchlich/tief, Oberflche/Tiefe, Oberflchenwelt, Veroberflchlichung, Kultus der Oberflche, Wille zur Oberflche, Tiefsinn, bedeutungstief, deutsche Tiefe, Glckstiefe, tiefstes Inneres, Vertiefung in die Wirklichkeit 3, 5, 10, 15, 20–22, 27 f., 42, 48–50, 56, 80–82, 85 f., 92, 97–100, 104 f., 107, 110, 115, 121, 146–148, 156, 160, 165 f., 174, 181 f., 191 f., 195, 198 f., 203, 210–212, 220, 222, 225–230, 232–235, 238 f., 242, 249, 251, 253, 255, 262, 265–269, 271, 278 f., 285, 287, 289 f., 292, 300, 311 f., 317, 319, 322, 328, 330–332, 338 f., 346, 358, 362 f., 371 f., 374, 376–378, 383, 398–400, 403, 409, 416, 423 f., 425, 427–430, 432, 438, 450, 456, 466 f., 469–473, 477 f., 492, 498 f., 502, 505, 511, 517, 526, 530, 532, 538 f., 541, 543, 548–550, 554, 573, 577–579, 583, 586, 588 f., 591–594, 596 f., 601, 607, 618, 627, 633, 642 Ohr, Ohren, drittes Ohr, Ohrenbeichte 13, 24, 48, 87, 109, 186, 193, 238, 251, 253, 399, 406, 408, 410, 422, 451, 492, 495, 498 f., 503, 517, 521 f., 536, 553, 593, 619, 636 ontologisch, Ontologie 135, 410–414, 417, 420 Opfer 26 f., 32, 45, 47, 121, 130 f., 135, 140, 151, 158–160, 164 f., 167, 232–239, 243 f., 251, 253, 256, 310 f., 314, 321, 328, 339, 342 f., 429 f., 432, 516, 527 f., 533, 557, 559, 564, 566, 611, 613, 622, 624 orientalisch, morgenlndisch, Orient, Orientalisierung 37, 108, 225, 423, 570, 609, 627 orientiert/orientierungslos, Orientierung, alltgliche, menschliche Orientierung, Orientierungsent-
740
Begriffsregister
scheidung, Orientierungshilfe, Orientierungsproblem, Orientierungsspielraum, Orientierungs-, Urteils- und Fhrungsfhigkeit, Orientierungswelt, Desorientierung, Grundorientierung, Neuorientierung, Umorientierung 3–8, 10–12, 17 f., 26, 35, 45, 52 f., 59, 61, 78, 81, 88, 92, 94–96, 102, 104 f., 107, 110 f., 113 f., 118, 122, 127–130, 135 f., 154 f., 164 f., 169, 189, 197, 199–201, 203, 206 f., 209, 211–218, 220, 223, 238–244, 253, 255, 261 f., 266 f., 270, 274 f., 277, 283, 290, 294, 296–298, 301, 303 f., 308, 311, 317, 325 f., 339, 346, 349, 355 f., 358, 365, 392, 399 f., 406 f., 411, 416, 419, 436, 438, 442 f., 446, 450, 452, 460, 466 f., 472, 487, 510, 520, 537–539, 541, 543, 545, 547, 550 f., 563–565, 574, 590, 598, 612, 614, 627, 636, 638–646 oszillieren, Oszillation 49, 133, 165, 195, 214, 244, 264, 333, 537, 554, 568, 619 paradox, paradoxieren, Paradoxie, entparadoxieren 19 f., 24, 71, 102 f., 106, 126, 130–136, 147, 185, 237, 263 f., 291, 321, 330, 356, 365, 396, 411, 414 f., 419, 434, 438 f., 472, 616, 645 f. Parenthese, Eingangsparenthese, Schlussparenthese 36, 87, 119, 137, 143, 153, 159, 175 f., 209 f., 222, 231, 263, 312, 360, 408, 447, 474 f., 495–497, 503, 512 f., 525, 529 Parodie, Selbstparodie 27, 61, 87, 109, 381, 447, 451, 579, 609, 616, 619–640 Pathos, Pathos der Distanz, Moral-Pathos 14, 16, 24, 130, 171, 200, 202, 234, 236, 333, 400, 421, 431, 497, 539, 545, 563 f., 577, 579,
599–601, 619, 622, 626–628, 634, 641 Person, Persçnlichkeit/Unpersçnlichkeit, persçnlichkeitsverndernd 94, 129, 163–165, 169, 182, 295, 316, 525, 553, 560, 564 persçnlich/unpersçnlich, das Persçnlichste 14, 25, 39, 52, 87, 126, 129 f., 137, 142 f., 148, 153–155, 164–166, 168, 176, 178, 227, 234, 267, 284, 310, 312, 317, 338, 344, 350, 359 f., 381, 399, 450, 467, 472, 477, 482 f., 490, 492, 510 f., 546, 559, 561, 567, 643 perspektivisch, Perspektive, Perspektivierung, Perspektivismus, Perspektivierungskunst, perspektivenreich, Perspektivenwechsel, Geschlechter-Perspektive, InterpretationsPerspektive, Moral-, Sprach- und Bewusstseins-Perspektive, Zentralperspektive 8, 11, 14, 48 f., 53, 75, 84, 88, 99, 104, 124, 129, 142, 153, 155, 180, 203, 209, 213, 217, 220, 225, 230 f., 238, 262, 264, 280–286, 288, 308 f., 313, 317, 330, 343, 349, 355 f., 359 f., 369, 372, 377, 380, 383, 385, 387, 389, 392–397, 399, 401–405, 407–423, 425, 430–433, 435–444, 446, 452–456, 465, 476, 496–499, 503, 509–513, 515–517, 519, 525, 534, 538–540, 549, 551, 554 f., 568 f., 572–574, 595, 598, 608, 642 f. pessimistisch/optimistisch, Pessimist/ Optimist, Pessimismus/Optimismus (s.a. dionysisch) 4, 22, 84, 97, 107, 202–207, 212, 218, 229, 347, 367, 375, 380–383, 420, 454, 465–468, 470 f., 473, 476–478, 485, 489, 493–498, 501 f., 510, 513, 530, 544, 553, 557 f., 566 f., 569, 581, 599, 608, 618, 628 Phnomenalismus 262, 264, 280–284, 519 philologisch, Philologe, Philologie 7, 37, 65 f., 70, 72, 75 f., 79, 81,
Begriffsregister
85, 108, 144, 154–157, 183, 364, 474, 509, 522 philosophisch, philosophieren, Philosoph, Philosophaster, Philosophie, Philosophentum, philosophische/r/s Arbeiter, Denken, Erkennen, Humor, Kritik, Pathos, Praktik, Sprache, berraschung V f., 3 f., 6–16, 24–26, 28, 30, 34–36, 41–43, 46–49, 52, 55 f., 61–63, 65–71, 74–79, 81, 83–88, 93, 97 f., 100–103, 113, 115, 117, 121 f., 124 f., 130, 139–141, 146, 148 f., 154, 161–163, 165, 168, 170, 172, 174, 177–179, 182–185, 187, 189–198, 200, 202, 209, 211, 219–221, 225, 227, 230–232, 236–242, 244 f., 248, 251, 256 f., 261–263, 265, 272 f., 278, 280, 283, 285 f., 289 f., 292–303, 307 f., 312 f., 317, 321, 327–329, 339, 341, 345, 349 f., 356 f., 359, 363–386, 390, 392–394, 397–402, 408–411, 416, 418 f., 424, 438, 440–443, 448, 451, 455 f., 458, 460 f., 465–467, 472, 477, 479–483, 486–489, 492–495, 497–500, 514–523, 529, 533, 535, 538, 540, 542, 544, 548, 552–555, 557, 560, 568–572, 574, 576, 590, 595 f., 598 f., 602–607, 609–611, 613, 618, 620, 627–633, 636, 639–646 physiologisch, Physiologe, Physiologie, Physiologisierung, Physiologie der Macht 23, 53, 83, 160, 189, 205, 262, 334 f., 363 f., 390 f., 402, 425, 466, 474, 481 f., 495 f., 499–506, 512 f., 517, 519, 524, 543, 554, 573 physisch, physikalisch, Physiker, Physik 23, 62, 151, 283, 351, 387 f., 391, 393, 405, 415, 417, 419, 483, 544, 563, 572 f., 604 plausibel, plausibilisieren, Plausibilitt, Plausibilitten, Plausibilittsstandard, alltgliche, einverleibte, letzte Plausibilitt 46, 49, 78, 80 f.,
741
101, 123 f., 127, 133, 137, 139, 141–143, 145, 148 f., 152, 161, 205, 227, 262, 264, 266, 285, 294–296, 308, 368, 389, 391, 396, 409, 481 f., 517, 538, 547, 556, 565, 598 f., 606, 616 politisch, Politiker, Politik, kleine/große Politik, kosmopolitisch, berpolitisch 27, 83, 106, 137–139, 147, 149, 158, 171, 222, 226 f., 234, 250, 252, 265 f., 305–308, 313, 318, 323–325, 332, 338, 342 f., 346–350, 362, 372 f., 382, 422, 425, 451, 459, 466, 481, 522, 539 f., 542–544, 551–555, 558 f., 565 f., 568 f., 644 posthum, posthume Menschen 254, 447–449, 455, 493, 496 f., 545, 599, 632 Praktik, evangelische Praktik 42, 237, 242, 330, 502, 504, 517–520, 525–527, 533–535, 538, 576 f., 645 priesterlich, Priester, Priester-Natur, Priester-Prunk, Orakelpriester 139, 158 f., 182, 221, 223, 230–234, 237 f., 246 f., 251, 253–255, 266, 323, 334, 336, 527 f., 550, 593, 611, 623 prinzipiell, Prinzip, Prinzipiensparsamkeit 10, 23, 48, 70 f., 98, 124, 134, 149, 151–154, 277, 285, 297, 299, 301, 365, 382 f., 408, 413, 442–446, 480, 494, 502, 519, 643 privilegiert, privilegieren, Privileg, Sonderrecht, Vorrecht, Bevorrechtetes 129, 138, 140, 185, 248, 318, 347, 559, 565, 603, 641 Probitt und Soliditt 153 f. problematisch/problemlos, Problem, großes Problem, Problem des Daseins, des Lebens, Not, Reiz des Problematischen, Grundproblem, Gewitterwolke der hçchsten Probleme 16, 66, 74, 106 f., 114, 131, 148, 161–174, 195, 198, 205,
742
Begriffsregister
217, 232, 244, 263, 294, 301, 305, 323, 326 f., 375, 400 f., 405, 423 f., 451 f., 454, 476, 480, 505, 516, 598, 625 protestantisch/katholisch, Protestant/ Katholik, Protestantismus/Katholizismus (s.a. Reformation) 94, 122, 141, 152, 221 f., 224–227, 230, 232, 247, 250, 253, 328, 373, 376, 506 psychologisch, Psychologe, Psychologie, psychopathologisch 3, 49, 53, 100, 124, 131, 135, 139 f., 166, 186, 203, 208, 212, 225, 227, 240, 243–245, 247, 251, 274, 302, 334 f., 335, 378, 387, 402 f., 475, 487, 504, 625, 636 Rache, Wille zur Rache 177, 181 f., 186, 189, 234, 252, 313, 386, 458, 492, 529, 558 Rang, Rangabstufung, Rangordnung 83 f., 86, 132, 170, 229, 237 f., 244 f., 252–257, 281, 359, 378, 397–402, 405, 409, 421, 443, 457, 465, 467, 470, 495, 506 f., 525, 539, 555, 560, 563 f., 598, 602, 611, 620, 631, 641 Rasse, Rassenhass, Rassenwiderwille, Mischrasse, berrasse, Geist/Ungeist der Rasse 142, 187, 226, 287, 341, 358, 363 f., 379, 475, 481, 539, 543, 551, 562, 620 Rattenfnger 560, 635 f. real, Realitt, Realitten, Realismus, Realist/Anti-Realist 20, 22, 53, 127, 165, 172, 223, 237, 265, 282, 287, 320, 331, 339, 345 f., 349, 376, 381, 419, 438, 519, 524, 535, 540, 547, 549–551, 569, 581, 591 f., 616 rechtfertigend, rechtfertigen, Rechtfertigung, metaphysische Rechtfertigung, rechtfertigender Mensch, Selbstrechtfertigung 5, 133, 165, 233, 248, 301, 311, 469, 486, 491, 502, 557, 564 f., 567, 607, 641
Reformation (s.a. protestantisch) 187, 221, 245–247, 250, 252, 346, 361, 377, 385, 402, 571 regelmßig/unregelmßig, Regel/Ausnahme, Regelmßigkeit, Regelwerk, Goldene Regel, Maßregel, Ausnahmedenker, Ausnahmemensch 32, 35, 41, 53, 73, 127–129, 141, 143, 150, 175, 185, 226, 235, 241, 251, 271, 294, 297 f., 312, 324, 340, 364–366, 375, 389, 397, 424, 448, 453, 480, 491, 501 f., 509, 516 f., 520, 532, 545, 547, 555, 563–565, 568, 607, 615 reif, reifen, Reife V, 28, 46, 50, 52, 61, 77, 82, 85, 95 f., 122, 222, 234, 313, 324, 426, 439, 449, 454–458, 460, 467, 534, 540, 574, 577, 600, 603 rein, Reinheit, Reinlichkeit, Reinigung, Reinigungsgott, Selbstreinigung 43 f., 46, 68, 73, 97 f., 108, 115, 128, 138, 146, 173, 190, 197, 219, 224, 234, 238, 244, 246, 256, 274 f., 277, 294, 338, 362–364, 371 f., 375, 380, 389 f., 425, 433, 440, 456, 475, 488 f., 512, 524, 527 f., 532, 574, 576, 579 f., 586 f., 591–594, 620, 632 reizvoll, reizen, Reiz, anreizen, aufreizen, reizende Krfte, Sinnesreiz, Lebensreiz, Gereiztheit 5, 13, 45, 98, 114, 139, 148, 156, 160, 187 f., 196, 330, 391, 452, 474, 490, 492, 526, 536, 557, 604, 624 religiçs, religiçse Menschen, Religion, Religionsstiftung 4, 8, 16, 30 f., 33, 38, 42, 53, 61, 100, 121–124, 159 f., 162, 171–174, 210, 216, 219, 221–257, 314 f., 323–325, 328, 333, 342, 355, 358, 364, 377–380, 384, 391, 472, 483, 501, 507, 517, 520, 524, 528, 551 f., 568, 573, 580, 587, 630 Renaissance 38, 226, 246, 250 f., 308, 345–348, 377, 571, 604
Begriffsregister
Ressentiment 88, 144, 182, 185 f., 250, 423, 425, 456, 465, 528, 574, 642 rhythmisch, Rhythmus, Rhythmik 13, 219, 334, 428, 452, 455, 461, 497, 500–503, 535–537, 554, 601, 629, 637 romantisch, Romantiker, Romantik 26, 84, 107 f., 245, 269 f., 341, 373, 420, 427, 432, 466–468, 470–477, 480–485, 489, 493, 495, 506, 510, 513, 519, 540, 545, 557, 574, 608, 622, 630 rçmisch, Rçmer, Rom, Rçmerbau 26, 75, 97, 122, 237, 246, 255, 311, 318 f., 338, 348, 357, 459, 474, 571, 610, 630 ruhig/unruhig/ruhelos, Ruhe/Unruhe, beruhigen/beunruhigen, Beruhigung/Beunruhigung, Ruhezeichen, Ausruhen 25, 38, 44 f., 50, 56 f., 70, 73, 92, 99, 111, 113, 117, 131, 135, 172, 176 f., 179, 183, 187 f., 191, 197, 199, 230 f., 245, 252, 263, 267, 283, 289–304, 309, 321, 323, 326 f., 330, 339, 344, 350, 358 f., 362, 392, 395, 410, 417 f., 437, 440, 449, 455, 461, 465, 483 f., 487 f., 493, 498, 522, 526, 542, 547, 549, 558, 561, 565, 582, 590 f., 594, 601, 612, 641 satyrhaft, Satyr, Satyrdrama, Satyrspiel, Saturnalien, Silen 25–27, 34, 97, 189, 327, 395, 496, 509, 596, 626, 631, 636 Sauberkeit/Unsauberkeit, intellektuelle, logische 84, 230, 379 schaffen, Schaffender, sich selber schaffen, umschaffen 7, 13, 16 f., 19, 29, 33 f., 59, 67, 102, 117 f., 122, 127, 130, 147, 169, 171, 174, 191, 226, 237 f., 239 f., 242, 253, 261, 286, 292, 295, 310 f., 316, 325, 333, 342, 344, 346 f., 355, 381, 388, 407, 420, 423, 431, 439, 449, 452–455, 465,
743
468 f., 477, 479, 484, 487 f., 502, 514, 536, 540, 549, 567, 576, 583, 591, 595, 598, 600, 615, 626, 641 Scham, schamlos 180, 183, 196, 249, 420, 432, 456, 468, 508 f. Schatten, schattengleich, schattenspendend, Schattenwelt, Schatten Gottes 43, 53, 91, 101–107, 111, 118, 121, 124, 126, 136, 179, 181, 192, 198, 207, 217, 236, 245, 273, 356, 450, 486, 507, 528, 534, 541 f., 553, 571, 583, 612, 625, 633 Schauspiel, Schauspieler, Schauspielerei, Schauspielkunst 20, 83, 95, 105–108, 111, 187, 189, 211, 253, 269, 305–322, 325–337, 340, 342–344, 349, 382, 390, 417, 428, 435, 439, 449, 451 f., 458, 469, 481, 499, 503 f., 506, 508, 510, 516, 533, 598, 625, 628, 631, 636, 642 scheinbar, Scheinbarkeit, Schein, anscheinend, Anschein, Scheinbedrfnis, Gegensatz von Scheinen und Sein, Lust am Schein, Verlangen hinweg aus allem Schein, Welt des Scheins, Wille zum Schein 4, 17–20, 22 f., 30, 33, 44, 53 f., 62, 86, 88, 108, 113 f., 123, 126, 129, 133, 142, 151, 153, 156, 165, 171, 179, 182, 190 f., 199, 203, 205 f., 208, 214, 217, 220 f., 233, 252, 259, 261, 269, 271, 281, 283 f., 286, 289 f., 293, 297, 301, 314 f., 317, 319, 322, 325 f., 340, 350, 360, 368 f., 386 f., 375 f., 393, 409, 412, 417, 420 f., 430, 433, 454, 468, 473, 486 f., 489, 492, 523, 526, 532, 538 f., 546, 548, 554, 565, 570, 573, 593 f., 614, 616 f., 623, 635, 638 schenken, verschenken 16 f., 430, 435, 576, 593, 595 Schicksal, Los, Fatum, Fatalitt, Fatalismus 27, 97, 107, 109, 131, 140, 148, 160, 165, 198, 217, 237, 242, 271, 325, 400, 417, 424, 446,
744
Begriffsregister
450 f., 455, 457, 459, 477 f., 487, 495, 542, 589, 600–603, 608, 617, 627 f., 639 schçn/hsslich, Schçnheit/Hsslichkeit, beschçnigen, verschçnern, schçne Lgen-Brcke, Schçner-sehen-wollen 5, 28, 39, 53, 97, 104, 115 f., 176, 181, 186, 219, 229, 234, 236, 245, 253–256, 319, 326, 340 f., 349–351, 361 f., 373, 378, 392, 418, 420, 434, 476 f., 483, 487, 501 f., 507, 512, 522 f., 554–558, 561, 578, 583, 587, 603, 609, 611, 616, 624, 629 f., 632 f., 636, 638 schuldig/unschuldig, Schuld/Unschuld, Anschuldigung, Beschuldigung, Entschuldigung 67 f., 79 f., 121, 149, 163, 172, 185, 233, 247 f., 250, 254, 296, 386, 405, 431, 444, 450, 457, 461, 522, 528, 617, 635, 639, 644 Schwergewicht 14, 48, 53, 62, 79, 110, 214, 627 f. See 18, 117, 304, 338, 417, 466, 547, 549, 578–582, 585–592, 595 seelisch, Seele, seelenhart, seelenlos, seelischer Unrat, seelische Welt, Seelenerlebnis, Seelenmesse, Seelentrost, Seelenzustand, Feuerseele, Krmerseele, Religionsstifterseele, Vorder- und Hinterseelen, Neubeseelung 9, 17, 27 f., 30, 33, 39, 54, 94, 100, 103, 108, 122, 135, 140, 146, 156, 160, 190, 196, 203 f., 220, 226, 228, 237–239, 242, 246 f., 254 f., 265, 268–270, 275, 286, 329, 333, 338 f., 344, 348, 363–367, 372 f., 378 f., 400, 420, 429 f., 432, 458, 465, 468, 474, 477–479, 485, 504 f., 511 f., 522 f., 547 f., 563 f., 578, 581, 587, 589 f., 593 f., 600–610, 612, 620, 627 f., 631, 633, 636 f., 639 Sein/Werden, hçheres Sein 3, 19, 24, 48, 84, 105, 115, 123, 135, 162, 203, 206, 217, 272, 277, 281 f., 289, 311, 313, 317, 319,
363, 371, 374, 383, 410–414, 419, 478 f., 486–490, 493 f., 498, 501 f., 519, 526, 534 f., 549, 589, 617, 623, 628, 633, 638 Selbstaufhebung (s.a. moralisch ! Selbstaufhebung der Moral) 380 selbst, selbstbezglich, Selbstbezglichkeit, Selbstbezug (s.a. achten ! Selbstachtung, aufklren ! Selbstaufklrung, blind ! Selbstverblendung, betrgen ! Selbstbetrger, Distanz ! Selbstdistanz, disziplinieren ! Selbstdisziplin, Selbstzucht, erlçsen ! Selbsterlçsung, fiktiv ! Selbstillusionierung, fremd ! Selbstentfremdung, gewaltsam ! Selbstvergewaltigung, gewiss ! Selbstgewissheit, hypnotisch ! Selbsthypnotisierung, ironisch ! Selbstironie, Ja ! Selbstbejahung, kritisch ! Selbstkritik, Parodie ! Selbstparodie, rechtfertigend ! Selbstrechtfertigung, rein ! Selbstreinigung, tuschen ! Selbsttuschung, berwinden ! Selbstberwindung, verantwortlich ! Selbstverantwortlichkeit, vertrauen ! Selbstvertrauen, zerstçren ! Selbstzerstçrung) 131, 133, 147, 190, 207, 301, 303, 411, 413 f., 434, 614, 645 Selbstbefragung, Selbstbekenntnis, Selbstbeobachtung, Selbstbeschreibung, Selbstentdeckung, Selbsterfahrung, Selbsterfassung, Selbsterkenntnis, Selbstidentifikation, Selbstinterpretation, Selbstprfung, Selbstreflexion, Selbstvergewisserung, Selbstverstndnis, Selbstzitation 36, 48, 68, 84, 119, 135, 158, 184, 224, 359, 371–374, 408, 413, 424, 476, 539, 592, 607 Selbstbegnadigung 173 Selbstbehauptung, Selbsterhaltung/ Selbstgefhrdung, Selbstverteidi-
Begriffsregister
gung, Selbsterhaltungstrieb, Arterhaltung, Erhaltung des Lebens 5, 23, 30–32, 67, 95, 145, 148–152, 156, 160, 162, 223, 264, 266 f., 283, 294, 296, 298, 408, 427, 523, 529, 602, 608, 628 Selbstbeherrschung, Selbstbezwingung 171, 331, 419–421, 485 Selbstbewusstsein 243, 266, 287 selbsteigen, Selbsteigner, Selbstbestimmung, Selbsterziehung, Selbstfestlegung, Selbstgengsamkeit, Selbstwertsetzung 21, 50 f., 54, 68, 147, 192, 196, 216, 257, 306, 328, 516, 576, 587 selbstgefllig, selbstherrlich, Selbstherrlichkeit, Selbstverherrlichung 51, 214 f., 238, 248, 383, 427, 483, 548 Selbstgesprch 13, 438–441, 510, 600 selbstlos, Selbstlosigkeit, Selbstentußerung, Selbstflucht, Selbsthass, Selbstopferung, Selbstverachtung, Selbstverleugnung, Entselbstung 107, 163–165, 167, 170, 172, 174, 180 f., 185, 193, 220, 233, 235, 335, 482, 494, 523, 528 Selbstmord, Suizid 205, 207, 228, 382 f. selbstvergessen, Selbstvergessenheit 61, 181, 186, 453, 601 selbstverstndlich, Selbstverstndlichkeit 44, 92, 123 f., 132, 148, 161 f., 167, 175, 200, 233, 241, 261, 263, 269, 279, 289, 295–297, 303, 305, 325, 389, 401, 426, 431 f., 487, 519 f., 537 f., 545, 556, 561, 594, 641, 645 Selbstverstndnis 48, 135, 224, 408 seligieren, Selektion, Auslese, Selektionsbedingung, Selektionszweckmßigkeit 31, 53, 67, 151 f., 207, 262, 306, 404 Sensualist, Sensualismus 96, 369, 373, 420, 467, 499, 516–521, 523, 533, 537 f., 610
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sicher/unsicher, sichern, Sicherheit/ Unsicherheit, Sicherheitsgefhl, absichern, verunsichern, Unsicherheitsabsorption 3, 5, 10, 52, 60, 65, 67, 69, 71, 77, 86, 88, 94, 98, 111–113, 147, 150, 154, 159, 163–165, 178 f., 187, 189, 191, 200, 202, 210, 217, 223, 231 f., 238, 250, 252, 283, 289 f., 297–304, 306, 312, 316, 323, 334, 338 f., 349, 375, 379, 399, 401, 416, 430, 434, 458, 467, 480, 498, 516, 520, 528, 532, 539, 544 f., 548, 577, 605, 614 f., 623, 629, 638, 641 singen, Snger 27 f., 37, 326, 553, 578, 590 f., 593, 619, 633–635, 637 Sinn fr …, innerer Sinn, Gemeinsinn, Tiefsinn 27, 106 f., 109, 122, 246, 269, 274, 282, 300, 490, 561, 571, 632 sinnlich, Sinn, Sinne, Sinnlichkeit, sinnenfllig, sinnenfreudig/sinnenfeindlich, Sinneseindruck, sinnliche Wahrnehmung, Versinnlichung/Entsinnlichung 11, 53, 65, 97, 118, 190, 196, 211, 216, 246, 279, 287, 290, 300, 329, 336, 369, 409 f., 445, 467, 487, 491 f., 503 f., 516–527, 533–536, 549, 610, 638 Sinnverschiebung, Bewegung, Flssigkeit des Sinns 22, 81, 87, 239, 291–294, 320, 394 f., 409, 412, 433, 570, 585, 619, 643 sinnvoll/sinnarm/sinnleer/sinnlos/widersinnig, Sinn/Unsinn/Widersinn/Sinnlosigkeit, hçherer/tieferer Sinn, Sinngebung 13 f., 17, 22, 33, 36, 57, 60, 86, 95, 97, 110, 177, 201, 205, 211, 257, 267 f., 284, 290, 302 f., 325, 330, 365, 375, 406–408, 412–414, 427, 477, 521, 564 f., 599, 607, 638 Sirenen 521 f., 533, 539, 553, 611, 633, 635 f.
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skeptisch, Skepsis 51, 98, 106, 114 f., 120, 130, 146, 195, 202, 206, 226, 229, 232, 250 f., 256, 287 f., 295, 299, 340 f., 344, 350, 369, 379, 469, 472, 523, 562, 569, 580, 630 Sklave, Slavenarbeit, Sklaverei, Versklavung (s.a. Herren-/SklavenMoral) 26, 84, 219, 311, 325, 331, 344, 398 f., 422, 427 f., 540, 543, 551, 553–568, 630 souvern, Souvernitt 39, 62 f., 95, 153, 188, 320, 332, 334, 336, 340, 350, 400, 474, 494, 497, 534, 540, 641 Sozialisten, Sozialismus 78, 158, 305, 309, 312 f., 348, 366, 399, 475, 493, 553, 558, 560, 562, 636, 644 soziologisch, Soziologie 53, 79, 122, 124, 138, 225, 227, 241, 263, 278, 308, 311, 313, 315, 319, 401 f., 444, 481 Sperrungen 87, 175, 177, 179, 192 f., 255, 264 f., 287, 291, 303, 305, 312, 415, 445, 525, 597, 601 f., 614, 621 f., 637 spielen, Spiel, intellektueller Spieltrieb, Spielzeug, auf dem Spiel stehen, aufs Spiel setzen 7, 29, 39, 48, 61, 84, 96, 98, 103, 170, 173, 183, 189 f., 272, 291, 295, 305, 329 f., 386, 392, 423, 425, 430, 435, 468, 491, 547, 596, 612, 615–617, 619, 637, 639 f., 642, 644 Spielraum, Deutungs-, Entscheidungs-, Orientierungsspielraum 11 f., 18, 29, 31, 49, 67 f., 71, 78, 81, 86 f., 136, 146, 148, 170, 172, 180, 218, 223, 242, 250, 277, 290, 296, 303, 323, 332, 368, 424 f., 435, 439, 465, 470, 480, 499, 515, 551, 569, 573, 585, 619, 626, 643 Spott, Spottlust, Spottverse, Spott ber sich selber 33 f., 190, 299, 373, 402, 440, 460, 520 f., 541, 620 Sprache, Gemeinheit, Gewalt, Konventionalitt, Ursprung, Zwang
der Sprache, Sprachenbildner, Sprachkunst, Sprachmittel, Automatensprache, Begriffssprache, Gebrdensprache 16, 28, 36, 56, 72–76, 79, 104, 131, 146, 185, 206, 214, 220, 268–270, 274–279, 285 f., 291 f., 306, 368, 389 f., 411, 414, 434, 449–453, 466, 482, 498 f., 503, 509 f., 513, 515, 517, 520, 536–538, 540, 551, 598 f., 601, 615, 642 stark/schwach, strken, Starke/Schwache, Strke/Schwche, Strkegrad, starke/r/s, strkere/r/s, schwache/r/ s, schwchere/r/s Affekt, Argwohn, Berauschung, Charakter, Disziplin, Gefhl, Geist, Gegner, Gegenbegriff, Geschmack, Gesundheit, Gewissen, Glaube, Herz, Intellekt, Ja, Mannscharakter, Mensch, Metapher, Mitteilung, Natur, Pessimismus, Seele, Art von Skepsis, Typus, berzeugung, Wille, dogmatische Zwnge, Strke der Frauen, Pessimismus der Strke 4, 6, 18, 30, 42, 50, 60, 94 f., 106, 130, 138, 163, 170, 173 f., 178, 180, 187, 189, 205, 208–211, 214 f., 218, 229, 235, 238, 247, 249, 278, 303, 316 f., 323, 328, 335, 338, 340 f., 344, 346, 349, 379, 390, 401, 419, 424, 428 f., 432, 437, 448, 450, 456, 474–476, 478, 482, 501 f., 505, 526, 563 f., 567, 569, 574, 604–606, 608, 612, 614, 620 sterben, sterbensmde 44, 91, 97, 168, 183, 196, 204, 347, 448, 455 stilisieren, Stil, großer Stil, Lebens-, Schreib-, Telegrammstil, Stil der berlegenheit, Gesetz des Stils (s.a. moralisch ! großer Stil in der Moral) 8, 10, 13 f., 51, 57, 63, 67, 75 f., 118, 147, 171, 220, 222, 257, 292, 317, 343 f., 361, 440, 471, 474, 476, 533, 536, 561, 567, 611, 623, 644
Begriffsregister
still, stillstehen, stillstellen, Stille, Stillschweigen, Stillstand, Gemtsstille 29, 54, 73, 99, 104, 109, 115–117, 183, 198, 230, 283, 324, 338, 349, 418, 484 f., 488, 508, 510, 547 f., 567, 588, 590 f., 593, 610, 636 f. Stimme, Wehstimme 14, 103, 116, 196, 269, 441, 477, 523, 581, 635 f. Stimmung, Stimmungswechsel, Verstimmung 25, 27–29, 34, 41, 46, 48, 51 f., 63 f., 73, 97, 101, 114, 118 f., 182, 189, 194, 309, 315, 324, 360, 390, 449, 471, 491, 537, 539, 601, 619 f., 626, 632 stoisch, Stoiker, stoizistisch, Stoizismus 113, 177, 329, 440, 602 stolz, Stolz 3, 26, 60, 97, 172, 182, 185, 189, 196, 202, 227, 236, 238, 254, 265, 276, 316, 327, 338, 419–421, 445, 457 f., 490, 510, 512, 516, 561, 584, 597, 599, 608 strçmen, Strom, Strçmung, ausstrçmen, einstrçmen, hinberstrçmen, hinzustrçmen, wiederstrçmen, berstrçmen, zurckstrçmen 13, 18, 61, 73, 75, 114 f., 119, 160, 169, 189, 238, 269, 330, 338, 373, 391 f., 430, 452, 461, 466, 476, 479, 491, 548, 577, 579, 582, 586–589, 591, 609, 612, 616 f., 627 Sden/Norden, sdlich/nçrdlich 101, 222, 225–227, 246, 251, 257, 377, 522 f., 577, 609 f. Symptom (s.a. Zeichen) 80, 148, 151, 205, 220, 266, 364 f., 388, 392, 483, 503 systematisch, Systematiker, Systembauer, System, Systematizitt/Situativitt, Systematisierung 7, 10, 12, 14–16, 47 f., 56, 60 f., 69–71, 75 f., 82, 85 f., 96, 128, 149, 166, 185, 188, 200, 203, 214, 216, 299, 301, 303, 313, 370, 377, 381 f., 403, 442, 513, 526, 528, 538, 571, 597 f., 614, 643
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tanzen, Tnzer, Tanz, Seiltnzer 33, 86, 117, 155, 191, 208, 218 f., 326, 460 f., 492, 498, 500 f., 520, 574, 601, 606, 619, 632, 634, 636–638, 643 f. tatschlich, Tatsache, Tatschlicher, Grundtatsache, Kulturtatsache 24, 60, 66, 84, 110, 122, 133, 139, 215, 286, 299 f., 333, 345, 360, 372, 375, 378 f., 422, 427 f., 437, 482, 500, 503, 524, 560, 567 tuschen, sich tuschen, Tuschung, Selbsttuschung, Wille zur Tuschung/Selbsttuschung, vortuschen (s.a. Enttuschung) 3, 76, 99, 126–128, 132–134, 153, 161 f., 180–182, 203, 215, 267, 283, 295, 300, 317, 330, 345, 363, 436, 523, 557, 616, 642 Tauwind 540 f., 546–551, 569, 571 Teufel, Teufelei 18, 39, 103, 181, 197, 418, 583 Themenketten 11, 124 f. theoretisch/praktisch, Theorie/Praxis 20, 24, 43 f., 46, 48, 53, 59, 74, 80 f., 97, 127, 130, 204 f., 208, 212, 232, 276, 307, 316, 365, 369, 395 f., 400, 403, 409, 412, 425, 476, 487–489, 503 f., 510, 515, 517–520, 526 f., 531, 533–535, 600, 643 tierisch, Tier/Untier, zahmes/wildes Tier, Tierwelt, Halbmenschtier, Herdentier/Raubtier, Landtier/ Meertier, Opfertier, Tierart Mensch, Tier im Menschen 15, 30, 39, 93, 95, 115, 117, 140, 158, 168, 170, 180–183, 189, 201, 218, 235 f., 254, 264, 272, 278 f., 287, 306, 330 f., 335, 388, 418, 421, 428, 458, 491–493, 509, 563, 582 f., 590 f., 624, 630, 638 Titel 17, 24 f., 27, 36 f., 41–43, 51, 54, 79, 87, 93, 95, 125, 184, 230 f., 291, 393–395, 423, 439, 518, 539, 570, 572, 578, 612
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Begriffsregister
toll, toller Mensch, Tollheit 52, 62, 92, 109, 116, 121, 190, 200, 294, 320, 421, 483, 560, 580, 588, 636 tot, tçten, tot stellen, Totes, Tod, todbereit, todbringend, todschtig, Wille zum Ende, zum Tod (s.a. gçttlich ! Tod Gottes) 21, 28, 33, 43 f., 52, 73, 100–106, 109, 111, 122 f., 127, 134 f., 147, 178, 183, 207, 234 f., 309, 324, 331, 371, 383, 444, 447–449, 455, 457, 479, 484 f., 494, 511, 521, 533, 537, 540, 546, 560, 577, 607, 612, 636, 638 tragisch, das Tragische, die Tragçdie, tragische Erkenntnis, Wille zum Tragischen 4, 26 f., 31 f., 34, 48 f., 53, 64, 76, 95–97, 100, 112, 147, 319, 378, 467 f., 470, 476, 479, 484, 494, 501 f., 586, 596 f., 600–602, 608, 613, 619–629, 631, 635, 639 f., 644 Transfiguration 190, 491, 604 Trennungsstrich 125, 153, 165, 176, 263, 289, 486, 503, 515, 551, 600 treu/untreu, Treue/Untreue, treuherzig, Treuherzigkeit 107, 167, 230, 249 f., 362, 432, 435 f., 543 Trieb, dionysischer, bçser, politischer, schçpferischer Trieb (s.a. Geschlecht ! Geschlechtstrieb, lebend ! Lebensgrundtrieb, Selbstbehauptung ! Selbsterhaltungstrieb, spielen ! Spieltrieb), Antrieb, Volkstrieb, Welttrieb, Triebchen 33, 44 f., 47, 53, 83, 145, 196, 210 f., 214–216, 219 f., 234 f., 266, 271, 295 f., 311, 330, 365, 388, 390, 398 f., 402–404, 428, 452, 484, 528, 570, 581, 603 Troubadours 35–41, 45 f., 49, 226, 472, 544 trunken, Trunkenheit 26, 36, 196, 229, 322, 482 typisch, typisieren, Typus, Typisierung (s.a. erlçsen ! Typus des Erlçsers, Herde ! Herdentypus, hçhere
Menschen ! hçherer Typus des Menschen, idealtypisch, menschlich ! Typus Mensch, Typus Jesus), Prototyp, Stereotyp 29 f., 73, 87, 139, 141, 143, 158, 170, 213, 222 f., 225, 227–229, 243, 246–248, 251, 254, 308, 326, 328, 342, 344 f., 349, 362 f., 368, 374, 397–400, 423, 425, 441, 445, 492, 496 f., 503, 506, 513 f., 543, 550, 563, 567, 620 Typus Jesus 140, 237, 493, 519, 550, 554, 576 tyrannisch, tyrannisierend, Tyrannei, Tyrann, Tyrannentum 26, 191, 312, 322, 325, 358, 418, 481 f., 492, 562 f., 565, 573, 608 berflssig, berflssigwerden 23, 177, 242, 254, 263 f., 278, 286, 468, 524, 567, 612 berleben, berlebenswichtig, berlebensnotwendigkeit, berlebensangst, berlebenschancen, berlebensfhigkeit 132–134, 143, 146, 152, 209, 241, 270, 275, 296, 333, 379, 403, 542, 555, 645 bermenschlich, bermensch 16–19, 22, 61, 159, 174, 198, 218, 223, 236, 240, 253 f., 307, 347 f., 423, 430, 445 f., 466, 501, 566 f., 575, 578–595, 601, 624, 628 berraschend, berraschen, berraschung 5–8, 10, 14, 43, 45, 47, 56, 65–69, 72 f., 78, 85 f., 93–95, 118, 125, 142, 152, 173, 175–177, 191, 221, 238, 262 f., 297–303, 307, 361, 363, 366, 442, 444, 453, 458, 496 f., 514, 524, 538, 548, 597, 599, 619, 632, 639, 643, 646 berwinden, berwltigen, berwindung, berwltigungsprozess, Selbstberwindung, Selbstbesiegung, Weltberwindung, Weltberwinderin 22, 33, 59 f., 68, 91, 116, 136, 141, 144, 149, 153, 174, 189, 191, 210, 213 f., 220, 224, 230, 232 f., 239, 253,
Begriffsregister
273–275, 288, 290, 306, 318 f., 328, 340, 346, 349, 358, 365–367, 371, 378–380, 396 f., 400, 402, 412, 418, 443, 450, 466, 469, 471 f., 478, 488, 493, 502, 504, 506, 511, 521, 526, 530 f., 540, 551–553, 558, 564, 568 f., 574, 577 f., 582 f., 593, 596, 600, 603, 605, 607, 611, 614, 624–626, 644 berzeugt, berzeugen, berzeugung, berzeugungsreden, von sich berzeugt 7, 15, 84 f., 91, 94, 118, 120, 123, 125 f., 129–132, 156, 201, 205, 210, 227, 233, 253 f., 318, 367, 376, 396, 399, 419, 424, 510 f., 524, 556, 558, 578, 613, 642 unendlich, Unendliches, Unendlichkeit 21, 73, 76, 87, 97, 107, 115 f., 137, 203, 316, 357, 410, 415–420, 423, 436, 456, 472, 482, 488, 491, 507, 526, 531, 623 Unfasslichkeiten 282, 519 f., 579 Urkraft 469, 480 Ursache/Wirkung (s.a. wirkungsvoll), Kausalitt, Kausalismus, Kausalitts-Fatalismus, Kausalvereinigung, Arten von Ursachen 5, 22–24, 56, 80, 84, 148, 198, 212, 240, 281 f., 287, 300, 367–370, 375, 379, 385, 387–393, 404, 411 f., 437, 482, 526, 583, 604 verantwortlich, Verantwortung, Verantwortlichkeit/Unverantwortlichkeit, Selbstverantwortlichkeit, Fhrungsverantwortung, Wille zur Verantwortlichkeit V, 7, 31, 53, 100, 140, 170, 174, 184, 191, 232, 247 f., 287, 315, 323–325, 345 f., 349, 466, 558, 563–565, 568, 573, 608, 614, 638, 640 f., 644 verbergen 20, 74, 80, 131, 183, 191, 207, 213, 215, 235, 340, 449, 608, 638 verfallen, Verfall 61, 212, 324, 503, 548
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verfhren, Verfhrung, Verfhrung durch die Sinne 6, 70, 118, 161, 175, 196 f., 202, 261, 267, 273, 321, 367, 369, 474, 476, 507 f., 510 f., 513, 517, 521–523, 526, 533–535, 558, 572, 625, 636, 638 vergessbar/unvergessen, vergessen, Vergessen, Weltvergessenheit, Meer der Vergessenheit, Musik des Vergessens (s.a. selbstvergessen) 56, 68, 97, 100, 115, 181, 314, 320, 327, 347, 357, 403, 449–454, 485, 498 f., 503, 510, 537 f., 541, 593 f., 601, 607 f., 631–633, 635 f. verhngnisvoll, Verhngnis 101, 110, 132, 160, 251, 264, 288 f., 457, 506, 524, 551, 570, 630 verklren, Verklrung 4, 27, 97 f., 172, 348, 490 f., 604, 632 verkleiden, Verkleidung, Kleid, Kleidung 139, 180 f., 189, 421, 446, 551, 571, 616 vernnftig/unvernnftig/vernunftlos, Vernunft/Unvernunft, Vernnftigkeit/Unvernnftigkeit, große/ kleine Vernunft, Vernunft-Kritik, Vernunftwesen, Vernunftwissenschaft, viereckige kleine Menschenvernunft, absurdvernnftig 3–6, 16, 18, 22–24, 26, 30–32, 48, 53 f., 56 f., 70, 99, 104, 127, 140, 146, 170, 172, 190 f., 200, 219, 228, 235, 248, 268 f., 272, 278 f., 287, 294, 299, 307, 311, 317, 345, 365, 372, 377, 380, 386, 395, 403, 413 f., 416, 420, 426, 428 f., 440, 471 f., 479, 483, 487, 521, 523 f., 527, 552, 561, 604, 615, 628, 638 verschwenden, Verschwendung, Verschwender 26, 150, 160, 236, 265, 278, 469, 485 verstndlich/unverstndlich/missverstndlich/anders verstndlich, verstehen/nicht verstehen/missverstehen/anders verstehen/mehr
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Begriffsregister
verstehen, verstanden/nicht verstanden/missverstanden/anders verstanden werden, Verstndnis/ Unverstndnis/Missverstndnis, Verstndlichkeit/Unverstndlichkeit, Verstndnishilfe, Verstndnis erzwingen, Schlechtverstndliche, Schwerverstndliche 11–18, 24, 27, 36, 65–69, 73, 75–77, 80, 85 f., 88, 96, 99 f., 105, 109, 115, 160, 174, 184, 191, 193 f., 197, 212, 220, 225, 227, 231, 243, 249 f., 261, 265, 268, 270 f., 274–277, 280, 284, 286, 288, 291, 293, 297, 317, 327, 332, 335, 355, 394, 401, 407–409, 440, 448–450, 455 f., 460 f., 466 f., 481, 483, 486, 507, 517, 520, 536–538, 541, 550, 554, 564, 592, 597, 599, 627, 629–631, 634–637, 640, 644 Versteck 44, 127, 134, 168, 176 f., 180–186, 188 f., 191, 199, 209, 322, 326, 363, 421, 451, 503, 544, 573, 594, 612, 632, 642 verstellt/unverstellt, sich verstellen, Verstellung, Verstellungskunst 102, 133, 151, 173 f., 280, 315, 319, 326, 331, 428, 432, 473, 485, 523, 602, 616 vertrauen/misstrauen, Vertrauen/Misstrauen, zutrauen, Zutrauen, Vertrauen zum Leben, Selbstvertrauen, Vertrauensverlust 3, 29, 48, 57, 59, 69, 79, 84, 92–95, 98, 111, 113, 123 f., 129, 132–134, 136, 142, 148, 162, 187 f., 192–194, 198 f., 201 f., 209, 212, 220, 236, 246, 251, 323 f., 341, 344, 347, 419, 426, 443, 451, 478, 482, 493, 501, 511, 524, 526, 528 f., 532, 545–547, 549, 561, 565, 571, 581, 597 f., 614, 618, 629, 642, 645 vertraut, Vertrautheit, Vertraulichkeit 143, 220, 225, 296 f., 302 f., 358, 387, 433, 509, 545, 547, 586
verwechselbar/unverwechselbar, verwechseln, Verwechslung, Sich-verwechseln-Lassen 6, 17, 34, 37, 127, 150, 152, 188, 220, 238, 244, 385–387, 389, 402, 447, 455 f., 460, 517, 609, 638 verzichten, Verzichtleisten 5, 14, 16, 22, 48, 61, 67–70, 79, 81, 85 f., 123, 126, 154 f., 168, 171, 178, 185, 220, 248, 250 f., 256 f., 268, 298, 301, 303, 335, 339, 360, 365, 396, 407, 431 f., 469, 474, 489, 527, 529, 532, 534, 581 verzçgert, verzçgern, Verzçgerer 105, 109 f., 377 f., 385, 495, 541, 600, 639 Vision, Visionr 3, 236, 342, 346 f., 475, 495, 497 f., 501 volkstmlich, Volk (s.a. gemeinsam, Herde), Volks-Aberglaube, Volksaufstand, Volks-Metaphysik, Volkstrieb, Volks-Vorurteil, Volksweisheit 16–18, 30, 61, 84, 97, 99, 146, 157 f., 167, 174, 182, 190, 211, 213, 216, 222, 225, 227, 230–238, 241, 244 f., 250–254, 275, 285 f., 293, 296 f., 302, 327, 329, 332, 337–339, 347, 372, 379, 436 f., 469, 481, 510 f., 518, 539, 543, 570, 574, 583, 593, 604, 606, 627, 630 vollkommen, vervollkommnen, Vollkommenheit/Unvollkommenheit, Vervollkommnung, das Vollkommene 9, 39, 46, 50 f., 59, 63, 66, 81, 100, 122, 160, 171, 197, 208, 211, 243, 288, 333, 336 f., 340, 346, 417, 422, 428 f., 432 f., 435, 450, 452, 491, 501, 503, 514, 527, 530, 567, 601 vorbehalten, Vorbehalt, vorbehaltlos 32, 68, 289, 313, 336, 345, 417, 419, 429 f., 432, 491, 581 vornehm, Vornehmheit, nobility, ennoblement 39 f., 50, 75, 176, 191, 225, 237, 244, 247–256, 320, 334, 344, 350, 420, 440, 562, 597, 620, 623
Begriffsregister
Vorurteil, vorurteilsfrei, vorurteilslos, Vorurteil der Philosophen, Volksvorurteil 23, 32 f., 46, 105, 113, 115, 144, 166, 213, 219, 310, 361, 395, 401, 409, 422–438, 460, 467, 572, 576, 596, 603, 641 wahnsinnig, Wahn, Wahnsinn, Irrsinn 32, 109, 116, 159 f., 172, 190, 234, 274, 306, 327, 386 f., 484, 517, 582, 633 wahr, Wahrheit, Wille zur Wahrheit/zur Unwahrheit 3, 6 f., 14 f., 22, 26, 31, 34, 37 f., 43–46, 53, 66 f., 73, 102, 105 f., 113, 121, 123, 126–137, 147, 164, 167 f., 171 f., 182 f., 195, 202, 206, 212, 217, 219 f., 229, 234–236, 239, 241, 280 f., 283, 285, 294–296, 298, 312, 321, 360, 376, 378 f., 395, 405 f., 414, 419, 424, 461, 467, 479, 486, 516, 523 f., 527 f., 535, 550, 563, 571, 610, 620, 633, 637, 645 wahrhaftig, Wahrhaftigkeit, Wahrspielerei 195, 220, 234, 236, 279 f., 283, 329, 379 f., 469, 596 wandern, Wanderer, Wanderung, Wanderschaft, Auswanderer, Auswanderungslust, Eismeer-, Wstenwanderung 30, 103–105, 109, 117, 194, 196, 539–543, 560 f., 569–574, 577 f., 587–589, 594, 599, 632, 643 weise/unweise, Weiser, Weisheit 16, 28, 31, 40 f., 46 f., 76, 97, 122, 157 f., 168, 177, 182 f., 191, 196, 202, 210 f., 229, 231 f., 236–238, 247, 253, 295, 323, 331, 367, 400, 408, 431, 479, 484, 491, 528, 532, 544 f., 563, 586–589, 606, 611, 626, 628, 642 weltlich/berweltlich, Welt, alte/neue, andere, antike, aristokratische, ußere, entsetzliche, erdichtete, erfundene, ertrumte, fiktive, (scheinbar) gemeinsame, griechische, hellenische, industrielle, in-
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nere, irdische, jdische, knstlichknstlerische, mechanische, moderne, scheinbare, sinnlose, sdlich-freigeisterische, unentdeckte, verkehrte, vermenschlichte, wahre Welt, Weltansicht, Weltbeschaffenheit, Weltbrger, Weltgeschehen, Weltgeschichte, Weltordnung, Welt-Rad, Weltreich, Welt-Spiel, Weltuntergang, Außenwelt, Gedankenwelt, Hinterwelt, Kunstwelt, Lebenswelt, Nachwelt, Phnomenal-Welt, Trmmerwelt, Umwelt, Unterwelt, fnfzig Welten fremder Entzckungen (s.a. erlçsen ! Welterlçsung, erraten ! Weltrtsel, geistig ! geistige Welt, herrschen ! Weltherrschaft, historisch ! welthistorisch, interpretierend ! Welt-Interpretation, Ja ! Weltbejahung/Weltverneinung, menschlich ! MenschenWelt, Entmenschlichung/Vermenschlichung der Welt, oberflchlich ! Oberflchenwelt, orientiert ! Orientierungswelt, seelisch ! seelische Welt, Tier ! Tierwelt, Trieb ! Welttrieb, berwinden ! Weltberwindung, vergessbar ! Weltvergessenheit, Zeichen ! Zeichenwelt) 4, 17, 23, 33, 42–44, 61, 97, 99, 103, 108 f., 111, 116 f., 122, 128, 133–135, 147, 159, 191, 194, 196 f., 201–207, 217, 229, 232, 245, 250 f., 257, 266, 268 f., 275 f., 281–288, 293, 296 f., 299–302, 319 f., 322, 324, 329 f., 345, 348, 357 f., 364, 369, 371, 373 f., 377, 380, 383, 388 f., 395–397, 400, 405 f., 408–420, 429, 432, 444 f., 448, 451, 454, 467, 485, 487, 499, 501, 507 f., 510, 520, 524, 531, 543, 545, 550, 557 f., 560, 564, 570, 581, 591, 597, 602, 609 f., 617, 621, 624 f., 627, 636, 645
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Begriffsregister
Werk, Hauptwerk, Kunstwerk, Tagewerk (s.a. Titel) 3, 12, 23, 41, 50, 54 f., 58, 76, 80–83, 88, 98, 102, 109, 160, 165, 186, 243, 274, 287, 322, 439, 449, 452–457, 469, 480, 502, 518, 577, 590–592, 608, 617, 621, 627, 632 Werkzeug, Werkzeug-Natur des Intellekts, zu Werkzeugen herabgedrckte Menschen 164, 170, 190, 216, 232, 239, 266, 268, 273, 311, 375, 386, 392, 425, 430, 468, 477, 519, 556, 564, 566, 620 Wert, Werte, Abwertung, Entwertung, Umwertung, Wertbegriff, Wertgefhl, Wertgrad, Wertinstinkt, Wertmaßstab, Wertmesser, Wertschtzung, Wertsetzung, Werturteil, Wertverschiedenheit, Wertungsweise 3, 6, 10, 39, 50, 53 f., 60 f., 66, 73, 82 f., 97, 107, 109, 113, 121, 123, 132, 140, 144, 155, 158 f., 167, 170, 172, 185, 191, 195–198, 201–207, 209, 211, 213, 216, 234 f., 242 f., 263, 273, 276, 284, 288, 306 f., 311, 318, 325, 329, 349 f., 357 f., 369, 374, 377 f., 388, 395–400, 403 f., 408, 421, 427, 437, 444, 450, 480, 486–489, 498, 501 f., 518, 520, 534 f., 539, 542, 544, 558, 560, 563 f., 567, 573, 599, 602, 605, 607, 617 f., 621, 627, 630, 636, 640 f. widerlegen, Widerlegung 79 f., 92, 130, 220, 227, 406, 415, 469, 517 widerlich/widerspenstig/widerwrtig, angewidert, widersprechen, widerstehen, widerstreben, widerstreiten, sich widersetzen, wider sich haben, wider den Strich gehen, Widersacher, Widerspiel, Widerspruch, Widerstand, Unfhigkeit zum Widerstand, Widerspruch zwischen Heute und Morgen, Widerspruchs-Natur im Grunde der deutschen Seele, Grundwiderspruch, Gewalt ber
sein Fr und Wider (s.a. wollen ! Widerwille) 22, 25, 43, 69, 80, 111, 113, 147, 158, 164, 189, 209, 213 f., 237, 248, 325, 336, 339, 349, 360, 362, 365, 373, 383, 404, 421, 424, 435, 438, 469, 471, 475, 495, 501, 503, 507, 511, 516, 519, 526, 530, 532, 535, 549, 559, 574, 577, 606, 608, 611, 616, 634, 636, 642 widersprchlich/widerspruchsvoll/widerspruchsfrei, Widerspruch, Widersprchlichkeit 20, 25, 43, 70 f., 77, 80 f., 86, 126–128, 131, 164 f., 177, 185 f., 201, 210, 252, 290, 295, 302 f., 313, 350, 363, 382, 391, 396, 404, 507, 547, 585 Wille/n zur Macht 16, 21–24, 60, 83, 117, 136, 145, 149, 151, 220, 252, 273, 283, 307, 330, 349, 388 f., 396 f., 407, 410, 412, 418, 531, 564, 628, 637, 639, 642 wirklich, Wirklichkeit, real, Realitt, Realismus, Realittssinn, AntiRealist 14, 20, 22, 53, 102, 104, 127 f., 165, 172, 174, 223, 237, 265, 281 f., 287, 314, 320, 326, 329, 331, 339, 344–346, 349, 370, 373, 376, 381, 389, 403, 418 f., 438, 469, 474, 487, 510, 519, 523 f., 534 f., 540, 547, 549–551, 569, 571, 578, 580 f., 591 f., 612 f., 616, 618, 627 wirkungsvoll/wirkungslos, wirken, Wirkung, Wirkungsweise, befreiende Wirkung, Kurzzeitwirkung, Nachwirkung 5, 20, 47, 61, 84, 98, 105, 114, 119, 122, 150, 159 f., 168 f., 180, 214, 261, 293, 315, 335, 371, 373, 391, 419, 469, 474, 605, 629, 632 wissen/nicht wissen, Wissender, Wissen, Liebe zum Wissen (s.a. formenbildend ! Form des Wissens) 4 f., 53, 73, 153 f., 172, 178 f., 184 f., 191, 199–202, 211, 217, 219, 228, 236, 238, 244, 248, 262 f., 271 f., 300 f., 391, 400,
Begriffsregister
415, 453 f., 528 f., 534, 550, 585, 592, 606 f., 628, 644 wissenschaftlich, Wissenschaftler, Wissenschaft (s.a. frçhlich ! frçhliche Wissenschaft, natrlich ! natrliche Wissenschaften, naturwissenschaftlich ! Naturwissenschaft, neugierig ! wissenschaftliche Neugierde, vernnftig ! Vernunftwissenschaft, Vorurteil) 4, 6–8, 25, 31–36, 41, 43–47, 61, 67, 72, 74, 78–80, 86, 98, 100, 112, 120–143, 146 f., 156–168, 185, 193 f., 198, 223, 227, 233–235, 243, 248, 251, 257, 263, 278, 290, 298, 338, 340, 346, 357, 359, 365, 369 f., 375, 379, 389 f., 395–410, 420, 424, 444, 448, 470, 476, 479, 482, 485, 499 f., 518–520, 528, 549, 552, 557, 564, 611, 613, 618, 620, 641–643, 645 wollen, Wille/Widerwille, Willenlosigkeit, Willenskampf, Willenslhmung, Willenspunktation, Willensstrke/Willensschwche, guter Wille, Willigkeit, Wille zu sich, Widerwille gegen das Leben, Rassen- und Klassen-Widerwille, Gefrierpunkt des Willens, Metaphysik des Willens (s.a. einfach ! Wille zur Vereinfachung, ewig ! Wille zum Verewigen, freiwillig ! Willensfreiheit, gerecht ! Wille zur Gerechtigkeit, Kraft ! Willenskraft, lebend ! Wille zum Leben, mchtig ! Machtwillen, Nichts ! Wille ins Nichts, Rache ! Wille zur Rache, Rasse ! Rassenwiderwille, scheinbar ! Wille zum Schein, stark/schwach ! Wille, tuschen ! Wille zur Tuschung/Selbsttuschung, tot ! Wille zum Tod, tragisch ! Wille zum Tragischen, verantwortlich ! Wille zur Verantwortlichkeit, wahr ! Wille zur Wahrheit, Wille/n zur Macht, zerstçren
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! Wille zur Zerstçrung) 3, 13, 22 f., 33, 44, 68, 75, 84, 94 f., 99, 113, 126, 142, 152, 159, 169, 172, 191, 195, 205, 208, 210–217, 234, 241, 266–270, 286, 290, 292, 302 f., 316, 324, 330, 340 f., 344–346, 348, 364, 373, 375 f., 378, 382 f., 388, 407 f., 412, 419, 428, 430 f., 434, 442 f., 475, 488, 492 f., 503, 523, 547 f., 556, 565 f., 574, 583, 603, 605, 608, 637–639, 642, 644 Wunsch, Wnsche, Wnschbarkeiten, Wunschvorstellungen, wunschlos 196, 212, 220, 298, 303, 332, 403 f., 436, 488, 492, 526, 530, 599, 602, 605–607, 612, 638 Wrde des Menschen, Wrde der Arbeit 555–559 Zeichen (s.a. Symptom), Zeichenbild, Zeichenrede, Zeichenschrift, Zeichenwelt, Abzeichen, Anfhrungszeichen (s. Gnsefßchen), Blutzeichen, Erkennungszeichen, Ruhezeichen (Fermate), Satzzeichen, Wetterzeichen (s.a. Auslassungspunkte, fragen ! Fragezeichen) 11, 14, 17 f., 24, 73, 75, 80, 84, 104, 128, 147 f., 175, 195, 214 f., 219 f., 228, 256, 263, 267–279, 284–287, 291, 306, 392, 438, 455, 499, 515, 517, 527, 536–538, 550 f., 554, 584, 597 Zeitgenossen 154, 158, 209, 360, 493, 525 zeitlich/zeitweilig/zeitlos/zeitbergreifend, zeitgemß/unzeitgemß, Zeit, Zeitlichkeit, Verzeitlichung, große Zeit, Zeit brauchen, sich Zeit lassen, sich Zeit nehmen, (noch nicht) an der Zeit sein, mit der Zeit, von Zeit zu Zeit, auf Zeit, zur rechten Zeit, aller Zeiten, Zeitcharaktere, Zeitdruck, Zeitehe, Zeitgeist, Zeitgenossen, ZeitGleichmaß, Zeitrechnung, ZeitRhythmus, Zeitstrecken, Tageszei-
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Begriffsregister
ten, Jahreszeiten, Zeitalter, bergangszeit, Zwischenzeit, Kinder ihrer Zeit, Kraft der Zeit 11 f., 19–24, 27, 31, 43, 65, 68, 72, 88, 105–110, 112, 114 f., 130, 135 f., 141, 146, 148, 160, 183, 188, 191, 199, 220, 222 f., 248, 257, 269, 278, 282 f., 294 f., 308 f., 311 f., 314, 316, 318–320, 323, 328, 330, 337, 339 f., 345, 356, 363, 370, 374–376, 379, 381, 397, 400, 418, 426, 433, 441, 448–454, 472, 474 f., 481, 487, 494, 499, 502 f., 516–518, 523, 531, 535, 539, 545–554, 556, 558–560, 569 f., 573 f., 576 f., 592–594, 599, 601, 603, 606, 608, 612, 617, 619, 625, 629, 639–644 Zeitung, Zeitungswesen 158, 257, 292, 560, 594 zentralisieren, Zentrum, Kraftzentrum, konzentrieren, Konzentration 326, 330, 333, 335, 348, 410, 452, 531 zerstçrerisch, zerstçren, Zerstçrung, Zersetzung, Selbstzerstçrung, Ewig-sich-selber-Zerstçren, zerstçrerisches Prinzip, Wille zur Zerstçrung 5, 43, 111 f., 117, 134, 160, 171, 181, 186, 196, 205, 207, 233, 246, 254, 267, 323, 338, 341, 343, 383, 391, 429, 477, 487–490, 493 f., 529, 547 f., 565, 644 f. Zeuge, vor Zeugen/monologisch, Publikum, Markt, Buchmarkt 8, 16, 18, 129, 138, 154, 220, 244, 257, 320, 329, 438–464, 467, 499, 504, 508–510, 513 f., 518, 527–529, 532, 537, 539, 541, 553, 562, 578, 584, 586, 592 f., 596, 598, 632–636 zuknftig/knftig, Zuknftiges/Knftiges, Zuknftige/Knftige, Zukunft, Zuknfte, unbewiesene Zu-
kunft, zukunftsfhig, Zukunftsmusikant, MenschenZukunft, Kinder der Zukunft, Vision der Zukunft 12, 18, 21, 26, 36, 48, 88, 97, 107, 109, 111, 117, 169, 181, 220, 235, 237, 239 f., 295, 306, 308, 310 f., 324 f., 340, 347, 355, 363, 366, 386, 397, 401, 404, 418, 441, 448, 457, 465, 467, 475, 484, 488–490, 493–495, 497–499, 515–517, 533, 535, 538 f., 545, 547, 553, 558 f., 563 f., 566 f., 569, 571, 584, 589, 599, 605, 607, 612, 618, 625, 627, 633, 640, 645 zwanghaft/zwanglos, zwingen, aufzwingen, erzwingen, Zwang, Zwangs-Arbeit, Zwangs-Einsiedler, Zwangslage, Selbstbezwingung, Freiheit von Zwang 4 f., 26, 30, 39, 88, 126, 142 f., 145, 148, 164, 168, 171, 174, 181, 191, 202, 207, 213, 229, 242, 255, 266, 291, 311, 314 f., 321, 327 f., 330, 332, 335, 338 f., 379, 388, 400, 413–415, 427 f., 434, 448, 470, 481, 486, 488, 492, 508, 529 f., 559, 564, 566, 569, 576, 608, 619, 637, 644 f. zweckmßig/zwecklos, Zweck/Zwecklosigkeit, Zwecke des Daseins, des Lebens 31, 73, 95 f., 199, 203, 233, 252, 257, 267, 273, 281–283, 286–288, 326, 330, 385–392, 403 f., 416, 421, 458, 526, 531, 547, 550, 599 f., 605–612, 638, 644 Zweifel, Verdacht, Argwohn 92, 106, 110–113, 161, 170, 187–189, 192, 196 f., 199 f., 202, 206 f., 209, 220, 222, 224–231, 257, 266, 289 f., 294, 322 f., 327, 344, 368, 414, 436, 451, 547, 552, 608, 615, 641 f.